Giuseppe Verdi: Genie der Oper 3406641385, 9783406641381

Giuseppe Verdis Leben (1813–1901) reichte von den Tagen, da noch Napoleon Europa beherrschte, bis in die Anfangszeit der

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German Pages [286] Year 2013

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Zum Buch
Über den Autor
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Wahrheit und Theater
1 Der Sohn des Wirts, 1813–1842: Von Oberto bis Nabucco
2 Der Galeerensklave, 1852–1847: Von Nabucco bis Macbeth
3 Wendepunkte,1847–1849: Von I masnadieri bis La battaglia di Legnano Strepponi, Revolution und Sant’Agata
4 Der Volkskomponist, 1849–1859: Von Luisa Miller bis Un ballo in maschera
5 Komplikationen, 1859–1872: La forza del destino, Don Carlos und Aida
6 Evergreen, 1872–1901: Requiem, Otello und Falstaff
Liste der Kürzel zitierter Werke
Anmerkungen
Zur weiteren Lektüre
Zeittafel
Glossar
Bildnachweis
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Giuseppe Verdi: Genie der Oper
 3406641385, 9783406641381

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John Rosselli

giuseppe verdi Genie der Oper Eine Biographie Aus dem Englischen von Michael Bischoff

C. H. Beck

Zum Buch Giuseppe Verdi (1813–1901) hat mit seinen Opern der Musikwelt einen Schatz von überzeitlicher Schönheit hinterlassen. Werke wie Aida, Don Carlos, Falstaff, Nabucco, Otello, Rigoletto, La traviata und Il trovatore – um nur einige wenige zu nennen – gehören bis heute zum Repertoire aller großen Opernhäuser und haben nichts von ihrer Faszinationskraft eingebüßt. John Rosselli – viel zu früh verstorbener Publizist, Hochschullehrer, Historiker, Musikwissenschaftler und Opernspezialist – folgt den Spuren dieses italienischen «Genies der Oper» und entwirft ein lebendiges, zeitgemäßes Bild dieses großen Künstlers, der sich so gern als «Bauer von Sant’Agata» stilisierte. Während Rosselli Verdis Lebensweg vom Rankenwerk der Legenden befreit, wird offenkundig, dass die Züge, die jener so gern seinem Selbstportrait verliehen hat, in mancherlei Hinsicht trügerisch sind. So entstammte Verdi beispielsweise zwar tatsächlich einfachen ländlichen Verhältnissen, aber er hat sich im Laufe seines Lebens zu einem veritablen Latifundienbesitzer entwickelt, der größten Wert auf professionelle Bewirtschaftung seiner Güter legte. Und auch in allem anderen, was er ins Werk setzte, war er weder weltfremd noch entrückt, sondern hochprofessionell, sehr modern und «marktorientiert». Er wusste, dass die Theaterkasse der eigentliche Gradmesser des Erfolgs war. Und so komponierte er für das Publikum: Seine Werke sollten temporeich sein, er forderte rasche Handlungsfortschritte im Libretto, und nur wenige Worte sollten größte Umschwünge im Bühnengeschehen bewirken, damit die Zuschauer stets im Banne der Handlung gehalten werden konnten. Verdi wollte die Menschen, die seine Musik hörten, ergreifen und in einem melodramatischen Geschehen zu neuen Höhen phantasievollen Erlebens führen. In seiner mitunter rauschhaften Leidenschaft fürs Komponieren verlangte er von sich selbst äußerste Leistungsbereitschaft, aber er verlangte auch von den Menschen, mit denen er umging – und nicht zuletzt von den Frauen in seinem Leben –, alles seiner Kunst unterzuordnen. Wie sich all dies in das Leben Giuseppe Verdis fügte, welchen Preis er und sein Umfeld dafür zu zahlen hatten, welche Erfolge er feiern durfte und welche Niederlagen er zu verkraften hatte, hat John Rosselli in seiner meisterhaften Biographie beschrieben.

Über den Autor John Rosselli (1927–2001) war Chefredakteur des Manchester Guardian und lehrte Geschichtswissenschaft an der Universität Sussex. Er ist Autor zahlreicher musikhistorischer Werke, unter anderem: The opera industry in Italy from Cimarosa to Verdi (1984).

Die Bibliographie wurde für die deutsche Ausgabe von Sabine Henze-Döhring aktualisiert und angepasst; Anselm Gerhard hat Glossar und Zeittafel beigesteuert.

Mit 24 Abbildungen und einer Karte

Titel der englischen Originalausgabe «The Life of Verdi», erschienen bei Cambridge University Press, 2000

1. Auflage. 2013 © Verlag C.H.Beck oHG, München 2013 Umschlaggestaltung: Anzinger | Wüschner | Rasp, München Umschlagabbildung: Giuseppe Verdi, um 1870, © akg-images ISBN Buch 978 3 406 64138 1 ISBN eBook 978 3 406 64139 8 Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie versandkostenfrei auf unserer Website www.chbeck.de. Dort finden Sie auch unser gesamtes Programm und viele weitere Informationen.

inhalt Vorwort 7 Einleitung: Wahrheit und Theater

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1

Der Sohn des Wirts, 1813–1842 Von Oberto bis Nabucco 21

2

Der Galeerensklave, 1852–1847 Von Nabucco bis Macbeth 55

3

Wendepunkte,1847–1849 Von I masnadieri bis La battaglia di Legnano Strepponi, Revolution und Sant’Agata 91

4

Der Volkskomponist, 1849 –1859 Von Luisa Miller bis Un ballo in maschera

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Komplikationen, 1859 –1872 La forza del destino, Don Carlos und Aida 171

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Evergreen, 1872–1901 Requiem, Otello und Falstaff

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Liste der Kürzel zitierter Werke 260 | Anmerkungen 261 | Zur weiteren Lektüre 270 | Zeittafel 274 | Glossar 277 | Bildnachweis 278 | Register 279

vorwort



Dieses Buch ist eine kurze, kritische Lebensbeschreibung, die auf den publizierten Quellen basiert. Sie liefert keine neuen Fakten zu Verdis Leben, sondern soll den Komponisten in seinem geschichtlichen Kontext zeigen und so – ein zuweilen neues – Licht auf die Bedeutung seines Lebens und Werkes werfen. Verdi-Biographien gibt es viele, einige davon äußerst detailliert. Ein kurzes Buch kann natürlich nur einzelne Episoden und Werke herausgreifen, die besonders wichtig erscheinen. Wo Kritiker so über die Musik geschrieben haben, wie man es nicht besser auszudrücken vermöchte, habe ich sie zitiert. Verdi und seine Zeitgenossen setzten oft drei Punkte als rhetorisches Hilfsmittel ein. In den Zitaten habe ich sie beibehalten. Auslassungen innerhalb von Zitaten habe ich durch drei Punkte in eckigen Klammern […] gekennzeichnet. Verdi und andere verwenden oft auch Reihungen von Satzzeichen wie «!!!», «!?», «!!?» und dergleichen. Auch sie habe ich wiedergegeben. Diese Satzzeichen sollen in der Regel nicht extreme Gefühle des Erstaunens oder des Schreckens zum Ausdruck bringen, wie es bei englischsprachigen Schreibern der Fall wäre, sondern wohl eher die Gesten, die man in einem direkten Gespräch macht.

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vorwort

Wie im Abschnitt «Zur weiteren Lektüre» genauer ausgeführt, gibt es noch keine vollständige italienische Ausgabe der Briefe Verdis und nur eine begrenzte Auswahl in Englisch und in Deutsch. Briefe oder Zitate daraus finden sich an zahlreichen Stellen. Wenn ich aus den sehr ergiebigen Quellen eigener Äußerungen von Verdi oder seiner zweiten Frau Giuseppina Strepponi zitiere, füge ich in Klammern ein Kürzel für die benutzte Primärliteratur hinzu, gefolgt von den jeweiligen Seitenzahlen. Zitate aus anderen Quellen sind in den Anmerkungen nachgewiesen. Wenn Quellen in einer leicht greifbaren englischen bzw. deutschen Ausgabe vorliegen, zitiere ich sie danach. Das gilt insbesondere für Frank Walkers Übersetzung der Briefe von Strepponi, die dort teilweise vor der Veröffentlichung der Originale erschienen sind. Einige Briefe habe ich jedoch auch selbst [ins Englische] übersetzt. Eine Liste der Kürzel findet sich vor dem Abschnitt mit den Anmerkungen. Marisa Di Gregorio Casati vom Istituto Nazionale di Studi Verdiani in Parma bin ich äußerst dankbar für die Hilfe bei der Suche nach Illustrationen. Dem Leiter des Instituts, Pierluigi Petrobelli, danke ich für seine Hilfe und seine Freundschaft, ebenso Alberto Carrara-Verdi und seiner Familie, die so freundlich waren, mir Sant’Agata zu zeigen. J. R.

Einleitung

wahrheit und theater



Unter den genialen Komponisten – so schrieb der Philosoph Isaiah Berlin in einem berühmten Essay – sei Verdi «vielleicht der letzte vollkommene, von sich erfüllte Schöpfer», ein «Mann, der alles in seine Kunst aufgelöst hat». Seine Kunst sei wie die von Bach oder Shakespeare «objektiv, unmittelbar und in Harmonie mit den sie regierenden Konventionen. Sie entspringt einer ungebrochenen inneren Einheit, dem Gefühl, zu ihrer eigenen Zeit, Gesellschaft und Umgebung zu gehören.» Sie sei frei von dem Bemühen, nach etwas Verlorenem, Unendlichem, Unerreichbarem zu streben, wie es für Künstler, die ihrer selbst stärker bewusst sind, typisch sei, etwa für Berlioz oder Wagner. Aus all diesen Gründen sei Verdi «die letzte große Stimme des Humanismus, die, zumindest musikalisch, nicht im Streit mit sich selbst lag […] Er war der letzte, der mit positiven, klaren und reinen Farben malte, der den ewigen, großen menschlichen Gefühlen unmittelbaren Ausdruck gab […] Vornehm, schlicht, von starker, ungebrochener Vitalität und großer natürlicher Schöpfer- und Gestaltungskraft», spreche Verdis Stimme gebildete wie auch laienhafte Zuhörer heute noch an – vielleicht weil sie aus einer «untergegangenen» Welt komme.1

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einleitung

Berlins – in mancherlei Hinsicht problematische – Analyse bringt zum Ausdruck, was viele angesichts des Verdi’schen Werkes empfinden. Welche Mängel seine Werke auch haben mögen, sie klingen emotional wahr. Wahrheit und Unmittelbarkeit machen sie oft ungeheuer aufregend. Dennoch gehören fast alle der denkbar artifiziellsten Gattung an – nicht einfach nur der Oper, sondern der romantischen italienischen Oper, geschrieben nach anerkannten Formeln für die Aufführung durch Sänger mit herausragenden Fähigkeiten, auf die Bühne gebracht hinter einem Proszeniumsbogen in illusionistischen Kulissen und vor einem sichtbar in Logenreihen angeordneten Publikum. Verdis sechsundzwanzig Opern (achtundzwanzig, falls man die größeren Überarbeitungen mitzählt) sind gleichermaßen Wahrheit und Theater. Verdi selbst wusste sehr genau, dass seine Berufung, für das Theater zu schreiben, eines bedeutete: dem Publikum zu gefallen und das Haus zu füllen. «Die Theaterkasse», schrieb er später in seiner Karriere, «ist der eigentliche Gradmesser des Erfolgs.»2 Auch in ehrwürdig hohem Alter empfand er leere Sitze bei der Uraufführung seiner «Vier geistlichen Stücke» als Misserfolg. Allenfalls zuckte er die Achseln, wenn er wie bei La traviata 1853 davon überzeugt war, dass auch ein scheinbarer Misserfolg durchaus seinen Wert hatte. Dann sagte er sich, die Zeit werde es weisen, und überarbeitete das Werk, damit es beim nächsten Mal triumphierte (BM, S. 26 f.). Niemals, so scheint es, hätte er zugelassen, dass man ihn für ein verkanntes Genie hielt. Heute könnte er zufrieden sein. Er ist einer von gerade einmal vier Komponisten, deren Opern fast immer für ein volles Haus sorgen (die anderen sind Mozart, Wagner und Puccini). Verdis Werke schafften das sogar zwischen 1890 und 1930, als sein Ansehen als Komponist bei musikalisch Gebildeten im Niedergang begriffen war. Gewiss, die populären Werke (Rigoletto, Il trovatore, La traviata und Aida) füllten auch weiterhin Theater mit populä-

Wahrheit und Theater

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rem Programm, doch Elitehäuser ignorierten sie zeitweilig oder nahmen sie allenfalls als Kassenfüller in ihren Spielplan auf. Kenner neigten dazu, nur die verfeinerten Alterswerke anzuerkennen: Otello und Falstaff. Die frühen Opern und die etwas problematischeren späteren Werke wurden fast nirgendwo aufgeführt. Wer in den 1930 er Jahren erstmals zur Musik fand, weiß noch, dass manche Kenner über so «Vulgäres» wie «La donna è mobile» oder den Triumphmarsch aus Aida nur die Nase rümpften. Heute ist das ganz anders. Selbst eine Oper wie Stiffelio, die Verdi selbst beiseitelegte und als Steinbruch benutzte, wurde wieder zusammengesetzt, mit großem Erfolg aufgeführt und aufgezeichnet. Und das lauteste seiner frühen Werke, Attila, das 1963 im Sadler’s Wells Theatre noch hier und da Gelächter erntete, löste 1990 in Covent Garden Beifallsstürme aus. In ihrem Auf und Ab ähnelt die Kurve des Ansehens, das Verdi genoss, der einiger großer Romanciers, die etwa zur selben Zeit lebten, insbesondere Dickens. Während man sich zu seinen Lebzeiten über ihn als «Mr Popular Sentiment» lustig machte (so wie man Verdi grobschlächtig, laut und melodramatisch nannte), galt er um 1900 als ein Schriftsteller, der wegen seiner komischen Wendungen Nachsicht verdiente. Erst in den letzten fünfzig Jahren wurden Romane wie Bleak House, Little Dorrit und Our Mutual Friend als große, fein gesponnene Kunstwerke rezipiert, die auf einer umfassenden und tiefen Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse basieren. Es ist kein Zufall, dass in dieser Zeit auch das kritische Interesse an Verdi beträchtlich zunahm. Heute findet er die Aufmerksamkeit, die früher Beethoven oder Wagner vorbehalten blieb. Für die Italiener des 19. Jahrhunderts leistete die Oper, was der italienische Roman (von Manzonis Die Verlobten einmal abgesehen) nicht zu leisten vermochte. Darin nahmen Gefühle und zwischenmenschliche Beziehungen greifbare Gestalt an, in denen die Italiener sich wiedererkennen konnten, und zugleich führten

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sie die Menschen zu neuen Höhen phantasievollen Erlebens, das in einer ergreifend melodramatischen Handlung gründete. Verdis Opern waren das italienische Gegenstück zu den Romanen von Dickens, aber weit mehr noch zu denen von Victor Hugo oder Dostojewski, in denen gelegentlich eine ähnlich gewalttätige oder entsetzliche Handlung dazu dient, das Verständnis des menschlichen Lebens zu vertiefen. Dank der Macht der Musik und Verdis eigener Kraft entfalten seine Opern im Theater nahezu durchgängig ihre Wirkung, wie dies den Romanen in den Augen der Leser nicht gelang. Wegen Hugos geschwollener Rhetorik, Dostojewskis Tiraden oder Dickens’ falscher Sentimentalität im Blick auf junge Frauen sind uns Teile ihrer Werke heute fremd geworden. Verdis frühe Opern erscheinen zuweilen laut oder klapprig, doch eine gute Aufführung – wie die von Attila in Covent Garden – wirkt dank ihrer Energie und ihres Adels mitreißend. In gewisser Weise entspricht unsere Wahrnehmung Verdis Darstellungsmethode. Noch in den 1950 er Jahren belächelten Kritiker gern seine blitzartigen Stimmungsumschwünge. Eine Figur stürmt auf die Bühne (etwa Amonasro in der Nilszene der Aida), und innerhalb von zwei oder drei Takten nimmt die Situation eine katastrophale Wendung. Heutzutage scheint das niemand zu bemerken – wahrscheinlich weil wir uns im Kino an die abrupten Schnitte der Jump-Cut-Technik gewöhnt haben, die mit der Nouvelle Vague 1959 aufkam und sich anschließend auch auf der Bühne, in Fernsehproduktionen und vor allem in Werbeclips ausbreitete. Wenn Verdi den Jump-Cut vorwegnahm, so war das eher Ausdruck seiner Ungeduld als einer prophetischen Gabe. Damit seine Opern auf der Bühne funktionierten, forderte er immer wieder noch weniger Worte und noch schnellere Handlungsabläufe. Er pries den «größten Mut», aus dem heraus Gutes um des Tempos willen zusammengeschnitten wurde (C, S. 31), und wiederholte den Voltaire zugeschriebenen Ausspruch: «Mir sind

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alle Genres recht, solange sie nicht langweilen.» Verdis Opern sind garantiert nicht langweilig. Wenn für Verdi, wie Berlin behauptet, der Schiller’sche Satz gilt: «er ist das Werk, und das Werk ist er«, könnte man erwarten, das Leben des Komponisten zeige dieselbe klare, unmittelbare Wahrheit wie seine Opern. Seit jedoch Forscher immer mehr Details aus Verdis Karriere ans Licht bringen, wird deutlich, dass er oft weniger als die reine Wahrheit gesagt hat. Biographen müssen entscheiden, wie sie damit umgehen. Er wurde nicht einmal in dem Haus geboren, das zu seinen Lebzeiten als sein Geburtshaus galt, und auch nicht in dem Jahr, in dem er – nach eigenem Bekunden – von der er die meiste Zeit seines Lebens annahm, dort geboren zu sein. Er muss aber etwas von seinem wahren Geburtshaus gewusst haben (seine Eltern lebten dort, bis er dreizehn war). Und ist es, da er so oft zwischen despotischen Kleinststaaten hin und her wechselte, die bei jedem Schritt die Vorlage eines Passes oder einer Geburtsurkunde forderten, tatsächlich vorstellbar, dass er nicht wusste, welches Jahr in diesen Dokumenten durchaus korrekt als sein Geburtsjahr angegeben war? Die bekannteste Fehlleistung dieser Art ist Verdis Darstellung des Todes seiner ersten Frau und ihrer beiden Kinder. Zwei Biographen erzählte er 1869 und dann nochmals 1881, alle drei seien 1840 innerhalb von drei Monaten verstorben. In Wirklichkeit waren die Kinder 1838 und 1839 gestorben, und seine Frau war ihnen 1840 gefolgt. Dieser erschütternde Todeszug hatte fast zwei Jahre gedauert. Anlass zum Zweifel gibt auch Verdis Darstellung der Entstehung des Librettos für seine Pariser Oper Les Vêpres siciliennes (1855). Der Librettist Eugène Scribe hatte es ursprünglich für Donizetti geschrieben, der diese Oper jedoch nicht vollendete. Das Thema war damals der Herzog von Alba, die Geißel der Niederlande im 16. Jahrhundert. Lange nach Donizettis Tod überarbeitete Scribe das Libretto für Verdi. Es handelte nun von

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der sizilianischen Revolte gegen eine ältere tyrannische Herrschaft. Als Donizettis Le Duc d’Albe 1882 in voller Länge aufgeführt wurde (in einer italienischen, von fremder Hand vollendeten Fassung), erklärte Verdi, er habe nichts davon geahnt. Seine Korrespondenz aus der Entstehungszeit der Oper beweist aber, dass er sehr wohl darüber Bescheid wusste. In einem Streit um die französischen Rechte an seiner Oper Luisa Miller warf Verdi seinem Verleger Ricordi vor, er habe ihn hereingelegt und zur Unterzeichnung des Vertrages bewegt, ohne ihn auf eine nachteilige Klausel hinzuweisen, so dass sie ihm entgangen sei. Aus Verdis sonstiger Geschäftskorrespondenz geht jedoch hervor, dass er sehr genau auf die Vertragsbedingungen achtete. Höchstwahrscheinlich erhob er diesen Vorwurf, weil er sich aus später noch zu erörternden Gründen ärgerte, dass er alle Rechte an Luisa Miller für ein weitaus geringeres Honorar hatte abtreten müssen, als er dies sonst gewohnt war, und er tat alles, um den Schaden zu verringern. (Der Wirbel, den er entfachte, zeigte Wirkung: Ricordi beteiligte ihn an den französischen Rechten.) Als Verdi in hohem Alter Falstaff schrieb, behielt er dies weitgehend für sich und teilte den wenigen Eingeweihten mit zahlreichen Vorbehalten lediglich mit, es handle sich um einen Zeitvertreib und er werde die Arbeit möglicherweise nicht vollenden. Im April 1890 erklärte er öffentlich, der drei Jahre zuvor uraufgeführte Otello sei sein letztes Werk: «Die Entscheidung ist unwiderruflich […], meine Aufgabe ist erfüllt.» Doch schon am 17. März hatte er den ersten Akt des Falstaff abgeschlossen.3 Für diese und eine Reihe anderer Ungereimtheiten gibt es unterschiedliche Erklärungen. In mediterranen Gesellschaften werden Gespräche leicht von einem Gefühl für Dramatik geprägt. Die Gesprächsteilnehmer sagen gerne ausgefallene Dinge, die sie bei genauerem Nachfragen einschränken. Verdis Darstellung des

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Todes seiner Frau und seiner Kinder fällt möglicherweise in diese Kategorie. Er empfand ihren Tod als eine Höllenpein, die sich über endlose Wochen hinzog. Der Wunsch, seinen Kopf durchzusetzen und ein ihm genehmes Selbstbild zu vermitteln, mag einige seiner Bearbeitungen der Wirklichkeit im Blick auf berufliche und geschäftliche Angelegenheiten erklären. Falls das zutrifft, verhielt Verdi sich wie viele heutige Geschäftsleute, und nicht nur solche mediterraner Herkunft. Er war in der Tat ein äußerst geschäftstüchtiger Komponist. Vor allem an diese Geschäftstüchtigkeit sollten wir in den uns befremdenden Augenblicken denken, in denen er nicht ganz die Wahrheit sagte. Doch diese Augenblicke sind weitaus seltener als solche, in denen Verdi sich als ehrlich erwies und entschlossen war, seinen Verpflichtungen nachzukommen (und dafür zu sorgen, dass andere ihren Verpflichtungen nachkamen). Gerade die Sorgfalt, mit der er seine Korrespondenz führte und aufbewahrte, zu einer Zeit, als Briefe rasch und zuverlässig zugestellt wurden und sich leicht aufbewahren ließen, führt dazu, dass Beweise jeglicher Art erhalten blieben, darunter auch einige, die widersprüchliche und nicht ganz wahrheitsgemäße Aussagen enthalten. Wie sein Zeitgenosse, der berühmte britische Politiker Gladstone, durchlebte Verdi neun Zehntel eines Jahrhunderts, in dem wohlhabende Menschen durch Briefe miteinander kommunizierten, die auf sehr haltbarem Papier geschrieben waren. Beide Männer standen in regelmäßigem Briefwechsel mit zahlreichen Menschen und hoben oft Abschriften oder Entwürfe auf. Beide erlangten schon in jungen Jahren Berühmtheit, so dass auch die Empfänger die Briefe oft aufbewahrten. Beide erlebten noch das Telefon, benutzen es aber nur selten. Beide erwarben ein großes Haus, das bei ihrem Tod noch erhalten war (das von Verdi befindet sich heute noch im Besitz seiner Erben) und in dem die Zeugnisse ihrer vielfältigen Aktivitäten aufbewahrt werden konnten.

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Die Folge ist in beiden Fällen ein riesiges Archiv, wie wir es im Zeitalter der E-Mail und der Faxgeräte wohl nie wieder erleben werden. Zum Glück für seine Biographen war Verdi eher lakonisch, während Gladstone zur Weitschweifigkeit neigte. Ein weiterer bemerkenswerter Unterschied liegt darin, dass Gladstones Tagebuch uns ein wenig von seinem komplizierten Innenleben preisgibt, während Verdi seine privaten, persönlichen Beziehungen und Gefühle entschlossen und mit beachtlichem Erfolg vor uns abgeschirmt hat. Wir wissen zwar viel über seine berufliche Laufbahn, aber fast nichts über seine kurze erste Ehe und kaum mehr über einige entscheidende Episoden der (immerhin fast sechzig Jahre währenden) Beziehung zu seiner zweiten Frau. Die Krise, zu der es in seiner zweiten Ehe im Zusammenhang mit der Sängerin Teresa Stolz kam, die sowohl mit seiner Frau als auch mit ihm befreundet war, ist eingehend erforscht worden und bleibt dennoch ein Rätsel. Verdis Sexualleben ist eine Blackbox. Es bleibt uns nur (und das ist wahrscheinlich gut), aus den Zeugnissen seines Lebens und seines Werkes die tiefere Wahrhaftigkeit zu ergründen, die beides beherrschte. Hier gehen wir über den Bereich jener Wahrheit hinaus, für die sich Richter und Gerichte interessieren. «Eine Verfeinerung des Sinns für Wahrhaftigkeit» sei das Kennzeichen künstlerischen Wachstums, schrieb Willa Cather in ihrem Roman The Song of the Lark (Das Lied der Lerche), der von einer großen Opernsängerin handelt. «Der Dumme glaubt, wahrhaftig zu sein sei einfach; nur der Künstler, der große Künstler weiß, wie schwierig es ist.» Verdi selbst sagte Ähnliches. Zu einer Zeit (1876), als der verismo – der italienische Ausdruck für Naturalismus – in der Luft lag, schrieb er: «Die Wirklichkeit nachahmen kann eine gute Sache sein; aber die Wirklichkeit erfinden ist besser, viel besser.» Der Unterschied sei der zwischen Fotografie und Malerei. (C, S. 624; dt.: Briefe, S. 260 f.). Sowohl Cather als auch Verdi dachten hier an die Wahrheit

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und Wirklichkeit im Schaffen des bildenden oder darstellenden Künstlers. Wir sagen, etwas «klinge» wahr, etwas «überzeuge», «treffe uns in der Magengrube» – all das Versuche, das Gefühl in Worte zu fassen, wir hätten etwas rein und unmittelbar in uns aufgenommen, das wir uns aus ganzem Herzen zu eigen machen könnten. Ob unsere Zustimmung irgendetwas über die persönliche Wahrhaftigkeit des Künstlers aussagt, ist umstritten. Viele Künstler legen ihr Bestes in ihr Werk. Wer daraus auf ihr alltägliches Leben und ihre Ansichten schließen möchte, kann eine Enttäuschung erleben. Wagner ist hier ein bekanntes Beispiel. Was Verdi betrifft, so zeigten alle Autoren, die seit der 1931 erschienenen Biographie von Carlo Gatti auf übertriebene oder falsche Aussagen des Komponisten hinwiesen, dass sie ihn als Menschen trotz aller Mängel dennoch bewunderten. Eine persönliche Bemerkung: Bei der Arbeit an diesem Buch ist mir klar geworden, dass ich den Menschen Verdi nicht sonderlich mag, vor allem den autokratischen Rentier und Gutsbesitzer, den Teilzeitkomponisten und scheinbaren Vollzeitnörgler und den reaktionären Kritiker der Jahre ab 1860, aber sie hat meine Bewunderung für ihn, meinen Respekt vor ihm und auch mein Vertrauen in ihn vertieft. Man kann Verdi in einem fundamentalen Sinne vertrauen. Einerseits unterhielte man berufliche oder geschäftliche Beziehungen mit ihm lieber als mit vielen anderen Leuten (um den Preis gelegentlicher unangenehmer Augenblicke). Andererseits hat man das Gefühl, dass sein Leben von einer tiefen Integrität geprägt war, selbst wenn er unvernünftig handelte oder im Unrecht war. Dieser rote Faden hilft uns, die erstaunliche Selbsterneuerung zu erklären, die Verdis Leben kennzeichnete – das vom napoleonischen Empire bis ins Rundfunkzeitalter reichte. Der Biograph hat die Aufgabe, sich an diesen roten Faden zu halten, ohne die unschönen Momente auszublenden, aber auch ohne sie über Gebühr hervorzuheben.

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Ein Biograph, der sich auf eine kurze Lebensbeschreibung einlässt, hat einige schwierige Entscheidungen zu treffen. Verdis Vermächtnis ist einerseits die höchste Hervorbringung der italienischen Oper, andererseits ein hochgradig individuelles Werk, geschaffen von einem originellen Geist, der seinen eigenen Weg ging: ein lebendiger Gegenbeweis für die Vorstellung, wonach das «Schreiben» alles und jeder Text so gut wie der andere sei, während es auf die individuelle Schöpferkraft nicht ankomme. Sein Werk ist umfangreich, und wir wissen viel über dessen Entstehung. Natürlich müssen wir seine Musik betrachten – schließlich ist sie der Grund für unser Interesse an Verdi. Aber zugleich müssen wir uns der Kürze halber auf einige Opern und das Requiem beschränken. Ich denke, die wahrhaft bedeutenden Werke sind die des bereits erwähnten unverwüstlichen Quartetts (Rigoletto, Il trovatore, La traviata, Aida), in gewissem Abstand gefolgt von Un ballo in maschera, dazu aus dem Frühwerk Ernani und Macbeth, aus dem Spätwerk Don Carlos, Otello und Falstaff. Das heißt, ich werde über so gute Werke wie Luisa Miller, Simon Boccanegra und La forza del destino nur wenig sagen können und auch über die ausgewählten Opern weniger, als ich es mir eigentlich wünschte. Auch Verdis langes Leben können wir hier nicht als eine einzige Kette von Ereignissen behandeln. Seine berufliche Laufbahn zerfällt in mehrere Phasen. Zuerst – bis zu den Revolutionen von 1848/49 und La battaglia di Legnano – war er der «Galeerensklave», der leichte Erfolge errang, dafür aber im Schnitt zwei Opern pro Jahr fertigstellen musste. Dann, in den 1850 er Jahren – von Rigoletto bis zu Un ballo in maschera –, war er der Meister, dessen Werke ungeahnte, buchstäblich weltweite Popularität erlangten. Der Wohlstand, den diese Popularität ihm einbrachte, erlaubte es ihm in der nächsten Phase, langsamer zu arbeiten, doch die Jahre von 1862 bis 1878 waren geprägt von Krisen in seinen persönlichen Beziehungen, in seiner Stellung innerhalb des künstlerischen Lebens seines gerade erst geeinten Landes und schließlich

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auch in zwei großen, aber sperrigen Opern – was fast auf so etwas wie die «männlichen Wechseljahre» hinauslief. Die letzte Phase ist die des inzwischen etwas friedlicher gewordenen EvergreenKomponisten, der mit achtzig Jahren eines seiner originellsten Werke vollendete – während die Gesellschaft, in der er lebte, ihr Bestes tat, um ihn als ein nationales Monument erstarren zu lassen. Das Buch folgt weitgehend Verdis Lebensweg durch diese drei Phasen. Gelegentlich gehe ich einem Thema auch außerhalb der chronologischen Reihenfolge nach, wenn ich es erstmals anspreche. Verdis geschickte Nutzung der neuen Urheberrechtsgesetze ist ein Beispiel dafür, ein weiteres der ein halbes Jahrhundert währende Prozess des Kaufs, Ausbaus und Betriebs seines Landguts. Beides besitzt größere Bedeutung für das Leben des Komponisten, als gemeinhin angenommen wird. Und beides gerät leicht aus dem Blickfeld, wenn man Jahr für Jahr eine Karriere verfolgt, die in erster Line die eines Opernkomponisten war. Wenn wir hier und da ein einzelnes Thema über einen längeren Zeitraum verfolgen, besteht kaum die Gefahr, den Faden der individuellen Entwicklung des Künstlers zu verlieren. Dafür sorgen schon die in allen seinen Lebensbereichen erkennbare Stärke seiner Persönlichkeit und die Entschlossenheit, mit der er sein Lebenswerk formte.

Erstes Kapitel

der sohn des wirts, 1813 – 1842 Von Oberto bis Nabucco



Nach einer zweifelhaften Geschichte, die Verdi gerne zum Besten gab, versteckte seine Mutter sich – das fünf Monate alte Kind an die Brust gedrückt – im Kirchturm des Dorfes vor russischen Soldaten, die in den letzten Monaten der Napoleonischen Kriege durch Norditalien stürmten. Zweifelhaft ist die Geschichte deshalb, weil 1814 zwar Soldaten aus diversen Ländern in Norditalien kämpften, aber keine Russen. Die Russen, die in einer von zahlreichen Invasoren geplünderten Region bei der Landbevölkerung gefürchtet waren, waren zwar dort gewesen, allerdings bereits 1799 /1800. Wahrscheinlich hatte Luigia Verdi sich wirklich im Kirchturm versteckt, vermengte die beiden beängstigenden Erlebnisse später jedoch in ihrer Erinnerung. Die Geschichte, die sie ihrem Sohn erzählte, war dennoch nicht abwegig. Manche Einflüsse, die seine Laufbahn und seine Ansichten prägen sollten, hatten ihren Ursprung tatsächlich in den entscheidenden Jahren um die Wende zum 19. Jahrhundert. So zwangen die Truppen des jungen Napoleon Bonaparte Italien 1796 /97 die Ideale der Revolution auf – einem Land, das weitaus ärmer und rückständiger war als Frankreich. 1799 zogen sich die französischen Armeen vor den Russen und Österreichern zu-

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der sohn des wirts, 1813 – 1842

rück. 1800 /01 eroberten sie erneut das oberitalienische Tiefland und setzten sich dort fest. Die von ihnen eingesetzte republikanische Regierung bereitete der alten oligarchischen Herrschaft in den elf Kleinstaaten, die sich die italienische Halbinsel untereinander teilten, zeitweilig ein Ende. Für die meisten Menschen in und um Busseto, einer Kleinstadt im ehemaligen Herzogtum Parma, bestand der wirklich bemerkenswerte Wandel – wie für viele Menschen in anderen Regionen – in der Unterwerfung der katholischen Kirche unter die neuen Republiken, die zur Enteignung und zum Verkauf von Kirchengütern schritten. Zusammen mit der Unterdrückung durch französische Generäle und Beamte schürten diese Maßnahmen einen zuweilen gewaltsamen Widerstand in der überwiegend ländlichen Bevölkerung, brachten einer Minderheit jedoch auch Gewinn und trugen dazu bei, dass sie sich den neuen Idealen verpflichtet fühlte. Vom Verkauf der Kirchengüter profitierten vor allem Leute, die bereits zu den Vermögenden gehörten, Männer wie Antonio Barezzi, ein Kaufmann aus Busseto, der Verdis «zweiter» Vater und später auch sein Schwiegervater werden sollte, kaum dagegen kleine Landbesitzer wie Verdis Vater Carlo, der in Roncole, einem wenige Kilometer vor der Stadt gelegenen Dorf, ein Wirtshaus betrieb. Diese Aussage basiert allein auf allgemeinen Erwägungen zur Schichtzugehörigkeit. Wir wissen nicht, ob Barezzi tatsächlich Kirchenland erwarb, aber es spricht einiges dafür. Er bewunderte Napoleons (in seiner späteren kaiserlichen Phase sozialkonservativeres) Regime auch noch lange nach dessen Sturz im Jahr 1814. In dem wiederhergestellten Herzogtum Parma – ein Trostpreis für Napoleons österreichische Gattin Marie-Louise, die man von ihrem Mann getrennt hatte – gehörten Barezzi und sein Verwandter Giuseppe Demaldè zum inneren Kreis einer Gruppe von Städtern, die zwar nicht unbedingt ungläubig, aber gegenüber den Priestern feindselig eingestellt wa-

Algier

Balearen

Barcelona

KGR. FRANKREICH

ne

Turin

KGR.

Korsika

Tunis

Sardinien

Ajaccio

Florenz

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Rom

Neapel

Adria

Sizilien

Palermo

Catania

Messina

u

Walachei

Athen

Erwerbungen bis 1914

Königreich Italien 1861–1866

Grenzen 1815 Grenze des deutschen Bundes 1815

Griechenland

OSMANISCHES REICH

Serbien

Belgrad

Ionisches Meer

Tarent

KGR. BEIDER SIZILIEN )

(ab 8. Dez. 1816

Dona

Kgr. Ungarn

Sarajewo

Bosnien

KGR. NEAPEL

KIRCHENTOSKANA STAAT

Parma

Po

Südtirol

Mailand

Genua

S A R D I NI E N

Mittelmeer

Marseille

Rhô

SCHWEIZ

Oberto bis Nabucco

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Karte Italiens im Jahr 1815, nach der Wiederherstellung der alten, von Napoleon besiegten Fürstentümer und Staaten (die Republik Venedig wurde dem österreichisch regierten Königreich LombardoVenetien einverleibt, die Republik Genua dem von Turin aus regierten Königreich Sardinien)

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ren. Carlo und Luigia Verdi waren dagegen eifrige Mitglieder der Kirchengemeinde. Die von der Französischen Revolution im gesamten lateinischen Europa gezogene Trennungslinie zwischen Klerikalen und Antiklerikalen verlief genau zwischen Verdis beiden Familien. Wenn er sich für die Barezzis entschied, die im Mittelpunkt des Musiklebens von Busseto standen, gehorchte er in erster Linie den Erfordernissen seiner gerade erst beginnenden Karriere, aber er entschied sich damit auch für bestimmte Ideale und eine politische Grundeinstellung. Manche Musiker identifizierten sich in diesen turbulenten Zeiten mit dem republikanischen Regime, andere mit der bedrängten Kirche. Ferdinando Provesi, Verdis wichtigster Lehrer in dessen prägenden Jahren, war in der Zeit der russisch-österreichischen Herrschaft von 1799 bis 1801 wegen Diebstahls unter Hausarrest gestellt worden (er hatte sich am Kirchenschatz der Pfarrei vergriffen, in der er als Organist angestellt war). Nach der Rückkehr der Franzosen 1801 floh er nach Busseto, wo er dank der Protektion einer wohlhabenden Familie, die dem neuen Regime ebenso nahestand wie die Barezzis, Organist der Pfarrkirche und Musikmeister der Stadt wurde. Dafür musste man den damaligen Amtsinhaber entlassen, der von der Kirche eingesetzt worden war und wahrscheinlich mit dem alten Regime identifiziert wurde. Als Verdi sich 1834 auf die Stelle des inzwischen verstorbenen Provesi bewarb, löste das einen «Bürgerkrieg» aus, der offenbar tiefe Wurzeln hatte. Doch was die französischen Einflüsse betrifft, ist das noch nicht alles. Kurz nach seiner Geburt am 9. Oktober 1813 – selbst dieses Datum ist umstritten1 – wurde Carlo und Luigia Verdis Sohn auf dem Standesamt als Joseph-François-Fortunin Verdi registriert. Und tatsächlich war er französischer Staatsbürger. Napoleon hatte als Kaiser der Franzosen gut ein Drittel Italiens annektiert, darunter auch Parma. Allerdings taumelte das Kaiserreich 1813 bereits seinem Ende entgegen. Die hohen Steuern, die

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Aushebung von Soldaten und die Einstellung des Außenhandels, die Napoleons Eroberungen eigentlich konsolidieren sollten, verschärften den Niedergang der Landwirtschaft, unter dem Europa ein Jahrzehnt lang und Italien sogar noch länger leiden sollten. Giuseppe – wie sein Name eigentlich lautete – war das erste Kind der Verdis. Zweieinhalb Jahre später wurde eine Tochter, Giuseppa, geboren, die mit siebzehn Jahren starb. Dank der Forschungen von Mary Jane Phillips-Matz kennen wir Herkunft und soziale Stellung der Familie inzwischen recht genau. In späteren Jahren bezeichnete Verdi sich gerne als einen «Bauern aus Ron– cole», ganz «ohne jede Kenntnis» in der Musik und auch in sons– tiger Hinsicht kaum gebildet: «Ich bin nur ein grobschlächtiger Bauer und war noch nie in der Lage, eine Ansicht zu äußern, die auch nur den geringsten Wert gehabt hätte» (C, S. 176, 511, 616; VI, S. 26). Zum Teil war dies die Abwehrstrategie eines berühmten Komponisten, die nützlich war, wenn jemand ihn um Rat fragte oder in einen Streit hineinzuziehen versuchte. Als Aussage über seine Herkunft und Erziehung war diese Darstellung völlig unzutreffend, doch in ihrer Übertreibung verwies sie durchaus auf eine umfassendere Wahrheit. Sein Vater und seine Mutter kamen aus ähnlichen Verhältnissen. Beide Familien waren Wirte und Ladenbesitzer, die um die Jahrhundertwende in die Umgebung von Busseto gezogen oder innerhalb der Region umgezogen waren – die Verdis von Sant’Agata nach Roncole (beide Orte liegen etwa gleich weit von Busseto entfernt, nur auf entgegengesetzten Seiten der Stadt), die Uttinis aus einem etwas weiter westlich gelegenen Ort. Beide waren Lombarden im damals üblichen Sinne, das heißt Einwohner der «platten Ebene» westlich von Mantua und Bologna, einer Region, die politisch vor und nach den Napoleonischen Kriegen zwischen Mailand, Parma und Modena umstritten war. Beide Familien besaßen oder pachteten Land, das sie mit Hilfe von Lohnarbeitern bewirtschafteten. Carlo Verdi hatte in der Umgebung

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von Roncole etwa sechzehn Hektar gepachtet, während andere Verdis in der Nähe von Sant’Agata Landwirtschaft betrieben. Aus der Familie Uttini, Wirtsleute in der Stadt Busseto, waren im 18. Jahrhundert mehrere Priester, Lehrer und Musiker hervorgegangen. Einer von ihnen, ein Komponist, der keine sonderliche Bedeutung erlangte, heiratete eine Nichte des großen Komponisten Scarlatti, doch leider lässt sich keine direkte verwandtschaftliche Beziehung zwischen Scarlatti und Verdi herstellen. Solche Familien standen in sozialer Hinsicht deutlich über den landlosen Arbeitern, die für sie arbeiteten. Carlo Verdi lebte in Roncole in einem soliden alten Bauernhaus mit neun Zimmern und Nebengebäuden, bis ihn 1830 die lang anhaltende Krise in der Landwirtschaft und Schulden zwangen, das Anwesen aufzugeben. Er zog in ein Gasthaus, das sogenannte Geburtshaus des Komponisten, das zwar ein bescheidener Bau, aber keineswegs nur eine Hütte war.2 In einem Land, in dem 90 Prozent der Menschen Analphabeten waren, beherrschte er das Schreiben und die Buchführung. Er war Sekretär und Schatzmeister des Gemeindehauses. Er kaufte für den vielversprechenden Achtjährigen ein Spinett – ein defektes, das er reparieren ließ. Und er schickte Giuseppe auf die Schule, mit zehn Jahren dann auch auf das Gymnasium in Busseto, dessen Lehrplan die klassischen Fächer umfasste, wie sie im Wesentlichen auch an heutigen Schulen gelehrt werden. Ein Bauer hätte das niemals gekonnt. Wir sollten Verdis Darstellung seiner Jugend jedoch nicht gänzlich von der Hand weisen. Außerhalb von Mailand ließ sich Italien kaum mit der aufstrebenden Mittelklasse in Großbritannien und Frankreich vergleichen. Das Gebiet um Parma, das dank der Industrialisierung heute zu den reichsten Regionen Europas gehört, war damals ebenso arm wie die meisten Teile Italiens. In der Bevölkerung bestand eine klare Trennung zwischen den signori und allen übrigen, zwischen Adel und Plebs, mit einer schmalen Übergangsschicht aus Anwälten, Beamten, Ärzten und

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Das sogenannte Geburtshaus in Roncole bei Busseto, in Wirklichkeit das Wirtshaus, in dem der junge Verdi aufwuchs (Motiv auf einer alten Postkarte)

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Apothekern, die ihrerseits in der Regel über ein wenig Landbesitz verfügten. Carlo Verdi war kein Landarbeiter, der kurz vor dem Verhungern stand. Aber man kann ihn auch nicht mit einem englischen Farmer seiner Zeit vergleichen, der 80 bis 120 Hektar bewirtschaftete – wie etwa Robert Martin in Jane Austens Roman Emma, der zwar für Harriet eine gute Partie wäre, aber für Emma aus gesellschaftlichen Gründen nicht in Frage käme. Andererseits war Carlo Verdi ganz sicher kein signore. Einen bedeutenden Strang in Giuseppes Leben bildet der Versuch, in den gesellschaftlichen Rang eines signore aufzusteigen. In solch einem Land lag die Bildung weitgehend in den Händen der Geistlichkeit. Verdis erster Lehrer – er gab dem Jungen ab dem Alter von vier Jahren zunächst Privatunterricht und unterrichtete ihn später in der Dorfschule – war zwar kein Priester, aber er spielte gelegentlich die Orgel in der Pfarrkirche von Roncole. Musikalische und schulische Ausbildung griffen so ineinander, und als der Lehrer starb, konnte der zehnjährige Giuseppe das Amt des Organisten übernehmen, zunächst gelegentlich, mit zwölf Jahren aber vollständig. Mit neun Jahren erhielt er zwei oder drei Mal in der Woche Unterricht bei einem Geistlichen in Busseto, hauptsächlich in Latein, Mathematik und Italienisch. Den Italienischunterricht benötigte Verdi, weil er wie die meisten Mitglieder seiner Generation mit dem Dialekt seiner Region aufwuchs – wie er zwischen Rhône und Adria gesprochen wurde, mit ein paar französisch klingenden Vokalen. Noch als er sechsundachtzig Jahre alt war, bemerkte ein Besucher aus Turin, dass er das Italienische immer noch mit einem französischen «u» aussprach, «wie unsere alten Leute in Piemont es tun» (VB, S. 490). Menschen wie den Verdis gelang es zwar, sich des Italienischen zu bedienen, wenn sie Briefe schrieben oder mit offiziellen Stellen kommunizierten oder wenn sie es mit Ortsfremden zu tun hatten, aber sie hatten mit der Hochsprache zu kämpfen. Noch als Erwachsener schrieb

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Giuseppe ein sperriges Italienisch, mit absonderlichen Fehlern in den weniger gebräuchlichen Konjunktivformen, und seine lateinische Schulbildung zeigte sich etwa in dem lateinischen «dumque», das er hartnäckig statt des italienischen «dunque» (deshalb) verwendete. Der entscheidende Teil seiner Schulausbildung fiel in die Zeit zwischen seinem zehnten und zwölften Lebensjahr. Der Besuch des Gymnasiums bedeutete, dass er in Busseto leben musste. Anfangs wohnte er bei einer Schuhmacherfamilie, die mit einem der Nachbarn in Roncole verwandt war. Sonntags ging er nach Hause, um die Orgel zu spielen und seine Familie zu besuchen. Auch die Sommer verbrachte er in seinem Heimatdorf. Die Arbeit mit dem Musikmeister der Stadt, Provesi, die er mit zwölf Jahren begann, markierte den Beginn einer ernsthaften musikalischen Laufbahn. Und beides zusammen bedeutete, dass er sich von seiner eigenen Familie entfernte. Seine Mitschüler bereiteten sich auf Tätigkeiten im Bereich der freien Berufe oder im Staatsdienst vor. Das Musizieren – auf das Giuseppe sich ab dem dreizehnten Lebensjahr konzentrierte – führte dazu, dass Antonio Barezzi und dessen Familie weit mehr für ihn wurden als wohlhabende Förderer, die gelegentlich die Patenschaft für einige seiner Verwandten übernommen hatten. Mit siebzehn Jahren war Verdi fast so etwas wie ein inoffizieller Adoptivsohn, der nun auch in dem schönen Stadthaus der Barezzis wohnte. Es gab jedoch keinen Bruch mit seinen Eltern. Carlo Verdi unterzeichnete weiterhin offizielle Dokumente für seinen Sohn, aber der entscheidende Einfluss lag bei Barezzi. Über Verdis Verhältnis zu seinen leiblichen Eltern wissen wir nur wenig. Darstellungen seiner Kindheit in Roncole erzählen von einem scheuen Jungen, der sich nur wenig mit seinen Altersgenossen oder sonst jemandem abgab, auch wenn er gelegentlich in der Gaststube aushalf. In seinen Gefühlen scheint er seinen Eltern auch weiterhin nahe geblieben zu sein, vor allem seiner

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Antonio Barezzi, Verdis «zweiter Vater» und Schwiegervater

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Mutter, während er sich in anderen Hinsichten von ihnen entfernte. Als sein Vater 1867 starb, schrieb Verdis zweite Ehefrau, sie und ihr Mann empfänden tiefe Trauer, auch wenn sie in ihrer «Denkungsart» eher «Antipoden» des alten Mannes gewesen seien (WalkerV, S. 268). Als etwas später im selben Jahr Barezzi starb, zeigte Verdis Trauer sich deutlicher: «Wenn es ein zweites Leben gibt, wird er sehen, wie sehr ich ihn geliebt habe und wie dankbar ich für das bin, was er für mich getan hat. Er ist in meinen Armen gestorben, und ich habe den Trost, ihm nie Kummer bereitet zu haben» (VI, S. 79; dt.: Briefe, S. 189). Die antiklerikale Einstellung dürfte allerdings nicht das wichtigste Band zwischen ihm und seinem zweiten Vater gewesen sein, auch wenn der reife Verdi gerne eine weitere Geschichte aus seiner Kindheit erzählte, wonach der Sechsjährige als Messdiener von dem verärgerten Pfarrer solch einen Stoß erhielt, dass er die Altarstufen hinunterfiel. Der im Dialekt hervorgestoßene Fluch – «Soll Sie der Blitz erschlagen!» – wurde acht Jahre später Wirklichkeit. Doch das dürfte eine nebensächliche Episode gewesen sein. Aufmerksamkeit erregte der heranwachsende Verdi bei Barezzi vor allem durch sein Musizieren. Barezzi, der von seinem Verwandten als ein in die Musik «vernarrter Amateur» beschrieben wird, konnte mehrere Instrumente spielen und war die treibende Kraft in der Philharmonischen Gesellschaft der Stadt, die einen Teil ihrer Konzerte in seinem Musiksalon gab. Im Herzen der norditalienischen Tiefebene drehte sich das städtische Musikleben um mehrere Institutionen: das Opernhaus; das (oft von der Stadt subventionierte) Orchester, das dort spielte; die Hauptkirche; die Stadtkapelle; die Philharmonische Gesellschaft; die städtische Musikschule. Doch viele Musiker spielten, sangen oder lehrten gleichzeitig in mehreren dieser Einrichtungen. So war der Organist der Kirche möglicherweise zugleich der Stadtmusikmeister und der leitende Korrepetitor des Orchesters, in dem

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einige seiner Schüler als unbezahlte Musiker spielten. In einer Stadt wie Busseto, die zu klein für regelmäßige Opernaufführungen war, bestand die Philharmonische Gesellschaft weitgehend aus Amateuren. Sie stellte sowohl das Orchester als auch die Kapelle, und einige ihrer Mitglieder spielten in der Kirche die dort zugelassenen Instrumente. Obwohl es keinen regelmäßigen Opernspielplan gab, war die Musikkultur von Busseto in den 1820 er Jahren doch zutiefst von der Oper geprägt – zugänglich über Aufführungen in den größeren Städten der Umgebung (das Gebiet von Mailand bis zur Adria war das Kernland dieser Gattung) oder auf Papier in Transkriptionen, die von «vernarrten Amateuren» publiziert wurden. Mit einigem Abstand folgte die Kirchenmusik, für deren Verständnis es gewisser Kenntnisse im «gelehrten» (kontrapunktischen) Stil bedurfte. Die Marschmusik, die ein Vierteljahrhundert Krieg gefördert hatte, sickerte sowohl ins Musiktheater als auch in die Kirchenmusik ein und beherrschte das Repertoire der Stadtkapellen. Wiener symphonische Musik, wie Haydn, Mozart und Beethoven sie entwickelt hatten, war dagegen nirgendwo zu hören. Verdis Lehrer Provesi stand Barezzi nicht nur in musikalischen Dingen, sondern auch in der politischen Einstellung nahe. Mit dreizehn Jahren gab der Junge sein erstes Konzert auf der Orgel der Schulkapelle (er sprang für einen anderen ein, der krank geworden war, und spielte einige selbst komponierte Stücke). Ab dem Alter von vierzehn Jahren komponierte er Stücke für die Konzerte der Philharmonischen Gesellschaft. Mit sechzehn Jahren bemühte er sich – vergeblich – um die Stellung des Organisten in einer nahe gelegenen Kleinstadt. In der Karwoche 1830 – er wurde gerade siebzehn – sprang er für Provesi ein und komponierte Stücke für einen Gottesdienst, eine Prozession und ein Konzert. Das tat er unentgeltlich im Rahmen der damals üblichen Praxis der unbezahlten Lehre – wodurch der alte Mann,

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dem keine Pension zustand, weiterhin ein Salär erhielt. Dabei ging man stillschweigend davon aus, dass Verdi nach Provesis Tod sowohl dessen Salär als auch dessen Stellung übernehmen würde. Verdi verbrachte inzwischen so viel Zeit bei den Barezzis, dass er sich ganz natürlich in deren nur wenige Monate jüngere Tochter Margherita verliebte (er gab ihr Gesangsstunden) und sie sich in ihn. Er war so «scheu und zurückhaltend», dass ihre Eltern zunächst gar nichts davon bemerkten (A, Bd. 1, S. 75–78). Als die Mutter es dann doch entdeckte, spielte sie die Anstandsdame, was sie und Antonio Barezzi jedoch nicht daran hinderte, den jungen Mann in ihr Haus aufzunehmen. Sie sahen in ihm offensichtlich ihren zukünftigen Schwiegersohn und einen Musiker mit großen Zukunftsaussichten. Sie gaben ihm ein großes, halb abgesondertes Zimmer, in dem er arbeiten konnte. Noch am Tag seines Einzugs veranlasste ihn Barezzi, sich bei der Stadt um ein Stipendium für das Studium am Mailänder Conservatorio zu bewerben, der von der napoleonischen Regierung gegründeten Musikhochschule, die weitaus größeres Format besaß als alles, was das Herzogtum Parma zu bieten hatte. Es lässt sich nicht leicht beurteilen, was Verdi damals auf musikalischem Gebiet zu leisten vermochte, denn wie er später schrieb, hatte er viele der in Busseto komponierten Ouvertüren, Märsche, Kantaten, Klaviervariationen und geistlichen Musikstücke vernichtet. Das Publikum der Kleinstadt begnügte sich möglicherweise mit relativ grobschlächtigen Werken und mit musikalischen Darbietungen, die durchaus nicht glanzvoll waren. Das Klavierspiel musste Verdi sich selbst mit Hilfe von Lehrbüchern beibringen – das Klavier war ein für Busseto neues Instrument. Er war ein lokales Wunderkind, aber niemand behauptete, er wäre als Komponist oder Musiker auch nach europäischen Maßstäben ein Ausnahmetalent gewesen wie etwa der junge Mozart.

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Wie Barezzis Bemühungen zeigen, glaubte er, dass Verdis Zukunft auf dem Gebiet der Oper lag, jener Musikgattung, die von allen führenden italienischen Komponisten gepflegt wurde und das Ziel der meisten Schüler am Conservatorio darstellte. Das hieß nicht notwendig, dass der junge Mann Busseto würde verlassen müssen. Opernkomponisten arbeiteten oft zugleich auch als kirchliche maestri di capella (Organisten und Komponisten), etwa Giovanni Gazzaniga und sein Nachfolger Stefano Pavesi in ihrer lombardischen Heimatstadt Crema. Pavesi lebte immer noch dort. Angesichts des schwindenden Ansehens der Kirchenmusik galten solche Stellungen inzwischen als Posten, auf die man sich zurückzog, wenn eine Karriere als Opernkomponist nicht recht vorankommen wollte oder ins Stocken geriet. Der regierende König der Oper, Rossini, hatte sich nie mit solch einer Stellung abgegeben. Es war jedoch durchaus denkbar, dass Verdi aus Mailand zu einer glanzvollen Frühphase nach Busseto zurückkehrte, um auf die ersten Opernaufträge zu warten, und dass er nach dem für italienische Komponisten typischen Wandern von einem Opernhaus zum anderen seine späte Schaffensperiode an der Stiftskirche von Busseto verbrachte, um den Ruhm der Stadt, des aus Freunden und Verwandten bestehenden Barezzi-Netzwerks und der Musik zu mehren. Ein bescheidenes Stipendium (von 300 Francs jährlich für insgesamt vier Jahre) zu erlangen erwies sich als schwierig. Die wohltätige Stiftung der Stadt, genannt Monte di Pietà, vergab vier Stipendien pro Jahr, doch sie waren bereits für zweieinhalb Jahre im Voraus vergeben. Eine weitere Eingabe bei der Regierung in Parma erbrachte nur die Zusage, dass Verdi die nächste frei werdende Stelle einnehmen könne. Am Ende streckte Barezzi das Geld für das erste Jahr vor, und im Juni 1832 machte Verdi sich auf den Weg nach Mailand. Dort fiel er durch die Aufnahmeprüfung des Konservatoriums. Die Gründe dafür kennen wir heute recht genau. Wie Verdi

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selbst in dem damals unterzeichneten Aufnahmeantrag vermerkte, war er ein im Alter bereits zu weit fortgeschrittener «Ausländer», der eine Sondergenehmigung benötigte. Das größte Problem lag darin, dass der Klavierlehrer seine Handstellung für vollkommen falsch hielt, und wie der Mann sagte, war Verdi mit achtzehn bereits zu alt zum Lernen. Der Direktor und sein Stellvertreter gelangten nach Durchsicht der von Verdi vorgelegten Kompositionen zu der Ansicht, er habe gute Aussichten, wenn ein weiteres Studium des Kontrapunkts für eine Disziplinierung seiner «angeborenen Einbildungskraft» sorge, doch in einer bereits überfüllten Schule hielten sie eine Sonderbehandlung nicht für angebracht. Diese Entscheidung war durchaus verständlich, auch wenn Verdi Zeit seines Lebens Groll darüber empfand. Das offizielle Ablehnungsschreiben erhielt einen herausragenden Platz in seinen privaten Papieren. Auch Barezzi geriet dadurch in Not. Es gibt Hinweise seitens des aus Busseto stammenden Lehrers, bei dem Verdi in Mailand wohnte, wonach das Scheitern des jungen Mannes in Busseto möglicherweise als Niederlage der antiklerikalen Fraktion empfunden wurde. Die Folge war, dass Verdi in Mailand Privatunterricht bei Vincenzo Lavigna nahm, einem erfahrenen Komponisten und Korrepetitor von sechzig Jahren, der auf gewisse Opernerfolge zurückblicken konnte. Das hieß allerdings auch, dass Barezzi etwa dreimal so viel Geld ausgeben musste, wie er erwartet hatte. Von nun an musste er nicht nur für Verdis Unterrichtsstunden, Kost und Logis zahlen, sondern auch für ein Bett und für Kleidung, für einen Flügel, für Notenpapier und für ein Abonnement an der Scala (wahrscheinlich für das Parkett oder den Orchestergraben, damals ein vergleichsweise billiger Teil des Hauses, in dem man stehen musste oder auf nicht nummerierten Bänken saß). Es zeugt von Barezzis Glauben an Verdi und von seiner Großzügigkeit, dass er erst 1835 – leisen – Protest anmeldete, als Verdi allein wohnte, seinen Lehrer vernachlässigte (wohl

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weil er über ihn hinausgewachsen war) und für seine Wohnung mehr ausgab, als ihm zur Verfügung stand. Weniger geduldig verfuhr Barezzi mit der Stiftung Monte di Pietà, die ihm das vorgestreckte Geld für das Stipendium erst nach langem bürokratischem Hickhack zurückzahlte. Verdi verbrachte die drei Jahre bis 1835 in Mailand und kehrte nur 1833 zu einem kurzen Sommerurlaub und in der zweiten Jahreshälfte 1834 zu einer sechsmonatigen Unterbrechung nach Hause zurück. Dass ihm die Zulassung zum Konservatorium versagt worden war, erwies sich im Nachhinein als segensreich. Als Schüler hätte er Uniform tragen und die gesamte Zeit mit den übrigen Musikschülern verbringen müssen. Das Üben an den Instrumenten hätte einen weitaus größeren Teil des Tages beansprucht als bei Lavigna. Am Ende wäre Verdi vielleicht ein ausgezeichneter Musiker gewesen, aber er hätte wohl nur wenig über Dinge außerhalb der Musik gewusst. So aber nutzte er die Möglichkeiten, die Mailand ihm bot – wenn auch mit fremdem Geld. Wie das breite Interesse beweist, das er später zeigte, nutzte er diese Chancen nach Kräften, anders als andere italienische Komponisten der Zeit, deren Welt sich weitgehend auf die Oper beschränkte. In Mailand, der Hauptstadt des napoleonischen Königreichs Italien (das so nicht richtig bezeichnet war, weil es nur den nordwestlichen Teil der italienischen Halbinsel umfasste), gab es eine solide Mittelschicht aus Beamten und Mitgliedern freier Berufe, zu der auch Kaufleute, Bankiers und Fabrikanten gehörten. In dem Nachfolgestaat, dem zu Österreich gehörenden Königreich Lombardo-Venetien, wuchs diese Mittelschicht bald so stark an, dass nicht mehr genügend «angemessene» berufliche Positionen zur Verfügung standen – ein Hauptgrund für die Bestrebungen und Unruhen, die unter der Bezeichnung «Risorgimento» zusammengefasst werden. Inzwischen war die innerhalb der noch bestehenden Stadtmauern übervölkerte Stadt zur Hauptstadt des

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italienischen Geisteslebens und der Oper geworden. Die Mailänder Verlage und deren Leser gehörten zu den lebendigsten in einem Land, in dem nur wenige Menschen lasen. Die Scala war nun – anders als noch im 18. Jahrhundert – das führende Opernhaus Italiens. In vier weiteren, allerdings bescheideneren Häusern wurden zumindest zeitweilig Opern aufgeführt. Wie im übrigen Italien ließ die Regierung nach den beängstigenden Erfahrungen der Französischen Revolution keine politischen Debatten zu. Eine Vielzahl von Journalisten befasste sich daher in erster Linie mit der Oper, einem Thema, das man nicht nur gefahrlos behandeln konnte, sondern das auch auf großes Interesse stieß, denn die Werke von Rossini, Bellini und Donizetti hatten dieser Gattung eine große Anziehungskraft verliehen. Weitere Neuigkeiten tauschte man in den Kaffeehäusern aus, die für Männer einen Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens darstellten. Wie viel von alledem Verdi aufnahm, wissen wir nicht. Damals begann er jedenfalls mit der sein Leben lang beibehaltenen Gewohnheit, ins Theater zu gehen – nicht nur in die Oper und in Mailand nicht nur in die Scala. Möglicherweise lernte er dort mehr als in seiner formalen Ausbildung. Dasselbe dürfte für seine Gewohnheit gelten, Bücher zu lesen, die nichts mit Musik zu tun hatten, vor allem Romane und Theaterstücke. Selbst schlechte Romane vermochten sein Denken für Dinge zu öffnen, die jenseits der musikalischen Routine lagen (in der tiefen Depression nach dem Tod seiner Frau einige Jahre später verschlang er einen Roman nach dem anderen). Er kannte bereits einige moderne italienische Romane wie Manzonis Die Verlobten. Nun las er auch die französischen Romantiker und in Übersetzungen exotischere Schriftsteller wie Byron und Schiller. In Mailand war der geistige Einfluss Frankreichs stark. Wann Verdi seine recht guten französischen Sprachkenntnisse erwarb, ist nicht bekannt. Wir wissen, dass er 1846 französischen Sprachunterricht nahm, doch mögli-

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cherweise erlernte er die Anfangsgründe schon in dieser frühen Mailänder Zeit, denn gebildete Mailänder sprachen meist fließend Französisch, zumal diese Sprache für Norditaliener nicht schwer zu erlernen ist. Verdis autodidaktische Bildung war alles andere als systematisch. Dennoch unterschied er sich gerade durch diese deutlich von der Mehrzahl der italienischen Musiker, die an handwerklichen Traditionen und Auffassungen festhielten. Über sein persönliches Leben wissen wir noch weniger. Nach fünfzehn Monaten begann sein Vermieter, der aus Busseto stammende Lehrer, sich über Verdis «rüpelhaftes Benehmen» zu beklagen, und schließlich bestand er darauf, dass Verdi in eine andere Wohnung zog. Er sagte zu Barezzi, er wünschte, er wäre dem jungen Mann niemals begegnet. Er berichtete ihm, Verdi treibe sich zu viel in der Stadt herum, und sprach in Andeutungen von einem unaussprechlichen Verhalten – wahrscheinlich seiner eigenen Tochter gegenüber. Verdi, der sich selbst später als «Bär» bezeichnete, war kein einfacher Mensch, der alle für sich eingenommen hätte. Andererseits scheint sein Vermieter recht empfindlich gewesen zu sein. Er sollte später einlenken, allerdings erst, als Verdi im sicheren Hafen der Ehe gelandet war. Lavignas formale Ausbildung bestand hauptsächlich darin, dass er ihn, wie Verdi sich später erinnerte, an Kontrapunkt und Fugen arbeiten ließ. Der alte Mann, der aus der neapolitanischen Schule des 18. Jahrhunderts stammte, war entschieden der Ansicht, das einzige gute Vorbild für Komposition sei der neapolitanische Meister Paisiello, der von Konservativen oft wegen seiner melodischen Schlichtheit im Unterschied zu Rossinis «lauten» Innovationen gerühmt wurde. Verdi zeigte ihm deshalb nicht mehr seine eigenen Kompositionen – die dem Vorbild Paisiellos keineswegs entsprachen. Das ist jedoch nicht die ganze Wahrheit. Lavignia führte ihn in das «ideale» – nach heutigen Begriffen wahrscheinlich «freie» – Komponieren ein.

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Verdi studierte einige Streichersonaten von Corelli. Nach seinen späteren Vorschlägen für einen Lehrplan des Musikstudiums zu urteilen, befasste er sich auch mit anderer italienischer Musik aus dem späten 17. und dem 18. Jahrhundert (von Alessandro Scarlatti, Durante, Leo, Marcello). Sein in späteren Jahren wiederholt geäußertes Bekenntnis musikalischer «Ignoranz» passt nicht zu seiner Bibliothek, in der ein breites Spektrum alter und neuer Musik von Palestrina bis Wagner vertreten war, und dasselbe gilt für seine Äußerung gegenüber einem Freund, wonach er Musik durch das Lesen von Partituren «nicht aufnehmen» könne (C, S. 618). Der reife Verdi unterschied jedoch zwischen seinen durchaus eingestandenen Kenntnissen des Kontrapunkts und einer musikalischen «Bildung», die er nach eigenem Bekunden nicht besaß. Ohne Zweifel erwarb er auch nur schrittweise Kenntnisse in diversen Musikrichtungen, die jenseits der italienischen Schule lagen. Obwohl Mailand gewissen Einflüssen der österreichischen Kultur ausgesetzt war, wurde die Wiener Klassik dort in den 1830 er Jahren weniger gepflegt als noch zwanzig Jahre zuvor. In diesem Sinne war Verdi ein Autodidakt und wie viele andere Autodidakten empfindlich, wenn es um das Streben nach akademischer Ausbildung ging. Ein Wiener Werk, das in Mailand sehr wohl gepflegt wurde, war Haydns Schöpfung. Sie wurde im April 1834 von der Philharmonischen Gesellschaft aufgeführt, deren Klangkörper zwar weitgehend aus Amateuren bestand, aber zweifellos stattlicher war und größere musikalische Fähigkeiten in sich vereinigte als der ihres Gegenstücks in Busseto. Sie zählte Angehörige der höchsten Mailänder Adelsfamilien zu ihren Mitgliedern. Einer von ihnen sang später das Bass-Solo in der ersten italienischen Aufführung des Stabat Mater von Rossini. Verdi übernahm, wie er selbst berichtete, die Aufgabe des Korrepetitors, weil er die einzige verfügbare Person gewesen sei, die in der Lage war, gleichzeitig zu dirigieren und die Klavierbegleitung zu spielen.

