Verbindlichkeit: Stärken einer schwachen Normativität 9783839444696

Warum erwarten wir, dass uns Personen grüßen? Weshalb gehen wir davon aus, dass der Busfahrer den Bus auch fahren kann?

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German Pages 242 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
SEKTION I: VERBINDLICHKEIT ALS PRINZIP DER BESCHREIBUNG VON KULTUR
Verbindlichkeit – Stärken einer schwachen Normativität
Verbindlichkeiten der Kultur – Schwächen einer starken Normativität
Die Normativität gewöhnlicher Erfahrung
Verbindlichkeit als universales Prinzip kultureller Normen und Werte
SEKTION II: VERBINDLICHKEITEN ALS KULTURELLE TATSACHEN
Thesen zur prekären Verbindlichkeit der Wissenschaft
Verbindlichkeit – Geltungschancen schwacher Normierungen in Institutionen, Reziprozität und Lebensführung
Sprachliche Normorientierung in Deutschland und Frankreich Eine Befragung von Lehrkräften und Nicht-Lehrkräften
Zur Hybridisierung sprachnormativer Modelle in der Frankophonie – Neue »bons usages« vs. »français international«
SEKTION III: KULTURELLE ENTWICKLUNG UND VERBINDLICHKEIT
Verbindlichkeitsrhetorik – Einige Anmerkungen zur Diktion des »Heiligen Kriegs«
Die Arbeit an der Verbindlichkeit – Reglementierungen und Normierungen der Lesepraxis und ihre Irritation
Spirituelle Verbindlichkeit – Die ›ejercicios espirituales‹ in der frühen Jesuitenmission
SEKTION IV: KRITIK UND VERBINDLICHKEIT
»Geben Sie Gedankenfreiheit!« Verbindlichkeit und Freiheit (in) der Literatur
Kritik als Fuge – Beobachtungen zur Paradoxie einer Verbindlichkeit der Kritik am Beispiel der Kulturkritik und im Anschluss an Edmund Husserl
Lob des Zweifels – Über die Verbindlichkeit wissenssoziologischen Wissens
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Verbindlichkeit: Stärken einer schwachen Normativität
 9783839444696

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Michaela Bauks, Christian Bermes, Thomas M. Schimmer, Jan Georg Schneider, Marion Steinicke (Hg.) Verbindlichkeit

Science Studies

Michaela Bauks (Prof. Dr.), geb. 1962, lehrt evangelische Theologie an der Universität Koblenz-Landau (Campus Koblenz) und ist dort stellvertretende Sprecherin des Forschungsschwerpunktes Kulturelle Orientierung und normative Bindung sowie Leiterin des Teilprojekts »Rituale, Identitäten und die Bedeutung historischer Prozesse«. Christian Bermes (Prof. Dr.), geb. 1968, lehrt Philosophie an der Universität Koblenz-Landau (Campus Landau) und ist Sprecher des Forschungsschwerpunktes Kulturelle Orientierung und normative Bindung und Leiter des Teilprojekts »Lebensform und Handeln. Normative Dimensionen der Kulturphilosophie«. Thomas Schimmer (Dr.), geb. 1983, ist Philosoph und war wissenschaftlicher Koordinator des Forschungsschwerpunktes Kulturelle Orientierung und normative Bindung und arbeitet nun als wissenschaftlicher Projektreferent am Forschungskolleg Humanwissenschaften der Goethe-Universität, v.a. für das Projekt Komplexität in Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft. Jan Georg Schneider (Prof. Dr.), geb. 1967, lehrt Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau (Campus Landau) und ist Leiter des Teilprojekts (gemeinsam mit Prof. Dr. Sabine Diao-Klaeger) »Sprachnormen in Fachwissenschaft und Öffentlichkeit« des Forschungsschwerpunktes Kulturelle Orientierung und Normative Bindung. Marion Steinicke (Dr.), geb. 1966, ist Religionswissenschaftlerin und an der Universität Koblenz-Landau (Campus Koblenz) als wissenschaftliche Koordinatorin des Forschungsschwerpunktes Kulturelle Orientierung und normative Bindung sowie des BMBF-Verbundprojekts Esskulturen. Objekte, Praktiken, Semantiken tätig.

Michaela Bauks, Christian Bermes, Thomas M. Schimmer, Jan Georg Schneider, Marion Steinicke (Hg.)

Verbindlichkeit Stärken einer schwachen Normativität

KulturNorm

Landesforschungsinitiative Rheinland-Pfalz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4469-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4469-6 https://doi.org/10.14361/9783839444696 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt Vorwort Christian Bermes | 7

S EKTION I: V ERBINDLICHKEIT VON K ULTUR

ALS

P RINZIP

DER

B ESCHREIBUNG

Verbindlichkeit – Stärken einer schwachen Normativität | 13 Christian Bermes

Verbindlichkeiten der Kultur – Schwächen einer starken Normativität | 29 Andreas Ackermann

Die Normativität gewöhnlicher Erfahrung | 43 Matthias Jung

Verbindlichkeit als universales Prinzip kultureller Normen und Werte | 59 Werner Moskopp

S EKTION II: V ERBINDLICHKEITEN

ALS KULTURELLE T ATSACHEN

Thesen zur prekären Verbindlichkeit der Wissenschaft | 71 Ralf Becker

Verbindlichkeit – Geltungschancen schwacher Normierungen in Institutionen, Reziprozität und Lebensführung | 83 Clemens Albrecht

Sprachliche Normorientierung in Deutschland und Frankreich – Eine Befragung von Lehrkräften und Nicht-Lehrkräften | 93 Sabine Diao-Klaeger/Jan Georg Schneider

Zur Hybridisierung sprachnormativer Modelle in der Frankophonie – Neue »bons usages« vs. »français international« | 119 Bernhard Pöll

S EKTION III: K ULTURELLE E NTWICKLUNG

UND V ERBINDLICHKEIT

Verbindlichkeitsrhetorik – Einige Anmerkungen zur Diktion des »Heiligen Kriegs« | 137 Michaela Bauks

Die Arbeit an der Verbindlichkeit – Reglementierungen und Normierungen der Lesepraxis und ihre Irritation | 155 Uta Schaffers/Timo Rouget

Spirituelle Verbindlichkeit – Die ›ejercicios espirituales‹ in der frühen Jesuitenmission | 179 Marion Steinicke

S EKTION IV: K RITIK

UND V ERBINDLICHKEIT

»Geben Sie Gedankenfreiheit!« – Verbindlichkeit und Freiheit (in) der Literatur | 191 Stefan Neuhaus

Kritik als Fuge – Beobachtungen zur Paradoxie einer Verbindlichkeit der Kritik am Beispiel der Kulturkritik und im Anschluss an Edmund Husserl | 205 Thomas M. Schimmer

Lob des Zweifels – Über die Verbindlichkeit wissenssoziologischen Wissens | 219 Jürgen Raab

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren | 237

Vorwort Christian Bermes

Mit ›Kultur‹ wird ein Wirklichkeitsbereich menschlichen Lebens bezeichnet, der eigenständig ist, nicht auf anderes reduziert werden kann und durch eine normative Pointe ausgezeichnet ist. Denn auf die kulturelle Wirklichkeit in ihren verschiedenen Facetten beziehen sich Menschen in ihrem Selbst- und Weltverstehen, indem sie sich zugleich aktiv gestaltend in diese Wirklichkeit einmischen und sich gleichzeitig immer schon an ihr orientieren. Sie stehen der Kultur nicht einfach gegenüber, sondern sind in ihr und mit ihr verstrickt. Die verschiedenen Gegenstände der Kultur zeichnen sich neben ihrer normativen Dimension durch ihren Werkcharakter aus, der wesentlich durch Verkörperung charakterisiert ist. Dies betrifft besonders auch die Praktiken, die sich als spezifisch kulturelle Praktiken leiblich manifestieren und realisieren. Darüber hinaus ist auf den grundsätzlichen Befund aufmerksam zu machen, dass mit Kultur und in kulturellen Praktiken ein zwischenmenschliches Bezugssystem eigener Art zum Thema wird: Kultur vermittelt zwischenmenschliche Beziehungen. Es stellt sich freilich die Frage, wie eine solche Vermittlung erfasst werden kann, ohne ihre normative Komponente auszublenden und ohne sie gleichzeitig mit äußerlichen Wertungen zu überfrachten. Der Forschungsschwerpunkt Kulturelle Orientierung und normative Bindung an der Universität Koblenz-Landau geht in verschiedenen Forschungsprojekten dieser Frage nach und rückt dabei das Konzept der Verbindlichkeit in den Fokus. Der semantisch-normative Raum dieses Konzepts erweist sich als hilfreich, um Kultur ausgehend von kulturellen Praktiken, ihren Verkörperungen und Manifestationen aus einem interdisziplinären Blickwinkel zu erforschen. Denn er eröffnet ein Spannungsfeld, das sich zwischen den Polen der Verbindlichkeit als Verpflichtung auf der einen Seite und der Verbindlichkeit als Bindung respektive Band auf der anderen Seite erstreckt und verschiedene Phänomene zu erfassen vermag. Vor diesem Hintergrund ist es möglich, von Verbindlichkeit als einer schwachen Normativität zu sprechen. Aus der Perspektive der Verbindlichkeit wird bei der

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Beschreibung kulturell vermittelter Praktiken der grundsätzlichen Normativität von Beziehungen Rechnung getragen, ohne sie jedoch im Vorfeld bereits auf einen spezifischen und eingeschränkten (moralischen, rechtlichen, politischen oder gesellschaftlichen) Begriff von Normativität festzulegen. Hierin beruht die Stärke des Begriffs der Verbindlichkeit und sein innovatives Potential für die Kultur- und Geisteswissenschaften. Er eröffnet Raum für verschiedene Beschreibungszugänge kulturell vermittelter menschlicher Beziehungen, und er ist anschlussfähig über die Disziplinen hinweg. In diesem Sinne, so ließe sich pointiert sagen, vermitteln kulturelle Praktiken zwischenmenschliche Beziehungen in der Form der Verbindlichkeit. Dies bedeutet gleichzeitig, dass sich in dieser Form unterschiedliche Konkretionen von Verbindlichkeit realisieren, die ebenso die Kritik und die Ablehnung von Verbindlichkeit betreffen und einschließen. Wie Verbindlichkeit unsere alltägliche Wirklichkeit prägt und in kulturellen Praktiken zum Ausdruck kommt, wird aus unterschiedlichen Perspektiven in diesem Band betrachtet. Die vielfältigen und zum Teil kontroversen öffentlichen Diskussionen etwa um die Frage nach einer Leitkultur zeigen aktuelle Problemlagen an, einerseits auf Orientierungsdefizite zu reagieren, anderseits der Normativität von Kultur Rechnung zu tragen. Der Begriff der Leitkultur, so zeigen die Diskussionen aber auch, weckt gelegentlich mehr Hoffnungen, als er befriedigen kann; und sein öffentlicher Gebrauch ruft zuweilen mehr Befürchtungen und Missverständnisse hervor, als er beseitigen kann. Wenn die Diagnose stimmt, dass in der Gegenwart Orientierungssysteme und Maßstäbe fraglich werden und dass insbesondere die Kulturphilosophie und die Kulturwissenschaften Perspektiven und Grundlagen menschlicher Orientierung zum Thema haben, dann kann ein Zugang über das Konzept der Verbindlichkeit zu einem vertieften Verständnis der Gegenwart beitragen und so Missverständnissen und falschen Erwartungen begegnen. Denn kulturell vermittelte zwischenmenschliche Beziehungen sind kaum ohne Verbindlichkeit zu denken, wenngleich die Organisation, die Manifestation und die Funktion von Verbindlichkeit, aber auch ihre Geltung und normative Kraft auf verschiedene Art und Weise zum Ausdruck kommen. Wenn darüber hinaus zu einem prägnanten Begriff von Kultur immer auch Kritik gehört, Kritik also nicht einfach in willkürlicher Opposition zur Kultur steht, sondern selbst Bestandteil von Kultur ist, dann ist zum einen Kritik ohne Verbindlichkeit wenig wirksam und Verbindlichkeit ohne Kritik kaum möglich. Ein bekanntes Diktum Kants variierend könnte man sagen, dass Kultur ohne Verbindlichkeit leer, und Verbindlichkeit ohne Kritik blind ist. In den aktuellen öffentlichen Diskussionen um die normative Pointe von Kultur darf es als ein Desiderat angesehen werden, diese Verschränkungen adäquat im Ausgang von kulturellen Praktiken zu explizieren.

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Wird Verbindlichkeit in diesem Sinne als ein kulturelles Grundlagenphänomen verstanden, das einerseits die konkreten Befunde von kultureller Verbindlichkeit betrifft, andererseits als ein methodischer Schlüssel die spezifisch normative Dimension von Kultur im Ausgang von kulturellen Praktiken eröffnet, so ergeben sich verschiedene Frageperspektiven, die in dem vorliegenden Band verhandelt werden. Sie betreffen erstens systematische und methodische Aspekte der Kulturphilosophie und der Kulturwissenschaften und damit die Frage, wie das Konzept der Verbindlichkeit theoretisch gefasst und für die Theoriebildung nutzbar gemacht werden kann. Zweitens sind Verbindlichkeiten immer schon wirksam, sie sind präsent in kulturellen Praktiken unterschiedlichster Art. Hier ist zu fragen, wie solche konkreten Praktiken normativ entschlüsselt bzw. systematisch zugänglich gemacht werden können vermittels des Konzepts der Verbindlichkeit. Verbindlichkeiten verweisen drittens auf eine historische Dimension – und dies in zweierlei Hinsicht. Zum einen lässt sich die Plastizität von Verbindlichkeiten in einer zeitlichen Entwicklung deutlicher herausstellen, zum anderen kann das Konzept der Verbindlichkeit eine neue Perspektive auf normative Verschiebungen in der historischen Entwicklung eröffnen. Und viertens ist zu fragen, wie und von welchem Standpunkt aus im Horizont von Verbindlichkeit Kritik möglich und wirksam ist. Denn auf der einen Seite wird man darauf hinweisen müssen, dass Verbindlichkeitsansprüche zum Gegenstand von Kritik werden können. Auf der anderen Seite wird das Geschäft der Kritik haltlos, wenn es nicht selbst Verbindlichkeit für sich in Anspruch nimmt. Im ersten Teil des Bandes, Verbindlichkeit als Prinzip der Beschreibung von Kultur, werden methodische und systematische Aspekte erörtert. Christian Bermes diskutiert vor diesem Hintergrund in kulturphilosophischer Perspektive die normative Struktur, die das Konzept der Verbindlichkeit eröffnet, um die Stärken einer schwachen Normativität von Verbindlichkeit aufzuzeigen. Mit den Begriffen constantia, obligatio, regulae und certitudo wird die Tiefengrammatik von Verbindlichkeit expliziert, um sie zur Beschreibung der normativen Aspekte von Kultur nutzen zu können. Diese Gliederung erlaubt es, das Normativitätspotential von Verbindlichkeit in vierfacher Hinsicht auszulegen: a) mit Blick auf die Qualifikation von Akteuren, die in kulturellen Praktiken aktiv sind, b) hinsichtlich von asymmetrischen Beziehungen, die in einem engeren Sinne als Verpflichtung angesehen werden können, c) angesichts von Regeln, die in kulturellen Praktiken zum Ausdruck kommen und d) mit Rücksicht auf Gewissheiten, die als verbindlich angesehen werden, ohne dass sie jedoch eigens Gegenstand einer Rechtfertigung werden. Diese Vierteilung wird in den folgenden Beiträgen aufgegriffen, diskutiert und variiert. Andreas Ackermann fragt vor dem Hintergrund der ethnologischen Theoriebildung danach, warum Kultur einerseits immer als verbindlich betrachtet wird und worin die

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Schwächen einer starken Normativität liegen. Unter Bezugnahme auf den Pragmatismus erörtert Matthias Jung die Problemstellung der Verbindlichkeit, indem die Frage nach der Normativität mit Blick auf nicht reduktionistisch verstandene natürliche Prozesse in den Fokus gerückt wird, um das Normativitätspotential der gewöhnlichen Erfahrung zu explizieren. Verkörperung, Intersubjektivität und Sprachlichkeit rücken hier in das Zentrum der Diskussion. Werner Moskopp fragt in explizit transzendentalphilosophischer Lesart, wie Verbindlichkeit theoretisch in der Moralphilosophie gefasst werden kann und welche Perspektiven für eine Kasuistik sich daraus ergeben können. Die Universalität von Verbindlichkeit in der moralphilosophischen Reflexion wird hier in Auseinandersetzung mit u.a. dem Utilitarismus diskutiert. Im zweiten Abschnitt, Verbindlichkeiten als kulturelle Tatsachen, werden konkrete Befunde diskutiert, wie sich Verbindlichkeit in kulturellen Praktiken institutionalisiert und realisiert, aber auch wie Verbindlichkeiten auf- und abgebaut werden. Ralf Becker diskutiert an der Schnittstelle von Wissenschaft und Öffentlichkeit den prekären Status von Verbindlichkeit im Zuge von Popularisierungen wissenschaftlichen Wissens. Insbesondere das Verhältnis von Geltungsanspruch und Verbindlichkeit rückt hier in das Zentrum der Diskussion. Clemens Albrecht erörtert in soziologischer Hinsicht die Stabilisierungspotentiale von Verbindlichkeit für eine gesellschaftliche Ordnung, indem Institutionen, Reziprozität und Lebensführung als Formen der Objektivierung von regulae, obligatio und constantia als Momente der Verbindlichkeit diskutiert werden. Ein konkretes Feld von Verbindlichkeit ist darüber hinaus die Sprache. Sabine Diao-Klaeger und Jan Schneider zeigen am konkreten Fall der sprachlichen Normorientierung von Lehrkräften in Frankreich und Deutschland die Frage nach der Verbindlichkeit im Ausgang von sprachlichen Gebrauchsnormen, indem der Zusammenhang von Regel und Norm expliziert und darauf hingewiesen wird, wie sich sprachliche Gebrauchsnormen von Beliebigkeit einerseits und dogmatischer Präskription andererseits unterscheiden. Ebenfalls in sprachwissenschaftlicher Sicht, mit explizitem Blick auf die frankophone Welt, erörtert Bernhard Pöll die Verbindlichkeit sprachlicher Gebrauchsnormen, indem verschiedene Prozesse der Ausdifferenzierung von Sprachnormen in der Frankophonie diskutiert werden, um gleichzeitig zu prüfen, welchen Beitrag das Konzept der Hybridisierung zur Explikation dieser Phänomene leisten kann. Der dritte Abschnitt, Kulturelle Entwicklung und Verbindlichkeit, eröffnet eine diachrone Perspektive und fragt nach dem Konzept von Verbindlichkeit in geschichtlicher Hinsicht. Michaela Bauks erörtert in ihrem Beitrag zur Diktion des ‚Heiligen Krieges‘ das Regelwerk der Tora unter besonderer Berücksichtigung der Verbindlichkeit im Sinne der obligatio als eines Rückverweises auf

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die Beziehung des Menschen zu Gott. In das Zentrum rückt hier die Frage, vor welchem theologischen und kulturellen Hintergrund sich die Frage nach dem ›Heiligen Krieg‹ entwickelt hat und wie sie angesichts der Frage nach der Verbindlichkeit gedeutet werden kann. Uta Schaffers und Timo Rouget widmen sich der Verbindlichkeit vor dem Hintergrund der Frage nach der Lesepraxis als einer explizit kulturellen Praxis mit ihren spezifischen Reglementierungen und Normierungen. Erörtert wird an konkreten Fällen, wie sich die komplexe ‚Arbeit an der Verbindlichkeit‘ dieser Praxis ausgestaltet und wie sich starke und schwache Formen von Verbindlichkeit einstellen oder auch überschritten werden. Ein geradezu paradigmatischer Fall geregelten Zusammenlebens findet sich in Ordensgemeinschaften. Marion Steinicke diskutiert, wie die ‚ejercicios espirituales‘ des Jesuitenordens aufgrund des isolierten Lebens der Ordensmitglieder, Verbindlichkeit erhalten bzw. Verbindlichkeit stiften können. Gerade die spirituellen Übungen gewinnen hier eine neue und entscheidende Bedeutung. Im vierten und abschließenden Teil wird das Verhältnis von Verbindlichkeit und Kritik zum Gegenstand der Diskussion. Stefan Neuhaus fragt nach dem Verhältnis von Verbindlichkeit und Freiheit mit Blick auf die Literatur und zeigt, dass gerade die Auseinandersetzung mit Literatur dazu befähigt, die Voraussetzungen von Verbindlichkeit zu verstehen und damit selbst als eine Verbindlichkeit eigenen Typs verstanden werden kann. Thomas Schimmer erörtert die Ambivalenz der Verbindlichkeit von Kulturkritik mit Blick auf die Kulturphilosophie und die Tradition der Phänomenologie und deutet sie als Fuge. Von diesem Ansatzpunkt aus zeigt sich, wie einerseits Kulturkritik zusammenfügt, was ansonsten gegeneinandersteht, zugleich aber auch damit neue Unterschiede markiert und Pluralität ermöglicht. Jürgen Raab erörtert ausgehend von der Wissenssoziologie das Spannungsverhältnis, in dem die Kategorien Wissen, Überzeugung, Glauben und Zweifel stehen. Dabei ist es gerade die komplexe Struktur der Skepsis, die Irritationen zulässt, Fragen eröffnet und Ordnungen bezweifelt – und damit letztlich die Struktur und Dynamik von Wissen, Überzeugung und Glauben erst zugänglich und verständlich werden lässt.

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Verbindlichkeit – Stärken einer schwachen Normativität Christian Bermes

I. S INNRESSOURCEN KULTURELLER V ERBINDLICHKEIT Die Verbindlichkeit kultureller Praktiken ist unsere Frage. Ohne Zweifel ist dieser Ansatz von Bedeutung; explorative Zugänge, die neue Wege erkunden, können geläufige Theoriekonzepte in Frage stellen und weitere Perspektiven eröffnen. Doch es ist auch ein Wagnis, denn mit ›Kultur‹ und ›Verbindlichkeit‹ sind Begriffe im Spiel, die eine lange und durchaus auch strittige Tradition aufweisen und sowohl im gesellschaftlichen Diskurs als auch in der wissenschaftlichen Theoriebildung ihren Platz behaupten und beanspruchen.1 Als obligatio in einem engeren Sinne kommt der Verbindlichkeit eine prinzipielle Bedeutung in der Rechtsphilosophie und Praktischen Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts zu, die an die Tradition des römischen Schuldrechts anknüpft und in den Naturrechtsdiskussionen ausführlich erörtert wird. In der Praktischen Philosophie findet sich mit Kants Bestimmung der Verbindlichkeit eine Position, die klarer kaum formuliert werden könnte: »Verbindlichkeit ist die Nothwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft.«2 1 | Für die ›Kultur‹ der Kulturphilosophie vgl. Orth, Ernst Wolfgang: Was ist und was heißt ›Kultur‹? Dimensionen der Kultur und Medialität menschlicher Orientierung, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000; für die ›Verbindlichkeit‹ im Sinne der ›obligatio‹ vgl. Schreiber, Hans-Ludwig: Der Begriff der Rechtspflicht. Quellenstudien zu seiner Geschichte, Berlin: De Gruyter 1966; und Hartung, Gerald: Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert, Freiburg/München: Alber 1999. 2 | Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. 6, Berlin: De Gruyter 1968, S. 222. Zur Pflicht vgl. ebd.: »Pflicht ist diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden ist. Sie ist also die Materie der Verbindlichkeit, und es kann einerlei Pflicht (der Handlung nach) sein, ob wir zwar auf verschiedene Art dazu verbunden werden können.« Zu Kant vgl. u.a. Baum, Manfred: »Freiheit und Verbindlichkeit in Kants

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Doch der Begriffsgebrauch ist nicht auf diese Bereiche beschränkt. Mit der Einführung des durchaus eigenwilligen deutschen Ausdrucks ›Verbindlichkeit‹, der sich zwar auf obligatio zurückführen lässt, häufig auch synonym mit ›Verpflichtung‹ benutzt wird, jedoch als ›Verbindlichkeit‹ in der vielfältigen heutigen Verwendung nicht mehr so leicht in andere Sprache übersetzt werden kann, sind die Grenzen des Begriffsfeldes ausgeweitet worden.3 Der semantische Raum der Verbindlichkeit bzw. des Verbindlichen ist dabei recht komplex strukturiert; es gehören dazu u.a. die Bedeutungen von: ›beschlossen‹, ›endgültig‹, ›unwiderruflich‹, ›irreversibel‹, ›anerkannt‹, ›fest‹, ›sicher‹, ›stabil‹, ›belastbar‹, ›umfassend‹ und vieles mehr. Dem Konzept der Verbindlichkeit liegt seit jeher eine Doppeldeutigkeit zugrunde, die es über die Rechtstheorie und die Praktische Philosophie hinaus für die Kulturphilosophie – vielleicht unter dem Titel einer ›obligatio culturalis‹ – in einem besonderen Maße qualifiziert. Denn Verbindlichkeit meint zum einen das Bindende und Verbindende, zum anderen das aus dem Verbinden resultierende Band, das in einem engeren Sinne als Verpflichtung verstanden werden kann. Im Akt des Versprechens wird eine Bindung des Versprechenden und eine Verbindung zu anderen eingegangen; aus diesem Akt resultiert das Versprechen als Band im Sinne einer Verpflichtung.4 Diese Doppeldeutigkeit von Binden einerseits und Verbundenem bzw. Band (als Verpflichtung) Moralphilosophie«, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 13 (2005), S. 31-43; zum historischen Hintergrund vgl. weiterhin Bunke, Simon et al. (Hg.): Das Band der Gesellschaft. Verbindlichkeitsdiskurse im 18. Jahrhundert, Tübingen: Mohr Siebeck 2015; zu ›bound‹ und ›obliged‹ bei Hobbes vgl. Barry, Brian M.: »›Verpflichtung‹ in und vor dem Politischen bei Hobbes«, in: Markl, Karl-Peter (Hg.), Analytische Politikphilosophie und ökonomische Rationalität, Bd. 1, Opladen: Westdeutscher Verlag 1985, S. 83-111. 3 | Zum unterschiedlichen Gebrauch des Konzepts in den verschiedenen Disziplinen sei beispielsweise hingewiesen auf: Drath, Martin: Grund und Grenzen der Verbindlichkeit des Rechts. Prolegomena zur Untersuchung des Verhältnisses von Recht und Gerechtigkeit, Tübingen: Mohr 1963; Herweg, Mathias: Wege zur Verbindlichkeit. Studien zum deutschen Roman um 1300, Wiesbaden: Reichert 2010; Höver, Gerhard (Hg.): Verbindlichkeit unter den Bedingungen der Pluralität, Hamburg: Dr. Kovac 1999; Langewand, Alfred: Moralische Verbindlichkeit oder Erziehung. Herbarts frühe Subjektivitätskritik und die Entstehung des ethisch-edukativen Dilemmas, Freiburg/München: Alber 1991; Lipps, Hans: Die Verbindlichkeit der Sprache. Arbeiten zur Sprachphilosophie und Logik, Frankfurt a.M.: Kostermann 1958. 4 | ›Verbindlichkeit‹ wird auf diese Weise hier nicht direkt dem Rechtssystem zugeordnet. Damit verweist sie auf die ›obligatio naturalis‹ (im Unterschied zur ›obligatio civilis‹), ohne dass dabei die moraltheologischen Konnotationen und Wurzeln der Tradition erörtert werden könnten; vgl. dazu G. Hartung: Die Naturrechtsdebatte, S. 27-126. Zur rechtlichen Einordnung vgl.: Schulze, Götz: Die Naturalobligation. Rechtsfigur und Ins-

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andererseits gestattet es, Verbindlichkeit als eine prägnante, vielleicht sogar paradigmatische, ›kulturelle Tatsache‹ zu verstehen, wenn kulturelle Tatsachen einerseits als »Produkt und Produzierendes in einem« zum Gegenstand werden und die Tatsächlichkeit der kulturellen Tatsache doppeldeutig ist: Eine kulturelle Tatsache »behauptet Autonomie, bestätigt aber zugleich, ja eben damit deren stillschweigende, in der Regel verleugnete Voraussetzungen.«5 Verbindlichkeit behauptet als Verpflichtung Autonomie, und sie bestätigt damit zugleich ihre stillschweigenden Voraussetzungen im Handeln als einem Binden und Verbinden – die jedoch in den (Sprach-)spielen der expliziten Verpflichtung unsichtbar werden.6 Man kann diesen Befund auch als ›kulturelle Differenz‹7 bezeichnen: Kulturelle Tatsachen reklamieren Selbständigkeit, indem sie ihre Voraussetzungen ausblenden, aber auch, indem sie die Voraussetzungen in dem Ausblenden erst als Voraussetzungen erfahrbar machen. Der Anspruch auf Selbständigkeit und die Ausblendung der Voraussetzungen realisiert sich jedoch immer in der Kultur. Weder die Behauptung der Selbständigkeit noch die Ausblendung der Voraussetzungen oder auch die durch das Ausblenden erfahrbar gemachten Voraussetzungen verweisen auf ein Jenseits der Kultur, alle Momente bleiben der Kultur vielmehr immanent. Die theoretisch fundierte Reflexion auf die kulturelle Selbstverständigung hat jedoch in der jüngeren Vergangenheit mehr oder weniger die Frage ausgeklammert, wie die Verbindlichkeit von kulturellen Praktiken überhaupt thematisiert werden kann. Dies steht in einem deutlichen Ungleichgewicht zu der öffentlichen Debatte und der gesellschaftlichen Deliberation. Denn in diesen Kontexten nimmt die Verbindlichkeitsproblematik einen markanten Platz ein; trument des Rechtsverkehrs einst und heute – zugleich Grundlegung einer zivilrechtlichen Forderungslehre, Tübingen: Mohr Siebeck 2008. 5 | Konersmann, Ralf: Kulturelle Tatsachen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 23, 26. 6 | Es stellen sich hier freilich weitere Fragen, die von Interesse sind und zumindest angedeutet werden sollen. Zum einen kann gefragt werden, ob die durch das Verbinden eingegangene Verbindung als Verpflichtung noch einmal einer eigenen Begründung bedarf und wenn ja, in welchem Sinne. Hier werden sicherlich Unterschiede zu machen sein. Im Falle des Versprechens liegt dies zumindest nicht auf der Hand, da der Akt des Versprechens sowohl die Verbindung einrichtet als auch begründet. Im Falle des Kaufens und Verkaufens wird dies vielleicht anders sein, wenn Gesetze und das Recht ins Spiel kommen. Diese und ähnliche Fälle sind im Detail zu diskutieren. Zum anderen stellt sich die Frage, ob Sanktionen beispielsweise die Verbindlichkeit als Verpflichtung begründen können. Dies ist wenig plausibel, da Sanktionen zumeist die Erfüllung oder Nicht-Erfüllung einer Handlung betreffen, die Handlung selbst jedoch nicht legitimieren. 7 | Die entscheidende Differenz liegt dann nicht zwischen Kulturen, sondern in der Kultur selbst als der Differenz zwischen expliziten Autonomieansprüchen und den Prozessen der Invisibilisierung ihrer Voraussetzungen.

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und es dürfte auch für die kulturtheoretische Reflexion von Relevanz sein, wie die Frage nach der Verbindlichkeit kultureller Praktiken methodisch auf ein sicheres Fundament gestellt werden kann. In den letzten Jahrzehnten wurde eher, und gelegentlich auch nachvollziehbar, die Unverbindlichkeit in ihren verschiedenen Facetten thematisiert. Doch die Tücke der Unverbindlichkeit besteht darin, dass ihr Pathos ohne Verbindlichkeit nicht auskommt. Aber auch aus anderen Gründen scheint das Konzept der Verbindlichkeit im Sinne der angeführten Doppeldeutigkeit als zukunftsweisend für eine Verständigung darüber, wie Kultur beschrieben werden kann. Die sich im Konzept der Verbindlichkeit ausdrückende ›kulturelle Differenz‹ zwischen den Autonomieansprüchen der Verpflichtung (im Recht, in der Theologie, in der Ökonomie usw.) und den zumeist ausgeblendeten Erfahrungen des Bindens und Verbindens als Handlungen, kann Anschlussfähigkeit über die verschiedenen Disziplinen eröffnen sowie Übergänge und Schnittstellen ermöglichen, die vielleicht zuvor nicht gesehen wurden oder die man nicht sehen konnte. Daher lohnt es, die bisherigen Zugänge und bereits etablierten Definitionen der Verbindlichkeit in einem ersten Schritt einzuklammern, um die Infrastruktur der Begriffsverwendung in den Blick zu nehmen und einen Zugang zu der Frage nach der Verbindlichkeit als einer kulturellen Tatsache zu gewinnen. Aus dieser methodischen Einklammerung heraus können dann neue Bezüge zur Tradition hergestellt werden. Sieht man auch in diesem Sinne von den institutionalisierten, auf Selbständigkeit setzenden Verbindlichkeitsdiskursen ab, um die Voraussetzungen von Verbindlichkeit in den Blick zu nehmen, so eröffnet sich ein komplexes Feld, das die Stärken einer schwachen Normativität von Verbindlichkeit zum Vorschein bringen kann. Ihre ›Schwäche‹ liegt darin, dass es ›nur‹ um die Voraussetzungen der Verbindlichkeit geht; ihre ›Stärke‹ liegt darin, dass genau dies das ausgeblendete Thema einer auf Autonomie setzenden Verbindlichkeit als Verpflichtung ist.8 Vor diesem Hintergrund wird die Infrastruktur der Verbindlichkeit im Folgenden thematisch, indem diese in mindestens vier Dimensionen unseres Selbst- und Weltverstehens erkundet wird. Verbindlichkeit betrifft erstens den Charakter und meint dann eine Tugend; zweitens verweist unser Verständnis von Verbindlichkeit auf die Verpflichtung eines Schuldners gegenüber dem Gläubiger. Wir bewegen uns hier im Feld der Ökonomie und des Rechts. Drittens sprechen wir von Verbindlichkeiten, wenn Regeln im Spiel sind und Spiele regelgemäß praktiziert bzw. verstanden werden. Die Verbindlichkeit von Schachspielen liegt in den Regeln der Spiele, in denen Akteure zu Mitspielern eines identifizierbaren und abgrenzbaren komplexen Zusammen8 | In der Überschrift und Bezeichnung durchaus ähnlich, doch in der Sache anders gelagert sind die einschlägigen Netzwerkanalysen von Mark S. Granovetter: »The Strength of Weak Ties«, in: American Journal of Sociology 78 (1973), S. 1360-1380.

Verbindlichkeit – Stärken einer schwachen Normativität

hangs von Handlungen werden. Und viertens schließlich beanspruchen bestimmte Überzeugungen Verbindlichkeit. Wir treffen in unserer Selbst- und Weltorientierung auf (keineswegs immer explizite) Überzeugungen, die einen Verbindlichkeitsanspruch zum Ausdruck bringen, ohne dass ihnen eigens eine Verbindlichkeit zugesprochen werden müsste, und ohne, dass sie durch eine unabhängige Begründungsinstanz ihr verbindliches Potential ausweisen müssten. Solche Überzeugungen hat Wittgenstein im Sinn, wenn er von ›Gewissheiten‹ spricht. Zwar könnte man vermuten, in solchen Gewissheiten bloß subjektive und fluide Einschätzungen zu sehen, doch dies wäre für nicht wenige Fälle voreilig. Denn die Wittgensteinschen ›Gewissheiten‹ sind gerade keine schwankenden Ansichten. Verbindlichkeit dokumentiert sich dementsprechend erstens im Sinne einer Tugend. Und hier ist es die constantia, die Standhaftigkeit, die in klassischer Form als das Vorbild für Verbindlichkeit angesehen werden kann. Zweitens dokumentiert sich Verbindlichkeit als eine ausgezeichnete Beziehungsform zwischen Menschen, nämlich in dem engeren Sinne der obligatio in den Systemen des Rechts und der Ökonomie. Drittens dokumentiert sich Verbindlichkeit im Sinne des Handelns in der Form von Regeln (regulae), die das Handeln verständlich werden lassen und das Handeln als Handeln qualifizieren. Und viertens schließlich ist es die certitudo, die Gewissheit, in der kulturelle Verbindlichkeit funktional als sichere Überzeugung zum Ausdruck kommt. Im folgenden Abschnitt werden die ersten drei Bedeutungsdimensionen, die mit den Begriffen constantia, obligatio und regulae bestimmt wurden, vorgestellt und illustriert. Notwendigerweise wird diese Illustration historisch unvollständig bleiben, sie konzentriert sich darauf, die jeweilig systematisch relevanten Aspekte auszuleuchten. Eine solche Musterung ist notwendig, um Klarheit in den Begriff der Verbindlichkeit zu bringen, und um zu verstehen, in welchen, teilweise auch verdeckten, Sinnressourcen unser Verständnis von Verbindlichkeit begründet ist – oder etwas zurückhaltender ausgedrückt, in welchen Sprachspielen sich unser Verständnis von Verbindlichkeit artikuliert. Im darauffolgenden Abschnitt wird skizziert, welche Rolle das Konzept der Verbindlichkeit im Kontext der Kultur und deren Reflexion spielen kann. Die These, die hier zur Diskussion gestellt wird, ist einfach und pointiert zugleich: Mit dem Konzept der Verbindlichkeit wird nicht nur eine ausgezeichnete kulturelle Tatsache zum Thema, an dieser Tatsache lässt sich zugleich die Form der Beschreibung von Kultur explizieren. Verbindlichkeit lässt sich in dem hier verhandelten Sinne und unter den gerade herausgestellten systematischen Perspektiven als Tatsache und Form der Kultur verstehen. Der certitudo kommt dabei im Feld der kulturellen Praktiken eine besondere Bedeutung zu, die systematisch freilich nicht leicht zu fassen ist. Im Falle der certitudo handelt es sich um die Verbindlichkeit von sicheren Überzeugungen, die das Spiel kultureller Kritik ermöglichen, ohne selbst im Spiel der

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Kulturkritik gefangen zu sein. Verbindlichkeit als Form der Beschreibung von Kultur handelt somit auch von Überzeugungen, die kritikresistent sind, weil sie Kritik begründen.

II. D REI D IMENSIONEN DER V ERBINDLICHKEIT : CONSTANTIA , OBLIGATIO , REGULAE a) Verbindlichkeit als constantia Die Rede von der Verbindlichkeit einer Person ist geläufig und alles andere als fremd. ›Diese oder jene Person ist verbindlich, da sie ihr Wort hält.‹; ›Von dieser oder jener Person kann man Verbindlichkeit erwarten, denn sie war stets zuverlässig ‹; oder ›Diese oder jene Person müsse noch an ihrer Verbindlichkeit arbeiten, denn sie verspricht zu viel‹. – Wenn hier von Verbindlichkeit die Rede ist, so sind damit Standhaftigkeit (constantia) sowie Beständigkeit (perseverantia) und damit die klassische Tugendlehre angesprochen.9 Beide (Standhaftigkeit und Beständigkeit) verfolgen denselben Zweck, nämlich in Krisen und gegenüber Gefährdungen im Handeln fest auf dem Guten zu bestehen. Gerade im Umgang mit möglichen Schwierigkeiten kann dann auch Geduld als Aushalten von prekären Situationen gefordert sein, es kann aber auch Tapferkeit im Umgang mit widrigen Situationen nötig werden. Im Neustoizismus des 16. und 17. Jahrhunderts kommt es daher nicht von ungefähr, wenn die Standhaftigkeit (constantia) der Tapferkeit ( fortitudo) den Rang streitig macht und die Position einer Kardinaltugend beansprucht. Doch es bestehen Unterschiede zwischen Standhaftigkeit und Tapferkeit. Die Tapferkeit ist ein aktives Vermögen, während die Standhaftigkeit eher eine Passivität als feste Sicherheit ausdrückt. In diesem Sinne wird von einer verbindlichen Person immer auch als einem zuverlässigen Ansprechpartner gesprochen, der sich nicht verbiegen lässt und der situationsinvariant seine Position beibehält. Der Standfeste stürzt nicht so leicht, er lässt sich nicht schnell erschüttern, er hält an Entscheidungen fest, die in Krisensituationen fraglich werden. Während sich die Tugend der Beständigkeit eher im adäquaten Umgang mit Ermüdungen und Stimmungsschwankungen zeigt, also Gefährdungen, die im Innern der handelnden Person ihren Ursprung haben, bleibt der Standfeste sicher im Umgang mit Gefährdungen, die von außen herantreten. Beständigkeit richtet sich auf den Umgang mit inneren Krisen, Standfestigkeit auf die Handhabung äußerer Krisen. Beide lassen sich als Versicherungen des Sich-Gleichbleibens oder Sich-Treu-Bleibens in Krisensituationen begreifen. 9 | Zum Überblick vgl. Blüher, Karl Alfred: »Standhaftigkeit«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Darmstadt 1998, Sp. 99-104.

Verbindlichkeit – Stärken einer schwachen Normativität

Doch der verbindliche Charakter ist nicht nur standfest, krisenerprobt und sicher im Umgang mit falschen Infragestellungen, seine Sicherheit bezieht sich darüber hinaus auch auf ein Wissen um das Richtige und nicht nur auf ein Können im Umgang mit dem Falschen. Der Verbindliche steht nicht nur sicher, seine Perspektive ändert sich auch nicht von Minute zu Minute – er ist orientiert. Während Loyalität eher als eine Zuverlässigkeit in vertraglichen und quasivertraglichen Handlungszusammenhängen zu bestimmen ist (das Berufsleben ist das beste Beispiel dafür) und Loyalität durchaus auch von anderen abhängt, denen man sich als loyal gegenüber verhält, so ist dies bei der Standhaftigkeit anders. Sie ist nicht beschränkt auf die Sphäre der Ökonomie, und sie ist nicht in diesem Sinne abhängig von anderen Personen. Der Standfeste ist eher sich selbst gegenüber sicher als gegenüber anderen. Dieser erste Überblick zur constantia zeigt, dass Verbindlichkeit als eine Tugend verstanden werden kann, insofern Tugenden diejenigen Mittel und Werkzeuge darstellen, die Menschen benötigen, um menschlich handeln zu können und in diesem Handeln als Personen zum Ausdruck kommen. Tugenden können als Korrektive des menschlichen Lebens verstanden werden, da sie Versuchungen entgegenwirken und Krisen bewältigen.10 Sie werden auf sehr unterschiedliche Art erlernt, weshalb es ein Mehr oder Weniger in der Ausbildung der Tugend geben kann. Und Tugenden sind Mittel der persönlichen Perfektionierung durch Handlungen. Nicht zuletzt darum ist die Redeweise auch verständlich, dass jemand noch an seiner Verbindlichkeit arbeiten muss, um erst zu dem zu werden, was er sein kann. Tugenden vermitteln klassischerweise gegenüber Extremen, die mit Blick auf die Standhaftigkeit im Wankelmut, der Unstetigkeit und Flatterhaftigkeit auf der einen Seite und im Starrsinn, der Dickköpfigkeit und Verbissenheit auf der anderen Seite bestehen. Der Wankelmütige ist nicht zuverlässig (in letzter Instanz auch nicht gegenüber sich selbst); und der Starrsinnige steht nicht sicher, sondern ist fixiert oder angekettet. Wird Verbindlichkeit in diesem Sinne als eine Tugend verstanden, so ist damit die Verfassung einer handelnden Person gemeint, die in ihrem Handeln Sicherheit und Zuverlässigkeit zum Ausdruck bringt. Der Verbindliche managt eigentlich keine Krisen, er ist – pointiert gesagt – jeder Krise schon voraus. Insgesamt handelt es sich um eine Qualifikation der Person und der personalen Identität.

10 | So beispielsweise die Bestimmung der Tugend bei Foot, Philippa: Die Wirklichkeit des Guten. Moralphilosophische Aufsätze, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 116. Zur Systematik des Tugendkonzepts, dessen Facetten hier nur angedeutet sind. vgl. Müller, Anselm W.: Was taugt die Tugend? Elemente einer Ethik des guten Lebens, Stuttgart: Kohlhammer 1999; Halbig, Christoph: Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013.

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b) Verbindlichkeit als obligatio Von der constantia unterscheidet sich die obligatio als eine weitere Form der Verbindlichkeit. Die obligatio ist eine Verbindlichkeit, die nicht auf eine Person gerichtet ist, sondern eine spezifische Beziehung zwischen zwei oder mehreren Personen qualifiziert. Die Institutionen Justinians definieren Verbindlichkeit recht eindeutig: »Das Schuldverhältnis ist ein rechtliches Band, durch das uns der Zwang auferlegt wird, nach dem Recht unseres Gemeinwesens irgendeine Leistung zu erbringen.«11 Verbindlichkeiten können aus einem Vertrag oder aus Delikten entspringen. Entspringen sie aus Verträgen, dann können sie aus Sachhingabe, aus Worten, aus Schrift oder aus Konsens entstehen. Hier sei das Entstehen einer Verbindlichkeit aus Sachhingabe und aus Worten als Beispiel angeführt: »Durch Sachhingabe wird ein Schuldverhältnis zum Beispiel bei der Darlehenshingabe begründet. Eine Darlehensschuld entsteht bei solchen Sachen, die nach Zahl, Maß oder Gewicht bestimmt werden, zum Beispiel bei Wein, Öl, Getreide, Bargeld, Kupfer, Silber und Gold. Diese Sachen geben wir durch Zählen oder Messen oder Wiegen zu dem Zweck hin, dass sie Eigentum des Empfängers werden und dass uns irgendwann nicht dieselben Sachen, sondern andere Sachen gleicher Art und Güte zurückgegeben werden.«12

»Ein Schuldverhältnis durch Worte kommt durch Frage und Antwort zustande...«.13 Das angeführte Beispiel lautet: »Gelobst Du, am nächsten 1. März zehn Goldstücke zu geben?«14 Und die Antwort lautet ›Ich gelobe‹. Es können hier nicht die wichtigen Fragen angesprochen werden, wann solche Verbindlichkeiten als gültig oder als ungültig angesehen werden, auch sollen die damit einhergehenden Überlegungen zur Stipulation15 als dem spezifischen Verbalkontrakt des Römischen Rechts unbeachtet bleiben. Für un-

11 | »Obligatio est iuris vinculum, quo necessitate adstringimur alicuius solvendae rei secundum nostrae civitatis iura« (Inst. 3, 13 pr.) Im Folgenden werden die Institutionen zitiert nach Behrends, Okko et al.: Corpus Iuris Civilis. Die Institutionen. Text und Übersetzung, hg. v. Rolf Knütel, Heidelberg: C.F. Müller 21999. 12 | »Re contrahitur obligatio veluti mutui datione. mutui autem obligatio in his rebus consistit, quae pondere numero mensurave constant, veluti vino oleo frumento pecunia numerata aere argento auro. quas res aut numerando aut metiendo aut pendendo in hoc damus, ut accipientium fiant et quandoque nobis non eaedem res, sed aliae eiusdem naturae et qualitatis reddantur« (Inst. 3, 14 pr.). 13 | »Verbis obligatio contrahitur ex interrogatione et response [...] « (Inst 3, 15 pr.). 14 | »Decem aureos primis kalendis Martiis dare spondes?« (Inst. 3, 15, 2). 15 | Inst. 3, 15 pr. bieten interessanterweise eine – wenngleich auch frag- und diskussionswürdige – Etymologie für die Stipulation: »Die Stipulation trägt ihren Namen

Verbindlichkeit – Stärken einer schwachen Normativität

sere Zwecke reicht es aus, dass Verbindlichkeit im Sinne der obligatio nicht eine Person qualifiziert, sondern eine Beziehung zwischen Personen, die nach dem Muster des Gläubigers und Schuldners angeordnet ist und ein asymmetrisches Verhältnis der Verpflichtung begründet. Der Schuldner ist dem Gläubiger verpflichtet, nicht umgekehrt. Nicht zuletzt hier verbindet sich mit dem Gedanken der Verbindlichkeit derjenige der Verpflichtung: Die Verbindlichkeit qualifiziert eine Beziehung (jemand geht eine Bindung mit einem anderen ein – bis hin zur Schuldknechtschaft), während die Verpflichtung, die aus dem Band resultiert, auf den rechtmäßigen Ausgleich oder die rechtmäßige Form des Anspruches der Verbindlichkeit gerichtet ist (mit Notwendigkeit sind gemäß den Gesetzen Verbindlichkeiten zu regulieren). Die Verbindlichkeit bezieht sich nicht auf die Sache, die gegeben oder geschuldet wird, sondern auf die Beziehung zwischen Personen: »Das Wesen der Verbindlichkeit besteht nicht darin, dass es einen Körper, oder eine Dienstbarkeit zu der unsrigen macht, sondern dass es uns einen Andern dazu verpflichtet, etwas zu tun, oder zu geben, oder zu leisten.«16 Wir sagen zwar gelegentlich, dass Verbindlichkeiten in Höhe von beispielsweise 1000 Euro bestehen, doch diese Rede ist eine Verkürzung. Denn die Verbindlichkeit kann gar keine ›Höhe‹ haben, da sie eine Beziehung zwischen Personen bezeichnet. In dieser Beziehung kann es um eine Sache gehen, aber die Sache ist nicht die Verbindlichkeit. Im Gegensatz zur constantia als Qualifikation einer Person bezeichnet die obligatio die Verbindlichkeit als eine Qualifikation der Beziehung zwischen Personen. Diese Beziehung ist verbindlich, und in dieser Beziehung etablieren sich Verhältnisse der Verpflichtung, die durch Gesetze normiert sind.

c) Verbindlichkeit als regulae Wiederum anders verhält es sich mit dem Begriff der Verbindlichkeit, wenn Regeln in den Blick kommen, wie sie beispielsweise in Spielregeln vorliegen. Verbindlichkeit wird hier nicht von Personen ausgesagt, Verbindlichkeit meint in diesem Fall auch keine asymmetrische Beziehung zwischen Personen. Die Verbindlichkeit der Regeln eines Spiels liegt vielmehr im adäquaten Spielen und damit dem Handeln selbst. Wittgenstein weist darauf hin, und dies ist

deshalb, weil ›das Feste‹ bei den alten Juristen mit ›stipulum‹ bezeichnet wurde, wohl von ›stipes‹, Baumstamm, abgeleitet«. 16 | »Obligationum substantia non in eo consistit, ut aliquod corpus nostrum aut servitutem nostram faciat, sed ut alium nobis obstringat ad dandum aliquid vel faciendum vel praestandum« (Paul D 44, 7, 3 pr.), Otto, Karl Eduard/Schilling, Bruno/Sintenis, Carl Friedrich Ferdinand (Hg.): Das Corpus Juris Civilis. In’s Deutsche übersetzt von einem Vereine Rechtsgelehrter, Bd. 4, Leipzig: Carl Focke 1832.

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für die Diskussion der Verbindlichkeit von besonderer Bedeutung, dass Spielregeln, die unsere Sprachspiele strukturieren und unsere Praxis formen, nicht einfach durch Meta-Regeln definiert werden, sie kommen vielmehr im Spiel selbst zum Ausdruck und entfalten auf diese Weise ihre Verbindlichkeit. »Es ist mir erlaubt, das Wort Regel zu verwenden, ohne erst die Regeln des Gebrauchs dieses Wortes zu tabulieren. Und diese Regeln sind nicht Über-Regeln.«17 Dies lässt sich verdeutlichen bei der konkreten Beschreibung des Schachspiels, des Fußballspiels oder des Skatspiels, die schlicht darin besteht, das regelgerechte Spielen zu erfassen (um auch Regelverletzungen und Regelbrüche zu erkennen). Richtig verstanden gibt es neben dem Spiel nicht noch von dem Spiel isolierbare Regeln (mit einer eigenen Verbindlichkeit), sondern das Spielen der Spiele selbst ist das regelgerechte Spiel, was zugleich eine regelgemäße Weiterentwicklung des Spiels und des Spielens ermöglicht – denn: Gibt »es nicht auch den Fall, wo wir spielen und – ›make up the rules as we go along‹? Ja auch den, in welchem wir sie abändern – ›as we go along.‹«18 Zu diesem regelgerechten und regelgemäßen Spielen gehört auch, dass Regeln nicht alles regeln können und auch nicht müssen: »Wie ist denn der Begriff des Spiels abgeschlossen? Was ist noch ein Spiel und was ist keines mehr? Kannst du die Grenzen angeben? Nein. Du kannst welche ziehen: denn es sind noch keine gezogen. (Aber das hat dich noch nie gestört, wenn du das Wort ›Spiel‹ angewendet hast.) ›Aber dann ist ja die Anwendung des Wortes nicht geregelt; das ›Spiel‹, welches wir mit ihm spielen, ist nicht geregelt.‹ – Es ist nicht überall von Regeln begrenzt; aber es gibt ja auch keine Regel dafür z.B., wie hoch man im Tennis den Ball werfen darf, oder wie stark, aber Tennis ist doch ein Spiel und es hat auch Regeln.«19

Regeln sind offen und begrenzt zugleich, darum aber keineswegs beliebig. Zu diesem regelgerechten Spiel gehört auch, dass nicht alle Regeln expliziert werden müssen oder gar können. Sie zeigen sich im Spielen selbst. 17 | Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Grammatik, in: Ders., Werkausgabe, Bd. 4, hg. v. Rush Rhees (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Band 504), 7. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 115. 18 | Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, in: Ders., Werkausgabe, Bd. 1 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Band 203), 4. Aufl., Frankfurt M.: Suhrkamp 1991, § 83. Die Literatur zu Wittgensteins Regelkonzept im Rahmen seiner Sprachspielkonzeption ist bekanntlich mehr als ausdifferenziert und hochgradig spezialisiert; doch sei hier besonders auf die häufig übersehene Verbindung von ›Regel‹ und ›Witz‹ bei Wittgenstein verwiesen: Ertz, Timo Peter: Regel und Witz. Wittgensteinsche Perspektiven auf Mathematik, Sprache und Moral (= Quellen und Studien zur Philosophie, Band 88) Berlin: De Gruyter 2008. 19 | L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 68.

Verbindlichkeit – Stärken einer schwachen Normativität

Obwohl es lohnt, die komplexen Überlegungen zum Regelkonzept zu entfalten, wie sie von Wittgenstein diskutiert werden, um sie auf die Explikation von Kultur anzuwenden,20 kommt es hier nur auf den Punkt an, dass Verbindlichkeit nicht von Personen ausgesagt wird, aber auch nicht von Beziehungen zwischen Personen, sondern mit Blick auf eine identifizierbare Praxis, die nicht durch Metaregeln qualifiziert wird, sondern sich regelgerecht und regelgemäß ausdrückt. Wenn hier überhaupt von Akteuren die Rede ist, dann nicht als Personen im Prozess der charakterlichen und personalen Selbstformierung (Tugenden), auch nicht als Vertragspartner in der asymmetrischen Beziehung zwischen Gläubiger und Schuldner, sondern als Mitspieler, die sich dadurch als Mitspieler qualifizieren, dass sie das Spiel beherrschen, also spielen bzw. handeln.

III. C ERTITUDO . W IE VERBINDLICH SIND KULTURELLE P R AK TIKEN ? Drei Typen und Formen von Verbindlichkeit wurden gesondert, gleichzeitig hat sich mit der Beschreibung der Verbindlichkeit als einer kulturellen Tatsache ein Panorama der Welt des Menschen eröffnet. Bereits diese Facetten erlauben es, Kultur zu identifizieren und zu erfassen. Wird die Welt des Menschen zum Thema, dann wird Verbindlichkeit in diesen drei Aspekten zum Gegenstand der Beschreibung: Verbindlichkeit als Auszeichnung der Person, Verbindlichkeit als Beziehung zwischen Personen und Verbindlichkeit als regelgeleitetes Handeln. Kultur, so lässt sich daran anschließend in einem ersten Zugriff sagen, erschließt sich durch die Beschreibung der drei angeführten Aspekte, die in

20 | Vgl. Bermes, Christian: »Wittgenstein«, in: Ralf Konersmann (Hg.), Handbuch Kulturphilosophie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2012, S. 138-143. Die Zugänge zu Wittgenstein als Kulturphilosophen sind u.a. auch deshalb heterogen, weil die kulturphilosophische Tradition des 19. und 20. Jahrhunderts meist nicht berücksichtig wird und gleichsam auf eigene Rechnung und vergleichsweise unmittelbar das Thema der Kultur angegangen wird. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass Wittgensteins Interesse ein ›grammatisches‹ ist, weniger ein ethnologisches. Rossvaer, Viggo: »Wittgenstein as philosopher of Culture«, in: Inquiry. An Interdisciplinary Journal of Philosophy 31 (1988), S. 346-355; Cavell, Stanley: Wittgenstein als Philosoph der Kultur, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 46 (1998), S. 3-29; Lurie, Yuval: Wittgenstein on Culture and Civilization, in: Inquiry. An Interdisciplinary Journal of Philosophy 32 (1989), S. 375397; Johannessen. Kjell S./Nordenstam, Tore (Hg.): Wittgenstein and the Philosophy of Culture, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1996; Humphries, Carl/Schweidler, Walter (Hg.): Wittgenstein. Philosopher of Cultures, Sankt Augustin: Academia 2017.

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einem komplexen Spiel zusammenwirken. Verbindlichkeit wäre in diesem Sinne die differentia specifica, die es erlaubt, nichtmenschliches Zusammenleben von menschlichem Zusammenleben zu scheiden. Weiterhin lässt sich die Unterscheidung nutzen, um den Prozess kultureller Entwicklung zu entschlüsseln, wenn eines der genannten Merkmale als Kriterium eines geschichtlichen Prozesses angelegt wird. Es ließe sich dann fragen, welche Selbsterklärungen Kulturen offerieren, um beispielsweise die Tugend der Verbindlichkeit im Sinne der constantia zu beschreiben, zu illustrieren oder zu erläutern. Dies ließe sich ebenfalls bei den beiden anderen Merkmalen durchführen. Verbindlichkeit wäre dann keine differentia specifica der Kultur, sondern würde eine Perspektive der Beschreibung und des Verstehens der Entwicklung kultureller Prozesse in diachroner oder synchroner Hinsicht erlauben. Darüber hinaus ließen sich die angeführten Dimensionen der Verbindlichkeit auch nutzen, um Defizite zu identifizieren.21 Es ließe sich in dieser Perspektive die Kulturentwicklung beispielsweise daraufhin befragen, ob personale Verbindlichkeit ermöglicht wird oder ob eine kulturelle Entwicklung dazu tendiert, die Verbindlichkeit als eine Auszeichnung personaler Identität zu verhindern. Bislang wurden drei Optionen angeführt, wie Verbindlichkeit zur Identifikation von Kultur, zur Beschreibung von kultureller Entwicklung und zur Identifikation von Defiziten in Anschlag gebracht werden kann. Damit erweist sich Verbindlichkeit nicht nur als kulturelle Tatsache, sondern auch als Form der Kultur und ihrer Beschreibung. Doch Verbindlichkeit erstreckt sich nicht nur auf die Qualifikation einer Person, die Qualifikation einer Beziehung zwischen Personen und die Qualifikation von Handlungen durch Regeln. Verbindlichkeit betrifft ebenso im Feld der Kultur Überzeugungen – zumindest wenn der Wittgensteinsche Gebrauch von ›Gewissheit‹ dabei in den Fokus rückt.22 21 | Die Perspektive der Identifikation von Defiziten kann an Merleau-Pontys geschichtsphilosophische These anschließen, die sich auch kulturphilosophisch wenden lässt: »Der Sinn der Geschichte läuft also bei jedem Schritt Gefahr, vom Wege abzukommen und muss unaufhörlich neu integriert werden. Der Hauptstrom ist niemals ohne Gegenströmungen oder Wirbel. Er ist keineswegs als Tatsache gegeben. Er offenbart sich nur über Missverhältnisse, durchs Überleben, durch Ablenkungen und Regressionen; er ist dem Sinn wahrgenommener Dinge vergleichbar, Reliefs, die nur von einem bestimmten Gesichtspunkt aus Gestalt annehmen und niemals andere Sichtweisen absolut ausschließen. Es gibt weniger einen Sinn der Geschichte als eine Beseitigung des Unsinns.« Merleau-Ponty, Maurice: Die Abenteuer der Dialektik, übers. v. A. Schmidt/H. Schmitt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968, S. 50. 22 | Vgl. Bermes, Christian.: »Die Grenzen des Wissens und die Bedeutung des Lebens. Wittgensteins Überlegungen in ›Über Gewissheit‹ im Kontext der Anthropologie und Kulturphilosophie«, in: Ralf Konersmann (Hg.), Das Leben denken – Die Kultur denken, Bd. 2, Freiburg i.B.: Alber 2007, S. 250-270. Zu Wittgensteins Exploration und systematischen

Verbindlichkeit – Stärken einer schwachen Normativität

Dieser vierte Aspekt von Verbindlichkeit, die certitudo, der abschließend skizziert werden soll, ist sicherlich derjenige, der in systematischer Hinsicht besondere Herausforderungen bereitet. Daher lohnt es herauszustellen, was verbindliche Überzeugungen nicht sind. Es handelt sich bei Gewissheiten dieser Art um kein ›Wissen‹ und um keine auf Wissen hin ausgerichtete ›Meinung‹. Wissen zeichnet sich dadurch aus, dass ein Wissensanspruch Zweifel zulässt. Sicherlich spielen Wissensbestände innerhalb der Kultur und der kulturellen Selbstverständigung eine bedeutende Rolle, wie etwa ein profundes Maß an historischem Wissen: Wann hat die Französische Revolution stattgefunden? Wann ist die Berliner Mauer gefallen? Wer amtierte als Bürgermeister während des Mauerfalls? Und vieles mehr. Im Falle eines solchen Wissens ist es möglich, sich zu irren, sich zu täuschen oder einer falschen Information zu erliegen. Doch die Täuschung kann behoben, das falsche Wissen und die fehlerhafte Information ›berichtigt‹ werden, indem der Weg, die Methode, expliziert wird, wie Wissen erlangt und überprüft werden kann. Meinen als ein, wie Kant bemerkt, »mit Bewußtsein sowohl subjectiv, als objectiv unzureichendes Führwahrhalten«23 liegt im logischen Raum des Wissens. Meinen ist auf Wissen ausgerichtet, es liegt nicht jenseits des Wissens. Natürlich ist es möglich, in dem so beschriebenen Wissen und Meinen auch nach der Funktion der Verbindlichkeit zu fragen. Wenn hier von Verbindlichkeit gesprochen wird, spielt entweder Akzeptanz eine Rolle oder es wird auf einen Maßstab rekurriert. Beispielsweise lässt sich die Verbindlichkeit ›esoterischen Wissens‹ über die Akzeptanz in bestimmten Gruppen erörtern. Es kann sich dann zeigen, dass die Akzeptanz eines Wissensanspruchs mit der Falschheit des Wissens einhergehen kann. Wird demgegenüber die Verbindlichkeit des Wissens um die Höhe der Zugspitze thematisch, dann spielt Akzeptanz keine Rolle. Fraglich ist hier der Maßstab, nach dem gemessen wird und die Art, wie dieser Maßstab, ›angewendet‹ wird, wie also gemessen und wie mit den Messergebnissen umgegangen wird. Diejenigen Gewissheiten jedoch, die Wittgenstein im Blick hat und von denen man sagen kann, dass sie Verbindlichkeit beanspruchen, sind von dem Diskussion von Gewissheiten vgl.: Krebs, Andreas: Worauf man sich verlässt. Sprach- und Erkenntnisphilosophie in Ludwig Wittgensteins ›Über Gewissheit‹, Würzburg: Königshausen/Neumann 2007; Moyal-Sharrock, Danièle (Hg.): The Third Wittgenstein. The Post-Investigations Works (= Ashgate Wittgensteinian Studies), Farnham/Burlington: Ashgate Publishing Limited 2004; Moyal-Sharrock, Danièle (Hg.): Readings of Wittgen stein’s ›On Certainty‹, Basingstoke: Palgrave Macmillen 2005; Kober, Michael: Gewissheit als Norm. Wittgensteins erkenntnistheoretische Untersuchungen in ›Über Gewissheit‹ (=  Quellen und Studien zur Philosophie, Band 35), Berlin: De Gruyter 1993. 23 | Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Bd. 3, Berlin: De Gruyter 1968, S. 533 (A 822 / B 850)

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gerade skizzierten Wissen und Meinen grundsätzlich verschieden. Sie lassen sich auch nicht auf Akzeptanz zurückführen, sie verweisen eher auf etwas, was mit den Begriffen Einstimmigkeit, Einklang, Einvernehmen oder Einverständnis zum Ausdruck gebracht werden kann, jedoch nicht mit diesen Ausdrücken zusammenfällt, wenn diese als Einwilligung durch Deliberation oder als Aushandlung von Übereinkünften interpretiert werden.24 Wittgenstein kennt viele Beispiele, um die Funktion und den epistemischen Satus von Gewissheiten zu verdeutlichen. Dabei greift er auf Moores Beispiele, die den Common sense illustrieren sollen, zurück und (er)findet auch zahlreiche weitere. Hierzu zählen etwa die Gewissheiten, dass die Erde lange vor unserer Zeit existiert hat, dass Katzen nicht auf Bäumen wachsen oder dass Menschen zwei Eltern haben: »Ich kann nicht sagen, dass ich gute Gründe habe zur Ansicht, dass Katzen nicht auf Bäumen wachsen oder dass ich einen Vater und eine Mutter gehabt habe. Wenn einer daran zweifelt – wie soll es geschehen sein? Soll er von Anfang an nie geglaubt haben, er habe Eltern gehabt? Aber ist denn das denkbar, es sei denn, dass man ihn dies gelehrt hat?«25

Gewissheiten drücken keine Informationen aus, die alt oder neu sein können, die falsch oder wahr sind, die zur Ernüchterung führen oder erstaunen lassen. Es handelt sich vielmehr um Überzeugungen, die in dem alltäglichen Spiel des Prüfens, Abwägens, Kritisierens, Bezweifelns etc. wirken, indem sie in dem Spiel selbst nicht fraglich werden können, weil sie das Gerüst und die Form des Spiels bilden.26 Solche Überzeugungen drücken ihre Verbindlichkeiten nicht auf die Art aus, dass jemand »so handeln solle, sondern nur, dass er so handelt«.27 Gewissheiten können auf diese Weise gleichsam als vorpräskriptive Verbindlichkeiten der menschlichen Lebensführung verstanden werden. 24 | L. Wittgenstein: Philosophie Untersuchungen, § 242: »Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, sondern (so seltsam dies klingen mag) eine Übereinstimmung in den Urteilen. Dies scheint die Logik aufzuheben; hebt sie aber nicht auf. – Eines ist, die Meßmethode zu beschreiben, ein Anderes, Messungsergebnisse zu finden und auszusprechen. Aber was wir ›messen‹ nennen, ist auch durch eine gewisse Konstanz der Messungsergebnisse bestimmt«. 25 | Wittgenstein, Ludwig: Über Gewissheit, in: Ders., Werkausgabe, Bd. 8, hg. v. Joachim Schulte (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Band 508), 4. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, § 282. 26 | Ebd., § 211: »Es gibt nun unsern Betrachtungen, unsern Forschungen ihre Form. Es war vielleicht einmal umstritten. Vielleicht aber hat es seit unvordenklichen Zeiten zum Gerüst aller unsrer Betrachtungen gehört. (Jeder Mensch hat Eltern)«. 27 | Ebd., § 284.

Verbindlichkeit – Stärken einer schwachen Normativität

Zur weiteren Illustration soll ein Beispiel genannt werden, das von Wittgenstein gerade nicht angeführt wird: der Diebstahl. Dieser Fall ist gerade darum interessant, weil er normativ alles andere als unterdeterminiert ist. An folgende Szene lässt sich beispielsweise denken: Auf einem Marktplatz ist zu sehen, wie sich jemand einem anderen nähert und ihm mehr oder weniger unbemerkt die Geldbörse aus der Tasche zieht. Was passiert hier? In den meisten Fällen wird man sagen, dass es sich um einen Diebstahl handelt. Als Indizien für einen Diebstahl werden vielleicht angeführt, dass derjenige, der die Geldbörse entwendet hat, schnell fortläuft und nicht mit demjenigen spricht, der die Geldbörse in der Tasche trug. Auch kann man sich vorstellen, dass ein Dritter zu dem Bestohlenen geht und ihn darauf hinweist, dass jemand seine Geldbörse aus der Tasche gezogen hat. Es kann sogar der Fall eintreten, dass der Beobachter der Szene aufgeklärt und darauf verwiesen wird, dass alles nicht so dramatisch sei. Schließlich werde gerade ein Film gedreht. Oder der Betroffene sagt gar, dass man sich keine Sorgen machen müsse, weil er denjenigen, den man nun fälschlich als Dieb bezeichnet, beauftragt habe, die Geldbörse mitzunehmen, da der Betroffene selbst unter einer Kaufsucht leide und das Laster auf diese Weise therapieren wollte. Man kann sich diese Szene auf die vielfältigste Art und Weise variiert ausmalen. Und in allen Varianten kann vieles geprüft werden, z.B. was gestohlen wurde, wer der Täter ist, ob alle Beteiligten die Wahrheit sagen oder ob es wirklich ein Diebstahl ist usw. Jedoch lässt sich auf diese Art nicht prüfen, was Stehlen bedeutet. Dass Stehlen als die Entfernung fremden Eigentums mit der Absicht der Aneignung zu verstehen ist, ist hier kein Thema. Die Überzeugung, dass Stehlen im Entfernen fremden Eigentums mit der Absicht der Aneignung besteht, ist weder wahr noch falsch, sie ist verbindlich.28 Wenn jemand, um eine Bemerkung Wittgensteins zu variieren, sagte, er zweifle daran, dass Stehlen die Entfernung fremden Eigentums mit der Absicht der Aneignung bedeute, er gehe vielmehr davon aus, dass Stehlen, insbesondere das Stehlen von Geldbörsen, als der eigentliche Ausdruck des Geldflusses, des Cashflows, von dem man immer im Wirtschaftsteil der Zeitungen lese, verstanden werden 28 | Die Verbindlichkeit besteht an dieser Stelle nicht in dem Verbot des Stehlens, sondern in der Bestimmung des Stehlens. Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Zettel, in: Ders., Werkausgabe, Bd. 8, hg. v. Joachim Schulte (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Band 508), 4. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, § 350: »Was ich sage, kommt also darauf hinaus: Ein Gesetz wird für Menschen gegeben und ein Jurist mag wohl fähig sein, Konsequenzen für jeden Fall zu ziehen, der ihm gewöhnlich vorkommt, das Gesetz hat also offenbar seine Verwendung, einen Sinn. Trotzdem aber setzt seine Gültigkeit allerlei voraus; und wenn das Wesen, welcher er zu richten hat, ganz vom gewöhnlichen Menschen abweicht, dann wird z.B. die Entscheidung, ob er eine Tat mit böser Absicht begangen hat, nicht etwa schwer, sondern (einfach) unmöglich«.

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müsse, würden wir dies als kurios ansehen, wir wüssten jedoch auch nicht genau, wie man ihn von der Gewissheit überzeugt.29 Wenn hier von certitudo, von Gewissheit, die Rede ist, dann handelt es sich weder um intersubjektiv und methodisch begründete Wissensbestände noch um schlichte subjektive und schwankende Überzeugungen oder ausgehandelte Übereinkünfte. Es sind sichere Überzeugungen, die in ihrem Zusammenhang gleichsam die Tiefengrammatik der Kultur ausmachen und die auf komplexe Art und Weise die Welt des Menschen profilieren – nämlich im Ausgang von Praktiken, in denen die Gewissheiten zum Ausdruck kommen. »Die Begründung aber, die Rechtfertigung der Evidenz kommt zu einem Ende; – das Ende aber ist nicht, dass uns gewisse Sätze unmittelbar als wahr einleuchten, also eine Art Sehen unsererseits, sondern unser Handeln, welches am Grunde des Sprachspiels liegt.«30 Mit den vier Aspekten der constantia, der obligatio, der regulae und der certitudo wurde die Infrastruktur der Verbindlichkeit offengelegt. Sie zeigt sich, wenn die Verbindlichkeitsdiskurse in ihrem innerkulturellen Autonomiebestreben auf ihre gleichfalls innerkulturellen Voraussetzungen hin befragt und diskutiert werden. Damit wird nicht nur die Verbindlichkeit als eine kulturelle Tatsache zum Thema der Untersuchung, es zeigt sich ebenso, dass die so beschriebene Verbindlichkeit als Form von Kultur gefasst werden kann. Bei Nietzsche findet sich die Bemerkung: »Große Verbindlichkeiten machen nicht dankbar, sondern rachsüchtig.«31 Unabhängig davon, wie Nietzsche an dieser Stelle den Ausdruck Verbindlichkeit genau verstehen möchte, so kann die Bemerkung dennoch ein guter Ratschlag sein. Kultur wird vielleicht nicht so sehr durch ›große Verbindlichkeiten‹, sondern durch ›kleine Verbindlichkeiten‹ zusammengehalten – die man jedoch alle erst aufdecken und beschreiben muss. Constantia, obligatio, regulae und certitudo könnten ein Muster bieten, wie diese Verbindlichkeiten im konkreten Fall zur Sprache gebracht werden können.

29 | L. Wittgenstein: Über Gewissheit, § 257: »Wenn Einer mir sagte, er zweifle daran, ob er einen Körper habe, würde ich ihn für einen Halbnarren halten. Ich wüsste aber nicht, was es hieße, ihn davon zu überzeugen, dass er einen habe. Und hätte ich etwas gesagt und das hätte nun den Zweifel behoben, so wüsste ich nicht wie und warum«. 30 | Ebd., § 204. 31 | Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra I-IV, Kritische Studienausgabe, Bd. 4, hg. v. Giorgio Colli/Mezzino Montinari, Berlin/New York: De Gruyter 1988, S. 114.

Verbindlichkeiten der Kultur – Schwächen einer starken Normativität Andreas Ackermann Es ist ein Grundzug der Kultur, dass der Mensch dem außerhalb seines eigenen Kreises lebenden Menschen aufs tiefste misstraut, also dass nicht nur ein Germane einen Juden, sondern auch ein Fußballspieler einen Klavierspieler für ein unbegreifliches und minderwertiges Wesen hält. Schließlich besteht ja das Ding nur durch seine Grenzen und damit durch einen gewissermaßen feindseligen Akt gegen seine Umgebung; ohne den Papst hätte es keinen Luther gegeben und ohne die Heiden keinen Papst, darum ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die tiefste Anlehnung des Menschen an seinen Mitmenschen in dessen Ablehnung besteht. Robert Musil1

1. E INFÜHRUNG Dieser Beitrag versucht zu zeigen, warum Kultur schon immer verbindlich ist und worin die Schwächen einer starken Normativität begründet liegen. Er bezieht sich dabei auf den Vorschlag von Christian Bermes, die Verbindlichkeiten der Kultur mit den Begriffen constantia, obligatio, regulae und certitudo zur Sprache zu bringen, indem er ihn auf eine breitere, ethnologisch-kulturvergleichend abgestützte Basis stellt. Die seinen Ausführungen übergeordnete Frage, ob alles menschliche Tun stets und immer als ein kulturelles Handeln verstanden werden kann2, muss aus Sicht der Ethnologie eindeutig mit »ja« 1 | Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1 (1930), Salzburg/Wien: Jung und Jung 2016, S. 37. 2 | Sein als Diskussionsgrundlage vorgelegter Text warf explizit die Frage auf, »ob alles menschliche Tun stets und immer als ein kulturelles Handeln verstanden werden kann«.

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beantwortet werden. Ethnologisch-holistische Kulturbegriffe begreifen bereits 1871 mit E.B. Tylor »Cultur oder [!] Civilisation im weitesten ethnographischen Sinne« als jenen »Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat«.3 ›Kultur‹ bezeichnet also die vom Menschen durch die Bearbeitung der Umwelt mithilfe von planmäßigen Techniken selbst geschaffene Welt der geistigen Güter, materiellen Kunstprodukte und sozialen Einrichtungen. Dieser weite Begriff der Kultur umfasst die Gesamtheit der vom Menschen selbst hervorgebrachten und im Zuge der Sozialisation erworbenen Voraussetzungen sozialen Handelns, d.h. die typischen Arbeits- und Lebensformen, Denk- und Handlungsweisen, Wertvorstellungen und geistigen Lebensäußerungen eines sich als »Gemeinschaft« verstehenden Kollektivs. Was hält diese aus Sicht der Ethnologie aber zusammen, welches sind ihre »Verbindlichkeiten« und warum erscheint eine eher schwach ausgeprägte Normativität in diesem Zusammenhang wünschenswert?

2. I DENTITÄT Folgt man Klaus E. Müller, der mit seinem Werk über die Jahre eine ethnologische Theorie kollektiver Identität vorgelegt hat, so ist Kultur als Ausdruck des Identitätsbewusstseins von Kollektiven immer schon normativ bzw. verbindlich.4 Dies gilt sowohl nach innen, indem die Mitglieder zur Wahrung der identitätsstiftenden kulturellen Traditionen verpflichtet werden, als auch nach außen, indem man sich von den Nichtzugehörigen abgrenzt. Kultur ist dabei grundsätzlich ›nostrozentrisch‹ angelegt, d.h. eine Gruppe verortet sich jeweils im Zentrum des eigenen Weltverständnisses und beurteilt alle anderen im Verhältnis dazu. Die Anderen gelten entsprechend der Differenz entweder als »Barbaren« im negativen bzw. als »edle Wilde« im positiven Sinne. Müller entwickelt seine Überlegungen im Rückgriff auf den umfangreichen Fundus kulturvergleichender ethnologischer Forschung, wobei er sich

3 | Tylor, Edward B.: »Die Culturwissenschaft«, in: Carl August Schmitz (Hg.), Kultur, Frankfurt a.M.: Akademische Verlagsgesellschaft 1963, S. 33-53, hier S. 33 (ND: Primitive Culture. London, 1871). 4 | Vgl. Müller, Klaus E.: »Grundzüge des menschlichen Gruppenverhaltens«, in: Rudolf Schenkel (Hg.), Biologie von Sozialstrukturen bei Tier und Mensch (= Veröffentlichungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften in Hamburg, Band 50), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1983, S. 93-112; Ders.: Das magische Universum der Identität. Elementarformen sozialen Verhaltens – Ein ethnologischer Grundriß, Frankfurt a.M./New York: Campus 1987; Ders.: Die Siedlungsgemeinschaft. Grundriß der essentialistischen Ethnologie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010.

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besonders auf eine der klassischen Referenzgruppen der Ethnologie stützt, die er als »frühagrarische Siedlungsgemeinschaft« bezeichnet. Deren Sesshaftigkeit nötigte »zu dauerhaftem, geschlossenem Zusammenleben auf engem Raum«, was zu einem kohärenten System von Werten und Normen führt sowie zu einem hohen Maß an Kohäsion, vergleichbar etwa Goffmans ›totalen Institutionen‹.5 Zu den Charakteristika einer solchen idealtypischen Siedlungsgemeinschaft gehören: • eine überschaubare Größe von durchschnittlich 80 bis 120 Mitgliedern • Ortsfestigkeit über Generationen mit Bezug auf einen gemeinsamen Ursprung und damit einhergehendem Anspruch auf ›Autochthonie‹, was u.a. bedeutet, die legitimen Eigentümer des von ihnen besiedelten und bebauten Territoriums mitsamt der zur Verfügung stehenden Ressourcen zu sein • das Postulat der Abstammungsverwandtschaft unter Berufung auf einen gemeinsamen Urvorfahren oder Gründerheros • weitgehende ökonomische Autarkie und gesellschaftliche Autonomie • ein stabiles Identitätsbewußtsein, das in der Überzeugung mündet, eine eigenständige, einzigartige und letztlich überlegene Kultur zu besitzen (Nostro-, bzw. Ethnozentrismus).6 Waren solche nicht-staatlich organisierten Lokalgruppen auch schon zu Hochzeiten ihrer Erforschung Ende des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts zumeist weitaus weniger homogen, isoliert und gemeinschaftsorientiert, als es sowohl die lokale Binnenperspektive wie auch eine zivilisationskritische und häufig auch evolutionistisch motivierte Perspektive der Ethnologie wahrhaben wollte, so sind diese spätestens mit den Globalisierungs- sowie Entkolonialisierungsschüben nach dem Zweiten Weltkrieg in sich selbst als ›modern‹ und ›komplex‹ bzw. ›differenziert‹ verstehende staatlich verfasste Gesellschaften aufgegangen (mit jeweils mehr oder weniger gutem ›Erfolg‹). Dessen ungeachtet beansprucht das im Folgenden explizierte Modell auch für aktuelle Entwicklungen Gültigkeit, hat doch die Orientierung an kleinformatigen Kollektiven wie auch dezidierten Identitätspolitiken zurzeit für viele Menschen wieder enorm an Attraktivität gewonnen. Angesichts der vielerorts laut werdenden Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung sowie der Empörung angesichts vermuteter (fremd-)kultureller Aneignungen, scheinen Formen des »Tribalismus« (um eine in diesem Zusammenhang häufig verwendete, pejorativ gemeinte Vokabel zu nutzen) für nicht wenige das Gebot der Stunde zu sein. Die Grundlage von Müllers Theorie bildet das menschliche Orientierungsverhalten, demzufolge sich ein Individuum immer im Zentrum seiner eigenen Wahrnehmung befindet, während die Peripherie durch die jeweils spezi-

5 | K.E. Müller: Die Siedlungsgemeinschaft, S. 37-38. 6 | Ebd., S. 38-39.

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fischen Wahrnehmungsmöglichkeiten bestimmt wird.7 Die dem Beobachter nahe liegenden Phänomene werden dementsprechend als deutlich klarer unterschieden, differenzierter und vielgestaltiger wahrgenommen, sie erscheinen sowohl vertraut als auch von unmittelbarem Belang; dieses unmittelbare Umfeld bezeichnet Müller zusammen mit dem Zentrum als ›Endosphäre‹. Mit zunehmender Entfernung vom Standpunkt des Beobachters aber, in der Peripherie, beginnen die Konturen der Phänomene unscharf zu werden, bis sie am Horizont komplett miteinander zu verschwimmen scheinen. Dahinter beginnt die Sphäre des Unsichtbaren bzw. Unbekannten, die von Müller ›Exosphäre‹ genannt wird. Der Feldstruktur der Orientierung – anders gesprochen: der ›Weltanschauung‹ einer Gruppe – liegt somit ein wechselwirkendes System zweier konzentrisch angeordneter Sphären zugrunde: Die eigenweltliche ›Endosphäre‹ wird von der außenweltlichen ›Exosphäre‹ umschlossen. Während die Scheidung beider Sphären aufgrund des Prinzips der ›Differenzierung‹ erfolgt, gewährleistet das Prinzip der ›Identifizierung‹ ihre Verklammerung. Erst das Zusammenwirken beider Prinzipien ermöglicht eine Verständigung, denn weder absolut gleichförmige noch ausnahmslos ungleichförmige Körper könnten miteinander kommunizieren. Identifizierungs- und Differenzierungsprinzip strukturieren die ›Lebenswelt‹ sowohl (a) räumlich als auch (b) sozial, wobei jeweils dem Zentrum die entscheidende Rolle zukommt. Denn Identität ist keine einheitliche Größe: ihre Intensität ist am stärksten im Zentrum des Orientierungsfeldes der Gruppe und schwächt sich mit fortschreitender Distanz, zur Peripherie hin ab (vgl. Abb. 1). Dementsprechend sind räumliche und soziale Aspekte der Lebenswelt immer auch Ausdruck für das Lebens- und Weltverständnis der Menschen und stellen ein mikrokosmisches Abbild der makrokosmischen Ordnung dar (vgl. Abb. 2).8 Sie sind Anhaltspunkte sozialer, moralischer usw. Orientierungssysteme und besitzen daher bestimmte Qualitäten, die sich nach den unmittelbaren Existenzinteressen der Menschen bemessen: verläßliche Orientierung, konfliktfreie Gemeinschaft und Sicherheit vor Bedrohungen von außen.9

7 | Eine ganz ähnliche Formulierung findet sich bei Alfred Schütz: »Jedes Orientierungsschema setzt voraus, daß jeder Benützer die ihn umgebende Welt so betrachtet, wie wenn sie um ihn herum gruppiert wäre und er in ihrem Zentrum stände« (Schütz, Alfred: »Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch«, in: Ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Studien zur soziologischen Theorie, Den Haag: Martinus Nijhoff, S. 53-69, hier S. 62). 8 | Vgl. Bourdieu, Pierre: »Das Haus oder die verkehrte Welt«, in: Ders., Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 48-65. 9 | K.E. Müller: Das magische Universum der Identität, S. 4-5.

