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German Pages 358 Year 2020
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Mit Textbeiträgen von
Herausgegeben von
Natalia Aleksiun Moritz Bauerfeind Kata Bohus Katharina Friedla Elisabeth Gallas Philipp Graf Atina Grossmann Werner Hanak Laura Hobson Faure Lena Inowlocki Kamil Kijek Tamar Lewinsky Avinoam Patt Katarzyna Person Erik Riedel Joanna Tokarska-Bakir Mirjam Wenzel
Kata Bohus Atina Grossmann Werner Hanak Mirjam Wenzel
Diese Publikation wurde durch die Unterstützung von Christiane und Nicolaus Weickart ermöglicht. Sie erscheint anlässlich der Ausstellung Unser Mut. Juden in Europa 1945 – 48 Jüdisches Museum Frankfurt 24. März 2021 – 22. August 2021
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Unser Mut inJuden Europa 1945–48
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INHALT 6
VORWORT WERNER HANAK, MIRJAM WENZEL
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EINLEITUNG ATINA GROSSMANN, KATA BOHUS
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ZEUGENAUSSAGEN OSTEUROPÄISCHER HOLOCAUSTÜBERLEBENDER IN DER UNMITTELBAREN NACHKRIEGSZEIT NATALIA ALEKSIUN BIAŁYSTOK. DIE TOTE STADT KATA BOHUS KÜNSTLERGRAFIKEN ALS MAHNMALE UND DOKUMENTE DES VÖLKERMORDS ERIK RIEDEL
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ANTIJÜDISCHE GEWALT IN MITTEL- UND OSTEUROPA DER UNMITTELBAREN NACHKRIEGSZEIT JOANNA TOKARSKA-BAKIR JULIA PIROTTE UND DIE DOKUMENTATION DES POGROMS IN KIELCE KATA BOHUS MIGRATION UND REPATRIIERUNG AUS DER SOWJETUNION. VERSCHIEBUNG DER GRENZEN UND BEVÖLKERUNGSGRUPPEN KATHARINA FRIEDLA . REICHENBACH/RYCHBACH/DZIERZONIÓW. FÜR KURZE ZEIT EIN ZENTRUM JÜDISCHEN LEBENS IN POLEN 1945 – 1950 KAMIL KIJEK DIE AKTIVITÄTEN DES AMERICAN JEWISH JOINT DISTRIBUTION COMMITTEE (JDC) ZUM SCHUTZ DES EUROPÄISCHEN ZWEIGS DER JÜDISCHEN DIASPORA NACH DEM HOLOCAUST LAURA HOBSON FAURE BUDAPEST. DIE STADT DER ÜBERLEBENDEN KATA BOHUS PESSACH 1946. DIESES JAHR IN JERUSALEM WERNER HANAK IM EINSATZ FÜR DAS JÜDISCHE KOLLEKTIV. JÜDISCHE KOMMUNISTEN IM SOWJETISCHEN BERLIN DER „ZWISCHENZEIT“, 1945 – 1950 PHILIPP GRAF BERLIN (OST). DIE STADT DER JÜDISCHEN GENOSSEN ERIK RIEDEL FOTOGRAFINNEN UND FOTOGRAFEN IN BERLIN ERIK RIEDEL
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VOM WIEDERAUFBAU JÜDISCHER KULTUR IN DER AMERIKANISCHEN BESATZUNGSZONE DEUTSCHLANDS TAMAR LEWINSKY DAS KATSET-TEATER IM DP-LAGER BERGEN-BELSEN WERNER HANAK
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FRAGMENTE EINER VERLORENEN WELT. ZUR RETTUNG UND RESTITUTION JÜDISCHER KULTURGÜTER IN DER NACHKRIEGSZEIT ELISABETH GALLAS RETTUNGSVERSUCHE. DAS UNGARISCHE JÜDISCHE MUSEUM UND DAS JÜDISCHE KULTURERBE NACH 1945 KATA BOHUS FRANKFURT UND ZEILSHEIM. AMERIKA IN DEUTSCHLAND MORITZ BAUERFEIND
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JÜDISCHE EHRENGERICHTE IN DER AMERIKANISCHEN BESATZUNGSZONE DEUTSCHLANDS UND DIE ALLIIERTE JUSTIZ KATARZYNA PERSON AMSTERDAM. DIE STADT DER KONFLIKTE KATA BOHUS
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UNSER MUT. DIE BEDEUTUNG DES ZIONISMUS FÜR DIE ÜBERLEBENDEN DES HOLOCAUST AVINOAM PATT BARI. DIE TRANSIT-STADT MORITZ BAUERFEIND
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ORTHODOXE TRADITION IN FAMILIEN JÜDISCHER DISPLACED PERSONS. RÜCKBLICK AUF EINEN GENERATIONSÜBERGREIFENDEN PROZESS LENA INOWLOCKI
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AUTORINNEN UND AUTOREN GLOSSAR FOTO- UND VIDEOQUELLEN DANK IMPRESSUM
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VORWORT WERNER HANAK MIRJAM WENZEL
Unser Mut. Juden in Europa 1945‒48 thematisiert die Zeit unmittelbar nach dem Zivilisationsbruch. Jene Tage im Jahr 1945, in denen vielerorts in Europa nicht Rechtsstaatlichkeit, sondern Hunger und Gewalt vorherrschen, Millionen von Menschen „displaced“ oder auf der Flucht sind. Jene Situation unmittelbar nach Kriegsende, in der viele überlebende und zurückkehrende Jüdinnen und Juden an ihren vormaligen Heimatorten gewahr werden, dass ihnen nichts als das bloße Leben geblieben ist. Jenen Zeitraum, in dem sie beginnen, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Jenes Jahr, in dem der Staat Israel gegründet wird und mit der United Nations Organization (UNO) zugleich eine neue internationale Ordnung entsteht, die als Lehre von Auschwitz neue Rechtsnormen verabschiedet: die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte („Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“) und die Völkermordkonvention. Die unmittelbare Nachkriegszeit ist in den vergangenen Jahren zunehmend in den Blick der Geschichtswissenschaft geraten – insbesondere die Situation der europäischen Jüdinnen und Juden. Die Ausstellung Unser Mut. Juden in Europa 1945‒48 knüpft an diese Forschungen an und vertieft sie um site-spezifische Studien zu sieben ausgewählten Orten in Europa. Es ist die erste Ausstellung, die die damalige Situation von Jüdinnen und Juden in eine gesamteuropäische Perspektive rückt. An einigen Orten entsteht neues jüdisches Leben, das in vielen Fällen jedoch nach 1948 wieder verschwindet. Alle Orte bleiben von der Vernichtung gezeichnet. Die Ausstellung thematisiert die Unterschiede zwischen den Orten und jüdischen Biografien. Sie richtet den Blick auch auf transnationale und übergreifende Zusammenhänge und betont den Versuch der Überlebenden und Zurückkehrenden, das Leben wieder selbst in die Hand nehmen zu wollen: In der Neufindung und -orientierung nach der brutalen Entmenschlichung, der Suche nach überlebenden Verwandten und der Gründung neuer Familien, in dem Kampf um lebenswichtige Unterstützung durch alliierte und jüdische Hilfsorganisationen, dem Aufzeichnen persönlicher Erinnerungen und der damit verbunden Dokumentation der nationalsozialistischen Verbrechen, in kulturellen und künstlerischen Tätigkeiten, der Neuinterpretation jüdischer
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Eleanor Roosevelt, Vorsitzende der UN-Menschenrechtskommission, vor dem Denkmal der Schoa-Opfer im DP-Camp Zeilsheim, umgeben von Leibwächtern und Überlebenden, 1946. Beit Hatfutsot, Tel Aviv, courtesy of Stephan Cohen
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David Ben-Gurion, Vorsitzender der Exekutive der Jewish Agency, hält während eines offiziellen Besuchs im DP-Lager Zeilsheim eine Rede auf einem öffentlichen Forum, 1946. United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C., courtesy of Alice Lev
VORWORT
Feiertagstraditionen und schließlich in den oft verzweifelten Versuchen, zerstörte Gemeinden wieder aufzubauen oder die Ausreise in ein außereuropäisches Land zu organisieren. Das Leben von Jüdinnen und Juden nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist nicht nur von den traumatischen Erfahrungen all dessen gezeichnet, was unmittelbar zuvor geschehen ist. Es birgt auch neuartige, in Teilen überraschende, in Teilen traumatische Momente: Jüdinnen und Juden, die die Schoa in den Konzentrations- oder Vernichtungslagern, im Versteck oder im Widerstand überlebt haben, treffen auf jüdische Soldatinnen und Soldaten in der Roten Armee, in der US Army und der British Army oder auf Zurückkehrende, die in die UdSSR geflüchtet waren und nach dem Krieg repatriiert werden. In Ost- und Mitteleuropa müssen sie die Erfahrung machen, dass ihre Besitztümer geraubt worden sind und ihre vormaligen Nachbarn ihnen feindlich begegnen. Der grassierende Judenhass in Osteuropa zwingt viele erneut zur Flucht – zumeist nach Westen in die Displaced Persons Camps der US-amerikanischen Zone. Vielen ist bewusst, dass sie sich damit in die Nähe einer Bevölkerung begeben, die sich zuvor den Werten des Nationalsozialismus verschrieben hatte. Der Titel der Ausstellung Unser Mut bringt den Willen zur Selbstbehauptung zum Ausdruck, den das Weiterleben nach der Schoa erforderte. Bereits das jiddische Partisanenlied Zog nit keyn mol aus dem Jahr 1943 kennt diesen Mut, indem es anführt: Und wo ein Tropfen von unserem Blut geflossen ist, Wird unser Heldentum sprießen, unser Mut. Unszer Mut heißt auch die erste Zeitung, die im Displaced Persons Camp Zeilsheim bei Frankfurt am Main erscheint. Die Zeitung informiert über die neuesten Entwicklungen in Europa und in der US-amerikanischen Zone. Aus einem Versprechen im Kampf gegen den übermächtigen Feind wird ein motivierender Aufruf an das Kollektiv, der fremden, feindlichen Umgebung zum Trotz sich mutig auf das eigene Leben zu konzentrieren. Unser Mut. Juden in Europa 1945‒48 ist die zweite Wechselausstellung nach der Wiedereröffnung des Jüdischen Museums Frankfurt im Jahr 2020. Die Ausstellung unterstreicht den programmatischen Ansatz des Museums, sowohl die europäischen Dimensionen der Frankfurter jüdischen Geschichte, wie auch jüdische Zeitgeschichte und Gegenwart in den Blick zu nehmen. Als dezidiert europäische Ausstellung wird Unser Mut nach der Präsentation in Frankfurt durch Europa wandern. Wir freuen uns, dass die Stiftung Flucht, Vertreibung und Versöhnung in Berlin die Ausstellung im Frühjahr 2022 übernehmen wird und die Aussicht besteht, dass sie auch im Joods Historisch Museum in Amsterdam und im POLIN – Museum für die Geschichte der Polnischen Juden in Warschau,
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zwei Museen, die dieses Projekt beratend und durch Leihgaben unterstützt haben, zu sehen sein könnte. Die Ausstellung basiert auf einem vierjährigen Forschungsprojekt, das das Jüdische Museum Frankfurt 2016 in Kooperation mit dem Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow begann. Unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Atina Grossmann von The Cooper Union, New York, wurden sowohl thematische Schwerpunktsetzungen erarbeitet, als auch wissenschaftliche Recherchen zur Situation an verschiedenen Orten in Europa, unter anderem in Polen, Ungarn, Deutschland, Italien, den Niederlanden, Schweden und Frankreich beauftragt und durchgeführt. Erste Ergebnisse dieses Forschungsprojekts und dessen Netzwerk wurden im Dezember 2017 bei der internationalen Konferenz Building from Ashes. Jews in Postwar Europe 1945‒1950 an der Goethe Universität Frankfurt präsentiert, die das Jüdische Museum Frankfurt in Kooperation mit dem Seminar für Judaistik der Goethe Universität, dem Fritz Bauer Institut und dem Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow veranstaltete. Viele der Vorträge, die auf dieser Konferenz von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Europa, den USA und Israel gehalten wurden, bildeten die Grundlage für die Essays dieser Publikation. Sie wurden um die Ergebnisse weiterer Forschungen ergänzt, die nun einen neuartigen Ein- und Überblick zur jüdischen Geschichte der unmittelbaren Nachkriegszeit in Europa geben. Die Ausstellung ist als langjähriger work in progress im Ineinanderwirken von musealen und wissenschaftlichen Perspektiven entstanden. Unser besonderer Dank gilt dabei vor allem Kata Bohus, die mit ihren Forschungen die Grundlagen für die Ausstellung erarbeitete, die wissenschaftlichen Fäden zusammenhielt und das kuratorische Konzept entwarf, unterstützt von dem Leiter des Ludwig Meidner Archivs und erfahrenen Ausstellungskurator Erik Riedel sowie dem wissenschaftlichen Volontär Moritz Bauerfeind. Ferner bedanken wir uns bei Atina Grossmann und Elisabeth Gallas für die wissenschaftliche Beratung des Projekts. Die Koordination der Ausstellungsproduktion hat Sabine Paukner übernommen, die Projektleitung hatte Werner Hanak inne. Die Formfindung gelang in kreativem Austausch mit den Berliner Ausstellungsgestaltern gewerkdesign, die auch dieses Buch gestaltet haben; hier danken wir insbesondere Jens Imig, Bianca Mohr, Birgit Schlegel und Franziska Schuh für ihren ideenreichen Gestaltungswillen. Sowohl die Ausstellung wie auch die europaweiten Forschungen konnten allein durch die großzügige finanzielle Unterstützung von mehreren Partnern realisiert werden. Forschung und kuratorische Arbeit wurden in gleichen Teilen von der Kulturstiftung des Bundes, Daimler und der Hannelore Krempa Stiftung gefördert – ihnen gilt unser großer Dank. Die Konferenz Building from Ashes. Jews in Postwar Europe 1945‒1950 förderte die European Association for Jewish
VORWORT
Studies. Die Hessische Kulturstiftung ermöglichte die Produktion der Ausstellung, weitere Recherchen wurden von der Stiftung Polytechnische Gesellschaft sowie der Gemeinnützigen Hertie Stiftung gefördert. Dafür danken wir sehr. Christiane und Nicolaus Weickart haben diesen Ausstellungskatalog auf großzügige Art und Weise gefördert – wir danken ihnen von Herzen. An dem Gelingen eines großen, zumal internationalen Projekts ist stets eine Vielzahl an Personen beteiligt. Zu ihnen gehören neben den Genannten auch Menschen, die den Projektbeteiligten in den verschiedenen Entwicklungsstadien tatkräftig zur Seite standen. Bedanken möchten wir uns in diesem Zusammenhang insbesondere bei Nick Somers für die englische Übersetzung der Ausstellung, bei Julia Brauch, die das Erscheinen dieser Publikation beim De Gruyter Verlag fachkundig begleitet hat, und bei Karin Lederer für das Lektorat. Besonders beglückt haben uns die Leihgeberinnen und Leihgeber, die uns ihre Objekte anvertrauten. Allen Genannten und ungenannten Menschen, die wir im Rahmen dieses Projekts kennen lernen und deren Geschichten wir erfahren durften, gilt unsere Hochachtung und unser tief empfundener Dank. Frankfurt am Main, den 15. Juni 2020 1
Das Lied schrieb der 1944 bei Wilna im Kampf gegen die Deutsche Wehrmacht gefallene 22-jährige Dichter und Partisan Hirsch Glick. Das jiddische Original der zitierten Zeilen lautet: Un vu gefaln s’iz a shprots fun undzer blut, Shprotsn vet dort undzer gvure undzer mut.
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EINLEITUNG ATINA GROSSMANN KATA BOHUS Die wenigen verbliebenen europäischen Juden verdankten die Tatsache, dass sie den Holocaust überlebt hatten, unterschiedlichsten Umständen. Dieser Katalog und die Ausstellung, in deren Zusammenhang er veröffentlicht wird, vermitteln einen Eindruck von den vielfältigen Formen, die die Erfahrung des Überlebens – an Orten von Amsterdam über Dachau bis Samarkand – annehmen konnte, und spiegeln die vielschichtige Geschichte der jüdischen Überlebenden im Europa der Nachkriegsjahre wider. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war Europa ein „wilder Kontinent“,1 der sich um die Bewältigung einer der tödlichsten Augenblicke der Menschheitsgeschichte bemühte.2 Mehr als 30 Millionen Menschen starben während des Zweiten Weltkriegs, mehr als sieben Millionen Menschen wurden von den Nazis verschleppt, überwiegend nach Deutschland.3 Die ersten Nachkriegsjahre waren eine Zeit der Ungewissheit, Knappheit, Gewalt und Armut. Doch bargen sie auch Möglichkeiten an der Schwelle vielfältiger Neuanfänge. Dass sie in vier Jahrzehnte der europäischen Teilung im Zeichen des sogenannten Kalten Kriegs münden würden, stand noch nicht fest. Wie die europäischen Juden die Nachkriegszeit erlebten, hing auch davon ab, was ihnen im Krieg widerfahren war. Manchen war es gelungen, in den von Deutschland kontrollierten Teilen Europas zu überleben, sei es in den Arbeits- oder Todeslagern, als „Arier“ getarnt, im Versteck oder bei den Partisanen. Andere hatten den Krieg unter verschiedenen politischen und persönlichen Umständen als Exilanten im Ausland und daher auf ganz andere Weise erlebt. Auch der Beginn der Nachkriegszeit stellte sich von Ort zu Ort ganz unterschiedlich dar. Während die Rote Armee die wenigen jüdischen Überlebenden in der polnischen Stadt Białystok und deren Umland bereits im Juli 1944 befreien konnte, wurde die Vernichtung der ungarischen Juden in Auschwitz noch bis Januar 1945 fortgesetzt. Zudem konnte die Befreiung unterschiedliche Konsequenzen zeitigen. Allzu oft war das Überleben durch die Befreiung allein noch nicht garantiert. Zehntausende starben bald darauf an Erschöpfung, Unterernährung und Krankheiten. Auch führte die Befreiung nicht unbedingt in die Freiheit. In vielen Fällen mussten diejenigen, die die Arbeits- und Todeslager überlebt hatten, weiterhin hinter dem Stacheldraht
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Demonstration im DP-Lager Poppendorf, nachdem jüdischen DPs, die nach Palästina wollten, die Einreise von den britischen Behörden verweigert wurde, 1947. Mémorial de la Shoah, Paris
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der Lager ausharren, nun allerdings unter der Obhut der Alliierten. Für andere Überlebende war mit der Befreiung eine freudlose Heimkehr verbunden. Sie fanden ihre Familien nicht mehr vor und waren mit der Gleichgültigkeit oder gar Feindseligkeit der örtlichen Bevölkerung konfrontiert.4 Für einen Großteil der Überlebenden begann mit dem Ende des Kriegs eine lange Zeit der Migration und Vertreibungen. Allerdings lebten im Europa der Nachkriegsjahre auch Juden, die weder die Erfahrung der Besatzung noch die des Exils teilten – etwa in Großbritannien, Schweden oder der Schweiz. Ebenso wie die Umstände des Überlebens und der Befreiung unterschieden sich auch die Vorstellungen davon, wie jüdisches Leben künftig aussehen und wiederaufgebaut werden sollte. Ein wichtiger Faktor einte allerdings die meisten europäischen Juden in diesen Jahren. Am ganzen Kontinent rangen Überlebende darum, ihre Handlungsfähigkeit zurückzuerlangen, ihr Schicksal selbst zu bestimmen und das künftige jüdische Leben und die Erinnerung an das Geschehene auf eine auf Dauer tragfähige Grundlage zu stellen. Sie knüpften wieder an Familiennetzwerke, sofern sie wenigstens in Teilen noch bestanden, an beziehungsweise etablierten neue. Sie schufen ihre eigenen politischen Organisationen, kulturellen Erzeugnisse, Wohlfahrtsnetzwerke und eine eigene Rechtsprechung. In etlichen Fällen initiierten sie auch Projekte, um die eben erfahrene Vernichtung zu dokumentieren und zu erinnern. Die in diesem Band versammelten Darstellungen des jüdischen Wiederaufbaus in sieben europäischen Städten (Amsterdam, Bari, Białystok, Budapest, Dzierżoniów, Frankfurt am Main und Ostberlin) vermitteln einen Eindruck von dessen Vielfalt, beleuchten aber auch wichtige europaweite Gemeinsamkeiten. Sie behandeln die verschiedenen Erfahrungen Überlebender in den betriebsamen DP-Lagern, in kleinen Städten, in denen sich nur eine Handvoll jüdischer Überlebender aufhielt, und im Rahmen verschiedener Aktivitäten zum vorübergehenden oder langfristigen (Wieder-)Aufbau jüdischer Gemeinden in Mittel- und Westeuropa. 5 Eine umfassende transnationale Geschichte der unmittelbaren Nachkriegsjahre lässt sich angesichts der Unsicherheit und Ungenauigkeit des uns vorliegenden statistischen Materials nur schwer schreiben. Wir wissen, dass die Zahl der europäischen Juden von 7,3 Millionen im Jahr 1933 auf 1,7 Millionen im Jahr 1946 sank.6 Wie viele der Überlebenden DPs waren und wie lange diese sich in den DP-Lagern aufhielten, ist dagegen unbekannt. Aus Furcht vor möglicher weiterer Verfolgung scheuten sie oft die Registrierung bei jüdischen Organisationen und Hilfsagenturen, die ihre Zahl vielleicht hätten ermitteln können. Zudem hat die Forschung sich erst vor wenigen Jahren dem weitläufigen Thema des jüdischen Überlebens in der Sowjetunion zugewandt,7 und gerade in Bezug auf dieses wichtige, aber noch immer weitgehend marginalisierte Kapitel sind die Statistiken besonders ungenau. 8 Es gibt
EINLEITUNG
praktisch keine Daten, die eine Bestimmung der Zahl der jüdischen Überlebenden, die von den massiven Vertreibungen und Bevölkerungstransfers der Nachkriegsjahre betroffen waren, ermöglichen würden.9 Schließlich kommt noch hinzu, dass die lange gehegte Überzeugung, die jüdischen Überlebenden hätten über die Erfahrungen während des Kriegs zunächst in der Regel geschwiegen, im Lauf des letzten Jahrzehnts zwar energisch infrage gestellt worden ist,10 die diesbezüglichen Nachforschungen mit Blick auf manche Teile Europas und insbesondere in Bezug auf die Sowjetunion aber kaum erst begonnen haben. Mit dieser Ausstellung und diesem Begleitband präsentieren wir jüngere Forschungsergebnisse zu den transnationalen Aspekten des jüdischen (Wieder-)Aufbaus im Europa der unmittelbaren Nachkriegsjahre in der Hoffnung, damit weitere Nachforschungen zu diesem Thema anstoßen zu können. Zwar gab es keinen genauen Augenblick, in dem der Krieg für die Überlebenden in ganz Europa zu Ende ging, doch lassen sich bestimmte Schlüsselereignisse ausmachen, die ihr weiteres Schicksal maßgeblich mitbestimmten. Präsident Roosevelt veranlasste, nachdem er beunruhigende Berichte vor allem amerikanisch-jüdischer GIs und Militärrabbiner über die erbärmlichen Bedingungen in den DP-Lagern erhalten hatte, eine Untersuchung, die sich insbesondere mit der Lage der jüdischen Überlebenden befasste. Der resultierende Harrison-Report vom 24. August 1945 übte scharfe Kritik an den Folgen des Vorgehens der Amerikaner mit Blick auf die DP-Lager in Deutschland und Österreich. Die vordringlichste Empfehlung lautete, die amerikanische Militärregierung solle die Juden als eigenständige Gruppe einstufen und getrennt von den DPs anderer Nationalität behandeln, die womöglich wenige Monate zuvor noch mit den Nazis kollaboriert und den Juden den Tod gewünscht hatten. Der Bericht erkannte neben der Tatsache, dass die Juden während des Kriegs mit einem Völkermord konfrontiert waren, auch deren zunehmende nationale Orientierung an. Dies sollte sich auf nachhaltige Weise auf die Zukunft der jüdischen DPs, die zionistische Bewegung und den Kampf um die Gründung eines neuen israelischen Staats auswirken. Der Harrison-Report, so wie später auch das Anglo-Amerikanische Untersuchungskomitee, empfahl die Vergabe von 100 000 Einreisezertifikaten für das britische Mandatsgebiet in Palästina an jüdische DPs. Infolge des Drucks amerikanisch-jüdischer Organisationen, des Harrison-Reports und der anhaltenden Beschränkung der Einwanderung in die Vereinigten Staaten und nach Palästina kam es zu einer nennenswerten Verbesserung der Lage der jüdischen DPs, die in der US-amerikanischen Besatzungszone festsaßen.11 Auf der Potsdamer Konferenz ratifizierten die siegreichen Alliierten unterdessen im August 1945 die neuen Grenzen Polens. Durch die Verschiebung dieser Grenzen fanden zahlreiche Polen, viele von ihnen Juden, sich nun im
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sowjetischen Hoheitsgebiet wieder. Diese wurden, ebenso wie die polnischen Juden, die im Innern der Sowjetunion überlebt hatten, nach Polen repatriiert, insbesondere ins ehemals deutsche Niederschlesien,12 das die polnische Regierung zu den „wiedergewonnenen Gebieten“ zählte. In diesem fremden Grenzgebiet errichteten jüdische Rückkehrer ein neues Zentrum jüdischen Lebens. Zuvor hatten dort zahlreiche deutsche Juden gelebt, die nun fast alle vertrieben oder ermordet worden waren. Polnische Juden, die dort nie zuvor gelebt hatten, deren Wohnungen und Familien in anderen Teilen Polens aber während des Kriegs zerstört worden waren, siedelten sich nun dort an. Gleichzeitig mit der wesentlich bekannteren jüdischen „Wiedergeburt“ in den DP-Lagern bildete die jüdische Nachkriegsbevölkerung im polnischen Niederschlesien somit ein weiteres wichtiges Zentrum für die jüdischen Überlebenden in Europa.13 Dank der Kapitel von Katharina Friedla und Kamil Kijek leistet dieser Band einen wichtigen Beitrag, indem er das Augenmerk auf dieses weitgehend unbekannte pulsierende, wenn auch vorübergehende Zentrum jüdischen Lebens im Polen der unmittelbaren Nachkriegsjahre lenkt. In den „wiedergewonnenen Gebieten“ waren die jüdischen Überlebenden sicherer als in anderen Teilen Polens. Infolge der Vertreibung der deutschen Minderheit gab es weniger Konkurrenz um die Ressourcen und Wohnungen, was die Spannungen zwischen Juden und Nichtjuden verringerte. In anderen Teilen Polens waren Juden auf verschiedenerlei Weise mit Gewalt konfrontiert. In Rzeszów, Lublin, Radom, Częchowa und Kraków fanden im Sommer 1945 Pogrome statt.14 Joanna-Tokarska Bakir weist darauf hin, dass eine besonders verheerende Vermischung traditioneller antisemitischer Überzeugungen (der Ritualmordbeschuldigung etwa), rassistischer Versatzstücke der nationalsozialistischen Ideologie, weit verbreiteter Ressentiments angesichts der Bestrebungen der Überlebenden, ihr Eigentum zurückzuerlangen, und politischer Maßnahmen der Sowjets, die das Land befreit hatten, zu diesen antijüdischen Ausschreitungen führte, die im Juli 1946 in dem Pogrom von Kielce ihren Höhepunkt fanden. In dessen Verlauf wurden 42 Juden getötet und unzählige weitere verletzt.15 Die Ereignisse in Kielce veranlassten viele der jüdischen Überlebenden zur Auswanderung. Sie strömten nun nach Deutschland und in die DP-Lager in der amerikanischen Besatzungszone.16 Dies führte dazu, dass Bayern, nicht zuletzt dank seiner drei ausschließlich mit Juden belegten DP-Lager Feldafing, Föhrenwald und Landsberg zum zweiten europäischen Zentrum für jüdische Überlebende wurde.17 Die rapide zunehmende Zahl jüdischer DPs in diesen Lagern stärkte das Anliegen jener, die die Schaffung eines jüdischen Staats für die geeignetste Lösung des DP-Problems hielten. Als die Vereinten Nationen am 29. November 1947 für die Teilung Palästinas stimmten, und am 14. Mai 1948 die Gründung des Staats Israel bekanntgegeben wurde, begrüßten Juden in ganz
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Jüdische Rückkehrer aus der Sowjetunion in Wrocław, 1946. Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau
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Europa die Nachrichten mit großer Begeisterung. Viele machten sich auf den Weg dorthin, oder begannen, ihre Ausreise in den neuen jüdischen Staat vorzubereiten. Schätzungsweise zwei Drittel der jüdischen DPs zogen schließlich nach Israel.18 Sie machten gut 70 Prozent der 244 000 Einwanderer aus, die dort in den Jahren 1948/49 eintrafen.19 Wie Avinoam Patt in seinem Beitrag erklärt, war die Begeisterung jüdischer DPs für den Zionismus nicht unbedingt ideologisch motiviert. Nicht alle, die sie teilten, wollten tatsächlich selbst nach Palästina beziehungsweise Israel auswandern. In den DP-Lagern, wie auch in anderen Teilen Europas, entsprach der Zionismus vielmehr einem symbolischen und emotionalen Bedürfnis nach einer positiven Vision für die Zukunft des jüdischen Volks. Zudem bot er dringend benötigte praktische Lösungen für zahlreiche Alltagsprobleme. Gerade unausgebildeten jungen Überlebenden, denen es an Angehörigen und Beziehungen mangelte, bot die zionistische Gruppendynamik einen willkommenen Halt. Anders als ihre britischen Kollegen waren die amerikanischen Funktionäre bereit, den zionistischen Traum zumindest bis zu einem gewissen Grad zu fördern, weil er eine realistische und überzeugende Alternative zur Ausreise in die USA bot. Obwohl viele Überlebende weiterhin in die Vereinigten Staaten übersiedeln wollten, entwickelte der Zionismus sich daher unter den Juden im Europa der unmittelbaren Nachkriegsjahre zur stärksten politischen und ideologischen Strömung. Doch kam die Auswanderung, ob nach Israel oder anderswohin, nicht für alle in Frage. Manche waren zu krank, anderen meinten, sie seien zu alt, um noch einmal von vorne zu beginnen. Einige hatten kleine Unternehmen gegründet oder sich mit nichtjüdischen Partnern niedergelassen. Manche wollten zunächst etwas Geld sparen oder ihre Berufsausbildung abschließen. Doch waren dies nicht die einzigen Schwierigkeiten. Manche der besonders begehrten Einwanderungsländer, so etwa die Vereinigten Staaten, Australien und Kanada, sträubten sich nach dem Krieg zunächst, Überlebende einreisen zu lassen. In dem Maße, in dem die Kommunisten ihre Macht im sowjetisch dominierten Osteuropa konsolidierten, wurde die Ausreise aus den betreffenden Ländern schwieriger. Nach der Errichtung des Eisernen Vorhangs und dem Beginn des Kalten Kriegs Ende der 1940er Jahre wurde sie praktisch unmöglich. So gingen jüdische Überlebende, die, ob freiwillig oder unfreiwillig, in Europa verblieben, in den Jahren zwischen Kriegsende und dem Ende der 1940er Jahre daran, sich eine neue Lebensgrundlage zu schaffen. Die enorme Unterstützung der Juden weltweit, die ihnen durch jüdische Hilfsorganisationen und insbesondere durch das American Jewish Joint Distribution Committee ( JDC) zugeleitet wurde, half ihnen dabei. Laura Hobson Faure zufolge waren es letztlich die knapp 200 Millionen US-$, die jüdische Amerikaner in der Zeit von 1945 bis 1948 mithilfe des JDC nach Europa schickten, die die Wie-
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Earl G. Harrison (rechts) mit Dr. Joseph Schwartz, dem Direktor der Overseas Operations des JDC, 1945. Harrison kam im Sommer 1945 nach Deutschland, um die Verhältnisse in den von den USA verwalteten Vertriebenenlagern zu untersuchen. JDC Archives, New York City
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Die zionistische Jugend in Budapest feiert die Ausrufung des Staates Israel, 1948. Magyar Zsidó Múzeum és Levéltár, Budapest
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Feierliche Versammlung der Niederländischen Zionistischen Union nach der Ausrufung des Staates Israel im Concertgebouw in Amsterdam, 1948. Foto: Boris Kowadlo, Nederlands Fotomuseum, Rotterdam
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dergeburt des dortigen jüdischen Lebens ermöglichten.20 Das JDC stellte dringend benötigte Nothilfen für schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen bereit, half aber auch bei der Errichtung langfristiger jüdischer Gemeindestrukturen. Doch bei aller ausländischer Unterstützung stellte der Neubeginn noch immer eine gewaltige Herausforderung für die Überlebenden dar und umfasste zahlreiche persönliche und politische Dimensionen. Am bekanntesten dürfte die enorme Zahl der Eheschließungen und Geburten in der jüdischen DP-Bevölkerung sein.21 Doch entfalteten die Juden Europas zur „Rückgewinnung der Zukunft“ auch zahlreiche andere Aktivitäten. Sie verlangten beispielsweise, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen würden, und sprachen über Ihresgleichen Recht. Sie schufen neue Rituale, retteten alte Urkunden und dokumentierten den Völkermord, um sicherzustellen, dass ihre Geschichte nicht von den Tätern, sondern von Juden geschrieben würde. Natalia Aleksiun stellt in ihrem Beitrag über die Zeugenaussagen von Holocaustüberlebenden in Osteuropa dar, wie deren Aussagen sich unterschieden, je nachdem, ob sie in jüdischen oder nichtjüdischen Zusammenhängen gemacht wurden. Die Überlebenden in Polen bemühten sich, ihr jeweiliges Publikum, ob polnisch, sowjetisch oder jüdisch, einzuschätzen, um zu ermitteln, wie sie am ehesten gewährleisten könnten, dass ihre Darstellungen dazu beitragen würden, die Erinnerung an das Verbrechen wachzuhalten, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und die Erfassung der Geschichte des Völkermords zu fördern. In den DP-Lagern schufen jüdische Überlebende unterdessen hunderte sogenannte Ehrengerichte, die sich mit möglichen Kollaborateuren (oftmals handelte es sich um ehemalige Angehörige der Judenräte, der Ghettopolizei oder Informanten) in den eigenen Reihen befassten.22 Wie Katarzyna Person zeigt, errichteten die jüdischen Überlebenden diese Ehrengerichte, um zu verhindern, dass Nichtjuden ihnen ihre Interpretation der erfahrenen Verfolgung aufzwingen. Die Entschlossenheit der jüdischen Überlebenden, sich – sei es in den DP-Lagern Westeuropas oder den Gerichtssälen im von den Sowjets kontrollierten Polen – mit der Schuld, die Juden während des Kriegs auf sich geladen hatten, aktiv auseinanderzusetzen, stellte eine entscheidende (wenn auch belastende und schmerzliche) Möglichkeit dar, die eigene Handlungsfähigkeit zurückzuerlangen. Diese Form der Selbstbestimmung war in den unmittelbaren Nachkriegsjahren ein wichtiger Faktor, wurde aber später in der Geschichtsschreibung und den Memoiren selten erwähnt. Eng verbunden mit dem Bedürfnis, sich möglichen Verfehlungen während des Kriegs zu stellen, war der Versuch, das Ausmaß der Katastrophe zu begreifen. Ein 1948 geschriebenes Gedicht von Shloyme Vorzogers zeugt von diesem Ringen:
EINLEITUNG
Zu früh – um zu vergessen Zu tief – um zu verheilen Es fehlt die Sprache – um zu erzählen Es fehlt das Maß – um zu messen Es fehlt – ein Name …23 Die charakteristische Ikonografie des Churban ( Jiddish für „Zerstörung“; die Begriffe „Holocaust“ und „Schoa“ kamen erst Jahrzehnte später in Umlauf), die die in diesem Band präsentierten Werke charakterisiert, entwickelten jüdische Überlebende in den unmittelbaren Nachkriegsjahren. Es mögen ihnen die angemessenen Worte gefehlt haben, doch äußerten die Überlebenden sich gleichwohl. Tamar Lewinsky schildert, wie die Erfahrungen des Kriegs mit kulturellen Mitteln verarbeitet wurden. Gedichte und Prosa in Jiddisch wurden in den mehr als 100 in den DP-Lagern publizierten Zeitschriften und später in gut 30 Büchern veröffentlicht. Die Texte befassten sich mit allen Aspekten des jüdischen Lebens in Osteuropa von der Zwischenkriegs- bis in die Nachkriegszeit und deckten ein weites geografisches Gebiet ab. In den DP-Lagern traten Theatergruppen und Orchester, darunter das in diesem Band besprochene Katset-Theater in Bergen-Belsen, in gestreiften Uniformen auf und trugen Szenen aus den Ghettos und Lagern vor. Philipp Grafs Beitrag zeigt, dass derlei Aktivitäten nicht auf die DPs begrenzt waren. Nach der Gründung der DDR wurde das jüdische Leiden im Rahmen des kommunistisch-antifaschistischen Narrativs zwar marginalisiert. Doch in der Zeit vom Kriegsende bis zur Staatsgründung bemühten jüdische Überlebende inner- und außerhalb der Kommunistischen Partei sich um die rechtliche, politische und intellektuelle Interpretation dessen, was sie für die spezifische Erfahrung der Juden während des Zweiten Weltkriegs hielten. Der Erinnerung an die Verwüstungen des Kriegs diente auch der Umgang mit Gegenständen, insbesondere solchen, die nun keine Eigentümer mehr hatten. Unterschiedliche Bestrebungen zur Rettung dessen, was vom europäisch-jüdischen Kulturerbe übrig geblieben war, spiegelten die verschiedenen Visionen der an ihnen Beteiligten mit Blick auf die Zukunft der Juden in Europa wider. Umstritten war dabei insbesondere, ob das Schwergewicht auf die Schaffung einer neuen jüdischen Heimstätte oder neuer, wichtiger werdender Diasporagemeinden vor allem in den Vereinigten Staaten gelegt werden solle. Elisabeth Gallas schildert die Rettung jüdischer Bücher nach dem Krieg und konzentriert sich dabei auf die parallele Geschichte zweier Bücherdepots, eines im deutschen Offenbach, das andere im tschechoslowakischen Prag. Beim Transfer der meisten in Offenbach befindlichen Bücher, die von den Nazis aus jüdischen Bibliotheken und Gemeinden in ganz Europa zusammengeraubt worden waren, in die Vereinigten Staaten und nach Israel spielte
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die American Jewish Cultural Reconstruction, Inc. ( JCR) eine entscheidende Rolle. Angesichts der drastisch reduzierten Zahl der europäischen Juden gingen die Vertreter der JCR ebenso wie die Gesandten aus dem Jischuw davon aus, dass die wertvollen Güter dauerhaft nur gesichert werden könnten, indem man sie den jüdischen Gemeinden und Organisationen in den USA oder dem frisch gegründeten Israel zukommen ließ. Dagegen sah das Jüdische Museum in Budapest seine Aufgabe nach dem Krieg darin, das verbliebene Kulturerbe der ungarischen Juden zu sammeln und im Land zu bewahren, um so die Erinnerung an die zerstörten Gemeinden aufrechtzuerhalten. Unter anderem stellten sie den in diesem Band vorgestellten Pinkas (das Protokollbuch) der jüdischen Gemeinde der Stadt Kaba sicher. Diese verschiedenen Ansätze zur Rettung des europäisch-jüdischen Kulturerbes spiegelten die schwierigen grundlegenden Fragen wider, denen die Juden in Europa sich nach dem Krieg gegenübersahen. Würde die jüdische Kultur ihren Mittelpunkt nach dem Krieg in den Vereinigten Staaten, in Israel oder in Europa finden? Würde es wiederaufgebaut, sollte das Leben der jüdischen Bevölkerung in Europa sich am amerikanischen Modell oder an den institutionellen Strukturen des europäischen Vorkriegsjudentums orientieren oder ganz andere Wege bestreiten? Sollte das gesamte Judentum als geschlossene nichtterritoriale Größe betrachtet werden, die sich schließlich in einem jüdischen Nationalstaat einfinden werde, oder die jüdische Bevölkerung jeder Nation als eigenständige Einheit gelten? Der abschließende Text von Lena Inowlocki verweist auf ein ganz spezifisches Dilemma: Wie konnte und sollte man die religiösen Traditionen des Judentums in der Nachkriegszeit modifizieren? In ihrer Diskussion bezieht sie sich auf mehrere Generationen von Frauen in Familien ehemaliger jüdischer DPs und zeigt, wie sich bei einer Minderheit dieser Familien in den 1990er Jahren eine neue Art der Orthodoxie herausbildete, die der Rückgewinnung verlorener Familien, Gemeinden und Traditionen dient. Zugleich hat die Globalisierung jüdische Gemeinden aber auch multikultureller werden lassen. Diese parallel verlaufenden, aber gegensätzlichen Prozesse haben in manchen Fällen selbst in jenen Teilen Europas, in denen die Juden unmittelbar nach dem Krieg kaum eine Zukunft zu haben schienen, eine überraschend lebendige jüdische Präsenz hervorgebracht. Uns geht es mit diesem Band um die Diskussion und Verknüpfung von Fragestellungen, die bislang nur selten in einem gesamteuropäischen Rahmen diskutiert worden sind. Doch gibt es auch Themen, die wir nicht abdecken konnten. Die sozialgeschichtliche und genderspezifische Aufarbeitung der jüdischen Geschichte unmittelbar nach dem Krieg steht noch aus. Dabei ginge es beispielsweise um die Rolle von Frauen bei der Bildung und Wiederzusammenführung von Familien, beim Schreiben von Memoiren und im Rahmen
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der Hilfsprogramme. Eine umfassende Geschichte aller Juden im Europa der unmittelbaren Nachkriegsjahre konnten wir schwerlich liefern und wir sind uns vollauf dessen bewusst, dass wir wichtige Zentren des jüdischen Wiederaufbaus – London etwa oder Paris – nicht behandelt haben. Dennoch hoffen wir, dass es uns gelungen ist, zu einem Zeitpunkt, da die Zukunft des europäischen Judentums erneut zum Gegenstand intensiver Sorge und Diskussionen geworden ist, die Aufmerksamkeit aus gesamteuropäischer Perspektive auf eine Weise auf relevante Themen zu lenken, die mit Blick auf dieses Durchgangsstadium zwischen Vernichtung und Kaltem Krieg weitere Forschungsvorhaben und Ausstellungen anregen kann. 1