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Ich bemerkte sehr wohl die verschiedenen, ironischen Seitenblicke der Herren Dilettanten: mein mageres Jungengesicht und meine wenig elegante Kleidung schienen ihnen wenig Vertrauen einzuflößen. Kurz und gut, die Probe begann; und mit der Zeit nahm mich die Sache so gefangen, daß ich mit der linken Hand weiterbegleitete und mit der rechten zu dirigieren begann: es wurde ein voller Erfolg für mich, um so größer, da er er unerwartet war. (Walker V, S. 16 f.; dt.: Schaffen, S. 90)

Das führte zu weiterer – unbezahlter – Arbeit. Verdi hoffte, die Freundschaft mit dem Direktor der Gesellschaft, Pietro Massini, werde ihm vielleicht den Auftrag für eine Oper einbringen. Und tatsächlich machte Massini ihn nacheinander mit zwei Librettisten bekannt. Neun Monate vor der Aufführung der Schöpfung starb Verdis alter Lehrer Ferdinando Provesi. Die Folge war ein «Aufstand» in Busseto über den Vorschlag, dass Verdi dessen Nachfolge antreten solle – ein Vorgang, der in der lombardischen Tiefebene keineswegs einzigartig dastand (in einer anderen Kleinstadt, in Guastalla, hatte einige Jahre zuvor gleichfalls ein Kampf um eine ähnliche Frage getobt), der aber einzigartig detailliert dokumentiert ist. Die norditalienischen Städte waren sowohl baulich als auch sozial eng gewirkt. Wenn es zu Streitigkeiten zwischen verschiedenen Faktionen kam, entzweiten sie Menschen, vielleicht sogar Verwandte, die einander auf der Straße begegneten und allzu viel über die Vergangenheit der anderen wussten. Und die Leute, die sich in solchen Streitereien auf dieselbe Seite schlugen, entwickelten unter Umständen eine wildentschlossene Gruppenloyalität. Solche Streitereien entbrannten oft zwischen den Anhängern rivalisierender Opernsänger oder Balletttänzerinnen – so etwa 1824 in Piacenza, 1841 in Reggio oder 1843 in Parma, die sämtlich von Busseto aus bequem erreichbar waren. In Reggio

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nahm der Streit solche Ausmaße an, dass die Regierung einige Adlige aus der Stadt verbannte und die Opernspielzeit verkürzte. Die Daten sind bruchstückhaft, doch in einem Land, in dem politische Debatten verboten waren, verliehen solche Krawalle möglicherweise alten Feindschaften zwischen klerikalen Konservativen und antiklerikalen Liberalen Ausdruck. Bei dem «Krieg» in Busseto war das offensichtlich der Fall. Barezzis Verwandter Giuseppe Demaldè verglich den Vorsteher der Stiftskirche – und Anführer der klerikalen Partei – mit der spanischen Inquisition. Der Vorsteher und seine Unterstützer rächten sich zweifellos für die Demütigung, die sie mehr als dreißig Jahre zuvor hatten hinnehmen müssen, als die von den Franzosen inspirierte Republik der Kirche den «Jakobiner Provesi» aufgezwungen hatte. Nach dem Tod des maestro di capella zögerten Barezzi und seine Gruppe die Entscheidung fast ein Jahr lang hinaus. Sie mussten warten, bis Verdi sein Studium abgeschlossen hatte oder zumindest ein gutes Zeugnis seines Lehrers vorweisen konnte. Sie erwarteten, dass man vor der Besetzung der Organistenstelle einen Wettbewerb veranstaltete, den Verdi gewinnen würde. Der Monte di Pietà und die Stadt sollten das Salär aufbessern, indem sie Verdi auch zum Musikmeister der Stadt bestellten. Deshalb kehrte Verdi am 20. Juni 1834 nach Busseto zurück. Doch zwei Tage zuvor hatte der Vorsteher seine Trumpfkarte ausgespielt. Der Gemeinderat der Stiftskirche bestellte Giovanni Ferrari, einen «Ortsfremden», zum Organisten, ohne einen Wettbewerb durchzuführen. Gerüchte kursierten, und man erhob gegenseitige Vorwürfe. Beide Parteien versuchten, den Monte di Pietà auf ihre Seite zu ziehen. Verdi und seine Anhänger appellierten an die Regierung in Parma, einen Wettbewerb anzuordnen. Die Philharmonische Gesellschaft beschloss, nicht mehr in Gottesdiensten zu spielen. Es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen – deren erste trug sich zu Weihnachten in der Kirche zu. Daraufhin verbot die

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Regierung jede Instrumentalmusik (außer Orgelmusik) in den Kirchen von Busseto. Noch komplizierter wurde die Angelegenheit durch die Kunde, Verdi widme sich vollauf der Oper und wolle so bald wie möglich nach Mailand ziehen. Der Bürgermeister zitierte Margherita Barezzi, die inoffizielle Verlobte des jungen Mannes, in diesem Sinne. Das traf möglicherweise durchaus zu, doch Verdi konnte sich angesichts seiner vielfältigen Verpflichtungen gegenüber Barezzi und dessen Partei unmöglich aus den lokalen Kämpfen zurückziehen. Als der Streit schon fast achtzehn Monate getobt hatte, fühlte Verdi sich versucht, an einem Wettbewerb für eine Stellung am Dom von Monza – einer größeren Stadt nicht weit von Mailand, die ein besseres Gehalt bot – teilzunehmen, doch auf Barezzis Anraten ließ er von diesem Vorhaben ab. Die Langsamkeit der Bürokratie gab den Beteiligten viel Zeit, ihre Streitigkeiten auszutragen. So veranstalteten sie konkurrierende Konzerte, und in einigen davon setzte Barezzis Gruppe Kompositionen von Verdi als Munition ein. Erst im Januar 1835 fällten die Behörden in Parma ein weises Urteil. Die Stellung des Organisten und der Posten des Musikmeisters, der zugleich Leiter der Philharmonischen Gesellschaft war, sollten getrennt werden. Und nur für den zweiten Posten sollte ein Wettbewerb ausgerichtet werden. So konnte Ferrari bleiben. Doch Verdi war inzwischen nach Mailand zurückgekehrt, zu einem abschließenden, eher halbherzigen Studium (und der vielleicht nicht ganz so halbherzigen Arbeit an einer Oper). Erst im Februar 1836 wurde der Wettbewerb durchgeführt. Verdi siegte, während Ferrari auf eine Teilnahme verzichtet hatte. Und am 5. März erhielt Verdi Provesis alte Stelle, wenn auch nur zur Hälfte und mit einem mageren Salär, das 657 Francs im Jahr betrug. Als alles vorüber war, schrieb Verdi in einem Brief an die Stadt, er sei «bei diesem langanhaltenden Ringen ein unbeteiligter Zuschauer gewesen» (A, Bd. 1, S. 222: dt.: Briefe, S. 24). Das ent-

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sprach nicht der Wirklichkeit. Wahrscheinlich hatte er inzwischen genug davon. Als Barezzis «Geschöpf» in diese Affäre verwickelt worden zu sein sorgte bei ihm für Verbitterung gegenüber der Stadt und dem Klerus und für die in seinem späteren Leben deutlich hervortretende Entschlossenheit, sich nach Möglichkeit seine Unabhängigkeit zu bewahren. Doch auf dem Höhepunkt des «Kriegs» hatte er Ferrari – in einem Brief an seinen Unterstützer Demaldè – als «gemein und boshaft» beschimpft (A, Bd. 1, S. 199) und den Vorsteher eine «abscheuliche schwarze Seele» genannt.3 Noch 1853, als es ihm misslang, seinem aus Busseto stammenden Schüler Emanuele Muzio dort eine Stelle zu verschaffen, schimpfte er über «diese Priestersäcke, die mich nicht als maestro haben wollten» (A, Bd. 2, S. 240).4 Am 20. April 1836 unterzeichnete Verdi einen Neunjahresvertrag als Stadtmusikmeister, der alle drei Jahre verlängert werden musste. Vier Tage später feierten er und Margherita Barezzi offiziell ihre Verlobung, und am 4. Mai heirateten sie. Der Vertrag verpflichtete ihn, viermal in der Woche dreizehn jungen Einwohnern der Stadt Musikunterricht zu erteilen sowie für die Philharmonische Gesellschaft zu komponieren und deren Proben zu leiten. Der Urlaub betrug zwei Monate im Jahr. Da kann es kaum verwundern, dass Verdi schon nach sechs Monaten nachfragte, ob die Stelle in Monza noch frei war (er «vergeude» seine Jugend in einem Ort fern von Mailand, der keine «Aussicht auf ein Fortkommen» biete 5), und dass er zum frühestmöglichen Termin, drei Jahre später, kündigte, obwohl seine weitere berufliche Laufbahn noch im Ungewissen lag. In einem Brief an den Bürgermeister schrieb er mit demonstrativem Bedauern: «Ich merke wohl, dass ich diesem meinem so unglückseligen Heimatort nicht so nützlich sein kann, wie ich gehofft hatte» (A, Bd. 1, S. 250; dt.: Briefe, S. 28). Die Ehe gehört bis heute zu den ganz privaten Bereichen in Verdis Leben. Margherita Verdi ist für uns kaum mehr als ein

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Margherita Barezzi, Verdis erste Frau. Ölgemälde von Augusto Mussini

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Name. Ihre Porträts zeigen eine selbst für die 1830 er Jahre sehr gepflegte Frisur, doch das sorgfältig gelegte Haar und das Diadem umgeben ein Gesicht, das kaum etwas sagt. Nach einer Hochzeitsreise nach Mailand bezog das junge Paar – beide zweiundzwanzig Jahre alt – eine schöne Wohnung in Busseto, die natürlich vom Vater der Braut bezahlt wurde. Am 26. März 1837 wurde die Tochter Virginia geboren, am 11. Juli 1838 der Sohn Icilio Romano. Ihre Namen – die zweier römisch-republikanischer Märtyrer, die Opfer eines Tyrannen geworden waren – besaßen eindeutig politische Konnotationen. Beide starben kurz nach der Vollendung des ersten Lebensjahres, wie so viele Kinder in einer Zeit, als man die Ursachen der Infektionskrankheiten noch nicht kannte. Margherita Verdi folgte ihnen im Juni 1840, acht Monate nach dem Tod des Sohnes, den sie nicht hatte stillen können. Die ins Sterberegister eingetragene Todesursache, rheumatisches Fieber, lässt die Möglichkeit einer Infektion offen. Ein späterer Autor, der Verdi befragen konnte, sprach von einer «Entzündung des Gehirns». Es ist daher denkbar, dass sie an Meningitis starb. In dieser kurzen, von Todesfällen gezeichneten Phase des Familienlebens machte Verdi zugleich seinen Weg in die Opernwelt. Die Philharmonische Gesellschaft von Busseto spielte seine Ouvertüren und andere Werke, 1838 /39 publizierte er neun Lieder, doch Oberto, conte di San Bonifacio war das erste Werk, mit dem er ein breiteres Publikum erreichte. Nach einer relativ langen Reifungsphase erlebte die Oper am 17. November 1839 ihre Uraufführung an der Scala. In dieser Spielzeit folgten vierzehn weitere Aufführungen, die Oper wurde vom Publikum und der Kritik recht freundlich aufgenommen und auch in Turin sowie in der folgenden Spielzeit nochmals an der Scala gespielt. Verdi konnte zwar noch nicht als arriviert gelten, aber doch als ein Mann, auf den man zu achten hatte. Dass ein führendes Opernhaus das Werk eines Neulings herausbringt, wäre heute unvorstellbar. Die Uraufführung der Oper

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eines bekannten Komponisten – als gelegentliche Pflichtübung – ist genug des Risikos und bedeutet möglicherweise ein schwach besetztes Haus. Das war ganz anders, als Verdi seine Laufbahn begann. Damals brachten die führenden Theater Italiens grundsätzlich neue Opern heraus oder zumindest solche jüngeren Datums. In den 1830 er Jahren produzierte die Scala achtunddreißig neue Opern, mehr als in jedem anderen Jahrzehnt davor oder danach. Als Produktionssystem glich die italienische Oper eher dem Hollywoodkino der 1930 er Jahre oder dem heutigen Fernsehen als der musealen Veranstaltung, zu der Oper heute geworden ist. Ständig musste man neue Werke auf die Bühne bringen, die zum Teil ganz unvermeidlich von neuen Komponisten stammten. Einige davon fielen natürlich durch und wurden zurückgezogen. Einige (und oft dieselben) wurden auf Kosten des Komponisten aufgeführt. Doch gelegentlich musste man als Impresario ein Risiko eingehen und einem unbekannten Komponisten eine Chance geben, der nicht zahlen konnte und dem man sogar noch ein Angebot machen musste – zum Beispiel den halben Anteil an den Veröffentlichungsrechten, die sich nur verkaufen ließen, wenn das Werk ein Erfolg wurde. Auf diese Weise kam Bartolomeo Merelli dazu, Oberto auf die Bühne zu bringen. Der eitle, ehrgeizige Mann, der als Agent und Librettist begonnen hatte und einem Netz von Theatern in Norditalien Opernkompagnien bereitstellte, leitete die Scala seit 1829, zunächst gemeinsam mit einem Partner, inzwischen jedoch allein. Solch eine Gestalt hatte zahlreiche Mitarbeiter und Bekannte, die ihn auf vielversprechende Künstler aufmerksam machten. Es war hilfreich, wenn der Künstler in Mailand lebte und durch andere Arbeiten die Aufmerksamkeit auf sich zog. Daher auch Verdis Verdrossenheit über die Tatsache, dass er in Busseto bleiben musste. Wie es scheint, lernte der Impresario ihn hauptsächlich über Massini, den Leiter der Mailänder Philharmonischen Gesellschaft, und über den Journalisten Antonio

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Piazza kennen, der mit Massinis Hilfe ein Libretto für ihn geschrieben hatte. Während des ganzen Jahres 1836 und dann mit Unterbrechungen in den zwei folgenden Jahren arbeitete Verdi an einer Oper. Ob es sich dabei immer um dieselbe handelte, ist von Forschern intensiv untersucht worden. In gewissem Sinne ist das jedoch eine müßige Frage. Ähnlich wie das Drehbuch für einen Film existierte eine Oper erst, wenn sie produziert worden war, und auch dann musste man sie an die jeweils beteiligten Sänger und Sängerinnen anpassen. Selbst nach der Uraufführung des Oberto musste Verdi die Oper für eine neue Besetzung und dann nochmals für spätere Spielzeiten umarbeiten. Mit Sicherheit gab es eine frühe Fassung des Rochester (Verdi schrieb den Namen ohne «h»), die mehr oder weniger auf dem Dichter und Lebemann der Restaurationszeit basierte, und einiges davon ging in Oberto ein. Und vielleicht gab es auch einen Lord Hamilton (die TudorStuart-Geschichte war eine beliebte Quelle, zugleich furchtbar und angenehm fern). Verdi hatte anfangs (1836 /37) auf eine Inszenierung in Parma oder in Piacenza, den beiden größten Städten des Herzogtums, gehofft, und später dann auf eine Produktion an einem Mailänder Theater aus der zweiten Reihe. Beide Ziele hätten für einen Anfänger näher gelegen als die Scala, «das erste Theater der Welt», wie Verdi sagte – die eingebildete Überlegenheit, über die er sich in späteren Jahren lustig machte, ob sie nun für Mailand, Paris oder Neapel beansprucht wurde (WalkerV, S. 27). Doch im November 1837 hatte der Impresario in Parma – der in finanziellen Schwierigkeiten steckte und nicht in der Stimmung war, Risiken einzugehen – ihm eine Absage erteilt, und so bat er seine Mailänder Bekannten Massini und Piazza, bei Merelli anzufragen. Deren Bemühungen und zwei Reisen, die Verdi im Frühjahr und im Herbst 1838 nach Mailand unternahm, blieben offenbar nicht ganz erfolglos. Jedenfalls schätzte er seine Aussichten nach

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der zweiten Reise als hinreichend sicher ein, um nach der Rückkehr die Stellung in Busseto zu kündigen und im Februar 1839 mit seiner Frau und dem noch lebenden zweiten Kind nach Mailand zu ziehen – obwohl er zur Bestreitung der Reisekosten wie auch der Lebenshaltungskosten in Mailand bis zur Uraufführung des Oberto auf Darlehen Barezzis und anderer Verwandter und Freunde in Busseto angewiesen war. Im Zusammenhang mit einem dieser Kredite schrieb Verdi an Barezzi, seine Ziele richteten sich «gewiss nicht auf die Hoffnung, Reichtümer anzusammeln, sondern auf die, unter den Menschen etwas darzustellen» (A, Bd. 1, S. 315; dt.: Briefe, S. 30). Damals kam es häufig vor, dass Opernhäuser ihre Spielpläne aus unvorhergesehenen Gründen abändern mussten. Merelli wollte Oberto ursprünglich im Frühjahr 1839 herausbringen, mit drei der besten Sänger und Sängerinnen der Zeit, der Sopranistin Giuseppina Strepponi, dem Tenor Napoleone Moriani und dem Bariton Giorgio Ronconi, doch eine Erkrankung Morianis vereitelte dieses Vorhaben. Strepponi, die später Verdis Geliebte und schließlich seine Frau wurde, und Ronconi, der zukünftige Sänger des Nabucco, ermutigten den Impresario möglicherweise, die Arbeit an dem Werk fortzusetzen, doch mehr konnten sie kaum für den neuen Komponisten tun. Sie verließen die Scala und wechselten an andere Theater. Verdi musste deshalb seine Oper an die andersartigen stimmlichen Möglichkeiten der weniger bekannten Mezzosopranistin und des Basses anpassen, die für den Herbst engagiert wurden. Merelli ließ Piazzas Libretto von Temistocle Solera leicht umarbeiten und brachte Verdi dazu, ein neues Quartett zu schreiben, dessen langsamer Teil zu den schönsten Partien des Werkes gehört. Oberto war gewiss kein Meisterwerk, nicht einmal nach den recht unscharfen Maßstäben der italienischen Oper um 1839. Rossini hatte sich schon zehn Jahre zuvor zurückgezogen, Bellini war tot, und Donizetti war nach Paris gegangen. Mercadante hat-

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te zwar Reformopern interessanten Zuschnitts komponiert, denen es bei aller Qualität jedoch an eingängigen Melodien mangelte, so dass sie keine großen Hits wurden. Es war eine Zeit des Übergangs. Dass es sich um einen Übergang zu Verdi handelte, zeigte sich in aller Deutlichkeit drei Jahre später. In der Zwischenzeit trat er – mit gelegentlichen Pausen – in die Fußstapfen seiner Vorgänger. Was da kommen sollte, deutete sich nur hier und da bereits an, in nachdenklichen Momenten wie dem großartig geschnittenen langsamen Teil im Finale des ersten Akts. Das Werk war nicht langweilig, der Fluss der rhythmischen Energie ist dafür schon zu stark. Doch wenn Oberto nicht von Verdi stammte, würden wir uns heute kaum daran erinnern. Für Merelli lag es nahe, Verdi den Auftrag zu weiteren Opern zu geben. Die erste, für Herbst 1840 geplant, sollte eigentlich ein ernstes Werk sein, doch die Bedürfnisse des Theaters hatten sich in Merellis Augen verändert, und so bat er Verdi um eine komische Oper. Dieses Genre war im Niedergang begriffen und entsprach nicht mehr der ernsten Stimmung des romantischen Zeitalters. Bezeichnenderweise war denn auch das beste Libretto, das Verdi finden konnte, schon zweiundzwanzig Jahre alt. Un giorno di regno – so der neue Titel, den das teilweise überarbeitete Werk erhielt – hätte zu Rossini gepasst. Die Musik, die Verdi dazu schrieb, klingt über weite Strecken wie Rossini, nur ohne das Moussierende. Das wäre möglicherweise auch nicht anders gewesen, wenn er nicht unter erheblichem Druck hätte komponieren müssen. Kurz nachdem er mit der Arbeit begonnen hatte, starb Margherita Verdi. Mit sechsundzwanzig Jahren war er nun wieder allein. Was mit Verdi zwischen dem Tod seiner Frau am 18. Juni 1840 und der triumphalen Uraufführung des Nabucco am 9. März 1842 geschah, ist immer noch unklar. Seine eigene Darstellung, die er viele Jahre später (1869 und 1881) zwei Biographen gab, ist widersprüchlich und in einigen Aspekten falsch. Doch wie in anderen

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Fällen, in denen Verdi eine unzutreffende Darstellung gab, scheint sich auch hier ein wahrer Kern zu verbergen. Das Problem dürfte zu einem guten Teil in seinem unbewussten Bedürfnis nach Dramatisierung liegen. So findet angeblich ein entscheidendes Gespräch an einem verschneiten Abend in Mailand statt (das aber wahrscheinlich damals nicht oder jedenfalls nicht in dieser Form stattgefunden hat); in tief bedrückter Stimmung lässt er das unbekannte Libretto auf den Boden fallen, und der Zufall lenkt seinen Blick auf eine aufschlussreiche Passage (die in beiden Darstellungen aber nicht dieselbe ist) … Dass der Verlust seiner Frau und seiner beiden Kinder ihn zutiefst erschütterte, steht außer Frage. Bei einem kurzen Besuch in Busseto gesteht er einem Verwandten seiner Frau, Demaldè, er wolle sich nur noch «an einem dunklen Ort verkriechen und dieses elende Dasein zu Ende leben».6 Die Wunde sollte niemals ganz verheilen. Als mehr als ein Jahrzehnt später Kritik an den vielen Todesfällen im Trovatore laut wird, erwiderte er: «Letztlich ist im Leben alles Tod. Was existiert?» Mit über siebzig Jahren schrieb er immer wieder, ausgelöst durch den Tod der geliebten Frau eines Freundes: «Das Leben ist Schmerz.» – «Das Leben ist so dumm, und schlimmer noch, es ist sinnlos.» – «Unglück regiert die Welt.» Er glaubte schließlich an das «Schicksal», aber das Schicksal war nicht freundlich (C, S. 503, 505, 506, 530, 532). Auch konnte er sich von seiner Trauer nicht gänzlich durch schöpferische Arbeit befreien. Den Höhepunkt einer Verdi-Oper bildet vielfach – wie schon oft bemerkt worden ist – ein Duett zwischen Vater und Tochter. Manche Duette zeigen sie im Konflikt miteinander, wie Amonasro und Aida; andere sind tröstlich – ein starker Vater oder eine Vaterfigur richtet eine im Kummer versunkene junge Frau wieder auf, wie in Giovanna d’Arco, Luisa Miller, Rigoletto oder La traviata. Eine besonders ergreifende Szene aus Simon Boccanegra legt den Gedanken nahe, dass Verdi sich

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vielleicht gerade ihretwegen für dieses Libretto entschieden hatte. Die junge Frau, die als Kind verschwand, taucht wie durch ein Wunder zwanzig Jahre später wieder auf. In einem Duett von ergreifend lyrischer Schönheit erkennen sie und Simon einander wieder. In der Szene im Ratssaal, die er der 1881 überarbeiteten Fassung hinzufügte, segnet ihre große Verbindungsphrase den Aufruf des Vaters zu Brüderlichkeit und Frieden. Doch «Unglück regiert die Welt» und andere düstere Charakterisierungen des menschlichen Daseins finden sich auch nach diesem Spätwerk noch. Inzwischen, im Sommer 1840, benötigte der Impresario die Partitur für Un giorno di regno. Er bestand darauf, dass Verdi sie fertigstellte. Der Druck, arbeiten zu müssen, und das auch noch schnell, hätte heilsam wirken können, auch wenn er sich dadurch die erste von vielen Halsentzündungen zuzog. Doch leider war die erste Vorstellung auch schon die letzte. Die Sänger waren unpässlich oder müde, das Werk mittelmäßig, aber – wie Verdi zwanzig Jahre später immer noch grollend schrieb – auch nicht schlechter als manche Arbeiten, die toleriert oder sogar mit Beifall aufgenommen wurden. Das Publikum pfiff und trat «die Oper eines armen, kranken Jungen mit Füßen, der unter Zeitdruck und – durch ein schreckliches Unglück – mit zerrissenem Herzen sein Werk geschrieben hatte. All das war dem Publikum bekannt […]. Oh, wenn doch das Publikum damals schweigend jene Oper hingenommen hätte – an Applaus denke ich ja gar nicht – ich fände heute nicht genug Worte, um ihm zu danken!» Er wolle das Publikum nicht verurteilen, fügt der inzwischen sehr erfolgreiche Komponist hinzu, «ich erkenne seine Kritik und seine Pfiffe an, aber unter der Bedingung, daß man von mir keinen Dank für den Applaus fordert» (C, S. 556 f.; dt.: Schaffen, S. 30). Verdis Darstellung, wonach der Misserfolg in ihm den Wunsch weckte, seine Karriere aufzugeben, passt nicht zu der weiteren Arbeit an Oberto, die er im Herbst 1840 und im nachfolgenden

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Verdi um die Zeit seines Durchbruchs mit nabucco, 1842. Anonyme Lithographie

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Winter auf sich nahm. Wahrscheinlich half er bei den Proben, damit die Oper an der Scala auch weiterhin erfolgreich lief, und für die Inszenierung in Genua komponierte er mindestens eine neue Nummer. Wahrscheinlich stimmt es auch, dass Merelli keinen Streit mit ihm wünschte und ihn – ob nun an einem verschneiten Abend oder nicht – auf Soleras Libretto Nabucodonosor (später Nabucco) hinwies, das entfernt auf der biblischen Geschichte des Nebukadnezar basiert, die kurz zuvor bereits in einem Ballett verarbeitet worden war. Es trifft ferner zu, dass Verdi sich von den Möglichkeiten inspirieren ließ, die in diesem Text steckten. Der Kern der Geschichte – wonach Merelli einem jungen, vielversprechenden Künstler aus seiner tiefen Depression half – klingt durchaus glaubwürdig. Verdi komponierte Nabucco irgendwann im Jahr 1841 und hatte die Oper im Herbst fertiggestellt. Seine Darstellung, wonach er mit Merelli über das Datum der Uraufführung in Streit geriet, klingt wenig glaubwürdig, denn Nabucco war ganz offensichtlich ein Kandidat für den Zeitraum, in dem die Oper tatsächlich erstmals aufgeführt wurde, die Fastenzeit nämlich. In diesen Wochen gaben italienische Opern «geistliche Dramen» (Opern, die auf biblischen Themen basierten), auch wenn sie sich nicht mehr wie im 18. Jahrhundert auf solche Werke beschränken mussten. Rossinis Mosè in Egitto, das Vorbild für Nabucco, war als «geistliches Drama» erstmals in der Fastenzeit des Jahres 1818 aufgeführt worden.7 Diesmal hatte Verdi das Glück, dass der große Bariton Giorgio Ronconi die Titelpartie und der ausgezeichnete französische Bass Prosper Dérivis die des Führers der Juden Zaccaria sang. Dass Giuseppina Strepponi – der die Musik des jungen Komponisten auch diesmal gefiel – die anspruchsvolle Partie der Abigaille sang, war allerdings alles andere als ein Glücksfall. Wie sie es gerne tat, eilte sie mitten in der Spielzeit von einem anderen Engagement nach Mailand. Aus diesem und anderen Gründen befand sich ihre

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Stimme in einem beklagenswerten Zustand. Dennoch war die Uraufführung ein überwältigender Erfolg. Es regnete Angebote von Impresarios und Einladungen von Damen aus dem Adel. Eine neue Stimme hatte ihren Durchbruch erlebt. Verdi war geboren.

Zweites Kapitel

der galeerensklave, 1842–1847 Von Nabucco bis Macbeth



«Seit Nabucco habe ich, kann man sagen, nicht eine Stunde Ruhe gehabt. Sechzehn Galeerenjahre.» Das schrieb Verdi 1858 an eine alte Freundin und Bewunderin, die Gräfin Clarina Maffei (C, S. 572; dt.: Briefe, S. 134). Er hatte gerade Un ballo in maschera abgeschlossen, seine dreiundzwanzigste Oper. Wegen der Unbilden, die solch eine Arbeit mit sich brachte (und diese in ganz besonderem Maße), hatte er sich Teilaufführungen noch nicht anhören können. Als die Oper ein Jahr später vollständig aufgeführt wurde, empfand er sie als Wendepunkt. Nie mehr wollte er sich dem alten Arbeitsrhythmus unterwerfen, der ihm das Gefühl gab, ein ans Ruder gefesselter Galeerensklave zu sein. Nie mehr wollte er sich in direktem Kontakt mit Impresarios und der schäbigen Theaterwelt abgeben, für die sie standen. In den verbleibenden vier Jahrzehnten seines Lebens sollte er nur noch fünf weitere Opern schreiben. Im Blick auf den hart erarbeiteten Erfolg des Ballo und seine eigene Gleichgültigkeit dem gegenüber schrieb er ein Jahr später an Francesco Maria Piave, den Librettisten, mit dem er am häufigsten zusammengearbeitet hatte:

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der galeerensklave, 1842–1847

Ich habe diese Kunst [die Musik] verehrt und verehre sie noch, und wenn ich mit mir selbst und meinen Noten ringe, dann klopft das Herz, die Tränen fließen aus den Augen, und die Ergriffenheit und die Freuden sind unbeschreiblich; doch wenn ich daran denke, daß diese meine armen Noten, als Wesen ohne Verstand, einem Verleger hingeworfen werden, der sie verkauft, damit sie dann den Massen zum Pläsier oder zum Spott dienen, oh, dann liebe ich nichts mehr! … Sprechen wir nicht davon. (CV, Bd. 2, S. 353 f.; dt.: Briefe, S. 152)

Der romantische Künstler – so meinen wir hier herauszuhören – distanziert sich von einer Welt, die von modernen Geschäftsprinzipien beherrscht wird, und glaubt darauf keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen. In der Praxis machte Verdi sich diese Prinzipien zu eigen und entsprach ihren Anforderungen – wofür er natürlich einen Preis zu zahlen hatte. Anders als Berlioz, der dem Publikum oder den Managern der Pariser Oper niemals seine Sicht aufzuzwingen vermochte, war Verdi 1860 der erfolgreichste Opernkomponist der Welt. Nur fünf oder sechs seiner Werke blieben auf wenige italienische Opernhäuser beschränkt. Alle übrigen waren auf Anhieb äußerst erfolgreich und wurden buchstäblich in aller Welt aufgeführt. Wenn jemals ein Künstler in das Produktionssystem integriert war, für das er arbeitete, dann Verdi. Auch reichte seine «Galeerenarbeit» nicht an die mancher Kollegen heran. Donizetti und der heute vergessene Pacini brachten im Durchschnitt drei oder vier Opern pro Jahr heraus. Der italienische Opernbetrieb erzwang diese oder eine ähnliche Produktionsgeschwindigkeit. Alle führenden Theater wollten in jeder Spielzeit neue Werke auf die Bühne bringen, und davon gab es drei: die Karnevalsspielzeit, die sich vom zweiten Weihnachtsfeiertag bis Ende Februar oder Anfang März erstreckte, sowie die Frühjahrs- und die Herbstspielzeit. Wie die Impresarios, die je-

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weils eine Spielzeit für die Theaterbesitzer organisierten, die Sänger und Sängerinnen, die die neuen Stücke aufführten, und die Kostüm- und Bühnenbildner, die so glanzvolle Kostüme und Kulissen schufen, wie der Impresario es sich leisten konnte, so wanderten auch die Komponisten von einer Stadt in die andere, von einem Theater zum nächsten. Während sie eine Oper fertigstellten und die Proben beaufsichtigten, planten sie schon die nächste und verhandelten über eine dritte. Bellini hatte zwar in seiner kurzen Karriere (1826 –1835) im Durchschnitt nur eine Oper pro Jahr komponiert und fast auf Anhieb die höchsten Honorare aller italienischen Komponisten erzielt, doch das konnte er nur, weil seine Zeitgenossen ihn für ein außergewöhnliches Talent hielten. An den Honoraren gemessen (und Verdi akzeptierte diesen Maßstab wie andere auch), erlangte er nur langsam eine herausragende Stellung. Erst bei seiner zehnten Oper, Macbeth, übertraf er Bellinis höchstes Honorar. Mit etwas weniger als zwei Opern pro Jahr blieb er in seiner Arbeitsgeschwindigkeit hinter der von Bellini oder Donizetti zurück. In den sieben Jahren von 1842 bis 1849, seiner arbeitsreichsten Periode, schrieb er zwölf neue Opern und eine größere Überarbeitung. Dennoch stand er Bellini näher, wenn er sich selbst eher als Künstler denn als Handwerker verstand. Das zeigte sich in mehrfacher Weise. Rossini arbeitete zur Zeit des Barbiere di Siviglia nach traditionellem Muster. Er wohnte im Haus des Impresarios und komponierte weite Teile seines Werks, während andere um ihn herum redeten und lachten. Verdi lehnte es dagegen ab, bei seinem Impresario zu wohnen, und lebte stattdessen in Hotels. Nach den ersten Opern folgte er lieber Bellini als dem eher handwerklich arbeitenden Donizetti und passte seine Werke nur noch sporadisch an neue Stimmen an. Solch eine «Anpassung» war bis dahin üblich gewesen, denn die damalige Opernwelt wurde von Sängern und Sängerinnen beherrscht, die

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Arien an ihre Bedürfnisse anpassen oder neue Arien für sich komponieren ließen. Sobald Veränderungen im Urheberrecht dies möglich machten, bestand Verdi darauf, dass seine Opern so aufgeführt wurden, wie er sie geschrieben hatte. In den 1840 er Jahren gehörte es noch zu den Aufgaben des Komponisten, die Proben zu leiten und die ersten drei Aufführungen vom Klavier aus zu dirigieren (es gab noch keinen Dirigenten im modernen Sinne; der leitende Musiker nahm seine Funktion meist vom Platz der Ersten Violine aus wahr). Dabei schonte Verdi sich nicht. Sein Schüler und Sekretär Emanuele Muzio beschrieb ihn bei den Proben zu I Lombardi alla prima crociata (1843), der nächsten Oper nach Nabucco, folgendermaßen: «Er schreit wie ein verzweifelter Mensch, stampft mit den Füßen auf, als spielte er die Pedale an der Orgel, und schwitzt so stark, dass Schweißtropfen auf die Partitur fallen.»1 Und ein halbes Jahrhundert später heißt es von dem inzwischen einundachtzigjährigen Verdi, diesmal bei den Proben zu Falstaff in Paris, er sei ein «Dynamo» und eine «Naturkraft» (IEV, S. 252). Weder in seinen frühen noch in seinen späten Jahren pflegte er enge Kontakte zu Mitgliedern der Ensembles oder allenfalls hier und da außerhalb des Theaters. Sofern er nicht das Bedürfnis empfand, aufzuspringen und die Ausführenden zu bereden oder zu instruieren, saß er ruhig da, «die großen Hände auf den Knien, regungslos, wie ein assyrischer Gott» (IEV, S. 61). Mit Kollegen unterhielt er sich nur selten oder gar nicht. Die Anstrengungen, die Verdi auf sich nehmen musste, um dem italienischen Opernbetrieb zu genügen, zeigten sich vor allem in seiner angeschlagenen Gesundheit. In den 1840 er und 1850 er Jahren führte die Arbeit an den Opern zu häufig wiederkehrenden Halsentzündungen und Leibschmerzen. Am schlimmsten traf es ihn 1845/46, als er in rascher Folge drei Opern für die drei führenden Opernhäuser Italiens zu komponieren hatte: Giovanna d’Arca für die Scala, Alzira für das Teatro di

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San Carlo in Neapel und Attila für das Teatro La Fenice in Venedig. Diese Krankheiten waren durchaus real, wie wir von Muzio wissen. Das war eine sensible Angelegenheit, weil in der unter starkem Stress stehenden italienischen Opernwelt Impresarios und Künstler gelegentlich Krankheiten vorschützten. Ärztliche Atteste waren nicht schwer zu beschaffen. Verdi selbst übertrieb möglicherweise 1845 seine gesundheitlichen Probleme, weil er es vermeiden wollte, die Partie der Alzira für eine Sängerin zu schreiben, der er misstraute. Wir können seine spätere Behauptung, er sei «fast gestorben», als er Anfang 1846 Attila vollendete, nicht nachprüfen, aber ohne Zweifel erlitt er einen Zusammenbruch, verlor merklich an Gewicht und musste auf ärztliches Anraten das Bett hüten (C, S. 108). Selbst nach einer Phase der Untätigkeit brachte ihm die Arbeit an Macbeth – einer Oper, durch die er sich großes Ansehen erwarb – Ende 1846 erneut Verdauungsbeschwerden und Durchfall ein. Er war ein Mann, der siebenundachtzig Jahre alt werden sollte. Als er erst einmal vom Druck dieser frühen Jahrzehnte befreit war, scheint er sich bis auf die letzten drei oder vier Jahre seines Lebens einer unverwüstlichen Gesundheit erfreut zu haben. Die Halsentzündungen und Leibschmerzen waren zweifellos psychosomatischer Natur – aber deshalb nicht weniger belastend. Ein ähnliches Symptom war ein leichtes Fieber, das mit einer Depression einherging – aber schlimm genug, um ihn in Venedig, wo er im Januar und Februar 1844 Ernani komponierte, allabendlich in «Verzweiflung» zu stürzen. Falls die Oper ein Misserfolg würde, wollte er sich eine Kugel in den Kopf schießen, aber als sie sich dann als großer Erfolg erwies, erlebte er einen völligen Stimmungsumschwung und genoss die Stadt, die er zuvor nicht gemocht hatte (BM, S. 119 f.). Unter diesen Umständen war es sicher nicht hilfreich, dass Verdi, wenn er eine Oper zu komponieren hatte, mit leerem Magen von fünf Uhr morgens bis sechs Uhr abends arbeitete und in

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dieser Zeit nur mehrere Tassen Kaffee trank. An Macbeth arbeitete er von neun Uhr morgens bis Mitternacht und gönnte sich nur eine kurze Essenspause. Wenn die drängendsten Aufgaben erledigt waren, fuhr er gerne zu einer Trinkkur in diverse italienische Kurorte, eine Gewohnheit, die er auch in späteren Jahren beibehielt – als Vorwand für einen Urlaub. In den 1840 er Jahren vermochten die Heilwässer die Belastung jedoch allenfalls zu lindern. Kein Wunder, dass er 1845 meinte, er wolle nur noch sechs weitere Opern schreiben «und dann addio an alles» (A, Bd. 1, S. 542; dt.: Briefe, S. 43). Der gewaltige Erfolg des Nabucco – fünfundsiebzig Aufführungen an der Scala allein bis Ende 1842 – katapultierte ihn in Mailand, wo er sich niedergelassen hatte, in das gesellschaftliche Leben der dortigen Oberschicht. Nach einer naiven Darstellung seines Schülers Muzio war er, als er 1846 eine Pause in seiner Arbeit einlegte, «ständig außer Haus und umgeben von adligen Satelliten, die scheinbar nicht ohne ihn auskommen» konnten. Sie luden ihn zu sich ein oder schickten ihm eine Kutsche, damit er aufs Land fahren konnte.2 Er schloss Freundschaft mit mehreren adligen Damen, einige älter als er, denen er schwerfällig-galante Briefe schrieb. Eine wahre Freundin unter ihnen war die Gräfin Clarina Maffei. Sie und ihr Mann, der Dichter Andrea Maffei, hatten sich in aller Freundschaft getrennt, und sie hatte einen neuen Lebensgefährten. Beide Maffeis standen viele Jahre lang in enger Beziehung zu Verdi. Eine so enge Freundschaft erforderte, wie Walker dies sehr schön formuliert, «eine Haltung tiefen Respekts und großer Zuneigung. […] In diesem Fall konnte [Verdi] seine distanzierte Strenge ablegen und die Schwächen weniger resoluter Naturen mit einem milden Lächeln übergehen» (WalkerV, S. 301). Was Verdi auch tat, Clarina Maffei fand es gut. Nach dreißig Jahren Freundschaft schrieb sie ihm, die Zeit habe ihm nichts anhaben können, sondern seinen großartigen Geist nur «noch

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reicher an Erfahrung, Wissen und Gefühlstiefe» gemacht (CV, Bd. 2, S. 296 –297). Ihr Mann schrieb über Verdis «unbeugsamen Charakter», der es dem Komponisten ermögliche, an seiner Weigerung festzuhalten, ein Lied von Maffei zu vertonen, obwohl er, Maffei, sogar über Verdis alte Schuhe schriebe, wenn er darum gebeten würde (WalkerV, S. 125). Ein weiterer Adliger, in dessen Augen Verdi nichts falsch machen konnte, war sein langjähriger Briefpartner Graf Opprandino Arrivabene. In zahlreichen Briefen nutzte Verdi ihn gleichsam als Resonanzraum. Ähnliches gilt auch für Verdis wenige enge Freunde in der Welt der Oper. Muzio, sein einziger langjähriger Schüler, war ein junger Landsmann (aus einem anderen Dorf bei Busseto), der eine bescheidene Karriere als Komponist und eine bessere als Dirigent machte, insbesondere in den Vereinigten Staaten. Sein Leben lang bewies er eine fast schon hündische Treue zu seinem verehrten Lehrer. «Der Maestro», so berichtete er Antonio Barezzi, «sagt mir zu Beginn der Unterrichtsstunde: Denke daran, dass ich unerbittlich bin. Sie können sich vorstellen, welche Angst mir das einjagt. Aber diese Angst verflüchtigt sich langsam, wenn er ‹gut› sagt […]. Er lässt keine Note durchgehen, die nur passabel ist. Er will, dass alles perfekt ist.»3 Piave, den heute viele für Verdis idealen (weil unterwürfigsten) Librettisten halten, war ein Anfänger, als die beiden einander im Winter 1843/44 in Venedig begegneten. Dort, in seiner Heimatstadt, wurde der junge Mann Verdis enger Vertrauter. Nur ihm schrieb Verdi, soweit wir dies wissen, in der saloppen, zuweilen zotigen Art, wie sie bei Theaterleuten häufig anzutreffen war. Eine seiner Lieblingsanreden lautete «Herr Fotze». Verdi zeigte in seiner Zuneigung auch leidenschaftliche Verachtung. Piave ertrug es mit Fassung. Die einzige Person, die ihm gelegentlich Paroli bieten konnte und ihm dennoch nahe blieb, seine zweite Frau Giuseppina Strepponi, scheint in den 1840 er Jahren vor allem eine Freundin

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gewesen zu sein. Ihre wechselhafte Karriere führte sie für lange Phasen an Orte, wo die beiden einander nicht begegnen konnten. Obwohl angesichts der Quellenlage hier nichts als gesichert gelten kann, hat Frank Walker doch überzeugend dargelegt, dass sie erst im Winter 1847/48 in Paris ein Liebesverhältnis eingingen. Inzwischen waren Verdis Aufenthalte in Venedig, Rom, Neapel, Florenz und London – Orte, wo er Opern fertigstellen und deren Inszenierung beaufsichtigen musste – noch stärker von Arbeit geprägt als das Leben in Mailand, zumal er die Gewohnheit hatte, die Instrumentierung größtenteils erst bei den Proben zu schreiben. Nach Nabucco war er berühmt. Es war ihm unangenehm, wenn die Leute ihn anstarrten und über ihn redeten – eine Prüfung, deren schlimmste Ausprägung er offenbar 1845 in Neapel erlebte. Was gehe es die Neapolitaner an, schrieb er drei Jahre später seinem dortigen Impresario, ob er ein bekanntes Café besuchte, braune statt schwarze Schuhe trug oder auf dem Balkon der Primadonna gesehen wurde. Starallüren waren ihm zuwider. «Ich bin extrem offen, entschieden, zuweilen aufbrausend, grob, wenn Sie so wollen, aber niemals schwierig oder heikel, und wenn ich so wirke, liegt das nicht an mir, sondern an den Umständen» (C, S. 57 f.). Man könnte erwarten, dass ein Mann in den Dreißigern, dessen Aussehen und Werk eine kraftvolle Männlichkeit ausstrahlten, auch ein entsprechendes Sexualleben führte. Als er zweiundfünfzig war, schuf ein Pariser Künstler eine als Karikatur gedachte Kleinplastik, die Verdi als einen am Klavier sitzenden Löwen darstellt, wobei der Löwe mit seinem zwischen den Beinen hindurchführenden Schwanz und einer Pranke Klavier spielt, während er mit der anderen Pranke Opern komponiert. Verdi fand die Plastik lustig, wie er einem Freund berichtete, und bewahrte sie in seiner Wohnung auf. Vielleicht wusste er nicht, dass in der französischen Vulgärsprache «queue» (Schwanz) ein Ausdruck für den Penis ist (VI, S. 69).

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Plastische Verdi-Karikatur von Dantan Jeune, 1866. Das Original befindet sich in Sant’Agata.

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Was sein Sexualleben angeht, so besitzen wir lediglich Andeutungen. Nach Spielzeiten in Venedig 1844 und 1851 schrieb der Komponist in Briefen an Piave scherzhaft über einen «Engel» und – vielleicht dieselbe Person – einen «Sior Toni», bei dem es sich trotz des «Sior» (Herr) um eine Frau handelte. 1851 drohte «Toni» nach Busseto zu kommen, obwohl sie wusste, dass Verdi dort mit Giuseppina Strepponi lebte. Einige Jahre später machte Giuseppina sich selbst über Piaves «erotischen Eifer» lustig, als sie ihren Geliebten durch Venedig begleitete. Es galt auch einige venezianische «Löwinnen» – modebewusste Frauen – zu grüßen (A, Bd. 1, S. 129 f., 503, 513; BM, S. 257, Fn.). Es ist anzunehmen, dass der junge Witwer in Venedig oder anderswo mit der einen oder anderen dieser Frauen eine Affäre hatte – wenn auch ohne größeren Tiefgang. Seine Einstellung zur Sexualität wurde deutlich, als er und Piave im Rigoletto eine in Victor Hugos Originalstück berüchtigte Szene wegließen (die Zensur hätte sie, wie er wusste, niemals erlaubt): Der König zieht einen Schlüssel hervor und öffnet damit das Gemach, in dem die entführte Tochter des Hofnarren gefangengehalten wird. Er hatte zuvor, als Student verkleidet, ihre Liebe gewonnen. Als Verdi es später ablehnte, eine zusätzliche Arie für die Primadonna einzufügen, begründete er das mit der Tatsache, dass der einzige Platz dafür diese Schlafzimmerszene sei. Eine ganze Salve von Ausrufungszeichen zeigte, wie unvorstellbar dies war. Als er die Oper für Venedig schrieb, hatte er seine Bereitschaft, die Szene mit dem Schlüssel wegzulassen, gegenüber Piave mit der Bemerkung kommentiert: «O Gott. Das sind doch ganz einfache, natürliche Dinge, aber der Patriarch [das Oberhaupt der katholischen Kirche in Venedig] kann daran wohl keinen Gefallen mehr finden.»4 «Einfach, natürlich» – eine Sicht, die Mitte des 19. Jahrhunderts sehr viel mehr Leute teilten, als die gesellschaftlich akzeptierte Einstellung dieser Zeit dies erwarten ließ. Das Zeitalter des lizenzierten Bordells als eines

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hygienischen Übungsraums für den südländischen Mann stand kurz bevor. Nicht dass der junge (oder auch der ältere) Verdi ein erotischer Künstler gewesen wäre. Seine Werke verliehen der Liebe als Leidenschaft eine unvergleichliche Stimme – fast ohne jeden Anflug von Sinnlichkeit. Selbst ein so verführerischer Ruf wie das «Vieni meco, sol di rose» Karls V. in Ernani besitzt eine Dringlichkeit, wie sie sich in deren nächstem Vorbild, Bellinis stufenförmig gewundener, einschmeichelnder Melodie, nicht findet. In Verdis Opern ist die Liebe ebenso oft die zwischen Eltern und Kindern, zwischen Freunden oder zum eigenen Land wie die wechselseitige Liebe zwischen jungen Männern und Frauen. Außerdem stand sie durchaus nicht immer im Mittelpunkt. In Nabucco spielt sie keine größere Rolle. Dort und in den beiden folgenden Mailänder Opern, I Lombardi und Giovanna d’Arco, ist die vorherrschende Stimmung die einer heroischen, leicht übersteigerten Größe, durchsetzt mit blitzartigen Entladungen von Energie. I due Foscari (Rom 1844) und Macbeth (Florenz 1847) kommen ganz ohne die herkömmliche Liebesgeschichte aus. Das Publikum, das Nabucco und dessen Schöpfer sogleich feierte, fand in dem Werk ein neuartiges Erleben. Eine treibende Kraft erfüllte Szenen kollektiven Gefühls mit Leben, wie man sie aus Rossinis Mosè, Maometto II und Semiramide oder aus Bellinis Norma kannte. Gleich zu Beginn verleiht der Chor der ins Exil getriebenen Juden (sichtbar und hörbar nach Leviten, Jungfrauen und dem Kollektiv geordnet) abwechselnd Stimmungen der Trauer, des Flehens und des Trotzes Ausdruck. Die klare Struktur reduziert die ausladende musikalische Entwicklung, die sich bei Rossini findet. In der gesamten Oper verkürzt Verdi gnadenlos das Rezitativ, beschleunigt den Gang der Ereignisse in unerhörter Weise und nimmt Abkürzungen auf dem Weg durch die konventionellen Formen der italienischen Oper. Diese – von Rossini kodifizierten – Formen bauten die Oper

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aus großformatigen Einheiten auf, in denen die vorherrschende Stimmung in aller Regel von Meditation zu Aktion und die Musik vielfach von langsam zu schnell überging. Eine Arie umfasste gewöhnlich nach einem Rezitativ, das die Situation und die Stimmung kennzeichnete, einen meditativen ersten Satz («Cantabile»), dem nach einer Übergangspassage eine – durch eine eintreffende Nachricht oder einen Stimmungsumschwung ausgelöste – Gefühlsaufwallung folgte, die ihren Ausdruck in einem oft schnelleren, als «Cabaletta» bezeichneten Schlusssatz fand. Duette, längere konzertante Passagen und das alle Sänger und den Chor umfassende Finale des ersten Akts waren gleichfalls in Abschnitten aufgebaut. Rossinis berühmte Duette in Semiramide besaßen drei Sätze (langsam – schnell – langsam) und boten in der Mitte Gelegenheit zu einer melismatischen Verschmelzung der beiden Stimmen. Dabei erhielt die musikalische Struktur den Vorrang vor dem dramatischen Konflikt, denn bei Rossini (und gelegentlich auch bei Bellini und Donizetti) konnte es geschehen, dass die beiden Stimmen zur selben Musik gegensätzliche Gefühle zum Ausdruck brachten. Schon vor Verdis Durchbruch hatte Mercadante ein Programm formuliert, das diese elementaren Formen dramatischer gestalten, aber zugleich auch variieren und vereinfachen sollte – etwa indem man «triviale» Cabaletten, Orchesterpartien, nutzlose Koloraturdarbietungen und das beliebige Rossini’sche Crescendo wegließ. Erst Verdi setzte dieses Programm erfolgreich um – wenn auch nicht sogleich in all seinen Elementen. Er war auch der Erste, der das hochromantische Gefühl durchgängig in die italienische Oper einführte. Das noch ganz der Klassik mit ihrer Vorliebe für Dekor und Proportion verhaftete italienische Publikum hatte dem Ansturm der Romantik und vor allem dem neuen Kult des Extremen, Absonderlichen und Bizarren widerstanden. Bellini hatte sich nach zwei frühen Ausflügen in die romantische Ekstase in Il pirata und

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La straniera bewusst einer eher ausgeglichenen Schlichtheit zugewandt. Nur Verdi führte die verbalen Blitze und Erdbeben in die Oper ein, die in der einflussreichsten Literatur der anderthalb Jahrzehnte bis zur gescheiterten Revolution von 1848 Furore machten. Bücher wie im Englischen Carlyles Past and Present (1843), im Französischen Lamennais’ Paroles d’un croyant (1834) und im Italienischen Giobertis Del primato morale e civile degli italiani (1843) – hochgestochen, repetitiv, mahnend – sind heute nur noch graduell erträglich. In ihrer Zeit waren sie äußerst erfolgreich. Sie brachten die großen Erwartungen zum Ausdruck, die 1848 zusammenbrechen sollten. Hinter diesen Werken stand die deutsche romantische Literatur der vorangegangenen Generation. Verdi las kein Deutsch, doch 1845 wies er Piave auf Mme de Staëls De l'Allemagne (Über Deutschland) hin, das diese Literatur in Frankreich und Südeuropa bekannt gemacht hatte. Er bewunderte – in Übersetzung – nicht nur Schillers gewaltige Dramen, sondern auch Werners ebenso gewaltige und düstere Tragödie Attila. Das Sujet sei «äußerst schön, großartig und sehr wirkungsvoll», die Chöre seien «fantastisch», und das Libretto, das Solera für ihn schrieb, sei «schön» und lasse sich «ausgezeichnet vertonen» (BN, S. 143 f., 154 f., 158; C, S. 32, 138). Das ist das Libretto, in dem der Hunnenchor singt: «Heute feiern wir mit Wein, morgen mit abgeschlagenen Köpfen und Gliedern.» Als Covent Garden das Werk 1990 auf die Bühne brachte, strich der Produzent Elijah Moshinsky gut ein Drittel der mitlaufenden Übersetzung, wohl in der zutreffenden Annahme, dass sie Gelächter auslösen könnte. Doch Verdi schätzte das Stück, ebenso Byrons heroische und Hugos aufschneiderisch-extravagante Theatercoups. Er teilte aus ganzem Herzen den Geschmack seiner Zeit. Verdi stellte später fest, Solera, der 1841 bis 1846 die Libretti zu Nabucco, I Lombardi, Giovanna d’Arco und Attila für ihn geschrieben hatte, sei möglicherweise «der führende Opernlibret-

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tist unserer Zeit» gewesen (BM, S. 162). Doch das war erst 1861, als Solera – ein unsteter Abenteurer – sich bereits von der Oper zurückgezogen hatte. Damals ließ Verdi, wie es scheint, das «möglicherweise» weg, denn bis zur letzten dieser vier Opern machte er keine solche Einschränkung. Solera dachte in großen Dimensionen, organisierte Stücke mit gewaltigen Bühnenbildern, verstand musikalische Formen – und schaffte es, dass Verdi sich nicht nur auf die fleischfressenden Hunnen einließ, sondern auch auf den im Dreivierteltakt gehaltenen Chor der Teufel in Giovanna d’Arca («Tu sei bella»), der heute zu den schwächeren Momenten seiner frühen Werke zu gehören scheint. Damals war dieser Chor der Hit der ganzen Aufführung, der aus zahllosen Drehorgeln erklang. Was Verdi aus diesen Texten machte, ist eine andere Sache. Der Chor der Hunnen ist so schnell, dass man kein einziges Wort versteht. Die Musik drängt wild voran, und mehr braucht es auch nicht. Der Chor der Teufel verströmt schlimmstenfalls eine «unschuldige Vulgarität».5 Auf dieser Stufe in Verdis Schaffen vermochte es eine feinsinnig-orchestrale Studie wie I due Foscari (1844) nicht, der einem rührseligen Libretto geschuldeten Monotonie zu entgehen. Tempo und Energie waren seine Stärken. Durch deren Betonung vermied er ein Gutteil leeres Geplänkel. In Nabucco ließ sich das ursprüngliche Publikum weniger von den großen Chören beeindrucken (die ihre Wirkung, wie wir noch sehen werden, erst später entfalteten) als von dem stimmlichen Drama der beiden Hauptpartien, deren musikalische Struktur enger mit der Handlung verschmolzen ist als bis dahin üblich. Die in der biblischen Geschichte nicht enthaltene Partie der Abigaille verwendet feinste Koloraturen und äußerst scharfe Stimmwechsel, um den inneren Konflikt der Figur zum Ausdruck zu bringen – die Tochter Nebukadnezars und einer Sklavin ist hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu einem Israeliten und ihrem unbezähmbaren Ehrgeiz. Das heftige Auf und Ab des Re-

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zitativs, das den zweiten Akt eröffnet, wie auch die wiederholten Aufschreie und Abwärtsläufe in der Cabaletta «Salgo già del trono aurato», als sie sich vorstellt, wie die Tochter des Königs sich flehend zu Füßen des «gemeinen Sklaven» wirft – all das stammt aus Bellinis Norma. Doch während Normas Leidenschaft sich ein gewisses Maß an klassischer Würde bewahrt, ist Abigaille fast gänzlich stimmliches Treiben und Gehenlassen und deshalb schwer zu besetzen. (Beide Rollen sind berüchtigt für ihren hohen Schwierigkeitsgrad. Die Norma verspricht jedoch bei richtiger Besetzung hinsichtlich der schauspielerischen und gesanglichen Möglichkeiten einigen Lohn, während die Partie der Abigaille strapaziös erscheinen kann.) Nabucco bot Verdi die Möglichkeit, für Giorgio Ronconi eine Baritonpartie jener Art zu schreiben, wie man sie aus vielen seiner späteren Opern kennt – in hoher Stimmlage, gnadenlos in den Anforderungen an die Fähigkeit, ein sicheres, festes Legato zu halten und dennoch dramatische Unterbrechungen im Stimmfluss zuzulassen, etwa wenn der König im Finale des zweiten Akts in Schwermut verfällt und fast nur noch zusammenhanglose Laute hervorbringt, als Gottes Blitz ihm die Krone vom blasphemischen Haupt schlägt. Ronconi hatte Ähnliches schon in Donizettis Torquato Tasso und anderen Werken getan, und Bellini hatte Baritonarien geschrieben, die zugleich fließend und drängend waren, doch von nun an sprach man von «Verdi’schen Baritonpartien». Dagegen wurde häufig eingewandt, man strenge die Stimme zu sehr an und ruiniere sie, wenn man sie so lange in einer hohen Lage halten müsse. Verdi schrieb jedoch für Baritone wie Ronconi und Felice Varesi, die ihr hohes Register für hochdramatische Effekte ausbeuten konnten. Der Reiz solcher Partien brachte später weitere Sänger hervor, die damit fertig wurden, während sie andere zerrütteten, die dasselbe nicht leisten konnten. Für die Soli in diesen Rollen gab es Vorläufer. Das Duett im dritten Akt war dagegen eine Neuerung. Abigaille bewegt den ge-

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fangenen Nabucco, das Schicksal der Israeliten zu besiegeln, unter denen sich auch seine zum Judentum konvertierte legitime Tochter befindet. Durch all diese Wendungen der Lage und diese Stimmungswechsel hindurch folgt die Stimmführung den wechselnden Empfindungen der Protagonisten. Abigailles auftrumpfende Herrschsucht am Beginn, ihr Überschwang (Anlass zu stimmlichen Feuerwerken), als sie den Beweis ihrer wahren Herkunft zerreißt, ihre helle, hochfahrende Betrachtung der eigenen Größe, Nabuccos Schande, seine unterwürfige Bitte um Vergebung – all diese individuellen und vielgestaltigen Teile verschränken sich zu einer intensiven dramatischen Wirkung. Von nun an mochten Kritiker jahrelang über Vulgarität und Lärm klagen, und Delacroix – in seiner eigenen Kunst durch und durch ein Romantiker, aber in der Musik ein Konservativer – mochte «Verdi oder Merdi»6 kalauern, das Publikum erlebte die Konflikte in der Oper schärfer konturiert als jemals zuvor und schaute nicht zurück. Soleras Vorliebe für grandiose Szenen mit Hauptdarstellern und Chören in pseudohistorischer Konfrontation stellte Verdi offenbar von I Lombardi bis Giovanna d’Arca zufrieden – Werke, die holpriger waren als Nabucco, auch wenn es darin sublime Momente wie das Taufterzett in I Lombardi gab, die einen Ausgleich für mechanische Ostinatobegleitungen oder laute, die Gesangspartien doublierende Blechbläserpartien bieten sollten. Nach Giovanna begann Verdi sich von Solera zu entfernen. Aufgrund der Erfahrungen, die er bei der Arbeit an dieser Oper machte, schwor er, nie mehr für die Scala oder deren Impresario Merelli zu arbeiten, und an diesen Schwur hielt er sich mehr als zwanzig Jahre lang. Bei Aufträgen außerhalb Mailands war er weniger auf den in Mailand lebenden Solera angewiesen, auch wenn er ihn für Attila noch einmal heranzog. Als er sich an die Komposition machte, hatte er das Bedürfnis, am Libretto Neuerungen vorzunehmen – für ihn eine ständige Notwendigkeit. Anfangs

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beflügelte es seine Inspiration mit wenigstens einer großen Chorszene – der Papst vermag Attila wie durch ein Wunder zu bewegen, die Belagerung Roms aufzuheben. Aber als die Proben näherrückten, wollte Verdi die Oper nicht mit einem weiteren Tableau dieser Art enden lassen, sondern beschloss, sich bei der Auflösung allein auf die Hauptdarsteller zu konzentrieren. Solera, der sich damals im Ausland aufhielt, reagierte nicht schnell genug auf Verdis dringende Bitte um neues Material. Deshalb wandte Verdi sich an Piave, mit dem er schon bei Ernani und I due Foscari zusammengearbeitet hatte. Nach Ansicht eines einflussreichen Kommentators bot die Begegnung mit Piave 1843 Verdi «erstmals die Gelegenheit, mit sich selbst zu arbeiten». Durch den jungen Venezianer, der «kaum mehr als ein Werkzeug in seinen Händen» gewesen sei, habe er seine eigenen Vorstellungen und oft sogar seine eigenen Worte einbringen können. 7 Nicht dass Verdi dies anerkannt hätte – oder allenfalls, indem er immer wieder auf Piave zurückkam. Größere Hochachtung empfand er vor zwei scheinbar bedeutenderen Dichtern – Andrea Maffei, der das unbeholfene Libretto zu I masnadieri (1847) für ihn schrieb, und dem in Neapel lebenden Salvadore Cammarano, einem erfahrenen Mann, der insgesamt an vier Opern mit ihm zusammenarbeitete, von Alzira (1845) bis Il trovatore (1853). Gegenüber Cammarano verhielt er sich zunächst sehr respektvoll. Er bat zweimal um Entschuldigung, als er ihn fragte, ob drei Arien hintereinander nicht zu viel seien (C, S. 430). Und obwohl er später mit dessen traditionsverhafteter Vorstellung des dramatisch Schicklichen zu kämpfen hatte, machte er doch weiterhin eher Vorschläge, statt Forderungen zu stellen, und beide Männer begegneten einander auf Augenhöhe. Gegenüber dem unerfahrenen Piave konnte Verdi zugleich schulmeisterlich und grob sein. Und obwohl Piave besser wurde, legte Verdi ihm gegenüber seine Grobheit nicht ab. Auch als sie schon gemeinsam an sechs Opern gearbeitet hatten, konnte

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Verdis wichtigster Librettist Francesco Maria Piave, mit dem er von 1843 bis 1862 zusammenarbeitete. Porträt von G. Favretto

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Verdi ein ganzes Libretto, das Piave für ihn geschrieben hatte, ablehnen, weil ihm gerade etwas Besseres eingefallen war (daraus wurde dann La traviata). In seinen Briefen wechseln nicht ganz ernst gemeinte Beleidigungen («Schwein», «Katze», «Krokodil», «Ratte») und gespielte Drohungen, Piave zu verfluchen oder zu ermorden, mit beinahe schon tröstlichen Bemerkungen: «Du solltest mich gern haben, denn um die Wahrheit zu sagen und auch wenn es nicht so aussieht, habe ich Dich doch ein wenig gern» (BM, S. 150, 152). Ernani (1844), ihre erste gemeinsame Arbeit, bedeutete zugleich, Piaves ersten Vorschlag zurückzuweisen. Hugos Theaterstück, das bei seiner Uraufführung 1830 in Paris einen Skandal auslöste, gefiel Verdi vor allem wegen seiner extravaganten Prämisse – das «Ehrgefühl», das den Helden bewegt, in der Hochzeitsnacht Selbstmord zu begehen, weil sein ärgster Feind ihm den Schwur abgenommen hat, sich das Leben zu nehmen, sobald das Horn ertönt. Er drängte Piave zu Kürze, Action und «Feuer». Jeder Akt sollte kürzer sein als der vorangegangene. Als er das Libretto erhielt, klagte er, die Rezitative seien zu lang. Wenn Ernani das verzweifelte Terzett im dritten Akt mit einem Solo unterbrach, was sollten in dieser Zeit die übrigen Figuren tun? Seine weitere Kritik, das Libretto mute der Primadonna eine nicht zu schaffende Folge aus einer großen Arie, einem in ein Terzett übergehendes Duett und einem Finale zu, hinderte ihn allerdings nicht, Sophia Löwe genau dies aufzubürden (BM, S. 53 f., 65, 71, 91 f., 102; dt.: Briefe, S. 39). Auch in ihrer zweiten und dritten gemeinsamen Arbeit drängte er Piave: «Leidenschaft! Leidenschaft! Ganz egal welche, nur Leidenschaft!» Er wünschte sich «Poesie mit riesengroßen Eiern».8 Zu Ernani schreibt Baldini: «eine jugendliche, leidenschaftliche weibliche Stimme […], belagert von drei männlichen Stimmen, deren jede in einer besonderen Beziehung zu ihr steht». Keine davon, nicht einmal der Tenor, gelange zu vollkommener

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Einheit mit ihr, und der Konflikt werde durch ein Blasinstrument, das Horn, aufgelöst. 9 Diese Beschreibung hat den Vorzug, dass sie, wie es in diesem Werk tatsächlich geschieht, nicht «Figuren» in den Vordergrund stellt, sondern individuelle Stimmen, die sich auf einen emotionalen Wettkampf einlassen. George Bernard Shaw sagt es auf andere Weise. In seinen Augen ist Ernani «jenes ultra-klassische Produkt der Romantik, die grandiose italienische Oper, in der die Kunst in der glanzvollen Darstellung persönlichen Heldenmuts besteht und das Drama sich aus deren einfachsten und universellsten Beweggründen ergibt».10 Mehr noch als Nabucco begründete Ernani Verdis europäischen Ruhm. Mit dieser Oper beginnt eine Serie von Werken, die Soleras teils ehrfurchtgebietende, teils groteske Kollektivtableaus fallen ließen zugunsten der von dem Dichter John Donne sogenannten «Verhandlung der Seelen». Das ganze individualistische 19. Jahrhundert hindurch blieb sie eine der meistgespielten Verdi-Opern, während die übrigen frühen Werke kaum noch aufgeführt wurden. Heute ist sie nur noch selten zu sehen, vor allem wohl deshalb, weil man nur schwer eine Sopranistin, einen Tenor und einen Bariton finden kann, die ihren Anforderungen gerecht würden, und wenn das doch einmal geschieht, lässt man sie lieber Il trovatore singen, ein Werk mit ähnlicher Stimmung. Eine engagierte Aufführung durch Künstler, die noch keine Stars sind oder niemals Stars werden dürften, kann jedoch ungeahnte Begeisterung auslösen. Solch eine Aufführung aus dem Jahr 1963 in der Town Hall von St. Pancras (heute Camden), unter der Leitung von Franz Manton und mit Pauline Tinsley als Elvira, ist mir bis heute unvergessen. In Elviras Doppelarie schon bald nach Beginn erhebt sich das im Dreivierteltakt gehaltene Cantabile («Ernani, Ernani involami») zu einer außergewöhnlichen Woge am Ende der Strophe. Die Stimme öffnet schrittweise ein großes Fenster, das den Blick auf einen nachtblauen Himmel freigibt. Verdi sollte noch weitere

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Effekte dieser Art in entscheidenden Augenblicken herausarbeiten. Bellini und Donizetti hatten Ähnliches gemacht, doch er tat es konsistenter und schneller – durch eine unerwartete Modulation oder die Fortführung einer melodischen Linie in höhere Oktaven und breitere Intervalle oder in eine neue Phrase hinein wie den erhabenen Ausruf («e vincitor de’ secoli»), der den Höhepunkt der Meditation Karls V. im dritten Akt («Oh de’ verd’anni miei») bildet. Karl V. ist mehr noch als Nabucco der eigentliche «Verdi-Bariton», der sein oberes Register und die Beherrschung des Legato nutzt, um Wirkungen zu erzielen, die vom Verführerischen bis hin zum Monumental-Heroischen reichen. Der Adel, den die Musik im dritten Akt erreicht, und das nicht nur an der genannten Stelle, sondern auch in dem eindrucksvollen Arioso, das unmittelbar vorausgeht, und in seiner Zwiesprache mit dem Geist Karls des Großen «O sommo Carlo», lässt es ganz natürlich erscheinen, dass die Verschwörer, die entschlossen sind, ihn zu ermorden, von diesem Plan Abstand nehmen und sich mit ihm versöhnen, als er ihnen Vergebung verspricht. Gemeinsam mit ihm beschließen sie den Akt mit einem wellenförmigen, gleichermaßen schwungvollen und gewaltigen Ensemble. Die Eigentümlichkeit, die jeder an Ernani bemerkt, ist die Dynamik. Bei einem oder zwei Chören muss man unwillkürlich an Gilberts und Sullivans Parodie (With catlike tread) denken. An anderen Stellen wirkt allein schon der Schwung anregend. Er ist alles andere als ungeplant. Um die Bewegung voranzutreiben, gab Verdi einer ursprünglich aus sechzehn Takten bestehenden symmetrischen Passage ganz bewusst eine asymmetrische Gestalt, indem er sie kürzte. «Wie von einem Katapult geschossen»11 – das könnte man nicht nur von Elviras und Ernanis Herausforderung auf dem Terzett-Höhepunkt ihres Konflikt-Duetts mit Karl sagen, sondern auch von vielen anderen Passagen. Doch etwas, das mit größter Dringlichkeit beginnt und in halsbrecheri-

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scher Selbstaufopferung endet wie das Elvira-Ernani-Duett im zweiten Akt (das sich gleichfalls in ein Terzett verwandelt, diesmal mit einem unheilverkündenden Bass), verlangsamt und mildert sich zu einem versöhnlichen Augenblick («Non son rea»), der, als Ernani hervorstößt, dass er sie immer noch liebt, einen Vorgeschmack auf den bekanntesten Ausbruch von Leidenschaft in Verdis gesamtem Werk bietet, «Amami, Alfredo» aus La traviata. Einen noch besseren Vorgeschmack bieten die drei abwechselnd in Dur und Moll gesetzten Takte unmittelbar vor dem abschließenden Terzett (sie ersetzten ein Duettino, das Verdi vollständig strich): ein «erhaben lyrischer Erguss in Oktaven, eine musikalische Apotheose der Leidenschaft Elviras und Ernanis […], die erste musikalische Geste bei Verdi, die ein komplexes Netz von Gefühlen knapp und dennoch vollständig zusammenfasst».12 Tatsächlich ließ Ernani mancherlei Kommendes in Verdis Werk vorausahnen, das heute allen vertraut ist, wenn auch eher in der Auswahl und Behandlung der Stimmen als in der Instrumentierung, die oft plakativ wirkt, trotz guter Einfälle wie der Oboe, die im Schlussterzett ihren Schatten auf Ernani wirft, und der Bassklarinette, die dazukommt, als er stirbt. Zu Verdis Zeiten wandelte sich die Besetzung der Stimmen in der Oper. Der robuste, leidenschaftliche Tenor kam auf, auch wenn man von ihm immer noch eine lyrische Klarheit der Stimme erwartete. Er sang nun die Partie des Liebhabers. Das war im 18. Jahrhundert noch nicht seine Rolle gewesen und auch nicht immer bei Rossini. Als Liebhaber musste er männlich klingen. In Verdis Opern sang er nicht wie in denen von Bellini mit seiner Kopfstimme außergewöhnlich hohe Töne wie das hohe F. Eine aussterbende Konvention besetzte den Part des Liebhabers mit einer tiefen Altstimme in Hosen, doch davon wollte Verdi nichts wissen. Gewiss, in seinem Eifer, in Venedig die Zustimmung zu dem umstrittenen Ernani-Plot zu erhalten, akzeptierte er anfangs