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Abb. 1: Feldstruktur der Orientierung

(a) räumlich Topographisch gesehen fungieren der Herd eines Hauses, sein Mittelpfosten oder zentraler Tragbalken als axis mundi und versetzen die Bewohner gleichsam ins Zentrum der Welt. Entsprechend bildet der Dorfplatz das Zentralareal der Siedlungsgemeinschaft, er ist Begegnungsstätte, Weihebezirk, dort stehen die Männerhäuser, finden Ratsversammlungen statt.10 In den urbanen Zentren finden sich analog der Marktplatz (modern: Central Business District) mit dem Rathaus und der Kathedrale bzw. der großen Moschee, in großen Städten gilt dies entsprechend jeweils für die einzelnen Stadtviertel. Der Umfeldbereich bildet dann die konkret-alltägliche Lebenswelt – im Falle der Familie, der Wohnbereich bzw. die einzelnen Zimmer, bei der Siedlungsgemeinschaft sind es die Wohnhäuser und Wirtschaftsgebäude, die gewöhnlich um den Versammlungs- und Festplatz herum gruppiert liegen, in der Stadt sind es die einzelnen Viertel. Ihre Anordnung folgt dabei den allgemeinen Strukturprinzipien der dörflichen Topographie: Höherstehende siedeln im engeren Kernbereich, nahe dem sakralen Zentralareal, Minderprivilegierte nehmen die mehr rückwärtigen, ›Parias‹ die Randlagen ein.11 In den Städten 10 | Ebd., S. 18. 11 | Ebd., S. 24.; Vgl. Ernest W. Burgess’ Modell der städtischen Expansion (Burgess, Ernest W.: »The Growth of the City. An Introduction to a Research Project«, in: Robert E. Park/Ernest W. Burgess/Roderick D. McKenzie (Hg.), The City, Chicago: The University of Chicago Press 1967 (1925), S. 47-62, hier S. 55) sowie aktuelle Prozesse der »Gentrifizierung«.

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finden sich dort die ghettos, slums, favelas und bidonvilles (in modernen Zeiten u.U. aber auch, etwas weiter entfernt im sogenannten Umland, Pendlersiedlungen, deren Bewohner durchaus zu den Privilegierten gehören, die sich ›frische Luft‹ und ›Natur‹ leisten können, während nun Slums teilweise auch im Stadtzentrum zu finden sind). An der Peripherie schließlich droht das System instabil zu werden, daher gilt es Schutzmaßnahmen zu ergreifen zur Abgrenzung und Abwehr von Unheils-Einflüssen. Wände und Türen des Hauses werden mit entsprechenden apotropäischen Sprüchen oder Zeichen versehen, Hofeingänge durch Wächterfiguren geschützt, Dorf- bzw. Gemarkungsgrenzen mit symbolischen Grenzzeichen (Steine, Pfähle usw.) ggf. auch Hecken, Gräben oder Mauern geschützt. So ungern die Mitglieder der Siedlungsgemeinschaft bereit waren in Fremdland bzw. die ›Wildnis‹ vorzudringen, so vorsichtig war man im Umgang mit Fremden. Unabdingbare Kontakte zu Nachbargruppen oder Handelszentren bergen Risiken (›Infektionen‹), die es zu kontrollieren gilt. Notwendige Zugänge zum Dorf (lange Zeit auch zur Stadt) werden deshalb begrenzt und – beispielsweise durch Tore – deutlich markiert.12 Auch in ›modernen Zeiten‹ wird angesichts globaler Migrationsprozesse immer wieder die Notwendigkeit von Grenzziehungen und deren Kontrolle betont. soziographisch

topographisch

Zentrum

Umfeld

Peripherie

Individuum, Familie

Haus/Hof

Herd, Mittelpfosten

Wohnbereiche, Zimmer

Wände, Türen etc.

Lineage bzw. ›Stamm‹ [»Siedlungsgemeinschaft«]

Dorf

Wohnhäuser, Paria, Dorfplatz, Männerhaus, Wirtschafts- Minderheiten gebäude ...

Volk, Nation, ›Moderne Gesellschaft‹

Stadt

Marktplatz, Rathaus, Kirche / Moschee, CBD

Stadtviertel

Abb. 2: Räumliche und soziale Aspekte der Identität

12 | Ebd., S. 31.

Slums, Pendlersiedlungen, Vorstädte

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(b) sozial Mit der räumlichen geht auch eine eindeutige soziale Qualitätenverteilung einher, der zufolge die Individualisierung mit der Entfernung vom Zentrum wächst, d.h. »Gruppe und ›Natur‹ verbindet ein spezifisches Reziprozitätsverhältnis; je mehr der einzelne an Raum (und damit auch an Bewegung) gewinnt, desto mehr büßt er an Halt in der Gemeinschaft ein«.13 Ein wesentliches Kriterium des Ausdrucks von Identität bildet das Maß der Verwandtschaft, d.h. zwischen nahe verwandten Menschen wird sie stärker empfunden als zwischen entfernten Verwandten. Müller zufolge wird der unmittelbaren Abstammungs- oder Blutsverwandtschaft generell die stärkste Bindekraft unter Menschen zugemessen: »Sie liefert die eigentlich tragende Ideologie zur Begründung der Gemeinschaftlichkeit, die Hauptstütze des Identitätspostulats«.14 Gruppen bilden so Orientierungs- bzw. »Lebenssysteme«, die sich im Zentrum aus Kernelementen (Brüdergruppen und Familien, deren Mitglieder aufs beste miteinander vertraut und am engstmöglichen miteinander verwandt sind), Zentraleinheiten (Lineages, Gründersippen, Adel), Zentral- oder »Spitzengrößen« (Älteste, Oberhäupter, Schamanen, Priester, Könige) auf bauen. Der Umfeldbereich setzt sich entsprechend aus den näheren Verwandten, Nachbarn, der Dorfgemeinschaft, anderen Lineages und Sippen sowie den übrigen Gruppen des Stammesganzen zusammen.15 Diese verbindet ein ausgeprägtes Einheitsempfinden, sie bilden – dem Ideal nach – einen Organismus, ein unteilbares Ganzes, mit der dazugehörigen Pflicht, Beistand zu leisten.16 Angehörige anderer Lineages, die quasi zur Peripherie gehören, können hingegen schon als ›Fremde‹ empfunden werden, der Kontakt mit ihnen als ›verunreinigend‹.17 Vollends mit Argwohn werden Angehörige anderer Gruppen betrachtet, glaubt man sie doch im Besitz gefährlicher Schadenskräfte, die verunreinigen, krankmachen, ja töten können. Sie werden daher als feindliche, die eigene Existenz bedrohende und daher zu meidende Wesen betrachtet.18

13 | Ebd., S. 28. 14 | Ebd., S. 69. 15 | Ebd., S. 85 16 | Ebd., S. 71. 17 | Ebd., S. 86. Ehepartner haben es daher oft schwer, in den Familien ihrer Gatten akzeptiert zu werden, vielfach bleiben sie ein Leben lang Fremde, denen mit Misstrauen begegnet wird. 18 | Ebd., S. 87.

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3. K ULTUR Ungeachtet des Identitätspostulates bilden Gruppen jedoch bewegliche Einheiten, deren Bestand sowohl von außen – etwa durch Spaltung, Zusammenschluss mit anderen Gruppen, Dezimierung durch Konflikte – als auch von innen – z.B. durch Interessengegensätze der Geschlechter, Generationen, Sozialgruppen – bedroht werden kann. Müller zufolge »bedürfen Gruppen daher gewissermaßen einer artifiziellen Verfestigung, die der Beweglichkeit Grenzen setzt und zumindest die wichtigeren Größen – Begriffe, Dinge, Institutionen, Werte, Vorstellungen usw. – so fixiert, daß sie einigermaßen eindeutig bestimmt und so eben auch in der praktischen Handhabung verläßlich erscheinen. Diese Aufgabe erfüllen die kulturellen Traditionen einer Gesellschaft.«19

Das Orientierungssystem ›Kultur‹ ist dabei genauso wie die bereits besprochenen Systeme der Raumaufteilung und der Verwandtschaft mittels des Identifizierungs- und des Differenzierungsprinzips strukturiert. D.h. obwohl zwischen den ›lineages‹ einer Gruppe die Unterschiede der Traditionen nur geringfügig erscheinen mögen, werden sie ihre Differenzen umso mehr akzentuieren. Dabei gesellt sich zur räumlichen auch eine zeitliche Dimension, wobei deren Kontinuität entscheidend für eine verlässliche Orientierung ist. In zeitlichen Orientierungs- oder Ordnungssystemen bildet die Gegenwart den Zentralbereich, während alles, was sie an Erscheinungen ausmacht, seine Existenz Vorgängen in der Vergangenheit verdankt. Je durchgängiger, ungebrochener, gleichsam »geradliniger« sich die Beziehung dabei darstellt, desto eindeutiger erscheinen die Verhältnisse bestimmt und desto höher scheinbar das Maß an Bewährung (da offensichtlich keinerlei »Korrekturen« erforderlich waren), bzw. desto evidenter die Legitimität des Dependenzanspruchs.20 In diesem Zusammenhang spielt vor allem das Prioritätsprinzip eine Rolle, demzufolge Besitz dadurch legitimiert wird, »daß man das betreffende Gut – Land, Gegenstände, einen Schutzgeist, Privilegien, einen Zauber usw. – als erster betreten, entdeckt, selbst hergestellt, gefunden oder auch rechtens geerbt, bzw. durch Tausch oder Kauf erworben hat«.21 Dabei spielt der Schöpfungsgedanke die tragende Rolle, »wird doch stets ein spezifischer »Spürsinn«, Phantasie in der Ausdeutung von Erfahrungswerten, Kombinationsgabe, Geschick im Umgang mit Menschen und dergleichen vorausgesetzt«.22 Dies gilt auch bei der Inbesitznahme von Land – es kommt nicht nur darauf an »daß man 19 | Ebd., S. 66. 20 | Ebd., S. 95. 21 | Ebd., S. 54. 22 | Ebd., S. 54.

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selbst oder die eigenen Vorfahren als erste ihren Fuß darauf setzten«, sondern, man muß es auch seiner Lebensführung erschließen, es in »Kulturland« verwandeln und zu einem Teil der menschlichen Ökumene machen. 23 Innerhalb einer Gruppe tritt das Prioritätsprinzip in Form des Senioritätsprinzips auf, demzufolge Jüngere den Älteren generell Respekt und Ehrerbietung, ggf. sogar Gehorsam schulden. Ältere sind Jüngeren immer voraus, da sie zwangsläufig über eine größere und offensichtlich auch bewährte Erfahrung verfügen: denn anders hätten sie sich kaum so lange gesund und am Leben zu erhalten vermocht.24

Nostrozentrismus & Kontakt Wie ein Blick in die einschlägige Literatur zeigt, muss der Kulturbegriff (nicht nur) der Ethnologie letztlich unbestimmt bleiben.25 Diese Unbestimmtheit ist eine sachliche, denn man »stößt auf keine Substanz, kein Wesen, kein tieferes Sein, wenn man einer bestimmten Kultur ›auf den Grund‹ zu gehen versucht, sondern nur: auf Unterschiede zu anderen Kulturen«.26 Berücksichtigt man den eingangs geschilderten ego- bzw. nostrozentrischen Charakter der Wahrnehmung, so verwundert es nicht, dass jede Gruppe mit ausgeprägter kollektiver Identität letztlich davon überzeugt ist, die eigene Daseinsordnung stelle die einzig vernünftige Möglichkeit der Lebensführung dar. Schon Herodot konstatierte, dass, »wenn man an alle Völker der Erde die Aufforderung ergehen ließe, sich unter all den verschiedenen Sitten die vorzüglichsten auszuwählen«, jedes Volk, »nachdem es alle geprüft, die seinigen allen andern vorziehen« würde.27 Diese, seit Sumner als ›Ethnozentrismus‹28 bekannte Einstellung reicht von der Überzeugung, dass die Anderen über keine Kultur verfügen und »gleichsam als rechte Barbaren und ›Wilde‹ dahinvegetieren«29 bis hin zu der Haltung, ihnen die Menschlichkeit generell abzusprechen:

23 | Ebd., S. 55. 24 | Ebd., S. 99-100. 25 | So führen beispielsweise Kroeber und Kluckhohn bereits 1952 über 160 Definitionen von »culture« auf (Kroeber, Alfred Louis/Kluckhohn, Clyde: Culture. A Critical Review of Concepts and Definitions, Cambridge: Museum of American Archaeology 1952). 26 | Baecker, Dirk: Wozu Kultur?, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2000, S. 14. 27 | Herodot: Historien, Bd. 3, Stuttgart: Kröner 1971, S. 38. 28 | »Ethnocentrism is the technical name for this view of things in which one’s group is the center of everything and all others are scaled and rated with reference to it« (Sumner, William Graham: Folkways. A Study of the Sociological Importance of Usages, Manners, Customs, Mores, and Morals, New York: Blaisdell Publishing 1965 [1906], S. 13). 29 | K.E. Müller: Das magische Universum der Identität, S. 90.

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Andreas Ackermann »Die Menschheit endet an den Grenzen des Stammes, der Sprachgruppe, manchmal sogar des Dorfes, so daß eine große Zahl sogenannter primitiver Völker sich selbst einen Namen gibt, der ›die Menschen‹ bedeutet (oder manchmal – mit etwas mehr Zurückhaltung – ›die Guten‹, ›die Hervorragenden‹, ›die Vollendeten‹), was gleichzeitig einschließt, daß die anderen Stämme, Gruppen oder Dörfer keinen Anteil an den guten Eigenschaften – oder sogar an der Natur – des Menschen haben, sondern höchstens aus ›Schlechten‹, ›Bösen‹, ›Erdaffen‹ oder »Läuseeiern‹ bestehen. Manchmal spricht man den Fremden sogar noch jene letzte Stufe an Realität ab, indem man sie als ›Fantome‹ oder ›Erscheinungen‹ ansieht.« 30

Was demnach unvollkommen, minderwertig und schlecht, also gleichsam krank ist, kann der eigenen Vollkommenheit nur gefährlich sein, »verunreinigen« und »mindern«. Man grenzt und schirmt sich daher gegen Fremdeinflüsse nach Möglichkeit ab – vor allem in den zentralen Bereichen der eigenen Seinsordnung. Da es aber keine totale Isolation gibt, kommt es notwendigerweise zu Kontakten, die unter Umständen nicht nur territoriale, sondern auch soziale Grenzüberschreitungsprozesse bedeuten, etwa bei Heirat oder Migration. Die damit einhergehenden Risiken werden nach Möglichkeit zu kanalisieren versucht, indem man sie auf »Passagestellen« einengt, um sie leichter überschauen und besser kontrollieren zu können. Dies geschieht gewöhnlich in Form von Initiations- bzw. Integrationsritualen.31 Entsprechend den wechselwirkenden Prinzipien von Identifizierung und Differenzierung »läßt sich Identität also nur konstituieren, empfinden und denken in der Gegenüberstellung und Abgrenzung von anderen Gruppen, von Alterität, Unzugehörigkeit und Fremdheit«.32 Als Ausdrucksinstrumentarium des Identitätsbewusstseins stellt Kultur das Mittel zur Differenzierung und Abgrenzung von anderen Gruppen dar. So gesehen entsteht Kultur überhaupt erst aus einem Kulturkontakt, sie »ist demnach die Form der Bearbeitung des Problems, daß es auch andere Kulturen gibt«.33

30 | Lévi-Strauss, Claude: »Rasse und Geschichte«, in: Ders., Strukturale Anthropologie, Bd. 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975, S. 363-407; hier S. 369-370. 31 | Ebd., S. 92. 32 | K.E. Müller: Die Siedlungsgemeinschaft, S. 23. 33 | D. Baecker: Wozu Kultur?, S. 17

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4. V ERBINDLICHKEIT Wie eingangs bereits erwähnt, lassen sich die von Bermes der christlichen Tugendlehre entnommenen Dimensionen von Verbindlichkeit ohne weiteres auf ethnologische Konzepte und Befunde abbilden: (a) Mit constantia (Standhaftigkeit) spricht Bermes die Verbindlichkeit im Sinne der Eigenschaft einer Person an, »die in ihrem Handeln Sicherheit und Zuverlässigkeit zum Ausdruck bringt«, nicht zuletzt sich selbst gegenüber.34 Im Umfeld der idealtypischen Siedlungsgemeinschaft leistet dies ein »kompromißloser Traditionalismus« (Müller), der dafür sorgt, dass das Identitätsbewusstsein im Innern konstant gehalten und vor äußeren Einwirkungen geschützt bleibt. (b) Mit obligatio (Verbindlichkeit) bezeichnet Bermes eine verbindliche »Beziehung zwischen Personen, die nach dem Muster des Gläubigers und Schuldners angeordnet ist und ein asymmetrisches Verhältnis der Verpflichtung begründet. Der Schuldner ist dem Gläubiger verpflichtet, nicht umgekehrt«.35 In der Ethnologie spricht man in diesem Zusammenhang mit Marcel Mauss vom Prinzip der »Reziprozität«. In seinem »Essai sur le don« (1925) hebt Mauss die soziale wie moralische Verpflichtung zur Erwiderung der Gabe hervor, mithin die Produktion multipler Schuldnerverhältnisse und Abhängigkeiten aus sozialem Eigeninteresse. Reziprozität ist daher nicht ausschließlich unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten, sondern stellt ein zentrales Instrument zur Aufrechterhaltung der Sozialstruktur vieler Gemeinschaften dar. Grundmuster der Reziprozität ist die Bereitschaft zum Geben und Annehmen, das normalerweise nach Verstreichen einer längeren, sozial definierten Zeitspanne mit Erwidern beantwortet wird. Reziprozität stellt somit das ordnende Prinzip in so wichtigen Bereichen wie Tausch, Heirat, Nachbarschaftshilfe und der gegenseitigen Unterstützung innerhalb und zwischen Verwandtschaftsgruppen dar. Einer der wesentlichen Aspekte der Siedlungsgemeinschaft lässt sich mit der Auffassung der sogenannten »substantivistischen Schule« um Karl Polanyi beschreiben, »daß die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen in der Regel in seine Sozialbeziehungen eingebettet ist. Sein Tun gilt nicht der Sicherung seines individuellen Interesses an materiellem Besitz, sondern der Sicherung seines gesellschaftlichen Rangs, seiner gesellschaftlichen Ansprüche und seiner gesellschaftlichen Wertvorstellungen.« 36

Und genau daraus ergibt sich dann auch ihre Verbindlichkeit. 34 | S. den Beitrag von Christian Bermes im vorliegenden Band, S. 19. 35 | Ebd., S. 21. 36 | Polanyi, Karl: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001 (1944), S. 75.

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(c) Mit regulae (Regeln) schließlich bezieht sich Bermes auf eine geregelte Praxis, wie sie etwa einem Spiel zugrunde liegt, auf Handlungen also. Ein wesentlicher Aspekt der Verbindlichkeit von Regeln dürfte darin bestehen, dass sie häufig auch ›verkörpert‹ sind. Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von »Habitusformen«, die Praxisformen und Repräsentationen hervorbringen, »die objektiv ›geregelt‹ und ›regelmäßig‹ sein können, ohne im geringsten das Resultat einer gehorsamen Erfüllung von Regeln zu sein«.37 Exemplarisch lässt sich dies am Qochra-Spiel der berberischen Kabylen in Algerien zeigen, bei dem sich die Kinder um eine Korkkugel raufen, die das praktische Äquivalent der Frau darstellt. Es geht darum, »die Frau« entweder zu rauben oder zu verteidigen bzw. zu verheiraten und sich dabei spielerisch grundlegende Regeln im patriarchalen Umgang mit Weiblichkeit einzuverleiben.38 (d) Der certitudo schließlich kommt in Bermes’ Aufzählung die größte Bedeutung für eine schwache Verbindlichkeit zu. Dabei »handelt es sich weder um intersubjektiv und methodisch begründete Wissensbestände noch um schlichte subjektive und schwankende Überzeugungen«, sondern »um sichere Überzeugungen, die in ihrem Zusammenhang gleichsam die Tiefengrammatik der Kultur ausmachen«39, bzw. auf etwas verweisen, »was mit den Begriffen Einstimmigkeit, Einklang, Einvernehmen oder Einverständnis zum Ausdruck gebracht werden kann«.40 Solche »sicheren Überzeugungen« kommen in Praktiken zum Ausdruck und werden durch Praktiken gestützt und modifiziert. In Müllers Modell finden sie sich ebenfalls, jedoch gänzlich anders gelagert, als Zentrum der Identität und bieten hier ein Maximum an Orientierung, Integration und Vergemeinschaftung, sozusagen eine ›starke‹ Normativität. Aus der Perspektive der Siedlungsgemeinschaft resultiert starke Verbindlichkeit aus postulierter bzw. verkörperter Homogenität. Hierbei ist der stärkste Ausdruck sicher in der Blutsverwandtschaft zu sehen, deutlich abgeschwächter in der Behauptung einer »Leitkultur«. Der Bezugspunkt würde in solchen Kontexten unter Umständen als »Blut« angesehen werden, auf dem sowohl die frühagrarische Siedlungsgemeinschaft als auch der überwiegende Teil jener imagined communities namens »Nation« auf baut. Stellt man allerdings die konkreten Bedingungen von sich global zusehends differenzierenden als auch verschränkenden Lebenswelten in Rechnung, werden die Schwächen einer starken Normativität im Sinne der Siedlungsgemein-

37 | Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis: auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 165. 38 | Ebd., S. 190-191. 39 | C. Bermes: Verbindlichkeit, S. 28. 40 | Ebd., S. 26.

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schaft schnell ersichtlich. Homogenitätsannahmen, die auf gemeinsamer Abstammung basieren, sind nicht nur – wie bereits mehrfach betont – vor allem identitäts-ideologische Postulate, sondern u.U. sogar höchst gefährlich, da sie durch jeweils nostrozentrische Ab- und Ausgrenzungsbemühungen seitens vermeintlicher »Gründersippen« komplexe und kulturell plurale Gesellschaften von innen zu zerstören drohen.41 Insofern erscheint auch aus identitätsethnologischer Perspektive eine ›aufgeklärte‹ schwache Verbindlichkeit wünschenswert, die nicht auf eine vermeintlich starke Homogenität, sondern vielmehr auf tatsächliche Existenzinteressen der Menschen wie Orientierung, Gemeinschaft und Sicherheit setzt – mit Bermes gesprochen: »certitudo: Interessenkonvergenz«. Verbindlichkeit beanspruchen dürfen sollten daher gemeinsame, in einem Verständigungsprozess argumentativ zu begründende Werte und Normen, die prinzipiell hinterfragbar sind, eben weil sie nicht kulturell legitimiert werden, sondern mit dem Verweis auf universell gültige Normen und Werte. Und dies gilt beileibe nicht nur für »rational ausdifferenzierte moderne« Gesellschaften. Neuere Studien über politische Rhetorik in »vormodernen« Gemeinschaften sowie eine lange Reihe rechtsethnologischer Arbeiten zu Streitschlichtungsverfahren zeigen, dass sich die Geltung einer Norm nicht nur durch Inbezugnahme auf universale Rationalitätsstandards, sondern aufgrund der Tatsache kultureller Komplexität auch kulturimmanent anzweifeln lässt.42 Eine solchermaßen schwache Verbindlichkeit würde der Komplexität moderner Gesellschaften auch insofern Rechnung tragen, als deren Mitglieder immer auch Angehörige mehrerer, sich unter Umständen überlappender Gruppen und damit verbundener Loyalitäten sind. Welche dieser Bindungen jeweils im Vordergrund steht, hängt von den jeweiligen Umständen ab. Denn – wieviel Gewicht soll man zum Beispiel der Tatsache beimessen, dass eine Person aus Bremen oder Istanbul stammt, im Verhältnis dazu, dass dieselbe Person gleichzeitig auch deutsche Staatsangehörige, Molekularbiologin, eine Frau und Muslima ist? Auch vor diesem Hintergrund stellt das Verlangen nach starken Verbindlichkeiten mehr ein Problem als eine Lösung dar. Eine Ausprägung dieser Idee von der schwachen Verbindlichkeit lässt sich im Konzept des sogenannten »Verfassungspatriotismus« finden, wie es etwa

41 | Ausführlicher dazu: Ackermann, Andreas: »Wechselwirkung – Komplexität. Einleitende Bemerkungen zum Kulturbegriff von Pluralismus und Multikulturalismus«, in: Andreas Ackermann/Klaus E. Müller (Hg.), Patchwork. Geschichte, Problematik und Chancen multikultureller Gesellschaften, Bielefeld: Transcript Verlag 2002, S. 9-29. 42 | Wimmer, Andreas: »Kultur. Zur Reformulierung eines sozialanthropologischen Grundbegriffs«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48/3 (1996), S. 401-424, hier S. 410.

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Abb. 3: Identität als Kontinuum von Dolf Sternberger und Jürgen Habermas formuliert worden ist.43 Gegen den Einwand, dass diese Form kollektiver Identität keine Bindungskraft entfalten könne und sich eine staatsbürgerliche Solidarität unter Fremden nur in den Grenzen einer Nation herstellen lässt, hat Habermas argumentiert, »daß die hochartifiziellen Entstehungsbedingungen des nationalen Bewußtseins gegen [eine solche] defaitistische Annahme sprechen«.44 Die Identitätstheorie Müllers bietet aber noch einen weiteren Ansatzpunkt für Habermas’ Argument, schließlich bilden das Identifizierungs- bzw. Differenzierungsprinzip in ihrer Wechselwirkung keine antagonistischen Pole, sondern ein Kontinuum (vgl. Abb. 3). In konkreten Situationen können daher immer wieder Entscheidungen getroffen werden, ob man sich jeweils auf Unterschiede oder Gemeinsamkeiten konzentrieren, integrieren oder ausgrenzen bzw. »anlehnen oder ablehnen will«, wie Musil so tiefsinnig formuliert hat.

43 | Habermas, Jürgen: »Staatsbürgerschaft und nationale Identität«, in: Ders., Faktizität und Geltung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. Sternberger, Dolf: Verfassungspatriotismus, Frankfurt a.M.: Insel 1990. 44 | Habermas, Jürgen: »Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 7 (1998), S. 804-817, hier: S. 816.

Die Normativität gewöhnlicher Erfahrung Matthias Jung

1. N ORMATIVITÄT UND B EDEUTUNG : DER INTER AGIERENDE O RGANISMUS ALS A USGANGSPUNK T Was auch immer sie sonst noch sein mag, Normativität ist jedenfalls eine Form von Bedeutung, weshalb dieser Beitrag seinen Ausgang von einigen grundsätzlichen Überlegungen zu diesem biologischen und anthropologischen Basisphänomen nimmt. Zwar sind keineswegs alle Bedeutungen normativ, wohl aber ist alles Normative bedeutsam – es reguliert nämlich Interaktionen, in denen sich Wohl und Wehe der Beteiligten entscheiden und die deshalb für diese bedeutsam sind. Bedeutungen gibt es aber nur, weil es Lebewesen gibt. Selbst eine radikal rationalistische Konzeption des Normativen kann daher nicht davon absehen, dass alle Bedeutungen im organischen Lebensprozess gründen.1 Aus diesem Grund werde ich versuchen, eine, im noch zu erläuternden Sinn, naturalistische Skizze der Entstehung von Normativität in gewöhnlicher Erfahrung zu liefern. Einem Stein ist es nicht einmal gleichgültig, ob er weggespült wird oder liegen bleibt. Lebewesen aber werden durch ihre Interaktionen mit ihrer Umwelt konstituiert. Sie haben ein Wohl2, das davon abhängig ist, ob und wie gut dieser Austausch gelingt, und aus diesem Grund leben sie nicht einfach in einer physischen Umgebung, sondern in einer bedeutsamen Umwelt, in der auch andere Organismen, besonders solche derselben Art, vorkommen. Dieser grundlegende Sachverhalt übergreift die Differenz von Pflanze, Mensch und Tier. Ihn zu betonen, hat keinerlei reduktionistische Implikationen, denn was 1 | Jakob von Uexküll hat sogar die Grundideen seiner Biologie vom Bedeutungsphänomen her entwickelt. Vgl. Ders.: Streifzüge durch die Umwelten von Menschen und Tieren. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1956. 2 | Grundlegend zum Zusammenhang zwischen dem Begriff des Lebewesens und dem des Wohls: McLaughlin, Peter: »Funktion und Bewusstsein«, in: Detlev Ganten/Volker Gerhardt/Julian Nida-Rümelin (Hg.), Funktionen des Bewusstseins, Berlin/New York: de Gruyter 2008, S. 21-38, hier S. 33-37.

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Bedeutung bedeutet, ändert sich entscheidend, wenn wir von der Pflanze zum Tier, innerhalb des Tierreiches zu Tieren mit komplexen Nervensystemen und am Ende zum Menschen kommen. Normative Bedeutung schließlich gibt es nur für uns, für Wesen, die ihre lokale Umwelt transzendieren können und deren soziale Interaktionen zum Teil von explizierbaren Geltungsansprüchen geregelt werden. Dass die Philosophen des Pragmatismus, zu denen ich mich zähle, so häufig betonen, alle Bedeutungsphänomene gründeten im reziproken Verhältnis zwischen Organismus und Umwelt, ist einer antidualistischen Grundeinstellung geschuldet. Diese geht bottom-up von Lebensphänomenen aus, ohne dabei zu übersehen, dass der sich entwickelnde Geist gleichermaßen top-down die Lebensphänomene in ihrer Bedeutung neu bestimmt. Man kann diese Position als naturalistisch bezeichnen, sollte dabei jedoch den Abstand nicht übersehen, der naturalistische Pragmatisten wie Dewey und Mead vom üblichen szientifischen Naturalismus der Gegenwart trennt. Wie besonders eindringlich Raymond Tallis in seinem brillanten Buch »Aping Mankind. Neuromania, Darwinitis and the misrepresentation of humanity«3 gezeigt hat, neigt diese heutzutage am stärksten verbreitete und oft fälschlich für alternativlos gehaltene Form des Naturalismus dazu, die Anerkennung evolutionärer Kontinuität – auch der Geist hat sich natürlich entwickelt – mit etwas ganz anderem zu verwechseln, nämlich dem Nachweis der Epiphänomenalität von Geist und Kultur. Für einen szientifischen Naturalisten sind letztlich Bedeutungen, also auch alle Werte und Normen, epiphänomenal. Als ontologisch real gilt nur, was Objekt naturwissenschaftlicher Forschung sein kann. Ansgar Beckermann hat diese verbreitete Einstellung auf den Punkt gebracht: »[...] letztlich sind es die Wissenschaften, die uns sagen, was es in der Welt gibt und wie das, was es gibt, beschaffen ist.«4 Antireduktionistische Naturalisten wie Dewey hingegen halten die Welterschließung durch den engagierten, handelnden Organismus für zentral, weshalb Bedeutungen als primär und ontologisch relevant verstanden werden; gegenständliche Referenz aber bezeichnet nur einen wichtigen, jedoch derivativen Teilbereich dessen, was es gibt. »Wahrheiten«, so schreibt er, »sind nur eine Klasse von Bedeutungen [...]«5. In bewusster Travestie der kantischen Metapher vom Ozean des Scheins lässt Dewey die Insel des Propositionalen von einem Ozean nichtpropositionaler Bedeutungen umgeben sein – einem Ozean, von dem er zudem ausdrücklich sagt, er sei von höherem Wert als die Insel, die in ihm liegt. 3 | Acumen: Durham/Bristol 2012. 4 | Beckermann, Ansgar: »Naturwissenschaft und manifestes Weltbild. Über den Naturalismus«, in: DZPhil 60 (2012), S. 1, 6. 5 | Dewey, John: Philosophie und Zivilisation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 9.

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Aus diesem Ansatz ergibt sich dann auch eine häufig missverstandene Neufassung des Wissensbegriffs. Wissen ist für Dewey nämlich in der Tat dasjenige, was wir durch Inquiry gewinnen können, und Wissenschaft ist der paradigmatische, in einigen seiner zugespitzten Formulierungen sogar der einzige Fall dieses Wissens. Daraus ergibt sich aber deshalb kein Szientismus, weil eben Erfahrung weiterreicht als Wissen. Wir erfahren mehr, als wir wissen können. Es gibt einen nichtepistemischen Zugang zur Realität. Die Interaktionsbedeutungen des Funktionskreises von Organismus und Umwelt etwa sind nur aus der performativen Einstellung gewöhnlicher Erfahrung zugänglich, was sie aber gerade nicht subjektiviert. ».... alle Arten der Erfahrung«, so heißt es in Experience and Nature, sind Methoden, »in denen einige echte Eigenschaften der Natur zur manifesten Realisierung gelangen«6. Anders formuliert: Auch die Eigenschaften nichtepistemischer Erfahrung – also solcher Erfahrungsweisen, in denen keine von ihrem Subjekt abtrennbare Objekte oder Prozesse vorliegen –, wie beispielsweise ästhetische oder moralische Qualitäten, sind real und es ist nach Dewey der große Irrtum der üblichen naturalistischen Philosophie, dass »die Objekte des Wissens und die letztlich realen Objekte identisch sind.«7 Deweys Naturalismus bestreitet die Exklusivität des Junktims von Erkenntnis und Realität und setzt an seine Stelle den – immer fallibel gedachten – Zusammenhang von Erfahrung und Realität. Diese Position erlaubt es auch, einen besonders unfruchtbaren Dualismus zu überwinden, nämlich denjenigen zwischen entdeckt und gemacht. Werte beispielsweise, als Artikulationen dessen, was den Teilnehmern am Spiel des Lebens als gut und wünschenswert erscheint, sind weder subjektiv noch objektiv, sondern an die Interaktion von Organismus und Umwelt gebunden. Diese Interaktion jedoch, so die pragmatistische Pointe, ist unhintergehbar und vollzieht sich in der Wirklichkeit als ein Teil von ihr. Was in ihr als real erfahren wird und sich in falliblistischer Kritik bewährt hat, darf deshalb auch real gelten, obwohl es niemals Gegenstand eines Wissens von Objekten werden kann. Ich bin überzeugt, dass der pragmatistische Zugang zu normativen Phänomenen, um die es hier gehen soll, seine Stärke gerade daraus zieht, Normativität im Kontext zu natürlichen Prozessen zu sehen. Das unterliegt allerdings, wie jetzt deutlich geworden sein sollte, zwei Voraussetzungen: Erstens darf Natur nicht szientistisch verkürzt gedacht werden, muss jeder Epiphänomenalismus zurückgewiesen und müssen die Sinnfiguren der menschlichen Kultur gleichberechtigt mit eingeschlossen werden. Zweitens muss der Ausgangspunkt beim organismischen Umwelt-Verhältnis mit der Fähigkeit zur symbolischen Artikulation integriert werden, die humanspezifisch ist und top-down auf das nichtsymbolische Weltverhältnis zurückwirkt. Damit 6 | Dewey, John: Erfahrung und Natur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 40. 7 | Ebd., S. 35.

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erübrigt sich auch der Vorwurf, eine naturalistische bottom-up-Strategie zur Fundierung von Normativität unterliege dem Verdikt des Humeschen Fehlschlusses, also einer illegitimen Ableitung des Sollens aus dem Sein. Dieser Vorwurf trifft mit vollem Recht szientistische Naturalismen; hat man nämlich erst einmal Bedeutungen, Werte und Normen aus der Natur verbannt, lässt sich von dieser normativ neutralisierten Natur aus keine Brücke mehr zur kulturellen Normativität schlagen. Wenn Bedeutungen hingegen von Haus aus Interaktionsbedeutungen und deskriptive Aussagen demgegenüber derivativ sind, dann ist die Fakten/Werte-Dichotomie, wie Hilary Putnam immer wieder betont hat, 8 nicht etwa der unhintergehbare Ausgangspunkt moralischer Reflexion, sondern Resultat einer analytischen Operation, die primär für die Naturwissenschaften konstitutiv ist. Noch ein Wort zu den vielfältigen Bedeutungen des Begriffs »Naturalismus«, bevor ich damit beginne, die Entstehung normativer Strukturen in gewöhnlicher Erfahrung zu untersuchen. Auch wenn man, wie Dewey, diesen Begriff antireduktionistisch fasst, gilt es, methodischen und metaphysischen Naturalismus zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist Dewey selbst jedoch misslungen.9 Ich knüpfe hier deshalb ausschließlich an den methodischen Naturalismus im Sinne einer Fundierung des menschlichen Weltverhältnisses in der Organismus-/Umwelt-Interaktion an, weil dieser Ausgangspunkt den Vorteil hat, Dualismen zu vermeiden. Der metaphysische Naturalismus hingegen ergibt sich keineswegs zwangsläufig aus dem methodischen, er verdankt sich vielmehr dessen totalisierender Extrapolation. Diese Unterscheidung ist für mein argumentatives Anliegen zentral, ist es doch nur dann sinnvoll, Normativität als letzte Bastion gegenüber dem Naturalismus zu verteidigen, wenn dieser so aufgefasst wird, dass er den Naturwissenschaften ontologisch das letzte Wort lässt. Gibt man mit Dewey diese Voraussetzung aber auf und öffnet sich der natürlichen Vielfalt menschlicher Erfahrung, dann entsteht die Möglichkeit, humanspezifische Normativität zwar nicht auf die Wertbezogenheit des Lebens zu reduzieren, sie aber so zu rekonstruieren, dass ihre Rückbindung an die Umweltinteraktion sichtbar wird. »It is« so schreibt Christine Korsgaard, »the natural condition of living things to be valuers, and that is why value exists.«10 8 | Vgl. Putnam, Hilary: The Collapse of the Fact/Value Dichotomy and Other Essays, Cambridge/London: Harvard University Press 2002. 9 | Was hier leider nur behauptet werden kann. Für eine ausführliche Begründung dieser Behauptung vgl. Jung, Matthias: »Qualitative Experience and Naturalized Religion. An Inner Tension in Dewey’s Thought?«, in: Hermann Deuser et al. (Hg.), The Challenge of Contingency and the Significance of Transcendence. Classical Pragmatism and the Theory of Religion, New York: Fordham University Press 2016. 10 | Korsgaard, Christine M.: Sources of Normativity, 7. Aufl., Cambridge: Cambridge University Press 2004, S. 161.

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Bis jetzt habe ich mich darauf konzentriert, den Ausgangspunkt normativer Phänomene eher unspezifisch in jenen Interaktionsbedeutungen festzumachen, die natürlicherweise entstehen, wenn Organismen in einer widerständigen Umwelt leben und sich reproduzieren müssen. Solche Bedeutungen kann man insoweit als protonormativ betrachten, als sie einen intrinsisch wertenden Charakter haben und Grundmuster der Lebensform des Organismus aufgreifen. Philippa Foot spricht in diesem Zusammenhang ganz unbefangen von »natürlicher Normativität«11 und weist darauf hin, dass schon Thomas von Aquin Gemeinsamkeit und Differenz von Mensch und Tier auf dieser Linie konzeptualisiert hat: Auch Tiere haben nach Thomas Ziele und unterliegen dabei natürlicher Normativität, aber sie kennen und verfolgen ihre Ziele eben nicht als Ziele.12 »Tiere«, so formuliert Philippa Foot prägnant, »sind auf das Gute aus, das sie sehen, zum Beispiel auf Nahrung, Menschen hingegen sind auf das aus, was sie als gut ansehen. «13 Christine Korsgaard fasst diese anthropologische Differenz in ihre Formel vom »reflective endorsement.«14 Der alles entscheidende Unterschied zwischen einfachem »sehen« und reflexivem »ansehen als« trägt auch die Unterscheidung zwischen dem faktisch Begehrten (desired) und dem normativ Begehrenswerten (desirable), die John Dewey in seiner Theorie der Wertschätzung 15 entwickelt. Er gewinnt seine Konturen im Vollzug spezifisch menschlicher Erfahrung, die ich als diejenige verkörperter Symbolverwender bestimme. Der nächste Schritt muss also darin bestehen, Erfahrung ins Spiel zu bringen.

2. H OLISMUS UND I NVOLVIERTHEIT ALS K ENNZEICHEN NICHTME THODISCHER E RFAHRUNG Versteht man den Begriff der Erfahrung in einem weiten Sinn, können unzweifelhaft auch Tiere Erfahrungen machen. Sie durchlaufen Lernprozesse, die ihnen eine immer bessere und flexiblere Anpassung an ihre Umgebungsbedingungen ermöglichen, und werden in diesem Sinn aus Erfahrung klug. In einem anspruchsvolleren, humanspezifischen Sinn setzt aber eine Erfahrung zu machen voraus, ihre Bedeutung nicht nur performativ zu durchleben, sondern die Erfahrung auch als Erfahrung zu verstehen, d.h. sie artikulierend zu gestalten und damit in ein reflexives Verhältnis zu den erlebten Bedeutungen

11 | Foot, Philippa: Die Natur des Guten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 58. 12 | Die wichtigste Belegstelle ist von Aquin, Thomas: Summa Theologica I-II, q.1, a. 2c. 13 | P. Foot, Natur des Guten, S. 80. 14 | So der Titel von Kap. 2 aus Korsgaards Sources of Normativity. 15 | Vgl. Dewey, John: »Theorie der Wertschätzung«, in: Ders., Erfahrung, Erkenntnis und Wert, hg. v. Martin Suhr, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 293-361.

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zu treten. Solche im Vollzug des Lebens ebenso sehr passiv durchlittenen wie aktiv gestalteten Erfahrungen haben eine leicht zu übersehende, unscheinbare Eigenschaft, die sie erst normativitätstauglich macht: ihre Gewöhnlichkeit. Gewöhnliche Erfahrung, wenigstens so wie ich diesen Ausdruck verwende16, ist kontrastiv definiert, und zwar durch die Differenz zu methodischer Erfahrung. Sie übergreift deshalb, was sicher erst einmal ungewöhnlich klingt, die Differenz zwischen alltäglicher und außeralltäglicher, etwa mystischer oder ekstatischer Erfahrung. Auch die Erlebnisse eines Mystikers sind, so außergewöhnlich sie anmuten mögen, mit den gewöhnlichen Erfahrungen des Alltags zumindest dadurch verbunden, dass in ihnen der ganze Mensch erstpersonal involviert ist und keine Isolierung des Kognitiven stattfindet. Dem Mystiker wie dem Alltagsmenschen geht es darum, das eigene Leben gut zu leben.17 Damit greife ich eine Einsicht Diltheys auf, der an prominenter Stelle betont hatte, dass in den Adern des von Locke, Hume und Kant konstruierten epistemischen Subjekts kein wirkliches Blut rinne, »sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit«18. Wirkliche Erfahrung, so betont Dilthey, setze hingegen den ganzen Menschen, »dies wollend fühlend vorstellende Wesen«19 voraus. Sie entsteht, so fügen die Pragmatisten hinzu, denen Dilthey hier ganz nah ist, in der bedeutungsvollen Interaktion eines menschlichen Organismus mit seiner Umwelt. Es ist eben dieses empraktische Involviertsein, von dem methodische Erfahrung systematisch absieht und so ein rein kognitives Weltverhältnis ermöglicht, das freilich immer vom gewöhnlichen umfangen bleibt: Auch der Wissenschaftler ist trivialerweise ein in holistische Bedeutungen verstricktes, interessiertes Selbst. In methodischer Erfahrung verschwinden nun all die Bedeutungen, Werte und normativen Einstellungen, die gewöhnliche Interaktionen auszeichnen, ganz von selbst – aber nicht etwa, weil es sie in Wirklichkeit gar nicht gibt, wie der weltanschauliche Naturalismus uns einreden will, sondern weil die für methodisches Wissen konstitutive Distanzierung von empraktischer Involviertheit zugunsten eines rein kognitiven Weltverhältnisses die Voraussetzungen eliminiert, unter der die Wirklichkeit als bedeutsam erscheinen kann – nämlich die Interaktion mit ihr als existenziell betroffene Person. 16 | Vgl. Jung, Matthias: Gewöhnliche Erfahrung, Tübingen: Mohr Siebeck 2014. 17 | Dabei darf natürlich die adverbiale Güte des Lebens, um die es geht, nicht auf hedonistische Qualitäten eingeschränkt werden. Für den Mystiker hängt sie ja gerade an einer Einheitserfahrung und Dezentrierung des eigenen Selbst, die den individualistischen Standpunkt des Hedonismus weit hinter sich gelassen hat. 18 | Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften, Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Erster Band (= Gesammelte Schriften, Band 1), 4. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1959, S. XVIII. 19 | Ebd.

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»Natural Science«, so bringt es Robert Brandom auf den Punkt, »will never run across commitments in its cataloging of the furniture of the world«20. Diese Einsicht lässt sich auf jede methodische Erfahrungsform erweitern. Auch die Geisteswissenschaften sind, ein Gemeinplatz seit Max Weber, in diesem Sinn wertfrei. Natürlich setzt Wissenschaft dennoch in vielfältiger Weise Wertorientierungen und Normbewusstsein voraus, nicht nur als Erkenntnisgegenstand in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften, sondern auch als persönliche Verpflichtung des wissenschaftstreibenden Subjektes auf Werte wie Wahrhaftigkeit und Normen guter wissenschaftlicher Praxis. Doch zeigt dies nur, dass methodische Erfahrung eine interne Ausformung und Spezialisierung gewöhnlicher Erfahrung ist und nicht zum universellen Weltzugang aufgebläht werden darf. Die Neigung zu letzterem ist beispielsweise in der Astrophysik (und auch den Neurowissenschaften) weit verbreitet. Wenn Astrophysiker, je nach Naturell, das Weltall wahlweise als »einsam« melancholisch auf Distanz bringen oder es umgekehrt tröstlich als »unser Zuhause« verstehen wollen, kann man jedenfalls sicher sein, dass gewöhnliche Erfahrung sich hier in das prestigeträchtigere Gewand der Wissenschaftlichkeit gehüllt hat. Fragwürdig ist dabei aber nicht bereits die Tatsache, dass methodischer und existenzieller Zugriff in Beziehung gesetzt werden. Das lässt sich gar nicht vermeiden, wovon die Existenz von Weltanschauungen ebenso Zeugnis ablegt wie der Versuch der großen Weltreligionen, ihre Glaubensüberzeugungen rational zu verantworten. Fragwürdig sind allein die Unausgewiesenheit und der Versuch, eine nur im Medium gewöhnlicher Erfahrung mögliche Wertung als wissenschaftliches Resultat zu präsentieren. In dem Maß, in dem es dem Szientismus gelingt, die Lebenswelt zu kolonialisieren, wie das Habermas einmal ausgedrückt hat, also das Selbstverständnis der handelnden, in Bedeutungen verstrickten Subjekte durch objektivierende Beschreibungen zu ersetzen, statt diese wie sachlich angemessen zu ergänzen, schwindet das Verständnis für das normative Gewebe menschlicher Interaktionen. Umso wichtiger wird philosophische Kritik, die dem Szientismus begründet widersteht und begrifflich für den ungeschmälerten Reichtum menschlicher Erfahrungen einsteht.

20 | Brandom, Robert B.: Making it Explicit. Reasoning, Representing and Discursive Commitment, 3. Aufl., Cambridge/London: Harvard University Press 2000, S. 626.

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3. N ORMATIVITÄTSGENERIERENDE S TRUK TUREIGENSCHAF TEN GE WÖHNLICHER E RFAHRUNG Welche Facetten gewöhnlicher Erfahrung spielen nun eine zentrale Rolle bei der Genese humanspezifischer Normativität? Es sind die drei eng miteinander verbundenen Aspekte der Verkörpertheit, Intersubjektivität und Sprachlichkeit. Ontogenetisch liegt hier zwar eine geordnete Abfolge vor, beim Erwachsenen erscheinen aber alle drei Aspekte synchron miteinander verzahnt.

3.1. Verkörpertheit Der embodied oder auch embodiment turn in den Kognitionswissenschaften, die Leibphänomenologie und der Pragmatismus kommen darin überein21, den menschlichen Geist als etwas zu verstehen, das der Handlungssteuerung dient und deshalb von den dynamischen Interaktionen zwischen dem menschlichen Organismus und seiner physischen, kulturellen und sozialen Umgebung geprägt wird. Bezogen auf die Entstehung der Werte heißt das: Was wir am eigenen Leib spüren, umschließt vor allem im viszeralen Spüren, also im sog. Bauchgefühl, immer auch die Art und Weise, in der Veränderungen in der Umwelt die homöostatischen Selbstregulationsschleifen des Organismus zum Guten oder Schlechten hin verändern.22 Natürliche Normativität gründet in dem Wert, den die Umwelt des Organismus für diesen hat, weil sie das Milieu seines Gedeihens oder Verderbens ist. An diesem Punkt wird besonders deutlich, wie anthropologische Schichtenmodelle, die den Geist als einen Zusatz zur biologischen Natur fassen,23 die menschliche Lebensform verfehlen müssen. Qualitatives Erleben als solches ist nämlich keineswegs humanspezifisch. Auch

21 | Ich nenne hier nur zur Illustration jeweils einen exemplarischen Titel für diese drei Bereiche: Gallagher, Shaun: How the Body Shapes the Mind, Oxford: Clarendon Press 2004; Merleau-Ponty, Mauric: Phänomenologie der Wahrnehmung (= Phänomenologisch-psychologische Forschungen, Band 7), Berlin: de Gruyter 1966 (1945); J. Dewey: Erfahrung und Natur. 22 | Der Aspekt der Homöostase und ihrer Veränderung als Bedeutsamkeitsindikator für relevante Umweltereignisse hat besonders Antonio Damasio herausgestellt. Vgl. Ders.: Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, München: List 2000. 23 | Ein Schichtenmodell liegt immer dann vor, wenn komplexere und/oder evolutionär spätere Fähigkeiten so gedacht werden, dass sie zu den älteren hinzutreten, ohne diese zu verändern. Ich vertrete hingegen die von mir als »Diferenzholismus« (vgl. Jung, Matthias: Der bewusste Ausdruck, Anthropologie der Artikulation, Berlin/New York: de Gruyter 2009, passim) bezeichnete Position, dass in der Entwicklung der menschlichen Spezies neu entstandene Fähigkeiten, etwa der aufrechte Gang, das Verstehen von Intentionen, die Kommunikation mit symbolischen Sprachen jeweils zu einer Neukonfigu-

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Fledermäuse, um das berühmte Beispiel Thomas Nagels zu bemühen,24 haben vermutlich phänomenale Zustände. Aber daraus folgt eben nicht, dass sich die phänomenalen Zustände von Menschen im selben Sinne aus einer biologisch fixierten Lebensform ergeben, wie diejenigen nichtmenschlicher Lebewesen. Der Grund dafür liegt darin, dass das Bewusstsein von Symbolverwendern, wie wir es sind, durch die Fähigkeit geprägt wird, sich auf alles Mögliche zu beziehen und dabei buchstäblich aufs Ganze zu gehen. Das zeigt sich auf der Ebene des Erlebens vor allem daran, dass Menschen sog. existenzielle Gefühle25 haben, in denen es nicht, wie bei Angst, Ekel, Freude oder Neugier um die Bewertung konkreter Situationen, sondern um das In-der-Welt-sein als solches geht. Der basale Kontrast, der in solchen Gefühlen aufgespannt wird, ist derjenige zwischen Beheimatung in der Realität vs. Entfremdung von ihr. Existenzielle Gefühle, wie sie gegenwärtig auch in den Kognitionswissenschaften intensiv diskutiert werden, können als Ausgangspunkte für weltanschauliche Artikulationsprozesse verstanden werden, die dann regelmäßig normative Orientierungen einschließen.26 Möglich sind sie nur verkörperten Wesen, die einerseits affektiv von ihrer Umwelt betroffen sind, andererseits aber jede lokale Umwelt kraft ihres symbolischen Bewusstseins auch transzendieren können. Existenzielle Gefühle sind gute Beispiele für die top-down ablaufende Neubestimmung organischer Prozesse, die allen in Schichtmodellen denkenden Anthropologien entgehen muss. Solche Gefühle spielen, wie z.B. Dilthey und William James gezeigt haben, bei der Entstehung übergreifender Wirklichkeitsdeutungen eine nicht unbedeutende Rolle. Religiöse und weltanschauliche Ethiken etwa bewegen sich immer zwischen den Polen der Weltbejahung und Weltverneinung. Aber bereits die elementareren Prozesse des leiblichen Spürens haben enorme normative Kraft: In ihnen gewinnen Menschen jene Erfahrungen von Wärme und Kälte, Nähe und Ferne, Gehoben- und Niedergedrücktsein, Weite und Enge etc., die aller diskursiven Moral vorausliegen und ihr Vokabular metaphorisch verankern. Lakoff und Johnson zeigen in ihrem Klasration des gesamten psychischen Apparats und natürlich auch der jeweiligen sozialen Lebensformen geführt hat. 24 | Vgl. Nagel, Thomas: »What Is It Like to Be a Bat?«, in: Ders., Mortal Questions, Cambridge: Cambridge University Press 1979, S. 165-180. 25 | Matthew Ratcliffe hat sich besonders um die Beschreibung, differentialdiagnostische Unterscheidung und philosophische Interpretation solcher Gefühle verdient gemacht. Vgl. Ders.: »The Phenomenology of Existential Feeling«, in: Joerg Fingerhut/Sabine Marienberg (Hg.), Feelings of Being Alive (= Humanprojekt, Band 8), Berlin/Boston 2012, S. 23-54. 26 | Dazu ausführlich Jung, Matthias: »Hintergrunderleben und semiotische Generalisierung«, in: Joerg Fingerhut/Sabine Marienberg (Hg.), Feelings of Being Alive (= Humanprojekt, Band 8), Berlin/Boston: de Gruyter 2012, S. 293-310.

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siker Metaphors We Live By 27 an eher kognitiven Basismetaphern wie der des zu befüllenden Containers oder des zurückzulegenden Wegs, wie körperliche Dynamiken unsere Artikulationsmittel instrumentieren. Für unsere moralischen Ausdrucksmittel gilt Entsprechendes. Unser normatives Vokabular verweist immer auf leibliche Grunderfahrungen, die essentielle Metaphern bereitstellen und so »conceptual grounding« ermöglichen: die Verankerung symbolischer Bedeutungen in direkter, jedem Menschen als Leibwesen zugänglicher Erfahrung. Ein gutes Beispiel ist die moralische Qualität, die die leibliche Erfahrung von Wärme in Ausdrücken wie »menschliche Wärme« oder »warmherzig« annimmt (analoges gilt, mit umgekehrter Bedeutung, von Kälte). Auch hier zeigt sich wieder eine prinzipielle Differenz zu methodischer Erfahrung. Diese ist zwar auch in dem schwachen Sinn unausweichlich verkörpert, dass es immer spezifischer Individuen als Subjekte der Forschung bedarf, aber das leibliche Involviertsein dieser Individuen ist eben indirekt, wird gerahmt von einem existenziellen Moratorium, bleibt situiert in einem epistemischen Raum lebenspraxisabstinenter Wissenschaftspraxis. Natürlich sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler existenziell interessiert am Erfolg ihrer Forschung, aber die leiblichen Resonanzen, die so entstehen, müssen methodisch gerade ausgeklammert werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass leibliche Grunderfahrungen, die sich bei aller qualitativen Vielgestaltigkeit immer einer Skala von Zu- oder Abträglichkeit einschreiben, die elementarste Form von Normativität darstellen. Hätten wir keine Erfahrungen von Wohlbefinden und Schmerz, Behagen und Unbehaglichkeit, Entspannung, Anspannung und Verkrampftheit, wir hätten als Organismen nicht den mindesten Grund, jemals einen Sollzustand anzustreben und dafür den Istzustand aufzugeben.

3.2. Intersubjektivität Folgt man der von Michael Tomasello in mehreren gewichtigen Veröffentlichungen gelegten Spur,28 dann besteht der wichtigste biologische Unterschied zwischen Menschen und anderen Primaten in unserer Fähigkeit, andere als

27 | Lakoff, George/Johnson, Mark: Metaphors We Live By, Chicago/London: Chicago University Press 2003. 28 | Darunter hier am wichtigsten: Tomasello, Michael: The Cultural Origins of Human Cognition, Cambridge/London: Harvard University Press: 2000; Ders.: Origins of Human Communication, Cambridge/London: MIT-Press 2008; Ders.: A Natural History of Human Thinking, Cambridge/London: Harvard University Press 2014; und vor allem Tomasellos Versuch einer evolutionären Rekonstruktion der Genese von Moralität: Ders.: A Natural History of Human Morality, Cambridge/London: Harvard University Press 2016.

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intentionale Wesen mit einem Selbst wahrzunehmen und uns mit ihnen zu identifizieren, genauer gesagt: Uns selbst und sie selbst als Teilnehmer an sozialen Situationen zu betrachten, in denen die Fähigkeit zu Perspektivenwechsel und -übernahme entscheidend ist. Lange bevor Normen sprachlich explizit gemacht und kodifiziert werden können, sind sie deshalb bereits in Szenen geteilter Aufmerksamkeit präsent. Einfache Experimente mit 3-5-jährigen Kindern und Bonobos haben gezeigt, dass die Menschenkinder Interaktionssituationen als ein normativ geregeltes gemeinsames Spiel ansehen, während für die Bonobos der instrumentelle Handlungserfolg im Vordergrund steht. Eine solche »hypersoziale« Einstellung setzt Identifikation voraus, und diese gründet primär nicht in einer »theory of mind«, also einer bloß kognitiven Repräsentation der Gefühle und Gedanken anderer, sondern in leiblicher Intersubjektivität, dem was Suzan Stuart »enkinaesthetic« oder präziser »prenoetic mutually transgressive affective neuro-muscular entanglement«29 nennt. Diese recht komplexe Formulierung sei kurz erläutert: Der Leib-Körper30 eines jeden Menschen ist mit denen der ihm begegnenden Artgenossen – und ggf. auch mit dem Organismus von Haustieren etc. – vorbewusst verbunden, oder, metaphorischer, verstrickt. In der Art und Weise, in der wir leiblich aufeinander eingestellt sind, überschreiten wir die Hautgrenze des eigenen Organismus immer schon in die Richtung eines affektiven, neuro-motorisch gegliederten Eingehens auf andere. Der menschliche Leib ist also bereits genuin intersubjektiv, bevor die Sprache überhaupt ins Spiel kommt, weil seine sensomotorischen Schemata und Haltungen nur interaktiv verstanden werden können. Über vielfältige Feedbackschleifen sind wir mit den Handlungen anderer, den Ausdrucksqualitäten ihres Verhaltens und den damit verbundenen intersubjektiven Erwartungshaltungen bereits verbunden, bevor es überhaupt zur Ausbildung eines Selbst kommt. Beispielsweise sind zwei oder mehrere kopräsente menschliche Organismen »je schon« auf die anderen sensomotorisch bezogen, wie sich etwa am Phänomen der sog. sozialen Distanzzonen31 deutlich 29 | Vgl. Stuart, Susan: »The Articulation of Enkinaesthetic Entanglement«, in: Matthias Jung/Michaela Bauks/Andreas Ackermann (Hg.), Dem Körper eingeschrieben. Verkörperung zwischen Leiberleben und kulturellem Sinn, Wiesbaden: Springer 2016, 19. 30 | Durch das Kompositum soll angezeigt werden, dass der menschliche Organismus uns immer in der doppelperspektivischen Einheit des von innen belebten und erlebten Leibs und des von außen sichtbaren und biologischen Funktionen unterworfenen Körpers gegeben ist. 31 | In Mitteleuropa etwa beträgt der Abstand, der zu persönlich bekannten Mitmenschen gehalten wird, etwa 60-100 cm. Alles was darunterliegt, wird als übergriffig, alles was darüberliegt, als distanziert empfunden. Dieser Abstand wird durch die normativen Vorgaben reguliert, die der in der Interaktion vollzogenen Verschränkung des Körperschemas von ego und alter eingebaut sind. Gleichzeitig sind solche körperschemati-

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zeigt. George Herbert Mead hat deshalb immer wieder betont, dass die Internalisierung der Reaktionen der anderen auf mich (»me«) eine Voraussetzung für die Entstehung eines Ichs (»I«) darstellt, das sich zu diesem »me« noch einmal verhalten kann.32 Eine protonormative Struktur weisen bereits die dyadischen Interaktionen des Säuglings mit der Mutter auf, die wir mit Trevarthen und Tomasello33 als »Protokonversationen« verstehen können. Dass schon hier, wenn auch noch implizit, Gelingensbedingungen und damit Normativität im Spiel sind, lässt sich an der hochgradigen Irritiertheit ablesen, mit der Säuglinge reagieren, wenn die Bezugsperson ein abweichendes Verhalten zeigt und der Interaktionsfluss zu stocken beginnt. Spätestens nach der sog. Neunmonatsrevolution erwerben Kinder nach Tomasello dann die Fähigkeit, andere als intentionale Subjekte zu verstehen und sich damit gemeinsam mit ihnen in triadisch strukturierten geteilten Situationen befinden. Diese sind zunächst dadurch gekennzeichnet, dass zwei oder wenige Individuen – paradigmatisch Mutter und Kind – gemeinsam auf etwas bezogen sind: Joint Intentionality. Hier bleibt der normative Aspekt noch auf die Verhaltenserwartungen des konkreten Anderen beschränkt. Collective Intentionality entsteht dann durch den Übergang von Ich-Du- zu Wir-Strukturen und ist eng mit der Entstehung symbolischer Kommunikation verbunden.34 In derselben Weise, in der die Verwendungsnormen symbolischer Sprache relativ auf eine Ganzheit, ein Sprachsystem sind, sind alle sozialen Normen auf dieser Ebene bereits auf ein Wir bezogen, eine soziale Gruppe, deren Normen nicht mehr einfach als Aggregation dyadischer Verhaltenserwartungen verstanden werden können. Genau genommen müsste hier natürlich zwischen Werten und Normen unterschieden und betont werden, dass die Verbindlichkeiten einer bestimmten sozialen Gruppe primär auf geteilten Werterfahrungen beruhen. Andererseits übergreift das hier vorgeschlagene Verständnis von Normativität die Unterscheidung zwischen dem erfahrungsgesättigt Guten der Werte und dem universell Richtigen der Normen. Akzentuiert man im Normbegriff den Aspekt des rationalen Universalismus, kann er zwar erst dann angewendet werden, wenn Intersubjektivität durch symbolische Distanznahme von gruppenspezifischen Erfahrungen erweitert wird. Das ändert aber natürlich nichts schen Normative auch ein gutes Beispiel für die kulturelle top-down-Regulierung des Körperschemas, denn natürlich gibt es hier ausgeprägte kulturelle Unterschiede. 32 | Vgl. etwa den Aufsatz »Der Mechanismus der sozialen Identität« (1912), in: George Herbert Mead, Gesammelte Aufsätze, hg. v. Hans Joas, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 241-252. 33 | Vgl. M. Tomasello, Cultural Origins, S. 59f. 34 | Die ausführlichste Darstellung der Unterscheidung zwischen joint und collective intentionality bieten die Kap. 3 und 4 in Tomasellos Natural History of Human Thinking.

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daran, dass auch gruppenspezifische Werte eine normative Kraft haben: In ihnen verkörpern sich Weisen des Handelns, die den einzelnen Individuen als verbindlich imponieren. In diese triadische und prinzipiell im moralischen Universalismus bis auf alle Menschen erweiterbare Struktur von Subjekt-Kosubjekt(e)-Norm bleiben aber kleinräumigere Interaktionsmuster eingelagert. Zwischenleibliche (Merleau-Ponty) Interaktion setzt physische Kopräsenz voraus und es ist eben zunächst der konkrete Andere, nicht der generalisierte, in dessen Ausdrucksverhalten mir Freude und Schmerz direkt, will sagen, ohne symbolische Vermittlung, gegeben sind. Ohne die damit mögliche Empathie zwischen Individuen, deren Ausdrucksverhalten ineinander verschränkt ist, könnte auch eine universalistische Moral gar nicht wissen, welche Verletzungen und Demütigungen es denn sind, hinsichtlich derer ein universeller Anspruch auf Schutz besteht. In gewöhnlicher Erfahrung hat leibliche Intersubjektivität ohnehin einen selbstverständlichen Vorrang. Dieser ergibt sich schon daraus, dass wir zwar in Gesellschaften leben, in denen indirekte Interaktionsfolgen, etwa in Form sozialer Institutionen und Traditionen, eine zentrale Rolle spielen, Institutionen aber nur in einem abgeleiteten und schwachen Sinne moralisch verletzbar sind. Die soziale Nahwelt leiblicher Face-to-Face-Interaktion bleibt der primäre Erfahrungsraum, in dem wir unsere moralischen Sensibilitäten ausbilden. Verkörpertheit und leibliche Intersubjektivität charakterisieren jede gewöhnliche, also erstpersonale Erfahrung und geben ihr Bedeutung und Verbindlichkeit.

3.3. Sprachlichkeit Normativität im stärksten Sinn des Wortes kommt allerdings erst dann ins Spiel, wenn diese Verbindlichkeit nicht nur qualitativ erlebt oder als widerständiger Anspruch des Anderen interagierend gespürt, sondern auch sprachlich explizit gemacht wird. Damit bin ich beim dritten und letzten der Aspekte, die ich oben als entscheidend für die Normativität gewöhnlicher Erfahrung herausgestellt hatte. Menschen sind Symbolverwender, und nur deshalb auch ver-körpert. In diesem Ausdruck steckt ja beides, die Unhintergehbarkeit leiblicher Existenz und die Möglichkeit, ihr gegenüber doch auch symbolisch auf Distanz zu gehen. In der mathematisierten Sprache der Physik ist diese Distanz, deren Ideal Thomas Nagel in die Formel des Blicks von nirgendwo35 gefasst hat, auf die Spitze getrieben. Doch auch holistische, nichtmethodische Erfahrung hat eine kontexttranszendierende Kraft, die für die menschliche Lebensform konstitutiv ist und sich von allem anderen organischen Leben abhebt. Der Unterschied liegt darin, dass im naturwissenschaftlichen Denken der Versuch

35 | Vgl. Nagel, Thomas: Der Blick von nirgendwo (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Band 2035), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992.

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unternommen wird, aus Interaktionsbedeutungen gezielt dasjenige herauszupräparieren, was unabhängig von jeder menschlichen Perspektive der Fall ist und deshalb auch rein kognitiv betrachtet werden kann. Gewöhnliche Erfahrung verbleibt hingegen immer im Bereich dessen, was Korrelat nichtmethodischer, mit Diltheys klassischen Worten wollend-fühlend-denkender Erfahrung sein kann. Den vielleicht radikalsten Versuch, auch diese Grenze doch zu überwinden, hat Kant unternommen, indem er darauf bestand, dass der Grund moralischer Verbindlichkeit lediglich in der »allgemeine[n] Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt«36 gefunden und also völlig ohne Bezug auf den Menschen als empirisches Wesen bestimmt werden muss. Doch selbst Kant kommt nicht umhin zuzugeben, dass der Pflichtcharakter der Moral nicht apriori besteht, sondern komplementär zu einem anthropologischen Begriff, nämlich dem der Neigung, zu verstehen ist. Gegenstand der Neigung ist aber – in moderner Terminologie – nichts anderes als das, wozu sich ein einzelner Organismus natürlicherweise hingezogen fühlt. Der Pflichtcharakter der moralischen Verbindlichkeit entsteht dann dadurch, dass diese individuellen Handlungsorientierungen miteinander konfligieren können. Ohne anthropologische Voraussetzungen kommt also auch die Vernunftmoral nicht aus. Sie stellt, so könnte man wohl sagen, die radikalste Universalisierung dar, die innerhalb gewöhnlicher Erfahrung möglich ist. Tilgt man aber den Bezug auf leibliche, begehrende, von ihrer Umwelt abhängige, in Interaktionen verletzliche Organismen, dann kommen der Universalisierung all die Werte abhanden, die der Gesetzescharakter der Vernunftmoral doch schließlich schützen soll. Die Konkretion des Allgemeinen lässt sich eben, wie schon Hegel mit seiner Kritik an der von ihm konstatierten Leere des Kantischen Pflichtbegriffs zeigen wollte, nicht aus dem Allgemeinen selbst herausholen.37 Deshalb geht ein aktueller Trend in der Kantinterpretation auch dahin, die reine Vernunft als transzendentale Ermöglichung universalistischer Normativität zu deuten, für ihre inhaltliche Bestimmung in konkreten Situationen aber immer die Ressourcen direkter Erfahrung mit heranzuziehen, also das qualitative Erleben und die zwischenleibliche Intersubjektivität.38 Auch Korsgaards schon erwähnter Begriff des »reflective endorsement« weist in diese Richtung, wenn 36 | Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 17. 37 | Vgl. z.B. den Kantteil seiner Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie (= III, Werke 20), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, bes. S. 368: »Das formale Prinzip der Gesetzgebung kommt in dieser Einsamkeit in sich zu keinem Inhalt, keiner Bestimmung. […] Das Allgemeine, das Sich-nicht-Widersprechen ist etwas Leeres, das im Praktischen sowenig wie im Theoretischen zu einer Realität kommt«. 38 | Vgl. Moskopp, Werner: Verbindlichkeit. Transzendentale Architektonik und Pragmatistische Methodologie in der Moralphilosophie, Koblenz: Habilitationsschrift 2017.

Die Normativität gewöhnlicher Er fahrung

sie schreibt: »To be motivated ‘by reason’ is normally to be motivated by one’s reflective endorsement of incentives and impulses, including affections, which arise in a natural way.«39 Gewöhnliche Erfahrung ist der Wirklichkeitsbezug von Menschen, die handeln müssen und dafür Vernunft, Wille und Gefühl ungeschieden mobilisieren. Das wirkt sich auch auf die dominierenden Formen symbolischer Artikulation aus. Das sprachliche Format, in dem die Bedeutung gewöhnlicher Erfahrung, einschließlich ihrer normativen Implikationen, zur Sprache gebracht wird, ist die Erzählung. Sie unterscheidet sich vom idealiter rein propositionalen, wahrheitskonditionalen und referenzfixierten Wissenschaftsdiskurs dadurch, dass sie eine Handlung hat, Drama bietet und überhaupt erlebte Zeit gestaltet. Auch in der Erzählung zeigt sich aber bereits jene Wirklichkeitsdistanz, die der indirekten Bezugnahme symbolischer Sprache eingeschrieben ist: Sie selektiert, schafft symbolische Prägnanz und suggeriert narrativ Wertvorstellungen.40 Spätestens seit der Achsenzeit lässt sich dann beobachten, dass der narrativen Artikulation argumentative und kritische Elemente eingelagert oder auch entgegengestellt werden, die zur Normativität des Mythischen nochmals auf Distanz gehen. Man denke etwa an die moralistische Kritik des Propheten Amos am Opferkult, an Xenophanes’ Kritik an den anthropomorphen Göttern Griechenlands oder an das universalistische Verständnis der Menschlichkeit, Ren, im konfuzianischen Lunyu. All das kann hier leider nur angedeutet werden.41 Man darf das Gesagte jedoch nicht so verstehen, als ob sich in den achsenzeitlichen Entwicklungen oder deren Fortführungen im aktuellen Menschenrechtsdiskurs nun universalistische Gerechtigkeitsvorstellungen einfach frontal der Normativität unreflektierter Gewohnheiten und Praktiken entgegenstellen würden. Es handelt sich vielmehr stets um eine innerhalb des Bereichs gewöhnlicher Erfahrung verbleibende Selbstkritik. Sie wird dadurch möglich, dass symbolischer Zeichengebrauch mittels seiner strukturellen Verschränkung mit ikonischen und indexikalischen Zeichen so etwas wie verkörperungsimmanente Transzendenz ermöglicht. Wir können die Normen, die in unseren Praktiken verkörpert und in unseren sinnstiftenden Geschichten 39 | C.M. Korsgaard: Sources, 127. 40 | Ausführlicher zu diesem Themenkomplex Meuter, Norbert: »Identität und Empathie. Über den Zusammenhang von Narrativität und Moralitä«, in: Karen Joisten (Hg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen (= Deutsche Zeitschrift für Philosophie; Sonderband 17), Berlin: de Gruyter 2007, S. 45-61. 41 | Reiches Material bietet der Sammelband Embodiment, Transcendence and Contingency. Anthropological Features of the Axial Age. In: Hans Joas/Robert Bellah (Hg.), The Axial Age and Its Importance for Subsequent History and the Present, Harvard: Harvard University Press 2012.

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artikuliert werden, reflexiv auf Distanz bringen, ohne dabei jene methodische Distanz zum Lebensvollzug einnehmen zu müssen, die Normativität zum Verschwinden bringt, genauer, auf ihr faktisches Vorhandensein reduziert. In der Moderne muss sich solche Reflexivierung gewöhnlicher Erfahrung daran messen lassen, dass sie nichts über die Welt behauptet, das dem in seinen methodischen Grenzen bleibenden Weltwissen der Wissenschaft widerspricht. Aber das hebt die Differenz nicht auf. Normativität ist gebunden an den unvertretbar erstpersonalen (sing. und plural) Vollzug in der Teilnehmerperspektive. In ihr manifestiert sich, dass Menschen, um eine Unterscheidung von Plessner und Gehlen aufzugreifen, ihr Leben nicht nur haben, sondern führen, also reflexiv verantworten müssen. Das unterscheidet sie grundlegend von allen anderen Lebewesen. Wenn man die Dinge so betrachtet, ist gewöhnliche Erfahrung alles außer gewöhnlich.

Verbindlichkeit als universales Prinzip kultureller Normen und Werte Werner Moskopp If I am asked why I am to be moral, I can say no more than this, that what I can not doubt is my own being now, and that, since in that being is involved a self, which is to be here and now, and yet in this here and now is not, I therefore can not doubt that there is an end which I am to make real; and morality, if not equivalent to, is at all events included in this making real of myself.1

Machen wir uns auf die Suche danach, was Verbindlichkeit ist, dann sollten wir uns nicht durch die Polysemie der Kopula ist verwirren lassen. Sowohl Existenzannahmen, die aus Wahrnehmungen und Begriffen zusammengesetzt werden, als auch (Verbal-)Definitionen – analytischer Art oder auch in der Version eines ›Ordinary Language Approach‹ – gehen an dem vorbei, was im folgenden Aufsatz entwickelt werden soll. Zwar bleibt die Untersuchung synthetisch wie die Wahrnehmungsurteile, jedoch verzichtet sie auf die Berücksichtigung einzelner Wahrnehmungsgegenstände; zwar soll die Bedeutung von Verbindlichkeit definiert werden, aber es reicht weder eine Tautologie (»Verbindlichkeit ist Moral.«) noch eine Analyse komplexer Begriffe (»Verbindlichkeit ist die Kombination von Urteilen über das, was gut ist.«) aus, um die Verbindlichkeit eigens markieren zu können. Das Feld der Verbindlichkeit erscheint erst in einem Schwingkreis der drei Komponenten ›Bewusstsein-Sprache-Welt‹. Der Begriff Verbindlichkeit bedeutet keinen dinglichen Gegenstand und existiert damit nicht in dem Sinne von etwas als einem Dieses da, sondern er bezeichnet m.E. eine ganz bestimmte Art von Relation, die zu unserem Bewusstsein gehört. Verbindlichkeit soll daher nicht extensional, durch die Betrachtung einzelner Phänomene oder Relationstypen von Verbindlichkeiten, bestimmt werden, sondern durch den Versuch einer intensionalen Definition, in der das Proprium der Verbindlichkeit so klar wie möglich herausgestellt 1 | Bradley, Francis H.: Ethical Studies, London: Oxford University Press 1970, S. 84.

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wird. Der Ort eines solchen Vorhabens ist die transzendentale Philosophie, zumindest wenn man sie als die Disziplin der begrifflichen Reflexion und formalen Systematisierung versteht. Aufgrund meiner Vermutung, dass Verbindlichkeit äquivalent zu Moral bzw. Moralität betrachtet werden kann (in der Frage, ob beide identisch sind, will ich mich hier nicht festlegen), wird sich diese Studie zusätzlich innerhalb der praktischen Philosophie und hier im Rahmen der Moralphilosophie bewegen. Ich werde darauf reflektieren, dass, egal welchen Gegenstand wir auch auf seine Normativität oder Wertkonzepte hin betrachten, Verbindlichkeit eine notwendige und allgemeingültige Präsupposition und daher eine in jedem Urteil immer zugleich auch mitvollzogene Formvorgabe darstellt – eine transzendentale Kritik soll diesem Sachverhalt auf den Grund gehen. Zuerst werde ich meine Entscheidung noch einmal detaillierter begründen, dass ich die Untersuchung mittels der genannten Methoden durchführen werde (1.). Sowohl die Grundlage meiner Argumentation als auch die Grundlage des betrachteten Gegenstands fallen dabei selbst unter die Voraussetzungen, die zu untersuchen sind. Daher wird es dringend erforderlich sein, die solcherart formal-reflexiven Bedingungen an einem geeigneten Prinzip (Utilitarismus) zu entfalten (2.) und erst an dem Punkt der Untersuchung zu beschließen, an dem in Aussicht gestellt werden kann, welche Auswirkungen die hier vorgenommenen abstrakten Überlegungen auf die Anwendungsbereiche der Moralphilosophie in Forschung und Praxis haben (3.). Der Aufsatz mündet entsprechend in eine Kasuistik (4.).

1. D IE TR ANSZENDENTALE K RITIK Untersucht man die Verbindlichkeit, so bieten sich unterschiedliche Vorgehensweisen an: a) die empirische Erforschung moralischer Phänomene: Doch woher weiß ich, wonach ich schauen muss? Gibt es eine Intuition für die Phänomene im Bereich der Moral? Bedarf es einer intellektuellen Anschauung oder besonderer Wahrnehmungsvermögen, um Moralitäten ausfindig zu machen? Wenn man sich bei der Auswertung der empirischen Daten auf besondere Merkmale geeinigt haben wird, gelten dann die alltäglichen Gewohnheiten, die traditionellen Wertungen und Verhaltensweisen nur noch im Rahmen der neuen (deskriptiven) wissenschaftlichen Paradigmen? b) die Deduktion der Pflicht und des Sollens aus einer Instanz, einer Institution oder aus einem Vermögen: Die Autorität der jeweiligen normativen Kraft muss solcherart dogmatisch oder intuitiv gesetzt werden und ist – so oder so – nicht weiter begründbar. c) die transzendentale Kritik: Hier findet eine Abstraktion vom bzw. eine Subtraktion des Wechselhaften in den vielfältigen Phänomenen statt, die man im

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Alltag immer schon als moralisch akzeptiert hat. Die Bestimmung des formalen Strukturmoments wird in einer philosophischen Reflexion erarbeitet; sie liegt nicht etwa als angeborene Idee im Bewusstsein vor. Dabei wird der laufende Betrieb der Moral nicht angehalten oder außer Kraft gesetzt, ja die philosophische Reflexion unterstellt sich selbst vielmehr deren wissenschaftlichem Geltungsanspruch, so lange zu suchen, bis eine allgemein nachvollziehbare, klare und deutliche Form gefunden werden konnte. Bei der Frage nach dem Gleichbleibenden im mannigfaltigen Horizont der Moralphänomene stößt man unweigerlich auf deren Relationalität (vgl. u. (A2): das Gedankenexperiment von William James). Ich sehe dieses Strukturmerkmal daher als die Form der Moral überhaupt an, während konkrete Verbindlichkeiten sowohl diese Form als auch ganz unterschiedliche Manifestationen umfassen können. Erfahrungen und empirische Forschung greifen also immer auch selbst auf diese Verbindlichkeitsmomente zurück; dogmatische Setzungen leiden jedoch inhaltlich unter dem Vorwurf der Beliebigkeit und Intuitionen an ihrer Unüberprüf barkeit; es bleibt die transzendentale Methode, die Verbindlichkeit als bestimmte Relationen des Bewusstseins identifiziert. Jeder Moralphilosoph, der zugesteht, dass es überhaupt moralische Phänomene gibt, müsste entsprechend die beiden folgenden Annahmen bestätigen: Verbindlichkeit ist ein Strukturmoment des Bewusstseins und sie entsteht aus der Reflexion auf mögliche Wirkungen, die aus den Vorstellungen des Bewusstseins hervorgehen können (Wollen). Verbindlichkeiten treten entsprechend dann auf, wenn die Relationen in einer Triangulation zwischen zwei oder mehreren Personen bewusstgemacht werden. Zur Erläuterung, was mit diesen geheimnisvollen Hypothesen (oder doch noch: Intuitionen?) gemeint ist: Jedes Bewusstsein hat auch die Vorstellung davon, dass andere Wesen ebenfalls bewusst sind. Diese Vorstellung basiert auf Beobachtungen von deren Verhaltensweisen, die nicht nach strikten physikalischen oder psychologischen Gesetzmäßigkeiten vorhersagbar sind, sondern einer (selbstbestimmten) Eigendynamik zu unterliegen scheinen. Die Naturgesetze sind in ihrer Verbindung sehr stark und üben einen physischen Zwang aus, dem autonome Wesen aber nicht (moralisch) verpflichtet sind, auch wenn sie ihm oft gehorchen. Je formaler aber die eigentliche Bewusstseinssphäre reflektiert wird, desto verbindlicher werden die Phänomene: Habe ich mich mit einer anderen Person auf den Verbleib eines Gegenstandes per Handschlag geeinigt, dann halte ich mich nicht wegen des Gegenstandes, sondern wegen meines Wortes an die Vereinbarung. Kurz: Je materialer die Vorstellungen, desto weniger Verbindlichkeit finde ich vor. Umgekehrt ist im Zentrum der Reflexion aller Verbindungen die Verbindlichkeit absolut, da ich bei dem Kriterium angekommen bin, auf das sich jedes moralische Bewusstsein beziehen muss.

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2. D AS P RINZIP DER N ÜT ZLICHKEIT ›Warum/wozu moralisch sein?‹ ist unter den angegebenen Prämissen also eine überflüssige Frage, denn ich muss davon ausgehen, dass jedes (selbst)bewusst handelnde Wesen mehr oder weniger moralisch ist und demnach im Rahmen solcher Handlungen nicht nicht-verbindlich sein kann. Ob wir tatsächlich auch nicht-menschlichen Lebewesen Moralität zuschreiben sollten, kann ich hier nicht verhandeln. Stimmt aber zumindest die Annahme, dass der bewusst handelnde Mensch in seinen Entscheidungen immer verbindlich ist bzw. seine Handlungen als verbindlich begreift? Wenn jemand widerlegen möchte, verbindlich zu sein, erhebt die Person immer den Anspruch, dass sein Nachweis für die Zuhörer oder Leser gilt. Ein solcher Geltungsanspruch ist also gar nicht vorstellbar, wenn ich nicht bereits Verbindlichkeit formal voraussetze. Ich kann daher tun und lassen, was ich will, ich bestätige immer performativ, dass ich formal verbindlich bin, sobald ich etwas will.2 Ich teste an dieser Stelle erst einmal, ob dieser Gedanke bereits verfängt. Dazu kann man sich vorstellen, sich für eine der folgenden Alternativen (A1 & A2) als Ausgangshaltung entscheiden zu müssen. (A1) G.E. Moore konfrontiert uns in ›Principia Ethica‹3 mit folgendem Gedankengang: Es gibt in sich wertvolle Güter und Eigenschaften. Schönheit ist eine davon. Wenn wir uns ein Universum vorstellen, in dem kein Bewusstsein existiert, dann ist es trotzdem besser, wenn dieses Universum schön ist, als wenn es hässlich ist. (A2) Moore antwortet damit auf ein Gedankenexperiment von Henry Sidgwick und William James4, bei denen die Sache noch ganz anders angegangen wurde: In einem Universum ohne Bewusstsein gibt es auch keine Werte oder Normen. Erst mit dem ersten Bewusstsein, das in diesem Universum zu sich kommt, können wir auch die Annahme von Wertschätzungen beginnen. Sobald ein zweites Bewusstsein hinzukommt, müssen die Wertschätzungen relativiert werden usw. Für meine Argumentation ist die Annahme von James grundlegend: In der Welt der Sachen gibt es keine Werte, nur in der Welt der Lebewesen. Ich würde als Vertreter eines transzendentalen Idealismus sogar so weit gehen, zu

2 | Diese Argumentation ist angelehnt an Apels »Transzendentalpragmatische Reflexion. Die Hauptperspektiven einer aktuellen Kant-Transformation«, in: Apel, Karl-Otto, Paradigmen einer ersten Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011. 3 | Vgl. Moore, George E.: Principia Ethica, Stuttgart: Reclam 1970, S. 132. 4 | Ich wähle hier als Vorlage einen Auszug aus: James, William: »The Moral Philosopher and the Moral Life«, in: International Journal of Ethics 1/3 (1891), S. 330-354.