Lowe, Keith: Der wilde Kontinent: Europa in den Jahren der Anarchie 1943 − 1950. Stuttgart: Klett-Cotta, 2016. 2 Judt, Tony: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. München: Hanser, 2006. 3 Judt: Geschichte Europas, 32. 4 Bankier, David (Hrsg.): The Jews are Coming Back. The Return of the Jews to Their Countries of Origin after WWII. Jerusalem: Yad Vashem, 2005. 5 Museen haben sich mit dieser Geschichte erst in begrenztem Umfang befasst und sich dabei in erster Linie auf die Erfahrung der DPs konzentriert. In Deutschland hat es mehrere Wechselausstellungen gegeben, die sich schwerpunktmäßig auf die DP-Lager bezogen, so beispielsweise 2011/12 im Jüdischen Museum München (Juden 45/90. Von Da und Dort – Überlebende aus Osteuropa), 2015 im Jüdischen Museum Berlin (Im fremden Land/In a Foreign Country) und 2014/15 in der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main („Wohin sollten wir nach der Befreiung?“ Zwischenstationen: Displaced Persons nach 1945). Andere Ausstellungen haben sich mit bestimmten Orten befasst. Das Jüdische Historische Museum in Amsterdam stellte 2015/16 Fotos aus, die Leonard Freed nach dem Krieg von der dortigen jüdischen Bevölkerung machte. Zuletzt befasste sich eine Ausstellung des Mémorial de la Shoah in Paris vor allem mit den Erfahrungen der Überlebenden in Frankreich, Polen und Deutschland (After the Holocaust/Après la Shoah). 6 Statistics of Jews. American Jewish Year Book 48 (1946/47), 606. Nicht berücksichtigt sind hier die Juden in der Sowjetunion. 7 Siehe Adler, Eliyana R.: Hrubieszów at the Crossroads: Polish Jews Navigate the German and Soviet Occupations. Holocaust and Genocide Studies 28.1 (2014), 1 − 30; Edele, Mark; Fitzpatrick, Sheila; Grossmann, Atina (Hrsg.): Shelter from the Holocaust. Rethinking Jewish Survival in the Soviet Union. Detroit: Wayne State University Press, 2017; Adler, Eliyana R.; Aleksiun, Natalia: Seeking Relative Safety. The Flight of Polish Jews to the East in the Autumn of 1939. Yad Vashem Studies 46 (2018), 41 − 71; Nesselrodt, Markus: Dem Holocaust entkommen: Polnische Juden in der Sowjetunion 1939 − 1946. Berlin: De Gruyter, 2019. 8 Nach dem Einmarsch Deutschlands und der Sowjetunion in Polen im September 1939 flüchteten mindestens 150 000 und womöglich bis zu 300 000 Juden aus den von Deutschland besetzten Landesteilen in den von den Sowjets kontrollierten Teil Polens. Wie viele Juden „freiwillig“ flohen oder von den Sowjetbehörden als unzuverlässige Ausländer deportiert wurden beziehungsweise sich der allgemeinen Evakuierung der Sowjetbürger anschlossen, ist nicht bekannt. Jüngsten Forschungsergebnissen zufolge überlebten etwa 230 000 Juden aus Polen in der Sowjetunion, erst in stalinistischen Sondersiedlungen und dann, nachdem sie 1941 aufgrund einer „Amnestie“ aus den brutalen Arbeitslagern entlassen wurden, oftmals in Zentralasien. Angaben zu wichtigen relevanten Quellen auf Polnisch, Hebräisch, Deutsch und Englisch finden sich in Żbikowski, Andrzej (Hrsg.): Archiwum Ringelbluma. Konspiracyjne Archiwum Getta Warszawy Bd. 3: Relacje z Kresów. Warschau: Żydowski Instytut Historyczny, 2000, 13. Siehe außerdem
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Adler und Aleksiun: Seeking Relative Safety; Edele, Mark; Warlik, Wanda: Saved by Stalin? Trajectories and Numbers of Polish Jews in the Soviet Second World War. Edele, Mark; Fitzpatrick, Sheila; Grossmann, Atina (Hrsg.): Shelter from the Holocaust. Rethinking Jewish Survival in the Soviet Union. Detroit: Wayne State University Press, 2017, 95 − 131. 9 Zahra, Tara: The Great Departure: Mass Migration from Eastern Europe and the Making of the Free World. New York: Norton, 2016; Capkova, Katerina: Between Explusion and Rescue: The Transports for German-speaking Jews of Czechoslovakia in 1946. Holocaust and Genocide Studies 32.1 (2018), 66 − 92. 10 Jockusch, Laura: Collect and Record! Jewish Holocaust Documentation in Early Postwar Europe. Oxford: Oxford University Press, 2012. Historiker erforschen noch, wie viele Menschen von dem Bevölkerungstransfer zwischen der Sowjetunion und Polen nach dem Krieg betroffen waren, und es liegen gegenwärtig nur ungenaue Zahlen vor. Jüngsten Schätzungen zufolge kehrten in der Zeit von 1944/45 bis 1947 insgesamt etwa 175 000 polnische Juden nach Polen zurück, sei es mit der Berling-Armee, auf eigene Initiative oder im Rahmen der offiziellen Repatriierungsmaßnahmen. Diese Zahl stieg bis 1949 auf ungefähr 200 000 bis 230 000 an. Siehe Dobroszycki, Lucjan: Survivors of the Holocaust in Poland. A Portrait Based on Jewish Community Records, 1944 − 1947. London: Routledge, 2015; Nesselrodt: Dem Holocaust entkommen, 323; Edele and Warlik: Saved by Stalin, 121. 11 Königseder Angelika; Wetzel, Juliane: Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland. Frankfurt a. M.: Fischer, 1994. 12 Kijek, Kamil: Aliens in the Land of the Piasts: The Polonization of Lower Silesia and Its Jewish Community in the Years 1945 − 1950. Grill, Tobias (Hrsg.): Jews and Germans in Eastern Europe. Shared and Comparative Histories. Berlin: De Gruyter, 2018, 234 − 255; Szaynok, Bożena: The Beginnings of Jewish Settlement in Lower Silesia after World War II (May 1945 − January 1946). Acta Poloniae Historica 76 (1997), 171 − 195. 13 Rosensaft, Menachem Z. (Hrsg.): Life Reborn: Jewish Displaced Persons, 1945 − 1951: Conference Proceedings, Washington D.C. January 14 − 17, 2000. Washington, D.C.: United States Holocaust Memorial Museum, 2001. 14 Tokarska-Bakir, Joanna: Cries of the Mob in the Pogroms of Rzeszów (June 1945), Cracow (August 1945), and Kielce (July 1946) as a Source for the State of Mind of the Participants. East European Politics and Societies 25.3 (2011), 553 − 574; Engelking, Barbara: Unbequeme Wahrheiten. Polen und sein Verhältnis zu den Juden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2009; Gross, Jan T.: Fear. Anti-Semitism in Poland after Auschwitz. Princeton: Princeton University Press, 2007. 15 Eine detaillierte Schilderung des Pogroms in Kielce bietet: Tokarska-Bakir, Joanna: Pod klątwą. Społeczny portret pogromu kieleckiego. Warschau: Czarna Owca, 2018, 2 Bde. 16 Schätzungsweise 150 000 Juden flüchteten aus Polen. Siehe Wróbel, Piotr: Double Memory. Poles and Jews after the Holocaust. East European Politics and Societies 11.3 (1997), 560 − 574. 17 Jüngsten Schätzungen zufolge gab es in den alliierten Besatzungszonen in Deutschland, Österreich und Italien zwischen 1945 und 1948 ungefähr 300 000 DPs. Siehe Grossmann, Atina: Juden, Deutsche, Alliierte. Begegnungen im besetzen Deutschland. Göttingen: Wallstein, 2012, 217; Mankowitz, Ze’ev W.: Life between Memory and Hope. The Survivors of the Holocaust in Occupied Germany. Cambridge: Cambridge University Press, 2002, 2. 18 Cohen, Sharon Kangisser: Choosing a Heim: Survivors of the Holocaust and Post-War Immigration. European Judaism 46.2 (2013), 33. 19 Yablonka, Hanna: Survivors of the Holocaust: Israel after the War. New York: New York University Press, 1999, 9. 20 Bauer, Yehuda: Out of the Ashes. The Impact of American Jews on Post-Holocaust European Jewry. Oxford: Pergamon Press, 1989, xviii. 21 Siehe Grossmann: Juden, Deutsche, Alliierte, Kapitel 5. 22 Jockusch, Laura; Finder, Gabriel N. (Hrsg.): Jewish Honor Courts: Revenge, Retribution,
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Junge Mütter spazieren mit ihren Babys im DP-Lager Landsberg, um 1948. United States Holocaust Memorial Museum, Washington, D.C., courtesy of Dorit Mandelbaum
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and Reconciliation in Europe and Israel after the Holocaust. Detroit: Wayne State University Press, 2015. 23 Vorzoger, Shloyme: Zayn. München: Nayvelt, 1948, 35. Übersetzung in Lewinsky, Tamar (Hrsg.): Unterbrochenes Gedicht. Jiddische Literatur in Deutschland 1944 − 1950. München: Oldenbourg, 2011, 11. Literatur Adler, Eliyana R.: Hrubieszów at the Crossroads: Polish Jews Navigate the German and Soviet Occupations. Holocaust and Genocide Studies 28.1 (2014), 1 − 30. / Adler, Eliyana R.; Aleksiun, Natalia: Seeking Relative Safety. The Flight of Polish Jews to the East in the Autumn of 1939. Yad Vashem Studies 46 (2018), 41 − 71. / Bankier, David (Hrsg.): The Jews are Coming Back. The Return of the Jews to Their Countries of Origin after WWII. Jerusalem: Yad Vashem, 2005. / Bauer, Yehuda: Out of the Ashes. The Impact of American Jews on Post-Holocaust European Jewry. Oxford: Pergamon Press, 1989. / Capkova, Katerina: Between Expulsion and Rescue: The Transports for German-speaking Jews of Czechoslovakia in 1946. Holocaust and Genocide Studies 32.1 (2018), 66 − 92. / Cohen, Sharon Kangisser: Choosing a Heim: Survivors of the Holocaust and Post-War Immigration. European Judaism 46.2 (2013), 32 − 5 4. / Dobroszycki, Lucjan: Survivors of the Holocaust in Poland. A Portrait Based on Jewish Community Records, 1944 − 1947. London: Routledge, 2015. / Edele, Mark; Fitzpatrick, Sheila; Grossmann, Atina (Hrsg.): Shelter from the Holocaust. Rethinking Jewish Survival in the Soviet Union. Detroit: Wayne State University Press, 2017. / Edele, Mark; Warlik, Wanda: Saved by Stalin? Trajectories and Numbers of Polish Jews in the Soviet Second World War. Edele, Mark; Fitzpatrick, Sheila; Grossmann, Atina (Hrsg.): Shelter from the Holocaust. Rethinking Jewish Survival in the Soviet Union. Detroit: Wayne State University Press, 2017, 95 − 131. / Engelking, Barbara: Unbequeme Wahrheiten. Polen und sein Verhältnis zu den Juden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2009. / Gross, Jan T.: Fear. Anti-Semitism in Poland after Auschwitz. Princeton: Princeton University Press, 2007. / Grossmann, Atina: Juden, Deutsche, Alliierte. Begegnungen im besetzen Deutschland. Göttingen: Wallstein, 2012. / Jockusch, Laura: Collect and Record! Jewish Holocaust Documentation in Early Postwar Europe. Oxford: Oxford University Press, 2012. / Jockusch, Laura; Finder, Gabriel N. (Hrsg.): Jewish Honor Courts: Revenge, Retribution, and Reconciliation in Europe and Israel after the Holocaust. Detroit: Wayne State University Press, 2015. / Judt, Tony: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. München: Hanser, 2006. / Kijek, Kamil: Aliens in the Land of the Piasts: The Polonization of Lower Silesia and Its Jewish Community in the Years 1945 − 1950. Grill, Tobias (Hrsg.): Jews and Germans in Eastern Europe. Shared and Comparative Histories. Berlin: De Gruyter, 2018, 234 − 255. / Königseder Angelika; Wetzel, Juliane: Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland. Frankfurt a. M.: Fischer, 1994. / Lewinsky, Tamar (Hrsg.): Unterbrochenes Gedicht. Jiddische Literatur in Deutschland 1944 − 1950. München: Oldenbourg, 2011. / Lowe, Keith: Der wilde Kontinent: Europa in den Jahren der Anarchie 1943 − 1950. Stuttgart: Klett-Cotta, 2016. / Mankowitz, Ze’ev W.: Life between Memory and Hope. The Survivors of the Holocaust in Occupied Germany. Cambridge: Cambridge University Press, 2002. / Nesselrodt, Markus: Dem Holocaust Entkommen: Polnische Juden in der Sowjetunion 1939 − 1946. Berlin: De Gruyter, 2019. / Rosensaft, Menachem Z. (Hrsg.): Life Reborn: Jewish Displaced Persons, 1945 − 1951: Conference Proceedings, Washington D.C. January 14 − 17, 2000. Washington, D.C.: United States Holocaust Memorial Museum, 2001. / Statistics of Jews. American Jewish Year Book 48 (1946/47), 599 − 618. / Szaynok, Bożena: The Beginnings of Jewish Settlement in Lower Silesia after World War II (May 1945 − January 1946). Acta Poloniae Historica 76 (1997), 171 − 195. / Tokarska-Bakir, Joanna: Cries of the Mob in the Pogroms of Rzeszów (June 1945), Cracow (August 1945), and Kielce (July 1946) as a Source for the State of Mind of the Participants. East European Politics and Societies 25.3 (2011), 553 − 574. / Tokarska-Bakir, Joanna: Pod klątwą. Społeczny portret pogromu kieleckiego. Warschau: Czarna Owca, 2018, 2 Bde. / Vorzoger, Shloyme: Zayn. München:
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Nayvelt, 1948. / Wróbel, Piotr: Double Memory. Poles and Jews after the Holocaust. East European Politics and Societies 11.3 (1997), 560 − 574. / Yablonka, Hanna: Survivors of the Holocaust: Israel after the War. New York: New York University Press, 1999. / Zahra, Tara: The Great Departure: Mass Migration from Eastern Europe and the Making of the Free World. New York: Norton, 2016. / Żbikowski, Andrzej (Hrsg.): Archiwum Ringelbluma. Konspiracyjne Archiwum Getta Warszawy Bd. 3: Relacje z Kresów. Warschau: Żydowski Instytut Historyczny, 2000.
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ZEUGENAUSSAGEN OSTEUROPÄISCHER HOLOCAUSTÜBERLEBENDER IN DER UNMITTELBAREN NACHKRIEGSZEIT NATALIA ALEKSIUN Im Januar 1946 sagte der Historiker und Holocaust-Überlebende Philip Friedman (1901–1960) vor einer mit dem „Großen Patriotischen Krieg“ befassten Kommission der Akademie der Wissenschaften der Ukrainischen Sowjetrepublik über die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung der Stadt Lwów (dt. Lemberg, heute das ukrainische Lwiw) aus.1 Über die unmittelbar nach dem Einmarsch der deutschen Truppen einsetzenden Pogrome berichtete Friedman Folgendes: Die Beseitigung der Juden der Stadt Lwiw begann am Tag des deutschen Einmarschs, also am 30. Juni 1941. Zunächst gingen die Deutschen diese Beseitigung auf provokante Weise an. Sie nutzten den Rückzug der Sowjetischen Armee aus und führten einen Teil der jüdischen Bevölkerung in die Gefängnisse und erschossen sie dort. Die Erschießungen wurden von Folterungen begleitet, sodass die Opfer nicht identifiziert werden konnten. Zugleich verfolgten sie noch ein weiteres Ziel: Diese Morde als „Gräueltaten“ des NKWD [des Volkskommissariats des Inneren] darzustellen, der vor dem Rückzug aus Lwiw die politischen Gefangenen erschossen habe. Um die Leichen (bei denen es sich in Wirklichkeit um die von den Deutschen getöteten Juden handelte) zu beseitigen, begannen die Deutschen, Juden in ihren Wohnungen und auf der Straße festzunehmen, um sie die Leichen wegräumen zu lassen. Diejenigen, die überlebten, erklärten später allerdings, sie hätten gar keine Leichen beseitigt, unter den eben Ermordeten aber zahlreiche Juden aus der Stadt erkannt.2 In seiner Zeugenaussage verschleierte Friedman also die vom NKWD kurz vor dem deutschen Einmarsch in den Gefängnissen verübten Morde.3 Stattdessen arbeitete er sie nahtlos in seine Schilderung der ersten Welle antijüdischer Ge-
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Sitzung der Zentralen Jüdischen Geschichtskommission in Łódź. Philip Friedman sitzt (mit geschlossenen Augen) am Kopf des Tisches, 1946. Emanuel Ringelblum, Jewish Historical Institute, Warschau
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walt in seiner Stadt am 3. und 4. Juli 1941 ein. Damit nicht genug, verwies er zwar auf den Tod mehrerer prominenter Juden, erwähnte die Beteiligung der örtlichen Bevölkerung an der öffentlichen Demütigung und Vergewaltigung, der Folterung und den Morden aber mit keinem Wort. In seiner Darstellung scheint der Pogrom ausschließlich von den Deutschen geplant und ausgeführt worden zu sein.4 Auch im Zusammenhang mit den sogenannten Petliura-Tagen, der zweiten Welle antijüdischer Gewalt in Lwów vom 25. bis 27. Juli 1941, erklärte er das Verhalten der Ukrainer damit, dass die Deutschen sie zur Durchführung des Pogroms ermutigt hätten: „Die Deutschen erlaubten der ukrainischen Polizei, an einer bestimmten Anzahl Juden ihrer Wahl nach eigenem Gutdünken Vergeltung zu üben.“5 Auf den unmittelbaren Anlass dieser „Vergeltung“ – die angeblich von jüdischen Bolschewiki in den Gefängnissen Lwóws verübten Gräueltaten – und deren Hintergrund in der politischen Gemengelage der Zwischenkriegsjahre ging Friedman nicht ein.6 Dagegen betonte er, es sei „bezeichnend, dass die Zivilbevölkerung Lwiws an den Misshandlungen der Juden keinerlei Anteil hatte, und der Versuch der Deutschen, die Ukrainer und Polen gegen die Juden aufzuhetzen, scheiterte.“7 Bei diesem Auftritt vor einem offiziellen Gremium der Ukrainischen Sowjetrepublik zog Friedman es also vor, die Verbrechen des NKWD am Vorabend des deutschen Einmarschs in Lwów zu verschweigen und die Beteiligung der örtlichen Bevölkerung an den Gräueltaten gegen die Juden zu bagatellisieren. Der in Lwów geborene Friedman hatte in Wien promoviert und lehrte an einem angesehenen Gymnasium für Jungen in Łódź Geschichte. Mit Kriegsbeginn kehrte er 1939 in seine Heimatstadt zurück und fand eine Anstellung beim Wirtschaftsinstitut der Akademie der Wissenschaften der Ukrainischen Sowjetrepublik. Nach dem Einmarsch der Deutschen im Juni 1941 arbeitete er bis August 1942 in einer Bäckerei. Bei einer „Aktion“ im Ghetto festgenommen, wurde er in das berüchtigte Zwangsarbeitslager Lemberg-Janowska gebracht, doch gelang ihm die Flucht und er konnte sich bis zur Ankunft der Sowjetarmee im Sommer 1944 in Lwów beziehungsweise in der Umgebung der Stadt versteckt halten.8 Als erfahrener Historiker hatte er vor dem Krieg mit dem Wilnaer YIVO zusammengearbeitet. Während seiner Zeit als Lehrer in Łódź sammelte er Materialien zur Lokalgeschichte und veröffentlichte wissenschaftliche Bücher und Aufsätze. Warum behauptete er also etwas, von dem er wusste, dass es nicht stimmte? Als er sich im inzwischen befreiten Lwów zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung seiner Heimatstadt äußerte, vermied er absichtlich Aussagen, die seine Beziehungen sowohl zur Sowjetmacht als auch zur örtlichen ukrainischen Bevölkerung hätten gefährden können. Vielleicht ging es ihm darum, in erster Linie die Deutschen zu belasten, vielleicht verhielt er sich aus Furcht vor den Sowjets taktisch. Jedenfalls deutet seine schriftliche Aussage
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darauf hin, dass Friedman sich der Grenzen bewusst war, die Schilderungen des Holocaust in der politischen Gemengelage Osteuropas gesetzt waren. Er selbst zog anschließend westwärts, erst nach Lublin und dann nach Łódź, wo er wesentlich bessere Bedingungen für die Dokumentation des Völkermords an den Juden vorfand. Die unterschiedlichen Berichte, die er in der unmittelbaren Nachkriegszeit verschiedenen Institutionen gegenüber abgab, erlauben es, die Bedeutung, die die jüdischen Überlebenden der historischen Dokumentation beimaßen, und ihre bewusste Betonung unterschiedlicher Aspekte angesichts variierender, oft schwieriger Rahmenbedingungen zu rekonstruieren. Wie äußerten sich polnisch-jüdische Überlebende außerhalb der Sowjetunion zu Themen, die für Friedman bei seiner Aussage vor der sowjetischen Kommission tabu waren? Und wie gehen wir insgesamt mit dem Problem der Selbstzensur im Kontext der frühen, von traumatisierten und schutzbedürftigen Überlebenden stammenden, teils für jüdische, teils für nichtjüdische Institutionen und Zielgruppen bestimmten Berichte über den Holocaust um? Im Folgenden wird die Frage, wie kontextuelle Faktoren die Berichte der Überlebenden prägten, mit Blick auf drei Themen diskutiert: die Verwicklung nichtjüdischer Nachbarn in den Holocaust, die widersprüchliche Rolle jüdischer Funktionäre und die Wirkung gesellschaftlicher Tabus in einem postgenozidalen Kontext.
KOLLABORIERENDE NACHBARN Friedman begann bereits unmittelbar nach der Befreiung in Lwów an einer Monografie über die fast vollständige Vernichtung der jüdischen Bevölkerung der Stadt zu arbeiten. Seine Broschüre wurde 1945 unter dem Patronat der Zentralen Jüdischen Geschichtskommission in Polen veröffentlicht, der er, anfangs in Lublin und dann, bis zu seiner Ausreise im Sommer 1946, in Łódź vorstand.9 Die Darstellung der Beteiligung der örtlichen Bevölkerung an der antijüdischen Gewalt und Verfolgung, die er in dieser Publikation bot, unterschied sich grundlegend von den Angaben, die er vor der Kommission in der Ukrainischen Sowjetrepublik gemacht hatte. In der Broschüre unterstrich Friedman, dass „die Deutschen von den ukrainischen Massen mit Jubel begrüßt wurden. Diese hofften, die Deutschen würden ihnen helfen, die östliche Ukraine aus dem Verband der Sowjetunion zu lösen und die beiden Teile der Ukraine zu einem unabhängigen Land zusammenzufügen.“10 Mit Blick auf die erste Welle jüdischer Gewalt vom 30. Juni bis 3. Juli 1941 schrieb er: „Deutsche Soldaten durchkämmten gemeinsam mit ukrainischen Nationalisten und einem wilden, aus Angehörigen der örtlichen Bevölkerung bestehenden Mob die Straßen. Sie überfielen die Juden in den Straßen, schlugen brutal auf sie ein
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und verschleppten sie, um sie zur ‚Arbeit‘ zu zwingen – vor allem sollten sie die Gefängnisse reinigen, die voller Leichen und Blut waren.“11 Zudem betonte Friedman die Rolle, die die frisch gegründete ukrainische Miliz bei der Festnahme jüdischer Männer und Frauen spielte, die dann gezwungen wurden, die in den Lwówer Gefängnissen und an anderen Orten in ganz Ostgalizien aufgefundenen Leichen zu waschen.12 Friedman äußerte sich in seinem auf Polnisch verfassten, für eine polnisch-jüdische Öffentlichkeit bestimmten Bericht auch viel deutlicher zur Rolle der ukrainischen Bevölkerung im Rahmen der zweiten Welle antijüdischer Gewalt: Tausende jüdische Männer und Frauen wurden von den ukrainischen Milizionären verschleppt, vorgeblich, um sie „arbeiten“ zu lassen. Die meisten dieser Unglücklichen wurden in das Gefängnis in der Łąckiegostraße gebracht; von Zeit zu Zeit stürmten ukrainische Horden das Gefängnis unter „Rache für Petliura“-Rufen und erschlugen zahlreiche Juden. [...] In der Stadt breitete sich das Gerücht aus, die Deutschen hätten den ukrainischen Nationalisten „drei Tage“ eingeräumt, in denen sie mit den Juden nach eigenem Gutdünken verfahren dürften, um den Tod Symon Petliuras zu rächen.13 Friedmans Darstellung der Kollaboration der örtlichen Bevölkerung in seinen primär für eine polnisch-jüdische Zielgruppe bestimmten Berichten unterschied sich also maßgeblich von jener vor der Akademie der Wissenschaften der Ukrainischen Sowjetrepublik. Dass der Historiker Friedman zwei so unterschiedliche Darstellungen vorlegte, verweist auf die Einzigartigkeit des Freiraums, den die Zentrale Jüdische Geschichtskommission in Polen Überlebenden bot, um auch heikle Erfahrungen anzusprechen. In jener kurzen, aber wichtigen Zeit des Übergangs zwischen der Befreiung von den Deutschen und der Konsolidierung der Vormachtstellung des von den Sowjets unterstützten kommunistischen Regimes konnte die Kommission agieren, ohne allzu viel Rücksicht auf die polnische Öffentlichkeit und das aufkommende Opferkonkurrenz-Narrativ der polnischen Mehrheitsgesellschaft nehmen zu müssen. In ihrer vergleichenden Studie der Bestrebungen der Überlebenden, den Holocaust zu dokumentieren, hat Laura Jockusch betont, dass zu dieser Kommission auch mehrere Personen gehörten, die bereits vor dem Krieg Dokumente zur jüdischen Geschichte gesammelt hatten. Sie waren sich über die entscheidende Bedeutung, die die Zeugenaussagen der Überlebenden für die künftige Geschichtsschreibung des Holocaust und die strafrechtliche Verfolgung der Täter spielen würden, von Anfang an im Klaren.14 Allerdings wurde die Arbeit der Zentralen Jüdischen Geschichtskommission in Polen bereits im Herbst 1947 eingestellt. Dies geschah angesichts der zunehmenden Bestrebun-
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Philip Friedmans Bericht über die Verfolgung der Juden in Lemberg wurde 1945 von der Zentraljüdischen Historischen Kommission in Polen unter dem Titel Zagłada mydów lwowskich (Die Vernichtung der Juden in Lemberg) veröffentlicht. Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau
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Drei Zeugenberichte über die Verfolgung von Juden in Polen während der Schoa, die zwischen 1945 und 1947 unter der Schirmherrschaft der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission in Polen veröffentlicht wurden. Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau
Dokumenty Zbrodni i męczeństwa (Dokumente des Verbrechens und des Martyriums) enthält zahlreiche Berichte von Überlebenden. Die Schrift wurde 1945 von Michał Borwicz, Nella Rost und Józef Wulf herausgegeben.
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Das Buch Dzieci oskarżają (Die Kinder klagen an) enthält 55 Berichte von Überlebenden, die zum Zeitpunkt der Einreichung zwischen sieben und siebzehn Jahre alt waren. Es wurde 1947 veröffentlicht.
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Janina Hescheles’ Memoiren über die Verfolgung der Juden in Lemberg erschienen 1946 unter dem Titel Oczyma 12 letniej dziewczyny (Mit den Augen eines zwölfjährigen Mädchens).
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gen der kommunistischen Machthaber, ihre Kontrolle über die vormals autonomen jüdischen Institutionen in Polen zu intensivieren, in deren Folge diese bis 1950 nach und nach geschlossen wurden. Hinsichtlich der Kollaboration der örtlichen Bevölkerung war sich die Kommission durchaus bewusst, dass sie hier potenziell heikles Terrain betrat. In ihrer ersten, 1945 veröffentlichten Broschüre mit methodologischen Ratschlägen zur Sammlung historischer Materialien hob die Kommission die Hilfe, die die Juden von polnischen Nichtjuden erfahren hätten, hervor und bagatellisierte deren Komplizenschaft. Daher wurden die Zamler instruiert, die Aktivistinnen und Aktivisten, die die Aussagen der Überlebenden aufnahmen, angesichts der „während der Besatzung von der örtlichen Bevölkerung eingenommenen Haltung den Juden gegenüber“ Vorsicht walten lassen.15 So komplex die Beziehungen zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen während des Kriegs auch gewesen seien, sollten die Zamler sich insbesondere um Aussagen bemühen, die den Beistand und die Empathie jener Nichtjuden belegten, die als „Freunde der Menschheit“ bezeichnet wurden.16 Auf „kriminelle Elemente“ unter den Nichtjuden gingen die Anweisungen dagegen nur im Nachgang ein.17 Manche der Überlebenden zogen wie Friedman aus den polnischen Gebieten, die der Sowjetunion zugeschlagen wurden, westwärts und machten dann Aussagen vor den örtlichen Zweigstellen der Zentralen Jüdischen Geschichtskommission. Erst jetzt konnten sie sich den Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen und der heiklen Frage der Kollaboration zuwenden. Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele. Ryszard Ryndner, der bereits vor dem Krieg in Lwów ansässig war und auch die Zeit der deutschen Besatzung in der Stadt überlebte, sagte im Herbst 1944 auf Polnisch vor der Kommission aus. Er beschrieb den Einmarsch der Deutschen am 30. Juni 1941 und die bereits am 1. Juli einsetzende „Agitation [nagonka]“ gegen die Juden: „Ukrainische Milizionäre verhafteten Juden auf der Straße und brachten sie zu verschiedenen Sammelstellen, wo sie unbarmherzig geschlagen wurden. Ein Rabbiner wurde auf dem Heimweg von Ukrainern überfallen, ins Brygidki-Gefängnis verschleppt und dort ermordet.“18 Rydner selbst überlebte zwar mithilfe seiner ehemaligen Hausangestellten im Versteck, bemerkte aber, dass die örtliche Bevölkerung sich im Allgemeinen „indifferent“ verhalten habe.19 Pesach Herzog, der seine Aussage auf Jiddisch machte, erklärte, Ukrainer hätten sich „in erheblichem Umfang“ an dem Pogrom beteiligt, der sich am 4. und 5. Juli 1941 in Tarnopol (dem heutigen ukrainischen Ternopil) ereignete.20 Mendel Ruder sagte aus, in Złoczów (dem heute in der Ukraine gelegenen Zolotchiv) habe am 2. Juli 1941, also einen Tag nach dem Einmarsch der Deutschen, ein Treffen örtlicher Aktivisten stattgefunden, auf dem die Durchführung eines Pogroms beschlossen wurde, bei dem Ukrainer die Deutschen bei der Tötung der Juden unterstützten.21 Als Juden aus dem Umland gezwungen wurden, ins Ghetto von
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Złoczów zu ziehen, kamen sie dort „nackt und barfuß an. Die Ukrainer hatten sie gezwungen, alles zurückzulassen“.22 Die Überlebenden begnügten sich nicht damit, die örtliche Bevölkerung der Kollaboration mit den Deutschen zu beschuldigen beziehungsweise diese zu schildern. Manche gaben auch die Namen jener an, die sich an ihrer Verfolgung beteiligt hatten. Rudolf Reder etwa nannte eine ukrainische Familie, die ihn seines Erachtens verraten hatte, als er sich im August 1942 in Lwów bei ihnen versteckt hielt.23 Juden, die ihre Befreiung in jenen Teilen Vorkriegspolens erlebt hatten, die nun der Sowjetunion zugeschlagen wurden, verspürten in der Regel keine Hemmungen, sich zur Kollaboration der örtlichen Bevölkerung zu äußern, befanden sie sich erst im neuen polnischen Staatsgebiet, sei es als freiwillige Rückkehrer oder infolge der Repatriierungsmaßnahmen. Überlebende aus dem östlichen Galizien und Wolhynien machten anfangs hauptsächlich die Ukrainer für die Kollaboration verantwortlich, (ethnische) Polen erwähnten sie in erster Linie als Helfer.24 Dennoch wurden auch zahlreiche polnische Nichtjuden beschuldigt, einzeln oder kollektiv kollaboriert und sich an Juden vergangen beziehungsweise ihnen gegenüber zumindest eine erschütternde Indifferenz an den Tag gelegt zu haben, wie etwa im Bericht des oben erwähnten Ryszard Ryndner.25 Überlebende aus Gegenden, die mehrheitlich von (ethnischen) Polen bewohnt wurden, berichteten ebenfalls von Fällen, in denen die örtliche Bevölkerung kollaboriert hatte, und identifizierten jene, die sie beschuldigten, Juden verraten oder ermordet zu haben. Alter Ogień etwa, ein junger Schneider, der in seiner nahe Lublin gelegenen Heimatgemeinde Łączna im Untergrund überlebt hatte, sagte im Herbst 1944 aus, nach seiner Flucht aus dem Warschauer Ghetto hätten polnische Passagiere ihn als Juden enttarnt und aus dem Zug geworfen.26 Er berichtete zudem, dass im Nachbardorf zwei Brüder ermordet worden seien, und nannte den verantwortlichen Bewohner des Dorfes. Während beide Angaben in der polnischen Zusammenfassung seiner Aussage fehlten, wurden Dorf und Täter in der Jiddischen Fassung ausdrücklich erwähnt.27 Derartige Variationen zwischen verschiedenen Sprachfassungen illustrieren, wie die Aussagen gegenüber jüdischen und nichtjüdischen Institutionen sich unterscheiden konnten. Das bekannteste Beispiel einer Aussage, in der polnische Nachbarn identifiziert wurden, die Juden ermordet hatten, dürfte der Bericht Szmul Wasersztejns über die Ereignisse in Jedwabne sein.28 Dass Überlebende bereit waren, über die Vergehen anderer Polen gegen sie zu berichten, deutet darauf hin, dass sie keine Angst davor hatten, diese Dinge offen auszusprechen, und vermutlich auf offizielle und symbolische Vergeltung hofften. Anfangs gewährte die neue polnische Regierung jüdischen Institutionen moralische und finanzielle Unterstützung. In seinem Manifest vom 22. Juli 1944 nahm das Lubliner Komitee (das Polnische Komitee der nationalen Befreiung) ausdrücklich auf die brutale Ermordung der
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Juden durch die deutsche Besatzungsmacht Bezug, gab die Wiederherstellung der bürgerlichen Gleichberechtigung bekannt und sagte den Überlebenden den Wiederaufbau des jüdischen Lebens in Polen zu. Maßnahmen der jüdischen Selbstjustiz zur Bestrafung der Kollaborateure entsprachen dem Geist der sogenannten sierpniówki, der auf dem sich mit der Bestrafung der Kollaboration mit den deutschen Besatzungsbehörden befassenden Dekret des Lubliner Komitees vom 31. August 1944 beruhenden „Augustprozesse“.29 Vor diesem Hintergrund war es manchen Überlebenden wichtig, über ihre Erfahrungen während des Holocaust zu sprechen, und sie sahen keinen Grund, dabei nicht auch die Kollaboration der örtlichen Bevölkerung zu erwähnen.
DER UMGANG MIT JÜDISCHEN FUNKTIONÄREN Die frühen Aussagen der Überlebenden befassten sich auch mit dem schwierigen Thema der Judenräte. Seine in der Sowjetunion vorgetragene Einschätzung des Lwówer Judenrats brauchte Friedman anschließend nicht zu revidieren. In seinem Bericht für die Kommission der Akademie der Wissenschaften hatte er den ersten Judenrat in Lwów zwar kritisiert, zu seiner Verteidigung aber auch geltend gemacht, dass die von den Deutschen im Juli 1941 eingesetzte jüdische Führung sich an den Erfahrungen mit der deutschen Besetzung während des Ersten Weltkriegs orientiert habe. Er unterteilte die Angehörigen des Judenrats in zwei Gruppen: „die Naiven und die Schurken“.30 Die Schurken, so Friedman im Einklang mit der sowjetischen Terminologie des Klassenkampfs, hätten von Anfang an gewusst, was die Deutschen vorhatten, und „wollten sich retten und irgendwie Profit“ aus der Situation schlagen.31 In den bereits erwähnten, 1945 veröffentlichten Anweisungen für die Sammlung historischen Materials hieß es zwar, man solle sich „vor allem darauf konzentrieren, Material zu sammeln, das das würdevolle Verhalten der jüdischen Bevölkerung, jüdischer Gruppen und auch Individuen erhellt“. Doch müsse man sich auch mit der „Selbsterniedrigung und Treulosigkeit, der Feigheit und Niedertracht einzelner Juden“ auseinandersetzen. Auch derlei sei leider fast überall vorgekommen.32 Gerade darin, dass sie sich dem fragwürdigen und zum Teil niederträchtigen Verhalten mancher Juden stellten, sahen Überlebende einen Beleg dafür, dass sie ihr Geschick wieder in die eigenen Hände nahmen. Manche der polnisch-jüdischen Überlebenden kritisierten das Verhalten der Angehörigen der Judenräte scharf. Pesach Herzog gab an, der Judenrat in Tarnopol habe hunderte arme Juden, darunter auch Waisen, an die Deutschen ausgeliefert, als diese im Frühjahr 1942 eine „Todesliste“ verlangten.33 Alter Ogie n´ gab an, der Judenrat und der Jüdische Ordnungsdienst im Warschauer Ghetto hätten sich an der Verschleppung von Juden als Zwangsarbeiter betei-
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ligt, sie „aus ihren Wohnungen gezerrt und an die Deutschen ausgeliefert und deren Arbeit dadurch erleichtert“.34 Ryndner erklärte, mit ihren Erlassen habe „die [jüdische] Verwaltung versucht, den Eifer der Deutschen noch zu überbieten“.35 Nach einer weiteren Deportationswelle am 5./6. Januar 1943 hätten die Deutschen die Angehörigen des letzten Judenrats ermordet, und die SS habe selbst die Verwaltung des Lwówer Ghettos übernommen. Der Jüdische Ordnungsdienst habe den Judenrat ersetzt, so Ryndner, die Befehle der Deutschen ausgeführt und „die Bevölkerung pausenlos misshandelt – diejenigen, die nicht arbeiteten, wurden fortlaufend [aus dem Ghetto] entfernt“.36 Man könnte mutmaßen, die Aussagen der Überlebenden über Juden, die andere Juden in dem Bestreben, sich selbst und ihre Familien zu retten, angeblich verraten hatten, sollten in erster Linie der internen Diskussion und der Geschichtsschreibung dienen. Doch geht aus den Akten polnischer Gerichte hervor, dass die Überlebenden zumindest in einigen Fällen auch gewillt waren, ihre Erfahrungen einer breiteren Öffentlichkeit mitzuteilen. Manche wandten sich an polnische Gerichte, um jüdische Funktionäre anzuzeigen, und sagten im Rahmen von Ermittlungsverfahren und vor Gericht aus. Im Sommer 1946 verhandelte das Sonderstrafgericht in Lublin beispielsweise gegen Maks Heimberg, der dem Jüdischen Ordnungsdienst in Brysław (heute das ukrainische Boryslav) angehörte hatte, und verurteilte ihn zum Tode.37 Der Fall wurde zwar vor einem polnischen Gericht verhandelt, doch beruhten die Ermittlungen und das Urteil auf den Aussagen mehrerer jüdischer Überlebender, die alle aus Brysław stammten und die Behörden gedrängt hatten, gegen Heimberg vorzugehen. Während des Prozesses sagten drei jüdische Überlebende aus: Dawid Kestenbaum, Maks Doner und Matys Heilig.38 Kestenbaum sagte vor der Ermittlungsabteilung der Lubliner Polizei aus, die im April 1945 ihre Arbeit aufnahm. Er teilte den Behörden mit, dass Heimberg während der deutschen Besatzung dem Jüdischen Ordnungsdienst in Brysław angehört habe. Er habe sich durch „außergewöhnliche Rage und besonderen Sadismus den Brysławer Juden gegenüber hervorgetan und sie erbarmungslos geschlagen“. Heimberg habe sich „an der Tötung von 13 000 Juden in Brysław beteiligt“.39 „Ein solcher Schurke“, so Kestenbaum „sollte die schwerstmögliche Strafe erhalten – das fordern die 13 000 toten Juden Brysławs. Ich verlange im Namen der Umgekommenen, dass dieser Schurke am Ort seiner Verbrechen vor Gericht gestellt wird, wie vom Internationalen Komitee für die Bestrafung der Hitleristischen Verbrecher vorgesehen.“40 Kestenbaum war einer von mehreren Zeugen, die sich meldeten, um im Juni 1946 im Prozess gegen Heimberg auszusagen. Offenbar sprach es sich unter den Überlebenden herum, dass gegen Heimberg ermittelt werde. Eidesstattliche Erklärungen wurden aus verschiedenen Teilen Polens – Łódź, Kraków und Dzierz.oniów (Reichenbach) – eingesandt. Maks Doner, der ebenfalls aus-
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sagte, gab an, Heimberg habe den Deutschen geholfen, versteckte Juden ausfindig zu machen, die Lebensmittel der Gefangenen im örtlichen Zwangsarbeiterlager gestohlen und Juden ausgepeitscht.41 Den beteiligten Überlebenden, die nun, da Brysław von den Sowjets kontrolliert wurde, teils ins neue polnische Staatsgebiet, teils in den Westen übersiedeln wollten, war es offenbar ein wichtiges gemeinsames Anliegen, dafür zu sorgen, dass Heimberg zur Rechenschaft gezogen wurde. Insgesamt scheinen die Überlebenden in Polen jedenfalls kein Problem darin gesehen zu haben, die nichtjüdischen Behörden im Zusammenhang mit der Untersuchung und Verfolgung von Vergehen gegen die Solidarität unter Juden einzuschalten. Die Wunden waren noch frisch, und die Überlebenden hatten das starke Bedürfnis, ihre Selbstachtung und die Verfügungsgewalt über ihre eigenen Geschicke zurückzuerlangen. Michal LeonowiczGerszowski aus Kopiczy nce ´ (heute das ukrainische Kopychyntsi) schloss seine Bemerkungen zur Kollaboration von Juden mit den Deutschen mit einem Hinweis, der auf die tiefgreifenden Konflikte verweist, die die Überlebenden plagten und Familien und Gemeinden auseinanderreißen konnten: „Mein Bruder heiratete eine der Schwestern eines jüdischen Milizionärs, der meine Schwester ausgeliefert hatte. Ich spreche nicht mehr mit ihm.“42 Offenbar hatten die jüdischen Überlebenden also keine Bedenken, sich nicht nur in jüdischen Foren, sondern auch darüber hinaus über die Kollaboration ihrer nichtjüdischen Nachbarn oder das unehrenhafte Verhalten anderer Juden auszusprechen. Gab es, wenn sie schon die Kollaboration der örtlichen Bevölkerung und die Rolle der jüdischen Funktionäre nicht verschwiegen, Themen, über die sie tatsächlich nicht sprechen wollten?