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solch eine Besetzung – allerdings wohl mit einem geheimen Vorbehalt, denn wenig später verlangte und erhielt er einen Tenor. Zusammen mit dem «Verdi-Bariton» präsentierte er den kräftigen, unbeugsamen Bass gewöhnlich als Vaterfigur. Und für keine seiner männlichen Partien schrieb er Koloraturen, wie seine Vorgänger dies getan hatten. Abigaille hatte den bereits dramatischen Sopran mit noch mehr Leidenschaft aufgeladen, doch die späteren Heldinnen mit starkem Charakter und spitzer Stimmführung – die Freiheitskämpferin Odabella in Attila oder Lady Macbeth – blieben hinter deren überdrehter Übersteigerung zurück. Nach Ernani waren die meisten Verdi-Heldinnen – in den Worten Shaws – durch «tragische Schönheit», die meisten seiner Helden durch «große Würde und heroische Kraft» gekennzeichnet.13 Wenn er für tragende weibliche Rollen – von Abigaille bis hin zu La traviata (1853) – Koloraturen schrieb, so hatte dies nicht allein ornamentalen Charakter, sondern diente dazu, den Charakter der Figur und die Situation zu verdeutlichen. Verdi führte auch eine Entwicklung weiter, die schon bei Bellini und Donizetti begonnen hatte und wonach die Koloratur nicht die papageienhafte Darbietung war, die das Publikum des frühen 20. Jahrhunderts darin erblickte. Elviras Cantabile kurz nach dem Beginn der Oper übertrifft ihre Donizetti’schen Entsprechungen an Dichte und Schwung. Die Koloraturläufe zeugen von ihrer hohen Gesinnung, ihrem außergewöhnlichen Charakter und ihrer Schönheit, das glitzernde Stakkato in der Cabaletta («Tutto sprezzo che d’Ernani») demonstriert ihren Stolz und ihren Elan. Bei den Interpreten fast aller seiner tragenden Rollen suchte Verdi nach dem «Funken», nach «Esprit» und «Leidenschaft», nach dem «Teufel im Leib» (C, S. 390, 612; IEV, S. 319 f.). Oft betonte er die schauspielerische Fähigkeit, die Worte verständlich auszusprechen, falls nötig auf Kosten der stimmlichen Schönheit. Diese Aussage sollte man allerdings cum grano salis

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verstehen, insbesondere soweit es seine frühe Phase betrifft. Das italienische Publikum der 1830 er und 1840 er Jahre machte einen Kult um die Stimme, und zwar weit mehr als das deutsche oder französische. Als der junge deutsche Komponist Otto Nicolai 1833 nach Italien kam, war er verblüfft über die Qualität der Stimme der heute vergessenen Almerinda Manzocchi und von der Virtuosität, mit der sie ihre Stimme einsetzte. Viele Sänger brillierten darin und waren zugleich schlechte Schauspieler. Das erklärt auch Verdis berühmten Brief an Cammarano, in dem er 1848 erklärte, Eugenia Tadolini sei zu gut, um die Lady Macbeth (oder wie er oft sagte, die «Lady») zu singen, als die Oper, die in Florenz bereits mit einer anderen Sängerin aufgeführt wurde, in Neapel inszeniert werden sollte: Die Tadolini hat eine schöne und gute Figur, und ich möchte Lady Macbeth häßlich und böse. Die Tadolini singt vollkommen; ich möchte dagegen, daß die Lady nicht gut singt. Die Tadolini hat eine phantastische Stimme, klar, rein, kräftig; und ich möchte für die Lady eine rauhe, erstickte, dumpfe Stimme. Die Stimme der Tadolini hat etwas Engelhaftes; ich möchte, daß die Stimme der Lady etwas Teuflisches hat. (C, S. 61 f.; dt.: Briefe, S. 68)

Tadolini, eine virtuose Sängerin, aber keine sonderlich gute Schauspielerin, sollte den Brief ganz offensichtlich sehen und dadurch zu größerer Ausdruckskraft angehalten werden: «Um der narzisstischen Neigung der italienischen Primadonna entgegenzuwirken, bedurfte es einer gewissen Übertreibung.»14 Die Schönheit der Stimme konnte Verdi natürlich nicht außer Acht lassen, am wenigsten in den frühen Werken. Sie verlieh ihnen ihren Glanz, wie Joan Sutherland in ihrer berühmten Einspielung von «Ernani, Ernani, involami» bewies. Noch höhere Anforderungen an die schauspielerischen Fähigkeiten stellte Verdi in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, als alle Künste einschließlich der Oper sich dem Realismus annäherten. Doch als er 1877 Ade-

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lina Patti als «große Schauspielerin» empfahl, da ihre schauspielerischen Fähigkeiten in einem vollkommenen Gleichgewicht mit ihrem Gesang stünden (C, S. 624 f.), da dürfte er – wie andere Charakterisierungen der Sängerin es nahelegen – kaum an eine Mrs Siddons (die große englische Tragödin) der Oper gedacht haben. Pattis «große schauspielerische Fähigkeiten» bestanden hauptsächlich in der musikalischen Beherrschung einer beispiellosen Stimme. Fünf Jahre zuvor hatte Verdi eine allgemeine Regel formuliert: «Die Oper verlangt vor allem Musikalität: Feuer, Esprit, Kraft und Begeisterung.»15 In den 1840 er Jahren vereinte eine junge Sängerin wie Erminia Frezzolini, die tragende Rollen in I Lombardi und Giovanna d’Arco übernahm und noch viele Partien in Verdi-Opern singen sollte, die Fähigkeiten und die Intensität in sich, deren es dazu bedurfte. Dasselbe gilt für Carlo Guasco und Sofia Löwe, die in der Uraufführung Ernani und Elvira sangen, auch wenn Guasco (der fast gezwungen wurde, die Partie zu übernehmen, nachdem Verdi zwei andere mögliche Tenöre abgelehnt hatte) bei der Uraufführung verheerend heiser und Löwe unpässlich war. Gleichwohl war die Aufführung ein Erfolg. Die späteren Aufführungen waren jedoch besser und beschleunigten die Blitzkarriere der Oper. Innerhalb von sechs Monaten brachten fast zwanzig italienische Theater sie auf die Bühne. Noch im selben Jahr wurde sie in Wien inszeniert, und im Jahr darauf folgten London, Lissabon und Madrid. Nach den drei Erfolgen mit Nabucco, I Lombardi und Ernani (1842–1844) konnte Verdi Verträge mit Impresarios über neue Opern und mit Verlagen entsprechende Verträge über die Rechte an den Partituren und die Abdruckrechte schließen, und das zu Bedingungen, die zwar noch nicht alle italienischen Rekorde brachen, aber doch besser waren, als seine Zeitgenossen sie durchzusetzen vermochten. Im Bereich der Oper waren die Musikverleger erst Anfang des 19. Jahrhunderts in Italien in Erscheinung getreten. Bis dahin

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beherrschten Kopisten das Feld. In den 1840 er Jahren hatten die Verlage bereits einige Bedeutung erlangt. Ein Komponist, dessen neue Oper an einem Theater erfolgreich war, konnte davon profitieren, indem er dem Verlag die Verwertungsrechte an der handschriftlichen Partitur oder an Teilen davon ganz oder anteilig verkaufte, so dass der Verlag sie von Hand kopieren lassen und an andere Theater vermieten konnte, oder indem er ihm das Recht zum Druck der Vokalpartitur oder einzelner, für diverse Solostimmen und Instrumente arrangierter Nummern überließ. Die Rechte an der Partitur waren damals noch nicht gesichert. Mangels durchsetzbarer Urheberrechtsansprüche konnten die Theater sich ohne weiteres eine gestohlene Kopie beschaffen oder einem Komponisten den Auftrag geben, nach der gedruckten Vokalpartitur eine Orchesterbegleitung zu erstellen. Aufgrund solcher Piraterie waren Bellini alle potenziellen italienischen Einnahmen aus seiner äußerst erfolgreichen Pariser Oper I puritani entgangen. Gedruckte Arrangements waren dagegen eine sichere Geldquelle, sofern es dem Verlag und dem Komponisten gelang, sie nach einer erfolgreichen Uraufführung rechtzeitig herauszubringen, bevor jemand geistigen Diebstahl verüben konnte. In einer Zeit, in der die Oberschichten Opernnarren und die modernen Medien der Aufzeichnung und Ausstrahlung von Musik noch unbekannt waren, eröffneten nur Transkriptionen den Menschen die Möglichkeit, den neuesten Hit in ihrem Wohnzimmer zu genießen. Von Anbeginn seiner Karriere arbeitete Verdi mit zwei der führenden Mailänder Verleger zusammen, Ricordi und Lucca. Zu den Ricordis unterhielt er über vier Generationen eine lebenslange Beziehung, die gelegentlich von Stürmen gezeichnet, aber für beide Seiten gewinnbringend war. Verdi wurde zur tragenden Säule des Verlagshauses. Giovanni Ricordi, der Gründer des Verlags, befasste sich noch hauptsächlich mit dem Druck und Vertrieb von Noten. In den

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zehn Jahren nach der Uraufführung von I Lombardi veröffentlichte er die Oper oder einzelne Nummern daraus in 245 Arrangements – für Solohorn, für Sopran und Tenor durchgängig in G-Dur und so weiter – mehr als bei jedem anderen Werk. Das war gut für Ricordi, aber nicht ganz so gut für Verdi, der die Rechte für ein Pauschalhonorar verkauft hatte. Erst nach Macbeth konnte er mit Ricordi einen Abschluss vereinbaren, der ihm einen dauerhaften Anteil an den Einnahmen aus den nahezu weltweiten Aufführungen seiner Opern sicherte. Verdis Beziehung zu Francesco Lucca, der bei Ricordi gearbeitet und sich selbstständig gemacht hatte, war von Anfang an getrübt. Ein Prozess, den Lucca gegen Ricordi wegen der Rechte am Text des Nabucco anstrengte, verzögerte monatelang die Uraufführung an der Scala, und das zu einer Zeit, als der Komponist gerade seinen Durchbruch erlebte. Verdi musste dennoch weiter mit Lucca zusammenarbeiten, dem er die Hälfte der Musikrechte verkauft hatte. Lucca drängte auf mehr, kaufte von einer dritten Seite die Veröffentlichungsrechte an der erst noch zu schreibenden Oper Attila und brachte Verdi schließlich dazu, zwei Verträge für die beiden Opern I masnadieri und Il corsaro zu unterschreiben. Lucca kaufte hier – eine Neuerung – sämtliche Rechte und sollte sowohl die Produktion als auch die Besetzung übernehmen. Dann verdarb er sich selbst das Spiel. Er bestand darauf, dass Verdi die Opern zu Zeiten schrieb, die ihm nicht passten, I masnadieri (wegen Verdis gesundheitlichen Zusammenbruchs 1846 verschoben) für London im Juli 1847 und dann, als London sich für Verdi wider Erwarten als Goldgrube erwiesen hatte, zu der er gerne zurückgekehrt wäre, Il corsaro für Triest 1848 – und Lucca verhielt sich hier in einer Weise, die Verdi als unflexibel und grob empfand. Zur Zeit des Corsaro war Lucca für ihn «dieser extrem geldgierige und taktlose Signor Lucca» geworden (C, S. 461). Verdi schrieb Il corsaro als reine Brotarbeit herunter und ließ die

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Oper in seiner Abwesenheit inszenieren, auch wenn er der Primadonna auf brieflichem Wege zwingende Ratschläge zukommen ließ. Danach ließ er die Hände von Lucca. Ein Schurke unter den Impresarios war Merelli. Verdi hatte gute Gründe, als er 1845 beschloss, nichts mehr mit ihm bzw. der Scala, mit der Merelli fest verbunden war, zu tun haben zu wollen. Obwohl Merelli ihm das Debüt als Komponist ermöglicht und ihm wahrscheinlich auch über die Depression nach Margheritas Verlust hinweggeholfen hatte, war der «Napoleon unter den Impresarios» letztlich ein in großem Stil arbeitender Theateragent, allzu beschäftigt und aufgeblasen, als dass er sich um die Details seiner Produktionen gekümmert hätte. Die daraus resultierende Nachlässigkeit hatte auch Donizetti abgeschreckt. Der für Verdi an einem kritischen Punkt seiner frühen Karriere richtige Impresario war Alessandro Lanari. Anders als Merelli kümmerte er sich vor allem um die Organisation des Bühnenbilds, der Kostüme und der Massenszenen. Er war ein Produzent, und das zu einer Zeit, als es diese Bezeichnung noch gar nicht gab. Er konnte auch gemein und unfreundlich sein. Es blieb ihm freilich kaum etwas anderes übrig, wenn er die Organisation mehrerer Opernspielzeiten, eine große Kostümwerkstatt und eine Theateragentur am Laufen halten wollte, und das in einem armen Land, in dem man weit weniger für die Oper ausgab als in London, Paris oder Madrid. Er und Verdi begegneten einander erstmals aus Anlass des Attila, den Lanari in Venedig auf die Bühne brachte. Einige Monate später schlossen beide einen Vertrag über eine Oper, die ihre Uraufführung Anfang 1847 in Lanaris Heimattheater erleben sollte, der Pergola im kultivierten Florenz. Es sollte ein bedeutendes Werk werden – das war Verdi klar. Lanari sollte ihm 18 000 Francs zahlen, ein Rekordhonorar für eine italienische Oper. Und es sollte ein Meisterwerk werden, ein Meisterstück im alten Sinne des Wortes, das einen Handwerker in den Stand eines Meisters erhob. Er wollte die Gelegen-

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Die rauchenden Trümmer von Aquileia: Entwurf des Bühnenbildners Giuseppe Bertoja für den ersten Aufzug des attila (Venedig, La Fenice, 1846)

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heit nutzen, die ihm der Impresario und die Stadt boten, und eine Oper schreiben, die auf einer erhabenen literarischen Quelle basierte. Der Text, für den er sich am Ende entschied, war Macbeth. Verdi gehörte zu Shakespeares ersten italienischen Bewunderern; eine vollständige Übersetzung seiner Theaterstücke erschien erst 1838. Die erste einigermaßen getreue Aufführung eines seiner Stücke (Othello) wurde 1842 in Mailand ausgepfiffen. Italien war damit eine halbe Generation hinter Frankreich und ein halbes Jahrhundert hinter Deutschland zurück in der Auseinandersetzung mit einem Dramatiker, der bis dahin als ungehobelt galt und in einer Sprache schrieb, die auf dem Kontinent nur wenige zu lesen vermochten. Verdi, der von Anfang an zu den Lesern der 1838 erschienenen Übersetzung gehörte, zweifelte niemals daran, dass Shakespeare die übrigen großen literarischen Quellen, Schiller und Hugo, übertraf, und dies vor allem, weil er «den menschlichen Geist so präzise analysiert und so tief durchdringt» – «diese Größe, diese Breite, diese erhabene, kostbare und sonderbare Atmosphäre» (IEV, S. 218, 341; VT, S. 82–85, 88). Er konnte zwar Shakespeares Namen niemals korrekt schreiben (was auch Shakespeare selbst nicht gelang), doch seine Stücke befeuerten seine schöpferische Phantasie. Schon 1843 gehörte King Lear zu den Werken, in denen Verdi eine mögliche Grundlage der für Venedig geplanten Oper sah (am Ende wurde es Ernani). Das Stück sollte ihm die nächsten anderthalb Jahrzehnte nachgehen. Als er später einen Blick auf Hamlet warf und Otello komponierte, erkannte er sehr genau, welche Herausforderung Shakespeares vier große Tragödien für ihn darstellten. Bei Macbeth versicherte er sich nicht nur des Organisationstalents Lanaris, sondern auch der Beteiligung eines lyrischen Baritons mit schauspielerischen Fähigkeiten: Felice Varesi. «Diese Tragödie», schrieb Verdi an seinen bevorzugten Librettisten Piave, «ist eine der großartigsten menschlichen Schöpfun-

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gen! … Wenn wir nichts Großes machen können, versuchen wir wenigstens, etwas Außergewöhnliches zu machen» (A, Bd. 1, S. 643; dt.: Briefe, S. 48). Wie Francesco Degrada in einem eindringlichen Essay dargelegt hat, hoffte Verdi dies auf zwei Wegen zu erreichen. Erstens reduzierte er die Tragödie auf ein «reines, klares, gnadenloses psychologisches Schema», und zweitens benutzte er die Musik, den Raum, das Bühnenbild und die Kostüme, um ein komplexes Theaterspektakel zu schaffen, das auf mehr als nur einer Ebene spielte – einen unsystematischen Vorläufer des Wagner’schen Musikdramas, das die Ressourcen aller Künste in sich vereint.16 «Kürze und Erhabenheit» – so lautete wie stets seine Anweisung an Piave. Doch der Librettist enttäuschte ihn. Sein Text, so polterte Verdi (teils in Großbuchstaben), sei banal und, schlimmer noch, weitschweifig: «WENIGE WORTE … WENIGE WORTE … WENIGE, WENIGE, ABER BEDEUTSAME» (A, Bd. 1, S. 644 f.). Er gewann Maffei dafür, die Hexenpassage und die Schlafwandelszene neu zu schreiben, strich jedoch am Ende auch einige seiner Beiträge. Im Druck erschien das Libretto schließlich ohne Angabe eines Autors. Einiges davon hatte Verdi selbst diktiert. Bei der Planung des Mordes an Banquo (an der Lady Macbeth aktiveren Anteil nimmt als bei Shakespeare) bestand er auf einem knappen Wortwechsel: «Noch ein Mord?» – «Es muss sein.» Er strich Lady Macduff und ihren Sohn, die meisten Nebenfiguren, alle englischen Aufzüge außer Macduffs Todesqualen angesichts des Gemetzels an seiner Frau und seinen Kindern (umrahmt von einem Flüchtlingschor) und reduzierte Duncan auf eine stumme Rolle. In der Oper, schrieb er später, gebe es drei Rollen: Macbeth, Lady Macbeth und die (zu einem Chor vereinten) Hexen – nur eine leichte Übertreibung, denn die beiden Tenöre (Macduff und Malcolm) haben kaum etwas zu singen, und Banquos kurze, edle Basspartie endet schon nach der ersten Hälfte des Stücks.

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Bei dem Versuch, sein «psychologisches Schema» herauszuarbeiten, wurde Verdi – nach Degradas Darstellung – von der italienischen Blindheit für ein Übernatürliches behindert, das mehr umfasste als die aus der römisch-katholischen Bildwelt stammenden Engel und Teufel. Macbeth wurde – vom damaligen Publikum fälschlich – dem «phantastischen» Genre zugeschlagen, wie Meyerbeers Robert le diable mit seinen tanzenden Nonnengeistern. Verdi gelangte, teils dank seiner Lektüre des deutschen Kunstkritikers August Wilhelm Schlegel, zumindest in die Nähe eines «protestantischen» Verständnisses der Hexen als innerer Dämonen, vermochte jedoch die italienische Konvention nicht gänzlich abzuschütteln. Die Musik der Hexen ist zuweilen angemessen, an anderen Stellen aber blechern. Für Macbeth als ein auf vielen Ebenen angelegtes Schauspiel konnte Verdi auf die Möglichkeiten des Theaters um die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückgreifen. Wer an die Spezialeffekte im Kino gewöhnt ist, dem mögen sie heute kitschig erscheinen. Zeitgenossen konnten sie dagegen als wunderbar empfinden. So etwa Baudelaire: Ich sah zuweilen am Grunde einer banalen Bühne, die des Orchesters Klang entflammte, eine Fee an einem Höllen-Himmel das Wunder eines Morgenrots entzünden; ich sah zuweilen am Grunde einer banalen Bühne ein Wesen, das nur Licht und Gaze war, den ungestümen Satan niederstrecken … («L’ Irréparable» / «Unwiederbringlichkeit», deutsch von Friedhelm Kemp, aus Les Fleurs du Mal / Die Blumen des Bösen, München 1986)

Verdi wusste, was er vermeiden musste, wenn er realitätsnahe Effekte erzielen wollte. In den führenden italienischen Opernhäusern war vertraglich festgelegt, dass die Kostüme der Hauptdarsteller vollständig aus Seide und Samt gefertigt sein mussten. Verdi bestand auf gröberen Stoffen, die eher mittelalterlich wirkten. Der Sänger des Banquo äußerte den Wunsch, das Privileg

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eines Solisten in Anspruch zu nehmen und nicht als Geist zu erscheinen. Verdi setzte sich darüber hinweg. Ganz besondere Aufmerksamkeit schenkte er der Erscheinungsszene, die er sich als «Phantasmagorie» (die Alptraumvision der Nachkommen Banquos), ähnlich dem von Baudelaire beschriebenen Wesen aus Gaze und Licht vorstellte, begleitet von einer feenhaften, buchstäblich unterirdischen Musik (wie Shakespeare sie in einigen Bühnenanweisungen verlangte). In visueller Hinsicht wollte sich der erhoffte Bühneneffekt nicht so recht einstellen, doch der Klang einer Gruppe aus zwei Oboen, sechs Klarinetten, zwei Fagotten und einem Kontrafagott drang, wie er sich später erinnerte, «seltsam, geheimnisvoll, aber zugleich ruhig und gedämpft» aus der Falltür herauf (C, S. 453). Es war «einer der schauerlichsten Klänge in der Oper des 19. Jahrhunderts, der umso beunruhigender erschien, als die Musik selbst sehr schlicht wirkte».17 Heute hören wir diesen Klang nicht mehr genau so, wie Verdi ihn 1847 komponierte, denn 1865 schrieb er die Oper für die Pariser Inszenierung um, und die neue Fassung setzte sich durch. Sie ist in mancherlei Hinsicht schöner, aber ein wenig ist sie auch ein Flickenteppich, weil sich Verdis Stil in den neuen Passagen weiterentwickelt hatte. Dennoch bleibt vieles, das uns berechtigt, schon die Fassung von 1847 ein geniales Werk zu nennen, vor allem die 1865 nicht veränderte Schlafwandelszene. Die Melodie, zu der Lady Macbeth auf die Bühne kriecht und deren «unendliches Gefühl der Bedrückung und Erschöpfung»18 wiederkehrt, ohne sich jemals zu wiederholen; die hastigen, dem krampfhaften Händewaschen angepassten Dreiklangsbrechungen der gedämpften Streichinstrumente; der chromatische Anstieg auf der Tonleiter, der die Schlafwandelnde wie ein stummes Schicksal verfolgt; die übrigen Instrumentalkommentare, die feinnervig in die Totenstille fallen; die Orchesterakkorde, die den umherirrenden Geist durch entlegene Tonarten führen – all das ist zugleich ori-

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ginell (in der italienischen Oper gab es nichts Vergleichbares), schlicht und zutiefst richtig. Der zweite Höhepunkt – neben der Schlafwandelszene – wurde 1865 beträchtlich umgearbeitet: das Duett, in dem Lady Macbeth ihren Mann drängt, Duncan zu ermorden. Hier und in der Schlafwandelszene gab Verdi sich große Mühe mit den Sängern der Uraufführung, Varesi und Marianna Barbieri-Nini. Er forderte «sotto voce», «hohlen Klang» und «gedämpften» Gesang. Er schärfte die «entscheidenden Worte» ein und bestand auf endlos erscheinenden Proben. Die Erfordernisse der Oper reduzieren die großen Monologe des Originals auf wenige wesentliche Worte, doch die Musik findet Äquivalente für «wie des Himmels Cherubim, auf den unsichtbaren Rossen der Zeit» und «deine unermeßliche See zu Purpur machen» in kurzen, eloquent lyrischen Ausbrüchen. Den raschen Wechsel der Gefühle bei Shakespeare bildet sie nach durch geschmeidig-einfühlsamen melodischen Erfindungsreichtum und im Orchester durch subtile Passagen für Bläser, Pauken und gedämpfte Streicher. Sie macht konzisen, triumphierenden Gebrauch von der italienischen Opernform, wenn Lady Macbeth höhnisch und moralisch verblendet in sonnigem Dur die Melodie wiederholt, die ihr Mann gerade verzweifelt in Moll gesungen hat, und dann wiederum in der atemlosen Stretta, zu der das Paar sich beim Pochen an das Tor steigert (wenngleich hier die Hand des Überarbeiters am Werk war). All das ist äußerst artikuliert und dynamisch, stärker noch als die bemerkenswerten konfliktund kontrastreichen Duette in vorangegangenen Opern. Wer die Musik dieser und die der Schlafwandelszene kennt, der meint, die Musik tief in seinem Innern zu hören, wenn er danach eine Aufführung des Originalstücks erlebt. Befände sich der ganze Macbeth auf diesem Niveau, wäre er eine unvergleichliche Oper. Vieles darin ist sehr schön: das Eröffnungsduett, in dem Macbeth und Banquo einander markig ihre

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Verdi, mit Ende dreißig

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unterschiedliche Sicht der Hexenerscheinung entgegenhalten; das unerbittlich vorantreibende Finale des ersten Akts nach der Entdeckung des Mordes; Lady Macbeths Arie «La luce langue», der Chor der Flüchtlinge – wobei die beiden letztgenannten im subtilen, geschmeidigen Stil von 1865 geschrieben oder umgeschrieben wurden, so dass sie nicht recht zum übrigen Stück zu passen scheinen. Lady Macbeths Soli von 1847 durchlaufen stimmliche Höhen und Tiefen wie Abigaille, nur besser kontrolliert. Ihr Trinkspruch in der Bankettszene verleiht ihrer Unruhe etwas Kühnes und Schrilles: Recht so! Und der kleine blecherne Marsch der Dorfkapelle bei Duncans Einzug ins Schloss besitzt eine Unschuld, die den bevorstehenden Mord in aller Schärfe hervortreten lässt. Andere Passagen – allerdings nicht die der Hexen – haben noch etwas von der Ungeschliffenheit des frühen Verdi’schen Stils. In beiden Fassungen ist der Schluss nicht ganz gelungen. Einige moderne italienische Kritiker halten Macbeth jedoch für Verdis beste Shakespeare-Bearbeitung, weil er sich hier nicht darauf beschränkte, einen verehrten Klassiker zu illustrieren, sondern – entschlossen, luzide, mit der ganzen «granitenen Integrität seiner moralischen Welt» – ein kraftvolles Drama aufgriff und es vollständig als Oper nachbildete.19 Mit Macbeth im Rücken konnte Verdi sich daranmachen, alle übrigen Komponisten auf seinem Gebiet zu übertreffen. Das bedeutete auch, dass er außerhalb Italiens arbeiten musste, vielleicht in London und ganz sicher in Paris. Sein Aufenthalt in Paris sollte ihn mit der Frau zusammenbringen, die fortan sein Leben teilte.

Drittes Kapitel

wendepunkte, 1847 –1849 Von I masnadieri bis La battaglia di Legnano; Strepponi, Revolution und Sant’Agata



Nach Macbeth galt es, neue Felder zu erobern. Die lagen zunächst einmal im Ausland. Seit langem schon hatten italienische Komponisten sich bemüht, in ausländischen Hauptstädten das Geld zu verdienen, das sie zu Hause niemals verdienen konnten. Der glanzvollste Vorläufer war Rossini. Er hatte es geschafft, in Paris eine Zeit lang der Herrschende der französischen und italienischen Oper zu werden. Bellini und Donizetti waren ihm gefolgt. Zu Verdis Lebzeiten war Paris die europäische Hauptstadt des Geistes, des Journalismus und der Mode. Dort zu reüssieren, versprach Ansehen und Geld. 1845, nach einigen Jahren erfolgreicher Arbeit in Italien, kamen erste Einladungen. Gerade erst hatte die Phase seiner schlimmsten Arbeitsbelastung begonnen. Obwohl er für die nächsten zwei Jahre bereits gebunden war, suchte er nach einer Möglichkeit, die ihm nur wenig zusätzliche Arbeit abverlangte – ein Libretto, mit dem er einerseits einen Vertrag in Italien erfüllen und, leicht abgewandelt, den höchsten Preis erringen konnte: die Pariser Oper mit ihrem exklusiven Angebot elaborierter, in Französisch gesungener Werke. Erst auf seiner ersten Auslandsreise – im Juni 1847 machte er auf

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seiner Fahrt nach London kurz Station in Paris – legte er sich fest. Aber auch dann wollte er sein Debüt mit der Adaptation eines bereits existierenden italienischen Werkes geben: I Lombardi.1 Bevor Verdi Ende Mai aufbrach, hatte er die Verhandlungen über einen weiteren wichtigen Vertrag begonnen, und zwar mit seinem italienischen Verleger Ricordi über eine zukünftige Oper (am Ende La battaglia di Legnano, 1849). Der Vertrag signalisierte einen neuerlichen Aufbruch, der sein Einkommen vergrößern, seine Arbeitsbelastung verringern und ihn auf lange Sicht von der «Galeerenarbeit» befreien sollte. Die Wirkung zeigte sich vollends erst Mitte der 1850 er Jahre. Inzwischen überquerten Verdi und sein treuer Assistent Muzio die Schweizer Alpen, fuhren mit dem Schiff den Rhein hinunter, wobei sie Burgen besichtigten, reisten dann mit der neuen Eisenbahn von Köln über Brüssel nach Paris, setzten nach Dover über und gelangten schließlich nach London. Über die Reise selbst wissen wir nur wenig. London war damals die größte Stadt der Welt, außergewöhnlich in ihrem Reichtum und ihrem imperialen Glanz. Das Wetter war, als er Anfang Juni dort eintraf, schlecht, der Rauch aus Tausenden von Schornsteinen nahm ihm den Atem, das Essen war schwer, die Sprache unverständlich. Doch abgesehen von Theaterbesuchen und einem fünfstündigen Dinner arbeitete Verdi intensiv an der Oper, für deren Inszenierung er angereist war, I masnadieri, und lebte sehr zurückgezogen. I masnadieri für die Starsängerin der Zeit, Jenny Lind, geschrieben, gilt manchen als «Verdis schlechteste Oper». Sie sei zu lang und allzu ausgeklügelt, sie enthalte nur wenige bemerkenswerte Nummern, und ganz allgemein mangele es an den «zornigen Blicken» und «sublimen Verdichtungen», die sonst für ihn typisch seien.2 Die Arbeit an der Oper litt wahrscheinlich unter der Tatsache, dass Verdi sie für Macbeth unterbrechen musste und gewal-

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tige Anstrengung seine Schaffenskraft durch diese erschöpft hatte. Maffeis Libretto stützte sich schwerfällig auf Schillers Sturmund-Drang-Drama, Verdi verpfuschte das entscheidende Selbstgespräch des bösen Bruders, und Linds altmodischer, hochgradig ornamentaler Gesang verlangte nach einer Musik, die gelegentlich allzu herausgeputzt wirkt. Dem Applaus am ersten Abend folgte nur ein mäßiger Erfolg in späteren Aufführungen. Abgesehen vom Besuch einiger Shakespeare-Aufführungen, kam Verdi außerhalb der Oper mit London kaum in Berührung. Er mochte die Landschaft und das gentlemanhafte Auftreten des Opernimpresarios Benjamin Lumley. Eine Zeit lang dachte er daran, sich für ganze Spielzeiten in London (von April bis August) zu verpflichten, mit einem großzügigen Vertrag, der vorsah, dass er eine Oper im Jahr komponierte und andere dirigierte – dazu ein Cottage im Grünen, in das er sich zurückziehen konnte. Aus alledem wurde nichts. Gespräche darüber waren möglicherweise nicht ernst gemeint. Als er wieder in Italien war, sprach er gelegentlich von den goldenen Möglichkeiten, die er in London und Paris hätte, und erwähnte damals astronomische Beträge von 80 000 oder 100 000 Francs für eine Oper. I masnadieri hatte ihm 20 000 Francs eingebracht. In Paris beklagte er später die entgangenen Uraufführungen in Italien, mit denen er angeblich mehr Geld hätte verdienen können. Solche Klagen waren zum Teil das in der Opernwelt übliche Gefeilsche, aber sie besaßen auch einen realen Kern. Vor allem in Paris konnte ein Komponist viel Geld verdienen – wenn er viel Zeit in die Vorbereitung und noch mehr ins Warten investierte. In Frankreich erhielt man für eine Oper in der Regel kein Pauschalhonorar, sondern Honorare für jede Aufführung. Wenn man Erfolg hatte, konnte das viele Jahre so gehen, und nicht nur in Paris, sondern auch in Theatern fern der Hauptstadt. In Italien erhielt man zwar ein niedrigeres Honorar, aber dazu bedurfte es nur einer kurzen, heftigen Anstrengung und die Oper machte

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sich sogleich bezahlt. Manchmal mochte das eine vorzuziehen sein, manchmal das andere. Verdi erfuhr schon bald, was es hieß, eine große Pariser Oper zu schreiben. Jérusalem, die Oper, die er und sein französischer Librettist auf der Grundlage von I Lombardi schrieben, wobei er die Musik beträchtlich umarbeitete und das unerlässliche Ballett hinzufügte, wurde nicht einmal fünf Monate nach seiner Ankunft uraufgeführt. Das war schnell für ein Haus, in dem seine beiden späteren großen Opern Probenzeiten von neun und sieben Monaten (jeweils mit einer Pause von drei oder vier Wochen) erforderten, und das Komponieren nahm noch längere Zeit in Anspruch. Allerdings handelte es sich um vollkommen neue Werke mit der vollen, in Paris üblichen Länge von fünf Akten. Solche Zeitpläne hatten ihren Grund sowohl in den Vorzügen als auch in den Mängeln der Pariser Oper. Hinsichtlich der Vorzüge war Verdi sich sicher. Die Produktion von Jérusalem sei «absolut großartig» (C, S. 464). Seit dem gewaltigen Erfolg von Meyerbeers Robert le diable (1831) hatte das Haus sich auf Kassenschlager spezialisiert, die eine erbauliche Geschichtsstunde und zugleich viel Spannung, ja gelegentlich sogar etwas Nervenkitzel boten, mit einem riesigen Aufgebot an Sängern, Tänzern und Komparsen vor einer grandiosen, historisch korrekten Kulisse. Zusammen mit dem bürokratischen Management sorgte all das für die «Maschinerie aus Marmor und Blei», von der Strepponi später einmal sprach. Man brauche dort, sagte sie, vierundzwanzig Stunden, um zu entscheiden, ob ein Sänger einen Finger oder die ganze Hand heben solle (WalkerV, S. 267). Die Mängel waren musikalischer Art. «Nie zuvor habe ich schlechtere Sänger und mittelmäßigere Choristen gehört», schrieb Verdi kurz nach seiner Ankunft. Selbst das Orchester sei «kaum mehr als mittelmäßig» – und dies in Paris, das neben Deutschland als Hort der Orchestermusik galt (A, S. 711; dt.: Briefe, S. 54 f.). Verdi revidierte diesen ersten Eindruck niemals, auch

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wenn er später ein oder zwei Sänger lobte. Das Grundübel lag darin, dass es zu viele Köche gab. Diverse Verantwortliche forderten dies und jenes im Namen des exklusiven Pariser «guten Geschmacks». An die Stelle von Inspiration trat die «Fabrikation». «Auf diese Weise hält [man] am Ende nicht ein Werk aus einem Guß in Händen, sondern ein Mosaik» (C, S. 220 f.; dt.: Briefe, S. 203). Trotz dieser beißenden Kritik an der «boutique» bemühte Verdi sich Jahr für Jahr um Verträge mit der Pariser Opéra. Einerseits lag das am Geld, andererseits wollte Verdi einen Komponisten auf dessen eigenem Terrain herausfordern, dessen europaweiter, auf seinen Pariser Opern basierender Ruhm heute nicht mehr ganz nachvollziehbar ist. Von etwa 1840 bis 1880 galt Giacomo Meyerbeer bei Kennern als ein weitaus tiefgründigerer Künstler, als ein Denker und «wissenschaftlicher» Musiker, wie Verdi niemals einer sein würde. Aber Paris bot nicht nur Ruhm, sondern auch Freuden des alltäglichen Lebens. Und Verdi genoss sie. Neben Aufenthalten von etwa zwei Jahren von 1847 bis 1849 und von 1853 bis 1855 und einem ganzen Jahr 1866/67, die jeweils von einer neuen französischen Oper in Anspruch genommen wurden, war Verdi weitaus häufiger in Paris als in der Hauptstadt des jüngst vereinten Italien – jeweils etwa zwei Monate 1852, 1856 /57, 1862/63 (viermal), 1870, 1873, 1875, 1876, 1880, 1882, 1886 und 1894 (zweimal). Auch bei einigen dieser Besuche ging es um die Inszenierung einer Oper (einer bereits bestehenden französischen oder einer adaptierten Fassung). Bei anderen Besuchen sah er nach Investitionen, die er dort getätigt hatte, doch in den meisten Fällen genoss er nur die Großstadt und vor allem deren vielfältige Theater. Von Anfang an schätzte er das «freie Leben», das er in Paris führen konnte. Er musste keine Besuche machen oder Besucher empfangen, und niemand erkannte ihn, wie es in italienischen Städten geschah. Er war dort ebenso berühmt wie anderswo,

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doch Paris war so groß und so voll von gefeierten Künstlern, dass er im Alltag anonym bleiben konnte. Ganz allgemein herrschte in Paris eine Meinungs- und Pressefreiheit, von der man in Italien nur träumen konnte – und dies in einer Sprache, in der Verdi sich bald zu Hause fühlte. Er wurde ein eifriger Zeitungsleser und las auch später in Italien den Pariser Figaro. Bei seinen ersten Besuchen mietete er eine Wohnung, später wohnte er im Hotel, und zwar stets in unmittelbarer Nähe der Theater an den Boulevards der Rive droite. Die Hotels wurden mit der Zeit vornehmer, bis er schließlich das Grand Hotel erreichte, gleich gegenüber der neuen Oper (der heutigen Opéra-Granier). Gelegentlich verbrachte er seinen Sommerurlaub in einem der Pariser Vororte oder – später – in den Pyrenäen. In Paris scheint er nur wenig gesellschaftlichen Verkehr außerhalb des Theaters gepflegt zu haben, und in diesem Rahmen bildete die Oper für ihn lediglich einen besonders glanzvollen Ort. Paris war schon lange die Hauptstadt des europäischen Theaters, und nicht nur literarisch anspruchsvoller Dramen wie der von Victor Hugo, sondern auch des Showgeschäfts. Die dort produzierten Stücke und Varietéprogramme – oft Gemeinschaftsarbeiten mehrerer Autoren – gingen durch ganz Europa sowie Nord- und Südamerika und inspirierten die Libretti der italienischen Oper. Wenn Verdi konnte, ging er Abend für Abend ins Theater. Während seines langen Aufenthalts von 1847 bis 1849 sah er wahrscheinlich selbst die Stücke, die ihm bald als Grundlage für Luisa Miller und Stiffelio dienen sollten. Auch griff er dort Ideen für die Inszenierung auf, etwa das Mehrfachbühnenbild, das die Handlung auf verschiedenen Ebenen oder gleichzeitig innerhalb und außerhalb eines Hauses zeigte – Anregungen, die er für die letzten Szenen von Aida und Rigoletto nutzte.3 Das Pariser Sprechtheater setzte in weitaus höherem Maße Musik ein, als wir dies gemeinhin glauben, vor allem das sogenannte mélodrame (ein mit Musik unterlegtes Sprechen). Bis zu

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siebzig Stellen eines Theaterstücks wurden in dieser Weise gestaltet, vor allem «scènes mystérieuses». Verdi war sich keineswegs zu schade, solche Hilfsmittel zu übernehmen. Die Auflösung des Stiffelio, in der der Pfarrer seiner untreuen Frau vor der versammelten Gemeinde verzeiht, folgt in dieser Szene dem musikalischen Muster des Pariser mélodrame.4 Verdis erster langer Aufenthalt in Paris bestätigte die künstlerische Reife, die er soeben mit Macbeth erreicht hatte. Erst die Summe beider Erfahrungen verhalfen ihm dazu, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die das Theater Mitte des 19. Jahrhunderts bot. In seinem Liebesleben brachte Paris einen tiefgreifenden Wandel. Er und Giuseppina Strepponi begegneten einander dort erneut. Sie wurden ein Paar, beschlossen zusammenzuleben und taten dies für das nächste halbe Jahrhundert. Schon zur Zeit des Nabucco 1842 hatte Strepponi – damals sechsundzwanzig Jahre alt – eine stürmische Karriere hinter sich. Sie war zwei Jahre jünger als Verdi und stammte wie er aus der Lombardei, und zwar im damals üblichen geographisch umfassenderen Sinne, nämlich von jenseits des Po. Sowohl in ihrem musikalischen Geschmack als auch in ihren politischen Ansichten stimmten sie überein. Als Tochter eines Komponisten, die selbst eine Ausbildung als Musikerin erhalten hatte, war sie schon früh die Ernährerin der Familie geworden. Als Sopranistin, die sowohl tragische Rollen als auch die zarteren Heldinnen der Bellini- und Donizetti-Opern singen konnte, errang sie fast auf Anhieb große Erfolge. Das Leben als Familienoberhaupt, als unabhängige Frau und als Opernstar setzte sie unter großen Druck – was dazu führte, dass sie ihre Karriere wie auch ihr persönliches Leben nur schwer in den Griff bekam. Bei der Uraufführung des Nabucco war ihre Stimme ruiniert. Eine Pause von einem Jahr brachte eine gewisse Besserung. Im Frühjahr 1843 machte sie mit der Abigaille in Parma eine bessere Figur, wobei Verdi einen Großteil der Spielzeit in der Stadt ver-

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brachte – zumindest auch wegen ihr, selbst wenn sie in dieser Phase wohl nicht mehr als Freunde waren. Außerdem war er mit der Widmung der Lombardi an seine eigene Landesherrin, die Herzogin von Parma, beschäftigt. Strepponi schaffte nur noch einige weitere Aufführungen. Mit dreißig Jahren zog sie sich zurück und beschloss, das Beste daraus zu machen, indem sie Gesangsstunden in Paris gab, wo sich reiche Schüler fanden. Als sie und Verdi einander wiederbegegneten, lebte sie bereits ein Jahr in Paris. Eine der Hauptursachen für die übermäßige Belastung ihrer Stimme war ihre Bereitschaft, fünfmal in der Woche oder sogar noch häufiger aufzutreten und den Terminkalender bis ins Letzte mit Engagements zu füllen – eine Belastung, die die meisten Sänger und Sängerinnen ihrer Zeit zu vermeiden versuchten. Und schlimmer noch: Während sie sich diesen Terminplan auflud, machte sie mehrere Schwangerschaften durch – mindestens drei, möglicherweise aber auch vier. Obwohl in Theaterkreisen recht viele von diesen Schwangerschaften wussten, schwiegen die Strepponi, ihre Freunde und Kollegen darüber. Sie folgten dem ersten Gebot der Moral des 19. Jahrhunderts, das da lautete, jeden öffentlichen Skandal zu vermeiden. Während ihrer Schwangerschaften trat Strepponi so lange auf, wie es eben möglich war. Wie zu erwarten, war sie sowohl vor als auch nach den Geburten oft krank oder erschöpft. All das führte zu einem schlechten Karrieremanagement. Zwar stand sie die meiste Zeit bei dem Impresario Lanari unter Vertrag, der sie in mehreren Theatern einsetzen konnte; sie musste schon in jungen Jahren ihre Familie unterstützen. Doch ihr Umgang mit Lanari war eher temperamentvoll als klug, und auch als Ernährerin der Familie betrieb sie Raubbau an ihrem Kapital: ihrer Stimme. Alles in allem zeigte Strepponi, deren normale Haltung in ihrem späteren Leben von spöttischer Gelassenheit geprägt war, in dieser frühen Phase einen Anflug von Leichtfertigkeit.

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Giuseppina Strepponi als Nina in Pietro Coppolas gleichnamiger Oper, die sie 1835/36 – im Alter von zwanzig Jahren – in Venedig sang. Zeitgenössischer Stich

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Über Strepponis Privatleben, ihre möglichen Liebhaber vor Verdi und ihre Kinder ist viel geschrieben worden. Eine kurze Studie kann nur versuchen, ihre Stellung innerhalb der italienischen Gesellschaft der 1830 er und 1840 er Jahre zu erfassen und der Frage nachzugehen, was dies für den Mann bedeutete, dessen Leben sie teilen sollte. Als Primadonna und Haushaltsvorstand war sie finanziell und rechtlich unabhängig – eine Stellung, die anderswo nur sehr wenigen Frauen offenstand. Von solch einer Frau konnte man nicht erwarten, dass sie sich wie eine Hausfrau aus der bürgerlichen Mittelschicht benahm, auch wenn sie sich bis zu einem gewissen Grad an die bürgerlichen Konventionen zu halten hatte. Frauen, die auf der Bühne auftraten, befanden sich damals in einer Übergangsphase, etwa auf halbem Weg zwischen der Zeit, als man sie für eine Art Edelprostituierte hielt (dem 17. und frühen 18. Jahrhundert), und der Zeit, in der sie auf Dauer den Ruf bürgerlicher Wohlanständigkeit erwerben konnten (dem späten 19. Jahrhundert). Zu Strepponis Zeiten bescheinigte man manchen italienischen Sängerinnen ein «gutes Benehmen», doch gerade diese Kennzeichnung beweist, dass man eigentlich das Gegenteil erwartete. Die Sängerinnen, denen man kein «gutes Benehmen» bescheinigte, konnten damit allerdings zumeist damit leben. Als Maßstab können wir die Karriere der Primadonna Eugenia Tadolini heranziehen, die sechs Jahre älter als Strepponi und ebenso berühmt war. Sie stammte aus einer «besseren» Familie als Strepponi und lebte – wie alle wussten – getrennt von ihrem Mann, einem unbedeutenden Komponisten, der zwanzig Jahre älter war als sie. Kurz nach der Trennung bekam sie zwei Kinder von Liebhabern aus dem neapolitanischen Adel. Ein besonders gemeiner Impresario drohte ihr mit einer Schadensersatzklage, weil eine dieser «außerehelichen» Schwangerschaften sie gezwungen hatte, ihr Engagement zu kündigen. Doch ansonsten lebte sie mit ihren Kindern offen in Neapel und pflegte beispiels-

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weise ein gutes Verhältnis zu ihrem Bruder. Ob sie mit ihren jeweiligen Liebhabern zusammenlebte, ist unklar, doch die Beziehungen waren stadtbekannt. Nichts davon beeinträchtigte ihre mehr als zwanzig Jahre währende Karriere. Hätte Strepponi es ihr nachtun können? Anders als Tadolini besaß sie nicht den offiziellen Status einer verheirateten Frau, und nur einer ihrer Liebhaber kam aus dem Adel. Wie bedeutsam diese Unterschiede waren, lässt sich nur schwer beurteilen, denn wir wissen nur wenig darüber, wie andere Künstlerinnen der Zeit ihr Sexualleben gestalteten. Der Ton, in dem Musiker und Impresarios über die Affären dieser Frauen sprachen (ein Ton amüsierter Toleranz, nur selten vermischt mit Verachtung), legt den Gedanken nahe, dass Strepponi es ihrer Kollegin Tadolini hätte gleichtun können, wenn sie ihre Angelegenheiten geschickter organisiert hätte. Doch wie sich zeigen sollte, stand sie am Ende ohne leibliche Kinder und ohne Karriere da. Ihr erstes Kind, der 1838 geborene Camillino, war der Sohn des Theateragenten und nebenberuflichen Impresarios Camillo Cirelli. Dieser Mann war anfangs ihr Lebensgefährte und diente ihr auch später in ihren «betrügerischen, kompromittierenden Affären» als Berater und Freund. 1843 wünschte er sich, sie möge all das hinter sich lassen und an ihre Zukunft denken. Cirelli erkannte Camillino nicht offiziell als seinen Sohn an, leistete aber einen Beitrag zum Lebensunterhalt des Kindes, mindestens bis zu dessen elftem Lebensjahr, möglicherweise auch noch danach. Als Strepponi 1839 eine Tochter gebar, der sie den Namen Sinforosa gab, wusste Cirelli von ihrer Affäre mit einem Mann, wahrscheinlich einem Sängerkollegen, den er als «niederträchtigen Verführer» bezeichnete. Er hielt Strepponi, diesen «guten Engel», für nahezu schuldlos, verhielt sich wie ein nachsichtiger Ehemann und akzeptierte aufgrund der Daten, dass er der Vater sei. 5 Über eine mögliche Fehlgeburt 1840 und eine weitere, 1841 geborene Tochter Adelina ist kaum etwas bekannt.

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Wer die Väter dieser Kinder waren, ist hier weniger wichtig als die Frage, was ihre Mutter mit ihnen tat. Sie ließ Camillino in Florenz von ihrer ehemaligen Dienstmagd aufziehen, besuchte ihn selbst aber nur selten. Als er elf Jahre alt war, gab sie ihn bei einem bekannten Bildhauer in die Lehre, doch der starb unglücklicherweise kurz darauf. Camillino studierte später Medizin, starb jedoch 1863 im Alter von nur fünfundzwanzig Jahren. Sinforosa und Adelina wurden sogleich zu Pflegefamilien aus der Arbeiterklasse gegeben, die Ältere nach einem kurzen Aufenthalt in ein Waisenhaus. Sie starben beide früh, die eine mit sechseinhalb Jahren, die andere mit elf Monaten. Das jüngere Mädchen sah Strepponi niemals wieder. Ob sie die ältere Tochter gelegentlich besuchte, wissen wir nicht. Jedenfalls besaß sie für beide nicht das gesetzliche Sorgerecht. Das Geschlecht der Kinder, so müssen wir schließen, entschied darüber, dass sie nach dem einen – heimlich – sah und die beiden anderen ihrem Schicksal überließ. Was machte Verdi sich aus Strepponis Vergangenheit? Möglicherweise nicht viel. Wir wissen einiges über Strepponis Einstellung, aber fast nichts über seine. Mutmaßungen, wonach La traviata auf Strepponi anspielt, sind falsch. Verdi nannte Violetta eine «Hure» (A, Bd. 1, S. 503) – sie war eine Mätresse. Strepponi war dagegen eine unabhängige Künstlerin, die ihre Familie unterstützte. Ihr Sexualleben in der Zeit, bevor sie zusammenkamen, war «einfach, natürlich» und zugleich am Theater nicht ungewöhnlich – wenn auch wahrscheinlich schlechter organisiert als bei den meisten anderen. Anfangs dürften die beiden angesichts der schmerzlichen Erfahrungen, die sie gemacht hatten, nicht sicher gewesen sein, wie lange ihre Beziehung halten würde. 1853, viereinhalb Jahre nach ihrer Begegnung in Paris, erlaubte er ihr erstmals, ihn auf Geschäftsreisen zu begleiten – etwas, das sie sich sehnlichst gewünscht hatte, selbst wenn das bedeutete, wie sie es ausdrückte, dass sie ihn nur eine Viertelstunde am Tag sehen konnte. Im fol-

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genden Jahr kannte man sie in Paris, wo die beiden nun wieder lebten, als Signora Verdi. Verdi ließ sogar einen Brief, der unter dem Namen Strepponi an sie adressiert war, zurückgehen. 1856, wieder in Italien, trugen ihre Taschentücher die gestickten Initialen «GV», und Ende 1857 bezeichnete Verdi sie in Briefen als «meine Frau». Weshalb heirateten sie dann erst am 29. August 1859? Es gibt verschiedene Erklärungsversuche. Vielleicht wollte Verdi nicht die gesetzliche Verantwortung für Camillino übernehmen, der im Januar 1859 das einundzwanzigste Lebensjahr vollendete. Oder Strepponi war durch eine frühere, heimlich geschlossene und vielleicht zweifelhafte Ehe an einen Mann gebunden, der um diese Zeit verstarb. Oder sie fühlte sich unwürdig. Wir wissen es nicht. Die Hochzeit in einer Dorfkirche in Collonges in Savoyen (damals Teil des neuen, wenn auch immer noch inoffiziellen Königreichs Italien) hielt Verdi so geheim, wie er nur konnte. Die einzigen Zeugen waren der Glöckner und der Kutscher. Strepponi empfand viele Jahre lang eine überwältigende Liebe und Dankbarkeit. Als beide sich zusammentaten, konnte sie bereits auf Italienisch und Französisch fließend Briefe und Tagebücher schreiben – hier und da mit eingestreuten englischen Brocken. Es ist nicht immer klar, ob ihre intimen Aufzeichnungen für Verdi oder nur für sie selbst bestimmt waren. Aus diesen Aufzeichnungen können wir sehr viel erfahren. Im Rückblick auf zwanzig Jahre ihrer Beziehung – Verdi hatte sich gerade als über die Maßen reizbar gezeigt – erinnerte sie sich in ihrem Tagebuch daran, dass sie, als sie sich mit an ihn band, «eine neue Frau werden wollte». Sie wollte sich der Ehre würdig erweisen, die er ihr erwiesen hatte, als er sie zu seiner Lebensgefährtin machte, und all des Guten, das «dieser Mann» ihr fortwährend angedeihen ließ, dem es «zur Vollkommenheit allenfalls an ein wenig mehr Freundlichkeit und Charme ermangelt» (CV, Bd. 2, S. 37).

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Das war für lange Zeit ihre einzige Klage über den Mann, den sie ihren «Zauberer» nannte. Wenn sie in den Jahren bis 1853 einmal getrennt waren, klagte sie gelegentlich, wenn seine Briefe ihr nicht warmherzig genug erschienen: «Zum Teufel! verlernt man in Busseto, Menschen zu lieben und ihnen mit ein wenig Zuneigung zu schreiben?» Dennoch war ihr an Busseto alles recht, «solange Du da bist, Du hässliches, unwürdiges Ungeheuer! […] Ich verachte und umarme Dich.» Und bei einer späteren Gelegenheit schrieb sie: «Ohne Dich bin ich ein Körper ohne Seele» (WalkerV, S. 195 f., 208). Ihre Verbindung war von Anfang eine zwischen zwei unabhängigen Wesen. Sie behielt ihre eigenen Konten und zahlte selbst für ihre Kleidung. Ein mögliches Band wurde ausgeschlossen: «Wir werden», so sagte sie 1853 zu Verdi, «keine Kinder haben (denn vielleicht will Gott mich für meine Sünden strafen, indem er mir jede legitime Freude verwehrt, bevor ich sterbe).» Das sagte sie möglicherweise, um Verdi deutlich zu machen, dass er sich nicht genötigt fühlen sollte, sich zu überarbeiten und viel Geld zu verdienen, da es niemanden geben werde, dem er es hinterlassen könne. Strepponi dürfte gewusst haben, dass es Verdi sehr viel bedeutete, seinen Namen und sein Vermögen weiterzugeben, denn sie äußerte die Hoffnung, er werde nicht mit einer anderen Frau Kinder haben (WalkerV, S. 209). 1868 adoptierten beide als ihre Tochter und Erbin Verdis achtjährige Kusine Filomena Maria.6 Obwohl beide unabhängig waren, fühlte Strepponi sich viele Jahre in Verdis Schuld. Im Dezember 1860 – er war verreist, und Regen und Alleinsein drückten auf ihre Stimmung – schrieb sie: Der Talisman, der mich fasziniert und den ich an Dir bewundere, ist Dein Charakter, Dein Herz, Deine Nachsicht gegenüber den Fehlern anderer, während Du gegen Dich selbst so streng bist, Deine Barmherzigkeit, so voller Bescheidenheit und Geheimnis, Deine

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stolze Unabhängigkeit und Deine jungenhafte Schlichtheit – all das Eigenheiten Deines Wesens, das sich inmitten der menschlichen Kloake eine ursprüngliche Reinheit des Denkens und Fühlens hat bewahren können. O mein Verdi, ich bin Deiner nicht würdig, und Deine Liebe zu mir ist eine Wohltat, ist Balsam für ein Herz, das unter der fröhlichen Oberfläche manchmal sehr traurig ist. Liebe mich auch weiterhin! Liebe mich auch noch nach dem Tod, so dass ich, gestärkt durch Deine Liebe und Deine Gebete, vor die göttliche Vorsehung treten kann, o mein Erlöser! (Walker V, S. 226)

In den 1850 er Jahren war Strepponi, wie wir feststellen können, religiös geworden. Sie ging zur Messe. In dem katholischen Land bedeutete das jedoch nicht, dass sie eine andere Einstellung als Verdi zu den Priestern gewonnen hätte, die ihr, wenn sie sich an die Regeln hielten, nicht die Kommunion spenden durften, solange die beiden nicht verheiratet waren. Trotz der vielen intimen Aufzeichnungen, aus denen wir schöpfen können, bleibt ihre Persönlichkeit rätselhaft. Frank Walker, der einige davon erstmals publiziert hat, hielt diese Texte für «geistreich», «köstlich», «entzückend» und «wunderschön». Doch es gibt auch eine andere Seite. Ihrer Freundin Caterina De Sanctis, deren Neugeborenes gestorben war, schrieb sie zunächst in konventionell tröstender Manier (das Kind sei im Himmel besser aufgehoben) und fügte dann hinzu: «Wenn Du keine anderen Kinder hättest, tätest Du mir ein wenig leid, aber da Du schon genug davon hast und außerdem eine voll funktionsfähige Fabrik für die Vermehrung der De Sanctis besitzt, kann ich gar kein Mitleid mit Dir empfinden» (27. März 1864, WalkerV, S. 248). Geistreich? Köstlich? Für sie wie für Verdi war die Eltern-KindBeziehung wahrscheinlich stark belastet, doch anders als Verdi hatte sie keine Möglichkeiten, den Druck des Unbewussten in Eltern-Kind-Duetten zu entlasten. In den Jahren von 1847 bis 1849 profitierte die Beziehung zwi-

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schen der gescheiterten Primadonna und dem im Aufstieg begriffenen Komponisten beträchtlich von der Tatsache, dass beide in Paris lebten. Offenbar zog er in eine Wohnung, die gleich neben ihrer lag. Das war allerdings nicht sonderlich bedeutsam, denn wenn Verdi Paris auch deshalb schätzte, weil niemand ihn dort erkannte oder Klatsch über ihn verbreitete, so meinte er damit unter anderem, dass er und Strepponi ihr Leben ganz ungestört führen konnten. Ihren Beruf als Sängerin hatte sie noch nicht vollständig aufgegeben. 1847 gab sie gelegentlich noch Konzerte, meist in den Häusern wohlhabender Bürger. Sie half Verdi privat, indem sie seine Melodien sang und kommentierte, sobald er sie skizziert hatte. Auf dem Notenblatt eines Duetts für Jérusalem finden sich abwechselnd ihre und seine Handschrift. Und wie in ihrem ganzen weiteren Leben entwarf oder überarbeitete sie einige seiner Geschäftsbriefe und glättete hier und da holprige Passagen. In Paris erlebten sie die Revolution und die ersten Phasen der Konterrevolution. Ende 1847 befanden sich weite Teile Europas in politischer Gärung. In Frankreich musste der Bürgerkönig Louis-Philippe (der Verdi gerade zum Ritter der Ehrenlegion erhoben hatte) im Februar 1848 abdanken. In Italien war die Unruhe seit 1843 angewachsen, als Vincenzo Giobertis Werk Del primato morale e civile degli italiani erstmals Begeisterung weckte mit seiner Zuversicht, dass Italien zu neuer Größe finden werde, und mit seinem Vorschlag einer unabhängigen Föderation der bestehenden Staaten unter Führung des Papstes – eine Begeisterung, die vielleicht gerade deshalb solche Höhen erreichte, weil Giobertis Ideen recht wolkig blieben und das Buch kaum lesbar war. Im Juli 1846 führte die Wahl des angeblich liberalen Papstes Pius IX. zu öffentlichen Freudenkundgebungen, die nicht mehr zu kontrollieren waren. Viele glaubten, die neue Herrschaft werde nicht nur im Kirchenstaat und anderswo zu liberalen Reformen führen, sondern auch Giobertis Vision verwirklichen.

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Italien war der Extremfall einer allgemeinen Unzufriedenheit mit dem autoritären, nichtrepräsentativen Staat, wie sie damals im europäischen Bürgertum, in Handwerkergruppen und bei manchen Aristokraten verbreitet war, und in ganz besonderem Maße dort, wo – wie in den italienischen Städten – immer mehr junge Leute sich kaum Hoffnungen auf eine ihrer Ausbildung und ihrem gesellschaftlichen Status angemessene Stellung machen konnten. Den bäuerlichen Massen brachte das Jahr 1847 Hunger und Elend. Unter den Gebildeten wuchs der Ruf nach einem repräsentativen Verfassungsstaat, der als Schlüssel für eine Modernisierung der Gesellschaft galt. Ein derartiger Wandel musste das Ende der Hegemonialherrschaft bedeuten, die Österreich seit 1815 über die Halbinsel ausübte. Obwohl das Habsburgerreich für eine rationale Staatsverwaltung sorgte, war es zu einer konservativen Macht erstarrt, die sich jeder politischen Reform widersetzte. Mit Mailand, Venedig und den zugehörigen Territorien verfügte Österreich selbst über einen italienischen Staat (namens Lombardo-Venetien). Gioberti hatte dieses Problem umgangen. In seiner unabhängigen Föderation genoss Lombardo-Venetien möglicherweise einen autonomen Status unter einem Habsburger Fürsten. Wie wir gesehen haben, gibt es Anzeichen dafür, dass Verdi sich in seinem dritten Lebensjahrzehnt eine liberale Republik, vielleicht sogar eine Demokratie wünschte. Er hasste die Macht, die die Priester über das alltägliche Leben ausübten. Solche Anschauungen gingen oft einher mit den Idealen universeller menschlicher Brüderlichkeit, strenger «römischer» Tugend und eines Endes der Tyrannei. Wir finden sie in Prometheus Unbound, das Percy Bysshe Shelley 1818/19 in Italien schrieb. Sie haben wenig mit Nationalismus zu tun, dafür aber sehr viel mit dem Wunsch nach Freiheit. Aber war Verdi nicht ein Nationalist, der sich nach einem endlich in einem einzigen Staat vereinten Italien sehnte? Waren seine frühen Opern nicht gespickt mit durchsichtigen

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Appellen an seine nationalistischen Gesinnungsgenossen? Bis vor kurzem hätte jeder diese Fragen mit Ja beantwortet. Tatsächlich aber müssen wir beide Fragen sehr differenziert betrachten. Das Risorgimento – der nationale «Wiederaufstieg» Italiens – war keine einheitliche Bewegung, die stetige Fortschritte in Richtung Einheit gemacht hätte. Es gab zahlreiche Konflikte. Stimmungen, Ziele und Programme wechselten – in den 1840 er Jahren fast von Monat zu Monat, 1847/48 dann von Woche zu Woche. Es hat deshalb keinen Sinn, Einstellungen von 1844 oder 1847 in eine Oper wie Nabucco, die schon 1842 entstand, oder in die Reaktion des Publikums hineinzulesen. Genau das geschieht jedoch, wenn eine nationalistische Bewegung gesiegt hat. Obwohl solche Bewegungen in der Regel das Werk einer Minderheit darstellen, sind viele Menschen später überzeugt davon, sie hätten sie von Anfang an unterstützt. Als Italien von 1859 bis 1861 unter König Vittorio Emanuele II. von Piemont seine Einheit erlangt hatte, schrieb Rossini, sein Herz habe stets «für das Vaterland» und dessen Freiheit geschlagen, doch das dürfte nicht ganz aufrichtig gewesen sein, denn wie frühere Briefe zeigen, jagte die 1848er Revolution in Bologna ihm solchen Schrecken ein, dass er wegzog und sich noch viele Jahre lang voller Abscheu über Volksbewegungen und die moderne Welt im Allgemeinen äußerte. Ein besonders auffälliges Beispiel solch einer nachträglichen Umdeutung ist die immer noch verbreitete Überzeugung, wonach die großen Chöre in Verdis frühen Opern, vor allem «Va, pensiero, sull’ali dorate» aus Nabucco und dessen Nachbildung «O signore, dal tetto natio» aus I Lombardi, Ausdruck eines unverhohlenen politischen Nationalismus seien. Nach Ansicht einiger Autoren des späten 19. Jahrhunderts, die seither von anderen wiederholt wird, lösten die Chöre heftigen Beifall bei einem Publikum aus, das seine Hoffnung auf einen geeinten italienischen Staat nicht auf andere Weise zum Ausdruck zu bringen vermochte. Roger Parker hat jetzt gezeigt, dass die Chöre 1842/43 durch-

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aus keine besondere Begeisterung auslösten, nicht einmal nach der Revolution von 1848, als Demonstrationen nationaler Gesinnung sehr wohl willkommen waren. Manche Kritiker schrieben sogar, die Chöre seien nicht martialisch genug. Erst nach der Einigung Italiens wurde «Va, pensiero» zu einer inoffiziellen Nationalhymne. Diese nachträgliche Deutung klang so überzeugend, dass Verdi selbst schließlich glaubte, er hätte Nabucco vor allem wegen des Textes dieses Chores geschrieben. 7 Die aus solchen Chören sprechende Sehnsucht nach dem verlorenen Vaterland war in Wirklichkeit Ausdruck eines kulturellen Nationalismus, den Verdi mit vielen zeitgenössischen Schriftstellern (wenn auch nicht so vielen Musikern) teilte. Die Scham über den Niedergang Italiens verband sich mit der Hoffnung, das Land werde wieder zur einstigen Größe seiner Kultur und damit zu neuer Kraft und Unabhängigkeit finden. Die Männer und Frauen, die so empfanden, wünschten sich nicht notwendig auch einen geeinten italienischen Staat und erst recht keine Einheit, wie sie von 1859 bis 1861 zustande kam – die Machtübernahme des Königreichs Piemont auf der ganzen italienischen Halbinsel, weil es der einzige italienische Staat war, der eine eigene Armee besaß. Die Loyalität gegenüber der Stadt oder dem Kleinstaat, in dem man lebte, war immer noch stark. Daher begrüßte man auch Giobertis Versicherung, Italien könne wieder «die führende Nation» werden, ohne dass es dafür eines tiefgreifenden Wandels bedurfte und erst recht keines aufopferungsvollen Kampfes des ganzen Volkes für eine geeinte Republik, wie der «Seher-Rivale» Giuseppe Mazzini sie predigte, wenn auch nur einer kleinen Minderheit. «Va, pensiero» mit seiner schwungvollen – größtenteils unisono gesungenen – Melodie setzte sich eher für Brüderlichkeit ein als für einen politischen Entwurf nationalistischer Prägung. Fast bis zur Revolution von 1848 erfreuten Verdis Opern sich der Förderung durch die jeweiligen Herrscher. Sie durften weit-

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gehend so aufgeführt werden, wie Verdi und seine Librettisten sie geschrieben hatten, weil die von den Herrschern eingesetzten Zensoren sie kaum für gefährlich hielten. Erst in den letzten Monaten vor der Revolution nahmen Teile des Publikums erstmals Zeilen oder Szenen aus diesen Opern zum Anlass für Demonstrationen gegen die alten Regime. Und erst als die alten Regime zurückgekehrt waren, reaktionärer als zuvor, weil zutiefst erschüttert, musste Verdi mit einer obsessiven politischen Zensur rechnen. In den Jahren um 1840 verhielten Strepponi und Verdi sich nicht wie beinharte Nationalisten. 1838 sang Strepponi in Cremona die Norma in einer Galavorstellung vor dem zu Besuch weilenden österreichischen Kaiser. Niemand verband das Thema der Oper, die Revolte, mit der damaligen Situation in Italien, wie manche Zuschauer dies zehn Jahre später tun sollten. Das Ensemble stellte sich in Reihe auf und sang unter lautem Beifall eine Hymne an den Kaiser.8 Auch Verdi feierte den Besuch des Kaisers in seinem norditalienischen Königreich. Er schrieb eine Kantate zu einem überschwänglichen Text von Piave, der später ein entschiedener Nationalist wurde. 1842/43 widmete Verdi Nabucco einer Prinzessin aus dem Hause Habsburg (die später – so wenig eindeutig waren die Verhältnisse in der italienischen Politik – den zukünftigen König Vittorio Emanuele II. heiratete) und gab sich, angespornt von Demaldè, dem antiklerikalen Verwandten seiner verstorbenen Frau, große Mühe, I Lombardi einer anderen Prinzessin, seiner eigenen Landesherrin, der Herzogin Marie-Louise von Parma, zu widmen. Er war sehr gerührt, als die Herzogin – eine liebenswerte und beliebte Herrscherin – ihm persönlich dankte. Inzwischen freute sich Strepponi, die in Parma in Nabucco sang, über ihre ehrenamtliche Berufung zur herzoglichen Kammersängerin. Noch 1850, nach dem Scheitern der Revolution, setzte Demaldè sich bei Marie-Louises Nachfolger dafür ein, dass Verdi zum Ritter geschlagen wurde.

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Die Zensur – die von italienischen Literaten im Dienste der verschiedenen Staaten durchgeführt wurde – war in dem Sinne politisch, als Forderungen nach Freiheit und Aufrufe gegen Tyrannei untersagt waren. Reizworte wie zum Beispiel «Ketten» riefen die Zensoren auf den Plan. Die Librettisten mieden sie, und vor 1848 war das Problem nicht sonderlich virulent. Revolten waren, wie Norma bewies, akzeptabel, solange sie in zeitlich oder räumlich großer Entfernung spielten. Anstoß nahmen die Zensoren dagegen an der Darstellung von Geistlichen oder von religiösen Ritualen auf der Bühne, an Verhaltensweisen, die nicht mit der katholischen Moral vereinbar waren, und an persönlichen Anspielungen. Aufgrund der klassischen Ausrichtung ihres Geschmacks mochten sie es nicht, wenn «niedere» oder «groteske» Themen ernsthaft behandelt wurden. In den französischen Theaterstücken und Romanen der Romantik, die von den Librettisten so geschätzt wurden, fanden sich die meisten Dinge dieser Art im Überfluss. Verdi hatte dennoch kaum Probleme. Seine Librettisten Solera und Piave zensierten ihre eigenen Arbeiten im vorauseilenden Gehorsam. Es genügte, im Attila aus Papst Leo dem Großen einen «alten Römer» zu machen und in Ernani zwei der drei Selbstmorde am Schluss wegzulassen. Der Zensor sorgte sich über mögliche liturgische Gesten in Nabucco, hatte aber ansonsten nichts zu beanstanden. Der Erzbischof von Mailand ließ in I Lombardi «Ave Maria» streichen, hatte aber nichts gegen «Salve Maria» einzuwenden (und auch nichts gegen die Darstellung der Taufe auf der Bühne). Piave musste im Chor der Verschwörer in Ernani («Si ridesti il leone di Castiglia») ein paar Worte über Bruti und Gracchi – führende Geschlechter der römischen Republik – weglassen, doch der Chor selbst ging durch, und das trotz seines aufwühlenden Aufrufs zu erneuter Tapferkeit. Da Mut und Großmut Karls V. darin über die Verschwörer triumphierten, gab es an der politischen Dimension der Szene nichts auszusetzen.