Verbindlichkeit als universales Prinzip kultureller Normen und Wer te

Nicht-Absehbares

Reflexion der Moral (Ethik) pos. Grenzwert: Prinzip Hoffnung

Das Dunkel des gelebten Augenblicks

Wirken/Wollen

Möglichkeiten des Vorstellens

Vergang enheit

neg. Grenzwert: Heuristik der Furcht Bewusstsein = Absehen/Zukunft

Abb. 1

behaupten, dass wir über reale Sachen und Universen überhaupt nur insofern sprechen können, als sie mit unserem Bewusstsein in Verbindung stehen. Auf der umfassenden Grundlage unseres Bewusstseins und der als dieses erscheinenden Weltrelationen ist uns dabei aufgrund unserer lebenslangen Erfahrung schon sehr vertraut, was in unseren Möglichkeiten liegt und was nicht, was wir mögen und was nicht, was wir als direkte und was als indirekte Folge unserer Handlungen verwirklichen möchten und was nicht. Wie dem auch sei: Nicht immer ist das, was wir uns vorstellen, auch wünschenswert. Nicht immer ist das, was wir wollen, auch realisierbar. Deshalb gibt es im Spektrum der sehr weiten Möglichkeiten des Wollens einen engeren Bereich der Möglichkeiten des Wirkens. Diese Konstellation möchte ich in eine eigens erstellte Graphik übertragen (Abb. 1). Wie wir feststellen können, sind die Fragen der Verbindlichkeit sämtlich auf die Vorstellung von möglichen Handlungsvarianten und d.h. auf Zukünftiges (mögliche Folgen, mögliche Zustände…) hin ausgerichtet. Vieles von dem, was im Auf-uns-Zukommenden geschehen wird, ist uns aus unseren Erfahrungen heraus schon relativ klar. Wir untersuchen ständig, soweit es in unserer Möglichkeit steht: a) Was kann geschehen? und b) Was wird sehr wahrscheinlich geschehen? Davon wählen wir als eigene Handlungsziele dann das, was wir für gut befinden: c) Was soll (am besten) geschehen? Wir blicken über das Normale hinaus in eine wünschenswerte Zukunft. Ein solcher Blick enthält in sich den positiven Grenzwert eines Prinzips der Hoffnung. Auf der anderen Seite versuchen wir selbstverständlich auch, das ein oder andere zu vermeiden: Was sollte am besten nicht passieren? Um uns hier abzusichern, ziehen wir eine negative Grenze und planen die Zukunft so, dass wir

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als erstes das Schlimmste ausschließen. Diese Heuristik der Furcht, wie Hans Jonas5 dieses Vorgehen nennt, soll uns vor langfristigen Gefahren und Leiden bewahren und deckt damit exakt den Bereich des negativen Utilitarismus ab, in dem wir langfristige Schmerzen bedenken und vermeiden.6 Aber wir wollen auch nicht allzu ängstlich nur auf das Leiden und seine Vermeidung schauen: Das Leiden der Welt würde am nachhaltigsten vermieden, wenn wir alle Lebewesen auf der Stelle schmerzfrei töten würden.7 Irgendwo zwischen den Extremen der größten Hoffnung und der skeptischen Absicherung bewegen sich unsere Absichten ständig im Alltag, wenn wir abwägen, welche Folgen unserer Handlungen abzusehen sind.8 Der zweckhafte Blick in die Zukunft hat also einen klaren Rahmen: das Absehbare zwischen Hoffnung und Furcht. Lassen wir eine gewöhnliche Absicht gegen den Grenzwert der Hoffnung laufen, können wir die Zukunft vielleicht ein bisschen besser gestalten – dieser Bereich ist in seinem höchsten Ausmaß das Prinzip der Hoffnung, dass irgendwann alle Menschen in Frieden und ohne Unterdrückung miteinander in dieser Welt leben können (die vollkommene Menschheit). Die Steigerung der Absicht gegen den Grenzwert der Furcht lässt uns die Welt ein bisschen weniger schlecht gestalten. Beide Tendenzen öffnen den Bereich des Möglichen vom Erwartbaren zum Wünschenswerten hin. Ich denke nun, dass das Prinzip des Utilitarismus die beiden anderen Prinzipien beinhaltet, indem es den o.g. formalen Bedingungen der Möglichkeit unseres Wollens insgesamt entspricht. Das Prinzip der Nützlichkeit lautet nämlich, »dass Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch richtig sind, als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken. Unter ›Glück‹ ist dabei Lust (pleasure) und das Freisein von Unlust (pain), unter ›Unglück‹ Unlust und das Fehlen von Lust verstanden.« 9

5 | Vgl. Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 63. 6 | »Jonas stellt den gängigen christlich-deontologischen Ethiken und Tugendethiken hier ein schlechtes Zeugnis aus. Eine konsequentialistische Ethik, die sich struktureller Rationalität verpflichtet weiß und die verschiedenen Generationen prinzipiell gleichberechtigt, erfüllt die Anforderungen einer Zukunftsethik hingegen in hohem Maße.« In: Gesang, Bernward: Eine Verteidigung des Utilitarismus, Stuttgart: Reclam 2003, S. 135. 7 | Vgl. Brandt, Richard B.: Morality, Utilitarianism, and Rights, Cambridge: Cambridge University Press 1992, S. 117, n. 8. 8 | Vgl. West, Henry R.: An Introduction to Mill’s Utilitarian Ethics, Cambridge: Cambridge University Press 2004, S. 80. 9 | Mill, John St.: Der Utilitarismus, Stuttgart: Reclam 2006, S. 23.

Verbindlichkeit als universales Prinzip kultureller Normen und Wer te

Das Glück aller empfindenden Lebewesen, die von meinen Handlungen betroffen sind, entspräche diesem Ideal quantitativ und qualitativ sicherlich dann am besten, wenn wir unsere Informationen aus der Sichtweise des Universums (Sidgwick, Singer) oder eines Erzengels (Hare) heraus gewinnen könnten. Schalten wir also vom Modus moralischer Alltagsautomatik10 auf manuelle ethische Steuerung unserer Handlungen um, so benötigen wir klare Orientierungspunkte für die Einschätzung, worin unsere moralischen Probleme bestehen und wie entsprechende Lösungsmöglichkeiten aussehen. Wir kennen uns selbst ja eigentlich ganz gut und ahnen, was wir in Zukunft mögen werden. Funktioniert das aber auch bei anderen Lebewesen? Man könnte einfach nachfragen: »Wie stark ist denn dein Interesse daran?« »Bleibt es auch so, wenn der Zustand länger andauert und auch negative Nebeneffekte hat?« Bei Lebewesen, die wir nicht direkt fragen können, ist es stattdessen möglich, uns in deren Lage hineinzuversetzen (inter- oder intrapersonal). Was wird Schwein A wohl in etwa fühlen, wenn es mit schlackernden Ohren über die Weide rast, um rechtzeitig zum Abendessen im Stall zu sein? Was empfindet Schwein B im überfüllten Tiertransporter bei brennender Hitze und zu wenig Wasser? Ich denke, man kann bei vielen Lebewesen eine ungefähre Vorstellung davon haben, was in ihnen vorgeht. So sammeln wir also unsere Informationen über sämtliche Bedürfnisse, Interessen und Wünsche der von unseren Handlungsoptionen betroffenen Lebewesen. Direkte Beziehungen zu anderen Lebewesen und insbesondere zu Menschen sind verbindlicher als mein Interesse an einer bloßen Sache. Da wir dem Prinzip der Nützlichkeit gemäß nach einer unparteiischen Kalkulation diejenige Option unserer Handlungen auswählen, aus der mehr Freude oder besser: das größte Glück der größten Zahl resultiert, müssen wir uns die qualitativen und quantitativen Grade der Verbindlichkeit bewusstmachen. Dabei tritt in der Relationalität des Verbindlichkeitskontinuums ein stabiler Pol als die konkrete Universalität der formalen Perspektivität von Lebewesen und ein anderer als pluralistischer Pol der wechselnden Gegenstände auf. Die Dichte eines moralischen Urteils steigt in Richtung der Universalität an, während sie in Richtung auf das einzelne Sach-Objekt abnimmt. Es kann also deutlich werden: Eine perfekt ausgeführte utilitaristische Kalkulation kann in der Theorie niemals zum unberechtigten Schaden eines Betroffenen führen, denn dann wäre es nicht das größte Glück der größten Zahl, das wir angestrebt hätten. Glück zu summieren, bedeutet nämlich nicht, die individuellen Summanden im Ganzen der Summe verschwinden zu lassen. Jeder Einzelne mit seinen Bedürfnissen, Wünschen und Interessen sowie Abneigungen, Bedenken und Ängsten soll hier im besten Fall in gleicher Weise 10 | Vgl. Greene, Joshua: Moral Tribes. Emotion, Reason, and the Gap Between Us and Them, New York: The Penguin Press 2013, S. 136.

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berücksichtigt werden. Die Eigenheiten der anderen autonomen Personen können z.B. nicht ignoriert werden, denn sie sind ja die Grundlage der Abwägung. Und im schlimmsten Fall, bei großer Unsicherheit, können wir immer noch versuchen, das gröbste Leiden zu vermeiden, wenn wir schon nicht erkennen können, welche Arten der Freude beteiligt sein werden. Freilich, wir haben nicht immer ausreichend Zeit für eine umfassende Berechnung, aber auch schon in kleinen Kreisen ist das rationale Prinzip der Nützlichkeit ein äußerst nützliches Instrument. Erscheint ein Prinzip noch besser zu sein, so sollte dieses gewählt werden – das bessere Prinzip wird wohl auch nützlicher sein. Wir halten fest: Das Prinzip der Nützlichkeit ist – fast wie die Verbindlichkeit selbst – unwiderlegbar, stets performativ sich selbst bestätigend, ggf. nicht direkt beweisbar, aber zumindest als allgemeingültige Intuition tragfähig im Diskurs der Experten.11 Wir sind also immer schon naive Utilitaristen; aber wir sind meist qualitativ schlechte Utilitaristen. Unsere moralischen Überzeugungen stimmen nicht durchweg mit dem überein, was wir über die glücklichsten Zustände der Zukunft erkannt haben, sondern sie stimmen oft mit dem überein, was wir direkt für uns als angenehm empfinden. Kann uns der Utilitarismus dazu motivieren, so zu handeln, wie es das Prinzip der Nützlichkeit unserer Einsicht gemäß verlangt?

3. K ONKRE TE U NIVERSALITÄT Ich versuche nun, dieses Problem der Motivation zu analysieren, indem ich zwischen moralischen Verallgemeinerungen (Generalisierungen) von Umständen mit dünner Verbindlichkeit und moralischer Universalität von Einzelsituationen mit dichter Verbindlichkeit unterscheide, und die jeweilige Motivationskraft abschließend in eine Fallunterscheidung (Kasuistik) übertrage. Bei einer Generalisierung geht man davon aus, alle sollten die Regel befolgen, die man selbst für richtig hält. Ein Beispiel: »Niemand außer Werner Moskopp sollte einen anderen Menschen bestehlen dürfen.« Die Motivation, diese für mich sehr interessante Regel zu befolgen, ist für andere wahrscheinlich relativ gering. Und auch, wenn kein Eigenname in der Regel vorkommt, bleibt sie relativ abstrakt. Auch die Maxime, die Welt zu retten, hat wenig konkrete Motivationskraft, weil man nicht weiß, wo man anfangen soll und sich überfordert fühlt. Der Utilitarismus darf aber den Akteur nicht überfordern, weil er sich sonst als Prinzip selbst aufheben würde. Daher könnte es eine Alternative zu den vorgeführten Generalisierungen geben, die ich in der Universalität des Prinzips der Nützlichkeit selbst zu finden glaube: Universalität be-

11 | Vgl. Sidgwick, Henry: The Methods of Ethics, Indianapolis/Cambridge: Hackett Publishing 1981, Book I, chapter 7.

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Das „Modar“: moral detection and ranging

reine Verbindlichkeit

1

Sphäre der Sachen

direkte Beziehung abstrakte Beziehung indirekte Beziehung bloßer Sachbezug

Abb. 2 deutet nämlich, dass ich eine Entscheidung so genau bedacht habe, dass jedes kritisch abwägende Lebewesen unter exakt diesen Bedingungen dieselbe Entscheidung hätte treffen müssen. Das Universale hat eine dichte vorschreibende Kraft, eine ›Präskriptivität‹ in sich, der sich kein vernünftig reflektierendes Bewusstsein entziehen kann. Die Motivationsleistung des Utilitarismus liegt also gerade in der absoluten Konkretion der Universalität begründet – nicht etwa in einer dünnen ökonomisierenden Glücksbilanzierung von abstrakten Kontextualisierungen. Ich hoffe, Ernst Bloch würde es mir verzeihen, dass ich mit seiner Hilfe nun den Utilitarismus stütze. Bloch beschreibt – seinerseits unter Zuhilfenahme von Hegels Ausführungen – folgende Richtigstellung: »Beides zusammen erst [sc. das Besondere und das Allgemeine, W.M.], dies fleischgewordene Universale, nennt Hegel Totalität; sie ist das vollste Zeichen für erlangte Konkretheit […]. ›Denken? Abstrakt? […] Wer denkt abstrakt? Der ungebildete Mensch, nicht der gebildete.‹ […]«12

In der hier vorgestellten Graphik (Abb. 2) konnte ich diese Vermutung berücksichtigen. Zur ›Blasonierung‹: Man sieht hier, dass die reine Verbindlichkeit im Modell direkt an unser Bewusstsein und in letzter Hinsicht an unser aktuelles Lebensmoment gebunden ist. Das lebendige Dasein ist die notwendige Bedingung für Moralität; das Bewusstsein bildet darüber hinaus die notwendige und hinreichende Bedingung für die Verbindlichkeit. Wir können daher auf der einen Seite von einer konkreten Universalität in uns sprechen und sehen

12 | Bloch, Ernst: Subjekt-Objekt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971, S. 30.

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simultan dazu im Sinne Blochs eine konkrete Utopie als das höchste Gut der Verbindlichkeit an: das verstetigte größte Glück der größten Zahl an bewussten Lebewesen; danach streben Utilitaristen ›in the long run‹. So kann man, wie oben vermutet, nachvollziehen, dass die Intensität der Verbindlichkeit abnimmt, wenn sie sich von der reinen Universalität entfernt: Je unschärfer die Weltzustände sind, auf die wir uns beziehen, desto geringer ist meiner reflektierten Erfahrung nach die Verpflichtung und desto geringer ist die moralische Motivation. Dass die konkrete Utopie dabei genauso verbindlich ist wie die Besinnung auf die reine universale Moralität, kann Bloch ebenfalls gut erklären, wenn er seine konkrete Utopie an das Dunkel des gelebten Augenblicks zurückbindet; es handelt sich sozusagen um einen Kurzschluss zwischen lebendiger Universalität und konkreter Utopie. »Ebenso ist das Jetzt und Hier, dies immer wieder Anfangende in der Nähe, eine utopische Kategorie, ja die zentralste; ist sie doch zum Unterschied vom vernichtenden Umgang eines Nichts, vom aufleuchtenden eines Alles, noch nicht einmal in Raum und Zeit eingetreten. Vielmehr gären die Inhalte dieser unmittelbarsten Nähe noch gänzlich im Dunkel des gelebten Augenblicks als des wirklichen Weltknotens, Welträtsels. Das utopische Bewusstsein will weit hinaussehen, aber letztlich doch nur, um das ganz nahe Dunkel des gerade gelebten Augenblicks zu durchdringen, worin alles Seiende so treibt wie sich verborgen ist.«13

Es ist aus dieser Sicht vollkommen richtig, dass Moore14 darauf hinweist, dass einer der größten Fehler der Moralphilosophen darin gelegen habe, stets mit einer Kasuistik anfangen zu wollen, um die Grundlagen der Moral ausfindig zu machen – dass die Kasuistik vielmehr das Ziel und nicht der Anfang einer wissenschaftlichen Moralphilosophie sei.

4. K ASUISTIK Die Analyse der Verbindlichkeit führt somit nach der theoretischen Erörterung in die Kasuistik und von dort weiter in die konkrete Anwendung hinein, wie ich abschließend zeigen möchte. »Was bitte soll ich also nun tun?« Die Beantwortung dieser Frage hängt direkt damit zusammen, ob wir wissen, was wir in moralischer Hinsicht tun wollen. A) »Ich will herausfinden, was Moral wirklich ist.« Sie können Ihre Erfahrungen nutzen und alles sammeln, was Ihnen moralisch erscheint. Ich emp-

13 | Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 11. 14 | Vgl. G.E. Moore: Principia Ethica, S. 34.

Verbindlichkeit als universales Prinzip kultureller Normen und Wer te

fehle – neben dem gesunden Menschenverstand – als wissenschaftliche Werkzeuge daher die Moralsoziologie und die Moralpsychologie zur Auswertung des mannigfaltigen Datenmaterials.15 B) »Ich will herausfinden, wie man Moral begründen kann.« Wir haben oben verschiedene Methoden betrachtet, die als seriöse Moralfundierungen gelten dürfen: Intuition, transzendentale Kritik… »Dann will ich herausfinden, wie ich begründen kann, dass ich mich an einem bestimmten moralischen Prinzip orientieren soll.« In diesem Fall ist es ratsam, auf die Quelle zu schauen, aus der die Moralität entsteht: das ist die typisch menschliche Verbindung von Erkennen und Wollen in einem von den Naturkausalitäten unbedingten Bewusstsein. Das heißt aber auch, dass Sie sich an den Vermögen des Bewusstseins orientieren sollten, die selbst Gesetzmäßigkeiten und damit Autonomie generieren. In dieser Hinsicht ist es die Vernunft, die uns zeigt, dass wir uns selbst das Gesetz des Wollens geben. Verbindlichkeit steht nicht unter dem Zwang des Sollens, sondern sie konstituiert das jeweilige Sollen. C) »Ich will herausfinden, welches Prinzip das richtige ist, um mein Leben generell auf eine bestimmte Art und Weise auszurichten (und zwar im besten Fall nicht als Egoist, sondern als Altruist).« Diese Dimension der Verbindlichkeit bietet Ihnen unterschiedliche Möglichkeiten. Sie können sich fragen: »Wer will ich sein?« Und entsprechend gestalten Sie dann Ihre Fähigkeiten, Charakterzüge aus. Sie können ein guter oder schöner Mensch für sich sein wollen, oder Sie können gut für etwas sein wollen, wenn Sie sich bestimmte Zwecke auswählen, die Sie verwirklichen. D) »Ich will herausfinden, welche Faustregeln am besten zu bestimmten Entscheidungssituationen passen«, z.B. als Anhaltspunkt für berufliche Entscheidungen etwa im Rahmen der Pflegeethik. Hier bewegt man sich im Bereich verschiedener rechtlicher und ethischer Vorgaben, die man kennen sollte. Gleichzeitig gilt es, Entscheidungen zu treffen, welche Hilfsmittel eingesetzt werden, wie diese zu bedienen sind usw. Aber die ethische Reflexion bietet zusätzlich vor allem die Möglichkeit, aus den mechanisierten Abläufen herauszutreten und das Gegenüber als Person anzuerkennen (d.i.: Begegnung, Dialog, Situationsethik…). E) »Ich will einen ganz konkreten Einzelfall entscheiden.« Hier gilt es abzuwägen und die Betroffenen der Handlungsentscheidung zu fragen. Wir versetzen uns in die Lage der anderen, vergleichen die höchst wahrscheinlich auftretenden Folgen der verschiedenen Optionen miteinander und wählen die Handlung, die in quantitativer und qualitativer Hinsicht das wenigste Leid und die größte Freude verspricht.

15 | Vgl. etwa die ›Moral Foundations Theory‹: http://moralfoundations.org vom 25.05.2018.

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Thesen zur prekären Verbindlichkeit der Wissenschaft Ralf Becker

I. Am 22. April 2017 demonstrierten in über 600 Städten weltweit Menschen für die politische Verbindlichkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Auslöser für den »March for Science« war die Ankündigung des knapp drei Monate zuvor inaugurierten US-Präsidenten Donald Trump, die staatliche Förderung der Erforschung des Klimawandels einzustellen und von der Vorgängerregierung beschlossene Maßnahmen zum Klimaschutz abzuschaffen. Im Weißen Haus saß nun nicht nur der mächtigste Leugner des Klimawandels, der später das Pariser Abkommen aufkündigen würde, sondern auch ein Präsident, der Wissenschaft aus rein opportunistischen Gründen als »fake science« verleumdet und Forschung, die den eigenen Interessen zuwiderläuft, im Handstreich zur Mythenproduktion erklärt. Bereits kurz nach der Amtseinführung hatte Trumps Beraterin Kellyanne Conway mit Blick auf die behaupteten Zuschauerzahlen den Ausdruck »alternative facts« geprägt. Dezidiert gegen solch postfaktische Politik gerichtet, erhoben die Demonstranten auf ihren Märschen für die Wissenschaft Transparente mit dem Appell: »Trust scientific facts, not alternative facts« oder mit der Aussage: »Zu Fakten gibt es keine Alternative«. Bei diesem Kampf geht es in erster Linie nicht um die Geltung wissenschaftlicher Aussagen (z.B. über den Klimawandel und seine Ursachen), sondern um ihre Verbindlichkeit an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik. Daß Verbindlichkeit auch innerwissenschaftlich in Krisen geraten kann, zeigen exemplarisch die so genannte »Replikationskrise« um 2014 oder die Berichterstattung über »Raubverlage« im Sommer 2018. Im ersten Fall provozierten Biomediziner in der Fachzeitschrift The Lancet mit der These, daß sich 80% präklinischer Studien klinisch nicht reproduzieren ließen. Die Debatte schlug auch in den Feuilletons solche Wellen, daß sich die Deutsche Forschungsgemeinschaft zu einer Stellungnahme bezüglich der »Reproduzierbarkeit von Forschungsergebnissen« (als einem zwar wichtigen, aber nicht

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allgemeingültigen Kriterium für die Wissenschaftlichkeit einer Erkenntnis) veranlaßt sah. Nicht zuletzt ging es um die Legitimation hoher Investitionen des Staates in akademische Forschung. Der zweite Fall betrifft journalistische Recherchen, denen zufolge fünftausend deutsche Wissenschaftler ihre Studien in so genannten »Raubverlagen« publizierten. Dabei handelt es sich um (Online-)Zeitschriften, die Papers gegen Geld ohne Prüfung (etwa im Peer-Review-Verfahren) veröffentlichen und lediglich auf den Schein von Wissenschaft setzen. »Was diese Verlage rauben, sind nicht Geld oder Daten; sie rauben der Wissenschaft vor allen Dingen ihre Glaubwürdigkeit. Sie veröffentlichen, oft seriöse Verlage imitierend oder gar als Nachfolgeverlag den Titel eines seriösen Journals vereinnahmend, alles, was irgendwie nach Wissenschaft aussieht. Auch durchaus seriöse Studien, wenn diese in den hochselektiven großen Wissenschaftsverlagen nicht in der von den Studienautoren gewünschten Schnelligkeit publiziert werden.«1

Wenngleich nur ein Randphänomen aus dem »Darknet der Forschung«,2 wirft auch dieser Fall die Frage nach der Verbindlichkeit auf, mit der Forschende ihre Erkenntnisse der scientific community präsentieren. Ein letztes, anekdotisches Beispiel zeigt, daß gelegentlich einzelnen Wissenschaftlerpersönlichkeiten zu viel zugetraut wird. So wandte sich nach einem Vortrag, den der Verfasser auf Einladung einer Volkshochschule gehalten hat, eine Hörerin an den Referenten mit dem Bedürfnis, ihn auf das Versäumnis aufmerksam zu machen, nicht gewürdigt zu haben, daß sich moderne Wissenschaft und Religion wieder annähern würden. Zum Beleg las sie von einem handgeschriebenen Zettel ein Zitat Albert Einsteins vor: »die Wissenschaft [erfüllt] Jeden, der sich ernsthaft mit ihr befaßt, mit der Überzeugung, daß sich in der Gesetzmäßigkeit der Welt ein dem menschlichen ungeheuer überlegener Geist manifestiere, demgegenüber wir mit unseren bescheidenen Kräften demütig zurückstehen müssen.« 3

Offensichtlich stand im Hintergrund der kleinen Lektüreempfehlung die Überzeugung: Weil ein Physiker dies gesagt hat, ist automatisch davon auszugehen, daß er es auch als Physiker gesagt hat. Was natürlich nicht der Fall 1 | Müller-Jung, Joachim: »Wem soll man noch glauben?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland, 25. Juli 2018. 2 | Thiel, Thomas: »Gefahren aus dem Darknet der Forschung«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland, 25. Juli 2018. 3 | Einstein, Albert: Briefe, hg. von Helen Dukas/Banesh Hoffmann, Zürich: Diogenes 1981, Brief vom 24. Januar 1936, S. 33.

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ist – der Kontext des Briefes macht dies, wie noch zu sehen sein wird, deutlich; aber auch ohne ihn sollte klar sein, daß geistige Phänomene (ob menschliche oder übermenschliche) keine Gegenstände der Physik sind. Wenn sich Physiker zu meta-physischen Fragen äußern, stehen sie per definitionem außerhalb der methodischen Grenzen ihrer Wissenschaft. Dieser Essay verfolgt das Ziel, in vier Thesen den Begriff der Verbindlichkeit wissenschaftsphilosophisch zu profilieren. Die angeführten Beispiele verorten ihn an der Schnittstelle von Wissenschaft und Öffentlichkeit, letztere in Gestalt politischer Öffentlichkeit, der Publizität von Fachzeitschriften und des Publikums fachlicher oder wissenschaftlicher Laien. Der Begriff der Verbindlichkeit öffnet das semantische Feld einer Praxis von Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Verläßlichkeit, Verantwortung, Zuständigkeit, Methodentreue und dergleichen mehr. Diese Praxis ermöglicht zwar die Anerkennung wissenschaftlicher Theorien, ist aber nicht selbst theoretisch fundiert. Wer sich dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments entziehen will, dem ist mit Argumenten nicht beizukommen. Daher sollte man bestimmte Formen aggressiver Leugnung eines Klimawandels nicht mit der Bezeichnung »Skepsis« adeln. Auch der Zweifel braucht Gründe. Wer sich nicht an sachliche Argumente, sondern nur an die eigenen Vorurteile binden will, ist kein Skeptiker, sondern Gegenaufklärer. Die Verbindlichkeit von Gründen speist ihre Überzeugungskraft nicht allein aus diesen Gründen, sondern setzt vorgängig die Bereitschaft voraus, sich ihnen zu »verbinden«. Verbindlichkeit hat, dem Wortsinn folgend, etwas mit der Verbindung von Sache und Person zu tun. Da sich Verbindlichkeit nicht (theoretisch) andemonstrieren, sondern nur (praktisch) kultivieren läßt, ist ihr Status grundsätzlich prekär. Worauf man sich verläßt, ist zumeist nicht Gegenstand der Deliberation, sondern macht diese erst möglich. Die Mechanismen der Stabilisierung und Destabilisierung von Geltungsansprüchen fallen nicht mit denen von Verbindlichkeiten zusammen und verdienen daher eine eigene Untersuchung.

II. Wissenschaftsphilosophische Debatten konzentrieren sich häufig entweder auf die (soziale, historische usw.) Genese wissenschaftlicher Theorien und Sätze oder auf ihre Geltung. Hinsichtlich der Geltung ist darauf hinzuweisen, daß mit der Behauptung bestehender Sachverhalte (Tatsachen) stets nur ein Geltungsanspruch verbunden ist: der Anspruch, daß der behauptete Sachverhalt tatsächlich besteht und daß dies mit akzeptablen Begründungen auch gezeigt werden kann. Eine wissenschaftliche Aussage kann so lange als wahr gelten, wie dieser Anspruch erfolgreich, d.h. nach den Regeln der Kunst, eingelöst wird. Die Regeln für die Einlösung von Geltungsansprüchen sind frei-

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lich in den Naturwissenschaften andere als in den Geistes- und dort wieder andere als in den Sozialwissenschaften. Beobachtungen, Experimente und Befragungen sind sorgfältig zu unterscheidende Verfahrensweisen, mit denen Forscher Geltungsansprüche untermauern. Bei Klimavorhersagen haben wir es naturgemäß ausschließlich mit modellbasierten Simulationen zu tun, das »Experiment« (zum globalen Temperaturanstieg) als solches kann schließlich nur einmal durchgeführt werden und es wird erst in Jahrzehnten abgeschlossen sein (je nach modellierter Zeitspanne). Die Verfahrensweisen, die über Erfolg und Mißerfolg im Einlösen von Geltungsansprüchen hinsichtlich bestehender Sachverhalte entscheiden, verbinden die behaupteten Sachverhalte mit den Personen, die die Verfahren durchführen oder überprüfen. Meine erste These lautet daher: Der Geltungsanspruch von Wissen betrifft das Verhältnis von behauptetem und bestehendem Sachverhalt, die Verbindlichkeit das Verhältnis von behauptetem Sachverhalt und Person. Verbindlichkeit hat im Kontext von Wissenschaft genau dort ihren Platz, wo gehandelt wird. Die klassische Wissenschaftstheorie des Logischen Empirismus, aber auch des Kritischen Rationalismus, hat sich einseitig für Theorien als Satzsysteme interessiert und den Handlungsaspekt vernachlässigt. Ludwik Fleck (1896-1961) war in den 1930er Jahren einer der ersten, die diesem Desiderat abgeholfen haben. Zur gleichen Zeit hebt bereits Hans Lipps (1889-1941) hervor: »Die Verbindlichkeit betrifft das Verhältnis, in dem der Mensch zur Erkenntnis steht; die Gültigkeit aber die sachliche Beziehung, in der eine Erkenntnis zu Fällen steht.«4 »Die Verbindlichkeit der Wissenschaft ist die Verbindlichkeit einer Handlung«.5 Ohne Verbindlichkeit von Handlungen keine Gültigkeit von Erkenntnis. Diese Verbindlichkeit besteht epistemologisch in der Orientierung an der Sache und methodologisch in der Befolgung von Regeln. Sachorientierung und Regelbefolgung sind zwei wesentliche Voraussetzungen für das Gelingen der Erkenntnisbemühung. Negativ formuliert: Die unsachgemäße Anwendung von Methoden (z.B. statistische Erhebungen zur Klärung normativer Fragen) verfehlt ihren Gegenstand genauso wie die Verletzung von Regeln (der Logik, Statistik, des Experimentierens, Rechnens usw.). Gegen die Vorstellung einer absoluten Wahrheit, der man sich am besten dadurch annähert, daß man das Erkenntnissubjekt möglichst ausschaltet, tritt Lipps für das Leitbild eines engagierten Subjekts ein, das allein durch die Investition seiner Kräfte Sachkenntnisse zu gewinnen vermag: 4 | Lipps, Hans: »Objektivität, Allgemeingültigkeit und Voraussetzungslosigkeit in der Wissenschaft« (1939), in: Ders., Werke, Bd. 4: Die Verbindlichkeit der Sprache, hg. v. Evamaria von Busse, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1977, S. 123. 5 | Lipps, Hans: »Sinn des Studiums der Wissenschaft« (1937), in: Ders., Werke, Bd. 5: Die Wirklichkeit des Menschen, hg. v. Evamaria von Busse, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1977, S. 60.

Thesen zur prekären Verbindlichkeit der Wissenschaf t »Wahrheit gibt es nicht unabhängig vom erkennenden Menschen. Sie will und kann gar nicht absolut sein. Um einer Sache gerecht werden zu können, ist alles andere als eine Ausschaltung seiner selbst verlangt. Sondern dies, daß man selbst der Sache gewachsen ist.« 6

Der Sache gewachsen zu sein, heißt beispielsweise, durch gezielte Handlungen ihren Widerstand zu wecken. Ein Experimentator tritt durch Handlungen in Vorleistung, um Abläufe in Gang zu setzen, die ihrerseits keine Handlungen, sondern Naturvorgänge sind.7 Der Teilchenbeschleuniger zum Nachweis spezifischer Elementarteilchen (wie z.B. des Higgs-Bosons, Nobelpreis für Physik 2013) und das Laserinterferometer zum Nachweis von Gravitationswellen (Nobelpreis für Physik 2017) sind zwei Maschinen, die vor Augen führen, daß in der modernen Physik ein hohes Maß an technischem Know-how nötig ist, um den Geltungsanspruch theoretischer Aussagen (des Standardmodells der Teilchenphysik bzw. der Allgemeinen Relativitätstheorie) erfolgreich einlösen zu können. Der für den Nachweis der Gravitationswellen 2017 zuerkannte Nobelpreis ist nicht zuletzt eine Würdigung von Ingenieurshandlungen. Die Abhängigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse von technischen Tätigkeiten ist freilich keine Abhängigkeit von Tätigkeiten eines bestimmten Individuums. Im Gegenteil, es kommt gerade darauf an, daß jedes Individuum, das die entsprechenden Apparate baut und Meßgeräte abliest, (innerhalb eines tolerierbaren Streuungsmaßes) die gleichen Meßdaten erhält. In der Erlanger Schule hat sich für diese Unabhängigkeit der Messung vom messenden Individuum, nicht von messenden Handlungen überhaupt, der Begriff der Transsubjektivität eingebürgert. Lipps spricht stattdessen von Allgemeinverbindlichkeit: Allgemein verbindlich ist nicht jede wissenschaftliche Erkenntnis, wohl aber z.B. die »mathematische Naturwissenschaft. Sofern hier prinzipiell jeder jederzeit und überall sich ihren Erkenntnissen verbinden kann. Denn das Subjekt dieser Erkenntnis ist der Mensch mit seinen technischen Möglichkeiten, dessen Rolle jeder übernehmen kann. Was hier eingesetzt wird, sind Apparate und Instrumente, die jeder bedienen kann, in denen er von sich selbst entlastet ist, durch die ihm Kontrollen abgenommen werden.« 8

Jede wissenschaftliche Aussage sollte verbindlich, aber nicht jede kann allgemein verbindlich sein. »Gerade die Geschichte verlangt es, sich selbst zu vertiefen, reif zu werden für die Begegnung mit den Dingen.« »Denn ich muß ja, um mich der Sache anmessen zu können, auch ein entsprechendes Maß mitbrin6 | Ebd., S. 59. 7 | Vgl. Janich, Peter: Kleine Philosophie der Naturwissenschaften, München: C.H. Beck 1997, S. 99. 8 | H. Lipps: »Objektivität«, S. 125.

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gen.« 9 Die Pluralität nebeneinander bestehender Interpretationen historischer Ereignisse belegt die Nichtallgemeinverbindlichkeit geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis – die gleichwohl nicht mit Beliebigkeit zusammenfällt. Die Universalität oder Partikularität von Verbindlichkeit bietet auch einen Anlaß, erneut auf das eingangs beschriebene Einstein-Beispiel zurückzukommen. Das angeführte Zitat stammt aus einem Brief, mit dem Einstein auf die Frage einer Schülerin der sechsten Klasse einer Sonntagsschule geantwortet hat, ob Wissenschaftler beten. Bevor er auf die Demut zu sprechen kommt, die die Gesetzmäßigkeit der Welt jedem einflößt, der sich »ernsthaft« mit Physik beschäftigt, legt er ein Bekenntnis zum Determinismus ab, dem zufolge »alles Geschehen durch Naturgesetze bestimmt sei, also auch das Handeln der Menschen. Deshalb wird ein Forscher kaum geneigt sein, zu glauben, daß das Geschehen durch ein Gebet […] beeinflußt werden könne.« Da unsere Kenntnis der Naturgesetze nur unvollständig sei, beruhe allerdings »letzten Endes die Überzeugung von der Existenz letzter durchgreifender Gesetze ebenfalls auf einer Art Glauben«, der immerhin »weitgehend durch die bisherigen Erfolge der Wissenschaften gerechtfertigt« sei. Einsteins Brief endet mit dem Satz: »So führt die Beschäftigung mit der Wissenschaft zu einem religiösen Gefühl besonderer Art, welches sich von der Religiosität des naiveren Menschen allerdings wesentlich unterscheidet.«10 Diese Aussagen erheben weder den Anspruch, transsubjektiv bzw. allgemein verbindlich im Sinne einer Handlungsanweisung zu sein, die bei regelrechter Befolgung zu denselben Meßergebnissen führt, noch haben sie die Reichweite geschichts- oder religionswissenschaftlicher Analysen. Wir lesen vielmehr das persönliche Bekenntnis eines Physikers, das in letzter Instanz ausschließlich für ihn selbst (und dies wahrscheinlich in hohem Maße) verbindlich ist. Ein Mißverständnis liegt also dann vor, wenn man die zunächst auf ein einzelnes Individuum bezogene Verbindlichkeit mit Allgemeinverbindlichkeit gleichsetzt, weil die Profession des Autors üblicherweise allgemein verbindliche Aussagen gestattet.

III. Geltungsanspruch und Verbindlichkeit erfahren in der wachsenden Publizität vom Zeitschriftenaufsatz bis zur populären Darstellung in Zeitungsmeldung, Sachbuch oder TV-Dokumentation je unterschiedliche Transformationen. Diese Metamorphosen haben Ludwik Fleck beschäftigt. In einem Brief an Moritz Schlick vom September 1933 erläutert er dem führenden Kopf des Wiener Kreises sein Erkenntnisinteresse, damit dieser ihm bei der Publikation

9 | Ebd., S. 124. 10 | A. Einstein: Briefe, S. 33.

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von Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache behilflich sei. (Das Manuskript trägt noch einen anderen Titel.) Fleck beweist Mut, wenn er einen überzeugten Logischen Empiristen wissen läßt: »Der Satz, alle Erkenntnis entspringe den Sinneseindrücken, ist irreführend, denn die Mehrzahl der Kenntnisse aller Menschen stammt einfach aus den Lehrbüchern. Und diese Lehrbücher stammen aus anderen Büchern oder Aufsätzen und so fort.«11 Es wundert nicht, daß Schlicks Antwort reserviert ausfällt. Auch mit dem eigentlichen Projekt kann er nichts anfangen, für das Fleck wirbt: »so sind aber noch nie ernstliche Untersuchungen angestellt worden, ob das Mitteilen eines Wissens, seine Wanderung von Mensch zu Mensch, vom Zeitschriftenaufsatz zum Handbuch nicht prinzipiell mit Transformation, und zwar mit besonders gerichteter Transformation verbunden ist.«12 Schlick vermag in Flecks Studie hingegen bloß einen Beitrag zur Medizingeschichte zu erkennen. Flecks Lehre von in Denkkollektiven kultivierten Denkstilen rekonstruiert die Genese einer wissenschaftlichen Tatsache über die verschiedenen Stadien der Zeitschriften-, Handbuch-, Lehrbuch- und schließlich populären Wissenschaft. Die drei zuerst genannten Stadien gehören zum esoterischen Kreis von Fachleuten oder Adepten der Fachwissenschaft; die populäre Wissenschaft versorgt »den größten Teil der Wissensgebiete eines jeden Menschen«13 und adressiert den exoterischen Kreis von Laien, die selbst Fachleute sein können. Doch auch Fachwissenschaftler sind auf den meisten Wissensgebieten Laien. An Fleck anschließend lautet meine zweite These: Die Popularisierung wissenschaftlichen Wissens steigert die Apodiktizität des Geltungsanspruchs, mindert aber die Verbindlichkeit. Diese gegenläufige Transformation von Geltungsanspruch und Verbindlichkeit in der kulturellen Zirkulation wissenschaftlichen Wissens soll anhand der vier genannten Stadien deutlich werden. Die Zeitschriftenwissenschaft trägt »das Gepräge des Vorläufigen und Persönlichen«; »die Ein- und Erstmaligkeit des Arbeitsstoffes verbinden ihn unzertrennlich mit dem Verfasser.« 14 Die Verbundenheit des Gegenstandes mit dem Autor ist in diesem Stadium noch sehr hoch, dafür muß sich die Berechtigung des Geltungsanspruchs erst noch erweisen. Dazu muß die Person des Verfassers möglichst hinter den Sachverhalt zurücktreten. Wie stark das Gepräge des Persönlichen bei Arbeiten mit mehreren Hundert (wie im Falle der Messung 11 | Ludwik Fleck an Moritz Schlick vom 5. September 1933, in: Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, hg. von Sylwia Werner/Claus Zittel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011, S. 561. 12 | Ebd., S. 561f. 13 | Fleck, Ludwig: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv (1935), hg. v. Lothar Schäfer/ Thomas Schnelle, 9. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2012, S. 148. 14 | Ebd., S. 156f.

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von Gravitationswellen) bzw. mehreren Tausend Autoren (bei der Massenmessung des Higgs-Bosons) noch ist, wäre eine eigens zu behandelnde Frage. Doch bleibt auch bei solch starken Autorenkollektiven bis zur Anerkennung durch das Denkkollektiv der erhobene Geltungsanspruch zunächst vorläufig. Soll der Zeitschriftenaufsatz die Fachkollegen über eine Erkenntnis informieren, so erfolgt die Legitimation spätestens durch die Aufnahme in ein Handbuch, das fachwissenschaftliches Wissen in ein allgemeingültiges, geordnetes System zusammenfügt. »Ein Handbuch entsteht aus den einzelnen Arbeiten wie ein Mosaik aus vielen farbigen Steinchen: durch Auswahl und geordnete Zusammenstellung. Der Plan […] bildet dann die Richtungslinien späterer Forschung«.15 »Im geordneten System einer Wissenschaft, wie ein Handbuch es darstellt, erscheint eine Aussage eo ipso viel gewisser, viel bewiesener als in der fragmentarischen Zeitschrift-Darstellung. Sie wird zu einem bestimmten Denkzwang.«16 Das Handbuch dokumentiert den Wissensstand einer Disziplin, wie er von einem Denkkollektiv akzeptiert wird. Das Persönliche des Zeitschriftenaufsatzes tritt hinter den Denkzwang zurück, »der bestimmt, was nicht anders gedacht werden kann, was vernachlässigt oder nicht wahrgenommen wird, und wo umgekehrt mit doppelter Schärfe zu suchen ist: die Bereitschaft für gerichtetes Wahrnehmen verdichtet und gestaltet sich.«17 Das gilt in gesteigertem Maße auch für das Lehrbuch, nach dem in eine Wissenschaft didaktisch eingeführt wird. Fleck spricht gerne auch von Einweihung. Die Medizinstudentin muß allererst lernen, z.B. Zellen zu sehen. Lehrbücher der Naturwissenschaften können ohne weiteres auf die Erwähnung der Autoren jener Arbeiten verzichten, die die nun als bestehend dargestellten Sachverhalte ursprünglich behauptet haben. Der Geltungsanspruch ist gewissermaßen immer schon eingelöst, die Verbindlichkeit der Personen und ihrer Handlungen, die ihn begründen, tritt in den Hintergrund. Vollends vollzogen ist der Prozeß des Apodiktischwerdens des Geltungsanspruchs und der Zunahme von Unverbindlichkeit im populärwissenschaftlichen Buch, das Fleck durch Gewißheit, Einfachheit und Anschaulichkeit charakterisiert. Der Autor, häufig selbst ein Fachwissenschaftler (das berühmteste Beispiel ist sicher Stephen Hawking), läßt Einzelheiten wie Forschungsdesigns und Minderheitsmeinungen weg und veranschaulicht die meist komplizierten Sachverhalte mit Bildern aus dem Alltagsleben. Das populäre Sachbuch wirkt entscheidend an der Bildung einer Weltanschauung mit und bestimmt so als Hintergrund »die allgemeinen Züge des Denkstiles eines Fachmannes«. Das populäre Wissen »bildet die spezifische öffentliche Meinung und die Weltan-

15 | Ebd., S. 158. 16 | Ebd., S. 160. 17 | Ebd., S. 163.

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schauung und wirkt in dieser Gestalt auf den Fachmann zurück.«18 Gerade die verwendeten Bilder und Modellvorstellungen tragen zu dieser Rückwirkung bei, so daß die genannten Publizitätsformen wissenschaftlichen Wissens einen Kreis formen, innerhalb dessen Geltungsansprüche und Verbindlichkeiten zirkulieren. In der populären Darstellung, die die größte Reichweite erzielt, tritt der Beweis »in den Schatten zurück, zu wirken beginnen Autorität, die Magie der einfachen Angabe, ›die Gelehrten haben entdeckt, daß […]‹ und die entsprechende Apotheose der Helden der Wissenschaft. Die soziale Entfernung verwandelt den Autor von einem Schöpfer in einen Entdecker. Die wachsende wissenschaftliche Tatsache verwandelt sich so von einem Denkprodukt in einen Gegenstand, wird unpersönlich, selbständig, wird zur Sache.«19

Was im Zeitschriftenaufsatz noch bloße »Anlage der Tatsache« ist und im Lehrbuch als etwas Bewiesenes erscheint, wird dem populären Wissen »zum unmittelbar wahrnehmbaren Dinge, zur Wirklichkeit.«20 Jede »Bewegung eines Gedankens innerhalb eines Kollektivs« »steigert und ent-individualisiert« ihn: Laien und Fachleute statten ihn in der Wissenszirkulation mit »höherer Gewißheit, höherer Unbedingtheit, größerer Selbstverständlichkeit und Gewicht« aus.21 Das Schöpferische der zuvor erwähnten Vorleistungen, die nötig sind, um der Sache gewachsen zu sein, wird zunehmend ausgeblendet. Genau in dieser Abschattung liegt die steigende Unverbindlichkeit begründet: Dem populären Wissen mag es dann so scheinen, als müsse man nichts tun, um zu erkennen, was wirklich ist. ›Die Wissenschaft‹ hat festgestellt. Daß dieses Feststellen zumeist den Charakter des Herstellens hat, bleibt unverstanden.22 Die Transformation des kreativen Prozesses in einen bloß entdeckenden läßt sich auch so beschreiben, daß aus der methodischen Handlungsanwei18 | Ebd., S. 150. 19 | Fleck, Ludwig: »Das Problem einer Theorie des Erkennens« (1936), in: Ders., Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Band 404), hg. von Lothar Schäfer/Thomas Schnelle, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 120. 20 | L. Fleck: Entstehung und Entwicklung, S. 164. 21 | L. Fleck: »Das Problem einer Theorie des Erkennens«, S. 113. 22 | Auch bei der populären Sprachkritik geht das Bewusstsein verloren, dass Gebrauchsnormen sich wandeln und empirisch (re-)konstruiert werden müssen. Eine verdinglichende Sprachauffassung macht dann z.B. eine vermeintlich unveränderliche, naturgegebene, unreflektiert schriftsprachlich geprägte ›Hochsprache‹ zum alleinigen Maß der ›Sprachrichtigkeit‹. Eine extreme Form des written language bias ist oft das Ergebnis. Vgl. dazu Diao-Klaeger/Schneider, in diesem Band.

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sung »Tue H so, als ob für S P gelten würde« die Aussage »S ist P« abgeleitet wird. Aus Modellen und Metaphern werden dann Struktureigenschaften des Erkenntnisgegenstandes. Beispiele für diese Übertragung sind Legion: Aus dem Austausch von Stoffen zwischen Bäumen wird ein »geheimes Leben« mit Gefühlen und Gesprächen. Die Riesen-Stachelmakrele, die aus dem Wasser aufspringt, um dicht darüber fliegende Seeschwalbenjunge zu jagen, ist ein Fisch, der Fluggeschwindigkeit, Höhe und Flugbahn eines Vogels berechnen kann. Weil der Abstand zwischen Atomhülle und Atomkern im Verhältnis so gigantisch ist, besteht das, was uns Menschen bloß als Sein erscheint, in Wahrheit aus Nichts. Die Entsubjektivierung der Wissensproduktion geht im übrigen mit einer Subjektivierung des Objekts einher: Natur, Evolution, Gehirn oder Gene werden anthropomorphe Akteure, die eigenständig das hervorbringen, was unter Laborbedingungen Forscherhandlungen voraussetzt. Man achte auf Redeformen wie die, nach denen die Natur oder wahlweise die Evolution Lebewesen und die Vielfalt des Lebens überhaupt kreativ hervorgebracht hat.

IV. Die Zunahme an Gewißheit einer wissenschaftlichen Tatsache geht auf dem beschriebenen Weg mit einer Abnahme an Verbindlichkeit einher, letztere gefaßt als Bindung des Anspruchs, daß ein bestimmter Sachverhalt bestehe, an ein Subjekt. Auch Transsubjektivität ist eine Form der (allgemeinen) Verbindlichkeit. Im Übergang vom »Handwerk« der Wissenschaft zum »Mundwerk« der Rede über Wissenschaft23 geht diese Verbindlichkeit häufig verloren. Auf den ersten Blick könnte dieses Versäumnis als ein rein theoretisches Problem für die Wissenschaftsphilosophie gelten. Doch hat das allgemeine Wissenschaftsverständnis auch eminent praktische Folgen. Auf einen Aspekt hat bereits Peter Janich aufmerksam gemacht: »Wenn es nämlich nicht zutrifft, daß der Mensch naturwissenschaftlich nur das entdecken muß, was die Natur ihm zu entdecken aufgibt, um dieses Wissen dann schicksalshaft in den moralisch und politisch schwachen menschlichen Gemeinschaften eher zu mißbrauchen als zu ihrem Heil zu gebrauchen, dann ist auch die Technik nicht immer schon von selbst bloß ein Abfallprodukt eines Wissens, dem der Charakter eines unverfügbaren Schicksals der Menschen zufällt.« 24

23 | Vgl. Janich, Peter: Handwerk und Mundwerk. Über das Herstellen von Wissen, München: C.H. Beck 2015. 24 | Janich, Peter.: Grenzen der Naturwissenschaft. Erkennen als Handeln, München: C.H. Beck 1992, S. 213.

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Entgegen der landläufigen Meinung, Technik sei angewandte Naturwissenschaft, ist an das Bacon-Programm zu erinnern, daß die Natur – zum Zweck der Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen – nur auf eine peinliche, mit technischen Apparaten (z.B. Meßgeräte) gerüstete Befragung Antworten liefert. Der Widerstand, den die Natur leistet, indem Erwartetes gegebenenfalls nicht eintritt, muß allererst von Forscherseite geweckt werden. Naturwissenschaft ist also eher angewandte Technik. Damit kehrt sich die Theorie-Praxis-Relation um: Den Primat hat auch im wissenschaftlich fundierten Weltverhältnis die Praxis (technisch) handelnder Menschen. Ein anderer praktischer Aspekt des hier vertretenen Wissenschaftsverständnisses betrifft den möglichen Vertrauensverlust bei der Einbuße von Geltungsansprüchen. Revisionen von Geltungsansprüchen, so meine dritte These, können die Unverbindlichkeit steigern. Was zunächst paradox klingen mag, erhellen Beispiele aus den Wirtschaftswissenschaften, der Biochemie und der Klimaforschung. Eine nicht vorhergesagte Finanzkrise, der Wechsel widersprüchlicher Ernährungsempfehlungen oder der hohe Unsicherheitsfaktor bei Simulationen von Klimaszenarien führen im Publikum gelegentlich zu Kurzschlußreaktionen. Weil eine Aussage nicht mehr gilt, wird die Gültigkeit aller wissenschaftlichen Aussagen in Zweifel gezogen. Aus gesichertem Wissen wird bloße Meinung: quot capita, tot sensus. Daß Falsifikation und Streit zum wissenschaftlichen Alltagsgeschäft gehören, gerät dort in Vergessenheit, wo Wissensbestände als unverbindlicher Besitz frei zirkulieren, ohne an ihre Produktionsbedingungen rückgekoppelt zu sein. Wird die Revision eines partikularen Geltungsanspruchs als genereller Geltungsverlust wahrgenommen, schrumpft die Allgemeinverbindlichkeit der Wissensform auf die Einzelverbindlichkeit einer persönlichen Meinung oder eines eigeninteressegeleiteten Vorurteils zusammen. Wenigstens in den Fällen, in denen der beschriebene Zusammenhang besteht, kann einem Vertrauensverlust nur die Aufrechterhaltung der Verbindlichkeit auch in der populären Wissenschaft vorbeugen. Daher lautet meine vierte und letzte These, die eher ein Plädoyer ist: Wissenschaftliche Allgemeinbildung muß ein Bewußtsein prekärer Verbindlichkeiten kultivieren. Nur wenn die Verbindung zwischen Geltungsansprüchen (bereits die Differenzierung zwischen Geltung und Geltungsanspruch ist ein Gewinn) mit Handlungen menschlicher Akteure bei der Verbreitung wissenschaftlichen Wissens bewußt bleibt, vermögen Revisionen, das Nebeneinanderbestehen widersprüchlicher Theorien und die prinzipielle Agonalität theoretischer Diskurse weder hypertrophe noch relativistische Reaktionen zu provozieren. Hypertroph ist ein dogmatisches Verständnis der Wissenschaft als moderne Metaphysik, die uns sagt, wie die Wirklichkeit an sich selbst beschaffen sei. Der Relativist verfällt dem entgegensetzen Extrem einer übertriebenen Skepsis, die allenfalls noch einem fröhlichen »anything goes« folgt und zwischen Naturwis-

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senschaft und Schamanismus keinen wesentlichen Unterschied zu finden vermag. Diese Formation erinnert nicht zufällig an Kants Überwindung von metaphysischem Dogmatismus und Skeptizismus durch Kritik. Das in diesem Essay entwickelte Bild der Wissenschaft steht in der Kantischen Tradition, die Gegenstandserkenntnis von Subjekthandlungen abhängig macht. Am Ende der Kritik der spekulativen Vernunft steht der Primat der praktischen Vernunft mit ihren Verbindlichkeiten, die Kant als Forschungsmaximen (mit dem Status hypothetischer Imperative) formuliert. Die Vermittlung wissenschaftlichen Wissens kann auf ein Studium eingesetzter Methoden, Leitbilder, Modelle usw. nicht verzichten. Die bloße Funktionalisierung der Bildung zu beliebigen Verwendungszwecken geht mit ihrer Dehumanisierung einher. Fleck wollte seine Lehre von Denkstilen und Denkkollektiven als einen Beitrag zur Humanisierung der Wissenschaft verstanden wissen. Eine »freie und menschlichere Naturwissenschaft« anerkenne die Gemeinschaft als intermediäre Komponente der Erkenntnis zwischen Subjekt und Objekt. »In der Naturwissenschaft gibt es gleichwie in der Kunst und im Leben keine andere Naturtreue als die Kulturtreue.«25 Dadurch werde auch »die Beziehung zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften […] menschlicher.« Wenn Fleck ein Jahr vor seinem Tod die Hoffnung äußert, die »wissenschaftliche Wahrheit wird sich von etwas Starrem und Stillstehendem in eine dynamische, entwickelnde, kreative menschliche Wahrheit wandeln«,26 dann ist dies kein Appell an den Laborforscher, seine Prozeduren anders auszuführen, sondern an alle Mitglieder eines Denkkollektivs, den Kreislauf der Wissenszirkulation bewußt zu vollziehen. Und zum bewußten Vollzug der Wissenschaftsgeschichte gehört die Ausbildung eines Sensoriums für die Kultur prekärer Verbindlichkeiten, die deshalb prekär sind, weil sie sich nicht andemonstrieren lassen, sondern eingeübt werden müssen. Wie im alltäglichen Leben spielen Verbindlichkeiten auch in den Wissenschaften eine bedeutende Rolle, indem sich das Erkenntnissubjekt sowohl der Sache als auch der Denkgemeinschaft verbinden muß, um das Bestehen von Sachverhalten begründbar behaupten zu können. Es muß sowohl dem Widerstand der Sache als auch dem Widerstand denkkollektiver Denkzwänge gewachsen sein. Am Widerstand wächst die Verbindlichkeit.

25 | L. Fleck: Entstehung und Entwicklung, S. 48. 26 | Fleck, Ludwig: »Krise in der Wissenschaft. Zu einer freien und menschlicheren Naturwissenschaft« (1960), in: Ders., Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Band 404), hg. v. Lothar Schäfer/Thomas Schnelle, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 179, 180.

Verbindlichkeit – Geltungschancen schwacher Normierungen in Institutionen, Reziprozität und Lebensführung Clemens Albrecht Die Alltagssprache kennt verschiedene Zusammenhänge, in die das Adjektiv verbindlich eingelagert ist. Zum einen gelten Normen und Verfahren als verbindlich, wenn es keine Alternative für ihre Anwendung gibt. Verbindlichkeit ist hier ein Zwang, der unter Umständen auch mit klassischer Herrschaftsgewalt durchgesetzt wird. Zum zweiten aber gibt es Verbindlichkeit im Sinne einer Selbstverpflichtung in sozialen Beziehungen, wenn jemand eine Abmachung oder ein Versprechen aus einer freien Entscheidung heraus als verbindlich betrachtet. Solche Verbindlichkeit objektiviert sich in einer Aussage, einem Versprechen auf künftiges Verhalten. Im Grenzfall des formellen Vertrages ist diese Abmachung wiederum durch Normen geschützt. Wo diese im Informellen verbleiben, bedürfen sie jedoch in einem höheren Grade der subjektiven Innenstabilisierung, etwa in der Verpflichtung, ein Geschenk zu erwidern. Und schließlich gibt es eine Form der Verbindlichkeit, die sich der Einzelne subjektiv setzt, indem er sich in einer Verhandlung oder in einer sozialen Beziehung verbindlich verhält, im Grenzfall unabhängig von Responsivität nur gegenüber sich selbst, auf subjektiver Ebene objektiviert als Glaube, Wertüberzeugung oder Ideal. Verbindlichkeit entfaltet sich also auf unterschiedlichen Stufen der Objektivierung: 1. als institutionell garantierte Normgeltung (Institutionen, Recht: regulae), 2. als gegenseitige Verpflichtung im sozialen Beziehungsgefüge (Reziprozität, Abmachung: obligatio), 3. als Selbstfestlegung im Weltverhältnis (Lebensführung, Engagement: constantia). In dieser letzten Form zeigt sich die »Stärke schwacher Normativität« der kulturellen Verbindlichkeit in ihrer reinsten Form.

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1. D IE V ERBINDLICHKEIT DER I NSTITUTIONEN Institutionen und ihre Sollanforderungen reagieren auf einen Handlungsapparat, der gerade auf Unverbindlichkeit des nicht festgelegten Verhaltens angelegt ist. Sie regulieren das Handeln über Normen dort, wo es nicht bereits durch andere Gründe (praktische Sachzwänge etwa) festgelegt ist. Nach der klassischen Lehre der Philosophischen Anthropologie ist der Mensch ein strukturelles Mängelwesen, das seine defizitäre Instinktsteuerung über Sprache und Handlung kompensiert. Insofern braucht er andere Formen der Stabilisierung von Verhaltensmustern als Mimetik und zweckdienliches Verhalten zur Bedürfnisbefriedigung. Im Gegensatz zum Tier entwickelt der Mensch einen dynamischen Bedürfnisapparat, der bei konstanter und sicherer Befriedigung von grundlegenden Bedürfnissen (Nahrung, Wärme, Bindung) weitere, sekundäre und abgeleitete Bedürfnisse entwickelt (Reinheitsgebote bei Nahrung, ästhetisch anspruchsvolle Behausung, unterhaltende Geselligkeit).1 Weil die Handlung sich nicht im Zweck der Bedürfnisbefriedigung erschöpft, sondern Antriebsüberschüsse auf baut, benötigt Handlungssicherheit eine Stabilisierung durch gesellschaftliche Mechanismen. Dies leisten Institutionen. Sie schützen den Menschen vor Reizüberflutung, bewahren ihn vor permanentem Entscheidungsdruck und ermöglichen es, dass er von der dauernden Notwendigkeit zur Motivbildung entlastet wird. Institutionen werden als Systeme geteilter Gewohnheiten gelebt. Sie liefern auf der Verhaltensebene Handlungsmuster, auf der Motivebene standardisierte Ideen zur Aktivierung oder Deaktivierung des individuellen Handlungsapparats als Innenstabilisierung sozialer Ordnungen.2 Die Verbindlichkeit von Institutionen wächst mit der Abgeleitetheit der Bedürfnisse, auf die sie reagieren. Denn zwischen Norm und Bedürfnis bestehen keine Point-to-point-relations. Institutionen sind vielseitig, nie auf ein einziges Grundbedürfnis bezogen (Ehe), und verankern sich kulturell über eine ›Charter‹ (Mythen, Normen, Rollen, Riten, Kultgegenstände, Leitidee) im Subjekt.3 Durch sie wird die Verbindlichkeit der Institutionen aufgebaut, und je weniger 1 | Vgl. Schelsky, Helmut: »Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen. Kulturanthropologische Gedanken zu einem rechtssoziologischen Thema«, in: Helmut Schelsky, Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie der Bundesrepublik, Düsseldorf/Köln: Goldman 1965 (1949), S. 38-63. 2 | Vgl. Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, 5. Aufl., Wiesbaden: Aula 1986 (1956), bes. S. 42ff. 3 | Vgl. Malinowski, Bronislaw: Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur und andere Aufsätze, 2. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985 (1944), S. 39ff., 150ff.; Hauriou, Maurice: Die Theorie der Institution und zwei andere Aufsätze, Berlin: Duncher & Humblot 1965.

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die unmittelbaren Sachzwänge der Bedürfnisbefriedigung diese Charter bestimmen, desto stärker muss der Normenzwang greifen und innenstabilisiert verankert werden. Hier greift, was man soziologisch die Verbindlichkeit durch soziale Kontrolle nennen könnte, wenn der Begriff der Kontrolle nicht aus dem spezifisch modernen Verständnis von zwei Interaktionspartnern mit ausdifferenzierten Interessen, Ideen, Handlungsantrieben ausginge, also von einer typisch individualistischen Grundannahme. Kontrolle durch Institutionen ist objektiviert, versachlicht. Die Verbindlichkeit von Institutionen erschöpft sich aber nicht in der Kontrolle, sondern setzt noch tiefer an, indem sie Ausdifferenzierung nach Rollen eher verhindert. Rituale etwa lenken die Aufmerksamkeit auf kollektive Handlungen, die in der mimetischen Nachahmung oder im traditionellen Vollzug wie ein Reflexionsstop wirken. Kontrolle im Sinne der Dominanz von A über B ist nicht nötig, indem A und B im gemeinschaftlichen Vollzug einer traditionalisierten Handlung verschmelzen. Helmuth Plessner bezeichnete dies als Unterschied zwischen Nachmachen und Mitmachen.4 Die Bereitschaft hierzu wird nicht über die Zweckdienlichkeit einer Handlung nach innen rational abgestützt, sondern über kommunikativ vermittelte, geteilte und stabil internalisierte Leitideen und Vorstellungen, die sich im allgemeinen Bedürfnis nach Ordnungsstrukturen im reizüberfluteten Wahrnehmungsapparat (oder in einer chaotischen Situation) verankern und deshalb auch unabhängig von ihrem konkreten Bezug Verbindlichkeit entwickeln. Was man aus dem Grenzfall von Opfern dauerhafter Gewaltausübung oder Geiseln kennt, die Identifikation mit der Weltwahrnehmung der Täter, zeigt sich abgemildert bereits im einfachen Legitimitätsglauben: die Herrschaft von A über B entspringt nicht nur den Interessen von A und wird per Zwangsapparat auf ein widerwilliges B übertragen, sondern entwickelt ihre Verbindlichkeit im gemeinschaftlichen Interesse an der Regelmäßigkeit, Erwartbarkeit und Kalkulierbarkeit von Handlungen, kurz: an sozialer Ordnung5 – das freilich immer in einem Spannungsverhältnis zum wechselnd anspringenden Bedürfnis nach Exploration, nach spielerischem Experiment, nach Regelbruch und Neugier auf Unerwartetes steht. Alle Institutionen entwickeln für die Regelung von Bindung und Exploration Verbindlichkeitsstrukturen, die spezifische Normen bündeln, über Ideen und soziale Praktiken absichern, die ihrerseits wieder über das mimetische oder kulturelle Bedürfnisse im Einzelnen verankert sind. Wer verstehen möchte, was in der Politik so vor sich geht oder gar als neues Mitglied in eine repräsentative Versammlung gewählt wurde, fügt sich solchen Verbindlichkeiten von (systemtheoretisch betrachtet) Subsystemen nicht oder nur zu einem 4 | Vgl. Plessner, Helmuth: Die Frage nach der Conditio Humana. Aufsätze zur philosophischen Anthropologie (= stm, Band 361), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 42f. 5 | Vgl. Popitz, Heinrich: Phänomene der Macht, 2. Aufl., Tübingen: Mohr 1992, S. 12f.

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Teil aus äußerem Zwang, sondern auch aus innerem Interesse, um auf dieser Grundlage dann eigene Vorstellungen von Veränderung und Innovation zu entfalten. Die Verbindlichkeit von Institutionenordnungen nicht nur für die Statik, sondern, wie oft übersehen wurde, auch für die Dynamik von Ordnungen kann deshalb nur verstanden werden aus einer kollektiv geteilten Bedürfnislage, die aus wechselnden Positionen heraus an gemeinsamen Vorstellungen auch über asymmetrische Beziehungen festhält.

2. D IE V ERBINDLICHKEIT DER R EZIPROZITÄT Steuern Institutionen die Verbindlichkeit des Einzelnen gegenüber Kollektiven, so erwächst diese als Prinzip der Gegenseitigkeit auch aus der Struktur von symmetrischen Beziehungen. In Gesellschaften ohne staatlichen Zwangsapparat entsteht Verbindlichkeit deshalb durch Reziprozität, die als generalisierte Bereitschaft, den anderen als etwas zu behandeln, das einem selbst gleich ist, eine fundamentale vorstaatliche Friedensfunktion, eine Vorform des Rechts bildet.6 Das grundlegende Muster dieser Form der Verbindlichkeit besteht aus den klassischen drei Verpflichtungen im Gabentausch: zu geben, anzunehmen und eine Gabe zu erwidern.7 Dieses universale Prinzip do ut des bestimmt Austauschformen weit über den Umkreis des spezifischen Gabentauschs. Reziprozität ist bereits in die Sprache eingebaut, durch die Verbindlichkeiten des Sprechens, Zuhörens und Antwortens. Im Gegensatz zur Signalübermittlung, die als Reiz mehr oder weniger instinktbehaftete Reaktionen im Verhaltensprogramm auslöst, entsteht die Verbindlichkeit gerade durch die Spielräume in dem, was gesprochen, wie zugehört und wie geantwortet werden kann. Sprachliche Kommunikation bedarf in diesem Sinne einer Haltung, das heißt: eines Verhältnisses zu sich selbst, aus dem heraus erst festlegbar wird, was man sagt, wie man versteht und was man antwortet. Diese Form der Verbindlichkeit, die aus der ganz elementaren doppelten Kontingenz menschlicher Kommunikation heraus resultiert, lässt sich am Phänomen der Konsensfiktion erläutern. Auf der Grundlage einer empirischen Studie über das Kommunikationsverhalten junger Ehepaare konnte Alois Hahn zeigen, dass die hohe Konsenserwartung in dieser Lebenssituation nur auf der Grundlage eines dem realen Konsens vorausgehenden Vertrauens beruht, der andere werde schon so denken wie man selbst. Während im normalen gesellschaftlichen Verkehr die

6 | Wesel, Uwe: Geschichte des Rechts. Von den Frühformen bis zur Gegenwart, 4. Aufl., München: Beck 2014, S. 24f. 7 | Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, 10. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990 (1950), S. 36.

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prinzipiell unterstellte Reziprozität der Perspektiven aufgrund der punktuellen Flüchtigkeit von sozialen Beziehungen nie ausgetestet werden muss, führen intensive Beziehungen mit dem Anspruch nach einem hohen Grad der Übereinstimmung in gemeinsamen Werten, Lebenszielen, Einstellungen und Gefühlen immer an den Punkt heran, wirklich zu prüfen, ob der andere so denkt, meint und fühlt, wie man selbst meint, dass er denke, meine und fühle. »Zumindest zu Beginn der Ehe besteht zwar Einigkeit darüber, daß man einig sein soll. Aber man ist sich keineswegs in dem Maß einig, in dem man das für notwendig hält, und man weiß das nicht einmal«8 Denn getrennt befragt zeigen sich nicht unerhebliche Differenzen in den Vorstellungen darüber, wie das gemeinsame Leben einzurichten sei, die jedoch stets verbunden sind mit der Vorstellung, der Partner denke gleich oder zumindest ähnlich. Die Verbindlichkeit dieser reziproken Konsensunterstellung, der Konsensfiktion, ergibt sich also aus dem wiederum reziproken Vertrauen in den anderen: »Die Beziehungen leben von jenem Vertrauen in vorhandenen Konsens und wären ohne es nicht denkbar. Tatsächlich überzieht die Konsensunterstellung nicht nur den faktisch gegebenen, sondern auch den je möglichen. Aber gerade dieser Kredit – der sich als solcher nicht durchschaut – hält die Beziehung aufrecht.« 9

Was für die intimsten Verhältnisse gilt, lässt sich auf distanziertere soziale Beziehungen übertragen. Der Gabentausch ist nicht deshalb so universal verbreitet, weil durch Gütertausch rationale Beziehungen geschaffen und die Verbindlichkeit künftiger Nutzerwartungen gestiftet wird, sondern weil die reziprok getauschte Gabe selbst die Beziehung stiftet. Malinowskis Tauschringe der Trobriander decken durch die Nutzlosigkeit der getauschten Güter ihren symbolischen Gehalt auf, wo die Geschenksysteme in den modernen Gesellschaften (Weihnachten, Geburtstage etc.) sich noch durch den Nutzen verkleiden – was als Konsensfiktion erst entlarvt wird, wenn jemand ein Geschenk mit dem Hinweis auf seine Nutzlosigkeit zurückweist. Deshalb gilt: »Im Bewußtsein der Beteiligten sind Gaben und Dienste nur Ausdruck dieser Beziehung und nicht ihr Zweck. Sie werden erwartet, weil der andere ein guter Freund, ein guter Kamerad, ein guter Nachbar ist, und nicht als abgemessene Äquivalente für abgemessene Vorleistungen. Sie werden gewährt ohne den vordergründigen Gedanken an unmittel-

8 | Eckert, Roland/Hahn, Alois/Wolf, Marianne: Die ersten Jahre junger Ehen. Verständigung durch Illusionen?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 52. 9 | Ebd., S. 53; vgl. aus theoretischer Perspektive dazu Hahn, Alois: »Kontingenz und Kommunikation«, in: Odo Marquard/Gerhard v. Graevenitz (Hg.), Kontingenz (= Poetik und Hermeneutik, Band 17), München: Fink 1998, S. 493-521.

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Clemens Albrecht bare Gegenleistung, aber mit dem hintergründigen Vertrauen auf eine lange Fortdauer der Beziehung und der mit ihr verbundenen Solidarität, die sich in außeralltäglichen Notsituationen bewähren soll.«10

Der Grad der Verbindlichkeit in sozialen Beziehungen, der sich im Gaben-, Hilfeleistungs-, Aufmerksamkeits- wie im Kommunikationsstrom zeigt, nimmt deshalb linear ab von der ausgleichstoleranten über die ausgeglichene bis zur ausgleichsstrengen Reziprozität. Diese Typik korrespondiert mit dem Zeitverlauf: generalisierte Reziprozität ist ausgleichstolerant, denn wer wie eine Mutter mit einer langfristigen und stabilen sozialen Beziehung den Ausgleich in die Zukunft verschieben kann, gibt sich schon mit dem Glück des Kindes zufrieden. Verzögerte Reziprozität nützt den Zeitraum zwischen Gabe und Gegengabe als Verbindlichkeitskitt, wenn etwa in der Freundschaft, die als willkürlich gestiftete und auch willkürlich beendbare Beziehung gerade geschätzt ist,11 die Balance einigermaßen ausgeglichener Reziprozität in einem überschaubaren Zeitraum angepeilt wird. Zu große Ungleichgewichte gefährden oder – in der Sprache der Freundschaft – erproben sie. Wer nur mit punktuellem Kontakt rechnet wie der Verkäufer einer Ware achtet darauf, dass der Preis als unverzügliche Reziprozität sofort beglichen wird. Selbst im engeren ökonomischen Bereich entsteht Verbindlichkeit schon im Vorfeld eines offiziellen Kaufs, der dann als Vertrag formalisiert werden kann. Bereits die Beschauung des Produkts signalisiert beiden Seiten mit wachsender Länge der Kommunikation ein wechselseitiges Interesse am Kaufakt, so dass man bei längeren Verhandlungen den Vertrag gleichsam aus komplexen wechselseitigen Verpflichtungen herauswachsen lässt. Dieser Prozess wird erst bewusst in der Enttäuschung beim Abbruch von Kaufverhandlungen, die, sofern nicht durch eine Seite von Beginn an simuliert, das Investment an Zeit und Überzeugungsanstrengungen bereits als Verbindlichkeitsarbeit registriert. Reziproke Formen der Verbindlichkeit zeigen sich also nicht nur historisch dort, wo institutionelle Verbindlichkeit noch schwach ausgebildet, zumindest nicht in formale Herrschafts- und Rechtsordnungen transformiert ist, sondern auch in modernen Gesellschaften, wo die Regelung sozialer Beziehungen bewusst freigehalten wird von institutionellen Normvorgaben, etwa in der Fami-

10 | Vowinckel, Gerhard: Verwandtschaft, Freundschaft und die Gesellschaft der Fremden. Grundlagen menschlichen Zusammenlebens, Darmstadt: WBG 1995, S. 109. 11 | Vgl. dazu Kanellopoulos, Panajotis: »Die Einsamkeit in ihrer ›gemeinschaftlichen‹ und ›gesellschaftlichen‹ Problematik«, in: A. Gerhard et al. (Hg.), Reine und angewandte Soziologie, Festschrift für Ferdinand Tönnies, Leipzig: Buske 1936, S. 228-239.

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lie.12 Alle zivilgesellschaftlichen Ausgleichsprozesse von konkurrierenden Interessenlagen oder Konflikte tendieren zur reziproken Verbindlichkeit, sei es das Mediationsverfahren in Bürgerkonflikten, der islamische Friedensrichter oder die Frage, wer in einer Ehe bestimmen darf, wo das neue Regal aufgestellt wird: Gibt einer nach, hat er etwas gut – im Bewusstsein beider.

3. D IE V ERBINDLICHKEIT DER L EBENSFÜHRUNG Reziprozität entwickelt sich bei relativ symmetrischen Beziehungen zwischen Personen und zwischen Gruppen. Das Kula-Tauschsystem der Trobriander diente der Beziehungspflege zwischen den Inseln und wurde später durch Fußballturniere ersetzt.13 Erst die Ablösung der dominierenden Integrationsform in Kleingruppen – Stämme, Lineages, Clans, Familien – durch abstrakte Beziehungen politischer Herrschaftssysteme oder marktförmig organisierten Gütertauschs, erst die Ablösung von Gemeinschaft durch Gesellschaft löste auch den Einzelnen soweit aus der Herkunftsgruppe heraus, dass er sich unter wechselnden Rollen mit wechselnden Gruppen assoziieren kann.14 Dies ist die Voraussetzung für einen folgenreichen sozialen Prozess, in dem neben die institutionellen und die reziproken Formen der Verbindlichkeit eine neue Aufgabe tritt: die Selbststabilisierung gegenüber den wechselnden und labilen Formen der Zugehörigkeit, die Individualisierung. Damit entstehen völlig neue Anforderungen an die Innenstabilisierung der Handlungsführung; denn wo das Handeln von Traditionen flankiert, von festen Sinn- und Deutungsmustern gelenkt und gemeinschaftlich mimetisch begleitet wird, stellt es sich dem Einzelnen als Frage der praktischen Wirksamkeit, der Umsetzungs- und Zielerreichungsproblematik. Dies ändert sich, sobald der Einzelne in wechselnden Rollen- und Gruppenbezügen einen personalen Kern kontinuieren muss, der durch alle diese Wandlungen seines äußeren Handlungsvollzuges hindurchführt. Jetzt ist er nicht nur mit den Unsicherheiten der eigenen Emotionen, mit den wechselnden Stimmungs- und Gefühlsschwankungen belastet, sondern mit alternativen, ja teils schroff kontrastierten Sinnund Deutungsangeboten. Er steht nicht nur im Schnittpunkt verschiedener so-

12 | Vgl. Hollstein, Betina: »Reziprozität in familialen Generationsbeziehungen«, in: Frank Adloff/Steffen Mau (Hg.), Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, Frankfurt a.M./New York: Campus 2005, S. 187-209. 13 | Vgl. Maier, Christian: Das Leuchten der Papaya. Ein Bericht von den Trobriandern in Melanesien, Hamburg: Europäische Verlags-Anstalt 1996, S. 8f. 14 | Vgl. Albrecht, Clemens: »Gemeinschaft und Gesellschaft«, in: Ludger Kühnhardt/ Tilmann Mayer (Hg.), Bonner Enzyklopädie der Globalität, Bd. 2, Wiesbaden: Springer 2017, S. 1355-1368.

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zialer Kreise, sondern auch der kulturellen Geltungsansprüche, die von ihnen ausgehen und sie gleichzeitig übergreifen. Schon die Moral, aus dem familiären Umkreis auf Brüderlichkeit, Teilen und die Sorge um den Anderen ausgerichtet, wird in der abstrakten Tauschbeziehung mit Fremden zu einer Reziprozitätsmoral, in der es genügt, dass jeder mit dem Schnitt, den er gemacht hat, aus seiner eigenen Perspektive zufrieden ist – ohne verstehen zu müssen, warum der andere das begehrt, was man selbst im Tausch für überflüssig hält. In solchen Situationen steht die Innenführung des Handelns vor neuen Unsicherheitsproblemen. »Die innere Handlungsführung hat es wesentlich mit der Steuerung von energetischen Zuständen und deren emotionalen Ausdrücken, mit Regungen, Stimmungen, Gefühlen, dazu mit Bedeutungen und Werten zu tun, die alle fließend, schwankend und ungeformt, also kaum faßbar und objektivierbar und in keinem Falle direkt beherrschbar sind. Typisch zum Ausdruck kommt diese Ungreifbarkeit der Probleme innerer Handlungsführung in den Eigenschaften, die wir als für sie relevant anerkennen, also etwa Charakter, innere Sicherheit, Selbstdisziplin, emotionale Stabilität, Ausgeglichenheit u.a. Soweit es hier überhaupt Regeln gibt, sind es Maximen der Lebensweisheit, deren genauer Inhalt schwer anzugeben und intersubjektiv nur beschränkt kommunizierbar ist, in keinem Falle aber direkt und technisch erfolgreich angewendet werden kann.«15

Individualisierung verschärft also die Probleme der inneren Handlungsführung, und es ist historisch gesehen kein Zufall, dass die philosophische Traktatliteratur, die Maximen und Klugheitsregeln mit der Renaissance zu einem steten Strom anschwellen, der die Lücken füllt, die religiöse Gebote zur Lebensführung hinterlassen.16 An ihre Stelle treten kulturelle Ideale der Lebensführung, die eine neue Art der Verbindlichkeit etablieren: Die Treue des Einzelnen zu seinen eigenen Maximen und Idealen. In Frankreich entwickelt die honnêteté-Literatur diese Funktion.17 Sie etablierte ein Ideal der Lebensführung, das neben ein paar allgemeinen Eigenschaften – Geselligkeit, Höflichkeit, Zivilität – durch seine Unterbestimmtheit charakterisiert ist, was die laufende Bestimmungsarbeit 15 | Tenbruck, Friedrich H.: »Geschichtserfahrung und Religion in der heutigen Gesellschaft«, in: Ders., Spricht Gott in der Geschichte?, Freiburg/Basel/Wien: Herder 1972, S. 33. 16 | Vgl. Weber, Max: »Religiöse Heilsmethodik und Systematisierung der Lebensführung«, in: Ders.: Die protestantische Ethik, Bd. 1 (= Gütersloher Taschenbücher, Band 53), hg. v. J. Winckelmann, 5. Aufl., Gütersloh: Gütersloher 1979, S. 318-357. 17 | Vgl. Höfer, Anette/Reichardt, Rolf: Honnête homme, Honnêteté, Honnêtes gens (= Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich, Band 7), München: Oldernbourg 1986, S. 7-73.

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an der richtigen Lebensführung eines honnête homme zu einem seiner Merkmal macht. In England breitete sich das Gentleman-Ideal aus,18 in Deutschland Bürgerlichkeit.19 Was in der Stoa, im einsiedlerischen Mönchstum, in allen Formen christlicher Askese und mystischer Kontemplation, ja selbst bei den Humanisten noch als eine Steigerung individueller Fähigkeiten erlebt wurde, die den profanen Tendenzen der Umgebung entgegenstehen, wird in den modernen Idealen der Lebensführung zu einem sozialen Phänomen, das beansprucht, an der Spitze einer geschichtlichen Bewegung – der Zivilisation, der Kultur, der Humanität – Zustände vorwegzunehmen, denen künftig eine allgemeine Geltung zukomme. Damit wird die Verbindlichkeit der Lebensführung wie beim Mönchstum der Klöster ebenfalls sozial abgestützt und zunehmend in Sozialordnungen integriert, die im allgemeinen Glauben an die innerweltliche Fortschrittlichkeit das teleologische Moment aus religiösen Begründungsmustern herauslösen. Entscheidend ist jedoch, dass alle diese Ideale der Lebensführung durch keine soziale Institution mehr gebündelt und fixiert werden, sondern sich in der Dynamik laufender Reflexionsarbeit stetig ausdifferenzieren. Der bürgerliche Wertehimmel ist plural: »Bürgerliche Kultur erscheint in diesem Verständnis als gesellschaftliche Institutionalisierung, als kultureller Mechanismus, sowohl die Vielfalt dieses Wertehimmels sichtbar werden zu lassen, ihn zum Leuchten zu bringen, als auch den Einzelnen zu befähigen, sich unter diesem Himmel zu bewegen und selbst gewählte Kursziele mit Aussicht auf Erfolg anzusteuern. Darin liegt das Besondere bürgerlicher Lebensführung, wie sie sich als neuartige Herausforderung im 18. Jahrhundert gebildet hat und im Kern bis heute besteht.«20

Diese Pluralität markiert wie kein anderes Merkmal die spezifische Stärke schwacher kultureller Normierungen. Denn die Werte, die an der Stelle von Mimetik, Ritual, Kosmologie, Religion, sozialer Zugehörigkeit und Fortschrittserwartung die prekäre Innenstabilisierung des Handelns übernehmen müssen, stehen selbst im steten Vergleich mit anderen Werten, gegenüber 18 | Vgl. etwa Stanhope, Philipp Dormer: Earl of Chesterfield. Briefe an seinen Sohn Philip Stanhope über die anstrengende Kunst ein Gentleman zu werden (1774), Leipzig/ Weimar: Kiepenheuer 1983. 19 | Lepsius, M. Rainer: »Zur Soziologie des Bürgertums und der Bürgerlichkeit«, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, S. 79-100. 20 | Hettling, Manfred: »Bürgerliche Lebensführung in der Moderne«, in: Wolfram Pyta/ Carsten Kretschmann, (Hg.), Bürgerlichkeit. Spurensuche in Vergangenheit und Gegenwart, Stuttgart: Franz Steiner 2016, S. 12.