ANDERE TABUS Bei der Schilderung des Holocaust wurden etliche Normen in Frage gestellt. Doch während manche Tabus dabei fielen, wurden andere eher verstärkt. Dass die den Juden zugefügte Grausamkeit manche von ihnen psychologisch gebrochen hatte, räumten die Überlebenden durchaus ein. Ihre Aussagen sind voller Schilderungen der von Juden erlittenen Demütigungen, ihres Leidens und ihrer Ohnmacht. Pesach Herzog etwa berichtete, während des Pogroms in Tarnopol am 4. Juli 1941 seien einige der jüdischen Männer, die auf dem Marktplatz gefoltert wurden, wahnsinnig geworden.43 Dagegen blieben detaillierte Schilderungen von sexueller Gewalt gegen jüdische Frauen ein Tabu. Im Rahmen seines Berichts über ein Pogrom, der am 25. Juli in Lwów begann und bei dem 15 000 Menschen getötet wurden, erwähnte Ryszard Ryndner, dass „Frauen beraubt und Männer gezwungen wur-
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den, sich nackt auszuziehen. Dann wurden sie nach Piaskowa Góra gebracht und dort alle erschossen.“44 Dass jüdische Frauen im Laufe dieser Ereignisse auch vergewaltigt wurden und anderen sexuellen Übergriffen ausgesetzt waren, erwähnte er bezeichnenderweise nicht. Offenbar war es das eine, sich über die Entwürdigung jüdischer Männer auszulassen, doch von jener jüdischer Frauen zu berichten, war ungleich schwieriger. Dennoch führte dieses Tabu nicht zu einem vollständigen Verschweigen sexueller Gewalt, obwohl die Informationen darüber über kurze Hinweise auf Vergewaltigungen oder Anspielungen auf sexuelle Übergriffe selten hinausgingen. Mitunter lenkten männliche Überlebende die Aufmerksamkeit allerdings sehr wohl und an prominenter Stelle auf Fälle von Vergewaltigungen. Dawid Berber aus Stanisławów (heute das ukrainische Ivano-Frankivsk) nannte beispielsweise die Namen zweier Frauen, die bei der abschließenden Liquidation des Ghettos im Februar 1943 vergewaltigt worden waren.45 Ignacy Feiner und Isser Reinharz berichteten von einer versuchten Vergewaltigung am 10. Mai 1943, wobei ihr Hauptaugenmerk allerdings auf der tapferen Intervention eines jüdischen Mannes lag, den die Deutschen daraufhin öffentlich hinrichteten.46 Die Aussage der jungen Gymnasiastin Sonia Katzman bietet uns einen Einblick in die mit der Schilderung derartiger Vorfälle verbundenen Schwierigkeiten. In ihren handschriftlichen Notizen erwähnte Katzman einen Übergriff, der sich im Januar 1942 in der ukrainischen Polizeiwache in Brody zutrug, wo sie als Zwangsarbeiterin saubermachte und übersetzte. Der stellvertretende Polizeichef, ein Mann namens Pawluk, habe sich ihr genähert und begonnen, „mit mir zu flirten und mich zu bedrängen“. Als sie ihn abgewehrt habe, habe er sie bedroht und gesagt, ihr nächstes Zusammentreffen werde für sie weniger glimpflich ausgehen.47 Im Rahmen ihrer auf Band aufgenommenen Aussage erklärte sie allerdings nur, es habe „einen unerfreulichen Vorfall mit einem der Ukrainer – Pawluk“ gegeben.48 Im Allgemeinen bezogen Frauen sich bei entsprechenden Aussagen eher auf sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen, die sie miterlebt, aber nicht am eigenen Leib erfahren hatten.49 Überlebende begannen nach dem Zweiten Weltkrieg, die Zerstörung ihrer Gemeinden und den Verlust ihrer Familien zu bezeugen. Ihre – von den jeweiligen Dokumentationsvorhaben zugrundeliegenden Anliegen beeinflussten – Aussagen waren dazu bestimmt, die Erinnerung an die Verbrechen und das Andenken an die Ermordeten zu verankern, die strafrechtliche Verfolgung der Täter zu unterstützen und für künftige Generationen die Grundlage einer nicht auf den Dokumenten der Täter beruhenden, sondern von Juden selbst geschriebenen Geschichte der Ereignisse zu legen. Politische Umstände, persönliche Entwicklungslinien und gesellschaftliche Normen prägten diese frühen, noch nicht festgeschriebenen Schilderungen nachhaltig. Sie fielen unterschiedlich aus, je nachdem, ob die Diskussion nur unter Überlebenden, mit
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der jüdischen Bevölkerung im Allgemeinen oder mit staatlichen Institutionen geführt wurde, ob ihr Hauptziel darin bestand, die Vorgänge einfach zu dokumentieren, „Dinge richtigzustellen“ oder die strafrechtliche Verfolgung der Täter sicherzustellen. Gerade die Zentrale Jüdische Geschichtskommission in Polen war darauf ausgerichtet, den Holocaust vor allem von Juden dokumentieren zu lassen. Ihre Arbeit beeinflusste die Entwicklung der nichtjüdischen polnischen Erinnerung an die deutsche Besatzung, wenn überhaupt, nur in ganz geringem Maße.50 An dieser entscheidenden Wegscheide stellten die Überlebenden sich potenziell schmerzhaften und verunsichernden Themen wie der Kollaboration der örtlichen Bevölkerung und dem Verhalten mancher jüdischen Funktionäre, die zu Komplizen der „Endlösung“ geworden waren. Sie schilderten Pogrome, Morde, Plünderungen und Fälle, in denen Angehörige der nichtjüdischen Bevölkerungsgruppen (einschließlich der ethnischen Polen) Juden verraten hatten. Tatsächlich scheinen diese frühen Bestrebungen im Gegensatz zu späteren Darstellungen und der breitenwirksameren Gedenkkultur von relativ wenig Selbst- oder institutionell geforderter politische Zensur geprägt worden zu sein. Friedmans Auslassungen und Entstellungen spiegeln die Tatsache wider, dass die Schilderung von Gewalterfahrungen unter verschiedenen politischen Umständen und in der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Zielgruppen jeweils anders ausfällt. Überlebende, die nach Anerkennung strebten und ihre Handlungsfähigkeit zurückerlangen wollten, sagten vor der Jüdischen Geschichtskommission und polnischen Gerichten aus. Wie lässt sich die Bedenkenlosigkeit erklären, mit der sie auch politisch sensible Fragen ansprachen? Die Angehörigen der Kommission vertrauten auf die Unterstützung der neuen polnischen Regierung. Sie gingen auch auf Fälle ein, in denen Juden es an Solidarität untereinander hatten fehlen lassen. Manches mochten sie dennoch meist nicht ansprechen, vor allem das Thema der sexuellen Gewalt gegen jüdische Frauen. Wie kann man also all diese Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden heute begreifen und einordnen? Die politischen, gesellschaftlichen und persönlichen Zwänge, die die Darstellung des Schicksals der jüdischen Gemeinden und Familien prägten, werfen im Umgang mit diesen systematisch gesammelten historischen Dokumenten Fragen auf. Inmitten des politischen Chaos und der massenhaften Migration der unmittelbaren Nachkriegsjahre waren die Überlebenden sich darüber im Klaren, dass die Schilderungen, je nachdem, ob man in der Sowjetunion oder in Polen war, oder beabsichtigte, Osteuropa zu verlassen, unterschiedlich ausfallen mussten. Vergleicht man diese frühen Schilderungen mit späteren Darstellungen, zeigen sich Abweichungen, die allein mit dem Trauma oder fehlerhafter Erinnerung nicht erklärt werden können, sondern darauf schließen lassen, dass die Überlebenden sehr genau wussten, was
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wann und wo gesagt werden konnte. Gesellschaftliche und persönliche Zwänge prägten diese frühen Aussagen. Die Überlebenden richteten ihre Interpretationen der unmittelbaren Nachkriegszeit am jeweiligen politische Klima und den anzusprechenden Zielgruppen aus, und das sich entwickelnde Unterfangen, den Holocaust zu dokumentieren, wurde durch die Ziele geprägt, denen ihre Aussagen dienen sollten. Ihre Schilderungen waren also sorgsam durchdacht und an spezifischen strategischen Zielen ausgerichtet. Die Überlebenden wussten, dass sie sich auf die Kraft – und das Grauen – ihrer Geschichten allein nicht verlassen konnten, wenn sie sich Gehör und Anerkennung verschaffen wollten. Mit ihren Schilderungen des Holocaust setzten die Überlebenden sich von Anfang an aktiv zu den politischen Bedingungen, unter denen sie jeweils lebten, ins Verhältnis. 1
Fri[e]dman, Pylyp Lazarovych: Stenohrama zapysu spohadiv, 22.1.1946, TsDAHOU, f. 166, op. 3, spr. 246, ark. 78 − 89. EHRI Online Course in Holocaust Studies, englische Version. https://training.ehri-project.eu/sites/training.ehri-project.eu/files/Ukraine%20A10%20 translation_0.pdf (12.7.2019). 2 Fri[e]dman: Stenohrama zapysu spohadiv, 80. 3 Struve, Kai: Deutsche Herrschaft, Ukrainischer Nationalismus, Antijüdische Gewalt. Der Sommer 1941 in der Westukraine. Berlin: De Gruyter Oldenbourg, 2015, 247 − 253 und 14 − 221. 4 Fri[e]dman: Stenohrama zapysu spohadiv, 81. 5 Fri[e]dman: Stenohrama zapysu spohadiv, 84. 6 Friedman ging kaum ein auf den Mord an Symon Petliura (1879 − 1926), Präsident der kurzlebigen Ukrainischen Nationalrepublik, der für die blutigen Pogrome in der Ukraine nach dem Ersten Weltkrieg verantwortlich gemacht wurde – und deshalb 1926 in Paris von dem aus der Ukraine stammenden jüdischen Journalisten Samuel (Scholem) Schwarzbard erschossen wurde. Ein französisches Gericht sprach Schwarzbard 1927 frei. Siehe Engel, David: Introduction. Engel, David (Hg.): The Assassination of Symon Petliura and the Trial of Scholem Schwarzbard 1926 − 1927. A Selection of Documents. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016, 7 − 95. Friedman mag es bei seiner Aussage im Zusammenhang mit den von den Sowjets in den Lwówer Gefängnissen hinterlassenen Leichen noch um ein weiteres heikles Thema gegangen sein. Siehe Hanebrink, Paul: A Specter Haunting Europe. The Myth of Judeo-Bolshevism. Cambridge, MA: The Belknap Press of Harvard University Press, 2018, 133 − 136, 142 − 143. 7 Fri[e]dman: Stenohrama zapysu spohadiv, 84. 8 Siehe Stauber, Roni: Laying the Foundation for Holocaust Research. The Impact of the Historian Philip Friedman. Jerusalem: Yad Vashem, 2009; nicht unterschriebener Brief, Warschau, 14.8.1981, Yad Vashem Archives, O.6 (Poland Collection), folder 419. 9 Zur Arbeit der Zentralen Jüdischen Geschichtskommission siehe Jockusch, Laura: Collect and Record! Jewish Holocaust Documentation in Early Postwar Europe. New York: Oxford University Press, 2012, 84 − 120. 10 Friedman, Philip: Roads to Extinction: Essays on the Holocaust. New York, Philadelphia: Conference on Jewish Social Studies, JPS, 1980, 245. 11 Friedman: Roads to Extinction, 246. 12 Friedman: Roads to Extinction, 247. 13 Friedman: Roads to Extinction, 249. 14 Jockusch: Collect and Record!, 87. 15 Instrukcje dla zbierania materiałów historycznych z okresu okupacji niemieckiej. Łódź: CKŻP, Komisja Historyczna, 1945, 11.
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Instrukcje dla zbierania materiałów historycznych, 11. Instrukcje dla zbierania materiałów historycznych, 12. 18 Ryndner, Ryszard: Aussage, von M. Lewenkopf [?] im September 1944 niedergeschrieben, Archiwum Żydowskiego Instytutu Historycznego (Archiv des Jüdischen Historischen Instituts, AŻIH), 301/18, 1. 19 AŻIH, 301/18, 5 20 Herzog, Pesach: Aussage, niedergeschrieben am 8.9.1942 [?] von M. Lewenkopf, AŻIH, 301/20. 21 AŻIH, 301/87, 2. 22 AŻIH, 301/87, 3. 23 Siehe: I/4 1945 grudzień – Zeznanie Rudolfa Redera. Libionka, Dariusz (Hg.): Obóz zagłady w Bełżcu w relacjach ocalonych i zeznaniach polskich swiadków. ´ Lublin: Państwowe Muzeum na Majdanku, 2014, 36. 24 In seiner Darstellung der Ereignisse in Złoczów berichtete Mendel Ruder beispielsweise, dass eine polnische Frau in der Stadt seine Frau und seinen Sohn kurzzeitig versteckt habe (AŻIH, 301/87, 2). 25 Als die Deutschen im August 1942 Juden an den Laternen entlang einer der Hauptstraßen Stanisławóws henkten, sollen sie Karten an Bewohner verkauft haben, die zusehen wollten. Berber, Dawid (geboren am 8.8.1910 in Stanisławów, Kaufmann): Aussage, niedergeschrieben von Ida Gliksztejn in Bytom am 15.12.1946, AŻIH, 301/91, 2. 26 AŻIH, 301/1, 3(12). Ein Schaffner half ihm schließlich (gegen Bezahlung), nach Lublin und von dort nach Łączna zu gelangen. 27 Siehe AŻIH, 301/1, 3 und 14(5). Die Aussage wurde am 2.9.1944 in Lublin aufgenommen. 28 Siehe Gross, Jan T.: Neighbors. The Destruction of the Jewish Community in Jedwabne, Poland. Princeton: Princeton University Press, 2001; außerdem die kritische Ausgabe seiner Aussagen in Machcewicz, Paweł; Persak, Krzysztof (Hg.): Wokół Jedwabnego, Bd. 2: Dokumenty. Warsaw: IPN, 2002. 29 Siehe Finder, Gabriel N.; Prusin, Alexander V.: Jewish Collaborators on Trial in Poland, 1944 − 1956. Polin 20 (2008), 126 − 127. 30 Fri[e]dman: Stenohrama zapysu spohadiv, 82. 31 Fri[e]dman: Stenohrama zapysu spohadiv, 82. 32 Instrukcje dla zbierania materiałów historycznych, 11 − 12. 33 AŻIH, 301/20, 2. 34 AŻIH, 301/1, 3. 35 AŻIH, 301/18, 3. 36 AŻIH, 301/18, 4. 37 Protokoll der Gerichtsverhandlung, 5.6.1946, Instytut Pamięci Narodowej (Institut für Nationales Gedenken, IPN) Lu, 315/226, 127. Siehe außerdem das Urteil im Namen der Republik Polen, 5.6.1946, IPN Lu, 315/226, 139 − 140. 38 Zwei von ihnen standen den kommunistischen Behörden nahe: Kestenbaum arbeitete für das Organ des kommunistischen Jugendverbands Sztandar Młodych (Banner der Jugend). Von Doner hieß es, er sei Regierungsmitarbeiter, allerdings hatte er zuvor für die Geheimdienste gearbeitet. IPN Lu, 315/226, 134. 39 Aufnahme einer Strafanzeige (Protokoll), Lublin, 11.4.1985, IPN Lu, 315/226, 7. 40 IPN Lu, 315/226, 7. 41 Protokół zeznania, 11.5.1945, IPN Lu, 315/226, 10. 42 AŻIH, 301/70, 6. 43 AŻIH, 301/20. 44 AŻIH, 301/18, 1. 45 AŻIH, 301/91,3. 46 AŻIH, 301/73, 1, von Taffet aufgenommen. 47 Aussage von Sonia Katzman, 1922 in Brody geboren, am 17.1.1945 aufgenommen, AŻIH, 301/39, 2. 17
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Aussage of Sonia Katzman, 2. Atina Grossmann hat bei den Berichten deutscher Frauen über Vergewaltigungen durch Sowjetsoldaten ein ähnliches Muster festgestellt. Grossmann, Atina: A Question of Silence. The Rape of German Women by Occupation Soldiers. October 72 (1995), 43 − 63. 50 „Aus der Nachkriegsperspektive der meisten ethnischen Polen“, so Jockusch, „handelte es sich bei den Kriegserfahrungen der Polen und der Juden um ganz verschiedene Geschichten. Daher trennte ihre ‚geteilte Erinnerung‘ die beiden Gruppen voneinander.“ Jockusch: Collect and Record!, 88. Siehe auch Rice, Monika: “What! Still Alive?!” Jewish Survivors in Poland and Israel Remember Homecoming. Syracuse: Syracuse University Press, 2017, 65 − 85. 49
literatur I/4 1945 grudzień – Zeznanie Rudolfa Redera. Libionka, Dariusz (Hg.): Obóz zagłady w Bełżcu w relacjach ocalonych i zeznaniach polskich swiadków. ´ Lublin: Państwowe Muzeum na Majdanku, 2014, 36. ∕ Engel, David: Introduction. Engel, David (Hg.): The Assassination of Symon Petliura and the Trial of Scholem Schwarzbard 1926 − 1927. A Selection of Documents. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016, 7 − 95. ∕ Finder, Gabriel N.; Prusin, Alexander V.: Jewish Collaborators on Trial in Poland, 1944 − 1956. Polin 20 (2008), 122 − 148. ∕ Friedman, Philip: Roads to Extinction: Essays on the Holocaust. New York, Philadelphia: Conference on Jewish Social Studies, JPS, 1980. ∕ Gross, Jan T.: Neighbors. The Destruction of the Jewish Community in Jedwabne, Poland. Princeton: Princeton University Press, 2001. ∕ Grossmann, Atina: A Question of Silence. The Rape of German Women by Occupation Soldiers. October 72 (1995), 43 − 63. ∕ Hanebrink, Paul: A Specter Haunting Europe. The Myth of Judeo-Bolshevism. Cambridge, MA: The Belknap Press of Harvard University Press. Instrukcje dla zbierania materiałów historycznych z okresu okupacji niemieckiej. Łódź: CKŻP, ´ Komisja Historyczna, 1945. ∕ Jockusch, Laura: Collect and Record! Jewish Holocaust Documentation in Early Postwar Europe. New York: Oxford University Press, 2012. ∕ Machcewicz, Paweł; Persak, Krzysztof (Hg.), Wokół Jedwabnego, Bd. 2: Dokumenty. Warsaw: IPN, 2002. ∕ Rice, Monika: “What! Still Alive?!” Jewish Survivors in Poland and Israel Remember Homecoming. Syracuse: Syracuse University Press, 2017. ∕ Stauber, Roni: Laying the Foundation for Holocaust Research. The Impact of the Historian Philip Friedman. Jerusalem: Yad Vashem, 2009. ∕ Struve, Kai: Deutsche Herrschaft, Ukrainischer Nationalismus, Antijüdische Gewalt. Der Sommer 1941 in der Westukraine. Berlin: De Gruyter Oldenbourg, 2015.
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DIE TOTE STADT KATA BOHUS
Als ich einen Abschnitt des Stacheldrahtzauns, einen Überrest des zerstörten Białystoker Ghettos, erblickte, kam mir mein Überleben sinnlos vor. Ich fühlte mich schuldig, weil ich im Gegensatz zu meinen Angehörigen überlebt hatte. Welchen Sinn konnte mein Leben noch haben, nachdem mir all die Liebe, die ich seit meiner Kindheit erfahren hatte, von den Nazis entrissen worden war? Einerseits wollte ich unser eingestürztes Haus betreten, doch graute mir davor, dass ich darin womöglich auf die Skelette meiner verlorenen Angehörigen stoßen könnte. Ich konnte den Ort aber auch nicht verlassen. Srolke Kot, 19471
Vor dem Zweiten Weltkrieg war die Stadt Białystok eines der bedeutendsten jüdischen Zentren im östlichen Polen. Ende des 19. Jahrhunderts waren mehr als zwei Drittel der Bewohner Juden und unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg stellten sie noch immer fast die Hälfte der Bevölkerung.2 Im September 1939 wurde die Stadt im Rahmen des Hitler-Stalin-Pakts zunächst der Sowjetunion zugeschlagen. Im Sommer 1941 besetzte Deutschland die Region dann im Zuge seines Russlandfeldzugs. Kurz nach dem Einmarsch der Deutschen wurden die rund 50 000 Juden Białystoks in ein Ghetto gezwängt. Die systematischen Deportationen, vornehmlich nach Treblinka und Majdanek, begannen im Frühjahr 1943. Angesichts der bevorstehenden endgültigen Liquidierung des Ghettos entschloss sich die jüdische Widerstandsbewegung am 16. August zum bewaffneten Aufstand. Die Kämpfe zogen sich einen Monat lang hin. Nur wenige Aufständische konnten am Ende fliehen und sich den Partisanen in den umliegenden Wäldern anschließen. Einige wenige Juden überlebten auch als Nichtjuden getarnt in der Stadt selbst.3 Von diesen Ausnahmen abgesehen wurde die gesamte jüdische Bevölkerung Białystoks ausgelöscht. Das Gedenken an und die Berichterstattung über diese dramatische Geschichte verzweifelten Heldentums angesichts der Brutalität der Nationalsozialisten prägte die Identität der wenigen nach dem Krieg in der Stadt lebenden Juden maßgeblich.
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Die Große Synagoge von Białystok in den 1920er Jahren. Zu dieser Zeit lebten rund 50 000 Juden in der Stadt. The Joseph and Margit Hoffmann Judaica Postcard Collection at the Folklore Research Center of the Mandel Institute of Jewish Studies, The Hebrew University of Jerusalem
Die Ruinen der Großen Synagoge, 1948. Ghetto Fighters’ House Museum, Western Galilee, Israel
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Białystok war eine der ersten polnischen Städte, die im Juli 1944 durch die Rote Armee befreit wurden. Etwa 1085 Juden siedelten sich anschließend in der Stadt an. Manche hatten bereits zuvor in der Stadt gelebt, andere kamen aus den umliegenden Dörfern.4 Sie fanden Trümmer, Trostlosigkeit und Verzweiflung vor. Ein junger Überlebender beschrieb die Situation wie folgt: Man erzählte mir, mehrere Juden seien in der Kupieckastraße 24 untergebracht. Das Haus war völlig verfallen und ließ sich nur schwer betreten. Ich ging die Treppe hoch in ein dunkles Zimmer, in dem ich eine ausgemergelte alte Frau sah. Sie saß auf einem beschädigten Stuhl an einem Tisch, der schief stand, weil ihm ein Bein fehlte. Ich fragte sie, ob hier Juden lebten. Kaum vernehmbar antwortete sie: Ja. 5 Trotz der Verheerungen ging die jüdische Bevölkerung daran, ihr Leben in der Stadt wieder aufzubauen. Sie gründeten ein Jüdisches Wiederaufbaukomitee, das sich um Unterkünfte und Sozialleistungen für die Zurückkehrenden kümmerte. Das Komitee betrieb eine koschere Suppenküche, die täglich mehrere hundert Mittagessen bereitstellte, einen koscheren Fleischer und sogar eine kleine Jeschiwa.6 Es erwarb ein Gebäude an der wichtigsten Kreuzung der Stadt, das zurückkehrenden und durchreisenden Juden Unterkunft bot.7 Im Oktober 1944 wurde aus dem Komitee der Jüdische Kommunalrat, der gemeinsam mit anderen jüdischen Organisationen in einer ehemaligen Synagoge, dem Piaskower Beit-Midrasch, unterkam.8 Dem Komitee stand Szymon Datner vor, der seit langem in Białystok ansässig war und das Ghetto überlebt hatte.9 Datner war von Haus aus Historiker und schrieb auch den ersten Bericht über die Zerstörung des Białystoker Ghettos.10 Später leitete er das Jüdische Provinzkomitee in Białystok, das ein Ableger des Zentralkomitees der Juden in Polen war und sich der politischen Interessenvertretung annahm. Die Cytron-Synagoge, die der Zerstörung entgangen war, wurde zur Hauptsynagoge. Eine nach Pejsach Kaplan, dem bekannten jüdischen Autor und Herausgeber der vormaligen Białystoker Tageszeitung Undzer Leben, benannte Bibliothek, die 2000 Bücher beherbergte, wurde im August 1944 eröffnet.11 Die Einrichtungen der Gemeinde standen nicht nur den örtlichen Überlebenden bei, sondern kümmerten sich auch um jene, die auf dem Rückweg aus den befreiten Konzentrationslagern oder dem schwierigen Exil in der Sowjetunion in der Stadt Station machten. Die Unterstützung der Rückkehrer wurde überwiegend aus Mitteln des JDC und umfangreichen Beihilfen jüdischer Landsmannschaften finanziert, in denen Einwanderer aus bestimmten osteuropäischen Orten sich in Nord- und Südamerika zusammengeschlossen hatten. So veranlassten die Białystoker Juden in Buenos Aires beispielsweise, dass im Mai 1946 acht Tonnen Lebensmittel in die Stadt geliefert wurden.12
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Überlebende in Białystok feiern Pessach, 1946. Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau
Die Cytron-Synagoge in Białystok nach dem Krieg, 1945 − 1946. Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau
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In den Gedenkveranstaltungen, in denen die Überlebenden in Białystok sich mit ihren Erfahrungen in den vorangegangenen Jahren auseinandersetzten, spielte die Erinnerung an das Białystoker Ghetto, den Aufstand und die Widerstandsbewegung eine entscheidende Rolle. Am 16. August 1945, dem zweiten Jahrestag der Liquidierung des Ghettos, wurde auf dem Friedhof an der Żabiastraße ein Steinobelisk mit folgender Inschrift eingeweiht: „Zum Gedenken an die 60 000 jüdischen Brüder des Białystoker Ghettos, die von den Deutschen ermordet wurden. Sie werden in den Herzen der wenigen überlebenden Juden weiterleben. Die Nation Israel lebt fort.“ Im folgenden Jahr wurde ein weiteres Denkmal für die Ghettokämpfer errichtet und 1948 ein Mausoleum für die Aufständischen auf dem jüdischen Friedhof eingeweiht. Anfangs konzentrierte sich das Gedenken in erster Linie auf das Heldentum und den Überlebenswillen der Juden. „Eine tragische Trauerfeier ist unser Sieg und unsere Rache gleichermaßen“, erklärte Szymon Datner 1945.13 Schon das Überleben auch nur einer Handvoll von Juden in Białystok stelle einen Sieg über Hitler dar. Gleichwohl wurden in der Nachkriegszeit dann keine weiteren Denkmäler mehr errichtet. Datner veröffentlichte 1947 einen Artikel, in dem er argumentierte, man solle kein weiteres Geld auf derartige Unterfangen verwenden und es lieber einsetzen, um Juden bei der Beschaffung von Ausreisepapieren zu helfen.14 Dafür, dass Datner seine Meinung geändert hatte, gab es mehrere Gründe, die allesamt dazu beitrugen, dass der Wiederaufbau des jüdischen Lebens in Białystok nach dem Krieg vereitelt wurde. Die Feindseligkeit der örtlichen polnischen Bevölkerung und das Wiedererstarken des weit verbreiteten Antisemitismus waren entscheidend dafür, die Juden zur Flucht aus Białystok zu bewegen. So stellte Ewa Kracowski bei ihrer Rückkehr in die Stadt beispielsweise fest, dass in der Wohnung ihrer Familie nun Polen lebten, die sich weigerten, sie hereinzulassen. So war sie gezwungen, im Hof zu schlafen, und verließ die Stadt nach wenigen Tagen wieder.15 Infolge mehrerer antisemitischer Vorfälle in der Nähe Białystoks – darunter die Ermordung mehrerer Angehöriger eines vom zionistischen Gordonia-Jugendverband betriebenen Kibbuz auf der Bahnfahrt von Białystok nach Warschau im Jahr 1946 – und des blutigen Pogroms in Kielce kam es zu einem Massenexodus. Im Juni 1946, unmittelbar vor dem Pogrom, war beim Provinzialkomitee in Białystok die Rekordzahl von 1567 Juden gemeldet. Einen Monat später waren es nur noch 1269 und Ende 1946 lediglich 883.16 Die Gründung des Staates Israel und die Konsolidierung der kommunistischen Herrschaft in Polen begünstigten ebenfalls die Emigration zahlreicher Überlebender. Die staatlich geförderte antisemitische Kampagne im Jahr 1968 versetzte den Bestrebungen, das jüdische Leben in der Stadt nach dem Krieg wieder herzustellen, den Todesstoß. Im Jahr 1997 gab es in Białystok offiziell noch fünf Juden,
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Gedenken an den Ghettoaufstand in Białystok beim 1945 errichteten Gedenkstein am Friedhof in der Zabia Straße, 1947. Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau
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Beerdigung von drei Mitgliedern der Kibbuz-Bewegung Gordonia, die 1946 in einem Zug in der Nähe von Białystok ermordet wurden. Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau
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und Szymon Bartnowski, der sich als „letzten Juden Białystoks“ bezeichnete, starb 2000.17 Der von Anfang an auf wackligen Füßen stehende Versuch, das jüdische Leben in der Stadt wieder aufzubauen, war gescheitert. Aus dem jüdischen Białystok wurde eine Geisterstadt, eine imaginierte Heimat in den Herzen und Köpfen der von dort stammenden, aber nun in aller Welt verstreut lebenden Juden.18 1
Übersetzt nach: The Bialystoker Center: Jews in Bialystok after the War. http://www.zchor. org/bialystok/yizkor9.htm#jews (19.8.2019). 2 Bialystok (Rus. Belostok). Encyclopedia Judaica. https://www.jewishvirtuallibrary.org/ bialystok (4.7.2019); Bender, Sara: The Jews of Białystok during World War II and the Holocaust. Waltham, MA: Brandeis University Press, 2008, 19. 3 Bender: The Jews of Białystok, 296. 4 The Bialystoker Synagogue: A History of Bialystok, Poland. http://www.bialystoker.org/ bialystok.htm (4.7.2019). 5 Kot, Srolke: Bialystok in August 1944. Bialystoker Center (Hrsg.): The Bialystoker Memorial Book. New York: Bialystoker Center, 1982, 121 − 122. 6 Krawets, Awrom: The First Passover after the War. Bialystoker Center (Hrsg.): The Bialystoker Memorial Book. New York: Bialystoker Center, 1982, 122 − 123. 7 Kobrin, Rebecca: Jewish Bialystok and Its Diaspora. Bloomington: Indiana University Press, 2010, 218. 8 Rubin, Arnon: The Rise and Fall of Jewish Communities in Poland and their Relics Today, Bd. 1: District Białystok. Tel Aviv: A. Rubin, 2006, Teil II/33. 9 Siehe hierzu den biografischen Abschnitt in diesem Band. 10 Datners Buch „Walka i zagłada białostockiego ghetta“ (Der Kampf und die Zerstörung des Białystoker Ghettos) wurde 1946 von der Jüdischen Historischen Kommission der Provinz Białystok veröffentlicht. 11 Bornsztejn, Izchok: Memorial in Tribute to the Victims. Bialystoker Center (Hrsg.): The Bialystoker Memorial Book. New York: Bialystoker Center, 1982, 120. 12 Sadowska, Joanna: Epilog Historii Białostockich Żydów – Okres Powojenny. Bo´ckowski, Daniel; Rogalewska, Ewa; Sadowska, Joanna (Hrsg.): Kres Swiata Białostockich Żydów. Białystok: Muzeum Wojska w Białymstoku, Galeria ´Slendzi´nskich w Białystoku, 2013, 65. 13 Sadowska: Epilog Historii Białostockich Żydów, 79. 14 Kobrin: Jewish Bialystok, 221. 15 Kobrin: Jewish Bialystok, 218 − 219. 16 Sadowska: Epilog Historii Białostockich Żydów, 58. 17 Kobrin, Rebecca: Bialystok. The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. http:// www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Bia%C5%82ystok (13.6.2019); Sadowska: Epilog Historii Białostockich Żydów, 55. 18 Zur Białystoker Identität und ihren verschiedenen Ausprägungen siehe Kobrin: Jewish Bialystok and Its Diaspora.
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CHAIKA (CHAYA) GROSSMAN (1919 – 1996) Chaika Grossman war eine zionistische Aktivistin, die während des Zweiten Weltkriegs eine führende Rolle im jüdischen Untergrund Białystoks spielte. Grossman war dort in eine Familie von Zionisten hineingeboren worden und schon in jungen Jahren in der zionistischen Jugendbewegung Haschomer Hazair aktiv. Sie nahm am Białystoker Ghettoaufstand teil, der am 16. August 1943, dem Tag der Liquidierung des Ghettos, begann. Anschließend half sie, für diejenigen, denen die Flucht gelungen war, Verstecke zu finden. Bis zur Befreiung pflegte Grossman weiter die Beziehungen zu den sowjetischen Partisanen und kam zeitweilig in den Wäldern bei ihnen unter. Grossmans Vater wurde von den Deutschen erschossen, ihre Mutter kam im Konzentrationsund Vernichtungslager Majdanek um. Ihre beiden Schwestern überlebten, doch verschwand ihr Bruder, nachdem er zur Roten Armee eingezogen wurde. Nach dem Krieg gehörte Grossman dem Zentralkomitee der Polnischen Juden an, das sie auf der Zionistischen Weltkonferenz in London (1945) und dem Zionistischen Weltkongress in Basel (1946) vertrat. Außerdem unterstützte sie die Aktivitäten, die die Organisationen Bricha und Alija Bet in Polen entfalteten, um Juden die Einwanderung nach Palästina zu ermöglichen. Im Mai 1948 kam Grossman auf der SS Providence im neu geschaffenen Staat Israel an. Sie zog in den Kibbuz Ewron, wo sie bald danach Meir Orkin heiratete. Er hatte die Haschomer Hazair-Gruppe in Białystok geleitet, ehe er 1936 in den Jischuw ausgewandert war. Nach dem Ende des israelischen Unabhängigkeitskriegs im Jahr 1949 schrieb Chaika ihr Buch Die Untergrundarmee. Ihre erste Tochter Leah wurde an dem Tag geboren, an dem sie das Manuskript abschloss. Chaika und Meir bekamen später eine zweite Tochter, Josefa. Grossman wurde 1950 an die Spitze des Regionalrats von Ga’aton und 1969 als Abgeordnete in die Knesset gewählt, der sie bis 1981 angehörte.
Chaika Grossman in Großbritannien anlässlich der Zionistischen Weltkonferenz in London, 1945. National Science and Media Museum, Bradford, Großbritannien
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Chaika Grossman (zweite von links) am vierten Jahrestag des Aufstands im Ghetto Białystok während des feierlichen Marschs zum Massengrab, 1947. Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau
Chaika Grossman mit ihrem Ehemann Meir Orkin und ihrer Tochter Leah nach ihrer Einwanderung nach Israel, 1950. United States Holocaust Memorial Museum, Washington, D.C.
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SZYMON DATNER (1902 – 1989) Szymon Datner wurde in Krakau geboren. Er genoss eine traditionelle religiöse Erziehung, studierte Philosophie und promovierte 1927 in Anthropologie. Ab 1929 arbeitete er an einem hebräischen Gymnasium in Białystok und gründete dort eine Familie. Während des Zweiten Weltkriegs beteiligte er sich an der Widerstandsbewegung im Białystoker Ghetto. Nachdem ihm im Sommer 1943 die Flucht aus dem Ghetto gelungen war, schloss er sich dem sowjetischen Widerstand an. Die ältere seiner beiden Töchter, die ebenfalls der Untergrundorganisation im Ghetto angehörte, wurde während des Ghettoaufstands getötet. Seine Frau und die jüngere Tochter wurden wahrscheinlich im Vernichtungslager Treblinka ermordet. Datner kehrte kurz nach Kriegsende nach Białystok zurück, leitete dort bis 1946 das Jüdische Provinzkomitee und heiratete 1946 Edwarda Orłowska, die der Polnischen Kommunistischen Partei in der Provinz vorstand. Ihre Tochter Helena wurde 1949 geboren. Datner beteiligte sich an den frühen Bestrebungen, die Ereignisse des Kriegs zu dokumentieren, und sammelte in und um Białystok Informationen und Berichte über den Holocaust. Die Jüdische Geschichtskommission veröffentlichte 1946 seine Darstellung Der Kampf und die Zerstörung des Białystoker Ghettos (Walka i zagłada Białostockiego Ghetta). Um seinen Vater zu besuchen, brach Datner 1947 zu einer Reise nach Palästina auf. Er war mit zahlreichen Hindernissen konfrontiert und landete zunächst in einem Internierungslager auf Zypern. Nach seiner Flucht aus dem Lager gelang ihm schließlich die illegale Einreise nach Palästina, wo er sich einige Monate lang aufhielt. Im Mai 1948 kehrte er nach Polen zurück und begann dort, für das Jüdische Historische Institut zu arbeiten. Als er gegen die Veröffentlichung eines Artikels im Institutsbulletin, in dem das JDC als zionistische Organisation verurteilt wurde, protestierte, wurde er 1953 entlassen und musste seinen Lebensunterhalt mehrere Jahre lang als Maurer verdienen. Ab 1958 war er für die Zentralkommission zur Untersuchung von Naziverbrechen tätig. Nach seiner Habilitation am Historischen Institut der Polnischen Akademie der Wissenschaften im Jahr 1969 war er zwei Jahr lang als Direktor des Jüdischen Historischen Instituts tätig.
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Szymon Datner neben dem Brunnen, der den Eingang zum jüdischen Untergrund-Bunker in der Chmielna Straße 7 im Ghetto Białystok verbarg, 1945 − 1947. Wahrscheinlich wurde seine ältere Tochter, die ein Mitglied des jüdischen Untergrunds war, dort getötet. Ghetto Fighters‘ House Museum, Western Galilee, Israel
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Präsidiumsmitglieder des Jüdischen Provinzkomitees in Białystok, Szymon Datner (zweiter von rechts), 1945 − 1948. Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau
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ALS MAHNMALE UND DOKUMENTE DES VÖLKERMORDS ERIK RIEDEL
Die „Lagerkunst“ der Häftlinge, die überall in den Konzentrations-, Arbeitsund Vernichtungslagern im von den Nationalsozialisten besetzten Europa entstand, richtete sich nicht an ein klar definiertes Publikum. Als diese Bilder entstanden, war ihr weiteres Schicksal ebenso ungewiss wie das ihrer Schöpfer. Dennoch folgten viele der Künstlerinnen und Künstler, die die Geschehnisse in den Lagern möglichst genau dokumentieren wollten, dem Bedürfnis, bildnerische Zeugenaussagen für die Nachwelt, für die Welt außerhalb der Lager, für die Welt nach der Befreiung zu hinterlassen.1 Mit dem Kriegsende änderte sich diese Situation grundlegend. Die heimlich entstandenen und oft in Verstecken aufbewahrten Bilder konnten nun aus der Verborgenheit geholt und öffentlich gezeigt werden. In den ersten Nachkriegsjahren geschah genau das: Überall in Europa wurden Bilder ausgestellt und publiziert, die in Lagern und Ghettos entstanden waren und die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden zeigten. Esther Lurie (1913 − 1998) wurde in Lettland geboren und studierte in Belgien Bühnenbild und Malerei. Im Sommer 1941 wurde sie in Litauen, wo sie ihre Schwester besuchte, im Ghetto von Kowno (Kaunas) interniert. Später wurde sie in das Konzentrationslager Stutthof und schließlich in das Zwangsarbeitslager Leibitsch (Lubicz) in Pommern verschleppt. Nach der Befreiung durch die Rote Armee gelangte Esther Lurie im März 1945 in ein Flüchtlingslager in Italien, wo sie, unterstützt durch britisch-jüdische Soldaten aus Palästina, ihre Zeichnungen aus den Lagern ausstellte und in einem kleinen Büchlein publizierte.2 Leo Haas (1901 − 1987) arbeitete ab 1926 als Maler, Grafiker und Karikaturist in Wien und in der Tschechoslowakei. Nach der Annexion des tschechischen Teils der Tschechoslowakei durch das Deutsche Reich 1939 wurde Haas verhaftet und in verschiedenen Arbeits- und Konzentrationslagern inhaftiert. Er musste unter anderem in der Zeichenstube in Theresienstadt und in der Fälscherwerkstatt von Sachsenhausen arbeiten. Nach der Befreiung gelang es Haas, seine versteckten Bilder zu bergen, die dann als Grundlage für seine 1947 in Prag publizierte Grafikmappe Aus deutschen Konzentrationslagern dienten.3
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Leo Haas, Hunger, aus: 12 původních litografií z německých koncentračních táborů (12 Originallithografien aus deutschen Konzentrationslagern), Prag, 1947. Lithografie, 28,3 x 45 cm. Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: Leo Haas I 479, © David Haas, Daniel Haas, Ronny Haas, Michal Haas Foell
Esther Lurie, Jewesses in Slavery (Jüdinnen in der Sklaverei), Rom, 1945 (Buchcover). Jüdisches Museum Frankfurt, © Nachkommen der Künstlerin
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Lea Grundig, Flüchtlinge, 1944, aus: Im Tal des Todes, 1947, Tusche, Pinsel, 44,8 x 59,2 cm. Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: Lea Grundig 2411, © VG Bild-Kunst, Bonn 2019
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Zinovii Tolkatchev, Flowers of Oswiecim (Blumen aus Auschwitz), Krakau, 1947 (Buchumschlag). Privatsammlung Frankfurt. In dieser Ausgabe sind die Bildtitel auf Polnisch, Russisch, Englisch, Französisch und Deutsch abgedruckt.