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Die exemplarische «Risorgimento-Oper» Attila kam ohne jede Beanstandung durch die Zensur und löste auch, soweit wir wissen, bei der Uraufführung (im März 1846) in Venedig keine Demonstrationen aus. Die Äußerung eines römischen Generals gegenüber Attila: «Du wirst die ganze Welt besitzen, überlasse Italien mir», die man später als Aufruf zu nationaler Sammlung interpretierte, wurde von manchen als rätselhaft empfunden. Verdi sagte zu Solera: «Ich verstehe, was Sie meinen», bat ihn aber um Hilfestellung, wie er das Intendierte darstellen könnte (C, S. 440). Als er diese erhielt, legte sie – zusammen mit einigen anderen Aspekten des Librettos – den Gedanken nahe, dass Solera Giobertis Vision teilte. Er hatte Werners deutsche Tragödie in der Weise ergänzt, dass die Äußerung klarer wurde. Sie forderte Attila als Eroberer des Römischen Reiches nun dazu auf, gleichsam aus der Ferne die Oberhoheit über Italien auszuüben (wie in späteren Zeiten der österreichische Kaiser?). Aus Verdis Bemerkung gegenüber Solera könnte man den Schluss ziehen, dass auch er damals die Begeisterung über Giobertis Buch teilte. Weitere «nationalistische» Passagen in Attila waren Ehrbezeigungen an die alte venezianische Republik, die fünfzig Jahre zuvor von Napoleon abgeschafft worden war. Die Venezianer hielten so entschieden daran fest, dass sie sich 1848 in ihrem Namen erhoben. Bei all diesen Werken hatte Verdi es mit den Zensoren Lombardo-Venetiens zu tun, den vernünftigsten in ganz Italien. Die Zensoren in Rom und Neapel waren weitaus obskurantistischer. Dort wurde aus der Titelheldin von Giovanna d’Arco – die immer noch als Häretikerin galt – eine Orietta aus Lesbos. Später hatte Verdi mit weit schlimmeren Problemen dieser Art zu kämpfen. Lokalgrößen und Theaterbesitzer waren gelegentlich noch wählerischer. Der Bürgermeister von Venedig ließ eine christliche Hymne aus Attila streichen, und gleichfalls in Venedig widersetzten sich die im Vorstand des Teatro La Fenice vertretenen Adligen der Uraufführung von I due Foscari, weil die Oper zwei ihrer

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Vorfahren aus dem 15. Jahrhundert in ein schlechtes Licht rückte. Der Vorsitzende lehnte es ab, dass in Ernani ein so unklassisches Objekt wie ein Horn auf der Bühne erschien – das hatte man in der Fenice bis dahin noch nie gesehen. Verdi erwiderte: «Na gut, für diesmal soll es sein» (BM, S. 124). Verdis Werke aus den 1840 er Jahren waren dennoch «Risorgimento-Opern». Die jüngst vorgebrachte These, wonach Verdi als Sänger des Risorgimento (ebenso wie das Risorgimento selbst) ein Mythos sei, stützt sich auf kluge Argumente, scheitert letztlich aber, weil sie die Musik unberücksichtigt lässt. 9 Zwar besitzt die Musik selbst keinen politischen Tenor, doch ihre Kraft und Größe sind das Werk eines Mannes, der nicht anders kann, als sich selbst und die Zuschauer in der Phantasie zu heroischem Handeln zu ermuntern. So konfus und widersprüchlich ihr Handeln auch oft war, fühlten doch genügend Italiener dasselbe, so dass wir durchaus von einem Risorgimento sprechen können und von Verdi als dessen – nicht immer bewussten – Propheten. Die bekannteste Legende über Verdi als nationalistische Ikone ist der Ruf «Viva VERDI» (wobei der Name des Komponisten als Abkürzung für »Vittorio Emanuele, (Re) König (di) von Italien» verstanden wurde). Dieser Ausruf war tatsächlich zu hören – für ein paar Wochen in der Scala, nämlich von Januar bis März 1859, unmittelbar vor dem zweiten und entscheidenden Unabhängigkeitskrieg. Dieses Phänomen blieb jedoch ganz auf diese wenigen Wochen und nur auf das venezianische Publikum begrenzt, es war damals noch keinesfalls der volkstümliche Wahlspruch, den man nach der Einigung darin erblicken wollte. Verdi verbrachte fast die gesamte Revolutionszeit von 1848/49 in Paris: auf den ersten Blick kein Beweis für eine unverbrüchliche Bindung an Italien. Er nahm starken Anteil an den frühen – weitgehend gewaltlosen – Pariser Ereignissen und verfolgte sie intensiv. Die Revolutionsnachrichten aus ganz Italien erfüllten ihn mit Begeisterung, vor allem die Nachricht von dem fünftägi-

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gen Aufstand, während dessen die Mailänder die Österreicher aus ihrer Stadt warfen. Eine Weile teilte er Mazzinis Vision eines Volksaufstands, aus dem eine geeinte italienische Republik hervorgehen sollte. Am 21. April 1848 war er wieder in Mailand. An Piave (der sich freiwillig zum Militär gemeldet hatte) schrieb er: Ehre ganz Italien, das in diesem Augenblick wahrhaft groß ist! Die Stunde seiner Befreiung hat geschlagen, dessen sei nur gewiß. Das Volk will sie; und wenn das Volk will, dann gibt es keine absolute Macht, die ihm widerstehen könnte. […] Ja, ja, noch wenige Jahre, vielleicht wenige Monate, und Italien wird frei, eins, republikanisch sein.

Jetzt sei es nicht an der Zeit, über Musik zu reden – die einzig angebrachte Musik sei die der Kanonen. In einer Art Antiklimax heißt es in dem Brief weiter: «Ich muß Verbindlichkeiten und Geschäfte halber wieder nach Frankreich» – das heißt, um Opern zu schreiben und diverse Forderungen einzutreiben, die zu groß waren, als dass er sie hätte übergehen können (A, Bd 1, S. 745; dt.: Briefe, S. 60). Dass die Summen zu groß waren, als dass er sie hätte übergehen können, war auch der Grund, weshalb Verdi nach Italien gekommen war. Er wollte Land in der Umgebung von Sant’Agata kaufen, dem Ort, aus dem seine Vorfahren stammten. Dazu brauchte er alle Mittel, die er flüssig machen konnte. Kurz zuvor, noch in Paris, hatte er sich verwundert gezeigt, dass einige Briefe nach Italien ihre Adressaten nicht erreicht hatten. «Ich verstehe, dass wir Revolution haben, aber was haben die Briefe damit zu tun!» (C, S. 464; dt.: Briefe, S. 59). Verdis Begeisterung war echt. Doch weder die Revolution noch der unglückselige Unabhängigkeitskrieg gegen die wiedererstarkte österreichische Armee nahmen die erste Stelle in seinem Leben ein. Den Mai verbrachte er mit dem Kauf des Anwesens in Sant’Agata, und anschließend kehrte er unverzüglich nach Paris zurück.

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Dort kam er rechtzeitig an, um Zeuge der «Juniereignisse» zu werden – der blutigen Konterrevolution, die den Aufstand der Pariser Arbeiter niederschlug. Die dadurch aufgerissene, unheilbare Kluft zwischen den Kräften, die noch im Februar zusammengearbeitet hatten, sollte auf die eine oder andere Weise alle europäischen Bewegungen spalten, die anfangs ähnlich idealistische Hoffnungen gehegt hatten. Im August endete der Krieg in Norditalien mit einer Niederlage und einem Waffenstillstand. Der Rest der Halbinsel versank in Unruhen, die Kampagne für einen Verfassungsstaat ebbte ab, und Giobertis illusorische Hoffnungen lagen am Boden. «Welch unselige, zwergenhafte Zeit!» klagte Verdi seiner nationalistischen Freundin Clarina Maffei, die Mailand vorübergehend verlassen hatte. «Nichts Großes, nicht einmal die Verbrechen!» (A, Bd. 1, S. 757; dt.: Briefe, S. 63.) Venedig hielt noch stand, ebenso Rom, wo Mazzini – Papst Pius IX. war geflohen – von Februar bis Juli 1849 an der Spitze der Republik stand. Nach einer Begegnung mit dem verehrten Mazzini im April 1848 hatte Verdi sich bereit erklärt, eine Nationalhymne zu komponieren – eine Aufgabe, wie er sie normalerweise abgelehnt hätte. Sie sollte sich weder damals noch später durchsetzen. Er erhielt den Auftrag, eine Oper für Neapel zu schreiben, und probierte mehrere patriotische Themen aus, doch Neapel fiel wieder an die Reaktion. Die Unruhen und die Wirtschaftskrise lähmten die Theater fast überall auf der Halbinsel nahezu vollständig. Am Ende schrieb Verdi La battaglia di Legnano für Rom und fuhr, kurz bevor die Republik ausgerufen wurde, dorthin, um sie fertigzustellen und mit den Proben zu beginnen. Eine Volksmenge brach in die Generalprobe ein, das voll besetzte Haus akklamierte bei der Uraufführung, weitere patriotische Demonstrationen füllten die Straßen draußen. Wieder einmal verbrachte Verdi nur einen Monat in Italien und kehrte dann unverzüglich nach Paris zurück. La battaglia wurde aus der konkreten politischen Situation

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heraus geboren und blieb Verdis einziges offen nationalistisches Werk. Das Thema, die Revolte norditalienischer Städte gegen Kaiser Friedrich Barbarossa, ließ sich auf die aktuellen Ereignisse übertragen. Dennoch hatte die von privaten Emotionen geprägte Geschichte – eine klassische Dreiecksgeschichte – ursprünglich in Frankreich gespielt. Als alle konstitutionellen Regierungen Italiens (mit Ausnahme Piemonts) gestürzt waren, erklärte Verdi sich bereit, die Oper umzuarbeiten. Die gereinigte Fassung spielte in Holland während des Aufstands gegen die spanische Herrschaft. Er meinte, im Werk «an der ganzen Inbrunst für Vaterland und Freiheit festzuhalten, ohne Vaterland oder Freiheit jemals zu erwähnen, ist eine äußerst schwierige Aufgabe», aber «man kann es immerhin versuchen» (A, Bd. 2, S. 274). Aufgrund der in Paris erworbenen harmonischen Verfeinerung fehlt es La battaglia an Schwung und an der Einheit des Gefühls, wie Ernani sie bietet. Es finden sich darin selbst die grandiosen Chorfinale gleichmäßig verteilt, und zwar hier auf Barbarossas Seite – einen granitenen venezianischen Bass, seine Armee und seine Anhänger hinter ihm aufgereiht – und dort bei der italienischen Dreiergruppe, die versöhnt scheint, als der Tenor stirbt zu einer charakteristisch aufsteigenden Melodie und den Worten: «Wer für das Vaterland stirbt, kann kein schlechter Mensch sein.» Nicht einmal sechs Monate nach der Uraufführung überrannten französische Truppen die römische Republik. Der zukünftige Napoleon III., damals noch Präsident, sah darin einen brauchbaren Köder für die katholischen Wähler in Frankreich. Auch Venedig wurde ausgehungert. Die Reaktion hatte überall gesiegt. Im November 1849 zeigte Verdi sich angeekelt. «Italien», so schrieb er seinem Pariser Verleger, «ist nur noch ein großes und schönes Gefängnis! […] Ein Paradies für das Auge; eine Hölle für das Herz!» (WalkerV, S. 198; dt.: Briefe, S. 73). Er war zu dieser Zeit wieder in Italien, und diesmal nicht nur zu einem kurzen Besuch. Er und Strepponi waren zunächst ge-

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trennt dorthin zurückgekehrt, er Anfang August 1849 nach Busseto, sie nach Florenz, wo sie sich um Camillinos Lehrstelle und ihre Investitionen kümmerte. Mitte September fuhr sie dann zu Verdi nach Busseto. Dort ließen sie sich in einem Stadthaus nieder, das Verdi vier Jahre zuvor gekauft hatte. Von allen Orten, an denen sie hätten leben können, war dies der schlimmste mit Blick auf den Klatsch und die Ablehnung, denen Giuseppina Strepponi ausgesetzt war. Paris war in dieser Hinsicht ideal gewesen. Wären sie dort geblieben, hätte Verdi weiter Opern für Italien schreiben können, wie schon Donizetti dies getan hatte. Er selbst hatte gerade den Corsaro und den größten Teil der Battaglia dort komponiert. In Mailand oder Florenz, beide sehr viel kleiner als Paris, wäre ihr Leben den Blicken anderer stärker ausgesetzt gewesen, aber damit hätten sie sicher umgehen können, wie das Beispiel Eugenia Todolinis zeigt. Busseto war ein winziger Ort, in dem Verdis und Antonio Barezzis Haus, die Stiftskirche und das Rathaus im Umkreis von ein paar hundert Metern beisammen lagen. Jeder dort kannte Verdi, und einige hegten Groll gegen ihn. Sein Schwiegervater Barezzi war Strepponi im Winter 1847/48 in Paris begegnet. Sie mochten einander, und als der alte Mann wieder in Italien war, ließ er durch Verdi Grüße an «Signora Peppina» ausrichten. Etwas anderes war es jedoch, wenn sie und Verdi ein paar Häuser entfernt gemeinsam im selben Haus wohnten. Barezzi selbst war ein liebenswürdiger Mensch, doch seine Söhne erschienen Strepponi – und gelegentlich auch Verdi – aufdringlich und ungefällig. Verdis Vater, ein strenger Katholik, scheint die Verbindung missbilligt zu haben. So kam es, dass Strepponi von September 1849 bis April 1851 nahezu abgeschottet in dem Haus in Busseto lebte, als Objekt der Neugier und der Verachtung, die meiste Zeit allein mit Verdi und den Hausangestellten. Wenn Verdi zur Inszenierung einer neuen Oper nach Neapel, Triest oder Venedig fuhr, dürfte auch sie manchmal den Ort ver-

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lassen haben, um ihre Mutter und ihre Schwester zu besuchen, doch gelegentlich war sie auch allein mit den Bediensteten. Wenn sie zur Kirche ging, wurde sie von der Gemeinde ignoriert. Weshalb tat Verdi ihr das an? Als Strepponi ihren geschäftlichen Angelegenheiten in Florenz nachging, schrieb Verdi ihr, wenn Busseto ihr nicht gefalle, werde er sie an einen anderen Ort «begleiten». Sie tadelte ihn für diesen Satz, weil es ihr genüge, bei ihm zu sein. Dieser Vorschlag bedeutete nicht – soweit wir das überhaupt beurteilen können –, dass ihre Beziehung noch unsicher war, sondern dass Verdi die Schwierigkeiten verstand, mit denen seine Gefährtin in Busseto rechnen musste. Über seine «ach so teure» Heimatstadt hatte er keine Illusionen. «Welch Schönheit! Welch Eleganz!!» schrieb er ironisch an eine seiner adeligen Freundinnen. «Was für ein Ort! Was für eine Gesellschaft!»10 Als Strepponi Paris verließ, brach sie alle Brücken hinter sich ab. Sie stellte sich ganz auf Verdi ein. Und sie war, so dürfen wir annehmen, bereit, die Folgen zu tragen. Zu diesen Folgen gehörte für sie wie für Verdi die anhaltende Entfremdung von der Stadt. Die Breitseite, die Verdi gegen Antonio Barezzi feuerte, ist bestens bekannt. Im Januar 1852 war er nach Paris abgereist, ohne seine Angelegenheiten den Barezzis anzuvertrauen. Sein Schwiegervater beklagte sich offenbar (in einem verloren gegangenen Brief) darüber, dass Verdi sich so entschieden gegenüber der Stadt und seinen eigenen Hilfsangeboten abschottete. Verdi äußerte nun offen seinen Unmut. Er räumte ein, dass Barezzi von seiner Heimatstadt geprägt worden sei. Sie leben in einem Ort, der die üble Angewohnheit hat, sich häufig in die Angelegenheiten anderer einzumischen und alles zu mißbilligen, was nicht den eigenen Vorstellungen entspricht; ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, mich nicht ungebeten in die Angelegenheiten anderer einzumischen, eben weil ich verlange, daß sich niemand in die meinen einmengt. […] Was ist Schlechtes dabei, wenn ich allein lebe?

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wenn ich es für richtig halte, keine Besuche bei denen zu machen, die Titel tragen? Wenn ich nicht an den Festen, an den Vergnügungen der anderen teilnehme? Wenn ich meine Güter verwalte, weil es mir gefällt und es mir Spaß macht? Ich wiederhole: Was ist Schlechtes dabei? Jedenfalls würde niemand Schaden dadurch erleiden.

Er gab zu, dass er in geringfügigen Dingen immer noch auf Barezzis Hilfe angewiesen sei. Und obwohl Barezzi sich nicht getraut hatte, Verdis Privatleben anzusprechen, fuhr der fort («da wir einmal dabei sind zu offenbaren»): Ich habe nichts zu verheimlichen. In meinem Haus lebt eine freie, unabhängige Signora, die wie ich das abgeschiedene Leben liebt, und mit einem Vermögen, mit dem sie alle ihre Bedürfnisse deckt. Weder sie noch ich sind irgend jemand Rechenschaft über unser Tun schuldig; aber andererseits, wer weiß, welche Beziehungen zwischen uns bestehen? Welche Geschäfte? Welche Bande? Welche Rechte ich über sie habe und sie über mich? Wer weiß, ob sie meine Frau ist oder nicht? Und in diesem Fall, wer weiß, welches die besonderen Beweggründe, welches die Erwägungen sind, deren Veröffentlichung zu verschweigen? Wer weiß, ob das gut oder schlecht ist? Warum könnte es nicht auch etwas Gutes sein? Selbst wenn es etwas Schlechtes wäre, wer hat das Recht, uns mit dem Bannfluch zu belegen? Dennoch möchte ich sagen, daß man ihr in meinem Haus ebensoviel oder gar noch größeren Respekt schuldet, als man mir schuldet, und daß es niemand gestattet ist, es unter irgendeinem Vorwand daran fehlen zu lassen.

Zum Schluss drohte Verdi, einen Ort hinter sich zu lassen, der ihn – immer noch eine schwärende Wunde – «einst nicht für würdig befunden hat, sein Organist zu werden», und nun «ins Blaue hinein über meine Angelegenheiten munkelt» (WalkerV, S. 203–205; dt.: Briefe, S. 88–90). In diesem Brief «enthüllte» er gar nichts. Im Gegenteil, er betonte sein Recht auf ein gänzlich

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ungestörtes Privatleben. Doch dafür war ein Preis zu zahlen. Und den größten Teil davon entrichtete Strepponi. Die Antwort auf die Frage, warum Verdi sie diesen Preis zahlen ließ, liegt auf der Hand. Er war in Busseto, weil er sich auf einem eigenen Landgut niederlassen wollte, und dieses Gut sollte nicht (wie es durchaus möglich gewesen wäre) irgendwo in Italien liegen, sondern genau dort, wo seine Vorfahren mindestens seit dem 17. Jahrhundert gelebt hatten. Das war seine alles beherrschende Leidenschaft. Verdi selbst machte deutlich, dass er nicht wegen der Landschaft nach Sant’Agata gekommen war. «Ein schreckliches, isoliertes Dorf» sagte er gelegentlich zu Freunden. «Man könnte keinen scheußlicheren Ort finden» (C, S. 498, 572). Wie viele andere bewässerte Ebenen – Holland, die Moorgebiete in East Anglia, das Gangesdelta in Bangladesch – erscheint die norditalienische Tiefebene vielen als hässlich, während andere sie für ausnehmend schön halten mit ihrem weiten Himmel, den Weingärten (bis vor kurzem), die sich an langen Reihen gestutzter Maulbeerbäume entlangziehen, den nur von Pappeln oder eigentümlichen Kirchtürmen unterbrochenen Horizonten und, an klaren Tagen, der Sicht auf ferne Hügel. Gewiss, das Klima kann recht anstrengend sein: kalt, im Winter oft neblig und im Sommer schwül-heiß. Den Winter verbrachten die Verdis ab 1860 gelegentlich, ab 1866 dann regelmäßig in Genua – einer damals noch nicht verschmutzten Stadt an der Riviera – und Teile des Sommers in italienischen Kurorten. Verdi kaufte Land, nachdem eine seiner Opern ein außergewöhnlicher Erfolg geworden war. Als der Laufbursche in Genua, der die Frühstücksbrötchen brachte, ihn einmal fragte, welche seiner Opern ihm die liebste sei, erwiderte er: «Rigoletto und Aida, weil sie mir das meiste Geld eingebracht haben.»11 Damit finanzierte er zwei seiner größten Erwerbungen, 1854 und 1875. Verdi hätte auch Ernani hinzufügen können. Einige Monate nach dem

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unerwarteten Erfolg dieser Oper 1844 kaufte er seine erste Parzelle Land, einen Hof von 25 Hektar Größe, der den Namen Flohgrube trug. Die Verhandlungen, die ihn im Mai 1848 nach Italien führten, endeten mit dem Tausch der Flohgrube gegen drei andere Höfe, wobei er weitere 166 000 Francs zuschoss, davon 95 000 in bar und den Rest in Hypotheken. Sein neues Gut war mit 105 Hektar nicht viel größer als ein englisches Landgut, aber es handelte sich um Land, das bei entsprechender Bewässerung einen intensiven Anbau erlaubte. Verdis frühe Opern hatten ihm allerdings bei weitem nicht die gesamten für den Kauf dieser Güter erforderlichen Beträge eingebracht. Er verschuldete sich ganz erheblich bei Leuten aus der näheren Umgebung, darunter auch bei seinem Vater. Der Erfolg von Ernani 1844 sowie von Macbeth, I masnadieri und Jérusalem 1847 weckte jedoch in ihm die Zuversicht, dass er auch weiterhin genug verdienen würde, um die Kredite und Hypotheken zurückzahlen zu können. Auch wenn er gelegentlich in eine heikle Lage geriet, erwies sich diese Zuversicht als durchaus begründet. Nach dem Kauf der drei Höfe ging Verdi zurück nach Paris. Sein Vater übernahm die Verwaltung der Güter. Dazu gehörte auch ein Haus mit fünf Zimmern, das er später ein wenig übertrieben als «Bruchbude» bezeichnete. Seine Eltern wohnten von nun an dort. Das war die Situation, die Verdi und Strepponi vorfanden, als sie etwa ein Jahr später nach Busseto zogen. Es funktionierte nicht. Im Winter 1850 /51 beschloss Verdi, selbst mit Strepponi in Sant’Agata einzuziehen. Dazu mussten seine Eltern ausziehen. Sie sollten in einem kleinen gemieteten Haus knapp zwei Kilometer entfernt wohnen. Diese Trennung wird oft missverstanden. In Italien war es seit langem Brauch, dass ein Mann, der es in seinem Leben zu etwas gebracht hatte, sich in einem offiziellen, notariell beglaubigten Dokument von seinen Eltern «emanzipierte». Ohne solch eine «Emanzipation» haftete er möglicherweise – in unbegrenzter

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Höhe – für seine Eltern. Bevor Verdi und sein Vater sich auf solch ein Dokument einigten, vergingen mehrere Monate. Sie waren offensichtlich nicht gut aufeinander zu sprechen, Carlo Verdi wahrscheinlich deshalb, weil er sich von seinem Sohn und dessen Lebensgefährtin herabgesetzt fühlte, Verdi, weil er gehört hatte, sein Vater erwarte von ihm, dass er ihn als Verwalter oder Pächter in Sant’Agata einsetzte. Und das wollte er auf gar keinen Fall: «In den Augen der Welt soll Carlo Verdi eine Sache und Giuseppe Verdi eine andere sein» (A, Bd. 2, S. 93– 96). Eine Zeit lang kommunizierte er mit seinem Vater nur über den Notar. Einmal beklagte er sich über die heftigen «Szenen», die Carlo Verdi ihm mache, und verbot seiner Mutter, sich weiter um die Hühner in Sant’Agata zu kümmern. Er wünschte sich uneingeschränkte Kontrolle. Doch obwohl er selbst die Angelegenheit als «schmerzlich» und «beschämend» bezeichnete, handelte es sich mit einiger Wahrscheinlichkeit um Begleiterscheinungen eines Generationenkonflikts, wie sie im ländlichen Leben Italiens häufig anzutreffen waren. Die Parteien mochten sich streiten und vielleicht auch eine Weile nicht mehr miteinander sprechen, doch die Familienbande behielten ihre grundlegende Bedeutung. Am Ende arrangierte man sich irgendwie. Von einer tiefen Krise und einem «verheerenden Zerwürfnis» zu sprechen hieße, tiefere und dauerhaftere Auswirkungen zu unterstellen, als die Streitigkeiten zwischen Vater und Sohn sie tatsächlich gehabt haben dürften. 12 Im April 1851 jedenfalls unterzeichneten Carlo und Giuseppe Verdi eine umfangreiche, notariell beglaubigte Vereinbarung. Verdi zahlte seinem Vater den noch offenen Kredit zurück, verpflichtete sich zur Zahlung einer Pension von 1800 Francs im Jahr und überließ ihm ein Pferd. Die Eltern zogen Ende des Monats aus. Anfang Mai nahmen Verdi und Strepponi das Anwesen in Sant’Agata in Besitz. In den ersten Jahren behielten sie das Stadthaus in Busseto als Hauptwohnsitz und kampierten allenfalls in Sant’Agata. Es gab

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viel zu tun – auf dem Hof, im Haus und in dessen Umgebung, wo sie einen Garten anzulegen gedachten. Die Arbeiten nahmen viele Jahre in Anspruch. Strepponi erinnerte sich sechzehn Jahre später, dass sie nach und nach in allen Räumen des Hauses außer der Küche, dem Keller und dem Stall geschlafen und gegessen hatten. Während des Unabhängigkeitskriegs 1859 hatten sie wichtige Leute in einem überdachten Hof verköstigt, in dem Mauerschwalben ein- und ausflogen. Renovierung und Ausbau des Hauses, des Gartens und des Hofes in Sant’Agata sollten Verdi fast das gesamte halbe Jahrhundert seines restlichen Lebens beschäftigen. Es war sein privates Meisterwerk, an dem Strepponi – innerhalb der Grenzen des Hauses und des Gartens – beträchtlichen Anteil hatte. Während des familiären Streits über die «Emanzipation» wurde Verdis Mutter ernstlich krank. Sie starb Ende Juni 1851. Verdi war zutiefst erschüttert. Anfangs weinte er hemmungslos. Er vertiefte sich in die Musik und schrieb innerhalb weniger Wochen Werke, die zentrale Bedeutung für seinen Ruhm erlangten. Damit ging der erste Lebensabschnitt zu Ende. Die vielen noch bleibenden Jahre sollten zeigen, zu welcher Meisterschaft er gelangt war.

Viertes Kapitel

der volkskomponist, 1849 –1859 Von Luisa Miller bis Un ballo in maschera



Als Verdi Sant’Agata übernahm, um dort ohne jede Einmischung durch Verwandte schalten und walten zu können, lag ein Ereignis bereits sechs Wochen zurück, mit dem er sein meisterliches Können buchstäblich der ganzen Welt demonstriert hatte. Am 11. März 1851 hatte die Oper Rigoletto ihre Uraufführung im Teatro La Fenice in Venedig erlebt. Auf internationaler Ebene wurde sie zu einem größeren Erfolg als alle seine früheren Werke. An den Einnahmen gemessen, die er und viele andere Theaterleute als Maßstab anlegten, bedeuteten die 28 150 Francs, die ihm allein die weiteren italienischen und die deutschen Aufführungen von 1851/52 einbrachten, den Aufstieg in eine ganz neue Klasse. Das galt auch für seine beiden nächsten Opern, Il trovatore (Rom 1853) und La traviata – wenn auch nicht nach der gescheiterten Uraufführung 1853 in Venedig, sondern erst nach der gelungenen Wiederaufnahme 1854. «Wenn Du nach Indien oder ins Innere Afrikas gehst, wirst du Il trovatore hören», sagte Verdi 1862 zu einem Freund (VI, S. 1). Das entsprach der Wirklichkeit.1 Einmal abgesehen von ihrer Qualität, basierte der Erfolg dieser Opern zu einem beträchtlichen Teil auf der Dampfmaschine.

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Eisenbahnen und Dampfschiffe erschlossen weite Teile des Erdballs dem Handel sowie der Besiedlung oder Kolonisierung durch Europäer und Amerikaner. Diese Männer und Frauen liebten Verdis drei Opern der Jahre 1851 bis 1853 und machten sie zu den populärsten Musikdramen, die es jemals gegeben hatte, zumindest bis Puccinis La bohème 1896 auf die Bühne kam. Wandertruppen erreichten nun Kansas City, Sydney, Valparaiso und Kapstadt; Opernhäuser entstanden in Konstantinopel und auf den Azoren; Bergbaudörfer in Colorado, Kleinstädte an Flüssen im argentinischen Binnenland und Garnisonen im äußersten Nordwesten Indiens erlebten Darbietungen von Verdi-Musik durch reisende Musiker oder Blaskapellen, deren Notenblätter auf dampfgetriebenen Druckerpressen gedruckt worden waren. Auch bescheidenere Technologien spielten eine Rolle. Ab etwa 1840 konnten italienische Jungen auf ihren Drehorgeln Passanten, von denen viele noch niemals einen Fuß in das Opernhaus, diesen unchristlichen und luxuriösen Bau, gesetzt hatten, auf den Straßen von Manchester oder Glasgow Melodien aus VerdiOpern zu Gehör bringen. Das Akkordeon – das Anfang des Jahrhunderts aufkam und ab 1870 in billigen Versionen erhältlich war – brachte Verdis Melodien in die Taverne, auf die Viehweide und auf die Terrassen der Häuser. Die städtische Bevölkerung, die durch die Industrialisierung auf das Drei- oder Vierfache anwuchs, sammelte sich zu Hunderten in Gesangsvereinen, von denen viele sich – vor allem in südeuropäischen Ländern – dem «Va, pensiero» und dem Zigeunerchor widmeten. Wo die Weißen herrschten, wurde Verdi zu einem Volkskomponisten. Wenn er stets ein Honorar erhalten hätte, sobald eine Kapelle oder eine Drehorgel eine Melodie aus den drei populärsten Opern spielte, wäre er Millionär geworden. Dreißig Jahre später, 1882, verwahrte er sich gegen das Zeitungsgerede, wonach er «immense Reichtümer» besitze. «Immens?!! Wie sollte das gehen? […] Als ich viel schieb, wurden Opern schlecht bezahlt.

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Jetzt, da sie gut bezahlt werden, schreibe ich kaum noch» (VR, S. 82–85, 61). Wie sooft ging Verdi hier über wesentliche Tatsachen hinweg, doch im Großen und Ganzen hatte er nicht ganz unrecht. Er war zwar wohlhabend, aber keineswegs der Andrew Lloyd Webber seiner Zeit. Er vergaß allerdings zu erwähnen, dass er die damaligen Veränderungen im internationalen Urheberrecht erkannt hatte und geschickt zu nutzen verstand. Er war der erste italienische Komponist, der bemerkte, dass ein 1840 zwischen Österreich und Piemont abgeschlossener Vertrag, dem bald weitere mit den mittelitalienischen Staaten folgten, langfristig auf ein einklagbares Urheberrecht hinauslief. Jeder dieser Staaten hatte sich verpflichtet, Urheberrechte, die in einem der anderen Staaten bestanden, auch auf dem eigenen Territorium zu achten. Gewiss, die Praxis der Piraterie war tief verwurzelt. Es bedurfte vieler Jahre und eiserner Wachsamkeit seitens der Musikverlage, um das Urheberrecht an einer neuen Oper uneingeschränkt nutzen zu können. Mitte der 1850 er Jahre war die Schlacht in den Kernlanden der italienischen Oper weitgehend gewonnen. Für ein erfolgreiches Werk konnte man nun immer dann eine Vergütung einstreichen, wenn es irgendwo in Nord- oder Mittelitalien, aber auch in Wien oder Prag gespielt wurde. Süditalien hingegen hielt am alten «Piratentum» fest, bis Garibaldi es 1860 eroberte. Die unsystematisch abgeschlossenen Verträge zwischen weiteren westeuropäischen Staaten führten zu einigen Anomalien. So verlor Verdi 1856/57 in Paris einen Prozess gegen den Impresario der Italienischen Oper, der Rigoletto und La traviata auf der Grundlage von Raubkopien herausbrachte. Selbst die Berner Konvention, die 1887 schließlich eine Vereinheitlichung des Urheberrechts für weite Teile der Erde brachte, ließ wichtige Opernmärkte wie Russland und Argentinien unberücksichtigt – wie Verdi sogleich feststellen musste, als in Buenos Aires eine unlizenzierte Inszenierung seines neuen Werkes Otello unmittel-

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bar vor der von seinem Verleger Ricordi autorisierten zur Aufführung kam. Schon 1846 hatte Verdi beschlossen, dass seine Werke – im Unterschied zu denen anderer italienischer Komponisten – so aufgeführt werden sollten, wie er sie geschrieben hatte. Im Frühjahr 1847 handelte er mit Ricordi einen Vertrag aus, der die bis dahin üblichen Konditionen für neue Opern auf den Kopf stellte. Statt eines großen Pauschalhonorars für die Uraufführung und kleinerer Honorare für die vollständige Abtretung der Aufführungs- und Veröffentlichungsrechte begnügte er sich – für das Werk, das 1849 dann La battaglia di Legnano werden sollte – mit einem Pauschalhonorar von lediglich 4000 Francs. Dafür sollte er jedoch 12 000 Francs für die italienischen Publikationsrechte und jeweils ein kleineres Honorar erhalten, wenn die Rechte an einen ausländischen Verlag vergeben wurden. Entscheidend war jedoch die Bestimmung, wonach er jeweils einen bestimmten Betrag erhielt, wenn das Manuskript der Partitur oder Teile davon an ein Theater verliehen wurden. So nutzte Verdi das neue Urheberrecht, um für erfolgreiche italienische Werke zu erreichen, was erfolgreiche französische Stücke bereits leisteten – nämlich Jahr für Jahr Einnahmen zu bringen. Selbst dann brauchte er noch Jahre, um die Vertragsbedingungen zu verfeinern. Die Repertoire-Oper – die einige wenige erfolgreiche Stücke immer wieder aufführte – war 1847 noch so neu, dass Verdi sich bereit erklärte, die Lizenzarrangements auf zehn Jahre zu begrenzen, weil man damals offenbar glaubte, nach dieser Zeit sei ein Werk verbraucht. Nach 1865 wurde diese Frist auf vierzig Jahre verlängert. Ein neues italienisches Gesetz hatte das Urheberrecht auf diesen Zeitraum befristet. Ricordi überzeugte Verdi davon, dass ein fixer Betrag für die Aufführungsrechte zu starr sei. Ab 1850 erhielt Verdi daher einen Prozentsatz der Lizenzgebühren, der mit den Jahren von 30 auf 50 Prozent der Aufführungsgebühren und der Einnahmen aus dem Verkauf

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gedruckter Partituren und Libretti stieg. (Italienische Komponisten kauften gewöhnlich das Libretto einer Oper für ein niedriges Pauschalhonorar von 1000 Francs oder dergleichen. Um das französische Recht zu umgehen, das dem Librettisten die Hälfte der Einnahmen zusprach, kaufte Verdi auch die französischen Libretti für Il trovatore und Aida – ein geschickter Schachzug.) Die erste Oper, für die er die neuen Konditionen durchsetzte, La battaglia, war kein besonderer Erfolg. Doch für die nachfolgende Oper galten diese Konditionen leider nicht. Er hatte sich noch 1846 verpflichtet, für Neapel eine Oper nach den alten Bedingungen zu schreiben. Danach verkaufte er sämtliche Rechte für ein Pauschalhonorar von 3000 Dukaten (etwa 13 000 Francs) – weit weniger, als er einige Monate später für Macbeth erzielte. Größtenteils wegen der Revolution von 1848 verzögerte sich die Uraufführung bis 1849. Verdi war verständlicherweise verärgert darüber, dass er das Werk zu Konditionen schreiben musste, die er hinter sich gelassen hatte. Er bemühte sich sehr, aus dem Vertrag herauszukommen oder die 1847 eingegangenen Bedingungen abzuändern, doch in Neapel hielt man daran fest. Obwohl er – wie er behauptete – nur aus Rücksicht auf den Librettisten Cammarano nachgab, legte er sein ganzes Können in die Arbeit. In Luisa Miller, die auf Schillers Kabale und Liebe basierte, dem Drama einer in bescheidenen Verhältnissen lebenden Familie, die von der absoluten Macht zermalmt wird, erreichte er eine neue Intimität und Gefühlswärme. Die Oper würde wahrscheinlich häufiger gespielt, wenn sie nicht rückblickend in Teilen wie ein Entwurf für La traviata klänge. Ebenso verärgert war Verdi verständlicherweise, als der neapolitanische Impresario alle Rechte an Ricordi weiterverkaufte und Ricordi seinerseits eine französische Fassung genehmigte, die sowohl den Komponisten (er ging völlig leer aus) als auch Verdis Pariser Verleger Escudier umging, mit dem er ansonsten zusammenarbeitete und dem er vertraute. Dank des Wirbels, den Verdi

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darum entfachte, erhielt er schließlich ein Viertel der französischen Rechte und einen Prozentsatz für Escudier. Seine Argumente waren allerdings zweifelhaft. Er behauptete, er hätte dem neapolitanischen Impresario nur die italienischen, nicht aber die französischen Rechte verkauft, und er beschuldigte Ricordi, er habe versucht, ihn über den Tisch zu ziehen, indem er ihn ein Dokument unterzeichnen ließ, das er nicht genau genug gelesen habe – ein Fehler, der diesem äußerst geschäftstüchtigen Komponisten kaum unterlaufen sein dürfte. Ein weiterer Streit entbrannte 1855 um die Rechte an der französischen Fassung des Trovatore, die viele Jahre lang Einnahmen aus der französischen Provinz und aus Belgien bringen sollte. Verdis Vertrag entsprach den neuen, 1847 eingeführten Vertragsbedingungen und billigte Ricordi einen Anteil zu, doch Verdi bestand darauf, dass nach den neuen Konditionen ihm allein sämtliche Rechte zustanden. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, wärmte er andere Beschwerden auf, bis hin zu Druckfehlern in seinen veröffentlichten Werken. Ricordi habe im juristischen Sinne vielleicht Recht (das war eigentlich der springende Punkt), doch er, Verdi, habe sich weit über seine Verpflichtungen hinaus abgemüht: «ich, der ich in hohem Maße die Quelle Deines riesigen Vermögens bin». Er weitete seine Klagen schließlich auf seine gesamten Geschäfte aus: In meiner ganzen – inzwischen langen – Laufbahn habe ich erlebt, dass Impresarios, Verleger et cetera hart, unbeugsam, ja unerbittlich sind und bei Bedarf mit Vertrags- und Gesetzestexten fuchteln. Immer schöne Worte, aber sehr schlechte Taten. Letztlich hat man in mir immer nur ein Objekt gesehen, ein Werkzeug, das man benutzt, solange es etwas produziert. Traurig, aber wahr. (C, S. 168)

Der italienische Opern- und Verlagsbetrieb war in der Tat hart. Aber Verdi teilte ebenso aus, wie er einsteckte. In der beschriebe-

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nen Krise kaufte er schließlich Ricordis Anteil. Mit virtuosem Verhandlungsgeschick setzte er eine Klausel durch, die den Anteil des Verlags (10 000 Francs) um 2000 Francs kürzte, falls die Pariser Produktion der Originalfassung des Trovatore weniger einbrachte als erwartet (was dann auch geschah). Bei alledem spielten Verdis Bemühungen, in Sant’Agata Land zu erwerben, und seine Ängste hinsichtlich der aufgenommenen Kredite eine wichtige Rolle. Der Mitte des 19. Jahrhunderts zu verzeichnende ökonomische Fortschritt trug einiges zum Erfolg seiner drei populärsten Werke bei, während die politische Reaktion, die den Kontinent zur selben Zeit überflutete, ihm große Probleme – weitaus größere als vor 1848 – eintrug, wenn es darum ging, seine Opern auf die Bühne zu bringen. Die Zensur achtete nun nicht nur auf moralische und religiöse, sondern ganz entschieden auch auf politische Unbedenklichkeit. Und ihre alten klassischen Vorurteile hatten die Zensoren gleichfalls nicht abgelegt. Wie Verdi 1848 nicht verstanden hatte, warum die Post unter der Revolution leiden sollte, so wurde ihm 1850, nach dem Zusammenbruch der Revolution, nur langsam klar, wie streng die Zensur inzwischen geworden war. Nur so kann man sich erklären, weshalb er auf ein so provokatives Libretto wie Stiffelio verfallen konnte. Das französische Theaterstück, auf dem das Libretto basierte, handelt von einem modernen protestantischen Geistlichen, der seiner Frau öffentlich ihre Untreue verzeiht, indem er in einem Gottesdienst die Worte verliest, die Jesus zu der Ehebrecherin gesprochen hatte – im katholischen Italien war das gleich ein ganzer Berg von Tabus. Verdi bestand zu Recht darauf, dass der Held der Geschichte ein Geistlicher sein und seine Frau ihn zwingen musste, ihr die Beichte abzunehmen, obwohl der Zensor die Uraufführung von allen Anzeichen eines geistlichen Standes gereinigt hatte: «Jetzt gibt es keine Figur, keine Situation und kein Drama mehr», klagte Verdi (BM, S. 270 f.; C, S. 108 f.).

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Vielleicht ließ er sich durch Ricordis Entscheidung täuschen, die Uraufführung nach Triest zu vergeben. Die Stadt lag in den österreichischen Erblanden, in denen die Habsburger der katholischen Kirche engere Zügel anlegten, als sie es in ihren italienischen Besitzungen jemals gewagt hätten. Als Verdi Stiffelio drei Wochen nach der Uraufführung den Besitzern des Teatro La Fenice in Venedig anbot, regte er an, bei der kaiserlichen Regierung in Wien um die Genehmigung des Originaltextes zu ersuchen. Ihm war nicht klar, dass die Ereignisse von 1848 dieser Regierung einen tiefen Schrecken eingejagt hatten. Selbst in den österreichischen Erblanden arbeitete sie auf ein Konkordat mit der Kirche hin, das die alte Politik einer staatlichen Kontrolle ablösen sollte. Die katholische Kirche galt nun als Bollwerk gegen den Wandel. Unter den Bedingungen der frühen 1850 er Jahre war Stiffelio ein so hoffnungsloses Unterfangen, dass Verdi das Werk buchstäblich zerlegte. Er zerschnitt die handschriftliche Partitur und verwendete sie 1857 ein zweites Mal, und zwar für die Oper Aroldo, deren Held ein Kreuzfahrer ist und deren Handlung er ins 11. Jahrhundert nach Kent und Loch Lomond verlegte, wobei er einen Teil der Musik veränderte. Da dem Stück weiterhin ein protestantischer Geistlicher und damit auch «Figur, Situation und Drama» fehlten, war es auch nicht erfolgreicher. In den letzten Jahren hat der ursprüngliche Stiffelio wieder seinen Weg in die Opernhäuser gefunden, mit einem robusten Tenor, der spirituelle Autorität und komplexes Fühlen zu vermitteln vermag – eine überaus anspruchsvolle Anweisung, aber eindrucksvoll. Für Verdi war die Arbeit an Stiffelio – seiner verloren gegangenen Oper – verschränkt mit der Arbeit an Rigoletto, einem seiner erfolgreichsten Werke. Als er Piave dazu brachte, aus Victor Hugos Theaterstück Le Roi s’amuse ein Libretto zu machen, führte er seine schon weit zurückreichenden Bemühungen, aus King Lear eine Oper zu machen, auf einen paradoxen Höhepunkt.

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Während eine Lear-Oper die Möglichkeiten der italienischen Oper Mitte des 19. Jahrhunderts wohl überstrapaziert hätte, erkundete Rigoletto die Grenzen der Toleranz der Zensoren. Verdis Beschäftigung mit King Lear fand hier weder ihren Anfang noch ihr Ende. Er hatte sich schon 1843 und dann nochmals 1848 damit befasst. Im Februar 1850, kurz vor dem Vertrag über die Oper, aus der schließlich Rigoletto wurde, versuchte er, den traditionsverhafteten Cammarano mit der Zusammenfassung einer möglichen Lear-Oper zu locken, wobei er anmerkte, man müsse die Sache in einer «völlig neuen, grundlegenden Weise ohne Rücksicht auf irgendwelche Konventionen» angehen (C, S. 478 – 482; dt.: Briefe, S. 75). Zwischen 1853 und 1857 gab er zunächst ein Libretto in Auftrag und überarbeitete dann gemeinsam mit einem anderen Autor, Antonio Somma, ein bereits vorhandenes. Doch er kam nie dazu, die Oper zu komponieren. Als Somma ihm einen weiteren Entwurf lieferte, erwiderte er: «Da fehlt etwas» – aber er vermochte nicht zu sagen, was. Der rechte Augenblick für einen Anfang wollte sich nie einstellen.2 Dass King Lear als Vorlage für eine italienische Oper Schwierigkeiten bereiten musste, liegt auf der Hand: zu viele Hauptfiguren (die Parallelgeschichte Gloucesters musste möglicherweise gestrichen werden); die Unwahrscheinlichkeit, gleichzeitig Sänger und Sängerinnen zu finden, die dem Lear, der Cordelia und dem Narren gerecht werden konnten; und schließlich – wie Gabriele Baldini anmerkte – die Unsinnigkeit, mit Shakespeares eigener Musik konkurrieren zu wollen. Vielleicht riet ihm sein Instinkt, die Finger davon zu lassen. Doch in mehreren Opern hielt er an Lear-ähnlichen Momenten fest – und das nirgendwo mehr als in Rigoletto. Das enge Verhältnis zwischen einem gedemütigten Vater und einer verlorenen, dann aber wiedergefundenen Tochter bedeutete, dass Verdi, falls er den Lear auf die Opernbühne gebracht hätte, nicht umhingekommen wäre, sich selbst zu wiederholen, und das versuchte er stets nach Kräften zu vermeiden.

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Als Verdi Le Roi s’amuse vorschlug, wusste er, dass er damit in Schwierigkeiten geraten konnte. Er bat die Besitzer des Teatro La Fenice, bei den Behörden abzuklären, ob die Geschichte durchgehen werde. Er akzeptierte Piaves Zusicherung, dass dies der Fall sei, und klagte später, man habe ihn getäuscht. Die französische Regierung hatte Hugos Stück gleich nach der Uraufführung verboten (im Druck blieb es erhältlich). Als italienisches Libretto barg es zahlreiche Risiken. Die Geschichte von der Tötung eines Königs war besonders unerwünscht in Zeiten der Reaktion nach dem Aufstand von 1848. Dasselbe galt für die Geschichte eines Königs, der die Frauen und Töchter seiner Untertanen in sein Bett zwingt und mit einer Prostituierten die Nacht in einer Spelunke verbringt. Selbst wenn ein Libretto die berüchtigte Szene mit dem Schlüssel strich, konnte es kaum den Höhepunkt des Werkes weglassen, als Höflinge den verzweifelten König von der Tür fernhalten, hinter der seine Tochter gerade vergewaltigt wird. Auch konnte es nicht den feierlichen Fluch des einen Vaters gegen den anderen weglassen. Das aber verstieß gleichermaßen gegen den moralischen, den religiösen und den politischen Anstand der Zeit. Ästhetisch Konservative erkannten hier einen Helden, der zugleich ein bösartiger Hofnarr, ein liebender, verletzter Vater und dazu noch ein Buckliger war und der am Ende einen Sack mit einer Leiche auf der Bühne ablegte. Nach klassischen Maßstäben waren der Narr, der Bucklige und der Sack sämtlich unerträglich «niedrig». Wie zu erwarten, belegte der Polizeichef von Venedig (ein Italiener) das Libretto, das ihm «von abstoßender Unmoral und obszöner Trivialität» zu sein schien, mit einem vollständigen Verbot (C, S. 487). Die Besitzer des Theaters beugten sich dem Spruch. Ihre Stadt lag nach der Belagerung von 1848/49 wirtschaftlich am Boden. Vielen Bürgern ging es so schlecht, dass sie ihre Logen aufgaben. Die Besitzer erklärten sich nur deshalb 1850 und dann wieder 1851 bereit, das Theater zu öffnen, weil der

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kaiserliche Gesandte (ein österreichischer Adliger) und der Bürgermeister (ein venezianischer Adliger) zusätzliche Mittel bereitstellten – für die letztlich die Venezianer zahlen mussten. Diese Vertreter des Staates waren allerdings nicht ganz so grimmig, wie sie wirkten. Sie wünschten, dass die Oper wieder öffnete. Und sie wünschten sich sehr eine neue Oper von Verdi. Zunächst einmal versuchten sie, möglichst viel herauszuholen. Auf ihren Vorschlag hin überarbeitete Piave das Libretto und strich alle beanstandeten Elemente bis hin zu dem Sack. Verdi blieb standhaft. Der König, sagte er, müsse ein Libertin sein und sich entsprechend verhalten, sonst gäbe es kein Drama. Was den Narren, den Buckligen und den Sack anging, meinte er: Was liegt der Polizei an dem Sack? Fürchten sie um die Wirkung? Man erlaube mir aber zu sagen: Wieso will sie mehr davon verstehen als ich? […] Schließlich bemerke ich noch, daß man vermieden hat, [den Helden] häßlich und bucklig zu machen!! Aus welchem Grund? Ein Buckliger, der singt! wird manch einer sagen! Und warum nicht? … Wird es Wirkung zeigen? Ich weiß es nicht; aber wenn ich es nicht weiß, dann – wiederhole ich – weiß es auch derjenige nicht, der diese Änderung vorgeschlagen hat. Ich finde es gerade herrlich, diese äußerlich mißgebildete und lächerliche, doch innerlich leidenschaftliche und liebevolle Person auftreten zu lassen. Ich habe diesen Stoff gerade wegen all dieser Eigenschaften und dieser originellen Züge gewählt; wenn man sie wegläßt, kann ich keine Musik mehr dazu machen.

Und er fügte hinzu, er schreibe seine Musik, «sei sie gut oder schlecht, nicht per Zufall nieder». Er bemühe sich stets, ihr «Charakter zu geben», das heißt, sie an die dramatische Situation anzupassen. Nach Lage der Dinge habe man «aus einem originellen, gewaltigen Drama eine ganz gewöhnliche Sache und kalte Angelegenheit gemacht» (BM, S. 232 f.; dt.: Briefe, S. 82 f.). Verdi identifizierte sich vollständig mit der Romantik, die im Zusam-

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menspiel zwischen «Hohem» und «Niedrigem», Erhabenem und Groteskem nach Wahrheit suchte. Sein Protest stammte vom 14. Dezember 1850. Da die Spielzeit in weniger als vierzehn Tagen beginnen sollte, drängte die Zeit. Die Theaterbesitzer und die Behörden erzielten einen Kompromiss, der Verdis Wünsche weitestgehend berücksichtigte. Er, Piave und der Sekretär der Theaterbesitzer trafen am 30. Dezember in Busseto zusammen und bestätigten den Kompromiss. Aus dem König wurde ein regierender Herzog (von Mantua, einem Staat und einer Dynastie, die beide hilfreicherweise erloschen waren). Im Blick auf den Buckligen, den Sack und den ursprünglichen Charakter des Hugo’schen Stücks kapitulierten die Behörden. Verdi akzeptierte dafür eine gewisse Verschwommenheit hinsichtlich der Frage, was den Herrscher in die Taverne geführt hatte. Die Zensur der Habsburger zeigte sich wieder einmal vernünftiger als die von Neapel und Rom. In Neapel musste Rigoletto sich bis 1860, in Rom bis 1870 unter drei verschiedenen Titeln verstecken, und weder ein Narr noch ein Buckliger, noch ein Sack kamen darin vor. Die Verzögerung in Venedig bedeutete allerdings, dass man die Uraufführung auf den 11. März verschieben musste. Nach mehreren Namens- und Titeländerungen erhielten der Narr und die Oper die heute bekannte Form. Felice Varesi – der ursprüngliche Macbeth – war immer noch in der Lage, der Partie des Rigoletto die Shakespeare’sche Resonanz zu verleihen, die Verdi darin gefunden hatte. Als Verdi erstmals von der möglichen Ablehnung seines Themas erfuhr, protestierte er, weil er es, wie Piave berichtet, «eingehend studiert und intensiv darüber nachgedacht» habe und dabei «zu der Idee, der musikalischen Farbe [tinta] gelangt» sei. Wenn er sich nun einer anderen Geschichte zuwenden müsse, fehle ihm die Zeit für ebenso intensive Vorarbeiten, und die bildeten den anspruchsvollsten Teil seiner Arbeit (BM, S. 209). Das heißt, er

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hatte – wie er es gewöhnlich tat – begonnen, musikalische Themen zu skizzieren, von denen einige vielleicht bereits mit ein paar Worten verknüpft waren, und die Gesamtbewegung einer Szene auszuarbeiten. Mit «Idee», «tinta» und «Intentionen» – einem weiteren Ausdruck, mit dem er seine Arbeit an Rigoletto charakterisierte – meinte Verdi aber vor allem, dass er jeder Oper ihren eigenen unverwechselbaren Charakter und ihre besondere Einheit zu verleihen versuchte.3 Wie er dies tat, beschäftigt moderne Wissenschaftler wahrscheinlich mehr als alle anderen Aspekte seiner Kunst. Fast von Anfang an war Verdi sich seines Wunsches bewusst, der Oper eine Einheit zu verleihen, die seine Vorgänger nicht angestrebt hatten. Auch wenn Rossini, Bellini und Donizetti gelegentlich unbeabsichtigt zu solcher Einheit fanden, bestand eine Oper in ihren Augen aus einer Reihe von Nummern mit je eigenem Charakter und Reiz. Schon 1843 schrieb Verdi seinem Librettisten (im Blick auf Ernani ): «Wenn ich eine allgemeine Vorstellung vom Libretto als Ganzem habe, finde ich immer die Musik dazu.» Wie sich zeigte, brauchte er nicht zu warten, bis er Piaves vollständigen Text in Händen hatte, denn die «Idee» des Hugo’schen Theaterstücks beflügelte ihn so sehr, dass er bereits mit Skizzen beginnen konnte (BM, S. 70, 93 f.). Sehr viel später, 1868, meinte er im Blick auf eine unsinnige Bemerkung des Erziehungsministers des jüngst vereinten Italien, wonach Rossini der glanzvollste Musiker des Landes sei, Rossini und seinen Anhängern fehle «jener rote Faden, der alle Teile verbindet und eine Oper im Unterschied zu einer zusammenhanglosen Reihe von Nummern ausmacht» (CV, Bd. 2. S. 28). Schon 1851 hatte er sich gewünscht, eine Oper möge «eine einzige Nummer» ohne Arien, Duette, Chöre usw. sein. Das sollte man nicht wörtlich nehmen. Es bedeutet nicht, dass er sich nach einer «unendlichen Melodie» sehnte wie der späte Wagner. Auch hatte er nicht die Absicht, immer ohne «Nummern» auszu-

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kommen. Wenn seine Librettisten ihm unorthodoxe Entwürfe vorlegten (wie für Il trovatore und Un ballo in maschera), griff er selbst wieder auf «Nummern» zurück. Er meinte vielmehr, dass er einen Text suchte, der originell war und zugleich eine gewisse Einheit bildete. Il trovatore sollte «neu» und «bizarr» sein, je neuer und bizarrer, desto besser, doch von Anfang bis Ende sollte sich der «rote Faden» durch die Oper ziehen (A, Bd. 2, S. 122 f.). Wie Verdi die tinta oder den «roten Faden» fand, ist auf einer gewissen Ebene eine technische Frage, der ein kurzes Buch wie dieses nicht ausführlich nachgehen kann. Es geht dabei möglicherweise um Metrum und Tempo, um den Einsatz bestimmter Tonarten oder des Tongeschlechts (allerdings findet sich in den Verdi-Opern kein systematisches Tonartenmuster), um bestimmte Tonlagen oder rhythmische Figuren oder Instrumentalklangfarben, um Grundthemen, um Melodien mit bogenförmiger Struktur oder anderen charakteristischen Formen, all das sorgfältig in Entwürfen als musikalische «Zellen» skizziert, modifiziert und schließlich an entscheidenden Stellen in die musikalische Struktur des Dramas eingearbeitet. Wer dieser Frage nachgehen möchte, findet nichts Besseres als Pierluigi Petrobellis Music in the Theater (Princeton 1994). Er sieht in Macbeth die Oper, in der Verdi erstmals solch einen inneren Zusammenhalt realisiert – «ein komplexes, ineinander verschränktes System aus ‹Zeichen›, das seine Gültigkeit über die gesamte Entwicklung der dramatischen Handlung behält». Unaufdringliche musikalische Korrespondenzen zwischen der Mord- und der Schlafwandelszene mar-

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Zwei Ansichten zu rigoletto, dritter Akt (a) Nach dem Phantasiebühnenbild auf dem Frontispiz der Originalgesangspartitur. Sparafuciles Schenke, ein bescheidener Bau (b) Giuseppe Bertojas Originalentwurf des Bühnenbilds. Das Prestige des Teatro La Fenice verlangte es, dass die Schenke unglaubwürdig stattlich aussah.

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kierten «die tiefgründige Logik», die die Organisation dieser und späterer Werke bestimmten und dafür sorgen, dass sie auch beim heutigen Publikum ihre Wirkung nicht verfehlen. Rigoletto erreicht innere Einheit, obwohl Verdi es sich erlaubte, für Gildas unschuldige Träumerei über den Namen ihres Geliebten («Caro nome») auf eine Melodie zurückzugreifen, die er für Stiffelios Frau entworfen hatte – eine vom Gewissen geplagte Bitte an ihren Liebhaber, die ehebrecherische Affäre zu beenden. Im Stiffelio verzichtete er dann darauf. Das zeigt (darauf hat Philip Gossett hingewiesen), dass er mit seinen Gedanken schon halb bei diesem nächsten Werk war. Gilda war bereits teilweise zu Lina geworden. 4 Der Rigoletto erhält seine Einheit aus einer für die damalige Zeit kühnen Struktur, beladen mit den Leidenschaften eines einzigen, alle anderen Figuren überragenden Menschen. Verdi selbst schrieb, er habe die Oper «ohne Arien, ohne Finali entworfen […], mit einer endlosen Reihe von Duetten» (C, S. 497; dt.: Briefe, S. 93) – eine beinahe zutreffende Beschreibung. Niemand hat eine vollständige Doppelarie, außer dem Tenor. (Und davon hören wir heute meist nur den ersten Teil: «Parmi vedere le lagrime». Moderne Inszenierungen lassen die nachfolgende schwülstige Cabaletta in aller Regel weg, obwohl sie notwendig ist, sowohl aus musikalischen Gründen als auch um den Übergang des Herzogs vom Sentimentalen zum Anmaßenden zu demonstrieren.) Keiner der drei Akte endet mit einem herkömmlichen Ensemble. Was die «Reihe der Duette» angeht, so umfasst sie ein gewaltiges Spektrum an Gefühlen, die von einem Augenblick zum nächsten wechseln, aber stets zu der betreffenden Figur passen. Verdi verfeinert die im Macbeth-Duett bereits anzutreffende Technik noch weiter. Er verschränkt melodische Abschnitte miteinander, wobei jeder von ihnen einen Stimmungswechsel markiert. Oft setzt er zwei Gesangsstimmen kontrastierend oder kommentierend gegeneinander. Durch solche Mittel erreichen

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die beiden Rigoletto-Gilda-Duette ein stilles Gefühlszentrum, einen Augenblick der Entspannung, wie Rossini ihn den italienischen Komponisten vorgemacht hatte. Doch während die mittleren Abschnitte in Rossinis Duetten die beiden Stimmen miteinander verschmelzen lassen (beispielhaft in Semiramide), bringen «Veglia, o donna» und «Piangi, piangi fanciulla» abgestufte Melodien von solcher Zärtlichkeit, dass sie Hoffnung machen oder inmitten der Trauer Trost bieten. Mit ihnen betritt Gilda die Bühne – im ersten Duett mit einem strahlenden Wechsel der Tonart, im zweiten mit widerhallenden Zwischenrufen, in beiden mit verschiedenartigen kurzen Folgen von Halbstakkatotönen, die ihre Unschuld wunderbar zum Ausdruck bringen. Ihre niemals protzende Koloratur (etwa in «Caro nome») ist Ausdruck ihrer Jugend. In beiden Duetten entladen sich dann aufgestaute Gefühle in unwiderstehlich schnellen Abschnitten, Vater und Tochter immer noch voneinander abgesetzt, bis dann im zweiten, der «Rache» vorbehaltenen Duett am Schluss Rigolettos stürmischer Charakter die Oberhand gewinnt. Der Höhepunkt dieses musikdramatischen Schreibens folgt im berühmten Quartett des letzten Akts («Bella figlia dell’amore»). Wie Mozarts Quartette in Idomeneo und Don Giovanni ist dies ein unüberbietbares, weil luzides und sparsames Beispiel für die Fähigkeit der Oper, verschiedenen Gefühlen zugleich Ausdruck zu verleihen. Wir kennen diese einzigartige Fähigkeit, aber wir kennen sie weitgehend dank Mozart und Verdi. Eine «Reihe von Duetten» beschreibt nur unzulänglich, was da geschieht, einerseits in Rigolettos großer Szene mit den Höflingen, andererseits in der ersten und der letzten Szene des Werkes. Dank der Szene vor der Schlafzimmertür sind die Höflinge bereits durch ihre Musik charakterisiert. Die lebhaften, für Parodie offenen Chöre erreichen einen zugleich ironischen und aufblitzenden Ton. Rigolettos angsterfüllte Suche, sein Angriff, als er

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erkennt, was da vorgeht («Cortigiani, vil razza dannata»), seine flehentliche Bitte an den einzigen Menschen, den er des Mitgefühls für fähig hält, und schließlich seine Erniedrigung vor der ganzen Gruppe der Höflinge übersteigen die übliche Arienstruktur, und sie tun es mit musikalischen Mitteln. Bei der Entdeckung «spiegelt sich der aufsteigende Gradient des Dramas exakt in der Musik, und zwar durch Veränderungen der rhythmischen Textur, Bewegung und Tonalität», während im Hauptteil «jede Phase in Rigolettos Erniedrigung durch eine weitere Erniedrigung um einen Halbton markiert ist».5 Die Begleitung erinnert an die geschäftigen, zuweilen willkürlichen Muster der frühen Opern, aber – auf eine unheimliche Weise passend – tragen sie die Handlung und vor allem die «weinende» Figur, die der Bitte an Marullo unterlegt ist. In diesem letzten Abschnitt («Miei signori, perdono, pietate») führt das Cello-Solo die Stimme zum Edlen inmitten der Verzweiflung. Die gesamte Szene zeigt Rigoletto als tragische Gestalt. Sie als Lear-ähnlich zu bezeichnen ist keinesfalls abwegig. Verdi hat darauf vorbereitet, indem er seinem Helden im ersten Akt einen Monolog gibt («Pari siamo!»), der zugleich die Höhe und Weite der Seele des Narren enthüllt. Außerdem verdeutlicht er Rigolettos abrupte Stimmungswechsel, indem er kurze Abschnitte miteinander verschränkt, unterbrochen durch seine gequälte, monotone Erinnerung an den Fluch, der auf ihm lastet. Unmittelbar vor dieser fürchterlichen Äußerung umgibt ein weiteres Cello, diesmal mit zwei in märchenhafter Oszillation vereinten und mit einem Holzbläserpizzikato unterlegten Bässen, Sparafuciles Angebot eines Auftragsmordes. Das Muster stammt zwar aus dem Pariser mélodrame, doch Verdi macht daraus etwas zugleich Umnachtetes und Bizarres. «Pari siamo!» hatte einen Vorgänger, nämlich Normas tragischen Monolog in Bellinis Oper. Die Eröffnungsszene des Rigoletto ist etwas Neues in der romantischen italienischen Oper, auch

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wenn sie gleichfalls eine Vorläuferin hat – die Ballsaalszene in Don Giovanni. Auf eine rasch wechselnde Tanzsequenz folgen Dialoge, wobei das «Questa o quello» des Herzogs eher eine strophenhafte Ausschmückung darstellt. Das kurze Concertato, Rigolettos Spott, Monterones Denunziation und Fluch, all das sind lebhafte Fragmente, die in einer herkömmlichen Oper zu vollgültigen Nummern ausgebaut würden. Die Entführungsszene entfaltet sich als kontinuierliches Musikdrama. Die Sturmszene im dritten Akt ist auf radikalere Weise statisch. Nach dem Quartett wirft Verdi das Regelwerk für italienische Opern über Bord. Der Sturm bricht nur gelegentlich in vereinzelten musikalischen Figuren aus, in die Reminiszenzen an das Quartett und das Lied des Herzogs eingestreut sind: tiefe, hohle, seltsam dröhnende Klänge, dazwischen Blitze (ein dahinjagendes Pikkolo), summende Windgeräusche (wortloses Summen des Chors hinter den Kulissen). Auf dem Höhepunkt des Sturms folgt in einem formalen, kurzen, unerbittlichen Terzett die Auseinandersetzung zwischen Sparafucile und seiner Schwester, während Gilda die beiden belauscht und in einer aufsteigenden Phrase beschließt, sich selbst dem Messer des Mörders anzubieten. Obwohl Verdi hier die erforderliche Symmetrie einarbeitet, ist die Wirkung dennoch wiederum die des kontinuierlichen Musikdramas. Für den Zuhörer ist dieses Drama so ergreifend, dass er das traditionelle Gerüst der regelgerechten Form kaum bemerkt. In Gildas Sterbeszene kehren diese Formen deutlicher wieder – sehr schön in der zarten Geigen- und Flötenbegleitung. Rigoletto zeigt die italienische Oper, «jenes ultra-klassische Produkt der Romantik», auf ihrem Höhepunkt. Die Spannung zwischen Freiheit um des Dramas willen und Beachtung der Regeln um der Form willen treibt sie mit unvermeidlich erscheinender Macht und Formschönheit voran. Man kann Vaughan Williams durchaus zustimmen, der sie für Verdis größte Oper hielt.