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denen sie in mehr oder weniger willkürlichen Akten des Subjekts auf- und abgewertet werden können.21 Verbindlichkeit gegenüber sich selbst wird für das moderne Individuum in einer pluralen sozialen Umwelt mit einem historisch unvergleichlichen Vergleichshorizont an Alternativen, die mit ihren Geltungsansprüchen laufend auf es eindrängen, zu einer Artistik der permanenten Selbstüberzeugung, die wiederum ihre eigenen Stabilisierungsmechanismen entwickelt: die neuen Mimetiken von Mode und Medien. Als performativer Akt der Selbstüberzeugung kann jede einmal errungene Form der Innenstabilisierung über Lebensführung dann wiederum nach außen getragen werden, die Verbindlichkeit bewährt und bestätigt sich gewissermaßen in der Aktion.22 Der ›Aktivist‹ wird so zu einem Typus, der seinen Geltungsanspruch nach naturgemäßer Lebensführung, sozialer Gerechtigkeit, Umweltschutz, Minderheitenrechten etc. nach außen trägt, wodurch die Omnipräsenz von Protestbewegungen aller Art neben Mode und Medien als eine weitere außengestützte Absicherung prekärer Innenstabilisierung zu betrachten ist.23 Alle diese Bewegungen streben danach, über das Recht eine institutionelle Form der Verbindlichkeit zu gewinnen, gleichsam die Anstrengung des permanenten politischen Kampfes an zuverlässige Durchsetzungsinstanzen abzutreten, und, wo dies nicht gelingt, weil es auf konkurrierende Ansprüche oder auch nur die Trägheit der Institutionen stößt, wenigstens die Konventionen der wechselseitigen Anerkennung zu definieren. Auf diese Weise entstehen Normregelungen von hoher Verbindlichkeit (umweltgerechtes Verhalten, politische Korrektheit), die als funktionales Äquivalent der Religionen der prekären Pluralität von Innenstabilisierungen Grenzen setzen, indem sie das Allgemeine definieren. Insofern dürfen die hier skizzierten Formen der Verbindlichkeit – der Institutionen, der Reziprozität, der Lebensführung – nicht in eine Zeitreihe steigender Differenzierung aufgelöst werden, sondern müssen in ihrer steten Wechselwirkung, in den Differenzierungs- und Entdifferenzierungsprozessen als ein fluides System an- und abschwellender Formen betrachtet werden, in denen der Mensch über Verbindlichkeit Halt in seiner Welt sucht.

21 | Vgl. dazu Schmitt, Carl/Jüngel, Eberhard/Schelz, Sepp: Die Tyrannei der Werte, Hamburg: Lutherisches Verlagshaus 1979. 22 | Berger, Peter A.: »›Life Politics‹. Zur Politisierung der Lebensführung in nachtraditionalen Gesellschaften«, in: Leviathan 23 (1995), S. 445-458. 23 | Vgl. Luhmann, Niklas: Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Band 1256), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996.

Sprachliche Normorientierung in Deutschland und Frankreich Eine Befragung von Lehrkräften und Nicht-Lehrkräften Sabine Diao-Klaeger/Jan Georg Schneider

1. E INLEITUNG In Bezug auf die Frage nach der Verbindlichkeit von Sprache existiert seit dem 19. Jahrhundert ein fast unüberbrückbar erscheinender Gegensatz zwischen der populären Sprachkritik einerseits und der Sprachwissenschaft andererseits. Während die Sprachkritik dazu neigt, Sprachnormen als präskriptive Vorschriften aufzufassen, begreift die Linguistik Sprachen als sich wandelnde Systeme, deren Normen sich ebenfalls verändern und nur aus den sprachlichen Praktiken selbst heraus rekonstruiert werden können. Es handelt sich also nach linguistischer Auffassung um Gebrauchsnormen, an denen sich Sprecherinnen und Sprecher1 meist implizit, manchmal auch explizit orientieren und die daher für sie handlungsleitend sind, ohne dass sie sich ihrer in der Regel bewusst wären. Auf der anderen Seite spielen Vorstellungen, die in der populären Sprachkritik und in präskriptiven Grammatik-Werken lanciert werden, für viele Sprecherinnen und Sprecher eine wichtige Rolle. Sie werden in der Schule vermittelt, in Sprachglossen, Leserbriefen und auch im Feuilleton vertreten und von einer breiten Öffentlichkeit rezipiert. Das Einhalten solcher Normen erscheint vielen als ein Anzeichen von »symbolischem Kapital«,2 das gesellschaftliche Anerkennung und beruflichen Erfolg verheißt. Nach gängiger Auffassung, die 1 | Im vorliegenden Aufsatz bemühen wir uns um einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch, indem wir teilweise Doppelnennungen verwenden, teilweise aber auch sowohl das Maskulinum als auch das Femininum generisch verwenden, wobei wir hoffen, dass Leserinnen und Leser aus dem jeweiligen Kontext heraus verstehen, was gemeint ist. Teilweise verwenden wir auch neutrale Bezeichnungen wie z.B. Lehrpersonen. 2 | Vgl. Bourdieu, Pierre: Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches, übers. v. Hella Beister, 2. Aufl., Wien: Braumüller 2005, S. 79 et passim.

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auch historisch durchaus begründet ist, sind diese Orientierung an sprachlichen Normen im Sinne einer überregionalen Standardsprache und das Bemühen um deren Befolgung in Frankreich traditionell stärker ausgeprägt als in Deutschland, wo die Standardisierung wesentlich später einsetzte. Ein wichtiger Aspekt ist hierbei der seit dem 17. Jahrhundert bestehende Einfluss der Académie Française in Frankreich, zu der es in Deutschland kein Pendant gibt. Im Gegensatz zu deutschen Sprachvereinen und populären Sprachkritikern handelt es sich bei der Académie um eine staatlich gestützte und historisch anerkannte Institution, die gleichwohl bei Linguistinnen umstritten ist und auch von vielen Laien als zu konservativ empfunden wird. Im vorliegenden Aufsatz3 wollen wir anhand einer Online-Umfrage, die wir in Deutschland und Frankreich durchgeführt haben, herausfinden, ob sich der unterstellte Unterschied zwischen Deutschen und Franzosen in Bezug auf grammatische Normen der gesprochenen Sprache tatsächlich zeigt. Besonderes Augenmerk liegt dabei auch auf Unterschieden zwischen Lehrkräften und Nicht-Lehrkräften, da Lehrkräfte als »Normautoritäten«4 in ihrem beruflichen Alltag mit Fragen der Sprachnormativität konfrontiert sind und man u.U. annehmen könnte, dass sie präskriptiver mit Sprachnormen verfahren, pedantischer auf deren Einhaltung pochen als Nicht-Lehrkräfte. Insbesondere geht es uns um die Beantwortung folgender Fragen: (1) Orientieren Sprecherinnen und Sprecher sich in ihrer Wahrnehmung und Bewertung gesprochensprachlicher syntaktischer Konstruktionen an den Normen der geschriebenen Standardsprache bzw. an dem, was sie dafür halten (written language bias)?5 Dient die geschriebene Sprache als Bewertungsmaßstab für die gesprochene? (2) Ist die Normorientierung in Bezug auf die grammatische ›Korrektheit‹ von mündlichen Äußerungen bei Lehrkräften stärker oder schwächer ausgeprägt als bei Nicht-Lehrkräften? M.a.W.: Neigen Lehrkräfte eher dazu, vermeintlich unkorrekte Äußerungen zu beanstanden? (3) Zeigen sich hier signifikante Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich? Gibt es innerhalb der beiden Länder auch regionale Unterschiede? In Abschnitt 2 werden zunächst begriffliche Klärungen vorgenommen. Insbesondere wird der linguistische Normbegriff diskutiert, zwischen Norm und 3 | Für hilfreiche Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge zu einer Vorversion dieses Beitrags danken wir Simone Heekeren und Bernhard Pöll. 4 | Vgl. Ammon, Ulrich: »Standard und Variation: Norm, Autorität, Legitimation«, in: Ludwig M. Eichinger/Werner Kallmeyer (Hg.), Standardvariation. Wie viel Variation verträgt die deutsche Sprache?, Berlin/New York: de Gruyter 2005, S. 28-40; hier: S. 36. 5 | Vgl. Linell, Per: The Written Language Bias in Linguistics. Its Nature, Origins and Transformations, London/New York: Routledge 2005.

Sprachliche Normorientierung in Deutschland und Frankreich

Regel differenziert sowie das Problem impliziter Regeln/Normen verdeutlicht. Im dritten Abschnitt werden wir dann historische Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Frankreich und Deutschland in Bezug auf sprachliche Normativität skizzieren, bevor wir das Design und die Methodik unserer Online-Umfrage vorstellen, um in einem letzten Schritt die Ergebnisse dieser empirischen Untersuchung zu präsentieren und zu interpretieren. Im Schlusskapitel reflektieren wir die Ergebnisse im Hinblick auf das Problem grammatischer Normativität und Verbindlichkeit im Allgemeinen.

2. B EGRIFFLICHE K L ÄRUNGEN UND THEORETISCHE G RUNDL AGEN In diesem Abschnitt wird es vor allem darum gehen, die für uns zentralen Begriffe ›Norm‹, ›Regel‹ und ›Regularität‹ für unseren Argumentationszusammenhang zu klären. Die Begriffe ›Norm‹ und ›Regel‹ hängen sowohl in der Alltagssprache als auch in der Wissenschaft eng zusammen. Manchmal werden die beiden Ausdrücke auch synonym verwendet. In Sätzen wie Sie hat gegen eine Norm verstoßen können wir das Wort Norm häufig durch das Wort Regel ersetzen, ohne dass sich die Bedeutung des Satzes erheblich veränderte. In anderen Kontexten, z.B. auch in Komposita wie Rechtsnorm oder DIN-Norm funktioniert eine solche Ersetzung nicht. Auch sprechen wir von Spielregeln, nicht aber von Spielnormen. Vielleicht könnten wir in einer ersten Annäherung sagen, dass die beiden Begriffe in der deutschen Alltagssprache sehr verwandt sind, sich aber gleichzeitig relevante Unterschiede im Gebrauch zeigen: der Begriff ›Norm‹ ist stärker mit ›Normativität‹, also mit ›Sollen‹, assoziiert als der Begriff ›Regel‹. In deskriptiv orientierten Grammatiken sprechen wir von Sprachregeln, nicht so sehr von Sprachnormen, auch in der Mathematik beispielsweise ist eher von Regeln als von Normen die Rede. Interessant ist auch die Analogie zwischen den beiden Begriffspaaren ›Norm‹ und ›Normalität‹ einerseits sowie ›Regel‹ und ›Regularität‹ andererseits. Das Substantiv Normalität und das entsprechende Adjektiv normal weisen eine Doppeldeutigkeit auf, die für unseren Argumentationszusammenhang relevant ist. Wenn wir im Alltag sagen, etwas sei nicht normal, dann können wir dies deskriptiv meinen (›Die meisten Leute tun das nicht‹) oder normativ (›Ich lehne es ab, dass man so etwas tut‹). Auch das Wort Regel changiert in der Alltagssprache zwischen normativem Gebrauch und deskriptivem, der eher in Richtung ›Regelmäßigkeit‹ tendiert. Wenn wir sagen, in der Regel verhalte sich etwas so und so, dann tritt die Normativität zugunsten einer Üblichkeit im Sinne der deskriptiven Normalität in den Hintergrund. Den engen Zusammenhang zwischen Norm, Regel und Regularität zeigen auch gängige Definitionen. Bereits der Brockhaus von 1906 fasst eine Norm als eine »Regel, die nicht aus den Erscheinungen durch Beobachtung entnom-

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men, sondern ihnen als Anforderung auferlegt wird«.6 Dies würde bedeuten, dass es sich bei Normen um eine spezielle Art von Regeln handelt, nämlich solche, die sich von bloßen Regelmäßigkeiten (Regularitäten) dadurch unterscheiden, dass sie mit einem Sollen (mit Anforderungen) verbunden sind. Auch der Soziologe Heinrich Popitz bringt solche sozialen Anforderungen bei seiner Definition ins Spiel, indem er nämlich Normen als »Verhaltensregelmäßigkeiten« betrachtet, die jeweils mit einem »Vollzug von Sanktionen«, also mit einer Sanktionspraxis gekoppelt sind.7 Diese Definition von Normen als »sanktionsbekräftigten Verhaltensregelmäßigkeiten« folgt – so Popitz – dem auch der empirischen Forschung zuträglichen Prinzip, »die definitorische Fassung von Phänomenen an möglichst äußerliche, relativ zugängliche, klar erfaßbare Phänomene zu binden«.8 Umgekehrt ließe sich auch sagen: Bei Verhaltensregularitäten, die mit keinerlei Sanktionspraxis verbunden sind, handelt es sich nicht um Normen, sondern um bloße Regelmäßigkeiten. Normen können nach Klaus Gloy nicht »beschrieben«, sondern nur – u.a. anhand ihrer Wirksamkeit in Sanktionspraktiken – »erschlossen« werden.9 Mit Bezug auf Niklas Luhmanns Begriff der »Erwartungserwartungen« fokussiert auch Gloy den sozialen Aspekt von Normativität: Das »normative Erwarten, das Handelnde wechselseitig aneinander richten«, führe »zu Strukturen reziproker Erwartungserwartungen normativer Art«.10 »Obligationen« würden erst dann zu »Normen, wenn sie nicht nur mit Geltungsansprüchen, sondern auch faktisch mit sozialer Geltung (unterschiedlichen Ausmaßes) versehen« seien.11 Sowohl Popitz, als auch Gloy betonen also den Zusammenhang der Normen mit sozial konstituierten kulturellen Praktiken und ihrer Verbindlichkeit. Ähnlich wie Ludwig Wittgenstein danach fragt, was es heißt, einer Regel zu folgen, und damit die sokratische Frage »Was ist eine Regel?« pragmatisch wendet, stellt Gloy die Frage, was es heißt, sich an einer Norm zu orientieren. Seiner Auffassung nach muss (auch empirisch) zwischen zwei Arten von Normbefolgung unterschieden werden: a) Das Handeln ist von Normen verursacht; d.h. es ist normorientiert, normbestimmt. 6 | Zitiert nach Gloy, Klaus: »Empirie des Nicht-Empirischen. Sprachnormen im Dreieck von Beschreibung, Konstitution und Evaluation«, in: Susanne Günthner et al. (Hg.), Kommunikation und Öffentlichkeit. Sprachwissenschaftliche Potenziale zwischen Empirie und Norm, Berlin/Boston: de Gruyter 2012, S. 23-40; hier: S. 24. 7 | Vgl. Popitz, Heinrich: Die normative Konstruktion von Gesellschaft, Tübingen: Mohr 1980, S. 12. Vgl. hierzu auch K. Gloy: »Empirie des Nicht-Empirischen«, S. 29. 8 | H. Popitz: Die normative Konstruktion von Gesellschaft, S. 12. 9 | K. Gloy: »Empirie des Nicht-Empirischen«, S. 23. 10 | Ebd., S. 31 f. (Hervorhebung im Original). 11 | Ebd., S. 32 (Hervorhebung im Original).

Sprachliche Normorientierung in Deutschland und Frankreich

b) Das Handeln entspricht zwar der Norm, ist aber nicht von ihr verursacht; d.h. es ist normkonform, aber nicht normorientiert.12 Im Fall a) würde Christian Stetter davon sprechen, dass man nach einer Norm bzw. Regel handelt, in Fall b) gemäß einer Norm bzw. Regel.13 Gloy unterscheidet in diesem Zusammenhang auch zwischen »statuierten« (expliziten) Normen und »subsistenten« (impliziten) Normen.14 Entscheidend ist nun Folgendes: Wenn unter dem Titel ›Norm‹ auch tatsächlich Normativität behandelt werden soll, dann ist das Befolgen einer Norm (egal ob explizit oder implizit) mehr als nur ein statistisch erfassbares Verhalten. Eine statistische Regularität lässt sich einer impliziten oder expliziten Norm gegenüberstellen. Hierzu ein Beispiel: Stellen wir uns vor, eine des Fußballs unkundige Person beobachte ein Elfmeterschießen. Hierbei könnte es sein und es ist sogar wahrscheinlich, dass der Torwart häufiger in die andere Ecke springt als der Ball.15 Rein statistisch könnte man daraus schlussfolgern, dass es die Intention des Torwarts sei und der ›Witz‹ des Elfmeterschießens darin bestünde, dem Ball auszuweichen. Um zu wissen, dass dies nicht der Fall ist, muss man die sozial geteilte Praxis des Elfmeterschießens kennen, die sich nicht aus einer bloßen Regularität ableiten lässt. Im Hinblick auf den Status von Regularitäten gibt es keinen Unterschied zwischen der von Gloy vertretenen Position und der unsrigen. Gerade weil Gloy die Bedeutung subsistenter Normen so klar hervorhebt, halten wir allerdings seine strikte Trennung zwischen Norm und Regel für problematisch. Den Ausdruck Norm reserviert er »für sozialbedingte Orientierungen, die den sprachlichen Konstruktionsprozess leiten«, den Ausdruck Regel dagegen »für innersprachliche Größen (z.B. für Strukturprinzipien einer Sprache) bzw. für modellhafte Abbildung von empirischen Daten a posteriori seitens des Linguisten«.16 Regeln sind für ihn rein deskriptive Mittel der Beschreibungssprache, Konstrukte von Linguisten. Somit setzt er Regel und Regelformulierung gleich; eine Unterscheidung zwischen Regelformulierung und impliziter Regel entfällt bei ihm.17 12 | Ebd., S. 34. 13 | Vgl. Stetter, Christian: Schrift und Sprache, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 79. 14 | Vgl. K. Gloy: »Empirie des Nicht-Empirischen«, S. 34. 15 | Diese höhere Wahrscheinlichkeit ist dadurch bedingt, dass der Schütze beim Elfmeter bessere Chancen hat als der Torwart und versierte Elfmeterschützen die Ecke, in die der Torwart springen wird, vorausahnen, im Fußballerjargon: ›den Torwart ausgucken‹, können. 16 | Ebd., S. 35. 17 | Vgl. im Unterschied dazu Black, Max: »The Analysis of Rules«, in: Ders.: Models and Metaphors. Studies in Language and Philosophy, Ithaca/New York: Cornell University Press 1962, S. 95-139. In diesem Aufsatz wird die Unterscheidung zwischen

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Hieraus ergibt sich aus unserer Sicht folgendes Problem: Wenn die Regeln bzw. Regelformulierungen adäquat sein sollen, dann müssen sie aus den Praktiken gewonnen werden; sie müssen sozialen Praktiken entsprechen, sie müssen auf impliziten Regeln beruhen, sonst laufen sie ins Leere. Anders als Gloy es suggeriert, hängen Regeln nicht ›in der Luft‹, sondern lassen sich empirisch rekonstruieren. Da die den Regelformulierungen zugrunde liegenden Praktiken immer Verbindlichkeit im Sinne von impliziten Gebrauchsnormen bzw. impliziten Regeln beinhalten,18 nehmen wir, anders als Gloy, eine starke Überlappung der Begriffe ›Regel‹ und ›Norm‹ bewusst in Kauf (wenngleich auch nach unserem Verständnis bei dem Wort Norm die Idee einer Sanktionierungspraxis tendenziell stärker mitschwingt als beim Wort Regel). Eine ähnliche Argumentation führt Robert Brandom gegen den von ihm so genannten ›Regularismus‹ ins Feld: Nach Brandom weisen Praktiken immer viele verschiedene Regelmäßigkeiten (= Regularitäten) auf. Um auf neue Fälle reagieren zu können, muss man aber wissen, welche der Regularitäten für die jeweilige Praxis relevant sind. Das heißt, man muss über ein implizites Regelwissen verfügen, um vergangene Ereignisse auf zukünftige ›hochrechnen‹ zu können. »Wenn der einfache Regularismus mit seiner Gleichsetzung von Unrichtigkeit und Unregelmäßigkeit überhaupt Tritt fassen soll, muß er durch ein Verfahren ergänzt werden, wodurch einige der auftretenden Regelmäßigkeiten als irgendwie privilegiert herausgegriffen werden. Das heißt, einige Regelmäßigkeiten müssen als die ausgezeichnet werden, mit denen übereingestimmt werden sollte, einige als diejenigen, die fortgesetzt werden sollten.«19

Da eine Regelformulierung also nie bloße Regularitäten beschreibt, sondern eben eine Regel mitsamt dem dazugehörigen Sollen formuliert, ist es tendenRegel und Regelformulierung ausführlich diskutiert. Regeln als gedankliche Konstrukte haben für Black immer eine normative Seite. Dabei können mehrere äquivalente Regelformulierungen eine Regel konstituieren. Black bejaht die Frage, ob es unformulierte, rein implizite Regeln geben könne. Man denke hierbei z.B. an Sprachen, für die es keine Schriftform gibt, die grammatisch nicht erforscht sind und deren implizite Regeln dementsprechend nie formuliert wurden. 18 | In diesem Sinne kommen Gebrauchsnormen bzw. implizite Regeln, denen wir (meistens unbewusst) folgen, in der Kommunikation, in den konkreten Sprachspielen selbst »zum Ausdruck und entfalten auf diese Weise ihre Verbindlichkeit« (Ch. Bermes in diesem Band, S. 22). Sie werden nicht von außen an die Sprachspiele herangetragen, sondern konstituieren diese. 19 | Brandom, Robert B.: Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 69f.

Sprachliche Normorientierung in Deutschland und Frankreich

ziell irreführend, Regel und Norm derart strikt voneinander zu unterscheiden, wie Gloy es tut. Wir fassen also eine Norm (und auch eine Regel) als eine Verhaltensregularität auf, die mit einer Normativität gekoppelt ist. Dies geht von sehr expliziten Normen, wie z.B. Gesetzesvorschriften, bis hin zu impliziten sprachlichen Regeln, die meist stillschweigend befolgt und nur selten thematisiert werden, z.B. wenn Deutsch als Fremdsprache oder FLE (Français langue étrangère) unterrichtet wird. Die Normativität kann sich in verschiedensten Arten von Sanktionspraktiken zeigen, im Falle der sprachlichen Normen z.B. in Selbst- und Fremdreparaturen, in Hyperkorrektheitsphänomenen und Ähnlichem. Vor allem Wittgenstein hat wiederholt darauf hingewiesen, dass wir uns der Regeln, denen wir in der Muttersprache folgen, meistens nicht bewusst sind, diese dementsprechend auch nicht explizieren können und dennoch in der Lage sind, die Sprache zu verwenden.20 Die Kehrseite der Medaille ließe sich so formulieren: Wir sind uns oft nicht der Tatsache bewusst, dass die impliziten Normen/Regeln, denen wir tatsächlich im Sprachgebrauch folgen, andere sind als die, die wir auf Nachfrage angeben. Es ist daher möglich, dass eine Diskrepanz zwischen expliziter Normberufung und tatsächlicher Sprachproduktion auftritt. Wie unsere Umfrage, die in Abschnitt 4 und 5 vorgestellt wird, sowie das DFG-Projekt »Gesprochener Standard«21 gezeigt haben, ist dies empirisch sogar sehr oft der Fall. In der Umfrage wurde z.B. die gesprochene Äußerung er hat zu den jungen leuten gesagt macht eine ausbildung weil das bringt euch weiter wegen der Verbzweitstellung nach weil von vielen Probanden negativ bewertet und entsprechend kommentiert, obwohl diese Konstruktion auch in formelleren mündlichen Kontexten hochfrequent ist. Im Projekt »Gesprochener Standard« machte sie gut ein Drittel der weil-Äußerungen in einem Korpus aus Unterrichtsgesprächen der Oberstufe und Abend-Talkshows aus.22 In der geschriebenen Standardsprache gilt diese Konstruktion jedoch nach wie vor als abweichend. Daher liegt die allgemeine Vermutung nahe, dass das written language bias bei der Bewertung gesprochensprachlicher Konstruktionen wirksam ist. Aus dieser Vermutung leiten wir für unsere empirische Untersuchung folgende Hypothese ab, auf die wir in Abschnitt 5 ausführlich zurückkommen:

20 | Vgl. etwa Wittgenstein, Ludwig: »Das Blaue Buch. Eine philosophische Betrachtung«, in: Ders.: Werkausgabe in 8 Bänden, Bd. 5, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 49. 21 | Vgl. Schneider, Jan Georg/Butterworth, Judith/Hahn, Nadine: Gesprochener Standard in syntaktischer Perspektive. Theoretische Grundlagen – Empirie – didaktische Konsequenzen (= Stauffenburg Linguistik, Band 99), Tübingen 2018. 22 | Vgl. ebd., S. 143ff.

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Viele Sprecherinnen und Sprecher orientieren sich bei der Beurteilung mündlicher Äußerungen an den Normen der geschriebenen Standardsprache bzw. an dem, was sie dafür halten. Die implizite Normorientierung zeigt sich auch darin, dass Sprecherinnen und Sprecher, die gesellschaftlich ›aufsteigen‹ wollen, sich an den vermeintlich höheren Schichten orientieren, in diesem Fall an den Schichten, die über ein größeres »symbolisches Kapital« verfügen. Bourdieu spricht hier von einer »alle Dimensionen der Praxis durchdringenden Bildungsbeflissenheit«23 der gesellschaftlichen ›Aufsteiger‹. Die ›Aufsteiger‹ – und nicht nur diese – stehen unter sozialem Druck und neigen dabei u.a. zu sprachlicher Unsicherheit und hyperkorrekten Sprachverwendungen. Es geht ihnen darum, sich die relevanten »feinen Unterschiede« in »Distinktionspraktiken«24 zu eigen zu machen. Die Standardsprache erscheint ihnen als prestigeträchtige Varietät, die für erfolgversprechend gehalten wird. Für Bourdieu sind formellere, ›karriererelevante Praktiken‹ wie Bewerbungs- und Prüfungsgespräche nur die Spitze des Eisbergs, die darauf verweist, dass in der sprachlichen Interaktion immer (unbewusste oder bewusste) Bewertungen stattfinden und unsere Einstellung zu unserer Redeweise und der anderer in diesem Sinne von Grund auf normativ ist: »Die Situationen, bei denen die sprachliche Produktion ausdrücklich der Bewertung unterzogen ist, Examina etwa oder Einstellungsgespräche, erinnern daran, dass bei jedem sprachlichen Austausch eine Bewertung stattfindet […].« 25

Wie Bourdieu zeigt, äußert sich dies vor allem im sprachlichen Verhalten derer, die sozial aufsteigen wollen, des von ihm so genannten »Kleinbürgertums«.26 Hieraus erklärt sich zum Teil auch der Erfolg sprachpflegerischer Publikationen, die der Leserschaft vermeintlich nahebringen, was sprachlich korrekt sei und was man unbedingt vermeiden sollte. In Deutschland waren dies in den letzten Jahren vor allem die Kolumnen Bastian Sicks (»Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod«), in Frankreich z.B. Maillets »Langue française: Arrêtez le massacre!« oder die Rubrik »dire, ne pas dire« auf den Webseiten der Académie Française.

23 | Vgl. P. Bourdieu: Was heißt Sprechen?, S. 69. 24 | Vgl. ebd., S. 71. 25 | Ebd., S. 63, Fußnote 26. 26 | Vgl. ebd., S. 69.

Sprachliche Normorientierung in Deutschland und Frankreich

3. S PR ACHNORM (IERUNG) IN F R ANKREICH UND IN D EUTSCHL AND Normierungs- und Standardisierungsprozesse bzw. (staatliche) Eingriffe in die Sprache und deren Entwicklung setzen in Frankreich viel früher als in Deutschland ein.27 Dies liegt daran, dass sich in Frankreich bereits um die Mitte des 15. Jahrhunderts ein nationales Bewusstsein zu entwickeln beginnt, das spätestens mit der Einführung der absolutistischen Monarchie konsolidiert wird. Mit der Ordonnance de Villers-Cotterêts (1539) werden nicht nur das Latein, sondern auch regionale Varietäten des Französischen aus dem Gerichtswesen verbannt, indem man dekretiert, dass ab nun rechtliche Angelegenheiten nur noch in französischer Sprache verhandelt werden dürfen (en langage maternel francoys et non autrement). Mit der Herausbildung des nationalen Bewusstseins geht die eines Sprachbewusstseins einher: »Die Sprache des Königs war mit der Vorstellung der Souveränität der Krone und derjenigen von Urbanität verbunden, die sie dem Prestige der Hauptstadt Paris verdankte«.28 Im 17. Jahrhundert bekommt das, was als Sprachstandard angesehen wird, einen Namen: le bon usage. Malherbe und anschließend Vaugelas arbeiten daran, diesen »guten Gebrauch« zu bestimmen. In seinen Remarques sur la langue françoise. Utiles à ceux qui veulent bien parler et bien escrire (1647) orientiert Vaugelas auch den schriftlichen bon usage, wie bereits Malherbe vor ihm, am mündlichen Gebrauch, nämlich an dem der höfischen Elite: »C’est la façon de parler de la plus saine partie de la Cour, conformément à la façon d’escrire de la plus saine partie des Autheurs du temps«29. Er richtet damit das »gute Französisch« am Gebrauch einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht aus, definiert es also anhand eines externen sozialen Kriteriums.30 27 | Einen guten Überblick hierzu geben z.B. Settekorn, Wolfgang: Sprachnorm und Sprachnormierung in Frankreich. Einführung in die begrifflichen, historischen und materiellen Grundlagen, Tübingen: Niemeyer 1988, und Jurt, Joseph: Sprache, Literatur und nationale Identität. Die Debatten über das Universelle und das Partikuläre in Frankreich und Deutschland, Berlin/Boston: de Gruyter 2014. 28 | Ebd., S. 20. 29 | Vaugelas, Claude Favre de: Remarques sur la langue françoise. Utiles à ceux qui veulent bien parler et escrire, Paris: Veuve Jean Camusat/Pierre le Petit 1647, o.S. (Préface). 30 | Vgl. Lodge, R. Anthony: French. From Dialect to Standard, London/New York: Routledge 1993, S. 175: »In the absence of reliable internal criteria (raison) for preferring one linguistic item over another (e.g. should the present participle of valoir be valant or vaillant), he had recourse to an external social reference-point. He arranged competing linguistic items in a hierarchy corresponding to his view of social stratification« (Hervorhebung im Original).

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Vaugelas ist zudem einer der Gründerväter der Institution, die ab 1635 offiziell über die französische Sprache wacht: die Académie Française, deren nationalstaatliche Funktion sich bereits aus ihrem Namen ablesen lässt.31 In Artikel XXIV32 ihrer Statuten ist deutlich ihre normative Mission ausgedrückt: »La principale fonction de l’Académie sera de travailler avec tout le soin et toute la diligence possible à donner des règles certaines à notre langue et à la rendre pure, éloquente et capable de traiter les arts et les sciences«33. Sie wird bis heute als die normbildende und normbewahrende Instanz im Hexagon angesehen. Auch außerhalb der Académie beschäftigt man sich im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts intensiv mit Sprachenfragen – Weinrich spricht von einer »Passion«34 für die Sprache, die von der Pariser Gesellschaft auf die ganze Nation übertragen worden sei. Die damaligen Diskussionen rund um das Thema sprachliche Korrektheit fasst die Zeitschrift L’Année littéraire 1755 mit folgenden Worten zusammen: »La grammaire règne depuis quelque temps«35. Während der Revolutionszeit tritt die Frage nach dem guten Gebrauch hinter der nach der Nationalsprache zurück. Nachdem man in der Anfangszeit, bis 1791/92, mit Übersetzungen aus dem Französischen in Regionalsprachen bzw. Dialekte gearbeitet hat, beginnt man relativ schnell, die Regionalsprachen als konterrevolutionär anzusehen. Auch die Dialekte werden diskreditiert: Seinen berühmten Bericht von 1794 betitelt Abbé Grégoire mit Rapport sur la nécessité et les moyens d’anéantir les patois et d’universaliser la langue française. Das Motto lautet: Une nation – une langue. Es verliert sich zudem im Laufe des 18. Jahrhunderts die noch bei Malherbe und Vaugelas prominente Idee, als Modell für gutes Französisch das français parlé (einer bestimmten Gruppe) anzusehen: »[...] the model used by prescriptive grammarians gradually slipped away from actual spoken usage altogether and the best form of French was increasingly sought in the written language, particularly in the writings of the bons auteurs du Grand Siècle«. 36

31 | Vgl. J. Jurt: Sprache, Literatur und nationale Identität, S. 33. 32 | Im Text selbst in einer Fußnote als »[a]rticle essentiel qui formule la raison d’être de l’Académie, lui préscrit sa mission et fonde son autorité« bezeichnet (Académie Française: Statuts et règlements, http://www.academie-francaise.fr/sites/academie-francaise.fr/files/statuts_af_0.pdf vom Juli 1995, S. 19). 33 | Ebd. 34 | Weinrich, Harald: Wege der Sprachkultur, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1985, S. 149. 35 | Ebd. 36 | A.R. Lodge: French, S. 181 (Hervorhebung im Original).

Sprachliche Normorientierung in Deutschland und Frankreich

Die Vorstellung vom Geschriebenen als der vollkommenen Form der Sprache wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die sich ausweitende Alphabetisierung konsolidiert. In Deutschland stellen sich Normierungs- und Standardisierungsprozesse historisch ganz anders dar als in Frankreich. Bis heute existiert keine zentrale, staatlich gestützte Institution, die sich um die ›Pflege‹ der deutschen Sprache kümmert. Allerdings haben Sprachkritik und Sprachpflege auch hierzulande eine lange Tradition, die mindestens bis in das 17. Jahrhundert zurückreicht, als bereits Leibniz die Stilideale »Reichtum, Reinigkeit und Glanz« formulierte.37 Von historisch herausragender Bedeutung sind außerdem im 18. Jahrhundert die Arbeiten von Adelung und vor allem Campe, welcher sich mit seinem »›aufklärerischen‹ Purismus«38 darum bemühte, lateinische und französische Fremdwörter ins Deutsche zu übertragen, um deren Bedeutung auch für die weniger gebildeten Menschen verständlich zu machen. Campes ›Verdeutschungen‹ waren vor allem politisch motiviert und durch seine persönliche Erfahrung inspiriert, dass – seiner Meinung nach – die Ideen der Revolutionen in Frankreich für die gesamte Bevölkerung, unabhängig von Bildung und Region, sprachlich verständlich gemacht werden konnten, da alle (angeblich) eines überregional verständlichen Französisch mächtig waren. Bei späteren Sprachkritikern und Sprachvereinen, etwa dem Allgemeinen Deutschen Sprachverein (ADSV), verlor der Purismus seinen aufklärerischen Impetus; man betonte nun vor allem die Ablehnung des Einflusses fremder Sprachen auf das Deutsche, ursprünglich vor allem des Französischen und Lateinischen, heute nahezu ausschließlich des Englischen und Amerikanischen. Hier ist derzeit vor allem der Verein Deutsche Sprache (VDS) zu nennen, der mit seiner puristischen Anglizismenkritik sehr aktiv ist. Jedoch handelt es sich weder beim VDS noch bei anderen Sprachvereinen um staatlich gestützte Institutionen, vielmehr um Laienorganisationen, die sich dem vermeintlichen Sprachverfall entgegenstellen wollen. Auch der Duden, welcher vielen als Hüter einer präskriptiven Sprachnorm gilt, ist schon immer ein Privatunternehmen gewesen, das mittlerweile zum Cornelsen Verlag gehört und keine staatliche Legitimation hat. Jedoch wird die Grammatikund Wörterbuchschreibung beim Duden zunehmend empirischer: Sie erfolgt auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse und Standards unter Anerkenntnis des Sprachwandels. Das gilt bedingt auch für den Larousse bzw. den Robert, die für die Franzosen und Französinnen als Referenzwerke gelten – die eher

37 | Vgl. Kilian, Jörg/Niehr, Thomas/Schiewe, Jürgen: Sprachkritik. Ansätze und Methoden der kritischen Sprachbetrachtung (= Germanistische Arbeitshefte, Band 43), 2. Aufl., Berlin/Boston: de Gruyter 2016, S. 50f. 38 | Ebd., S. 28.

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konservativen Wörterbücher der Académie Française werden hingegen kaum rezipiert (siehe auch den Beitrag von Bernhard Pöll in diesem Band). Ein weiterer großer Unterschied zu Frankreich ist, dass sich die Standardisierungs- und Normierungsprozesse in Deutschland historisch zunächst nur im Schriftlichen vollzogen haben, wobei u.a. die Bibelübersetzung Luthers bekanntlich eine entscheidende Rolle spielte. Im Mündlichen gibt es zwar einen gewissen normativen Einfluss der von Siebs formulierten Bühnenlautung sowie das hartnäckige Vorurteil vom ›besten Hochdeutsch‹, das angeblich in Hannover gesprochen werde, aber keine staatlich festgelegten Vorgaben. Die amtliche Regelung erstreckt sich ausschließlich auf die Orthografie. Jedoch gibt es auch in Frankreich – dies ist eine Parallele zu Deutschland – keine staatlich festgelegte Aussprachenorm. So ist vor allem die gesprochene Sprache in Deutschland bis heute durch eine starke regionale Varianz geprägt. Unter anderem durch den Einfluss von Massenmedien und Bildungsinstitutionen bildete sich allerdings mehr und mehr – hier durchaus ähnlich wie in Frankreich – ein gesprochener Gebrauchsstandard heraus, der stärker mit dem geschriebenen verbunden ist als andere mündliche Varietäten, auf der anderen Seite aber z.B. syntaktische Eigenarten aufweist, die mit den Produktionsbedingungen mündlicher Interaktion zusammenhängen und sich daher vom Schriftlichen unterscheiden.39

4. V ORSTELLUNG DER O NLINE -U MFR AGE Von dieser Idee eines gesprochenen Gebrauchsstandards gingen wir auch bei der Konzeptionierung unserer Online-Umfrage aus. Anders als bei vielen anderen Umfragen ging es uns also nicht um die Salienz von dialektalen Merkmalen im Kontrast zur Standardsprache, sondern um die Salienz von Merkmalen des gesprochenen Gebrauchsstandards im Verhältnis zum geschriebenen. Im Fokus standen dabei syntaktische Besonderheiten des Gesprochenen im Vergleich zum Geschriebenen, also Konstruktionen, die im Mündlichen auch in überregionalen, formelleren Kontexten regelhaft und unmarkiert sind, obwohl sie im geschriebenen Standard unüblich sind. Nach diesem Kriterium wurden sowohl die deutschen als auch die französischen Beispiele ausgewählt. Die Schwierigkeit bestand insbesondere darin, entsprechende, vergleichbare Beispiele für das Französische und das Deutsche zu finden. Sowohl bei den französischen als auch bei den deutschen Beispielen ging es uns darum zu überprüfen, wie die jeweiligen Audios eingeschätzt werden und ob sich diesbezüglich Unterschiede im Hinblick auf demographische Faktoren wie regionale Herkunft und Beruf zeigen. Insbesondere die Einschätzung der Stan-

39 | Vgl. hierzu J.G. Schneider/J. Butterworth/N. Hahn: Gesprochener Standard.

Sprachliche Normorientierung in Deutschland und Frankreich

dardsprachlichkeit, in unserem Verständnis also die Angemessenheit für for mellere Situationen, war dabei von Interesse. Anders als bei anderen Umfragen stellten wir zusätzlich einige Fragen, die auf die generelle sprachliche Normorientierung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer (TN) abzielten. Der Fragebogen wurde in doppelter Ausführung, einmal als deutschsprachiger und einmal als französischsprachiger, mit der online frei verfügbaren Software Sosci-Survey40 erstellt. Die TN in Deutschland erreichten wir über das offene wissenschaftliche Befragungspanel SoSci Panel41 sowie über Schulen und Studienseminare in Rheinland-Pfalz. Um französische TN zu gewinnen, schrieben wir diverse frankophone Verteiler an, so z.B. das Réseau Francophone de Sociolinguistique (RFS), die Association Française des Enseignants de Français, édusol (Portail national des professionnels de l’éducation) und Framonde. Dies erklärt, warum a) deutlich mehr deutsche als französische Fragebögen ausgefüllt wurden und warum b) der Anteil an Lehrkräften bei den französischen Fragebögen (relativ) deutlich höher ist: Nach einer statistischen Bereinigung liegt die Größe der Stichprobe bei N = 344 (davon 70 Lehrkräfte) für den deutschen und N = 119 (davon 96 Lehrkräfte) für den französischen Fragebogen. Als Referenzkontext unserer Umfrage diente schulische Unterrichtskommunikation, weil in dieser institutionellen Domäne die Frage nach sprachlicher Angemessenheit und sprachlichen Normen naturgemäß eine große Rolle spielt. Die dargebotenen Audios sollten durch die TN nach ihrer subjektiv empfundenen sprachlichen Angemessenheit für den Unterrichtskontext beurteilt werden. Die mehrstufige Frage zu jedem Stimulus lautete: •

Kommt es Ihrer Meinung nach vor, dass eine Lehrperson im schulischen Unterricht mittlerer bis höherer Klassenstufen Folgendes sagt?

Und anschließend: •

Falls es vorkäme, fänden Sie es in diesem Rahmen sprachlich angemessen?

Die zweite, für unsere Untersuchung entscheidende Frage konnte auf einer Skala von ja (=1), eher ja (=2), eher nein (=3), nein (=4) beantwortet werden. Im Anschluss an die Angemessenheitsfrage war jeweils die Möglichkeit gegeben, die Antwort kurz zu kommentieren. Wurde als Antwort Eher nein oder Nein gegeben, erschien außerdem die zusätzliche Frage Was finden Sie daran unangemessen? mit der Möglichkeit zur freien Kommentierung.42 40 | https://www.soscisurvey.de 41 | https://www.soscipanel.de 42 | Aus Platzgründen können die Kommentare im vorliegenden Aufsatz leider nicht systematisch dargestellt und analysiert werden. Zu den Kommentaren beim deutschsprachigen Fragebogen vgl. J.G. Schneider/J. Butterworth/N. Hahn: Gesprochener Standard, Kap. 4.3.5; zu denen beim französischen Diao-Klaeger, Sabine/Franz, Ka-

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Da es uns um eine Einschätzung des gesprochensprachlichen Verhaltens ging, haben wir die Hörbeispiele bewusst lediglich als Audios und nicht schriftsprachlich transkribiert im Fragebogen präsentiert. Die Beispiele wurden für das Deutsche und für das Französische alle von jeweils derselben L1-Sprecherin gesprochen, um mögliche Beeinflussungen der Evaluationen aufgrund der Stimmqualität zu vermeiden. Die Hörbeispiele sind authentische bzw. auf authentischen Daten basierende Äußerungen. Für die deutschen Beispiele haben wir auf das Korpus aus dem DFG-Projekt Gesprochener Standard zurückgegriffen, für die französischen auf das Corpus de LAngue Parlée en Interaction, CLAPI.43 Wir haben die authentischen Daten teilweise leicht verändert, d.h. beispielsweise lexikalisch an den schulischen Kontext angepasst. Bei den Hörbeispielen handelt sich um Äußerungen, die syntaktisch von der schriftsprachlichen Norm abweichen. Die Abweichungen sind jeweils aus den medialen Grundbedingungen der gesprochenen Sprache erklär- und funktional beschreibbar.44 Es handelt sich um schematisierte Einheiten, die auch in überregionalen, formelleren Kontexten (letzteres erklärt auch die Fokussierung auf den schulischen Kontext) potentiell unmarkiert sind. »Potentiell« deshalb, weil sich erst in der Einschätzung der Sprecherinnen zeigt, was noch als gesprochensprachlich akzeptiert wird und was als diaphasisch und/ oder diastratisch markiert angesehen wird. Hier die tabellarische Übersicht zu den deutschen und französischen Beispielen: 45 Nr. Beispiel

Phänomen / Abkürzung

1

Expansion (Nominalphrase) / Exp_NP Expansion (Adverbphrase) / Exp_AdvP

2

ich will nicht ausweichen deiner frage keine sorge goethe war damals einundzwanzig jahre alt übrigens

thrin: »Déclin, évolution, simplification? Bewertungen morphosyntaktischer Merkmale des gesprochenen Frenzösisch«, in: C. Ossenkop/G. Veldre-Gerner (Hg.): Fehler – Abweichung – Variation Frankfurt a.M. u.a.: Lang. 43 | http://clapi.ish-lyon.cnrs.fr 44 | Da der vorliegende Aufsatz den Normaspekt fokussiert und insbesondere die Online-Umfrage präsentiert, kann der Medialitätsaspekt hier nicht eingehend behandelt werden; vgl. hierzu J.G. Schneider/J. Butterworth/N. Hahn: Gesprochener Standard, Kap. 2.2, 2.3 und 4. 45 | Die Beispiele werden hier ohne Unterscheidung von Groß- und Kleinschreibung sowie ohne Zeichensetzung abgedruckt, um anzudeuten, dass es sich um gesprochene Sprache handelt.

Sprachliche Normorientierung in Deutschland und Frankreich

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ich bin damals mit dem zug gefahren nach hamburg

Expansion (Präpositionalphrase) / Exp_PP da haben wir doch eben schon einiges Adverbialklammer / zu gesagt Adkl_da_zu ich kann mir da wirklich nichts drunter Adverbialklammer vorstellen (Distanzverdopplung) / Adkl_da_drunter schön hast du super ergänzt Verbspitzenstellung / V 1 wir wollen das gemeinsam lösen dieses problem und deswegen reden wir jetzt darüber wenn ich das gerade mal einwerfen darf der pausenraum der sah wohl absolut verheerend aus in europa unterliegen menschen heute völlig unterschiedlichen rechtlichen bedingungen es ist für viele ist das der anfang vom ende der europäischen union ein klassischer fehler besteht darin dass autor und erzähler immer wieder gleichgesetzt wird wenn die opposition konsequent gerechtigkeitsthemen anspricht dann hat der regierungschef und sein kabinett ein problem und dann hab ich gesagt macht den vorhang auf sie haben den vorhang nämlich nur bis zur hälfte aufgemacht gehabt er hat zu den jungen leuten gesagt macht eine ausbildung weil das bringt euch weiter wie ihr wisst gibt es auch klassen die haben das geschafft wir haben uns mit dem theater in verbindung gesetzt wir haben mit dem regisseur uns unterhalten um euch einen schönen theaterbesuch zu ermöglichen

Aussage-Referenz-Struktur / AusRef Referenz-Aussage-Struktur / RefAus Apokoinu

Numerus-Inkongruenz / Num-IK 1 Numerus-Inkongruenz / Num-IK 2

doppeltes Perfekt / doppPerf

weil-V2-Satz / weilV2

Relativsatz mit V2 / RelV2 ungewöhnliche Konstituentenabfolge im Mittelfeld / ungKA

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Nr. Beispiel

Phänomen / Abkürzung

1

Fehlendes Subjekt / fehlSubj 1

2

3

je vous propose de travailler sur le souvenir pas obligé qu’il s’agisse de vos souvenirs personnels mais de la mémoire en général je voulais revenir justement sur marianne et cécilia qui disaient donc faut régler nos problèmes d’argent axel il est en ce moment il est chez ses grands-parents?

Fehlendes Subjekt / fehlSubj 2

Referenz-Aussage-Struktur (Verdopplung Subjekt) / RefAus 1 4 et alex il est bien installé? qu’est-ce qu’il Referenz-Aussage-Struktur fait maintenant? (Verdopplung Subjekt) / RefAus 2 Numerus-Inkongruenz 1 / 5 la majorité des pays d’où viennent les immigrés en france c’est des pays qu’on Num-IK 1 a colonisés 6 c’est les livres de ma mère Numerus-Inkongruenz 2 / elle m’a dit si tu les veux tu les gardes Num-IK 2 7 non c’est bon ça va venir je me fais pas Unvollständige Negation / d’illusions unvNeg 1 Unvollständige Negation / 8 vous avez pas compris ce que je veux unvNeg 2 dire il s’agit d’un problème de définition 9 on va partir des textes que je vous avais 3. P. Sg. für 1. P. Pl. / donnés la semaine dernière et on va es- 3. PersSg 1 sayer d’entamer notre débat maintenant 10 alors que nous pendant un an on va 3. P. Sg. für 1. P. Pl. / travailler sur le dix-neuvième siècle on 3. PersSg 2 va lire plusieurs livres 11 je ne sais pas qu’est-ce qu’il fait quand il Konstruktion Relativsatz / se dispute avec le personnage principal Rel 1 12 ne lui en reparle pas c’est le sujet que je Konstruktion Relativsatz / lui ai parlé hier Rel 2 Enklitisches Pronomen plus 13 est-ce que tu peux me passer des Liaison feuilles s’il te plaît donne-moi z’en FolgeObjP 1 juste trois Enklitisches Pronomen plus 14 la prochaine fois pour que tu rendes Liaison (FolgeObjP) ton devoir à temps prends-toi z’y un Objekt/Pronomen / peu plus en avance FolgeObjP 2

Sprachliche Normorientierung in Deutschland und Frankreich

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j’ai l’impression que toutes les vraies raisons du débat sont occultées et le gouvernement est en train de masquer les vrais problèmes 16 dans le vocabulaire que vous employez il me semble que vous avez quelques réponses à vos questions

Dummie 1

Dummie 2

Nach den Hörbeispielen folgten die bereits oben erwähnten Fragen zur generellen sprachliche Normorientierung der TN. Die erste Frage lautete, ob man der Meinung sei, die Sprache ›verfalle‹. Schließlich ging es um die Häufigkeit der Konsultation von Referenzwerken wie Grammatiken oder Wörterbüchern bei sprachlichen Unsicherheiten und dann um die Frage, ob man a) auf den eigenen Sprachgebrauch und b) auf den Anderer besonders achte. Der Fragebogen schloss mit einigen personenbezogenen Daten.

5. E MPIRISCHE E RGEBNISSE 46 Das erste, vielleicht zunächst überraschende Ergebnis unserer Umfrage besteht darin, dass die deutschen TN signifikant stärker der Meinung sind, dass ihre Sprache verfällt als die französischen: 2,1 zu 2,9,47 wobei der niedrigere Wert aufgrund unserer Antwortkodierung (ja, sehr = 1, zum Teil = 2, eher nicht = 3, gar nicht = 4) hier die höhere Zustimmung zu der Sprachverfallsthese ausdrückt (s. Abbildung auf S. 110). Allgemein gelten Franzosen als normorientierter, was ihre Sprache angeht, und so könnte man prima facie annehmen, dass sie sich auch eher wegen drohenden Sprachverfalls sorgen und sensibler auf Sprachwandel reagieren. Unser empirischer Befund ließe sich unter Umständen so erklären, dass Franzosen generell daran gewöhnt sind bzw. davon ausgehen, dass man sich in ihrem Land schon um die Pflege die Sprache kümmere, und daher weniger besorgt sind. Die französischen TN achten zudem signifikant stärker auf ihren eigenen Sprachgebrauch, und sie konsultieren signifikant häufiger Nachschlagewerke. So könnte auch angenommen werden, dass sie sprachlich reflektierter sind und somit weniger pauschale und irrationale Furcht vor Sprachverfall haben. Da unsere Umfrage nicht repräsentativ

46 | Für die quantitative Auswertung danken wir Dr. Ursula Koch vom Zentrum für empirische pädagogische Forschung (zepf) der Universität Koblenz-Landau. 47 | Nach Cohen handelt es sich bei einer solchen Differenz um einen »großen Unterschied«; vgl. Cohen, Jacob: »A Power Primer«, in: Psychological Bulletin, 112/1 (1992), S. 155-159.

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Abb. 1 ist, könnte es aber auch schlicht so sein, dass wir beim französischen Fragebogen zufälligerweise insgesamt TN hatten, die in Sprachfragen liberaler waren. Ungeachtet dieser Vorbehalte zeigt sich aber eine interessante Korrelation mit einem weiteren Befund. In beiden Ländern waren nämlich die Lehrkräfte weniger normativ eingestellt als die Nicht-Lehrkräfte. Die Sprachverfallsfrage wird in beiden Ländern von den Lehrkräften eher verneint als von den anderen Berufsgruppen. Was die Bewertung der einzelnen Beispiele betrifft, so sind die Lehrkräfte auch tendenziell liberaler, wobei diese Tendenz aber nur in der deutschen Umfrage signifikant wird; bei den französischen TN ist das Bild insgesamt uneinheitlich. Allerdings ist hier zu bedenken, dass die Gruppe der Nicht-Lehrkräfte bei der französischen Umfrage so klein ist (23 von 119), dass die Unterscheidung der Berufsgruppen hier statistisch nur wenig ins Gewicht fällt. Die weniger normative und weniger pessimistische Haltung der Lehrkräfte mag manchen verwundern, wird gerade dieser Berufsgruppe doch häufig das Image zugeschrieben, in Sprachfragen beckmesserischer zu sein als andere. Anderseits ist es aber durchaus plausibel, dass Menschen, die ein bestimmtes Normsystem sehr gut kennen, täglich mit ihm umgehen und z.B. auch Wissen darüber haben, wie es entstanden ist, liberaler mit einem solchen System umgehen.48 So wissen z.B. linguistisch versierte Lehrkräfte, dass sprachliche Regeln und Normen nicht vom Himmel fallen, sondern, zwar hoffentlich auf empirischer Grundlage, aber doch von Menschen festgehalten bzw. festgelegt werden und sich darüber hinaus auch wandeln. Zudem könnte die liberale-

48 | Für diesen mündlichen Hinweis bei unserer Frankfurter Tagung im »Haus am Dom« danken wir Clemens Albrecht.

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Abb. 2 re Haltung der Lehrkräfte auch daher rühren, dass diese sich mit den unterschiedlichen strukturellen Bedingungen mündlicher Interaktionalität und schriftlicher Texte eher auskennen und auch die syntaktische Angemessenheit von Äußerungen danach beurteilen. Wenn dies zuträfe, so wäre es ein bildungspolitisch optimistisch stimmender Befund. Insgesamt ergab sich für unsere Studie folgende signifikante Korrelation: Die Bejahung der Sprachverfallsthese korreliert in beiden Ländern sowohl bei Lehrpersonen als auch bei Nicht-Lehrpersonen mit einer Ablehnung der gesprochensprachlichen Konstruktionen als unangemessen. Kommen wir nun zur Bewertung der Tonbeispiele und beginnen dabei mit der deutschen Umfrage. Betrachtet man alle zusammen, unabhängig von der Frage, ob es sich um Lehrkräfte oder andere Berufsgruppen handelt, dann stellt sich das ›Ranking‹ der bewerteten Beispiele wie folgt dar (Abb. 2). Am positivsten bewertet wurden die Verberststellung (schön hast du super ergänzt), die Adverbialklammer (»ich kann mir da wirklich nichts drunter vorstellen«) und die Aussage-Referenz-Struktur49 (»wir wollen das gemeinsam lösen dieses problem […]«). Am negativsten fiel das Urteil bei der Expansion mit Nominalphrase (»ich will nicht ausweichen deiner frage […]«) aus, gefolgt von der Apokoinukonstruktion (»es ist für viele ist das der anfang vom ende der europäischen union«), dem Doppelperfekt (»sie haben den vorhang nämlich 49 | Wir folgen hier der Auffassung von Fiehler, dass es sich bei den hier geläufigen Termini Links- und Rechtsversetzung um skriptizistische Ausdrücke handelt, die der Medialität gesprochener Sprache nicht angemessen sind. Um den Handlungs- und Vollzugscharakter mündlicher Interaktionalität zu betonen, sprechen wir im ersten Fall von Referenz-Aussage-Strukturen und im zweiten von Aussage-Referenz-Strukturen; vgl. Fiehler, Reinhard: »Über zwei Probleme bei der Untersuchung gesprochener Sprache«, in: Sprache und Literatur 85 (2000), S. 23-42; J.G. Schneider/J. Butterworth/N. Hahn: Gesprochener Standard, S. 93-121.

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Abb. 3

Abb. 4 nur bis zur hälfte aufgemacht gehabt«) und der Expansion mit Präpositionalphrase (»ich bin damals mit dem zug gefahren nach hamburg). Betrachtet man die Bewertungen nun getrennt nach Berufsgruppen, so zeigen sich viele Gemeinsamkeiten, aber auch einige interessante Unterschiede, die der Interpretation bedürfen (Abb. 3 und 4). Allgemein kann festgestellt werden, dass die deutschen Lehrkräfte die Beispiele insgesamt positiver bewerten als die Nicht-Lehrkräfte. Zum Beispiel liegt die Bewertung der Expansion mit Nominalphrase (Exp_NP) bei den Lehrkräften ziemlich genau in der Mitte zwischen 2,5 und 3,0, bei den Nicht-Lehrkräften zwischen 3,0 und 3,5 (auf einer Bewertungsskala von 1 für angemessen bis 4 für unangemessen). Die schwarzen Sterne markieren die Konstruktionen, bei denen sich signifikante Unterschiede zwischen Lehrkräften und Nicht-Lehrkräften zeigen, bei dem weißen Stern ist der signifikante Unterschied am stärksten. Es zeigt sich also, dass vor allem die Expansionen und die Numerus-Inkongruenzen (Num-IK 1 und 2) von den Lehrkräften deutlich milder bewertet wurden. Dies passt zu unserer eingangs formulierten Hypothese, dass die

Sprachliche Normorientierung in Deutschland und Frankreich

liberalere Haltung sich möglicherweise durch größeres Wissen und tägliche Erfahrung mit den unterschiedlichen Produktionsbedingungen gesprochener und geschriebener Sprache erklären lässt: Gerade bei den Expansionen und den Numerus-Inkongruenzen handelt es sich um Phänomene, die stark der Situation geschuldet sind und häufig ad hoc gebildet werden: Zum Beispiel werden Expansionen häufig genutzt, um eine Information nachzutragen (»ich bin damals mit dem zug gefahren nach hamburg; ich will nicht ausweichen deiner frage […]«). Numerus-Inkongruenzen entstehen z.B. dadurch, dass man am Anfang der Äußerung noch nicht weiß, ob man mehrere Nominalphrasen zu einem Subjekt koordinieren möchte (»dann hat der regierungschef und sein kabinett ein problem«). Am größten ist der Unterschied zwischen Lehrkräften und Nicht-Lehrkräften bei der Expansion des Adverbs übrigens: »goethe war damals einundzwanzig jahre alt übrigens«. Solche Formulierungen sind auch in standardnahen Gesprächskontexten so sehr üblich, dass man sich die Negativbewertung hier tatsächlich nur durch das written language bias erklären kann. Ähnliches gilt für weil mit Verbzweitstellung (weilV2), eine sehr geläufige Konstruktion, die in unserer Umfrage nichtsdestoweniger im Mittelfeld landete. Dass diese extrem frequente und funktionale Konstruktion50 nicht noch positiver bewertet wurde, könnte mit der negativen Bewertung durch populäre Sprachpfleger (z.B. Bastian Sick) zusammenhängen. Hier handelt es sich um einen stereotypen Klassiker der präskriptiven Sprachkritik – ein Aspekt der u.E. ebenfalls nicht unterschätzt werden darf. Bei den französischen Hörbeispielen stellt sich die allgemeine Reihenfolge so dar (Abb. 5).

Abb. 5

50 | Vgl. hierzu etwa Günthner, Susanne: »›Weil – es ist zu spät‹. Geht die Nebensatzstellung im Deutschen verloren?« in: M. Denkler et al. (Hg.): Frischwärts und unkaputtbar. Sprachverfall oder Sprachwandel im Deutschen. Münster: Aschendorff 2008, S. 103-128.

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Im Unterschied zur deutschen Umfrage wurden hier zwei Dummies eingebaut, d.h. Konstruktionen, die zweifelsfrei auch im Geschriebenen als standardsprachlich zu betrachten sind. Diese liegen erwartungsgemäß im vorderen Bereich; jedoch wird die Konstruktion mit on va partir (3. PersSg 1) – statt nous allons partir –, die in der Tat im gesprochenen Standardfranzösisch sehr gängig ist, sogar noch positiver bewertet: Sie liegt auf dem ersten Platz. Ebenfalls positiv bewertet wird eine der Referenz-Aussage-Strukturen (RefAus2): »et alex il est bien installé […]«. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Referenz-Aussage-Strukturen im Französischen und im Deutschen nicht denselben Status haben. Im Französischen sind sie fest in das grammatische Standardsystem integriert, häufig lassen sie sich gar nicht vermeiden. Im Deutschen dagegen sind sie in der Regel stilistisch markiert. Dies muss mitreflektiert werden, auch wenn die von uns ausgewählten französischen Beispiele für Referenz-Aussage-Strukturen eindeutig typisch für das gesprochene (Standard-)Französisch sind. Die beiden am negativsten bewerteten französischen Beispiele sind die Relativkonstruktionen (Rel 1 und 2) »je ne sais pas qu’est-ce qu’il fait« und »c’est le sujet que je lui ai parlé hier […]«. Diese fallen in der Bewertung ganz aus dem Rahmen und werden mit annährend 3,5 bewertet. Dies lässt sich damit erklären, dass es sich hier nicht nur um gesprochensprachliche Phänomene, sondern auch um ein anderes Register handelt; für Françoise Gadet gehört que für dont zu den »relatives de français populaire«51. Mit anderen Worten: Anders als alle anderen Beispiele sind diese beiden Konstruktionen diaphasisch eindeutig markiert. Ebenfalls negativ bewertet wurden die Beispiel-Äußerungen mit Numerus-Inkongruenzen sowie diejenigen mit einem enklitischen Pronomen plus Liaison, die vom Schriftfranzösisch abweicht. Im Mittelfeld liegen die Verneinungen ohne die Negationspartikel ne (unvNeg 1 und 2), die für das gesprochene Französisch so typisch sind (»vous avez pas compris ce que je veux dire«).52 Vergleicht man nun wieder die Bewertungen der Lehrkräfte und der Nicht-Lehrkräfte, so zeigen sich hier – wie oben bereits erwähnt – weitaus geringere Unterschiede als bei der deutschen Umfrage (Abb. 6 und 7).

51 | Gadet, Françoise: La variation sociale en français. Nouvelle édition revue et augmentée, Paris: Ophrys 2007, S. 68. 52 | Catherine Kerbrat-Orecchioni zeichnet in ihren Analysen der französischen TV-Präsidentschaftsdebatten von 1974 bis 2012 die Entwicklung des Gebrauchs (bzw. Weglassens) der Verneinungspartikel ne nach; für sie ist der Wegfall des ne diaphasisch markiert – eine Einschätzung, deren wir uns nicht anschließen würden, jedoch offensichtlich einige unserer TN; vgl. Kerbrat-Orecchioni, Catherine: Les débats de l’entre-deux-tours des élections présidentielles françaises. Constantes et évolutions d’un genre, Paris: L’Harmattan, Kapitel 2.

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Abb. 6

Abb. 7 Nur ein einziger Unterschied ist hier signifikant: Eine der beiden Konstruktionen mit dem fehlenden Subjekt (fehlSubj 2) wurde von den Lehrkräften deutlich kritischer beurteilt als von den Nicht-Lehrkräften. Was die regionale Verteilung angeht, so zeigen sich in der deutschen Umfrage signifikante Unterschiede zwischen Nord- und Süddeutschland: Die Befragten aus den südlichen Bundesländern (beginnend mit Hessen und Rheinland-Pfalz) waren deutlich liberaler als die norddeutschen Probandinnen. Fast alle Beispiele wurden im Süden positiver bewertet; einzige Ausnahme waren die Adverbialklammern (da haben wir doch eben schon einiges zu gesagt; ich kann mir da wirklich nichts drunter vorstellen), was sich dadurch erklären lässt, dass die Konstruktion historisch im Norden entstanden und dort nach wie vor verbreiteter ist, auch wenn sie sich heute im ganzen Bundesgebiet ausbreitet.53 53 | Im Süden waren anteilsmäßig mehr Lehrer, im Norden anteilsmäßig weniger Lehrer beteiligt. Dies kann jedoch die größere Akzeptanz für einige Phänomene im Süden nicht erklären, da wir durch eine Regressionsanalyse ermitteln können, dass beide Prädiktoren (Lehrersein und Wohnort) hier signifikant werden.

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In der französischen Umfrage zeigten sich dagegen keinerlei regionale Unterschiede, was sich zu einem großen Anteil aus der in Abschnitt 3 skizzierten Geschichte der französischen Sprachpolitik und der zentralistischen Sprachnormierung erklären lässt, die sich in Frankreich von Anfang an auch auf das Mündliche erstreckte.

6. F A ZIT Die theoretischen Ausführungen in Abschnitt 2 sollten zeigen, wie eng Norm und Regel zusammenhängen, und dass beide ihre Basis in kulturellen Praktiken haben, die stets normative Aspekte aufweisen, deren Explizitheit allerdings stark variiert. Viele Regeln und Normen werden auch rein unterschwellig befolgt, lassen sich aber durch eine Analyse der Praktiken jeweils explizit machen.54 Aus dieser Argumentation ergab sich, dass einerseits zwischen Regel/Norm und Regularität/Normalität, andererseits zwischen impliziten und expliziten Normen/Regeln zu unterscheiden ist. Die Ausführungen sollten zudem klarmachen, warum Normorientierung eine relevante linguistische Kategorie ist. Gegen den reinen Deskriptivismus vieler Linguisten führen wir ins Feld, dass es für das Verstehen sprachlicher Kommunikation und sprachlichen Wandels von essentieller Bedeutung ist, die implizite und explizite Normorientierung von Sprecherinnen zu erforschen. Wie unsere Online-Umfrage gezeigt hat, spielt hierbei das written language bias eine wichtige Rolle: Bei der Beurteilung von Sprache – gerade in karriererelevanten Situationen – orientieren Sprecherinnen und Sprecher sich an den Normen des geschriebenen Standards bzw. an dem, was sie dafür halten. In unserer Umfrage wurde dies z.B. daran deutlich, dass die Konstruktion weil mit Verbzeitstellung nur als mittelmäßig akzeptabel bewertet wurde, obwohl sie auch in formelleren, öffentlichen, überregionalen Kontexten weit verbreitet ist. Besonders negativ beurteilt wurden Strukturen, die sich ad hoc aus der mündlichen Interaktion ergeben, etwa Expansionen/Nachträge, Numerus-Inkongruenzen sowie Abfolgen von Syntagmen, die in der geschriebenen Standardsprache nicht normgerecht sind. Auch dies spricht für die Wirksamkeit des written language bias, denn gerade solche Konstruktionen sind zu einem großen Teil der Echtzeitprozessierung spontaner Mündlichkeit geschuldet. Im deutsch-französischen Vergleich zeigte sich, dass die französischen Probandinnen sich weniger Sorgen um den Niedergang ihrer Sprache machen als die deutschen, dass sie stärker auf ihre Ausdrucksweise achten und öfter Nachschlagewerke zu Rate ziehen. Die Bejahung der Sprachverfallsthese kor-

54 | Vgl. hierzu R.B. Brandom: Expressive Vernunft, Kap. 1.

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reliert in beiden Ländern sowohl bei Lehrkräften, als auch bei anderen Berufsgruppen mit einer Ablehnung der gesprochensprachlichen Konstruktionen als unangemessen. Desweiteren zeigte sich vor allem bei der deutschen, zum Teil auch bei der französischen Umfrage, dass die beteiligten Lehrkräfte gesprochensprachliche Syntax-Konstruktionen tendenziell liberaler bewerten als Nicht-Lehrkräfte. Optimistisch interpretiert, könnte dies bedeuten, dass Lehrkräfte mehr Wissen über Unterschiede zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit haben und daher die Medialität bei der Bewertung einbeziehen. Jedenfalls sollte das Wissen über sprachliche Varianz und Medialität in der Lehrerausbildung gestärkt werden. Hierzu kann die Linguistik auch beitragen, indem sie sich an einer realitätsnahen Grammatikschreibung beteiligt, deren Produkte (Wörterbücher, Grammatiken, didaktische Materialien, …) auch für die Schule Anwendung finden können. Die Diskrepanz zwischen Normberufung und tatsächlichem Sprachgebrauch kann dadurch abgemildert werden, dass die Grammatikschreibung durchgängig auf empirisch-linguistischer Basis erfolgt und ihre Ergebnisse bei der Vermittlung sprachlicher ›Richtigkeit‹ und auch beim Korrekturverhalten zugrunde gelegt werden. Nicht die Sprachrealität soll sich an die Kodizes anpassen, sondern umgekehrt. Allerdings müssen auch empirisch fundierte Kodizes die Domänenspezifik und die Relevanz von Standardvarietäten berücksichtigen: Nicht in jeder Situation ist jede Ausdrucksweise angemessen; vielmehr ist es auch Aufgabe der Linguistik, die besondere Rolle von Standardvarietäten des Geschriebenen und auch des Gesprochenen im Hinblick auf sprachliche Normfragen zu reflektieren und hervorzuheben. Auf diese Weise kann eine ›schwache Normativität‹, die sich von Beliebigkeit aber auch von dogmatischer Präskription klar unterscheidet, durchgesetzt werden.

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Zur Hybridisierung sprachnormativer Modelle in der Frankophonie – Neue »bons usages« vs. »français international«1 Bernhard Pöll

V ORÜBERLEGUNGEN Der Begriff der Hybridisierung – im Französischen spricht man von métissage oder hybridisation – erfreut sich seit einiger Zeit auch in der Linguistik zunehmender Beliebtheit. Das eigentlich aus der Biologie bzw. der Genetik stammende Konzept, das den Prozess der Kreuzung zwischen tierischen oder pflanzlichen Individuen unterschiedlicher Gattungen, Unterarten, Zuchtlinien etc. bezeichnet, erfuhr bei der Übernahme in die Linguistik einen Prozess der Metaphorisierung2 und kann heute auf zwei sehr unterschiedliche Phänomene verweisen. Zum einen ist damit in der Morphologie bzw. Wortbildungslehre die Kreuzung von Wörtern durch lautliche Zusammenziehung gemeint – man denke an Wörter wie Teuro, jein oder Brexit –, zum anderen dient es zur Bezeichnung unter1 | Der vorliegende Beitrag stellt die übersetzte, aktualisierte sowie für den aktuellen Sammelband angepasste Fassung eines im Jahre 2006 an der Universität Odense (Dänemark) gehaltenen Vortrags dar. Vgl. Pöll, Bernhard: »Le métissage des modèles normatifs. Les bons usages francophones et l’ascendant du ›français international‹«, in: Odense Working Papers in Language and Communication 28 (2007), S. 31-44 (online: http://www.sdu.dk/~/media/Files/Om_SDU/Institutter/ISK/Forskningspublikationer/OWPLC/Nr28.ashx). 2 | Die Linguistik verwandelt sich gerne Termini anderer Disziplinen an, wobei nicht nur die Biologie (z.B. Substrat, verstanden als ›Sprache eines eroberten Volkes, das zugunsten jener des erobernden Volkes aufgegeben wird‹) als Spenderin fungiert hat, sondern z.B. auch die Meteorologie (z.B. Isoglosse ›Grenzlinien auf Sprachkarten‹; Analogiebildung zu Isobare, Isotherme etc.), die Optik (z.B. Kontrast), die Chemie (z.B. Valenz, umgedeutet als ›Bindungsfähigkeit von Verben‹) und sogar die Raumfahrt (z.B. probe ›Sonde‹, Konzept der Generativen Grammatik minimalistischer Prägung).

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schiedlicher Formen von Sprachmischungsphänomenen, wie z.B. Kreolisierung, Code-switching3 oder die Entstehung von echten, d.h. stabilen Mischsprachen.4 Im Unterschied zu Chromosomen oder Genen – und auch zu sprachlichen Fakten im engeren Sinn – erschließen sich Einstellungen qua mentale Konstrukte dem Forscher nur auf indirektem Wege. In diesem Kontext von Hybridisierung zu sprechen, bedeutet folglich, dass dieses Konzept eine zusätzliche Erweiterung bzw. Metaphorisierung erfährt. Im Folgenden werden wir mehrere Phänomene der Ausdifferenzierung von Sprachnormen in der Frankophonie beleuchten und dabei auch der Frage nachgehen, inwieweit das Konzept Hybridisierung für ein besseres Verständnis der zu beobachtenden Prozesse nutzbar gemacht werden kann. Das Hauptaugenmerk wird dabei auf zwei Sprachsituationen liegen: dem französischsprachigen Belgien und Québec.

Z UR T YPOLOGIE VON SPR ACHLICHEN N ORMEN In der Laienperspektive werden sprachliche Normen üblicherweise mit den sog. präskriptiven Normen gleichgesetzt, d.h. jenen Vorschreibungen, Regeln oder Prinzipien, wie wir sie in Referenzwerken (Definitionswörterbüchern, Grammatiken, Aussprachewörterbüchern, Stilfibeln, Schulbüchern etc.) festgeschrieben finden. Davon abgesehen muss aber auch eine rekurrente und stabile Praxis des Sprachgebrauchs, die sich innerhalb einer Sprachgemeinschaft herauskristallisiert, als ein Typ von Norm aufgefasst werden. Man spricht in diesem Zusammenhang im Deutschen oft von der Gebrauchsnorm, im Französischen von norme objective oder statistique (›objektive Norm‹, ›statistische Norm‹).

3 | Als Beispiele könnte man den entweder zwischen Gesprächsturns oder innerhalb eines Gesprächsturns stattfindenden Wechsel von Englisch zu Spanisch (und umgekehrt) bei Hispanics in den USA, von Arabisch zu Französisch (und umgekehrt) in den Maghreb-Staaten oder von Englisch und Französisch (und umgekehrt) in der kanadischen Provinz Neu-Braunschweig anführen. 4 | Beispiele aus der französischsprachigen Welt dafür wären das völlig stabilisierte Michif (noch von einigen Tausend Sprechern verwendete, aus Cree und Französisch bestehende Mischsprache im Westen Kanadas) oder das Tendenzen zur Stabilisierung aufweisende Chiac (Code-mixing auf Basis von Englisch und Französisch in Neu-Braunschweig), vgl. Pöll, Bernhard: »Formes d’hybridation et typologie des normes linguistiques: quel rapport? Le chiac et le mitchif en comparaison«, in: Bernhard Pöll/Elmar Schafroth (Hg.), Normes et hybridation linguistiques en francophonie. Actes de la section 6 du Congrès de l’Association des francoromanistes allemands, Augsbourg 24-26 septembre 2008 (Coll. Espaces discursifs), Paris: L’Harmattan 2009, S. 183-201.

Zur Hybridisierung sprachnormativer Modelle in der Frankophonie

Interessant ist hier insbesondere die Frage, inwieweit sich diese beiden Typen von Normen durch einen unterschiedlichen Grad der Verbindlichkeit unterscheiden (vgl. zum Umstand, dass nicht jede Regel – als eine der möglichen Erscheinungsformen des Konzepts Verbindlichkeit – expliziert ist, Bermes, in diesem Band). Zwar ist es nicht ausgeschlossen, sich als Normsubjekt auf die Gebrauchsnorm zu berufen, dies ist jedoch deutlich schwieriger als im Falle von präskriptiven Normen, impliziert es doch, dass sich das sprachhandelnde Individuum zumindest punktuell zur Normautorität erhebt und seiner u.U. sehr spezifischen Praxis allgemein(gültig)en Charakter verleiht, um für sich selbst normorientiertes Handeln in Anspruch zu nehmen oder sogar von anderen einzufordern (vgl. zur Dichotomie Normkonformität vs. Normorientierung Diao-Klaeger/Schneider, in diesem Band). Hingegen ist es – wie angedeutet – leicht, im Falle eines Normkonflikts auf die präskriptiven Normen zu verweisen, auch wenn es vorkommen kann, dass über die Gültigkeit einzelner präskriptiver Normen kein allgemeiner Konsens innerhalb einer Sprachgemeinschaft herrscht. Dass auch Gebrauchsnormen bis zu einem gewissen Ausmaß präskriptiven Charakter haben, lässt sich jedoch nicht bestreiten, da für sie das gleiche gilt wie für die i.e.S. präskriptiven Normen: Das Abweichen von ihnen kann Sanktionen durch die anderen Sprachteilnehmer nach sich ziehen. Das Verhältnis zwischen Gebrauchs- und präskriptiven Normen in einer Sprachgemeinschaft lässt sich bis zu einem gewissen Grad auch mit den verschiedenen Regeln vergleichen, die andere kulturelle Praxen bestimmen, etwa jenen, die in Spielen herrschen (cf. Bermes, in diesem Band). So sind beim Schach bestimmte Züge, etwa der Rösselsprung, genau festgelegt und entsprächen so einer präskriptiven Norm; andere wiederum hätten den Charakter von Gebrauchsnormen, z.B. das (unausgesprochene) »Gebot«, bei Spielbeginn den weißen Bauern nicht von D2 nach D3 oder D4 zu bewegen.5 5 | Es sei nicht verschwiegen, dass solche Analogien zwischen semiotischen Systemen bzw. kulturellen Praxen oft problematisch sind. Im konkreten Fall gibt es zumindest zwei Schwachstellen: Zum einen sind Agôn-Spiele durch ein wettbewerbsorientiertes Handeln der Interaktionspartner gekennzeichnet, was auf sprachliches Interagieren im Idealfall der Beachtung des Grice’schen Kooperationsprinzips nicht zutrifft; zum anderen ließe sich der Unterschied zwischen dem Rösselsprung und dem Zug des weißen Bauern von D2 nach D3/D4 auch durch die Dichotomie langue/parole fassen: Beide Züge sind virtuelle Möglichkeiten des Systems Schach (langue), die in unterschiedlicher Häufigkeit von Spielern realisiert werden (parole). Diese beiden Auffassungsmöglichkeiten führen wieder zurück zur Sprache und zum Verhältnis von (präskriptiver) Norm und System, auf das wir hier nicht weiter eingehen wollen. Sie zeigen zudem auch deutlich die unterschiedliche Verfasstheit semiotischer Systeme/kultureller Praxen auf. Vgl. zum Begriff der Agôn-Spiele Caillois, Roger: Les jeux et les hommes. Le masque et le vertige, Paris: Gallimard 1958.

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Neben den Gebrauchs- und den präskriptiven Normen lässt sich noch ein dritter Typ erkennen: jene vielleicht weniger das konkrete Sprachverhalten als vielmehr die Bewertung von sprachlichen Äußerungen beeinflussenden Vorstellungen der Sprecher über das Richtige, Schöne und Adäquate in ihrer Sprache. Dieser Normtyp, den man in der französischen Sprachnormenforschung als normes subjectives oder fantasmées bezeichnet, deckt sich oft, jedoch nicht immer, mit den präskriptiven Normen.6 In der französischsprachigen Welt haben die Expansion und die massive Präsenz einer starken präskriptiven Norm, die im symbolischen Zentrum der Sprachgemeinschaft (Paris) definiert wurde, in unterschiedlichen Teilen der Frankophonie – und zu je unterschiedlichen Zeiten – bewirkt, dass sich »periphere« Sprachteilnehmer der Unterschiede zwischen ihren eigenen Gebrauchsnormen und jenen der dominanten Trägerschicht, deren Sprachgebrauch die Grundlage für die präskriptive Norm bildet, bewusst geworden sind. Diese Opposition lässt sich mit den Begriffen endogene vs. exogene Norm gut fassen. Ursprünglich im Kontext des Französischen im subsaharischen Afrika entwickelt,7 wird das Konzept heute generell überall im französischsprachigen Raum verwendet, wo es zu Konflikten zwischen der traditionell dominanten hexagonalfranzösischen und anderen Normen kommt.8 Dabei kann der Begriff endogene Norm nicht nur für Gebrauchsnormen (qua rekurrente und unmarkierte Praxis), sondern auch für subjektive Normen (bewusste Vorstellungen vom Guten, Schönen, Richtigen, Adäquaten) und auch für kodifizierte Normen stehen, die von der zentralen Norm abweichen.9 6 | Zur vorgestellten Typologie und den Funktionsweisen der unterschiedlichen Normtypen cf. insbesondere die Artikel »Norme«, »Typologies des normes« und »Norme endogène« in: Moreau, Marie-Louise (Hg.): Sociolinguistique. Concepts de base, Sprimont: Mardaga 1997. 7 | Vgl. dazu insbesondere Manessy, Gabriel et al.: »Norme endogène et normes pédagogiques en Afrique noire francophone«, in: Daniel Baggioni et al. (Hg.), Multilinguisme et développement dans l’espace francophone, Paris: Didier-Erudition 1992, S. 43-81, und Manessy, Gabriel: »Norme endogène«, in: Marie-Louise Moreau (Hg.), Sociolinguistique. Concepts de base, Bruxelles: Mardaa 1997, S. 223-225. 8 | Vgl. Pöll, Bernhard: »Normes endogènes, variétés de prestige et pluralité normative en francophonie«, in: Ursula Reutner (Hg.), Manuel des francophonies, Berlin: de Gruyter 2017, S. 65-86. 9 | Zu Normenkonflikten dieser Art ist es bislang nur in Québec gekommen, wo seit den späten 1980er Jahren in insgesamt drei nicht-differenziellen Wörterbüchern versucht wurde, die endogenen (Gebrauchs-)Normen des Quebecker Wortschatzes zu explizieren. Vgl. dazu den Abschnitt über Québec in diesem Beitrag sowie speziell zu den Auseinandersetzungen, die diese Wörterbücher hervorgerufen haben Pöll, Bernhard: »Internationalisants contre aménagistes. Petit essai d’analyse d’une guerre d’idéolo-

Zur Hybridisierung sprachnormativer Modelle in der Frankophonie

Der unterschiedliche Status, der endogenen Normen im Verhältnis zu einer exogenen Norm zukommt, wird bei der Beschreibung von Sprachsituationen in der Frankophonie nicht immer deutlich gemacht. Ein Ausschnitt aus dem Vorwort des Nouveau Petit Robert, eines der bekanntesten und einflussreichsten Definitionswörterbücher des Französischen, legt davon ein beredtes Zeugnis ab: »Le ›Nouveau Petit Robert‹, bien qu’il décrive fondamentalement une norme du français de France, inclut certains régionalismes de France et d’ailleurs, pour souligner qu’il existe plusieurs ›bons usages‹, définis non par un décret venu de Paris, mais par autant de réglages spontanés ou de décisions collectives qu’il existe de communautés vivant leur identité en français (meine Hervorhebungen).«10

Was man hier beobachten kann, ist das Herstellen einer vermeintlichen Gleichwertigkeit, die einer genaueren Analyse nicht standhält: Der traditionelle bon usage ist jener der Académie française, der in der Praxis stark normativ wirkenden Definitionswörterbücher wie Petit Larousse und Petit Robert, der Grammatik von Grevisse usw., d.h. es handelt sich um eine Norm, deren Fixierung im 17. Jahrhundert begonnen hat und die eine feste Verwurzelung in der Sprachgemeinschaft hat, auch wenn sie immer wieder wegen ihres stark elitären Charakters in Frage gestellt wird. Die anderen bons usages sind hingegen endogene Normen, die Gebrauchsnormen und – da sie in manchen Fällen für die sprachliche Identität emblematischen Charakter haben – subjektive Normen sind. Sie stehen in permanenter Konkurrenz zur kodifizierten exogenen Norm, sind praktisch nicht kodifiziert, und hinter ihnen steht kein institutioneller Apparat, der ihnen zu einer mit der traditionellen hexagonalen Norm vergleichbaren Diffusion verhelfen könnte.

gies linguistiques«, in: Beatrice Bagola/Hans-J. Niederehe (Hg.), Français du Canada – français de France VIII. Actes du huitième Colloque international de Trèves, du 12 au 15 avril 2007 (= Canadiana Romanica, Band 23), Tübingen: Niemeyer 2009, S. 71-80. 10 | Vgl. Le Nouveau Petit Robert. Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française. Nouvelle éd. remaniée et amplifiée sous la dir. de Josette Rey-Debove et Alain Rey, Paris: Dictionnaires Le Robert 1993, S. 14. Übersetzung: »Obwohl der Nouveau Petit Robert in erster Linie die Norm des Französischen in Frankreich beschreibt, werden sowohl französische Regionalismen als auch solche aus anderen Gebieten verzeichnet. Damit wird unterstrichen, dass es mehrere bons usages gibt, die nicht durch ein Dekret aus Paris definiert werden, sondern durch so viele spontane Regulierungsprozesse und kollektive Entscheidungen wie es Sprachgemeinschaften gibt, die ihre Identität auf Französisch leben«.