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In den ersten Nachkriegsjahren prägten allerdings nicht nur Künstlerinnen und Künstler, die selbst die Ghettos und Lager überlebt hatten, die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den europäischen Juden, der später als Holocaust oder Schoa bezeichnet wurde. Auch Emigranten wie Lea Grundig (1906 − 1977), die das Geschehen aus der Ferne verfolgt hatten, zeigten und publizierten ihre künstlerischen Kommentare zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Ihre Perspektive war zumeist von dem Versuch geprägt, sich das Unfassbare vorzustellen und die immer detaillierteren Nachrichten und Augenzeugenberichte zum Genozid in ihren Bildern zu visualisieren.4 Grundig wurde nach ihrem Studium in der Dresdener Akademie 1926 Mitglied der KPD und Mitbegründerin der Dresdner Sektion der Assoziation revolutionärer bildender Künstler (Asso). Als Jüdin und Kommunistin verfolgt, emigrierte sie 1939 in die Slowakei und gelangte 1940 schließlich nach Palästina. Hier entstanden unter anderem ihre Grafikzyklen Im Tal des Todes, Ghetto und Ghettoaufstand. Ersterer wurde 1947 bei einem Dresdener Verlag publiziert, noch bevor Grundig 1949 endgültig in die Sowjetische Besatzungszone zurückkehrte.5 Eine grundlegend andere Wahrnehmung der Schoa hatten wiederum diejenigen Künstler, die mit den alliierten Streitkräften in die ehemals von den Deutschen besetzten Gebiete gelangten. Sie hatten ebenfalls nur indirekt von den Gräueln erfahren und sahen sich nun in den Lagern unvermittelt mit den ausgemergelten Überlebenden und Massen von Leichen konfrontiert. In ihren Kunstwerken ist der Schock dieser traumatischen Erlebnisse deutlich spürbar.6 Der in Weißrussland geborene Zinovii Tolkatchev (1903 − 1977) studierte in Moskau Kunst und wurde später Professor am Institut der Schönen Künste in Kiew. Als offizieller Künstler der Roten Armee traf er 1944 kurz nach der Befreiung des Lagers in Majdanek ein und war 1945 unter den Befreiern von Auschwitz. Die dort gezeichneten Bildzyklen Majdanek und Die Blumen von Auschwitz wurden in zahlreichen polnischen Städten ausgestellt und bereits 1945 als Alben publiziert. Die polnische Regierung schickte diese Alben als Geschenke an alliierte Politiker und Militärs. In den 1950er Jahren fiel Tolkatchev wegen seiner „zionistischen“ Werke − er hatte unter anderem Bücher von Scholem Alejchem illustriert − in der Sowjetunion in Ungnade.7 Die hier schlaglichtartig genannten Beispiele sollen die sehr unterschiedlichen Perspektiven veranschaulichen, aus denen jüdische Künstler direkt nach dem Krieg auf den Völkermord an den europäischen Juden reagierten. Ihre Werke haben aber eines gemeinsam: Sie wurden in den unmittelbaren Nachkriegsjahren publiziert und stehen somit exemplarisch für die rege Produktion von Künstlergrafiken, Mappen und Bildbänden jüdischer Künstler zur Schoa, die bereits 1945 einsetzte. Einige weitere Beispiele wären etwa die Holzschnitte von Miklós Adler (1909 − 1965), die 1947 im ungarischen Debrecen pub-
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liziert wurden, von denen einige aber bereits im Vorjahr in der in München erschienenen Survivors´ Haggada abgebildet worden waren,8 die Linolschnitte von Endre Bálint (1914 − 1986) oder die 1946 in München erschienene Mappe 24 Zeichnungen von Jerzy Zielezinski (1914 − 1982).9 Dass damals auffällig viele Grafiken und Künstlerbücher zum Genozid an den Juden erschienen, ist insofern bemerkenswert, als es sich hierbei eben nicht um private Darstellungen in den eher intimen künstlerischen Techniken handelte. Vielmehr sind Druckgrafiken, Mappen und Bildbände per se künstlerische Medien, die sich an eine breitere Öffentlichkeit richten. Die Wahl dieser Reproduktions- und Publikationsformen lässt also darauf schließen, dass es vielen dieser jüdischen Künstler nicht primär darum ging, das Erlebte in ihren Kunstwerken zu verarbeiten, sondern es mitzuteilen, also öffentlich Zeugnis abzulegen. Ähnlich den zahllosen Augenzeugenberichten und zeitnahen Dokumentationen der NS-Verbrechen durch jüdische Historiker sind diese Kunstwerke somit auch als Beitrag zu einem gesellschaftlichen Diskurs über den Völkermord an den europäischen Juden zu verstehen.10 Die umfangreiche Produktion von Künstlergrafiken in den unmittelbaren Nachkriegsjahren ist ein weiterer Beleg dafür, wie rege dieser Diskurs in Europa zunächst geführt wurde, bevor er wenige Jahre später im Kalten Krieg ins Stocken geriet. 1
I am a camera lautet bezeichnenderweise der Titel des ersten Kapitels von Ziva Amishai Maisels bahnbrechender Studie zur Darstellung des Holocaust, das Lagerkunst und Zeugenschaft thematisiert. Siehe Amishai-Maisels, Ziva: Depiction and Interpretation. The Influence of the Holocaust on the Visual Arts. Oxford: Pergamon, 1993, 3 − 1 8. 2 Lurie, Esther: Jewesses in Slavery. Rom: Jewish Soldiers’ Club, 1945. Siehe auch Lurie, Esther: A Living Witness. Kovno Ghetto, Scenes an Types. 30 Drawings and Water-Colours with Accom-panying Text. Tel Aviv: Dvir, 1958; Rosenberg, Pnina: Esther Lurie, 1913 − 1998. http:// art.holocaust-education.net/explore.asp?langid=1&submenu=200&id=6#1f (20.8.2019). 3 Siehe Wagner, Wolf H.: Der Hölle entronnen. Stationen eines Lebens. Eine Biografie des Malers und Graphikers Leo Haas. Berlin: Henschel, 1987. 4 Etwa nachzuvollziehen am Beispiel Ludwig Meidners (1884 − 1966), der im englischen Exil eine Serie mit dem Titel Massacres in Poland beziehungsweise Leiden der Juden in Polen schuf. Siehe Behr, Shulamith: Ludwig Meidners Zyklus „Leiden der Juden in Polen“ (1942 − 1945) und die Kenntnis vom Holocaust: Hin zu einer Methodik. Riedel, Erik; Wenzel, Mirjam (Hrsg.): Ludwig Meidner. Expressionismus, Ekstase, Exil / Expressionism, Ecstasy, Exile. Berlin: Gebr. Mann, 2018, 279 − 297. 5 Siehe Grundigs Autobiografie: Gesichte und Geschichte. Berlin: Dietz, 1958; Sukrow, Oliver: Lea Grundig, sozialistische Künstlerin und Präsidentin des Verbandes Bildender Künstler in der DDR (1964 − 1970). Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2011. 6 Siehe hierzu etwa die Werke der Kriegskünstler Edgar Ainsworth (1905 − 1975) und Feliks Topolski (1909 − 1987): Ainsworth, Edgar: Victim and Prisoner. Picture Post, 22.9.1945. https://www.iwm.org.uk/collections/item/object/95 (20.8.2019); Topolski, Feliks: Three Continents, 1944 − 45: England, Mediterranean convoy, Egypt, East Africa, Palestine, Lebanon, Syria, Iraq, India, Burma front, China, Italian campaign, Germany defeated. London: Methuen, 1946. 7 Tolkatchev, Zinovii: Flowers of Oświęcim. Krakau: M. H. Rubin, 1947. Die erste Auflage dieses Buchs und ein weiterer Band mit dem Titel Majdanek waren bereits 1945 eben-
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falls in Krakau erschienen. Zu Tolkatchev siehe: Shendar, Yehudit (Hrsg.): Der Soldat Tolkatchev an den Toren zur Hölle. Die Befreiung von Majdanek und Auschwitz: Zeugnis eines Künstlers. Jerusalem; Yad Vashem, 2005; Yad Vashen: Die Biografie Zinovii Tolkatchevs. https://www.yadvashem.org/yv/de/exhibitions/tolkatchev/about_tolkatchev. asp (20.8.2019). 8 Siehe Touster, Saul: A Survivors’ Haggadah. Written, designed, and illustrated by Yosef Dov Sheinson with woodcuts by Miklós Adler. Philadelphia: JPS, 2000; vgl. auch den Beitrag zu Pessach 1946 in diesem Band. 9 Zu Bálint siehe Véri, Dániel: A holokauszt és a zsidó identitás szimbolikus ábrázolásai (1939 − 1960) (Bálint Endre, Martyn Ferenc, Major János és Maurer Dóra grafikái). Pataki, Gábor (Hrsg.): Szigorúan eellenőrzött nyomatok. A magyar sokszorosított grafika 1945 − 1961 között. Miskolc: Herman Ottó Múzeum − Miskolci Galéria, 2018, 40 − 71. Zielezinski, der nach seiner Emigration in die USA unter dem Namen George Ziel als Buchillustrator tätig war, wurde, obwohl selbst nicht jüdisch, mit seiner jüdischen Verlobten im Warschauer Ghetto interniert und später nach Auschwitz deportiert. Siehe Hoffmann-Curtius, Kathrin: Bilder zum Judenmord. Eine kommentierte Sichtung der Malerei und Zeichenkunst in Deutschland von 1945 bis zum Auschwitz-Prozess. Marburg: Jonas-Verlag, 2014, 74 − 85; Munroe, Lynn: George Ziel. http://lynn-munroe -books.com/list62/GEORGE_ZIEL2.htm (20.8.2019); Lynn Munroe Books: George Ziel 2014 Update. http://lynn-munroe-books.com/list62/Zielupdate.htm (20.8.2019). 10 Siehe auch den Beitrag von Natalia Aleksiun in diesem Band.
KÜNSTLERGRAFIKEN ALS MAHNMALE UND DOKUMENTE DES VÖLKERMORDS
Miklós Adler, Der Waggon, aus: 16 fametszete (16 Holzschnitte), Debrecen 1947. YIVO Institute for Jewish Research, New York. In der Einleitung schreibt der Künstler: „Dieses Buch hat keinen Titel, denn man kann kein Wort finden, um annähernd zu beschreiben, was mit den europäischen Juden in den letzten Jahren geschah.“
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IN MITTEL- UND OSTEUROPA DER UNMITTELBAREN NACHKRIEGSZEIT JOANNA TOKARSKA-BAKIR Zu den besonders erschreckenden Dimensionen der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte gehört die Welle antijüdischer Pogrome in Mittel- und Osteuropa.1 Tatsächlich begann dieses Kapitel in der Geschichte der Pogrome schon während des Kriegs. Im sowjetisch kontrollierten Kirgisien wurden an Pesach 1943 mehrere Juden, darunter der Leiter der örtlichen Vorschule Rokhl Tversky, beschuldigt, einen russischen Jungen entführt zu haben, dessen Vater beim örtlichen Militär eine prominente Funktion innehatte.2 Zwar wurde das Kind bald gefunden, doch wurde Tversky, der versuchte, die Behörden auf den politischen Charakter der Anschuldigungen aufmerksam zu machen, mundtot gemacht, indem man ihn entließ. Im Sommer 1944 gab es nach dem Abmarsch der Roten Armee in Richtung Berlin im ostukrainischen Dnepropetrowsk (dem heutigen Dnipro) einen weiteren Anlauf zu einem Pogrom.3 Die Behörden (einschließlich des Zentralkomitees in der Ukrainischen Sowjetrepublik) hielten sich angesichts dieser Vorfälle weitestgehend zurück. Sie wurden zwar nicht geleugnet, doch zeigten die Behörden keinerlei Bestrebung, sich mit ihnen im Zusammenhang mit der nach dem Krieg geübten Vergeltung an ukrainischen Nazikollaborateuren als systematisch vorkommendem Phänomen auseinanderzusetzen. Da die antijüdischen Übergriffe von Arbeitern und Bauern ausgingen, die vorübergehend in die Wohnungen von Juden zogen, handelte es sich um ein heikles politisches Problem.
POGROME IM JAHR 1945 In den sowjetischen und von den Sowjets kontrollierten Gebieten kam es unmittelbar nach der Befreiung zu weiteren antijüdischen Gewaltakten. In der
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Särge von Pogromopfern in Kielce, Polen, 1946. Foto: Julia Pirotte, Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau
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JOANNA TOKARSKA-BAKIR
Angeklagte beim Prozess nach dem Pogrom in Kunmadaras, der in der Großen Halle des Komitats Szolnok abgehalten wurde, 1946. Magyar Távirati Iroda, Budapest
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Zeit von Mai bis Juli 1945 breiteten die Ausschreitungen sich bis in die vom Krieg verschont gebliebene Stadt Rubzowsk in der westsibirischen Region Altai Krai aus.4 Ein Streit, zu dem es auf dem örtlichen Markt wegen eines Huhns kam, wuchs sich zu einem antijüdischen Pogrom in der Gegend um das Stadion der Stadt aus. 5 Am 2. Mai 1945 wurden antijüdische Vorfälle aus dem tschechoslowakischen (heute zur Slowakei gehörenden) Košice gemeldet.6 Den Vorwand für diese Angriffe boten die Versuche einiger Juden, ihr während des Kriegs verlorenes Eigentum zurückzuerlangen.7 Verschärft wurde die Lage durch grundlose Anschuldigungen, Juden hätten sich hinter der Front dem Kriegseinsatz entzogen oder (im Fall der Tschechoslowakei) mit den Nazis kollaboriert. Dabei hatten Juden in zahlreichen Armeen und Widerstandsgruppen gegen die Nazis gekämpft. Die Behauptungen jüdischer Feigheit oder Kollaboration dienten lediglich zur Verschleierung der tatsächlichen Absichten jener, die sie erhoben. Ihnen ging es darum, Restitutionsforderungen der Juden vorzubauen und von ihren eigenen Handlungen während des Kriegs abzulenken. Im Februar 1945 wurden im südostpolnischen Leżajsk vierzehn Juden getötet. Dieser Vorfall ist erst vor Kurzem rekonstruiert worden. Er verweist auf einen der politischen Faktoren, durch die die Pogrome motiviert waren. In der Nacht vom 18. auf den 19. Februar 1945 wurden mehrere Holocaust-Überlebende, die aus Sicherheitsgründen – unter anderem im Restaurant Puderbeutel und in Chaskiel Potaschers Haus an der Mickiewiczastraße 19 – gemeinsam untergebracht waren, ermordet. Mehrere polnische und sowjetische Soldaten, die sich vorübergehend in Leżajsk aufhielten, waren bei ihnen einquartiert worden. Im Laufe des Angriffs, der von einer von Józef Zadzierski geleiteten Einheit ausgeführt wurde, der Mitglieder der NSZ und der Nationalen Militärorganisation (Narodowa Organizacja Wojskowa, NOW) angehörten, kamen die Häuser unter Artillerie- und Granatenbeschuss. Die Bewohner ergaben sich erst, als es den Angreifern gelang, vom Hof aus ein Loch in eine der Mauern zu sprengen. Nachdem sie sich Zugang zu dem Gebäude verschafft hatten, erschossen die Milizionäre sämtliche im Haus befindliche Personen, einschließlich der Frauen, Kindern und Alten. Die Behauptung von Marek Jan Chodakiewicz, eines arrivierten nationalistischen polnischen Historikers, die Juden hätten sich „in Räumlichkeiten des NKWD“, also des sowjetischen Volkskommisariats des Inneren befunden, entbehrt daher jeglicher Grundlage.8 Die gleiche Untergrundeinheit war für zwei weitere Übergriffe verantwortlich: Am 1. März 1945 ermordeten sie in Kisielów sieben Juden (darunter drei Kinder) und am 31. März 1945 in Kańczuga dreizehn weitere Juden, darunter die schwangere Chana Krieger und drei Kinder. In der Nacht vom 18. auf den 19. April fielen sechs Juden in Klimontów Sandomierski Angreifern
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in polnischen Uniformen zum Opfer. Zwölf Juden wurden bei Angriffen in Czyżew-Osada am 24. Mai ermordet, darunter acht Frauen.9 Und drei Tage später, am 27. Mai wurden in Przedbórz weitere acht Juden getötet. Diese Liste ließe sich fortführen. In fast allen Fällen waren die Morde durch die Behauptung motiviert, die Opfer hätten mit dem NKWD kollaboriert. Dies hielten die Täter für eine hinreichende Rechtfertigung, um selbst ungeborene Kinder zu töten. Auch die verheerende Ritualmordbeschuldigung tauchte in Pogromen und antijüdischer Gewalt im polnisch-ukrainischen Grenzgebiet als Motiv auf.10 Ende März, Anfang April 1945 kamen in der polnischen Stadt Chełm Gerüchte auf, Juden würden Kinder entführen. Die örtliche Miliz beschuldigte eine kleine Gruppe von Juden, sie hätten einen christlichen Jungen verschleppt, um an sein Blut zu gelangen. Einer der Beschuldigten wurde gefoltert.11 Zum ersten echten Pogrom kam es am 11. und 12. Juni 1945 im polnischen Rzeszów, nachdem im Keller eines Hauses an der Tannenbaumastraße, in dem auch Juden lebten, die von Ratten verstümmelte Leiche einer Jugendlichen gefunden wurde. Die jüdischen Mieter wurden sofort verdächtigt. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die Offiziere der von den Kommunisten kontrollierten Bürgermiliz (Milicja Obywatelska, MO) völlig ungenügende Ermittlungen durchführten, da sie selbst von vornherein von der Schuld der Juden überzeugt waren. Erst die gerichtsmedizinische Untersuchung des in der Wohnung der Juden gefundenen Bluts bewies, dass es sich um Hühnerblut handelte (einer der Mieter arbeitete als Schochet). Das Gerücht von der angeblichen Schuld der Juden wurde zudem durch den Bericht einer antikommunistischen Untergrundorganisation in Umlauf gebracht, der weite Verbreitung fand. Dem Report zufolge bräuchten die Juden Kinderblut nicht nur (wie es seit dem Mittelalter stets geheißen hatte) für die Herstellung ihres Maza-Brots für Pesach, sondern auch für regenerative „Transfusionen“. Gerettet wurden die Juden Rzeszóws durch die energische Intervention des örtlichen kommunistischen Sicherheitsdiensts (Urząd Bezpieczeństwa, UB), der durch einen der stellvertretenden Kommandeure im regionalen Hauptquartier der örtlichen Bürgermiliz, den polnischen Juden Roman Orłowski, eingeschaltet wurde. Der Sicherheitsdienst evakuierte die gefährdeten Juden umgehend aus der Stadt.12 Zwei Tage später, am 14. Juni 1945, kam es auf dem Krakowskiplatz im ukrainischen Lwow (dem heutigen Lwiw) zu einem ähnlichen Pogrom.13 Ausgelöst wurde es durch Gerüchte, denen zufolge Juden polnische und ukrainische Kinder entführen und deren Leichen im Keller unter der Synagoge verbergen würden. Die Synagoge wurde gründlich durchsucht, doch fanden sich keinerlei Spuren, die auf die Ermordung von Kindern hingedeutet hätten.14 Es stellte sich heraus, dass der Schmied Ivan Fedak, der die Menge aufgehetzt
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und versucht hatte, sie zum Niederbrennen der Synagoge zu bewegen, ein notorischer Kollaborateur war. Während des Kriegs war er als Berater der deutschen Polizei und Wächter in einem Lwower Lager, in dem Juden gefangen gehalten wurden, tätig gewesen und nach dem Krieg als Informant des NKWD.15 Diese Beispiele verweisen darauf, wie verschiedene Elemente – traditionelle antisemitische Vorstellungen (etwa die Ritualmordbeschuldigung), von der Naziideologie verbreitete rassistische Bilder und die von den befreienden Sowjets eingeleiteten politischen Maßnahmen – sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf besonders verheerende Weise vermischten und zu antijüdischen Ausbrüchen seitens der örtlichen Bevölkerungen führten. Auch bei Ausschreitungen in Krakau spielte die Ritualmordbeschuldigung eine Rolle. Zunächst kursierte am 27. Juli 1945 das Gerücht, auf dem Marktplatz im Stadtteil Kleparz sei ein Kind von einer jüdischen Frau entführt worden.16 Am 11./12. August kam es dann im Bezirk Kazimierz zu einem klassischen Pogrom.17 Es begann mit einer Provokation: Jungen bewarfen die Kupasynagoge in der Miodowastraße 27 während des Sabbatgottesdiensts mit Steinen. Der Schammes (anderen Angaben zufolge war es ein jüdischer Angehöriger der polnischen Streitkräfte) ergriff die Provokateure und versuchte, sie an die Bürgermiliz (MO) zu übergeben. Daran wurde er durch den zwölfjährigen Antoni Nijaki gehindert, der später aussagte, ein Mann in MO-Uniform habe ihn angewiesen, aus der Synagoge zu rennen und zu rufen, die Juden hätten versucht, ihn zu ermorden.18 Daraufhin erstürmte die versammelte Menge die Synagoge, begann die Einrichtung zu verwüsten und versuchte, sie in Brand zu stecken. Die heiligen Schriftrollen und Bücher wurden zerstört und die wenigen nach der Schoa in die Stadt zurückgekehrten Juden, die dort beteten, auf die Straße gezerrt und geschlagen. In der Menge befanden sich nicht nur gewöhnliche Bürger, sondern auch Eisenbahnarbeiter, Offiziere der MO und polnische Soldaten. Sowjetische Soldaten kamen den Opfern jedoch zu Hilfe. Die Täter drangen außerdem in das jüdische Wohnheim in der Miodowastraße 26 und das jüdische Studentenhaus in der Przemyskastraße 3 ein. In anderen Stadtteilen, beispielsweise auf dem Szczepańskiplatz, erklärten die Marktfrauen, sie würden ihre „Stände schließen und Juden verprügeln gehen“. Auf dem Tandetamarkt in Kazimierz riefen sie: „Die Juden sind aus ihren Löchern gekrochen gekommen, die Juden haben sich wie Wanzen vermehrt, wir müssen die Juden erledigen.“19 Die Menge brach auch in Privatwohnungen ein, um sie zu plündern und die darin wohnenden Juden zu verprügeln.20 Zwei Menschen wurden während des Pogroms getötet, und es gab zahlreiche Verletzte. Auch im slowakischen Teil der Tschechoslowakei gab es mehrere Pogrome, so im Juli 1945 in Prešov,21 Humenne und Michalovice und im September in Vel’ké Topoľčany, 22 Chynorany und Žabokreky.23 In Vel’ké Topoľčany war
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der Rechtsextremismus traditionell stark und drei Viertel der vor dem Krieg in der Stadt lebenden Juden waren umgekommen. Die Rückgabe während des Kriegs im Rahmen der Arisierung beschlagnahmten Besitzes an seine jüdischen Eigentümer führte immer wieder zu Spannungen (allerdings gab es dieses Problem nicht nur in dieser Region). Den unmittelbaren Vorwand für die dortigen Ausschreitungen bot das Gerücht, eine von Nonnen betriebene örtliche Schule solle geschlossen oder verstaatlicht werden. Vor der Schule sammelten sich schließlich mehrere tausend Demonstranten (und das in einer Stadt mit nur 9000 Einwohnern). Es waren allerlei wüste Gerüchte im Umlauf: Die Juden würden die Kruzifixe von den Wänden reißen und die Nonnen misshandeln; sie beabsichtigten, die Straßen mit den Schädeln von Christen zu pflastern. Es gab Forderungen, die jüdischen Kinder der Schule zu verweisen. Die jüdischen Ärzte, denen im Zusammenhang mit der eingeführten Impfpflicht für die jungen Bewohner der Stadt mörderische Absichten unterstellt wurden, sollten ihre Approbation verlieren. Einer der Ärzte, K. Berger, wurde aus der belagerten Schule gezerrt, entging aber wie durch ein Wunder dem sicheren Tod, weil er sich im Gebäude der kommunistischen Staatssicherheit (Národna bezpecnost, NB) verstecken konnte. Die Behörden reagierten nur langsam auf den Pogrom und schickten nur wenige Offiziere, um die Ausschreitungen zu beenden. Um die gleiche Zeit kam es auch in polnischen Städten zu weiteren antijüdischen Ausschreitungen, so in Przemyśl, 24 Radomsk, Łódź, Zwoleń, nochmals in Chełm (am 14. August 1945)25 und in Bydgoszcz.26 Am 4. September 1945 kam es in der ukrainischen Hauptstadt Kiew (dem heutigen Kyiv) zu einem Pogrom. Auf der Bazarnajastraße geriet ein NKWD-Offizier namens Josif Rozenshtein an zwei im Urlaub befindliche betrunkene Rotarmisten, Ivan Grabar und Nikolai Mielnik, die ihn als „Taschkenter Partisanen“ beschimpften. Hinter dieser allgemein gebräuchlichen herabsetzenden Bezeichnung verbarg sich der Vorwurf, die Juden hätten sich im Krieg hinter der Front verschanzt, um nicht kämpfen zu müssen.27 Als es zu Handgreiflichkeiten zwischen ihnen kam, wurde Rozenshtein verletzt. Es gelang ihm zu ermitteln, wo Grabar und Mielnik wohnten. Darauf zog er seine NKWD-Uniform an und machte sich mit zwei bewaffneten Freunden auf den Weg, um sie festzunehmen. Als sie Widerstand leisteten, erschoss er sie mit seiner Dienstpistole. Ukrainische Milizionäre, die in der Kitajewskajastraße patrouillierten, wurden auf die Schüsse aufmerksam, kamen hinzu und überwältigten Rozenshtein, der später zum Tod verurteilt und erschossen wurde. Aus Ilya Luvishs Untersuchung der Ermittlungsakten geht hervor, dass die Umstände dieses Zwischenfalls für die unmittelbare Nachkriegszeit durchaus typisch waren. Die Familie des einen Rotarmisten, der Rozenshtein beleidigt hatte, lebte in einer Wohnung, die Juden gehört hatte. Diese waren während des Kriegs nach Usbekistan geflohen, hatten so überlebt und wa-
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ren im Februar 1945 nach Kiew zurückgekehrt. Der Versuch des jüdischen Eigentümers, wieder an seine Wohnung zu gelangen, hatte den Rotarmisten verärgert, und er hatte seine Wut an Rozenshtein ausgelassen. Obgleich die Behörden die Lage durch die Festnahme Rozenshteins zu entschärfen suchten, verlangte die Menge nach einer kollektiven Bestrafung der Juden. Das Begräbnis Grabars und Mielniks am 7. September 1945 mündete in eine Demonstration, die sich zu einem mehrstündigen Pogrom am Galitskymarkt ausweitete, in dessen Verlauf fünf Menschen (darunter einige Juden) umkamen und mehr als 100 verletzt wurden.28
POGROME IM JAHR 1946 Im Mai und Juli 1946 wurden antijüdische Übergriffe aus den ungarischen Städten Kunmadaras und Miskolc gemeldet.29 In Kunmadaras spielten die Versorgungsschwierigkeiten eine Rolle. Die kommunistische Regierung reagierte auf das Problem mit einer Kampagne gegen „Spekulanten“, die sie konsequent mit „semitischen“ Zügen darstellte. Ähnlich wie bei den bereits erwähnten Pogromen in Polen und der Sowjetunion kamen hier traditionelle antisemitische Vorstellungen, Gerüchte und politische Maßnahmen der Kommunisten zusammen, um den Funken zu schlagen, der die antijüdische Gewalt auslöste. In diesem Fall waren ganz besonders abwegige Gerüchte in Umlauf, denen zufolge die Juden aus den Leichen von Kindern, die aus der Stadt Karcag verschwunden waren, Würste herstellen würden.30 Von den 250 Juden, die vor dem Krieg in Kunmadaras lebten, hatten ohnehin nur 75 überlebt. Nun mündete, was anfangs ein banaler Streit um den Eierpreis gewesen war – ein jüdischer Händler namens Klein wurde von seinen Kundinnen beschuldigt, den Preis in die Höhe getrieben zu haben, um „die ungarische Nation zu zerstören“ – in einen Pogrom. Eine der betreffenden Kundinnen war Eszter Kabai Tóth, die Frau von Zsigmond Tóth, der emsig das Gerücht verbreitete, „dass es die Juden waren, die die verschwundenen Kinder entführt haben. Daher sollten sie alle gehenkt werden.“31 Als den Tätern der Prozess gemacht wurde, stellte sich heraus, dass manche der Beteiligten zuvor in einem ungarischen SSRegiment gedient hatten. Dies war nichts ungewöhnliches, wie Peter Kenez pointiert bemerkte, hatte die kommunistische Partei in Ungarn 1945 etwa 500 000 Mitglieder. Davon bildeten die jüdischen Überlebende in Budapest die eine Hälfte und Faschisten – ehemalige Pfeilkreuzler, die ein Jahr zuvor noch mit der Ermordung von Juden befasst waren – die andere. 32 Die kommunistischen Behörden unternahmen keinerlei Anstrengungen, den antisemitischen Ursachen des weit verbreiteten ungarischen Antisemitismus zu begegnen.
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Trauernde tragen Kränze und Transparente bei der Beerdigung der Kielce-Pogromopfer am 8. Juli 1946. United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C., courtesy of Leah Lahav
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Trauerzug für die Pogromopfer in Kielce, 8. Juli 1946. Foto: Julia Pirotte, Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau
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Am 4. Juli 1946 ereignete sich im polnischen Kielce der blutigste aller Nachkriegspogrome, bei dem mehr als 40 Menschen ermordet und mehr als 100 verletzt wurden.33 Auch hier wurden die Ausschreitungen durch eine Ritualmordbeschuldigung ausgelöst. Der achtjährige Henio Błaszczyk behauptete, er sei von Juden entführt worden. Der Vorfall wurde einem Zivilbeschäftigten der MO, Stefan Sędek, gemeldet. Sędek hatte vor dem Krieg den Kielcer Ableger der rechtsextremen Partei Nationalradikales Lager (Obóz Narodowo-Radykalny, ONR) gegründet. Die MO-Patrouille, die er entsandte, um die Räumlichkeiten des Jüdischen Komitees zu durchsuchen, verbreitete auf dem Weg dorthin das Gerücht, die Juden würden Kinder gefangen halten. Schnell versammelte sich eine Menge, die in der Annahme, im dortigen Keller befänden sich die Leichen ermordeter Kinder, das Gebäude umstellte. Viele Angehörige der Kielcer MO schlossen sich bei den Ausschreitungen der wütenden Menge an. Die in Kielce stationierten Einheiten der kommunistischen Geheimpolizei (UB) und sowjetischen Truppen mochten nicht eingreifen, und dem Blutvergießen wurde erst Einhalt geboten, als militärische Verstärkung aus Warschau eintraf. Auch in den Zügen, die durch Kielce und das etwa 100 Kilometer westlich von Kielce gelegene Częstochowa fuhren, wurden Juden ermordet. Neun Täter wurden im Eilverfahren zum Tod verurteilt, wodurch eine gewisse Beruhigung der Lage eintrat. Die jüngsten Nachforschungen, die in den Archiven mit Blick auf die Biografien der Kielcer MO-Offiziere, die zu den Pogromen entsandt wurden, unternommen wurden, haben ergeben, dass viele von ihnen während des Kriegs in antikommunistischen Untergrundorganisationen aktiv und in die Ermordung von Juden verwickelt waren. Ähnlich wie in anderen Ländern in der sowjetischen Einflusssphäre mangelte es den von den Sowjets eingesetzten Staatssicherheitsbehörden an Legitimation. In dem Bestreben, sich beliebt zu machen und die Sympathien der „Massen“ zu erwerben, drückten sie beim Antisemitismus ein Auge zu.34 Nach diesem Höhepunkt im Sommer 1946 machten auch in anderen polnischen Städten Gerüchte die Runde, die dazu geeignet waren, Pogrome auszulösen, so beispielsweise in Tarnów, nochmals in Kraków, in Częstochowa, Radom, Ostrowiec Świętokrzyski, Białobrzegi, Dęblin, Łódź, SkarżyskoKamienna, Starachowice, Pionki und Kalisz. In Kalisz hieß es, die Juden hätten 24 Jungen entführt, ihr Blut getrunken und ihre Leichen an die Ukrainer beziehungsweise die „Sowjets“ verkauft, die sie zu Wurst verarbeitet hätten.35 Im August 1946 kam es auch in der Slowakei zu einer erneuten Pogromwelle. Betroffen von der Gewalt waren unter anderem Veľka Bytča, Bratislava,36 Nové Zámky, Žilina, Komàrne, Čadca, Dunajská Streda und Ispoľske Šahy. Der Pogromimpuls erlosch erst 1948, nachdem ein weiterer Versuch, antijüdische Ausschreitungen in Bratislava zu initiieren, scheiterte,
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doch flackerte er in den 1950er Jahren nochmals auf. In Polen machte sich die Ritualmordbeschuldigung 1947 zu Ostern und nochmals im Mai an Orten wie Bytom, Białystok und in der Region Brzesko erneut bemerkbar und 1949 wiederum in Częstochowa, Włocławek und Kraków. In diesen Fällen versammelten sich angesichts der Gerüchte zwar etliche Menschen, doch kam es nicht zum Pogrom. Im Umgang mit den Nachkriegspogromen hat es zahlreiche Auseinandersetzungen gegeben, etwa im Zusammenhang mit den behaupteten Provokationen seitens des NKWD oder der Zionisten (denen es darum gegangen sein soll, auf diesem Weg die Auswanderung der Juden nach Palästina zu erzwingen), mit der Bedeutung der Ritualmordbeschuldigung als Auslöser der Pogrome oder mit der Rolle von Frauen als Initiatorinnen von Pogromen. Die These, dass Frauen als Provokateurinnen eine bedeutsame Rolle spielten, hat insbesondere mit Blick auf die Ereignisse in Kielce erhebliche Verbreitung gefunden. Aus einer um die Jahrtausendwende durchgeführten Untersuchung des Instituts für Nationales Gedenken (Instytut Pamięci Narodowej, IPN) und der jüngsten Forschung geht hervor, dass es für diese These keine Beweise gibt.37 Die Annahme, Frauen seien bei den Pogromen „überrepräsentiert“ gewesen, beruht auf einem Missverständnis und spiegelt tiefsitzende unterschwellige genderspezifische Annahmen wider. Da die Gesellschaft ihnen traditionell Schutzfunktionen innerhalb der Familie zugeschreibt, ist bei Frauen schnell von einer „übermäßig hohen“ Aggressivität die Rede, obwohl das gleiche Verhalten bei Männern nicht als auffällig gelten würde.
INDIVIDUELLE ANGRIFFE AUF JUDEN Unter Pogromen verstehen wir Formen der sozialen Kontrolle, die eine korrumpierte Mehrheit einsetzt, um eine Minderheit in die Schranken zu weisen, 38 und die auf einer unkritischen Zuschreibung kollektiver Verantwortung seitens der Minderheit beruht. Legt man diese Definition zugrunde, ereigneten sich in Mittel- und Osteuropa in den Jahren 1945 bis 1948 etwa 50 Pogrome. Weiten wir die Definition aber dahingehend aus, dass sie nicht nur Formen der kollektiven Gewalt, sondern auch individuelle Angriffe auf Juden umfasst, lässt sich die Gesamtzahl nur schwer schätzen.39 Hinter den antijüdischen Übergriffen der unmittelbaren Nachkriegszeit steckte, ähnlich wie bei vielen anderen Verbrechen, selten nur ein Motiv. Die Schutzbehauptung, die Juden würden mit den Kommunisten kollaborieren, die diese Morde in den Augen mancher polnischen Historiker bis heute pauschal rechtfertigen, ist fast immer mit der Ausplünderung der Juden ver-
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bunden. Für die Überlebenden der Schoa, die mit der Feindseligkeit einer Gesellschaft konfrontiert waren, die sich ihres Eigentums bemächtigt hatte, war diese „Kollaboration“ neben der Auswanderung die einzige Überlebensmöglichkeit. Die Wirtschaftspolitik der Kommunisten stellte zwar eine Gefahr für die wirtschaftlichen Interessen der Juden und letztlich für ihre Fähigkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, dar, doch waren sie die einzige Kraft, die sie vor dem weit verbreiteten Antisemitismus der Bevölkerung schützen konnte.40 Aus Platzgründen kann hier auf die kontroversen Diskussionen über die Ursachen der beschriebenen antijüdischen Gewalt der unmittelbaren Nachkriegsjahre nicht eingegangen werden. Von den zahlreichen in Umlauf befindlichen Theorien sollen jedoch zwei erwähnt werden: Eine allgemeine semiotische und eine historisch spezifische. In einer prominenten Studie zum Hexenwesen in der Frühen Neuzeit hat Juri Lotman das kollektive Verhalten von Menschenmengen in Krisenzeiten untersucht. Dabei stellte er die scheinbar einleuchtenden Theorien infrage, denen zufolge Gewalt eine Reaktion auf Spannungen sei, und argumentierte, dass Panik nicht angesichts einer Bedrohung entstehe, sondern die Gewalt durch Furcht verursacht werde.41 Eine Gesellschaft, die von Furcht überwältigt werde, deren Ursache aber nicht identifizieren könne, projiziere ihre Furcht auf ein semiotisch konstruiertes feindseliges Objekt. Diese Konstruktion erfolge nicht anhand der objektiven Realität, sondern anhand der Codes der verängstigten Gesellschaft selbst. Als Objekt diene dabei in der Regel der schwächste und am wenigsten bedrohliche Teil der von Furcht überwältigten Gruppe.42 Die Wahl der Gruppe, so Lotman, beruhe auf einer paradoxen Dialektik von Minderheit und Mehrheit. Die Ausgangsannahme bestehe darin, dass „wir“ die Mehrheit seien. Die anwachsende Furcht nähre jedoch zunehmends die Überzeugung, dass „es Menschen unter uns gibt, die verborgene fremde Kräfte vertreten und die identifiziert und neutralisiert werden müssen. Schon bald erreicht die Phobie die nächste Stufe und die Massen fangen an, sich wie eine Minderheit zu fühlen: „Wir sind von Feinden umgeben.“43 So würden Hexenverfolgungen beginnen. Eine historisch spezifische Erklärung hat der polnische Wissenschaftler Andrzej Żbikowski vorgeschlagen. Schon vor Kriegsende habe der „Wunsch nach einer ethnischen Säuberung, um die durch den Holocaust geschaffene ethnische Landschaft dauerhaft zu festigen“, in gewissen polnischen Verschwörerkreisen eine wichtige Rolle gespielt.44 Dieses Ziel habe Einstellungen widergespiegelt, die in den polnischen Provinzen weit verbreitet waren, nachdem das enorme kulturelle Kapital der polnischen Juden von den Besatzern geplündert und von Polen als „zurückgelassenes Eigentum“ übernommen worden war.
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So stelle die Verfolgung der Juden unmittelbar nach dem Krieg in der Region Kielce eindeutig eine Form der wirtschaftlich motivierten ethnischen Säuberung dar. Von den etwa 2000 polnischen Juden, die den Krieg in der Region überlebten (das entsprach ein bis zwei Prozent der jüdischen Vorkriegsbevölkerung), wurden in der Zeit von März 1945 bis zum 4. Juli 1946 schätzungsweise 100 ermordet. Rechnen wir die Opfer des Pogroms in Kielce hinzu, ergibt sich, dass in den ersten anderthalb Jahren nach dem Krieg jeder 14. Jude ermordet wurde, also ungefähr sieben Prozent der Überlebenden umkamen.45 Den Höhepunkt dieser Welle der Gewalt stellte der Pogrom in Kielce am 4. Juli 1946 dar, den manche als vierten Abschnitt des Holocaust bezeichnet haben. Gleich am nächsten Tag begann die umfangreichste Auswanderungsbewegung in der Geschichte Polens. Im Ergebnis verließen mehr als 100 000 polnische Juden das Land.