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Und «La donna è mobile»? Die Drehorgel machte die Arie für Jahrzehnte zu dem Stück, das jeder kannte und manche verachteten. Es ist in der Tat ein populäres Lied und sollte ganz bewusst auch so klingen. Dank Hugo und Verdi erzielt es einen starken dramatischen Effekt, wenn Rigoletto in der Ferne die Stimme des Mannes hört, dessen Leiche angeblich zu seinen Füßen liegt. Eher gesungen als geschmettert, bestätigt es die leichtfertige Prahlerei des Herzogs und passt genau zur Situation. Der Erfolg des Rigoletto, ein einzigartiges Vorkommnis in einer Zeit der Reaktion und der wirtschaftlichen Krise, beflügelte Verdi und markierte den Beginn einer äußerst intensiven Schaffensperiode. Von Frühjahr 1851 bis Winter 1852/53 konzipierte und schrieb er seine beiden anderen erfolgreichsten Opern; er handelte die Verträge aus und beaufsichtigte die Inszenierung. Die beiden Uraufführungen folgten einander im Abstand von nicht einmal sieben Wochen, Il trovatore am 19. Januar 1853 in Rom, La traviata am 6. März desselben Jahres in Venedig. Das alles tat Verdi in einer Zeit, die geprägt war von Ängsten um Sant’Agata und die zum Kauf des Anwesens aufgenommenen Kredite, vom Streit mit seinem Vater, vom Tod seiner Mutter, von der ernsten Erkrankung seines Vaters und dem Klatsch, den er und Strepponi in Busseto auslösten. Er stritt mit Ricordi um Luisa Miller. Von Januar bis März 1852 verhandelte er in Paris über eine große Oper mit fünf Akten. Im Herbst und Winter 1852/53 litt er unter rheumatischen Beschwerden. Aber nichts konnte ihn aufhalten. Die beiden Opern erwecken den Eindruck, Verdi habe hier zwei kontrastierende Werke schaffen wollen. Il trovatore ist konservativ in seiner musikalischen Struktur, seine Handlung die Quintessenz der romantischen Rittergeschichte (wenngleich beides von einer gewaltigen Energie durchströmt ist). La traviata behandelt dagegen ein gewagtes zeitgenössisches Thema und bringt hier und da erneut die als «Reihe von Duetten» beschrie-

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bene innovative Methode zum Einsatz. Tatsächlich scheint Verdi diesen Kontrast nicht bewusst geplant zu haben. Viel davon geht einerseits auf Verdis Auseinandersetzung mit seinem Librettisten Cammarano um Il trovatore zurück, andererseits auf die plötzliche Entscheidung für die Traviata-Geschichte – die anfangs für die Theaterleitung und das Publikum in Venedig nicht leicht zu verkraften war. Bei keinem der beiden Werke hatte Verdi Probleme mit den Zensoren, zum Teil deshalb, weil er und seine Librettisten sich wie üblich selbst zensiert hatten. Im italienischen Operngeschäft wusste jeder, dass man unmöglich eine Novizin auf die Bühne bringen konnte, die aus dem Kloster weglief, um mit ihrem Geliebten zusammenzuleben, wie dies in dem wilden spanischen Stück geschah, auf dem die Oper basierte, und dass auch ihr späterer Selbstmord Schwierigkeiten bereitet hätte. Alle waren darin geschult, es in solchen Dingen bei einer gewissen Verschwommenheit zu belassen – die sich allerdings nur auf Worte und Gebärden bezog, während die ungezügelten Leidenschaften der Figuren ihren vollen Ausdruck in der Musik fanden. Die Grundlage für La traviata, das damals noch ganz neue Theaterstück von Alexandre Dumas d. J., La Dame aux camélias, hatte die in dem gleichnamigen Roman recht realistische Darstellung eines Kurtisanenlebens bereits zensiert und die schwindsüchtige, sich selbst opfernde Heldin auf den mythischen Weg gesetzt, der Marguerite auf mancherlei Umwegen in Violetta und schließlich Camille verwandeln sollte. Doch in den wenigen Jahren bis zur Einigung Italiens unterzogen die mittel- und süditalienischen Staaten die Oper einer noch weitergehenden Reinigung. Auch in Großbritannien und Amerika stieß sie auf einigen Widerstand, vor allem wenn sie in englischer Sprache gegeben werden sollte. Die größten Schwierigkeiten hatte Verdi mit Berufskollegen und dem Opernmanagement. Er wünschte sich «neue, grandiose, schöne, abwechslungsreiche, kühne Stoffe … und kühn bis zum äu-

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ßersten, mit neuartigen Formen» (C, S. 531; dt.: Briefe, S. 95). Sie dagegen schätzten das Vertraute und Sichere – und für niemanden galt dies mehr als Cammarano. Die (brieflich geführte) Diskussion zwischen ihm und Verdi über das Libretto des Trovatore zeigt, dass hier «zwei fundamental unterschiedliche dramaturgische Auffassungen aufeinanderprallten».6 Cammarano versuchte, die von García Gutiérrez erzählte Geschichte von Hexenverbrennung, Rache und Bürgerkrieg aufzuräumen und eine gute alte Dreiecksgeschichte daraus zu machen, ganz ohne Politik, mit klaren Motiven, respektabel verlobten Liebenden, am Schluss einer Wahnsinnsszene samt Arie und zahlreichen abgeschlossenen Nummern auf dem Weg dorthin. Die beiden Männer zerstritten sich fast darüber. Doch aus Respekt vor Cammarano ließ Verdi den größten Teil dieses konventionellen Aufbaus unangetastet – zumal der Dichter kurz nach der Fertigstellung des Librettos starb. Cammarano hatte ihn davon überzeugt, eine Einführungsszene hinzuzufügen, in der die zwanzig Jahre zurückliegenden Ereignisse erläutert werden – Azucenas berüchtigter Irrtum, als sie aus Rache für den Tod ihrer Mutter auf dem Scheiterhaufen das falsche Kind ins Feuer warf. Haben die Zuschauer diese Nachricht jemals allein aus Ferrandos Erzählung verstanden? Das erscheint zweifelhaft. Doch Verdi gab ihnen mit dem peitschenden Rhythmus und der «primitiven» Notation von «Abbietta zingara» etwas Besseres. Er tauchte sie unverzüglich in Azucenas musikalische Persönlichkeit und in den Strudel extremer Leidenschaft, den Il trovatore darstellt. Parodiert, verzerrt, von der Kritik verdammt, oft in Kartonkulissen und ohne Proben aufgeführt, war Il trovatore für den Rest des 19. Jahrhunderts Verdis beliebteste Oper. Sie wurde zu der Oper, deren Melodien fast jeder kannte, die von den Marx Brothers gestört wurde und in die Danny Kaye hineinplatzte. Sie wurde zum Inbegriff eines extravaganten Genres. Seit einiger

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Zeit hat sie an Boden verloren. Ritterliche Troubadoure und Burgfräuleins in Not bedeuten nicht mehr viel und eignen sich auch nicht für eine Modernisierung wie in Jonathan Millers berühmter Inszenierung des «Mafia»-Rigoletto. Außerdem kommen vier Starsänger teuer. Der beste Ansatz ist heute wahrscheinlich der von Gabriele Baldini, einem Kenner der Literatur aus der Zeit Jakobs I. Er sieht eine Verwandtschaft des Trovatore mit Websters Tragödien. Die vier Hauptfiguren sind irrational und wechselhaft in ihren Begegnungen, widersprüchlich in ihrer Liebe und ihrem Hass und folgen ihrem Schicksal bis zum Tod und bis ins Feuer, dessen Bild sich durch das ganze Werk zieht. Ohne Webster zu kennen, scheint Verdi hier doch ganz ähnlich gedacht zu haben. Er wählte die Geschichte wegen ihrer Wildheit. Mit modernen Dirigenten, die sie «vernünftig» zu machen versuchen, hätte er wohl keine Geduld gehabt. Als nach Cammaranos Tod ein junger Autor aus Neapel das Libretto für ihn durchforstete, erläuterte Verdi ihm sogleich, was er wollte. Er verlangte eine neue, ruhige Arie («D’amor sull’ali rosee»), doch für den Schluss bestand er auf schnellem Tempo. Er selbst verwarf Cammaranos Ende. Nur ein denkbar kurzer Wortwechsel bleibt, als Di Luna Manrico zur Hinrichtung schleppen lässt und Azucena ruft: «Er war dein Bruder!» Ein Freund wandte ein, Cammaranos Worte für Azucena seien angesichts ihres früheren Verhaltens folgerichtig. Verdi erwiderte ihm, dass er diese Dinge ausgezeichnet verstehe: «Aber der Hauptteil des Dramas […] ist nicht in diesen Worten enthalten, sondern in einem einzigen Wort … „Rache!“» (C, Bd. 1, S. 10 f.; dt.: Briefe, S. 95). Keine Zeit, Manrico enthaupten zu lassen? Im Theater spielt das keine Rolle. Entscheidend ist allein die dramatische Zeit. Nach den Höhen und Tiefen des Werkes ist Verdis stürmisches Ende richtig. Der dauerhafte Ruhm des Trovatore war kein Zufall. Die Oper ist – wie Baldini und Petrobelli gezeigt haben – sowohl dramatisch als auch musikalisch straff organisiert. Diese Struktur ist tief

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Giuseppe Bertojas Entwurf für das Bühnenbild des trovatore (2. Akt, 2. Aufzug) im Teatro La Fenice, Venedig

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im Werk angelegt. Wir bemerken sie kaum unter dem Eindruck des Ganzen. Deutlich ist indessen die Atemlosigkeit der schnellen Musik, die dem Schmerz und Trotz der Figuren entspricht. Verdis italienische Zeitgenossen nannten ihn den «Maestro der schnellen Tempi» (VI, S. 116). Die Terzett-Konfrontation am Ende des ersten Akts hat wieder den ungestümen Schwung von Ernani, nur feiner orchestriert. Doch was diese Musik oft so unwiderstehlich macht, ist nicht so sehr das Tempo als vielmehr die rhythmische Vielfalt und das Überraschende. Verdi war, mit Carl Dahlhaus zu sprechen, «primär ein Genie des musikalischen Rhythmus».7 Die Cabaletta-Abschnitte der Arien und Duette springen uns förmlich an mit ihrer einnehmenden Frische. Wenn einige von ihnen, an denen der Graf Di Luna beteiligt ist, in ihrer Begleitung metallen klingen mögen, so soll dies den Stolz des adligen Schurken möglicherweise in ein ironisches Licht tauchen. Unwiderstehlich sind auch die berühmten populären Nummern. Der Zigeunerchor mit seinen außer Takt gesetzten Akzenten und seinem Geklingel ist genau so, wie ein exotisches Theatertableau klingen sollte, und der Chor «Squilli, echeggi» genau die muntere Melodie, nach der ein Infanterist marschieren sollte, um sie dann nie mehr zu vergessen. Das Miserere, in technischer Hinsicht ein erweiterter Mittelabschnitt zwischen den beiden Teilen von Leonoras Arie im vierten Akt, landet den für die Oper typischen Theatercoup – etwas, das nur dieses Genre vermag. Weshalb es denn auch kein Wunder ist, dass sowohl die Marx Brothers als auch Danny Kaye in ihren Filmen genau diese Stelle auswählen. Verdi führte hier mehrere Elemente zusammen: einen gedämpften Chor hinter den Kulissen; im Orchester eine rhythmische Figur, die ihn verkörpert; auf der Bühne die Stimme einer einsamen, verzweifelten Frau; und dazu die verborgene Stimme eines Mannes in strahlender Selbstsicherheit. Die Kombination eines bedrohlichen Bühnenbilds mit räumlich entrück-

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ten Stimmen und dramatischer Überraschung stammt aus der Pariser grand opéra. Und Verdi übertrumpft das Ganze hier noch. Besonders herausragend im Trovatore sind die Gesangsstimmen der Solisten. Sie alle sind in höchstem Maße lebendig. Bei Leonora – eher ein Emblem der liebenden Frau als eine Figur – ist die Stimmführung immer wieder bogenförmig, jedes Mal auf andere Weise, aber immer ein Zeichen aufopferungsvoll-edler Gesinnung. Sie erhebt sich über das Finale des zweiten Akts und befreit es von der Notwendigkeit eines konventionellen Wechsels zwischen langsam und schnell. Im ersten Teil ihrer beiden Arien («Tacea la notte» und «D’amor sull ali rosee») verstärken die letzten Zeilen der Strophe wie so oft bei Verdi das Gefühl, doch ihre Stimme und das Orchester erheben sich zu glanzvoller Weite – in der früheren, zuversichtlichen Arie ein scheinbar endlos sprudelnder Quell, in der späteren dagegen zarter, von Geigen und Holzbläsern verschleiert und umgeben von einem Triller. Im Schlussterzett vollführt die Stimme nochmals einen großen Bogen, bevor Leonoras Tod einen auf magische Weise harmonischen Schmerz auslöst. Die Koloratur dient stets einem dramatischen Zweck, melancholisch in «D’amor», leidenschaftlich in der zugehörigen Cabaletta «Tu vedrai che amore in terra», hektisch, als Leonora ihren Handel mit den Grafen abschließt. Auch Azucenas musikalisches Leben hat seine aufsteigenden Momente, vor allem wenn sie ihre Liebe zu dem Mann bekennt, den sie ihren Sohn nennt. Doch häufiger dreht sich ihre Stimmführung im Kreise, so etwa fast durchgängig in der Szene mit Manrico, in der ihr die Geschichte der Verbrennung ihrer Mutter und ihrer auf schreckliche Weise misslungenen Rache entschlüpft – nicht unbedingt in den formalen Teilen (dem Lied «Stride la vampa», der erzählenden Arie «Condotta ell’era in ceppi», ihrem Anteil an dem gesamten nachfolgenden Duett außer dem letzten Stück), wohl aber in den tiefen Stimmlagen ihres Rezitativs, als sie über der Erinnerung an ihre Qualen brü-

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tet. Auch sie ist weniger eine Figur als ein wandelndes Emblem wahnhafter Besessenheit – von halluzinierten Bildern ihrer Mutter auf dem Scheiterhaufen und des Schicksals, das ihrem angeblichen Sohn droht, von all dem Schrecken, der hinter der sichtbaren Welt lauert. Vielleicht ist sie ein weiteres Fragment des König Lear in der Heide. Erst am Ende, als sie im Gefängnis auf ihre Hinrichtung wartet, weicht die Besessenheit ähnlich wie im Falle Lears Erwachen für Cordelia – der Vision eines friedvollen Beisammenseins mit ihrem Sohn in den Bergen («Ai nostri monti»), einem flüchtigen Blick auf den vor dem Ende nötigen Segen. Die männlichen Gesangsstimmen sind nicht ganz so individuell, doch Manrico und Di Luna besitzen die «große Würde», von der Shaw gesprochen hat. Manrico hat viel von Leonoras hochstrebendem Adel, und beide teilen mit ihr die Eleganz in Arien, die eine unermüdliche Beherrschung des Legato verlangen («Ah sì ben mio» und «Il balen del suo sorriso»). Manrico, dem glanzvoll-robusten Verdi-Tenor, wird die Cabaletta «Di quella pira» anvertraut, das stimmliche Äquivalent eines mit der Schleuder verschossenen Steins – Verdi billigte wahrscheinlich die ungeschriebenen hohen Cs. Wird sie so aufgeführt, wie es beabsichtigt war, wird niemand fragen können: «Warum läufst du nicht hin und rettest deine Mutter vor den Flammen, statt darüber zu singen?» Il trovatore fasste die hochromantische Leidenschaft Italiens in sich zusammen. Wie in anderen Teilen Europas führte das Scheitern der 1848er Revolutionen zu einer Stimmung, die von einem bewussten Realismus geprägt war. Der Misserfolg erschütterte die großen Erwartungen, die Menschen wie Verdi gehegt hatten, aber er diskreditierte auch die alte Ordnung. Manche, darunter wahrscheinlich auch Verdi, begannen auf etwas zu hoffen, das ihnen als die einzige praktische Antwort erschien: die Eroberung Norditaliens durch Piemont, den einzigen Staat, der noch eine liberale Verfassung und eine Armee besaß.

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Ein ähnliches Interesse am künstlerischen Realismus fand sich damals in Frankreich und veranlasste Verdi, La Dame aux camélias als Grundlage für seine nächste Oper zu wählen. Diesmal wollte er sich mit einer bekannten zeitgenössischen Gestalt befassen, der Pariser Kurtisane. Die Krankheit, an der sie starb, die Tuberkulose, hatte in den vorangegangenen Jahrzehnten besonders grassiert. Der Grund für den heroischen Verzicht auf die eigene Liebe sollte der Wunsch sein, eine bürgerliche Ehe in der Familie ihres Geliebten zu retten. Das Geld, das sie durchbrachte und um das ihre Freunde spielten, sollte echtes Geld von 1853 sein. Und als sie im Sterben lag, sollte ein echter Arzt von 1853 ihr den Puls fühlen. Aber genau das gefiel weder der Theaterleitung noch später dann dem Publikum im Teatro La Fenice. Verdi hatte die Einwände vorausgesehen. Alle, so erinnerte er sich am 1. Januar 1853 bei der Arbeit an der Partitur, hatten aufgeschrien, als er einen Buckligen auf der Opernbühne zeigen wollte. Und er deutete an, dass er «kindische Bedenken» auch diesmal wieder beiseitewischen werde (BM, S. 306; dt.: Briefe, S. 95). In Wirklichkeit musste er jedoch nachgeben. Wir wissen nicht, welche Argumente die Theaterbesitzer anführten, um sein Beharren auf einem zeitgenössischen Rahmen zu überwinden. Der Chor, so behaupteten sie in einer offiziellen Erklärung (er bestand, wie damals in Italien üblich, aus Marktfrauen und Handwerkern, die sich nur nebenberuflich als Sänger betätigten), könne nicht überzeugend als Gruppe adliger Damen und Herren von 1853 auftreten, wohl aber in den Kostümen der stattdessen gewählten Zeit «um 1700». Das mag durchaus nicht abwegig gewesen sein. Als wahrscheinlicher kann jedoch gelten, dass eine Oper, die Kurtisanen im Reifrock und Spieler sowie einen respektablen Vater aus dem Bürgertum mit Zylinder zeigte, umgeben von Möbeln und Arzneiflaschen des Jahres 1853, allzu nah an der Realität schien. Verdi hatte möglicherweise das Gefühl, sich in einer schwachen Position zu befinden, weil er sich

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wegen der Proben und der Uraufführung des Trovatore mit der Arbeit an La traviata im Verzug befand und auch erst verspätet nach Venedig kam. Am 5. Februar hatte er «äußerst widerwillig» einem historischen Rahmen zugestimmt – wie sein Librettist Piave berichtet, der mit ihm in Busseto darüber verhandelt hatte. Aber er bestand weiterhin darauf, dass keine Perücken getragen wurden. Ohne Zweifel dachte er dabei an «cavaliers»-Kostüme von 1650 statt an Louis-quatorze-Kleidung von 1700 (BM, S. 316 f.). Am Ende scheinen die Sänger und Sängerinnen dennoch Perücken getragen zu haben. Piave wurde eilends nach Busseto geschickt, weil Verdi am 30. Januar gedroht hatte, La traviata gar nicht zu liefern – zum Teil wegen seiner rheumatischen Beschwerden, vor allem aber weil er über die Sänger am Teatro La Fenice nichts Gutes gehört hatte. Er wollte, dass die Primadonna, Fanny Salvini-Donatelli, durch eine jüngere und elegantere Sängerin ersetzt würde. Piave fand ihn in einer «höllischen Stimmung» vor. Am Ende erklärte er sich bereit, die Oper fertigzustellen, und akzeptierte sowohl die Sänger als auch die historischen Kostüme, auch wenn er einen «völligen Fehlschlag» prophezeite (BM, S. 312–317). Bei der Uraufführung, die kaum acht Tage später stattfand, war SalviniDonatelli die einzige Hauptdarstellerin, die Applaus und Zustimmung erhielt, vor allem wegen ihrer Koloratur im ersten Akt. In den beiden übrigen Akten waren der Bariton (Varesi, dessen Zenit schon lange überschritten war) und der Tenor schlecht bei Stimme. Das Publikum lachte. Verdi nahm den Fehlschlag zur Kenntnis, wie es seine Art war: «Ist es meine Schuld oder die der Sänger? … Die Zeit wird urteilen» (BM, S. 326; dt.: Briefe, S. 97). Sie tat es. Nur wenig mehr als ein Jahr später feierte La traviata in dem weniger renommierten venezianischen Teatro di San Benedetto einen rauschenden Erfolg. Verdi hatte einige hilfreiche – eher markante als umfangreiche – Veränderungen vorgenommen, doch der wichtigste Grund

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war die neue Primadonna, die junge, fragile und überzeugende Maria Spezia. Die Oper trat einen Siegeszug um die ganze Welt an. Von nun an war Verdi überzeugt, dass sie eher einer singenden Schauspielerin als einer Starsopranistin bedurfte, selbst wenn die Stimme nicht so stark war. La traviata ist in der Tat – mehr als Rigoletto und Il trovatore – in erster Linie ein Theaterstück mit einem immer noch klassischen Aufbau und den Umrissen eines realistischen Sprechtheaterstücks, die immer noch durchscheinen und hier und da gleichsam durchbluten. Eingebettet in einen wunderbar passenden musikalischen Rahmen finden sich Passagen, die vor allem als Bühneneffekte funktionieren: die Zigeunerinnen und Stierkämpfer auf Floras Ball, die erforderlich sind, um eine Pause zwischen zwei Konfrontationsszenen zu schaffen; die trippelnde Tanzmusik, die zeigt, dass Violettas Freunde zugleich besessen und banal sind; der Lärm des Karnevals vor ihrem Fenster, als sie im Sterben liegt. Bei entsprechender Inszenierung treten dadurch die Szenen, auf die es wirklich ankommt, deutlicher hervor. An zwei entscheidenden Stellen im letzten Akt hält Verdi den Gesang an und wechselt zum mélodrame. Violetta liest laut den Brief, der Alfredos Rückkehr (zu spät) ankündigt. Im Sterben hat sie das Gefühl, auf wundersame Weise neue Kraft zu schöpfen. Die zu einer Musikbegleitung gesprochenen Worte (eine Reminiszenz an Alfredos Liebeslied im ersten Akt, das auch an anderen Wendepunkten des Dramas präsent ist) erzeugen eine äußerst theatralische Wirkung – der man sich kaum zu entziehen vermag, obwohl wir solche Mittel heute aus zahllosen Filmen kennen. Aber sie erzielen ihre Wirkung durch einen Bruch mit den normalen Strukturen der romantischen italienischen Oper. Das Festhalten an diesen Strukturen kann zu schwachen Passagen führen. Ein Beispiel sind die Cabaletten für Alfredo und seinen Vater im zweiten Akt. Erstere ist konventionell, Letztere hohl, und beide werden bei Aufführungen meist gestrichen. Be-

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lässt man sie dagegen der «Authentizität» wegen in der Inszenierung, leidet die Oper darunter. Cabaletten passen nicht zu den Anforderungen des Realismus. Das mag erklären, weshalb dem Komponisten die dynamische Bewegung, in der er doch sonst glänzte, an zwei Stellen misslang. Vielleicht komponierte er aber auch zu schnell, um alles ins rechte Lot zu bringen. Der Rückgriff aufs mélodrame entspricht möglicherweise den Anforderungen des Realismus. Das war es jedoch nicht, was Shaw meinte, als er 1891 sagte, La traviata sei ein «weitaus realeres und kraftvolleres Werk als Carmen» – damals das Urbild der realistischen Oper. 8 Real und kraftvoll daran ist die Emotion, deren Unmittelbarkeit die musikalische Struktur so nuanciert durchdringt und verfeinert, dass sie hier und da schon epigrammatisch wirkt. Das Libretto zu La traviata ist sentimental, denn es beschönigt die wahren Beziehungen der Kurtisane und stellt sich auf die Seite der gesellschaftlichen Konvention, beweint dann aber das Opfer Violetta. Vielleicht wandte Verdi sich gegen diese Sentimentalität wie auch gegen die noch süßlichere Inszenierung in Rom, als er einem dortigen Freund schroff schrieb: «Eine Hure muss eine Hure bleiben» (A, Bd. 1, S. 503). Tatsächlich beschreibt seine Musik Violettas Gefühle als echt, feinsinnig und selbstlos – eine Mischung, die Greta Garbo später in ihrem Film Camille mit anderen Mitteln zum Ausdruck bringen sollte. Die Feinheit resultiert zum Teil aus der klaren Instrumentierung – nur sechzehn, dazu noch aufgeteilte Violinen zu Beginn der beiden Vorspiele, weitere feingliedrige Orchesterpartien an entscheidenden anderen Stellen – und teils aus Melodien, die sich in einem kleinen Tonumfang bewegen, aber eine große Vielfalt aufweisen und Charakter besitzen. Das verleiht der leidenschaftlichen Musik zusätzliche Kraft, wenn sie in weiter ausgreifenden Formen hervorbricht – überwältigend in Violettas Lebewohl «Amami, Alfredo», dessen Melodie schon im Vorspiel zum ersten Akt zu hören ist, aber auch in ihrem bogenförmigen, dreimal

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wiederholten Verzweiflungsschrei in der Szene bei Flora und in ihrer schmelzenden Phrase über dem großen schwingenden Ensemble an deren Ende. Solche Momente des Aus-sich-Herausgehens sind kurz. Ihre Kürze erklärt auch zum Teil, wie es möglich ist, dass La traviata, diese Oper über eine Frau, die alles für ihre Liebe opfert, jede eindringliche Erotik meidet. Ein italienischer Kritiker brachte das sehr schön zum Ausdruck: Die Liebe ist für Verdi stets eine aktive Kraft, eine Emotion, die sich aus all den anderen Gefühlen hervorarbeitet, die den komplexen Charakter der Figur ausmachen. Tatsächlich schärft sie diese Gefühle, indem sie sich mit ihnen verbindet und die Figur zum Handeln drängt, aber niemals drängt sie sich als einziges Motiv in den Vordergrund, niemals überwältigt sie diese thematische Komplexität.9

Wenn Violetta «Amami, Alfredo» singt, dann bringt hier die ganze Person ihre leidenschaftliche Liebe zum Ausdruck. Es ist nicht – wie bei Puccinis Höhepunkten – der heftige Aufschrei von Figuren, deren erotisches Leben ihr ganzes Sein ausmacht. Wenn Verdi im ersten Akt von der vorherrschenden tinta der eng abgestuften Melodie abweicht, so um Violettas Persönlichkeit in der Zeit zu beschreiben, als sie sich noch nicht verliebt hat. Diese Teile machen die Partie furchterregend. Verdi sieht hier – zum letzten Mal in seinem Werk – teilweise halsbrecherische Koloraturpassagen vor und verlangt in den beiden folgenden Akten noch weitere anspruchsvolle Leistungen. Das Vorspiel hat Violettas Sanftmut und todgeweihte Existenz bereits angedeutet. Der Trinkspruch in schwungvollem Tripeltakt ist auf seine Weise ebenso charakteristisch wie der von Lady Macbeth. Violetta vermag der trivialen Welt, in der sie lebt, immer noch einen würdigen Glanz zu verleihen. Am Ende der zweiten Strophe zeigt ihre Stimme, die Alfredos Stimme dominiert, dass sie das Heft in der Hand hat.

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Aber nicht mehr lange. Nachdem er das Duett eröffnet hat («Un dì, felice» – die Pausen in der Anfangszeile verdeutlichen den Kloß in seinem Hals), hebt er zu einer überschwänglichen Liebeserklärung an («Ah, quell’amor»). Dieses in der Oper mehrfach wiederkehrende Motiv stürmt nicht himmelwärts wie bei Elvira und Leonora. Es ist zum Emblem junger Liebe geworden, schlicht und intensiv. Violetta antwortet mit neckenden, hüpfenden Koloraturen. Beide singen eine Weile gegeneinander an, doch als das kurze Duett sich dem Ende zuneigt, bewegt sich ihre Stimme zunächst im Kontrapunkt zu seiner und dann in absteigender Melismatik zu seinem wiederholten «croce e delizia», bis beide dann längere Zeit und gleichfalls melismatisch gemeinsam singen – ein (nur mit den Mitteln der Oper zu realisierender) Beweis, dass ihr Herz sich bereits ergeben hat, obwohl sie es noch nicht zugeben mag. Das Rossini’sche Duett wird hier zu einem Epigramm. Ein noch berühmterer Operncoup beendet den Akt. Wieder allein, sinnt Violetta der Frage nach, ob das die Liebe ist, nach der sie sich immer schon gesehnt hat. Die schlichte, scheinbar unvermeidlich in Moll gehaltene Melodie («Ah fors’è lui») – gleichfalls ein «Kloß im Hals» in diesem Eröffnungsteil – wechselt erleichtert von Moll zu Dur, und in Dur ist Alfredos emblematisches Lied gehalten. Sie verwirft dann den Gedanken als unmöglich: Vergiss die Liebe, zurück in die Halbwelt und deren fiebrigem Walzer, Einsatz für die Cabaletta, Feuerwerk der Koloratur mit ihren glitzernden Bändern und Spitzen. Doch in das «Sempre libera» bricht Alfredos Lied, diesmal mit seiner eigenen Stimme aus den Kulissen – von der Straße oder aus Violettas Herz? Die beiden Melodien wetteifern miteinander, bis der Vorhang fällt, doch es kann kein Zweifel bestehen, welche von beiden den Sieg davonträgt. Den Höhepunkt der Traviata bildet der lange zweite Akt, in dem Alfredos Vater Violetta überredet, seinen Sohn aufzugeben. Verdi treibt hier die schon in Rigoletto benutzte Methode weiter

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voran, die beiden Stimmen durch eine rasche Folge ineinander verschränkter Bewegungen zu führen. Jede Bewegung befördert ihre wechselnden emotionalen Reaktionen, jede spricht mit größter psychologischer Wahrhaftigkeit – Germonts rhythmisch insistierendes «Un dì, quando le veneri», Violettas atemlosverzweifeltes «Non sapete», die geläuterte, nach innen gekehrte Schlichtheit ihres Entschlusses und ihres Schmerzes («Dite alla giovine»). Nichts wirkt gezwungen. Die Stimmen verbleiben größtenteils innerhalb eines kleinen Tonumfangs, wie er sich für zivilisierte Menschen des 19. Jahrhunderts geziemte, doch ihre Gefühle sind echt und intensiv. Der «Walzerton», der Violettas Welt prägt, zeigt sich – verwandelt – in ihren entscheidenden Passagen, während der Geist der italienisch-romantischen Doppelarie, wie Dahlhaus schreibt, die Gesamtszene strukturiert. Die Duette «lassen niemals den Eindruck einer bloßen Reihung von Affektmomenten […] entstehen, sondern verhalten sich stets wie dialektische, einander ergänzende Antithesen zueinander». Verdi habe das Problem des Dialogs hier auf überzeugende Weise gelöst, ohne auf «musikalische Prosa» zurückzugreifen.10 Tiefes, diskret verhülltes Pathos kennzeichnet den letzten Akt – im Vorspiel mit seiner Stimmung zurückgehaltener Tränen, in Violettas Arie nach dem Lesen des Briefs («Addio, del passato» – deren letzter hoher Ton ein Seufzer ist, der wie ein Stich wirkt) und in vielen der Gesprächsrezitative. Die stimmlichen Ressourcen erlauben der todkranken Heldin nur die schlichtesten Verzierungen in ihrem Wiedersehensduett («Parigi, o cara»), dessen überstürzte Cabaletta («Gran Dio! Morir sì giovine») aufgestaute Gefühle entlädt. Kann es sein, dass die männlichen Arien in den vorangegangenen Teilen des Werkes nicht auf demselben Niveau sind? Wie Bellinis Norma, von der die Musik in Teilen inspiriert ist, gehört auch La traviata der Heldin. Mit einer wirklich guten singenden Schauspielerin destilliert sie reines Gefühl und ist unzerstörbar.

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Während der erfolgreichen Neuinszenierung 1854 war Verdi in Paris. Er hatte bereits die Hälfte der Arbeit geleistet, aus der im Juni 1855 schließlich Les Vêpres siciliennes hervorgehen sollte. Seit Jérusalem (1847) hatte er eine große Oper mit fünf Akten schreiben wollen, samt Ballett und einem erhebenden historischen Sujet. 1849 trat er von einem entsprechenden Vertrag mit der Opéra zurück, im Februar 1852 unterzeichnete er einen weiteren. Inzwischen hatte Napoleon III. sich durch einen Staatsstreich zum autokratischen Herrscher Frankreichs aufgeschwungen. Die neue Ordnung war nicht der Grund, weshalb Verdi wieder nach Paris ging, auch wenn der kaiserliche Emporkömmling und seine Gattin den einstigen, zum Realisten gewordenen Demokraten 1856, als er wegen eines anderen Operngeschäfts wieder in Paris war, bewegten, eine Woche zu bleiben. Was Verdi wirklich beschäftigte und ihm zugleich Steine in den Weg legte, war die Notwendigkeit, mit Meyerbeer in Wettstreit zu treten, dessen Le prophète das Menetekel von 1849 war, während in den 1850 er Jahren seine Oper L’Africaine bereits am Horizont erschien, ohne doch jemals vollendet zu werden. Genau dies veranlasste Verdi auch, auf vollen fünf Akten zu bestehen. Der Veteran unter den Librettisten, Eugène Scribe, der Paris lange beherrscht hatte, dessen beste Zeiten nun aber vorüber waren, vermochte nicht zu vermeiden, dass die Handlung in manchen Teilen auf der Stelle trat. Auch die Opéra steuerte ihren üblichen Teil an Problemen bei. Ende 1854 blieb die Primadonna, Sophie Cruvelli, einen Monat lang den Proben fern, obwohl die Oper noch nicht fertig war (wie sich herausstellte, hatte sie sich auf eine inoffizielle Hochzeitsreise begeben). Verdi schäumte, versuchte, ihren Vertrag annullieren zu lassen, veranlasste Scribe zu zahlreichen Überarbeitungen und klagte über mangelnde Disziplin bei den Proben. Am Ende war den Vêpres siciliennes nur ein mäßiger Erfolg beschieden, und der Erfolg in Italien war kaum größer, wo die Oper unter dem Titel Giovanna de

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Guzman herauskam und der Ort der Handlung nach Portugal verlegt wurde (weil das Original eine italienische Revolte gegen eine Besatzungsmacht zeigte). Nach den 1860 er Jahren wurde sie immer seltener gespielt. Trotz einiger Wiederaufführungen in unserer Zeit bleibt ihre Stellung zweifelhaft. Das Problem liegt in den Anforderungen der Pariser grand opéra, eines spektakulären Genres, das auf billige Arbeitskräfte unter den Chorsängern, Tänzern, Statisten, Schneiderinnen, Kulissenmalern und Kulissenschiebern angewiesen war. Verdi bemühte sich nach Kräften um intime Szenen, doch er konnte sich den Forderungen nicht entziehen. Heute können nicht einmal hoch subventionierte Theater es sich leisten, Les Vêpres siciliennes so aufwendig zu inszenieren wie die Uraufführung. Und Aufführungen, denen das Spektakel genommen ist, enttäuschen. Verdi zeigte, nebenbei gesagt, nur allzu genau, wohin es führt, wenn zu viele an einer Oper arbeiten. Trotz manch guter (von Berlioz gelobter) Musik und einiger exzellenter Nummern bleibt Les Vêpres siciliennes doch ein «Mosaik». Ihr Komponist sollte das Problem der Großen Oper erst sechzehn Jahre später lösen. In Italien besaß Verdi nun eine einzigartige Stellung. Doch als seine Arbeit in Paris abgeschlossen war (er verlor den Prozess gegen den Impresario der Italienischen Oper und inszenierte die französische Fassung des Trovatore an der Opéra), hatte er das Gefühl, zu seiner gewohnten Arbeitsgeschwindigkeit zurückkehren zu müssen, mit Verträgen für zwei Opern 1857 und einer weiteren Anfang 1858 in Neapel. Das bedeutete auch, dass seine altbekannten Leibschmerzen wieder auftraten. Die italienische Opernwelt hatte sich von der Wirtschaftskrise erholt. Doch Verdis Lieblingsproduzent Lanari war 1852 gestorben. Mit Merelli wollte er immer noch nicht arbeiten. Wie viele andere musste er feststellen, dass die führenden Impresarios der Zeit, die Brüder Luciano und Ercole Marzi, unzuverlässig waren, als sie seine beiden 1857 entstandenen Werke, Simon Boccanegra

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und Aroldo (den überarbeiteten Stiffelio), auf die Bühne brachten. Er bemühte sich, auf Distanz zu gehen, indem er den Vertrag für Boccanegra mit den Besitzern des Teatro La Fenice abschloss, doch das Problem mit windigen, ja gelegentlich buchstäblich über Nacht verschwindenden Impresarios verschärfte sich noch und veranlasste Verdi zu einer einschneidenden Änderung. Boccanegra zeigte, was Verdis Streben nach «Originalität» bedeuten konnte. Als er dreiundzwanzig Jahre später darauf zurückblickte, musste er eingestehen, dass es sich um einen «wackligen Tisch» handelte, dessen Beine einer Reparatur bedurften (VB, S. 13). Er überarbeitete sie eingehend und fügte eine neue Szene hinzu, die den Höhepunkt der Oper bilden sollte, doch damit ließ sich das Wackeln nicht beheben. Das Problem war nicht die Musik. Eine 1995 unter Leitung von Mark Elder aufgeführte konzertante Fassung des Originals zeigt, dass es sich um eine ehrliche, kraftvolle Partitur handelt, die keiner Entschuldigung bedarf. Das spanische Drama, das Verdi dafür wählte (es stammt vom Autor der Vorlage für Il trovatore), handelt von den komplizierten familiären Beziehungen zwischen Angehörigen dreier Generationen (von denen einer niemals erscheint, während zwei andere erst nach zwanzig Jahren unter Pseudonymen wieder auftreten) und den ebenso komplizierten politischen Verhältnissen im mittelalterlichen Genua. Wegen der in einem Libretto unvermeidlichen Kürzungen vermag das Publikum bis heute nicht zu sagen, warum Amelia entführt und dann befreit wird – eine ganz entscheidende Episode – oder welche Motive die verschiedenen patrizischen und plebejischen Fraktionen bewegen. Im Trovatore spielt die Wildheit des Plots keine Rolle, weil die emotionalen Beziehungen stets klar sind. Boccanegra bleibt dagegen dunkel und rätselhaft. Im 19. Jahrhundert schadete das ihrem Erfolg. Heute steht dagegen diese Oper hoch in der Gunst, teils weil das Publikum problematische Werke inzwischen liebt, teils weil einige großartige Episoden nicht unter die-

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ser Rätselhaftigkeit zu leiden haben. Ein problematisches Werk bleibt die Oper dennoch. Nach dem mäßigen Erfolg des Aroldo fünf Monate später sah es so aus, als hätte Verdi seinen drei populärsten Opern drei Werke folgen lassen, die weder den französischen noch den italienischen Geschmack vollauf trafen. Als nächstes produzierte er eine Oper, die französische und italienische Qualitäten in sich vereinigte, dauerhaften Ruhm erlangte und als das heiterste seiner Werke gilt. Doch vorher erlebte Verdi seine schlimmsten Probleme mit der Zensur der despotischen italienischen Staaten – die selbst kurz vor dem Untergang standen. Seit seinem ersten Aufenthalt in Paris von 1847 bis 1849 hatte Verdi schrittweise einige Elemente der französischen Opernsprache übernommen. Ab der Battaglia di Legnano (1849) ersetzte er die alte Doppelarieneinheit gelegentlich durch Couplets (in Strophen aufgebaute Lieder mit Wiederholung der Melodie) oder durch dreigliedrige Nummern (mit drei kontrastierenden Abschnitten und einer gewissen dramatischen Bewegung). Er hatte gelernt, in abwechslungsreicheren und zarteren Farben zu orchestrieren. In Un ballo in maschera ging er noch weiter. Er verlieh einer italienischen Oper die Eleganz und den Elan, die für französische Musik charakteristisch waren, ergänzt um eine Intensität, die französische Opern nur selten erreichten. Dieses Wagnis war, wie es schien, in seinem schöpferischen Unbewussten herangereift – vielleicht als Reaktion auf den kraftvollen Boccanegra: Als er Lear als mögliche Oper für Neapel aufgab, beauftragte er dessen Librettisten, den Text zu adaptieren, den Scribe 1833 für eine Pariser Oper, Aubers Gustave III, geschrieben hatte. Diese im technischen Sinne zwar «große» Oper enthielt dennoch pikante Szenen, die sich teilweise für eine komische Behandlung eigneten. Das Thema allerdings musste Schwierigkeiten bereiten: die geplante Ermordung nicht nur eines Königs, sondern einer Ge-

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Verdi bei den Proben zu simon boccanegra in Neapel (1885) mit dem Pudel Loulou. Karikatur von Melchiorre Delfico

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stalt aus der realen, erst wenige Generationen zurückliegenden Geschichte, nämlich Gustavs III. von Schweden, der 1792 auf seinem eigenen Maskenball erschossen worden war. Verdi erklärte sich zu Kompromissen bereit, wie schon bei Rigoletto. Er und Somma gingen zunächst rasch auf die Einwände der Zensoren ein: ein Herzog statt eines Königs, keine Politik, kein vollzogener Ehebruch, keine Feuerwaffen. Dennoch versuchten sie, eine Zeit (das 17. Jahrhundert) einzuschmuggeln, die ein glanzvolles Hofleben rechtfertigte. Doch ihr Entgegenkommen reichte nicht aus, denn inzwischen hatte ein realer Terrorist – ein Italiener – eine Bombe auf Napoleon III. geworfen. Der Zensor stellte nun neue Forderungen: kein Herrscher; keine Frau eines Freundes, in die er sich verliebt; keine historische Zeit nach dem Mittelalter; keine Auslosung des Mörders; kein Ball; keine Masken; und kein Mord auf der Bühne. Das Theater beauftragte einen Autor, der das Libretto nach diesen Vorgaben umarbeiten und den Ort der Handlung in das republikanische Florenz des Mittelalters verlegen sollte. Verdi hielt stand. In Neapel, so sagte er, habe man dem Rigoletto die «üblichen Monstrositäten» angetan, aber nur in seiner Abwesenheit. Damit werde er sich jedoch nicht bei einer Oper abfinden, die er eigens für die Stadt komponiert habe und bis zur Uraufführung begleiten werde. Sein Haupteinwand galt dem historischen Rahmen, der unmöglich zu einer für einen «eleganten und galanten» Hof geschriebenen Musik passte. Er zog die Oper zurück und begann, die nötigen Arrangements zu treffen, um sie im darauffolgenden Jahr in Rom zu inszenieren – ein Affront gegen die neapolitanischen Behörden, denn Rom war nah und etwas weniger obskurantistisch. Als die Theaterleitung in Neapel ihn verklagte (man einigte sich schließlich außergerichtlich), fasste Verdi seine Klagen mit einiger Übertreibung zusammen. Von Sommas 884 Zeilen wurden im vorgeschlagenen Libretto 297 verändert; weitere Zeilen waren ganz gestrichen oder neu hinzugefügt worden.

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Ich frage weiter, was das Drama der Theaterleitung mit meinem gemein hat: Den Titel? – Nein. Den Dichter? – Nein. Die Zeit? – Nein. Den Ort? – Nein. Die Figuren? – Nein. Die Situationen? – Nein. Das Ziehen der Lose? – Nein. Den Ball? – Nein. Ein Maestro, der seine Kunst und sich selbst achtet, kann und darf sich nicht dazu herabwürdigen, als Text zu einer für ein ganz anderes Programm geschriebenen Musik so groteske Dinge zu akzeptieren, die den einfachsten Prinzipien der dramatischen Kunst und dem künstlerischen Gewissen widersprechen. (CV, Bd. 1, S. 269 f.; C, S. 565–572)11

Den römischen Zensor besänftigte Verdi, indem er die Handlung in das Boston des 17. Jahrhunderts verlegte, für das italienische Publikum damals ein mythischer Ort, an dem ein Earl of Warwick als absolut regierender Gouverneur durchaus glanzvoll Hof halten konnte.12 Der römische Impresario Vincenzo Jacovacci – berüchtigt für seinen Geiz und seine niedrigen Honorare – machte keine Schwierigkeiten, sieht man davon ab, dass er ein paar schlechte Sängerinnen engagierte. Als er später versuchte, den Ballo zu einem verminderten Honorar auf die Bühne zu bringen, riet Verdi ihm, er solle sich lieber an die Musik längst verstorbener Komponisten wie Lully, Gluck und Paisiello halten. Der französische Einfluss zeigt sich im Ballo in den fünf Hauptfiguren (eine davon ein heranwachsender Page, gesungen von einer Soubrette, für die Verdi drei köstlich-quecksilbrige Nummern schrieb – eine Figur ganz anderer Art als der alte italienische Kontralto-Held); in der Stretta der Eröffnungsszene,

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fast einem Cancan von Offenbach ähnelnd und ebenso unwiderstehlich; vor allem aber in einem beständigen Wechsel von Licht und Schatten, Leidenschaft und Gelächter, verkörpert in musikalischen Strukturen, die sich als verkürzte Versionen von Routineformen darbieten, und in durchscheinenden Instrumentaltexturen. In den beiden Rahmenakten findet sich viel Schönes, vor allem beschwingte, unorthodoxe Ensembles (das Quintett «È scherzo od è follia», das Licht und Leichtigkeit in eine drohende Gefahr bringt; das frühere Terzett «Della città all’occaso»); Amelias in nobler Prägnanz brillierendes Gebet; das rituelle Ziehen der Lose mit Trompetenbegleitung, die sich nachdenklich und pianissimo in die Höhe erhebt; das konzise Terzett, das zum Quintett wird und die Szene beschließt; auch die eloquent durchkomponierte und innovative Form der Baritonarie «Eri tu»; und schließlich die an Don Giovanni erinnernde Tanzmusik, deren höfische Gewandtheit einen ironischen, spannungserzeugenden Kommentar zu dem bevorstehenden Mord darstellt. Besiegelt wird die Qualität des Ballo jedoch durch den mittleren Akt – zusammen mit dem dritten Akt der Aida das Schönste, was Verdi jemals komponiert hat. Scribe steuerte eine Reihe äußerst theatralischer Situationen bei: Amelias verängstigtes Umherirren unter dem Galgenbaum; Ricardos plötzlicher Auftritt; ihr widerstrebendes Liebesbekenntnis; ihr Mann, der herbeieilt, um den Herrscher und die verschleierte Dame vor den herannahenden Verschwörern zu warnen; Ricardo, der seinem Freund die verschleierte Frau in Obhut gibt, während er selbst flieht; der Versuch der Verschwörer, ihren Schleier zu lüften – was sie schließlich zulässt, um ihren Mann zu retten; Spott, Verweiflung, Zorn, tödliche Entschlossenheit. All das war für Verdi ein gefundenes Fressen. Aber wie Harold Powers gezeigt hat, ist es vor allem die Musik, die den Akt prägt und dessen wechselhaftes Temperament kontrolliert. Was uns

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hier begegnet, ist nicht «Oper als Drama», sondern «Drama als Oper».13 Für Amelias gepeinigte Arie wünschte Verdi sich «tiefsten Aufruhr […], Feuer […], Erregung […], Unordnung». Er ließ Somma den Text in auf- und abschwingenden Anapästen umschreiben.14 «Ma dall’arido stelo divulsa» eilt von Verzagtheit zu Entschlossenheit und zu einer entsetzlichen Vision, die von einem Gebet abgelöst wird, der Form nach eine Variation, gefolgt von einer kurzen Wiederaufnahme der Eröffnungsstrophe, all das zusammengehalten von einem Englischhorn und dem Orchester, die Wirkung zugleich pathetisch und überstürzt, gekrönt vom Adel des Gebets. Das folgende Duett ist der glanzvollste Ausdruck tiefer Liebe zwischen Mann und Frau, den die Oper kennt, etwas, das sich bei Verdi nur selten findet und an das – in viel längerer Form – nur Tristan und Isolde heranreicht. In entscheidenden Augenblicken übernimmt das Orchester. Nach Riccardos drängender Bitte dehnt es sich aus, die Zeit scheint stillzustehen, die Celli unterstützen den immer ekstatischeren Wortwechsel der Liebenden (ganz unorthodox singen sie nicht miteinander, sondern antworten einander). Und ihre innere Ekstase kehrt wieder und unterbricht die äußere, in schneller Silbenfolge zum Ausdruck gebrachte Freude. Wie Verdi später schrieb, sollte dort «Liebe hervorbrechen» (C, S. 642). Mit der Nachricht von den Verschwörern bringt das Terzett («Odi tu come fremono cupi») eine ironische Note in die Dringlichkeit. Ehemann und Ehefrau singen gemeinsam, aber er weiß nicht, wessen eindringlich hohe Töne ihre dringende Bitte an Riccardo krönen, sich zu entfernen. Als der Schleier fällt, kommt es zu einem außergewöhnlichen Wechsel. Die Anführer der Verschwörer, Samuel und Tom, quittieren dies mit einem unverschämten kleinen Lied. Diese «nun plötzlich federnde Musik […] kontrastiert in jeder Hinsicht mit der unheilverkündenden Vorbereitung […]. Die unerwartete Aufgabe der so sorgfältig vor-

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Verdi zur Zeit des trovatore, wahrscheinlich der französischen Fassung (1857), denn er trägt das Abzeichen der französischen Ehrenlegion

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bereiteten Tonart lässt die affektive Kluft zwischen dem Schrecklichen und dem Komischen noch tiefer erscheinen» (Powers). Über das abschließende Ensemble schrieb Verdi selbst: «Die Ironie von [Samuel und Tom], die Fröhlichkeit des Chors, die Verzweiflung der Ehefrau und der Zorn des Ehemanns bildeten ein großartiges musikalisches Tableau.»15 So ist es. Wenn der Vorhang fiel, sollte das Publikum in vielschichtigen Wonnen schwelgen, wie sie nur die Oper – diese Oper – zu bieten vermag. Kurz nach der Uraufführung des Ballo am 17. Februar 1859 brach der Krieg zwischen dem von Frankreich unterstützten Piemont und Österreich aus. Innerhalb weniger Monate schlossen sich Mailand, Florenz und Verdis Parma (allerdings nicht Venedig) dem noch inoffiziellen Königreich Norditalien an. Innerhalb eines Jahres folgten Mittel- und Süditalien (mit Ausnahme Roms und seiner unmittelbaren Umgebung). Diese große Veränderung im Leben des Landes ging einher mit einer fundamentalen Veränderung in Verdis Arbeitsleben. Dank des Urheberrechts brachten ihm die Opern nun Jahr für Jahr Geld ein. Die «Galeerenjahre» waren vorüber. Der Volkskomponist konnte es sich leisten zu entspannen. In Zukunft schrieb er nur noch zu Zeiten und an Orten seiner eigenen Wahl.

Fünftes Kapitel

komplikationen, 1859 –1872 La forza del destino, Don Carlos und Aida



Nach der Unabhängigkeit und Einigung Italiens empfand Verdi, so könnte man meinen, größere Zufriedenheit mit seiner Stellung in der Welt und in der Musik. Doch das war keineswegs der Fall. Zwar begrüßten er und Strepponi die neue Nation mit uneingeschränkter Freude. In den Wirren der Jahre von 1859 bis 1861 beteiligte er sich – etwas widerwillig – an dem politischen Prozess, der zur Gründung des neuen Königreichs führte. Doch schon wenig später schlitterte Verdi in eine besonders bittere Phase seines persönlichen und beruflichen Lebens. Sie dauerte von seinem fünfzigsten bis zu seinem fünfundsechzigsten Lebensjahr (von 1862/63 bis 1877/78). Die Midlifecrisis, die manche Männer Anfang vierzig ereilt, stellte sich bei ihm verspätet ein. Bis dahin hatte ihn seine ungewöhnlich starke, angeborene Energie vorangetrieben. Bei ihm dauerte es länger, bis er an seine Grenzen stieß. Die Krise rührte allerdings auch aus Entwicklungen im neuen Italien, die seine Erwartungen und seine Stellung als Künstler in Frage stellten. Er war enttäuscht von seinem Land und verbittert über Veränderungen in seinem künstlerischen Le-

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ben, die ihn ruinieren konnten. In Sant’Agata, wo er nun die meiste Zeit mit der Meliorierung seiner Ländereien zubrachte, musste er zunächst mit einer italienischen, dann einer europaweiten Wirtschaftskrise und später mit den Anfängen der Gewerkschaftsbewegung fertigwerden. Eine seiner wenigen tiefen Freundschaften ging zu Bruch, und während dies geschah, begann er eine Beziehung mit einer Sängerin, die zu einer lang anhaltenden Krise in seiner Ehe führte. In diesen Jahren schimpfte Verdi oft über die Menschen in seiner Umgebung und über die Welt im Allgemeinen. In seinen schwärzesten Phasen genügten trivialste Dinge, um ihn gegen seine Frau und die Bediensteten aufzubringen. Strepponi, die mit ihrem Latein am Ende war, notierte 1867: «Ich weiß nicht mehr, mit welchen Worten und in welchem Ton ich ihn ansprechen soll, damit er sich nicht beleidigt fühlt» (WalkerV, S. 401). Wenn er sich zum italienischen Musikleben äußerte, nahm er nun – bis an sein Lebensende – die Haltung eines stramm konservativen Nationalisten ein. Doch in diesen Jahren komponierte er drei seiner bemerkenswertesten Opern und das Requiem. Was immer wir sonst noch davon halten mögen, diese Werke sind innovativ und enthalten Passagen, die von großem Adel und einer ergreifenden Schönheit ohnegleichen sind, und eine der Opern, Aida, die er mitten in der tiefsten persönlichen Krise schrieb, gehört zu seinen größten Leistungen. Der kurze, blutige Unabhängigkeitskrieg, bei dem Frankreich sich mit Piemont gegen Österreich verbündete (April bis Juni 1859), verschonte Sant’Agata. Verdi schrieb, wenn er bei besserer Gesundheit gewesen wäre, hätte er sich als Freiwilliger gemeldet. Aus Dankbarkeit gegenüber Napoleon III. war er bereit, die «blague [die Possen] der Franzosen, ihre überhebliche politesse und ihre Verachtung für alles Nichtfranzösische» zu ertragen (C, S. 578). Doch Napoleons Entscheidung, den Krieg zu beenden, ohne Venedig oder dessen Territorien zu erobern, stürzte Verdi

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sogleich in Verzweiflung. Auf ausländische Hilfe war kein Verlass. Seine wechselhaften Reaktionen waren typisch für die bürgerlichen Liberalen Italiens. Er bewahrte sich eine tiefe Sympathie für Frankreich als Hort der – politischen wie auch vor allem religiösen – «Freiheit» und der «Zivilisation». Während des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 meinte er, Italien solle die 1859 eingegangene Dankesschuld abtragen und den Franzosen Truppen zu Hilfe schicken. Doch er empfand Frankreich als Feind, wenn das Land gegen die angeblichen Interessen Italiens handelte wie 1881, als es Italien im Wettlauf um das Protektorat über Tunesien schlug (C, S. 604, 608 f.). Bestärkt wurde Verdi in seiner bürgerlich-liberalen Einstellung durch die Begegnung mit Graf Camillo Benso di Cavour. Im September 1859 hatte der piemontesische Staatsmann den größten Teil Norditaliens geeint, und zwar durch eine ungewöhnliche politische Tat: eine politische Revolution sozial-konservativer Prägung, doch er hatte sich mit Napoleons Waffenstillstand abgefunden. In dieser wirren Zeit waren Parma und die benachbarten Gebiete noch nicht offiziell von Piemont annektiert. Als Mitglied der Delegation, die um solch eine Annexion bitten sollte, traf Verdi Cavour in dessen Landhaus. Der «Prometheus unserer Nation» beeindruckte ihn tief (C, S. 582; dt.: Briefe, S. 147). Von nun an war der von Cavour vertretene Liberalismus Verdis Bibel: entschiedenes Eintreten für parlamentarische Freiheit und wirtschaftliche Verbesserungen, aber bei eng beschränktem Wahlrecht und strenger, autoritärer Ausrichtung. 1861 überredete Cavour, inzwischen wieder im Amt, den widerstrebenden Verdi, für das Abgeordnetenhaus zu kandidieren, das nun auch rechtlich ein geeintes Königreich Italien proklamieren sollte, nachdem das Land – bis auf Venedig und Rom – bereits faktisch geeint war. Verdis Ansehen, so meinte Cavour, könne dazu beitragen, «extravaganten Ansichten, abenteuerlichen Ideen und dem Revolutionsgerede» entgegenzutreten und «allzu phantasievolle» Abge-

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ordnete aus dem gerade erst annektierten Süden im Zaum zu halten (C, S. 588 f.). Dahinter stand der unausgesprochene Gedanke, dass Verdi, ehemals Demokrat und immer noch antiklerikal eingestellt, mithelfen konnte, den Einfluss Garibaldis, eines antiklerikalen Demokraten, der damals auf dem Höhepunkt seines Ruhmes als Befreier Süditaliens stand, einzudämmen. 1860, nach Garibaldis gewagtem Feldzug mit seinen tausend Freiwilligen, wäre Verdi auf Knien zu ihm gepilgert. 1862 unterstützte er Garibaldis erfolglosen Versuch, Rom einzunehmen – etwas, das in Verdis Augen der König selbst hätte unternehmen sollen: «O Rom, Rom! Wann wird der Tag kommen? Der Traum von zwanzig Jahren.»1 Um 1864 jedoch hatten sich die Gefühle der Verdis für Garibaldi wie auch für dessen demokratischen Mitstreiter Mazzini abgekühlt. Die ständige Agitation hatte sie abgeschreckt. Nun war wieder Besonnenheit geboten. Kurz nachdem Cavour Verdi 1861 zu einer Kandidatur überredet hatte, starb er – zum größten Leidwesen des Komponisten. Verdi fühlte sich verpflichtet, sich wählen zu lassen, nahm an der entscheidenden Abstimmung über das Königreich Italien teil (mit Rom als hypothetischer Hauptstadt), hielt sich dann aber in den folgenden beiden Jahren hauptsächlich im Ausland und danach nur mit Unterbrechungen in der provisorischen Hauptstadt Turin auf. Nach eigenen Angaben versuchte er mehrfach, sich von einem Amt zurückzuziehen, das er «ganz gegen meinen Geschmack, ohne jegliche Eignung, ohne Talent» bekleide (A, Bd. 2, S. 619; dt.: Briefe, S. 175). Und bei der nächsten Wahl ließ er sich nicht wieder aufstellen. Seine Jahre als Abgeordneter hatten seine Stellung nur gefestigt. Er genoss nun großes Ansehen im Inland wie im Ausland, was immer auch Kritiker gegen seine Musik sagen mochten. Damit stellten sich allerdings auch die Nachteile solch eines Erfolgs in einem Europa ein, das sich in Richtung der heute bekannten Massengesellschaft entwickelte. Diese Nachteile nahmen zu, bis

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1880 Verdis Postbote innerhalb von zwei Monaten vierzig Bitten um Autogramme, Geld oder Gelegenheitskompositionen wie etwa Hymnen ins Haus brachte. Schon 1862 hatte Verdi sich während eines Aufenthalts in London gewundert, dass unbekannte Menschen ihm schrieben und um Autogramme baten, wobei manche einen adressierten Rückumschlag beilegten. Verdi entwickelte eine kräftige Abneigung sowohl gegen zeitraubende Anfragen als auch gegen unbeholfen angebotene Ehrungen. Ein Teil davon war der «Bärenhaftigkeit» geschuldet, die er gerne von sich behauptete, ein Teil aber auch dem Sinn für seinen eigenen Wert. So quittierte er 1864 die Bitte, sich an einem musikalischen Ausschuss unter Leitung Pacinis, der nicht mehr auf der Höhe der Zeit war, zu beteiligen, mit der Bemerkung: «mit meinem respektablen Ich als Türsteher vielleicht» (A, Bd. 2, S. 798). Dennoch stand sein Leben nun im Brennpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit; so geriet es beispielsweise in die Spalten der Klatschpresse. Im Ausland bestand seine Haupttätigkeit 1861/62 in Bemühungen, die französische grand opéra mit anderen Mittel fortzuführen. Nach drei «populären» Werken und dem Ballo brauchte Verdi sich nicht mehr als Komponist italienischer Opern zu beweisen, aber immer noch fehlte ihm ein durchschlagender Erfolg in Paris. Trotz aller Klagen über die «grande boutique» war dies doch eindeutig die größte Herausforderung für ihn. Die Opéra war zu dieser Zeit vor allem mit aufwendigen Vorbereitungen für Meyerbeers L’Africaine beschäftigt (die endlich 1865 ihre Uraufführung erlebte). Verdi wusste, dass für ihn kein Platz war. Als die kaiserlich-russische Oper in St. Petersburg ihm die Möglichkeit einer aufwendigen Produktion mit erstklassigen Sängern und Sängerinnen anbot, und das für ein Rekordhonorar von 60 000 Francs, ergriff er die Gelegenheit. Er schrieb ein episches Werk nach Pariser Vorbild, mit ehrgeizigen Massenszenen und Anklängen an französische Komik und die grand opéra, aber zu einem

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italienischen Text des getreuen Piave, dessen letztes Verdi-Libretto dies sein sollte. Wie Shakespeares Macbeth im englischen Theater, so gilt La forza del destino in Italien als die glücklose Oper. Den «Fluch», der darauf lag, erlebte Verdi, als die Primadonna erkrankte und die gesamte Produktion von Januar auf November 1862 verschoben werden musste. Für ihn und Strepponi bedeutete das zwei Winterreisen nach Russland. Bei der Rückkehr von der ersten wären sie in einem ungeheizten Zugabteil auf der knapp 200 Kilometer langen Strecke durch Litauen beinahe erfroren (ihr Weinvorrat war tatsächlich durchgefroren). Bei einer zweiten Inszenierung in Madrid war er schon nicht mehr zufrieden mit einem Drama, das er ursprünglich einmal «kraftvoll, einzigartig und gewaltig» genannt hatte (A, Bd. 2, S. 634). Er selbst hatte Worte, Metrum und ganze Szenen diktiert, doch – wie bei Boccanegra – hatte er sich auf ein wildes spanisches Theaterstück gestützt, das durch Zeit und Raum hastet und mit einer Vielzahl gewaltsamer Todesfälle endet. Auch spielte er weiterhin mit Veränderungen, ordnete die Schlacht- und Duellszenen neu, fügte neues Material hinzu, ließ die Tragödie in einer Stimmung entsagungsvollchristlicher Resignation enden und brachte die Oper schließlich in Mailand erneut auf die Bühne, wobei er Frieden mit der Scala schloss, da Merelli dort nicht mehr das Sagen hatte. La forza del destino geriet Ende des Jahrhunderts aus dem Blickfeld. Wie Boccanegra stößt die Oper heute wieder auf Interesse, doch sie bleibt ein problematisches Werk. Das Problem liegt nicht in der lockeren epischen Gestaltung, die dem modernen Geschmack durchaus entgegenkommt, sondern in der Tatsache, dass der Blick auf Paris fixiert ist. Verdi hielt die «gewaltigen Tableaus» für das «wirkliche Musikdrama» (C, S. 619), doch die Zigeunerin Preziosilla, die Soldaten, Bauern und Maultiertreiber geraten mit ihren Chören und Tänzen allzu oft an den Rand des für das Second Empire typischen Firlefanz,

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und dies nirgendwo so stark wie bei dem Rataplan-Chor, bei dem die versammelten Kräfte eine Trommler-und-Pfeifer-Kapelle imitieren. Die besten «Tableaus» der Forza finden sich gewissermaßen in Mussorgskis Boris Godunow, einem Werk, das stark davon beeinflusst wurde. Das Herz der Verdi-Oper schlägt in Leonoras Arie «Madre, pietosa vergine» und in den Duetten, vor allem denen zwischen ihr und dem Abt des Klosters, in das sie flüchtet, und zwischen den beiden männlichen Hauptfiguren, die sich einander ewige Rache geschworen haben. Hochherzige, vom Schicksal bedrängte Seelen bekommen bei Verdi «jenen Heiligenschein trauernder Größe, mit dem er Verlierer, Ausgestoßene und Besiegte umgibt».2 Das erreicht er durch Melodien edelsten Zuschnitts, vor allem auf dem Höhepunkt der Arie Leonoras (die schon in der Ouvertüre zu hören war, wo das dahinstürmende «Schicksalsthema» sie ebenso wie die Heldin im ganzen Stück verfolgt): Ein immer höher emporsteigender Bogen (er überspannt eine ganze None) erinnert an die von der früheren Leonora im Trovatore beschriebenen Melodiebogen, nun jedoch von der Erfahrung gehärtet. Solche Muster tragen einiges zur Einheit des Werkes bei und prägen dessen tinta, doch es bleibt eine Oper der großen Augenblicke. Die italienische Opernwelt, in die La forza del destino nach St. Petersburg und Madrid entlassen wurde, konnte sich keine Verdi-Uraufführungen mehr leisten. Seine drei Opern von 1862 bis 1871 erlebten ihre Uraufführungen sämtlich im Ausland. Nicht nur weil Verdi die Preise in die Höhe getrieben hatte, sondern auch weil das Genre insgesamt in eine künstlerische Krise geraten war. Seit etwa 1845 hatte die Repertoire-Oper zunehmend an Bedeutung gewonnen, und mit ihr war auch die Zahl der Theater gewachsen, die ein kleinbürgerliches Publikum von Geschäftsleuten und Handwerkern bedienten. Selbst subventionierte Theater brachten weniger neue Werke heraus. Verdis Er-

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folge in den 1850 er Jahren hatten die Erfolglosigkeit anderer Komponisten verdeckt. Um 1860 trat eine Gruppe junger Dichter und Musiker an die Öffentlichkeit, die sich die «Zerzausten» (scapigliati) nannten und sich um eine Erneuerung der Kunst bemühten. Wie sooft bei solchen Bewegungen ging es auch hier zu einem Gutteil um einen Generationenkonflikt und um wechselseitiges Anpreisen, doch die scapigliati brachten ästhetisierende französische Einflüsse (Baudelaire und Gautier) nach Italien und übertrafen selbst noch Hugo in ihrer Suche nach dem Gewalttätigen und Grotesken. In der Musik schlossen sie sich einer breiteren Gruppe an, die die deutsche Instrumentalmusik für sich entdeckte und in den 1860 er Jahren zu deren Aufführung «Quartettvereine» gründete (Kammermusikvereinigungen, die sich allerdings nicht unbedingt auf Kammermusik beschränkten). Sie bewunderten Meyerbeer. «Musik der Zukunft» war noch ein Slogan, der locker mit Wagner verknüpft war (keines seiner Werke sollte vor 1871 in Italien zu hören sein), doch was dies auch immer sein mochte – sie wollten es schaffen. Solch einer Gruppe stand ein etablierter Künstler von Verdis Statur wie ein Löwe im Weg – der sich jedoch auch als wohlmeinend und förderlich erweisen konnte. Die Beziehungen waren zunächst vorsichtig herzlich. Der zwanzigjährige Arrigo Boito schrieb den Text einer «Hymne der Nationen», die Verdi ausnahmsweise vertonte – eine Gelegenheitsarbeit für eine Londoner Ausstellung, die beiden Männern nicht sonderlich viel bedeutete. Der dreiundzwanzigjährige Franco Faccio hoffte, Verdi werde seine erste Oper für gut befinden. Leider äußerte er diese Hoffnung Ende 1863, als Boito ein Gedicht rezitierte, das die «junge italienische Kunst» aufforderte, sich vom «Alten und Schwachsinnigen» zu lösen. Faccio, so deutete Boito an, werde «die bescheidene, reine Kunst auf jenen Altar heben, der nun besudelt wie die Wand eines Bordells» sei (A, Bd. 2, S. 762). Wer

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hatte den Altar der italienischen Musik besudelt, wenn nicht ihr führender Komponist der Zeit? Verdi war verständlicherweise verletzt und blieb dies auch. Noch sechzehn Jahre später, als er und Faccio nicht nur miteinander versöhnt waren, sondern auch eng zusammenarbeiteten, erinnerte er in einem Brief an den «besudelten Altar».3 1865 hatte er an den gleichgesinnten Piave (mit einer Anspielung auf einen windigen Artikel, in dem Boito die «sphärische» Kunst pries) geschrieben: Diese sogenannten Apostel der Zukunft haben etwas Großes und Sublimes begonnen … Es war notwendig, den vom Schwein Vergangenheit besudelten Altar zu reinigen. Wir brauchen eine reine, jungfräuliche, heilige, sphärische Kunst!! Ich schaue empor und warte auf den Stern, der mir zeigt, wo der Messias geboren worden ist, damit ich wie die Weisen aus dem Morgenland hingehen und ihn anbeten kann. Hosanne in excelsis etc. (A, Bd. 2, S. 825)

Er wandte sich gegen «klassische» Musik und jene Mitglieder der Quartettvereine, die sie angeblich schätzten. Das meiste davon sei einfach nur «todlangweilig» (A, Bd. 2, S. 778, 800). Er veranlasste seinen Verleger Ricordi sogar, die Zeitschrift des Quartettvereins nicht länger zu fördern. Als sich später das Interesse der Italiener an symphonischer Musik verstärkte, schwoll dieses Grummeln von 1864 zu einer Litanei von Klagen an. In Verdis Augen brachte eine böswillig antinationale Mode die Musik des Landes vom rechten Wege ab. Da zählte auch nicht, dass er selbst szenische Effekte bei Meyerbeer borgte und Instrumentaleffekte bei diversen ausländischen Komponisten; dass der Mann, der 1879 schreiben sollte: «Instrumentalmusik ist nicht unsere Musik», alle seine reifen Opern in eine kunstvolle, oft erlesene Orchestermusik einhüllte, wie man sie in der traditionellen italienischen Oper noch niemals gehört hatte; oder dass er, während er die Quartettvereine brandmarkte,

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1873 in ein paar Mußestunden selbst ein köstliches Streichquartett komponierte. Zwar bezeichnete er die Arbeit als bloße Zerstreuung – wobei er drei Jahre benötigte, um sie zu veröffentlichen, und sich dabei nicht an die akademische Sonatenform hielt –, doch dieses äußerst individuelle Stück zeigte eine weitaus tiefere und meisterliche Beherrschung von Harmonie und Kontrapunkt als frühere italienische Quartette, wie Donizetti sie für Freunde und deren privates Spiel geschrieben hatte. Verdi, so können wir daraus schließen, war aufrichtig der Ansicht, dass ausländische Vorbilder eine Gefahr für italienische Komponisten darstellten – ihn ausgenommen. Bewusst oder unbewusst verhielt er sich so, als besäße nur er die Kraft, sie in einen unverkennbar italienischen Stil zu integrieren. Die immer konservativeren Einstellungen, die Verdi in allem außer seiner eigenen Arbeit vertrat, hatten ihren Grund zum Teil in seiner neuen Stellung als wohlhabender Gutsbesitzer. In den 1850 er und 1860 er Jahren renovierte und erweiterte er das Haus in Sant’Agata. Selbst wenn er sich in Paris oder anderswo aufhielt oder den Winter in Genua verbrachte, versuchte er, die Verwaltung des Hauses, des Gartens und des Guts auf brieflichem Wege zu lenken. «Ich möchte Herr in meinem eigenen Hause sein», schrieb er 1867 an seinen Verwalter. Der Garten musste abgeschlossen sein, und die Hausangestellten durften das Anwesen nicht verlassen, sonst riskierten sie ihre Kündigung – mit Ausnahme des Kutschers, der alle zwei Tage die Pferde bewegen musste, aber gleichfalls unter Beobachtung gehalten werden sollte. In späteren Jahren mussten Hausangestellte, die abends ausgingen, bis 22 Uhr zurück sein. Auch mit dem Verwalter von 1867 war Verdi nicht zufrieden. «Sie werden wohl niemals lernen, entweder zu befehlen oder zu gehorchen!!» (C, S. 547 – 551). Wenig später nahm er einen ehemaligen Impresario, Mauro Corticelli, als Faktotum in Sant’Agata auf. Auch ihm gab er den Rat: «Lassen Sie

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nicht zu, dass ein anderer sich zum Herrn aufschwingt. Vertrauen Sie niemandem!» Zugleich aber sagte er ihm, er solle sich nicht in die Arbeit des Verwalters einmischen. «Ich bin absolut entschlossen, dafür zu sorgen, dass jeder an seinem Platz bleibt und alles gut läuft.»4 Der geborene Autokrat Verdi verlangte, dass jeder, der ihn vertrat, von anderen uneingeschränkten Gehorsam fordern sollte, ihm selbst aber zugleich uneingeschränkten Gehorsam schuldete – eine Forderung, die sich außerhalb preußischer Regimenter nur schwer realisieren ließ. Gewiss, ein Gutsbesitzer wie Verdi, dessen Gut sich noch im Aufbau befand, sah sich mit zahlreichen Mühen konfrontiert. Als er sich 1862/63 im Ausland aufhielt, beging sein Verwalter Unterschlagungen und die eingeleiteten Baumaßnahmen kamen zum Stillstand. Nach einem Vierteljahrhundert Erfahrung schrieb Verdi, die Ernte sei schlecht, weil «die Bauern immer störrisch» seien. Das bleibe auch so, bis man einen Weg fände, ihnen «ein wenig Schulbildung» zu geben und ihre Lage zu verbessern (C, S. 551 f.). Dennoch scheint er nie daran gedacht zu haben, ihnen eine Schule zu bauen. Allerdings errichtete er ihnen ein kleines Krankenhaus – reichlich spät, in den 1880 er Jahren, nachdem er mitansehen musste, wie ein Mann, der sich ein Bein gebrochen hatte, auf einem Ochsenkarren in das gut dreißig Kilometer entfernte Piacenza gefahren werden musste und bei jedem Schlag auf der holprigen Straße aufschrie. Die Einzigen, die als Lehrer hätten fungieren können, dürften damals Geistliche gewesen sein. Es war eine Sache, Nonnen als Krankenschwestern zu beschäftigen – Verdi kritisierte sie, weil sie zu viel Zeit in der Kirche verbrachten, lobte sie aber, weil sie Autorität gegenüber den Patienten besaßen. Eine ganz andere Sache war es, einen Geistlichen als Lehrer einzustellen, zumal die Kirche sich noch nicht mit dem neuen italienischen Staat versöhnt hatte und die Priester auf dem Lande nur «die Bauern aufwiegelten» (CV, Bd. 3, S. 30). Auch hier war wohl die Last des Analphabetentums und der überkommenen Sitten allzu schwer.