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Während sich für Sprecher des Französischen in Frankreich die Vorstellungen vom »guten«, korrekten Sprachgebrauch in den erwähnten Normautoritäten bzw. den offiziellen Kodizes spiegeln, gibt es für periphere Sprecher häufig ein Spannungsverhältnis zwischen dem, was sie als normal und unmarkiert empfinden, und den offiziellen, von außerhalb kommenden Referenzwerken. U.a. darin liegt die Ursache für die Sprachkomplexe, unter denen viele periphere Französischsprecher leiden. Dieser Befund führt uns direkt zur Situation des Französischen in Belgien.

D AS FR ANKOPHONE B ELGIEN : VON DER S TIGMATISIERUNG ZUR EIGENEN P RESTIGE VARIE TÄT ? Wie auch anderswo in der europäischen Frankophonie hat die Expansion des Französischen als gesprochene Gemeinsprache im 19. Jahrhundert zur Herausbildung von Zwischenformen zwischen den Dialekten und dem Standard geführt. Lange Zeit als verderbte Varietäten angesehen, stellten diese sog. français régionaux das Hauptziel eines am hexagonalen Sprachgebrauch orientierten Purismus dar, der tief verwurzelte Sprachkomplexe hervorgerufen hat. In diesem Zusammenhang sei auf die berühmt gewordene Aussage der belgischen Parlamentsabgeordneten Antoinette Spaak erinnert, die im Jahre 1975 im Zusammenhang mit der Verabschiedung eines Dekrets zum Schutze des Französischen davon sprach, dass die Belgier »natürlicherweise« weniger gut sprechen würden als die Franzosen.11 Der erwähnte Purismus kulminierte in den 1970er Jahren in der Publikation zahlreicher Antibarbari, von denen die Chasse aux belgicismes 12 das bekannteste Werk ist. Innerhalb von wenigen Monaten nach seinem Erscheinen im Jahre 1971 entwickelte es sich zu einem veritablen Bestseller. In jüngerer Zeit scheint sich jedoch eine gewisse Trendumkehr abzuzeichnen: 1. Ein 23 Jahre nach der Chasse erschienenes Regionalismenwörterbuch – Belgicismes. Inventaire des particularités lexicales du français de Belgique 13 – schreibt den verzeichneten Wörtern global äußerst positive Eigenschaften zu, würden sie doch »au-delà des réalités et des sentiments présents, le goût du passé, le

11 | Originalzitat: »Nous parlons naturellement moins bien que les Français«. 12 | Hanse, Joseph/Bourgeois-Gielen, Hélène/Doppagne, Albert: Chasse aux belgicismes, Bruxelles: Plisnier 1985. 13 | Bal, Willy/Doppagne et al.: Belgicismes. Inventaire des particularités lexicales du français en Belgique, Louvain: Duculot 1994.

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bonheur de l’enfance, les souvenirs d’étudiants, le plaisir des mots oubliés et retrouvés […]«14 ausdrücken. 2. Ab den 1990er Jahren haben die für Sprachpolitik verantwortlichen Institutionen in Wallonien,15 der Conseil supérieur de la langue française und das Service de la langue française, begonnen, sprachplanerische Maßnahmen im Sinne eines »corpus planning« zu ergreifen. Ungeachtet der Kritik der Académie française hat man im frankophonen Belgien einen eigenen Weg eingeschlagen, etwa im Bereich der Feminisierung von Berufsbezeichungen u.ä. sowie hinsichtlich der Anwendung der Orthographiereform von 1990.16 Auch im Bereich der Fachterminologien hat Belgien eigene Akzente gesetzt. Trotz der Zusammenarbeit mit den französischen Commissions ministérielles de terminologie wurden unter Berücksichtigung der eigenen Gebrauchsnormen eine Reihe von Termini offizialisiert und damit Unterschiede zum franko-französischen Gebrauch festgeschrieben. Eine solche Aufwertung eigener Lexik/Terminologie beschränkt sich dabei nicht auf Fachtermini i.e.S., sondern betrifft auch den Grenzbereich zwischen Fach- und Gemeinsprache. So wurden nicht nur Termini als offiziell erklärt, von denen in Frankreich abgeraten wird (Belgien: didacticiel ›Lernsoftware‹ vs. Frankreich: logiciel pédagogique; B: parrain vs. F: parraineur ›Sponsor‹), sondern man hat auch gängige Begriffe wie année académique ›Universitätsjahr‹ (vs. F: année universitaire), minerval ›Schulgeld‹ (vs. F: frais de scolarité), latte ›Querlatte (Fußball)‹ (vs. F: barre transversale) oder maison de repos ›Altersheim‹ (vs. F: maison de retraite) als die korrekten Bezeichnungen festgelegt. 3. Schließlich zeigt auch eine vergleichende Lektüre der seit den 1980er Jahren in Belgien durchgeführten Spracheinstellungsstudien, dass es zu einer Aufwertung der Merkmale des eigenen Französisch gekommen ist. Zwar weist die Mehrheit der Studien, beginnend mit den Arbeiten von Dominique Lafontaine aus der zweiten Hälfte der 1980er Jahre bis zu Michel Francards Studie aus 14 | W. Bal et al., Belgicismes, 4. Umschlagseite. Übersetzung: »jenseits der gegenwärtigen Realitäten und Gefühle, die Erinnerung an die Vergangenheit, das Glück der Kindheit, Erinnerung an Studienzeiten, die Freude an den verlorenen und wiedergefundenen Wörtern […]«. 15 | Fr. Communauté française de Belgique: Es handelt sich dabei um die für Belange wie Bildung, Sprachenfragen, Gesundheitsversorgung etc. zuständige französischsprachige Gebietskörperschaft in Belgien. 16 | Diese Reform, die von Frankreich ausging, dort allerdings erst in den 2010er Jahren langsam umgesetzt wurde, haben die frankophonen Länder Belgien und Schweiz bereits früh implementiert bzw. den Sprachbenützern empfohlen.

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dem Jahre 1993, auf deutlich spürbare Sprachkomplexe hin, das Gesamtbild hat sich jedoch in jüngerer Zeit gewandelt.17 Zunächst fällt auf, dass es eine Divergenz zwischen spontanen Aussagen zum Prestige des belgischen Französisch gibt, das als dem hexagonalen Französisch als ebenbürtig gesehen wird, und reflektierteren Stellungnahmen. So hat z.B. ein Großteil der Probanden von Francard18 die Stereotypen hinsichtlich der höheren Qualität des hexagonalen Französisch abgelehnt oder die Idee zurückgewiesen, dass gut Französisch zu sprechen, bedeute, keinen Akzent zu haben. Letztlich erkannten die Sprecher aber dennoch das nicht aus dem eigenen Sprachgebiet stammende normative Modell als höherwertig an. Dabei fällt auf, dass die dem belgischen Französisch zugebilligte Legitimität je nach Kontext – oder um ein Bourdieu’sches Konzept zu verwenden – je nach sprachlichem Markt variiert. Was auf dem eingeschränkten, privaten Markt als Kapital Wert hat, wird auf dem öffentlichen Markt abgewertet. Im Resümee ihrer Studie hat Dominique Lafontaine es so formuliert: »[...] tel produit (par exemple, l’accent liégeois), proposé sur le marché officiel, sera déprécié ; le même produit, offert sur un marché restreint, privé (la famille, les amis, la région) se verra doté d’un prix parfois plus élevé que les produits hautement légitimes (l’accent parisien par exemple).«19

Eine der interessantesten Studien zum Prestige des belgischen Französisch, aus der Feder von Marie-Louise Moreau, Huguette Brichard und Claude Dupal, deutet ebenfalls darauf hin, dass die Zeiten der völligen Unterwerfung vorüber zu sein scheinen. Die Autorinnen konnten zeigen, dass sich die Amalgamierung der Kategorien belgisch und inkorrekt im Sprachbewusstsein auflöst und es eine spezielle Art von Belgizismen gibt: »il en est des ›nobles‹, qui échappent

17 | Vgl. Lafontaine, Dominique: Le parti pris des mots. Normes et attitudes linguistiques, Bruxelles: Mardaga, 1986, und Francard, Michel: »Trop proches pour ne pas être différents. Profils de l’insécurité linguistique dans la Communauté française de Belgique«, in: Cahiers de l’Institut de Linguistique de Louvain 19 (1993), S. 61-70. 18 | M. Francard: Trop proches. 19 | D. Lafontaine: Le parti pris, S. 133. Übersetzung: »[…] ein Produkt (z.B. der Akzent von Lüttich) wird – wenn man es auf dem offiziellen Markt anbietet – negativ bewertet; auf dem eingeschränkten, privaten Markt (Familie, Freunde, Region) angeboten, kann dasselbe Produkt sich manchmal eines höheren Preises erfreuen als die in höchstem Maße legitimen Produkte (z.B. der Pariser Akzent)«.

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à la stigmatisation: ceux qui prennent leur ancrage dans le groupe socioculturellement dominant.«20 Im Unterschied zum älteren puristischen Diskurs in Belgien, demzufolge die Gesamtheit der nicht-legitimen und daher zu bekämpfenden Sprachformen ausschließlich über ihrer diatopischen Markiertheit bestimmt war,21 regeln heute soziale Kriterien, d.h. die Diastratik, die Hierarchisierung der Varianten im Hinblick auf ihre Legitimität. Diese Tendenz war schon in der oben erwähnten Studie von Lafontaine zu beobachten gewesen: So konnte die Autorin zeigen, dass im Fokus des muttersprachlichen Französischunterrichts in Belgien nicht die regionale Variation stand, sondern jene »Abweichungen«, die diastratisch markiert sind.22 Was in der Studie von Moreau, Brichard und Dupal für den Wortschatz gezeigt werden konnte, gilt auch für die Aussprache: In dem mit »Aimeriez-vous avoir un fils qui parle comme ça?«23 überschriebenen Abschnitt ihrer Untersuchung, in dem es um die Bewertung von Aufnahmen ging, zeigte sich ein deutlicher Unterschied zwischen den stark umgangssprachlichen Varietäten, die vehement abgelehnt wurden, und den »gepflegten« Aussprachevarianten, die sehr positiv evaluiert wurden. Das geographische Kriterium war nur auf einer nachgelagerten Ebene relevant, und hier schnitt die gepflegte, als belgisch erkennbare Aussprache sogar besser ab als die hexagonale.24 Dies weist darauf hin, dass der normative Maßstab innerhalb der eigenen Teilsprachgemeinschaft verortet ist, d.h. man kommt langsam zu einer »gesünderen« Prestigelage für die Varietäten, was der Übergang von (1) zu (2) im folgenden Schema verdeutlicht:

20 | Moreau, Marie-Louise/Brichard, Huguette/Dupal, Claude: Les Belges et la norme. Analyse d’un complexe linguistique, Bruxelles: Communauté française de Belgique/Duculot 1999, S. 10. Übersetzung: »Es gibt ›edle‹, die der Stigmatisierung entgehen; dabei handelt es sich um jene, die in der sozio-kulturell dominanten Gruppe verankert sind«. 21 | Vgl. Klinkenberg, Jean-Marie: »La crise des langues en Belgique«, in: Maurais, Jacques (Hg.), La crise des langues, Québec/Paris: CLF/Robert 1985, S. 93-145, hier S. 108. 22 | Vgl. D. Lafontaine: Le parti pris. 23 | Übersetzung: »Würden Sie gerne einen Sohn haben, der so spricht?«. 24 | Vgl. M. Moreau/H. Brichard/C. Dupal: Les Belges, S. 32.

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(1) unkorrekter Sprachgebrauch = belgischer Sprachgebrauch = Umgangssprache prestigeträchtiger Sprachgebrauch = Sprachgebrauch der Franzosen Ø (2) stigmatisierter Sprachgebrauch = Umgangssprache (belgisch oder hexagonalfranzösisch) prestigeträchtiger Sprachgebrauch = Sprachgebrauch der soziokulturellen Eliten (in Belgien oder in Frankreich)25 Für das französischsprachige Belgien gilt heute zweifellos, dass den Bildungsschichten angehörende Sprecher nicht mehr um jeden Preis versuchen, ihre typischen Aussprachemerkmale zu unterdrücken.26

Q UÉBEC : VOM » LOUSY F RENCH « ZUM » FR ANÇAIS STANDARD QUÉBÉCOIS «? Was Québec anlangt, bedarf es eines kurzen Rückblicks in die Geschichte: Der Frieden von Paris (1763), der den Verlust fast aller Besitzungen Frankreichs in Nordamerika besiegelte, bedeutete für das französischsprachige Kanada einen Bruch auf mehreren Ebenen und hatte auch für die Sprache schwerwiegende Folgen. Das politische und ökonomische Vakuum, das die Rückkehr eines großen Teils der Eliten nach Frankreich erzeugte, wurde sofort durch die Engländer gefüllt, was den ländlichen Charakter der nordamerikanischen Frankophonie verstärkte. Unter der geistigen Schirmherrschaft des katholischen Klerus, der das Bildungsmonopol innehatte, wurde das Hauptaugenmerk auf die Bewahrung traditioneller Werte gelegt. Hinsichtlich der Erscheinungsformen des Französisch war eine Verstärkung der dialektalen Merkmale zu verzeichnen. Die Sozialstruktur und das Bildungssystem trugen dazu bei, dass dieses Französisch für alle einen impliziten Referenzcharakter bekam. Die französischsprachige Quebecker Literatur der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts legt davon Zeugnis ab: Sie spiegelt die weitgehend unbewussten Gebrauchsnormen wider, und es finden sich noch keinerlei typographische Hervorhebungen (Anführungsstriche, Kursivierung) von Kanadianismen. Erst mit dem Siegeszug

25 | Vgl. M. Moreau/H. Brichard/C. Dupal: Les Belges, S. 29f. (geringfügig adaptierte Darstellung). 26 | Vgl. Hambye, Philippe/Simon, Anne Catherine/Wilmet, Régine: »La Belgique«, in: Sylvain Detey et al. (Hg.), Les variétés du français parlé dans l’espace francophone. Ressources pour l’enseignement, Paris: Ophrys 2010, S. 201-209, hier S. 205.

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des franko-französischen Purismus beginnen die Autoren, die Merkmale ihres eigenen Sprachgebrauchs graphisch zu markieren.27 Die Bewusstwerdung der Unterschiede zum Sprachgebrauch in Frankreich vollzieht sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und findet ihren wichtigsten publikatorischen Ausdruck im Manuel des difficultés les plus communes de la langue française des Geistlichen Thomas Maguire aus dem Jahre 1841.28 Es handelt sich dabei um eine Fehlersammlung, die die lange Tradition von Antibarbari begründen sollte, die es in Québec gibt. Etwa ab dieser Zeit werden die Unterschiede des eigenen Sprachgebrauchs im Kontrast zu Frankreich systematisch negativ bewertet. Die stark rückwärtsgewandte gesamtgesellschaftliche Stimmung – Jean-Claude Corbeil spricht von einer »idéologie de conservation«29 – brachte aber auch Vorteile, bildete sie doch das gedankliche Substrat für eine vorsichtige Aufwertung spezifisch Quebecker Sprechweisen: Als sich zur Selbstverachtung auf sprachlicher Ebene die Vorurteile der Anglophonen gesellten, für die das Quebecker Französisch nichts anderes als eine verderbte Form des »guten« Französisch, ein sog. patois war, gab die Besinnung auf die traditionellen Werte und die Vergangenheit Anstoß zu philologischen Studien, die den klassischen und archaischeren Charakter des kanadischen Französisch hervorstrichen. In der Tat vertraten einige Autoren von Glossaren und Wörterbüchern (u.a. Oscar Dunn und Sylva Clapin, 1894)30 sehr wohl die Ansicht, dass nicht alles im gesprochenen Französisch in Kanada schlecht sei. Nebenbei sei bemerkt, dass der in der Überschrift dieses Abschnitts vorkommende Begriff »lousy French« nicht von Anglophonen geprägt wurde, auch wenn er sehr gut die Einstellungen der Anglo-Kanadier gegenüber dem Que27 | Vgl. Pöll, Bernhard: »Norme(s) linguistique(s) et langue d’écriture au Québec et dans les Caraïbes francophones«, in: Christopher F. Laferl/Bernhard Pöll (Hg.), Amerika und die Norm. Literatursprache als Modell?, Tübingen: Niemeyer 2007, S. 143-165. 28 | Maguire, Thomas: Manuel des difficultés les plus communes de la langue française, adapté au jeune âge et suivi d’un recueil de locutions vicieuses, Québec: Fréchette 1841. 29 | Corbeil, Jean-Claude: »Origine historique de la situation linguistique québécoise«, in: Langue française 31 (1976), S. 6-19, hier S. 9. 30 | Dunn, Oscar: Glossaire franco-canadien et vocabulaire de locutions vicieuses usitées au Canada, Québec: Imprimerie A. Côté et Cie. 1880; Clapin, Sylva: Dictionnaire canadien-français. Ou Lexique-glossaire des mots, expressions et locutions ne se trouvant pas dans les dictionnaires courants et dont l’usage appartient surtout aux Canadiens-Français avec de nombreuses citations ayant pour but d’établir les rapports existant avec le vieux français, l’ancien et le nouveau patois normand et saintongeais, l’anglais, et les dialectes des premiers aborigènes, Montréal: C. O. Beauchemin & fils 1894.

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becker Französisch zu manchen Zeiten widerspiegelt. Er stammt von Pierre Eliott Trudeau, der im Jahre 1968 damit in einem auf Englisch gegebenen Radio-Interview das Französisch seiner Landsleute charakterisierte. Das traditionelle franko-kanadische Sprachmodell sollte ab dem Ende des 19. Jahrhunderts zwei bedeutenden Einflussfaktoren ausgesetzt sein: 1. Durch eine rasch fortschreitende Urbanisierung und Industrialisierung kamen immer mehr Frankokanadier mit dem Englischen in Kontakt. 2. Dank der elektronischen Medien wurde die Kluft zwischen dem hexagonalen und dem Quebecker Französisch geringer. Im Laufe des 20. Jahrhunderts entstand langsam ein neues Normmodell für die gesprochene Distanzsprache, das von den meisten Quebeckern durch die Aussprache der annonceurs (›Sprecher‹; vs. hexagonales Französisch: speakers) des öffentlich-rechtlichen Radios und Fernsehens (CBC-Radio Canada) verkörpert gesehen wird. Die Bandbreite der Einstellungen zu den verschiedenen Varietäten des kanadischen Französisch am Beginn der sog. Révolution tranquille war und ist dennoch groß und von Spannungen gekennzeichnet: Während der traditionelle Sprachgebrauch im Zeitalter der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Modernisierung als inadäquat betrachtet wurde, wäre die vollständige Ausrichtung auf das hexagonale Sprachmodell, wie sie vom Office de la langue française in den 1960er Jahren gefordert wurde, darauf hinausgelaufen, ein Modell zu verordnen, in dem die Sprecher sich nicht selbst wiedererkennen konnten. Obwohl das stark vom Englischen affizierte umgangssprachliche Quebecker Französisch, das seit den späten 1960er Jahren als joual bezeichnet wurde, von den sozio-ökonomischen Eliten verdammt wurde, war es jedoch gerade diese Varietät, auf die eine neu aufkommende politische und literarische Strömung zurückgriff, um die doppelte sprachliche Entfremdung der Quebecker Frankophonen sichtbar zu machen. Diese Entfremdung erwuchs einerseits aus der allmächtigen anglophonen Mehrheitskultur und den daraus resultierenden sprachlichen Einflüssen auf das Französische und andererseits aus der symbolischen Präsenz des von außen kommenden hexagonal-französischen Sprachmodells, die als erdrückend empfunden wurde. Die Kontroversen, die die Präsenz des joual im Kulturleben (Theater, Chanson, Fernsehen) der 1960er/1970er Jahre auslöste, führten letztlich zur breit geteilten Überzeugung, dass zwei Extreme zu vermeiden seien: die Loslösung von der restlichen französischsprachigen Welt durch die Verbreitung und Aufwertung einer stark regional gefärbten Sprachform, aber gleichzeitig auch der Identitätsverlust, den die Übernahme des hexagonal-französischen Sprachmodells unweigerlich mit sich bringen würde. Vor diesem Hintergrund versteht man nicht nur die mehrfachen Rufe nach einem »français standard d’ici« (erstmals 1977 im Rahmen der Tagung

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des Quebecker Französischlehrerverbands), sondern auch die in den 1980er und 1990er Jahren unternommenen Anstrengungen, um diese Norm zu kodifizieren. In der Tat hat Québec innerhalb der Frankophonie dadurch eine Sonderstellung erreicht, dass in bis dato drei Wörterbüchern versucht wurde, die (Gebrauchs- und die subjektiven) Normen des Quebecker Französisch in kodifizierte Normen überzuführen und die innere qualitative Hierarchie des Wortschatzes zu beschreiben. Im Jahre 1988 erschien das Dictionnaire du français plus,31 vier Jahre später das Dictionnaire québécois d’aujourd’hui (DQA)32 und 2013 wurde das umfassende, korpusgestützte Wörterbuch Usito on line verfügbar gemacht. In der Überzeugung, dass das français québécois keine regionale, sondern eine nationale Varietät ist, die man so beschreiben kann, als wäre sie die einzige Varietät des Französischen,33 haben die Autoren der beiden ersten genannten Wörterbuch darauf verzichtet, für Québec typische Lexik mit entsprechenden Markierungen zu versehen. Umgekehrt wurde eine Markierungspraxis etabliert, die (angeblich) nicht zum Quebecker Wortschatz gehörende Lexeme auszeichnet, sog. francismes. So erschienen z.B. im DQA, das auch (von der Kritik als zu zahlreich empfundene) umgangssprachliche Audrücke sowie Anglizismen aufgenommen hat, die Wörter maquignon ›Rosstäuscher‹, marron ›braun‹ oder môme ›Kind, Fratz‹ mit der Markierung »France«, die signalisieren sollte, dass diese Wörter in Québec zwar bekannt sind, aber nicht verwendet werden. Andere waren mit der Markierung »surtout en France« (dt.: ›besonders in Frankreich‹) versehen, wie beispielsweise tapissier ›Tapezierer‹, toubib ›(umgsspr.:) Arzt‹ oder week-end ›Wochenende‹. Das Vorwort des 31 | Poirier, Claude/Beauchemin, Normand/Auger, Pierre: Dictionnaire du français plus, Montréal: Centre éducatif et culturel 1988. 32 | Boulanger, Jean-Claude/De Bessé, Bruno/Dugas, Jean-Yves: Dictionnaire québécois d’aujourd’hui, Montréal: Dicorobert 1992. 33 | Damit wurde eine Anregung aufgenommen, die F.J. Hausmann im Jahre 1986 gemacht hatte: »Chacune des communautés linguistiques nationales est en droit de considérer toutes les autres variantes nationales comme des variantes extérieures. [...] Les Français considèrent naturellement le québécois comme une variante extérieure de leur langue. Mais pourquoi les Québécois ne considéreraient-ils pas à leur tour le français de France comme une variante extérieure de leur langue?« (Hausmann, Franz Josef: »Les dictionnaires du français hors de France«, in: Lionel Boisvert/Claude Poirier/Claude Verreault [Hg.], Lexicographie québécoise. Bilan et perspectives. Québec: Presses de l’Université Laval 1986, S. 3-21, hier S. 5; Kursivierung im Original). Übersetzung: »Jede nationale Sprachgemeinschaft hat das Recht, alle anderen nationalen Varietäten als extern zu betrachten. […] Die Franzosen betrachten natürlicherweise das Quebecker Französisch als externe Varietät ihrer Sprache. Warum sollten also im Gegenzug nicht auch die Quebecker das hexagonale Französisch als externe Varietät ihrer Sprache betrachten?«.

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Wörterbuchs klärt den Leser über die Bedeutung der genannten Markierungen auf: »Cette expression sert à noter qu’un mot est usuel en France tout en ayant une certaine fréquence active au Québec, le plus souvent d’ailleurs dans le registre soutenu [...].«34 Die Vorgangsweise der beiden genannten Wörterbücher – Verzicht auf die Markierung von spezifisch Quebecker Lexik, Berücksichtigung von umgangssprachlichem Wortschatz und von Anglizismen, Markierung von Französismen – führte zu heftiger öffentlicher Kritik und sich über Monate hinziehende Polemiken in den Quebecker Medien. Das DQA konnte deshalb auch kein Schulwörterbuch werden und verschwand rasch wieder aus den Buchhandlungen. Manche Beobachter haben in diesem Misserfolg ein zusätzliches Indiz dafür gesehen, dass der Gedanke eines eigenen Standards bzw. einer eigenen Standardnorm eine Fiktion ist. Es gibt jedoch Argumente zugunsten eines eigenen Normmodells, das den Sprachgebrauch der Quebecker (mit)bestimmt. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass die Quebecker Bevölkerung Aussagen wie »Le français québécois est moins beau que le français de France« , »Je souhaiterais parler comme les Français« oder »On devrait utiliser des dictionnaires faits uniquement par les Français«35 deutlich ablehnt. Da diese Form der ablehnenden Haltung aber auch immer der Ausdruck einer gewissen Loyalität gegenüber der sprachlichen »in group« sein kann, dürfen solche Ergebnisse nicht isoliert betrachtet werden, und Spracheinstellungsstudien, die die Probanden mit sprachlichem Material konfrontieren, erweisen sich in der Regel als deutlich verlässlicher. So zeigte eine Studie von Annette Paquot im Jahre 1988, dass Quebecker Sprecher ihre eigenen Varianten deutlich weniger stark abwerten als andere »periphere« Frankophone.36

34 | J-C. Boulanger/B. De Bessé/J-Y. Dugas: Dictionnaire, 1992, S. XXI. Übersetzung: »Dieser Ausdruck weist darauf hin, dass ein Wort in Frankreich üblich ist, aber auch eine gewisse Frequenz im aktiven Sprachgebrauch in Québec aufweist, meist im gehobenen Register«. 35 | Vgl. Bouchard, Pierre/Maurais, Jacques: »La norme et l’école. L’opinion des Québécois«, in: Terminogramme 91/92 (1999), S. 91-116. Übersetzungen: »Das Quebecker Französisch ist weniger schön als jenes von Frankreich.« »Ich würde gerne so sprechen wie die Franzosen.« »Man sollte nur von Franzosen gemachte Wörterbücher verwenden«. 36 | Paquot, Annette: Les Québécois et leurs mots. Étude sémiologique et sociolinguistique des régionalismes lexicaux au Québec, Québec: Presses de l’Université Laval 1988.

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Hinzu kommt, dass einige phonetische Varianten als neutral angesehen werden und andere sogar emblematischen Wert haben.37 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass das Postulat der Existenz mehrerer »bons usages« durchaus gerechtfertigt erscheint. Es stellt sich jedoch – wie eingangs formuliert – die Frage, wie diese Normen interagieren und inwiefern das Konzept der Hybridisierung von heuristischem Wert sein kann.

U NSCHARFE R ÄNDER , H YBRIDISIERUNG , S UPR ANORM UND DAS » FR ANÇAIS INTERNATIONAL« Seit sich die Soziolinguistik im Bereich des Französischen intensiver mit regionalen Normen in der Frankophonie auseinandersetzt, d.h. seit den frühen 1990er Jahren, sind verschiedene Modellierungen für das sprachnormative Kräftefeld vorgeschlagen worden. Die Bandbreite reicht von Modellen, die von der Existenz einer mit dem hexagonalen Standardfranzösischen identen Supranorm und einem Diglossieverhältnis zwischen dieser und den regionalen Normen ausgehen38 bis zum Postulat, dass sich die Frankophonie in sprachnormativer Hinsicht als Konglomerat von nationalen Normen fassen lässt. Diese beiden Extrempositionen verkennen zweifelsfrei das tatsächlich in der Frankophonie herrschende Normklima: 1. Jene, die von einer auf dem zentralen Sprachgebrauch basierenden Supranorm ausgehen, berücksichtigen nicht ausreichend, dass das Sprachverhalten frankophoner Sprecher in vielen Situationen, auch sehr formellen, z.T. von einem eigenen Normmodell gesteuert wird. 2. Die andere Position, die implizit von der sprachpolitischen Idealvorstellung ausgeht, dass es in Sprachgemeinschaften keine insécurité linguistique (Sprachkomplexe) geben soll, überschätzt die Wirkung der endogenen Normen. Auch wenn der traditionelle »bon usage« nicht immer die konkrete Sprachpraxis bestimmt, sind die Spracheinstellungen immer durch seine symbolische Omnipräsenz beeinflusst.

37 | Vgl. B. Pöll: Normes endogènes und die darin enthaltenen weiterführenden Hinweise. 38 | Vgl. z.B. Robillard, Didier de: »Normalisation de la régionalité/régionalisation de la norme«, in: Daniel Baggioni (Hg.), Encyclopédies et dictionnaires français. Problèmes de norme(s) et de nomenclature (=Langues et langages, No. 3/1993), Aix-en-Provence: Univ. de Provence 1993, S. 141-173.

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Um nun die Beziehungen zwischen endogenen Normen und der exogenen Norm besser fassen zu können, schlagen wir eine Definition von Standardsprache bzw. -varietät vor, die zunächst den Bezug zum Konzept nationale Varietät vermeidet und damit der heiklen Frage nach der Autonomie von Varietäten und den quantitativen Unterschieden zur (einst) dominanten Varietät bewusst ausblendet. Ein endogener Standard soll definiert sein als die »modalités d’existence de la langue standard ou [la] forme spécifique qu’elle revêt dans une partie du domaine«, d.h. es handelt sich um »l’ensemble des ressources linguistiques mises en œuvre dans les situations où la collectivité l’impose par consensus.«39 Eine solche Auffassung führt u.a. zu einem besseren Verständnis einer der Grundcharakteristika von Situationen, in denen mehrere Normen präsent sind: Die Konkurrenz der Normvorstellungen führt dazu, dass es keinen breiten Konsens hinsichtlich des sprachlich Richtigen, Vorbildlichen und Guten gibt, sodass Spracheinstellungen in vielen Fällen überindividuell inkonsistent sind. Auch wenn er ein eigenes diaphasisches und diastratisches Kontinuum überdacht, hat ein nationaler Standard beträchtliche Randunschärfen. Dies erklärt sich aus seiner Genese, und hier könnte man durchaus von Hybridisierung sprechen, da Modelle sich mischen und Spracheinstellungen angepasst werden. Dabei können zwei Grundszenarien unterschieden werden: (1) Die »Wiederverwertung« und Aufwertung von sprachlichen Formen, die traditionell als umgangssprachlich oder volkstümlich angesehen wurden: In Québec gilt das für die Fusion des »alten« und des »neuen« Aussprachemodells, wobei einige Merkmale des alten Modells im neu entstandenen fortleben. Was das frankophone Belgien anlangt, entspricht die Aufwertung und Offizialisierung von Belgizismen diesem Szenario. (2) Die Integration von Elementen des traditionellen »bon usage«: Auch wenn manche Elemente eines nationalen Standards völlig identisch mit jenen der (traditionell) dominanten Varietät zu sein scheinen, haben sie u.U. nicht denselben Status. Man denke in diesem Zusammenhang an die Definition der Markierung »surtout en France« im DQA: Explizit wurde darauf verwiesen, dass solchermaßen markierte Wörter zum gehobenen Quebecker Sprachgebrauch gehören. 39 | Vgl. Pöll, Bernhard: Le français langue pluricentrique? Études sur la variation diatopique d’une langue standard, Frankfurt u.a.: Peter Lang 2005‚ S. 59. Übersetzung: »Erscheinungsformen oder die spezifische Form, die sie in einem Teil des Sprachgebiets annimmt«; »die Gesamtheit der sprachlichen Formen, die in jenen Situationen verwendet werden, in denen die Gemeinschaft dies konsensuell einfordert«.

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Daraus kann man zwei Schlüsse ziehen: (a) Diese Wörter sind keineswegs »fremde« Wörter in Québec, denn – wie Michel Wauthion deutlich gemacht hat – verweist der Begriff francismes auf Wörter, die zum Quebecker Wortschatz gehören. Sie sind »[...] à l’intérieur du vocabulaire québécois, les mots dont l’usage aliène de la communauté francophone (scil. québécoise) celui qui l’énonce.«40 Die erwähnte Entfremdung, der sich ein francismes benützender Quebecker Sprecher aussetzt, nützt sich übrigens recht rasch ab. Da es zwischen den Varietäten keine echten Grenzen gibt, kann praktisch alles, was in Frankreich gesagt oder geschrieben wird, bei entsprechenden Situationsparametern auch in der Frankophonie vorkommen. (b) Der Umstand, dass die Wörter, die man als francismes ausgewiesen hat, in Québec einen anderen Status haben als in Frankreich, verleiht ihnen auch eine besondere Position in den Wortschatzstrukturen. So gehören eben Wörter wie week-end oder tapissier nur in Québec zu einem formellen Register und stehen damit in Opposition zu fin de semaine und rembourreur; in Frankreich (und generell in der europäischen Frankophonie) sind sie hingegen völlig neutral. Ähnliches lässt sich auch in Belgien beobachten, wobei wir uns hier auf das Wortpaar moquette/tapis plain 41 als Beispiel beschränken wollen:42 Wenn in Belgien moquette verwendet wird, scheint es auf den ersten Blick, als würde ein Wort verwendet, dass die Konnotation »hexagonales Französisch« aufweist. Dieses Wort referiert jedoch – innerhalb des französischen Wortschatzes in Belgien – auf eine eher luxuriöse und wertvollere Form des textilen Bodenbelags. Diese Zusatzbedeutung hat das Wort in Frankreich nicht, weil es nicht in der Opposition mit tapis plain funktioniert. Um diese Überlegungen abzuschließen, müssen wir noch den Begriff français international beleuchten. Es handelt sich dabei um ein äußerst diffuses Konzept, das in der Regel dazu verwendet wird, um zu verschleiern, dass sein Verwender sich damit auf das hexagonale Französisch (verstanden als Supranorm) 40 | Wauthion, Michel: »Le francisme est-il une notion lexicologique pertinente?« in: Le français moderne LXIX/1 (2001), S. 77-85, hier S. 84 (Fettdruck im Original). Übersetzung: »[…] innerhalb des Quebecker Wortschatzes Wörter, deren Gebrauch jenen, der sie verwendet, von der Quebecker Sprachgemeinschaft entfremdet«. 41 | Beide Wörter lassen sich mit Spannteppich übersetzen. 42 | Vgl. Francard, Michel: »Lorsque le français doit compter avec les parlers régionaux«, in: Michel Francard/Danièle Latin (Hg.), Le régionalisme lexical, Louvain-la-Neuve: Duculot 1995, S. 57-66.

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bezieht. In Normdebatten in der Frankophonie korreliert seine Verwendung oft mit der Sicht, dass regionale/nationale Normen kein wesentliches Gewicht haben. So behaupten z.B. jene Teile der öffentlichen Meinung in Québec, für die eine Norm des Quebecker Französisch nichts als ein Mythos ist, dass die Sprecher in formellen Gesprächssituationen ausschließlich die Verwendung dieses français international anstreben würden. Was Belgien betrifft, widersprechen die Befunde einer der weiter oben zitierten Studien einer solchen Sicht, da die Sprecher einer belgischen »Prestigevarietät« den Vorzug gegeben hatten. Im Übrigen erfordert die Annahme, dass das français international die von den Sprechern anvisierte Zielnorm sei, sehr genaue Kenntnisse der Spracheinstellungen. Bouchard, Moreau und Singy konnten z.B. zeigen, dass die Verwendung eines franko-französischen Wortes nicht zwingend bedeutet, dass der Sprecher auf die hexagonalfranzösische Norm hin akkommodiert.43 In der Tat ist es nicht auszuschließen, dass ein formelles Register der jeweiligen Teilsprachgemeinschaft anvisiert wird, das sich eben durch die Integration von Wörtern oder Ausdrücken des Französischen Frankreichs auszeichnet. Damit wären wir – nunmehr von der Varietätenebene her gesehen – erneut bei der schon angesprochenen Form von Hybridisierung. Solche Situationen sind hoch komplex – zum einen für die Sprecher, die in der sprachlichen Interaktion Entscheidungen treffen, die von vielen Einflussfaktoren abhängen, zum anderen für die professionellen Sprachbeobachter, die auf Schwierigkeiten stoßen, wenn sie in tiefere Schichten der Spracheinstellungen vordringen wollen. Dass die peripheren Sprecher des Französischen immer in einem Spannungsfeld zwischen ihren eigenen Gebrauchs- und subjektiven Normen und dem – zumindest symbolisch – immer präsenten hexagonalen Sprachmodell sprachlich agieren, ist jedenfalls nicht zu leugnen.

43 | Vgl. Bouchard, Pierre/Moreau, Marie-Louise/Singy, Pascal: »La place du français de France dans la conscience normative des Francophones belges, québécois et suisses. Une erreur de perspective«, in: Pierre Bouchard (Hg.), La variation dans la langue standard. Actes du colloque tenu les 13 et 14 mai 2002 à l’Université Laval dans le cadre du 70e Congrès de l’Acfas, Québec: Gouvernement du Québec 2004, S. 37-50.

Verbindlichkeitsrhetorik – Einige Anmerkungen zur Diktion des »Heiligen Kriegs« Michaela Bauks Deuteronomium 4,5 Sieh, ich [Mose] habe euch gelehrt Gebote und Rechte, wie mir der Herr, mein Gott, geboten hat, dass ihr danach tun sollt im Lande, in das ihr kommen werdet, um es einzunehmen. 6 So haltet sie nun und tut sie! Denn darin zeigt sich den Völkern eure Weisheit und euer Verstand. Wenn sie alle diese Gebote hören werden, dann müssen sie sagen: Was für weise und verständige Leute sind das, ein herrliches Volk! 7 Denn wo ist so ein herrliches Volk, dem Götter so nahe sind wie uns der Herr, unser Gott, sooft wir ihn anrufen? 8 Und wo ist so ein großes Volk, das so gerechte Ordnungen und Gebote hat wie dies ganze Gesetz, das ich euch heute vorlege?1

Die Hebräische Bibel lässt sich als ein Rechtskorpus lesen, das Regeln (»Gebote und Rechte«) vermittelt, die soziale und kulturelle Verbindlichkeit im Sinne von regelgeleitetem Handeln evozieren. Christian Bermes unterscheidet in seinem Beitrag zum vorliegenden Band verschiedene Verbindlichkeitsformen (constantia, obligatio, regulae, certitudo).2 Die in dem vorausgehenden Zitat erwähnten Gebote und Rechte lassen mehrere Charakteristika erkennen: Sie gelten insbesondere in dem Land, das einem bestimmten Volk (Israel) von seinem Gott (JHWH) zugewiesen ist. Sie sind als »gut« qualifiziert und bürgen – philosophisch gesprochen – für ein »gutes Leben« der Menschen.3 Sie 1 | Bibelzitate entstammen, sofern nicht anders angezeigt der Revidierten Übersetzung der Bibel Martin Luthers, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2017. Die Neue Zürcher Bibel übersetzt h.uqîm und mišpat. im in V. 1 durch »Satzungen und Rechte«. 2 | Vgl. zu den unterschiedlichen Facetten der Verbindlichkeit im Sinne einer geregelten Praxis den Beitrag von Christian Bermes in diesem Band und s. unten 4. 3 | Im Hebräischen entspricht dieser Wendung am besten das Nomen s.edaqah »Gemeinschaftstreue«, das häufig in Bibelübersetzungen durch den nur bedingt angemessenen Begriff »Gerechtigkeit« wiedergegeben ist; vgl. Fischer, Stefan: Art. »Gerechtigkeit«, in: Stefan Alkier/Michaela Bauks/Klaus Koenen (Hg.), Wissenschaftliches

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zeichnen das erwählte Volk, sofern es sich an die Weisung hält, als eine besondere Gemeinschaft aus, der unter den Völkern eine besondere Ausstrahlung zukommt. Mit Blick auf die von Christian Bermes in seinem Beitrag zum vorliegenden Band unterschiedenen Verbindlichkeitsformen (constantia, obligatio, regulae, certitudo) werden die nachstehenden Überlegungen zeigen, dass es in dem »Regelwerk« der Tora weniger um Spielregeln (regulae) geht, die buchstäblich einzuhalten und umzusetzen sind, sondern vorrangig um Verbindlichkeit als einen Rückverweis des Menschen auf die Beziehung zu Gott (obligatio) in der Überzeugung, dass nur dann, wenn der Mensch Loyalität zu Gott pflegt, »gutes Leben« möglich wird. Im Jahr des 70-jährigen Bestehens des modernen Staates Israel ist deutlich, wie brisant die im Folgenden angesprochenen Themen wie Landfrage, In- und Exklusion oder Identität sind. Ich möchte mich diesem von gegenwärtiger politischer Realität und der Verbindlichkeit eines religiösen Programms bestimmten Komplex zuwenden, indem ich ein besonders umstrittenes Narrativ, den ʭʸʧ/h.eræm »Kriegsbann« oder »Vernichtungsweihe« in den Fokus nehme und seine Funktion für die an der Hebräischen Bibel orientierte Identitätsstiftung untersuche. Der Begriff h.eræm wird gern mit dem Konzept des »Heiligen Kriegs« assoziiert, d.h. aktuell politisch mit ISIS oder Daesch in einem Satz genannt. Es ist wichtig für den gesellschaftlichen Diskurs wie für den Dialog der monotheistischen Religionen miteinander, darauf hinzuweisen, dass die Zusammenschau von »Heiligkeit« und »Krieg« der (christlich-jüdischen) Bibel nicht fremd ist, aber kulturell und zeitlich determiniert im Zuge einer langen Auslegungsund Rezeptionsgeschichte zu verstehen ist. Eine Reihe von biblischen Texten thematisieren die Präsenz JHWHs im Kriegsgeschehen und seine Aufforderung, Krieg zu führen, um dem erwählten landlosen Volk namens Israel einen Ort zu geben und die Landverheißung zu erfüllen.4 Emblematisch steht dafür der zum ältesten Textbestand biblischer Texte gezählte Beginn des Moselieds in Ex 15, 1, 21: »Ich will dem Herrn singen, denn er ist hoch erhaben; Ross und Reiter hat er ins Meer gestürzt« erinnert den Exodus als Urereignis in kriegerischer Sprache.

Bibellexikon im Internet, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2015, bes. § 2.2, online: http://www.bibelwissenschaft.de/de/stichwort/19316/ vom 8.8.2018. 4 | Das Thema der göttlichen Landgabe ist in biblischen Texten übrigens nicht für Israel reserviert. Auch mitunter feindliche Völker wie Edom (Gen 36,6-8), Aram oder die Philister (Am 9,7), sowie Moab und Ammon sind als wandernde Völker beschrieben, denen eine Landverheißung zuteil wird (Dtn 2,5.9.19; Jos 24,4) und die ihr Land auf Gottes Geheiß militärisch einnehmen (Dtn 2,9-23).

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1. I NWIE WEIT IST DIE B EZEICHNUNG »H EILIGER K RIEG « AUF TE X TE DER H EBR ÄISCHEN B IBEL ANWENDBAR ? Zu Beginn des 20. Jh. kam das Theologumenon vom »heiligen Krieg« auf.5 So verstand Gerhard von Rad Krieg im Alten Testament als eine sakrale Angelegenheit und entwarf im Vergleich mit griechischem Material (Kriege innerhalb der Amphyktionie von Delphi in Analogie zum sakralen Stämmebund Israels) das Konzept vom »Heerbann« Israels. S.E. führten die Stämme Israels Defensivkriege unter Führung ihres Gottes JHWH, die einen dem griechischen Vorbild vergleichbaren Ritualverlauf erkennen lassen.6 Rudolf Smend zeigte die Grenzen dieses Konzepts auf: Denn Israel formiert sich historisch erst mit der Sesshaftwerdung. Literargeschichtlich bildet die Kriegsrhetorik der Exodustradition mit Mose als charismatischem »Heerführer« erst die Grundlage dessen, was sich allmählich zur JHWH-Religion ausbildete. Smend unterscheidet die »Lea«-Stämme mit ihren profanen Kriegen gegen Nachbarvölker von den Kriegen der Rachel-Stämme im Rekurs auf den Gott Israels. In deutlicher Abgrenzung zu von Rad führt Smend für diese die Diktion des »JHWH-Kriegs« ein.7 Problematisch bleibt an beiden Ansätzen, dass sie zum einen Israel im Alten Orient eine Sonderrolle zuweisen und zum anderen nicht ausreichend würdigen, dass in den alten Kulturen jeder Krieg religiösen Bezug hatte, da letztlich alle irdischen Belange der göttlichen Einflusssphäre untergeordnet waren. Doch geht es, wie Roland de Vaux unterstreicht, nicht etwa um einen Glaubenskrieg, d.h. um einen Krieg, in dem die eigene religiöse Überzeugung mit Waffengewalt verbreitet wird.8 Für ihn liegt der Unterschied darin, dass »Israel ne combat pour sa foi, il combat pour son existence.«9 Zahlreiche altorientali5 | S. z.B. Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 3: Das antike Judentum, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2012, s. bes. S. 958f. 6 | Von Rad, Gerhard: Der heilige Krieg im alten Israel, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1952 unter Aufnahme der Arbeiten Martin Noths – zur Forschungsgeschichte vgl. ausführlich den umfassenden Überblick von Schmitt, Rüdiger: Der Heilige Krieg im Pentateuch und im Deuteronomistischen Geschichtswerk. Studien zur Forschungs-, Rezeptions- und Religionsgeschichte von Krieg und Bann im Alten Testament (= Alter Orient und Altes Testament, Band 381), Münster: Ugarit-Verlag 2011, S. 10-50. 7 | Smend, Rudolf: Jahwekrieg und Stämmebund. Erwägungen zur ältesten Geschichte Israels (= Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, Band 84), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1963, S. 25-32; 91ff. 8 | De Vaux, Roland: Les institutions de l’Ancient Testament, Bd. 2, Paris: Cerf 1991, S. 73-86. Von Glaubenskriegen kann erst in hellenistischer Zeit die Rede sein; vgl. ebd., S. 83f. und zuletzt R. Schmitt, Heiliger Krieg, S. 171ff. zu den deuteronomistischen Texten als biblische Grundlage für die modernen Glaubenskriege. 9 | R. De Vaux, Institutions II, S. 73f.

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sche Beispiele zeigen Gemeinsamkeiten in der Kriegsführung auf, indem sie ähnliche Praktiken, Riten oder religiöse Vorstellungen erkennen lassen, ohne dass die gewaltsame Indoktrinierung der religiösen Praxis des Siegers über die unterworfene Kultur intendiert wäre.10 Dieser Unterschied ist bei der Anwendung der Begrifflichkeit »Heiliger Krieg« in antiken Kulturen unbedingt zu berücksichtigen. Der Grundsatz cuius regio, eius religio des Augsburger Religionsfriedens (1555) hat im Alten Orient noch keine Gültigkeit.

2. A LTORIENTALISCHE K RIEGSIDEOLOGIE : A NMERKUNGEN ZU H. ERÆM »B ANN , W EIHUNG , TABU « Die Frage nach der Legitimität von Kriegsgewalt stellt sich im altorientalischen Königtum des zweiten und ersten Jahrtausends v. Chr. nicht: Jeder König ist für sein Volk verantwortlich und hat dessen Besitz und Wohlergehen zu schützen und ggf. militärisch zu verteidigen. So ist das »Erschlagen der Feinde« in literarischen und ikonographischen Zeugnissen ein gängiges Motiv der Herrschaftspropaganda, um die Sicherung der kosmischen Ordnung und die Fortexistenz des eigenen Volkes anzuzeigen.11 Im Falle innen- wie außenpolitischer Konflikte holt der König mit Hilfe des zuständigen Kultapparats Orakel ein, die ihn bei anstehenden Entscheidungen über die Kriegsführung und andere politisch wichtige Fragen beraten. Sogenannte »Ermutigungs- oder Heilsorakel« übermitteln dem König den göttlichen Willen und die Zusage göttlicher Hilfestellung. Somit fällt aber auch jeder Sieg letztlich auf die Gottheit und

10 | Cf. Weippert, Manfred: »›Heiliger Krieg‹ in Israel und Assyrien. Kritische Anmerkungen zu Gerhard von Rads Konzept des ›Heiligen Krieges im alten Israel‹«, in: Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft 84 (1972), S. 460-493 mit dem Hinweis, dass bereits in Mari-Texten des 18. Jh.s v.Chr. eine dem h.eræm vergleichbare Institution (asakkum) begegnet. 11 | Crouch, Carly L.: War and Ethics in the Ancient Near East. Military Violence in Light of Cosmology and History (= Beihefte zur Zeitschrift für Alttestamentliche Wissenschaft, Band 407), Berlin/New York: de Gruyter 2009, bes. S. 174-189 (zu h.eræm) und ebd. S. 190-192 zum kosmologischen Nexus von Krieg, Königtum und Ordnung; Achenbach, Reinhard: »Divine Warfare and YHWH’s Wars. Religious Ideologies of War in the Ancient Near East and in the Old Testament«, in: Gershon Galil et al. (Hg.), The Ancient Near East in the 12 th - 10 th Centuries BCE. Culture and History (= Alter Orient und Altes Testament, Band 392), Münster: Ugarit-Verlag 2010, S. 1-26. Zu ikonographischen Beispielen vgl. Riede, Peter: Art. »Feinde/Feindsymbolik (staatliche)«, in: Stefan Alkier/Michaela Bauks/Klaus Koenen (Hg.), Wissenschaftliches Bibellexikon im Internet, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2012, online: http://www.bibelwissenschaft.de/de/ stichwort/18221/ vom 8.8.2018.

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nicht auf den König zurück.12 Der König und sein Prophet bzw. Kultbeamter sind verantwortlich für die richtige Auslegung des Orakels. Die Kriegsrechtsbestimmung des ʭʸʧ/h.eræm »Bann, Weihung, Tabu« geht über die allen Kriegen übliche Zerstörung hinaus13 und handelt von der sakral begründeten Tötung der Feinde, die unserem modernen Verständnis nach als Genozid zu bezeichnen ist. Die ältere Exegese sah darin eine archaische bzw. vorgeschichtliche Kriegspraxis, die mit Gründung der Monarchie in Israel obsolet wurde. Gegen diese entwicklungsgeschichtlich argumentierende Einschätzung sprechen die Belege in deuteronomistischen Texten, die zwar als erzählte Zeit ebenfalls die »Vorgeschichte« Israels thematisieren, aber ausnahmslos im Kontext des späten Königtums im 7./6. Jh. v.Chr. oder sogar erst in exilisch-nachexilischer Zeit entstanden sind. So bleibt der konkrete Vollzug dieser »Vorschriften« umstritten, denn wie bei so vielen königsideologischen Motiven könnte es sich lediglich um eine spezifische Form der Rhetorik handeln, ein Narrativ, das bestimmte Züge königlichen Waltens charakterisiert. Der Begriff h.eræm ist erstmals epigraphisch belegt auf der Stele des Mescha, König von Moab (ca. 800 v.Chr.; Dibân, AO 5066 Louvre), die an einen Sieg über die Könige Israels der Omridendynastie erinnert (s. bes. Z. 11.14-18 zu den Städten Ataroth und Nebo). 10 […] Die Gaditer hatten von jeher im Lande um Ataroth gewohnt; da hatte der König von 11 Israel 10 ihnen 11 Ataroth 10 gebaut. 11 Ich bekämpfte die Stadt, nahm sie ein und tötete die ganze Bevölkerung [aus] 12 der Stadt als Schauspiel für [den Gott] Kamosch und für Moab. Und ich holte von dort den Altarherd ihres (Gottes) Dod und schlepp- 13 te ihn hin vor Kamosch nach Qerijoth. Ich siedelte bei ihnen Leute von Saron und Leute 14 von M h. rt an. Kamosch sprach zu mir: Geh, nimm Nebo von den Israeliten ein. Da 15 ging ich (los) in der Nacht und bekämpfte es vom Anbruch der Morgenröte bis zum Mittag. Ich nahm 16 es ein und tötete sie alle, 7000 Mann, Beisassen, Frauen, Beisas

12 | S. dazu M. Weippert, »Heiliger Krieg«, S. 470-483 mit Beispielen. 13 | Vgl. zum Ganzen Crüsemann, Frank: »Gewaltimagination als Teil der Ursprungsgeschichte. Banngebot und Rechtsordnung im Deuteronomium«, in: Friedrich Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt (= Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, Band 29), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2006, S. 343360; Dietrich, Walter: »Legitime Gewalt? Alttestamentliche Perspektiven«, in: Friedrich Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt (= Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, Band 29), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2006, S. 292-309.

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Michaela Bauks 17 sinnen und Sklavinnen; denn an Aschtar-Kamosch hatte ich sie geweiht [ʭʸʧ/h.rm]. Und ich nahm von dort d[ie Ge- ]18 räte Jahwes und schleppte sie hin vor Kamosch.14

Die grausame Beschreibung von der Tötung der gesamten Bevölkerung nach Ende der Schlacht besagt nichts über die historische Praxis.15 Die Beschreibung entspricht dem typischen Narrativ der west-semitischen Königsideologie, welches vorsieht, dass im Fall des Sieges die Entäußerung von Beute grundsätzlich als Dankopfer für die Gottheit, die zum Sieg befähigt hat, vorzuhalten ist.16 Der Sieg impliziert nicht – wie z.Zt. der Kreuzzüge – einen Beutezug der Sieger, der mitunter sogar als Sold dient.17 Es geht stattdessen um die Tabuisierung der Beute zugunsten der Gottheit.18

14 | KAI 181, 10-18; zur Übersetzung vgl. Müller, Hans-Peter: Die Inschrift des Königs Meša von Moab, TUAT I/6 (2005), S. 646-650, hier S. 648f.; vgl. M. Weippert, »Heiliger Krieg«, S. 484f.; Lemaire, André: »Le H. erem guerrier et sa transgression des deux côtés du Jourdain«, in: Jean-Marie Durand/Michel Guichard/Thomas Römer (Hg.), Tabou et transgressions. Actes du colloque organisé par le Collège de France, Paris, les 11-12 avril 2012 (= Orbis Bibblicus et Orientalis, Band 274), Fribourg/Göttingen: Academic Press/Vandenhoeck & Ruprecht 2015, S. 83-98. 15 | Insofern sind die forschungsgeschichtlichen Ansätze (von Rad, Smend, de Vaux), die versuchen, das Konzept historisch in der Frühgeschichte bzw. der frühen Königszeit anzusiedeln, kritisch zu hinterfragen; vgl. ausführlich R. Schmitt, Heiliger Krieg, S. 22ff. 16 | Zu assyrischen Belegen für das Narrativ vgl. M. Weippert, »Heiliger Krieg«, 468ff.; R. Schmitt, Heiliger Krieg, S. 59ff. 17 | So ist es auch in der Saulerzählung und dem Sieg über Amalek illustriert; vgl. 1 Sam 15,1-23. 18 | A. Lemaire, »Le H. erem Guerrier«, S. 83, 98; vgl. R. Schmitt, Heiliger Krieg, S.  172ff.; vgl. Graf, Friedrich Wilhelm, »Sakralisierung von Kriegen: Begriffs- und problemgeschichtliche Erwägungen«, in: Stefan Schreiner (Hg.), Heilige Kriege. Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendung. Judentum, Christentum und Islam im Vergleich (= Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien, Band 78), München: Oldenbourg 2008, S. 1-30.

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3. D AS K ONZEP T DES H. ERÆM IN DER DEUTERONOMISTISCHEN THEOLOGIE Dasselbe Konzept des ʭʸʧ/h.eræm »Bann, Weihung, Beute« begegnet auch in der Hebräischen Bibel.19 Anhand von drei Texten des Deuteronomiums (Dtn 7; 13; 20) möchte ich der literarischen Funktion sowie der Transformation des Konzepts nachgehen. Den literarischen Rahmen bildet im Deuteronomium nicht die Siegesstele eines Königs, sondern die fiktive Abschiedsrede des Mose kurz vor seinem Tod an der Grenze zum verheißenen Land. Es handelt sich um einen theologischen Programmtext, der von dem Bund Gottes mit seinem Volk Israel20 und der daraus resultierenden Treueverpflichtung handelt. Der erste Beleg findet sich in Dtn 7,1-6, wo erzählt ist, dass der Landgabe und Sesshaftwerdung Israels der h.eræm an den dort wohnenden Völker vorausgeht. 1 Wenn dich der Herr, dein Gott, ins Land bringt, in das du kommen wirst, es einzunehmen, und er ausrottet viele Völker vor dir her, die Hetiter, Girgaschiter, Amoriter, Kanaaniter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter, sieben Völker, die größer und stärker sind als du, 2 und wenn sie der Herr, dein Gott, vor dir dahingibt, dass du sie schlägst, so sollst du an ihnen den Bann vollstrecken (ʭʸʧ/h.rm hif.). Du sollst keinen Bund mit ihnen schließen und keine Gnade gegen sie üben 3  und sollst dich mit ihnen nicht verschwägern; eure Töchter sollt ihr nicht geben ihren Söhnen und ihre Töchter sollt ihr nicht nehmen für eure Söhne. 4 Denn sie werden eure Söhne mir abtrünnig machen, dass sie andern Göttern dienen; so wird dann des Herrn Zorn entbrennen über euch und euch bald vertilgen. 5 Sondern so sollt ihr mit ihnen tun: Ihre Altäre sollt ihr einreißen, ihre Steinmale

19 | Vgl. zu den übrigen Stellen Dietrich, Walter: Art. »Bann/Banngut«, in: Stefan Alkier/Michaela Bauks/Klaus Koenen (Hg.), Wissenschaftliches Bibellexikon im Internet, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2012, online: http://www.bibelwissenschaft. de/de/stichwort/14494/ vom 4.8.2018 und ausführlicher Bauks, Michaela: Theologie des Alten Testaments. Religionsgeschichtliche und bibelhermeneutische Perspektiven (= UTB, Band 4973), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, S. 290ff. 20 | Die Diktion »Volk Israel« ist schillernd, da es nach der ersten Konsolidierung unter König David ca. 1000 v.Chr. von ca. 920 bis 722 v. Chr. zwei Reiche in der Levante gab (das Nordreich »Israel« und das Südreich »Juda«), deren legitime Nachfolge nach der Zerstörung des Nordreichs durch die Assyrer das im Umland von Jerusalem gelegene Juda übernahm. Von den historischen Gegebenheiten unabhängig bezeichnen biblische Texte die verschiedenen Gruppierungen als »Kinder« oder »Volk Israel«; vgl. Wagner, Thomas: Art. »Israel«, in: Stefan Alkier/Michaela Bauks/Klaus Koenen (Hg.), Wissenschaftliches Bibellexikon im Internet, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2012, online: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/21934/ vom 7.8.2018.

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Michaela Bauks zerbrechen, ihre heiligen Pfähle abhauen und ihre Götzenbilder mit Feuer verbrennen. 6 Denn du bist ein heiliges Volk dem Herrn, deinem Gott. Dich hat der Herr, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind.

Die zitierte Weisung21 schließt an das prominente Šema‘ Israel (»Höre Israel« in Deut 6,4-9)22 an, das die Alleinverehrung des Gottes namens JHWH für Israel voraussetzt und diese in performativer Weise für die laufende sowie die folgenden Generationen umsetzt. Es folgt die Ermahnung, dass Israel, sobald es in dem von Gott verheißenen Land angekommen ist, dieser Weisung unbedingten Gehorsam schuldet (Deut 6,20-25). Kapitel 7,1-6 thematisiert die Separierung des erwählten Volks von den anderen Völkern. Auf der praktischen Ebene geht es um das Verbot von Mischehen (Exogamie; v. 3), das spätestens seit der Exilszeit (ab 586 v.Chr.) als eine kulturell überlebenswichtige Strategie anzusehen ist, um die kulturelle Identität der verstreuten Bevölkerung zu sichern. Gestaltet ist die Reflexion mit Hilfe des ursprünglich königsideologisch begründeten h.eræm-Konzepts. Gepaart mit der Aufforderung zur hingebungsvollen Liebe (»devoted love«) und absoluten Loyalität gegenüber JHWH zielt die Zerstörung der »fremden« (hier kanaanäisch gezeichneten) Kulturen auf die Sicherung vor Apostasis (v. 5-6).23 Mischehen verkörpern die Gefahr des 21 | Hebräische Rechtssprache ist ein sehr komplexes Phänomen, die ähnlich dem griechische Nomen nomos neben »Gesetz« auch Sitte, Brauch, Weisung etc. impliziert. So umfasst das Wort tôrah »wie in allen seinen weiteren Verwendungen Information und Anweisung, Instruktion und Normsetzung, damit Zuspruch wie Anspruch, das Gebot genauso wie die Geschichte der Zuwendung, der es entspringt« – so Crüsemann, Frank: Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, Gütersloh: Gütersloher 1992, S. 7. Folglich ist die Hebräische Bibel wegen des hohen Grads an widersprüchlichen Aussagen keineswegs als Handbuch für die konkrete Rechtsprechung zu begreifen, sondern stellt ein literarisches Opus dar, das verschiedene Rechts- und Auslegungstraditionen sammelt und diskutiert. 22 | Dtn 6,4 Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer. 5 Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. 6 Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen 7 und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. 8 Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, 9 und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore. 23 | Vgl. MacDonald, Nathan: Deuteronomy and the Meaning of »Monotheism« (= Forschungen zum Alten Testament, 2. Reihe, Band 1), Tübingen: Mohr-Siebeck 2003, S.  108-122; zur komplexen literarischen Beziehung der beiden Texte vgl. auch Otto, Eckart: Deuteronomium 4,44-11,32 (HThKAT), Freiburg/Basel/Wien: Herder 2012, S. 846ff. und Achenbach, »Divine Warfare«, S. 16ff.

Verbindlichkeitsrhetorik

Eindringens fremder Kultformen, indem die »fremden« Partner die Angehörigen des Volks Israel von ihrer bedingungslosen Zuwendung zu Gott abbringen (könnten). Der Kriegsbann hat in diesem Text Symbolcharakter, indem er für die unbedingte Gottesverehrung Israels steht. Der Gehorsam tritt an die Stelle des sonst im Alten Orient gültigen Königsrechts mitsamt der Loyalitätsbekundung des unterworfenen Vasallen gegenüber dem jeweiligen Machthaber. Das ursprünglich politisch begründete Untergebenheitsnarrativ wird in diesem Text theologisiert, indem die ursprünglich politisch begründete Kriegsmetaphorik in emphatischer Weise zur Sicherung des JHWH-Glaubens dient. Hinsichtlich der gegebenen Themenstellung zeigt dieses Beispiel, dass zur (Selbst-) Verpflichtung in Zeiten der Besatzung sowie zur Bewahrung vor drohendem Identitätsverlust durch die Aufgabe kultureller (bzw. kultischer) Praxis verbindliche Verhaltensmuster aufgestellt werden. Diktion und Thematik (»Mischehenproblematik«24) sprechen dafür, den Text in die nach-exilische Zeit als Zeit der Diasporabildung zu datieren. Dtn 7 nutzt das h.eræm-Konzepts in zweifacher Hinsicht: Das ursprünglich königsideologische Motiv, die Tabuisierung der Kriegsbeute, enthält keinerlei Hinweis auf die praktische Kriegsführung (politisch gesehen war Israel selbst unterworfen!), sondern h.eræm dient als Verbindlichkeitsrhetorik, um in einem polytheistisch aufgestellten Kulturraum die exklusive Verehrung des Gottes Israels (JHWH) einzuklagen.25 Anders als in anderen alttestamentlichen Erzählungen (vgl. 1 Sam 15,8-19) geht es in diesem Narrativ nicht um Krieg und Beute, sondern um die Heiligung Israels (v. 6) anhand der Frage: Wie wird es Israel in seiner äußerst defensiven Lage möglich sein, seine religiöse und kulturelle Identität zu behaupten und die reziprok erfahrene Verbindlichkeit in der Gottesbeziehung zu leben. Einige Kapitel später folgt mit Dtn 13 eine ältere Version der Verwendung des h.eræm-Konzepts.26 Es handelt sich gewissermaßen um die Kontrafaktur eines neu-assyrischen Vasallenvertrags, wie ihn die judäischen Könige unterzeichnen mussten, um die absolute Loyalität gegenüber der fremden Vormacht zu quittieren und – im Falle des Vertragsbruchs – zur Rechenschaft gezogen zu 24 | In Esr 9,11f. begegnet der Gedanke, dass das Land, in das die exilischen Heimkehrer kommen, durch den Götzenkult der Bewohner unrein geworden ist, was das Mischehenverbot und eine Reihe weiterer Maßnahmen nach sich zog. 25 | Vgl. Otto, Deuteronomium 4,44-11,32, S. 848f. 26 | Es dürfte in die Zeit des judäischen Königs Josia (647-609 v.Chr.) und die Entstehung des sogenannten Ur-Deuteronomiums gehören. Vgl. Pietsch, Michael: Art. »Josia«, in: Stefan Alkier/Michaela Bauks/Klaus Koenen (Hg.), Wissenschaftliches Bibellexikon im Internet, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2017, online: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/22824/ vom 6.8.2018.

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werden.27 Doch der Bund wird in Dtn 13 nicht mit dem neu-assyrischen König, sondern mit dem Gott Israels geschlossen.28 Das Kapitel umfasst in apodiktischer Rechtsform drei Fälle der Verführung zum Fremdgötterkult durch Personen, die innerhalb der Gemeinschaft Israels leben: (falsche) Propheten oder Divinatoren (13,1-6), ein der Apostasis ergebenes Familienmitglied bzw. Freund (V. 7-12) oder eine Gruppe in einer der Städte Israels (V. 13-19). Alle drei Fälle fordern die Todesstrafe, im Falle des Rechtsbruchs einer ganzen Stadt erfolgt die Strafe auf militärischem Wege mit Bann bzw. Vernichtungsweihe. Dtn 13,13 Wenn du hörst von einer deiner Städte, die dir der Herr, dein Gott, gibt, darin zu wohnen, dass man sagt: 14 Es sind ruchlose Leute aufgetreten aus deiner Mitte und haben die Bürger ihrer Stadt verführt und gesagt: Lasst uns hingehen und andern Göttern dienen, die ihr nicht kennt, 15 so sollst du gründlich suchen, forschen und fragen. Und wenn sich findet, dass es gewiss ist, dass solch ein Gräuel in deiner Mitte geschehen ist, 16 so sollst du die Bürger dieser Stadt erschlagen mit der Schärfe des Schwerts und an ihr den Bann vollstrecken, an allem, was darin ist, auch an ihrem Vieh, mit der Schärfe des Schwerts. 17  Und alles, was in ihr erbeutet wird, sollst du sammeln mitten auf dem Marktplatz und mit Feuer verbrennen die Stadt und alle ihre Beute als ein Ganzopfer für den Herrn, deinen Gott, dass sie in Trümmern liege für immer und nie wiederaufgebaut werde. 18  Und lass nichts von dem, was dem Bann verfallen ist, an deiner Hand kleben, auf dass der Herr von seinem grimmigen Zorn abgewendet werde und gebe dir Barmherzigkeit und erbarme sich deiner und mehre dich, wie er deinen Vätern geschworen hat, 19 weil du der Stimme des Herrn, deines Gottes, gehorchst und alle seine Gebote hältst, die ich dir heute gebiete, dass du tust, was recht ist vor den Augen des Herrn, deines Gottes.

Der Grund für die totale Zerstörung (h.eræm) dieser Stadt in Israel wird mit der drohenden Kontamination des restlichen israelitischen Volkes begründet (V.18; vgl. Jos 7,13ff.).29 Dtn 13,19 ist wahrscheinlich eine sekundäre Kommentierung, die auf die sogenannte Kanon- bzw. Wortsicherungsformel in 13,1 (»Alles, was ich euch gebiete, das sollt ihr halten und danach tun. Du sollst nichts dazutun und nichts davontun.«) zurückverweist, um die Gültigkeit der dargelegten Regelungen für das Kollektiv emphatisch hervorzuheben. 27 | Cf. Otto, Eckart: Deuteronomium 12,1-23,5 (HThKAT), Freiburg: Herder 2016, S. 1241-1253. 28 | Vgl. Römer, Thomas: L’invention de Dieu, Paris: Seuil 2014, S. 268-270. 29 | Vermutlich handelt es sich dabei um eine sekundäre Überarbeitung auf dem Hintergrund von Dtn 20,10-18 in Anwendung auf das eigene Volk; vgl. R. Schmitt, Heiliger Krieg, S. 62f.

Verbindlichkeitsrhetorik

Dieser Text wendet »heiligen Kriegs« nicht auf äußere »Feinde«, sondern auf die eigenen Reihen an. Es geht nicht um die negativen Einflüsse fremder Völker, die Israel vom rechten JHWH-Glauben wegführen könnten, sondern um das Fehlen von JHWH-Gehorsam und Torafrömmigkeit innerhalb Israels. Der Text formuliert eine Generalprävention und fordert zu Gehorsam und (Ehr-) Furcht auf (13,12). Die Ausführungsnotiz ist sogar strenger gestaltet als gegenüber einem fremden Volk, das im verheißenen Land verweilt. Die Verbrennung der von Apostasie betroffenen Stadt ist als Ganzopfer (Holocaust) für JHWH stilisiert (V. 17). Dahinter könnte sich eine Anspielung auf die Zerstörung Jerusalem angesichts der babylonischen Eroberung (587/586 v. Chr.) verbergen, die historisch die einschlägige Zäsur in der Geschichte des Volkes darstellt. Alleinverehrung JHWHs und das politische Geschick Israels werden so aufs Engste miteinander verwoben. Auch in dieser Passage steht die absolute Verbindlichkeit bzw. Loyalität gegenüber Gott im Zentrum.30 Der dritte Text findet sich in Dtn 20. Eingelassen in Teile eines älteren Kriegsrechts ist er zu einem Programmtext der Exilszeit erweitert, der die ältere Tradition von Dtn 13 reflektiert und fortschreibt. 10 Wenn du vor eine Stadt ziehst, um gegen sie zu kämpfen, so sollst du ihr zuerst den Frieden anbieten. 11 Antwortet sie dir friedlich und tut dir ihre Tore auf, so soll das ganze Volk, das darin gefunden wird, dir fronpflichtig sein und dir dienen. 12 Will sie aber nicht Frieden machen mit dir, sondern mit dir Krieg führen, so belagere sie. 13 Und wenn sie der Herr, dein Gott, dir in die Hand gibt, so sollst du alles, was männlich darin ist, mit der Schärfe des Schwerts schlagen. 14  Nur die Frauen, die Kinder und das Vieh und alles, was in der Stadt ist, die ganze Beute, sollst du unter dir austeilen und sollst essen von der Beute deiner Feinde, die dir der Herr, dein Gott, gegeben hat. 15 So sollst du mit allen Städten tun, die sehr fern von dir liegen und nicht zu den Städten dieser Völker hier gehören. 16 Aber in den Städten dieser Völker hier, die dir der Herr, dein Gott, zum Erbe geben wird, sollst du nichts leben lassen, was Odem hat, 17 sondern sollst an ihnen den Bann vollstrecken, nämlich an den Hetitern, Amoritern, Kanaanitern, Perisitern, Hiwitern und Jebusitern, wie dir der Herr, dein Gott, geboten hat, 18 damit sie euch nicht lehren, all die Gräuel zu tun, die sie im Dienst ihrer Götter treiben, und ihr euch so versündigt an dem Herrn, eurem Gott.

30 | Cf. Otto, Deuteronomium, S. 1265f.; vgl. zum Ganzen auch Crouch, War and Ethics, S. 183f.

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Die Bestimmung in Deut 20,10-20 betrifft die Kriegsführung mit den innerhalb und außerhalb des Landes weilenden Völkern. Schlägt ein anderes Volk im allgemeinen Kriegsfall das Friedensangebot aus, kommt es zum Kampf und die Männer werden getötet, während Frauen, Kinder und Vieh dem Sieger als Beute verbleiben (V. 13f.). Die außerhalb der eigenen Landesgrenzen lebenden Gruppen werden von der Vernichtungsweihe ausgenommen, d.h. der h.eræm bleibt auf die im Gebiet des Landes lebenden Völker beschränkt (V. 16f.). Während der erste Abschnitt gängiges Kriegsrecht beschreibt (V. 1014), dem die außerhalb des verheißenen Landes lebenden Völker unterworfen sind31, geht es im Anschluss um die Volksgruppen, die im Gebiet Israels als dem von Gott verheißenen Land wohnen. Allerdings handelt es sich bei den Namen um historisch nicht zu erhebende Völker, d.h. es liegt eine fiktive Liste von Völkern vor (v. 16f.; vgl. Dtn 7,1), an denen nach dem errungenen Sieg die Vernichtungsweihe vollstreckt werden soll. Auch hier steht wieder die Abgrenzung der eigenen Identität gegenüber dem Fremden und der Anspruch auf das verheißene Land im Zentrum. Indem aber die Anwendung des h.eræm auf fiktive und historisch nicht greif bare Volksgruppen zielt, geht es um eine Selbstbeschreibung, d.h. den Anspruch an die Exilsgemeinde, die Separierung von fremden Kräften auch in der Diaspora umzusetzen und den Umgang mit den im Land lebenden Volksgruppen zu meiden.32 Die drei Textbeispiele sind für Rechtstexte wenig kohärent und verweisen auf unterschiedliche Vorstellungen. Die Vernichtungsweihe h.eræm erscheint in allen Belegen eingebunden in eine Rhetorik, die dazu dienen soll, das Volk zu erziehen, die Trennung von den fremden Völkern und deren religiösen Praktiken anzuerkennen und kulturell nachzuvollziehen. Die Sakralisierung des Krieges ist in den Dienst der Gesetzesparänese gestellt. Im konformen Vollzug offenbart sich der Gehorsam Israels. Es geht in diesem Narrativ nicht um Werbung für Gewalt, sondern um die eindringliche Ermahnung der Gemeinschaft, Gott Respekt zu zollen und Treue zu zeigen, indem ihm die alleinige Verehrung entgegengebracht wird (vgl. Dtn 6,4-7; s.o. Anm. 22). Die Ermahnung bedient sich dabei historischer Anleihen (vgl. das theologisierte Vasallenformular) wie fiktiver Beschreibungen aus einer mythischen Vorzeit (vgl. die Völkerliste in Deut 7,1 und 20,17), was die reale Umsetzung des Konzepts als angewandtes »Kriegsrecht« hinterfragen lässt. Die Beschreibungen spiegeln vielmehr das 31 | Zur Theologisierung von Gewalt vgl. W. Dietrich, »Legitime Gewalt ?«, S. 298-301. 32 | Zum Absonderungsparadigma im Sinne einer gewaltfreien Selbstausgrenzung, die seit der hellenistischen Zeit als Misanthropie gedeutet wird vgl. Assmann, Jan: Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München: Beck 2015, S. 107-110. Im Unterschied zu Christentum und Islam hat das Judentum stets auf missionarische Züge verzichtet, Konversionsbestrebungen sogar verkompliziert.

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Vorgehen und die Härte wider, denen auch Israel angesichts seiner verschiedenen Eroberer im 1. Jahrtausend ausgesetzt war33 (und denen JHWH gegenlenkt: vgl. Dtn 7,17-24). Um die Existenz Israels als ein sehr kleines Volk in der Antike zu gewährleisten, formulieren die oben zitierten Texte Vormachtphantasien, die den wiederholt erfahrenen Landverlust konterkarieren und die traumatisch erlebten politischen Erfahrungen indirekt thematisieren.34 Wenn im Diskurs der Verheißung und der gewaltsamen Landnahme eine heroische Vergangenheit evoziert wird, geht es letztlich um die Ansprüche für die erhoffte Gegenwart. Doch stehen diese Phantasien nicht für sich: »Wer denn unbedingt von dem Gift der göttlich legitimierten gewaltsamen Landnahme Israels kosten will – und solche Leute gibt es in fundamentalistischen Kreisen nicht nur Israels -, der nehme sogleich auch eine angemessene Dosis von dem im Alten Testament reichlich vorhandenen Gegengift des angedrohten und dann eingetretenen Landverlusts zu sich«.35 Die Erzählungen lassen nämlich keinen Zweifel daran, dass der Landverlust nicht aus dem Agieren der politischen Feinde, sondern letztlich aus Gottes Handeln als Folge der Untreue Israel resultiert. Die Verheißung des Segens im Land (»das gute Leben«) und die Vergeltung an denen, die Gott hassen bzw. seinen Bund kündigen (7,12-15), gehören nämlich zusammen und können auch die eigene Gemeinschaft treffen. Betrachtet man die drei Texte nebeneinander, stellt Dtn 7 als nachexilische Bearbeitung die jüngste der drei Versionen dar, die neben der Unabdingbarkeit des Anspruchs der Weisung (Tora) zudem die Heiligkeit des von Gott erwählten Volkes (V. 6) hervorhebt. Letztere argumentiert im Sinne einer klaren Trennung zwischen 33 | Vgl. dazu Crouch, War and Ethics, S. 183: »the deployment of h.ērem in the conquest (accounts) and subsequently in the late seventh century […] was a consequence of a perceived increase in the threat posed by outsiders to the indigenous order. There can be no doubt that the actual threat of foreign invasion was immeasurably higher in both Israel and Judah that it ever was in imperial Assyria. […] Furthermore, in describing h.ērem as a creative act of order against chaos, it is significant to note that there is a very high level of inconsistency in the acts of war described by the term: it refers at various points to the execution of men, the execution of all human inhabitants, and the execution of all living creatures«. 34 | Carr, David: Holy Resilience. The Bible’s Traumatic Origins, New Haven/London: Oxford Press 2014, S. 127 beschreibt die Exilserfahrung als »Nahtod-Erfahrung« Israels: »The exiled community in Babylon had gone up to the edge of the destruction it had seen Israel undergo […] and lived.« Der traumatischen Seite wird man sich bewusst, wenn man die erstaunliche Abwesenheit von Texten bedenkt, die auf das Exil überhaupt explizit Bezug nehmen bzw. es reflektieren wie es z.B. das Ezechielbuch, Ps 137 oder Klagelieder 1-4 tun. Angesichts der sonst umfänglichen geschichtsschreibenden Darstellungen bis zum Exil verwundert diese Leerstelle sehr. 35 | W. Dietrich, »Legitime Gewalt?«, S. 305.

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dem Gottesvolk und den anderen Völkern, um Land und Volk in seiner Beziehung zu Gott nicht zu verunreinigen und dem Verlust der postulierten eigenen kulturellen Identität vorzubeugen.36 Es handelt sich dabei um ein theologisches Konzept unter vielen anderen, der deuteronomistischen Schule zugehörig, das die kulturelle Identität des Gottesvolks zu definieren sucht.37

4. H ERMENEUTISCHE Ü BERLEGUNGEN ZUM H. ERÆM -K ONZEP T Jan Assmann hat sich den genannten Texten im Zuge von Untersuchungen zum Verhältnis von Monotheismus und Gewalt gewidmet.38 In seiner ausführlichen Darstellung des Exodusnarrativs39 beschreibt er die deuteronomistische Vorstellung vom Bann als »zweite mosaische Unterscheidung«, die auf die Unterscheidung (des erwählten) Israel von den Völkern und auf seine Zugehörigkeit zum Gottesbund zielt. Es geht darin um die Selbstausgrenzung Israels aus dem Völkerverbund angesichts des Anspruchs der Tora (s.o. Dtn 4,5-8; vgl. Num 23,9; Lev 20,24.26). Der daraus resultierende »Monotheismus der Treue« unterscheidet sich von einem universalistisch geprägten Monotheismus darin, dass er Untreue als Abkehr von dem einen Gott zu anderen Göttern versteht und somit die Existenz anderer Götter, die zu dem Einen in Konkurrenz treten können, als Möglichkeit voraussetzt (Polytheismus). Die Völker, die im Lande Israel leben (»Kanaanäer«), drohen wegen ihrer Andersartigkeit Israel vom JHWH gemäßen Leben, wie es der Tora entspricht, wegzuführen, d.h. den Bund zu brechen. Unter diesen Umständen wird die gewaltvolle Sprache des h.eræm-Narrativs verständlich: In den Vernichtungskriegen geht es nicht um Imperialismus, die Übernahme von Ressourcen, Versklavung etc. Es geht um Separierung bis hin zur Vernichtung der JHWH-Abtrünnigen oder -Hasser, die die Existenz als Gottesvolk gefährden. Die Gefahren eines solchen Den-

36 | R. Schmitt, Heiliger Krieg, S. 73-76. 37 | Römer, Thomas: Art. »Deuteronomismus«, in: Stefan Alkier/Michaela Bauks/Klaus Koenen (Hg.), Wissenschaftliches Bibellexikon im Internet, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2013, online: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/16353/ vom 7.8.2018. 38 | Vgl. Assmann, Jan: Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München/Wien: Hanser 2000, S. 262ff. S. außerdem Ders., Monotheismus und die Sprache der Gewalt. Das Gewaltpotential des Monotheismus und der dreieinige Gott (= Questiones disputatea, Band 216), Freiburg: Herder 2005, S. 18-38, bes. S. 21, 28-30. 39 | J. Assmann, Exodus, S. 108 – als erste mosaische Unterscheidung nennt er Knechtschaft und Freiheit als Grundthema der Tora (Exodus); vgl. Ders., Autour de l’Exode. Monothéisme, différence et violence, Revue de l’histoire des religions 1 (2014), S. 5-26.

Verbindlichkeitsrhetorik

kens sind erst gebannt, wenn die unterschiedlichen Theologien als kulturell gebundene Denk- und Offenbarungsformen ein und desselben Gottes akzeptiert werden.40 Dann dient der »Monotheismus der Treue« nämlich nicht mehr als ein Programm für die Ausmerzung der Andersgläubigen, sondern als ein Regelwerk innerhalb der Gemeinschaft. Sichtbar sind auch Konflikte, die um die Autorität der »Heiligen Schrift(en)« ranken, welche die beschriebenen Narrative und rhetorischen Strategien als verbindlich dokumentieren, an die nachfolgenden Generationen überliefern und zur Grundlage der gegenwärtigen Identitätsstiftung erklären.41 Heinrich Heine charakterisierte die jüdische Heilige Schrift sehr passend als ein Kulturgut, das die Juden »aus dem großen Brand des zweiten Tempels gerettet und es im Exile gleichsam wie ein portatives Vaterland mit sich herumschleppten das ganze Mittelalter hindurch, sie hielten diesen Schatz sorgsam verborgen in ihrem Ghetto, wo die deutschen Gelehrten, Vorgänger und Beginner der Reformation, hinschlichen, um Hebräisch zu lernen, um den Schlüssel zu der Truhe zu gewinnen, welche den Schatz barg.«42 Allerdings wurden die Texte in ihrer Fiktionalität immer wieder missverstanden und insbesondere von christlichen Eroberern, Invasoren und Kolonisatoren politisch vereinnahmt.43 Jan Assmann betont, dass die Politik der Gewalt, wie sie sich in der Gegenüberstellung von Freund und Feind findet, zwar der biblischen Semantik entstammt, im Laufe der Religionsgeschichte es »aber niemals die Juden, sondern ausschließlich die Christen und die Muslime gewesen sind, die diese Gewalt in die Tat umgesetzt haben. […] Einzig die Juden haben es verstanden, diese Texte in der Auslegungsgeschichte so zu humanisieren, daß sie keinen

40 | Ich denke hier z.B. an die Ringparabel von Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise (1779), die ursprünglich aus Boccaccios Decamerone (ca. 1350) entstammt und von Lessing im Sinne einer Humanitätsreligion entfaltet wird, die Religion und Aufklärung in ein Wechselverhältnis setzt; vgl. dazu Kaiser, Gerhard: »Aufklärung und Christentum in Lessings ›Nathan der Weise‹. Autonomie der Literatur seit der Aufklärung«, in: Alfred Bodenheimer/Georg Pfleiderer/Bettina von Jagow (Hg.), Literatur im Religionswandel der Moderne. Studien zur christlichen und jüdischen Religionsgeschichte, Zürich: Theologischer Verlag 2009, S. 27-52, bes. 30f. 41 | M. Bauks, Theologie, S. 313ff. 42 | Heine, Heinrich: Geständnisse (1854), in: Ders., Sämtliche Werke, Tempel Klassiker, Bd. 5, Leipzig o.J., S. 316. 43 | Vgl. dazu ausführlich R. Schmitt, Heiliger Krieg, und J. Assmann, Exodus, S. 115f, 277ff. zur dritten mosaischen Unterscheidung in Freund und Feind, die in den deuteronomistischen Texten angelegt apologetisches Denken und Tun und darin Radikalisierung im Sinne eines Monotheismus der Gewalt nach sich zieht.