Hof des Notaufnahmezentrums in Bratislava mit polnisch-jüdischen Flüchtlingen, die nach dem Pogrom von Kielce in die Tschechoslowakei geflohen sind, Sommer 1946. JDC Archives, New York
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Zur hier zugrunde gelegten Definition des Pogroms, siehe die Angaben in Fußnote 38. Rozental, Nisn: Yidish lebn in ratnfarband. Tel Aviv: I. L. Peretz, 1971, 164, zitiert nach Bemporad, Elissa: Empowerment, Defiance, and Demise: Jews and the Blood Libel Specter under Stalinism. Jewish History 26 (2012), 355. 3 Weiner, Amir: Making Sense of War. The Second World War and the Fate of the Bolshevik Revolution. Princeton: Princeton University Press, 2001, 192. 4 Gemeinsamer Brief mehrerer Arbeiter der Landwirtschaftsmaschinenfabrik in Rubzowsk an Solomon Mikhoels vom Jüdischen Antifaschistischen Komitee, 12.7.1945 (Dokument Nr. 39), abgedruckt in Redlich, Shimon [u. a.] (Hrsg.): War, Holocaust and Stalinism: A Documented Study of the Jewish Anti-Fascist Committee in the USSR. Luxemburg: Harwood Academic Publishers, 1995, 228 − 230; Luvish, Ilya: From the Lonely Cellar to the Crowded Street: The Progression of Anti-Semitic manifestations in Postwar Poland and the Soviet Union, 1944 − 1947. Boston, Senior Honors Thesis, 2005. 5 Weiner, Making Sense of War, 191 − 235. 6 Cichopek, Anna: Beyond Violence: Jewish Survivors in Poland and Slovakia, 1944 − 1948. Cambridge: Cambridge University Press, 2014, 217 − 218. 7 Tsanin, Mordechai: Iber shteyn un shtok. A rayze iber hundert horev-gevorene kehiles in Poyln. Tel Aviv: Letste nayes, 1952, 178 − 1 80. 8 Surdej, Mirosław: Okręg Rzeszowski Narodowej Organizacji Wojskowej – Narodowego Zjednoczenia Wojskowego w latach 1944 − 1947. Rzeszów: IPN, 2018, 337. 9 Siehe Tokarska-Bakir, Joanna: Terror in Przedbórz. The Night of 27/28 May 1945. East European Politics and Societies and Cultures (noch nicht erschienen). 10 Zur Ritualmordbeschuldigung im Allgemeinen siehe Tokarska-Bakir, Joanna: Légendes du sang. Pour une anthropologie de l’antisémitisme chrétien. Paris: Albin Michel, 2015. 11 S. Herszenhorn, IX Sprawozdanie z działalności Referatu d.s. Pomocy Ludności Żydowskiej za m-c marzec 1945, 4.4. 1945, ka. 5, MiP, 753, Zentralarchiv für Moderne Akten (Archiwum Akt Nowych, AAN), Warschau. 12 Kaczmarski, Krzysztof: Pogrom którego nie było. Rzeszów 11 − 12 czerca 1945. Fakty, hipotezy, dokumenty. Rzeszów: Instytut Pamięci Narodowej, 2008, 34. 13 Luvish: From the Lonely Cellar to the Crowded Street, 9 − 19. 14 Bericht über die Durchsuchung unterzeichnet vom Staatsanwalt der Region Lwow (Lavreniuk) und Vorsteher der Sonderdienststelle des NKWD in Lwow (Malar), 14.6.1945, Akta sprawy Fedaka, fond P-3258, vol. 2, case 4757 II-1567, Derzavnyi Arkhiv Lvivskoi Oblasti (DALO). 15 Tokarska-Bakir, Joanna: Pod klątwą. Społeczny portret pogromu kieleckiego. Warschau: Czarna Owca, 2018, Bd. 1, 14, 175 − 177 und Kapitel 12. 16 Wolność i Niezawistość (Freedom and Independence WIN) Archiv-Sammlung, 923, UW II, Nationalarchiv Krakau. 17 Cichopek, Beyond Violence, 123 − 127. 18 Den Angaben des KNWD zufolge hatten uniformierte Täter die Synagoge gestürmt und vier Juden wegen Ritualmords festgenommen und zur nahegelegenen Polizeiwache gebracht. Anschließend hätten „zahlreiche Milizionäre begonnen, Juden festzusetzen und zu schlagen“. Siehe Krivienko, Siergiej: Raporty z Polski. Karta 5.15 (1995): 32. 19 Bericht über die antijüdischen Vorfälle in Kraków am Samstag, dem 11.8.1945, fo. 14, 295/ VI/28, KC PPR, AAN. 20 Kwiek, Julian: Żydzi, Łemkowie, Słowacy w województwie krakowskim wlatach 1945 − 1949/50. Kraków: Księgarnia Akademicka, 2002, 61 − 68. 21 Chronik der Stadt Prešov 1945 − 1948, 110 − 112, Okresný národný výbor v Prešove, I. manipulačné obdobie (1930) 1945 − 1948, Staatarchiv Prešov. 22 Kamenec, Ivan: Protižidovský Pogrom v Topoľčanach v Septembri 1945. Studia Historica Nitriensia 8 (2000), 85 − 97. 23 „Am Abend des 24. September begannen Menschen, sich im nahegelegenen Zabobreky zu versammeln. Die Rede war von Kindern, die in Topolcany angeblich infolge ihrer 2
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Impfung durch einen jüdischen Arzt gestorben seien. Einige Angehörige der örtlichen jüdischen Familien wurden angegriffen. Weil sie sich bedroht fühlten, flohen zwei Familien in der Nacht, woraufhin ihre Häuser geplündert wurden. Andere wurden auf der Flucht ausgeraubt.“ Hana Kubátová, „A zsidókról kialakult kép a háború utáni Szlovákiában“, Regio, 2016/2, 63 −80, 68. 24 In Przemyśl griffen vier Männer, die der Ritualmordbeschuldigung offenbar Glauben schenkten, eine jüdische Familie an. Sie töteten das Familienoberhaupt und seinen Schwiegersohn und verwundeten seine Tochter am 21. Juni 1945. Report, 24, 303 − 24, 303/I, CKŻP, Prezydium, Archiv des Jüdischen Historischen Instituts (Archiwum Żydowskiego Instytutu Historycznego, AŻIH). 25 Report, 178 − 1 80, 303/24, 1945, CKŻP, Prezydium, AŻIH. 26 Cała, Alina: Żyd – wróg odwieczny: Antysemityzm w Polsce i jego źródła. Warschau: Nisza, 2012, 470. 27 Oft wurde statt des korrekten Begriffs für Jude, „evrey“, die antisemitische Bezeichnung „zhid“ verwandt. Siehe Klier, John D.: Zhid: Biography of a Russian Epithet. Slavonic and East European Review 60.1 (1982): 1 − 15; Fitzpatrick, Sheila: Annexation, Evacuation, and Antisemitism in the Soviet Union, 1939 − 1946. Edele, Mark; Fitzpatrick, Sheila; Grossmann, Atina (Hrsg.): Shelter from the Holocaust. Rethinking Jewish Survival in the Soviet Union. Detroit: Wayne State University Press, 2017, 144. 28 Luvish: From the Lonely Cellar to the Crowded Street, [PAGE NUMBER?]; Weiner, Making Sense of War, 192, 375 − 377. Archiv-Documentation: d. 1394, op. 23, fo. 1, Tsentralnyi Dzerzhavnyi Arkhiv Hromadskykh Organizatsii Ukrainuu (TsDAHOu, vormals: Zentralarchiv der Kommunistischen Partei der Ukraine). 29 Siehe Pelle, János: Az utolsó vérvádak. Az etnikai gyűlölet és a politikai manipuláció kelet-európai történetéből. Budapest: Pelikán Kiadó, 1995, 149 − 246; Kenez, Peter: Hungary: From the Nazis to the Soviets. The Establishment of the Communist Regime in Hungary, 1944 − 1948. Cambridge: Cambridge University Press, 2006, 160 − 1 61. 30 Apor, Péter: The Lost Deportations and the Lost People of Kunmadaras: A Pogrom in Hungary, 1946. Hungarian Historical Review 2.3 (2013), 566 − 604, bes. ab Fußnote 43 bis S. 584. 31 Apor: The Lost Deportations, 584, n34. 32 Peter Kenez geht davon aus, dass die Mitglieder der Kommunistischen Partei in Ungarn sich unter anderem aus zwei grundverschiedenen Gruppierungen zusammensetzten. Die eine bestand aus Budapester Juden, die den Holocaust überlebt hatten. Für sie stellte die Invasion durch die Sowjets zweifelsfrei eine Befreiung dar. Die andere bestand aus gewöhnlichen Pfeilkreuzlern. Mithilfe ihrer jüdischen Genossen, die sich erstmals in einer privilegierten Position befanden, schlossen sie sich der Kommunistischen Partei an, um ihre Kollaboration während des Kriegs zu vertuschen (Kenez: Hungary: From the Nazis to the Soviets, 46). Richard White hat diese Art des Kompromisses, bei dem keine der Parteien einen entscheidenden Vorteil erringen kann, als „middle ground“ bezeichnet. Siehe White, Richard: The Middle Ground. Indians, Empires, and Republicans in the Great Lakes Region, 1650 − 1 815. Cambridge: Cambridge University Press, 2011. Die Machtstruktur im polnischen Kielce, wo der schwerwiegendste Pogrom der Nachkriegsjahre stattfand, spiegelte dieses Phänomen wider. 33 Szaynok, Bożena: Pogrom Żydów w Kielcach, 4. VII 1946 r. Warschau: Bellona, 1992; Gross, Jan Tomasz: Fear: Anti-Semitism in Poland After Auschwitz. New York: Random House, 2006. 34 Tokarska-Bakir: Pod klątwą, 2 Bde. Anita J. Prażmowska kam in einer früheren Studie zu einer ähnlichen Einschätzung der kommunistischen Machtstrukturen. Prażmowska, Anita J.: The Kielce Pogrom 1946 and the Emergence of Communist Power in Poland. Cold War History 2.2 (2002), 101 − 124. Sie bemerkte eine rasch zunehmende Anzahl ehemaliger AK-Mitglieder, die sich der Polnischen Arbeiterpartei PPR anschlossen. Hierbei dürfte es
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JOANNA TOKARSKA-BAKIR
sich um eine der von Kenez in Ungarn beobachteten ähnliche Form des ideologischen Konformismus gehandelt haben. 35 Paczkowski, Andrzej: Raporty o pogromie. Puls 50.3 (1991), 107 − 120. 36 Bericht des regionalen Kommandeurs der staatlichen Polizei über antijüdische Ausschreitungen in der Slowakei, 1. bis 4.8.1946, und die ergriffenen Gegenmaßnahmen (Dokument 6). Bulínová, Marie: Československo a Izrael v letech 1945 − 1956: Dokumenty. Prague: Ustav pro soudobe dejiny AV ČR, 1993, 35 − 3 8. Siehe auch Bumová, Ivica: Protižidovské výtržnosti v Bratislave v historickom kontexte. Pamäť národa 3 (2007), 14 − 29. 37 Kamiński, Łukasz; Żaryn, Jan (Hrsg.): Reflections on the Kielce Pogrom. Warschau: IPN, 2006; Tokarska-Bakir, Pod klątwą. 38 Ich beziehe mich auf Werner Bergmanns Definition des Pogroms, die ihrerseits auf der Konzeptualisierung Roberta Senechal de la Roches beruht. Siehe Senechal de la Roche, Roberta: Collective violence as social control. Sociological Forum 11.1 (1996), 1. Bergmann zufolge ist der Pogrom „eine einseitige, nichtamtliche Form der sozialen Kontrolle, der ‚kollektiven Selbsthilfe‘, die zur Anwendung kommt, wenn vom Staat kein Vorgehen gegen eine [empfundene, meist eingebildete] Bedrohung durch eine andere ethnische Gruppe erwartet werden kann“. Bergmann, Werner: Ethnic Riots in Situations of Loss of Control: Revolution, Civil War, and Regime Change as Opportunity Structures for AntiJewish Violence in Nineteenth- and Twentieth-Century Europe. Heitmeyer, Wilhelm [u. a.] (Hrsg.): Control of Violence. New York: Springer, 2011, 487. 39 Engel, David: Patterns of Anti-Jewish Violence in Poland, 1944 − 1946. Yad Vashem Studies 26 (1998), 43 − 85. Andrzej Żbikowski geht von mindestens 650 bis 700 Opfern aus. Żbikowski, Andrzej: The Post-War Wave of Pogroms and Killings. Tych, Feliks; Adamczyk-Garbowska, Monika (Hrsg.): Jewish Presence in Absence: The Aftermath of the Holocaust in Poland, 1944 − 2010. Jerusalem: Yad Vashem, 2014, 69. 40 Kenez, Hungary, 155. 41 Dies deckt sich mit den Annahmen Roy F. Baumeisters. „Zu sagen, dass die Emotionen dazu da sind, Handlungen zu initiieren,“ schrieb er, „wäre falsch. In der Regel ist es sogar unzutreffend, dass Emotionen Handlungen verursachen. In Wirklichkeit soll das Handeln Emotionen wecken. Emotionen sind nicht die Ursache, sondern eine wichtige Folge von Handlungen.“ Baumeister, Roy F. The Cultural Animal: Human Nature, Meaning, and Social Life. Oxford: Oxford University Press, 2005, 267. 42 Lotman, Juri: Okhota za ved’mami. Semiotika strakha / Witchhunts: semiotics of fear. Trudy po znakovym sistemam / Sign Systems Studies 26 (1998), 61 − 82. 43 Lotman: Okhota za ved’mami, 63 − 6 4, 80. 44 Żbikowski: The Post-War Wave of Pogroms, 69. 45 Tokarska-Bakir, Pod klątwą, Bd. 1, 145. literatur Apor, Péter: The Lost Deportations and the Lost People of Kunmadaras: A Pogrom in Hungary, 1946. Hungarian Historical Review 2.3 (2013), 566 − 604. / Baumeister, Roy F.: The Cultural Animal: Human Nature, Meaning, and Social Life. Oxford: Oxford University Press, 2005. / Bemporad, Elissa: Empowerment, Defiance, and Demise: Jews and the Blood Libel Specter under Stalinism. Jewish History 26.3 − 4 (2012), 343 − 361. / Bergmann, Werner: Ethnic Riots in Situations of Loss of Control: Revolution, Civil War, and Regime Change as Opportunity Structures for Anti-Jewish Violence in Nineteenth- and Twentieth-Century Europe. Heitmeyer, Wilhelm [u. a.] (Hrsg.): Control of Violence. New York: Springer, 2011, 487 − 516. / Bulínová, Marie: Československo a Izrael v letech 1945 − 1956: Dokumenty. Prague: Ustav pro soudobe dejiny AV ČR, 1993. / Bumová, Ivica: Protižidovské výtržnosti v Bratislave v historickom kontexte. Pamäť národa 3 (2007), 14 − 29. / Cała, Alina: Żyd – wróg odwieczny: Antysemityzm w Polsce i jego źródła. Warschau: Nisza, 2012. / Cichopek, Anna: Beyond Violence: Jewish Survivors in Poland and Slovakia, 1944 − 1948. Cambridge: Cambridge Uni-
ANTIJÜDISCHE GEWALT IM MITTEL- UND OSTEUROPA
versity Press, 2014. / Engel, David: Patterns of Anti-Jewish Violence in Poland, 1944 − 1946. Yad Vashem Studies 26 (1998), 43 − 85. / Fitzpatrick, Sheila: Annexation, Evacuation, and Antisemitism in the Soviet Union, 1939 − 1946. Edele, Mark; Fitzpatrick, Sheila; Grossmann, Atina (Hrsg.): Shelter from the Holocaust. Rethinking Jewish Survival in the Soviet Union. Detroit: Wayne State University Press, 2017, 133 − 1 60. / Gross, Jan Tomasz: Fear: Anti-Semitism in Poland After Auschwitz. New York: Random House, 2006. / Kaczmarski, Krzysztof: Pogrom którego nie było. Rzeszów 11 − 12 czerca 1945. Fakty, hipotezy, dokumenty. Rzeszów: Instytut Pamięci Narodowej, 2008. / Kamenec, Ivan: Protižidovský Pogrom v Topoľčanach v Septembri 1945. Studia Historica Nitriensia 8 (2000), 85 − 97. / Kamiński, Łukasz; Żaryn, Jan (Hrsg.): Reflections on the Kielce Pogrom. Warschau: IPN, 2006. / Kenez, Peter: Hungary: From the Nazis to the Soviets. The Establishment of the Communist Regime in Hungary, 1944 − 1948. Cambridge: Cambridge University Press, 2006. / Klier, John D.: Zhid: Biography of a Russian Epithet. Slavonic and East European Review 60.1 (1982): 1 − 15. / Krivienko, Siergiej: Raporty z Polski. Karta 5.15 (1995): 28 − 52. / Hana Kubátová: „A zsidókról kialakult kép a háború utáni Szlovákiában“, Regio, 2016/2, 63 −80, 68. / Kwiek, Julian: Żydzi, Łemkowie, Słowacy w województwie krakowskim wlatach 1945 − 1949/50. Kraków: Księgarnia Akademicka, 2002. / Lotman, Juri: Okhota za ved’mami. Semiotika strakha / Witchhunts: semiotics of fear. Trudy po znakovym sistemam / Sign Systems Studies 26 (1998), 61 − 82. / Luvish, Ilya: From the Lonely Cellar to the Crowded Street: The Progression of Anti-Semitic manifestations in Postwar Poland and the Soviet Union, 1944 − 1947. Boston, Senior Honors Thesis, 2005. / Paczkowski, Andrzej: Raporty o pogromie. Puls 50.3 (1991), 101 − 121. / Pelle, János: Az utolsó vérvádak. Az etnikai gyűlölet és a politikai manipuláció kelet-európai történetéből. Budapest: Pelikán Kiadó, 1995. / Prażmowska, Anita J.: The Kielce Pogrom 1946 and the Emergence of Communist Power in Poland. Cold War History 2.2 (2002), 101 − 124. / Redlich, Shimon [u. a.] (Hrsg.): War, Holocaust and Stalinism: A Documented Study of the Jewish Anti-Fascist Committee in the USSR. Luxemburg: Harwood Academic Publishers, 1995. / Senechal de la Roche, Roberta: Collective violence as social control. Sociological Forum 11.1 (1996), 97 − 128. / Surdej, Mirosław: Okręg Rzeszowski Narodowej Organizacji Wojskowej – Narodowego Zjednoczenia Wojskowego w latach 1944 − 1947. Rzeszów: IPN, 2018. / Szaynok, Bożena: Pogrom Żydów w Kielcach, 4. VII 1946 r. Warschau: Bellona, 1992. / Tokarska-Bakir, Joanna: Légendes du sang. Pour une anthropologie de l’antisémitisme chrétien. Paris: Albin Michel, 2015. / Tokarska-Bakir, Joanna: Pod klątwą. Społeczny portret pogromu kieleckiego, 2 Bde. Warschau: Czarna Owca, 2018. / Tokarska-Bakir, Joanna: Terror in Przedbórz. The Night of 27/28 May 1945. East European Politics and Societies and Cultures (noch nicht erschienen). / Tsanin, Mordechai: Iber shteyn un shtok. A rayze iber hundert horev-gevorene kehiles in Poyln. Tel Aviv: Letste nayes, 1952. / Weiner, Amir: Making Sense of War. The Second World War and the Fate of the Bolshevik Revolution. Princeton: Princeton University Press, 2001. / White, Richard: The Middle Ground. Indians, Empires, and Republicans in the Great Lakes Region, 1650 − 1 815. Cambridge: Cambridge University Press, 2011. / Żbikowski, Andrzej: The Post-War Wave of Pogroms and Killings. Tych, Feliks; Adamczyk-Garbowska, Monika (Hrsg.): Jewish Presence in Absence: The Aftermath of the Holocaust in Poland, 1944 − 2010. Jerusalem: Yad Vashem, 2014, 67 − 9 4.
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JULIA PIROTTE
und die Dokumentation des Pogroms in Kielce
KATA BOHUS
Julia Pirotte wurde 1908 als Julia Diament in der polnischen Kleinstadt Końskowola in eine arme jüdische Familie geboren. Sie begann früh, sich in der Linken zu betätigen. Als man ihr 1934 drohte, sie wegen ihrer politischen Aktivitäten zu inhaftieren, floh sie nach Brüssel, wo sie den Aktivisten Jean Pirotte kennenlernte, den sie 1935 heiratete. Julia Pirotte arbeitete in den 1930er Jahren als Journalistin. Außerdem belegte sie einen Fotografiekurs. Sie zog 1940 nach Frankreich und schloss sich wie ihre Schwester Mindla der Résistance an. Mindla wurde 1944 gefangen genommen, gefoltert und vom Vichy-Regime hingerichtet. Julia Pirotte machte 1944 Fotos vom Aufstand in Marseille, von Angehörigen der Résistance und von der Ankunft der Alliierten, die für die historische Dokumentation des Zweiten Weltkriegs bis heute sehr wertvoll sind. Nach ihrer Rückkehr nach Polen im Jahr 1946 arbeitete sie als Fotojournalistin für die Trybuna Wolności und den Żołniers Polski. In der Nacht vom 4. auf den 5. Juli 1946 fuhr sie mit dem Zug von Warschau nach Kielce. Der Chefredakteur des Żołniers Polski hatte sie mit einer Fotoreportage über den Pogrom beauftragt – eine gefährliche Mission. Ein polnischer Offizier musste sie begleiten, denn auch nach dem Pogrom wurden Züge, die durch Kielce fuhren, weiterhin von Zivilisten und Schaffnern nach Juden durchsucht und einige jüdische Passagiere ermordet. Julia Pirotte machte 42 Aufnahmen der massakrierten und geschändeten Opfer, besuchte die Überlebenden im Krankenhaus und fotografierte auch den Trauerzug. Sie war die einzige Fotojournalistin, die sich während dieser Ereignisse in Kielce aufhielt. Von ihren insgesamt mehr als 100 Aufnahmen wurden die meisten von der Staatssicherheit eingezogen. Daher musste sie anhand ihrer Probeabzüge neue Negative fertigen. So gelang es ihr damals, dass zumindest einige der Fotos in der polnischen Presse veröffentlicht wurden.
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Selbstporträt Julia Pirotte, Frankreich 1942 − 1943. Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau
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Während des Kielce-Pogroms verwundete Männer im Krankenhaus, 1946. Foto: Julia Pirotte, Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau
JULIA PIROTTE
Särge der Pogromopfer in Kielce, 1946. Foto: Julia Pirotte, Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau
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Jüdische Soldaten der polnischen Armee im Trauerzug für die Pogromopfer in Kielce, 1946. Foto: Julia Pirotte, Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau
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MIGRATION UND REPATRIIERUNG AUS DER SOWJETUNION
VERSCHIEBUNG DER GRENZEN UND BEVÖLKERUNGSGRUPPEN KATHARINA FRIEDLA
Judith Karliner-Gerczuk wurde 1927 in Berlin geboren. Ihre Eltern, Elias und Klara, waren polnische Staatsangehörige, die kurz nach dem Ersten Weltkrieg nach Deutschland gezogen waren. Im Oktober 1938 wurde ihre Familie in Berlin verhaftet und nach Polen abgeschoben. Zunächst musste die Familie Karliner im Flüchtlingslager in Zbąszyń leben. Erst im Sommer 1939 durften sie das Lager verlassen und zogen zu ihren Verwandten in das ostpolnische Stanisławów (heutige Ukraine, Iwano-Frankiwsk). Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde die Stadt durch die Sowjets besetzt. Die Situation im besetzten Stanisławów wurde immer prekärer. Judiths Vater meldete sich freiwillig zum Arbeitseinsatz im Inneren der Sowjetunion. Im Januar 1940 wurde die Familie Karliner zusammen mit tausenden anderen polnischen Staatsbürgern in Viehwaggons Richtung Kaukasus abtransportiert und später in die Gegend von Saratow (im gleichnamigen russischen Oblast an der Wolga) versetzt. Judith Karliner-Gerczuk erinnert sich in einem Interview an ihre Kriegserfahrungen: Hitler hatte einen sehr guten Lehrer bei Stalin. Denn in Russland war genau das, was wir in Deutschland durchgemacht haben. […] Ich möchte die zukünftigen Generationen davon wissen lassen, was los war. Weil manche Leute sagen: „Oh, Sie waren nicht in einem Lager und haben nicht so viel durchgemacht.“ Aber für mich war es praktisch von Kindheit an ein Trauma.1 Im Rahmen der Repatriierung der polnischen Staatsbürger konnte Judith im April 1946 mit ihrer Familie die Sowjetunion verlassen und kam mit einem der Transporte im niederschlesischen Kłodzko (dt. Glatz) an. Die Trajektorie der
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Familie Karliner spiegelt die Geschichte des Holocausts in einer transnationalen und multidimensionalen Weise wider. Als polnische Staatsangehörige und Juden erlebten sie die Schrecken des Zweiten Weltkriegs zunächst unter dem nationalsozialistischen Regime und später unter schwierigen Bedingungen in der Sowjetunion. Zunächst 1938 von den Deutschen nach Polen deportiert, mussten die Karliners sich in der polnischen Realität zurecht finden. Nach ein paar Monaten folgte dann die sowjetische Okkupation und schließlich die erneute Flucht, diesmal in das Innere der UdSSR. Die Biografie der Familie zeugt somit von unterschiedlichen Formen der Verbannung und der Komplexität des Überlebens. Ähnlich wie Judith Karliner-Gerczuk gelangte auch die 1931 im polnischen Zamość geborene Cyla Berman-Zylbertal mit ihrer Familie in die Sowjetunion. Nach der deutschen Besatzung Polens gelang es ihrer Familie im Januar 1940, in die sowjetisch besetzte Zone zu flüchten. Ein halbes Jahr später wurde die Familie im Juni 1940 während der nächsten Deportationswelle polnischer Staatsbürger in das Innere der Sowjetunion in die Gegend von Krasnojarsk (gelegen an der Transsibirischen Eisenbahn, am Fluss Jenissei) in Sibirien deportiert. Den Krieg überlebte nur Cyla Berman-Zylbertal mit ihren zwei älteren Schwestern sowie dem jüngeren Bruder. Im März 1946 kamen die Geschwister Berman in einem der Transporte mit Repatriierten in Niederschlesien an. Cyla Berman-Zylbertal skizziert ihre Erfahrungen in einem Interview wie folgt: Na ja, das war ein Paradies auf Erden … In Sibirien haben wir vier Gräber unserer Angehörigen zurücklassen müssen, jedes in einem anderen Ort. […] Unsere Großmutter Sara Zylber verstarb in der Sowjetunion. Meine ältere Schwester Rozalia, die damals dreizehn war, haben wir dort ebenfalls verloren. Mein Vater starb um die Jahreswende 1942/43. Unmittelbar vor unserer Abreise in die Ukraine starb 1944 meine Mutter.2 Judith Karliner-Gerczuk und Cyla Berman-Zylbertal befanden sich unter den rund 230 000 polnischen Juden, welche die Schoa in der Sowjetunion überlebt haben.3 Die meisten von ihnen waren entweder nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs aus dem deutschokkupierten Polen in die Sowjetunion geflüchtet oder im von 1939 bis 1941 sowjetisch besetzten Ostpolen als „Klassenfeinde oder politisch unerwünschte Elemente“ diffamiert, verhaftet und von dort ins Innere der Sowjetunion deportiert worden. Hinzu kamen auch polnisch-jüdische Flüchtlinge, die vor dem Vorrücken der Wehrmacht im Inneren des Landes Zuflucht suchten, sowie Personen, die individuell, zumeist auf der Suche nach Arbeit in weite Teile der UdSSR gelangten. Dennoch schützte die Deportation, Flucht und Evakuierung die Mehrheit jener polnischen Juden, welche die Schoa überhaupt überlebten, vor den Gräueln der Vernichtung, die dem deutschen Angriff folgten.
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KATHARINA FRIEDLA
Flüchtlinge in der Sowjetunion backen Mazzot für Pessach, um 1945. United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C., courtesy of Hynda Szczukowski Halpren
Gruppenfoto jüdischer Flüchtlinge aus Polen in Buchara (Usbekische Sozialistische Sowjetrepublik) 1941 − 1945. United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C., courtesy of Pessia Polak
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Aus der Sowjetunion rückkehrende Frauen, Männer und Kinder in einem Güterwaggon bei ihrer Ankunft in Polen, um 1946. Foto: John Vachon, JDC Archives, New York
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Obwohl viele der Überlebenden die Deportation ihrer Familien in die Sowjetunion als Glücksfall bezeichnen, brachten die Jahre der Verbannung schmerzhafte und erschütternde Erfahrungen mit sich. Die meisten Deportierten und Geflüchteten haben ihre Familienangehörigen und ihre Heimat verloren und wurden oft staatenlos. In den sowjetischen Zwangsarbeitslagern, Gefängnissen, Straflagern und anderen Verbannungsorten, in Kolchosen in Kasachstan oder Usbekistan und in urbanen Zentren wie Archangelsk, Krasnojarsk oder Irkutsk litten sie an Armut, Hunger und Epidemien. Die polnischen Juden erkrankten an Malaria und Typhus. Ältere starben an Entkräftung. Die Mehrheit von ihnen überlebte den Krieg jedoch dank der unfreiwilligen und harten Verbannung unter Stalin. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollten die meisten polnisch-jüdischen Überlebenden auf Grundlage eines am 6. Juli 1945 unterzeichneten Vertrags zwischen der Sowjetunion und der Provisorischen Polnischen Regierung der Nationalen Einheit nach Polen repatriiert werden. Bereits im Frühjahr 1946 kehrten sie in hunderten von Transporten aus der Sowjetunion nach Polen zurück. Der überwiegende Teil der Züge wurde in die ehemaligen deutschen Territorien, die Polen zugeschlagen wurden, geleitet. Unter den Repatriierten, die die „Wiedergewonnenen Gebiete“ erreichten, befanden sich auch Judith Karliner-Gerczuk und Cyla Berman-Zylbertal mit ihren Angehörigen.4
„NAYE GRENETSEN – NAYE HOFENUNGEN“5 Mit dem Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 wurden die Grenzen in Europa wieder einmal neu gezogen. Die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs in Europa beschlossen, dass weite Teile Ostdeutschlands unter die Verwaltung des polnischen Staats kommen sollten. Polen wurden die ostbrandenburgische Neumark, zwei Drittel Pommerns, das südliche Ostpreußen und der Großteil Schlesiens zugesprochen, es musste jedoch seine östlichen Gebiete, die sogenannten Kresy, an die Sowjetunion abtreten. Transfer, Zwangsmigration, Aussiedlung oder Vertreibung und damit millionenfacher Heimatverlust galten den großen Vier in Potsdam als legitimes Mittel ihrer Realpolitik. Nach den Kämpfen in Niederschlesien, die am 6. Mai 1945 mit der deutschen Kapitulation in Breslau endeten, begann die Zeit des großen Transfers: Die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung und parallel dazu die Ansiedlung der polnischen Siedlungsgemeinschaft. Aus Schlesien wurde Śląsk. Das Gebiet wurde allmählich von deutschen Spuren bereinigt, völlig polonisiert und als „Wiedergewonnenes Gebiet“ gefeiert.6 Der jüdische Aktivist und spätere Vorsitzende des Jüdischen Woiwodschaftskomitees Niederschlesien (Wojewódzki Komitet Żydów na Dolny Śląsk) Jakub
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Egit, der den Krieg in der Sowjetunion überlebte, schildert, wie der Gedanke entstand, in dieser Region ein Zentrum jüdischen Lebens zu etablieren, als er Niederschlesien mit seinem Freund, dem zionistischen Aktivisten Icchak Cukierman, einem der Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto, besuchte: Anfang Juni 1945 kam ich mit meinem Freund Icchak Cukierman nach Niederschlesien. Mein Ziel war es, auf dieser Erde, wo Hitler das polnische Judentum ausrottete, ein neues jüdisches Leben aufzubauen. In Niederschlesien konnten die jüdischen Überlebenden ein neues Leben beginnen, denn ihre ehemaligen Häuser und Städte waren zerstört worden. Für sie gab es keinen Weg zurück.7 Zu den Wegbereitern der jüdischen Ansiedlung in diesem Gebiet gehörten vor allem polnische Juden, Überlebende des KZ Groß-Rosen und seiner zahlreichen Nebenlager. Als das Stammlager Groß-Rosen am 8./9. Februar 1945 von der Roten Armee befreit wurde, waren in seinen verschiedenen Außenstellen noch etwa 10 000 polnische Jüdinnen und Juden am Leben.8 Den Schätzungen der Historiker zufolge überlebten auf dem Gebiet des okkupierten Polen 60 000 bis 80 000 polnische Juden die Schoa.9 Am 15. Juni 1945 verzeichnete das Zentralkomitee der Juden in Polen 73 965 Juden, die bei den Jüdischen Komitees in ganz Polen registriert waren.10 Manche der ehemaligen jüdischen Häftlinge aus den niederschlesischen Lagern, die aus Zentralpolen stammten, kehrten wie die meisten polnischen Schoa-Überlebenden in ihre Heimatorte zurück. Nach den Konzentrations- und Zwangsarbeitslagern, nach den Verstecken in Städten und Dörfern, nach den Bunkern in den Wäldern oder bei den Partisanen schien die ehemalige Heimat die nächstliegende Station. Diese Rückkehr erwies sich aber für die meisten von ihnen als besonders dramatisch. In ihrer Heimat angekommen, waren sie zumeist mit Feindseligkeit seitens ihrer polnischen Nachbarn konfrontiert. Der Krieg hatte die alten Stereotype und Vorurteile, die in Teilen der polnischen Gesellschaft gegen die jüdischen Bürger weit verbreitet waren, keineswegs gemildert.11 Viele polnische Nachbarn zeigten kein Mitgefühl, keine Solidarität gegenüber den überlebenden Juden. Bei den Polen überwog völlige Gleichgültigkeit den Juden gegenüber, die sich mancherorts zu Hassgefühlen wandelte.12 In ganz Polen hatten die ermordeten und verschleppten Juden Häuser, Wohnungen, Geschäfte, Werkstätten und andere Güter zurücklassen müssen. Den größten Teil davon haben noch während der deutschen Okkupation die polnischen Nachbarn übernommen. Nur wenige waren bereit, den überlebenden Juden ihr Eigentum zurückzugeben. In vielen Fällen führten Streitigkeiten um die Rückgabe des enteigneten Eigentums an die jüdischen Eigentümer zu gewalttätigen Übergriffen, mitunter zu Morden. Unmittelbar nach Kriegsende kam es im Sommer
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1945 in manchen polnischen Städten, unter anderem in Rzeszów, Lublin, Radom, Częstochowa und Krakau zu antijüdischen Exzessen und Pogromen.13 Diese pogromartige Stimmung kulminierte in dem Pogrom in Kielce im Juli 1946, bei dem 42 polnische Juden getötet wurden.14 Darüber hinaus fanden die Überlebenden weder Familienangehörige noch Freunde oder Bekannte in ihrer alten Heimat vor. Für die meisten Rückkehrer gab die Konfrontation mit diesem andauernden Verlust und Schmerz in ihren Heimatorten den Ausschlag, wegzuziehen und an anderen Orten eine neue Existenz aufzubauen. Ein weiterer psychologischer Faktor spielte hierbei eine Rolle, nämlich der Wille, unter Menschen zu leben, die das gleiche Schicksal geprägt hat. Die jüdischen Schoa-Überlebenden stellten eine sehr spezifische, von Ängsten und Traumata gekennzeichnete Gruppe dar: Sie kamen entweder aus Verstecken und konnten nach vielen Jahren illegaler Existenz erstmals wieder frei auftreten, oder sie waren durch schreckliche und schmerzhafte Erfahrungen in Ghettos oder Konzentrationslagern geprägt. Die Mehrheit der Überlebenden kam jedoch im Rahmen der Repatriierung aus der Sowjetunion zurück. Auch bei dieser Gruppe hatten die Wirren des Kriegs ihre Spuren hinterlassen. Ihre jahrelange Verbannung in Sibirien und später in Zentralasien war durch Hunger, Krankheiten und Armut bestimmt. Die Rückkehrer aus der UdSSR waren geschwächt und oft in schlechter körperlicher Verfassung. Nach der missglückten Heimkehr schienen Städte wie Wrocław, Dzierżoniów, Wałbrzych, Legnica oder Bielawa und viele andere niederschlesische Orte gut geeignet, um hier eine neue Existenz zu gründen. Die neuen westlichen Territorien Polens, darunter Großstädte wie Wrocław und Szczecin, schienen auch viel sicherer für die Juden zu sein als die Gebiete in Zentralpolen. Zum einen waren Juden hier genauso Neuansiedler wie die Polen; sie alle standen vor einem Neuanfang und der Notwendigkeit, hinterlassene deutsche Häuser, Fabriken und die Infrastruktur zu übernehmen. Außerdem war die deutsche Bevölkerung hier Juden und Polen gleichermaßen noch als „gemeinsamer Feind“ präsent. In diesen Gebieten kam es nicht zu Spannungen hinsichtlich der Übernahme des jüdischen Eigentums durch Polen. Und schließlich war der antikommunistische Untergrund, etwa in Form der antisemitisch ausgerichteten Nationalen Streitkräfte (Narodowe Siły Zbrojne, NSZ), hier nicht so stark wie im Inneren des Landes.15 Für die Verortung der jüdischen Ansiedlung in Niederschlesien sprach weiter, dass ehemalige deutsche Häuser, Wohnungen und Güter auf neue Besitzer warteten. Diese Region war mit Ausnahme der ehemaligen „Festungsstadt Breslau“ kaum durch Kriegshandlungen zerstört worden und bot den Neuansiedlern eine gut entwickelte landwirtschaftliche und industrielle Infrastruktur. Die von den Deutschen zurückgelassenen Fabriken und Bauernhöfe boten ebenso die Möglichkeit einer Beschäftigung.