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Angesichts dieser Situation reagierte Verdi mit strenger Überwachung und forderte Disziplin ein. Wenn er in Sant’Agata war, befragte er den Verwalter und die Pächter zweimal wöchentlich im Dialekt der Region und machte sich Notizen. Er besuchte Viehmärkte in den Städten der Umgebung und betastete die Tiere, um ihre Qualität zu prüfen. War er abwesend, prüfte er wenigstens die Rechnungen genauestens. Weshalb fehlten einige Pfähle an einem Zaun, den ein Pächter errichtet hatte? Der Verwalter musste ihm berichten, welche Kühe oder Stuten trächtig waren, wann die Jungtiere geboren wurden und welche Preise sie auf dem Markt erzielten. Die Pferde mussten mit gutseigenem Heu gefüttert werden, ihr Dung war vollständig als Dünger zu verwenden. In den ersten Jahren stellte er keine verheirateten Dienstleute ein. «Damit macht man sich zwei Feinde, die gegen ihren Herrn zusammenhalten.» 1881 entließ er einen Vater und dessen Sohn wegen Unbotmäßigkeit, und als sein Anwalt und Freund Angiolo Carrara, dessen Sohn die Adoptivtochter der Verdis geheiratet hatte, sich für die beiden einsetzte, schrieb er: «In einem Landstrich wie dem unsrigen gilt, je mehr man für die Menschen tut, desto weniger wird es einem gedankt. Und ich, der ich als ein von allen geachteter Bürger in jeder Hauptstadt leben könnte, verschwende mein Vermögen und meine Zeit in einer der hässlichsten Gegenden Italiens, unter Menschen, die weder Dankbarkeit noch Respekt zeigen.» Er drohte, Sant’Agata für immer zu verlassen. Als Gutsbesitzer war Verdi der Typus des zum Herrn aufgestiegenen Bauern, der sich bestens für einen Roman von Balzac geeignet hätte. Er war nicht der Einzige. Im späten 19. Jahrhundert übernahmen viele Männer plebejischer Herkunft Land und Güter in der südlichen Poebene. Als Verdi sein Gut schließlich durch wiederholte Zukäufe – die größten 1870 und 1875 – arrondiert hatte, besaß er (1891) gut 650 Hektar, ein gutes Stück des Landes zwischen Parma und Piacenza. Auf Teilen davon baute oder reno-

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Verdis Haus in Sant’Agata in einem früheren Stadium des Ausbaus. Der ursprüngliche Bau ist bereits erweitert worden, doch die Bäume hatten noch keine Zeit, sich zu ihrer vollen Höhe zu entwickeln. Zeitgenössischer Stich

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vierte er Pächterhäuser. In den Verträgen verlangte er von seinen Pächtern eine Mischwirtschaft (Getreideanbau und Viehhaltung) sowie einen modernen Fruchtwechsel, zu dem ab 1875 auch der Anbau von Klee und mancherlei Leguminosen gehörte, außerdem die Produktion von Käse, die Wartung der Wege, Gräben und Bauten sowie den Abschluss von Versicherungen, wobei die Kosten allein von den Pächtern zu tragen waren. Zur Bewässerung des Landes erwarb er 1867 in London eine Dampfmaschine, die 265 Pfund Sterling kostete und fünfeinhalb Tonnen wog. Um die Kontrolle über den Fluss zu erlangen, kaufte er weiteres Land und sorgte für eine bessere Befestigung des Po-Ufers. Er las landwirtschaftliche Lehrbücher, interessierte sich für Tondüngung und machte bescheidene Anfänge mit dem Einsatz der neuen Kunstdünger. Leider kaufte er große Teile seines Landes, kurz bevor die Landwirtschaft in eine lang anhaltende Krise geriet. Seine Pachteinnahmen, die 1867 etwa 22 800 Francs betrugen, dürften auch ein Vierteljahrhundert später kaum höher ausgefallen sein, als er deutlich mehr Land hinzugekauft hatte und einige Pächter sich im Zahlungsrückstand befanden. Auf dem Höhepunkt der Krise Anfang der 1890 er Jahre senkte er den Pachtzins, bestand aber weiter darauf, dass die gesenkte Pacht (samt der Rückstände) gezahlt wurde. Das Problem lag in der Einfuhr billiger Nahrungsmittel aus Nord- und Südamerika, Asien und Australien sowie in einem Handelskrieg mit Frankreich. Die Krise begann 1873 und erreichte ihren Höhepunkt von 1879 bis 1893. Aber schon in den späten 1860 er Jahren hatte die Mehlsteuer, mit der der neue Staat seine rasch wachsende Schuldenlast auf die Armen verlagerte, dafür gesorgt, dass die landlosen Bauern «sich zu Tode hungerten», wie Verdi sehr genau wusste. 1878 schrieb er seinem ehemaligen Parlamentskollegen und Freund Giuseppe Piroli, die Regierung antworte auf den Ruf des Volkes nach Arbeit und Brot

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mit «Soldaten und Handschellen». Wenn das so weitergehe, würden Arbeiter und Bauern dereinst «die Welt auf den Kopf stellen». Das bedeutete nicht, dass er mit den Landarbeitern sympathisiert hätte, die 1882 in ein benachbartes Dorf eindrangen und ein Verbot von Dreschmaschinen sowie einen Anteil an der Ernte forderten. Er wollte, dass die Regierung etwas gegen die «Agitatoren» unternahm, obwohl er selbst vor ihnen sicher war, und wieder drohte er wegzugehen, falls sie auf seine Höfe kämen (CV, Bd. 3, S. 50, 134, 139, 155 f.). Wie auch in außenpolitischen Fragen reagierte Verdi auf jedes neue Ereignis in der Regel mit den schlimmsten Befürchtungen. Weder die Industrialisierung (die in den 1880 er Jahren in Italien gerade erst begann) noch die Auswanderung (die während seiner ganzen Zeit in Sant’Agata voll im Gang war) werde Italien helfen. Er schätzte die Ehrenhaftigkeit und «Festigkeit» eines Cavour und seiner direkten Nachfolger unter den Rechtsliberalen – die die Mehlsteuer eingeführt hatten. Gegenüber Bekannten äußerte Verdi gelegentlich, in Sant’Agata sei er «Bauer, Maurer, Zimmermann, Gepäckträger», «Architekt, Baumeister, Schmied», jemand, der «den ganzen Tag vom Haus aufs Feld und vom Feld ins Haus» laufe. Bei anderer Gelegenheit beschrieb er eine weniger hektische Routine: gegen fünf Uhr aus dem Bett, um Wachteln zu schießen; nach dem Frühstück Beaufsichtigung der Bauarbeiten; dann ein kurzes Nickerchen, gefolgt von Haushaltsangelegenheiten und Briefeschreiben; danach Abendessen und ein Spaziergang, bis es dunkel war; etwas Unterhaltung beim Kartenspiel und anschließend ins Bett (VI, S. 259; 5 C, S. 546 f.). Seine tägliche Runde variierte sicher je nach Intensität der in Auftrag gegebenen Arbeiten. Es ist unwahrscheinlich, dass er selbst viel körperliche Arbeit leistete – nicht in Zeiten eines Überflusses an billigen Arbeitskräften. Allein im Garten beschäftigte er sechzehn Männer und zwei Frauen, bis zu sechs davon ganztägig. In der Küche, die ausgezeichnete Mahlzeiten

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lieferte, kochte er gelegentlich ein gutes Risotto. Insgesamt verbrachte er nur die Hälfte des Jahres in Sant’Agata. Sein Selbstverständnis als Gutsbesitzer zeigt sich in dem Haus, das er und Strepponi renovierten und ausbauten, und in dem Garten, den sie anlegten – beides heute noch ohne größere Veränderungen erhalten. Trotz des Ausbaus erhebt das Haus keine aristokratischen Ansprüche. Die Zimmer sind von mittlerer Größe und Höhe und lassen sich im Winter gut heizen. Die Möbel sind solide und in der italienischen Version des damals üblichen mittelviktorianischen Stils gefertigt. Die Bilder an den Wänden haben kaum repräsentativen Charakter und sind nur von persönlichem Interesse. Im Garten, der gleichfalls von mittlerer Größe für ein Gutshaus war, fügte er den wenigen, schon 1848 dort stehenden Eichen ein paar weitere Bäume und einen Teich hinzu. Magnolien, Weiden, Zedern und weitere Eichen schaffen eine Oase inmitten der Ebene, auch wenn die Verdis die neuen Bäume in voller Größe erst in ihrem Alter genießen konnten. Es ist das Haus eines Gutsbesitzers, allerdings mit weit mehr Büchern und Musik, als man in diesen Kreisen normalerweise sammelte. Der Gutsbesitzer und seine Frau lebten weitgehend allein. Dieses Muster war von 1849 bis 1851 zur Zeit der «Ächtung» Strepponis in Busseto entstanden, was sie niemals verzieh. «Wenn ich mir vorstelle, dass deine luftige Seele in den Körper eines Bussetano geraten musste …», sagte sie ihm 1853. Auch ihre Heirat 1859 änderte nichts daran. «Eine einzige Familie in unserer Nähe würde ausreichen, um die Monotonie des Daseins aufzubrechen», schrieb sie 1861. Damit meinte sie allerdings andere Familien als ihre tatsächlichen Nachbarn, die sie vier Jahre später als «Kretins» bezeichnete (Walker V, S. 213, 246, 251). Die Spannungen mit Verdis älteren Verwandten ließen indessen um 1860 nach. Ab 1861 wohnte sein kränkelnder Vater in Verdis Stadthaus in Busseto. Carlo Verdi teilte das Haus mit seiner betagten Schwester und zwei Hausangestellten. Auch seine

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kleine Großnichte Filomena Maria Verdi lebte dort, obwohl ihre Eltern in Carlos altem Haus in Roncole wohnten – ein Arrangement, das zu dieser Zeit keineswegs ungewöhnlich war. Zu seinem anderen «Vater» Antonio Barezzi und dessen zweiter Ehefrau unterhielt Verdi gute Beziehungen. Beide Vaterfiguren starben 1867. Die Verdis trauerten, wie wir gesehen haben, um beide, wenn auch wohl intensiver um Barezzi. Sie beschlossen außerdem, der damals siebenjährigen Filomena Maria zu helfen, die sie ein Jahr später adoptierten. Maria (wie die Verdis sie nannten) verbrachte die folgenden Jahre größtenteils in einem Internat. Danach lebte sie als Tochter mit ihnen zusammen in Sant’Agata und wurde 1878 verheiratet. Für Verdi bedeutete diese Heirat eine engere Verbindung zur Familie des Bräutigams, den Carraras. Außerdem sorgte sie für einen Erben. Zum übrigen Busseto verschlechterte sich das Verhältnis noch weiter. Ursache war der unvermeidliche Klatsch in einer Kleinstadt, in deren Nähe ein großer Mann lebte. Verdi sah darin eine Fortsetzung der früheren Anfeindungen gegen Strepponi. 1871 warf er seinen Mitbürgern vor, sie hätten in den letzten zwanzig Jahren «üble Verleumdungen» in die Welt gesetzt oder geduldet (C, S. 246 f.). Dass sie seinem Schüler Muzio die Stelle des Musiklehrers verweigert hatten, nagte an ihm. Die klerikale Partei war – wie beide Verdis wussten – immer noch an der Macht. Und der Bau eines Theaters in Busseto sorgte für weitere Missstimmung. In Verdis Augen stellte das Theater eine unsinnige Extravaganz dar. Doch eine Gruppe im Stadtrat wollte von dem berühmten Sohn ihrer Stadt profitieren, indem sie das Theater nach ihm benannte. Sie erinnerte daran, dass er sich schon sehr früh in seiner Laufbahn privat darangemacht hatte, eine Eröffnungsoper zu schreiben. Aus ihrer kleinstädtischen Perspektive vermochten sie nicht zu sehen, dass Verdi ihnen längst entwachsen war. Wenn es so weit war, werde er gewiss liefern, dachten sie. Auf öffentliche

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Erklärungen dieser Art reagierte Verdi mit scharfen Zurechtweisungen, erstmals 1845 und dann nochmals 1865, als das Theater kurz vor der Fertigstellung stand. Er war wütend, dass man ihn zu etwas zu zwingen versuchte, zumal er gehört hatte, dass einige in der Stadt das Stipendium ins Spiel brachten, das die Stadt ihm einst gewährt hatte, insgesamt 1200 Francs innerhalb von vier Jahren, als wollten sie sagen: «Wir haben ihn gemacht.» Er bot an, das Geld zurückzuzahlen. Und was die moralische Verpflichtung anging, meinte er: «Ich halte den Kopf hoch und sage voller Stolz: ‹Meine Herren, ich habe Ihren Namen ehrenvoll bis an die Enden der Welt getragen. Das ist gut und gerne 1200 Francs wert›» (C, S. 14 f., 433 – 437). Nach langem Hin und Her lenkten er und der Stadtrat ein. Statt einer Oper steuerte Verdi 10 000 Francs bei. Aber eine Zeit lang schnitt er seinen Schwager Giovanni Barezzi, weil der sich in der Öffentlichkeit «lauthals» gegen ihn gestellt habe. Nach dieser Affäre, so schrieb Verdi zehn Jahre später, sei er in seiner Heimatstadt «fast schon ein Paria» gewesen (VI, S. 183). Auch Gäste gab es in Sant’Agata nur selten. Manche kamen aus der Opernwelt: Piave und ein oder zwei andere aus Venedig, später dann Mitglieder der Ricordi-Familie aus Mailand. Das Faktotum Corticelli wurde wohl zum Teil als ein Spaßmacher aufgenommen, der Klatsch aus der Theaterwelt beisteuerte und zugleich gebildeter war als die meisten Theaterleute (so konnte er etwa Briefe in französischer Sprache schreiben). Verdi hatte jedoch Recht, wenn er ihn einen Wirrkopf nannte. Und schlimmer noch, 1879 unterschlug Corticelli die Ersparnisse zweier Dienstmädchen und musste entlassen werden. Daraufhin versuchte er erfolglos, sich im Mailänder Kanal zu ertränken. Eine Weile unterstützte Verdi ihn mit 100 Francs im Monat. So kann es letztlich nicht überraschen, dass es sich bei dem Grab in Sant’Agata, auf dem Verdi den Grabspruch «Zur Erinnerung an einen meiner treuesten Freunde» anbringen ließ, um das des ge-

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liebten Pudels Loulou handelt, der 1862 starb, nachdem er wenige Jahre bei den Verdis verbracht hatte. Eine Dogge namens Black lebte etwas länger. Weitere reizbare Hunde folgten. Ein Gast aus der Opernwelt, der seit den späten 1850 er Jahren nach Sant’Agata kam, der Dirigent Angelo Mariani, und die Sopranistin Teresa Stolz, die 1871 dort ihren ersten Besuch machte, standen im Mittelpunkt der deprimierendsten Episode in Verdis Leben. Mariani war eine bekannte Gestalt in der italienischen Oper, ein Orchesterleiter, der zum ersten Dirigenten modernen Typs wurde und zu seiner Zeit der beste war. Er war acht Jahre jünger als Verdi, also gerade erst über dreißig, als er 1852 als Dirigent des Genueser Orchesters bewies, dass ein Italiener den Anforderungen der Meyerbeer’schen Pariser Opern gerecht werden konnte, die damals als ultimativer Maßstab galten. Er und Verdi begegneten einander gelegentlich ab 1846, und sie wurden enge Freunde, als sie 1857 gemeinsam an der Uraufführung des Aroldo arbeiteten. Mariani kam oft nach Sant’Agata, wo er stets willkommen war. Er schrieb zahlreiche langatmige Briefe. Er übernahm Aufträge von Verdi und Strepponi – Gewehre für Freiwillige im Krieg von 1859 zu beschaffen, ein Jagdgewehr umzutauschen, Autogramme berühmter Persönlichkeiten für Verdis wachsende Sammlung zu besorgen, eine Statue oder zehn jeweils anderthalb Meter hohe Magnolienbäume zu bestellen und die undankbare Aufgabe, deren Transport per Eisenbahn sicherzustellen. Er wurde Verdis bereitwilliger Sklave.6 Unglücklicherweise war Mariani – wie Frank Walkers Darstellung der Beziehung zeigt – ein hochgradiger Neurotiker mit einem Hang zum Masochismus. Er katzbuckelte vor Verdi, reagierte auf leichten Tadel mit einer ganzen Serie von Mea-culpas und wandte sich viermal innerhalb von neun Tagen an den Mann, den er «verehrte» und «bewunderte», um sich für mögliche Mängel der Genueser Inszenierung des Ballo zu entschuldi-

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gen – die sich dann als großer Erfolg erwies. Zugleich war er ein fürchterlicher Zauderer, der Entscheidungen hinausschob und seine Freunde in seine Unentschlossenheit hineinzog. Anlass zu solchem Zaudern boten wiederholt gute Angebote, die man ihm machte. Er brachte es weder fertig, sie abzulehnen (weil seine Genueser Anstellung ihm ein regelmäßiges Einkommen sicherte) noch Genua zu verlassen und sich als freier Künstler durchzuschlagen. Als er 1863 versucht war, ein Angebot der Italienischen Oper in Paris anzunehmen, gab Verdi ihm ausgezeichnete praktische Ratschläge, doch Mariani zögerte so lange, bis das Angebot erloschen war. Jener war ein gutaussehender Mann, zudem eitel, unaufrichtig und sexuell unstet. Einen guten Vergleich bietet hier Verdis lebenslanger Schüler Emanuele Muzio. Auch er war absolut loyal, doch seine Briefe an Dritte lassen erkennen, dass er im Rahmen dieser Schülerschaft offen und ehrlich mit seinem Meister umging – sein Ja war ein Ja und sein Nein ein Nein. Muzio selbst besaß einen nüchternen Blick auf Verdis Empfindlichkeit. «Vergessen Sie nie», schrieb er an Tito Ricordi, «dass Genies sich selbst quälen und mehr noch die Menschen, mit denen sie zu tun haben» (A, Bd. 2, S. 346). Wie sehr Verdi Muzio quälte, wissen wir nicht. Wahrscheinlich weniger als Mariani, dessen Neurose offenbar nicht nur zu Verdis tyrannischer, sondern auch zu Strepponis boshafter Ader passte. Anfangs nannte Verdi ihn nur einen «Wirrkopf» und behandelte ihn wie einen unmündigen Jungen. Strepponi lachte über «diesen großen Schwätzer, der selbst auch immer Anlass für Geschwätz war». Eine engere Beziehung zwischen den dreien entwickelte sich 1866. Mariani unternahm große Anstrengungen, um für die Verdis zwei Stockwerke des Palazzo Sauli-Pallavicino in Genua anzumieten (der der Marchesa Pallavicino gehörte, mit deren Tochter Mariani möglicherweise eine Affäre hatte), damit seine Freunde in einer großen Wohnung mit Blick auf das Meer überwintern konn-

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ten. Er selbst übernahm einen Teil des Dachgeschosses als Verdis Untermieter. Nun konnte er sein Idol auch von oben anbeten. Im März 1867 fuhren Mariani und die junge Schauspielerin und Sopranistin Teresa Stolz gemeinsam nach Paris, um sich die Uraufführung von Verdis Don Carlos anzusehen. Die damals dreiunddreißigjährige Stolz hatte ihre Ausbildung in Prag, der Hauptstadt ihrer böhmischen Heimat, erhalten und nach einigen Erfahrungen an Theatern rund um das Schwarze Meer eine erfolgreiche Karriere in Italien begonnen. Fotografien zeigen eine attraktive Blondine, ihre Briefe dagegen eine wenig bemerkenswerte Person mit begrenzten beruflichen Interessen – im Vordergrund standen Geld, Selbstgefälligkeit, Eifersucht –, doch ihre Stimme, ihre schauspielerischen Fähigkeiten und eine Ausstrahlung, die wir heute nicht mehr nachvollziehen können, sollten sowohl Mariani als auch Verdi in ihren Bann ziehen. Im Herbst 1867 sang sie in Bologna die Elisabeth in der italienischen Uraufführung des Don Carlos. Mariani bewies in dieser Aufführung «Genie». Eine andere Form von Genialität ermöglichte es ihm, eine Entschuldigung nach der anderen zu finden, um sich seinen Verpflichtungen in Genua zu entziehen. Zum Ärger seiner Freunde versuchte er, die Verzögerungen mit dem Hinweis zu erklären, er müsse sich um «Verdis Ruhm» kümmern. Wahrscheinlich begannen er und Stolz um diese Zeit ein Liebesverhältnis. Die offizielle «Verlobung» folgte im Jahr darauf, und sie dachten auch an Heirat, doch dem stand offenbar die Karriere der Sängerin im Wege. Auch gab Marianis Gesundheit Anlass zur Besorgnis – vielleicht schon damals wegen des Blasenkarzinoms, das 1870 festgestellt wurde und an dem er drei Jahre später sterben sollte. Mit Verdi und seiner Frau wurde Teresa Stolz enger bekannt, als sie im Februar 1869 in Mailand die Leonora in der überarbeiteten Fassung der Forza del destino sang. Sie war Verdi schon einige Monate zuvor begegnet. Anfangs lehnte Strepponi es ab, zu

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Proben zu kommen. Aus Genua schrieb sie ihm drei Wochen vor der Uraufführung einen bösen Brief, in dem sie ihm vorwarf, er wolle sie nachts heimlich nach Mailand einschmuggeln «wie ein Bündel Konterbande». Sie fühle sich «verleugnet». Was diese Vorwürfe auslöste, wissen wir nicht, auch wenn sie auf harte Worte und längere Zeiten des Schweigens verwies, wie sie schon einige Monate zuvor ihrem Tagebuch anvertraut hatte. Zu dieser Zeit fragte sie sich wiederholt, ob es richtig gewesen sei, ihr Leben Verdi zu widmen. «Könnte er nicht wenigstens einmal im Jahr sagen, dass ihn das zufrieden macht?» Verdi holte sie schließlich persönlich ab, und sie besuchte die Erstaufführung der Forza. Möglicherweise hatte er sich zu dieser Zeit noch nicht von Teresa Stolz betören lassen, wie es drei Jahre später eindeutig der Fall war. Oder er gestand sich selbst diese Gefühle nicht ein. In einen regelrechten Krieg gegen Mariani trieb Verdi – neben unbewusster Eifersucht – sein eigenes Projekt einer Totenmesse für Rossini, zu der führende italienische Komponisten jeweils einen Teil beisteuern sollten und die im November 1869 zu dessen erstem Todestag aufgeführt werden sollte. Er hatte das Projekt in allen Einzelheiten durchdacht und erlaubte keinerlei Änderungen mehr. Das erklärt weitgehend, warum die Messe erst 1988 ihre Erstaufführung erlebte. Mariani, der selbst an der Vorbereitung anderer RossiniGedächtnisfeiern in Pesaro beteiligt war, bot seine Hilfe an. Verdi wies ihn schroff ab: «Willst Du damit sagen, dass wir Dich anflehen müssen, um den Chor zu bekommen, den Du in Pesaro hast? […] Ich habe nie herausfinden können, ob das Projekt […] das Glück hatte, von Dir gebilligt zu werden.» Marianis Handeln, so behauptete er, verdanke sich «der Eitelkeit des Komponisten oder der Arroganz des Musikers». Er habe seine Gier, umschmeichelt und verherrlicht zu werden, über «etwas Gutes, Künstlerisches und Patriotisches» gestellt. In seiner Antwort bewies Mariani mehr Würde als sonst, aber Verdi ignorierte sie.

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Der Dirigent Angelo Mariani

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Verdis einziger Schüler Emanuele Muzio

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Später behauptete er, Mariani habe nie geantwortet. Gegenüber Ricordi und anderen beklagte er, Mariani habe «seine Pflicht als Freund und als Künstler verletzt». Doch stillschweigend übernahm er den Plan eines Amateurchors, den er noch beiseitegewischt hatte, als Mariani ihn vorschlug. Der daraus resultierende Bruch wurde Anfang 1870 mangelhaft gekittet. Im Juli litt Mariani unter schlimmen, durch den Krebs verursachten Schmerzen. In der Hoffnung auf Heilung pilgerte er zum Heiligen Haus der Muttergottes in Loreto und erzählte dem antiklerikalen Verdi beschämt davon. Strepponi hatte seine Beschwerden schon früher als «Märchen, die niemand glaubt» abgetan. Nun entwarf sie einen Brief, den der – ebenso feindselige – Corticelli unterzeichnete und in dem sie Mariani einen «Heuchler» nannte, der aus «maßloser Eitelkeit» einen «vulgären Frömmler» abgebe und Verdi damit belästige. Da Mariani die durchaus übliche Anfrage einer Sopranistin, Isabella Galetti, weitergereicht hatte, ob Verdi sie bei der Oper, die er gerade schrieb, berücksichtigen könne, stellte der Brief ihn als einen schändlichen Frauenhelden dar. Wie es geschehen konnte, dass Verdi, Strepponi und Corticelli sich in den vergifteten Hass steigern konnten, der aus diesem Brief spricht, ist unklar. Corticelli sah in Mariani sicherlich einen Rivalen um die Stellung des «Hofnarren», und Verdi empfand eine andere, vielleicht latente Rivalität gegenüber Mariani. Aber Strepponi? Eine über Jahre wachsende Verzweiflung und das Leben in einer Einsamkeit, in der Ressentiments gedeihen konnten, mögen ihr Verhalten erklären – aber kaum entschuldigen. In der letzten Episode ging es um die Frage, wer Verdis neueste Oper, Aida, bei der Uraufführung in Kairo dirigieren und wer die Titelpartie dort oder wenig später in Mailand singen sollte. Der Deutsch-Französische Krieg sorgte für eine Verzögerung von einem Jahr, denn sowohl das Bühnenbild als auch die Kostüme befanden sich im belagerten Paris. Deshalb mussten alle Ar-

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rangements für den neuen Termin umgeändert und zum Teil Verträge mit neuen Künstlern geschlossen werden. Im November 1870 bot Mariani sich selbst – ungeachtet der drei Monate zuvor von Corticelli vorgetragenen Anwürfe – als Dirigenten an. Verdi antwortete ihm: «Wenn ich es für richtig gehalten hätte, Dich dorthin zu schicken […], hätte ich Dich gefragt.» Und er fügte weitere beleidigende Anspielungen über Marianis angebliche Affäre mit Galletti hinzu. Im April 1871 setzte Verdi wahrscheinlich durch, dass Stolz die Mailänder Aida sang, obwohl sie eine sehr hohe Gage verlangte. Sie und Mariani hatten auch um Kairo gefeilscht, doch der neue Termin ließ sich nicht mit ihren sonstigen Engagements vereinbaren. Inzwischen zeigte sich, dass auch Muzio für Kairo nicht zur Verfügung stand. So griff denn Verdi auf Mariani zurück – eine wenig schmeichelhafte zweite Wahl. Der neurotische Mariani akzeptierte zunächst, zögerte dann und zögerte noch länger, bis die Übereinkunft mit Verdi fehlschlug. «Trop fort! [das setzt allem die Krone auf!] trop fort! trop fort!» schrieb Verdi. Obwohl Mariani aufgrund seines Gesundheitszustands nicht in der Lage war, der Sache ein Ende zu bereiten (er schrieb zahlreiche endlose, pathetische Briefe an Dritte, in denen er über seine unerwiderte Liebe zu den Verdis sprach), war die Freundschaft doch am Ende. Im September und Oktober 1871 verbrachte Teresa Stolz drei Wochen in Sant’Agata. Unmittelbar danach löste sie ihre Verlobung mit Mariani. Sie sollten nur noch Freunde bleiben. Mariani selbst arbeitete zu dieser Zeit in Bologna an den Proben zur ersten Wagner-Oper, die in Italien aufgeführt wurde: Lohengrin. Die Uraufführung am 1. November galt vielen als epochales Ereignis. Da Ricordis größter Konkurrent Lucca die Aufführung förderte, hielt das gesamte Ricordi-Verdi-Lager Marianis Beteiligung daran für Verrat. Als Verdi eine der Aufführungen besuchte, provozierte ein Agent Ricordis in einer Pause eine viertelstündige Demonstration für Verdi, die sowohl die Sänger als auch das

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Orchester aus dem Tritt brachte. Schon früher an diesem Tag war Verdi Mariani zufällig auf dem Bahnhof begegnet. Dessen Angebot, seinen Koffer zu tragen, wies er ab. Auf ein längeres Gespräch ließ er sich nicht ein. Sie sahen sich nie mehr wieder. Als die Verdis und Mariani – der inzwischen unter starken Bauchkrämpfen und Blutungen litt – sich Anfang 1872 in dem Genueser Palazzo aufhielten, gingen sie sich aus dem Weg. Mariani hörte Gerüchte, wonach Stolz und Verdi eine Affäre hätten. In diesem Frühjahr und Sommer ging auch Stolz ihm aus dem Weg. An Verdi schrieb sie sarkastisch über den «Wahnsinn» ihres früheren Geliebten. Und Strepponi listete Marianis ganzes «unsauberes» Verhalten auf. Gegen Ende des Jahres beschloss Verdi, Mariani nötigenfalls das Mietverhältnis in seiner Genueser Wohnung zu kündigen (er hatte ihm den Auszug bereits indirekt nahegelegt), verlängerte dann aber sein eigenes Mietverhältnis nicht noch einmal. Die Pallavicinos hatten die Miete erhöht, und Verdi interpretierte dies als Marianis Rache. So suchte er sich ein anderes prunkvolles Winterquartier im Palazzo Doria. Mariani starb im Juni 1873 nach Monaten schwerster Qualen, verschlimmert noch durch eine ausbleibende oder falsche Pflege, woran wohl seine eigenen unbewussten Bedürfnisse schuld waren – jedenfalls drängt sich dieser Verdacht auf. In den vorangegangenen achtzehn Monaten hatten die Verdis durchaus zur Kenntnis genommen, dass er krank war, auch wenn Strepponi noch kurz vor seinem Tod giftig notierte, Mariani und die Pallavicinos seien «eine Bande Gleichgesinnter, die gut zusammenpassen und sich verstehen». Verdi, so sagte sie, habe den Versuch der Marchesa Pallavicino, Frieden zwischen den «beiden alten Freunden» zu stiften, mit einem Ausruf der Entrüstung quittiert. Heutzutage können Freunde miteinander streiten oder einander unschöne Dinge sagen, die Telefon oder inzwischen auch E-Mail unaufgezeichnet lassen. Im 19. Jahrhundert schrieben die Menschen solche Dinge nieder, so dass sie uns mitunter erhalten

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geblieben sind. Das sollten wir in Betracht ziehen, wenn wir uns Verdis Umgang mit Mariani anschauen. Dennoch hinterlässt die Geschichte einen unangenehmen Beigeschmack. Sie war weitaus schlimmer als die üblichen Streitereien in der unter starkem Druck stehenden italienischen Opernwelt von 1839, in der Verdi sein Debüt gab – ein Buschfeuer, das rasch vorüber war. Hier jedoch wurde das Feuer angefacht, genährt und gepflegt. Das war möglich, weil Verdi nun Zeit zum Brüten hatte und weil sein gewohntes Bedürfnis, dass alle in seiner Umgebung seinem Willen folgten, in diesen Jahren noch rücksichtslosere Formen annahm. Hatten Verdi und Stolz eine Affäre? Wahrscheinlich ja, und zwar eine längere, auch wenn sie kaum Spuren hinterließen, so dass eine klare Antwort unmöglich ist. Entscheidend ist, dass Verdi sich Hals über Kopf in Stolz verliebte. Das erscheint uns keineswegs unverständlich. Verdi, so können wir annehmen, projizierte seine anima auf sie, wie Jungianer dies nennen, also seinen weiblichen Anteil, und zwar so umfassend, dass er ihr alle liebenswerten Eigenschaften zuschrieb. Seine wenigen bekannten Briefe an sie sagen wenig aus, aber darin spricht er oft von seiner «Freude» und seinem «Glück». Umgekehrt verliebte auch Stolz sich wahrscheinlich in Verdi, obwohl man hier möglicherweise nur schwer zu unterscheiden vermag zwischen Liebe und Dankbarkeit dafür, dass ein Genie sie liebte und bewunderte und ihre weitere Karriere förderte. Sie schrieb längere Briefe, adressierte sie aber oft an beide Verdis. Selbst die an ihn allein adressierten Briefe sind förmlich und in der Wortwahl so gehalten, dass Strepponi daran keinen Anstoß hätte nehmen können, wenn sie ihr zu Gesicht gekommen wären. Verdis sexuelle Beziehung zu Strepponi versandete wahrscheinlich bereits nicht lange nach ihrer Heirat 1859. Gegen Ende des folgenden Jahres schrieb sie ihm: «Ich drücke Dich an mich wie in der aktiven Zeit unseres Lebens» (A, Bd. 2, S. 595). Die Briefe der reifen Strepponi sind voller kalkulierter Anspie-

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Verdi zur Zeit von aida, 1872. Büste von Vincenzo Gemito. Es existieren mehrere Fassungen; die abgebildete befindet sich in Santa’Agata.

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lungen. Was die obige Anspielung sagen sollte, dürfte auf der Hand liegen. Sie war damals zweiundvierzig, hatte chaotische sexuelle Erfahrungen in früher Jugend hinter sich und wahrscheinlich das Interesse verloren, obwohl sie weiterhin von ganzem Herzen an Verdi hing und emotional abhängig von ihm war. Anfang der 1860 er Jahre begann sie außerdem an schmerzhaften «Bauchkrämpfen» zu leiden – Vorboten zahlreicher innerer Probleme in den kommenden drei Jahrzehnten. Außerdem legte sie Gewicht zu. Die sexuelle Frustration dürfte dazu beigetragen haben, dass Verdi zur Beunruhigung seiner Frau so leicht in Zorn geriet. Ab dem Frühjahr 1872 kam eine weitere Sorge hinzu: Verdis Bindung an Teresa Stolz. Als Stolz in der Scala die Aida sang, überwachte er nicht nur die Inszenierung, sondern nahm auch regen Anteil an den geschäftlichen Beziehungen der Sängerin und selbst an ihren Vermögensangelegenheiten. Gegen seine Gewohnheit fuhr er nach Mailand, um sich auch spätere Aufführungen anzusehen. Wenn er nicht da war, schrieb Teresa Stolz ihm. Strepponi vermerkte auf einem Bündel Briefe (in Bleistift): «Sechzehn Briefe!! in kurzer Zeit!! Was für eine Aktivität!» Außerdem besuchte Stolz die beiden häufig in Sant’Agata. Alle drei verbrachten die Zeit von November 1872 bis April 1873 in Neapel, wiederum für eine Aida-Inszenierung, die Verdi beaufsichtigte. Es gab Gerüchte. Strepponi versuchte später, Stolz (die noch in Neapel sang) herauszufordern, indem sie eine Freundin bat, sie zu fragen, ob sie von diesem «schändlichen Tratsch» gehört habe, doch die Freundin mochte sich nicht dazu bereitfinden. Wie schon im vorangegangenen Jahr fiel Strepponi in eine Depression. Sie schrieb an ihre und Verdis alte Freundin Clarina Maffei: «Ein grauer Schleier hat sich über mein Gemüt gelegt und ich glaube an gar nichts mehr» – nicht einmal an Gott.7 Von Anfang an verlegte sie sich auf die Taktik, Teresa Stolz freundliche, aber mit Anspielungen durchsetzte Briefe zu schreiben – «Wenn ich Ihre Hand schüttele, möchte ich sicher sein, dass ich

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die Hand einer aufrechten und loyalen Frau schüttele, die mich ein wenig schätzt.» Als die drei 1875 nach Paris und London zu Aufführungen des Requiems fuhren, bei denen Stolz die für sie geschaffene Sopranpartie sang, sorgte Strepponi für eine Art ménage à trois. Alle drei wohnten im selben Hotel und nahmen die Mahlzeiten gemeinsam in der Suite der Verdis ein. Ein skurriler Artikel in einer italienischen Zeitschrift machte deutliche Anspielungen auf eine Affäre. Verdi, so hieß es dort, habe seine Brieftasche im Hotelzimmer der Teresa Stolz verloren. Auch darüber ging das Trio hinweg. Allenfalls fragte Stolz, ob sie in Sant’Agata nicht störe, und Strepponi beruhigte sie. Im Frühjahr 1876 fuhren die drei nach Paris, wiederum zu einer Inszenierung der Aida, deren Titelpartie Stolz sang. Nach etwa drei Wochen bestand Verdi darauf, Stolz allein zu besuchen. Sie fühlte sich ein wenig unwohl, war aber nicht krank, und es stand keine Vorstellung bevor, wegen der man sich hätte Sorgen machen müssen. In dieser Situation entwarf Strepponi einen Protest: Du besuchst eine Dame, die weder Deine Tochter noch Deine Schwester, noch auch Deine Frau ist! […] Du konntest vierundzwanzig Stunden aushalten, ohne diese Dame zu sehen […]. Seit 1872 gibt es Phasen eifriger Aufmerksamkeiten, die keine Frau in einem günstigeren Sinne interpretieren könnte […]. Ich war immer bereit, sie offen und ehrlich zu lieben. Du weißt, wie Du mir das gedankt hast! Mit harschen, heftigen, verletzenden Worten! Du kannst Dich nicht beherrschen. […] Wenn irgendetwas daran ist … lass es uns hinter uns bringen. Sei ehrlich und sage es mir, ohne mich die Demütigung Deiner übertriebenen Ehrerbietung spüren zu lassen. Wenn nichts daran ist … sei ruhiger in Deinen Aufmerksamkeiten, sei natürlich und weniger ausschließend. Denke gelegentlich daran, dass ich, Deine Frau, trotz mancher Gerüchte in der Vergangenheit genau jetzt à trois lebe und dass ich ein Recht auf Rücksichtnahme, wenn schon nicht auf Liebkosungen habe. Ist das zuviel verlangt? 8

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Giuseppina Strepponi, in ihren Sechzigern

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Ob Strepponi dieses Schreiben ihrem Mann übergab, wissen wir nicht. Wieder in Italien, gingen die «Aufmerksamkeiten» auch den Sommer hindurch weiter. Verdi unternahm weitere Kurzbesuche in Mailand. Im August traf er Stolz möglicherweise in einem kleinen Kurort unweit von Busseto. Im September verbrachte Stolz mehrere Wochen in Sant’Agata. Im Oktober begann Strepponi mit dem Entwurf eines Briefs: «Da das Schicksal es will, dass das, was das ganze Glück meines Lebens war, nun unwiederbringlich verloren ist …» Es kam zu einem «Showdown» – über den wir jedoch nichts Sicheres wissen. Nach bloßem Hörensagen – allerdings aus glaubwürdiger Quelle – erklärte Strepponi: «Entweder diese Frau verlässt das Haus, oder ich verlasse es.» Und Verdi erwiderte darauf: «Diese Frau bleibt, oder ich schieße mir eine Kugel in den Kopf.» Den Sieg trug Strepponi davon, zumindest nach außen. Obwohl Stolz gerade angekündigt hatte, in den Ruhestand zu treten, ging sie für sechs Monate nach Russland, um dort zu singen. Von da an wurden ihre Briefe weitaus seltener, und zwei Jahre lang kam sie nicht mehr nach Sant’Agata, obwohl sie endgültig in den Ruhestand getreten war. Dann nahm sie die regelmäßigen Besuche wieder auf und begleitete die Verdis auch nach Paris und in den Kurort Montecatini, wo sie den Frühsommer verbrachten, doch wie das Verhältnis zwischen ihr und Verdi auch beschaffen sein mochte, sie achteten nun jedenfalls auf größere Diskretion. War Strepponi nun zufrieden? Sie hörte niemals auf, Verdi zubewundern und ihn geradezu «irrsinnig» zu lieben. 1878 bewies sie erneut ihr Talent für wohlkalkulierte Anspielungen, als sie ihm eine Fotografie von sich schenkte und sie mit der Widmung versah: «Für meinen Verdi, mit der Zuneigung und Verehrung von einst!» Zu Teresa Stolz entwickelte sie ein schwesterliches Verhältnis, wenngleich sie auch jetzt nicht von gelegentlichen Anspielungen lassen mochte. Zu Weihnachten 1876, kurz nach dem

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«Showdown», erwähnte sie die christliche Pflicht, dem Schuldigen zu vergeben. Und zwei Jahre später wünschte sie Stolz zum Neuen Jahr «alle guten Dinge […], die ein ehrbarer Mensch sich wünschen kann». Es mag jedoch sein, dass sie nur nachgab, um den Schein zu wahren. Ein weiterer Entwurf für einen Brief (den sie möglicherweise nicht abschickte) stammt aus dem Jahr 1880. Darin macht sie den Vorschlag, den Winter nicht mehr in Genua, sondern in Mailand zu verbringen, weil Verdi dort besser am gesellschaftlichen Leben teilnehmen könne. Sie sagt es zwar nicht ausdrücklich, aber Teresa Stolz lebte in Mailand. «Ich wünsche mir nur eine Wohnung mit Licht und Luft und dass Du mich in diesen letzten Lebensjahren nicht vollkommen aufgibst.» Daraus wurde nichts. Verdi verlegte zwar seinen Wintersitz von Genua nach Mailand, allerdings erst in seinen letzten Lebensjahren, nach dem Tod seiner Frau 1897. Strepponi war damit im Reinen und bedachte Teresa Stolz in ihrem Testament mit einigem Schmuck. Aber da war Verdi schon sehr alt. Mit siebenundachtzig Jahren schrieb er der inzwischen sechsundsechzigjährigen Stolz: «Glaube an meine [Liebe], groß, sehr, sehr groß und sehr wahr.»9 Es sagt viel über Verdis autonome schöpferische Kraft aus, dass er inmitten dieser Wirren Don Carlos und Aida schreiben konnte. Außerdem musste er in dieser Zeit die Demütigung des Krieges von 1866 schlucken, in dem Italien zwar Venedig und die zugehörigen Gebiete erhielt, aber nicht als Ergebnis einer Eroberung (Italien war auf dem Land wie zur See gescheitert), sondern als Geschenk Napoleons III. Don Carlos war ein letzter direkter Angriff auf die Pariser Opéra: fünf ausufernde, von Schiller übernommene Akte; ein pseudohistorisches Thema, nämlich der Kampf zwischen Freiheit und klerikaler Unterdrückung am Hofe Philipps II. von Spanien; mit sieben Hauptrollen und einem Ballett (das heute nur noch selten

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aufgeführt wird). Manche halten Don Carlos für Verdis beste Oper, obwohl auch sie ein problematisches Werk bleibt. Das Problem ist, wie bei den Vêpres siciliennes, das der französischen grand opéra – 1867 ein Genre, das im Begriff war zu verschwinden. Verdi kehrte auch aus diesem Grund zur «grande boutique» zurück, weil man ihm nach einigen Verhandlungen zusätzlich zu den Lizenzgebühren ein Pauschalhonorar von 40 000 Francs zugestand, und teilweise weil er immer noch Meyerbeer zu übertreffen hoffte. Er selbst klagte zwei Jahre später über diese «unselige Atmosphäre der Opéra». Sie habe dafür gesorgt, dass Rossinis Guillaume Tell weniger spontan ausfiel als sein Barbiere di Siviglia, und mache jede Große Oper zu einem bloßen «Mosaik» (C, S. 220 f.; dt.: Briefe, S. 203). Don Carlos war so sehr zu einem Mosaik geworden, dass Verdi die Oper neu arrangieren musste. Er schuf insgesamt drei Hauptfassungen, 1867, 1884 und 1886, die sich beträchtlich voneinander unterschieden. 1884 strich er der «Kürze» und «Spannung» wegen einen ganzen Akt (C, S. 698), den er 1886 jedoch wieder einfügte. Da sein Stil sich seit 1867 verändert hatte, verdichtete er einige Passagen und verlieh ihnen eine weitaus kühnere Harmonik als den übrigen Teilen. Auch vor der Uraufführung und dann nochmals 1872 hatte er – der Länge wegen, aber wohl auch aus künstlerischen Gründen – bereits einschneidende Kürzungen vorgenommen, denen er 1872 weitere tiefgreifende Veränderungen folgen ließ. Da Musikwissenschaftler das 1867 herausgeschnittene Material gefunden haben, setzen heutige Inszenierungen ihr eigenes Mosaik aus einer Vielzahl von Quellen zusammen, die sämtlich irgendwann einmal von Verdi gutgeheißen worden sind. Bei italienischen Opern gab es häufig alternative Fassungen einzelner Szenen oder Arien, doch die Variationen in Don Carlos erinnern mitunter an den Farbwechsel eines Chamäleons. Dennoch ist Don Carlos das Meisterwerk der französischen grand opéra. Die heroische Statur der Figuren, die sämtlich in

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ihrem eigenen Licht gerechtfertigt erscheinen; ihre emotionale Tiefe; das edelmütige Streben, das an der Härte der Macht scheitert – all das sorgt dafür, dass die Oper, wie ein Kritiker vermerkte, «im Verhältnis zu ihrer reichen dramatischen Substanz» eigentlich «zu kurz» geraten sei.10 Aber kaum jemand dürfte bestreiten, dass sie auch «ihre Längen hat».11 Wenn sich alles auf der Höhe der letzten beiden Akte bewegte, wären Vorbehalte unangebracht. Vor Philipps Arie «Elle ne m’aime pas» «vermitteln die schweren acciaccatura-Seufzer der Hörner, Fagotte und Streichinstrumente jene bleierne Trauer, die nicht nur Philipp, sondern die ganze Oper kennzeichnet». Ein ermattetes Solocello und obsessive gedämpfte Violinen stimmen ein und bringen die Tiefe des autoritären, aber edlen Königs zum Erklingen.12 Wie in der parallelen Arie seiner Königin zu Beginn des fünften Akts («Toi qui sus le néant») verarbeitet Verdi hier die dreigliedrige französische Arienform und seine eigene meisterhafte Beherrschung der Instrumentalmusik zu einem an Hamlet erinnernden Selbstgespräch, jede der hochgesinnten Figuren gefangen in einem persönlichen und politischen Dilemma, das sich nur im Tod aufzulösen vermag, und dennoch voller Liebe, voll Hoffnung oder Bedauern. Nicht ganz so reich (weil die Figur nicht so umfassend entwickelt ist) geschieht dies auch in der von Reue und Entschlossenheit geprägten Arie der Prinzessin Eboli («O don fatal»). Schon 1867 bringt Verdi in Stimme und Orchester ein menschliches Dilemma zu höchstem Ausdruck, das er erstmals in der Schlafwandelszene der Lady Macbeth angegangen war. Das furchterregende Duett, in dem der betagte, blinde Großinquisitor vom König den Kopf des Freigeistes Posa verlangt, markiert einen gewaltigen Schritt in Richtung des freien Dialogs in der Musik. Ein von Posaunen, Fagotten und tiefen Streichinstrumenten gespieltes Thema, das sich wie eine schwerfällige Schlange bewegt, begleitet den Auftritt des Großinquisitors; dazwischen kommentiert das Orchester flexibel und sparsam die

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Dialektik von Kirche und Staat. Die Szene mit dem gefangenen Carlos und seinem Busenfreund Posa, die mit Posas Ermordung endet, galt dagegen in Großbritannien früher als sentimental, wie auch deren Duett über brüderliche Liebe im zweiten Akt («Dieu, tu semas dans nos âmes»), das hier in Reminiszenzen erneut auftaucht. Vielleicht weil wir uns heute weniger vor Emotionen fürchten, erscheinen sie nun authentisch und wahrhaftig, auch wenn Posa eine zweidimensionale Figur bleibt, der mit Verdis früherem Stil am ehesten gedient ist. Posas Romanze im vierten Akt («C’est mon jour suprême») «verwandelt das düstere, ermattete Motiv, mit dem die Szene begann, in eine sanft expressive Musik […]. Für kurze Zeit hat die Kraft menschlicher Kommunikation die Macht des Schicksals überwunden.»13 Das Lied, das er im Sterben singt («Ah, je meurs»), wirkt ähnlich dem Duett im zweiten Akt wie eine langsame Cabaletta, die emotionale Entspannung bringt. Im Rest des vierten und fünften Akts, die 1884 deutlich verbessert wurden, finden sich die letzten der drei Duette zwischen Carlos und seiner verlorenen Liebe und jetzigen Schwiegermutter Elisabeth – sie alle sehr schön, innovativ und dramaturgisch richtig. Der eigentliche Mangel des Don Carlos liegt in den unklaren Proportionen des Ganzen, aber auch in Pariser Zugaben wie Ebolis Kopftuchlied und dem Maskentausch. Das alles mutet an wie ein weiträumiges Schloss, edel und gewaltig. Sowohl in Paris als auch in Italien hatte Don Carlos nur bescheidenen Erfolg. Verdi hatte offenbar weiterhin das Gefühl, mit der Großen Oper noch nicht abgeschlossen zu haben. Er wollte es fern von Paris und seiner «fatalen Atmosphäre» noch einmal versuchen, wobei er sich auf die italienische Sprache verließ, und er wollte den Anforderungen des Genres auf andere Weise ein für allemal gerecht werden. Beim Thema spielte Paris dennoch eine Rolle. Sein Freund Camille Du Locle, einer der beiden Librettisten des Don Carlos,

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schickte ihm 1868/69 zahlreiche Stücke in französischer und spanischer Sprache, an denen Verdi jedoch keinen Gefallen fand. Schließlich schlug Du Locle das Szenario eines anderen Franzosen, des Archäologen Auguste Mariette, vor, der im Dienst des Vizekönigs von Ägypten stand. Es gehörte zu den Bemühungen des Vizekönigs um die Gestaltung der Feierlichkeiten zur Eröffnung des Suezkanals. Er hatte sich schon früher bei Verdi vergeblich um eine Ode oder eine neue Oper zur Eröffnung seines neuen Theaters bemüht (dessen Konzeption hauptsächlich auf europäische Touristen abzielte), aber seine Vertreter versuchten es immer wieder. Diesmal hielt Verdi Mariettes Geschichte für gut gemacht, die Szenerie für großartig und einige der dramatischen Begegnungen für «sehr schön», wenn auch nicht ganz neu: «Wir wollen uns zunächst einmal die finanzielle Situation in Ägypten ansehen, und dann werden wir entscheiden» (CV, Bd. 4, S. 9). Die «finanzielle Situation» hatte einiges mit der Entstehung von Aida zu tun. Verdi verlangte und erhielt allein für die Inszenierung in Kairo 150 000 Francs – eine Summe, wie sie noch nie für eine Oper gezahlt worden war. Und die Sänger behandelten die Aufführung wie eine Goldgrube. Sie schlossen sich jenen Europäern an, die seit den 1850 er Jahren in Scharen nach Ägypten strömten, gut 30 000 jährlich, und jenen anderen (hauptsächlich Franzosen und Briten), die ägyptische Staatsanleihen oder Anteile an der Suezkanalgesellschaft erworben hatten. Als Produzent qualitativ hochwertiger Baumwolle in strategisch günstiger Lage am Seeweg nach Indien erlebte Ägypten einen – von seinen Herrschern intensiv geförderten – Investitionsboom, wie wir ihn etwa aus Indonesien unter General Suharto kennen. Die Investitionen wurden oft falsch platziert, selbst wenn sie nicht allein dazu dienten, das luxuriöse Leben des Herrschers und seiner Freunde zu finanzieren. Die Folge war der Bankrott des Landes (1876, fünf Jahre nach Aida), der weitere sechs Jahre später dazu führte, dass Ägypten britisches Protektorat wurde.

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Auch wenn Aida nicht direkt zur Eröffnung des Suezkanals gespielt wurde, gehörte die Aufführung in Kairo doch zu den kleineren Ereignissen, die die imperiale europäische Expansion markierten. Besaß Verdi ägyptische Staatsanleihen – wie der antiimperialistische Premierminister W. E. Gladstone (der dennoch den Beschuss Alexandrias genehmigte)? Vielleicht. Die Anleihen gehörten zum normalen Angebot auf dem Pariser Finanzmarkt.14 Es wäre jedoch falsch, wenn wir daraus wie so viele im Gefolge Edward Saids den Schluss zögen, Aida sei selbst ein Zeugnis des «Orientalismus» – also der imperialen Aneignung einer missverstandenen Kultur. 1870, als Verdi die Oper schrieb, waren die Italiener so gut wie gar nicht oder allenfalls als Arbeitsmigranten an der europäischen Expansion beteiligt. Sie schafften es gerade einmal, sich Rom einzuverleiben, als die französische Garnison des Papstes fort war, um gegen Preußen zu kämpfen. Als Italien sich in den 1890 er Jahren dem Wettstreit um Afrika anschloss, war Verdi dagegen: Die Äthiopier «werden mit [unserer Zivilisation] nichts anzufangen wissen, und in mancher Hinsicht sind sie zivilisierter als wir». Auch die britische Herrschaft in Indien werde es eines Tages mit einem «Risorgimento» zu tun bekommen (IEV, S. 351). Als er Aida schrieb, zeigte er wenig Interesse für das moderne Ägypten, abgesehen davon, dass dort sein Auftraggeber saß. Das alte Ägypten – «eine Kultur, die ich niemals habe bewundern können» (A, Bd. III, S. 161 f.) – veranlasste ihn immerhin, Nachforschungen über Rituale und vor allem über Musikinstrumente anzustellen. Wenn eine Oper ein gewisses Lokalkolorit erforderte, informierte er sich über die Musik der Zeit und des Ortes, aber in der Regel berücksichtigte er nicht, was er fand. Auch in Aida sind die Trompeten im Triumphmarsch antik, aber nicht ägyptisch. Der modale Gesang der Priester klingt exotisch, ist aber erfunden. Und das Ganze angereichert mit einem Hauch von subtilem Exotismus. Die Geschichte benutzt Ägypten nur als

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Vorwand. Ob nun Archäologe oder nicht, Mariette nahm sich einige Freiheiten heraus. Es ist nicht gerade hilfreich für die Oper, dass die Zuschauer Ausschau halten nach Arenaspektakeln, rasenden Vierergespannen und Wedeln aus Pfauenfedern über den Köpfen. Die Geschichte geht zurück auf die antike Tragödie. Die vielen intimen Szenen können nur gewinnen, wenn man sie von der Aura des Britischen Museums befreit. Auch hat Aida nichts mit Imperialismus zu tun oder allenfalls nur im denkbar allgemeinsten Sinne. Gewiss, die Macht siegt. Um das nicht allzu deutlich werden zu lassen, verfallen heutige Inszenierungen auf Absurditäten wie den Triumphmarsch ohne einen Marsch auf der Bühne oder die Ägypter als britische Besatzer mit Tropenhelmen oder die Äthiopier als geknechtete Schwarze. Tatsächlich könnte Aida an jedem Ort mit einigermaßen warmem Klima spielen, an dem ein autokratischer, von Priestern gelenkter Staat gegen ein einfaches Bergvolk kämpft: im alten Indien, im modernen Birma, im Kaukasus zur Zeit des Zarenreichs, in den slawischen Teilen der Türkei vor dem Ersten Weltkrieg. Die Geschichte vom Soldaten und der Tochter seines Feindes, beide zwischen Liebe und Patriotismus hin- und hergerissen, ist zeitlos. Und dasselbe gilt für das Dreigestirn Aida–Radamès–Amneris. Verdi schrieb einen Großteil des Librettos selbst – inoffiziell. Da Piave wegen eines Schlaganfalls ausfiel, beauftragte er einen fähigen Autor, Antonio Ghislanzoni, Aufbau, Metrum und oft auch den selbst verfassten Text zu glätten. Höhepunkte, so meinte er, verlangten «Theaterworte» (parola scenica) mit unmissverständlicher Bedeutung. Er selbst formulierte einige davon, so etwa in Aidas Duett mit ihrem Vater: «Du bist nicht meine Tochter, du bist die Sklavin des Pharao.» Gegenüber Ghislanzoni erklärte er: Ich weiß sehr wohl, was Sie mir entgegnen werden: und der Vers, der Reim, die Strophe? Was soll ich darauf antworten? Ich würde

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Rhythmus Rhythmus, Reim Reim und Strophe Strophe sein lassen, wenn es die Handlung verlangt; ich würde die Verse auflösen, um das ausdrücken zu können, was in der Handlung liegt. Leider fordert das Theater zuweilen von Dichter und Musiker das Talent, weder Dichtung noch Musik zu schaffen. (C, S. 641; dt.: Schaffen, S. 61)

Verdi war nicht immer so streng verfahren. Für Il trovatore hatte er den Text von «D’amor sull’ali rose» zu einer bereits vorhandenen Musik formuliert, wobei er sich nicht immer an die normale Betonung hielt. Die Forderung nach parola scenica signalisierte eine Hinwendung zu einem größeren Realismus, wie dies auch für Amneris’ Anklage gegen die Priester nach dem Radamès-Prozess gilt – «eine jener hochkonzentrierten musikalischen Perioden, die beim reifen Verdi für eine ganze Arie reichen».15 Aida ist unzerstörbar, weil die Oper mit denkbar knappen Mitteln ein breites dramatisches Spektrum abdeckt. Die Große Oper war unlogisch und archaisch. Aida erreicht Größe innerhalb einer eng verwobenen, logischen Handlung und mit lediglich zweieinhalb Stunden Musik – in einer triumphalen Szene von ähnlicher Brillanz wie der Autodafé-Akt in Don Carlos, nur weniger protzig; in kurzen, in die Handlung eingebauten Ballettszenen, jede ein Füllhorn aus Melodien; in Märschen, die angemessen zackig wirken («Su, del Nilo») oder zugleich archaisch und einprägsam (wie der auf dem Höhepunkt des Triumphes); und in einem Chor («Ma tu, re»), in dem die den Tod fordernden Priester und das um Milde bittende Volk die Apotheose des traditionellen Finales der ersten Hälfte herbeiführen, zugleich ein Stück komplexer musikalischer Architektur und eine befriedigende Verkörperung des dramatischen Konflikts. Im selben Zuge tritt eine intime Tragödie zwischen vier Menschen zutage, jeder durch seine Musik charakterisiert, wenn auch nicht in übertrieben buchstäblicher Komplexität wie bei Phi-

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lipp II. oder Don Carlos. Amonasros ungestüme Autorität und Amneris’ selbstbewusst-eigensinnige Persönlichkeit werden deutlich, sobald sie den Mund öffnen. Aidas großzügiger, aber schwermütiger Charakter prägt ihr Orchestermotiv, bevor sie auf der Bühne erscheint, während ihr Ausbruch («Ritorna vincitor!») am Ende der ersten Szene ihre Fähigkeit zu starken Gefühlen zeigt, mit der abschließenden Anticabaletta «Numi, pietà» als Zeichen ihrer Reinheit (falls Verdi sich 1871 in Stolz verliebte, kann es kaum verwundern, dass er sie für diese Partie wollte). Über Radamès sagt die Eröffnungsszene bereits alles, in den gedämpften Fanfaren, die seine Hoffnung auf die Befehlsgewalt zum Ausdruck bringen, in der leichtfüßig begleiteten Romanze «Celeste Aida», deren Kulmination in einem hohen h (beim richtigen Sänger) wie ein klarer Sonnenstrahl, aber niemals laut wirkt. (Verdi kann unmöglich erwartet haben, dass Tenöre das angezeigte pianissimo singen. Diese Auszeichnung sollte den Musikern ähnlich wie das gelegentliche pppp schlechte Gewohnheiten austreiben.) Die Glanzleistungen der Oper liegen in der Orchestrierung und in der «Reihe der Arien». Flöte und hohe, gedämpfte, tanzende Streichinstrumente zu Beginn des dritten Akts beschwören mühelos einen warmen Abend am Wasser herauf. Später lassen Gedanken an das äthiopische Bergland eine Instrumentalmusik von atemberaubender Zartheit erstehen. Im gesamten Werk zeigt der «Aida-Stil» eine unaufdringliche Meisterschaft: «regelmäßig und periodisch, mit raschen, nicht vorhersehbaren Harmoniewechseln […] und chromatischen Ausweichungen, die liebkosen, ohne zu übersättigen».16 Die Duette sind Träger der emotionalen Handlung: Aidas Augenblick der Wahrheit, als Amneris sie im zweiten Akt aushorcht; ihr Zusammenbruch vor Amonasro und, unmittelbar danach, ihre Falle für Radamès im dritten Akt; Amneris’ vergeblicher Versuch im vierten Akt, Radamès zu retten und zurückzugewin-

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Warum Verdi die Produktionsbedingungen an der Pariser Opéra schätzte: aida, 3. Akt, 1880. Zeitgenössischer Stich

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nen. Wie schon früher in Rigoletto und La traviata sind diese Teile aus ineinander verschachtelten Abschnitten aufgebaut, aber mit einer neuartigen Knappheit und Flexibilität. Das gilt auch für Aidas «Ritorna vincitor!» und ihre elegische Arie im dritten Akt «O patria mia». Auch hier kann man den Leser nur auf den Titelaufsatz in Petrobellis Music in the Theater verweisen. Verdi, so zeigt er, strukturiert Text und Musik im dritten Akt so, dass sie zueinander passen, sich wechselseitig determinieren und die Handlung vorantreiben, indem sie die Länge der einzelnen Abschnitte vorgeben. Die in der Oper so seltene, vollständige Kontrolle über die musikalisch-dramatische Zeit entfaltet sich auf eindringliche Weise. Man denke auch an die Originalität, Schönheit und Angemessenheit jeder einzelnen Melodie – die tröstlichen Zeilen in «Rivedrai le foreste imbalsamate» und «Là, tra foreste vergini», Amonasros Vision des Gemetzels; die kriegerische Begeisterung des Radamès in «Nel fiero anelito» und anderes mehr. Man denke an die Schlichtheit des letzten Duetts, als die in ihrem Grab eingemauerten Liebenden ihre bogenförmige Melodie zwölfmal hinaufsteigen lassen in einer Ekstase der Anmut, während oben Amneris betet, die Seele des Radamès möge Frieden finden – eine zugleich eindrucksvoll theatralische und zutiefst berührende Wirkung, die ganz allein Verdis Werk ist. Denkt man an all das, wird klar, dass Aida für seine endgültige Meisterschaft steht. Nach Kairo und Mailand im Winter 1871/72 und nach zwei weiteren italienischen Inszenierungen, die der Komponist selbst beaufsichtigte, ging Aida um die ganze Welt. Verdi, inzwischen fast sechzig, glaubte, er habe seine Ziele erreicht und könne sich zur Ruhe setzen.