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Michaela Bauks Schaden anrichteten. Sie haben die Unterscheidung von Freund und Feind verinnerlicht. […] Abtrünnig werden, vom Gottesbund abfallen konnte nur ein Israelit. […] Das Judentum war immer nur an dem Heiden im eigenen Herzen interessiert, nicht an den Heiden ringsherum in der politischen Außenwelt.« 44

Verinnerlichung bedeutet Abstrahierung. Erst die konkrete Umsetzung der Verbindlichkeitsrhetorik impliziert Missbrauch45, wobei die Separierung religiöser Gruppen und die Sakralisierung Heiliger Schriften sich parallel zueinander entwickeln und dabei normative Aufwertung erfahren. In diesem Fall wird die beziehungsstiftende Verbindlichkeitsrhetorik (obligatio) ersetzt durch die kanonische Verbindlichkeit mit dem Ziel, anhand eines Regelsystems (regulae = Tora) Normativität in der Lebensführung (constantia) zu schaffen.46 Allerdings weist die Tora mitsamt ihrer Dubletten und Widersprüche bereits in ihrer Komposition darauf hin, dass diese »Regeln« in ihrer polymorphen Überlieferungsform gar nicht anwendbar sind. Wie zu Beginn des Artikels bereits gesagt: Die Tora selbst beinhaltet Diskussionen über (traditionell überlieferte) Regeln (vgl. Dtn 7; 13; 20) und ist kein juristisch verstandenes Regelwerk.47 Der Wandel im Verständnis der Verbindlichkeit zeigt sich religionsgeschichtlich am Beispiel der im frühen Mittelalter aufkommenden Glaubenskriege, die bis in unsere Gegenwart unter Rückverweis auf heilige Schriften geführt werden. Deshalb ist es für die Bibel- und Koranexegese unumgänglich, auch die heute als schwierig und politisch unkorrekt erscheinenden Texte nicht zu verstecken oder gar zu negieren, sondern sie als Literatur in ihrer historischen Dimension zu analysieren und religionsgeschichtlich einzuordnen, um jeder Form von gegenwärtigem Fundamentalismus vorzubeugen. Die hermeneutische Herausforderung erklärt Paul Ricœur durch das Gebot der Säkularisierung. Analysiert man die genannten Texte in dem dialektischen Spannungsverhältnis von Ideologie und Utopie, wird ihr Bedeutungsgehalt für die gesellschaftliche 44 | J. Assmann, Herrschaft und Heil, S. 263. 45 | J. Assmann, Autour de l’Exode, S. 21: »Alors que les faits de violence rapportés par l’Écriture doivent être considérés comme des pures fictions littéraires, des faits de violence réels sont désormais commis au nom de ces passages textuels«. 46 | Zu den Funktionen literarischer Kanones vgl. Winko, Simone: Art. »Kanon«, in: Oda Wischmeyer (Hg.) Lexikon der Bibelhermeneutik, Berlin: de Gruyter 2009, S. 316f. Zur Hermeneutik Heiliger Schriften vgl. auch M. Bauks, Theologie, S. 322ff. 47 | Das erklärt auch, warum im Judentum die Tora zwar den wichtigsten Teil der Heiligen Schrift bildet, aber der kontinuierlichen Auslegung bedarf, so dass Mischna und Talmud eine ebenbürtige Bedeutung zukommt; vgl. Martini, Annett/Talabardon, Susanne: Art. »Jüdische Bibelauslegung«, in: Stefan Alkier/Michaela Bauks/Klaus Koenen (Hg.), Wissenschaftliches Bibellexikon im Internet, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2012, online: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/15261/ vom 08.08.2018.

Verbindlichkeitsrhetorik

bzw. soziale Identität verständlich. Während Ideologie der Verschleierung, der Rechtfertigung wie aber auch der sozialen Integration dient, eröffnet Utopie im Sinne eines »nulle part« den Ausdruck von neuen Möglichkeiten, die Anfechtung der Machtverhältnisse oder die Flucht vor der politischen und gesellschaftlichen Realität.48 Wie Ideologie unverzichtbar ist, um soziale Ordnung zu definieren, innerhalb derer der soziale Zusammenhalt (hebr. .s edaqah »Gemeinschaftstreue«) gewährleistet ist, so bedarf es der Utopie als eines strukturellen Hinterfragens der vorherrschenden Konzepte, um eine Neubewertung und zukunftsbezogene Veränderung im Imaginären zu ermöglichen. Allein die Spannung der beiden Pole bewirkt, dass es nicht zu einer ideologischen Verfestigung kommt, sondern im utopischen Suchen das Überlieferte als symbolisches System lebendig bleibt.49 Die Diktion des Heiligen Kriegs behandelt er im Kontext der »Symbolik des Bösen« als ein der Königsideologie und der Kosmologie entspringendes Konzept.50 »Wenn auch diese Theologie des Krieges von den Assyro-Babyloniern offenbar nicht systematisch entfaltet wurde, kann man umgekehrt sagen, daß sich auf diesen ersten mythologischen ›Typ‹ des Bösen jede konsequente Theologie des heiligen Krieges gründet; nach dieser Theologie ist der Feind böse, der Krieg ist seine Züchtigung, und böse Menschen gibt es, weil es zuerst das Böse gibt und dann die Ordnung; letztlich ist das Böse kein Unfall, der eine frühere Ordnung verstört; es gehört konstitutionell zur Gründung der Ordnung. Es ist sogar zweimal originär: einmal in der Rolle des Feindes, den die Mächte des Chaos, obgleich sie am Ursprung der Welt zerschlagen wurden, immer wieder inkarniert haben, ein zweites Mal in der Figur des Königs, der gesandt ist, ›die Bösen und das Böse zu vernichten‹, und zwar durch dieselbe zweigesichtige Macht der Verwüstung und der Klugheit, die einst die Ordnung [nämlich zu Beginn der Welt] errichtet hat.«

Biblische Texte enthalten dieses Denken in einer abgeschwächten Form, was der wohl auch den historischen Umständen geschuldeten Kritik bzw. Neubewertung des Königtums entspricht, die dazu geführt hat, das Königtum auf Gott allein zu übertragen (s. z.B. Ps 93). Was dem irdischen König nicht gelingt (Frieden für Israel zu schaffen), wird theologisiert; ein Motiv, das sich im Neu48 | Ricœur, Paul: »L’Idéologie et l’utopie. Deux expressions de l’imaginaire social«, in: Autres Temps 2 (1984), 53-64; cf. »L’herméneutique de la sécularisation. Foi, Idéologie, Utopie«, in: Archivo di filosofia 46 (1976), S. 49-68 sowie Ders., L’idéologie et l’utopie, Paris: Seuil 1997, im Rekurs auf Karl Mannheim, Ideologie und Utopie (1927). 49 | Ricœur spricht in diesem Kontext von der Hermeneutik der Offenbarung, vgl. Ders., »Hermeneutik der Idee der Offenbarung«, in: Ders., An den Grenzen der Hermeneutik. Philosophische Reflexionen über die Religion, München: Alber 2008, 41-83. 50 | Ricœur, Paul: Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld, Bd. 2, 2. Aufl., München: Alber 2009, S. 224f. (Zitat).

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en Testament im Motiv des Anbruchs der Gottesherrschaft in Jesus Christus in eschatologisierter Form fortsetzt. Zugleich tritt an die Stelle der Kosmologie die Anthropologie und damit die Verantwortung des einzelnen Menschen im Gegenüber zu Gott.51 Das h.eræm-Narrativ ist im Spannungsfeld von Ideologie und Utopie zu verorten. Als königsideologisches Motiv zielt es auf konkrete Bestandssicherung vor dem Hintergrund der Freund-Feind-Ideologie. Diese wird in den Deuteronomium-Texten aber nicht auf äußere, sondern vor allem auf innere »Feinde« – und darin auf jeden Einzelnen – angewendet. Eine Glaubens- bzw. Lesegemeinschaft, die am Säkularisierungsprozess der Moderne partizipiert, ergänzt die ideologische Ausrichtung um die fruchtbare Spannung mit der Utopie.52 Die religiösen Narrative wie z.B. das oben gezeichnete historisch geprägte, aber von den Deuteronomisten auf Gott übertragene Herrschaftsmodell ist ein utopisches Beispiel der Entgrenzung. Wie der Auszug aus Ägypten, das Urereignis Israels, an das sich Bund und Erwählung anschließen, die positiven Züge einer identitätsstiftenden Ideologie trägt (»Befreiung«)53, so will die Verbindlichkeitsrhetorik von Dtn 7, 13, 20 an die Notwendigkeit der Treue zu dem Gottesbund erinnern, um dauerhaft an der Befreiungserfahrung zu partizipieren. Die beiden Pole befruchten die in Narrationen vermittelte Identität des (religiösen) Individuums wie der Gemeinschaft, indem sie an vergangene Erfahrungen der Hoffnung anschließen und für die Zukunft neue Wege der Hoffnung zu erschließen helfen.

51 | Ricœur beschreibt diesen Transformationsprozess aus der christlichen Perspektive als Übergang vom geschichtsimmanenten Messias (kommenden König; vgl. Jes 7,14) zum transzendenten und himmlischen Menschensohn bzw. Christus (vgl. Mt 1,23; Christus ist die griechische Übersetzung von Messias »Gesalbter«). An die Stelle eines kosmischen Kampfes der Urzeit tritt das Eintreten Gottes für Israel, d.h. »nicht mehr das Schöpfungsdrama, sondern die Geschichte wird Brennpunkt des Symbolismus. Damit hört der Feind auf, das Urchaos darzustellen; er wird gewissermaßen auf das rein Historische reduziert.« (P. Ricœur, Symbolik des Bösen, S. 233). 52 | Ricœur, »L‘herméneutique de la sécularisation«, S. 50, 60. 53 | Ebd., S. 66f.

Die Arbeit an der Verbindlichkeit – Reglementierungen und Normierungen der Lesepraxis und ihre Irritation Uta Schaffers/Timo Rouget

E INLEITUNG : G OE THE ALS L ESELEHRER »Ich will jetzo von was anders reden, nehmlich von dem was ich dir am nohtwendigsten glaube, das ist von deiner jetzigen Unterhaltung im Lesen. Du bist über die Kinderjahre, du mußt also nicht nur zum Vergnügen, sondern zur Besserung deines Verstandes, und deines Willens lesen. Bitte dir vom Papa Zeit dazu aus, er wird dir sie geben. […] Allein ich muß dich auch lesen lernen. Nichtwahr das kommt dir wunderlich für, daß ich so rede. Ich kenne dich ich weiß wie und warum du liesest. Siehe so must du es machen. Nimm ein Stück nach dem andern, in der Reihe, ließ es aufmercksam durch, und wenn es dir auch nicht gefällt, ließ es doch. Du must dir Gewalt antuhn |: Ich sag es noch einmahl: wenn du haben willst daß ich für dich sorgen soll; so must du mir folgen, und nicht nur Vergnügen beym Lesen suchen. :| Wenn du es gelesen hast; so mach das Buch zu und stelle Betrachtungen darüber an. Im Anfange wird es dir schweer fallen, aber bald wird es leichter gehen […]. Dieses ist besser und dir nützlicher als wenn du 20 Romanen gelesen hättest. Diese verbiete ich dir hiermit völlig, den einzigen Grandison[1] ausgenommen, den du noch etlichemal lesen kannst, aber nicht obenhin, sondern bedächtig. […] So weit für dießmahl. Der Papa wird mit meinen Anstalten zufrieden seyn. […] belohne mich, und folge.«2

1 | [Hier wird auf folgenden Text verwiesen: Richardson, Samuel: Geschichte Herrn Carl Grandison. In Briefen entworfen von dem Verfasser der Pamela und der Clarissa, übers. v. Christian Fürchtegott Gellert/Abraham Gotthelf Kästner, 7 Bde., Leipzig: M.G. Weidmanns Erben u. Reich 1754/55]. 2 | »Johann Wolfgang Goethe an seine Schwester Cornelia Goethe. Antwort auf den Brief vom 6 Xbr. 1765«, in: Karl Robert Mandelkow/Bodo Morawe (Hg.), Johann Wolfgang von Goethe. Briefe, Kommentare und Register. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 1: Goethes Briefe 1764-1786, München: C.H. Beck 1986, S. 22f.

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Der 16-jährige Johann Wolfgang Goethe übt sich im Dezember des Jahres 1765 in einem Brief in der Rolle des ›Leselehrers‹ für seine 15-jährige Schwester Cornelia Goethe. Sehr viel später blickt er mit einigem Vergnügen auf den Eifer zurück, mit dem er diese Rolle ausfüllte: »Beim Durchlesen dieser Briefe, die von Leipzig aus an meine Schwester geschrieben waren, konnte mir unter andern auch diese Bemerkung nicht entgehen, daß ich mich sogleich bei dem ersten akademischen Unterricht für sehr klug und weise gehalten, indem ich mich, sobald ich auch etwas gelernt, dem Professor substituierte und daher auch auf der Stelle didaktisch ward. Mir war es lustig zu sehen, wie ich dasjenige was Gellert uns im Collegium überliefert oder gerathen, sogleich wieder gegen meine Schwester gewendet, ohne einzusehen, daß sowohl im Leben als im Lesen etwas dem Jüngling gemäß seyn könne, ohne sich für ein Frauenzimmer zu schicken; und wir scherzten gemeinschaftlich über diese Nachäfferei« 3

Mit dem Lesen als kulturelle Praxis verbanden und verbinden sich Reglementierungen und Normierungen, die sich im Verlauf der Geschichte des Lesens4 zwar tiefgreifend wandelten, in Teilen jedoch bis heute einige Beharrungskraft zeigen. Dabei wurde nicht nur das, was gelesen werden soll, kanonisiert und reglementiert, sondern auch wie gelesen werden soll, also das Lesen als Kulturtechnik. Lesen als sowohl geistige als auch körperliche Tätigkeit war und ist, ebenso wie die damit verbundenen Funktionen, »traditionell überindividuell normiert«5 und expliziten Regeln unterworfen. Im späten 18. und vor allem im 19. Jahrhundert wurden diese Regeln und Normierungen im Kontext des 3 | Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: K. Robert Mandelkow/Bodo Morawe (Hg.), Johann Wolfgang von Goethe, Bd. 9: Erstes bis Dreizehntes Buch, 14. Aufl., Hamburg: C.H. Beck 2002, S. 349. Vgl. dazu auch Schön, Erich: »Weibliches Lesen. Romanleserinnen im späten 18. Jahrhundert«, in: Helga Gallas/ Magdalene Heuser (Hg.), Untersuchungen zum Roman von Frauen um 1800, Tübingen: Max Niemeyer 1990, S. 20-40, hier S. 32f. 4 | Für die Geschichte des Lesens soll hier v.a. auf die Arbeiten Erich Schöns verwiesen werden, so z.B.: Schön, Erich: Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800, Stuttgart: Klett-Cotta 1993 oder Ders.: »Geschichte des Lesens«, in: Bodo Franzmann et al. (Hg.), Handbuch Lesen. Im Auftrag der Stiftung Lesen und der Deutschen Literaturkonferenz, München: Saur 1999, S. 1-85. 5 | Schneider, Ute: »›Wozu lesen?‹. Persistente Funktionen des Lesens im sozialen Kontext«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 39.1 (2014), S. 268-283, hier S. 270. Auch: Dies.: »Anomie der Moderne. Soziale Norm und kulturelle Praxis des Lesens«, in: Sandra Rühr/Axel Kuhn (Hg.), Sinn und Unsinn des Lesens. Gegenstände, Darstellungen und Argumente aus Geschichte und Gegenwart, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, S. 143-158.

Die Arbeit an der Verbindlichkeit

Bildungsdiskurses sowie im Kontext von Status- und kollektiver Identitätsarbeit mit sehr hohem diskursivem Aufwand verhandelt. Dabei ging es historisch betrachtet nicht in erster Linie darum, dass (und was) gelesen werden soll, sondern vielmehr darum, was wann wo zu welchem Zweck von wem gelesen werden darf (wobei auch der zweckfreien Lektüre als ›demonstrativer Konsum‹6 im 19. Jahrhundert eine sozial distinktive Funktion im Sinne der Statusarbeit zukam7 ). Einige Facetten dieses Diskurses werden am obigen Briefzitat und der späteren autobiographischen Reflexion deutlich: Subjekte dieser höchst asymmetrischen Diskurse waren Männer, als Objekte fungierten vor allem die nicht-professionellen Leser, d.h. in der Regel männliche Jugendliche und Frauen, später auch die so genannten ›unteren Volksklassen‹. Und so tritt auch der nur ein Jahr ältere Bruder selbstverständlich als ›Leselehrer‹ seiner Schwester auf, wobei er sich auf die weitere Autorität des Vaters beruft und seine eigene Autorität aus seiner höheren formalen Bildung (und der Autorität seines Professors) sowie letztlich auch aus der allgemein anerkannten Vormundschaft des Mannes über die Frau schöpft, was alles in allem eine starke Verbindlichkeit des Auftrags auf sozialer Ebene konstituiert. Die der Schwester aufgetragenen Haltungen, Verhaltensweisen und Tätigkeiten betreffen den Zweck des Lesens (Bildungs- und Identitätsarbeit), die Zeit des Lesens, die Art und Weise des Lesevorgangs sowie die Handlungen im Anschluss an das Lesen (im weitesten Sinne ›Anschlusskommunikation‹8). Und selbstverständlich wird auch behandelt was, bzw. noch wichtiger, was nicht gelesen werden soll: Romane galten insbesondere für Frauen als unpassende und gefährliche Lektüren. Dennoch wird von den Geschwistern im Rückblick nicht allein der Eifer belächelt, mit dem der Jüngling die Rolle des Leselehrers übernimmt, sondern vor allem die fehlende Berücksichtigung der Geschlechterfrage: »[…] ohne einzusehen, daß 6 | Vgl. Veblen, Thorstein: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen (1899), Frankfurt a.M.: Fischer 1986. Dazu auch: Lenger, Alexander/ Priebe, Stefan: »Demonstrativer Konsum und die Theorie der feinen Leute: Geschmack, Distinktion und Habitus bei Thorstein Veblen und Pierre Bourdieu«, in: Alexander Lenger/Christian Schneickert/Florian Schumacher (Hg.), Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus. Grundlagen, Zugänge, Forschungsperspektiven, Wiesbaden: Springer 2013, S. 91-108. 7 | Schön, Erich: »Zur Archäologie der modernen Lesepropädeutik im 18. Jahrhundert«, in: Gabriele von Glasenapp/André Kagelmann/Felix Giesa (Hg.), Die Zeitalter werden besichtigt. Aktuelle Tendenzen der Kinder- und Jugendliteraturforschung, Frankfurt a.M.: Lang 2015, S. 27-51, hier S. 38. Vgl. zu den individuellen und sozialen Funktionen des Lesens in der Geschichte v.a. U. Schneider: »Wozu lesen?«. 8 | Der Begriff der Anschlusskommunikation basiert auf dem ›literarischen Gespräch‹. Vgl. Zabka, Thomas: »Konversation oder Interpretation? Überlegungen zum Gespräch im Literaturunterricht«, in: Leseräume 2 (2015), S. 159-187.

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sowohl im Leben als im Lesen etwas dem Jüngling gemäß seyn könne, ohne sich für ein Frauenzimmer zu schicken«.

L ESEKULTUR Goethes Einlassungen konstituieren bei näherem Hinsehen auch etwas, das mit dem Begriff Lesekultur zu umfassen wäre. Historisch betrachtet ist Lesekultur ein normatives Konstrukt mit deutlich verhaltensleitender Funktion und hohem Geltungsanspruch, das die Tätigkeit des Lesens selbst prinzipiell positiv wertschätzt – jedoch nur, wenn bestimmte Voraussetzungen und Ansprüche erfüllt sind, wenn also, kurz gesagt, den sich wandelnden Reglementierungen und Normierungen Genüge getan wird.9 In seiner spezifischen Ausprägung wird dieses Konstrukt von einer bestimmten sozialen Schicht geformt und wertgeschätzt. Vor allem im 19. Jahrhundert konstituierte sich die Engführung mit einer spezifischen Literaturauffassung, die ausgewählte Lektüren sowie die an diese Lektüren normativ gebundenen und diskursiv verhandelten Rezeptionsweisen einschloss und andere von vornherein ausschloss.10 Lesekultur umfasst also sowohl bestimmte Lektüren als auch einen spezifischen Habitus, der sich insgesamt in den Lesepraktiken und einer bestimmten Art und Weise der Einbindung von Buch und Lesen in Alltag und Lebensstil niederschlägt. In welchem Maße und von wem das normative Konstrukt Lesekultur dann tatsächlich auch in eine kulturelle Praxis überführt wurde oder überhaupt werden konnte, wird in der Forschung heute kontrovers diskutiert, man geht aber davon aus, dass mit dem Begriff und dem Konzept nur in sehr geringem Maße ein konkretes kulturelles Verhaltensmuster von Personen beschrieben ist.11 Lesekultur wäre dann also im Verlaufe des späten 18. und des

9 | Zu Lesekultur vgl. Schön, Erich: »›Lesekultur‹. Einige historische Klärungen«, in: Cornelia Rosebrock (Hg.), Lesen im Medienzeitalter. Biographische und historische Aspekte literarischer Sozialisation, Weinheim: Juventa 1995, S. 137-164. 10 | An dieser Stelle soll nur kurz auf die Literaturdoktrin der deutschen Klassik sowie die damit verbundene Kunstauffassung verwiesen werden. 11 | Dies vor allem vor dem Hintergrund des Einbezugs zeitgenössischer Quellen wie dem Journal des Luxus und der Moden (vgl. dazu auch Angela Borchert/Ralf Dressel (Hg.), Das Journal des Luxus und der Moden. Kultur um 1800, Heidelberg: Winter 2004). Die zeitgenössischen Quellen zeigen, dass die im Konzept vorgenommenen scharfen Trennungen zwischen hohem Kunstgenuss einer Bildungselite und niedrigem der Kulturkonsumenten in der kulturellen Praxis des Lesens (oder auch des Theaterbesuchs) so keinen Bestand hatten. Auch heute ist selbstverständlich ein Auseinanderklaffen von sozialer Wertschätzung von Lesen und literarischer Bildung sowie realem Leseverhalten beobachtbar (vgl. etwa die Studien zum Leseverhalten, beschrieben von Dawidowski,

Die Arbeit an der Verbindlichkeit

19. Jahrhunderts mit hohem normativem Anspruch diskursiv verhandelt, von einigen durchaus auch ›demonstrativ‹ praktiziert worden, hätte jedoch für die alltägliche Lesepraxis vieler nur einen geringen oder zumindest einen flexiblen Grad an Verbindlichkeit gehabt. Allerdings hatte und hat dieses Konstrukt bis heute wichtige Funktionen im Kontext der Mythisierung und Ideologisierung des literarischen Lesens auch im und für den Bildungsdiskurs, so wie der Bildungsdiskurs auch wichtige Funktionen für die Profilierung des Konstrukts Lesekultur hatte und hat. Erich Schön formuliert in seinen historischen Klärungen die These, der wir uns hier anschließen möchten, dass die Funktion dieser normativen Vorstellung Lesekultur »eher die ›Kultivierung‹ des Lesens im Sinne seiner Disziplinierung, als die der Förderung und Stabilisierung des tatsächlichen Lesens«12 war. Zumindest im Sinne der Disziplinierung und Normierungen vor allem aber im Hinblick auf die Statusarbeit und das, was Jost Schneider »Habitusperseveranz«13 genannt hat, hat dieses normative Konstrukt dann auf lange Sicht auch Wirkungen gezeitigt.

A RBEIT AN DER V ERBINDLICHKEIT : R EGLEMENTIERUNGEN UND N ORMIERUNGEN DER L ESEPR A XIS UND IHRE M EDIEN Nicht nur die Konzeption von Lesekultur führte zu einer Kanonisierung spezifischer, mit dem Lesen verbundener Praktiken; Lesen – und vor allem literarisches Lesen – wurde seit dem 18. Jahrhundert intensiv pädagogisch reglementiert und auf seine Legitimation für bestimmte soziale Gruppen hin geprüft. Wie bereits einleitend erwähnt, beziehen sich die sehr dezidierten Reglementierungen der Lesepraxis – im Sinne von explizit gefassten Sätzen – unter anderem auf den Leseort und die Lesezeit, sie betreffen die Materialität der Lektüren und die von einer bestimmten Personengruppe zu lesenden oder nicht zu le-

Christian: »Aushandlungsprozesse über literaturbezogene Werte im Literaturunterricht der Oberstufe. Anlage und erste Ergebnisse einer Studie«, in: Stefan Neuhaus/Uta Schaffers (Hg.), Was wir lesen sollen. Kanon und literarische Wertung am Beginn des 21. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, S. 301-321. 12 | E. Schön: »Lesekultur«, S. 164. 13 | Schneider, Jost: »Die Sozialgeschichte des Lesens und der Begriff ›Literatur‹«, in: Simone Winko/Fotis Jannidis/Gerhard Lauer (Hg.), Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin/New York: de Gruyter 2009, S. 434-455, hier S. 447. Schneider beschreibt dort das Phänomen, dass ein bestimmter Habitus soweit internalisiert ist, dass man sich kaum mehr vorstellen kann, dass jemand »kein Lexikon im Haus hat, nicht für den und den Schlagersänger schwärmt, den Namen Shakespeare nicht kennt oder sich nicht für Fußball begeistert« (ebd.).

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senden Titel und Gattungen. Sie greifen sogar über das eigentliche Lesen hinaus und bis in die Anschlusskommunikation über Gelesenes hinein: So findet sich z.B. im frühen 19. Jahrhundert ein immer ausgefeilterer Kanon passender Gesprächsanlässe und -inhalte über Literatur.14 Die Reglementierungen betreffen aber auch den Akt des Lesens selbst. Damit ist sowohl die geistige als auch die körperliche Dimension, also die mit dem Leseakt verbundene und erlernte Körperpraxis,15 gemeint, die bekanntermaßen im Verlauf der Disziplinierung des Körpers beim Lesen16 an Dynamik und Ausdrucksformen verloren hat – hier wird das ›Wissen des Körpers‹ als prozedurales Wissen greif bar, die Verkörperung der Regeln und Normen. Erich Schön zeigt, dass im Verlaufe dieser zunehmenden Immobilisierung des Körpers beim Lesen der Körper nicht mehr freigegeben wird, »seine Erfahrungen im Lesen zu machen, sondern [er] ist nur Instrument für die Zwecke des intellektuellen Subjekts.«17 Und auch wenn Roland Barthes 1973 über den Lese-Akt schreibt: »Le plaisir du texte, c’est ce moment où mon corps va suivre ses propres idées – car mon corps n’a pas les mêmes idées que moi«,18 so meint er mit dieser Form der ›jouissance‹ 14 | Kurz nach 1800 gibt es vor allem für Frauen Anleitungen, wo und wie in angemessenem Maße über die ›richtigen‹ literarischen Werke Konversation gemacht werden soll. Martens, Wolfgang: »Der gute Ton und die Literatur. Anstandsbücher als Quelle für die Leseforschung«, in: Herbert G. Göpfert (Hg.), Buch und Leser, Hamburg: Hauswedell 1977, S. 203-229. Im späteren 19. Jahrhundert finden sich in so genannten Anstandsbüchern auch entsprechende Musterdialoge nicht nur über Werke, die im Sinne der restriktiven Auffassung von Lesekultur als legitim gelten, sondern durchaus auch über Unterhaltungs- und Modeliteratur. Vgl. dazu insbesondere Dettmar, Ute: »Überfall! Spannungsliteratur und Lesepraxen um 1800«, in: Ute Dettmar/Stefanie Lotz/Bettina Migge/Irene Pieper (Hg.), Grenzbereiche des Lesens, Frankfurt a.M.: Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg 2005 (http://pubikationen.ub.uni-frankfurt.de/ volltexte/2005/886/ vom 29.03.2018). 15 | Vgl. dazu auch Perec, Georges: »Lesen: sozio-physiologischer Abriss«, in: Christine Grond-Rigler (Hg.), Die Sichtbarkeit des Lesens. Variationen eines Dispositivs, Innsbruck: Skarabaeus 2011, S. 20-29. 16 | Vgl. zum Verlust der Sinnlichkeit beim Lesen, zum Zurücktreten der körperlichen Dimensionen des Leseerlebnisses im Verlaufe des 18. Jahrhunderts E. Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit. 17 | Ebd., S. 82. 18 | Barthes, Roland: »Le plaisir du texte«, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2: 19661973, Paris: Seuil 1994, S. 1502 (»Die Lust am Text, das ist jener Moment, wo mein Körper seinen eigenen Ideen folgt – denn mein Körper hat nicht dieselben Ideen wie ich«. Ders.: Die Lust am Text, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 26). Auch in den Ausführungen von Barthes zeigt sich die enge Verbindung von Lesestoff und (normativer) Konstruktion des Leseaktes, da er auf Texte rekurriert, die im freien Spiel und Gleiten

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die Wollust des Lesers im Spiel der sich auflösenden Zeichen, die der körperlichen Lust eben nur gleichzusetzen, dieser aber nicht gleich ist. Neben Kirchen und Bildungsinstitutionen sind dann vor allem Lesediätetiken, Lesepropädeutiken, Moralische Wochenschriften und Anstandsbücher aus dem späten 18. und dem 19. Jahrhundert als Medien der Reglementierung und Normierung der Praxis des Lesens und der Lektüren in den Fokus der Forschung geraten, u.a. bei Ute Schneider, Erich Schön oder Alfred Messerli.19 Diese Medien arbeiten mit unterschiedlichen Mitteln und differierenden Graden von Normativität und Verbindlichkeit an den Regeln, die die kulturelle Praxis Lesen für bestimmte Gruppen jeweils einhegen und formen. Durch diese Setzungen und Aushandlungen werden aber gleichzeitig auch ›Möglichkeitsräume‹ konstituiert, die die Möglichkeit des Handelns sowie der Dehnung und Transgression der damit verbundenen Grenzen in der und durch die Praxis beinhalten.20 Normen als »Vorstellungen vom angemessenen Handeln«21 sind in diesem Sinne ja zunächst Bezugsgrößen, sie vermitteln Orientierung (und Normalität22), verleihen Legitimation und enthalten – trotz der damit verbundenen (sozialen und/oder rechtlichen) Sanktionsdrohung – nicht zuletzt auch die Aufforderung zu ihrer Überschreitung: Zwar inkludiert und exkludiert Normatives recht kategorisch, aber immer nur vor der Folie dessen, was ausgeschlossen, untergeordnet oder Abseits gestellt, was negiert wird. Dieses

der Wörter, Zeichen und Bedeutungen eher einer ›erotischen‹ Erfahrung denn einer restriktiven Hermeneutik verpflichtet sein sollen. 19 | Vgl. etwa U. Schneider: »Anomie der Moderne«; Messerli, Alfred: Lesen und Schreiben 1700 bis 1900, Tübingen: Niemeyer 2002; E. Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit; Ders.: »Lesekultur«; Ders.: Zur Archäologie der modernen Lesepropädeutik (u.a.m.); auch: Künast, Hans-Jörg: »Lesen macht krank und kann tödlich sein. Lesesucht und Selbstmord um 1800«, in: Sandra Rühr/Axel Kuhn (Hg.), Sinn und Unsinn des Lesens. Gegenstände, Darstellungen und Argumente aus Geschichte und Gegenwart, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, S. 121-142. 20 | Vgl. Möller, Christoph: Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität, Berlin: Suhrkamp 2015. Zum Auseinanderfallen von sich verstärkender sozialer Normierung des Lesens im 19. Jahrhundert und konkreter Lesepraxis vgl. U. Schneider: »Anomie der Moderne«. 21 | Bispinck-Funke, Christian: Soziale Normen und Regeln. Ontologische Betrachtung, Würzburg: Königshausen & Neumann 2018, S. 73. 22 | Zum Verhältnis von Normativität und Normalität vgl. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2006.

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›Andere‹ ist als das immer auch Mögliche anwesend.23 Und auch Regeln können in der eigenen Praxis, zumal in der Praxis des ›intimen‹ oder ›einsamen‹ Lesens überschritten oder ignoriert werden.24 Der Grad an Verbindlichkeit, der diesen Reglementierungen und Normierungen zugesprochen wird, lässt sich an »der Qualität der Anschlusshandlung, die auf eine Abweichung hin folgt«25, ablesen.26 Etwas unschärfer gefasst könnte man vielleicht davon sprechen, dass auch gewisse innere Reaktionen darüber Auskunft geben können, welchen Grad an Verbindlichkeit ein Individuum einer Norm oder Regel zuspricht. Diese Reaktionen können vom Registrieren einer Differenz (Erwartungsbruch) über Erstaunen, Unwohlsein oder Freude und Lust bis hin zu Befürchtungen oder Angst reichen. Die ›Arbeit an der Verbindlichkeit‹ bestimmter Setzungen wird nun in der Geschichte des Lesens teils mit hohem Aufwand und mit unterschiedlichsten Mitteln betrieben. So werden Normen und Regelwerke in verschiedene Diskurse und Narrationen gekleidet, in vorbildlichen Praktiken demonstrativ verkörpert oder – darauf wird im Anschluss einzugehen sein – verbildlicht und in audiovisuellen Medien verhandelt. Diese ›Modelle‹ können die Regeln und Normen dann jeweils bestätigen und sichern oder, indem sie das uneindeutige Verhältnis des Individuums zu diesen Regeln und Normen in seiner jeweiligen Praxis ausstellen, diese reflektieren und unterlaufen. Dabei erzeugen sie ein je höheres oder geringeres Maß an Verbindlichkeit – entweder für die Norm oder für die Überschreitung dieser. Das Verhältnis zwischen einer starken und schwachen Verbindlichkeit von Normativität ist dabei komplex, so kann die Verbindlichkeit einer reflektierten, auf Aushandlung basierenden Normativität aufgrund des sozialen Geltungsmodus, der ›alle‹ einbezieht, stärker empfunden werden als eine Verbindlichkeit, die auf einer autoritativ in traditionalen Machtverhältnissen erzwungenen Normativität fußt.27 23 | Vgl. Hahn, Alois: »Kanonisierungsstile«, in: Aleida Assmann/Jan Assmann (Hg.), Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation, Bd. 2, München: Fink 1987, S. 28-37, hier S. 29. 24 | Inwiefern individuelle Praxis dann zu einer Dynamik und Entwicklung der kulturellen Praktiken führt, soll hier nicht beurteilt werden. Ute Schneider hat jedoch im Kontext des Lesens gezeigt, dass »[o]ffenkundige Veränderungen bzw. Erweiterungen der Funktionen und Leistungen des Lesens […] in erster Linie sich ändernden sozialen Normen und kollektiven Werten, und nicht individuellen Bedürfnissen« folgten (U. Schneider: »Wozu lesen«, S. 269). 25 | C. Bispinck-Funke: Soziale Normen, S. 195. 26 | Zur mentalen Repräsentation sozialer Normen sowie ihrer intersubjektiven Aushandlung und Verbindlichkeit vgl. auch ebd. 27 | Wir profitieren hier und anderenorts von den Diskussionen mit den KollegInnen aus dem Forschungsschwerpunkt Kulturelle Orientierung und normative Bindung.

Die Arbeit an der Verbindlichkeit

Als beispielhaft für die Arbeit an einer starken Verbindlichkeit der mit dem Lesen einhergehenden Regeln und Normierungen können die sozialen und auf das Individuum bezogenen Bedrohungsszenarien gelten, wie sie im Kontext des Leseverhaltens bestimmter Gruppen entworfen werden. So sind es vor allem die vermeintliche Eigensteuerung und Verselbstständigung der Lesenden ab etwa 1800, d.h. in einer Zeit des sich konstituierenden ›Sozialsystems Literatur‹,28 die als bedrohlich wahrgenommen wurden. Ungesteuerte Lesepraxis galt als sozial schädlich, wobei man v.a. im Hinblick auf das ›Romanelesen‹ von Frauen auf eine reiche Tradition an, heute gelinde gesagt etwas merkwürdig anmutenden, Warn- und Exempelnarrationen – auch in Form bildlicher Darstellungen29 – zurückblicken kann. So drohen Romanleserinnen, deren Einbildungskraft zu stark gereizt wird, Ansehensverlust und sozialer Abstieg, wenn nicht gar körperlicher Verfall bis hin zum schändlich-beschämenden (sozialen und auch sehr konkreten) Tod. Männlichen Lesern, die die Jugendzeit hinter sich gelassen haben und immer noch Romane lesen, droht ›Verweiblichung, Weibisch-werden und Verweichlichung‹, soziale Strukturen wie etwa Familie und Haushalte sind vom Zerfall bedroht, zumal wenn die Arbeitszeit der Frau durch Lesezeit besetzt wird – wer liest, tut schließlich sonst nicht viel. Neben dem häuslich-privaten droht das öffentliche Unglück, etwa der Bruch des Generationenvertrages,30 insgesamt also soziale Destabilisierung, wenn sich die diagnostizierte Zeitkrankheit der Lesewut und Lesesucht nicht eindämmen und in die richtigen Bahnen lenken lässt. Neben schriftlichen Medien, in denen Lesen und Lesepraxis diskursiv verhandelt wurden, gibt es dann eine unüberschaubare Fülle bildlicher Darstellungen Lesender, in denen Reglementierungen und Normierungen der Lesepraxis affirmativ oder subversiv ausgestellt und sichtbar gemacht sowie 28 | Schmidt, Siegfried J.: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. Inwiefern diese Bedrohungsszenarien auch mit der Quantität des Lektüreangebotes und der Expansion des literarischen Marktes, v.a. um 1800 zu tun haben, vgl. u.a. E. Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 31-63. 29 | Vgl. als berühmtes Beispiel das Bild des belgischen Frühsymbolisten Antoine Wiertz La liseuse de romans von 1853, das zweierlei ausstellt: Die supponierten skandalösen Auswirkungen verführter und verführerischer weiblicher Roman-Lesesucht sowie die Schaulust des männlichen Publikums. Die sexuellen Implikationen des Sujets bestätigen in gleichem Maße die Befürchtungen der Lesepädagogen wie sie das Begehren der Betrachter bedienen. 30 | Vgl. Hocke, Johann Gottfried: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht und über den Einfluss derselben auf die Verminderung des häuslichen und öffentlichen Glücks, Hannover: Ritscher 1794 [Nachdruck: München: Kraus 1981]. Vgl. U. Dettmar: »Überfall!«, S. 5f.; u.a. E. Schön: Zur Archäologie der modernen Lesepropädeutik sowie Ders.: »Weibliches Lesen«, S. 36-40.

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insgesamt Mythen, Topoi und Ideologien des Lesens visualisiert werden. Lesen war und ist ein wichtiges Thema oder Motiv in der visuellen Kultur, in Filmen, in der Kunst, in der Werbung, auf Postern etc. Bilder Lesender ›zeigen‹ etwas – aber was zeigen sie und was sehen wir?31 Wie lesen wir Bilder Lesender und welchen Sinn geben wir ihnen? Wenn in der Forschungsliteratur visuelle Repräsentationsformen des Lesens in den Blick genommen werden, werden sie in der Regel auf ihren etwaigen Beitrag zu einer Geschichte des Lesens hin befragt: Können uns bildliche Darstellungen Zeugnis davon geben, was, wie und warum Menschen lesen resp. zu verschiedenen Zeiten gelesen haben?32 Bilder Lesender können aber auch in einem anderen Funktionszusammenhang betrachtet werden, etwa im Kontext der Setzung von und in Auseinandersetzung mit Reglementierungen und Normierungen der Lesepraxis und mithin im Kontext der ›Arbeit an der Verbindlichkeit‹ dieser. Auf vielen Bildern – die natürlich einer Geschichte kanonischer Darstellungsweisen in der Kunst sowie Gattungs- und Stiltraditionen verpflichtet sind – werden auf den ersten Blick verkörperte Orientierungsmuster bildlich ausgestellt. Bei näherem Hinsehen unterlaufen die Darstellungen aber auch oft genug das, was sie auszustellen scheinen, und manche Darstellungen machen anderes, vielleicht das Andere sichtbar. Vergleichbares kann für die filmische Inszenierung Lesender geltend gemacht werden. Zunächst wird jedoch, aufgrund der spezifischen medialen Verfasstheit filmischer Darstellungen, eigentlich Selbstverständliches auffallend ›sichtbar‹, nämlich die Immobilisierung der Lesenden im Leseakt. So stellt sich die Frage, wie der Film Bewegtbilder für eine Tätigkeit finden

31 | Vgl. dazu etwa Boehm, Gottfried: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin: Berlin University Press 2007. 32 | Von Relevanz sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten Erich Schöns (vgl. seine Reflexion der Bildquellen Lesender in: E. Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 312314). Alfred Messerli bietet einen aktuellen Überblick über den Forschungsstand zur Geschichte des Lesens sowie zu den Arbeiten über die Darstellung des Lesens auf Bilddokumenten und den damit verbundenen Forschungsfragen, vgl. Messerli, Alfred: »Lesen im Bild. Zur Ikonographie von Buch und Lektüreakten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 39.1 (2014), S. 226-245, hier S. 229-237. Er konstatiert in seinem Forschungsüberblick zum ›Lesen im Bild‹, dass zahlreiche Ansätze und Versuche existieren, Bilder für die Leseforschung fruchtbar zu machen, aber bisher eine überzeugende Theorie für eine historische Bildkritik fehlt (vgl. ebd., S. 234). Dagegen formuliert Fritz Nies, er wolle der »Geschichte der Vorstellungen von Lesen und Lesern« nachgehen. Nies, Fritz: Bahn und Bett und Blütenduft. Eine Reise durch die Welt der Leserbilder, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991, S. 3 [Herv. i. O.].

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kann, die die (modernen) Lesenden nach Gumbrecht zur »Insularität«33 und zum Stillstand des Körpers zwingt. Der moderne Leseakt scheint eine ›passive Tätigkeit‹ zu sein, die als abzulichtendes Sujet im Kontrast zur dynamischen Grundfunktion des Mediums Film steht, denn, wie der Schweizer Lehrfilmpionier Gottlieb Imhof schreibt: »Leben und Bewegung soll der Film zeigen. Architekturen, ausgestopfte Präparate, Landschaften ohne bewegte Motive, all das ist nicht Objekt der Kinematographie.«34 Und auch laut Siegfried Kracauer grenzt sich der Film unter anderem durch den »Fluß des Lebens«35 von anderen Künsten ab. Darüber hinaus gibt es eine weitere inszenatorische Herausforderung im Kontext der filmischen Darstellungen des Lesens und insbesondere des literarischen Lesens: Der Film muss Mittel und Wege finden, die ›innere, geistige Bewegung‹ der Lesenden zu vermitteln. Iris Bäcker hat die Spezifik der vielschichtigen und komplexen Kulturtechnik Lesen in zwei Größen gefasst: die Existenz einer außertextuellen Realität sowie die einer Textrealität, die sich im Inneren der Lesenden entfaltet und nicht oder nur kaum nach außen dringt.36 Mit den multimodalen Ausdrucksmitteln des Films können nun die Existenz einer solchen (im Inneren der Lesenden sich entfaltenden) Textrealität sowie jeweils spezifische Textrealitäten gestaltet und erfahrbar gemacht werden.37 Bild, Ton und Narration arbeiten dabei zusammen, die Lesenden und das Erlesene gleichermaßen in ihren Besonderheiten und Funktionen im Kontext der filmischen Erzählung zu zeigen. Die Darstellungen rufen nicht selten tradierte Konventionen und Bilder des Lesens auf und bearbeiten diese. Richtet sich einmal die Aufmerksamkeit auf dieses Phänomen, so fällt auf, dass sich zahlreiche Darstellungen Lesender in der Filmgeschichte finden, die, ebenso wie Bilder und Texte, mal vordergründig, häufig auch implizit, die widersprüchlichen Diskurse um das Lesen be- und verhandeln. Wenn im Folgenden einige Beispiele aus der Kunst-, Literatur- und Filmgeschichte kurz in Augenschein genommen werden, dann geschieht dies in dem Bewusstsein, dass die Aussagekraft der Ausführungen kritisch ist, gewinnt 33 | Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 122. 34 | Zit. n. Gertiser, Anita: »Domestizierung des bewegten Bildes. Vom dokumentarischen Film zum Lehrmedium«, in: montage/av vom 15.01.2006, S. 58-73, hier S. 66. 35 | Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 109. 36 | Bäcker, Iris: Der Akt des Lesens – neu gelesen. Zur Bestimmung des Wirkungspotentials von Literatur, Paderborn: Fink 2014, S. 18. 37 | Cues für die Darstellung der inneren Entfaltung der Textrealität finden sich auf mehreren kinematographischen Ebenen: Musik, spezifische Bebilderung des Lektüreaktes, Inszenierung der Leseumgebung oder des Leseorts, die Körperhaltungen der Lesenden, etc.

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diese doch nur im Vergleich zu einer hohen Anzahl weiterer Darstellungen aus dem gleichen Zeitraum an Gewicht.38 Die Beispiele sollen jedoch exemplarisch auf ihr etwaiges Irritationspotential hin geprüft werden, die sie für die Betrachtenden vor dem Hintergrund der mit dem Lesen verbundenen Normierungen und ihrer Verbindlichkeit entfalten können.

E RWARTUNGEN UND I RRITATIONEN I: K ONTEMPL ATION

Abb. 1: Gustave Caillebotte: Intérieur (femme lisant), 1880. akg-images Dieses Bild des französischen Impressionisten Gustave Caillebotte ist in mancherlei Hinsicht irritierend – es spielt sowohl mit unseren Sehgewohnheiten als auch mit unseren sozialen Erwartungen, nicht zuletzt im Hinblick auf die ›Ordnung der Geschlechter‹. Zwischen 1880 und 1882 malte Caillebotte viele Interieurs der großbürgerlichen Pariser Klasse, darunter auch das hier gezeigte Intérieur (femme lisant) aus dem Jahr 1880.39 Auf den ersten Blick strahlt 38 | Vgl. E. Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 313. 39 | Auffällig in den Werken Caillebottes sind vor allem die spezifischen Perspektiven der Bildausschnitte sowie ein quasi fotografischer Blick (vgl. Sagner, Karin: Caillebotte. Neue Perspektiven des Impressionismus, München: Hirmer 2009, S. 17 sowie Varnedoe, Kirk: Gustave Caillebotte, New Haven: Yale University Press 2000, S. 124f.).

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das Bild eine große Ruhe aus. Zu sehen sind zwei Lesende:40 deutlich im vergrößerten Bildvordergrund die Frau, auf einem Stuhl sitzend und konzentriert in die Lektüre eines Journals vertieft. Von den Betrachtenden aus links, gleichsam beschirmt unter den Zeitungsblättern, auf einem im Verhältnis überdimensioniert wirkenden Sofa liegend der Mann, der, fast als Miniatur erscheinend, in einem Buch liest. An dieser Stelle beginnt bereits die Irritation:41 Die ›kühne Verkürzung‹ in der Darstellung des Mannes auf dem Sofa, der von Kritikern auch als puppenhaft dargestellt wahrgenommen wurde,42 war für die Zeitgenossen einigermaßen schockierend.43 Historisch betrachtet sind, über die räumlichen Positionen, die Größendimensionen und die befremdliche Perspektive44 hinaus, auch die Medien im Kontext der Lese-Ordnung der Geschlechter ungewöhnlich und fallen als Abweichungen ins Auge: Der Mann besetzt mit dem Sofa als Lesemöbel und der liegenden Position (Körperpraxis) den Raum und die Haltung, die eigentlich der lesenden Frau zugedacht waren. Diese Lesehaltung bzw. -position wirkt wie ein cue, ein Abrufhinweis, der zu der Schlussfolgerung verleitet, dass das Buch (Materialität und Inhalt des Gelesenen) Literatur im engeren Sinne, wohl ein Roman, ist. Sowohl ikonografisch als auch in den geschlechterbezogenen Diskursen über das Lesen sind das jedoch traditionell Position und emotionalisierende Lektüre der Frau. Dem Mann war auf bildlichen Darstellungen eher die Arbeitslektüre am Schreibtisch vorbehalten oder eben das Zeitungslesen, die Informationslektüre. Diese Position und Lektüre sind jedoch im Bild auffallend dominant durch die Frau besetzt. Und obgleich es in dem hier abgebildeten Milieu im späten 19. Jahrhundert natürlich nicht unüblich war, dass Männer Romane und Frauen Zei-

40 | Es handelt sich bei dem Mann um den von Caillebotte mehrfach portraitierten Richard Gallo, ein Freund Caillebottes. Gallo war Journalist bei der konservativen republikanischen Zeitung Le Constitutionnel. Zur Frau finden sich widersprüchliche Angaben, nach Karin Sagner handelt es sich um Caillebottes Lebensgefährtin Charlotte Berthier (vgl. K. Sagner: Caillebotte, S. 122). 41 | Robert Schade beschreibt die Werke Caillebottes als »in einem hohen Maße realistisch […] erst über eine genaue Betrachtung […] [offenbart sich der] Effekt einer kalkulierten Störung«. Schade, Robert: Schwankende Ansichten. Zur Geschichte einer Ästhetik des Anders-Sehens in der Literatur und Kunst der Moderne, Bielefeld: Transcript 2017, S. 160-170, hier S. 150. 42 | Vgl. Hedin, Gry: »Bürgerliche Interieurs. Caillebotte und seine Familie«, in: Anne-Birgitte Fonsmark/Dorothee Hansen/Gry Hedin (Hg.), Gustave Caillebotte. Berlin: Hatje Cantz 2008, S. 44-45, hier S. 44. 43 | Vgl. Berhaut, Marie: Gustave Caillebotte. Catalogue raisonné des peintures et pastels, Paris: Wildenstein Institute 1994, S. 1880. 44 | Vgl. dazu insbesondere R. Schade: Schwankende Ansichten.

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tung oder Journale lesen,45 ruft das gesamte Bildarrangement – Proportionen, Perspektive und Lektüren – Irritation hervor. Diese Irritation Betrachtender kann nicht zuletzt auch ein Hinweis darauf sein, dass die geschlechterbezogenen Reglementierungen und Normierungen der kulturellen Praxis des Lesens (und die des Sehens) einen gewissen Grad an Verbindlichkeit erreicht haben – wenn auch nicht immer für die konkrete lebensweltliche Praxis so doch in den entäußerten und gleichzeitig verinnerlichten Bildwelten unseres kulturellen Gedächtnisses. Tom Fords filmische Adaption von Christopher Isherwoods Roman A Single Man (1964) erzählt die Geschichte des homosexuellen Literaturprofessors George Falconer, der den Tod seines Lebensgefährten nicht verarbeiten kann. Die von Colin Firth verkörperte Hauptfigur liest während des morgendlichen Toilettengangs Aldous Huxleys After Many a Summer, wie die ZuschauerInnen in späteren Szenen durch die im Filmbild sichtbaren Paratexte des Buchs und die Besprechung des Romans in Falconers Vorlesung erfahren.

Abb. 2: Colin Firth als George Falconer in Tom Fords A Single Man.46 Die amerikanische Einstellung zeigt Falconer sitzend mit heruntergelassener Hose, das Buch nach rechts haltend, so dass die Zuschauenden neben dem Körper des Lesenden vor allem Rücken und Kopfschnitt des Buchs sehen. Sei-

45 | Joris-Karl Huysmans schreibt dazu: » […] dieses Paar […] vertreibt sich die Zeit mit interessanter Lektüre und man möchte fast annehmen, dass die Dame ihrem Milieu entsprechend den Charivari oder Événement liest, während sich ihr Gatte an einem Roman von Delpit erfreut« (zit. n. K. Sagner: Caillebotte, S. 122. Vgl. Huysmans, Karl-Joris: L’Art moderne, Paris: G. Charpentier 1883, S. 109f.). 46 | A Single Man (2009) (USA, R: Tom Ford; Universum Film GmbH-DVD 2010, 00:11:35).

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ne Leseweise wirkt konzentriert und kontemplativ, es kann ein einsam-introvertiertes Lesen konstatiert werden: Leser und Buch sind quasi miteinander verbunden, die Textrealität kann sich ohne Störung von außen entfalten und ein intensives Leseerlebnis ist möglich. Dennoch irritiert diese Darstellung, unabhängig von der Verbindung der intertextuellen Anspielung und einer möglichen identifikatorischen Lektüre,47 durch Leseort und -haltung:48 Falconer liest sitzend auf der Toilette. Zwar ist nicht wenigen LeserInnen die Erfahrung kontemplativer Lesererlebnisse auf dem Klosett bekannt – laut einer Statistik der Gesellschaft für Marktforschung gehört Lesen mit ca. 52% zu den häufigsten Ritualen während des Toilettengangs –,49 dennoch unterliegt eine solche Visualisierung weitgehend einem Tabu.50 Die Darstellung von Körpervorgängen, die zu Ausscheidungen führen, worunter beispielsweise auch das Erbrechen fällt, stellt keinen konventionalisierten Teil der visuellen Kultur dar. In diesem Beispiel erfolgt ein Einblick in die menschliche Intimität, da es während des Toilettengangs zu einer Entblößung kommt: Auch wenn die Geschlechtsteile von Falconer auf dem Screenshot nicht zu sehen sind und der Ausscheidungsvorgang weder visuell noch auditiv thematisiert wird, ist beides im Bewusstsein der Zuschauenden präsent. Zudem ist eine ›Fäkalisierung‹ des kontemplativen Leseakts ikonografisch nicht tradiert. Mit Falconer als Literaturprofessor steht darüber hinaus ein ›Gelehrter‹ im Mittelpunkt der Darstellung, der seit dem Mittelalter bildlich mit einem Buch in der Hand cha-

47 | Wie die Hauptfigur in After Many a Summer reflektiert Falconer über sein bisheriges, aktuell als unglücklich einzustufendes Leben. Weiterhin bespricht Falconer in einer späteren Diskussion an der Universität eine Stelle des Romans, die Angst vor Minderheiten zum Thema hat. Auch er fürchtet – der Film spielt in den USA der 60er Jahre – als Homosexueller die Offenlegung seiner sexuellen Orientierung. 48 | Leseorte sind aus ikonografischer Sicht vergleichsweise wenig erforscht. Beispielsweise verzeichnen weder Fritz Nies, vgl. Bahn und Bett und Blütenduft, noch Jutta Assel u. Georg Jäger, vgl. Assel, Jutta/Jäger, Georg: »Zur Ikonographie des Lesens. Darstellungen von Leser(innen) und des Lesens im Bild«, in: B. Franzmann et al. (Hg.), Handbuch Lesen, S. 638-673, einen Eintrag zum Thema Leseort – wenngleich sie bei der speziellen Analyse von Lesebildern auf die Bedeutung des Ortes eingehen. 49 | https://www.presseportal.de/pm/19124/1012757 vom 10.04.2018. 50 | Während der Szene unterbricht Falconer seinen Leseakt und beobachtet vom Fenster seines Badezimmers aus den morgendlichen Aufbruch einer kinderreichen Nachbarfamilie. Als eine Frau ihn grüßt, duckt er sich, um nicht erkannt zu werden. Einerseits möchte er nicht, dass die Familie erfährt, dass er sie beobachtet, andererseits will er selbst aber auch nicht auf der Toilette sitzend beobachten werden – was die ZuschauerInnen jedoch tun.

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rakterisiert wurde.51 Doch der ›Gelehrte‹ liest nicht in seiner Bibliothek oder seiner vielleicht kargen Studierstube, sondern ausgerechnet beim profanen Toilettengang. Diese filmische Darstellung des Lesens spielt mit den Darstellungstraditionen, sie irritiert und unterläuft normierte Vorstellungsbilder über den kontemplativen und intellektuellen Leseakt.

E RWARTUNGEN UND I RRITATIONEN II: E XPRESSION

Abb. 3: René Magritte: La Lectrice soumise, 1928. akg-images, © VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Das im Kontext der Ikonographie des Lesens höchst ungewöhnliche Bild des belgischen Surrealisten René Magritte trägt den Titel La lectrice soumise, dt.: Die fügsame oder: unterworfene Leserin. Zu sehen ist eine junge Frau, die mit dem Ausdruck größter Überraschung, ja Erschrecken in ein Buch blickt. Die Augen sind weit aufgerissen, der Mund geöffnet, als würde ihr (gleich) ein

51 | In der Malerei charakterisiert ein Buch in der Regel die Zugehörigkeit des Porträtierten zur geistigen Elite: Gelehrte, Literaten und Kleriker. Vgl. F. Nies: Bett und Bahn und Blütenduft, S. 62.

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Ausruf des Staunens oder Schrecks entfahren. Das Bild stammt aus Magrittes früher Zeit in Paris, eine Periode, über die Robert Short schreibt: »More generally, the melodramatic mood that prevails in Magritte’s paintings of the period 1926-8 matches that of much silent cinema in its last years.«52 In Kommentaren wird häufig über das ›Rätsel‹ dieses Bildes geschrieben, das in der Frage verortet wird, was denn nun in dem Buch steht, das ein solches Erschrecken auslöst.53 Uns scheint an dieser Stelle besonders bemerkenswert, dass die Leserin – wie es der Titel andeutet – dem Text so weitgehend fügsam oder unterworfen ist, dass die Disziplinierung der Körperexpression beim Lesen nicht mehr greift; stattdessen wird nach außen getragen, was im Verlauf der Geschichte des Lesens nach innen verlagert wurde. Gezeigt werden die mit dem Leseerlebnis verbundenen Körper- und Leiberfahrungen, die Überwältigung des Körpers, des ganzen Menschen, im Moment der Lektüre. Dass Lesen auch Verwandlung mit sich bringen kann, nicht nur des Geistes, sondern auch des Körpers, stellt dieses Bild aus,54 – dass es uns irritiert, ist nicht zuletzt eine Folge der Normierung und Disziplinierung der Körperpraxis beim Lesen sowie der Verbindlichkeit dieser Norm.55 52 | Short, Robert: »Magritte and the Cinema«, in: Silvano Levy (Hg.), Surrealism. Surrealist Visuality, New York: New York University Press 1997, S. 95-109, hier S. 102. Vgl. auch Allmer, Patricia: René Magritte. Beyond Painting, Manchester: Manchester University Press 2010. 53 | Vgl.: »L’énigme de cette image est que l’épouvante exprimée ne peut provenir de la lecture d’un texte et qu’elle ressemble plutôt à ce que produit la vision d’une image horrible.« (http://www.bnf.fr/documents/chroniques51_choses_lues.pdf vom 29.03.2018). Einige fühlen sich sogar dazu bemüßigt, die Geschichte zu erzählen, die die Leserin so sichtbar beeindruckt, vgl. z.B. https://jeanpierretondini.wordpress. com/2016/04/29/la-lectrice-soumise/ vom 29.03.2018. René Magritte selber kommentierte einmal: »On se demande souvent ce que cache ma peinture. Rien!« (Magritte, René: »Interview Claude Vial« [06.07.1966], in: André Blavier (Hg.), René Magritte: Écrits Complets, Paris: Flammarion 2001, S. 642). Zum Thema Buch und Lesen bei Magritte vgl. Ricker, Marie-Émilie: »À propos de surréalisme. Quelles transversalités entre les cours de français et d’histoire de l’art«, in: Ghislain Carlier/Myriam De Kesel/ Jean-Louis Dufays/Bernadette Wiame (Hg.), Progression et transversalité. Comment (mieux) articuler les apprentissages dans les disciplines scolaires, Louvain-la-Neuve: Presses universitaires de Louvain 2012, S. 95-106 hier S. 102f. 54 | Von Irritation und Verzweiflung, die die Fremdbestimmung des Körpers durch Lektüre hervorrufen kann, erzählt Arno Schmidts kurzer Text »Was soll ich tun«, in: Ders.: Kleinere Erzählungen. Gedichte, Zürich: Haffmans 1988, BA I/4.1. [EA 1957], S. 70-72. 55 | Auf die spezifischen Irritationen, die von der Kunst Magrittes selbst ausgehen, kann hier nicht weiter eingegangen werden. Vgl. dazu P. Allmer: René Magritte. Beyond Painting.

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Abb. 4: Bradley Cooper in der Rolle des Pat liest in seinem ehemaligen Kinderzimmer Hemingways A Farewell to Arms.56 Die unterschiedlichen Lesehaltungen des von Bradley Cooper verkörperten Pat aus David O. Russels Silver Linings Playbook (USA, 2012) wirken zunächst wenig expressiv. Sie erweisen sich jedoch als umso bedeutsamer, wenn der Handlungskontext des Films berücksichtigt wird. Der Mittdreißiger Pat zieht aufgrund psychischer Probleme – er wurde gewalttätig gegenüber dem neuen Liebhaber seiner ehemaligen Frau – wieder bei seinen Eltern ein. Er möchte sich mit seiner Ex-Frau, einer Englisch-Lehrerin, versöhnen und liest aus diesem Grund Ernest Hemingways Roman A Farewell to Arms, ein Werk, das diese mit ihren SchülerInnen liest. In seinem früheren Kinderzimmer, das inzwischen von seinen Eltern als Abstellraum genutzt wird, wechselt Pat zum Zeitpunkt des Lesevorgangs zwischen Bett und Sessel hin und her. Er liest nachts, wie die Leselampe verrät, unruhig und schnell, was Jump-Cuts zwischen den obigen Abbildungen visualisieren. Während er dabei dennoch konzentriert erscheint, kulminiert die Szene nach der Beendigung der Lektüre in einem Wutausbruch Pats: Er wirft das Buch durch die Fensterscheibe seines Zimmers, stürzt mitten in der Nacht in das Schlafzimmer seiner Eltern und echauffiert sich über das ausbleibende Happy End: »Stupid fucking book! I just can’t believe Nikki’s teaching that book to the kids. I mean the whole time […] you’re rooting for this Hemingway guy to survive the war and to be with the woman that he loves, Catherine Barkley. […] And he does. He does. He survives 56 | Silver Linings (OT: Silver Linings Playbook) (2012) (USA, R: David O. Russell; Senator Home Entertainment-DVD 2013, 00:08:29-00:08:48).

Die Arbeit an der Verbindlichkeit the war, after getting blown up he survives it, and he escapes to Switzerland with Catherine. But now Catherine’s pregnant. Isn’t that wonderful? She’s pregnant. And they escape up into the mountains and they’re gonna be happy […] You think he ends it there? No! He writes another ending. She dies, Dad! I mean, the world’s hard enough as it is, guys. It’s fucking hard enough as it is. Can’t somebody say: Hey, let’s be positive? Let’s have a good ending to the story?« 57

Die Figur lässt sich von dem ihr unerwünschten Ende des Romans komplett aus der Fassung bringen: In einer komödiantischen Hyperbel – die Fensterscheibe zerbricht durch das herausgeworfene Buch – wird dargestellt, wie intensiv Lesende in der literarischen Anschlusskommunikation auch Irritationen, die sich bei der Lektüre ergeben haben, thematisieren können, was hier gleichzeitig die Zuschauenden irritiert.58 Die emotionale Reaktion auf das Gelesene erfolgt unmittelbar nach der Beendigung des Lektüreaktes, mithin direkt nach dem textinternen Tod Catherines, die auf der letzten Szene des Romans stirbt.

Abb. 5: Pat während des Wutausbruchs nach der Lektüre.59 Pat zeigt seine Emotionalität jedoch nicht während des Lesens, so weint er nicht bei der Lektüre der letzten Seite des Buches, sondern erst in der Anschlusskommunikation mit seinen Eltern. In dem Monolog offenbart er seine Wut und seine Enttäuschung, die durch die Expressivität seines Gesichts (Abb. 5) unterstrichen werden. Die starke emotionale Wirkung des literarischen Werks wird somit medienspezifisch durch Handlung (Werfen des Buchs), Sprache, 57 | Ebd., 00:09:08-00:09:59. 58 | Es handelt sich bei dieser Szene nicht zuletzt um einen selbstreferentiellen Kommentar, da das in Hemingways Roman ausbleibende Happy End der Figur Pat am Ende nicht verwehrt wird. 59 | Ebd., 00:09:33.

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vor allem expressive Wörter wie ›stupid‹, ›fucking‹ und ›wonderful‹, sowie die damit verbundene Mimik präsentiert. Im Gegensatz zu dem Bild von Magritte werden in dem Film Emotion und Expression jedoch beim Lesen selbst zurückgehalten und deren Darstellung auf eine andere mediale und narrative Ebene verlagert: in die Überführung der Leseerfahrung in das eigene Leben.

E RWARTUNGEN UND I RRITATIONEN III: E XKLUSION Es gilt bei all den Setzungen und Aushandlungen über das ›richtige‹ Lesen (wie immer es in der Geschichte des Lesens auch entworfen sein mag) das Versprechen, dass es den Menschen im und für das Mensch-Sein sowie für die menschliche Gemeinschaft bilde (was immer darunter auch verstanden wird). Aber nicht jeder, der liest und nicht jeder, der an dem normativen Konstrukt Lesekultur partizipiert, erfüllt diese Erwartungen – nicht selten werden Lesende auch zu Verkörperungen der Phantasmen über die potentielle Gefährlichkeit des Lesens. Und umgekehrt werden nicht immer die Erwartungen derer erfüllt, die lesen und partizipieren oder dies zumindest versuchen. Einer, dessen Erwartungen ganz sicher nicht erfüllt werden, ist das Geschöpf Victor Frankensteins aus Mary Shelleys Frankenstein or The Modern Prometheus von 1818. Diese Kreatur wendet sich als Bildungseroberer bei einer sich ihm bietenden Gelegenheit dem Lesen und der Literatur zu, denn so sehr er sich im Äußeren von den Menschen unterscheidet, so groß ist sein Wunsch, ihnen im Inneren zu gleichen.60 Er gibt sich mit großem Eifer den Leselektionen hin, die zwar nicht an ihn gerichtet sind, an denen er aber heimlich partizipiert – denn, wie alles andere muss er als Abstoßender und Ausgestoßener sich auch das Lesen und die literarische Kultur abseits und unbemerkt von der Gemeinschaft der Menschen aneignen. Er durchläuft einen modellhaften Bildungsgang bis ihm sogar Goethes Werther (1774) eine »never-ending source of specula-

60 | Zum Lesen der Kreatur Victor Frankensteins vgl. auch Schaffers, Uta/Boesken, Gesine: »Einleitung: Von einigen Verwandlungen im Lesen«, in: Dies. (Hg.), Lektüren ›bilden‹. Lesen – Bildung – Vermittlung. Festschrift für Erich Schön (= Leseforschung, Band 3), Münster: Lit 2013, S. 7-30, hier S. 17-20, Verdicchio, Dirk: »Monströse Lektüren. Essay über eine lesende Vampirin«, in Christine Grond-Rigler/Felix Keller (Hg.), Die Sichtbarkeit des Lesens. Variationen eines Dispositivs, Innsbruck: Studienverlag 2011, S. 142-146 sowie Keller, Felix: »Die Anti-Leser. An den Rändern der buchkulturellen Ordnung«, in: C. Grond-Rigler/F. Keller (Hg.), Die Sichtbarkeit des Lesens, S. 148-165. Vgl. auch: Drux, Rudolf (Hg.), Der Frankenstein-Komplex. Kulturgeschichtliche Aspekte des Traums vom künstlichen Menschen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 48-61.

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Abb. 5: Das lesende Geschöpf Frankensteins, hier in der Verfilmung von Kenneth Branagh, verkörpert durch Robert de Niro.61 tion and astonishment«62 wird, da sich ihm dort die Komplexität der menschlichen Gefühlswelt erschließt. Dennoch: trotz seiner Bemühungen, und obgleich er sich innerlich so wandelt, wie es den kühnsten Erwartungen der Leselehrer und der Verfechter einer Lesekultur entspricht, wird ihm aufgrund seiner Herkunft und seines Äußeren doch der Zugang zur Gemeinschaft der Menschen rüde verweigert. Regeltreue, Verinnerlichung der Normen und eine gewisse literarische Bildung allein reichen dann eben doch nicht aus, wenn die ›Verkörperung‹ dieser Praxis jenseits dessen situiert wird, was unter Normalität und Mensch-Sein verstanden wird. Es ist denn auch eine Lektüre, die ihm Selbst-Erkenntnis und letztlich allen Verderben bringt: Er liest das Tagebuch seiner Erschaffung, und diese Papiere, teilt er seinem Schöpfer mit, enthalten: »the minutest description of my odious and loathsome person […], in language which painted your own horrors, and rendered mine ineffaceable. I sickened as I read.«63 Als Komplementär- und Gegenfigur kann an dieser Stelle auf Bram Stokers ›Graf Dracula‹ (1897) verwiesen werden, der im Gegensatz zu Frankensteins namenloser Kreatur über all das verfügt, was man von einer ›Person‹ von Stand, literarischer Bildung und Lesekultur erwartet: eine ansehnliche Bibliothek, gute Manieren, ein distinguiertes, je nach filmischer Adaption und 61 | Mary Shelley’s Frankenstein (1994) (USA/Japan, R: Kenneth Branagh, Sony Pictures Home Entertainment-DVD 2002, 01:09:42). In dieser Verfilmung von Stokers Roman findet sich eine der wenigen filmischen Darstellungen der lesenden Kreatur. 62 | Shelley, Mary: Frankenstein or The Modern Prometheus, Oxford/New York: Oxford University Press 1998, S. 128. 63 | Ebd., S. 130.

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Lebenszyklus auch attraktives und verführerisches Äußeres. Lediglich vor dem Hintergrund des Wissens um sein Treiben im nächtlichen London wirken die folgenden Worte, die er in seiner Bibliothek an Jonathan Harker richtet, verstörend und eher als Drohung denn als Ausweis einer (zivilisierten und zivilisierenden) Menschenbildung durch Lektüre: »›These companions‹ and he laid his hand on some of the books ›have been good friends to me, and for some years past, ever since I had the idea of going to London, have given me many, many hours of pleasure. Through them I have come to know your great England.‹«.64 Auch weitere Lesende, deren Status als Menschen gelinde gesagt prekär ist, kommen in Literatur, Bild-Welten und Film zur Darstellung und irritieren die Erwartungen und verbindlichen Setzungen im Kontext von Lesen und Lesekultur, wobei die kulturelle Praxis Lesen dann nicht selten als Lackmustest für ihr Menschsein Geltung gewinnt.65 In manchen dieser Darstellungen zeigen die ›exkludierten‹ oder zu exkludierenden Lesenden zwar die erlernte, verbindlich normierte Körperpraxis moderner Lesender, als das ›Andere der Kultur‹ erschöpft sich ihre Begegnung mit der Welt des Lesens und der Lesekultur dann jedoch auch in diesem Körperlichen. Innerer, intellektueller und emotionaler Zugang und die damit verbundenen Wirkungen sind nur wenig oder in unerwünschter Weise zu verzeichnen, wie das letzte hier vorzustellende Beispiel eines Lesenden anschaulich illustriert: Der zu einiger Berühmtheit gelangte Zombie Bub aus George A. Romeros Film Day of the Dead (USA, 1985) – die zweite Fortsetzung des Ur-Typus des modernen Zombiefilms Night of the Living Dead (USA, 1968) – steht in einem Netz intertextueller und intermedialer Verweise. So wird etwa der Wissenschaftler ›Frankenstein‹ genannt, der als Teil eines Expeditionskorps in Begleitung eines Trupps Soldaten in eine unterirdische Bunkeranlage entsandt wird, um das Phänomen der Untoten wissenschaftlich zu untersuchen. Dieser ›Frankenstein‹ zeigt sich von der Leidenschaft beseelt, die Wesen zu resozialisieren, um eine friedliche Koexistenz von Menschen und Zombies zu ermöglichen, fast so, als wolle er die Schuld seines Namensvetters an seiner Schöpfung abgelten. Im Kontext eines Experiments, an dem weitere Wissenschaftler und Soldaten (durchaus am Erfolg des Versuchs zweifelnd) teilnehmen, werden einem der Untoten – eben jenem Bub – ein Nassrasierer, ein Telefon und das Buch Salem’s Lot von Stephen King gereicht.

64 | Stoker, Bram: Dracula, Oxford u.a.: Oxford University Press 1996, S. 20. Zum vampirischen Lesen vgl. D. Verdicchio: »Monströse Lektüren«. 65 | Vgl. dazu auch Hong, Jihee/Rouget, Timo: »Lesende und gläubige Roboter im Film«, in: Wolf-Andreas Liebert/Stefan Neuhaus/Dietrich Paulus/Uta Schaffers (Hg.), Künstliche Menschen. Transgressionen zwischen Körper, Kultur und Technik (= Film – Medium – Diskurs, Band 59), Würzburg: Königshausen u. Neumann 2014, S. 173-188.

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Abb. 6: Der von Sherman Howard verkörperte Zombie Bub ›liest‹ Stephen Kings Salem’s Lot.66 Der Zombie, eine prototypische Figur des cineastischen Zeitalters, ist ein lebender Toter, d.h. er hat seinen Bezug zum Mensch-Sein bereits verloren und ist in eine Art vormenschliches (oder unmenschliches) Stadium (zurück)gefallen. Demzufolge legt er – in der Regel – keine Verhaltensweisen an den Tag, die als menschlich, geschweige denn zivilisiert bezeichnet werden könnten. Insofern ist es ein verstörender Anblick, einen Untoten lesen zu sehen, ganz unabhängig von der Lektüre. Die filmische Szene zeigt, wie Bub sich darum bemüht, sich an alte Verhaltensweisen vor seiner fatalen Metamorphose zu erinnern. Der Körper erinnert die Praxis, wenn er die Handlungen auch nicht mehr mit der gewohnten Geläufigkeit ausüben kann. Er ergreift ungeschickt das Buch, beginnt es zu wenden und blickt gebannt auf eine Seite. Er scheint die Buchstaben eher anzustarren, den Text jedoch nicht zu erfassen; alles, was mit dem Leseakt zusammenhängt, ist in diesem Moment auf seine Materialität reduziert; ob sich eine innere Textrealität entfaltet, ist fraglich. Intertextuell wird mit der angebotenen Lektüre Salem’s Lot auf die Dracula-Hommage von Stephen King verwiesen. Das hirnlose, moderne Monster wird mit dem aristokratischen Grafen kontrastiert, der mit seinem immensen und gefährlichen Wissenshorizont seine Opfer in allen Details ›erlesen‹ hat.67 Während Graf Dracula durch seine Belesenheit gefährlicher wirkt und wird, gewinnt der Zombie durch das Lesen für einen kurzen und irritierenden Augenblick scheinbar ein Stück Menschlichkeit zurück. Während die Forscher und Sol66 | Zombie 2 (OT: Day of the Dead) (1985) (USA, R: Hèctor Hernández Vicens; Laser Paradise-DVD 2004, 00:52:30). 67 | Vgl. D. Verdicchio: »Monströse Lektüren«, S. 142f.

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daten noch über das Experiment diskutieren, konzentriert sich der Zombie im Hintergrund immer mehr auf das Buch, blättert, und scheint, sofern das Verweilen auf einer Seite als Indiz gelten mag, in der Tat über einen längeren Zeitraum zu lesen. In dieser seltsamen Darstellung des lesenden Zombies, eines Zitationszirkels von Lektüre und lesendem Monster, insinuiert Day of the Dead in Übereinstimmung mit dem gängigen Bildungsdiskurs, dass Lesen eine der Voraussetzungen von kultureller und gesellschaftlicher Partizipation ist. Dem Zombie wird das Buch mit der impliziten Soll-Forderung gereicht, mit dem Lesen etwas Menschliches zu tun bzw. zurück zu gewinnen. Die Folgen freilich sind insofern normkonform, als dass sie die Erwartungen eines populärkulturell gebildeten Publikums über ein dem Zombie entsprechendes Verhalten erfüllen: Bub tut das, was er am besten kann – er tötet. Da er jedoch auch ein eigenes Bewusstsein entwickelt hat und lesend ein Stück weit menschlicher geworden ist, beachtet er dabei gewisse Regeln. Als er den Anführer der Soldaten mit einem Kopfschuss umbringt, salutiert er dazu ironisch und parodiert und kommentiert damit die gesellschaftlichen Regeln und Normen. Als ein Wesen, das weder ganz Zombie noch Mensch ist, führt uns Bub, wie viele andere Lesende aus den Bildwelten unserer Kultur, Regeln, Normen und Mythen, die sich mit dem Lesen verbinden, sowie deren Dehnungen und Transgressionen vor Augen. Diskursive Verhandlungen des Lesens und der Lesekultur sowie die Arbeit an der Verbindlichkeit der damit verbundenen Normen und Regeln und deren Irritation, finden nicht nur in Lesediätetiken und -propädeutiken, in Moralischen Wochenschriften, Anstandsbüchern oder pädagogischen Reflexionen statt, sondern haben ihren festen Platz auch in der Literatur selbst, in Gemälden und in Filmen.

Spirituelle Verbindlichkeit – Die ›ejercicios espirituales‹ in der frühen Jesuitenmission Marion Steinicke

1. E INFÜHRUNG Monastische Orden sind seit ihrer Entstehung prinzipiell darauf ausgerichtet, religiöse Verbindlichkeit durch bestimmte Regeln und Praktiken vorbildlich zu realisieren und als Modell christlicher Lebensführung öffentlich zur Anschauung zu bringen. Entscheidend für das westliche Mönchtum ist die Vorstellung einer möglichst vollkommenen christlichen Lebensführung innerhalb einer klösterlichen Gemeinschaft, die spezifische spirituelle, soziale und karitative Aufgaben erfüllt und sich dementsprechend bestimmte Verpflichtungen und Beschränkungen auferlegt. Tendenzen zur Etablierung von einzelnen Gruppen, die ihr Leben nach religiös inspirierten Vorgaben einzurichten versuchten, hat es bereits in relativ frühen Phasen des Christentums gegeben, doch erst im 6. Jahrhundert mit der Gründung des Benediktinerordens, der sich auf einen präzis ausformulierten Regelkanon stützt, ist ein für die weitere Kirchengeschichte richtungsweisendes Modell geschaffen worden.1 Tatsächlich sind es die regulativen Normen, die Identität und Spezifität eines jeden Ordens definieren; ihre Geltung erstreckt sich über Zeit und Raum auf alle seine Mitglieder. Novizen müssen ihr Gelübde auf eben diese Regeln ablegen, die nicht nur die prinzipiellen Zielsetzungen des Ordens definieren, sondern auch die devotionalen und ökonomischen, organisatorischen, administrativen und rituellen Praktiken verbindlich festschreiben und damit auch und vor allem die Modalitäten des Gemeinschaftslebens, den von Gebetsstunden, gottesdienstlichen und praktischen Tätigkeiten, Studium, Chorgesang, Ruhepausen, Mahlzeiten genau strukturierten Tagesablauf und schließlich auch Fragen der Bekleidung, des öffentlichen Auftretens und der Außendarstellung des Ordens regeln. 1 | Zu Benedikt und seiner für das abendländische Mönchtum richtungsweisenden Regel vgl. Schwaiger, Georg/Heym, Manfred: Orden und Klöster. Das christliche Mönchtum in der Geschichte, München: Beck 2002, S. 25-28.

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Vor diesem Hintergrund erscheint der 1540 approbierte Jesuitenorden als ein durchaus »neuartiger Ordenstyp«.2 Zunächst wird das traditionell triadische Gelübde, das Armut, Keuschheit und Ordensgehorsam betrifft, durch ein viertes ergänzt, in dem explizit dem Papst gegenüber unbedingte Unterwerfung geschworen wird.3 Der streng hierarchisch gegliederte Orden, dessen militärischer Zuschnitt sich auch in den weitreichenden Vollmachten des ›Ordensgenerals‹ manifestiert4, ist jedoch, wie ihre Denomination ›Societas Jesu‹ andeutet, eine Art Verband oder auch Unternehmen, eine ›Sozietät‹, deren Zusammengehörigkeit durch gemeinsame Interessen und Ziele, nicht aber durch ein speziell festgelegtes Gemeinschaftsleben bestimmt ist; bezeichnenderweise gibt es nicht einmal einen gemeinsamen klösterlichen Wohnsitz. Die ›Gefährten Jesu‹ zeichnen sich im Gegenteil durch eine besondere Mobilität aus; sie haben keine vorgeschriebene Ordenstracht, üben sich nicht im gemeinsamen Chorgebet und führen keine kollektiven Bußübungen durch. Sie sind »Glieder einer Gemeinschaft«, die »auf verschiedene Gebiete der Welt […] verstreut sind«5, folgen dabei mit aller Konsequenz und Strenge den ›Satzungen‹ ihrer Sozietät, ohne deshalb jedoch äußerliche Merkmale ihrer Zugehörigkeit erkennen zu lassen. Aufgrund ihres besonderen Aufgabenprofils, das vor allem durch Seelsorge und Bildung sowie Missionstätigkeit innerhalb (zur Bekämpfung der protestantischen ›Häresie‹) und außerhalb Europas (zur Bekehrung der ›Heiden‹) charakterisiert ist, mussten die Jesuiten oftmals allein und ohne Kontakt zu ihren Oberen oder Ordensgefährten agieren. Gerade in dieser Hinsicht sind die von der ›Societas‹ gepflegten mentalen Techniken von Interesse, die ihren Mitgliedern auch trotz etwaiger Isolation jene Bindungskraft sichern konnten, die sich in anderen Orden aus dem ritualisierten Gemeinschaftsleben innerhalb eines vertrauten klösterlichen Ambientes ergaben. Im Unterschied zu anderen Ordensgemeinschaften wird religiöse Verbindlichkeit in der ›Gesellschaft Jesu‹ durch bestimmte spirituelle Übungen etabliert, die auf den Ordensgrün-

2 | Hartmann, Peter C.: Die Jesuiten, München: Beck 2008, S. 19. 3 | »Die Profeßgesellschaft legt neben den drei genannten Gelübden ferner das ausdrückliche Gelübde gegenüber dem Papst als dem jeweiligen Stellvertreter Christi unseres Herrn ab […]«, Ignatius von Loyola: Satzungen der Gesellschaft Jesu, Frankfurt a.M.: Manuskriptabdruck 1980, 21 (die numerischen Angaben beziehen sich hier wie auch bei den nachfolgenden Zitationen der Geistlichen Übungen und des Berichts des Pilgers auf den jeweiligen Abschnitt). 4 | Zur Struktur des Ordens vgl. auch Clossey, Luke: Salvation and Globalization in the Early Jesuit Missions, Cambridge: Cambridge University Press 2008, S. 20-44. 5 | Ignatius von Loyola: Satzungen, 655.