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Die Vorschläge der überlebenden polnischen Juden hinsichtlich der jüdischen Ansiedlung in Niederschlesien fanden bei Vertretern der Warschauer Regierung Akzeptanz. Das lag vor allem daran, dass sie auch ihrer eigenen Konzeption für eine Neuansiedlung in den „wiedergewonnenen Gebieten“ entsprach – nämlich, dieses neue Territorium schnell zu besiedeln und wirtschaftlich zu erschließen.16 Noch im Juni 1945 erließ der Ministerrat einen Beschluss „Über die Intensivierung der Umsiedlungsaktion“, bei dem die Repatriierung in einen gesamtstaatlichen bevölkerungspolitischen Plan Eingang fand.17 Dieser setzte sich zum Ziel, die neuen polnischen Territorien möglichst schnell zu besiedeln und diese in ein neues, „sozialistisches“ und „demokratisches“ Polen zu integrieren. Die schätzungsweise 230 000 repatriierten Juden, die den Krieg in der Sowjetunion überlebt hatten und auf diese Weise der Schoa entkommen waren, nahmen in diesem Plan einen besonderen Platz ein. Somit siedelte sich etwa die Hälfte der überlebenden polnischen Juden in den ehemaligen deutschen Ostgebieten Niederschlesien und Westpommern an. Am 1. Juli 1945 waren bei den Jüdischen Komitees in Niederschlesien 7860 Personen registriert; am 1. Januar 1946 bereits 18 210.18 Die Masse der jüdischen Neusiedler sollte erst während der folgenden Repatriierungswelle aus der Sowjetunion kommen. Zwischen dem 1. Januar und dem 31. Juli 1946 kamen über 120 Transporte mit insgesamt 86 563 sogenannten jüdischen Heimkehrern in Niederschlesien an.19
REPATRIIERUNG – DIE SCHWIERIGE RÜCKKEHR IN DIE HEIMAT Marie Brandstetter (geborene Mania Zelwer), geboren 1933 in Błaszki bei Kalisz, floh mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in die sowjetisch okkupierten Gebiete Polens, von wo sie nach Sibirien deportiert wurden. Im Dezember 1945 kehrten sie aus der Sowjetunion nach Polen zurück und siedelten sich zunächst im niederschlesischen Legnica (dt. Liegnitz) an. Marie beschreibt in ihren Erinnerungen ihre Gefühle bei der anstehenden Reise in die Heimat: Es war Zeit, Russland zu verlassen. […] Wir alle freuten uns darauf, nach Hause zu fahren. Ich fragte mich, ob es dort noch ein Zuhause für uns gab und ob wir dort irgendeinen Familienangehörigen oder überhaupt jemandem finden würden, der noch am Leben ist. Wir hatten vor dem Krieg so eine große Familie, so viele Tanten, Onkel und Cousins. Wer hatte überlebt? fragte ich mich.20 Marie Brandstetters Worte sind symptomatisch für die Gefühlslage vieler Rückkehrer aus der Sowjetunion. Sie empfanden große Neugier, die alte Heimat
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wieder zu betreten, wurden aber auch von der ungeheuren Ungewissheit und Angst um die in Polen verbliebenen Familienangehörigen und Freunde umgetrieben. Schon unmittelbar nach der Ankunft haben sie erfahren, dass ihre in Polen verbliebenen Familien ermordet wurden und die einstige Heimat ein jüdischer Friedhof geworden war. Es war beinahe unmöglich, die Fakten über die Schoa aufzunehmen, das Ausmaß der Tragödie war unvorstellbar. All das, was sie 1939 zurückgelassen hatten, existierte nicht mehr, es gab keinen Ort mehr, an den man zurückkehren konnte. Man war in der alten Heimat nicht mehr erwünscht. Die Nachkriegsrealität im zerstörten Polen war für viele erschreckend. Nachdem die Rückkehrer die polnische Grenze erreicht hatten, waren sie sehr oft mit einem virulenten Antisemitismus konfrontiert. Morris Gruda, 1919 in Różań geboren, verbrachte den Krieg in der Sowjetunion, kam im Frühling 1946 nach Polen zurück und siedelte sich in Dzierżoniów an.21 Als der Zug die Grenze passierte und kurz anhielt, stieg er aus und begegnete einem polnischen Rückkehrer, mit dem er ins Gespräch kam. Dieser fragte ihn: „Oh, haben viele Juden überlebt? Sie sprechen nicht einmal gut Polnisch, sondern mit einem russischen Akzent. Sie gehören nicht hierher.“22 Andere polnisch-jüdische Rückkehrer waren mit ähnlichen Fragen und Äußerungen konfrontiert: „Warum kommt ihr zurück?“ „Konntet ihr nicht in Russland bleiben?“ „Die Russen nehmen uns die Kohle weg und geben uns stattdessen Juden.“ „Schade, dass Hitler Euch nicht alle bis zum letzten erledigt hat.“23 Auch Cyla Berman-Zylbertal mit ihren Geschwistern gehörte zu den neuen jüdischen Siedlern in Niederschlesien. Sie beschreibt ihre Reise und Ankunft in Niederschlesien mit diesen Worten: Wir fuhren mit dem Zug in die westlichen Gebiete – wir wussten es schon. Es war uns völlig egal. In unsere Stadt brauchten wir nicht mehr zurückzukehren, wir wussten, dass wir dort nichts mehr hatten – weder das Haus noch unsere Familie, nichts. […] Wir sind in Wrocław angekommen. […] Die Mitarbeiter der PUR24 brachten uns zur Viktoriastraße 7, so hieß sie noch in dieser Zeit, denn die Straßen hatten alle noch deutsche Schilder. Dort gaben sie uns eine Parterrewohnung im Hinterhaus. […] Ich stand da mit meinem Bruder, während die Deutschen ausziehen mussten. […] Nach unserer Ankunft in Wrocław dachten wir, dass es ein Paradies sei. Das jüdische Leben hier war gut organisiert, niemand hatte Angst.“25 Wie Cyla in ihrem Interview berichtet, erhielten die Geschwister in den ersten Wochen nach ihrer Ankunft in der Stadt Pakete mit Lebensmitteln und Bekleidung von der UNRRA, vom Jüdischen Komitee und von der Jüdischen Gemeinde. Für die Aufnahme und Betreuung der jüdischen Rückkehrer waren
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Jüdische DPs in Niederschlesien warten auf die Zuteilung von Wohnungen. Entweder bei Reichenbach (später: Dzierżoniów) oder Waldenburg (später: Wałbrzych), 1945. United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C., courtesy of Mahli Lieblich
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also das Jüdische Woiwodschaftskomitee und seine Repatriierungsabteilung zuständig. Die finanzielle Unterstützung wurde von verschiedenen Institutionen geleistet, vor allem vom Joint, vom Zentralkomitee der Juden in Polen und von der polnischen Regierung. Die etwa 90 000 Juden in Niederschlesien stellten einen bedeutenden Prozentsatz der jüdischen Gesamtbevölkerung Polens zu dieser Zeit dar: Im Juli 1946 waren bei der Abteilung für Statistik des Zentralkomitees der Juden in Polen insgesamt etwa 250 000 Juden registriert, die außer in Niederschlesien vor allem in Szczecin, Łódź und Oberschlesien lebten.26
„A NAYE LEBN GEYT OYF“ (DAS NEUE LEBEN BEGINNT)27 Jacob Pat, der 1938 nach New York emigrierte, wurde kurz nach dem Ende des Krieges von dem New Yorker Jewish Labor Committee nach Polen beordert, um die Lage der überlebenden Juden zu erkunden. Er verfasste Reisereportagen, die in jiddischer Sprache in seinem Buch unter dem Titel Ash un fayer. Iber di khurves fun Poyln (Asche und Feuer. Durch die polnischen Trümmer) 1946 in New York veröffentlicht wurden. Nach besonders traumatischen Aufenthalten, unter anderem in den Trümmern des Warschauer Ghettos, war Rychbach/Dzierżoniów seine erste Station in Niederschlesien. In seinem Reisebuch beschreibt er seine Eindrücke von dem erst seit Kurzem in der Region etablierten jüdischen Leben: Ich kam am Abend des Schabbes in Rychbach an. […] Ich war sehr überrascht, es war, als ob ich auf einem anderen Planeten gelandet wäre. Es war eine schöne, ganz unbeschädigte Stadt [...] Der Marktplatz ist groß [...] Juden gehen, stehen herum in kleinen Gruppen, laufen geschäftig hin und her […] Man hat die Deutschen bald vertrieben und Juden haben sich dort angesiedelt. Es sollen noch tausende aus der Sowjetunion kommen. […] Als ich in die Seitenstraße blicke, sehe ich ein großes, beleuchtetes Schild – mit großem Erstaunen. Ich sehe es zum ersten Mal in Polen. Ein jiddisches Schild in jiddischen Lettern, elektrisch beleuchtet: Kulturhaus. So etwas sieht man in Warschau, in Łódź, in Białystok, in Kraków, in Częstochowa, in Katowice nicht – das ist nur in Rychbach möglich. […] „Hier entsteht eine jüdische Stadt“, sagt mir der jüdische Schauspieler [...] Symche Natan, der gerade aus der Sowjetunion hier eingetroffen ist […]. Heute, nach Oświęcim – ein jüdischer Tanz im Kulturhaus von Rychbach. Sind es aus der Asche auferstandene Juden, die dort im Saal tanzen? ... – Nein, es sind keine Schatten, keine Gespenster, es sind lebende,
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wirkliche Juden. Sie sind nur Wunderjuden. Sie sind Juden aus den Konzentrationslagern und Wäldern oder Rückkehrer aus der Sowjetunion.28 Diese Beschreibung florierenden jüdischen Lebens in Polen mag außergewöhnlich anmuten, vor allem in Anbetracht dessen, dass der Zweite Weltkrieg erst seit einem knappen Jahr vorbei war. Aus den Zeilen seiner Reisereportagen erhalten wir auch eine Vorstellung vom Ausmaß und von der Dimension der jüdischen Ansiedlung in Niederschlesien. Wie die Beschreibungen von Pat andeuten, wurden infolge der massiv steigenden Zahl der jüdischen Umsiedler aus der UdSSR in Niederschlesien neue jüdische Institutionen und Organisationen ins Leben gerufen. Zu ihren dringendsten Aufgaben gehörten anfänglich die Krankenfürsorge, die sogenannte „Produktivierung“,29 ebenso wie materielle Hilfe und die Beschaffung von Wohnraum und Arbeit. Das Jüdische Woiwodschaftskomitee und seine zahlreiche Filialen in kleineren Ortschaften in der Region übernahmen diese immens wichtige Arbeit: Obhut für die Juden zu gewährleisten, Hilfe bei der Vermittlung von Arbeit zu bieten und bei der Suche nach Wohnraum und nicht selten nach überlebenden Familienangehörigen Unterstützung zu geben. Die politische Freizügigkeit, die den Juden in Polen in der unmittelbaren Nachkriegszeit gewährt wurde, begünstigte ein breites Spektrum von Parteien. Die gesamte Palette der jüdischen Parteien in Polen zu dieser Zeit knüpfte an die politische Tradition der polnischen Juden in der Vorkriegszeit an.30 Die Mehrheit der politisch engagierten Juden überlebte den Krieg in der Sowjetunion, einige wenige im Untergrund. Für das breite Spektrum von Parteien war Niederschlesien mit seinen zahlreichen jüdischen Einwohnern ein besonders spannendes Betätigungsfeld. Die zionistischen Parteien konnten in ganz Niederschlesien zahlreiche Kibbuzim gründen. Allein in Wrocław existierten wohl dreizehn solcher Einrichtungen, die meistens von der äußerst populären Ihud [Einheit]-Partei unterhalten wurden.31 Gerade die jungen jüdischen Überlebenden, die oft als die einzigen Angehörigen ihrer Familien überlebt hatten, fanden, als sie in die fremde Region kamen, in den Kibbuzim einen Neubeginn.32 Auch die religiösen Strukturen, die während des Zweiten Weltkriegs völlig zerstört wurden, haben die jüdischen Neuansiedler in Niederschlesien neu erschaffen. Darüber hinaus entstanden in der Region zahlreiche jüdische Schulen (mit Unterrichtssprachen Jiddisch und Hebräisch), Krankenstationen und Waisenhäuser. Zu den wichtigsten Aufgaben der jüdischen kulturellen Tätigkeit gehörten zweifelsohne das Presse- und Verlagswesen. Publiziert wurde in jiddischer Sprache. Die vorstehenden Angaben zur Selbstständigkeit und Vielfalt der Aktivitäten der jüdischen Gemeinschaft lassen vermuten, dass die entsprechenden Voraussetzungen für den Aufbau eines Jiddishen Jischuws in
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Shmuel Willenberg filmt Mitglieder der zionistischen Vereinigung Ichud in Niederschlesien, 1947. United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C., courtesy of Shmuel and Ada Willenberg
Frühere deutsche Geschäfte in Reichenbach (später: Dzierżoniów), die in jüdische Lebensmittelläden umgewandelt wurden, 1945 − 1950. Foto: Brauislau Aidler, Yad Vashem, Jerusalem
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Niederschlesien zunächst vorhanden waren. Dieser Eindruck sollte sich aber sehr bald als eine große Illusion erweisen. Diese Eigenständigkeit und der starke Wunsch nach jüdischer Selbstbestimmung im Polen der unmittelbaren Nachkriegszeit ergaben sich vor allem aus den Erlebnissen des Krieges, die die jüdische Gemeinschaft von der polnischen Mehrheitsbevölkerung isoliert hatten. Hinzu kam der Nachkriegsantisemitismus, der Angst verursachte, aber auch Solidaritätsgefühle innerhalb des jüdischen Milieus weckte. Den Aufbau des jüdischen Lebens in Polen forcierten vor allem die Aktivisten unter den jüdischen Kommunisten und Vertreter des Bunds. Hinzu kommt die Tatsache, dass Juden in Polen, wie in anderen europäischen Nachkriegsstaaten, anfänglich finanzielle Unterstützung von ausländischen Organisationen erhielten. Schrittweise sollten diese Bestrebungen aber ein Ende nehmen. Auf der individuellen Ebene sah die Mehrheit der polnischen Juden ohnehin keine Zukunft für sich in Polen. Die meisten Rückkehrer aus der UdSSR entschieden sich für die Flucht und Emigration in die DP-Lager im Westen Europas. Die Gründung des Staates Israel veränderte im Frühling des Jahres 1948 das Verhältnis zwischen der Volksrepublik und den Juden. Die machtpolitische Lage verursachte eine Anlehnung der polnischen Politik an die Moskauer Position gegenüber dem neu gegründeten Staat. Die Atmosphäre begann sehr angespannt zu werden, und die antijüdischen Signale aus der Sowjetunion trugen wesentlich zur Verschlechterung der Lage bei. Schwerwiegende Konsequenzen hatten in Polen wie in allen Ostblockstaaten die aufkommenden Rivalitäten zwischen den Großmächten im Nahen Osten. Das Aufkommen des Kalten Kriegs, die neue politische Allianz, infolge dessen sich Israel mehr und mehr mit den USA verband und sich von der Politik der kommunistischen Staaten distanzierte (vor allem von der Sowjetunion), verursachte eine neue politische Konstellation, die für die Juden in den Ostblockstaaten nicht nur das Ende ihrer neu gewonnenen Eigenständigkeit, sondern das Wiedereinsetzen diskriminierenden Verhaltens bedeutete. Die Nachkriegsschicksale der Juden in Polen wurden von diesen Verwerfungen bestimmt. Dem Aufbau einer normalen Existenz nach der Schoa stand auch die äußerst instabile innenpolitische Lage in Polen entgegen. Die Blüte des Jüdischen Jischuws in Niederschlesien währte nicht lange. Infolge der sukzessiven Stalinisierung begann 1949 ein Prozess der Ausschaltung des politischen Pluralismus, der Verstaatlichung des jüdischen Schulwesens und der Auflösung der selbständigen jüdischen Genossenschaften und des eigenständigen Gesundheitswesens. Das Zentralkomitee der Juden in Polen mitsamt seinen lokalen Vertretungen, darunter die Jüdischen Woiwodschaftskomitees, wurde aufgelöst.33
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Für die meisten polnischen Juden sollte nun die Emigration die einzige Antwort auf die volkspolnische Zentralisierung und den Stalinismus Anfang der 1950er Jahre sowie den virulenten Antisemitismus sein. Polen wurde für viele der jüdischen Rückkehrer nur eine Zwischenstation auf dem Weg in die Emigration – zunächst in die DP-Lager in Deutschland, anschließend in weitere Länder, vor allem Israel und die USA. Nicht zuletzt war für ihre Flucht und Emigration auch ihre langjährige Erfahrung mit dem kommunistischen Regime in der UdSSR entscheidend. Laut den Statistiken des Zentralkomitees der Juden in Polen wurden zwischen 1944 und 1949 etwa 200 000 polnische Juden, die aus der Sowjetunion nach Polen repatriiert worden waren, registriert.34 In den Jahren 1945 bis 1947 verließen etwa 130 000 Juden das Land.35 Nach 1948 wurde die Repatriierung aus der Sowjetunion für beendet erklärt und jegliche Emigration aus Polen durch die Behörden verhindert. Das zuvor skizzierte Schicksal von Judith Karliner und ihrer Familie spiegelt die Odyssee der polnischen Juden in einer multidimensionalen Perspektive wider. Mit der Rückkehr nach Polen endete der leidvolle Weg der Familie Karliner aber nicht. Auch sie sahen keine Möglichkeit zum Wiederaufbau ihrer Existenz in Polen. Im April 1946 passierte Judith mit ihrer Familie die sowjetisch-polnische Grenze. Zunächst siedelten sie sich im niederschlesischen Kłodzko an, später zogen sie nach Wrocław. Sie versuchten bereits unmittelbar nach ihrer Ankunft in Polen, von dort in die amerikanisch besetzte Zone Deutschlands zu gelangen. Judith schloss sich kurzzeitig einem Kibbutz an, um mit der Gruppe illegal über die Tschechoslowakei nach Deutschland zu kommen, doch scheiterte dieses Vorhaben. Die Familie Karliner konnte Polen vorerst nicht verlassen, obwohl sie sich kontinuierlich um ein Ausreisevisum bemühte. Erst im Rahmen der nächsten Massenemigration von Juden aus Polen im September 1957 gelang es ihnen, die Volksrepublik zu verlassen. Judith Karliner begab sich auf den Weg nach Berlin, um von dort nach Australien auszuwandern, wo sie sich in Melbourne niederließ.36 Hinter ihr lag ein langer, schmerzhafter und leidvoller Weg, der durch Verbannung, Flucht, Deportation, Repatriierung und Exil gekennzeichnet war und der sie über mehrere sich ständig verändernde Grenzen führte. 1
Judith Karliner-Gerczuk, Interview 26867, 3.3.1997, Melbourne, Australien, Tape 2 (22:00 Min.) und Tape 4 (00:50 Min.), USC Shoah Foundation Visual History Archive (USC VHA). Alle Zitate in diesem Beitrag wurden von der Autorin aus der englischen, polnischen und jiddischen Sprache ins Deutsche übersetzt. 2 Interview mit Cyla Berman-Zylbertal, durchgeführt in polnischer Sprache am 15.9.2006 und 10.9.2007 in Wrocław (Archiv der Autorin). 3 Die neuesten historischen Untersuchungen gehen von 200 000 bis 230 000 polnischen Juden aus, die der Schoa in der Sowjetunion entkommen sind. Edele, Mark; Warlik, Wanda: Saved by Stalin? Trajectories and Numbers of Polish Jews in the Soviet Second World War. Edele, Mark; Fitzpatrick, Sheila; Grossmann, Atina (Hrsg.): Shelter from the Holo-
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caust. Rethinking Jewish Survival in the Soviet Union. Detroit: Wayne State University Press, 2017, 95 − 131; Nesselrodt, Markus: Dem Holocaust entkommen. Polnische Juden in der Sowjetunion, 1939 − 1946. Berlin: De Gruyter, 2019. 4 Ehemals deutsche Gebiete wie Niederschlesien und Westpommern wurden von der polnischen Propaganda als „Ziemie Odzyskane“ („Wiedergewonnene Gebiete“) bezeichnet. 5 „Neue Grenzen – Neue Hoffnungen“. Shnayderman, Shmuel Leyb: Tsvishn shrek un hofenung. Buenos Aires: Tsentral-farband fun Poylishe Yidn in Argentine, 1947, 285. 6 Vgl. Thum, Gregor: Die fremde Stadt. Breslau 1945. Berlin: Siedler, 2003. 7 Egit, Jakub: Tsu a nay lebn (tsvay yor yidisher yishev in Niedershlesye). Wrocław: Farlag Nidershlesye, 1947, 21; Egit, Jakub: Grand Illusion. Toronto: Lugus, 1991, 44. Im Gegensatz zu Egit ging Cukierman davon aus, dass es für die polnischen Schoa-Überlebenden nur eine Alternative gab, nämlich die Übersiedlung nach Palästina und die Gründung eines jüdischen Staats. Cukierman selbst verließ Polen 1947 und ging nach Eretz Israel. 8 Wojewódzki Komitet Żydowski, Sig. 5, Bl. 37, Archiwum Państwowe Wrocław (APWr). 9 Die genaue Zahl der überlebenden Juden ist unter anderem aufgrund der großen Fluktuation nicht zu ermitteln. Siehe u. a. Stankowski, Albert; Weiser, Piotr: Demograficzne skutki Holokaustu. Tych, Feliks; Adamczyk-Garbowska, Monika (Hrsg.): Następstwa zagłady Żydów. Polska 1944 − 2010. Lublin: UMSC, 2011, 15 − 3 8. Es dürften 60 000 bis 80 000 polnische Juden die deutsche Okkupation in Polen überlebt haben. Siehe: Aleksiun, Natalia; Stola, Dariusz: „Wszyscy krawcy wyjechali“. O Żydach w PRL. Biuletyn Instytutu Pamięci Narodowej 2 (2008), 391 − 4 09. 10 Aleksiun, Natalia: Dokąd dalej? Ruch syjonistyczny w Polsce (1944 − 1950). Warschau: TRIO, 2002, 63. 11 Zu der äußerst komplizierten und dramatischen polnisch-jüdischen „Koexistenz“ in Polen in der unmittelbaren Nachkriegszeit gibt es mittlerweile eine umfangreiche Literatur. Siehe u. a.: Gross, Jan T.: Fear: Anti-Semitism in Poland After Auschwitz. Princeton: Princeton University Press, 2006; Gross, Jan T.; Grudzińska-Gross, Irena: Golden Harvest: Events at the Periphery of the Holocaust. Oxford: Oxford University Press, 2011; Zaremba, Marcin: Wielka Trwoga. Polska 1944 − 1947. Ludowa reakcja na kryzys. Kraków: Znak, 2012; Tych; Adamczyk-Garbowska (Hrsg.): Następstwa zagłady Żydów; Krzyżanowski, Łukasz: Dom którego nie było. Powroty ocalałych do powojennego miasta. Wołowiec: Czarne, 2016; Engelking, Barbara; Grabowski, Jan (Hrsg.): Dalej jest noc. Losy Żydów w wybranych powiatach okupowanej Polski. Warschau: Centrum Badań nad Zagładą Żydów, 2018; Tokarska-Bakir, Joanna: Pod klątwą. Społeczny portret pogromu kieleckiego. Kraków: Znak, 2018. 12 Vgl. Skibińska, Alina: Powroty ocalałych i stosunek do nich społeczeństwa polskiego. Tych; Adamczyk-Garbowska (Hrsg.): Następstwa zagłady Żydów, 39 − 70; Żbikowski, Andrzej: Morderstwa popełniane na Żydach w pierwszych latach po wojnie. Tych; Adamczyk-Garbowska (Hrsg.): Następstwa zagłady Żydów, 71 − 93. 13 Siehe den Beitrag von Joanna Tokarska-Bakir in diesem Band. 14 Die neueste Studie zum Pogrom in Kielce bietet die zweibändige Monografie von Tokarska-Bakir: Pod klątwą. 15 CKŻP, Sig. 303/I/1, Bl. 104f, Archiv des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau (AŻIH). 16 Zur Polonisierung der „Wiedergewonnenen Gebiete“ und den jüdischen Bestrebungen in diesem Zusammenhang siehe, Kijek, Kamil: Aliens in the Lands of the Piasts: The Polonization of Lower Silesia and Its Jewish Community in the Years 1945 − 1950. Grill, Tobias (Hrsg.): Jews and Germans in Eastern Europe. Shared and Comparative Histories. Berlin: De Gruyter, 2018, 234 − 255. 17 Vgl. Czerniakiewicz, Jan: Repatriacja ludności polskiej z ZSRR. 1944 − 1948. Warschau: PWN, 1987, 37. 18 WKŻ, Sig. 5, Bl. 35, APWr. 19 CKŻP, Sig. 303/V/401 (unpaginiert) und Sig. 303/V/3, AŻIH. 20 Brandstetter, Marie: Mania’s Angel. My Life Story. O.A.: Selbstverlag, 1995, 69. Vgl. In-
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terview mit Marie Brandstetter, 7.2.2001, San Francisco, USA, Bay Area Holocaust Oral History Project, No. 1999.A.0122.397, RG-50.477.0397, United States Holocaust Memorial Museum Archive. 21 Die von den Deutschen bis 1945 Reichenbach genannte Stadt wurde unmittelbar nach dem Krieg zunächst in Rychbach ( jiddisch) und 1946 schließlich in Dzierżoniów umbenannt. Siehe den Beitrag von Kamil Kijek („Für kurze Zeit ein Zentrum jüdischen Lebens in Polen: Reichenbach/Rychbach/Dzierżoniów 1945 − 1950”) in diesem Band. 22 Gruda, Morris: Tricks of Fate. Escape, Survival, and Rescue 1939 − 1945. Toronto: Mosaic Press, 2006, 236. Vgl. Morris Gruda, Interview 14395, 22.4.1996, Thornhill/Ontario, Kanada, USC VHA. 23 Tytelman-Wygodzki, Rachela: The End and the Beginning. August 1939 − July 1948. O. A.: Selbstverlag, 1998, 36. 24 Państwowy Urząd Repatriacji, die staatliche Repatriierungsbehörde. 25 Interview mit Cyla Berman-Zylbertal. 26 Hornowa, Elżbieta: Powrót Żydów polskich z ZSRR oraz działalność opiekuńcza Centralnego Komitetu Żydów w Polsce. Biuletyn Żydowskiego Instytutu Historycznego Nr. 133/134 (1985), 105 − 122. 27 Egit: Tsu a nay lebn, 21. 28 Pat, Jacob: Ash un fayer. Iber di khurbes fun Poyln. New York: „CYCO“ Bicher-Farlag, 1946, 211, 212, 213. 29 Der Begriff ist in den 1880er Jahren aufgekommen, als es galt, die von der zaristischen Administration vom Land verwiesenen mittel- und obdachlosen Juden in den kapitalistischen Produktionsprozess der polnischen Städte einzubinden. Trotz der Tatsache, dass der Begriff immer auch antisemitische Stereotype vermittelte, wurde er nach dem Krieg wiederverwendet. 30 Zu ihnen gehörten u. a. der Bund, Poale Zion, Hitahdut und Ihud. 31 CKŻP, Sig. 324/1169, Bl. 12, AŻIH. 32 Vgl. Patt, Avinoam: Finding Home and Homeland: Jewish Youth and Zionism in the Aftermath of the Holocaust. Detroit: Wayne State University Press, 2009. 33 Vgl. Smolar, Hersz: Oyf der letster positsye mit der letster hofenung. Tel Aviv: I. L. Peretz, 1982, 192f. 34 Rosner, Anna M.: Obraz społeczności ocalałych w Centralnej Kartotece Wydziału Ewidencji i Statystyki CKŻP. Warschau: Żydowski Instytut Historyczny, 2018. 35 Stankowski, Albert: How many Polish Jews survived the Holocaust? Tych, Feliks; Adamczyk-Garbowska, Monika (Hrsg.): Jewish Presence in Absence: The Aftermath of the Holocaust in Poland 1944 − 2010. Jerusalem: Yad Vashem, 2014, 205 − 217. 36 Karliner-Gerczuk, USC VHA interview, Tape 3 und 4.
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MIGRATION UND REPATRIIERUNG AUS DER SOWJETUNION
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REICHENBACH/ RYCHBACH/ . DZIERZONIÓW
FÜR KURZE ZEIT EIN ZENTRUM JÜDISCHEN LEBENS IN POLEN 1945–1950 KAMIL KIJEK „Heute, nach Oświęcim – ein jüdischer Tanz im Kulturhaus von Rychbach. Sind es aus der Asche auferstandene Juden, die dort im Saal tanzen? ... – Nein, es sind keine Schatten, keine Gespenster, es sind lebende, wirkliche Juden. Sie sind nur Wunderjuden. Sie sind Juden aus den Konzentrationslagern und Wäldern oder Rückkehrer aus der Sowjetunion.“ Jacob Pat, 1946 Die kleine niederschlesische Stadt Reichenbach im Eulengebirge, die nach dem Krieg vorübergehend in Rychbach und 1946 dann in Dzierżoniów umbenannt wurde, war im damaligen Osteuropa eine Ausnahmeerscheinung. In der Stadt lebte nach dem Krieg zunächst eine rasch anwachsende und selbstbewusst agierende jüdische Bevölkerung, die dort ihre eigenen autonomen politischen, kulturellen und religiösen Institutionen unterhielt.1 So waren im Sommer 1946 mehr als die Hälfte und bis 1950 durchgängig mindestens ein Fünftel der Einwohner Juden. Damit war Dzierżoniów für kurze Zeit ein wichtiges, inzwischen allerdings weitgehend vergessenes Zentrum jüdischen Lebens in Polen. . DIE ANSIEDLUNG VON JUDEN IN UND UM DZIERZONIÓW NACH DEM KRIEG In Niederschlesien befand sich das wichtige deutsche Konzentrationslager Groß-Rosen. Unter den dortigen Überlebenden waren zum Zeitpunkt der Befreiung durch die Rote Armee etwa 10 000 polnische Juden.2
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Straßenszene in Rychbach / Dzierżoniów, 1945 − 1947. Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau
Gebäude des Jüdischen Provinzkomitees in Rychbach, später Dzierżoniów, 1945 − 1948. Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau
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Mitglieder des Kibbuz der Jugendbewegung der Dror-Zionisten in Rychbach / Dzierżoniów bei einer Appellversammlung, 1946. Ghetto Fighters‘ House Museum, Western Galilee, Israel, courtesy of Baruch Altschuler and Benjamin Anolik
Wolf Arbesman, der erste jüdische Bauer, der sich 1945 in Rychbach / Dzierżoniów niederließ. Taube Department of Jewish Studies, University of Wrocław
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Einige Tage nach ihrer Befreiung bildeten ehemalige Gefangene am 13. Mai 1945 das Hilfskomitee der ehemaligen jüdischen Lagerinsassen (Komitet Pomocy Żydom z Obozów Koncentracyjnych). Nachdem das Zentralkomitee der Juden in Polen und das Innenministerium sich auf Niederschlesien als geeignetes Gebiet für die Ansiedlung von Juden geeinigt hatten, wurde in Reichenbach ein Jüdisches Komitee gebildet, um die weitere Entwicklung zu beaufsichtigen.3 Von den nach Niederschlesien deportierten polnischen Juden waren etwa 7000 bereit, dort zu bleiben.4 Viele von ihnen hätten sonst ohnehin nicht gewusst, wohin. Ihre Familien waren von den Nazis ermordet, ihre Gemeinden ausgelöscht worden, und allzu oft hatten ihre ehemaligen Nachbarn sich ihr Hab und Gut angeeignet. Dagegen konnten sie in Niederschlesien die Wohnungen, Unternehmen, Fabriken und Höfe übernehmen, die zuvor den Deutschen gehört hatten. Darin wurden sie vom polnischen Staat unterstützt. Da die polnischen Juden als die Opfer des deutschen Aggressors schlechthin galten, bot deren Ansiedlung an Orten wie Rychbach dem polnischen Staat die willkommene Möglichkeit, seinen Anspruch auf die vormals deutschen Gebiete und die Vertreibung der dortigen deutschen Bevölkerung zusätzlich zu legitimieren. Im Sommer 1945 begann das Jüdische Komitee in Rychbach mit der Bildung örtlicher Institutionen zur Bereitstellung von Unterkünften, Arbeit, Wohlfahrtsleistungen und Gesundheitsdiensten. Unterdessen wuchs die jüdische Bevölkerung der Stadt beständig an. Am 6. Juli 1945 schlossen die Regierungen Polens und der Sowjetunion ein Abkommen über die Rückführung polnischer Staatsbürger aus der UdSSR.5 Die polnischen Behörden und die jüdische Führung in Polen vereinbarten die Ansiedlung von mehr als 100 000 der aus der Sowjetunion zurückkehrenden Juden in Niederschlesien.6 Daraufhin nahm die Zahl der Juden in Rychbach rasch zu. Im Januar 1946 waren in der Stadt 3873 Juden registriert, im Umland waren es weitere 3000.7 Im Juli 1946 waren bereits etwa 50 Prozent der Einwohner Juden. Dzierżoniów, wie Rychbach inzwischen hieß, wurde so zur Stadt mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil im Polen der unmittelbaren Nachkriegsjahre. Nach dem Pogrom in Kielce im Juli 1946 flohen zehntausende Juden aus Polen, die meisten in DP-Lager in dem von den Amerikanern besetzten Teil Deutschlands. Da die Juden in Dzierżoniów besonders zahlreich, gut geschützt und eng miteinander vernetzt waren, war die Stadt in geringerem Maß als andere polnische Orte von dieser Fluchtwelle betroffen. Juden, die sich bereits in der Stadt niedergelassen hatten, zogen andere nach, die zunächst nicht beabsichtigt hatten, sich dort anzusiedeln. So berichtete Frieda Pertman beispielsweise, sie sei mit ihrer Familie auf der Reise von der Sowjetunion in eine andere Stadt in Niederschlesien gewesen, als ihr Zug in Dzierżoniów einige Stunden Station machte. Dort ging ihr Mann Chaim spazieren und traf unterwegs ihren ehemaligen Nachbarn Yaacov Ponczak, der
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ihm berichtete, dass ein Cousin Chaims nach Dzierżoniów gezogen sei. Daraufhin beschlossen die Pertmans spontan, auszusteigen und in Dzierżoniów zu bleiben.8 Im Juni 1947 lebten in Dzierżoniów 6250 Juden und weitere 6000 im Umland.9 Viele gingen weiterhin davon aus, dass die Juden in Polen eine Zukunft hätten. Auch nach der Massenflucht im Sommer 1946 stellten sie weiterhin ein Viertel der örtlichen Bevölkerung. Sie saßen im Stadtrat und stellten den Vizepräsidenten der Stadtverwaltung. Mit Unterstützung des JDC half das Jüdische Komitee der Stadt den Juden bei der Arbeits- und Wohnungssuche, versorgte sie medizinisch, organisierte ihre Schul- und Berufsausbildung und verteilte Kleidung, Nahrungsmittel und finanzielle Beihilfen. Eine entscheidende Rolle spielte das Komitee bei der Unterbringung von Juden insbesondere in zwei örtlichen Industriezweigen: In der Textilindustrie und der Radioherstellung. Manchen Juden half das Komitee auch bei der Gründung von Kunstgewerbekooperativen, und die Juden spielten in dieser Branche in Dzierżoniów bis 1949 eine führende Rolle. Das Jüdische Komitee hatte bereits im November 1945 fünf Bauernhöfe erworben und die erste jüdische Landwirtschaftsakademie in Dzierżoniów eingerichtet.10 Im September 1947 gab es in der Gegend, die zum Zentrum der jüdischen Landwirtschaft in Polen avanciert war, 135 jüdische Höfe.11 Die Juden Dzierżonióws schufen eine Reihe beeindruckender Wohlfahrtsinstitutionen. Sie verfügten über ein eigenes Kinderheim und eine eigene Klinik, eine Grundschule, an der auf Jiddisch, und eine weitere, an der auf Hebräisch unterrichtet wurde, mehrere Kinderhorte, eine Bibliothek und zeitweilig sogar ein jiddischsprachiges Theater. Mehrere zionistische Organisationen richteten ihre Parteizentralen, Jugendzentren, Kooperativen und Kibbuzim in Dzierżoniów und der umliegenden Gegend ein.12 Auch wenn Polen nach 1945 von einem religionsfeindlichen Regime regiert wurde, konnten die Juden ihre Religion in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre dennoch ausüben. Es gab in Dzierżoniów eine jüdische Gemeinde, die die große Synagoge der Stadt nutzte und neben einem weiteren Gebetshaus auch einen Cheder, eine Mikwe und einen eigenen Friedhof betrieb. Doch zugleich waren die Juden ständig mit verschiedenen Formen des Antisemitismus konfrontiert. Einige Polen – Menschen, die dem kommunistischen Regime kritisch gegenüberstanden ebenso wie Angehörige der neuen Elite – träumten von Dzierżoniów als einer modernen polnischen Stadt ohne Deutsche und ohne Juden.13 Als es 1946 in und um Dzierżoniów zu Morden an Juden und Angriffen auf jüdische Wohnungen und Institutionen kam,14 organisierte das Jüdische Komitee der Stadt in Zusammenarbeit mit den örtlichen Sicherheitskräften, die auch die erforderlichen Waffen bereitstellten, eigene Selbstverteidigungseinheiten.
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Bewaffnete Mitglieder der jüdischen Miliz bewachen das Kulturhaus in Rychbach / Dzierżoniów, 1946. Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau
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Radioübertragung in Dzierżoniów anlässlich der Entscheidung des UN-Teilungsplan Palästinas, 1947. Ghetto Fighters‘ House Museum, Western Galilee, Israel
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TRANSNATIONALE VERBINDUNGEN, EINSTELLUNGEN ZUM KOMMUNISMUS UND DER NIEDERGANG . DES JÜDISCHEN LEBENS IN DZIERZONIÓW Die schweren Lasten des Antisemitismus, der Nachkriegsarmut und der mit der sozialistischen Wirtschaftsführung einhergehenden Entbehrungen, die die Juden in Dzierżoniów zu ertragen hatten, wurden teilweise durch die massiven Beihilfen ausgeglichen, die sie von jüdischen Organisationen in den USA erhielten. Diese Beihilfen spiegelten den jüdischen Transnationalismus wider, der sich aus den vielfältigen weltweiten Verbindungen zwischen den verschiedenen Zentren des jüdischen Lebens ergab. Diese transnationalen Verbindungen halfen den Juden in und um Dzierżoniów nicht nur auf der wirtschaftlichen und kulturellen Ebene, sondern auch insofern, als sie dank dieser Unterstützung nicht vollends vom autoritären kommunistischen Staat abhängig waren. Die nun in Niederschlesien angesiedelten Juden wollten keineswegs alle in Polen bleiben. Viele ihrer Anführer propagierten die Auswanderung. Die Zionisten, jene jüdische Strömung, die in dieser Zeit unter den Juden in Polen die größte Unterstützung genoss, favorisierten diesen Weg. Sie erhielten durch die aus der Sowjetunion zurückkehrenden Juden enormen Zuwachs und setzten sich offiziell zwar für den Wiederaufbau des jüdischen Lebens in Polen ein, unterstützten aber gleichzeitig die Bricha, eine Fluchthilfeorganisation, die die illegale Ausreise zahlreicher Juden nach Palästina ermöglichte. Sie versuchten, die in Niederschlesien eintreffenden Juden für ihre Kibbuzim zu gewinnen, um sie dort auf ihre Alija vorzubereiten und ihnen, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab, die Übersiedlung zu ermöglichen.15 Die ersten Kibbuzim in der Gegend von Rychbach wurden im Sommer 1945 in Betrieb genommen.16 Zahlreiche Juden aus Dzierżoniów ließen sich an der Waffe ausbilden, um sich der Hagana und später den israelischen Streitkräften anschließen zu können.17 Angesichts ihrer intensiven Konzentration auf den Jischuw, der begeisterten Unterstützung des UNO-Teilungsplans und der anschließenden Unabhängigkeitserklärung Israels verstand es sich von selbst, dass die Aktivitäten der Zionisten in und um Dzierżoniów unweigerlich transnational ausgerichtet waren. Zum kommunistischen System nahmen die Juden Dzierżonióws unterschiedliche Haltungen ein. Sie reichten von uneingeschränkter Bewunderung und aktiver Unterstützung bis zur umfassenden Ablehnung. Es gab durchaus gute Gründe dafür, dass etliche Überlebende sich zum Kommunismus hingezogen fühlten. Vielen war klar, dass sie ihr Leben letztlich der Roten Armee verdankten. Das neue, von den Kommunisten dominierte Regime räumte den Juden volle staatsbürgerliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Rechte ein, sicherte ihre Präsenz in dem nun zu Polen gehörenden Niederschlesien ab und schützte sie vor antisemitischer Gewalt. Die meisten Juden standen der sowje-
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tischen Präsenz im Land und dem kommunistischen Autoritarismus allerdings ambivalent, kritisch oder sogar feindselig gegenüber. Schließlich kam der Großteil der nun in Niederschlesien lebenden Juden aus der Sowjetunion und hegte keinerlei Illusionen über den Kommunismus. Das Verhältnis der Zionisten zu den Kommunisten war kompliziert und spannungsgeladen. Im August 1945 kündigte das Jüdische Komitee in Dzierżoniów wegen deren angeblich antisowjetischer Orientierung einer bis dahin in kommunalen Räumlichkeiten untergebrachten Gruppe, die in der Gegend einen Kibbuz errichten wollte.18 Doch konnten derlei Maßnahmen nicht verhindern, dass zwei rechtsgerichtete, von den Behörden verbotene Gruppen aus dem revisionistischen Spektrum der zionistischen Bewegung, Brit Ha-Hajal und Beitar, in den Jahren 1946 bis 1950 in und um Dzierżoniów tätig waren.19 Allerdings bereiteten die neuen politischen Verhältnisse nicht nur den Zionisten, sondern allen Juden Schwierigkeiten. Angesichts ihrer mangelnden Beliebtheit bei der Bevölkerung versuchten die Kommunisten, ihre Machtstellung gerade in den eben erst den Deutschen abgenommenen Gebieten mithilfe eines aggressiven polnischen Nationalismus zu legitimieren. Den Juden in Dzierżoniów beziehungsweise in Niederschlesien insgesamt blieb nichts anderes übrig, als hierbei mitzuziehen, doch indem sie diese Strategie unterstützten, trugen sie letztlich dazu bei, ihre eigene Position im gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Gefüge der Region zu untergraben.20 Ähnlich sah es in der Politik im Allgemeinen aus. Sämtliche legal in und um Dzierżoniów agierenden jüdischen Parteien unterstützten bei der Volksabstimmung im Juni 1946 und bei den Wahlen im Januar 1947 die Kommunisten. Deren Vormachtstellung wurde durch das Votum abgesegnet, in beiden Fällen wurden die Ergebnisse manipuliert. In dem Maße, in dem das Regime immer autoritärer wurde, wandte es sich auch gegen den soziopolitischen Pluralismus und die relative Autonomie der Juden und deren Verbindungen zu jüdischen Organisationen im Westen. Von der von der Regierung 1947 ausgerufenen „Schlacht um den Handel“ waren die in der Privatwirtschaft tätigen Juden in Dzierżoniów besonders intensiv betroffen. Bei der „Ausstellung der wiedergewonnenen Gebiete“, die im Sommer 1948 in Wrocław stattfand, sollten ursprünglich auch die Juden vertreten sein, doch beschlossen die Behörden unmittelbar vor der Eröffnung, dass eine solche öffentliche Zurschaustellung einer ethnischen jüdischen Identität in Polen unangebracht sei, und entfernten den jüdischen Pavillon.21 Entschieden verschlechterte sich die Lage in der zweiten Hälfte des Jahres 1948, als Stalin einen Kurswechsel des kommunistischen Blocks mit Blick auf den Zionismus einleitete. Die polnischen Juden wurden angewiesen, ihre Verbindungen zum World Jewish Congress zu lösen. Im darauffolgenden Jahr wurden alle bis dahin legal agierenden jüdischen Parteien aufgelöst. Zionisten
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wurden gedrängt, nach Israel auszureisen, blieben sie, drohte ihnen die Inhaftierung. Schließlich wurde 1950 die Auflösung sämtlicher Jüdischen Komitees angeordnet und das jüdische Leben in seiner Gesamtheit der Kontrolle des Regimes unterstellt. Zwar gab es auch weiterhin Juden in Dzierżoniów (noch 1956/57 waren es 2000 bis 3000), doch war das jüdische Leben in dieser Stadt der Vielfalt und Einzigartigkeit, die sich in den ersten Nachkriegsjahren so lebhaft manifestiert hatten, verlustig gegangen. 1
Die diesem Kapitel zugrundeliegenden Nachforschungen wurden zum Teil durch ein Stipendium des polnischen Nationalen Wissenschaftszentrums (Nr. 2014/15/G/HS6/04836, „Juden und Deutsche im polnischen kollektiven Gedächtnis: Zwei ortsbezogene Fallstudien zur Bildung des kollektiven Gedächtnisses nach dem Zweiten Weltkrieg“) ermöglicht. 2 Archiwum Żydowskiego Instytutu Historycznego (AŻIH), Wojewódzki Komitet Żydowski na Dolnym Śląsku 145 (WKŻ 145), 5, k. 37f. 3 AŻIH, WKŻ 145, 1, k. 1; Turkow, Jonas: Nokh der bafrayung. Zikhroynes. Buenos Aires: Tsentral-farband fun Poylishe Yidn in Argentine, 1959, 230f. 4 YIVO Archiv, RG 116, Poland 3, Folder 6. 5 Adelson, Józef: W Polsce zwanej ludową. Tomaszewski, Jerzy (Hrsg.): Najnowsze dzieje Żydów w Polsce w zarysie (do 1950 roku). Warschau: Wydawnictwo Naukowe PWN, 1993, 390 − 391. 6 Shlomi, Hana: Reschit ha-hitargenut schel jehude Polin be-schilche milchemet ha-olam ha-schenija. Shlomi, Hana: Asupat mechkarim le-toldot sche’erit ha-peletah ha-jehudit bePolin, 1944 − 1950. Tel Aviv: Tel Aviv University, 2001, 78f. 7 AŻIH, WKŻ 145, 5, k. 20. 8 Kijek, Kamil: Interview mit Frieda Pertman, Baltimore, Februar 2009. 9 AŻIH, WKŻ 145, 9, k. 118. 10 AŻIH, 145 WKŻ DS, 1, k. 33. 11 AŻIH, WKŻ 145, 5, k. 139; YIVO Archiv, RG 116, Poland, Folder 20. 12 YYRDC, 55 (1), 55 (3); Aleksiun, Natalia: Dokąd dalej? Ruch syjonistyczny w Polsce (1944 − 1950). Warschau: Centrum Badania i Nauczania Dziejów Żydów w Polsce im. Mordechaja Anielewicza, Wydawnictwo Trio, 2002, 178, 181, 194f. 13 Turkow: Nokh der bafrayung, 236; AŻIH, WKŻ 145, 1, k. 6; AŻIH, WKŻ 145, 5, k. 91; Archiwum Państwowe we Wrocławiu (APWr), 331/VI Urząd Wojewódzki we Wrocławiu, Wydział Społeczno-Polityczny (UWW), 697, k. 6 − 14, 37f., 40, 74 − 77, 97; APWr, 331/VI UWW, 698, k. 141, 149. 14 Cała, Alina: Ochrona bezpieczeństwa fizycznego Żydów w Polsce powojennej. Komisje Specjalne przy Centralnym Komitecie Żydów w Polsce. Warschau: Żydowski Instytut Historyczny im. Emanuela Ringelbluma, 2014, 195, 281, 287. 15 Yaad Yari Research & Documentation Center (YYRDC), 1 − 2, 48 (1); 48 (3). 16 YYRDC, 1 − 2, 48 (1); 48 (3). 17 Hirsch, Helga: Gehen oder bleiben? Juden in Schlesien und Pommern, 1945 − 1957. Göttingen: Wallstein, 2011, 173 − 175. 18 Engel, David: Bein schichrur li-verichah: nitsolei ha-scho’ah be’polin weha-ma’avak al hanhagatam, 1944 − 1946. Tel Aviv: Am Oved, 1996, 115f. 19 Archiwum Instytutu Pamięci Narodowej, BU 0259/447, 4, 27, 30f. 20 Kijek, Kamil: Aliens in the Lands of the Piasts: The Polonization of Lower Silesia and Its Jewish Community in the Years 1945 − 1950. Grill, Tobias (Hrsg.): Jews and Germans in Eastern Europe. Shared and Comparative Histories. Berlin: De Gruyter Oldenbourg, 2018, 234 − 256. 21 Smolar, Hersh: Oyf der letster positsye mit der letster hofenung. Tel Aviv: I. L. Peretz, 1982, 152.
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FELIKS NIEZNANOWSKI (1926 – 2017) Feliks Nieznanowski wurde in eine arme Familie geboren, die in der Warschauer Altstadt lebte. Nach dem deutschen Einmarsch 1939 gelang ihm gemeinsam mit seinem Bruder die Flucht in den von den Sowjets besetzten Teil Polens. Er überlebte den Krieg in der Sowjetunion, wo er in der Stahlindustrie arbeitete. 1946 kehrte Nieznanowski im Zuge der Repatriierungsmaßnahmen nach Polen zurück und ließ sich in Dzierżoniów nieder. Dort fand er auch seinen Bruder wieder, der ebenfalls in der Sowjetunion überlebt hatte. Alle anderen nahen Verwandten waren während des Kriegs ermordet worden. Nieznanowski schloss sich in Dzierżoniów dem während des Kriegs im Rahmen des Widerstands gegen die Deutschen gegründeten kommunistischen Kampfbund der Jugend (ZWM) an. Er war für die Verteilung der vom JDC finanzierten Hilfsgüter in der Stadt zuständig, die zu bitteren Konflikten führte. In einem Interview machte er später detaillierte Angaben zu den politischen und organisatorischen Konkurrenzkämpfen zwischen den verschiedenen jüdischen Gruppen. Als er 1947 zur polnischen Armee eingezogen wurde, verließ er Dzierżoniów. Er wurde Berufssoldat, absolvierte die Militärakademie in Łódź und machte in der Armee Karriere. Er ließ sich in Warschau nieder, wo er 1952 heiratete. Mit seine Frau Henryka hatte er zwei Kinder: Tochter Ewa wurde 1953 geboren, Sohn Witold ein Jahr später. Mit seinen jüdischen Bekannten in Dzierżoniów blieb er stets in Verbindung. Während sein Bruder 1956 nach Israel emigrierte, blieb Feliks Nieznanowski bis zu seinem Lebensende in Warschau.
Feliks Nieznanowski (links) mit einem Freund in Dzierżoniów, 1945-1947. Privatsammlung, Ewa Buszko (geb. Nieznanowski), Warschau
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Feliks Nieznanowski (Dritter von links) in einer Gruppe junger Jüdinnen und Juden in Dzierżoniów, 1945 − 1947. Privatsammlung, Ewa Buszko (geb. Nieznanowski), Warschau
Zulassungsbescheinigung des Jüdischen Regionalkomitees für Feliks Nieznanowski, 1946. Privatsammlung, Ewa Buszko (geb. Nieznanowski), Warschau
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JAKUB EGIT (1908 – 1996) Jakub Egit wurde im jüdischen Schtetl Borysław geboren. Er engagierte sich früh in der jüdischen Linken. Mit seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn gelang ihm während des Kriegs die Flucht in die Sowjetunion, wo sie in Kasachstan unter schwierigen Bedingungen überlebten. Nachdem Egit sich von seiner Frau getrennt hatte, kehrte er 1944 mit der Roten Armee nach Polen zurück. Wie er dort feststellen musste, waren seine Eltern und Geschwister im Zuge der Schoa ermordet worden. Nach dem Krieg engagierte sich Egit in der jüdischen Fraktion der Polnischen Arbeiterpartei. Als Vorsitzender des niederschlesischen Provinzkomitees der polnischen Juden setzte er sich von 1945 bis 1949 nachdrücklich für ein selbstbewusstes, mit einem hohen Maß an kultureller Autonomie verbundenes jüdisches Leben in Polen ein. Ende der 1940er Jahre änderte die kommunistische Führung Polens allerdings ihren Kurs. Die Forderung nach kultureller Autonomie, die sie zuvor unterstützt hatte, galt ihr nun als Ausdruck des jüdischen Nationalismus. Egit wurde als Vorsitzender des Provinzkomitees entlassen. „Mein Traum eines wiederbelebten, blühenden jüdischen Lebens auf dem Boden eines demokratischen Polens war tot“, schrieb er über seine damalige Verbitterung.1 Nach seiner Entlassung wurde er Journalist bei verschiedenen jiddischen Zeitungen in Warschau. Im Februar 1953 wurde er unter dem Vorwand verhaftet, er habe sich für die Loslösung Niederschlesiens von der Volksrepublik Polen engagiert. Er blieb acht Monate in Haft. Egit und seine Familie emigrierten 1957 nach Kanada. 1
Egit, Jakub: Grand Illusion. Toronto: Lugus, 1991, 100.
. REICHENBACH/RYCHBACH/DZIERZONIÓW
Porträt Jakub Egit aus einem Fotoalbum über das jüdsche Leben in Niederschlesien nach dem Krieg, 1945 – 1946. Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau
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Die amerikanische Schauspielerin Molly Picon bei einem Besuch in Dzierżoniów, 1946. Picon, sitzend in der ersten Reihe mit Blumen, war zu dieser Zeit einer der größten Stars des jiddischen Films. Egit sitzt in der ersten Reihe rechts außen. Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau
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DIE AKTIVITÄTEN DES AMERICAN JEWISH JOINT DISTRIBUTION COMMITTEE (JDC)
ZUM SCHUTZ DES EUROPÄISCHEN ZWEIGS DER JÜDISCHEN DIASPORA NACH DEM HOLOCAUST LAURA HOBSON FAURE
Mit der schrittweisen Befreiung Europas begann für die jüdischen Überlebenden eine schwierige Zeit. Zwar war die unmittelbare Gefahr, ermordet zu werden, nun weitgehend gebannt, doch waren diejenigen, seien es Angehörige, Freunde, Bekannte, Kollegen oder Institutionen, auf die man sich in der Regel verlassen würde, in alle Winde verstreut, ermordet oder zerstört worden. So waren die jüdischen Überlebenden für die Befriedigung selbst ihrer elementarsten Bedürfnisse auf Unterstützung von außerhalb angewiesen. Das American Jewish Joint Distribution Committee (JDC, auch als Joint bekannt), das 1914 in New York gegründet worden war, um die Opfer des Ersten Weltkriegs zu unterstützen, stand bei der Bereitstellung entsprechender Hilfsleistungen mit großem Abstand an erster Stelle. In dem Maße, in dem die Befreiung Europas voranschritt, entsandte das JDC amerikanische Mitarbeiter in die jeweils befreiten Gebiete, erst nach Italien, Ende 1944 dann nach Frankreich und im Spätsommer 1945 schließlich auch nach Österreich und Deutschland. In dieser Überblicksdarstellung der Aktivitäten, die das JDC entfaltete, um die Überlebenden zu unterstützen und den Wiederaufbau des jüdischen Lebens nach dem Holocaust voranzutreiben, wird die Art und Weise untersucht, in der diese amerikanisch-jüdische Hilfsorganisation die entscheidenden Probleme des Wiederaufbaus nach dem Krieg anging. Mit seinen Hilfsprogrammen für die in Transit bzw. im Umbruch befindliche jüdische Bevölkerung, die in der Regel bestehende staatliche Unterstützungsmaßnahmen ergänzten, mit-
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Lagerhaus und Lastwägen des JDC in Deutschland, 1946. JDC Archives, New York
Überlebende beim Bügeln von Kleidung in einer vom JDC unterstützten Werkstätte in Budapest, 1945 − 1948. Magyar Zsidó Múzeum és Levéltár, Budapest Die Tätowierung des Konzentrationslagers ist an ihrem Unterarm sichtbar.