Sechstes Kapitel

evergreen, 1872–1901 Requiem, Otello und Falstaff



Zur Zeit der Mailänder Erstaufführung der Aida 1872 passte Verdi nicht mehr so recht in die italienische Opernwelt. Sein Ansehen im eigenen Land war so groß wie nie zuvor, doch seine letzten drei Opern hatte er für Theater im Ausland geschrieben. Auch wenn sie in seiner Heimat inszeniert wurden, verhandelte er nicht mehr mit örtlichen Impresarios. Die gesamte Korrespondenz wurde über Ricordi abgewickelt. Verdis Beziehung zu seinem Verleger bestimmte die letzten fünfundzwanzig Jahre seines schöpferischen Lebens. Giulio Ricordi, der das Unternehmen nun in dritter Generation führte, drängte ihn durch Schmeicheleien und gutes Zureden, gegen seinen Willen zwei außergewöhnliche Spätblüten der italienischen Oper zu schaffen, Otello und Falstaff. Seit den frühen 1850 er Jahren hatten Musikverleger schrittweise einen Einfluss auf das italienische Operngeschäft erlangt, wie man ihn andernorts nicht kannte. Während die alten aristokratischen Theater und deren Impresarios geschwächt wurden, nutzten die Verleger das neue Urheberrecht als Hebel, um darüber zu entscheiden, welche Theater zu welcher Zeit eine Oper aufführen durften und wer sie singen sollte. In den 1870 er Jahren

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war dies bereits gängige Praxis. Mit den Partituren der einzelnen Opern lieferten die Verlage auch einheitliche Entwürfe für Bühnenbild und Kostüme sowie – eine aus Paris übernommene Neuheit – elaborierte Bühnenanweisungen. Ein Mailänder Verlag überwachte ganz demonstrativ «seine» Werke in der gesamten italienischen Opernwelt, zu der nun auch lukrative Außenposten in Argentinien hinzukamen. In der Praxis konnte der Verlag auch die Besetzung und an kleineren Theatern so gut wie alles diktieren. Zwei Verlage, die sich durch eine Reihe von Übernahmen vergrößerten, bestimmten das Geschäft in Verdis verbleibender Lebenszeit. Lucca war der erste Verlag, der neue Opern im Bündel verkaufte. Nach dem Tod des taktlosen Francesco Lucca 1872 führte seine Witwe Giovanna Lucca das Geschäft mit Schwung und Sinn für gute zwischenmenschliche Beziehungen fort. Diese beherzte Frau und Verdi hätten wohl miteinander auskommen können. Doch inzwischen verlegte sie nicht nur Meyerbeer und andere Pariser Komponisten, sondern auch Wagner, während Ricordi sich weiterhin auf Verdi und andere Italiener konzentrierte. Das bedeutete Krieg zwischen den beiden Verlagen, die nicht nur um wichtige Spielzeiten konkurrierten, sondern auch die Produktionen des jeweils anderen schlechtzumachen versuchten – bis dann die alternde Lucca 1888 an Ricordi verkaufte, der dadurch die Rechte an Wagner-Werken erlangte und über Nacht deren Vorzüge entdeckte. Doch sogleich trat eine neue Bedrohung auf den Plan – Edoardo Sonzogno, der die Rechte an Carmen besaß und junge Italiener wie Mascagni förderte. Ende des Jahrhunderts übernahmen Ricordi und Sonzogno abwechselnd die Leitung der Scala. Für die Zeit, in der Ricordi dort das Sagen hatte, hieß dies, dass ein italienisches Opernhaus sich wieder die Uraufführung eines Verdi-Werkes leisten konnte. Verdis Beziehungen zu seinem Verleger konnten, wie wir gesehen haben, stürmisch sein, wenn er das Gefühl hatte, schlecht

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behandelt zu werden. Mit der Zeit wurden seine Opern unübersehbar deutlicher zur Haupteinnahmequelle des Verlags. Das stärkte Verdis Verhandlungsposition, doch er brauchte Ricordis Vertriebsnetz und dessen Einfluss auf die lokalen Theater. Tito Ricordi, der das Unternehmen von 1853 bis 1888 leitete, seiner Erscheinung nach ein altmodischer Geschäftsmann, war etwa im selben Alter wie Verdi. Das vertraute Du, mit dem sie einander ansprachen, schloss jedoch gelegentliche heftige Streitigkeiten nicht aus. Titos Sohn Giulio, der ab den 1870 er Jahren einen großen Teil der geschäftlichen Aktivitäten übernahm, soweit sie nicht die Finanzen betrafen, war dagegen ein Spross der neuen italienischen Bourgeoisie. Er kleidete sich nach der neuesten Mode (während Verdi unförmige Anzüge, die für Künstler typische Fliege und breitkrempige Hüte der 1850 er Jahre trug), stand der jüngeren Generation ästhetisierender Schriftsteller und Künstler nahe, schuf selbst einige musikalische Werke von geringerer Bedeutung und begegnete Verdi mit ausgesuchter Höflichkeit. Wie der englische Premierminister Disraeli gegenüber Königin Victoria trug er Schmeicheleien mit breitem Spachtel auf. Solcher Schmeichelei bedurfte es auch, um bei Verdi auszugleichen, was dieser als Kränkung empfand. Wie andere Verleger und Agenten gab Ricordi eine Musikzeitschrift heraus, um seine eigenen Künstler zu fördern und Gegner zu kritisieren. Verdi durfte durchaus erwarten, dass man durch sie auch ihn förderte. Allerdings reagierte er äußerst empfindlich auf alles, was nicht an rückhaltlose Bewunderung heranreichte. Schon 1845 hatte er sich beim Verlagsgründer, Titos Vater Giovanni, beklagt, die Zeitschrift bringe «mal einen Artikel zu meiner Verteidigung, der schlimmer als eine Kritik ist, mal einen Kommentar, der fast eine Beleidigung ist usw. usw.». Und er fragte sich, ob er Giovanni nun «zu meinen Feinden oder meinen Freunden zählen» solle. 1855 schrieb er, die Zeitschrift spreche seit drei oder vier Jahren schlecht von ihm. Und noch 1879 verstand er eine in der

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Giulio Ricordi, Inbegriff der ästhetisierenden italienischen Kultur des Fin-de-siècle – ein deutlicher Gegensatz zur früheren, stärker erdverbundenen italienischen Kultur, der Verdi zuzurechnen ist

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Zeitschrift zitierte Bemerkung Rossinis, wonach er, Verdi, niemals eine komische Oper zustande bringen werde, als Warnung des Verlags vor jedem Versuch dieser Art. Für den Fall, dass er es dennoch tat, versprach er: «Ich werde einen anderen Verlag ruinieren» (A, Bd. 1, S. 541; CV, Bd. 1, S. 32; Bd. 4, S. 94; C, S. 308 –311). Weitere Kommentare und diskrete Warnungen steuerte gelegentlich Strepponi bei. Dennoch behauptete Verdi, er habe weder Tito Ricordi noch einem anderen Besitzer einer Zeitschrift jemals «ein einziges Wort der Klage» geschickt. «Das entspricht nicht meinen Gewohnheiten oder meinem Charakter.» «Ich habe mich nicht einmal über feindselige Artikel beklagt» (A, Bd. 2, S. 445; Bd. 3, S. 256). Damit wollte er offensichtlich sagen, dass er zwar das Bedürfnis empfunden hatte, solche Klagen vorzutragen, sich jedoch zurückgehalten habe. Wie viele erfolgreiche Künstler war Verdi dünnhäutig. Nach Aida hatte er durchaus Grund zu Klagen, nicht im Blick auf Ricordi, wohl aber im Blick auf die Meinung mancher Kritiker. Die Oper, das wusste er, war eine seiner besten oder, wie er sagte, der «am wenigsten schlechten» (VI, S. 140 f.). Dennoch stieß sie auf Unverständnis. In ganz Europa und Amerika tobte der Streit über den «Wagnerismus» – ein Ausdruck, den man damals noch kaum verstand. In Italien verschärfte der Krieg zwischen Ricordi und Lucca noch die Lage. Da Verdis Stil sich in Richtung flexiblerer Formen und einer subtileren Instrumentierung entwickelt hatte, entdeckten Kritiker darin den Einfluss Wagners. Sie wiederholten dieses Klischee, bis Shaw zu Verdis Tod dreißig Jahre später «ohne jede Einschränkung» erklärte, es gebe «in Aida oder den beiden späteren Opern keinerlei Anzeichen dafür, dass Verdi jemals eine Note von Wagners Musik gehört hat».1 Verdi hatte – aber ohne sonderlich viel davon aufzunehmen. Die wiederkehrenden Themen in Aida ähnelten nicht dem Wagner’schen Leitmotiv mit seiner psychologischen Ent-

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wicklung, sondern verfeinerten ein Hilfsmittel, das «Erinnerungsthema», das Verdi siebenundzwanzig Jahre zuvor noch unbeholfen in I due Foscari und dann schon besser in La traviata erprobt hatte. Inmitten des Geredes über den «Wagnerismus» meinte selbst der bestinformierte italienische Rezensent einen peinlichen Wechsel zwischen «modernen» – unter internationalen Einflüssen stehenden – Teilen der Partitur und der «altmodischen» Cabaletta des Aida-Radamès-Duetts zu erkennen. Nicht zum letzten Mal mokierte Verdi sich über die konventionelle Meinung, die einst für die Cabaletta geschwärmt hatte und sie nun mit einem Bann belegte: «O was für eine Herde von Schafen!» Worauf es ankam, war, dass die Cabaletta an ihrem Platz die richtige Wirkung entfaltete. Er reagierte auch weiterhin verbittert auf «dumme Kritik und noch dümmeres Lob […], hinter dem eine Art Übellaunigkeit zu stecken scheint, als hätte ich ein Verbrechen begangen, als ich Aida schrieb und ordentlich inszenierte […]. Niemand hat mir auch nur gesagt: Dankeschön, Hund!» (VI, S. 144; A, Bd. 3, S. 553). Verdi kümmerte sich nicht um diese Debatte und brachte die ersten italienischen Inszenierungen der Aida selbst auf die Bühne. Ob nun Wagnerismus oder nicht, das Werk sprach für sich selbst. Die musikalische Realisierung und die Inszenierung kosteten viel Zeit und Kraft, erst in Mailand, dann in Parma und Neapel. Diese Erfahrung nahm das ganze Jahr 1872 und die ersten Monate des folgenden Jahres in Anspruch. Sie vertiefte Verdis ironische Einstellung gegenüber der Scala (dem «ersten Theater der Welt», wie die Mailänder glaubten). Im San Carlo in Neapel – geprägt von «Ignoranz, Trägheit, Apathie, Unordnung, Schiffbruch» – glaubten die Leute immer noch hochmütig, «wir» verstünden es am besten, wie man auch an der Pariser Opéra weiterhin meinte, das Monopol auf «Geschmack» zu besitzen: «nous, nous, nous» (A, Bd. 3, S. 445; C, S. 276, 280, 683 – 687). Verdi er-

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kannte, wenn er seinem neuen Werk zum Erfolg verhelfen wollte, musste er die Sache selbst in die Hand nehmen, um routinierte Mittelmäßigkeit zu verhindern – und genau das tat er. Bei Aida – wie schon zuvor bei der 1869 überarbeiteten Fassung der Forza – fungierte Verdi als Produzent im modernen Sinne des Wortes. Bis dahin hatte er sich weitgehend auf die Führung der Sänger und Sängerinnen beschränkt. Wie Wagner einige Jahre später in Bayreuth akzeptierte er die realistisch «historischen» Bühnenbilder und Kostüme, die damals in Mode waren, auch wenn er keine vollgestopften Bühnen mochte und sich nach dem weniger «rationalistischen» Stil der 1840 er Jahre sehnte. Wie er gegenüber Tito Ricordi im Blick auf La forza del destino erklärte, waren seine Neuerungen ganz einfacher Art: Die Sänger sollten lernen, ihre Partituren «zu lesen und zu verstehen»; die Impresarios, Stücke zu produzieren; Orchester und Chöre, zusammenzubleiben und auf Kennzeichnungen wie piano und forte zu achten. «Das ist so, als bäte ein Maler um etwas mehr Licht, damit man ein Bild sehen kann» (A, Bd. 2, S. 733). Der Vormarsch der Repertoire-Oper hatte in den 1860 er Jahren zu einem Qualitätsverlust geführt. Viele Opern wurden ohne längere Proben oder auch ganz ohne Proben allein nach den Anweisungen eines Sängers auf die Bühne gebracht. Diese schlechten Gewohnheiten hatten auch auf Neuproduktionen übergegriffen. «In Ermangelung eines Inspizienten», sollte Shaw 1891 schreiben, «weiß in Les Huguenots niemand, ob er ein Katholik oder ein Protestant ist.»2 Verdis «einfache» Neuerungen betrafen genau diesen Punkt. In Italien sollte er u. a. Arturo Toscanini (der als junger Mann mit ihm zusammenarbeitete) dazu veranlassen, die Inszenierungen in führenden Opernhäusern kohärenter zu gestalten. Das bedeutete auch ausreichende Probenzeiten. In Mailand verlangte Verdi 1868 für die dort erstmalige Inszenierung des Don Carlos (vergeblich) vierzig Tage für die Proben statt der in

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Italien üblichen drei Wochen. 1883 protestierte er mit nur geringfügig größerem Erfolg, als sich abzeichnete, dass die Sänger für die neue gekürzte Fassung kaum vierzehn Tage proben sollten. Er war der Ansicht, dass die italienischen Orchester ihre seit langem vernachlässigten mittleren Streichinstrumente – Bratschen und Celli – verstärken sollten, damit ein homogenerer Klang entstand. Auch sollten sie den zur Gewohnheit gewordenen Hang zu «Lautstärke und mangelnder Feinheit» überwinden.3 Von Sängern und Sängerinnen forderte er stets «Feuer, Esprit, Kraft und Begeisterung», aber das hieß nicht, dass sie schmettern oder «die Hand an den Kopf legen und völlig irrsinnig» werden sollten.4 Was daraus wurde, können wir heute nicht mehr hören. Verdi beendete seine aktive Laufbahn kurz vor der Entstehung von Tonaufnahmen. Er scheint ein beträchtliches Maß an rubato zugelassen zu haben. Seine Forderung, die Partitur genau so wiederzugeben, wie er sie geschrieben hatte, war eher eine Warnung vor Nachlässigkeit als eine wörtlich zu nehmende Anweisung. Da Verdi ab 1869 mit führenden italienischen Opernhäusern arbeitete, machte er sich Sorgen um den schlimmen Zustand des italienischen Opernbetriebs. Die italienische Regierung hatte die Subventionen für Theater oder Orchester eingestellt – und diese Aufgabe den zunehmend widerwilligen Städten überlassen. Schlimmer noch, sie hatte die Kasseneinnahmen der Theater mit einer zehnprozentigen Steuer belegt. Verdis nächstes Unternehmen in den Jahren 1873 bis 1875 fiel mit dem Beginn einer Wirtschaftskrise zusammen. Einige der Theater, für die er als junger Mann gearbeitet hatte, wie La Fenice in Venedig und La Pergola in Florenz, waren nun die meiste Zeit geschlossen. Der prekäre Zustand der Oper war jedoch nicht der Grund, weshalb Verdi in diesen Jahren die Totenmesse für Manzoni komponierte. Er hatte sich von der lyrischen Bühne zurückgezogen. Die Schaffung geistlicher Werke war für einen italienischen

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Komponisten der normale nächste Schritt. Die Messe stand in einer langen Tradition. Der Aufbau folgte der üblichen Form, das «Libera me» am Ende übernahm er aus der 1869 aufgegebenen Totenmesse für Rossini. Verdi hatte schon vor Manzonis Tod daran gedacht, ein Requiem für ihn zu schreiben, doch als der Schriftsteller am 22. Mai 1873 im Alter von achtundachtzig Jahren starb, geriet er in Zeitnot, und diesmal gelang es ihm, die Messe ein Jahr später zur Aufführung zu bringen. Er dirigierte sie in einer Mailänder Kirche, dann in der Scala, schließlich in Paris und London und später noch in Wien und auf einem Festival in Köln. Ricordis Entscheidung, die in Berlin geplante Aufführung – wegen des krisenbedingt ungenügenden Vorverkaufs – abzusagen, führte zu einem heftigen Grundsatzstreit zwischen dem Komponisten und seinem Verleger. Manzoni – der italienische Scott, Dickens und Tennyson in einer Person – war ein strenger Katholik und ein gemäßigter Nationalist. Verdi verehrte ihn, seit er mit sechzehn Jahren dessen Roman Die Verlobten gelesen hatte. Erst 1868 arrangierte seine Freundin Clarina Maffei eine Begegnung mit dem gebrechlichen alten Mann, den sie ihren «Heiligen» nannte. Zum zweiten Mal in seinem Leben hatte Verdi das Gefühl, vor einem Menschen niederknien zu wollen (der erste war Garibaldi gewesen). Abgesehen von seiner aufrichtigen Verehrung für Manzoni, sollten wir nicht annehmen, dass Verdi die Messe aus christlichen Gefühlen heraus komponierte, auch wenn die zu seiner Zeit höchste Form des Christentums sie geprägt haben dürfte. Wie viele Künstler des 19. Jahrhunderts war Verdi ein Agnostiker, der dank eines ausgeprägten Sinns für Moral und Pflicht ohne göttliche Sanktionen auskommen zu können glaubte. In einem Brief an eine Freundin, die es gerne gesehen hätte, wenn Verdi zum Glauben zurückgekehrt wäre, schrieb Strepponi 1871 zunächst, ihr Mann sei bei größter Tugend doch ein Atheist, schränkte diese Aussage dann aber ein: «Ich will nicht sagen ein

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Atheist, aber er hat ganz gewiss wenig von einem Gläubigen» (Walker V, S. 280). Wir haben keinen Grund, diese Aussage anzuzweifeln. Sie selbst war zu dieser Zeit eine Theistin, die zwar der organisierten Religion mit Skepsis begegnete, aber dennoch zur Kirche ging. Später näherte sie sich schrittweise dem orthodoxen christlichen Glauben an. Als Verdi Sant’Agata in den 1860 er Jahren ausbaute, ließ er auch eine Kapelle errichten, doch dabei ging es ihm um soziale Disziplinierung. Wie andere Gutsbesitzer drängte er seine Untergebenen, zur Messe zu gehen. Er mochte Priester grundsätzlich nicht, und seine besondere Abneigung galt dem örtlichen Pfarrer. Wie manche andere Antiklerikale machte er jedoch eine Ausnahme hinsichtlich eines Lieblingspriesters, in seinem Fall des Kanonikus Giovanni Avanzi, eines italienischen Patrioten, der Pfarrer in der Nachbargemeinde war. Avanzi wurde ein Freund und hielt die Messe in Sant’Agata, zum Beispiel bei der Hochzeit der Adoptivtochter der Verdis. Wenn Verdi dort war, besuchte er die Messe. Das war die Voraussetzung dafür, dass in einer privaten Kapelle die Messe gelesen wurde. Erst sehr spät, um 1890, hören wir davon, dass er seine Frau in Genua zur Messe begleitete. Nach den ersten Aufführungen wurde das Manzoni-Requiem bis in die 1930 er Jahre hinein nur noch selten aufgeführt. Heute gehört es zu den beliebtesten geistlichen Werken. Die alte Sichtweise, wonach es sich um ein «opernhaftes» Werk handele, ist geschwunden. Weder seine Form noch Sprache stammt aus der Oper. Vielleicht passt es gerade deshalb in ein nachchristliches Zeitalter, weil es Christen heute fragwürdig erscheint. Sie – und auch andere – haben den Eindruck, dass es darin «allzu sehr nach Schwefel riecht».5 Die Aussicht auf die Hölle scheint im Vordergrund zu stehen. Der durch das Dies irae ausgelöste Aufruhr dominiert nicht nur mit seinen choralen Niagarafällen und OffbeatPaukenschlägen, sondern durchzieht das Werk in liturgisch nicht vorgesehenen Reprisen – zweimal in der ersten Hälfte und noch-

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Verdi um 1890

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mals kurz vor Schluss. Der Schrecken angesichts des Jüngsten Gerichts ist in dem mittelalterlichen Text nur allzu präsent, doch ein anderer agnostischer Komponist, Fauré, vertonte acht Jahre später einen verwandten Text und berührte dabei den Tag des Zorns nur nebenher. Seine Fassung ist tröstlich, die von Verdi – bis ans Ende aufgewühlt – ist es nicht. Für die Priester des 19. Jahrhunderts, bei denen Verdi Religionsunterricht erhielt, gehörte die Furcht vor der Hölle wahrscheinlich zu den zentralen christlichen Einstellungen, die sie zu vermitteln versuchten. Man denke an die Predigt in Joyces Portrait of the Artist as a Young Man. Über sein spätes Te Deum von 1896 sagte Verdi, das «Auf dich habe ich gehofft» in der letzten Zeile sei Ausdruck der Höllenfurcht des Menschen – eine Interpretation, die nicht unbedingt naheliegt (VB, S. 490). Verdis Sicht des Lebens war, wie wir gesehen haben, recht trübe und trostlos. Falls es ein Leben nach dem Tode gab, war es möglicherweise eines, vor dem man sich gleichfalls fürchten musste. Das Requiem schafft ein Gleichgewicht zwischen großer Dramatik und würdevollem Ausdruck, zwischen Kraft und einem transparenten orchestralen Gewebe. Die Furcht vor dem Jüngsten Gericht steht im Vordergrund, doch gelegentlich fällt auch ein Lichtstrahl in die Finsternis – bei der lang ausgehaltenen kollektiven Trauer des Lacrimosa, dem Hostias mit seiner ausgeprägten Neigung zum Schlichten, vor allem aber bei dem außergewöhnlichen Agnus Dei: Die beiden oktavparallelen Frauenstimmen entfalten dreimal eine gregorianisch anmutende Melodie, die schrittweise in sich selbst zurückkehrt, wobei die Variationen der Tonart und des Tongeschlechts sich wie im Wind wehende Tücher ineinander verschlingen – ein Gebet denkbar heiterster Art. Das tanzende Sanctus, eine halsbrecherische Doppelfuge, zeugt von einem einzigartigen künstlerischen Temperament, desgleichen die angsterfüllte Schlussfuge («mit Gewalt Erlösung erlangen», hat Francis Toye dazu gesagt). Und wenn nun die individu-

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elle Seele im Angesicht des anderen sich deutlicher in Leonoras «Madre, pietosa vergine» oder der Sinn für das gemeinsame Gebet sich besser in «La vergine degli angeli» zeigte, beide aus La forza del destino? Das Requiem ist ein öffentliches Werk, in weiten Teilen gewaltig und deklamatorisch. Und es bleibt ein großes öffentliches Ereignis. Das Werk, das scheinbar Verdis letztes sein sollte, bestätigte ihn als das überragende Genie der italienischen Musik. Das Gerede über den «Wagnerismus» kam von einer Minderheit. Keiner seiner Kollegen – weder Ponchielli noch Gomes oder etwas später Catalani – reichten in Popularität und Ansehen an ihn heran. Erst Puccini setzte ein deutliches Zeichen, als Verdi sich endgültig zurückzog. Eine so herausragende Stellung war schmeichelhaft, aber auch exponiert. Regierungen und andere staatliche Körperschaften im geeinten Italien bedachten Verdi mit großen Ehrungen. 1874, im Jahr des Requiems, wurde er zum Senator auf Lebenszeit ernannt. Allerdings besuchte er den Senat nach seiner Vereidigung nicht mehr. Abseits des Parlaments äußerte er sich über Fragen der Kunstpolitik, und zwar hauptsächlich in Briefen, die teilweise zur Veröffentlichung bestimmt waren. Minister und andere Würdenträger baten ihn, sich an Kommissionen zur Verbesserung der Musikerziehung oder zur Förderung eines Bellini-Denkmals zu beteiligen, die Ehrenbürgerschaft von Mailand oder Bologna anzunehmen, Kommentare über dies und das abzugeben – Einladungen, die er in aller Regel ausschlug, auch wenn er in einigen wenigen Fällen einwilligte. Die ganz Großen fragten ihn allerdings selten um Rat. Er hasste sowohl Werbung als auch Eigenwerbung. Er wollte mit dem Bellini-Denkmal nichts zu tun haben, wenn dadurch der Eindruck entstehen konnte, er werbe letztlich für ein eigenes Denkmal. Er lehnte es ab, Aufführungen seiner Werke zu besuchen, wenn er nicht selbst an der Inszenierung mitgewirkt hatte,

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nur um sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Es sei «äußerst beklagenswert», schrieb er einmal, dass ein führender italienischer Kritiker zur Uraufführung der Aida nach Kairo reiste (C, S. 272). Selbst ein Zeitungsartikel, der darüber berichtete, dass man ihm die Entwürfe für Bühnenbild und Kostüme geschickt hatte, bereitete ihm «Unbehagen» (VB, S. 82-85, 155). Der Wert seiner Opern, betonte er immer wieder, zeige sich erst in der fünften oder sechsten Aufführung. Auch äußerte er sich nicht über die Werke anderer Komponisten, weder über alte noch neue. Das war kluge Berechnung, ebenso die Pose bäuerischer Unwissenheit, die alldem zugrunde lag. In einem Land, in dem der moderne Journalismus gerade aufkam, lehnte Verdi es ab, als öffentliche Person zu agieren, und wenn er es dennoch tat, so nur, wenn es ihm passte. Seine Weigerung, über Werke zu sprechen, an denen er gerade arbeitete, nährte Spekulationen – vor allem als er jahrelang verbot, irgendwelche Informationen darüber zu verbreiten, was er für seine beiden letzten Opern plante und wie weit sie gediehen waren. Offenbar war er sich selbst nicht sicher, ob er Otello und vor allem Falstaff fertigstellen würde. Aber er spannte die Menschen auch gerne auf die Folter. Über den Otello, der fast fertig war, schrieb er: «Soll ich ihn fertigstellen? Vielleicht. Soll ich ihn aufführen lassen? Schwer zu sagen, selbst für mich» (VI, S. 331 f.). Ein so geschickter Theatermann war keineswegs unschuldig, wenn es darum ging, «ins Rampenlicht zurückzukehren». Auch hatte er im Prinzip nichts dagegen, dass Ricordi seine Werke und seine mildtätigen Aktivitäten in seiner Zeitschrift rühmte. Das neue Italien funktionierte wie schon das alte auf der Grundlage eines Netzwerks aus Protektion. Gegenüber seiner Freundin Clarina Maffei äußerte Verdi einmal, als Gegner jeglicher Privilegien könne und wolle er niemals jemanden für eine Stelle empfehlen, «nicht einmal meinen besten Freund» (A, Bd. 3,

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S. 453). Auch das gilt allenfalls cum grano salis. Er empfahl sehr wohl Menschen für Stellungen – einmal sogar einen Priester, einen Freund des Kanonikus Avanzi, der in eine andere Pfarrei wechseln wollte. Und wenn Verdi solche Empfehlungen gab, hatte sein Wort Gewicht. So hievte er den ersten Leiter des neuen Konservatoriums in der Hauptstadt seiner Heimat Parma in sein Amt (er erwies sich als grauenhaft unfähig) – und anschließend auch dessen Nachfolger. Als er einige Jahre später den Sohn seines Kutschers zur Aufnahme in das Konservatorium empfahl, lehnte die Ministerialbürokratie den Jungen ab, weil er gerade die Altersgrenze überschritten hatte. Verdi übergoss sie mit einem Schwall von Sarkasmen: NIEMAND GILT ALS PROPHET IN SEINEM EIGENEN LAND …

Wenn ich aus der TÜRKEI käme, hätte man mir meinen Wunsch vielleicht erfüllt! Ich beuge mich dennoch der höheren Weisheit des Ministeriums. Wie glücklich wir doch sind – Bei so strenger Regierung werden wir bald eine Nation aus vollkommenen Wesen sein. Entschuldigen Sie mich, und auf Wiedersehen! (C, S. 404, Fn.)

Der Junge wurde am Ende doch aufgenommen. Auch war Verdi sich nicht zu schade, über hochrangige Freunde sicherzustellen, dass sein Gepäck bei Reisen nach Paris und von dort zurück nach Hause nicht der lästigen Kontrolle durch den französischen und italienischen Zoll unterzogen wurde. Er habe, so sagte er, ohnehin nichts zu verzollen. Die Nutzung solcher Privilegien war allgemein üblich, auch wenn dies nicht ganz seiner grundsätzlichen Haltung im Blick auf die nüchterne Strenge der Römischen Republik entsprach. Was die Kunstpolitik des neuen Italien betraf, vertrat Verdi die theoretischen Positionen eines alten nationalistischen Nörglers. Zugleich setzte er sich ganz praktisch für Veränderungen in der Musikerziehung und in der Finanzierung der Opernhäuser und

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Orchester ein. Seine Vorschläge basierten auf seiner eigenen langjährigen Erfahrung. Einige davon wurden tatsächlich realisiert – lange nach seinem Tod. Seine theoretische Position, die er über vier Jahrzehnte immer wieder vortrug, hatte er erstmals vorgestellt, als Boitos Angriff und der Aufstieg der Quartettvereine ihn 1863 aufschreckten. Die italienische Musik sei auf dem falschen Weg, weil junge Komponisten sich von den Ansichten mancher Musikwissenschaftler einschüchtern ließen, statt ihren eigenen spontanen Impulsen nachzugeben. In ihrer Angst und Unaufrichtigkeit äfften sie ausländische Vorbilder nach – vor allem die deutsche, aber auch die französische symphonische Musik – und verlegten sich auf verstiegene harmonische Effekte, die nicht ans Herz gingen. Instrumentalmusik und Symphonik seien für die Deutschen das Richtige, für die Italiener aber das Falsche. Der italienische Genius liege in der Vokalmusik, und die Italiener sollten daran festhalten. Zwar habe Rossini «einige Formen» von Mozart übernommen, doch in der Melodie sei er ein echter Italiener geblieben: […] dass wir [unsere nationale Eigenart] um der Mode willen, aus bloßer Sucht nach dem Neuen oder aus Liebe zur Gelehrsamkeit aufgeben sollten, dass wir unsere eigene Kunst, unseren eigenen Instinkt, diese unsere spontane, natürliche, empfindsame, hell leuchtende Fähigkeit zurückweisen sollten, ist absurd und dumm. (A, Bd. IV, S. 78 f.)

Die Musikerziehung solle sich daher an italienische Vorbilder halten, vor allem an alte. In einem Bonmot, das zur Veröffentlichung bestimmt war und rasch berühmt wurde, schrieb Verdi 1871: «Kehren wir zum Alten zurück, es wird ein Fortschritt sein» (C, S. 232 f.; dt.: Briefe, S. 216). Wenn man ihn fragte, nannte er eine Liste von Komponisten, die er für würdig hielt, dass Musikschüler Zeit und Mühe auf sie verwandten. Sie begann mit Palestrina – einem Fixpunkt. Es folgten Carissimi und einige

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Koryphäen der neapolitanischen und venezianischen Schule des 18. Jahrhunderts, an erster Stelle Alessandro Scarlatti, Marcello und Pergolesi. Junge Menschen sollten seines Erachtens keine moderne Musik studieren und nur wenig Zeit auf Instrumentalmusik gleich welcher Epoche verwenden. Wie sooft war Verdis innere Einstellung komplexer als die rigiden Leitlinien, die er proklamierte, und in der Praxis verstieß er selbst gelegentlich dagegen. Obwohl er Pergolesi eine wichtige Stellung in seinem Lehrplan einräumte, wies er dessen Stabat Mater im Privaten doch dem «langweiligen Genre» zu, das es mit einem großen Teil der Arbeiten von J. S. Bach teile (VR, S. 80 f., 22, 25). Aber obwohl er Bachs h-Moll-Messe als «etwas trocken» empfand, besaß er doch einiges von dessen Musik, spielte auch manches gelegentlich selbst und bewunderte sie in gewisser Weise. Er übernahm nicht nur musikalische Ideen von Beethoven, Berlioz und Mendelssohn, sondern besaß auch Partituren von Wagner-Opern bis hin zum Parsifal. Seine halboffizielle Reaktion auf Wagners Tod 1882 («Traurig! Traurig! Traurig! […] Ein Name, der gewaltige Spuren in der Geschichte [unserer] Kunst hinterlässt!!!« – VR, S. 82 – 85, 86) bringt seine wohldurchdachte Ansicht zum Werk dieses Mannes nicht vollständig zum Ausdruck. Er hielt es offenbar für unausgewogen und gewunden, bewunderte aber dennoch die sinnliche Ausdruckskraft, die es durch kühne harmonische Erfindungen erlangte. Verdi ritt auf der italienischen Gesangstradition herum, weil er sich belagert fühlte und weil die Krise der italienischen Musik, von seiner eigenen einmal abgesehen, aus einem unsicheren Identitätsgefühl resultierte. Im neuen, noch nicht sicher geeinten Italien der Zeit von 1860 bis 1900 verband das Nationalgefühl eine Abhängigkeit von ausländischen Vorbildern mit kraftvoll vorgetragenen Überlegenheitsansprüchen. Obwohl Verdi sich als Liberaler dem «zivilisierenden» französischen Vorbild verpflichtet fühlte und das Bündnis Italiens mit Deutschland und Österreich

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ablehnte, lobte er 1889 doch überschwänglich den lautstark-aggressiven Ministerpräsidenten Francesco Crispi, den wichtigsten Verfechter dieses Bündnisses. Bevor Mascagnis Cavalleria rusticana 1890 die Heraufkunft der «jungen Schule» signalisierte, bemühten italienische Komponisten sich ohne sonderlichen Erfolg, ausländische Einflüsse und einheimische Gewohnheiten miteinander zu vereinen. Eine Rückkehr zur reinen Vokalmusik ließ sich kaum bewerkstelligen. Verdi selbst bewegte sich, wie wir gesehen haben, mit kühnen innovativen Schritten in Richtung einer immer subtileren Instrumentierung, räumte der Gesangsstimme aber weiterhin den ersten Platz ein. Verdi drängte die Konservatorien zwar zu einem rein italienischen Lehrplan, äußerte zugleich aber auch Zweifel an der dort praktizierten Ausbildung – wie man es von einem einstmals abgelehnten Bewerber wohl erwarten mochte. Letztlich komme es auf individuelle Ausbildung und starke Führung an. Er war jedoch mit anderen der Meinung, dass Musikstudenten eine bessere Allgemeinbildung benötigten und Frauen auch dort zugelassen werden sollten, wo dies wie in Neapel noch nicht der Fall war. Aber vor allem ging es ihm um die Oper. Es hatte keinen Sinn, die Konservatorien zu reformieren, wenn die italienischen Theater vor die Hunde gingen. Die Regierung, so meinte er, solle die zehnprozentige Steuer auf die Kasseneinnahmen wieder abschaffen und zumindest die drei führenden Opernhäuser des Landes wieder subventionieren, nämlich die in Mailand, Rom und Neapel. Er drängte auf eine Festanstellung der Orchester und Chöre. Außerdem sollten freie Chorschulen Männer und Frauen zeitweilig für Opernchöre abstellen – eine Praxis, die man im 18. Jahrhundert in Parma erprobt hatte. Am Ende erfüllte die Regierung die meisten dieser Forderungen – allerdings erst in den 1930 er und teilweise erst in den 1960 er Jahren. Verdi hätte sein siebtes und achtes Lebensjahrzehnt als Nörgler zubringen können, als ein Künstler, der nach einer ruhmreichen

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Karriere außer einer geistlichen Gelegenheitsarbeit nichts mehr schuf und immer stärker der Vergangenheit angehörte, wenn nicht zwei Männer ihn zur Rückkehr ins Opernhaus gedrängt hätten. Diese zwei Männer waren Giulio Ricordi und Arrigo Boito. «Ich bin da, um Ihnen zu gehorchen und Ihre Wünsche zu erfüllen» (VR, S. 82– 85, 143). Um eine neue Verdi-Oper ins Leben zu rufen, machte Giulio Ricordi sich zum Sklaven des Komponisten, ganz wie Mariani, aber mit weit mehr Klugheit und Weitblick. Verdi übertrug ihm Aufgaben wie die Beschaffung eines Hochzeitsgeschenks für die Tochter des Mailänder Hotelmanagers, in dessen bester Suite er gewöhnlich logierte. Nachhaltiger Aufmerksamkeit seitens Giulio Ricordis bedurfte es, als 1875 eine Krise im Verhältnis zwischen dem Komponisten und seinem Verlag auftrat: Bereits verärgert über Kürzungen und Interpolationen bei Inszenierungen des Don Carlos und über die Ablehnung des Requiems in Berlin, stieß Verdi nun auch noch auf Unregelmäßigkeiten in den Abrechnungen des Verlags. Man hatte ihm nicht alles gezahlt, was ihm zustand. Fast wäre es zu einem Prozess gekommen, doch dann einigte man sich nach langen Verhandlungen auf eine Nachzahlung von 50 000 Francs. Später, in den schwierigen 1880 er Jahren, lieh Verdi Ricordi 200 000 Francs. Dabei handelte es sich letztlich um eine Beteiligung an der Firma, die bei Verdis Tod immer noch ausstand. Giulio tat alles, um den Meister bei Laune zu halten. Er beeilte sich, Verdis Klagen und Forderungen nachzukommen und ihm seine aufrichtige Verehrung zu bezeugen, einem Künstler, den er einmal scherzhaft mit einem Gott verglichen hatte, der Ordnung aus dem Chaos schuf. Kein anderer Komponist konnte ihm das Wasser reichen: «Ohne Sie … kommen wir nicht weiter …, und [unsere] Theater und [unsere] Kunst werden zugrunde gehen» (VR, S. 82– 85, 58, 62). 1879 nutzte er die Gelegenheit einer von Verdi selbst – mit erfreulichem Erfolg – dirigierten Aufführung des Requiems in Mailand, in deren Anschluss er wahrscheinlich

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selbst ein wenig nachhalf, damit eine begeisterte Menge unter Verdis Fenster in Hochrufe ausbrach. Bei einem Essen mit Freunden machte Giulio den Vorschlag, Boito solle ein auf Otello basierendes Libretto schreiben. Als Boito und sein alter Freund Faccio am folgenden Tag anriefen und Boito drei Tage später die Skizze eines Librettos vorbeibrachte, ermunterte Verdi ihn weiterzumachen. Das Ergebnis werde «immer gut für Euch, für mich, für einen anderen sein» (C, S. 311; dt.: Verdi-Boito, S. 31). Boito lieferte unverzüglich einen vollständigen Text. Verdi kaufte ihm das Libretto ab, war aber immer noch nicht entschlossen, die Oper zu schreiben. Doch die Saat war gelegt. Von den «Zerzausten», an denen Verdi 1863 solchen Anstoß genommen hatte, war Faccio inzwischen weit entfernt. Er hatte Aida in Mailand mit, wie Verdi sagte, «seltenem, vielleicht einzigartigem»6 Geschick dirigiert und die Oper in Padua als Stellvertreter des Komponisten auf die Bühne gebracht. Aber 1890 war er an Syphilis im dritten Stadium erkrankt. Boito war Verdi dagegen nur einmal durch Zufall begegnet. Er hatte sich als Komponist versucht – mit einer Oper, Mefistofele, die nach einem anfänglichen Skandal in einer überarbeiteten, gezähmten Fassung dann ein Erfolg wurde. Über diese «Musik der Zukunft» hatte Verdi einem Freund gegenüber gesagt, es fehle ihr an «Spontaneität» und «melodischem Einfallsreichtum» – ein vernichtendes, aber durchaus zutreffendes Urteil (VI, S. 201). Dennoch hatte Boito sich einen Namen als Dichter und Librettist und als Mann von europäischer Bildung gemacht. Verdi bot er eine gute Kenntnis der Literatur und der italienischen Versmaße wie auch beträchtliche Erfahrung mit dem Schreiben von Texten für Musik. Leider konnten diese Vorzüge sich auch in ihr Gegenteil verkehren, wie einige moderne italienische Kritiker anmerkten. Da Verdi Boito als Literaten schätzte, ließ er ihm einige preziöse Formulierungen, nutzlose Eitelkeiten und eine Mischung aus Ästhetizismus und heftiger Melodramatik durchgehen.

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Das zeigte sich schon bald an einem Beispiel. Giulio Ricordi war auf die Idee verfallen, sein potenzielles Komponisten-Librettisten-Team an die Arbeit zu bringen, indem er es zu einer Überarbeitung des vernachlässigten Simon Boccanegra bewegte. Verdi willigte ein, und das in einer Diktion, die er für die letzte Phase seiner Laufbahn beibehalten sollte: «Ich bin ein Zusatz [jemand, der seine normale Laufbahn hinter sich hat], und alles, was ich tue, wird zusätzlich sein» (VR, S. 80 f., 77). Das Ergebnis, das 1881 auf die Bühne kam, überzeugte Verdi nicht davon, dass der «wacklige Tisch» Boccanegra nun standfest sei. Eine neu eingefügte Szene hinterließ allerdings Spuren: ein Streit im Genueser Rat, gefolgt von einem hereinbrechenden Mob, Simons großem Plädoyer für den Frieden und einer Konfrontation zwischen allen Hauptfiguren. Es war Verdis eigene Idee gewesen, den Dogen einen echten Brief von Petrarca verlesen zu lassen, in dem der Dichter Genua und Venedig dazu aufrief, im Namen des gemeinsamen italienischen Vaterlands Frieden zu schließen. Boito vermied Petrarcas Namen. Seine Figuren verwiesen stattdessen auf «die Stimme, die über Rienzi ertönt», auf den »Einsiedler von der Sorgue» und den «Sänger der blonden Dame von Avignon» – Umschreibungen sechsten Grades, die Verdi seinen früheren Librettisten niemals abgenommen hätte. Boito zeigte einen Schurken, der gezwungen ist, sich selbst zu verfluchen. Hier ließ sich Verdi durch sein Verlangen nach «starken Situationen» dazu verführen, der Vorliebe des späten 19. Jahrhunderts für Entsetzliches nachzugeben. Weitere preziöse Einfälle verdarben den Text des Otello, etwa wenn Otello feindliche Mauern, die er und seine Soldaten erklimmen, als «grässlichen Efeu» bezeichnet. Boito selbst schrieb, sein Libretto «illustriere» Shakespeares Tragödie.7 Und genau so sei es, meinten einige moderne Kritiker. Statt sie als italienische Oper neu zu schaffen, wie Piave dies bei Macbeth getan hatte, verwickle Boito das Publikum in ein europäisches Kulturprojekt.8

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In den 1880 er Jahren war die italienische Oper jedoch nicht mehr das lebendige, freie Genre, das sie in Verdis Jugend gewesen war. Einerseits ermöglichte das Urheberrecht nun sehr viel höhere Einnahmen. Neue Opern waren weitaus seltener, aber wenn sie Erfolg hatten, versprachen sie großen Gewinn. Die Verlage gaben sich beträchtliche Mühe damit, und ihre Produktion nahm sehr viel Zeit in Anspruch. Die fast sieben Jahre, die von Verdis Kauf des Librettos bis zur Fertigstellung der Partitur verstrichen, waren nicht an sich ungewöhnlich, sondern weil Verdi die Arbeit als «zusätzlich» empfand und jederzeit entscheiden konnte, ob er weiterkomponierte oder nicht. Manchen dürfte es gefallen, wie Giulio Ricordi und Strepponi auf Zehenspitzen um den unberechenbaren Komponisten herumschlichen, und sie mögen die verschleierten Anspielungen auf den «Schokoladenplan» genießen oder das mit kleinen Mohrenfiguren verzierte Weihnachtsgebäck, das der Verleger ihm schenkte, und die daraus erwachsenden Anspielungen und Scherze. Giulio schmierte dem Komponisten unablässig Honig ums Maul. Gleich zu Beginn räumte er ein, dass der Verlag ein materielles Interesse an Verdis Oper habe, doch dieser Gedanke werde «hundertmal erwogen und sozusagen überschattet von der unermeßlichen, unsagbaren Erregung, in die mich der Gedanke an ein Werk bringt, das Ihren Namen, wenn möglich, immer noch ruhmreicher gestalten … wird […]. Tatsache ist, daß [Boito] bei unseren häufigen Zusammenkünften immer mit Verehrung und Begeisterung [von Verdi] sprach; sonst könnte er nicht mein Freund sein» (VB, S. XXVIII; dt.: Verdi-Boito, S. 32 f.). Und in diesem Stil ging es weiter. Das hinderte Verdi allerdings nicht, seinen Verleger gelegentlich anzufahren und zu drohen, das Ganze aufzugeben. Boito behandelte Verdi als Künstlerkollegen, mit großer Höflichkeit und Achtung. Einige Jahre, nachdem Verdi mit der Arbeit begonnen hatte, ohne sich auf einen endgültigen Termin einzu-

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lassen, berichtete eine Zeitung, Boito habe Bedauern darüber geäußert, dass er Otello nicht selbst vertont hätte. Verdi bot ihm an, das Libretto zurückzugeben. Boito, als Musiker auf neurotische Weise zögerlich, aber selbstbewusst (er ließ seine zweite Oper fünfzig Jahre lang unvollendet), bat Verdi, mit der für ihn «bestimmten» Arbeit fortzufahren: «Sie sind gesünder als ich, stärker als ich […], und ich werde […] für Sie zu arbeiten wissen, ich, der ich für mich selbst nicht zu arbeiten weiß; denn Sie leben im wahren und wirklichen Leben der Kunst und ich in der Welt der Halluzinationen» (VB, S. 72 f.; dt.: Verdi-Boito, S. 241). Abgesehen von dieser kurzzeitigen Verstimmung lief alles glatt zwischen beiden, vor allem dank Boitos langer, überzeugender Briefe, seiner Besuche in Sant’Agata und des Taktgefühls, mit dem er selbst anbot, Zeilen zu kürzen, die Verdi für zu lang zu erklären nicht über sich gebracht hatte. Die beiden wurden Freunde. Verdi komponierte Otello in Schüben. Manchmal ließ er die Arbeit mehrere Monate lang liegen oder erklärte, das Projekt interessiere ihn nicht mehr. Außerdem nahm er sich 1883 die Zeit, Don Carlos zu überarbeiten und zu kürzen – keine leichte Aufgabe. Die meiste Zeit verbrachte er jedoch mit der Verwaltung seines Anwesens und der Planung des Krankenhauses. Erst 1885/86, als mehrere europäische Theater ihn wegen der Aufführungsrechte bedrängten, ließ er durchblicken, dass Otello möglicherweise bald aufführungsreif sei, und am 1. November 1886 erklärte er, das Werk sei fertig. Danach machte er sich intensiv an die Vorbereitung der Uraufführung an der Scala, wobei er selbst auf vollständiger Kontrolle bestand. Die Uraufführung am 5. Februar 1887 – mit Faccio als Dirigent – war ein Triumph. Innerhalb der nächsten zwei Jahre folgten Inszenierungen in Rom, Wien und London, und in einigen italienischen Städten avancierte Otello zu der Verdi-Oper, die von fortschrittlichen Musikliebhabern bewundert wurde, selbst von solchen, denen Ernani und Rigoletto nicht gefallen hatten. Verdi hatte sich neu erschaffen.

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Mit vierundsiebzig Jahren war er zum Evergreen-Komponisten geworden. Die Oper sollte ursprünglich Iago heißen, teils um nicht in Konkurrenz zu Rossinis – unshakespeareschem, aber bewundertem – Otello zu geraten, teils weil Verdi fasziniert war von dieser Gestalt. Der alte Antiklerikale stellte sich Jago gern als aalglatten Geistlichen vor. 1886 stand allerdings fest, dass die Oper Otello heißen sollte, ein Titel, der besser zu dem Werk passte, weil es sich um eine «Literaturoper» handelte, wie die Deutschen dies nennen. So kommen wir denn nicht umhin, uns zu fragen, in welchem Verhältnis die Oper zu Shakespeares Theaterstück steht. So zutreffend die moderne Kritik an Boitos Sprache auch sein mag, gelang es ihm doch, die Tragödie auf geniale Weise zu kürzen und neu zu arrangieren. Er verschränkte Szenen und Zeilen ineinander, um einer bereits straffen Vorlage eine klassische Einheit zu verleihen. Indem er den ersten, in Venedig spielenden Akt strich, höhlt er – nach Ansicht mancher Kritiker – Otellos Statur aus und ließ die Geschwindigkeit, mit der Jago das Ziel seiner Gehirnwäsche erreicht, kaum plausibel erscheinen. Doch dieses Urteil berücksichtigt nicht die Macht der Musik. Otello erreicht das Ufer. Der Sturm legt sich. Die nur dreizehn Takte seines «Esultate!» – Verdis eigene Idee – führen ihn «auf einen Gipfel des Erhabenen, von dem der Abstieg umso schrecklicher sein wird».9 Als Oase inmitten der Machenschaften Jagos entwirft Boito auf Anregung Verdis Desdemonas Serenade im zweiten Akt. Sie vermittelt ein Gefühl der Ruhe wie auch der verstreichenden Zeit. Die Lebhaftigkeit der Gespräche zwischen Jago und Otello sorgt schließlich vollends dafür, dass die Zuhörer sich um Fragen der Plausibilität nicht weiter kümmern. Charakteristisch für die Oper ist der späte Stil, den Verdi erstmals in der Ratssaalszene des überarbeiteten Boccanegra entfaltet hatte. Dort sorgt eine Serie musikalischer Blitze für eine buchstäblich haarsträubende Dramatik. Sowohl im Gesang als auch im

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Orchester verwendet Verdi Themen, die auf ihren Kern und zuweilen sogar auf bloße Fragmente reduziert sind und dennoch die Szene zusammenhalten. Auf Simons nobel-großherziges Plädoyer für Frieden folgt ein kraftvolles, hochgradig artikuliertes Ensemble. Die Szene endet mit weiteren Blitzen, als der Bösewicht sich selbst verflucht. Es war eine logische Weiterentwicklung der erstmals im dritten Akt des Rigoletto eingesetzten Technik. Auch in Otello modellieren Verdis «Mikrostrukturen» einen «facettenreich-prismatischen Diskurs, der wie ein von einem Lichtstrahl ausgeschnittenes Relief wirkt».10 Nirgendwo schreibt er «musikalische Prosa» oder sucht nach abgestuften Übergängen wie der späte Wagner. Die Oper besteht aus einer Serie von Nummern – Rezitativen, Chören, Arien, Duetten, einem Terzett, einem Quartett und sogar einigen mehrstrophigen Liedern mit Refrain (Jagos Trinklied und Desdemonas bewegendes Weidenlied) –, sie alle miniaturisiert oder in ihrem Fortgang verwandelt. «Esultate!» ist das erste von mehreren musikalischen Epigrammen, die stärker als die meisten Arien sind. Verdi baut die mehrstimmigen Stücke nach dem «Abschnitts»-Schema des Violetta-Germont-Duetts in La traviata auf, doch hier sind die Abschnitte kürzer und die Übergänge zwischen ihnen so geschickt gemacht, dass man ein sich frei entwickelndes Gespräch zu hören glaubt. Im Freudenfeuerchor des ersten Akts stieben die musikalischen Ideen so rasch und reichhaltig empor, dass er im Nu vorüber scheint. Denkt man noch an die überaus reiche und nuancierte Orchestermusik (die gedämpften Fanfaren in Otellos «Ora e per sempre addio» hat man mit Mahler, andere Passagen mit Brahms verglichen; die dunklen Phrasen der Kontrabässe, die Otellos Auftritt vor dem Mord ankündigen, können als Lehrbuchbeispiel gelten), sind wir sehr weit von Nabucco entfernt. Zu den denkwürdigsten Passagen gehören die ruhigsten: Jagos Erzählung von Cassios Traum; das Terzett, in dem er und Cassio

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Otello belauscht Cassio und Jago, die sich in der Mailänder Uraufführung 1887 über das Spitzentuch lustig machen. Zeitgenössischer Stich

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über das Spitzentuch lachen, während Otello sie belauscht; Otellos Beschimpfung Desdemonas als «abgefeimte Hure von Venedig». Die düstere Wirkung erreichen sie durch rhythmische oder melodische Muster, die höfisch wirken. «Kehren wir zum Alten zurück, es wird ein Fortschritt sein»? Doch das sind keine Pastiches nach Art der im Stil des 18. Jahrhunderts gehaltenen Abschnitte in Tschaikowskis drei Jahre später uraufgeführter Oper Pique Dame. Wie die Blitzstrahlen in der überarbeiteten Fassung des Boccanegra klingen sie völlig neu – Verdi’sche «Erfindungen der Wirklichkeit». Die Krönung des Werks ist das Liebesduett, mit dem der erste Akt endet, der seinerseits der überzeugendste aller vier Akte ist. Dank Boito wie auch Verdi leistet das Duett Verschiedenes: Es besiegelt den Frieden nach dem gewaltigen, musikalisch komplexen Sturm und dem Kampf. Es erzählt uns von Otellos und Desdemonas Liebeswerben (das aus Shakespeares erstem, in Venedig spielendem Akt übernommen ist). Es zeigt deren höchst unterschiedliche Persönlichkeiten in einem glücklichen Gleichgewicht. Es bringt die Glückseligkeit zum Ausdruck, der das jungverheiratete Paar entgegenblickt. Eines der kostbarsten Operngefühle, innige, unbekümmerte Liebe zwischen Mann und Frau, prägt von Anfang an das Solocello, die vier Celli, die später hinzukommen, und das himmlische Zusammenspiel der Bläser, der Harfe und der Streicher, die schließlich einsetzen und, als dann dunklere Blasinstrumente hinzutreten, an einen «tiefen, aber klaren See»11 denken lassen. Obwohl es vor allem in rhythmischer Hinsicht Parallelen zum Duett jener anderen Neuvermählten, Elsa und Lohengrin, gibt (in den 1880 er Jahren war Lohengrin in Italien sehr populär), stellt sich doch die Frage, ob dies nicht Verdis Antwort auf das von ihm bewunderte Duett in der Mitte der «Liebesnacht» im zweiten Akt von Tristan und Isolde ist? Sind die stürmischen Sechzehntelnoten, als Otello und Desdemona «von Liebe überflutet» werden, nicht ein Echo auf Tristan, der sich

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nach dem Erlöschen der Fackel nähert? Es ist, als wollte Verdi sagen: «Ich kann das alles, und in weniger als einem Drittel der Zeit.»12 Nicht alle seine Ideen erzielen die erhoffte Wirkung. Selbst 1887 glaubte er noch, eine Oper brauche ein großes gemeinsames Finale, bei dem alle Hauptdarsteller und der Chor sich auf der Bühne versammeln. Boito brachte ihn geschickt von seiner ursprünglichen Vorstellung eines drohenden türkischen Angriffs ab und schlug stattdessen das jetzige Finale des dritten Akts mit seinem höchst effektvollen Vorhang vor (Otello schleudert Desdemona vor den Gesandten zu Boden und bricht dann, mit Jago allein gelassen, zusammen – eine von ihrer ursprünglichen Stelle dorthin verlegte Episode). Das Finale sollte den Plot weiter voranbringen. Der Aufbau von Spannung unmittelbar vor dem Zwischenvorhang genügte ihm nicht mehr. Verdi war unzufrieden damit und überarbeitete die Szene für Paris erheblich, doch es gelang ihm nicht, dass Jagos Plan zur Ermordung Cassios das Publikum durch den Lärm des großen Ensembles hindurch erreichte – ein Zeichen dafür, dass er zwar eine Art Cabaletta unterbringen konnte (das Eidesduett «Si, pel ciel marmoreo giuro», mit dem der zweite Akt schließt), ein so großer, vielstimmiger Satz aber nicht mehr zum Rest der Oper passte, wie es bei «Ma tu, re» in Aida noch der Fall gewesen war. Boito dachte sich etwas mindestens ebenso Fragwürdiges aus – Jagos Credo. Dass Verdi den Text als «in jeder Hinsicht im Geiste Shakespeares» lobte (VB, S. 76; dt.: Verdi-Boito, S. 245), zeugt von einem begrenzten Verständnis des Stücks. Shakespeares Jago täuscht. Boito dagegen schafft eine diabolische Gestalt, wie man sie Ende des 19. Jahrhunderts schätzte. Obwohl Verdis eindringliche Musik klar und deutlich ist, bleibt das Credo ein Kind der Boito’schen Obsession für den Gegensatz zwischen Engeln und Teufeln, schön und hässlich. Warum bereitet Otello trotz seines Glanzes dennoch ein leich-

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tes Unbehagen? Zum Teil dürfte die Schuld bei Shakespeare liegen. Seine Geschichte über Manipulation und Spitzentücher, die ein klares Wort jederzeit aufzulösen vermöchte, kommt einer Farce bedenklich nahe. Auch Boitos Fin-de-siècle-Dekadenz und – für solche, die des Italienischen mächtig sind – seine übertrieben literarische Sprache lasten auf der Oper. Das Ensemble des dritten Akts leistet nicht ganz, was Verdi wollte. Doch die Meinungen gehen auseinander. Nach einer genauen Analyse des Aufbaus und der tinta des Otello vermag Frits Noske zu sagen, erst mit diesem Werk habe Verdi die italienische Oper des 19. Jahrhunderts «auf ein bis heute unerreichtes Niveau gehoben».13 Ein Handikap – der Tenor, der sich schmetternd durch den Titelpart quält – ist heute weitgehend behoben durch die Vorherrschaft Placido Domingos. Otello kann überzeugen, ohne aufdringlich zu sein. Als Verdi die Uraufführung vorbereitete, machte er sich Sorgen wegen einer Veränderung der Darbietungskunst, die sich unter italienischen Sängern breitgemacht hatte. Viele waren nun stärker, wenn es um heftige Gefühlsausbrüche ging, als in Passagen, in denen es auf ein klares Timbre und präzise Intonation ankam. Die wenigen noch gespielten Opern, die einen kunstvollen Gesang verlangten, waren zu Vehikeln für «Kanariensopranistinnen» geworden. Für Verdi, der für die Rolle der Aida (neben Teresa Stolz) die klare, gut gestimmte Adelina Patti bevorzugte, war das entmutigend. Das Problem bestand zum Teil darin, dass er selbst singende Schauspieler statt bloßer Stimmkünstler wünschte. Nach dem 1857 uraufgeführten Boccanegra verwendete er in seinen Werken, abgesehen von gelegentlichen Spezialeffekten, keine Koloratur mehr. Für den Schurken in dieser Oper lehnte er einmal einen Bariton ab, weil der ihm zu klein und außerdem kurzsichtig war. Wer in einem Werk über Adelige und Plebejer den Paolo sang, ein «Symbol der Demokratie», solle nicht nur gut schauspielern

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und sprechen können, sondern auch gut aussehen und eine imposante Erscheinung sein (BM, S. 395). Auf seine Art hatte Verdi sich dem Trend hin zu einem größeren Realismus angeschlossen. Für den 1884 überarbeiteten Don Carlos wünschte er, der Tenor solle im Schlussduett mit Elisabeth «schwärmerisch, verträumt, mit verhangener Stimme usw. singen und nicht unsicher auf den Taktstock des Dirigenten starren». Das Quartett solle «gespielt und nicht (gar noch schlecht) an der Rampe gesungen werden» (VR, S. 82 – 85, 141). Das in Klammern eingefügte «gar noch schlecht» ist aufschlussreich. So sehr er auch wünschte, dass die Sänger und Sängerinnen nach den Vorstellungen der 1880 er Jahre realistisch spielten, sollten sie in ihrem Gesang dennoch den technischen Maßstäben der 1840 er Jahre genügen. Ein außergewöhnlicher, singender Schauspieler drängte sich wie von selbst auf. Victor Maurel, der 1881 zu Verdis voller Zufriedenheit Boccanegra gesungen hatte, war der Jago, an dem kein Weg vorbeiführte. Sorgen machte Verdi sich dagegen um den Otello. Konnte der Heldentenor Francesco Tamagno mit gedämpfter Stimme solche Dinge wie das Liebesduett und das abschließende «mit einem Kuss zu sterben» singen? Von Faccio und Verdi selbst angeleitet, überwältigte Tamagno das Publikum der frühen Aufführungen – wenn auch nicht mit gedämpfter Stimme. Sein «grandioses Schmettern», wie Shaw dies nannte,14 festigte eine Tradition, die wir heute gerade erst hinter uns lassen. Das größte Problem war Desdemona. Verdi nahm es zunächst mit Gelassenheit. «Wenn sie [zwei Kandidatinnen] auch schlecht singen, das macht nichts! – Im Gegenteil, um so besser. Dann werden sie eher auf meine Art singen.» Er achtete jedoch auch auf «die Qualität der Stimme, auf die Intonation und selbstverständlich vor allem auf Intelligenz und Gefühl». Als Romilda Pantaleoni die Rolle erhielt, fand er sie ein wenig «zu dramatisch». Bei frühen Proben alarmierten ihn ihre Stimmprobleme. Selbst

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im besten Fall sang sie falsch (VB, S. 94, 124; dt.: Verdi-Boito, S. 269, 298; CV, Bd. 4, S. 86 f.). Er hätte ihrem Engagement zweifellos nicht zugestimmt, wenn sie nicht Faccios Geliebte gewesen wäre. So aber schwieg er und bemühte sich, ihr zu helfen, und als sie endlich selbst einsah, dass sie Probleme mit ihrer Stimme hatte, gab er ihr freimütig den Rat, auf Auftritte in späteren Inszenierungen zu verzichten. Die Parallele zu Strepponis Situation bei Nabucco fünfundvierzig Jahre zuvor kann ihm unmöglich entgangen sein, bis hin zur Reaktion des Mailänder Publikums, das sich an die besseren Zeiten der Sopranistin erinnerte und sie freundlich behandelte. Obwohl Verdi in Mailand theoretisch alles unter seiner Kontrolle hatte, beklagte er sich später über das Bühnenbild und die verstimmten Kontrabässe. Er erhob überdies Einwände gegen einige der Künstler in nachfolgenden Inszenierungen, die er nicht selbst überwachte. Die Oper machte dennoch ihren Weg. Trotzdem kam es so weit, dass Verdi sie verfluchte und sich wünschte, er hätte sie nie geschrieben. Der Grund mag in einer vorübergehenden schlechten Stimmung gelegen haben. Die 1880 er Jahre waren für ihn zwar nicht so spannungsgeladen wie das vorangegangene Jahrzehnt, aber er hatte den Tod einer ganzen Reihe von Freunden zu verkraften – in seinem Alter unvermeidlich, aber dennoch sehr traurig. Der Lebensgefährte seiner guten Freundin Clarina Maffei, Carlo Tenca, starb 1883, ihr Ehemann 1885, Clarina selbst – zu seiner tiefsten Trauer – 1887. Opprandino Arrivabene war Ende 1886 gestorben, Tito Ricordi sollte ihm 1888 folgen. Verdis treuer Schüler Muzio starb 1890, ebenso sein politischer Freund Senator Piroli. Faccio, in diesem Jahr bereits todkrank, starb 1891. All das nährte den Pessimismus des alten Mannes. «Was tut man?» fragte er Clarina Maffei nach Tencas Tod. «Was werden wir tun? NICHTS!» – ein vorweggenommenes Echo auf Jagos «Tod und dann nichts» (A, Bd. 4, S. 226 f.; dt.: Briefe, S. 287).

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In Italien waren diese Jahre eine Zeit schwerer wirtschaftlicher und sozialer Probleme, die die Regierungen Crispis und seines unmittelbaren Nachfolgers durch Gewalt und imperialistische Abenteuer zu bewältigen versuchten. Verdi war in seinen politischen, Strepponi in ihren religiösen Anschauungen immer konservativer geworden. Nur ein extremes katholisches Vorurteil vermag den antisemitischen Ausbruch zu erklären, mit dem sie die Nachricht quittierte, der jüdische Vermieter wolle Teresa Stolz die Wohnung kündigen. («Das Verhalten dieses Juden ist so unanständig und unehrenhaft», schrieb sie an Stolz, «dass ich mir wünschte, ich könnte mit Nagelstiefeln auf die Köpfe ganz Israels treten.»15) Verdi hielt sich in Mailand auf, als es dort vom 7. bis 9. Mai 1898 zu Demonstrationen wegen der Brotpreise kam und die Artillerie in die Menge schoss, wobei achtzig Menschen ums Leben kamen und 450 verletzt wurden. Die Anführer der im Parlament vertretenen sozialistischen Partei wurden verhaftet. Boito, der gleichfalls dort war, berichtete über Verdi: «Den Tumult dieser letzten Tage hat er wie ein alter Bullenbeißer, der unruhig den wütenden Pudeln zuschaut, verfolgt, er, der sich an die großartigen Kämpfe von ’48 erinnert» (VB, S. 491 f.; dt.: Verdi-Boito, S. 512). Auch wenn Boito die Dinge aus seiner eigenen Sicht beschreibt, ist seine Darstellung doch plausibel. Konservative italienische Liberale vertieften die Kluft zwischen den begrenzten politischen Rechten, für die einige von ihnen 1848 gekämpft hatten, und den Forderungen der Arbeiter nach einem Anteil am wirtschaftlichen Wohlstand. Verdi sollte 1901 sterben, als unter Ministerpräsident Giovanni Giolitti gerade eine Phase tiefgreifender Reformen begann. Es mag sein, dass Verdi und Strepponi wenig Sympathie für ganze Klassen von Menschen zeigten (von ihren eigenen Untergebenen gar nicht zu reden), doch wenn Einzelne in Not gerieten, halfen sie oft großzügig. Als Piave 1867 durch einen Schlaganfall gelähmt wurde, unterstützte Verdi dessen Frau, stattete

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deren Tochter mit einer Mitgift von 10 000 Francs aus und setzte sich für die Herausgabe eines Albums zugunsten der Familie ein. Später unterstützte er mehrere alte Musiker oder deren Witwen, und 1889 fasste er den noch ehrgeizigeren Plan zu einem Altersheim für Musiker, mit dem er sich die letzten Jahre seines Lebens befasste. Er und seine Frau spendeten auch Geld für die Opfer von Überschwemmungen oder Erdbeben, für die Verwundeten des Deutsch-Französischen Kriegs und für ähnliche Zwecke. In seiner unmittelbaren Umgebung war das kleine Krankenhaus seine wichtigste gemeinnützige Unternehmung. 1881 bezeichnete er den Bau oder Umbau von Pächterhäusern als karitative Tätigkeit, weil er dadurch Menschen Arbeit gab, aber keine höhere Pacht erzielen konnte. In Wirklichkeit handelte es sich um Kapitalinvestitionen, und 1881 erforderte die angespannte wirtschaftliche Lage allenfalls eine Senkung der Pachtzinsen – wie er zehn Jahre später einräumen sollte. In den schwierigen 1880 er und frühen 1890 er Jahren kam es in der italienischen Gesellschaft zu Veränderungen, die eine Entwicklung hin zur Demokratie ankündigten. Die Industrie begann zu wachsen, dank der staatlichen Grundschule sank langsam der Anteil der Analphabeten, Tageszeitungen und illustrierte Zeitschriften fanden immer mehr Leser – hauptsächlich in den Städten und vor allem im Nordwesten des Landes. Schon 1880 hatte Strepponi als Grund, weshalb sie den Winter nicht mehr in Genua verbrachten, den «Kohlenrauch» genannt, «der uns mit der neuen wirtschaftlichen Entwicklung heute erreicht» (Walker V, S. 442). Diese Veränderungen erklären den außergewöhnlichen Auflauf, den Verdi auslöste, als er 1894 auf dem Bahnhof von Turin den Nachtzug nach Paris besteigen wollte. Nicht Studenten oder Musiker oder Opernbesucher, sondern Industriearbeiter, Tagelöhner, Gepäckträger, Polizisten und Angestellte verließen ihren Arbeitsplatz, strömten auf dem Bahnsteig zusammen und nah-

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men ihre Kopfbedeckungen ab. Als der Zug sich in Bewegung setzte, brach die Menge in Hochrufe aus, Männer schwenkten ihre Hüte, Frauen ihre Taschentücher. Verdi stand in der Tür des Waggons und winkte zurück, sichtlich bewegt. Das war eine bedeutsamere Ehrung als der Titel eines Großoffiziers der Ehrenlegion, den er 1880 nach der Aida in Paris erhielt, oder das Großkreuz des Ordens der Heiligen Mauritius und Lazarus, das ihm 1887 nach dem Otello verliehen wurde. Die meisten der auf dem Bahnsteig Versammelten dürften Il trovatore oder Rigoletto oder Aida in einem der großen, erschwinglichen Theater gesehen haben, in denen diese Werke inzwischen gespielt wurden. Und ganz sicher hatten sie Kapellen den Zigeunerchor, «La donna è mobile» und den Triumphmarsch spielen hören. Nur wenige hatten wahrscheinlich Verdis letzte Oper, Falstaff, gehört, die im vorangegangenen Jahr ihre Uraufführung in Mailand erlebt hatte. Sie wurde niemals populär, am wenigsten in Italien. Obwohl sie heute häufiger gespielt wird, ist sie doch weiterhin ein Werk für Kenner. «Habt Ihr [...] je an die enorme Zahl meiner Jahre gedacht?» Verdi war fast sechsundsiebzig, als er Boito diese Frage stellte. Und er war fast achtzig, als das Werk seine Uraufführung erlebte. Falstaff gehört zu den wenigen dramatischen Meisterwerken, die ein Künstler in außergewöhnlich hohem Alter geschaffen hat. Andere Beispiele sind solche von Sophokles, Rameau und Richard Strauss. Es war keineswegs abwegig, wenn Verdi sich gelegentlich fragte, ob er noch genug Zeit und Kraft haben werde, um die Oper zu vollenden. Doch im selben Brief vom Juli 1889 bemerkte er: «Welche Freude, zum Publikum sagen zu können: ‹Wir sind noch da! Bahn frei für uns!›» (VB, S. 143; dt.: VerdiBoito, S. 355). Es war Boito, der eine komische Oper vorschlug, die auf den Lustigen Weibern von Windsor basierte, wobei die Figur des Falstaff durch Auszüge aus Heinrich IV. angereichert werden sollte.

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Damit rannte er offene Türen ein. Verdi hatte mindestens seit 1868 mit dem Gedanken an ein komisches Sujet gespielt, als er die düstere Welt des Don Carlos hinter sich ließ. Dabei dachte er damals wie auch später an Falstaff. Boitos Entwurf begeisterte ihn. Und trotz der Bedenken wegen seines Alters machte er sogleich eine Reihe detaillierter Vorschläge. Binnen weniger Wochen schrieb er eine komische Fuge, die das Werk beschließen sollte. Im November lieferte Boito die beiden ersten Akte. Im März 1890, als er den letzten Akt schickte, hatte Verdi den ersten bereits komponiert. Die vollständige Instrumentierung sollte natürlich erst später folgen. Da sie zu komplex war, als dass man sie auf die Zeit der Proben hätte verschieben können, empfand Verdi sie als den schwersten Teil der Arbeit. Obwohl Verdi die Arbeit an Falstaff aufs Schwerste belastete und er bis zur Uraufführung, ja sogar darüber hinaus noch kleinste Änderungen vornahm, scheint seine Stimmung ruhiger gewesen zu sein als in der Zeit, als er den Otello komponierte. Arbeitsunterbrechungen konnten immer noch bis zu vier Monate dauern – eher Zeiten zum Atemholen als durch Übellaunigkeit bedingt, auch wenn Melancholie angesichts des Todes von Freunden eine Rolle spielte, desgleichen eine Krankheit und ein unangenehmer Rechtsstreit um die französischen Rechte an einigen früheren Opern. Verdi bezeichnete die Arbeit an der Partitur als einen Zeitvertreib, strafte diesen Euphemismus jedoch selbst Lügen durch die Intensität, mit der er um dieses Werk rang. Als die Arbeit kurz vor dem Abschluss stand, scherzte er – in gespieltem Zorn über Giulio Ricordi, der ihm überdimensioniertes Weihnachtsgebäck geschickt hatte: «Es stimmt, dass ich mit zunehmendem Alter ruhig, geduldig, gut gelaunt und gelassen werde [...]. Aber das hindert mich nicht, gelegentlich und ausnahmsweise in einen heftigen Zorn zu geraten, der noch schlimmer ist als früher. Also Vorsicht! Vorsicht! Vorsicht!» (A, Bd. 4, S. 470) Das Libretto bedurfte nur geringfügiger Änderungen. Verdi

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bat um bestimmte Laute und Formulierungen. Er wünschte, dass Falstaff in der Szene im Park von Windsor Schläge bekommt, und an den Schluss setzte er die komische Fuge, an die er zu Beginn bereits gedacht hatte. Auch nach der Uraufführung in Mailand sollte er noch Änderungen vornehmen, hauptsächlich aus musikdramatischen Gründen, um gewisse Passagen zu straffen, die sich im Theater als zu schlaff erwiesen hatten. Boito leistete auch hier wieder bemerkenswerte Arbeit, indem er die Anzahl der Figuren verringerte, entscheidende Ereignisse isolierte und Fragmente von Shakespeare miteinander verzahnte. Es war seine Idee, Anne und Fenton kein vollständiges Liebesduett zu geben, sondern mit ihren «schnellen und verschmitzten Dialogen», ihrem Necken und Küssen die ganze Komödie zu überziehen, «wie man eine Torte mit Zucker bestreut» – einer der glücklichsten Momente des Werkes (VB, S. 145, 150; dt.: Verdi-Boito, S. 357, 363). Nachteilig scheint dagegen die Tatsache, dass Boitos Sprache noch unergründlicher wurde als im Otello. Er streute zahlreiche archaische italienische Ausdrücke ein, viele davon in Ensembles, in denen mehrere Gruppen gleichzeitig verschiedene Texte singen, so dass die Zuhörer fast nichts mehr verstehen. Er hatte die Absicht, die italienischen Ursprünge der Shakespeare’schen Komödie zu verdeutlichen – die er und Verdi aus nationalistischen Motiven übertrieben. Falstaff sollte «jeden Qualm von jenseits der Alpen» zerstreuen (VB, S. 216; dt.: Verdi-Boito, S. 425). Das Publikum damals verstand diese Botschaft nicht, während manche späteren Italiener das Werk wegen Boitos Diktion als ästhetisierend und preziös empfanden. Dieser Aspekt besäße größeres Gewicht, wenn Verdi die Oper nicht «mit dem Teufel im Leib» komponiert hätte – wie eine seiner bevorzugten Anweisungen an die Sänger lautete. Schelmische Energie bewegt die ersten beiden Akte dank einer zugleich konzisen und leichtfüßigen Musik. Sie kehrt am Schluss zurück, nach der lyrischen Pause, die Fentons Sonett und der Zauber der

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Feenkönigin darstellen – ihre zweistrophige Arie hält die Zeit für einen ätherischen Augenblick an. Der Strom fließt am stärksten in dem Ensemble, das mit Falstaffs unfreiwilligem Bad in der Themse den Höhepunkt des zweiten Akts markiert – eine von zwei Passagen, die Verdi nach der Uraufführung straffte. Diesmal fand er heraus, wie ein traditionelles Finale, das die gesamte Besetzung auf der Bühne versammelt, musikalisch kohärent sein und zugleich die Handlung voranbringen konnte. Die Frauen, die um den Wäschekorb herum stehen; Falstaff, der nach Luft ringt; das Liebespaar hinter dem Paravent; Ford und seine Leute, die zum Sprung bereit sind, all das bildet ein kompliziertes, rasch wechselndes Kaleidoskop – musikalische Präzisionsarbeit und zugleich eine unwiderstehliche Farce. Die zweite von Verdi überarbeitete Passage – nach der Verschwörung zerstreuen sich die Frauen, um sich unter Hernes Eiche zu treffen, und Alice belauscht Fords Plan, ihre Tochter mit Dr. Cajus zu verloben – demonstriert, wie ein Hauch von einem Klang, ein hüpfendes, nur einmal wiederholtes Thema, hinter den Kulissen verschwindende Stimmen und eine Orchestercoda für Bläser und Streicher eine Brücke zwischen Farce und Magie zu schlagen vermögen. In Otello hatte Verdi die Formen der romantischen italienischen Oper miniaturisiert. In Falstaff miniaturisierte er sich selbst. Die plappernden Ensembles der Männer und Frauen huschen vorüber (alle hörbaren Worte sind aus Klassikern des 14. Jahrhunderts übernommen). Falstaffs Erinnerung an seine schlanke Figur als Page ergibt eine Arie von gerade einmal dreißig Sekunden Länge. Alices «Gaie comari di Windsor», etwa ebenso kurz, täuscht eine Kadenz vor. Augenblicke, an die alle Zuhörer sich erinnern: Mrs Quicklys kniefallende Phrase «Reverenza», die trippelnde Anweisung «Dalle due alle tre», das müde Stapfen der an sich selbst gerichteten Aufforderung Falstaffs «Lauf dahin auf deinem Weg», das liebliche zweizeilige Motto

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der beiden Liebenden – aus alledem kristallisiert sich ein Gefühl, eine Einstellung. Es ist, als wäre eine Arie oder ein Duett hier zu einer einzigen Phrase verdichtet worden. Auch der geschäftige, aber transparente Kommentar des Orchesters erfasst einen vorbeihuschenden Gedanken, etwa die schreckliche Katastrophe, die droht, «wenn Falstaff schlank werden sollte». Es ist die «Blitzstrahlmethode» der Ratssaalszene aus Boccanegra, nur haben die Blitze sich hier – einmal abgesehen von Fords gepeinigtem Monolog – in geschickt arrangierte Funken, Lichter und Glühwürmchensignale verwandelt. Falstaff birgt Verdis gesamte vergangene Praxis in sich, zu einem irisierenden Netz verflochten. Strepponi sprach von einer «neuen Gattung» (A, Bd. 4, S. 472). Und diese Gattung umfasste nur ein einziges, auf seine Weise nahezu vollkommenes Werk. Gewiss, es wirkt übertrieben, wenn die Feen Falstaff kitzeln und schlagen, und die müßige Erzählung der Mrs Quickly – die eingefügt wurde, weil Verdi Giuseppina Pasquas Sinn für Dramatik schätzte – überwältigt Alices «Gaie comari» unmittelbar danach. Aber das sind winzige Mängel. Falstaff ist insgesamt frappierend. Man hat die Oper als «genial» bezeichnet, doch ihr Tempo und ihr Gelächter beweisen mehr als nur einen Hauch von Schonungslosigkeit. Ihre Lebhaftigkeit zeigt eine Geistesverwandtschaft mit dem Prestissimocon-sordino-Satz in Bartóks viertem Streichquartett oder dem Allegro misterioso in Bergs Lyrischer Suite, und das nicht durch eine Ähnlichkeit der Kompositionstechnik, sondern weil alle drei ein Ohr für das Dämonische haben, das in ihnen liegt. Die Schlussfuge ist nicht genial, sondern stringent. Verdi zitierte deren Anfangszeile («Alles in der Welt ist Spaß») zweimal gegenüber Edoardo Mascheroni, dem Dirigenten der frühen Falstaff-Aufführungen, der ihm ein Freund geworden war. Gegenüber Boito zitierte er Falstaffs Tirade gegen die «Hundewelt», die «Diebeswelt», die «böse Welt»: «Ich weiß das, und leider

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weiß ich das dreißig Jahre länger als Ihr» (C, S. 716, 718; VB, S. 176 f.; dt.: Verdi-Boito, S. 386, 388). Und das alles meinte er auch so. Eine in jedem Takt fein kalibrierte Oper, deren Dialoge (von den Ensembles einmal abgesehen) das Publikum verstehen können muss, benötigt ein Theater, das kleiner ist als die meisten Opernhäuser. Als Verdi die Arbeit zur Hälfte abgeschlossen hatte, wünschte er sich solch ein Theater, doch die Ökonomie der Oper veranlasste ihn, sich mit der Scala einverstanden zu erklären. Später in Paris entschied er sich für die intimere OpéraComique. Die Uraufführung am 9. Februar 1893 war eher ein großes Ereignis als ein großer Erfolg. Verdi hatte auch hier wieder auf einer vollen Kontrolle über die Besetzung und die Proben bestanden. «Ich will mich nicht beklagen», schrieb er an Ricordi, «aber wenn es Mängel gibt, werde ich das Theater verlassen, und Sie müssen die Partitur zurückziehen» (A, Bd. 4, S. 459). Widerwillig beaufsichtigte er auch die Inszenierungen in Rom und Paris. Im Jahr der Pariser Falstaff-Aufführung brachte die Opéra den Otello mit Verdis brillanter neuer Ballettmusik auf die Bühne, so dass der Einundachtzigjährige zweimal dorthin reisen musste. Maurel war der unverzichtbare Falstaff sowohl in Italien als auch in Paris – so unverzichtbar, dass Verdi, als Maurel Falstaffs großen Monolog kürzte, in dem er über sein unfreiwilliges Bad brütet und die Wärme des Glühweins in sich aufsteigen fühlt, von Ricordi erzürnt ein Ultimatum verlangte, aber damit erfolglos blieb. Außer Maurel genügte nur Pasqua vollständig Verdis Anforderungen. Sie wurde ihm eine Freundin und verbrachte später wie Teresa Stolz gelegentlich mit ihm die Sommerferien in Montecatini. «Es ist alles vorüber!» Das war, wie Verdi sich später erinnerte, das beherrschende Gefühl nach der dritten Aufführung, als er sich von den Mailänder Künstlern verabschiedete (A, Bd. 4,

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S. 497). Sie sollten in Rom und Paris wieder zusammenarbeiten, wo seine Energie alle in Erstaunen versetzte, doch mit Falstaff war seine Karriere, was das Theater betrifft, beendet. Er komponierte auch weiterhin ein wenig. 1896/97 schrieb er das Te Deum und Stabat Mater, die – mit dem früheren Laudi zu drei «geistlichen Stücken» zusammengefasst – Ostern 1898 in Paris uraufgeführt wurden. Später fügten Konzertmanager noch das Ave Maria hinzu, das Verdi als Freizeitbeschäftigung in einer «enigmatischen Tonleiter» geschrieben hatte. Im Te Deum, dem stärksten dieser vier Werke, setzte Verdi seine verfeinerte späte Technik im Geiste des Requiems ein. In den frühen 1890 er Jahren scheint Verdi bei recht guter Gesundheit gewesen zu sein. Außer unter seinen üblichen Halsentzündungen und seinem Rheuma litt er gelegentlich unter Schwindelanfällen – einer davon trat schon 1883 auf, möglicherweise ein leichter Schlaganfall, aber ohne schlimmere Folgen als einem Schwächegefühl in den Beinen. Er war ein Mann, der sich mit einundsechzig Jahren an einem Tag fünf Zähne und eine Zahnwurzel ziehen ließ. Sorgen bereitete dagegen Strepponis Gesundheit. Sie litt schon seit Jahren an Bauchschmerzen und Arthritis. 1891 kamen Übelkeit und Appetitlosigkeit hinzu – möglicherweise Symptome einer Krebserkrankung. Sie aß nur noch wenig, und 1894 schrieb ein Pariser Journalist, der ein Gespräch mit ihr geführt hatte, sie sehe aus wie ein «alter Vogel» (IEV, S. 272). 1897 war sie sehr schwach und konnte sich nur noch unter Schwierigkeiten bewegen. Am 14. November starb sie an einer Lungenentzündung. In ihrem Testament äußerte sie die Hoffnung, im Himmel wieder mit «meinem Verdi» vereint zu sein. Ob er in den vorangegangenen fünfundzwanzig Jahren ihr allein gehört hatte, kann man bezweifeln. Aber sie hatten doppelt so lange zusammengelebt und kannten sich sogar noch länger. Gewohnheit und Zuneigung spielten wohl gleichermaßen eine Rolle.