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der Ignatius de Loyola selbst zurückgehen. Die ›ejercicios espirituales‹6 sind strukturierte Gebetsübungen, deren »Inhalte sich um bestimmte Themen gruppieren«, die aber zugleich Spielraum für individuelle Ausgestaltung bieten; sie bilden ein »in einen festen zeitlichen Rahmen gespanntes Ganzes mit eigener, wirksamer und zielstrebiger, aber zugleich auch anpassungsfähiger Organisation«. 7 Die Exerzitien erfüllen dabei ganz unterschiedliche und sich wechselseitig ergänzende Funktionen: als geistliches Propädeutikum für Novizen wie als fortgesetztes mentales Training für die Ordensmitglieder, als Anleitung zur Selbstanalyse und Gewissenskontrolle sowie als Leitfaden zur dogmatischen Rückbesinnung. Die Verbindlichkeit dieser ›ejercicios espirituales‹, die zunächst unter individueller Anleitung eines Lehrers, später dann auch allein, dabei aber stets im Bewusstsein einer Gemeinschaft in spiritu praktiziert wurden, hat jenen normativen Zusammenhalt generiert und aufrecht erhalten, der der ›Societas Jesu‹ ihre vielfältigen, weitläufigen und vielfach isolierten Aktivitäten ermöglichte. In dem vorliegenden Essay möchte ich kurz auf Konzeption und Entstehung der ›ejercicios espirituales‹ sowie auf die konkreten Praktiken eingehen, aus denen sich die wesentlichen Bindungskräfte des Ordens konstituieren.8

2. E NTSTEHUNG DER › E JERCICIOS ESPIRITUALES ‹ Die für das Selbstverständnis des Jesuitenordens wie für das Identifikationspotential seiner Mitglieder entscheidenden ›Geistlichen Übungen‹ sind unmittelbar mit der vita des Ignatius de Loyola verknüpft; in ihnen manifestieren sich einerseits prototypische Entwicklungsstadien (vom sündigen Weltleben zur Konversion, vom bußfertigen Laien zum Ordensgründer), andererseits historische Vorbilder (namentlich Franziskus von Assisi) und theologische und

6 | Vgl. zur Entstehung der ›Geistlichen Übungen‹ Knauer, Peter: »Einleitung«, in: Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen. Nach dem spanischen Autograph übers. v. Peter Knauer, Würzburg: Echter 1999, S. 9-24. Die bis heute grundlegende Darstellung von Genese, Aufbau und Wirkung der ›Geistlichen Übungen‹ ist Guibert, Joseph de: The Jesuits. Their spiritual Doctrine and Practice, St. Louis: Institute of Jesuit Sources 1986; darauf basierend auch O’Malley, John: The First Jesuits, Cambridge, Mass./London: Harvard University Press 1993 (insbesondere das Kapitel »The Spiritual Exercises«, S.  37-50) und Feld, Helmut: Ignatius von Loyola. Gründer des Jesuitenordens, Köln/ Weimar/Wien: Böhlau 2006 (vor allem der Abschnitt »Die Exerzitien«, S. 40-73). 7 | Vercruysse, Jos E.: »Exerzitien I.«, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 10, Berlin/New York: de Gruyter 1982, S. 700. 8 | Die Exerzitien sind das erste von insgesamt sechs Experimenten, denen sich jeder unterziehen muss, der dem Orden beitreten will, vgl. Ignatius von Loyola: Satzungen, 53.

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devotionale Orientierungspunkte (Mystik, devotio moderna) und somit eine eigenständige Konzeption von Frömmigkeit und christlicher Lebensführung, die für den Orden normbildend werden sollte. Ihre detaillierte Ausarbeitung, Verschriftlichung und Verbreitung skandieren historisch die Gründungs- und erste Verbreitungsphase des Ordens im 16. Jahrhundert. Den spirituellen Exerzitien wurde hervorragende Bedeutung beigemessen; bereits vor der Konstituierung der ›Societas‹ als Ordensgemeinschaft bezeichnet sie ihr Gründer als »das Allerbeste, was ich in diesem Leben denken, verspüren und verstehen kann, sowohl dafür, dass sich der Mensch selber nützen kann, wie dafür, Frucht bringen und vielen anderen helfen und nützen zu können«.9 Die Anfänge dieser Selbstbefragung, Reflexion, Kontemplation und Meditation umfassenden Exerzitien rekurrieren auf einen biographischen Kontext, der einem paradigmatischen Narrativ10 der Legendenliteratur folgt. Der leichtlebige baskische Edelmann Iñigo de Loyola, der sich im Kampf eine schwere Verwundung zugezogen hat, beginnt während seiner langen Rekonvaleszenz religiöse Bücher zu lesen, die einen nachhaltigen Eindruck auf ihn hinterlassen; anstelle der bislang von ihm bevorzugten Ritterromane erwecken diese Heiligenlegenden (die er vermutlich in der weitverbreiteten Version der Legenda Aurea des Dominikaners Jacobus de Voragine rezipiert11) nunmehr einen spezifisch religiösen Eifer, der sich von den erträumten weltlichen Ruhmestaten jedoch zumindest in einem Punkt erheblich unterscheidet: Die Vorstellungen weltlicher Vergnügungen, wie er rückblickend schildert, ließen ihn durchaus unbefriedigt; sobald er aber daran dachte, »barfuß nach Jerusalem zu gehen und nur Kräuter zu essen und alle übrigen Strengheiten auszuführen, von denen er las, dass die Heiligen sie ausgeführt hatten, war er nicht nur getröstet, während er bei diesen Gedanken war, sondern blieb auch, nachdem er davon abgelassen hatte, zufrieden und froh […]. Und allmählich begann er, die Verschiedenheit der Geister zu erkennen, die sich bewegten, der eine vom Teufel und der

9 | So die Einschätzung des späteren Ordensgründers in einem auf den 16.11.1536 datierten Brief aus Venedig, in dem er dem Adressaten die Exerzitien wärmstens anempfiehlt, zit. n. P. Knauer: »Einleitung«, in: Geistliche Übungen, op. cit. S. 11. 10 | Die vita des späteren Heiligen ist zehn Jahre vor seinem Tod auf Grundlage seiner autobiografischen Angaben von Mitgliedern des Ordens niedergeschrieben worden. Die Textüberlieferung ist unübersichtlich; ich zitiere nachfolgend aus der Übersetzung von Knauer, Peter: Ignatius von Loyola. Der Bericht des Pilgers, Leipzig: St. Benno 1990. 11 | Die zwischen 1263-67 verfasste Legenda Aurea des Dominikanermönchs Jacobus de Voragine ist eine Art Festkalender christlicher Heiliger; aufgrund ihrer volkstümlichen Sprache war die »Goldende Legende« über Reformation und Gegenreformation hinaus beim niederen Klerus beliebter als die Bibel und hat vor allem auch die bildenden Künste inspiriert.

Spirituelle Verbindlichkeit andere von Gott. Dies war die erste Überlegung, die er in den Dingen Gottes anstellte. Und danach, als er die Übungen verfaßte, begann er von hieraus Licht bezüglich der Verschiedenheit der Geister zu gewinnen.«12

Am Anfang seiner Konversion steht offenkundig der Gedanke einer radikalen Bipolarität. Die ›Verschiedenheit der Geister‹ verweist auf ein grundsätzliches Problem jeder individuellen Devotion; von jeher waren Mystiker unterschiedlichster Couleur dem Verdacht ausgesetzt, Vorspiegelungen des Teufels zum Opfer zu fallen. Mit den Exerzitien wird nun eine bemerkenswerte Orientierungshilfe geboten; statt des traditionellen, auch von Inquisitoren und Exorzisten verwendeten objektiven Kriterienkatalogs wird das subjektive Gefühl des Exerzitanten und damit ein, wie es scheint, äußerst schwaches Erkenntnismoment zum sicheren Unterscheidungsmerkmal. Indem das Individuum sich im Rahmen der Exerzitien auf seine eigenen Empfindungen konzentriert und das Gefühl des Trostes oder der geistlichen Trostlosigkeit wahrnimmt, das aus seinem tiefsten Innersten hervorgeht, vermag es Gewissheit über Gottes Zuspruch oder Ablehnung zu erlangen. Diese Art der (Selbst-)Erkenntnis bildet die heuristische Grundlage der spirituellen Exerzitien, die Ignatius aus verschiedenen, durch eine damals geläufige Erbauungsliteratur vermittelten Meditationstechniken kompiliert. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Vita Christi des Ludolph von Sachsen13 – eines der meist gelesenen Bücher des 15. und 16. Jahrhunderts – und die davon beeinflusste Imitatio Christi des Thomas von Kempen14; in beiden Fällen stehen eine betont gefühlsmäßige Betrachtung des Lebens und Leidens Christi sowie eine Versenkung in die Heilsgeschichte und der innere, persönliche Nachvollzug der Erlösung im Vordergrund. Insofern sind die ›Geistlichen Übungen‹ kein Novum, sondern beruhen auf einer langen Tradition christlicher Meditationstechniken. Der Begriff meditatio meint bekanntlich die seelische Angleichung an die dauernde Wiederholung des Gotteswortes (ruminatio); laut Cassian ist die meditatio eine »Aufgabe sowohl des Mundes als auch des Herzens«.15 Im christlichen Abendland beinhalten die meditationes häufig eine Kontemplation der Heilsgeschichte; entsprechende Devotionspraktiken gewinnen eine beson12 | Ignatius von Loyola: Bericht des Pilgers, 8. 13 | Ludolph von Sachsen, auch genannt der Karthäuser (*um 1300, gest. 1378), gehörte zunächst dem Dominikanerorden an; 1339 trat er den Karthäusern bei. Von 1343 bis 1348 war er Prior in der Koblenzer Karthause und verdient schon aus diesem Grund hier Erwähnung. 14 | Die 1524 von Thomas von Kempen (vermutlich aus vier selbständigen Büchern) kompilierte Sammlung Imitatio Christi gilt als Hauptwerk der devotio moderna. 15 | Cassien, Jean: »Institutions cénobitiques«, in: J.-C. Guy (Hg.), Sources Chrétiennes 109, Paris: du Cerf 1961, Kap. 2,15,1.

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dere Bedeutung bei den Zisterziensern und Karthäusern und teilweise auch bei den Bettelorden und verbreiten sich im Kontext der als devotio moderna bezeichneten spätmittelalterlichen Frömmigkeitsbewegung des 14. Jahrhunderts auch unter Laien u.a. durch populäre Erbauungstexte, die in leicht verständlicher Sprache den Gläubigen dazu anleiten sollen, sich das Heilsgeschehen zu vergegenwärtigen, und damit indirekt auch Einfluss auf die bildende Kunst nehmen.16 Wenngleich die ›Geistlichen Übungen‹ strukturell diesen Texten ähneln, unterscheiden sie sich davon durch ihre Systematik und Intensität. Es geht nicht allein um affektbetonte Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte, die den Gläubigen mit innerer Demut und Gottesliebe erfüllen soll; indem die visuell betonten Meditationen mit der ›Unterscheidung der Geister‹ verknüpft werden, gewinnen die Exerzitien den Status religiöser Wahrheitsfindung. Den affektiven Zuständen, die im Rahmen der Exerzitien durch Vorstellung innerer Bilder hervorgerufen werden, kommt eine »kognitive Rolle« zu17, da ihre Wirkung – die Empfindung von geistlichem Trost oder Trostlosigkeit – als Seismograph göttlicher Gnade verstanden wird. Bereits aus diesen Dispositionen wird ein doppeltes Konfliktpotential deutlich: einerseits durch die individuelle Devotion, die – wie schon in unterschiedlichen mystischen Bewegungen des 13. und 14. Jahrhunderts – ohne Vermittlung kirchlicher Autorität oder kollektiver Beglaubigung sich der Erkenntnis und Erfahrung Gottes zu versichern sucht; andererseits durch die dominante Rolle der inneren Bilder und Vorstellungen, in denen sich, sofern sie sich unter strenger kontinuierlicher Gewissensbefragung einstellen, der göttliche Wille manifestiert. Damit erhalten die imaginierten Bilder eine Autorität, die weit über die traditionellen mnemotechnischen Hilfsfunktionen hinausgeht, die man den realen Bildwerken zubilligt. Der römischen Bildertheologie zufolge, die sich auf ein immer wiederholtes Diktum Gregors I. sowie auf eine konzise Formulierung Thomas’ von Aquin stützt und durch das Tridentinische Konzil explizit bekräftigt werden wird, haben Bilder die Aufgabe, die idiotes – die des Lesens Unkundigen – an die Heilstatsachen zu erinnern und zugleich fromme Gefühle zu erwecken, allerdings nur im Dienst des heiligen Wortes und unter

16 | Vgl. Belting, Hans: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München: Beck 1990; insbesondere die Ausführungen über »Mystik und Bild in der Praxis der Andacht«, S. 459-469. 17 | Niederbauer, Bruno: »Emotion und Entscheidung. Erkenntnistheoretische Bemerkungen zur kognitiven Funktion affektiver Zustände in den Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola«, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 135 (2013), S. 212-229, hier 213.

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Aufsicht kompetenter Diener der Kirche.18 So unterschiedlich die zeitgenössische Bilderwelt auch erscheinen mag, unterliegt sie doch einer theologisch strengen Normierung, selbst wenn diese (namentlich gegen Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts) bisweilen ignoriert wird. In dieser Logik ist es undenkbar, dass Bilder (seien sie imaginär oder real) eine eigene religiöse Aussagekraft entfalten.19 Es verwundert daher nicht, dass Ignatius mit seiner radikalen Auffassung, die den durch spirituelle Übung hervorgerufenen inneren Bildern unmittelbare Evidenz göttlicher Gnade zuschreibt, unter Häresieverdacht gerät20, und entsprechende Vorwürfe werden erst verstummen, als Ignatius gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Anhängern – einstigen Studiengefährten, die er »mittels der Übungen für den Dienst Gottes gewann«21 – sich 1538 in Rom explizit dem Papst unterstellt. Das Gebot des unbedingten Papstgehorsams entlastet das Verhältnis der ›Compagnia‹ zur kirchlichen Autorität und ermöglicht allererst jene spirituelle Praktiken, die den 1540 approbierten und bald schon zur Elitetruppe der inner- und außereuropäischen katholischen Mission avancierenden Orden kennzeichnen sollten. Bereits zu Lebzeiten Ignatius’ werden zwei lateinische Versionen der ›ejercicios espirituales‹ erstellt; wesentlich für die allgemeine Rezeption erweist sich die sogenannte Vulgata von André des Freux.22 Diese dem Original stilistisch an Eleganz überlegene und noch unter Ignatius’ redaktioneller Aufsicht in Rom 1546/47 erstellte Fassung bildet die Grundlage für die 1548 erschienene Druckversion. Die Exerzitien sind in vier Wochen eingeteilt, was indessen nicht als konkrete Zeitspanne, sondern als Gliederungseinheit intendiert ist, die individuell angepasst werden kann. Praktiziert werden die Exerzitien zunächst unter Anleitung eines Lehrers; die Übungen implizierten anfangs strenges Fasten und Selbstkasteiungen und wurden teilweise im Freien und unter extremen Bedingungen (etwa in winterlicher Kälte) ausgeübt. Der Zeitraum der Exerzitien wurde später auf drei Monate ausgedehnt, doch ist bereits in der frühen Druckversion die Möglichkeit vorgesehen, sie auch täglich 18 | Vgl. Held, Heinz Georg: Engel. Geschichte eines Bildmotivs, Köln: DuMont 1995, S. 76-113. 19 | Zu den kunsttheoretischen Positionen in der 2. Hälfte des 16. Jhs. vgl. Held, Heinz Georg: Die Leichtigkeit der Pinsel und Federn. Italienische Kunstgespräche der Renaissance, Berlin: Wagenbach 2016, S. 31-37 und S. 171-191. 20 | Die Prozesse setzen 1526 in Alcalá ein, und die Verdächtigungen dauern bis 1538 fort – also quasi bis zur Approbation des Ordens. 21 | Ignatius von Loyola: Bericht des Pilgers, 82. Zu den ›Gefährten‹, vor allem auch zu den Misserfolgen, die Ignatius teilweise unter ihnen verzeichnen musste, vgl. Ravier, André: Ignatius von Loyola gründet die Gesellschaft Jesu (dt. bearb. v. Josef Stierli), Würzburg: Echter 1982, S. 59-85. 22 | Zur komplexen Textgenese vgl. Guibert, Joseph: The Jesuits, S. 15-20.

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über wenige Stunden zu praktizieren; auf keinen Fall sollten dadurch andere Aktivitäten (wie Studien oder missionarische resp. seelsorgerische Arbeit) beeinträchtigt werden. Die gesamten Exerzitien wurden nur mit wenigen Kandidaten eingeübt, die für die Arbeit des Ordens besonders geeignet erschienen.

3. D ER A UFBAU DER › E JERCICIOS ESPIRITUALES ‹ Das Buch beginnt mit zwanzig einleitenden Bemerkungen, den sog. Annotationes, die sich vorzugsweise an den Lehrer richten. Sie geben Hinweise, die den Umgang mit den Übungen und die dazu notwendige geistige Haltung betreffen; der Lehrende, heißt es, solle nicht Wissen, sondern Erfahrung vermitteln, denn »nicht das viele Wissen sättigt und befriedigt die Seele, sondern das Innerlich-die-Dinge-Verspüren-und-Schmecken«.23 Des weiteren werden Handlungsanweisungen für den Fall gegeben, dass sich beim Exerzitanten zu wenig oder zu viel Trost oder Trostlosigkeit einstellen sollte, wobei ggf. auch die ›Unterscheidung der Geister‹ zur Anwendung kommen könne. Die Annotationes beziehen sich aber auch auf ganz konkrete Fragen, etwa wann und wo die Übungen gemäß den jeweils zu berücksichtigenden Lebensumständen des Exerzitanten durchgeführt werden sollten. Die erste ›Woche‹ wird eröffnet von vier sog. ›Voraussetzungen‹, die gewährleisten sollen, dass »sowohl der, welcher die geistlichen Übungen gibt, wie der, der sie empfängt, mehr Hilfe und Nutzen haben«.24 Sie betreffen die Verpflichtung, Aussagen des Anderen nicht vorschnell zu verurteilen, sie zu prüfen, ggf. zu verbessern und, falls dies nicht genügen sollte, »alle angebrachten Mittel« einzusetzen, ihn zum rechten Verständnis zu leiten, damit er »gerettet werde«.25 Es folgt das kurze Gebet ›Prinzip und Fundament‹, das darum ersucht, sich »allen geschaffenen Dingen« gegenüber »indifferent« zu machen, damit allein der Dienst an Gott und die Rettung der Seele zählen. Bei der darauf folgenden ›täglichen Gewissenserforschung‹ handelt es sich um ein Annotationssystem, mit dem der Exerzitant dreimal täglich seine Vergehen und Unzulänglichkeiten anhand von Punkten auf einer Strichlinie einträgt, die er von Tag zu Tag und von Woche zu Woche vergleicht, um zu sehen, ob er sich gebessert habe. An diese Kontrolle schließt eine abstraktere ›allgemeine Gewissenserforschung‹ an, die u.a. eine Unterscheidung zwischen lässlichen Sünden und Todsünden beinhaltet. Gerade diese Unterscheidung war Ignatius während seines Inquisitionsprozesses in Salamanca explizit verboten worden. Es folgen die eigentlichen ›Übungen‹, die in der ersten ›Woche‹ fünf

23 | Ignatius von Loyola: Geistliche Übungen, 2. 24 | Ebd., 22. 25 | Ebd.

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thematische Meditationen umfassen, sie beginnen jeweils mit einem ›Vorbereitungsgebet‹, auf das zwei ›Hinführungen‹ folgen. Die erste dieser ›Hinführungen‹ konturiert vor dem inneren Auge den Raum, in dem die visuellen Vorstellungen sich bewegen, die zweite leitet zu den Affekten über, die durch diese Vorstellungen erregt werden sollen. Es folgen einzelne Punkte, die jeweils nacheinander einen besonderen Aspekt der Wahrnehmung fokussieren. Ein Gespräch mit Christus oder auch ein ganzes Set an Gesprächen mit Maria, Christus und Gottvater, die mit dem ›Vater Unser‹ enden, beschließen die einzelnen Übungen. Auf die Übungen der ersten Woche folgen zehn »zusätzliche Bemerkungen, um die Übungen zu verbessern«,26die Korrekturen an Länge und Umfang der Übungen, den dabei eingenommenen Gesten und Körperpositionen, aber auch diätische Vorschriften oder Hinweise zur Raumabdunkelung u.a.m. beinhalten. Die weiteren ›Wochen‹ sind in ihrem Ablauf ähnlich organsiert; thematisch widmen sie sich dem Leben Christi bis zum Einzug in Jerusalem am Palmsonntag (2. Woche), der Passion (3. Woche) und Auferstehung und Himmelfahrt Christi (4. Woche). Die ›Geistlichen Übungen‹ enden mit unterschiedlichen Regeln, von denen die meisten in der einen oder anderen Form die ›Unterscheidung der Geister‹ betreffen.27 Der scholastische Auf bau der ›Geistlichen Übungen‹ ist unverkennbar, auch lassen sich die für die Erbauungsliteratur der devotio moderna charakteristischen Abfolgen von lectio, meditatio und oratio erkennen. In ihrer Intensität übersteigen die ignatianischen Übungen jedoch bei weitem den Rahmen frommer Kontemplation. Sie zielen auf eine totale Ergriffenheit des Individuums, die einen Höhepunkt in der fünften und letzten Übung der ersten ›Woche‹ findet, die sich mit der Hölle beschäftigt. Auch diese ›Besinnung‹ beginnt mit dem ›Vorbereitungsgebet‹. Die daran anschließende erste ›Hinführung‹ zielt darauf ab, sich die Hölle als konkreten geographischen Ort vorzustellen: »Die Erste Hinführung: Zusammenstellung, die hier darin besteht, mit der Sicht der Vorstellungskraft die Länge, Breite und Tiefe der Hölle zu sehen.«28 Sobald diese räumliche Vorstellung kohärent erscheint, soll der Exerzitant in der zweiten ›Hinführung‹ um das »innere[s] Verspüren der Strafe« bitten.29 Die zweite ›Hinführung‹ gliedert sich in mehrere Unterpunkte, von denen ein jeder die Einbeziehung resp. Konzentration auf einen spezifischen Sinn impliziert. So betrifft Punkt 1 die visuelle Vorstellung, Punkt 2 die akustische 26 | Ebd., 73-90. 27 | So zum Beispiel die 14 »Regeln, um die verschiedenen Regungen zu verspüren und zu erkennen, die in der Seele verursacht werden« (Geistliche Übungen, 313-327) oder auch die acht »Regeln zum gleichen Zweck mit größerer Unterscheidung der Geister« (Geistliche Übungen, 328-336). 28 | Ebd., 65. 29 | Ebd.

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Vorstellung, es folgen die olfaktorische (wie riecht es in der Hölle?) sowie die geschmackliche und haptische Vorstellung: »Der erste Punkt soll sein: Mit der Sicht der Vorstellungskraft die großen Gluten sehen und die Seelen wie in feurigen Leibern. Der zweite: Mit den Ohren Gejammer, Geheul, Schreie, Lästerungen gegen Christus, unseren Herrn, gegen alle seine Heiligen hören. Der dritte: Mit dem Geruch Rauch, Schwefel, Auswurf und Faulendes riechen. Der vierte mit dem Geschmack Bitteres schmecken, etwa Tränen, Traurigkeit und den Wurm des Gewissens. Der fünfte: Mit dem Tastsinn berühren, nämlich wie die Gluten die Seelen berühren und verbrennen.« 30

Anschließend wird zu einem direkten Gespräch mit Christus über die »Seelen, die in der Hölle sind« und die Gründe dafür animiert. Auf das abschließende ›Vater Unser‹ folgen noch einige ›Bemerkungen‹ über den Zeitpunkt, zu denen diese Übungen stattfinden sollen, sowie »Zusätze, um die Übungen besser zu machen und um besser zu finden, was man wünscht«: »Der erste Zusatz ist: Nach dem Zubettgehen, wenn ich bereits einschlafen will, für die Dauer eines Ave Maria an die Stunde denken, in der ich aufstehen muß und wozu; dabei die Übung, die ich zu halten habe, kurz zusammenfassen. Der zweite: Wann ich aufwache: Ohne den einen oder anderen Gedanken Raum zu geben, gleich auf das achten, was ich in der ersten Übung um Mitternacht zu betrachten mich anschicke, indem ich mich in Verwirrung über meine so vielen Sünden bringe […]. Ebenso in der zweiten Übung, indem ich mich zu einem großen und in Ketten gelegten Sünder mache, nämlich, daß ich wie mit Ketten gefesselt gehe, um vor dem höchsten, ewigen Richter zu erscheinen, indem ich als Beispiel heranziehe, wie die Eingekerkerten und in Ketten Gelegten, bereits des Todes würdig, vor ihrem zeitlichen Richter erscheinen. […] Die vierte: In die Betrachtung eintreten, bald kniend, bald auf der Erde ausgestreckt, bald auf dem Rücken mit dem Gesicht nach oben, bald sitzend, bald stehend […].« 31

4. D IE › E JERCICIOS ESPIRITUALES ‹: V ERBINDLICHKEIT UND I MAGINATION Die ›Geistlichen Übungen‹ lassen den Exerzitanten den vorbildlichen religiösen Bildungsprozess des Ordensgründers nachvollziehen und binden ihn in dessen Vorstellungs- und Gedankenwelt ein. Die intensive Beziehung, die zwischen Lehrer und Exerzitant hergestellt wird, ist bereits Gegenstand der ersten biografischen Schrift über Ignatius; sie wird auch in Briefen von Jesuitenmis-

30 | Ebd., 66-70. 31 | Ebd., 76.

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sionaren betont. Zugleich verbindet die durch Introspektion und Selbstanalyse gewonnene religiöse Erfahrung die Jesuitenpadres untereinander, so dass sie unabhängig von ihrer räumlichen Präsenz resp. ihrer jeweiligen Tätigkeit eine spirituelle Gemeinschaft bilden, die in den Exerzitien immer wieder erneuert wird. In den spirituellen Übungen wird ein für den Orden charakteristisches Zusammenspiel von strikter Norm und flexibler Anwendung sichtbar; sie erweisen sich dabei als ein streng reglementiertes und zugleich extrem individualisiertes Ritual, dessen objektiv festgelegte Regeln sowohl verinnerlicht als auch subjektiv appliziert und variiert werden. Die ›innere Entfaltung‹ von Text- und Bildrealitäten32, wie sie die ignatianischen Exerzitien paradigmatisch vor Augen führen, könnte auf den ersten Blick einen schwachen Grad an Verbindlichkeit indizieren, da sie weitgehend auf subjektiven Gefühlswerten und individuellen Erfahrungen beruht. Gleichwohl haben sich die unter Anleitung erlernten und dauerhaft praktizierten mentalen Techniken, die einen imaginären spirituellen Freiraum gleichermaßen hervorbringen und definieren, indem sie sich auf bestimmte normierte Vorstellungen konzentrieren und zugleich ein breites Variationsspektrum ermöglichen, als nachhaltig wirksame Bindekraft des Ordens erwiesen. Die ›ejercicios espirituales‹ rekurrieren auf ein kollektives Imaginäres33, das sich aus traditionellen und standardisierten Vorstellungen und dem theologisch kanonisierten Bildrepertoire des abendländischen Christentums zusammensetzt. Sie sind insofern verbindlich und zugleich durchlässig genug, um andere kulturelle Vorstellungen zuzulassen und einer der jeweiligen Referenzkultur angepassten heilsgeschichtlichen Vision des Christentums zu integrieren;34 auch aus diesem Grund haben die Exerzitien eine wichtige, wenngleich von der Forschung bislang nur unzureichend untersuchte Rolle in der Außenmission der Jesuiten gespielt.35 Die Bilderwelten, die im Rahmen der Exerzitien generiert werden, sind kein individuelles Amalgam, sondern 32 | S. dazu auch den Beitrag von Schaffers/Rouget in diesem Band, der die filmische Darstellung der ›inneren Entfaltung von Textrealitäten‹ thematisiert und aufzeigt, wie damit in nuce wiederum Bildmaterial für das kollektive Imaginäre geschaffen wird. 33 | Die von Jacques Lacan inspirierte Diskussion über das kollektive Imaginäre wird in Frankreich derzeit prominent von dem Philosophen Jean-Jacques Wunenburger weitergeführt: L’imaginaire, Paris: Press Universitaire de France 2013. 34 | Hier wird bereits das Prinzip der Akkommodation deutlich, das die Jesuiten später generell als Missionsstrategie einsetzen werden. 35 | Über die Ausübung der Exerzitien in der China-Mission sind in den letzten Jahren zwei Publikationen von Nicolas Standaert erschienen: Standaert, Nicolas: »Ignatian Visual Meditation in Seventeenth-Century China«, in: Halvor Eifring (Hg.), Meditation and Culture. The Interplay of Practice and Context, London u.a.: Bloomsbury 2015, S. 2435; Ders.: »The Spiritual Exercises of Ignatius of Loyola in the China mission of the 17th

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Resultat einer mnemotechnischen Praxis, die eine Rückbindung an präzis definierte und theologisch approbierte Kataloge sprachlicher wie künstlerischer Darstellung mit hoher Elastizität und Offenheit für neue homiletische und lebenspraktische Umsetzungen verknüpft. Damit aber werfen die ›Geistlichen Übungen‹ jenseits von ihrem spezifischen Kontext religiöser Praxis weiterführende Fragen zur Normativität des Imaginären und seiner Verbindlichkeit auf.

and 18th centuries«, in: Archivum Historicum Societatis Iesu, Bd. 81, Heft 161, Rom 2012/1, S. 73-124.

»Geben Sie Gedankenfreiheit!« Verbindlichkeit und Freiheit (in) der Literatur Stefan Neuhaus

I. W AS IST V ERBINDLICHKEIT UND WAS HAT SIE MIT F REIHEIT ZU TUN ? Wenn wir von Verbindlichkeit als einer schwachen Normativität ausgehen,1 dann müssen wir zunächst nach dem Verhältnis von Verbindlichkeit und Normen fragen. Dass Normen nicht verbindlich sein müssen, scheint ein paradoxer Gedanke, und in der Tat beginnt die Geschichte einer schwachen Normativität im deutschsprachigen Raum erst im 18. Jahrhundert. Die ›flüssige Moderne‹ (Zygmunt Baumans Begriff der ›liquid modernity‹ wurde ins Deutsche schief übersetzt mit ›flüchtige Moderne‹)2 verflüssigt die früheren starren Normen, die unhinterfragte Geltung beanspruchten. Alle Normen kommen, zumindest in unserem Kulturkreis, auf den Prüfstand und der Ausdifferenzierungsprozess der westeuropäischen Gesellschaften beginnt. In der ›Postmoderne‹ (Jean-François Lyotard u.a.),3 zweiten Moderne oder ›reflexiven Moderne‹ (Ulrich Beck u.a.)4 wird, auf der Basis der Erfahrungen mit Nationalsozialismus und Holocaust, das Reflexive in das von der Aufklärung geprägte Programm der Moderne mit eingebaut.5 1 | Vgl. den Beitrag von Christian Bermes im vorliegenden Band. 2 | Vgl. Bauman, Zygmunt: Flüchtige Moderne [org. Liquid Modernity, 2000], aus dem Engl. v. Reinhard Kreissl (= Edition Suhrkamp, Band 2447), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. 3 | Vgl. Lyotard, Jean-Franςois: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, hg. v. Peter Engelmann (= Edition Passagen, Band 7), 5. Aufl., Passagen: Wien 2005. 4 | Vgl. Beck, Ulrich/Giddens, Anthony/Lash, Scott: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse (= Edition Suhrkamp, Band 1705), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. 5 | Darauf basiert bereits die Kritische Theorie mit ihrer Grundlegung durch Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 15. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer 2004.

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Das Staats- und Rechtswesen wird bereits seit der Aufklärung schubweise modernisiert. Die neue Normativität wird in dem, was sich jeweils Deutschland nennt (Heiliges Römisches Reich deutscher Nation, Deutscher Bund, Zweites Deutsches Kaiserreich), zunächst noch von oben dekretiert, allerdings bereits im 18. Jahrhundert im Sinne eines aufgeklärten Absolutismus. Das erstarkte Bürgertum lässt dem Adel zumindest darin auch keine andere Wahl. Mit dem Ende der Monarchien in Deutschland und Österreich werden, unterbrochen durch den Nationalsozialismus, demokratische Strukturen etabliert, in die Mechanismen eingebaut sind, die alle Normen auch immer überprüf bar und änderbar machen sollen. Verbindlichkeit als schwache Normativität betrifft einerseits, in einem weiten Sinne verstanden, alle Regeln westlicher Gesellschaften, weil diese Regeln potentiell auch änderbar sind. In einem engeren Sinn verstanden, was an dieser Stelle mehr Sinn macht, meint Verbindlichkeit nicht in erster Linie Gesetze, sondern Regeln menschlichen Zusammenlebens, die permanent diskursiv ausgehandelt werden und die freilich auch in Gesetzescharakter münden können – etwa mit der Festschreibung einer ›Ehe für alle‹. Es ließe sich diskutieren, inwieweit der Begriff der ›Konventionen‹ eine solche Regelhaftigkeit zwischen starker (Gesetze) und schwacher (Erwartungen) Verbindlichkeit beschreiben helfen könnte.6 Wenn Verbindlichkeit das Ergebnis von Wahlmöglichkeiten ist, die zu Entscheidungen für und gegen etwas führen und die zu Regeln oder Normen gerinnen können, dann ist Freiheit die Voraussetzung von Verbindlichkeit. Für Immanuel Kant ist Freiheit die Fähigkeit des Menschen, sich an den Anfang von etwas zu setzen, etwas neu zu beginnen – und damit auch, wenn nötig, etwas anderes zu beenden. Dies kann natürlich immer wieder geschehen, so dass Prozesse gestartet, zugunsten anderer Prozesse abgebrochen oder beendet werden können. Es gibt die Verbindlichkeit der Ehe, aber sie kann geschieden werden (zumindest vor dem Gesetz). Freiheit kann es nur geben, wenn man sich an den Anfang von etwas setzt, also wenn man (so bewusst wie möglich) eine Wahlentscheidung trifft. Sonst ist man Opfer seiner eigenen versäumten Wahlmöglichkeit, man ist, wie Kant es in seinem berühmten Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Auf klärung? (1784) formuliert hat, Opfer seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache

6 | Vgl. Neuhaus, Stefan: »Die Macht der Konventionen«, in: Mario Grizelj/Oliver Jahraus/Tanja Prokić (Hg.): Vor der Theorie. Immersion – Materialität – Intensität (= Film – Medium – Diskurs, Band 54), Würzburg: Königshausen/Neumann 2014, S. 291-306.

»Geben Sie Gedankenfreiheit!« derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«7

Das zentral gesetzte Moment ist die Reflexion, die allerdings zu einem Ergebnis führen muss, zu einer Wahlentscheidung. Selbst der Verzicht auf eine Wahl ist aus dieser Perspektive also eine Wahlentscheidung. Wenn wir mit Christian Bermes Verbindlichkeit von Wissen (›die Erde ist rund‹) und Meinungen (›Hedgefonds sind Heuschrecken‹) abgrenzen8 und als in einer Kultur geltende Gewissheiten verstehen, dann kann es sich nur um Gewissheiten handeln, die durch einen Reflexionsprozess gelaufen sind und dies zumindest potentiell jederzeit wieder tun können – ansonsten handelt es sich um totalitäre ›Verbindlichkeiten‹, die weder eine schwache Normativität noch irgendwelche Stärken besitzen, außer dass sie die Starken in einer Gesellschaft stark und die Schwachen schwach machen. Dies ist in der Gesellschaft Spaniens im 16. Jahrhundert der Fall, so wie sie Friedrich Schiller in seinem ›dramatischen Gedicht‹ Don Carlos (1787) zeichnet, weshalb auch – eines der berühmtesten Zitate der deutschsprachigen Literatur – Marquis Posa vom König »Gedankenfreiheit« fordert.9 Wohlgemerkt nicht Freiheit von äußeren Zwängen, sondern die Freiheit des Denkens! Und damit die Freiheit der Literatur, die nicht nur Ergebnis eines solchen Denkens ist, sondern sogar Denken modelliert, also Denken auf zweiter Stufe darstellt und verhandelt (darin ist sie mit der Philosophie verschwistert).10

7 | Kant, Immanuel: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« in: Ehrhard Bahr (Hg.), Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Kant, Erhard, Hamann, Herder, Lessing, Mendelssohn, Riem, Schiller, Wieland (= RUB, Band 9714), Stuttgart: Reclam 2002, S. 9-17, hier S. 9. 8 | Vgl. den Beitrag von Christian Bermes im vorliegenden Band. 9 | Vgl. Schiller, Friedrich: »Don Carlos«, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 2: Dramen II. Darmstadt: WBG 1981, S. 7-267, hier S. 126. 10 | Vgl. hierzu meinen Versuch, die jüngere und jüngste Literaturgeschichte als Entwicklung einer Auseinandersetzung mit Konzepten von Freiheit zu lesen: Neuhaus, Stefan: Grundriss der Neueren deutschsprachigen Literaturgeschichte (= UTB, Band 4821), Tübingen/Basel: Francke 2017.

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II. W ESHALB IST F REIHEIT DIE V OR AUSSE T ZUNG VON V ERBINDLICHKEIT – UND VON L ITER ATUR ? Wenn wir das Aushandeln von Regeln als Spiel11 und somit auch als Ausdruck von Freiheit begreifen und den Regeln in (mehr oder weniger) freiwilliger Übereinkunft eine gewisse Verbindlichkeit zuerkennen, dann ist die Frage, welche Regeln für Literatur gelten, Teil dieses Spiels, das ohne Freiheit ebensowenig zu denken ist wie ohne Verbindlichkeit. So lange es Literatur gibt, gibt es deshalb auch Wertmaßstäbe, die an sie angelegt werden und es ist kein Ausdruck von Freiheit, wenn auf Wertmaßstäbe verzichtet wird. Im Einklang mit der eingangs skizzierten Entwicklung haben sich die AutorInnen der Spätaufklärung und des Sturm und Drang entschieden, die Literatur neu zu beginnen, indem sie einen Paradigmenwechsel in der Bewertung von Literatur herbeiführten. Literatur ist nun nicht mehr handwerklich besonders gelungene Nachahmung von Regeln und Mustern, ganz im Gegenteil: Sie gibt sich ihre Regeln selbst. Sie verflüssigt die starren Regeln und spielt mit ihnen, sie erschafft andere und setzt sie in Beziehung zu den früheren, sie kombiniert beide, entwickelt die früheren Muster weiter oder löst sie durch neue ab – und ob dies gelungen ist, ist jeweils nur am singulären Text selbst zu überprüfen. Die moderne Literatur entsteht dadurch, dass sie eine neue Auffassung von Verbindlichkeit umsetzt, einsetzt, vertritt oder überhaupt erst erschafft. Die fiktive Gesellschaft, in der Götz von Berlichingen, Karl Moor, Don Carlos oder Marquis Posa leben und in der sie auf der Bühne stehen, frühere Jahrhunderte mit der Gegenwart in unmittelbaren Bezug setzend – sie hat das Potential zu einer Freiheit, verstanden als Ergebnis von Reflexionsprozessen, die Wahlmöglichkeiten bereitstellt und damit eine schwache Normativität etabliert, wie es sie auch heute nur in Ansätzen und Teilen von Kulturen gibt. Das ist das utopische Potential der Literatur, das nun, als Katalysator für Individualisierung und im Kontext einer hochinteressierten, wachsenden bürgerlichen Öffentlichkeit, eine neue Brisanz erhält. Es gibt einen Text, in dem dieses utopische Potential gestaltet wurde wie in keinem anderen, und auch er ist von Schiller: Wilhelm Tell (1804). Die emphatische Hinwendung zum Individuum / Subjekt (eine mögliche Differenzierung soll hier nicht erfolgen) wird durch eine gleichzeitige Betonung der Sozialität ausgeglichen. Zunächst kann die Figur Tell noch mit Inbrunst die – als Reaktion auf die Nivellierung durch das ›christliche‹ Mittelalter – vom Sturm und Drang (dafür steht etwa Prometheus) stark gemachte Position der Individualität behaupten: 11 | Vgl. Huizinga, Johan: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, in engster Zusammenarbeit mit dem Verf. aus dem Niederländischen übertr. v. H. Nachrod. Mit einem Nachw. v. Andreas Flitner (rowohlts enzyklopädie), 18. Aufl., Reinbek: Rowohlt 2001.

»Geben Sie Gedankenfreiheit!« Stauffacher. Wir könnten viel, wenn wir zusammenstünden. Tell. Beim Schiffbruch hilft der einzelne sich leichter. Stauffacher. So kalt verlaßt Ihr die gemeine [gemeinsame] Sache? Tell. Ein jeder zählt nur sicher auf sich selbst. Stauffacher. Verbunden werden auch die Schwachen mächtig. Tell. Der Starke ist am mächtigsten allein.12

Doch muss Tell, als Geßler ihn zwingt, auf den eigenen Sohn zu schießen und dann wortbrüchig wird, die gegenteilige Erfahrung machen – allein ist man der Willkür der Herrschenden ausgeliefert. Sein individuelles Handeln und das der anderen müssen zusammengehen, damit sich etwas radikal ändern kann. Die Voraussetzungen schaffen der Rütli-Schwur – »Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, / In keiner Not uns trennen und Gefahr«13 – und Tells ›Tyrannenmord‹, seine Tötung Geßlers, die vielfach als Notwehr motiviert wird und Tell auch dazu bringt, aus Reue über diese dennoch notwendige Tat seine Armbrust an den sprichwörtlichen Nagel zu hängen. Nur so kann das Prinzip von Verbindlichkeit im Sinne einer auf Freiheit basierenden, schwachen Normativität am Ende des Stücks etabliert werden, besiegelt durch den Satz von Rudenz: »Und frei erklär ich alle meine Knechte.«14

III. W IE WIRD V ERBINDLICHKEIT IN DER L ITER ATUR REFLEK TIERT ? Seit dem Sturm und Drang und der Genieästhetik in der Mitte des 18. Jahrhunderts gibt sich Literatur eigene Regeln, allerdings kann dies nie ohne Bezug auf bereits existierende und zumindest einem Expertenpublikum bekannte Regeln geschehen. Durch seine relative Autonomie, man könnte auch sagen: durch seine dezidiert schwache Normativität provoziert der literarische Text Interpretationen, denn »die Regeln der Lektüre sind nicht die der Buchstäblichkeit, sondern die der Anspielung«.15 Wie die Kunst bietet die Literatur keine Informationen, sondern Mitteilungen: »Ihre Formen werden als Mitteilung verstanden, ohne Sprache, ohne Argumentation. Anstelle von Worten und grammatischen Regeln werden Kunstwerke verwendet, um Informationen auf

12 | Schiller, Friedrich: »Wilhelm Tell«, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 2: Dramen II, hg. v. Gerhard Fricke/Herbert G. Göpfert, Darmstadt: WBG 1981, S. 913-1029, hier S. 932. 13 | Ebd., S. 964. 14 | Ebd., S. 1029. 15 | Barthes, Roland: Kritik und Wahrheit (= Edition Suhrkamp, Band 218), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967, S. 64.

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eine Weise mitzuteilen, die verstanden werden kann.«16 Literatur ist eine besondere Form sprachlicher Codierung, sie ist durch ›Metapher und Metonymie‹ gekennzeichnet.17 Literarische Texte sind Versuchsanordnungen, sie sind Modelle von Welterfahrung. Die Verbindlichkeit der Literatur besteht gerade darin, jede Normativität auf den Prüfstand zu stellen und einen Reflexionsprozess in Gang zu setzen, der zu einer Verbindlichkeit führen kann, die reflexiv abgesichert und daher gerade durch ihre relative Schwäche stark sein kann, weil sie vielen Mitgliedern der Gesellschaft eine Orientierung bietet, die ihre individuellen Bedürfnisse und Ziele mit einschließt. Literatur ist also auch ein Modell für Verbindlichkeit überhaupt. Sehen wir einmal, wie Schiller dies in seinem Drama der Freiheit, im Don Carlos, umsetzt. Bereits der erste Satz wirkt als Exposition und Vorausdeutung auf das Kommende: »Die schönen Tage in Aranjuez / Sind nun zu Ende.«18 Beichtvater Domingo sagt dies zu Carlos, er ahnt, dass der Sohn des Königs ein Geheimnis hat. Carlos liebt Elisabeth, seine Stiefmutter, die zunächst ihm als Braut versprochen war, bevor sein Vater, der als absolutistischer Herrscher keiner direkten Kontrolle unterliegt, sie ihm wegnahm. Im totalitären System Philipps des Zweiten gilt es als selbstverständlich, dass die Bedürfnisse des Monarchen Vorrang vor denen seiner Untergebenen haben, selbst vor denen seines Sohnes und Thronfolgers. Allerdings ist der Monarch selbst wieder unfrei. Die scheinbar größtmögliche Freiheit bedeutet auch, dass er sich selbst kontrollieren, sich selbst Regeln geben muss, die das Gemeinwesen, dem er vorsteht, möglichst optimal funktionieren lassen. Das aber wird als im wahrsten Sinn des Wortes unmenschlich vorgeführt. Systemkonform setzen seine Berater, unter denen Domingo und der Herzog von Alba den geistlichen und den weltlichen Teil der Exekutive verkörpern, auf Zwang und Unterdrückung, gegenüber dem Herrscher üben sie subtilen Zwang durch Manipulation und Intrige aus. Philipp ahnt selbst, dass eine starre Hierarchie mit entsprechend starren Normen auch für den, der an der Spitze dieser Hierarchie steht, kontraproduktiv sein kann. In seinem zentral in der Mitte und am Höhepunkt des Stücks, am Ende des dritten Akts angeordneten Gespräch mit Marquis Posa heißt es:

16 | Luhmann Niklas: Die Kunst der Gesellschaft (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Band 1303), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 39. 17 | Vgl. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, übers. v. Bernd Schwibs/Achim Russer (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Band 1539), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 53. 18 | Schiller: »Don Carlos«, S. 9.

»Geben Sie Gedankenfreiheit!« MARQUIS. Aber schade! Da Sie den Menschen aus des Schöpfers Hand In Ihrer Hände Werk verwandelten Und dieser neugegoßnen Kreatur Zum Gott sich gaben – da versahen Sie‘s In etwas nur: Sie blieben selbst noch Mensch – Mensch aus des Schöpfers Hand. Sie fuhren fort, Als Sterblicher zu leiden, zu begehren; Sie brauchen Mitgefühl – und einem Gott Kann man nur opfern – zittern – zu ihm beten! Bereuenswerter Tausch! Unselige Verdrehung der Natur! – Da Sie den Menschen Zu Ihrem Saitenspiel herunterstürzten, Wer teilt mit Ihnen Harmonie? KÖNIG. (Bei Gott, Er greift in meine Seele!) MARQUIS. Aber Ihnen Bedeutet dieses Opfer nichts. Dafür Sind Sie auch einzig – Ihre eigne Gattung – Um diesen Preis sind Sie ein Gott. – Und schrecklich, Wenn das nicht wäre – wenn für diesen Preis, Für das zertretne Glück von Millionen, Sie nichts gewonnen hätten! wenn die Freiheit, Die Sie vernichteten, das einzge wäre, Das Ihre Wünsche reifen kann?19

Marquis Posa sieht sich zunächst selbst als freier an, als er in Spanien, in das er aus freieren Ländern zurückgekehrt ist, sein kann: Ich aber soll zum Meißel mich erniedern, Wo ich der Künstler könnte sein? – Ich liebe Die Menschheit, und in Monarchien darf Ich niemand lieben als mich selbst. 20

Posa rechnet mit schwachen Verbindlichkeiten, die Erfahrung von Kontingenz ist für ihn die Eröffnung eines Spielraums: Wie komm ich aber hieher? – Eigensinn Des launenhaften Zufalls wär es nur,

19 | Ebd., S. 123. 20 | Ebd., S. 120.

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Stefan Neuhaus Was mir mein Bild in diesen Spiegeln zeigt? Aus einer Million gerade mich, Den Unwahrscheinlichsten, ergriff und im Gedächtnisse des Königs auferweckte? Ein Zufall nur? Vielleicht auch mehr – Und was Ist Zufall anders als der rohe Stein, Der Leben annimmt unter Bildners Hand? Den Zufall gibt die Vorsehung – zum Zwecke Muß ihn der Mensch gestalten. 21

Am Ende des Gesprächs gelingt es ihm, den König zu überzeugen: KÖNIG. Und wenn Ihr so gut wisset, wie die Folgezeit Mich richten wird, so lerne sie an Euch, Wie ich mit Menschen es gehalten, als Ich einen fand. MARQUIS. O! der gerechteste Der Könige sei nicht mit einem Male Der ungerechteste – In Ihrem Flandern Sind tausend Bessere als ich. Nur Sie – Darf ich es frei gestehen, großer König? – Sie sehn jetzt unter diesem sanftern Bilde Vielleicht zum erstenmal die Freiheit. 22

Die Intrigen, die um den König herum gesponnen werden und in denen er sich verfängt, verhindern, dass diese Erkenntnis auf Dauer gestellt wird. Das Fenster der Freiheit öffnet sich nur kurz. Hier ist zu differenzieren: Die fiktionale Realität öffnet und schließt ein Fenster, der Text hingegen macht die Tür ganz weit auf. Nur innerhalb der Handlung wird der Spielraum wieder geschlossen, und nur um ihn, durch die dadurch entstehende Provokation, umso nachdrücklicher für die ZuschauerInnen und LeserInnen zu (er)öffnen. Marquis Posas folgende Erkenntnis wird auf furchtbare Weise bestätigt werden: Das Jahrhundert Ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe Ein Bürger derer, welche kommen werden.

21 | Ebd., S. 117. 22 | Ebd., S. 128.

»Geben Sie Gedankenfreiheit!« Kann ein Gemälde Ihre Ruhe trüben? – Ihr Atem löscht es aus. 23

Am Schluss des Stücks zeigt sich Schiller als brillanter Dramatiker, nicht zufällig hat man ihn oft mit Shakespeare verglichen: KÖNIGIN. Nichts hör ich als die fürchterliche Glocke, Die uns zur Trennung lautet. CARLOS. Gute Nacht denn, Mutter. Aus Gent empfangen Sie den ersten Brief Von mir, der das Geheimnis unsers Umgangs Lautmachen soll. Ich gehe, mit Don Philipp Jetzt einen öffentlichen Gang zu tun. Von nun an, will ich, sei nichts Heimliches Mehr unter uns. Sie brauchen nicht das Auge Der Welt zu scheuen. – Dies hier sei mein letzter Betrug. (Er will nach der Maske greifen. Der König steht zwischen ihnen) KÖNIG. Es ist dein letzter! (Die Königin fällt ohnmächtig nieder) CARLOS (eilt auf sie zu und empfängt sie mit den Armen). Ist sie tot? O Himmel und Erde! KÖNIG kalt und still zum Großinquisitor. Kardinal! Ich habe Das Meinige getan. Tun Sie das Ihre. (Er geht ab) 24

Schiller spitzt alles auf diesen Moment hin zu: Carlos hat der Liebe zu Elisabeth entsagt, deshalb nennt er sie hier auch »Mutter«, und er stellt sich ganz in den Dienst der Freiheit, oder vielmehr einer Auffassung von Freiheit, die auf der freien Wahl des Individuums gründet und ein neues Humanitätsideal begründet. Doch die gegenläufige Entwicklung hat sich ebenfalls so weit zugespitzt, wie dies überhaupt nur möglich ist. Der von Posas Betrug enttäuschte König zieht die Konsequenz, dass es in einem falschen System nur richtig sein kann, das Falsche zu tun. Erst lässt er Posa einsperren und töten und überliefert dann seinen eigenen Sohn und Thronfolger der Inquisition. Das Ende ist auf eine metaleptische Weise offen: So wenig Zweifel an dem Ausgang der Handlung besteht, so sehr ist Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Ausgangs angebracht. Zugleich wird aber auch deutlich, dass es selbst in 23 | Ebd., S. 121f. 24 | Ebd., S. 218f.

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der Literatur nicht möglich ist, der Kontingenz der Existenz zu entkommen. Umso merkwürdiger ist es, dass Schiller üblicherweise Idealismus unterstellt wird.25 Schon für Marquis Posa und Don Carlos gibt es, wie später für Woyzeck in Georg Büchners Woyzeck (1837) oder die lyrischen Ichs und die Balladen-Erzähler in Bertolt Brechts Hauspostille (1927), auf die noch einzugehen sein wird, keine starke Normativität mehr, die das Individuum durch bequemen Import von Regeln aus der Verantwortung entlassen würde, seinem Leben selbst einen Sinn zu geben. Zwar sind, wie die Zeitgeschichte lehrt, solche Importe immer noch möglich, doch sind sie nur für jene Individuen und Gruppen verbindlich, die sie absolut setzen, alle anderen Optionen ausblenden und damit konzeptionell hinter die Aufklärung und den Beginn der Moderne zurückgehen. Für ein Publikum, das sich seines eigenen Verstandes bedient, könnte die aus Schillers Drama entstehende Provokation kaum größer sein.

IV. W ESHALB SIND BESONDERS DIE TE X TE K ANONISIERT, DIE V ERBINDLICHKEIT REFLEK TIEREN ? Schillers Werke gehören zum sogenannten Kernkanon,26 insbesondere Dramen wie Don Carlos. Sie werden immer wieder von Theatern neu inszeniert, in Schulen gelesen, an Universitäten behandelt und von WissenschaftlerInnen interpretiert – so wie gerade hier. Die Wahl dieses Dramas für den vorliegenden Aufsatz ist kein Zufall gewesen, sie ist durch einen bereits mehr als 200 Jahre währenden Kanonisierungsprozess abgesichert. Dieser Prozess bedarf aber, und dies geschieht auch, einer permanenten Reflexion, um den Kanon nicht so starr werden zu lassen wie die Regeln, nach denen Philipps totalitäres Spanien funktioniert. Der Kanon und die Prozesse der Bewertung von Literatur sind in den vergangenen Jahrzehnten auf den Prüfstand gestellt worden, zurecht – dies entspricht einer schwachen Normativität, denn was normativ sein will, muss auch hinterfragt werden dürfen. Interessant ist die Beobachtung, dass Verbindlichkeit, verstanden als Ergebnis eines Prozesses, dem Freiheit zugrunde liegt, immer auch in den Texten thematisiert wird, die in besonderem Maße kanonisiert sind. Die Notwendigkeit zu dem Reflexivwerden jeder Normativität wird beispielsweise von Bertolt Brecht in seiner bereits erwähnten Hauspostille

25 | Vgl. etwa Safranski, Rüdiger: Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus, München: Hanser 2004. 26 | Zur Kanonforschung vgl. etwa Neuhaus, Stefan/Schaffers, Uta (Hg.): Was wir lesen sollen. Kanon und literarische Wertung am Beginn des 21. Jahrhunderts (= Film – Medium – Diskurs, Band 74), Würzburg: Königshausen/Neumann 2016.

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(1927) betont, mit dessen Gedicht Gegen Verführung jede auszugsweise Lektüre der Gedichtsammlung beschlossen werden soll und das wie folgt endet: Laßt euch nicht verführen! Zu Fron und Ausgezehr! Was kann euch Angst noch rühren? Ihr sterbt mit allen Tieren und es kommt nichts nachher. 27

Angesichts des Konflikts zwischen einer schwachen Normativität und weniger schwachen institutionellen Voraussetzungen, vor allem in Literaturkritik und Verlagswesen sowie im Bildungsbereich, muss es sich der Kanon auch leisten können, nicht immer gerecht zu sein. Autoren wie der Nobelpreisträger Heinrich Böll, die besonders zur Verbreitung eines (post)modernen Konzepts von Freiheit beigetragen haben, werden heute kaum noch gelesen. Auf der anderen Seite gibt es eine breite Auswahl von AutorInnen und Texten, die auf andere Weise Ähnliches leisten, das können so umstrittene Texte sein wie Christian Krachts Romane 1979 (2001) oder Imperium (2012), ein Roman, dem der Kritiker Georg Diez sogar den Vorwurf machte, rechten Gesinnungen Vorschub zu leisten; ein Vorwurf, der durch die weitere Rezeption als widerlegt gelten kann und einer vereinseitigenden, etwa die Ironie des Texts ignorierenden Lektüre geschuldet ist.28 Bereits der Schluss von 1979 – das Datum der iranischen Revolution – ist ebenso umstritten wie provokativ: »Ich war ein guter Gefangener. Ich habe immer versucht, mich an die Regeln zu halten. Ich habe mich gebessert. Ich habe nie Menschenfleisch gegessen.«29 Die extremste Form der Unfreiheit in einem chinesischen Gefangenenlager wird von einem Bundesbürger, der aus einer Gesellschaft kommt, in der er keinen erkennbaren Zwängen unterliegt, als Befreiung empfunden. Dieser Gegensatz etabliert die bittere Ironie des Texts. Wie aber kann es dazu kommen und welche Signalwirkung geht von einem solchen Romanschluss aus? Die heutigen Wahlmöglichkeiten, die scheinbare Ununterscheidbarkeit, die bohrende Frage, ob nicht etwas anderes besser gewesen wäre, wenn man sich einmal entschieden hat, führen zu einer Orientierungslosigkeit, die in Entscheidungs- und Lustlosigkeit mündet und die offenbar so peinigend sein kann, dass man froh ist, wenn einem die Freiheit der Wahl – jeder Wahl – wie27 | Brecht, Bertolt: »Bertolt Brechts Hauspostille«, in: Ders., Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. 3: Gedichte I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 37-120, hier S. 116. 28 | Vgl. Nover, Immanuel: »Diskurse des Extremen. Autorschaft als Skandal«, in: Christoph Kleinschmidt (Hg.): Christian Kracht (= text + kritik. Zeitschrift für Literatur, Heft 216), München: text + kritik 2017, S. 24-33. 29 | Kracht, Christian: 1979. Ein Roman, 3. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer 2013, S. 183.

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der abgenommen wird, selbst wenn man dadurch so weit versklavt wird, dass man jede Individualität verliert – und vielleicht sogar das Leben. Die Selbstmordattentäter unserer Zeit sind radikalisierte, radikale Überbringer einer solchen Botschaft. Und deshalb ist es gerade die Literatur, die gegen eine solche Selbstversklavung arbeiten kann. Sofern man Literatur daraufhin lesen möchte – eine weitere Wahlentscheidung, die alle LeserInnen selbst treffen müssen. Sie sollten, wie in einem letzten Punkt auszuführen sein wird, allerdings auch in den Stand gesetzt werden, dies tun zu können.

V. P ROBLEME UND S CHLUSSFOLGERUNGEN In unserer Gesellschaft ist nicht nur schwache Normativität als Verbindlichkeit stark, sondern zugleich auch die Verbindlichkeit von Verbindlichkeit frag-würdig geworden. Auf Freiheit gründende Wahlentscheidungen können nur stattfinden, wenn ausreichend Informationen für eine Wahl gegeben sind, die eine Basis dafür bieten, dass das Individuum seine Wahl später nicht bereut – jedenfalls so weit man dies in dem Moment prognostizieren kann. Doch ist es heute nicht nur ein Problem, dass Pluralität oftmals mit Beliebigkeit verwechselt wird,30 was eine so verstandene Freiheit verhindert. Auch werden die Konsequenzen der Freiheit, der Möglichkeit, sich für oder gegen etwas entscheiden zu können, als Anstrengung wahrgenommen – ist es doch viel einfacher, sich nicht zu entscheiden und sich die Wahl von anderen oder einfach von der Zeit abnehmen zu lassen, denn irgendwann hat sie sich ja von selbst erledigt. Die entscheidende Frage ist immer die nach der Motivation. Wie können Menschen motiviert werden, Texte zu lesen, die fundamentale Fragen der Freiheit und der Humanität verhandeln, um so gegen Verstöße gegen die Freiheit und gegen die Würde des Individuums zu imprägnieren? Schließlich hält Artikel 1 des Grundgesetzes unmissverständlich fest: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.«31 Ist es dann nicht auch Aufgabe von Bildungsinstitutionen, die Teil des Systems der ›staatlichen Gewalt‹ sind, dazu beizutragen, dass die Menschenwürde geachtet und geschützt wird? Und wären nicht Texte wie Schillers Don Carlos, weil sie den Umgang mit Menschenwürde modellhaft gestalten und zugleich, wenn man sie konzeptionell betrachtet, die eigene modellhafte

30 | Vgl. Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, 6. Aufl., Berlin: Akademie-Verlag 2002, S. 6. 31 | Vgl. Grundgesetz. I. Die Grundrechte. Online: https://www.bundestag.de/parlament/aufgaben/rechtsgrundlagen/grundgesetz/gg_01/245122 vom 30.09.2018).

»Geben Sie Gedankenfreiheit!«

Gestaltung vorführen und mit reflektieren, besonders geeignet, zur Geltung von Artikel 1 des Grundgesetzes beizutragen? SchülerInnen und Studierende, die Texte wie Don Carlos lesen, sehen oft nur die Distanz zwischen den Figuren und der Handlung auf der einen Seite und den eigenen Erfahrungen und Bedürfnissen auf der anderen Seite. Die Freiheiten, die den Figuren Don Carlos und Marquis Posa fehlen, können heute in unserer Gesellschaft als gegeben vorausgesetzt werden. Niemand muss mehr Gedankenfreiheit fordern oder Angst um sein Leben haben, wenn er die Frau eines anderen begehrt oder gegen vorherrschende politische Auffassungen Stimmung macht. Letzteres gehört sogar zur vornehmsten Aufgabe des politischen Diskurses – nur durch unterschiedliche Positionen können Wahlmöglichkeiten entstehen. Dennoch sollte beispielhaft deutlich geworden sein, dass Literatur die Fähigkeit hat, die Voraussetzungen von Verbindlichkeit – verstanden als schwache Normativität – zu reflektieren und ihr dadurch überhaupt erst den Boden unter den Füßen zu geben, den sie in einer pluralen, demokratischen Gesellschaft benötigt. Dabei kann es nicht darum gehen, andere Möglichkeiten von Information und Mitteilung – von der Kunst bis zu den Neuen Medien – als (schlechte) Konkurrenz zu sehen. Verbindlichkeit bedeutet auch, dass echte Wahlmöglichkeiten nicht durch Gut-Böse-Dichotomien wieder unterlaufen werden.32 Ohnehin ist es nicht immer eine Wahl im Sinne eines Entweder-Oder. Im Falle der Mediennutzung ginge es um ein optimiertes Sowohl-als-Auch. Was bleibt, ist ein Plädoyer für die Verbindlichkeit von Literatur in einer auf Freiheit beruhenden Gesellschaft.

32 | Zum Konstruktionscharakter einer solchen Dichotomie und zur produktiven Leistung, diese Konstruktionsarbeit sichtbar zu machen, vgl. Alt, Peter-André: Ästhetik des Bösen, München: C.H. Beck 2010.

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Kritik als Fuge – Beobachtungen zur Paradoxie einer Verbindlichkeit der Kritik am Beispiel der Kulturkritik und im Anschluss an Edmund Husserl Thomas M. Schimmer

I. V ERBINDLICHKEIT DER K RITIK – A NNÄHERUNG AN EINE PAR ADOXIE In der modernen westlich geprägten Kultur ist Kritik allgegenwärtig und selbstverständlich, sie kann daher als ein Moment ausgemacht werden, das diese Kultur prägt und ihr Gestalt verleiht. Denn Kritik wird nicht nur von allen Seiten an allem und jedem geübt, sondern aus dem Selbstverständnis der Kultur her explizit als »Ideal« vertreten, weshalb sie als »Tugend«1 gilt. Entsprechend wird von jedem der Umgang mit Kritik sowohl für das Kritisiertwerden als auch für das richtige Kritisieren gefordert. Kritik, so könnte man auch sagen, ist daher in dieser Kultur eine Verbindlichkeit. Dabei sind jedoch unterschiedliche Dimensionen dieser Verbindlichkeit zu unterscheiden, denn neben der expliziten Orientierung an einem Ideal und einer Tugend der Kritik zeigt sich (mindestens) noch eine weitere Form, die sich weniger an einem konzeptualisierten Kritikbegriff orientiert, sondern sich gleichsam wild artikuliert. Kritik im ersteren Sinne als Ideal und Tugend lässt sich historisch durch die kulturprogrammatischen Entwürfe der Aufklärung verstehen, die sich bekanntlich in Kants Idee eines »Zeitalters der Kritik« verdichten, »der sich alles unterwerfen muß«2. Diesem hoffnungsvollen Gedanken einer kritizistischen Kultur liegt ein stark eingegrenzter Kritikbegriff zugrunde, der hochgradig reflektiert ist und Kritik mit der Vernunftausübung selbst identifiziert.3 Die 1 | Vgl. Konersmann, Ralf: Kulturkritik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 7. 2 | Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 13. 3 | Vgl. von Bormann, Claus: Kritik (= Historisches Wörterbuch der Philosophie  4), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, Sp. 1255-1262.

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Verbindlichkeit der Kritik in Form eines Ideals und einer Tugend rekurriert so auf theoretische Reflexion und ein kulturphilosophisches Programm4, durch das sie über Tradierungen normative Geltung erhält und so zu einer Selbstverständlichkeit der kulturellen Wirklichkeit wird. Aber schon ein nur flüchtiger Blick auf die kulturelle Wirklichkeit der Gegenwart lässt Zweifel aufkommen, dass diese tatsächlich nur (oder auch nur maßgeblich) von derjenigen Form der Kritik geprägt ist, die Kant im Sinn hatte, womit eine zweite Form identifiziert werden kann. Denn in der nicht theoretisch eingestellten kulturellen Praxis wird alltäglich kritisiert, ohne den Akt des Kritisierens selbst zu thematisieren, wodurch sich ein breites Panorama an Kritikformen der kulturellen Praxis eröffnet, das in diesem Rahmen nur äußerst grob skizziert werden kann.5 Denn diese Formen der Kritik unterhalten zwar durchaus enklitische Verhältnisse zu reflexiven Konzepten von Kritik, müssen dies aber nicht. Charakteristisch für dieses Kritisieren scheint jedoch der Anlass eines Mangels zu sein, der unterschiedlich intendiert (»konstruktiv«, »deskriptiv«, »destruktiv«) thematisiert wird. Im Gegensatz zur ersten Form reicht auch die einfache Thematisierung im alltäglichen Kritisieren durchaus aus. Auch lässt sich in diesen Formen Kritik als Haltung einer Person antreffen, die der Tendenz in einen weltanschaulichen Skeptizismus oder Pessimismus folgen und so z.B. den Nörgler hervorbringen kann. Dieses Kritisieren durchzieht die gesamte alltägliche kulturelle Praxis und kann sich alles zum Gegenstand nehmen, seien es Handlungen von Personen, Lebensformen, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen, Institutionen, praktische und ästhetische Gegenstände, um nur einige übergreifende Kategorien anzusprechen. Besonders auffällig wird das Kritisieren, wenn es sich um emotional gefärbte Formen handelt, die von Vorurteilen oder Ressentiments geleitet sind, was mit dem in den letzten Jahren beobachteten Phänomen des Wutbürgers illustriert werden kann.6 Charakteristisch ist dabei, dass es 4 | Vgl. hierzu auch Konersmann, Ralf: »Das kulturkritische Paradox«, in: Ders. (Hg.), Kulturkritik. Reflexionen in der veränderten Welt, Leipzig: Reclam 2001, S. 21f. 5 | Einen Vorschlag für eine eingehendere Kategorisierung unterbreitet Johannes Ullmaier, worauf sich auch die folgende Skizzierung bezieht (vgl. Ullmaier, Johannes: »Kategorien der Kritik. Detaillierte Inhaltsübersicht zu einer ungeschriebenen Studie«, in: Roger Behrens/Jonas Engelmann/Frank Schneider et al. (Hg.), Testcard 25, Mainz: Ventil Verlag 2017, S. 70-88). 6 | Vgl. hierzu auch Konersmann, Ralf: »Die Widerspenstigkeit der Wutbürger«, in: Hamburger Abendblatt vom 31.03.2011. Gerade diese Formen des Kritisierens bemühen offiziell das Ideal und die Tugend der Kritik, also deren Verbindlichkeit, um ihre Artikulation zu legitimieren. Zugleich zeigen sich dabei verschwimmende Übergänge zwischen Formen des Kritisierens, die prinzipiell von der Verbindlichkeit der Kritik her zu denken sind, mit Formen des reinen Anklagens und Protests.

Kritik als Fuge

schwer bis unmöglich ist, dieses Kritisieren argumentativ nachzuvollziehen, was jedoch durch das Kritisieren als Selbstzweck des Trolls in Internetforen übertroffen wird. Charakteristisch für diese Formen der Kritik ist also, dass sie vor allem in präreflexiven praktischen Situationen und Kontexten artikuliert werden und keine in strengem Sinne kritische Auseinandersetzung suchen. Wenn sich auch die beiden Formen der Verbindlichkeit sichtbar unterscheiden, in dem die erste aus Reflexion heraus als Ideal und Tugend in die kulturelle Wirklichkeit und Praxis bewusst eingeleitet wird, die zweite Form hingegen zunächst durch die Praktik des Kritisierens begründet ist, implizieren sie doch auf unterschiedliche Weise eine universelle Verbindlichkeit der Kritik, die nicht nur wegen ihrer ambivalenten Formen paradox wirkt7, sondern sich auch aus einem anderen Grund als Paradoxie zeigt. Denn Verbindlichkeit kommt eine – zumeist diffuse – normative Dimension zu, als Selbstverständlichkeit der kulturellen Wirklichkeit ermöglicht sie Orientierung und macht so auf präreflexiver und reflexiver Ebene Denken und Handeln möglich. Man könnte daher auch sagen, dass sich kulturelle Praktiken in jeder Gestalt auf Verbindlichkeiten errichten, sei es die der ersten oder zweiten Form, wobei die zweite Form aus kulturphilosophischer Perspektive als basal zu denken wäre. In jedem Fall aber steht der Begriff der Kritik dem der Verbindlichkeit gegenüber. Denn Kritik untergräbt solche normativen Dimensionen ihrem etymologischen Ursprung und ihrer historischen Semantik8 nach geradezu, indem es sich – wie gezeigt – um ein bestenfalls differenzierendes und argumentativ urteilendes, im anderen Extrem um ein destruktives und aburteilendes 7 | Die Ambivalenz der Kritikformen könnte vor dem Hintergrund wiederholter, wenngleich begrifflich spezialisierter, Prognosen eines »Endes der Kritik« oder zumindest einer Skepsis gegenüber der Kritik als Ausgangspunkt dieser Diagnosen und deren Argumentation verstanden werden (vgl. exemplarisch Schödlbauer, Ulrich/Vahland, Joachim: Das Ende der Kritik, Berlin: Akademie Verlag 1997, sowie aktueller den Kommentar zu Richard Rorty in Jaeggi, Rahel/Wesche, Tilo: »Einführung. Was ist Kritik?«, in: Dies. (Hg.): Was ist Kritik?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2016, S. 7-20, hier: S. 7). Die Idee des Endes der Kritik läge daher durch ihre uneindeutige Struktur latent bereit, was auch die Tendenz des Kritisierens hin zu wenig bis gar nicht argumentierenden Protestformen zu bestätigen scheint (s.o.). 8 | Vgl. C. v. Bormann: Kritik; R. Konersmann: »Das kulturkritische Paradox«; Becker, Hjördis: »Kulturkritik«, in: Ralf Konersmann (Hg.): Handbuch Kulturphilosophie, Stuttgart: J.B. Metzler 2012, S. 46-53. Im Kontext der Frage nach der Verbindlichkeit der Kritik unter Fokussierung auf die Kulturkritik ist auch auf die enge Beziehung des Kritikbegriffs zu dem der Krise hinzuweisen, der ebenfalls im griechischen κρίνειν seinen etymologischen Ausgangspunkt findet (vgl. Koselleck, Reinhart: »Krise«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, Sp. 1235-1240).

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Denken handelt; Kritik stellt in Frage, unterscheidet, seziert Zusammenhänge und führt in der Regel in ein Urteil. Kritik als Verbindlichkeit würde daher bedeuten, dass in der Kultur eine normative Dimension der Infragestellung und somit tendenziellen Auflösung normativer Geltungen wirksam ist. Daher wäre die Schlussfolgerung theoretisch konsequent, dass es in der modernen Kultur, in der eine Verbindlichkeit der Kritik am Werk ist, keine (anderen) Verbindlichkeiten geben kann. Und tatsächlich findet diese Diagnose einer Kultur der Unverbindlichkeit und Ironie immer wieder Ausdruck in einer speziellen Form der Kritik, die aus mehrerlei Hinsicht für die Frage nach der Verbindlichkeit der Kritik von Relevanz ist: die Kulturkritik. Denn zum einen erweist sich die Kulturkritik als Ausgangspunkt kulturphilosophischer Unternehmen als bewährt und gewinnbringend, zum anderen deuten aktuelle kulturphilosophische Beobachtungen darauf hin, dass sich die Paradoxie einer Verbindlichkeit der Kritik in konzentrierter Form darin wiederfindet, da sie selbst in mehrerlei Hinsicht paradox ist. Eine erste und wichtige Achse dieser Paradoxie beschreibt Ralf Konersmann, dessen systematische Beobachtungen sich als Ausgangspunkt anbieten, um ein tiefergehendes Verständnis der Paradoxie der Verbindlichkeit der Kritik zu gewinnen und weitere Aspekte darauf aufzubauen.9

II. PAR ADOXIEN DER K ULTURKRITIK Neben den Einblicken in die paradoxe Struktur der Kulturkritik erweist sich Konersmanns kulturphilosophische Perspektivierung der Kulturkritik auch vor dem Hintergrund der oben eröffneten Paradoxie der Verbindlichkeit der Kritik in Bezug auf andere Verbindlichkeiten als besonders anschlussfähig. Denn wenn Konersmann der modernen Kultur attestiert, dass sie keineswegs von »hohe[n] Idealen« und »ewigen Werten«10 getragen wird, sondern dass das maßgeblich konstitutive Moment die Kulturkritik als Mutation des Kritikentwurfs der Aufklärung ist, entspricht dies dem Schluss, dass neben der Verbindlichkeit der Kritik keine andere mehr gelten kann. Um diese These einordnen und wiederum kritisch betrachten zu können, ist jedoch ein eingehenderer Blick auf die Struktur der Kulturkritik zu werfen. Denn mit der Kulturkritik gerät eine Variante der Kritik in den Blick, die in besonders eindrücklicher Weise eine paradoxe Struktur aufweist. Dies hängt

9 | Der experimentelle Charakter, den diese Überlegungen im Anschluss und in Fortführung an meine Dissertation haben, lässt sich angesichts der Herausforderung, eine kulturelle Verbindlichkeit zu erschließen, die sich in Gestalt einer Paradoxie gibt, nicht vermeiden. Insofern stellen die folgenden Beobachtungen und Überlegungen auch lediglich eine erste erprobende und klärende Annäherung dar. 10 | R. Konersmann: Kulturkritik, S. 13.

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mit ihrem Standort und Ausgangspunkt zusammen, die mit ihrem Gegenstand identisch sind.11 Denn sie argumentiert aus der Kultur heraus gegen die Kultur, wofür Adorno mit der »Komplizität der Kulturkritik mit der Kultur«12 eine treffende Charakterisierung findet. Dabei verfährt die Kulturkritik keineswegs eindeutig und systematisch mit ihrem Gegenstand, denn auch hier kommt es auf die Position und Perspektive des Kritikers, seine Intention, die Verbindlichkeiten und kulturelle Praxis der Kultur, die kritisiert wird etc. an. Und so finden sich unter dem Begriff der Kulturkritik auch die unterschiedlichsten und vielstimmigen »Verlustgeschichten und Pathologiebefunde«, die die Kulturkritik weder als Methode noch als »Residualdisziplin« ausweisen, sondern als ein »disziplinloses ›wildes‹« und »osmotisches«13 Denken. Gleichwohl lassen sich unterschiedliche Formen der Kulturkritik in systematischer Hinsicht differenzieren, wofür Konersmann die Kategorien restitutiver und postrestitutiver Kulturkritik einführt. Während erstere aufgrund der »Zumutungen der Moderne«14 eine kulturelle Wirklichkeit und Praxis aus der Vergangenheit oder eines utopischen Entwurfs (wieder)herstellen will, handelt es sich bei der postrestitutiven Kulturkritik um einen Selbstzweck. Postrestitutive Kulturkritik ist demnach ein ständiges Kommentieren der kulturellen Wirklichkeit und Praxis, ohne dass eine Idee, ein Wert oder eine Utopie Referenz dieser Kritik sind. Diese speziell moderne Form der Kulturkritik, die sich von »Mastersubjekten wie Wahrheit«15 etc. verabschiedet hat, verstreut sich in alle Bereiche des kulturellen Lebens und folgt somit der Tendenz dieses osmotischen Denkens, indem sie als »intermediäre, interdiskursive, intertextuelle Diskursschicht […] Medien und Texte [befällt], von denen sie sich in alle Welt tragen lässt.«16 Die Stärke dieser Beobachtungen der modernen Gegenwartskultur liegt, neben den durchaus zutreffend und unaufgeregt konstatierten Tendenzen zu Ironie und ideologischer Unentschiedenheit (was Kritik von anderer Seite hervorruft17 ), in der kulturphilosophischen Hervorhebung der Kulturkritik

11 | Diese erste Paradoxie thematisiert auch R. Konersmann: »Das kulturkritische Paradox«, S. 37. 12 | Adorno, Theodor W.: »Kulturkritik und Gesellschaft«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2016, S. 11-30, hier: S. 15. 13 | Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J.J. Rousseau bis G. Anders, München: C.H. Beck 2007, S. 7ff. 14 | Ebd., S. 11. 15 | R. Konersmann: Kulturkritik, S. 7, 14. 16 | Ebd., S. 134. 17 | Vgl. z.B. Schmitz, Hermann: »Von der Verhüllung zur Verstrickung. Der Mensch zwischen Situationen und Konstellationen«, in: Michael Großheim/Steffen Kluck (Hg.):

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als »Vervielfältigungs- und Verfeinerungsorgan«18 und »endogene[n] Qualitätskontrolle«19. Denn gerade die postrestitutive Kulturkritik wirkt nicht nur zersetzend, sondern zugleich stimulierend, indem sie immer auch »Kritik an der Kultur im Namen der Kultur«20 ist, sie reproduziert durch ihren Mangel an Zielen und Referenzen das, was sich zumindest tendenziell in der pluralistischen Kultur der Gegenwart tatsächlich abzeichnet, nämlich ein Nebeneinander unterschiedlicher Haltungen, Positionen, Traditionen, Praktiken. Insofern scheint es sich tatsächlich um eine Form der Selbstverständigung, um eine »Reflexion in der veränderten Welt«21 zu handeln, die kulturphilosophisch auch für die Frage der Paradoxie der Verbindlichkeit der Kritik von Interesse ist. Denn als Kritik an der Kultur aus der Kultur heraus führt die Kulturkritik implizit oder explizit deskriptive Momente mit sich und hebt so auch Selbstverständlichkeiten hervor, indem sie sie thematisiert und sie visibilisiert, also auch das, was als Verbindlichkeiten kultureller Praktiken und Selbst- und Weltanschauungen der kulturellen Praxis zugrunde liegt. Dies ist jedoch erst durch die paradoxe Struktur möglich, durch die Kultur in ihrer Kritik für sich selbst Thema werden kann. Eine zweite Paradoxie, die sich in der postrestitutiven Kulturkritik finden lässt, besteht darin, dass es sich um eine »Intervention ohne konkreten Auftrag«22 handelt, was sie zwangsläufig in Ironie übergehen lässt, indem sie jeden Standpunkt der Gewissheit23 aufgegeben hat. Sie erweist sich daher als die letzte feste Verbindlichkeit der modernen Kultur, die jedoch nicht über Ideale und Werte hergestellt wird, sondern in der kulturellen Praktik ironischer Selbstkritik in all ihren Konkretisierungen verbleibt. In dieser Beobachtung finden sich Anschlusspunkte an die Frage nach der Verbindlichkeit der Kritik, da diese gerade mit der postrestitutiven Kulturkritik beschrieben zu sein scheint. Indem sie sich von sämtlichen Gewissheiten und Utopien verabschiedet, scheint sie auch alle Verbindlichkeiten der kulturellen Wirklichkeit aufzuheben, da sie sie entweder auf der Stufe ihrer Artikulation nicht strapaziert, oder aber auf der Stufe ihrer Wirkung ironisch bricht. Damit wäre die These bestätigt, dass eine Verbindlichkeit der Kritik (hier: Kulturkritik) absolut wirkt, da sie keine anderen Verbindlichkeiten neben sich dulden kann ohne sie zu zersetzen oder nach ihren Kriterien umzugestalten (ironische Brechung). Phänomenologie und Kulturkritik. Über die Grenzen der Quantifizierung, Freiburg i.Br./ München: Alber 2019, S. 37-51. 18 | R. Konersmann: Kulturkritik, S. 25. 19 | Ebd., S. 16. 20 | Ebd., S. 103. 21 | R. Konersmann: »Das kulturkritische Paradox«, S. 10. 22 | R. Konersmann: Kulturkritik, S. 134. 23 | Vgl. ebd.

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Optimistisch gesehen würde dies von einem generell hohen Reflexionsniveau der Selbstverständigung und Selbstvergewisserung der modernen Kultur zeugen, was ihr nachvollziehbarer Weise einen »zutiefst demokratischen«24 Charakter verleihen und so das Auftreten restitutiver Kulturkritik als ausgeschlossen erscheinen lassen würde. Wenngleich Tendenzen zu einer solch relativistischen Kulturauffassung nachvollzogen werden können, erleben wir gleichzeitig in der kulturellen Praxis und Wirklichkeit täglich gleichzeitig auch das Gegenteil. Denn trotz der omnipräsenten (Kultur-)Kritik in der Kultur bleiben Verbindlichkeiten im Sinne normativer Bindungen in Geltung und ermöglichen Orientierung, weil wir sonst weder verstehen noch handeln könnten, wie wir es täglich erleben. Es ist also keineswegs so, dass nur noch die Verbindlichkeit der Kritik die Kultur prägt, aber auch nicht so, dass sie dies nicht tut. Hinzu tritt in den letzten Jahren ein merkliches revival kulturkritischer Aperçus restitutiver Art, die durchaus auch als Reaktion auf die Anforderungen und Anstrengungen einer Kultur des inneren »Konflikts«25 begriffen werden können. Diese beiden Einwände lassen – unabhängig von ihrer Bedeutung für Konersmanns Kernthese – vor dem Hintergrund der deskriptiven Aspekte seines Kulturkritikkonzeptes einen nächsten Schritt auf die Paradoxie der Verbindlichkeit der Kritik zu. Vielleicht liegt in der Verbindlichkeit der Kritik, wie sie sich strukturell hinter einer postrestitutiven Kulturkritik abzeichnet, eine andere und weniger polarisierende Bedeutung als konstitutives Moment der modernen Kultur. Denn nun ist denkbar, dass andere Verbindlichkeiten trotz einer Verbindlichkeit der Kritik keineswegs verschwinden. Diese Beobachtung lässt die Vermutung zu, dass Kritik als kulturelle Praktik gedacht nicht nur differenzierend, sondern möglicherweise gleichzeitig auch verbindend wirkt, also praktisch »immer gleichzeitig Dissoziation wie Assoziation [bedeutet]«26. Insofern käme der Verbindlichkeit der Kritik als paradox-normative Dimension eine kulturkonstitutive Bedeutung als verbindendes Moment unterschiedlicher Normansprüche und Geltungen zu. Damit wird ein kulturphilosophisch-deskriptiver Aspekt des Kulturkritikkonzepts von Konersmann aufgegriffen, insofern die Verbindlichkeit der Kritik ein »Arrangement mit der kritikinduzierten Erfahrung von Anomalität«27 anzeigt. Die Verbindlichkeit von Kritik, insbesondere in Form der Kulturkritik, kann so gleichsam als Fuge zwischen unterschiedlichen, ähnlichen oder konkurrierenden Verbindlichkeiten gedacht werden. Ihr konstitutives Moment für die Kultur im Ganzen würde darin liegen, diese nicht zugunsten nur einer Verbindlichkeit aufzulösen, sondern sie 24 | Ebd., S. 8. 25 | R. Konersmann: Kulturkritik, S. 25. 26 | R. Jaeggi/T. Wesche: »Was ist Kritik?«, S. 8. 27 | R. Konersmann: Kulturkritik, S. 20.