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unter aber auch Abhilfe leisteten, wo es derartige Maßnahmen schlicht nicht gab, setzte das JDC sich massiv für den Erhalt des europäischen Zweigs der jüdischen Diaspora ein. Allerdings konnte die Tatsache, dass der Wiederaufbau des jüdischen Lebens in Europa überwiegend von amerikanischen Juden finanziert wurde, auch zu Spannungen mit den Juden vor Ort führen. Wenn es darum ging, welchem Modell der Wiederaufbau folgen sollte, waren die jüdischen Überlebenden und Gemeindevorstände einerseits und das JDC andererseits mitunter durchaus unterschiedlicher Meinung. Diese Spannungen lassen sich am Beispiel Frankreichs besonders gut nachvollziehen. Die Lage dort schien, was die Kontinuität des dortigen jüdischen Lebens anging, besonders vielversprechend. Etwa 180 000 bis 200 000 Juden hatten im Land überlebt, und weitere Überlebende kamen täglich (überwiegend aus Osteuropa) hinzu. Unter der Obhut des JDC wurden die jüdischen Wohlfahrtseinrichtungen in Frankreich zentralisiert und professionalisiert. Das JDC unterstützte die Einführung neuer Strukturen, darunter eine zentrale Organisation für die Mittelbeschaffung und jüdische Gemeindezentren. Eine Historikerin hat dies als eine Form kulturellen Imperialismus bezeichnet.1 Ich würde in diesem Zusammenhang eher von einem Prozess des Aushandelns zwischen dem JDC und den Juden vor Ort sprechen. So beeinflussten die französischen Juden durchaus, wie die Mittel eingesetzt wurden, und sie waren sich mit ihren amerikanischen Geldgebern mitunter sogar einig. Allerdings stimmt es in der Tat, dass dieser transnationale Vorgang weitgehend von den beteiligten amerikanisch-jüdischen Organisationen und Individuen bestimmt wurde.2 Ungarn bietet einen aufschlussreichen Vergleichsfall. Die jüdischen Bevölkerungen Frankreichs und Ungarns waren zwar in etwa gleich groß (Ende 1945 lebten in beiden Ländern 180 000 bis 200 000 Juden). Die ungarischen Juden hatten aber ungleich höhere Verluste erlitten. In Frankreich hatten 1940 etwa 330 000 Juden gelebt. In Ungarn waren dagegen in der Endphase des Kriegs von ursprünglich 800 000 Juden mehr als 500 000 ermordet worden. Weitere 12 000 starben noch nach der Befreiung an Unterernährung.3 Die Lebensmittelknappheit dauerte noch monatelang an und die Wirtschaft kam vorerst nicht wieder auf die Beine. Mit diesen Problemen waren zwar alle Ungarn konfrontiert, doch wirkten sie sich auf die jüdischen Überlebenden besonders nachhaltig aus, denn sie hatten sich während des Völkermords monatelang versteckt halten müssen und waren dadurch besonders geschwächt. Zudem konnten sie sich im Gegensatz zu vielen ihrer Landsleute nicht mehr auf ihre Familien und Verwandten und sonstige nützliche Beziehungen verlassen. Dennoch wurde die Tatsache, dass amerikanisch-jüdische Hilfsleistungen ausschließlich für Juden bestimmt waren, auch vor der Machtübernahme der Kommunisten im Jahr 1949 bereits kritisiert und ausgenutzt. So war dem JDC für sein Agieren in Ungarn die Bedingung gestellt worden, dass es auch „nichtkonfessionelle“
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Hilfsleistungen bereitstellen und ungarische Banken für den Devisenumtausch verwenden müsse. Zudem konnte es erst 1947 amerikanische Mitarbeiter in das Land entsenden. Vorerst arbeiteten fast 2800 ungarische Mitarbeiter für das JDC und unterstützten in seinem Auftrag tausende jüdische Überlebende. Als die amerikanischen Mitarbeiter des JDC schließlich eintrafen und versuchten, das teuerste Hilfsprogramm des Komitees nach ihren Vorstellungen zu optimieren, waren Spannungen unvermeidbar.4 Auch dort, wo es wesentlich weniger jüdische Überlebende gab, stellten sich ähnliche Fragen. Die Geschichtsschreibung hat in letzter Zeit insbesondere die Rolle des Scheerit Hapleta – des „Rests der Geretteten“ – als Akteur im Wiederaufbau des jüdischen Lebens hervorgehoben und die Hilfsleistungen amerikanisch-jüdischer Organisationen als integralen Bestandteil des europäischen Wiederaufbaus nach dem Krieg konzeptualisiert.5 Theoretisch habe es nach dem Krieg „drei Bewerber um die ‚Führungsrolle‘“ beim Wiederaufbau des jüdischen Lebens in Europa gegeben: 1. die jüdischen Überlebenden und/oder Neuankömmlinge vor Ort; 2. die ausländischen Hilfsorganisationen; 3. die Landes- bzw. Kommunalregierungen […] Nicht nur zwischen den Juden vor Ort und den ausländischen Hilfsorganisationen, sondern auch unter den Juden vor Ort selbst gab es allerhand Meinungsverschiedenheiten darüber, wie das jüdische Leben nun organisiert werden sollte.6 Infolge dieser Spannungen und der sich rapide verändernden geopolitischen Situation variierte die Art und Weise, in der die Hilfsprogramme des JDC umgesetzt wurden. Als das JDC und die europäischen Juden daran gingen, das jüdische Leben wiederaufzubauen, arbeitete das JDC zwar aufgrund einheitlicher Richtlinien für ganz Europa, doch differierte die Praxis, wie die Tabelle zeigt, durchaus von Land zu Land. Jüdische Bevölkerung
Hilfsleistungen des JDC (in US Dollar)
Jahr
1945
1945
1946
1947
1948
Österreich und
50 000–65 000
317 000
3 979 500
9 012 000
7 320 000
Belgien
12 000
1 9 1 7 000
1 801 000
1 354 000
1 024 000
Frankreich
80 000–200 000
1 998 000
2 831 000
5 906 000
3 583 000
Ungarn
180 000
3 837 000
9 499 000
10 898 000
8 463 000
Polen
60 000–80 000
1 684 000
7 666 000
5 603 000
2 955 000
17 698 000
33 473 500
46 054 000
30 945 000
Deutschland
Gesamt
Jährliche Hilfsleistungen des JDC für Europa 1945–19487
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DIE HILFSLEISTUNGEN DES JDC ANGESICHTS DER DRAMATISCHEN UMBRUCHSITUATION Amerikanische Juden sandten in der Zeit von 1945 bis 1948 mithilfe des JDC mehr als 194 Millionen Dollar nach Europa.8 Allerdings wurden diese Mittel in Europa weder gleichmäßig noch im direkten Verhältnis zur jeweiligen Größe der jüdischen Bevölkerung verteilt. So erhielt Frankreich, das unter den ehemals besetzten Ländern Westeuropas die größte jüdische Bevölkerung hatte, gerade so viel wie Belgien, dessen jüdische Bevölkerung noch nicht einmal ein Zehntel der französischen ausmachte.9 Polen, die amerikanischen Besatzungszonen in Deutschland und Österreich wurden wesentlich stärker gefördert als andere Länder beziehungsweise Regionen, in denen sich eine größere Anzahl jüdischer Überlebender aufhielt, doch selbst das galt als „völlig unzureichend“.10 Wie wir sahen, waren die jüdischen Bevölkerungen Ungarns und Frankreichs etwa gleich groß. Dennoch erhielt Ungarn in den Jahren 1945 bis 1948 jeweils zwischen 23 und 27 Prozent aller Beihilfen des JDC, Frankreich dagegen nur acht bis zehn Prozent.11 Die Gründe für diese ungleiche Verteilung der Mittel durch das JDC waren zum Teil geopolitischer Natur. Die Durchführung seiner Hilfsprogramme wurde durch die zunehmenden Spannungen des Kalten Kriegs und den Zionismus verkompliziert. Die amerikanische Führung des JDC hatte dem Zionismus in der Zwischenkriegszeit überwiegend ablehnend gegenübergestanden, die Gründung eines jüdischen Staats in den späten 1940er Jahren aber akzeptiert. Der Wiederaufbau des jüdischen Lebens in Europa hatte unweigerlich politische Implikationen, da er den dortigen Juden die Möglichkeit des Bleibens eröffnete. Das JDC versuchte, in den betreffenden Ländern eine Position der Neutralität zu wahren, war aber mit der illegalen Einwanderung nach Palästina und den unterschiedlichen Reaktionen seitens der jeweiligen Staaten auf diese Bestrebungen konfrontiert. Die kleine und schutzbedürftige Gruppe der nach ihren Angehörigen und nach Stabilität suchenden jüdischen Überlebenden in Europa befand sich in den ersten Nachkriegsjahren zum großen Teil auf Wanderschaft. Polen bietet hierfür das deutlichste Beispiel. Kurz nach dem Krieg wurden zehntausende Juden, die in der Sowjetunion Zuflucht gefunden hatten, repatriiert. Dadurch wuchs die Zahl der Juden in Polen rasch auf 280 000 an. Doch das Pogrom in Kielce und eine Reihe weiterer antisemitischer Übergriffe im Jahr 1946 sowie die sich verschärfenden Spannungen des Kalten Kriegs bewegten die meisten von ihnen zur Flucht. Schon vor der Gründung des Staats Israel wollten viele jüdische Überlebende nach Palästina und beschlossen, ihre Ursprungsländer zu verlassen. Diese Auswanderungswelle hatte auf die jeweilige jüdische Bevölkerung zum Teil
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sehr unterschiedliche Auswirkungen. In der Zeit von 1948 bis 1951 wanderten beispielsweise jeweils mehr als 100 000 Juden aus Polen und Rumänien nach Israel aus, aber nur 3000 aus Frankreich und 1000 aus den Niederlanden.12 Juden aus der sowjetischen Einflusssphäre wanderten ungleich häufiger nach Israel aus als jene aus Westeuropa. Dies legt nahe, dass es die Lage im Osteuropa des heraufziehenden Kalten Kriegs und nicht unbedingt zionistische Ideologie war, die sie zu diesem Schritt bewog. Die kommunistischen Schauprozesse der 1950er Jahre, in denen jüdische Individuen des Kosmopolitismus und Verrats angeklagt wurden, zeigten an, wie angreifbar die jüdische Bevölkerung im Ostblock war.13 Die Juden stellten nach dem Zweiten Weltkrieg über Jahrzehnte hinweg eine sichtbare Minderheit dar und waren von den Implikationen des Kalten Kriegs, der Gründung Israels und der Dekolonisierung der britischen und französischen Überseeterritorien in besonderem Maße betroffen. Dies führte zu einer Veränderung der Migrationsmuster. Manche Juden verließen Europa, andere suchten dort Zuflucht. Zwischen den Nationalisten und Kommunisten zerrieben, flohen besonders viele Juden im Zusammenhang mit der Revolution von 1956 aus Ungarn. Viele von ihnen ließen sich in Westeuropa nieder, wo sie auf Flüchtlinge aus muslimischen Ländern, etwa aus Ägypten, trafen, die 1956/57 aus ihren Ländern vertrieben worden waren. Infolge derartiger Vertreibungen und der Dekolonisierung der Überseeterritorien erreichte Frankreichs jüdische Bevölkerung wieder ihre Vorkriegsstärke. Allerdings hatte sich deren Zusammensetzung drastisch verändert. Im Laufe des ersten, krisengeschüttelten Nachkriegsjahrzehnts legte das JDC wiederholt Hilfsprogramme zur Unterstützung der Juden Europas im Umgang mit diesen Migrationswellen auf. Gemeinsam mit der Hebrew Sheltering and Immigrant Aid Society (HIAS) wirkte es oft auch ganz konkret bei der Visabeschaffung, dem Anmieten von Hotelzimmern und der Organisierung von Transportmitteln mit. Die Hilfsprogramme, die das JDC nach dem Krieg für die Juden Europas auflegte, kann man drei Phasen zuordnen, die dem Fortschreiten von der anfänglichen Nothilfe zum langfristigen Wiederaufbau entsprechen. In der ersten Phase, von der Befreiung bis zur Gründung des Staats Israel, ging es vordringlich um Soforthilfe für Kinder und Flüchtlinge. In der Zeit von 1948 bis 1954 standen dann Ausbildungsaktivitäten und die Zentralisierung der jüdischen Wohlfahrtseinrichtungen in Europa im Mittelpunkt. Mit der Bereitstellung von Mitteln durch die sogenannte Claims-Konferenz (die Conference on Material Claims against Germany) begann 1954 schließlich der systematische Wiederaufbau.
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DIE JUNGEN ÜBERLEBENDEN Historiker, die sich mit dem JDC befasst haben, sind sich darin einig, dass es in der Phase unmittelbar nach der Befreiung vor allem darum ging, sich um die Grundbedürfnisse der jüdischen Überlebenden zu kümmern. Dabei spielte die Sorge um die jungen Überlebenden eine entscheidende Rolle. Allerdings gab es gerade auch in diesem Zusammenhang Probleme, da sich die Wünsche der jungen Überlebenden nicht unbedingt mit denen des JDC deckten. Das JDC finanzierte jüdische Initiativen und Hilfsorganisationen vor Ort, die Bedürftige unabhängig von ihrem Hintergrund – ob Staatsbürger oder Flüchtlinge, ob alt oder jung – mit Lebensmitteln, Unterkunft, Rechtsbeistand und Krediten versorgten. In Frankreich unterstützte das JDC beispielsweise 35 derartige Organisationen, die ihrerseits 115 Hilfseinrichtungen betrieben.14 So konnte das JDC allein 1945 auf indirektem Wege 50 000 Individuen helfen. Das waren immerhin etwa 25 bis 28 Prozent der jüdischen Bevölkerung.15 Dabei legte es besonderen Wert darauf, sich um die überlebenden jüdischen Kinder zu kümmern und ihnen eine Perspektive zu bieten. Daniella Doron und Tara Zahra haben jüngst darauf hingewiesen, dass das Schicksal der jüdischen Kinder, ja der „verlorenen Kinder“, die während des Kriegs herangewachsen waren, überhaupt zum Gegenstand leidenschaftlich geführter Auseinandersetzungen über Fragen der kollektiven Identität und Nationsbildung wurde.16 Obwohl es zwischen Frankreich und Ungarn, von der Größe ihrer jeweiligen jüdischen Bevölkerung einmal abgesehen, kaum Gemeinsamkeiten gab, ähnelten die dort durchgeführten Kinderfürsorgemaßnahmen einander durchaus. In beiden Ländern errichteten die jüdischen Organisationen vor Ort mithilfe des JDC ein Netzwerk aus jüdischen Kinderheimen. Es deckte das gesamte Spektrum religiöser und politischer Orientierungen – von der Orthodoxie über den Zionismus bis zum Kommunismus – ab. Aus einem 1948 erstellten Bericht des JDC geht hervor, dass das JDC in Frankreich 54, in Rumänien 36, in Ungarn 31, in Polen fünfzehn, in Deutschland zehn, in Belgien und Italien je acht und in der Tschechoslowakei vier Kinderheime finanzierte sowie jeweils ein Heim in Österreich, Griechenland, den Niederlanden und Jugoslawien.17 Kinderheime waren in Europa weit verbreitet und in der Zwischenkriegszeit ein integraler Bestandteil der jüdischen Kinderfürsorge gewesen. Sie bauten also auf dem Vorkriegsmodell der gemeinschaftlichen Erziehung auf und stellten ein vertrautes und effizientes Modell dar, das die gemeinsame Unterbringung zahlreicher Kinder ermöglichte und gewährleistete, dass sie in einem jüdischen Umfeld aufwuchsen.18 Zwar wurden manche Kinder auch zu Pflegeeltern gegeben, doch wurde ein Großteil der jüdischen Kinder (darunter auch solche, deren Eltern noch lebten) in Heimen untergebracht. Die Historikerin Viktória Bányai hat gezeigt, dass jüdische Eltern in Ungarn es aus prakti-
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Spenden brauchten gute Fotos. Das Mädchen Reva Ehrlich, aus Polen geflohen, bekommt neue Schuhe aus dem Quartiermeister-Shop des UNRRA Düppel Centers. Sie zeigt ihre Schuhe sowohl Eli Rock, Leiter der JDC-Operations in Berlin, als auch einem anonymen UNRRA-Lagerpolizisten im DP-Lager Berlin-Schlachtensee, ca. 1946 − 48. Fotos: Al Taylor, JDC Archives, New York
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schen Erwägungen vorzogen, ihre Kinder in Heimen unterzubringen: Dort erhielten die Kinder bessere Lebensmittelzuteilungen. Im Übrigen wurden viele Kinder in den Heimen für die zionistischen Organisationen in Ungarn gewonnen.19 In Frankreich, so Daniella Doron, regten sich bei den französischen Wohlfahrtsorganisationen angesichts der präzedenzlosen Katastrophe Zweifel, ob die jüdischen Familien imstande sein würden, sich angemessen um die wertvollste Ressource der Gemeinde – die Jugend – zu kümmern. Daher favorisierten sie die Unterbringung in Kinderheimen.20 Allerdings brachten die Juden vor Ort sowohl in Ungarn als auch in Frankreich recht bald ihre Unzufriedenheit mit diesem Modell zum Ausdruck. Der Kinderschutzexperte und JDC-Mitarbeiter Géza Varsányi meinte, die Kinder würden in den Heimen auf bedenkliche Weise zur Abhängigkeit von Wohlfahrtsleistungen erzogen. Daher forderte er im Juli 1945, dass die Kinder wieder in ihre Familien integriert, und die Familien mit einem umfangreichen Hilfsangebot unterstützt werden sollten.21 Auch in Frankreich, wo Sozialarbeiter angesichts des vermeintlichen Versagens der Familien zunächst die Heimunterbringung favorisiert hatten, kamen allmählich Zweifel an diesem Vorgehen auf. Würden in Heimen erzogene Jugendliche sich als Erwachsene bewähren? Pädagogen befürchteten ein „Silberlöffelsyndrom“, das weitreichende geschlechtsspezifische Implikationen für künftige Familien haben könnte: Würden die Mädchen fähig sein, sich dereinst um ihre eigenen Kinder zu kümmern?22 Die prominente Rolle der Kinderheime zeigt, dass die Vertreter des JDC sich europäischen Konventionen bis zu einem gewissen Punkt anpassten. Es ist geradezu paradox, dass amerikanische Organisationen bereitwillig diese Heime finanzierten, denn amerikanische Sozialarbeiter favorisierten zu dieser Zeit vor dem Hintergrund der zunehmenden Verbreitung Freudianischer Theorien die Unterbringung in Pflegefamilien, von der sie annahmen, dass sie „am ehesten den Interessen des Kindes [...] und den amerikanischen Werten des Individualismus, der Selbständigkeit und der Familiensolidarität“ Rechnung tragen würde.23 Den Sozialarbeitern des JDC waren diese Überlegungen selbstverständlich bekannt. Dennoch stimmten sie der Finanzierung der Kinderheime zu. Noch bemerkenswerter, gerade angesichts der Spannungen des Kalten Kriegs, ist die Tatsache, dass eine amerikanische Organisation wie das JDC die Heime aller ideologischen Richtungen unterstützte, darunter auch solche, die von Kommunisten betrieben wurden.24 Auch die Finanzierung zionistisch ausgerichteter Kinderheime durch das JDC war nicht unbedingt selbstverständlich. Offenbar erfolgte die Auswahl geeigneter Einrichtungen für die Kinderfürsorge eher nach pragmatischen als nach politischen Kriterien.
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Dass das JDC die Entwicklung der jüdischen Kinder in Ungarn und Frankreich beeinflusste, steht jedenfalls außer Frage. Allerdings änderte es seine Herangehensweise 1947 grundlegend, was zu einem massiven Rückgang in der Zahl der in Heimen untergebrachten Kinder führte. Es musste seine Programme ab 1947 ohnehin radikal zurückfahren, da das Spendenaufkommen angesichts einer befürchteten Rezession stockte. Im Übrigen kam es auch zu einer grundlegenden Verschiebung in der Herangehensweise des JDC. Die Direktoren für die einzelnen Länder, die sich bislang bemüht hatten, die Mittel des JDC an so viele Empfänger wie möglich zu verteilen, beschlossen, dass es nun an der Zeit sei, deren Selbständigkeit zu fördern. Die von der erfahrenen Funktionärin Laura Margolis geleiteten Mitarbeiter des JDC in Frankreich schrieben, dass sie Zuwendungen „gezielt kürzen, um Agenturen schockartig mit der Realität zu konfrontieren“.25 Diese Kürzungen wurden durch ein neues Konzept für die Kinderfürsorge begleitet. In Frankreich stellte das JDC ab September 1947 die systematische Förderung der Sommerlager und der Heimunterbringung von Kindern, deren Eltern noch lebten, ein. Besonders umstritten war die Entscheidung des JDC, junge Juden, die in den Heimen lebten, nicht mehr zu unterstützen, wenn sie das 18. Lebensjahr vollendet hatten.26 Zur gleichen Zeit begann auch die „Abwicklung des Netzwerks der Kinderheime“ in Ungarn.27 Der neue Ansatz wurde im April 1948 auf der Pariser Konferenz der Länderdirektoren bestätigt, auf der der Verweis auf das amerikanische Modell der Unterbringung in Familien zur Rechtfertigung der Kürzungen angeführt wurde. In den neuen Richtlinien hieß es: „Im Allgemeinen wollen wir das Familienleben stärken und den Einsatz von Institutionen bei der Lösung von Problemen in der Kinderfürsorge auf ein Mindestmaß begrenzen.“28 Folglich wurden in Frankreich und Ungarn zahlreiche Kinder zu ihren Eltern oder Verwandten zurückgeschickt. In Frankreich wurden Waisen, die das 18. Lebensjahr vollendet hatten, für volljährig erklärt und dadurch gezwungen, die Einrichtungen, die ihr Zuhause geworden waren, und die Menschen, die ihnen als Ersatzfamilie gedient hatten, zu verlassen. Manche fühlten sich vollkommen verlassen, andere mieteten gemeinsam Hotelzimmer, wieder andere schliefen in Parks. Diese Entwicklung sorgt bis heute für Verwunderung und Verstimmung. Es ist gemutmaßt worden, dass der Umschwung mit einer Verschiebung der Prioritäten infolge der Gründung des Staats Israel zusammenhing. Jedenfalls wurden Mittel des JDC zum Teil aus dem Wiederaufbau in Europa abgezogen und zugunsten der Flüchtlinge in Israel umgeleitet.29 Auch die amerikanische Herkunft der Hilfsmittel dürfte eine Rolle gespielt haben. Die amerikanische Sozialarbeit ist traditionell stark auf die Förderung der Selbständigkeit ausgerichtet. Im Übrigen ging den amerikanisch-jüdischen Spendern allmählich die Puste aus. Die Mittel wurden knapper und die Zuwendungen mussten gekürzt werden.
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Mandelblüte in Apulien. Der JDC unterstützte auch Flüchtlinge auf dem Weg nach Palästina und förderte landwirtschaftliche Ausbildungslager in der Nähe von Bari, wo viele auf eine Schiffspassage nach Palästina warteten, ca. 1945 − 48. JDC Archives, New York
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DER LANGFRISTIGE WIEDERAUFBAU: DIE EINFÜHRUNG AMERIKANISCHER STRUKTUREN Beim Umgang mit den jungen jüdischen Überlebenden gab es zwischen den beiden ansonsten grundverschiedenen Ländern Frankreich und Ungarn also starke Gemeinsamkeiten. Dagegen führten die langfristigen Wiederaufbauvorhaben zu divergierenden Resultaten in Ländern, die einander ähnlich waren, und zu konvergierenden Resultaten in grundverschiedenen Gesellschaften. Wieviel Macht das JDC tatsächlich hatte, lässt sich an seiner Fähigkeit ermessen, die von ihm favorisierten amerikanischen Modelle tatsächlich durchzusetzen. Trifft es wirklich zu, dass das JDC ähnlich vorging „wie die Förderer des Marshall-Plans, die in Frankreich ihre finanziellen Muskeln spielen ließen [...] um ihre Ziele durchzusetzen“?30 Das würde voraussetzen, dass sämtliche Kooperationspartner des JDC tatsächlich gezwungen wurden, dessen Vorgaben zur Zentralisierung der Wohlfahrtseinrichtungen und landesweiten Mittelerhebung und Planung durchzuführen. Dass die Vertreter des JDC nach dem Holocaust nachdrücklich darauf beharrten, dass die Mitteleinwerbung und Wohlfahrtseinrichtungen landesweit zentralisiert werden sollten, so wie die amerikanischen Juden es 1939 selbst mit dem United Jewish Appeal getan hatten, steht außer Frage.31 In manchen Ländern, etwa in den Niederlanden, in Frankreich und in Jugoslawien konnte das JDC sich damit durchsetzen. Doch in anderen, etwa in Belgien, gelang ihm das nicht. Diese Divergenz spiegelt die Tatsache wider, dass die amerikanischen Hilfsorganisationen zwar über erheblichen Einfluss, keineswegs aber über genügend Macht verfügten, um gegen die strukturellen Faktoren anzukommen, die das Leben der jüdischen Bevölkerung in Europa prägten. In Frankreich zeigte sich eine Gruppe jüdischer Anführer verschiedener politischer Ausrichtungen, die maßgeblich an der Selbstorganisation und dem Widerstand der Juden während der Besatzung beteiligt gewesen waren, zunehmend besorgt, dass das JDC sich Entscheidungen über ihre Belange anmaße. Ende 1946 gründeten sie daher als Gegengewicht zum JDC einen eigenen Beratenden Ausschuss. Im Herbst 1947 gelang es der Direktorin des JDC in Frankreich Laura Margolis, dieses Gremium zur Gründung einer an der Struktur des United Jewish Appeal orientierten neuen Organisation zu überreden, die unter französischer Leitung die Nachfolge des JDC antreten würde. Dass Margolis eine Frau war, dürfte zu ihrem Erfolg beigetragen haben. Margolis hatte anfangs einen Experten aus Amerika hinzugezogen, doch weigerte sich die jüdische Führung, mit ihm zusammenzuarbeiten. Dank ihres konzilianten und bescheidenen Stils und ihrer hervorragenden Französischkenntnisse war Margolis größeres Glück beschieden. Margolis war die einzige Frau, die in der Organisation eine Spitzenposition innehatte. Während des Kriegs war sie maß-
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geblich an den Aktivitäten des JDC auf Kuba und in Shanghai beteiligt und mag dabei ihre Fähigkeit, taktvoll vorzugehen und mit mächtigen Männern zu verhandeln, perfektioniert haben.32 Diese Fertigkeiten dürften sich in Frankreich ausgezahlt haben, doch wurde die Zentralisierung des jüdischen Lebens ohnehin durch die dortigen strukturellen und historischen Bedingungen begünstigt. Es hatte sich bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts stark auf Paris konzentriert. Zwar etablierte sich nach dem Krieg eine eigenständige jüdische Gemeinde in Elsass-Lothringen, doch legte die generelle Fixierung der französischen Bevölkerung auf Paris nahe, auch das jüdische Leben in der Hauptstadt zu konzentrieren. Zudem war die religiöse Orientierung der jüdischen Bevölkerung Frankreichs nach dem Krieg (anders als in anderen europäischen Ländern) relativ einheitlich. Dass Frankreichs Juden im Oktober 1949 unter Margolis’ Anleitung den Fonds Social Juif Unifié gründeten, der allmählich die Nachfolge des JDC antrat, ist letztlich auf diese strukturellen Faktoren zurückzuführen. Die jüdischen Überlebenden in Jugoslawien, 1946 waren es etwa 12 000, verteilten die Mittel des JDC ebenfalls durch eine zentrale Einrichtung. Von 1945 bis 1950 übernahm das Autonomous Relief Committee (ARC) diese Aufgabe, anschließend wurde sie vom Bund der jüdischen Gemeinden wahrgenommen. Emil Kerenji hat jüngst darauf hingewiesen, dass das JDC und die jüdische Führung in Jugoslawien das ARC bereits 1945 gründeten, das JDC aber erst im Herbst 1946 eigene Mitarbeiter in das Land entsenden konnte. Jugoslawiens Juden schufen diese an die Vorkriegszeit anknüpfende zentralisierte Struktur also selbst, ehe leitende Vertreter des JDC überhaupt in Jugoslawien eintrafen. Zuvor war der Bund der jüdischen Gemeinden Jugoslawiens bereits im Oktober 1944 von seinem ehemaligen Präsidenten wiederbegründet worden. Diese Entscheidung entsprach den strukturellen Rahmenbedingungen nach dem Krieg. „Die Zentralisierung der Führung“, so Kerenji, ergab sich aus der neuen Machtkonstellation im Jugoslawien der ersten Nachkriegsjahre. Das Regime war hochgradig zentralisiert und in Belgrad ansässig. Wenn die führenden Vertreter der Juden ein humanitäres Programm organisieren wollten, noch dazu eines, das von einer westlichen Organisation finanziert wurde, mussten sie sich in der Nähe des Zentrums der Macht ansiedeln und mit einer Stimme sprechen.33 Während die Wohlfahrtseinrichtungen in Frankreich und Jugoslawien also auf je unterschiedlichem Wege zentralisiert wurden, stellte Belgien einen gänzlich anderen Fall dar. Veerle Vanden Daelen hat darauf hingewiesen, dass es in dem Land zwei grundverschiedene jüdische Bevölkerungsgruppen gab: Eine kleine, vorwiegend orthodoxe in Antwerpen und eine wesentlich größere,
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überwiegend kommunistische und säkulare in Brüssel. Bedeutsam war in diesem Zusammenhang, dass die Juden in Antwerpen enge Verbindungen zur internationalen Diamantenindustrie unterhielten. Dadurch hatten manche von ihnen während des Zweiten Weltkriegs in New York Zuflucht gefunden, sodass es in New York eine informelle Lobby für die jüdische Nachkriegsbevölkerung in Antwerpen gab, die die Bestrebungen der dortigen orthodoxen Juden unterstützte. Das JDC tat sich schwer damit, die beiden so verschiedenen Gruppen miteinander in Einklang zu bringen, um auch in Belgien die favorisierten einheitlichen Wohlfahrtseinrichtungen zu schaffen. Von den Antwerpener Juden in New York unter Druck gesetzt, gab das JDC schließlich auf und ließ die hochgradig organisierten Juden in Antwerpen ihre eigenen Finanzen unabhängig von denen der Brüsseler Juden verwalten.34 Betrachtet man die Hilfsprogramme des JDC in transnationaler und vergleichender Perspektive, zeigt sich, dass die Mittel und Mitarbeiter des Komitees bei der Gestaltung des jüdischen Nachkriegslebens in Europa zwar eine bedeutende Rolle spielten, strukturelle und historische Faktoren letztlich aber schwerer wogen als die Macht des JDC. Dem Wiederaufbau des jüdischen Lebens in Europa lagen komplexe Aushandlungsprozesse zwischen den jüdischen Gemeinden vor Ort, den betreffenden europäischen Staaten und den amerikanischen Hilfsorganisationen zugrunde. Sowohl in der akuten Notlage der unmittelbaren Nachkriegszeit als auch bei der Schaffung langfristiger jüdischer Gemeindestrukturen spielten die Hilfsprogramme, mit denen das JDC schutzbedürftige Gruppen – etwa, wie wir gesehen haben, die überlebenden jüdischen Kinder und Jugendlichen – unterstützten allerdings eine gewichtige Rolle. Doch wurde deren Umsetzung auch durch die Wünsche der Juden vor Ort und eine Reihe struktureller, historischer und geopolitischer Faktoren maßgeblich mitbestimmt. Dass das JDC etwas forderte – etwa die Zentralisierung der jüdischen Wohlfahrtseinrichtungen – garantierte noch lange nicht, dass es auch geschah. Die Befassung mit den Nachkriegsprogrammen des JDC trägt zudem zum besseren Verständnis wichtiger Verschiebungen innerhalb der Diaspora nach dem Holocaust und der Gründung Israels bei. Das JDC schuf Fakten, die eine Erneuerung des jüdischen Lebens in Europa plausibel machten. Zu einem Zeitpunkt, da geopolitische Entwicklungen die Juden Europas entweder westwärts (in die Vereinigten Staaten und nach Lateinamerika) oder ostwärts (nach Palästina beziehungsweise Israel) drängten, setzte sich die Organisation aktiv dafür ein, dass Juden auch weiterhin in bestimmten Teilen Europas präsent sein sollten. Dass das JDC nach dem Krieg massive Hilfsprogramme für Europa auflegte, war angesichts seiner traditionellen Vorbehalte dem Zionismus gegenüber zwar nicht überraschend, wohl aber von erheblicher Bedeutung. Schließlich hätte es seine Programme in Europa nach der Gründung Israels
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auch aufgeben können, um die Auswanderung in das neu gegründete Land zu fördern. Doch tat es das nicht und stärkte stattdessen den europäischen Zweig der Diaspora, indem es den Juden, die bleiben wollten, dort, wo das JDC es für möglich hielt, die Gelegenheit dazu bot. In der Rückschau lässt sich abschließend feststellen, dass sich die jüdische Identität infolge des Holocaust in vielerlei Hinsicht verändert hat. In dieser Übergangszeit der Trauer und Genesung bot das jüdische Wohlfahrtswesen die Möglichkeit, eine neue, gemeinsame jüdische Identität zum Ausdruck zu bringen, die religiöse und säkulare Juden in einem gemeinsamen Projekt zusammenführte und neue Formen der Zusammengehörigkeit jenseits sozialer, ideologischer und religiöser Gegensätze schuf. Das JDC leistete einen entscheidenden Beitrag zu dieser enormem – in Polen und Deutschland eher vorübergehenden, in Frankreich und Ungarn nachhaltigeren – Expansion des jüdischen Wohlfahrtswesens, das vielen Juden in dieser turbulenten Zeit ein Zuhause oder zumindest einen gewissen Beistand bot. 1
Mandel, Maud S.: Philanthropy or Cultural Imperialism? The Impact of American Jewish Aid in Post-Holocaust France. Jewish Social Studies 9.1 (2002), 53 − 94; Mandel, Maud S.: In the Aftermath of Genocide. Armenians and Jews in Twentieth Century France. Durham: Duke University Press, 2003. 2 Hobson Faure, Laura: Un „Plan Marshall Juif“: La présence juive américaine en France après la Shoah, 1944–1954. Paris: Armand Colin, 2013; Editions le Manuscrit, 2018; Hobson Faure, Laura: A „Jewish Marshall Plan“, The American Jewish Presence in Post-Holocaust France. Bloomington: Indiana University Press, forthcoming. 3 USHMM: Hungary after the German Occupation. https://encyclopedia.ushmm.org/content/en/article/hungary-after-the-german-occupation (28.3.2019). 4 Bauer, Yehuda: Out of the Ashes. The Impact of American Jews on Post-Holocaust Jewry. Oxford: Pergamon Press, 1989, 14, 133 − 148; Frojimovics, Kinga: The Activity of the JDC in Hungary, 1945 − 53. Patt, Avinoam [u. a.] (Hrsg.): The JDC at 100. A Century of Humanitarianism. Detroit: Wayne State University Press, 2019, 421 − 438. 5 Grossmann, Atina: Juden, Deutsche, Alliierte. Begegnungen im besetzten Deutschland. Göttingen: Wallstein, 2012; Daelen, Veerle Vanden: Laten we hun lied verder zingen. De heropbouw van de joodse gemeenschap in Antwerpen na de Tweede Wereldoorlog (1944 − 1960). Amsterdam: Aksant, 2008; Patt, Avinoam: Finding Home and Homeland: Jewish Youth and Zionism in the Aftermath of the Holocaust. Detroit: Wayne State University Press, 2009; Zahra, Tara: The Lost Children: Reconstructing Europe’s Families after World War II. Cambridge, MA: Harvard University Press, 2011; Doron, Daniella: Jewish Youth and Identity in Postwar France: Rebuilding Family and Nation. Bloomington: Indiana University Press, 2015. 6 Hobson Faure, Laura; Daelen, Veerle Vanden: Imported from the United States? The Centralization of Private Jewish Welfare After the Holocaust. The Case of Belgium and France. Patt, Avinoam [u. a.] (Hrsg.): The JDC at 100. A Century of Humanitarianism. Detroit: Wayne State University Press, 2019, 280. 7 Quellen: Bauer, Yehuda: Out of the Ashes, 4, 48; Patt [u. a.] (Hrsg.): The JDC at 100. 8 Bauer: Out of the Ashes, xviii. 9 Hobson Faure, Daelen: Imported from the United States?, 293. 10 Patt, Avinoam; Crago-Schneider, Kierra: Years of Survival. JDC in Postwar Germany, 1945 − 1957. Patt, Avinoam [u. a.] (Hrsg.): The JDC at 100. A Century of Humanitarianism.
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JDC-Mitarbeiter Morris Laub inspiziert die JDC-Hilfsgüter in einem britischen DP-Camp auf Zypern, 1947. JDC Archives, New York
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Detroit: Wayne State University Press, 2019, 364. Bauer: Out of the Ashes, xviii. 12 Wasserstein, Bernard: Vanishing Diaspora: The Jews in Europe since 1945. Cambridge, MA: Harvard University Press, 1996, 92. 13 Dies zeigte sich beispielsweise im Slansky-Prozess (1952) und der sogenannten „Ärzteverschwörung“ (1953). 14 Protokoll des Exekutivkomitees, 18.4.1950, 249, France 1945 − 1954, Joint Distribution Committee Archives, New York (JDC-NY). 15 American Jewish Joint Distribution Committee, Research Department: J.D.C. primer. New York: American Jewish Joint Distribution Committee, 1945, [Frankreich] 8. Der Prozentsatz geht von einer jüdischen Gesamtbevölkerung von 180 000 bis 200 000 aus. 16 Zahra: The Lost Children. 17 JDC Budget and Research Department Report Nr. 59, JDC Assistees in Europe and North Africa, 10.11.1948, Archives départementales de la Seine-Saint-Denis, Fonds David Diamant, 335J/115. 18 Corber, Erin: L’Esprit Du Corps: Bodies, Communities, and the Reconstruction of Jewish Life in France, 1914 − 1940. Bloomington, Univ.-Diss., 2013, 144 − 914. 19 Bányai, Viktória: The Impact of the American Jewish Joint Distribution Committee’s Aid Strategy on the Lives of Jewish Families in Hungary, 1945 − 49. Čapková, Kateřina; Adler, Eliyana R. (Hrsg.): Family in the Holocaust and Its Aftermath (noch nicht erschienen); Frojimovics: The Activity of the JDC in Hungary. 20 Siehe Doron: Jewish Youth and Identity, 118-161. 21 Bányai: The Impact of the American Jewish Joint Distribution Committee’s Aid Strategy. 22 Doron: Jewish Youth and Identity, 149. 23 Zahra: The Lost Children, 72. 24 In Frankreich wurden kommunistische Heime bis 1953 finanziell unterstützt. Siehe Hobson Faure, Laura: Shaping Children’s Lives: American Jewish Aid in Post-World War II France (1944 − 1948). Kaplan, Jonathan Zvi; Malinovich, Nadia (Hrsg.) Re-examining the Jews of Modern France: Images and Identities. Leiden: Brill, 2016, 173 − 193. 25 Welfare Department Report #2, Report of Child Care Department, Office for France on developments from October 1946 to October 1948, April 1949, 249, France 1945/54, JDC-NY. 26 Welfare Department Report #2; Frojimovics: The Activity of the JDC in Hungary, 430 − 434. 27 Bányai: The Impact of the American Jewish Joint Distribution Committee’s Aid Strategy. 28 Standards and Policies for Welfare Programs. Prepared for JDC Country Directors’ Conference, April 5 − 11, 1948, zitiert in Frojimovics: The Activity of the JDC in Hungary, 431 − 432. 29 Diese Information erhielt ich anlässlich eines Vortrags, den ich am 20.10.2014 für Angehörige von OSE Amicale, einer Gruppe von Überlebenden, die als Kinder vom Oeuvre de Secours aux Enfants (OSE), einer Partnerorganisation des JDC betreut wurden, im OSE-Hauptquartier hielt. Nähere Angaben machte Armand Bulwa in einem Telefongespräch am 9.3.2015. 30 Mandel: Philanthropy or Cultural Imperialism?, 54 − 55. 31 Karp, Abraham: To Give Life. The United Jewish Appeal and the Shaping of the American Jewish Community. New York: Schocken Books, 1981, 77 − 85. 32 Siehe Glaser, Zhava Litvac: Laura Margolis and JDC Efforts in Cuba and Shanghai: Sustaining Refugees in a Time of Catastrophe. Patt, Avinoam [u.a.] (Hrsg.): The JDC at 100. A Century of Humanitarianism. Detroit: Wayne State University Press, 2019, 167 − 204. 33 Kerenji, Emil: Rebuilding the community. The Federation of Jewish Communities and American Jewish humanitarian aid in Yugoslavia, 1944 − 1952. Southeast European and Black Sea Studies 17.2 (2017), 257. 34 Hobson Faure, Daelen: Imported from the United States?, 302 − 3; Daelen, Laten we hun lied verder zingen. 11
DIE AKTIVITÄTEN DES AMERICAN JEWISH JOINT DISTRIBUTION COMMITTEE (JDC)
literatur American Jewish Joint Distribution Committee, Research Department: J.D.C. primer. New York: American Jewish Joint Distribution Committee, 1945. / Bányai, Viktória: The Impact of the American Jewish Joint Distribution Committee’s Aid Strategy on the Lives of Jewish Families in Hungary, 1945 − 49. Čapková, Kateřina; Adler, Eliyana R. (Hrsg.): Family in the Holocaust and Its Aftermath (noch nicht erschienen). / Bauer, Yehuda: Out of the Ashes. The Impact of American Jews on Post-Holocaust Jewry. Oxford: Pergamon, 1989. / Corber, Erin: L’Esprit Du Corps: Bodies, Communities, and the Reconstruction of Jewish Life in France, 1914 − 1940. Bloomington, Univ.-Diss., 2013. / Daelen, Veerle Vanden: Laten we hun lied verder zingen. De heropbouw van de joodse gemeenschap in Antwerpen na de Tweede Wereldoorlog (1944 − 1960). Amsterdam: Aksant, 2008. / Doron, Daniella: Jewish Youth and Identity in Postwar France: Rebuilding Family and Nation. Bloomington: Indiana University Press, 2015. / Frojimovics, Kinga: The Activity of the JDC in Hungary, 1945 − 53. Patt, Avinoam [u. a.] (Hrsg.): The JDC at 100. A Century of Humanitarianism. Detroit: Wayne State University Press, 2019, 421 − 438. / Glaser, Zhava Litvac: Laura Margolis and JDC Efforts in Cuba and Shanghai: Sustaining Refugees in a Time of Catastrophe. Patt, Avinoam [u. a.] (Hrsg.): The JDC at 100. A Century of Humanitarianism. Detroit: Wayne State University Press, 2019, 167 − 204. / Grossmann, Atina: Juden, Deutsche, Alliierte. Begegnungen im besetzten Deutschland. Göttingen: Wallstein, 2012. / Hobson Faure, Laura: Shaping Children’s Lives: American Jewish Aid in Post-World War II France (1944 − 1948). Kaplan, Jonathan Zvi; Malinovich, Nadia (Hrsg.) Re-examining the Jews of Modern France: Images and Identities. Leiden: Brill, 2016, 173 − 193. / Hobson Faure, Laura; Daelen, Veerle Vanden: Imported from the United States? The Centralization of Private Jewish Welfare After the Holocaust. The Case of Belgium and France. Patt, Avinoam [u. a.] (Hrsg.): The JDC at 100. A Century of Humanitarianism. Detroit: Wayne State University Press, 2019, 279 − 314. / Karp, Abraham: To Give Life. The United Jewish Appeal and the Shaping of the American Jewish Community. New York: Schocken Books, 1981. / Kerenji, Emil: Rebuilding the community. The Federation of Jewish Communities and American Jewish humanitarian aid in Yugoslavia, 1944 − 1952. Southeast European and Black Sea Studies 17.2 (2017), 245 − 262. / Mandel, Maud S.: Philanthropy or Cultural Imperialism? The Impact of American Jewish Aid in Post-Holocaust France. Jewish Social Studies 9.1 (2002), 53 − 94. / Mandel, Maud S.: In the Aftermath of Genocide. Armenians and Jews in Twentieth Century France. Durham: Duke University Press, 2003. / Patt, Avinoam: Finding Home and Homeland: Jewish Youth and Zionism in the Aftermath of the Holocaust. Detroit: Wayne State University Press, 2009. / Patt, Avinoam; Crago-Schneider, Kierra: Years of Survival. JDC in Postwar Germany, 1945 − 1957. Patt, Avinoam [u. a.] (Hrsg.): The JDC at 100. A Century of Humanitarianism. Detroit: Wayne State University Press, 2019, 361 − 420. / USHMM: Hungary after the German Occupation. https://encyclopedia.ushmm.org/content/en/article/hungary-after-the-german-occupation (28.3.2019). / Wasserstein, Bernard: Vanishing Diaspora: The Jews in Europe since 1945. Cambridge, MA: Harvard University Press, 1996. / Zahra, Tara: The Lost Children: Reconstructing Europe’s Families after World War II. Cambridge, MA: Harvard University Press, 2011.