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Verdi selbst erlitt im Januar 1897 offenbar einen leichten Schlaganfall, der diesmal ernstere Folgen hatte als der erste. 1898/99 hatte er sich jedoch wieder recht gut davon erholt, erfreute sich an Trüffeln und Champagner, kümmerte sich in Sant’Agata um die Geschäfte und empfing dort auch Gäste – die üblichen, nämlich Stolz, Pasqua, Strepponis Schwester Barberina (eine unverwüstliche Invalidin), Giulio Ricordi und dessen Frau, gelegentlich auch Boito. Seine Tochter Maria und deren Familie gingen ein und aus. Ein fürchterliches Ereignis – sein siebzehnjähriger Enkel erschoss versehentlich ein Dienstmädchen – führte zu einer Anklage wegen fahrlässiger Tötung. Das milde Urteil verdankte sich möglicherweise Verdis Ansehen. Für die rasche königliche Begnadigung galt dies ganz gewiss. Wir wissen nicht, ob Verdi sich in dieser Sache auch in anderer Weise engagierte, als dem König zu danken. Vor allem aber beschäftigte ihn in diesen letzten Jahren die Planung für sein großes Projekt, das Altenheim für Musiker. Er hatte 1889 dafür ein Grundstück in Mailand erworben. Als er 1894/95 einen neugotischen Entwurf von Boitos Bruder Camillo in Händen hielt, konnte er Kostenvoranschläge einholen und mit dem Bau beginnen. Er nahm regen Anteil an den Details des Baufortschritts. Zumindest einmal kletterte er sogar selbst auf das Baugerüst. Das Projekt entwickelte sich in seinem Kopf von einer Art Hospiz mit uniformierten Insassen und großen Schlafsälen nach dem Vorbild der Armenhäuser hin zu einem Altenheim mit Gästen in ziviler Kleidung und individuell gestalteten Doppelzimmern. In einem Zwischenstadium dachte er daran, die Heimbewohner mit derselben – altmodischen – Kleidung ausstatten zu lassen, die er selbst trug. Die erforderlichen Summen waren nicht gering. 1896 zahlte Verdi 400 000 Francs an Baukosten. In seinem Testament bedachte er das Heim mit 375 000 Francs und seinen Urheberrechten. Er verfügte, dass er selbst und Strepponi

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Verdi in sehr hohem Alter im Garten seines Hauses in Sant’Agata, mit seiner Schwägerin Barberina Strepponi (sitzend, Zweite von links), Teresa Stolz (stehend, links) und Giulio Ricordi (stehend, Zweiter von rechts) und anderen

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dort begraben werden sollten. Im Dezember 1899 unterzeichnete er eine notarielle Stiftungsurkunde für das Altenheim. Der erforderliche königliche Erlass folgte wenig später. Verdi tat all das gerade zur rechten Zeit. Innerlich, so dürfen wir annehmen, war er bereit zu gehen. Im Dezember 1896 schrieb er an Boito, dass sein «Name zu alt und langweilig» sei. «Es langweilt auch mich, meinen Namen zu nennen.» Und im April 1900 schrieb er: «Ich brauche so dringend Ruhe!» (VB, S. 270; dt.: Verdi-Boito, S. 492; A, Bd. 4, S. 652.) In diesem Sommer schien das Ende nah. Doch im Dezember konnte er schon wieder in seine Mailänder Hotelsuite fahren, wo er den Winter verbrachte. Am 19. Januar 1901 erlitt er eine Hirnblutung. Stolz und Maria kümmerten sich um den Sterbenden. Ein von Stolz gerufener Priester spendete ihm die letzte Ölung. Am 27. Januar starb Verdi. Wie schon seine Frau vor ihm, wurde er vorübergehend auf dem Mailänder Stadtfriedhof begraben. Am 26. Februar wurden beide auf dem Gelände des Altenheims beigesetzt. Eine große Menschenmenge nahm an der Beisetzung teil. Toscanini dirigierte einen Chor mit 900 Sängern und Sängerinnen, die «Va pensiero» intonierten. Inzwischen war das Altenheim ein gut gehendes Unternehmen, und das ist es noch heute. Ähnliches gilt für fast alles, was Verdi geschaffen hat. Was er baute, sollte Bestand haben. Im Bereich des Theaters ist er nur mit Shakespeare zu vergleichen. Das betrifft seinen direkten Bezug zum Publikum, seine proteushafte Vielfalt, seine Vertrautheit mit dem Menschlichen und auch sein Auf und Ab, vor allem aber die Tatsache, dass seine Werke die Zeiten überdauern. Was das Publikum des 19. Jahrhunderts suchte und schätzte, können wir heute nicht mehr teilen. Doch fast jedes seiner Werke bestätigt noch heute, was er mit sechsundsiebzig Jahren ausrief: «Wir sind noch da! Bahn frei für uns!»

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liste der kürzel zitierter werke

A F. Abbiati, Giuseppe Verdi, 4 Bde., Mailand 1959. Briefe Giuseppe Verdi. Briefe, hg. von W. Otto, Berlin 1983. BM M. Conati, La bottega della musica. Verdi e la Fenice, Mailand 1983. C I copialettere di Giuseppe Verdi, hg. von G. Cesari und A. Luzio, Mailand 1913, Reprint Sala Bolognese 1987. CV Carteggi verdiani, hg. von A. Luzio, 4 Bde., Rom 1935, 1947. IEV Interviews and Encounters with Verdi, hg. von M. Conati, London 1984. Schaffen Giuseppe Verdi. Briefe zu seinem Schaffen, ausgew. und übers. von O. Büthe und A. Lück-Bochat, Frankfurt am Main 1963. VB Carteggio Verdi-Boito, hg. von M. Medici, M. Conati und M. Casati, 2 Bde. [mit durchlaufender Seitenzählung], Parma 1978. VI Verdi intimo. Carteggio di Giuseppe Verdi con il conte Opprandino Arrivabene (1861 – 1881), hg. von A. Alberti, Mailand 1931. VR80 – 81 Carteggio Verdi-Ricordi 1880 – 1881, hg. von P. Petrobelli, M. Di Gregorio Casati und C. M. Mossa, Parma 1988. VR82 – 85 Carteggio Verdi-Ricordi 1882 – 1885, hg. von F. Cella, M. Ricordi und M. Di Gregorio Casati, Parma 1994. Verdi-Boito Verdi-Boito. Briefwechsel, hg. und übers. von H. Busch, Frankfurt am Main 1986. WalkerV F. Walker, The Man Verdi, London 1962.

Anmerkungen

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anmerkungen

Einleitung: Wahrheit und Theater 1 I. Berlin, «The naiveté of Verdi», in M. Chusid und W. Weaver (Hg.), The Verdi Companion, London 1980, S. 1 –12; dt.: «Verdis ‹Naivität›», in ders., Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte, Frankfurt am Main 1982, S. 410 – 420. 2 J. G. Prod’homme (Hg.), «Lettres inédites de Giuseppe Verdi à Léon Escudier», Rivista musicale italiana 35 (1928), S. 519 – 552, hier S. 534. 3 R. Parker, Leonora’s Last Act, Princeton 1997, S. 105 f. Erstes Kapitel: Der Sohn des Wirts, 1813–1842 1 Der Eintrag ins Taufregister und die standesamtliche Eintragung, beide am 11. Oktober vorgenommen, nennen den vorangegangenen Tag als Verdis Geburtsdatum. Verdi selbst feierte seinen Geburtstag stets am 9. Oktober, weil seine Mutter ihm, wie er sagte, versichert habe, dass dies der richtige Tag sei. Bei solch einer Frage sollten wir wohl eher Luigia Verdi vertrauen. 2 Das wahre Geburtshaus, das die Verdis bis 1830 bewohnten, wurde das «Alte Wirtshaus» oder «casa padronale» genannt (eine Bezeichnung, für die das englische «manor house» oder das deutsche «Herrenhaus» ein wenig zu hoch gegriffen wäre). Jedenfalls lässt sich daraus erschließen, dass es sich um das stattlichste Gebäude in diesem kleinen Weiler handelte. Siehe M. J. Phillips-Matz, Verdi. A Biography, Oxford 1993, S. 6 – 10.

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3 Ebd., S. 66. 4 Diese Bemerkung stammt aus einem Brief an F. M. Piave; seinem Librettisten schrieb er in dem saloppen, derben Stil, der unter Theaterleuten üblich war (den er in seiner sonstigen Korrespondenz aber nicht verwandte). Der Ausdruck, mit dem er die Priester belegte, lautet wörtlich übersetzt «Hoden». 5 Phillips-Matz, Verdi, a. a.O., S. 78. 6 Ebd., S. 102. 7 Als Verdi seine Darstellung dieser Episode gab, hatte sich das alte italienische System der Opernspielzeiten bereits verändert. Vielleicht hatte er vergessen, dass die Fastenzeit einst als eigene Spielzeit gegolten hatte. Vielleicht war ihm das 1841/42 nicht einmal bewusst. Mailand, ein Vorreiter auf diesem Gebiet, hatte die Fastenzeit schon 1788 für die Oper geöffnet. Das könnte erklären, warum er so zornig war, als es ihm nicht gelang, Nabucco auf die Rechnung für die Karnevalsspielzeit zu setzen. Normalerweise bezogen die Rechnungen sich auf die «Karnevals- und Fastenspielzeit», doch Merelli, der mit dem Werk eines Komponisten, dessen letztes Werk ein Misserfolg gewesen war, ein Risiko einging, hatte möglicherweise beschlossen, Nabucco als eine gesonderte und spezielle Fastenoper zu präsentieren. Zweites Kapitel: Der Galeerensklave, 1842 – 1847 1 L. A. Garibaldi (Hg.), Giuseppe Verdi nelle lettere di Emanuele Muzio ad Antonio Barezzi, Mailand 1931, S. 177 f. 2 Ebd., S. 38, 244. 3 Ebd., S. 60. 4 E. Baker (Hg.), «Lettere di Giuseppe Verdi a Francesco Maria Piave, 1843–1865», Studi Verdiani 4 (1986 – 1987), S. 136–166, hier S. 157. 5 J. Budden, The Operas of Verdi, 3 Bde., London 1973– 1981, Bd. 1, S. 212. 6 M. Pieri, Viaggio da Verdi, Parma 1977, S. 30. 7 G. Baldini, The Story of Giuseppe Verdi. Oberto to Un ballo in maschera, Cambridge 1980, S. 70 f. 8 Baker (Hg.), «Lettere a Piave», a. a.O., S. 151, 152. 9 Baldini, Story of Giuseppe Verdi, a. a.O., S. 74. 10 G. B. Shaw, Music in London 1890 –1894, 3 Bde., London 1932,

Anmerkungen

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Bd. 2, S. 178; dt. in Auswahl: Musikfeuilletons des Corno di Bassetto, Leipzig 1972 (in der Auswahl nicht enthalten). Budden, Operas of Verdi, a. a.O., Bd. 1, S. 152. P. Gossett, «The composition of ‹Ernani›», Bollettino dell’Istituto di Studi Verdiani 10 (1989), S. 90 – 93. Shaw, Music in London, a. a.O., Bd. 2, S. 178 (in der dt. Auswahl nicht enthalten). Budden, Operas of Verdi, a. a.O., Bd. 1, S. 275. Prod’homme (Hg.), «Lettres inédites à L. Escudier», a. a.O., S. 538. F. Degrada, «Lettura del Macbeth», in ders., Il palazzo incantato, 2 Bde., Fiesole 1979, Bd. 2, S. 79-137, hier S. 88, 101 f. Budden, Operas of Verdi, a. a.O., Bd. 1, S. 303. Degrada, «Lettura del Macbeth», a. a.O., Bd. 2, S. 122. Ebd., Bd. 2, S. 115. Drittes Kapitel: Wendepunkte, 1847 – 1849

1 Wann Verdi einen Vertrag mit der Pariser Oper unterzeichnete, ist ungewiss. Wahrscheinlich erörterte er das Vorhaben informell bei seinem Besuch Anfang Juni 1847 und gelangte erst nach seiner Rückkehr aus London Ende Juli zu einer förmlichen Übereinkunft. 2 Pieri, Viaggio da Verdi, a. a.O., S. 105, 111. 3 E. Sala, «Verdi e il teatro di boulevard parigino degli anni 1847 – 1849», in P. Petrobelli und F. Della Seta (Hg.), La realizzazione scenica dello spettacolo verdiano, Parma 1996, S. 187 – 214. Verdi erzählte Piave später, dass er den Stiffelius, auf den Piave sich bezog, nicht gekannt habe, aber wie Sala ausführt, verband er diesen Titel möglicherweise nicht mit dem Pariser Origialtitel Le Pasteur ou l’Évangile et le Foyer. 4 Sala (ebd.) meint, der sparsame und bruchstückhafte, mit Orchestermusik unterlegte Dialog zwischen Rigoletto und Sparafucile im zweiten Akt folge dem Muster des mélodrame. Das ist möglich. Es gab jedoch auch im Bereich der Oper einen Vorläufer in Donizettis Lucrezia Borgia (1833). 5 Zum Verhältnis zwischen Cirelli und Strepponi siehe M. De Angelis, Le carte dell’impresario, Florenz 1982, S. 155 – 159, 188. 6 Wie die meisten, die über Verdi geschrieben haben, kann ich die Theorie von Mary Jane Phillips-Matz nicht akzeptieren, wonach der weibliche Säugling, der 1851 im Waisenhaus von Cremona auf-

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genommen und unter dem Namen Santa Streppini registriert wurde, möglicherweise oder wahrscheinlich ein Kind von Strepponi und Verdi gewesen sei, die damals abgeschieden nicht weit entfernt von Cremona lebten. Wollte man diese Theorie akzeptieren, müsste man unterstellen, Strepponi und Verdi hätten annehmen können, die Veränderung eines einzigen Buchstabens (oder, falls es sich um einen Schreibfehler handelte, die Verwendung des Namens Strepponi allein) reiche unter diesen ganz speziellen Umständen aus, um die wahre Herkunft des Kindes zu verbergen. Bei den übrigen von Phillips-Matz angeführten Beweisen handelt es sich um bloße Indizien, für die sich auch andere Erklärungen finden lassen. Wir sollten uns hier an Ockhams Rasiermesser halten: »Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem» – Sofern nicht unumgänglich, postuliere man zum Zweck der Erklärung nichts, dessen Existenz nicht bewiesen ist. R. Parker, «Arpa d’or dei fatidici vati». The Verdian Patriotic Chorus in the 1840s, Parma 1997. Als stummer Subtext kann hier gelten, dass Cremona im 12. Jahrhundert die Bastion Kaiser Friedrich Barbarossas gegen die rebellische Lombardische Liga der norditalienischen Städte war (das Thema der Verdi-Oper La battaglia di Legnano von 1848, die jedoch eine andere, auf der Seite des Kaisers stehende Stadt zeigt: Como). Die Sänger und Sängerinnen, darunter auch Strepponi, erschienen für die Ruhmeshymne in mittelalterlichen Cremoneser Kostümen. Man könnte sagen, der Besuch des Kaisers war eine Anerkennung für die seinem fernen Vorgänger bewiesene Treue. B. Pauls, Giuseppe Verdi und das Risorgimento. Ein politischer Mythos im Prozeß der Nationenbildung, Berlin 1996 (siehe meine Besprechung in Studi Verdiani 12 (1997), S. 203 – 208). Phillips-Matz, Verdi, a. a.O., S. 251 f.; dt.: Briefe, S. 45. G. P. Minardi (Hg.), «Appunti inediti di Bruno Barilli su Verdi», Bollettino dell’Istituto di Studi Verdiani 1 (1960), S. 220 – 228, hier S. 227. Phillips-Matz, Verdi, a. a.O., S. 228. Die Überzeugung der Autorin, wonach Verdi 1850/51 eine tiefe Krise durchlebte, beruht auf der Annahme, die etwa um diese Zeit geborene Santa Streppini sei wahrscheinlich Strepponis (und möglicherweise Verdis) Kind, und das habe die Beziehung zu Carlo und Luigia Verdi vergiftet. Wenn sich, wie ich behaupte, keine Gründe für diese Annahme anführen

Anmerkungen

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lassen, kann der Streit mit seinen Eltern als eine Episode gelten, die, solange sie andauerte, zwar bitter, aber weder untypisch noch unbedingt traumatisch war. Viertes Kapitel: Der Volkskomponist, 1849 – 1859 1 Wer es ganz genau nimmt, mag hier einwenden, das Innere Afrikas sei damals noch gar nicht «erschlossen» gewesen. Es gab jedoch europäische oder europäisierte Gruppen in Ägypten, in Algerien, am Kap, in den Burenrepubliken sowie in den spanischen und portugiesischen Territorien. Überall dort kamen Militärkapellen nicht umhin, Verdis Musik zu spielen, ganz wie die britischen Kapellen in Indien. 2 Siehe G. Schmidgall, «Verdi’s King Lear project», Nineteenth-Century Music 9 (1985), S. 83 – 101; sowie die tiefschürfende Kritik von Baldini, Story of Giuseppe Verdi, a. a.O., S. 122, 179, 187 – 189. 3 Baker (Hg.), «Lettere a Piave», a. a.O., S. 159. 4 P. Gossett, «New Sources for Stiffelio: a preliminary report», in M. Chusid (Hg.), Verdi’s Middle Period 1849 – 1859, Chicago 1997, S. 19 – 43, hier S. 42 f. 5 Budden, Operas of Verdi, a. a.O., Bd. 1, S. 500 f. 6 C. M. Mossa, «La genesi del libretto del ‘Trovatore’», Studi Verdiani 8 (1992), S. 52 – 103, hier S. 71. 7 C. Dahlhaus, Musikalischer Realismus. Zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, München 1982, S. 83. 8 Shaw, Music in London, a. a.O., Bd. 1, S. 178. 9 P. Pingali, Romanticismo di Verdi, Florenz 1967, S. 27. 10 Dahlhaus, Musikalischer Realismus, a. a.O., S. 85 – 87. 11 Siehe auch F. Walker (Hg.), «Unpublished letters», Bollettino dell’Istituto di Studi Verdiani 1 (1960), S. 28 – 43, hier S. 33. 12 Birgit Pauls behauptet in ihrer Studie über Giuseppe Verdi und das Risorgimento, a. a.O., S. 223 – 247, das vorgeschlagene neue Libretto unterscheide sich gar nicht so sehr von Sommas Libretto und sei daher durchaus akzeptabel gewesen; Verdis Einwände müssten als Vorwand angesehen werden; er habe bewusst einen Bruch provoziert, vor allem um Ricordis Interessen im Blick auf eine möglicherweise nicht lizenzierte Nutzung der Partitur in Neapel zu dienen. Man unterstelle, Verdi habe das Element des Tyrannenmords in seinem Plot retten wollen, aber in Wirklichkeit sei es ihm

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darum gegangen, sein und Ricordis Urheberrecht zu schützen. Als er für die Aufführung in Rom das puritanische Boston als Ort der Handlung akzeptierte, sei das eine große und ebenso unpassende Veränderung gewesen, wie es die Verlegung der Handlung ins mittelalterliche Florenz gewesen wäre. Wenn er auf einem glanzvollen Hof bestand, so sei das nur als Vorwand zu werten. All diese Argumente sind nicht triftig. (a) Verdis gesamtes Verhältnis zu Ricordi zeigt, dass er nicht dessen Handlanger war. Er sorgte sich um sein Urheberrecht, aber nirgendwo sonst in seiner Laufbahn findet sich ein Hinweis darauf, dass er dieser Sorge die Priorität eingeräumt hätte, um ein Uraufführungsrecht zu erlangen. Dass Ricordi sich Sorgen wegen der Situation in Neapel machte, ist in Verdis Motiven nirgendwo zu erkennen. (b) Es ist äußerst zweifelhaft, dass Verdi im Ballo sonderliches Gewicht auf das Thema des Tyrannenmords legte, wie die «Risorgimento»-Interpretation behauptet, die Pauls zu widerlegen versucht (zumal diese Interpretation im Blick auf diese Oper nur selten zu hören ist). Doch trotz gelegentlicher Hinweise im Libretto auf Riccardos tyrannisches Verhalten als persönliche Motivation der Verschwörer (die der Zensor erzwang, um jeden Gedanken an eine politische Zielsetzung zu verhindern) wird er als eine äußerst einfühlsame Figur dargestellt. Pauls’ weiteres Argument, wonach Neapel im Dezember 1858 die römische Fassung billigte und sich daher offenbar keine sonderlichen Gedanken wegen des Tyrannenmords machte, lässt erstens den institutionell bedeutsamen Unterschied zwischen einem Herrscher und einem Gouverneur außer Acht und zweitens den damals in Italien bedeutsamen Unterschied zwischen der Erstaufführung eines Werkes und späteren Inszenierungen. Die Besitzer des Teatro La Fenice brachten I due Foscari nach der Erstinszenierung in Rom auf die Bühne, obwohl sie zuvor die Uraufführung abgelehnt hatten, weil sie befürchteten, damit einige venezianische Adelsfamilien zu verärgern. (c) Die Bemerkungen über das puritanische Boston setzen Kenntnisse voraus, über die das italienische Publikum gar nicht verfügte. Für die Italiener (die seit langem schon keine maritime Handelsflotte mehr besaßen) war das frühkoloniale Amerika ein Buch mit sieben Siegeln. Im Libretto findet sich keine Spur von Puritanismus. Man hätte es ohne weiteres auch im royalistischen Baltimore

Anmerkungen

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ansiedeln können. (Und warum geschah das nicht? Weil die Italiener über Boston wenig wussten – außer dass es, zum Glück für den Zensor, weit weg war –, aber über Baltimore gar nichts.) Insgesamt lässt sich kaum einsehen, weshalb wir Verdis wiederholt mit Entschiedenheit vorgetragenes und (bei genauem Hinhören) überzeugendes Argument zurückweisen sollten, seine Musik sei darauf angewiesen, dass die Oper an einem glanzvollen Hof spielte. Gewiss, er scheint nicht gerade Streit gesucht zu haben. Er hegte berechtigten Groll gegenüber Neapel, weil man dort Rigoletto und La traviata verunstaltet hatte, und sein Ansehen ermöglichte es ihm, den Ballo in einer akzeptablen Fassung anderswo in Italien aufführen zu lassen. Er war jedoch bereit, seinen Vertrag mit Neapel zu erfüllen, indem er die Oper dort in einer Fassung auf die Bühne brachte, die weitgehend der später für Rom akzeptierten Fassung entsprach (der Ort der Handlung wäre ein ebenso mythenhafter Hof im Pommern des 17. Jahrhunderts gewesen). Beim Ballo ist es nicht so wichtig, wo die Handlung angesiedelt ist, sofern der Ort nur ein glanzvolles Hofleben sowie den Hexenglauben plausibel erscheinen lässt. Das 17. Jahrhundert ist da besser als das «historische» Jahr 1792. Scribes Gebräu hat in jedem Fall wenig mit Geschichte zu tun. 13 H. S. Powers, «‹La dama velata›: Act II of Un ballo in maschera», in Chusid (Hg.), Verdi’s Middle Period, a. a.O., S. 273 – 336, hier S. 293 f. 14 Ebd., S. 289 – 292. 15 Ebd., S. 329. Fünftes Kapitel: Komplikationen, 1859 – 1872 1 G. Martin (Hg.), «Unpublished letters. A contribution to the history of La forza del destino», Bollettino dell’Istituto di Studi Verdiani 3 (1962), S. 745 – 754, hier S. 751. 2 Degrada, «Lettura del Macbeth», a. a.O., S. 127. 3 Brief an Faccio (Jan. 1879), in R. De Rensis, Franco Faccio e Verdi, Mailand 1934, S. 182 – 185. 4 G. Azzaroni und P. Bignami, Corticelli Mauro impresario, Bologna 1990, S. 166 – 169. Eine gute Dokumentation zu Verdi als Gutsbesitzer findet sich in F. Cafasi, Giuseppe Verdi fattore di Sant’Agata, Parma-Busseto 1994. Der folgende Abschnitt basiert weitgehend auf der dortigen Darstellung. Es mag durchaus noch unveröffent-

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lichtes Material geben, das ein Wirtschaftshistoriker zur Grundlage einer systematischen Untersuchung machen könnte. Wir kennen jedoch nur anekdotisches Material und fragmentarische Daten, so dass jede Schlussfolgerung tentativ bleiben muss. Siehe auch Walker, «Unpublished letters», a. a.O., S. 37. Die folgenden Seiten basieren weitgehend auf WalkerV, S. 283 – 446, einer detaillierten und einfühlsamen Darstellung der Verdi-Mariani-Stolz-Affäre, die sich wohl kaum wird übertreffen lassen. Verweise erfolgen nur im Blick auf andere Quellen. Dieser Satz ist in Strepponis Briefbuch gestrichen, doch in dem Entwurf, den sie abschickte, sagte sie weitgehend dasselbe, nur ausführlicher. Strepponis Entwurf, der als Tagebucheintrag beginnt und sich dann in einen Brief verwandelt, ist voller veränderter, gelöschter oder alternativer Passagen. Die meisten davon finden sich bei WalkerV, S. 431 f., werden hier jedoch weggelassen. Philips-Matz, Verdi, a. a.O., S. 756. F. Noske, The Signifier and the Signified, Oxford 1990, S. 202. Budden, Operas of Verdi, a. a.O., Bd. 3, S. 157. Ebd., Bd. 3, S. 120. Parker, Leonora’s Last Act, a. a.O., S. 18. Streng genommen investierte Gladstone in türkische Staatsanleihen, deren Sicherheit in den Tributzahlungen des in lockerer Abhängigkeit von Konstantinopel stehenden ägyptischen Staates bestand. Ob Verdi außer in Land und italienische Staatsanleihen auch in andere Titel investierte, wissen wir nicht. In der Regel tätigte er solche Investitionen in Paris. Budden, Operas of Verdi, a. a.O., Bd. 3, S. 251. Ebd., Bd. 3, S. 231. Sechstes Kapitel: Evergreen, 1872 – 1901

1 G. B. Shaw, «A Word more about Verdi», in ders., London Music in 1888 – 89 as heard by Corno di Bassetto, London 1937, S. 387. 2 Ders., Music in London, a. a.O., Bd. 1, S. 247. 3 An Alberto Mazzucato, 20. März 1868, Atti del II.o congresso internazionale di studi verdiani, Verona 1969, Parma 1997, S. 540 f. Siehe auch G. W. Harwood, «Verdi’s reform of the Italian opera orchestra», 19th Century Music 10 (1986 – 1987), S. 108 – 134.

Anmerkungen

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4 Petrobelli und Della Seta (Hg.), La realizzazione scenica dello spettacolo verdiano, a. a.O., S. 270, 272 et passim. 5 Pieri, Viaggio da Verdi, a. a.O., S. 114. 6 De Rensis, Faccio e Verdi, a. a.O., S. 128. 7 An Verdi, 10. Mai 1886, VB, S. 104; dt.: Verdi – Boito, S. 279. Boito kontrastiert seine eigene Arbeit – die er als «illustrierend» («erklärend») oder «den Geist interpretierend» beschreibt – mit der eines Übersetzers, der dem Buchstaben des Originals so treu wie möglich zu folgen habe. Dennoch ist es aufschlussreich, dass er den Ausdruck «illustrierend» verwendet. 8 Zu diesen Kritikern gehören Baldini, Pieri und Degrada, von denen bereits die Rede war; ferner D. Goldin, La vera fenice, Turin 1985, und – besonders scharf – G. Morelli, «Qualcosa sul Nerone», in ders., Arrigo Boito, Florenz 1994, S. 519 – 555. Siehe auch Noske, «Otello: drama through structure», in ders., The Signifier and the Signified, a. a.O., S. 133-170; und J. Kerman, Opera as Drama, New York 1956, beide kritischer gegenüber Boito als bei englischsprachigen Autoren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sonst üblich. Siehe außerdem, mit einem positiveren Urteil über Boito, vor allem im Blick auf Metrum und Sprachklang, E. Sala Di Felice, «Ricodificazione come interpretazione. ‹Otello› tra Boito e Verdi», Studi Verdiani 12 (1997), S. 11 – 30. 9 Budden, Operas of Verdi, a. a.O., Bd. 3, S. 338. 10 Pieri, Viaggio da Verdi, a. a.O., S. 162. 11 Budden, Operas of Verdi, a. a.O., Bd. 3, S. 352. 12 Verdis Bemerkungen über Tristan und Isolde stammen aus einem sehr späten Interview im Winter 1898/99 (IEV, S. 329). Doch er besaß eine Partitur und kann sie durchaus schon in den 1880 er Jahren gelesen haben. Siehe L. Magnani, »L’‹ignoranza musicale› di Verdi e la biblioteca di Sant’Agata», Atti dell III.o congresso internazionale di studi verdiani: Milano 1972, Parma 1974, S. 250-257. 13 Noske, The Signifier and the Signified, a. a.O., S. 170. 14 Shaw, London Music in 1888 – 89, a. a.O., S. 171. 15 A, Bd. 4, S. 128 f. Es gibt in Strepponis früheren Briefen keine Hinweise auf antisemitische Gefühle. Sie, Verdi und viele andere im Bereich der Oper verwendeten die Ausdrücke «Jude» oder «jüdisch» als Synonyme für «elend» oder «gemein», doch dieser im frühen 19. Jahrhundert häufig anzutreffende Sprachgebrauch entsprach noch nicht dem modernen systematischen Antisemitismus,

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der in Italien wie im übrigen Europa erst gegen Ende des Jahrhunderts seine Blüten trieb.

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Keine der bisherigen Verdi-Biographien ist vollständig und zufriedenstellend. Das beste Buch über ihn ist Frank Walker, The Man Verdi, London 1962. Es handelt sich allerdings nicht um eine vollständige Biographie, sondern um eine scharfsinnige, sorgfältig dokumentierte Studie über wichtige Aspekte seines Lebens, insbesondere das Verhältnis zu seiner Heimatstadt, zu Giuseppina Strepponi, Angelo Mariani und Teresa Stolz. M. J. Phillips-Matz, Verdi. A Biography, Oxford 1993, beschreibt en detail ein Ereignis nach dem anderen in Verdis Leben. Die Stärken des Buches liegen in der Beschreibung der Menschen und Orte und in der Darstellung der Jugendzeit, aber es lässt die Musik unberücksichtigt, äußert sich unkritisch über Verdi als Gutsbesitzer und gibt ebenso unkritisch Mythen über Verdis Anteil am italienischen Nationalismus wieder. Letzteres gilt auch für G. Martin, Verdi, New York 1963; und C. Osborne, Verdi: a Life in the Theatre, London 1987, das um ausführliche Zitate aus Verdis Briefen aufgebaut ist, von denen Osborne einige in The Letters of Giuseppe Verdi, London 1971, übersetzt hatte. G. Baldini, The Story of Giuseppe Verdi, Cambridge 1980, ist dagegen eine innovative Studie sowohl über das Leben als auch über die Musik. Leider starb der Autor, bevor er seine Arbeit abschließen konnte. So endet das Buch 1859 mit Un ballo in maschera. Die frühere Lebensbeschreibung von F. Toye (1931) ist veraltet, ebenso die von Gatti (2. Ausg. 1951; engl. Übers. 1955). Von den vielen italienischen Biographien seit Gattis erster Ausgabe von 1931 ist F. Abbiati, Giuseppe Verdi, 4 Bde., Mailand 1959, eine große Enttäuschung. Es hätte eigentlich eine vollständige und nahezu endgültige Lebensbeschreibung werden sollen. Der Autor sah zahlreiche neue Dokumente ein, aber verstand einige davon falsch oder transkri-

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bierte sie nicht korrekt und verdarb seine Arbeit durch erfundene Gespräche und maßlose Kommentare. Das Buch ist immer noch eine wichtige Quelle, bei deren Nutzung aber Vorsicht geboten ist. Eines Tages soll es eine vollständige Ausgabe der Briefe Verdis geben, herausgegeben vom Istituto Nazionale di Studi Verdiani in Parma. Die ersten Bände sind beispielhafte Editionen. Sie enthalten Verdis Briefwechsel mit Ricordi in den Jahren 1880 bis 1881 und 1882 bis 1885 sowie den Briefwechsel mit Boito (siehe die Liste der Abkürzungen). Das Institut besitzt zudem auf Mikrofilm sämtliche Briefe Verdis (und seines Schülers Muzio) an Ricordi. Die wichtigste gedruckte Quelle sind immer noch I copialettere di Giuseppe Verdi, hg. von G. Cesari und A. Luzio, Mailand 1913, Wiederabdruck Sala Bolognese 1987 – Auszüge aus Verdis Briefbüchern, die nicht immer identisch mit den tatsächlich abgeschickten Briefen sein müssen. Außerdem finden sich darin Auszüge aus Verdis Briefwechsel mit Clarina Maffei und anderen. Carteggi Verdiani, hg. von A. Luzio, 4 Bde., Rom 1935 – 1947, enthält neben Briefen von Verdi auch solche von anderen Personen. Die Sammlung ist nicht immer zuverlässig. In den 1930 er Jahren war Luzio, ein namhafter Archivar, bereit, peinliches Material stillschweigend wegzulassen. Giuseppe Verdi nelle lettere di Emanuele Muzio ad Antonio Barezzi, hg. von L. A. Garibaldi, Mailand 1931, zeichnet ein lebendiges Bild von Verdi in dessen viertem Lebensjahrzehnt. Einige von Verdis zwanglosen Briefen an F. M. Piave hat Evan Baker in Studi Verdiani 4 (1986 – 1987), S. 136 – 166, veröffentlicht. Verdi intimo, hg. von A. Alberti, Mailand 1931, enthält Verdis Briefe an Opprandino Arrivabene aus dessen zweiter Lebenshälfte. Drei von H. Busch herausgegebene Bücher versammeln Material zur Entstehung einer oder mehrerer Opern: Aida, Minneapolis 1978; Otello und Simon Boccanegra in der überarbeiteten Fassung, Oxford 1988; und Falstaff, Bloomington 1997. M. Conati, La bottega della musica, Mailand 1983, behandelt die Entstehung der fünf Opern, die Verdi für Venedig schrieb. D. Rosen und A. Porter (Hg.), Verdi’s «Macbeth»: a Sourcebook, Cambridge 1984, untersucht sowohl die Entstehung als auch das Nachleben dieser Oper. Zu Verdis Musik sind in den letzten vier oder fünf Jahrzehnten zahlreiche Bücher erschienen. An erster Stelle steht hier Julian Budden, The Operas of Verdi, 3 Bde., London 1973 – 1981; überarb. Ausgabe Oxford 1992. Neben einer detaillierten Analyse der einzelnen Werke enthält jeder Band ein erhellendes Kapitel über den Zustand der italieni-

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schen Oper in Verdis früherer, mittlerer und später Schaffensperiode. Budden hat außerdem einen Band über Verdi in der Reihe «The Dent Master Musicians» veröffentlicht: Verdi, London 1985; dt.: Verdi. Leben und Werk, Stuttgart 1987. P. Petrobelli, Music in the Theater, Princeton 1994, enthält mehrere Studien über Verdis Kompositionsverfahren. J. Hepokoski hat in der Reihe der «Cambridge Opera Handbooks» herausragende Studien über Otello (1987) und Falstaff (1983) veröffentlicht. In der von N. John herausgegebenen Reihe der «English National Opera Handbooks» findet man außerdem eine Studie über das Requiem von D. Rosen (Cambridge 1995) und kürzere Bände über mehrere Opern. Nur einer von Verdis Librettisten ist Gegenstand eines Buches in englischer Sprache: J. N. Black, The Italian Romantic Libretto: a Study of Salvadore Cammarano, Edinburgh 1984. Ich selbst habe in zwei Büchern den italienischen Opernbetrieb untersucht: The Opera Industry in Italy from Cimarosa to Verdi. The Role of the Impresario, Cambridge 1984; und – weniger detailliert – Music and Musicians in Nineteenth-Century Italy, London 1991. Wer eine vollständigere Bibliographie wünscht, halte sich an Andrew Porters Essay über Verdi in The New Grove Dictionary of Music and Musicians, London 1980 (2001 in einer neuen Ausgabe erschienen; im Internet verfügbar als Grove Music Online) und an Roger Parkers Aufsatz in The New Grove Dictionary of Opera, London 1992, dessen Lektüre insgesamt sehr zu empfehlen ist. Porters Aufsatz findet sich auch in The New Grove Masters of Italian Opera, London 1983, wie die Dictionaries herausgegeben von S. Sadie; dt.: Meister der italienischen Oper, Stuttgart und Weimar 1993. Eine Jahr für Jahr erweiterte Bibliographie enthalten die Bände der Zeitschrift Studi Verdiani.

BI B L IO G RAP HISCHE E RG ÄNZ U N G EN FÜR D IE D E U T SCHE AU SG AB E • zu den Biographien: Anselm Gerhard, Giuseppe Verdi, München 2012; Giuseppe Verdi. Autobiografia dalle lettere, hg. von Aldo Oberdorfer, Neuausgabe hg. von Marcello Conati, Mailand 2001; Marcello Conati, Verdi. Interviste e incontri, Turin 22000; Giuseppe Verdi: l’uomo,

Zur weiteren Lektüre

273

l’opera, il mito, hg. von Francesco Degrada, Mailand 2000; Orazio Mula, Giuseppe Verdi, Bologna 1999; Mary Jane Phillips-Matz, Verdi. A Biography, Oxford [u. a.] 21996 • zu den Briefausgaben: Carteggio Verdi-Ricordi (1886-1888), hg. von

Angelo Pompilio und Madina Ricordi, Parma 2010; Giuseppe Verdi. Lettere 1843–1900, hg. von Antonio Baldassarre und Matthias von Orelli, Bern [u. a.] 2009; Carteggio Verdi-Luccardi, hg. von Laura Genesio, Parma 2008; Carteggio Verdi-Somma, hg. von Simonetta Ricciardi, Parma 2003; Carteggio Verdi-Cammarano (1843–1852), hg. von Carlo Matteo Mossa, Parma 2001 • zu den Werken und ihrer Rezeption: Verdi Handbuch, hg. von Anselm

Gerhard und Uwe Schweikert, Stuttgart 22013; Sabine HenzeDöhring, Verdis Opern, München 2013; George W. Martin, Verdi in America. Oberto through Rigoletto, Rochester, NY 2011; Gundula Kreuzer, Verdi and the Germans. From Unification to the Third Reich, Cambridge [u. a.] 2010; The Cambridge Companion to Verdi, hg. von Scott L. Balthazar, Cambridge [u. a.] 2004; Verdi 2001. Atti del Convegno internazionale / Proceedings of the International Conference Parma – New York – New Haven, hg. von Fabrizio Della Seta, Roberta Montemorra Marvin und Marco Marica, 2 Bde., Florenz 2003; Marcello Conati, Giuseppe Verdi. Guida alla vita e alle opere, Pisa 2002; Verdi und die deutsche Literatur / Verdi e la letteratura tedesca, hg. von Daniela Goldin Folena und Wolfgang Osthoff, Laaber 2002; Dizionario verdiano: le opere, i cantanti, i personaggi, i direttori d’orchestra e di scena, gli scenografi, gli impresari, i librettisti, i parenti, gli amici, hg. von Eduardo Rescigno, Mailand 2001; Verdi in Performance, hg. von Alison Latham und Roger Parker, Oxford [u. a.] 2001; Richard Dedominici, Verdi drammaturgo. Aspetti di una melodrammaturgia ottocentesca, Coggiola (Biella) 2000; Hendrikje Mautner, Aus Kitsch wird Kunst. Zur Bedeutung Franz Werfels für die deutsche «Verdi-Renaissance», Schliengen 2000; La realizzazione scenica dello spettacolo verdiano, hg. von Pierluigi Petrobelli und Fabrizio Della Seta, Parma 1996

zeittafel

1813 1818 1820 1823 – 1828 1832

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9. oder 10. Oktober: Geburt Giuseppe Verdis in Le Roncole bei Busseto. Erster Musikunterricht beim Organisten von Le Roncole. Verdis Vater kauft seinem Sohn ein Spinett, also ein kleines Cembalo. Besuch des Gymnasiums in Busseto. 2. Juli: gescheiterte Aufnahmeprüfung am Konservatorium in Mailand. Danach bleibt Verdi als Privatschüler von Vincenzo Lavigna in Mailand. 4. März: Städtischer Musikdirektor in Busseto; 5. Mai: Heirat mit Margherita Barezzi. Erster Druck einer Komposition Verdis: Sei romanze für Singstimme und Klavier; 28. Oktober: Kündigung der Anstellung in Busseto und anschließend Übersiedlung nach Mailand, wo Verdi – von zahlreichen Reisen unterbrochen – bis 1848 seinen Wohnsitz haben wird. 17. November: Oberto, conte di San Bonifacio (Mailand, Teatro alla Scala). 18. Juni: Tod von Margherita Barezzi; 5. September: Un giorno di regno, ossia Il finto Stanislao (Mailand, Teatro alla Scala). 9. März: Nabucodonosor (Mailand, Teatro alla Scala). 11. Februar: I Lombardi alla prima crociata (Mailand, Teatro alla Scala); 20. März bis 11. April: erste Auslandsreise zur Wiener Erstaufführung von Nabucodonosor. 9. März: Ernani (Venedig, Teatro La Fenice); 3. November: I due Foscari (Rom, Teatro Argentina). 15. Februar: Giovanna d’Arco (Mailand, Teatro alla Scala); 12. August: Alzira (Neapel, Teatro San Carlo).

Zeittafel

1846 1847

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17. März: Attila (Venedig, Teatro La Fenice). 14. März: Macbeth (Florenz, Teatro della Pergola); 22. Juli: I masnadieri (London, Her Majesty’s Theatre); 26. November: Jérusalem (Paris, Académie Royale de Musique). Februar/März: Aufstände in weiten Teilen Europas, auch in Mailand und Venedig, wo aber in den folgenden Monaten die alte Ordnung wiederhergestellt wird; 31. Mai: Verdi bricht mit Mailand und nimmt Wohnsitz in Paris, ab Ende Juli gemeinsam mit Giuseppina Strepponi; 25. Oktober (in Abwesenheit Verdis): Il corsaro (Triest, Teatro Grande). 27. Januar: La battaglia di Legnano (Rom, Teatro Argentina); 5. Februar: Proklamation der Römischen Republik, die allerdings im Juli kapitulieren muss; 29. Juli: Verdi übersiedelt mit Giuseppina Strepponi von Paris nach Busseto; 8. Dezember: Luisa Miller (Neapel, Teatro San Carlo). 16. November: Stiffelio (Triest, Teatro Grande). 11. März: Rigoletto (Venedig, Teatro La Fenice); Mai: Übersiedlung von Busseto auf das nahegelegene Landgut in Sant’Agata. 19. Januar: Il trovatore (Rom, Teatro Apollo); 6. März: La traviata (Venedig, Teatro La Fenice). 13. Juni: Les vêpres siciliennes (Paris, Théâtre Impérial de l’Opéra). 12. März: Simon Boccanegra (Venedig, Teatro La Fenice); 18. August: Aroldo (Rimini, Teatro Nuovo). 17. Februar: Un ballo in maschera (Rom, Teatro Apollo); 8. Juli: Der zweite italienische Unabhängigkeitskrieg endet mit einer Niederlage der österreichischen Truppen, die die Voraussetzungen für die italienische Einigung schafft, 29. August: Heirat mit Giuseppina Strepponi in Collonges-sous-Salève bei Genf. 27. Januar: Wahl zum Abgeordneten im neuen gesamtitalienischen Parlament (bis 1865); 17. März: Vittorio Emanuele II. von Savoyen lässt sich zum ersten König von Italien proklamieren.

276 1862

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anhang

24. Mai: Inno delle nazioni composto per la grande Esposizione di Londra (London, Crystal Palace); 29. Oktober/ 10. November: La forza del destino (Sankt Petersburg, Bol’šoj teatr). 21. April: Macbeth in grundlegend überarbeiteter Neufassung (Paris, Théâtre-Lyrique Impérial). 11. März: Don Carlos (Paris, Théâtre Impérial de l’Opéra). 27. Februar: La forza del destino in grundlegend überarbeiteter Neufassung (Mailand, Teatro alla Scala). 24. Dezember (in Abwesenheit Verdis): Aida (Kairo, Teatro dell’opera). 1. April: Streichquartett e-Moll (Neapel, Albergo delle Crocelle). 22. Mai: Messa da requiem per l’anniversario della morte di Alessandro Manzoni (Mailand, San Marco). 18. April: Pater noster volgarizzato da Dante für fünfstimmigen Chor und Ave Maria volgarizzata da Dante für Solo-Sopran und Streichinstrumente (Mailand, Teatro alla Scala). 24. März: Simon Boccanegra in grundlegend überarbeiteter Neufassung (Mailand, Teatro alla Scala). 10. Januar: Don Carlo in grundlegend überarbeiteter Neufassung (Mailand, Teatro alla Scala). 5. Februar: Otello (Mailand, Teatro alla Scala). 9. Februar: Falstaff (Mailand, Teatro alla Scala). 14. November: Tod Giuseppina Strepponis in Sant’ Agata. 7. April (in Abwesenheit Verdis): Tre pezzi sacri (Paris, Académie Nationale de Musique); 13. November (in Abwesenheit Verdis): Quattro pezzi sacri (Wien, Hofopernhaus). 27. Januar: Tod Giuseppe Verdis in Mailand.

glossar

cabaletta: in der mehrteiligen Anlage einer Arie oder eines Duetts der zweite und letzte geschlossene Abschnitt als schneller Satz, dessen Text und Musik in aller Regel nach einem Chor-Einwurf ein zweites Mal (fast) unverändert wiederholt werden. cantabile (italienisch «gesanglich»): in der mehrteiligen Anlage einer Arie oder eines Duetts der erste geschlossene Abschnitt als langsamer Satz mit meist introvertiertem Charakter. chromatisch (griechisch «bunt»): musikalischer Zusammenhang, in dem nicht nur die Grundstufen einer Tonleiter verwendet werden, sondern auch deren leiterfremden Halbtöne. coda (italienisch: «Schwanz», «Anhang»): Schlussabschnitt eines Satzes, der in der Regel die Grundtonart bekräftigt. grand opéra, französisch für «große Oper»: seit dem 20. Jahrhundert Gattungsbezeichnung für den von Meyerbeer durchgesetzten Typus der fünfaktigen großen historischen Oper in französischer Sprache. opéra comique, französisch für «komische Oper»: Bezeichnung für eine Gattung des französischen Musiktheaters, in dem sich gesungene Abschnitte mit gesprochenen Dialogen abwechseln. rubato, Abkürzung für «tempo rubato» (italienisch: «gestohlene Zeit»): Ausführung einer musikalischen Phrase mit Abweichungen vom genauen Zeitmaß zur Steigerung der Expressivität, indem einzelne Töne länger, andere kürzer gespielt oder gesungen werden, als es dem notierten Notenwert entspricht. stretta: in der Abfolge eines großen Finales am Ende eines Aktes der letzte geschlossene Abschnitt als (sehr) schneller Satz, in dem in der Regel die atemlose Erregung von Bühnenfiguren angesichts einer ungelösten Konfliktsituation ausgedrückt wird.

bildnachweis

Soweit nicht anders vermerkt, stammen die Abbildungen aus dem Istituto Nazionale di Studi Verdiani in Parma. Abb. 3: © Museo Teatrale alla Scala, Mailand Abb. 10 (oben), 19, 23: © Raccolta delle Stampe Bertarelli, Mailand Abb. 20: © Archivio Storico Ricordi, Mailand Karte, S. 23: Peter Palm, Berlin

register

Hinweis: Zur Vermeidung von Redundanz enthält das Register keinen Eintrag «Giuseppe Verdi». Seine Beziehungen zu anderen Personen und einzelne Aspekte seines privaten oder beruflichen Lebens werden unter eigenen Einträgen behandelt. Die Titel seiner Opern sind als eigenständige Einträge enthalten, die Werke anderer Autoren finden sich unter deren Namen. Abbiati, Franco 260, 270 Ägypten 208 f., 265 Aida 10 ff., 18, 50, 96, 120, 129, 166, 171 f., 195–204, 208–215, 219–221, 228, 235, 243 f. Alzira 58 f., 71 Ansehen 11, 59, 173 f., 215, 227, 256, 267 Argentinien 127, 216 Aroldo 132, 161 f., 189 Arrivabene, Conte Opprandino 61, 246, 260, 271 Attila 11 f., 59, 67, 70 f., 77, 81 ff., 111 f. – und Nationalismus 112 Auber, Daniel 162 ff. – Gustave III 162 ff.

Ausbildung 28 f., 37 ff. Avanzi, Kanonikus Giovanni 224, 229 Bach, Johann Sebastian 9, 231 Baldini, Gabriele 73, 133, 147, 269 f. Ballo in maschera, Un 18, 55, 138, 162, 165 f., 169, 175, 189, 262, 266 f., 270 Barezzi (später Verdi), Margherita 13 f., 33, 42–45, 48–50, 82 Barezzi, Antonio 22, 24, 29–36, 38, 41 f., 61, 117–119, 187 Barezzi, Giovanni 188 Battaglia di Legnano, La 18, 92,

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115–117, 187 f., 128 f., 162, 264 Baudelaire, Charles 86 f., 178 Beethoven, Ludwig van 11, 32, 231 Bellini, Vincenzo 37, 48, 57, 65 f., 69, 75–77, 80, 91, 97, 137, 227 – I Puritani 80 – Norma 65, 69, 110 f., 142, 158 Berlin, Sir Isaiah 9 f., 13, 261 Berlioz, Hector 9, 56, 160, 231 Bizet, Georges 155 – Carmen 155 Boito, Arrigo 178 f., 230, 234–239, 242–244, 246–254, 256, 258, 269, 271 – Mefistofele 235 Boito, Camillo 256 Busseto 22, 24–29, 32–35, 38–43, 45, 48, 64, 121 f., 136, 144, 203 – Verdis und Strepponis Ressentiment gegen 104, 117, 120, 186 f. Byron, George Gordon, Lord 37, 67 Cammarano, Salvadore 71, 78, 129, 133, 145–147, 272 Carlyle, Thomas 67 Carrara, Angiolo 182 Cather, Willa 16 – The Song of the Lark (Das Lied der Lerche) 16 Cavour, Camillo 173 f., 185 Cirelli, Camillo 101, 263 Corsaro, Il 81 f.

Corticelli, Mauro 180, 188, 195 f., 267 Dahlhaus, Carl 149, 158 De Sanctis, Caterina 105 Degrada, Francesco 85 f., 269 Delacroix, Eugène 70 Demaldè, Giuseppe 22, 41, 43, 50, 110 Dérivis, Prosper 53 Dickens, Charles 11 f., 223 Domingo, Placido 244 Don Carlos 18, 191, 204–207, 211 f., 221, 234, 238, 245, 250 Donizetti, Gaetano 13 f., 37, 48, 56 f., 66, 75, 77, 82, 91, 97, 117, 137, 180, 263 – Le Duc d’Albe 14 – Torquato Tasso 69 Du Locle, Camille 207 f. Due Foscari, I 68 f., 71, 112, 220, 266 Dumas d. J., Alexandre 145 – La Dame aux camélias (Die Kameliendame) 145, 152 Elder, Mark 161 Ernani 18, 59, 65, 71, 73–79, 84, 111, 113, 116, 120 f., 137, 149, 238, 263 – Zensur 111 Escudier, Léon 129 f. Faccio, Franco 178 f., 235, 238, 245 f. Falstaff 11, 14, 18, 58, 215, 228, 249–255, 271 f. Familie, Herkunft der 21–33

Register

Fauré, Gabriel 226 – Requiem 226 Ferrari, Giovanni 41–43 Florenz 62, 65, 78, 82, 102, 117 f., 164, 169, 222, 266 – Teatro della Pergola 82, 222 Forza del destino, La 18, 176 f., 191 f., 221, 227 Frankreich 21 f., 26, 37 f., 67, 84, 93, 106, 114, 116, 152, 159, 169, 172 f., 184 – Ehrenlegion 106, 168 – politischer und kultureller Einfluss 24 f., 37 f., 162, 165, 175 f., 178, 230 f. – Revolution von 1848 106, 113–115 Frezzolini, Erminia 79 Galletti, Isabella 196 García Gutiérrez, Antonio 146 Garibaldi, Giuseppe 127, 174, 223 Gatti, Carlo 17, 270 Geburt und Kindheit 21–33 Genua 23, 53, 120, 161, 180, 190–192, 204, 224, 236, 248 gesellschaftliches Leben 28, 60, 96, 100, 117–121, 204 Ghislanzoni, Antonio 210 Gilbert (William Schwenck) und Sullivan (Arthur) 75 Gioberti, Vincenzo 67, 106 f., 109, 112, 115 – Del primato morale e civile degli italiani 67, 106 Giorno di regno, Un 49, 51

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Giovanna d’Arco 50, 65, 67, 79, 112 Gladstone, William Ewart 15 f., 209, 268 Gossett, Philip 140 Guasco, Carlo 79 Haydn, Joseph 32, 39 – Die Schöpfung 39 f. Hugo, Victor 12, 64, 67, 73, 84, 96, 132, 134, 136 f., 144, 178 – Hernani 73 – Le Roi s’amuse 132, 134, 136, 144 Italien – Klerikalismus und Antiklerikalismus 24, 31, 35, 41, 174, 187, 195, 224 – Musiktradition 11 f., 37, 46–48, 53, 58 f., 66, 74, 88–90 – Nationalismus 107–110, 113–116, 172, 251, 270 – Patronage und offizielle Anerkennung 227–229, 248 – Politik und Unruhen nach der Einigung 36 f., 95, 106–110, 113–115 – Revolutionen und Kriege 21–25, 108–115, 123, 131, 151, 169, 172–174, 184, 189, 204 – Sprache und Dialekte 28 f., 38 Jacovacci, Vincenzo 165 Jérusalem 94, 106, 121, 159 Joyce, James 226 – Portrait of the Artist as a Young Man 226

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Kirchenmusik 32, 34 – Geistliche Stücke 222–226, 255 – Requiem 172, 201, 226 f., 234, 255, 272 Krankheit und Tod 58 f., 256–258 Lamennais, Félicité-Robert de 67 – Paroles d’un croyant 67 Lanari, Alessandro 82, 84, 98, 160 Lavigna, Vincenzo 35 f., 38 Lind, Jenny 92 f. Lombardi alla prima crociata, I 58, 65, 67, 70, 79, 81, 94, 98, 108–111 – und Nationalismus 108–111 London 62, 79, 81 f., 90, 92 f., 178, 184, 201, 223, 238, 263 – Covent Garden 11, 67 – Sadler’s Wells 11 – St. Pancras Town Hall 74 Lord Hamilton 47 Louis-Philippe, König 106 Löwe, Sofia 73, 79 Lucca, Francesco und Giovannina 80–82, 196, 216, 219 Luisa Miller 14, 18, 50, 96, 129, 144 Lumley, Benjamin 93 Macbeth 57, 59 f., 65, 77 f., 81, 84–92, 97, 121, 129, 136, 138, 140, 156, 176, 206, 236 Maffei, Clara (Clarina), Gräfin 55, 60 f., 115, 200, 223, 228, 246, 271

Mailand 25 f., 32–39, 42 f., 45–48, 50, 53, 62, 70, 84, 107, 111, 113–115, 169, 176, 188, 191 f., 195, 220, 223, 241, 246, 254, 258 – als Hauptstadt des Geisteslebens und der Oper 36 f., 262 – Konservatorium 33 f. – Teatro alla Scala 35, 37, 45–48, 53, 58, 60, 70, 81 f., 113, 176, 200, 216, 220, 223, 238, 254 – Unruhen von 1898 247 Manton, Franz 74 Manzocchi, Almerinda 78 Manzoni, Alessandro 222–224 – Die Verlobten 11, 37, 223 Mariani, Angelo 189–198, 234, 270 Marie-Louise, ehem. Kaiserin, Herzogin von Parma 22, 110 Mariette, Auguste 208, 210 Marzi, Ercole und Luciano 160 f. Mascheroni, Edoardo 253 Masnadieri, I 71, 81, 91–93, 121 Massini, Pietro 40, 46 f. Maurel, Victor 245, 254 Mazzini, Giuseppe 109, 115, 174 Mélodrame 96 f., 142, 154 f., 263 Mendelssohn, Felix 231 Mercadante, Saverio 48 f., 66 Merelli, Bartolomeo 46–49, 53, 70, 82, 160, 176, 262 Meyerbeer, Giacomo 86, 94 f., 159, 175, 178, 189, 205, 216 – L’Africaine 159, 175

Register

– Le Prophète 159 – Les Huguenots 221 – Robert le diable 86, 94 Miller, Jonathan 147 Monza 42 f. Moriani, Napoleone 48 Moshinsky, Elijah 67 Mozart, Wolfgang Amadeus 10, 32, 141 – Don Giovanni 141, 143, 166 Mussorgski, Modest 177 – Boris Godunow 177 Muzio, Emanuele 43, 58–61, 92, 187, 190, 194, 196, 246, 271 Nabucco 48 f., 52–55, 58, 60, 62, 65–70, 74 f., 79, 81, 97, 108–111, 240, 246, 262 – und Nationalismus 108–111 Napoleon III., Kaiser 116, 159, 164, 172 f. Napoleon Bonaparte, Kaiser 21–25, 33, 36, 112 Neapel 47, 59, 71, 78, 100, 112, 115, 117, 129, 136, 147, 160, 162–164, 200, 220, 232, 265–267 – Teatro San Carlo 58 f., 220 Nicolai, Otto 78 Noske, Frits 244 Oberto, conte di San Bonifacio 45–49, 51–53 Oper – Besetzungspraxis 76–79, 216, 254 – Betrieb und Produktion 46 f., 56–58, 81 f., 94, 130 f., 175 f., 221–223, 237, 272

283

– Einnahmen 57, 82, 92, 125–131, 175, 205, 208 – Kompositionsmethoden 55–60 – Struktur, Stil und Technik 11–13, 65–71, 85–88, 136 –145, 161 f., 209–214, 221–223, 250–254 – Verträge, Urheberrecht, Geschäftsgebaren 14 f., 19, 58, 80, 82, 86, 91–93, 98, 127–130, 133, 159, 161, 169, 215, 237, 256, 263, 266 – weltweite Verbreitung 125 f. Österreich – als italienische Macht 24, 36, 39, 107, 113 f. – Kirchenpolitik 132 Otello 11, 14, 18, 84, 127, 215, 228, 236–245, 249–254, 271 f. Pacini, Giovanni 56, 175 Pallavicino, Marchesa Luisa Sauli- 190, 197 Pantaleoni, Romilda 245 Paris – Opéra 95 f., 150, 159 f., 175, 205, 213, 220 – Opéra-Comique 254 Parker, Roger 108, 272 Parma, Stadt und Herzogtum 22–28, 33 f., 40–42, 47, 97 f., 110, 169, 173, 182, 220, 229, 232 Pasqua, Giuseppina 253 f., 256 Patti, Adelina 79, 244 Petrobelli, Pierluigi 138, 147, 214

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Phillips-Matz, Mary Jane 25, 263 f. Piave, Francesco Maria 55, 61, 64, 67, 71–73, 84 f., 110 f., 114, 132, 134–137, 153, 176, 179, 188, 210, 236, 247, 262 f. Piazza, Antonio 46–48 Piroli, Giuseppe 184 Pius IX., Papst 106, 115 Powers, Harold S. 166, 169 Provesi, Ferdinando 24, 29, 32 f., 40–42 Puccini, Giacomo 10, 126, 156, 227 – La bohème 126 religiöse und moralische Einstellungen 223–226 Ricordi, Verlagshaus 80, 234 – Familie 80, 188 – Giovanni 14, 80 f., 92, 128–130, 144, 217, 265 f. – Giulio 215–219, 234–237, 250, 254, 256 f. – Tito 130–132, 190, 196, 217–219, 221, 223, 228, 246 Rigoletto 10, 18, 50, 64, 96, 120, 125, 127, 132–138, 140–144, 147, 154, 157, 164, 214, 240, 249, 263, 267 – Zensur 132–137 Risorgimento, siehe Italien, Nationalismus Rochester 47 Romantik 10, 37, 56, 66 f., 70, 74, 111, 135, 142–144, 151, 154, 158, 252 Roncole 22, 25–29, 187

Ronconi, Giorgio 48, 53, 69 Rossini, Gioachino 34, 37–39, 48 f., 57, 65 f., 76, 91, 137, 141, 157, 192, 219 – Guillaume Tell 205 – Il barbiere di Siviglia 57, 205 – Maometto II 65 – Mosè in Egitto 53, 65 – Otello 239 – politische Ansichten 108 – Semiramide 65 f., 141 – Totenmesse für 192, 223 – und Opernformen 65 f., 230 – Verdis Meinung über 137, 230 Said, Edward 209 Salvini-Donatelli, Fanny 153 Sant’Agata 25 f., 114, 120–125, 131, 144, 172, 175, 180–189, 196, 199–201, 203, 224, 233, 238, 256 f. Scapigliati («die Zerzausten») 178 Schiller, Friedrich 13, 37, 67, 84, 93, 129, 204 Schlegel, August Wilhelm 86 Scribe, Eugène 13, 159, 162, 166, 267 Sexualität und Ehe 16, 43 f., 62–65, 97–106, 172, 197–204, 268 – siehe auch Barezzi, Margherita; Stolz, Teresa; Strepponi, Giuseppina Shakespeare, William 9, 84 f., 93, 133, 136, 258 – Die lustigen Weiber von Windsor 249–251 – Hamlet 84

Register

– Heinrich IV. 249 – König Lear 84, 132 f., 142, 151 – Macbeth 84–90, 176 – Othello 84, 236, 239, 242– 244 Shaw, George Bernard 74, 77, 151, 155, 219, 221, 245 Shelley, Percy Bysshe 107 – Prometheus Unbound 107 Simon Boccanegra 18, 50 f., 160–163, 176, 236, 242–245, 253, 271 Solera, Temistocle 48, 53, 67–71, 74, 111 f. Somma, Antonio 133, 164, 167, 265 Sonzogno, Edoardo 216 Spezia, Maria 154 St. Petersburg 175–177 Staël, Madame de 67 – De l’Allemagne 67 Stiffelio 11, 96 f., 131 f., 140, 161 Stolz, Teresa 16, 189, 191 f., 196–204, 212, 244, 247, 254, 256–258, 268, 270 Streichquartett in e-Moll 179 f. Strepponi (später Verdi), Giuseppina 48, 53, 64, 94, 97–106, 110, 144, 171, 176, 195, 198, 219, 237, 246–248, 253, 263 f., 268–270 – Eheleben 103–106, 116–120, 172, 191 f., 198–204 – frühe Beziehung zu Verdi 61 f. – Hochzeit 103 – Kinder (Camillino, Sinforosa, Adelina) 101–103, 117, 264

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– Tod und Begräbnis 255–258 – und religiöser Glaube 105, 223 f., 247 – und Mariani 189 f., 197 – und Sant’Agata 122 f., 186 f. Strepponi, Barberina 256 f. Sutherland, Joan 78 Tadolini, Eugenia 78, 100 f. Tamagno, Francesco 245 Tenca, Carlo 246 Tinsley, Pauline 74 Toscanini, Arturo 221, 258 traviata, La 10, 18, 50, 73, 76 f., 125, 127, 129, 144 f., 153– 158, 214, 220, 240, 267 trovatore, Il 10, 18, 50, 71, 74, 125, 129–131, 138, 144–151, 153 f., 160 f., 168, 177, 211, 249 Tschaikowski, Peter Iljitsch 242 – Pique Dame 242 Turin 23, 28, 45, 174, 248 Varesi, Felice 69, 84, 88, 136, 153 Vaughan Williams, Ralph 143 Venedig 23, 59, 61 f., 64, 76, 82–84, 99, 107, 112, 115, 117, 125, 134–136, 144 f., 153, 172 f., 188, 204, 236, 239 – Teatro La Fenice 59, 83, 112 f., 125, 134, 138, 148, 152 f., 161, 222, 266 – Teatro San Benedetto 153

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Vêpres siciliennes, Les 13 f., 159 f., 205 Verdi, (Filomena) Maria 187, 256, 258 Verdi, Carlo 22–31, 117, 121–123, 144, 186 f., 264 Verdi, Giuseppina s. Strepponi Verdi, Luigia (geb. Uttini) 21, 24–26, 29–31, 122 f., 144, 261, 264 Verdi, Virginia und Icilio Romano 45 Verleger 14, 56, 79–82, 92, 127–132, 215–219, 223, 237 Vittorio Emanuele II., König 108, 110, 113

– Lohengrin 196 f., 242 f. – Tristan und Isolde 167, 242 f., 269 – Verdis Meinung über 231, 242 f. Wahrhaftigkeit in Verdis Leben und Werk 9 f., 13–18, 49–51, 126 f., 158, 207 Walker, Frank 60–62, 105, 189, 268, 270 Webster, John 147 Werner, Zacharias 67, 112 – Attila, König der Hunnen 67, 112 Wohltätigkeit 34, 181, 247 f., 256–258

Wagner, Richard 9–11, 17, 39, 85, 137, 178, 216, 219–221, 227, 240

Zensur 64 f., 110–112, 131–136, 145, 162–165, 266 f.