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als Selbstverständigung zu konturieren und sie so in Spannung zu setzen, indem sie beide gelten lässt. Insofern lohnt sich ein reduzierender Versuch, nach der strukturellen Voraussetzung der zugegebenermaßen extremen Form der Kulturkritik zu fragen, was eine klarere Erkenntnis der Verbindlichkeit der Kritik und ihrer Paradoxie verspricht. Schließlich könnte es ja in der Tat auch so sein, dass die Spielarten der Kulturkritik mit ihren vielfältigen Rückkoppelungen in der Moderne auf dem Umstand beruhen, dass Kritik – zumindest tendenziell – ein »konstitutiver Bestandteil menschlicher Praxis«28 ist. Um dies aus einer kulturphilosophischen Perspektive heraus weiterzuverfolgen, bietet sich ein vergleichsweise kurzer Blick auf Beobachtungen eines in diesem Zusammenhang vielleicht überraschenden Denkers an: Edmund Husserl.

III. Z WISCHEN V ERBINDLICHKEITEN – D IE V ERBINDLICHKEIT DER K RITIK IN DER L EBENSWELT Weniger überraschend erweist sich der Rekurs auf Husserl für die Frage nach der Verbindlichkeit der Kritik und ihrer Paradoxie jedoch über die deskriptiven Momente der Kulturkritik. So lässt sich Husserls Phänomenologie als kulturkritisch motiviertes Therapieprogramm eines missverständlichen Wissenschaftsverständnisses unter der Ideologie des Positivismus und Objektivismus verstehen, was im Laufe seines Denkens an Intensität zunimmt.29 Diese macht nicht nur die Erkenntnis und die Logik problematisch, sondern bestimmt auch das kulturell vorherrschende Selbst- und Weltverständnis. Aus dem konstruktiven Weltbegriff 30 der neuzeitlich-modernen Naturwissenschaften entsteht so ein über Philosophie und Geisteswissenschaften sich ausbreitender »weltanschau-

28 | R. Jaeggi/T. Wesche: »Was ist Kritik?«, S. 7. Zu dieser These ist anzumerken, dass die hier ausgebreiteten Überlegungen keiner anthropologischen, sondern einer kulturphilosophischen Interpretation folgen. 29 | So argumentiert Husserl in seinem frühen Denken in den »Logischen Untersuchungen« (1900/01) gegen den Psychologismus, noch expliziter tritt die kulturkritische Intention jedoch u.a. in seinem Beitrag zur Zeitschrift »Logos« mit dem Titel »Philosophie als strenge Wissenschaft« aus dem Jahr 1911 (Husserl, Edmund: Aufsätze und Vorträge (1911-1921) (= Husserliana, Band 25), Dordrecht/Boston/Lancaster: Martinus Nijhoff 1987, S. 3-62), in den »Fünf Aufsätze[n] über Erneuerung« der 1920er Jahre (Husserl, Edmund: Aufsätze und Vorträge (1922-1937) (= Husserliana, Band 27), Dordrecht/ Boston/Lancaster: Kluwer Academic Publishers 1989, S. 3-94) und nicht zuletzt in der »Krisis-Schrift« aus den 1930er Jahren (Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die Phänomenologische Philosophie (= Husserliana, Band 6), Haag: Martinus Nijhoff 1962) auf. 30 | Vgl. E. Husserl: Krisis, S. 177.

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licher Positivismus«31, der als ideologische Verlängerung reiner »Tatsachenwissenschaften« reine »Tatsachenmenschen«32 hervorbringt und in ein reduktionistisches, fundamentales Selbst- und Weltmissverständnis des Menschen führt, was die moderne Kultur in eine existenzielle Krise stürzt. Aufschluss über die bisherigen Beobachtungen der Paradoxie der Verbindlichkeit der Kritik geben jedoch nicht Husserls explizit kulturkritische Untersuchungen, sondern die deskriptiven Momente seiner Kulturkritik, die sich in den Analysen der Lebenswelt zentrieren.33 Hierbei spielen vor allem solche Beschreibungen der Lebenswelt eine Rolle, die grob formuliert die kulturelle und soziale Praxis34 zum Gegenstand haben, da sich darin die Vermutung einer Funktion der Kritik als Fuge und damit deren konstitutive Bedeutung als Verbindlichkeit für die westliche Kultur der Moderne konkretisieren und besser verstehen lässt.35 Als Teil einer »Lebensgemeinschaft«36 erfährt das Individuum alltäglich seine kulturelle Wirklichkeit, die sich aus der Praxis und den geltenden expliziten Normen und impliziten Verbindlichkeiten konstituiert, als selbstverständlich. Die Lebenswelt im Ganzen ist immer schon so ausgelegt, also mit Sinn behaftet, dass sie dem Individuum als normal gilt, oder mit Husserls Begriff: als einstimmig. Dies gilt nicht nur für das Individuum als je sich gegebenes Ich, sondern auch für die Lebensgemeinschaft, die intersubjektiv eine »Einstimmigkeit«37 herstellt. Dabei ist auf die Konstitution dieser gemeinschaftlichen Normalität zu achten, denn hier zeigen sich erste Momente der Kritik, indem in ihnen die 31 | Ebd., S. 5. 32 | Ebd., S. 4. 33 | Die Lebensweltanalysen bilden letztlich den Versuch einer Rehabilitierung der vorwissenschaftlich erfahrenen Welt der Subjektivität, die durch den konstruktiven Weltbegriff der neuzeitlich-modernen Naturwissenschaften als lediglich subjektiv-relativ (vgl. E. Husserl, Krisis, S. 128) relativiert und schließlich auf ein Durchgangs- oder Epiphänomen einer an sich seienden Welt reduziert wurde, welche ausschließlich durch die mathematische Physik erkannt werden kann. 34 | Husserl geht jedoch nicht soziologisch vor, sein Interesse liegt in der Freilegung der Konstitution der Lebenswelt und insofern muss der Begriff der sozialen Praxis als Aspekt einer umfangreicheren kulturellen Praxis verstanden werden. 35 | Dass es sich hierbei zwangsläufig um eine Auswahl handeln muss, ergibt sich aus dem enormen Umfang der Lebensweltanalysen Husserls, die hier nur punktuell und pointiert hinzugezogen werden können. Hierbei wird auf die Manuskripte Nr. 16 (Beilage 10, Beilage 11), Nr. 17, Nr. 20 und Nr. 35 der in Band 39 der Husserliana gemeinsam publizierten Nachlasstexte rekurriert. 36 | Husserl, Edmund: Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution. Texte aus dem Nachlass (1916-1937) (= Husserliana, Band 39), Dordrecht: Springer 2008, S. 331. 37 | Ebd., S. 340.

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einzelnen Normalstimmigkeiten der Individuen (gleichwohl diese mit der gemeinschaftlichen von Beginn an verwoben sind) zusammenkommen, weshalb eine überindividuelle Einstimmigkeit nicht nur durch Streit und Einigung38 entsteht, sondern darüber hinaus stets neu ausgehandelt werden muss.39 Mit dieser Einigung ist all das vereint, was man unter Verbindlichkeit, normativen Bindungen40 und den sich daraus ableitenden Orientierungen und praktischen Vollzügen verstehen kann und die die Selbstverständlichkeit und Orientiertheit41 einer »Heimwelt«42 garantiert. Dass diese jedoch kontinuierlich ausgehandelt werden müssen, zeigt, dass sich zwischen den Individuen Formen der Kritik immer schon ereignen. Es geht dabei sicher nicht um die Aushandlung der raumzeitlichen Struktur der Welt, sondern es ist vor allem an Verbindlichkeiten der kulturellen Praxis zu denken. Formen der Kritik durchziehen so die gemeinsame Einstimmigkeit, indem sie die Differenz zwischen den Individuen und zwischen Individuum und Gemeinschaft markieren. Zugleich verleihen diese Formen der Kritik der gemeinsamen Einstimmigkeit und damit den normativen Dimensionen der sozialen Praxis eine kohärente, wenngleich dynamische Form. Dynamisch ist sie, da sich diese Einstimmigkeit tradiert, durch die Formen der Kritik zugleich aber auch offen für Erneuerungen, Veränderungen oder Brüche ist. Die Formen der Kritik beeinflussen daher sowohl auf synchroner als auch diachroner Achse die Gestalt dieser Einstimmigkeit. Diese ersten Beobachtungen betreffen kleine soziale Gefüge wie die engere Familie als »Heimstelle«43, die sich innerhalb einer umfassenderen Gemeinschaft einfügen. Ist die Einstimmigkeit der Familie das Fundament ihrer kulturellen Umwelt, also was als verbindlich erachtet und praktisch gelebt wird, zeichnet sich innerhalb der umfassenden Gemeinschaft eine »Stufenfolge der Umwelten«44 ab, da in ihr unterschiedliche Heimwelten aufeinandertreffen. In diesem Aufeinandertreffen werden die Heimwelten und die damit einhergehenden Umwelten anderer Individuen und Gemeinschaften als fremd erfahren, wenngleich hermeneutisch als »Umbildung der Heimwelt«45 verstanden. Kritik tritt hier subtil als kulturelle Praktik des Unterscheidens zwischen der eigenen und fremden Heimwelt, die jedoch beide als jeweils vertraute oder eben fremde verstanden werden. Dies betrifft die möglichen Unterschiede und Konflikte mit den synchron wie diachron geltenden Verbindlichkeiten der jeweiligen Heim38 | Vgl. ebd. 39 | Vgl. ebd. 40 | Vgl. zu diesem Begriff E. Husserl: Aufsätze über Erneuerung, S. 61. 41 | Vgl. hierzu E. Husserl: Lebenswelt, S. 154. 42 | Ebd., S. 155. 43 | Ebd., S. 152. 44 | Ebd., S. 154. 45 | Ebd., S. 168.

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welt, also sowohl deren aktuelle Geltung als auch der Tradierung durch die Generationenfolge. Das alltägliche Zusammenleben besteht jedoch nicht aus einem kontingenten »Haufen von Realitäten«46, sondern als »Koexistenz von Heimwelten«47, indem die einzelnen Heim- und Umwelten in einer höheren Form der Einstimmigkeit einer gemeinsamen »Lebensordnung«48 aufgehen. Dies stellt sich nun als besonders interessant heraus, weil hiermit die paradoxe Wirkung der die unterschiedlichen Heimwelten trennenden Differenz und deren Aufleuchten in Formen der Kritik in den Vordergrund rückt. Würden die Formen der Kritik, die die Unterschiede bemerkt und dekliniert, im strengen Sinne unterscheidend und urteilend sein, ist es nur schwer denkbar, wie eine höhere Normalstimmigkeit die unterschiedlichen Umwelten integrieren könnte. Die Formen der Kritik haben jedoch gerade die Wirkung, nicht nur Differenzen zu thematisieren, sondern gleichzeitig unterschiedliche Umwelten zu verbinden bzw. aneinanderzufügen, wodurch sie eine Mittlerfunktion innerhalb jeder ausgehandelten Normalstimmigkeit einnehmen. Dies gilt aber nicht nur für primäre Heimwelten in Kontakt mit Fremdwelten, sondern auch für Situationen49, in denen sich das Individuum innerhalb eines »Kulturkreises«50 stets befindet, indem es seinen Interessen, Berufen und Neigungen nachgeht. Auch hier lassen sich mit Husserl Konfrontationen beschreiben, die durch differenzierende, aber auch urteilende Kritik voneinander getrennt und zugleich verbunden werden. Man denke etwa an Animositäten zwischen Berufsständen oder sozialen Milieus. Zwar werden darin die trennenden Aspekte deutlicher, gleichzeitig werden sie doch zusammengehalten von einer höheren Normalstimmigkeit, in die beide sich einschreiben.51 Mit diesem begrenzten Ausschnitt aus Husserls Lebensweltanalysen lassen sich die Beobachtungen einer Paradoxie der Verbindlichkeit der Kritik in der modernen Kultur in einen Ausblick überführen, indem sie im Zusammenhang der Gestalt der Kultur im Ganzen perspektiviert werden.

46 | Ebd., S. 197. 47 | Ebd., S. 342. 48 | Ebd., S. 198. 49 | Vgl. ebd., S. 191. 50 | Ebd., S. 192. 51 | Die Möglichkeit einer höheren Einstimmigkeit findet für Husserl jedoch eine Grenze im Kontakt mit anderen Kulturen. Zwar können deren Praxis und Weltverständnis prinzipiell angeeignet werden, doch die Übernahme dieser Fremdwelt bleibt »immer etwas prekär« (ebd., S. 171).

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IV. V ERBINDLICHKEIT DER K RITIK ALS PAR ADOXE S TRUK TUR DER G EGENWARTSKULTUR Vor dem Hintergrund der Beobachtungen Husserls lässt sich die Vermutung, dass die Verbindlichkeit der Kritik ein konstitutives Moment der modernen pluralistischen Kultur ist, unterstreichen. Dies ließe sich durch den Versuch illustrieren, die höhere Einstimmigkeit zu visualisieren, womit ein hochgradig verästelt-verädertes Ganzes entstehen würde. Kritik als Verbindlichkeit durchzieht dieses Ganze, das durch sie nicht geteilt, sondern zusammengehalten und in Spannung versetzt wird, wodurch eine kohärente Form und so die Gestalt der modernen Kultur sichtbar wird.52 Die Verbindlichkeit der Kritik erweist sich auch hier als paradox, weil Verbindlichkeiten nicht nebeneinander bestehen können, ohne dass sie sich an Formen der Kritik konturieren. Zugleich konstituieren sich so die Flächen der Verbindlichkeit und zeichnen die moderne Kultur als Mosaik eines »vielfältig fundierte[n] Ineinander[s] von Sinnbeständen«53, als eine »›Pluralität‹ der Lebenswelten«54. Die Verbindlichkeit der Kritik, könnte man sagen, ist die Voraussetzung, dass sich Fugen bilden können, die unterschiedliche Verbindlichkeiten in der Kultur wie Gewissheiten, normative Bindungen als Fundament für kulturelle Orientierung und kulturelle Praktiken zum einen voneinander unterscheiden, zum anderen durch dieses differenzierende, feststellende oder abwehrende Dazwischenschieben konturieren. Dass die Kultur der Moderne sich in unterschiedlichen Weisen selbst zum Thema macht, sei es in der Kulturkritik, der Kulturphilosophie oder den Kulturwissen52 | In diesem Zusammenhang muss der Hinweis gegeben werden, dass diese Konsequenz keineswegs Husserls Ideal von Kultur entspricht. Hierfür findet sich in den »Fünf Aufsätze[n] über Erneuerung« ein expliziter Hinweis. Husserl unterscheidet darin formale Typen von Kultur, die durch jeweilige Kulturformen wie Religion, Wissenschaft, Ökonomie o.ä. geprägt sind. Dabei präferiert er eindeutig eine Kultur, die durch eine Kulturform geleitet wird, da für ihn eine pluralistische Kultur als Nebeneinander unterschiedlicher Kulturformen eine »passiv dahinlebende« ohne Ziel und Richtung ist (Vgl. Husserl: Aufsätze über Erneuerung, S. 50). Zudem entwickelt er seinen Therapieentwurf auf die Krise der europäischen Kultur durch einen Rückgriff auf den Kritik-Begriff der Aufklärung, den er vor dem Hintergrund seiner Phänomenologie radikalisiert (vgl. hierzu Beilage VII zu den »Fünf Aufsätze[n] über Erneuerung«, ebd., S. 107). Kritik entwirft Husserl dort als Selbstkultivierung, indem das Individuum eine permanente kritische Reflexion seiner Werte, Handlungen und Ziele habitualisiert. Hierauf gründet auch sein individual- und sozialethischer Entwurf in diesen Aufsätzen. 53 | E. Husserl: Lebenswelt, S. 347. 54 | Orth, Ernst Wolfgang: Edmund Husserls ›Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie‹. Vernunft und Kultur, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, S. 121.

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schaften bis hin zur (Kultur-)Politik liegt vielleicht in der ausgeprägten Form der Verbindlichkeit der Kritik begründet. Dies erklärt auch, weshalb sie zugleich als paradoxe Kultur erscheint, die sich thematisiert, in Anspruch nimmt und Forderungen an sich stellt, was ihr mitunter den Charakter eines permanent gewordenen Selbstzerwürfnisses verleihen kann.55 Denn die Verbindlichkeit der Kritik fügt zusammen, was sich sonst gegenseitig verdrängen würde. Sie kann aber nur zusammenfügen, indem sie zugleich fragmentierend wirkt. Diese paradoxe und spannungsgeladene Struktur der modernen Kultur macht ihre Dynamik und ihr permanentes Ringen um »Selbstvergewisserung«56 verständlich. Indem sie mit den »Vorbildern anderer Epochen“ gebrochen hat, »muß [sie] ihre Normativität aus sich selber schöpfen […]. Das erklärt die Irritierbarkeit ihres Selbstverständnisses, die Dynamik der ruhelos bis in unsere Zeit fortgesetzten Versuche, sich ›festzustellen‹.«57 Die Beobachtung der Verbindlichkeit der Kritik als strukturierende Fuge macht darüber hinaus aber deutlich, dass dieses Ringen nicht ohne andere Verbindlichkeiten und ohne normative Bindung einhergeht. Vielmehr liegt darin die Bewegung einer Selbststabilisierung der modernen Kultur begründet, insofern die Feststellung als kontinuierliches Aushandeln von Verbindlichkeiten und normativen Bindungen zu verstehen ist. Anders wäre keine Orientierung möglich, in der wir uns alltäglich bewegen, wenn auch potentiell und latent in kritischen Einstellungen. Die Verbindlichkeit der Kritik schließt also keineswegs, wie vermutet, die Geltung anderer Verbindlichkeiten aus, noch muss sie sie gänzlich ironisch brechen. Vielmehr deutet sich an, dass sie der Stoff ist, durch den sich eine explizit vielfältige und pluralistische Kultur konstituiert. Als Fuge setzt sich ihre paradoxe Struktur auch hier fort, indem sie nicht nur zugleich verbindet und trennt, sondern eine eigene Gestalt als Verbindlichkeit in der Struktur der Kultur annimmt. Zugleich zeigt sich, dass dies keineswegs selbstverständlich ist und nicht immer auf Akzeptanz stößt. Insofern zeichnet sich auch ein Druck ab, der auf die Verbindlichkeit der Kritik von allen Seiten ausgeübt wird. Verengen sich die Fugen, d.h. verliert die Verbindlichkeit der Kritik an normativer Kraft, hat dies genauso Auswirkungen auf die Gestalt der Kultur und ihre Lebensformen wie eine Erweiterung. Trotz ihrer Ambivalenz, die von reflexiver Argumentation und Begründung bis hin zum einseitig brutalen Urteil reicht, zeigt das Beispiel der Kulturkritik, dass die Verbindlichkeit der Kritik die Welt mitfundiert, in der wir heute leben. Trotz der Zumutungen und Anstrengun-

55 | Vgl. hierzu auch R. Konersmann: Kulturkritik, S. 24. 56 | Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2016, S. 26. 57 | Ebd., S. 16.

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gen, die diese pluralistische Kultur an den Menschen stellt58, wird über das Beispiel der Kulturkritik deutlich, dass eine Aufhebung dieser Spannung nichts weniger bedeuten würde, als diese kulturelle Wirklichkeit aufzugeben – was mittlerweile wieder einige Kulturkritiker unterschiedlicher Provenienz einfordern. Mit einer Eindämmung der Konkretionen aus der Struktur des Paradoxen in der kulturellen Wirklichkeit würden vielleicht die Anforderungen der pluralistischen Kultur an das Individuum verschwinden. Dies würde sich vermutlich vor allem am Verschwinden der Imprägnierung durch Ironie bemerkbar machen, handelt es sich mit den Worten Friedrich Schlegels bei Ironie doch um die »Form des Paradoxen« und damit um alles, »was zugleich gut und groß ist«59. So problematisch diese Ironie bisweilen sein mag, würde ihr Verlust die Gestalt dieser pluralistischen Kultur und damit die Bedingungen für die darin aufgehenden Lebensformen maßgeblich verändern. Zur Verbindlichkeit der Kritik und ihrer paradoxen Struktur ist damit gleichwohl keineswegs alles gesagt, sondern eine spezifische Frage erst eröffnet.

58 | Angesichts aktueller kultureller und gesellschaftlicher Polarisierungen, die sich insbesondere gegen die Charakteristika der modernen Kultur richten, scheint der paradoxen Struktur der Kritik durchaus auch das Potential für Prozesse »sozialer Gärung« (Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013, S. 6) innezuwohnen. Zum einen deutet dies auf einer in der Struktur von Kultur intrinsisch angelegte Dialektik hin, zum anderen und in gewisser Konsequenz aus dieser Einsicht macht dies die These einer irreversiblen Ablösung der restitutiven durch die postrestitutive Kulturkritik fragwürdig (vgl. oben, S. 211.) 59 | Schlegel, Friedrich: Kritische Fragmente (= Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe, Band 2), München/Paderborn/Wien 1967: Schöningh, S. 153. Bereits Habermas hebt die Bedeutung der Schlegelschen Ironie für die Moderne hervor (vgl. Habermas, Der philosophische Diskurs, S. 28) und Konersmann referiert sogar explizit das hier herangezogene Zitat für seine Charakterisierung der modernen Kultur (Konersmann, Kulturkritik, S. 94). Die Bedeutung dieser Charakterisierung wird jedoch vor dem Hintergund der phänomenologischen Beobachtungen von Kritik und Kultur in unserer Gegenwart zu nichts weniger als zu einer explizit programmatischen Empfehlung für uns heute, was an dieser Stelle betont werden muss.

Lob des Zweifels – Über die Verbindlichkeit wissenssoziologischen Wissens Jürgen Raab »Zweifle an allem, wenigstens einmal, und wäre es auch nur der Satz ›Zweimal zwei ist vier‹.« Georg Christoph Lichtenberg

I. E INLEITUNG : S TILLSCHWEIGENDE Ü BEREINKÜNF TE Im sozialen Alltag sind Menschen dankbar, glücklich und froh über evidente Verbindlichkeiten und Gewissheiten zu verfügen. Sie schätzen Ansichten, Meinungen und Erklärungen, mit denen sie bestimmte, sie umtreibende Fragen und Probleme – für sich – beantworten und abschließen können, und über die sie mit einigen ihrer Mitmenschen, in der Regel ihren Nächsten, Freundinnen und Freunden, fortan nicht mehr ernsthaft reflektieren und grundlegend diskutieren müssen. Solche stillschweigenden Übereinkünfte, die den Zweifel einklammern und besänftigen, bilden die Basis für ›individuelle‹ Weltorientierungen, für soziale Teilhabe und Vergemeinschaftung. Ganz anders ist es offenbar in der Wissenschaft. Forscher und Forscherinnen, denen es um Wahrheit oder, wie in den Sozialwissenschaften, zumindest um ›Objektivität‹1 geht, erfahren das zweifelsfreie Voraussetzen jedweder Evidenzen, Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten, die vor allem von ihnen selbst nicht mehr als solche erkannt und befragt werden, als beklemmend, unerträglich, ja geradezu schmerzhaft. Gerade so, als wären sie selbst jener berühmte blinde Fleck, der nach Aufklärung drängt. Damit sind Fragen und Probleme der Erkenntnistheorie, der Wissenstheorie und Wissenschaftstheorie angesprochen. Doch sobald Grundsätzliches berührt ist, kann es schnell tiefschürfend und hochfliegend, mithin anstrengend werden, mitunter auch unbequem, für manche

1 | Vgl. Max, Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis« (1904), in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen: Mohr 1985, S. 146-248.

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sogar durchaus auch ›künstlich‹, für einige interessanterweise aber auch wieder uninteressant, langweilig oder gar unnötig. Dabei gehört die Praxis, die eigene wissenschaftliche Haltung und Arbeit reflexiv in den Blick zu nehmen, seit den Anfängen der im Folgenden im Zentrum stehenden Wissenssoziologie zu ihrem selbstauferlegten Anspruch, und bildet ausgehend von Karl Marx, Max Scheler und Karl Mannheim spätestens seit der theoretischen Neubegründung der Disziplin durch Peter L. Berger und Thomas Luckmann zunehmend ein Charaktermerkmal ihres Tagesprogramms und Kerngeschäftes. Zwar ist es innerhalb der Sozialwissenschaften im Allgemeinen und in der Wissenssoziologie im Besonderen schwierig, wenn nicht gar unmöglich, auf Evidenzen in jener letztgültigen Qualität und in jenem Selbstverständnis zurückgreifen oder sich berufen zu können, wie es die Naturwissenschaften oder neuerdings die sogenannten Lebenswissenschaften tun. Doch existieren zentrale Denk- und Deutungsfiguren, die als Grundelemente einer geteilten Verständigungsbasis nicht nur aus der Außenperspektive die Wissenssoziologie als ›Wissensgemeinschaft‹ und ›Denkgemeinschaft‹ im Sinne des Erkenntnistheoretikers und Wissenschaftsforschers Ludwik Fleck etikettieren und konstituieren.2 Dass sich diese Evidenzen bei genauerem Hinsehen als Unterstellungen, als Kurzschlüsse und nicht selten als Trugschlüsse herausstellen mögen, gewissermaßen als Idealisierungen, die aber als identifizierende, kollegialisierende und vergemeinschaftende Fiktionen für die Selbstund Fremdbeschreibungen der scientific community zugleich sozial notwendig sind, diskutieren die nachfolgenden Ausführungen. Ihnen liegt die Überlegung zugrunde, dass Fragen und Probleme der Genese und Geltung, mithin der Verbindlichkeit wissenssoziologischen Wissens die Kategorien des Wissens und der Überzeugungen, des Glaubens und Zweifels in ein dynamisches Spannungsverhältnis zueinander rücken. Denn wird einer dieser Pole zum Gegenstand der Reflexion erhoben – und gefragt, welche Grundpfeiler die Basis für wissenssoziologische Weltzugänge und wissenssoziologischer Wissensbestände bilden, an welchen Stellen Überzeugungen auf den Plan treten, ob und inwieweit Glaubenssätze eine Rolle spielen können und dürfen, oder wann und wo der Zweifel einsetzen soll oder muss –, kommt man nicht umhin, jeden dieser Pole in seinen komplexen Beziehungen zu den drei anderen zu reflektieren. Kritische Stimmen mögen einwenden, dieses Unterfangen sei nur eine weitere Runde in der Nabelschau einer im Wesentlichen nur noch mit sich selbst beschäftigten Wissenssoziologie. Neben dieser fast schon zyklisch vorgebrachten und jüngst im Zuge der Gründung der ›Akademie für Soziologie‹ erneut angestoßenen (An-)Klage gibt die sich zusehend 2 | Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, hg. v. Lothar Schäfer/Thomas Schnelle, Frankfurt a.M., Suhrkamp 2015 (1935).

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ausdifferenzierende und immer heterogener werdende Wissenssoziologie inzwischen selbst Anlass zu wiederkehrenden Selbstvergewisserungsunternehmen und zu Legitimierungen der eigenen Position.3

II. W ISSENSSOZIOLOGISCHE A XIOMATIK : V ON DER I DEOLOGIEKRITIK ZUR R EKONSTRUK TION GESELLSCHAF TLICHER K ONSTRUK TIONEN In der Kritik, in der tiefsitzenden Skepsis und im leidenschaftlich betriebenen Zweifel gegenüber allen scheinbar unumstößlichen Gewissheiten gründen das ursprüngliche Motiv, der Reiz und das Potential aller wissenssoziologischen Ansätze. Daher liegt es nahe, den Schwerpunkt innerhalb der angesprochenen, mehrstelligen Konstellation aus Wissen und Überzeugung, Glaube und Zweifel auf den Zweifel zu legen und ihn mit Bertolt Brecht zunächst einmal zu loben. Denn, so Brecht, »da sind die Unbedenklichen, die niemals zweifeln. Ihre Verdauung ist glänzend, ihr Urteil ist unfehlbar. Sie glauben nicht den Fakten, sie glauben nur sich. Im Notfall müssen die Fakten dran glauben. Ihre Geduld mit sich selber ist unbegrenzt. Auf Argumente hören sie mit dem Ohr des Spitzels.« Ihnen, »den Unbedenklichen, die niemals zweifeln«, weil sie nur sich selbst als Quelle der Wissensgenese kennen und sich der Wissensbestände anderer nur an jenen Stellen bedienen, an denen sie Bestätigungen für die eigene Weltanschauung und das eigene Wissens erfahren, »begegnen die Bedenklichen, die niemals handeln. Sie zweifeln nicht, um zur Entscheidung zu kommen, sondern um der Entscheidung auszuweichen. Köpfe benützen sie nur zum Schütteln. [...] Mit der gemurmelten Bemerkung, dass die Sache noch nicht durchforscht ist, steigen sie ins Bett. Ihre Tätigkeit besteht in Schwanken. Ihr Lieblingswort ist: nicht spruchreif.« Weil aber, was nicht spruchreif ist, auch keine Geltung beanspruchen kann, gemahnt Brecht: »Wenn ihr den Zweifel lobt, so lobt nicht das Zweifeln, das ein Verzweifeln ist«.4 Denn wer an allem zweifelt, verzweifelt. Deshalb sind Entscheidungen gefragt, muss Stellung bezogen werden und treten Wissen, Glauben und Überzeugung auf den Plan.5 Deren gesellschaftliche Genese und soziale Geltung bilden denn auch die Forschungsgebiete der sich mit Beginn des 20. Jahrhunderts allmäh-

3 | Vgl. Raab, Jürgen/Keller, Reiner (Hg.): Wissensforschung – Forschungswissen. Beiträge und Debatten zum 1. Sektionskongress der Wissenssoziologie, Beltz Juventa: Weinheim 2016. 4 | Brecht, Bertolt: »Lob des Zweifels« (1938), in: Ders., Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 9: Gedichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967, S. 626-628. 5 | Vgl. Oevermann, Ulrich: »Wissen, Glauben, Überzeugung. Ein Vorschlag zu einer Theorie des Wissens aus krisensoziologischer Perspektive«, in: Dirk Tänzler/Hubert Knob-

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lich herausbildenden und entwickelnden Wissenssoziologie, wenn sie sich seit ihren Anfängen mit vermeintlich unumstößlichen sozialen Gewissheiten und Verbindlichkeiten auseinandersetzt, und sich der Aufdeckung jedweder gesellschaftlicher Illusionsbildungen und mithin der Ideologiekritik verschreibt. Die Rede von der ›Seinsgebundenheit‹ (Marx), der ›Wertegebundenheit‹ (Scheler) oder der ›Standortgebundenheit‹ (Mannheim) menschlicher Weltzugänge und menschlichen Wissens erhebt die Relativität oder besser, weil präziser, die Relationalität, also die Perspektivität, Gerichtetheit und Potentialität menschlicher Weltanschauungen zum Kern sozialwissenschaftlicher Forschung.6 Das wissenssoziologische Axiom der sozialen Bedingtheit und Begrenztheit des Wissens erfährt ab Mitte der 1960er Jahre mit der von Peter L. Berger und Thomas Luckmann vorgelegten Neuen Wissenssoziologie eine nochmalige Erweiterung und Radikalisierung.7 Denn die Autoren fassen den Konnex zwischen der Genese und der Geltung gesellschaftlichen Wissens noch enger und noch zwingender als ihre Vordenker, wenn sie jegliches Wissen, das wissenschaftliche, auch das naturwissenschaftliche und nicht zuletzt auch das wissenssoziologische inbegriffen, als sozial konstruiert auffassen und beschreiben. Eingeschlossen aller sozialen Verbindlichkeiten, allen Wissens und aller Gewissheiten gilt ihnen Wirklichkeit prinzipiell deshalb als soziale Konstruktion, weil Menschen in ihrem Wahrnehmen und Fühlen, Deuten, Denken und Handeln von den Normen und Werten, den Ideen und Konventionen, dem Habitus und den Machtverhältnissen ihrer jeweiligen Gruppe und Gesellschaft orientiert und angeleitet sind. Seit der Erstveröffentlichung des inzwischen zum Klassiker avancierten, wirkungsmächtigen Wurfs soziologischer Theoriebildung hat die Zahl sozialwissenschaftlicher Publikationen, die den Terminus der Konstruktion oder die Wendung von der sozialen Konstruktion im Titel tragen, geradezu inflationäre Dimensionen angenommen. Unterschiedlichste Phänomene und soziale Kategorien werden seither aus dem Blickwinkel ihrer gesellschaftlichen Produktion und ihrer sozialstrukturellen, kulturellen und historischen Variabilität heraus erkenntnisleitend erfasst, empirisch-analytisch rekonstruiert und begrifflich-theoretisch erklärt: Geschlecht, Geschichte, Familie, Kindheit, Alter, Gewalt, Krankheit, Tod, Technik, Identität, Diskurs, Natur, Kultur, sinnliche Wahrnehmungen, Moral lauch/Hans-Georg Soeffner (Hg.), Neue Perspektiven der Wissenssoziologie, Konstanz: UVK 2006, S. 79-118. 6 | Vgl. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Die Deutsche Ideologie, Berlin: Akademie Verlag, 2004 (1932). Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, Hamburg: Meiner 2014 (1913). Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie, Frankfurt a.M.: Klostermann 1995 (1929). 7 | Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge, New York: Penguin 1966.

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und vieles andere mehr. Mit der in den 1970er Jahren eingeleiteten ›konstruktivistischen Wende‹ hat der ›Konstruktivismus‹ den Status einer normal science erreicht und zählen konstruktivistische Varianten und Spielarten in der Soziologie zu den Standardpositionen, sei es als ›Sozialkonstruktivismus‹ oder jüngst als ›kommunikativer Konstruktivismus‹ in enger Gefolgschaft zu Berger und Luckmann, oder als ›radikaler‹ oder ›operationaler Konstruktivismus‹ in den konzeptionellen Gegenentwürfen der soziologischen Systemtheorie.8 Die damit lediglich angedeutete Variationsbreite der Gegenstandsbereiche und Ansätze führt nicht nur innerhalb der Soziologie gelegentlich zu dem Eindruck, es handele sich bei der Metapher der sozialen Konstruktion um eine rein wissenschaftspolitische Kampfvokabel oder schlechterdings um einen bedeutungsarmen Allerweltsbegriff. Die Wendung blieb denn auch nicht undiskutiert und unwidersprochen. Selbst diejenigen, die sie in die theoretische Soziologie einführten, hatten einige Mühe den weitreichenden Missverständnissen ihrer zunehmend schillernd werdenden Schöpfung entgegenzuwirken. Ja mehr noch, die Missdeutungen und Fehltypisierungen gingen schon früh so weit, dass sich Berger und Luckmann genötigt sahen, sich geradezu vehement von jeglichen Konstruktivismen zu distanzieren. Denn, so Thomas Luckmann, »mir tut es ja jetzt eigentlich leid, dass wir von ›Konstruktion‹ geredet haben, im Titel schon. Mir tut es deswegen leid, weil inzwischen alle möglichen Konstruktivismen aufgekommen sind, und nicht einer von diesen passt mir. Und mir scheint, dass das Buch (The Social Construction of Reality) von vielen systematisch fehl gelesen wurde. Nämlich sozusagen als eine Theorie der Beliebigkeit gesellschaftlicher und persönlicher Wirklichkeiten: ›Jetzt setzen wir uns hin und basteln ein wenig. Und dann haben wir halt eine neue Wirklichkeit.‹ So ist es von einigen in jenen Zeiten – das waren ja die sechziger Jahre noch dazu – faktisch gelesen worden. Berger und ich hatten die größte Mühe, uns dessen zu erwehren oder zu sagen, dass das alles nicht stimmt«9. Fast gleichlautend klingt denn auch die gänzlich unabhängig davon geäußerte Einschätzung von Peter L. Berger: »Luckmann und ich haben aus8 | Vgl. Knoblauch, Hubert: Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit, Wiesbaden: Springer 2017. 9 | Pawlowski, Tatjana/Schmitz, H. Walter (Hg.), 30 Jahre ›Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit‹. Ein Gespräch (= Essener Studien zur Semiotik und Kommunikationsforschung, Band 5), Aachen: Shaker 2003, S. 3. Vgl. außerdem Luckmann, Thomas: »›Ich habe mich nie als Konstruktivist betrachtet‹. Gespräch mit Thomas Luckmann«, in: Felicia Herrschaft/Klaus Lichtblau (Hg.), Soziologie in Frankfurt. Eine Zwischenbilanz, Wiesbaden: Springer 2010, S. 345-368. Luckmann, Thomas: »›Teilweise zufällig, teilweise, weil es doch Spaß macht‹. Thomas Luckmann im Gespräch«, in: Monika Wohlrab-Sahr (Hg.), Kultursoziologie. Paradigmen – Methoden – Fragestellungen, Wiesbaden: Springer 2010, S. 73-98.

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geführt, wie die Wirklichkeit immer durch ein Prisma gesellschaftlicher Deutungen erlebt wird. Nachher entstand eine soziologische Richtung, die sich zu unserem Ärger ›Konstruktivismus‹ nannte und die behauptete, dass alle Deutungen gleichwertig seien und darüber hinaus, dass es überhaupt keine Wirklichkeit außerhalb der gesellschaftlichen Deutung gebe. Luckmann und ich haben immer wieder betont, dass diese ›postmoderne‹ Richtung nicht mit unseren Absichten übereinstimme; es hilft alles nichts. Immer wieder werden wir als Gründer des ›Konstruktivismus‹ gelobt oder beschimpft«.10

III. L EIT WÄHRUNG ODER P HANTASMA? (M ISS -)V ERSTÄNDNISSE EINER M E TAPHER Die Klärungsversuche Bergers und Luckmanns machen zweierlei deutlich. Zum einen, dass sich innerhalb der wissenssoziologischen Denk- und Wissensgemeinschaft, der methodologisch implementierte und damit in die Wiege gelegte Zweifel an der Verbindlichkeit wissenssoziologischen Wissens am Zentralbegriff der Konstruktion minimiert, gewissermaßen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert. Seit ihrer Einführung markiert die Idee der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit das Evidenzzentrum wissenssoziologischen Denkens und Forschens, das bei aller Ausdifferenzierung und Heterogenität die Denk- und Wissensgemeinschaft in unstrittiger Übereinkunft zusammenführt und zusammenhält. Sie impliziert, dass Menschen in »soziohistorische Apriori«11, hineingeboren und hineinsozialisiert werden, in »soziale Tatsachen«12, die ihre Vorgänger geschaffen haben und tradieren. Sie leisten ihnen Widerstand, sind träge, beharrlich und können nicht einfach umkonstruiert werden, sind aber durch »sinnhaftes soziales Handeln«13 ver-

10 | Berger, Peter L.: »Sola Fide. Betrachtungen eines Soziologen«, in: Trutz Rendtorff/ Michael Brück (Hg.), Auf den Spuren der Theologie. Ansprachen anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Peter L. Berger durch die Evangelisch-Theologische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München am 6. Mai 1998, Zürich: Pano 1998, S. 21-37, hier S. 23. Vgl. außerdem Berger, Peter L.: »Mit merkwürdigen Gefühlen. Ein Nachwort«, in: Manfred Prisching (Hg.), Gesellschaft verstehen. Peter L. Berger und die Soziologie der Gegenwart, Wien: Passagen 2001, S. 165-175, hier S. 166. 11 | Luckmann, Thomas: »Gesellschaft und Sprache. Soziologie und Dialektologie«, in: Werner Besch et al. (Hg.), Dialektologie: Ein Handbuch der deutschen und allgemeinen Dialektforschung, Berlin/New York: de Gruyter 1983, S. 1568-1579. 12 | Durkheim, Émile: Soziologie und Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976/ 1924. 13 | Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen: Mohr 1985 (1921).

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änderbar und auch zerstörbar. Deshalb gehört die Vorstellung, jeder Mensch könne ganz nach belieben – gemäß dem Pippi Langstrumpf-Prinzip »Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt« – seine eigene Welt und Wirklichkeit konstruieren, zu den folgenschwersten Verkürzungen und Fehldeutungen überhaupt. Zudem impliziert die Idee von der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit, dass sich große Teile des menschlichen Lebens diesseits von gesellschaftlichen Konstruktionen abspielen, weil nicht alle Wirklichkeiten, in denen Menschen leben, sozial konstruierbar sind – sich aber gerade vor diesen Hintergründen das gesellschaftlich Konstruierte besonders gut konturiert und sozialwissenschaftlich beschreiben lässt. Zum anderen machen die Ausführungen von Berger und Luckmann darauf aufmerksam, dass die Wissenssoziologie irritierenderweise am Ort der weitgehendsten Übereinstimmung sogleich wieder in Unruhe gerät, keimt Zweifel auf an der ›Schärfe‹, der Bedeutung und Tragweite des Konzepts der Konstruktion für die Theoriearbeit und die empirische Forschung, und beginnen sich gegenläufige Auslegungen und Pointierungen derart aneinander zu reiben, dass sich innerhalb der Disziplin sogar neue Teilgemeinschaften wissenssoziologischen Wissens und Denkens formieren können. Ihre deutlichsten Ausprägungen finden sich dort, wo am einen Pol der Gedanke der Konstruktion die eigentliche Leitwährung und daher die eigentlich verbindliche, weil unbezweifelbare Evidenz wissenssoziologischen Denkens und Arbeitens ausmacht, während er am anderen Pol nicht viel mehr als eine ›Konsensfiktion‹14 bedeutet, ein Phantasma und mithin ein für die Denkgemeinschaft im Besonderen und für die Soziologie im Allgemeinen durchaus zweifelhafter und zu verabschiedender, theoretischer Orientierungs- und Bezugspunkt. Die wechselseitige Irritation und Verunsicherung zweier inzwischen als ›klassisch‹ geltender und gemeinhin für kaum voneinander unterscheidbar genommener Wissenssoziologen vermittelt ein eindrückliches Bild vom keineswegs einvernehmlichen Verständnis über den Begriff der Konstruktion: »Hans-Georg Soeffner: Auf einer Tagung [...] haben wir mit Medizinern gemeinsam [ihre] Bilder diskutiert und [sie] sagten, ihnen war wichtig zu erfahren, was Sozialwissenschaftler eigentlich über ihre Diagnosen und das konstruktivistische Potential denken. Was passiert eigentlich mit diesen Sinnzuschreibungen. Die werden dann ja irgendwann Realität. Falsche Sinnzuschreibung heißt dann falsche Therapie. Und das ist dann irgendwann Realität. [...]

14 | Hahn, Alois: »Konsensfiktionen in Kleingruppen. Dargestellt am Beispiel von jungen Ehen«, in: Friedhelm Neidhardt (Hg.), Gruppensoziologie. Perspektiven und Materialien (= Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Band 25), Opladen: Westdeutscher Verlag 1983, S. 210-232.

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Jürgen Raab Thomas Luckmann: Ja. ... Also nichts ist die Wirklichkeit selbst. Nichts. Definitionsgemäß. Es gibt Abbilder und die Abbilder setzen zunächst einmal nichts anderes voraus als das Auge und die Hand, zum Beispiel. Oder anschließend die Kamera. Das ist eine Wirklichkeitsebene. Einerseits sind es selbst Gegenstände, Fotos, andererseits sind es nicht Fotos für sich selbst, sondern Fotos von irgendetwas. Und das nehmen wir hin. Wir wissen, ein Foto ist nie die Wirklichkeit, aber ungefähr so schaut sie aus. Und irgendetwas verliert man dabei. Das Problem, das wir jetzt besprochen haben, scheint mir doch etwas anderes. Was ist da Konstruktivismus? Was wird da konstruiert? Wo? Bei Ultraschall ist noch nichts konstruiert. Das ist wie Kamera. Was ist mit Computertomographie? Was nimmt die auf? Schnittflächen. Und die analysiert ein Programm. Und der Arzt schaut sich das an. Hans-Georg Soeffner: Und er interpretiert. Thomas Luckmann: Er interpretiert. Und wo ist da die Konstruktion? Es ist ja nicht beliebig. Es ist eindeutig gebunden an das, was es tun soll, nämlich etwas erfassen. Eine Erfassung, die grundsätzlich nichts anderes ist als ein Foto zum Beispiel. [...] Hans-Georg Soeffner: Interpretieren heißt zunächst einmal das Aufdecken des Deutungspotentials. Was kann etwas bedeuten, und zwar – jetzt für den Mediziner – für seine Handlung. Welche Optionen hat er? Und dann muss der Mediziner, wenn er handeln will, eine Option wählen. [...] Thomas Luckmann: Ich versteh das eigentlich immer noch nicht. [...] Handeln muss ja nur der Arzt. Also für jemand, der das nur sehen will – und das ist ja der Arzt zunächst auch, er will sehen, was da los ist – ist das noch keine besondere Konstruktion, keine besondere Interpretation. Das heißt, er muss schon wissen, wie diese Transformationen funktionieren, damit er das Bild oder Zahlen erfassen kann, verstehen kann – auch ohne besondere Interpretation. Das lernt man halt, was ein Messwert von 27,5 bei dem und dem bedeutet. Was konstruiert er? Gar nichts konstruiert er. Hans-Georg Soeffner: Bis dahin nicht. Thomas Luckmann: Es ist alles vorkonstruiert durch die Vorgänge. Die Entscheidung, was er damit macht, ist ja keine Konstruktion. Hans-Georg Soeffner: Doch. Er trifft eine Wahlentscheidung. Thomas Luckmann: Natürlich. Aber das ist doch keine Konstruktion. Hans-Georg Soeffner: Ist es das nicht? Thomas Luckmann: Um mit Schütz zu sprechen: ›Choosing among projects of action‹. Also da seh’ ich noch keine Konstruktion, sondern Deutung oder Interpretation von mir aus – aber nicht Konstruktion. [...] Georg Voruba: Was wäre ein gutes Beispiel, wo wirklich konstruiert wird? Thomas Luckmann: Wenn einer dieser verdammten Architekten herkommt und ein Haus baut. Der konstruiert. Was konstruieren wir im wissenschaftlichen Bereich? Wir konstruieren Möglichkeiten. Wenn etwas nicht eindeutig ist und wenn wir keine Theorie haben, die das eindeutig machen kann. Wenn in einem uneindeutigen Fall die Möglich-

Lob des Zweifels keiten in Betracht gezogen werden, das könnte man vielleicht umgangssprachlich als Konstruktion annehmen. Das würde ich schon sagen.«15

Thomas Luckmann begreift soziale Konstruktionen als Institutionen des Wissens. Die alltäglichen Wahl- und Handlungsentscheidungen basieren überwiegend auf ihnen. Im eigentlichen Sinne konstruiert wird hingegen in noch offenen, durch verfestigte Handlungstypen wie Routinen, Rituale oder kommunikative Gattungen noch nicht vorstrukturierte und vorentschiedene und damit bereits ›beantwortete‹ Problemsituationen – dort also, wo für die Bearbeitung neuer Handlungsprobleme neue Deutungsmuster und Handlungsformen geschaffen werden. Weil menschliches Wahrnehmen und Erkennen, Verstehen und Erklären jedoch fortwährend Vorstellungen und Bilder, Muster und Typen von Wirklichkeit entwirft, die es für wirklich hält und an denen es sein Denken und Handeln orientiert und die auf sein Fühlen einwirken, erkennt Hans-Georg Soeffner dagegen in jeder Wirklichkeitsdeutung und in allen Handlungsentwürfen, Interpretationen und Wahlentscheidungen, die sozial geschehen oder sozial rückwirken und damit Intersubjektivität und intersubjektives Handeln möglich machen, soziale Konstruktionen. Wenn sich Luckmann und Soeffner durchaus uneins darüber sind, welche Teilbereiche sozialen Handelns als konstruierend aufgefasst und beschrieben werden können, mögen die unterschiedlichen Auffassungen aus der Ferne und von Außen besehen wie feine Graduierungen erscheinen. Doch so eng die Positionen auch beieinander liegen und so unmittelbar sie sich aufeinander beziehen, aus der Innensicht und von Nahem betrachtet scheiden sich am Begriff der Konstruktion zwei wissenssoziologische Denkrichtungen und gibt sich die sogenannte ›Konstanzer Schule‹ als widersprüchliche Einheit zu erkennen.16

IV. K ONSTRUK TIONEN Z WEITER O RDNUNG UND IHRE S TÜT ZEN Betrachtet und beobachtet die Wissenssoziologie ihre wissenschaftliche Position und Praxis durch die eigene Brille, wird sie dann nicht selbst zu einer Konstruktion wie alle anderen Konstruktionen auch? Führt die Seins-, Werte- und Standortgebundenheit eines jeden Wissens in der Selbstreflexion nicht notgedrungen zur Kritik der Aussage, dass alles Wissen konstruiert ist?

15 | Luckmann, Thomas/Soeffner, Hans-Georg/Vobruba, Georg: »›Nichts ist die Wirklichkeit selbst‹. Thomas Luckmann, Hans-Georg Soeffner und Georg Vobruba im Gespräch«, in: Soziologie. Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (2015), S. 411-434, hier: 422ff. 16 | Vgl. Raab, Jürgen/Tänzler, Dirk: »Die ›Konstanzer Schule‹ der Neuen Wissenssoziologie«, in: Jahrbuch für Soziologiegeschichte, Wiesbaden: Springer, im Erscheinen.

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Überlegungen dieser Art können den Wahrheits- und Geltungsanspruch der Wissenssoziologie ins Mark treffen und energische Verstimmungen bereiten, wecken sie doch jenen Relativismusverdacht, der jegliche Selbstgewissheit untergraben und ernsthafte Geltungskrisen auslösen kann.17 Berger und Luckmann vermeiden in ihrer Theorie der Wissenssoziologie denn auch abschließende Antworten auf solch ›peinliche‹ Fragen. Denn für die Autoren führt der Einzug von erkenntnistheoretischen Erwägungen über den Wert soziologischer Erkenntnisse in die Wissenssoziologie selbst in die Sackgasse eines unendlichen Regresses, kommt sie doch dem Versuch gleich – so das inzwischen fast schon sprichwörtlich gewordene Bild – den Bus schieben zu wollen, in dem man fährt.18 Was rein erkenntnistheoretisch nicht zu erreichen ist, könnte zwar methodologisch umgegangen werden. Doch die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit will alle methodologischen Erörterungen explizit ausgespart wissen. Dabei findet sich bei Alfred Schütz und seiner Unterscheidung zwischen »Konstruktionen erster Ordnung« und »Konstruktionen zweiter Ordnung« ein Ansatz, der mit seiner Unterteilung der sozialen Wirklichkeit in zwei Sphären, im Unterschied zum ›bloßen‹ Begriff der Konstruktion, eine heute kaum mehr ernsthaft in Zweifel gestellte Verbindlichkeit wissenssoziologischen Denkens, Forschens und Wissens markiert.19 Die Sphäre der Konstruktionen erster Ordnung beschreibt die Welt des Alltags. In dieser Wirklichkeit arbeiten und verständigen, verstehen und missverstehen sich Menschen, produzieren Unternehmen Waren und erbringen Dienstleistungen, vereinigen sich Organisationen und Staaten zu Verteidigungs- und Wirtschaftsbündnissen. Diese Welt des Alltags findet jeder einzelne Mensch mit seiner Geburt als historisch, kulturell und sozial gegeben vor – als gesellschaftliche Konstruktion, an der er und sie im Verlauf ihres Lebens weiterarbeiten: jeder und jede an ihrem Platz, mit seinen Mitteln und ihren 17 | Vgl. Renn, Joachim: »Eine rekonstruktive Dekonstruktion des Konstruktivismus«, in: Joachim Renn/Christoph Ernst/Peter Isenböck (Hg.), Konstruktion und Geltung. Beiträge zu einer postkonstruktivistischen Sozial- und Medientheorie, Wiesbaden: Springer 2012, S. 19-42. 18 | Vgl. Berger, Peter L./Luckmann Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 2012 (1966), S. 14. Siehe ebenso Reichertz, Jo: »Alles nur Konstruktion! Von der seltsamen Enthaltsamkeit vieler Konstruktivisten gegenüber Werturteilen«, in: Joachim Renn/Christoph Ernst/ Peter Isenböck (Hg.), Konstruktion und Geltung. Beiträge zu einer postkonstruktivistischen Sozial- und Medientheorie, Wiesbaden: Springer 2012, S. 93-118. 19 | Schütz, Alfred: »Wissenschaftliche Interpretation und Alltagsverständnis menschlichen Handelns«, in: Ders.. Werkausgabe, Bd. 4: Zur Methodologie der Sozialwissenschaften, hg. v. Thomas S. Eberle/Ilja Srubar, Konstanz/München, UVK 2010 (1953), S. 331-379.

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Vorstellungen. Dabei ist ein wesentlicher Aspekt der von den Alltagsmenschen intersubjektiv geteilten Vorstellungen, dass alles was existiert, sofern es sich – warum auch immer – bewährt, bis auf Weiteres weiterexistiert und deshalb nicht in Frage gestellt werden muss. Diese Welt der Gewohnheiten und Routinen, des Selbstverständlichen und des Wissens hat enorme Vorteile, denn sie verspricht reibungslose Koorientierung und zweckrationales Handeln, garantiert Entlastung, Ordnung und Sicherheit. In ihr richten sich die Menschen ein und bewegen sich bald ›blind‹, kann alles Neuartige und Fremde so typisiert und eingeordnet werden als sei es bekannt, genauer: als sei es Bestandteil der Normalität eines allgemein anerkannten, intersubjektiv geteilten Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Handlungsraumes. Ausgeklammert, ausgeschlossen oder doch zumindest eingeklammert und minimiert werden das Exotische, das Ungewöhnliche und der Zweifel, so dass sich ein ganzes System von Gewissheiten und sicheren Reaktionen entwickeln und erhalten kann: die in weiten Teilen bürokratisierte, ereignislos-vorhersehbare und wie selbstverständlich vorhandene Gegenwart des modernen Alltags. Die Sphäre der Konstruktionen zweiter Ordnung ist das Reich der Wissenschaft. In ihm sehen Sozialwissenschaftlerinnen und Wissenssoziologen es als ihre Aufgabe an, die Welt des Alltags mit Hilfe methodisch-kontrollierter Verfahren deutend zu verstehen und ursächlich zu erklären. Hierfür beobachten und rekonstruieren sie die Konstruktionen erster Ordnung und entwerfen und beschreiben ihre Konstruktionen zweiter Ordnung. Wissenssoziologische Konstruktionen sind somit Aussagen und Begriffe über etwas, das bereits als konstruiert vorliegt und den Untersuchungsgegenstand bildet: der soziale Alltag mit seinen Ordnungen und seinem Regelwerk. Doch während sich der Alltag auf nur eine oder wenige Deutungs-, Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten konzentriert und stets unter aktuellem Deutungs-, Entscheidungs- und Handlungsdruck, also im steten Interesse der Deutungs-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit jeden Zweifel unterdrückt, da organisiert und systematisiert, pflegt und lobt die Wissenssoziologie den Zweifel, und sucht – deutungs-, entscheidungs- und handlungsentlastet – nach alternativen Deutungs-, Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten, die aus Gründen, die es aufzudecken gilt, entweder gar nicht in den Griff des Bewusstseins der Handelnden kamen oder bewusst nicht von ihnen gewählt wurden. Zwar verspricht die Generalzuschreibung des konstruktiven Charakters allen alltagsweltlichen und jeglichen sozialwissenschaftlichen Wissens eine Verkopplung des Wissens um individuelle und gesellschaftliche Wissensbestände. Doch weil auch noch die Unterscheidung zwischen den Konstruktionen erster und zweiter Ordnung nicht gänzlich davor gefeit ist, infrage gestellt und bezweifelt zu werden, verlangt sie nach Hilfskonstruktionen, die sie begründen und legitimieren, soll ihre Verbindlichkeit aufrechterhalten bleiben. Die drei im Folgenden angeführten Stützen sind von theoretischer wie auch empirisch-ana-

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lytischer Natur und berühren die mehrgliedrige Konstellation aus Wissen und Glauben, Überzeugung und Zweifel in unterschiedlicher Hinsicht. Die erste Stützkonstruktion ist die Philosophische Anthropologie. Zwar ist die Philosophische Anthropologie vornehmlich in den Ansätzen von Max Scheler, Arnold Gehlen und Helmuth Plessner eine genuin deutsche Erfindung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus ganz unverkennbar vom jüdisch-christlichen Glauben geprägt. Doch liefert sie der Wissenssoziologie ein universelles Menschenbild, nachdem die natürliche Nichtfestgelegtheit und der damit einhergehender gebrochene Selbst- und Weltbezug20 den Menschen zur Ausbildung künstlicher Hilfsmittel und künstlicher Umwelten treibt: zur Konstruktion von gesellschaftlicher Wirklichkeit als seiner ›zweiten Natur‹. Denn, so Helmuth Plessner, »eine Wirklichkeit, mit der das Subjekt paktiert hat, bevor es an sie mit seinen Bestrebungen herantritt, ist gar nicht mehr die ursprüngliche Wirklichkeit in ihrem An sich [sic!]. Sie ist schon unterworfene, dem Subjekt durch seine Beobachtungen, Erfahrungen und Berechnungen gefügig gemachte Wirklichkeit. [...] Ohne willkürliche Festlegung einer Ordnung, ohne Vergewaltigung des Lebens führt der Mensch kein Leben«.21 So betrachtet, sind die Konstruktionen erster Ordnung wenngleich ›willkürliche‹, so doch unausweichliche Resultate des dem Menschen anthropologisch auferlegten Zwangs zur Erzeugung und Erhaltung einer sinnhaften Lebenswelt. Eine zweite, theoretische und gleichfalls philosophische Stützkonstruktion findet die Wissenssoziologie in der Phänomenologie. Sie erhebt das individuelle Bewusstsein und die Prozesse der Sinnkonstitution zu ihrem Gegenstand und beschreibt die prinzipielle Zeichengebundenheit menschlichen Wahrnehmens und Handelns. Während Edmund Husserl das denkende Ich noch als die letztgültige, transzendentale Referenz jeglicher Aussagen über die Wirklichkeit der Lebenswelt ansieht, erdet Alfred Schütz die Phänomenologie im Mundanen: Nur im zeichenhaft und damit sinnhaft repräsentierten Ausdruckshandeln ist das subjektiv wahrgenommene und Erfahrene, sind Wissen und Imaginationen sozial (mit-)teilbar. Weil es der Wissenssoziologie in Anschluss an den von Max Weber vorgezeichneten und von Schütz präzisierten Grundriss der verstehenden Soziologie – über die Weber sagt, dass sie »niemandem aufgenötigt werden kann und soll«22, von der man also überzeugt sein muss oder an die man glauben kann – um das deutende Verstehen und ursächliche Erklären des subjektiv gemeinten Sinns sozialen Handelns getan ist, richten sich ihre Untersuchungen auf diese interaktiven Zeichen- und Symbolwelten. 20 | Schulz, Walter: Der gebrochene Weltbezug. Aufsätze zur Geschichte der Philosophie und zur Analyse der Gegenwart, Stuttgart: Klett-Cotta 1994. 21 | Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/New York: de Gruyter 1975 (1928), S. 336, 344. 22 | M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 6.

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Denn wo Motive und Erfahrungen, Deutungen und Wissen sozial ausgehandelt und kommunikativ ausgetauscht werden, entwickeln sich gesellschaftlich verfestigte und etablierte, immer wieder abruf bare und schließlich tradierbare, zeichenhafte und symbolische Ausdrucksformen. In diesen Konstruktionen erster Ordnung, vornehmlich in Sprache und Texten, Bildern und Filmen, aber auch in Kleidung, Musik und Tanz, in Architekturen, Waffen oder Grabsteinen, finden jene sozial objektivierten Kategorien der subjektiven Orientierung menschlichen Verhaltens in der Lebenswelt ihren Ausdruck, die das Untersuchungsgebiet der empirischen Wissenssoziologie als einer »Wirklichkeitswissenschaft«23 abstecken. Auf der nicht mehr zu überbietenden Evidenzbasis solcher ›natürlicher Daten‹ generiert die wissenssoziologische Analyse ihr Wissen. An dieser Wirklichkeit muss sich nicht nur die Gültigkeit ihrer Konstruktionen zweiter Ordnung immer wieder aufs Neue bewähren, sondern muss auch die Gegenstandsangemessenheit ihrer analytischen Verfahren fortlaufend übergeprüft werden. Ihre dritte Stütze bilden schließlich die qualitativen Methoden der empirischen Sozialforschung. Darauf, dass es sich auch bei ihnen um ›subjektive‹ Konstruktionen handelt, die durch den Ausweis ihrer Verfahrensregeln und die Offenlegung aller Verfahrensschritte ›objektiviert‹ werden, verweist der Umstand, dass die Wissenssoziologie mit der von Thomas Luckmann entwickelten Gattungsanalyse einerseits und der von Hans-Georg Soeffner in Anschluss an Ulrich Oevermann vertretenen Sequenzanalyse andererseits zwei grundlegende methodische Zugangsweisen hervorgebracht hat. Zwar erweisen sich die beiden methodischen Verfahren als durchaus miteinander kompatibel.24 Doch aus dem bei Luckmann und Soeffner im Grundsatz verschieden gedeuteten Konstruktionsbegriffs – siehe oben, Abschnitt III – resultieren unterschiedliche analytische Schnitte. Denn während sich wissenssoziologische Gattungstheorie mit ihrem Verfahren der Gattungsanalyse der Faktizität und Stabilität verfestigter und die Reproduktion von gesellschaftlicher Wirklichkeit gewährleistender kommunikativer Institutionen zuwendet, legt es wissenssoziologische Hermeneutik mit ihrem Verfahren der Sequenzanalyse strukturell auf die Prozesshaftigkeit und Fragilität des Sozialen an und will soziale Veränderungs- und Öffnungsprozesse methodisch erfassen und beschreiben. Luckmanns Eintreten für die Analytik und seine Zurückhaltung gegenüber der Hermeneutik rühren aus dem Umstand, dass die Hermeneutik eine subjektive Bewusstseinsleistung und damit eine philosophische Angelegenheit ist, während die Analytik ihr Augenmerk tendenziell auf die objektiven Komponenten zugunsten der subjektiven Dimensionen sozialen und kommunikativen Handelns legt, daher eher positivistisch orientiert und stärker hy23 | M. Weber, »Objektivität«, S. 212. 24 | Vgl. J. Raab/D. Tänzler, »Konstanzer Schule«, im Erscheinen.

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pothetisch-deduktiv arbeitet. Aus Perspektive der Gattungstheorie und Gattungsanalyse erscheint und fungiert die Hermeneutik denn auch eher als eine Methode der Datenbildung, über die Sinnsetzungen im kommunikativen Handeln – so wie es die Sequenzanalyse praktiziert – vor jeglicher Messung, Zählung, Formalisierung in ihrer Besonderheit rekonstruktiv erschlossen werden. Allerdings müssen diese Daten in Hinsicht auf die Konstruktion von verallgemeinerbaren Strukturmustern und Gesetzmäßigkeiten formalisiert werden, um kommunikatives Handeln gattungstheoretisch zu erklären. Vor allem aus diesem Grunde spricht Luckmann von der Hermeneutik als einer »Dienerin der Sozialwissenschaften«25. Steht bei Luckmann mithin die vom Individuum pragmatisch zu bewältigende Faktizität der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit im Mittelpunkt, verleiht Soeffners hermeneutischer Ansatz der Wissenssoziologie einen zusätzlichen Akzent.26 Denn die Betonung der dem Menschen mit der »exzentrischen Positionalität«27 anthropologisch auferlegten Potentialität, jenseits der Zwänge, der Notwendigkeiten und Selbstverständlichkeiten des gesellschaftlich Faktischen und Pragmatischen wahrzunehmen, zu denken und zu handeln, lenkt den Blick auf die Spiel- und Freiheitsräume des Handelns und Deutens und damit auf den ästhetischen Anteil der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit.28 So rückt neben die prinzipielle Gegenständlichkeit und Objektivität von sozialer Wirklichkeit mit gleicher Berechtigung die Potentialität von gesellschaftlicher Ordnung: das alltagsweltliche wie auch wissenschaftliche Vermögen, die eigenen Produkte in Zweifel zu stellen und mit Kritik zu überziehen, in Alternativen und Optionen zu interpretieren, zu denken und zu handeln, und mithin die Möglichkeit, alles Vorgefundene und Gegebene nicht nur imaginativ zu transzendieren, umzuarbeiten oder durch Neuentwürfe abzulösen, und 25 | Luckmann, Thomas: »Zum hermeneutischen Problem der Sozialwissenschaften«, in: Ders., Wissen und Gesellschaft. Ausgewählte Aufsätze 1981-2002, hg. v. Hubert Knoblauch/Jürgen Raab/Bernt Schnettler, Konstanz: UVK 2002, 117-128, hier: S. 128. 26 | Vgl. Tänzler, Dirk: »Von der Seinsgebundenheit zum Seinsverhältnis. Wissenssoziologie zwischen Gesellschaftsanalyse und Hermeneutik der Kulturen«, in: Dirk Tänzler/ Hubert Knoblauch/Hans-Georg Soeffner (Hg.), Neue Perspektiven der Wissenssoziologie, Konstanz: UVK 2006, S. 317-344. 27 | H. Plessner, Stufen, S. 309-346. 28 | Vgl. Soeffner, Hans-Georg: »Vermittelte Unmittelbarkeit. Das Glück der ästhetischen Erfahrung«, in: Ders., Zeitbilder. Versuche über Glück, Lebensstil, Gewalt und Schuld, Frankfurt a.M.: Campus 2005, S. 129-150. Soeffner, Hans-Georg: »Zen und der ›kategorische Konjunktiv‹«, in: Michael R. Müller/Jürgen Raab/Hans-Georg Soeffner (Hg.), Grenzen der Bildinterpretation, Wiesbaden: Springer 2014, S. 55-75. Müller, Michael R.: »Gesellschaft im Konjunktiv. Über ästhetisches Handeln«, in: Ronald Hitzler (Hg.), Hermeneutik als Lebenspraxis, Weinheim: Beltz Juventa 2014, S. 487-499.

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so das gesellschaftliche Deutungs- und Handlungsrepertoire zu erweitern.29 Der Zweifel ist denn auch, was fraglos Gläubige am meisten fürchten. Kultiviert er doch die Mehrzahl von Überzeugungen und die Mehrzahl von Wirklichkeitstendenzen, worauf bereits die Wurzel des deutschen Wortes hinweist: im Zweifel steckt die Zwei. Weil es analytisch vor der Wahl zwischen – mindestens – zwei einander ausschließenden Möglichkeiten oder Bedeutungen steht, befähigt das wissenschaftliche Vermögen zu zweifeln dazu, mehr Wirklichkeit als offiziell vorgesehen zu sehen. Dies impliziert zum einen die fortgesetzte Diskussion und Weiterentwicklung der empirischen Verfahren einerseits und zum anderen den methodologischen Zweifel an den an gewonnenen Deutungen und Interpretationen: Gibt es noch andere, alternative, in gleicher Weise nachvollziehbare Interpretationsmöglichkeiten? Genauer: Kann der in ›natürlichen Daten‹ dokumentierte soziale Handlungssinn nicht auch noch anders und noch einmal anders und möglicherweise noch einmal anders gelesen, gedeutet und verstanden werden? Die so eröffnete Pluralität signalisiert eine Abstandnahme gegenüber jeglichen Alleinzugriffen auf die empirische Wirklichkeit und bedeutet den Abschied vom Prinzipiellen und Absoluten. In diese Sinne ist die wissenssoziologische Hermeneutik, wie Hans-Georg Soeffner es formuliert, »ein Abführmittel gegen das Grundsätzliche«30.

V. S CHLUSS : I LLUSIONÄRE G E WISSHEITEN Grundsätzlich lobt, preist, pflegt und hegt die Wissenssoziologie den Zweifel und schließt damit an Sokrates und Descartes an. Er ist in der Wissenssoziologie implementiert und bei ihm findet sich denn auch der kleinste gemeinsame Nenner aller wissenssoziologischen Positionen. Denn zu zweifeln, bildet den unauflöslichen Teil der spezifischen Weltsicht, Weltorientierung und Welterfahrung einer Wissenschaft, die mit Wissen handelt, das durch Zweifel gewonnen ist und das dem Zweifel immer wieder aufs neue ausgesetzt wird – ganz so wie Bertolt Brecht im Leben des Galilei den greisen Gelehrten sagten lässt, die Wissenschaft handelt »mit Wissen gewonnen durch Zweifel. Wissen ver-

29 | Vgl. Reichertz, Jo: »Das Handlungsrepertoire von Gesellschaften erweitern. Hans-Georg Soeffner im Gespräch mit Jo Reichertz«, in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research 5 (2004), o.S. Online: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/3-04/04-3-29-d.htm 30 | Soeffner, Hans-Georg: Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Konstanz: UVK 2004, S. 109.

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schaffend über alles für alle, trachtet sie, Zweifler zu machen aus allen«31. Für das wissenssoziologische Denken, Forschen und Wissen lässt sich somit ein dreifaches methodologisches und methodisches Postulat formulieren: Erstens, der Zweifel an allen Deutungsgegenständen, Deutungsangeboten und vorhandenen Erklärungen auf der Ebene der Konstruktionen erster Ordnung. Dem Zweifel an der Erkenntnisfähigkeit des Alltagsdenkens und Alltagswissens, das sein Denken und Wissen unreflektiert als fraglos gegeben hinnimmt, wird ein aufgeklärtes Denken und Wissen in Gestalt der Wissenschaft zur Seite gestellt: hier setzt bereits die klassische Wissenssoziologie mit ihrer Ideologiekritik an; und hierauf baut die Kulturkritik der Frankfurter Schule auf. Unübersehbar liegt hier denn auch das politische Potential der Kritik und des Zweifels. Zweitens, der Zweifel an den eigenen Deutungen, Lösungen und Erklärungen – den Konstruktionen zweiter Ordnung. Schließlich drittens, weil nichts zweifelhafter ist als einsinnige Deutungen, der Zweifel an allen eindimensionalen Erklärungen, seien sie kausaler, strukturaler oder dialektischer Art. Insbesondere am zuletzt genannten, von der wissenssoziologischen Hermeneutik vertretenen Postulat scheiden sich die Positionen und Perspektiven und treten die zwar haarfeinen, aber durchaus robusten und wirkungsmächtigen Grenzlinien innerhalb der Wissenssoziologie zutage. Auch hier existieren Tendenzen und brechen Neigungen immer wieder durch, sich am Ruhepol, in der Komfortzone abschließender und ausschließender, für gewiss genommener Sinnkonstruktionen einzurichten – je komplexer das Denkgebäude, desto mehr klammert das Konzepte den Zweifel ein und verspricht Stabilität und Sicherheit. Aus dem selbstausstaffierten, vermeintlich sicheren Hafen hört man dann die Bewohner der Komfortzone herüberrufen: ›Ihr Bemitleidenswerten, ihr kommt niemals heraus aus eurer Unruhe und Zerrissenheit, aus dem unbequemen, unbefriedigenden Irgendwo im Dazwischen!‹ Aber müssen wir, ja dürfen wir denn herauskommen? Liegt nicht »im Dazwischen von Verstehen und Nicht-Verstehen«, wie Hans-Georg Gadamer meint, »der Ort der Hermeneutik«32? Und ist es nicht dieser etwas zugige, leicht unwirtliche Ort auf der Grenze, der »den Kulturwissenschaften ewige Jugendlichkeit verheißt«33? Besteht die besondere Leistung des Zweifels letztlich nicht gerade darin, den Stachel der Frage in das Sicherheit und Stabilität suggerierende Dreigestirn aus Wissen, Überzeugung und Glauben zu implementieren, und wäre daher nicht

31 | Brecht, Bertolt: Leben des Galilei, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967 (1939), S. 124. 32 | Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Bd. 1, Tübingen: Mohr 1960, S. 300. 33 | M. Weber, »Objektivität«, S. 206.

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eher Nietzsche zu folgen, für den »nicht der Zweifel, die Gewissheit das ist, was wahnsinnig macht«34? Während sicheres, ›reines‹, objektives Wissen in den Geistes- und Sozialwissenschaften nur schwer zu erreichen ist, sind Unschärfen und Verunreinigungen, Täuschungen und illusionäre Gewissheiten des Wissens dagegen der Regelfall. Wer sich, wie die Wissenssoziologie, das individuelle und das gesellschaftliche Wissen zum Gegenstand macht, hat es somit immer schon mit der Dialektik von Eindeutigkeit und Täuschung zu tun, mit der Ambivalenz von pragmatischen und rationalen Intentionen der Wissensforschung einerseits und der irrationalen Sehnsucht nach Evidenz und Wahrheit andererseits. In dieser Dialektik und Ambivalenz einzuhalten, Stellung zu beziehen, und – siehe Brecht, Abschnitt II. –, den Zweifel zu loben, meint dann, vermeintliche Gewissheiten zu befragen, Selbstverständlichkeiten zu irritieren, Ordnungen zu bezweifeln – und damit systematisch Sinnvermehrung zu betreiben. Damit aber sind wir wieder dort angelangt, wo die Wissenssoziologie historisch einst begann und wo der Gedanke der Konstruktion ansetzte: bei der Skepsis, der Kritik und beim Zweifel als den Vorzeichen einer systematisch betriebenen Aufklärung. Nicht die Suche nach letztverbindlichen Wahrheiten markiert den Ausgangsort, den Weg und den Zielpunkt eines solchen sozialwissenschaftlichen Forschens, als vielmehr eine in letzter Instanz nicht einlösbare, weil nicht zu stillende Sehnsucht nach Evidenz. Eine solche Sehnsucht geht nicht auf in Berechnung und Gewissheit. Vielmehr kennt und anerkennt sie das Begehren und den Zauber, die Leidenschaft und den aus dem Zweifel geborenen Verdacht. Die hieraus entspringende Unruhe und Beweglichkeit sind die Triebkräfte wissenssoziologischer Erkenntnis und wissenssoziologischen Wissens. Weil, wie Max Weber notierte, »das Leben in seiner irrationalen Wirklichkeit, und sein Gehalt an möglichen Bedeutungen unausschöpf bar sind«35 und weil »für den Menschen als Menschen nichts etwas wert ist, was er nicht mit Leidenschaft tun kann«36, ist der Wissenssoziologie im Besonderen, der Soziologie im Allgemeinen und den Sozialwissenschaften insgesamt eine noch viel entschlossenere Synthese aus Sehnsucht, Leidenschaft und Zweifel zu wünschen.

34 | Nietzsche, Friedrich: »Ecce homo« (1889), in: Ders., Werke in drei Bänden, Bd. 2, hg. v. Karl Schlechta, München, Hanser, 1966, S. 1063-1160, hier S. 1112. 35 | M. Weber: »Objektivität«, S. 212. 36 | Weber, Max: »Wissenschaft als Beruf« (1919), in: Dirk Kaesler (Hg.), Max Weber. Schriften 1894-1922, Stuttgart: Kröner 2002, S. 524-555, hier: S. 531 (Hervorhebung im Original).

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Andreas Ackermann ist Professor für Kulturwissenschaft mit Schwerpunkt Ethnologie am Campus Koblenz. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Multikulturalität, Ästhetische, Visuelle und Kulinarische Ethnologie. Hauptregionen seiner Forschung sind Singapur, die kurdischen Gebiete des Vorderen Orients sowie Deutschland. Im Forschungsschwerpunkt ›Kulturelle Orientierung und normative Bindung‹ arbeitet er an dem Projekt ›Soziale Ästhetik als neue Perspektive auf Verkörperung von Kultur‹. Clemens Albrecht ist Professor für Kultursoziologie am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Er ist Direktor am Käte Hamburger Kollegs ›Recht als Kultur‹ und arbeitet zum Wandel von Wissenschaftsordnungen, zu Theorien der repräsentativen Kultur und zur Sozioprudenz. Weitere Interessengebiete sind Migration, Materialität und food studies. Der Titel seines Projekts im Forschungsschwerpunkt ›Kulturelle Orientierung und normative Bindung‹ lautet ›Formen repräsentativer Kultur‹. Michaela Bauks ist Professorin für Bibelwissenschaft (AT und Religionsgeschichte) am Campus Koblenz. Sie beschäftigt sich mit der Religionsgeschichte des Alten Orients und des antiken Judentums, der Traditions- und Rezeptionsgeschichte biblischer Literatur, historischer Anthropologie und food studies. Als stellvertretende Sprecherin des Forschungsschwerpunkts ›Kulturelle Orientierung und normative Bindung‹ ist sie verantwortlich für das Projekt ›Rituale, Identitäten und die Bedeutung historischer Prozesse‹. Ralf Becker ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau. Seine Forschungsschwerpunkte bilden Philosophische Anthropologie, Kulturphilosophie, Wissenschaftsphilosophie, phänomenologische Erkenntnistheorie, Hermeneutik und Begriffsgeschichte. Aktuell arbeitet er u.a. zur Verhältnisbestimmung von ›Maß und Zahl‹ sowie zu ›Verbindlichkeiten popularisierter Wissenschaft‹.

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Christian Bermes ist Professor für Philosophie und Leiter des Instituts für Philosophie am Campus Landau. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Kultur- und Sprachphilosophie, Anthropologie und Praktischen Philosophie. Er ist Sprecher des Forschungsschwerpunkts ›Kulturelle Orientierung und normative Bindung‹, leitet die Graduiertenschule  ›Herausforderung Leben‹ und ist verantwortlich für das Projekt ›Lebensform und Handeln. Normative Dimensionen der Kulturphilosophie‹. Sabine Diao-Klaeger ist Professorin für Romanistik mit dem Schwerpunkt Linguistik am Campus Landau. Ihre Forschungsgebiete liegen im Bereich der Varietätenlinguistik und der Sprachkontaktforschung (insbesondere afrikanische Varietäten des Französischen betreffend) sowie in der Interaktionslinguistik. Im Forschungsschwerpunkt ›Kulturelle Orientierung und normative Bindung‹ ist sie gemeinsam mit dem Germanisten Jan Georg Schneider verantwortlich für das Projekt ›Sprachnormen in Fachwissenschaft und Öffentlichkeit‹. Matthias Jung ist Professor für Rechts- und Moralphilosophie am Campus Koblenz. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Anthropologie der Verkörperung; anthropologische Grundlagen der Moral und des Rechts; Pragmatismus und Kognitionswissenschaft. Er ist Mitglied im Forschungsschwerpunkt ›Kulturelle Orientierung und normative Bindung‹ und bearbeitet dort ein Projekt über die normativen Beziehungen zwischen kulturellen Artikulationsformen. Werner Moskopp ist Privatdozent und Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. Im Rahmen des Forschungsschwerpunkts ›Kulturelle Orientierung und normative Bindung‹ ist er als assoziiertes Mitglied des Cluster II ›Verkörperung und Kultur‹ aktiv. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Moralphilosophie, wissenschaftliche Schwerpunkte sind u.a. Kant und der Deutsche Idealismus, Pragmatismus, Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger. Stefan Neuhaus ist Professor für Neuere deutsche Literatur am Campus Koblenz. Seine Forschungsinteressen sind breit gestreut, er beschäftigt sich mit Märchen und Literaturvermittlung, mit Konzepten in der und Theorien über die Literatur, mit Texten  von Friedrich  Schiller über Theodor Fontane und Erich Kästner bis Walter Moers. Gemeinsam mit seiner Kollegin Uta Schaffers leitet er im Forschungsschwerpunkt ›Kulturelle Orientierung und normative Bindung‹ das Projekt ›Der Wert der Literatur. Kulturelle Orientierung durch literarische Kanonbildung‹.

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Bernhard Pöll ist Professor für romanische Sprachwissenschaft an der Universität Salzburg. Außerdem ist er Fellow des Forschungsschwerpunktes ›Kulturelle Orientierung und normative Bindung‹ der Universität Koblenz-Landau. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Soziolinguistik (insb. Sprachnormenforschung), Lexikologie/Metalexikographie, Wortbildung, Grammatiktheorie und der Kontrastiven Linguistik. Sprachlich liegt der Fokus auf Spanisch, Portugiesisch und Französisch. Jürgen Raab ist Professor für Soziologie an der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau, und Leiter des Projekts ›Gesellschaftliche Sicherheit als normative Bindung und kulturelle Orientierung‹ des Cluster I: Kultur und Lebensform des Forschungsschwerpunktes ›Kulturelle Orientierung und normative Bindung‹. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Wissenssoziologie, Politische Soziologie, Visuelle Soziologie, Interpretative Methoden der qualitativen Sozial- und Medienforschung. Timo Rouget studierte Germanistik, Geschichte sowie Bildungswissenschaften und war Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Seit 2016 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. Dort forscht und lehrt er in den Bereichen Literatur und Film, Medienwissenschaft, Literaturdidaktik und Lyrik. In seiner Dissertation setzt er sich mit filmischen Darstellungen des literarisch-ästhetischen Lesens auseinander. Uta Schaffers ist Professorin für Literaturwissenschaft und -didaktik am Institut für Germanistik der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. Sie forscht u.a. zu Reiseliteratur des 19./20. Jahrhunderts sowie Ostasien in der deutschsprachigen (Gegenwarts-)Literatur. Mit Stefan Neuhaus leitet sie im Forschungsschwerpunkt ›Kulturelle Orientierung und normative Bindung‹ das Projekt ›Der Wert der Literatur. Kulturelle Orientierung durch literarische Kanonbildung‹. Aktuelle Forschungsprojekte: ›Dynamiken des Ökonomischen. Literatur- und mediendidaktische Erkundungen‹ sowie ›Traveling Bodies‹. Thomas M. Schimmer ist promovierter Philosoph und war wissenschaftlicher Koordinator des Forschungsschwerpunkts ›Kulturelle Orientierung und normative Bindung‹. Seine Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle von Phänomenologie und Kulturphilosophie sowie in der Komplexitätsforschung. Seit 2019 ist er Wissenschaftlicher Projektreferent am Forschungskolleg Humanwissenschaften der Goethe-Universität und koordiniert dort u.a. das Projekt ›Komplexität in Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft‹.

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Jan Georg Schneider ist Professor für Deutsche Sprachwissenschaft am Campus Landau. Derzeit forscht er vor allem über die Syntax des gesprochenen Deutsch, Normfragen im Deutschen sowie linguistische Medientheorie und multimodale Analyse. Gemeinsam mit der Romanistin Sabine Diao-Klaeger arbeitet er im Forschungsschwerpunkt ›Kulturelle Orientierung und normative Bindung‹ in dem Projekt ›Sprachnormen in Fachwissenschaft und Öffentlichkeit‹. Marion Steinicke ist promovierte Religionswissenschaftlerin und Lehrbeauftragte im FB 2 Kulturwissenschaft der Universität Koblenz-Landau. Ihre Forschung gilt vor allem den Kultur- und Religionskontakten zwischen Asien und Europa seit dem ausgehenden Mittelalter. Sie ist als wissenschaftliche Koordinatorin des Forschungsschwerpunkts ›Kulturelle Orientierung und normative Bindung‹ und seit 2018 des BMBF-Verbundprojekts ›Esskulturen. Objekte, Praktiken, Semantiken‹ tätig.

Kulturwissenschaft Johannes F.M. Schick, Mario Schmidt, Ulrich van Loyen, Martin Zillinger (Hg.)

Homo Faber Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2018 2018, 224 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3917-9 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3917-3

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

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Stephan Günzel

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