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DIE STADT DER ÜBERLEBENDEN KATA BOHUS Sie standen da, schauten mich an, riefen meinen Namen, und der alte Steiner umarmte mich, so, wie ich war, samt Mütze, verschwitzt, in meiner gestreiften Jacke …. Ich musste die üblichen Fragen beantworten: woher, wie, wann, auf welche Weise, dann fragte ich und erfuhr, dass in unserer Wohnung tatsächlich inzwischen andere Leute wohnten. Ich wollte wissen: „Und wir?“, und weil sie sich irgendwie schwertaten, fragte ich: „Mein Vater?“, worauf sie dann endgültig verstummt sind. Imre Kertész1 Bei Kriegsende lebten von den 400 000 Juden, die vor dem Krieg in Ungarn ansässig waren,2 noch etwa 180 000 bis 200 000.3 Die jüdischen Einwohner Budapests wurden zwar gegen Ende des Kriegs in ein Ghetto gezwängt, doch verhinderte das rasche Vorrücken der Roten Armee umfangreichere Deportationen, und die Stadt wurde bereits im Februar 1945 befreit. Während in der Provinz nur 20 Prozent der Juden überlebt hatten, waren es in der Hauptstadt immerhin gut 50 Prozent. Folglich lebte die Mehrheit der überlebenden Juden in Ungarn – etwa 120 000 bis 140 000 – in Budapest.4 Die Stadt beherbergte damit unmittelbar nach dem Krieg eine der größten jüdischen Bevölkerungen Europas. Auch die erste jüdische Nachkriegsgemeinde wurde in der Hauptstadt gebildet. Die Überlebenden schlossen sich erneut den drei Zweigen des ungarischen Judentums, den neologen, den orthodoxen und den Status-quo-Gemeinden an und kehrten damit zur institutionellen Struktur der Vorkriegszeit zurück.5 In anderer Hinsicht gab es jedoch dramatische Veränderungen. So hatte sich die Zusammensetzung der jüdischen Bevölkerung in Budapest nachhaltig verschoben. Zwei Drittel der zwanzig- bis sechzigjährigen Männer waren beim Ableisten des militärischen Arbeitsdiensts umgekommen. Dagegen hatten mehr als die Hälfte der Kinder und Frauen und zwei Drittel der über Sechzigjährigen überlebt.6 Infolge der historischen Entwicklung des städtischen Judentums waren die meisten Überlebenden assimiliert und nicht religiös. Da so viele der Überlebenden Kinder, Alte und alleinstehende Frauen
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Mütter warten mit ihren Kindern im Büro des Nationalen Hilfskomitees für Deportierte auf Hilfsleistungen, 1945 − 1947. Foto: Sándor Bojár, Magyar Zsidó Múzeum és Levéltár, Budapest
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Überlebende Kinder und Erwachsene erhalten eine warme Mahlzeit in einer Suppenküche, 1945 − 1947. Foto: Sándor Bojár, Magyar Zsidó Múzeum és Levéltár, Budapest
Altkleider-Ausgabe im Nationalen Hilfskomitee für Deportierte, 1945 − 1947. Foto: Sándor Bojár, Magyar Zsidó Múzeum és Levéltár, Budapest
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waren, bedurfte die jüdische Bevölkerung der Hauptstadt dringend der Unterstützung. Daher gründeten die Vorstände der Budapester neologen und orthodoxen Gemeinden gemeinsam mit der Ungarischen Zionistischen Vereinigung (Magyar Cionista Szövetség) im März 1945 das Nationale Hilfskomitee für Deportierte (Deportáltakat Gondozó Országos Bizottság, DEGOB). Außerdem betrieben sie das Nationale Jüdische Hilfskomitee (Országos Zsidó Segítő Bizottság), das die Aktivitäten des DEGOB beaufsichtigte. Ebenso wie einige kleinere Organisationen, die sich um die Rückkehr der Deportierten und die Unterstützung der Überlebenden bemühten, wurden diese Komitees vom JDC finanziert, das sich in besonderem Maße auf Ungarn konzentrierte. Nachdem der Vorstand des JDC in New York im November 1945 von seinem Gesandten in Budapest über die „katastrophale Lage“ der dortigen Überlebenden informiert worden war,7 beschloss die Organisation, Ungarn bei der Zuteilung seiner Hilfsleistungen vorrangig zu berücksichtigen. In der Zeit von 1945 bis 1948 sandte das JDC zwischen 23 und 27 Prozent seiner für Europa bestimmten Hilfsgelder nach Ungarn.8 Die Organisation legte damit in den Jahren 1945 bis 1953 zur Unterstützung der ungarischen Juden ihr bis dahin teuerstes Hilfsprogramm auf.9 Das JDC stellte Hilfsgüter (beispielsweise Nahrungsmittelpakete und Bekleidung) bereit und betrieb neben Suppenküchen, Gesundheitseinrichtungen und Werkstätten allein in Budapest mehrere Dutzend Kinderheime.10 Obwohl die finanzielle Unterstützung des JDC unerlässlich war, spielten auch die Anstrengungen der Überlebenden beim, trotz der überaus schwierigen Umstände, raschen Wiederaufbau der jüdischen Institutionen eine entscheidende Rolle. Die orthodoxe Grundschule in der Dobstraße öffnete bereits zwei Wochen nach der Befreiung des Ghettos in Budapest wieder und organisierte den Unterricht, obwohl viele Lehrer und Schüler umgekommen und die Überlebenden körperlich schwer angegriffen waren. „Viele Kinder haben aufgrund von Erfrierungen und Hautkrankheiten infolge von Vitaminmangel längere Zeit gefehlt“, schrieb einer der Lehrer in einem Bericht zum Ende des Schuljahrs.11 Allen Schwierigkeiten zum Trotz gab es im folgenden Jahr (1946/47) bereits sechzehn vom JDC finanzierte jüdische Grundschulen in Budapest. Zehn wurden von den neologen und sechs von den orthodoxen Gemeinden betrieben. Zwei weitere Grundschulen wurden von der Zionistischen Vereinigung geleitet. Mehr als 2000 Kinder, von denen die meisten Waisen oder Halbwaisen waren, besuchten diese Schulen.12 Sie fanden dort eine Form des Anschlusses, die ihre während des Kriegs ermordeten Familien ihnen nicht mehr bieten konnten. Die Ungarische Zionistenvereinigung erfreute sich nach dem Krieg weit größerer Zustimmung als zuvor. Entsprechend ihrem Hauptziel förderte sie
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die Auswanderung nach Palästina. Darüber hinaus organisierte sie zahlreiche Veranstaltungen, die tausende junge Menschen an die Bewegung heranführten. Während die Vereinigung Anfang der 1930er Jahre landesweit nur 4000 bis 5000 Mitglieder gezählt hatte, waren es 1948 allein in Budapest mehr als 8000.13 Trotz dieses Zulaufs waren die Bestrebungen der Zionisten letztlich nur von begrenztem Erfolg gekrönt. Die Mehrheit der jüdischen Überlebenden blieb in Ungarn. Etwa 50 000 von ihnen verließen das Land in den Jahren von 1945 bis 1949.14 Das Rabbinische Institut und das Jüdische Museum in Budapest wurden bald nach dem Ende des Kriegs wiedereröffnet. Die erste Rabbiner-Ordination nach dem Krieg fand Anfang 1946 statt, als sieben Absolventen des Instituts ordiniert wurden.15 Es spielte beim Wiederaufbau des jüdischen Bildungswesens nach dem Krieg eine wichtige Rolle und war während des Kalten Kriegs die einzige Ausbildungsstätte für Rabbiner im gesamten Ostblock. Die Sammlung des Jüdischen Museums hatte den Krieg in Kisten verpackt im Keller des Ungarischen Nationalmuseums überstanden. Die Restaurierung des Jüdischen Museums konnte 1947 abgeschlossen werden, und die erste Ausstellung fand dort 1948 statt.16 Angesichts der durch die Schoa angerichteten Verheerungen lag der Schwerpunkt der Museumsaktivitäten nun auf der Bewahrung des ungarisch-jüdischen Kulturerbes. Im ersten Jahrzehnt nach 1945 ergänzte das Museum seine Sammlung planmäßig um zahlreiche Objekte, die dazu dienen sollten, „das kollektive Gedächtnis wenigstens um einige Erinnerungen an die ausgelöschten Gemeinden zu bereichern“.17 Der Aufstieg der Kommunisten in Ungarn behinderte diese positiven Entwicklungen allerdings zunehmend und setzte ihnen schließlich ein Ende. Mit Unterstützung der sowjetischen Besatzungsmacht errichteten sie 1949 ein kommunistisches Einparteiensystem und unterstellten die jüdischen Institutionen der staatlichen Kontrolle. Die drei Gemeinden wurden fusioniert und die jüdischen Schulen verstaatlicht. Der atheistische Staat schränkte religiöse Aktivitäten massiv ein. Die Ungarische Zionistenvereinigung wurde 1949 aufgelöst und die Arbeit des JDC zwei Jahre später verboten. Zudem waren Juden in besonderem Maß von bestimmten gegen das Bürgertum gerichteten Maßnahmen des neuen Regimes betroffen. Als 1951 beispielsweise die Angehörigen der sogenannten „Ausbeuterklassen“ aus Budapest in ländliche Gegenden in ganz Ungarn zwangsumgesiedelt wurden, traf das viele Juden18, die zuvor versucht hatten, sich nach der Schoa eine neue wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Die Geschichte der jüdischen Nachkriegsbevölkerung in Budapest zeigt, wie erfolgreich die Zusammenarbeit der Überlebenden vor Ort mit den ausländischen Hilfsorganisationen beim Wiederaufbau des jüdischen Gemeinschaftslebens sein konnte. Allerdings beteiligten sich viele der nichtreligiösen und assimilierten Juden nicht an diesem Wiederaufbau. Die jahrzehntelange
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Gruppenfoto der ersten Klasse für Jungen auf dem Hof des orthodoxen Gemeindezentrums in der Kazinczy-Straße, 1946 − 1947. Foto: Gyula Hámori, Fortepan, Budapest, courtesy of Gyula Hámori
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Freunde und Familien verabschieden die Misrachim am Bahnhof Budapest Keleti bei der Abreise in das britische Mandatsgebiet Palästina, 1947. Foto: János Toronyi, Magyar Zsidó Múzeum és Levéltár, Budapest
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Einschränkung jüdischer Aktivitäten durch die Kommunisten führte in weiterer Folge dazu, dass viele sich von der Gemeinde abwandten, die durch die nach der gescheiterten Revolution von 1956 einsetzende neuerliche Auswanderungswelle weiter geschwächt wurde.19 Nach dem Sturz des Kommunismus 1989 kam es zu einer jüdischen Renaissance. 1
Kertész, Imre: Roman eines Schicksallosen, Übersetzung von Christina Viragh. Reinbek: Rowohlt, 1996, 277 − 288. 2 In den Gebieten, die Ungarn nach dem Krieg zugeschlagen wurden, lebten zudem 50 000 bis 90 000 Christen, die den ungarischen Rassengesetzen zufolge als Juden galten. Hinzu kamen noch jene Juden, die in den in den Jahren 1938 und 1940 von Ungarn annektierten Gebieten lebten. Bezieht man diese beiden Gruppen mit ein, befanden sich insgesamt etwa 800 000 Juden im ungarischen Hoheitsgebiet. Siehe Stark, Tamás: Zsidóság a vészkorszakban és a felszabadulás után (1939 − 1955). Budapest: MTA Történettudományi Intézete, 1995, 54. 3 Stark: Zsidóság, 41 − 47. Schätzungen der Zahl der Überlebenden reichen von 140 000 bis 260 000. 4 Stark: Zsidóság, 47. András Kovács geht von 144 000 Überlebenden in Budapest aus. Kovács, András: Jews and Jewishness in Post-war Hungary. Quest. Issues in Contemporary Jewish History Nr. 1 (2010), 39. 5 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spaltete das ungarische Judentum sich in drei Lager. Das sogenannte jüdische Schisma ergab sich aus ideologischen Differenzen zwischen Neologen und Orthodoxen. Die Neologen befürworteten die kulturelle Integration in die ungarische Gesellschaft und gemäßigte religiöse Reformen, die die Orthodoxen hartnäckig ablehnten. Etwas später bildeten Gemeinden, die sich nicht an der Spaltung orientieren und einer der beiden Richtungen anschließen wollten, die Status-quo-Bewegung. Siehe Katz, Jacob: A House Divided: Orthodoxy and Schism in Nineteenth-Century Central European Jewry, Übersetzung von Ziporah Brody. Hanover, NH: Brandeis University Press, 1998. 6 Bányai, Viktória: The Impact of the American Jewish Joint Distribution Committee’s Aid Strategy on the Lives of Jewish Families in Hungary, 1945 − 49. Adler, Eliyana; Čapková, Kateřina (Hrsg.): The Holocaust and its Aftermath from the Family Perspective. New Brunswick: Rutgers University Press, noch nicht erschienen. Ich danke Viktória Bányai für die Zusendung ihres Texts. 7 Bauer, Yehuda: Out of the Ashes. The Impact of American Jews on Post-Holocaust European Jewry. Oxford: Pergamon Press, 1989, 136. 8 Vgl. hierzu den Beitrag von Laura Hobson Faure in diesem Band sowie Bauer: Out of the Ashes, xviii. 9 Frojimovics, Kinga: Different Interpretations of Reconstruction: The American Jewish Joint Distribution Committee and the World Jewish Congress in Hungary after the Holocaust. Bankier, David (Hrsg.): The Jews are Coming Back. The Return of the Jews to their Countries of Origin after WWII. New York, Jerusalem: Berghahn, Yad Vashem, 2005, 280. 10 Im Jahr 1947 gab es in Budapest 26 vom JDC finanzierte Kinderheime. Novák, Attila: Átmenetben. A cionista mozgalom négy éve Magyarországon (1945 − 1948). Budapest: Múlt és Jövő Kiadó, 2000, 118 − 120. 11 Bányai, Viktória; Gombocz, Eszter: Budapesti zsidó iskolák a holokauszt után. Új Pedagógiai Szemle, 2015/7-8, 63. 12 Ibid, 58. 13 Kovács: Jews and Jewishness, 40. 14 Stark: Zsidóság, 94. 15 Carmilly-Weinberger, Moshe: One Hundred Years of the Seminary in Retrospect.
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Carmilly-Weinberger, Moshe (Hrsg.): The Rabbinical Seminary of Budapest, 1877 − 1977. New York: Sepher-Hermon Press, 1986, 35. 16 Frojimovics, Kinga; Pusztai, Viktória; Strbik, Andrea: Jewish Budapest. Monuments, Rites, History, herausgegeben von Géza Komoróczy. Budapest: Central European University Press, 1999, 298. 17 Toronyi, Zsuzsanna: Egy budapesti kert történetei. Korall 11.41 (2010), 108. 18 Ich danke Gábor Dombi für die Auskunft, dass beispielsweise 40 Prozent aller Zwangsumgesiedelten aus dem Siebten Budapester Bezirk jüdische Überlende waren. 19 Damals verließen 20 000 bis 30 000 Juden Ungarn (Kovács: Jews and Jewishness, 48).
Gyula Ortutay spricht 1950 als Vertreter der regierenden kommunistischen Partei der Ungarischen Werktätigen bei der Jüdischen Nationalversammlung, die offiziell den Zusammenschluss der drei Richtungen der jüdischen Glaubensgemeinschaft in Ungarn beschloss. Der Saal ist sowohl mit einer Menora als auch mit den Porträts von Lenin, Stalin und Mátyás Rákosi, dem Generalsekretär der ungarischen Partei der Werktätigen, geschmückt. Magyar Zsidó Múzeum és Levéltár, Budapest
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ÉVA SZEPESI (GEB. 1932) Éva Szepesi kam als Éva Diamant in einer bürgerlichen Familie in Budapest zur Welt. Sie wurde 1944 nach Auschwitz deportiert, wo sie schließlich von der Roten Armee befreit wurde. Zu diesem Zeitpunkt war sie gerade erst zwölf Jahre alt. Ihr Vater, ihre Mutter und ihr jüngerer Bruder Tamás waren während des Holocaust ermordet worden. Éva kam am 18. September 1945 mit einer Gruppe Überlebender wieder in Budapest an. Dort erfuhr sie, dass zwei Geschwister ihres Vaters, ihr Onkel Imre und ihre Tante Etel, sowie Imres Frau Olga den Krieg überlebt hatten. Sie stellte fest, dass die Wohnung ihrer Eltern von den Nachbarn geplündert worden war, konnte aber einige Familienfotos sicherstellen. Diese wurden zu ihrem wertvollsten Besitz und hielten die Erinnerung an ihre verlorene Familie am Leben. Nach ihrer Rückkehr nach Budapest wohnte Éva zunächst bei ihrem Onkel und dessen Frau. Sie ging wieder zur Schule, fand neue Freunde und schloss sich einer Volkstanzgruppe an. Über ihre Erfahrungen während des Kriegs sprach sie nicht. Sie schloss die Mittelschule ab und wurde dann in einem bekannten Budapester Salon zur Näherin ausgebildet. Sie lernte ihren künftigen Mann Andor Szepesi, den sie 1951 heiratete, in der Straßenbahn kennen. Andor stammte ebenfalls aus einer jüdischen Familie. Während des Kriegs war er zum militärischen Arbeitsdienst der ungarischen Armee eingezogen worden. Die erste Tochter des Paares, Judit, wurde 1952 geboren. Zwei Jahre später wurde Andor als Buchhalter in die ungarische Außenhandelsvertretung in Frankfurt am Main versetzt. Obwohl Éva Bedenken dagegen hatte, ins „Land der Täter“ zu ziehen, richteten die Szepesis sich schließlich dauerhaft in Frankfurt ein. Ihre zweite Tochter Anita wurde 1964 dort geboren. Éva Szepesi veröffentlichte im Jahr 2011 Erinnerungen an ihre Erlebnisse während des Kriegs und der Nachkriegszeit. Sie lebt in Frankfurt am Main.
Éva Szepesi in Budapest, 1949. Privatsammlung Éva Szepesi, Frankfurt am Main
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Éva Szepesi mit ihrem Ehemann Andor Szepesi und ihrer Tochter Judit etwa 1952 − 1953. Privatsammlung Éva Szepesi, Frankfurt am Main
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Éva Szepesi mit ihrer Familie, erste Hälfte 1940er Jahre. Sitzend: Mutter Valéria, Bruder Tamás, Éva und ihr Vater Károly. Stehend: Onkel Oszkár und Onkel Zoltán. Nur Éva überlebte den Krieg. Einige wenige Fotos, darunter dieses Bild, waren alles, was ihr von den Besitztümern ihrer Familie geblieben war. Privatsammlung Éva Szepesi, Frankfurt am Main
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SÁNDOR SCHEIBER (1913 – 1985) Sándor Scheiber wurde in Budapest in eine rabbinische Familie geboren. Er studierte am Budapester Rabbinischen Seminar, wo er 1938 ordiniert wurde, nachdem er 1937 promoviert hatte. Bis 1944 war er der Rabbiner der jüdischen Gemeinde im etwa 80 Kilometer südlich von Budapest gelegenen Dunaföldvár. Er gehörte der neologen Gemeinde an. Beim Einmarsch der Deutschen am 19. März 1944 befand er sich in der Hauptstadt, die er zunächst nicht mehr verlassen konnte. Einige Monate später wurde er zum militärischen Arbeitsdienst eingezogen. Seine Mutter erlag in seinen Armen den Schussverletzungen, die ihr ein Angehöriger der faschistischen ungarischen Pfeilkreuzler zugefügt hatte. Nach dem Krieg trat er eine Professur für Literatur und Biblische Studien am Rabbinischen Seminar an. Von 1950 bis 1985 stand er dem Seminar vor. Er trug maßgeblich dazu bei, dass es seinen Betrieb unter den Kommunisten durchgängig aufrechterhalten konnte. Es war die einzige derartige Einrichtung im gesamten Ostblock und die Studierenden kamen aus sämtlichen Ländern des Warschauer Pakts. Ab 1949 hatte Scheiber zudem eine außerordentliche Professur an der Universität in Szeged inne. Er veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Publikationen zu Aspekten der ungarischen und jüdischen Folklore und zur Geschichte des ungarischen Judentums. Mit seiner Frau Lili hatte er eine Tochter, Mária. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es Sándor Scheiber ein Anliegen, sich für die verbliebenen Juden, den Erhalt des Rabbinischen Seminars und die Bewahrung der während der Schoa verschont gebliebenen Judaica einzusetzen und die jüdische Tradition weiterzureichen. Daher lehnte er mehrere ihm angebotene verlockende Stellen im Ausland ab und blieb in Budapest.
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Sándor Scheiber, 1950. Das Porträt stammt vom großen Foto-Tableau zum Gedenken an das Treffen der jüdischen Nationalversammlung, das den offiziellen Zusammenschluss der drei Zweige der ungarischen jüdischen Religionsgemeinschaft markierte. Die Fusion, die das herrschende kommunistische Regime der Gemeinde auferlegte, führte zu einer vollständigen politischen Kontrolle über religiöse und gemeinschaftliche Angelegenheiten. Magyar Zsidó Múzeum és Levéltár, Budapest
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Sándor Scheibers rabbinische Ordination, 1938. Scheiber stehend, zweiter von rechts. Er stammte aus einer Familie von Rabbinern und wurde kurz nach Aufnahme dieses Fotos Rabbiner von Dunaföldvár, einer kleinen Stadt an der Donau etwa 80 Kilometer südlich von Budapest. Magyar Zsidó Múzeum és Levéltár, Budapest
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DIESES JAHR IN JERUSALEM WERNER HANAK Während befreite Jüdinnen und Juden in Süditalien bereits im Frühjahr 1944 und im östlichen Polen bereits 1945 Pessach feiern konnten, war das Fest 1946 für die Überlebenden in ganz Europa außergewöhnlich symbolträchtig. Pessach als Fest der Erinnerung an die biblische Befreiung aus der Sklaverei Ägyptens war in besonderer Weise geeignet, am Ende der brutalen Verfolgung durch die Nationalsozialisten die Frage nach der jüdischen Zukunft inner- oder außerhalb Europas zu stellen und einer neuen Hoffnung Ausdruck zu verleihen. Davon zeugen nicht nur zahlreiche Fotos, die den Sederabend zu Beginn des Pessachfests in privaten Haushalten, Gemeinden oder riesigen Sälen in DP-Lagern zeigen. Auch viele Haggadot, die nach der Befreiung gedruckt wurden, thematisieren in ihrer Erzählung des Auszugs aus Ägypten die Schoa. Manche integrieren auch praktische Ausreiseanleitungen für die Alija nach Erez Israel. Das bekannteste Ritualobjekt aus dieser Zeit ist wohl ein Sederteller, den das JDC in großer Auflage für die Displaced Persons produzierte. Der traditionell am Ende des Sederabends geäußerte Wunsch „Nächstes Jahr in Jerusalem“ wurde hier in „dieses Jahr“ abgewandelt. Er drückt die empfundene Dringlichkeit der Forderung nach Veränderung und Verbesserung aus und spiegelt den Willen vieler Überlebender wider, Europa so schnell wie möglich zu verlassen. Samuel Gringauz, der unter anderem das Konzentrationslager Dachau überlebt hatte, war 1946 Präsident des Zentralkomitees der befreiten Juden und damit der ranghöchste Vertreter der jüdischen DPs in der US-Zone. Im Vorwort zu dem in Marburg erschienenen Pessach-Buch 5706/1946 beschrieb er die furchtbare Situation der Überlebenden in Europa zu Beginn des Pessachfests 1946: „Wir feiern es als Reste der zerstörten Volkssubstanz, der Bewegungsfreiheit beraubt, bar der inneren Volkskraft, zerdrückt von den Nachwirkungen der Naziknechtschaft, ohne geistig-moralische Orientierung“. Am Ende seines Artikels findet Gringauz eine optimistische Wendung in drei Aufforderungen: „Von niemandem erlaubt – wir werden trotzdem gehen. Von niemandem geführt – wir werden trotzdem marschieren. Von niemandem gelehrt – wir werden trotzdem schöpfen.“1
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„Dieses Jahr in Jerusalem“ heißt es auf diesem hellblau glasierten Sederteller, der nach der Befreiung der europäischen Jüdinnen und Juden auf Betreiben des JDC hergestellt wurde. Der Stempel auf der Rückseite zeichnet ihn als „Erzeugnis der Organisation der überlebenden Juden in der Diaspora in Deutschland“ aus, 1946-48. Jüdisches Museum Frankfurt
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Rabbiner Leopold Neuhaus war 1945 aus Theresienstadt nach Frankfurt am Main zurückgekommen und stellte im selben Pessach-Buch 5706/1946 die traditionelle Haggada mit ihren „anheimelnden Worten“ für dieses Fest in Frage. Er schlug vor, man könne aus der Aufforderung „Du sollst erzählen“ die Verpflichtung ableiten, die gesamte Scheerit Hapleta (der „Rest der Geretteten“) „solle alle Dokumente sammeln, die sich auf unsere Not und unsere Verfolgung beziehen, und dafür ein großes jüdisches Archiv schaffen, das alles für die Zukunft aufbewahrt.“2 Die Überlebenden erinnerte er schließlich daran, die Zukunft nicht zu vergessen, denn obwohl sie befreit seien, hätten sie die innere Freiheit noch nicht errungen: „Nebelschwaden steigen auf von der blutbefleckten Erde und hindern Weg und Ausblick in eine bessere Zukunft.“3 Rabbiner Neuhaus wanderte 1946 in die USA aus, Samuel Gringauz 1948. 1
Pessach Buch 5706/1946. Zum ersten Freiheits- und Frühlingsfest der Überreste Israels in Europa. Zusammengestellt und redigiert von Israel Blumenfeld. Herausgegeben von The Jewish Review, 1946, „by and for liberated Jews in Germany, Marburg/Lahn, U.S. Zone, Germany”, S. 15. 2 Pessach Buch 5706/1946, S. 199. 3 Pessach Buch 5706/1946, S. 199.
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Handschriftliche Pessach-Haggada des Haschomer Hazair, Debrecen, Ungarn, 1946 − 1948. Magyar Zsidó Múzeum és Levéltár, Budapest Diese Haggada wurde von der linkszionistischen Jugendorganisation Haschomer Hazair im ungarischen Debrecen geschrieben. Die Illustration zeigt drei nach Israel führende rote Pfeile. Der aus dem Norden kommende versinnbildlicht die ersehnte Alija nach
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Palästina. Im Text wird die Route über die Schwarzmeerstadt Constanza und den Mittelmeerhafen Bari empfohlen. Die anderen beiden Pfeile symbolisieren die Wanderung durch die Wüste nach der Flucht aus Ägypten und die Rückkehr aus dem Babylonischen Exil. Die Aufschrift auf der Fahne: „Geboren in Sklaverei“ betont das übergreifende Motiv der Befreiung.
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Pessach Buch 5706/1946. Zum ersten Freiheitsund Frühlingsfest der Überreste Israels in Europa. Zusammengestellt und redigiert von Israel Blumenfeld. Herausgegeben von The Jewish Review, 1946, „by and for liberated Jews in Germany, Marburg/Lahn, U.S. Zone, Germany”. Jüdisches Museum Frankfurt, Bibliothek
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Erster Sederabend im DP-Lager Landsberg in Bayern, 1946. Foto: Zvi Kadushin, Beit Hatfutsot, Tel Aviv, Zvi Kadushin Collection
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Sederabend im Schöneberger Rathaus in Berlin für Mitglieder der Jüdischen Gemeinde und der alliierten Streitkräfte, 1946. Foto: Gerhard Gronefeld, © Gerhard Gronefeld / Deutsches Historisches Museum, Berlin
Survivors’ Haggada, München 5706/1946, arrangiert und gestaltet von Yosef D. Sheinson (1907 − 1990) mit sieben Holzschnitten von Miklós Adler (1909 − 1965). Privatsammlung Benjamin Soussan, Kirchzarten Die sogenannte Survivors’ Haggada war rechtzeitig vor dem beginnenden Pessachfest am 15. April 1946 in München fertiggestellt worden. Sie war als Ergänzung zur traditionellen Pessach-Erzählung gedacht, indem sie die soeben erst zu Ende gegangene Zeit der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden in Bild und Wort integrierte. Yosef D. Sheinson, ein Überlebender aus Litauen und nunmehriger Bewohner des DP-Lagers Landsberg versammelte darin traditionelle und zeitgenössische Texte und wählte sieben Holzschnitte mit Szenen aus Konzentrationslagern des ungarischen Künstlers Miklós Adler aus, die dieser erst knapp zuvor fertiggestellt hatte. Für die Texte gestaltete Sheinson selbst grafische Rahmen, in denen er, wie auf der folgenden Doppelseite, Bilder der Verfolgung (ein Uniformierter mit Hakenkreuz über einem toten [?] Gefangenen rechts unten) mit der künftigen Ideallandschaft Eretz Israels vereinigte (Orangen, Oliven, Weintrauben und eine Sichel mit Ähren links oben).
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JÜDISCHE KOMMUNISTEN IM SOWJETISCHEN BERLIN DER „ZWISCHENZEIT“, 1945 BIS 1950 PHILIPP GRAF
Am 12. September 1948 war der Lustgarten, der traditionsreiche, von Dom, Schlossplatz, Spreekanal und Altem Museum umgebene Platz im Berliner Zentrum, Schauplatz eines gewaltigen Menschenauflaufs. Anlässlich des von der VVN, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, jährlich Anfang September begangenen Gedenktags für die Opfer des Faschismus hatten sich im Ostteil der Stadt Zehntausende Menschen zu einer Kundgebung versammelt, um der Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken.1 Was auf den ersten Blick wie ein typischer Ausdruck jenes parteigelenkten Massengedenkens spätstalinistischer Prägung anmutet, das später in der DDR üblich war, stellt sich auf überlieferten Fotografien der Veranstaltung komplexer dar. Mit Blick auf die Süd-Ost-Fassade des Alten Museums, die als Standort der Haupttribüne der Kundgebung aufwändig mit 21 großformatigen Flaggen jener Nationen geschmückt war, die Opfer Hitlers geworden waren, überrascht nämlich ein Banner, das man mit Wissen um die spätere Gestalt derartiger Gedenkveranstaltungen in dieser Form nicht erwartet hätte: Eingerahmt von den Nationalfahnen Jugoslawiens und Luxemburgs zierte die Front des Museums an zentraler Stelle der Magen David, die Flagge des soeben neu gegründeten Staates Israel.2 Bei aller Ambivalenz, die auch der Veranstaltung im Lustgarten eigen war – genau über der israelischen Fahne prangte zugleich überdimensional das Logo der VVN, bestehend aus dem roten, im nationalsozialistischen KZ-System die politischen Häftlinge kennzeichnenden Winkel samt Schriftzug –, überrascht die derart selbstverständliche Zurschaustellung des jüdischen Emblems ganz unabhängig davon, ob es in diesem Fall als religiöses Symbol oder als israelisches Hoheitszeichen aufgefasst wurde. Nach der Gründung der DDR jedenfalls war – sieht man von den Jüdischen Gemeinden und einigen wenigen Denkmälern ab – eine derartige, gleichermaßen pro-
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Nationale Mahn- und Gedenkstätte der DDR in Buchenwald: Blick auf die Straße der Nationen mit einem Teil der 18 Pylone. Foto: Wittig, Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst – Zentralbild, Bundesarchiv, Bild 183-56769-0008
Gedenkveranstaltung im Lustgarten (Tag der Opfer des Faschismus) am 12. September 1948. Direkt unter dem Emblem der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) hängt eine israelische Fahne. Foto: Abraham Pisarek, Deutsche Fotothek, SLUB Dresden
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minente wie gleichberechtigte Präsentation des Davidsterns auf ihrem Gebiet undenkbar: Der SED-Staat unterhielt keine diplomatischen Beziehungen zu Israel. Als antifaschistischer Staat lehnte er jegliche historische Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus ab und weigerte sich dementsprechend, jüdischen Forderungen nach Restitution und Entschädigung nachzukommen. Schließlich wies er – zumindest auf staatlicher Ebene – dem jüdischen Schicksal bestenfalls einen untergeordneten Platz im Pantheon der kommunistischen Erinnerung zu. Nicht von ungefähr verwies die 1958 auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald eröffnete zentrale Mahn- und Gedenkstätte, die fortan die offizielle Erinnerung der DDR an den Nationalsozialismus vorgab, nicht mehr auf die jüdischen Opfer. Anders als bei der Kundgebung im Lustgarten zehn Jahre zuvor hatten die mehr als 11 000 jüdischen Todesopfer von Buchenwald keinen eigenen Pylon erhalten, die auf der sogenannten „Straße der Nationen“ je ein Herkunftsland von Buchenwald-Häftlingen repräsentierten, sondern waren einer dieser Nationen zugeschlagen worden.3 Chronist der bemerkenswerten Versammlung vom 12. September 1948 und Urheber der Abbildungen war der jüdische Fotograf Abraham Pisarek (1901–1983), der im Lustgarten zunächst seiner Aufgabe als Bildberichterstatter der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) nachkam.4 Als Mitarbeiter der SMAD-Zeitung Tägliche Rundschau gehörte es zu seinen wiederkehrenden Aufgaben, derartige Veranstaltungen zu dokumentieren. Von ihm stammt etwa die ikonische Aufnahme des Händedrucks zwischen Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl vom 22. April 1946, der die Vereinigung von Kommunisten und Sozialdemokraten zur Sozialistischen Einheitspartei (SED) besiegelte. Betrachtet man Pisareks Oeuvre der unmittelbaren Nachkriegszeit, das neben der tagespolitischen Berichterstattung auch die Dokumentation von Theateraufführungen und Porträts umfasste, fällt indes eine stetige Beschäftigung mit jüdischen Themen auf. So dokumentierte er nicht nur, sei es zu Gedenktagen oder beim Purimball, das Gemeindeleben der Berliner Jüdischen Gemeinde und widmete einen Teil seiner begehrten Porträts jüdischen Persönlichkeiten in Ost-Berlin. Auch unter seinen Auftragsarbeiten für die SMAD finden sich immer wieder Spuren jüdischen Lebens in der frühen Nachkriegszeit. So ist er etwa für jenes nicht weniger eindrückliche Bild von der Kundgebung für die Opfer des Faschismus am 14. September 1946 in Berlin verantwortlich, das unter den zum Kundgebungsort strömenden Demonstranten auch die Belegschaft des Jüdischen Krankenhauses Berlin zeigt. 5 Mit Blick auf die Fotografien vom 12. September 1948 gewinnt man deshalb bisweilen den Eindruck, dass sich Pisarek der Bedeutung der Szenerie bewusst gewesen ist, ja, dass er den gleichberechtigten Stellenwert der israelischen Fahne – und damit des Themas an sich – möglicherweise gezielt eingefangen hat.
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Angesichts von Pisareks Vergangenheit war eine solche Aufmerksamkeit wenig verwunderlich. Er war dem Holocaust aufgrund einer Ehe mit einer Nichtjüdin in Berlin entgangen und verdankte sein Überleben dem Aufbegehren „arischer“ Ehefrauen gegen die drohende Deportation ihrer Männer in den sogenannten Rosenstraßen-Protesten vom Frühjahr 1943. Er gehörte damit zu einigen tausend Überlebenden, die gemeinsam mit ehemaligen Insassen der Lager, Personen, die im Versteck ausgeharrt hatten, und politischen Remigranten den Kern der etwa 7000 Seelen umfassenden deutschsprachigen jüdischen Community in Berlin bildeten. Hinzu kam die etwa gleiche Zahl jüdischer Displaced Persons aus dem östlichen Europa, die auf ihrem Weg in die Amerikanische Besatzungszone in der Viermächte-Stadt gestrandet waren.6 In dieser an unterschiedlichen Herkünften, Überlebensgeschichten und politischen Überzeugungen reichen Umgebung bestand Pisareks Besonderheit indes darin, dass er zugleich Kommunist war. Er stand also einem politischen Milieu nahe, das nicht dafür bekannt war, dem jüdischen Schicksal besonders viel Interesse, geschweige denn Empathie entgegenzubringen. Genau genommen schlossen sich beide Bekenntnisse sogar aus. Zwar mochte es kein Problem darstellen, sich als Jude zum Kommunismus zu bekennen. Doch ging die Hinwendung zum Kommunismus – wie hunderte junge Juden in der Zwischenkriegszeit begeistert demonstriert hatten – damit einher, fortan sämtliche als „jüdisch“ erachtete Attribute abzulegen und die jüdische Herkunft nicht länger als relevant zu betrachten.7 In den Reihen der SED beziehungsweise in ihrem Umfeld – mithin also vorrangig im Ostteil der Stadt – gab es zu dieser Zeit jedoch eine ganze Reihe von Juden, die sich für jüdische Belange einsetzten oder – wie im Falle Pisareks – einen Blick dafür hatten. Zu ihnen zählten etwa der Ökonom Siegbert Kahn (1909–1976), der 1948 im Parteiverlag Dietz eine erstaunlich undogmatische Analyse des Antisemitismus vorlegte;8 der ehemalige AuschwitzHäftling Julius Meyer (1909–1979), der als Vorsitzender des Verbands der Jüdischen Gemeinden in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) deren Interessen gegenüber der SED vertrat;9 oder der Mexiko-Emigrant und Parteijurist Leo Zuckermann (1908–1985), der im Winter 1947/1948 im Auftrag der Parteiführung den Entwurf eines Restitutionsgesetzes für die SBZ vorlegte.10 Obwohl sie sich also – mit Ausnahme von Meyer vielleicht – an erster Stelle als Kommunisten betrachteten, und erst danach als Menschen mit einem jüdischen Familienhintergrund, hatten sie aufgrund ihrer Erfahrungen während der Jahre der Nazi-Herrschaft die Überzeugung gewonnen, dass das jüdische Schicksal ein besonderes sei. Daher müsse es beim Aufbau der Nachkriegsgesellschaft auch besondere Berücksichtigung erfahren. Innerhalb ihrer primär universalistischen Weltanschauung der Gleichheit hatte sich also die partikulare Erfahrung einer spezifischen Verfolgung Gehör verschafft. Wie nicht zuletzt
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Siegbert Kahn, 1951. Kahn (1909 − 1976) arbeitete ab 1946, nach der Rückkehr aus dem englischen Exil, im Zentralsekretariat der SED und wurde 1949 Leiter des Deutschen Wirtschaftsinstituts. 1948 schrieb er die knapp 100 Seiten starke Schrift Antisemitismus und Rassenhetze. Eine Übersicht über ihre Entwicklung in Deutschland. Bundesarchiv, Bild Y 10 – 346/00
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die Aufnahmen von Pisarek zeigen, scheint es in jener „Zwischenzeit“ im Gegensatz zu späteren Jahrzehnten sogar noch so etwas wie einen gewissen Resonanzraum für Anliegen gegeben zu haben, die sich aus dieser Erkenntnis speisten.11
DIE „DEUTSCHE MISERE“ Für gewöhnlich zeigte die deutschsprachige kommunistische Bewegung kein größeres Interesse an der jüdischen Frage. Die wenigen Publikationen, die sich damit aus Parteisicht befasst hatten, wie beispielsweise Otto Hellers Kampfschrift Der Untergang des Judentums aus dem Jahr 1931, deuteten die Existenz des Antisemitismus als Ausdruck einer sozialen Frage, die sich mit dem Übergang in die sozialistische Eigentumsordnung erübrigen werde. Einen kollektiven Charakter der Juden als Volk verneinten sie kategorisch.12 1948 fühlte sich der Ökonom und England-Emigrant Siegbert Kahn jedoch dazu berufen, unter dem Titel Antisemitismus und Rassenhetze. Eine Übersicht über ihre Entwicklung in Deutschland neue Überlegungen anzustellen. Kahn war nach seiner Rückkehr im August 1946 zunächst Mitarbeiter im Zentralsekretariat der SED, bevor er ab 1949 dem Deutschen Wirtschaftsinstitut vorstand. Zwar vertrat auch er in seiner knapp 100 Seiten starken Schrift die nur wenig überzeugende These vom Antisemitismus als einem „sozialen Ablenkungsmanöver“, der zufolge „die Unzufriedenheit der Volksmassen“ von den Mächtigen stets geschickt auf die Juden gelenkt worden sei. Gleichwohl justierte er einige Aspekte der kommunistischen Theorie in diesen Fragen neu. Dazu gehörte etwa Kritik an Stalins Postulat, wonach die Juden keine Nation seien.13 Nominell – und mit der obligatorischen, auf Stalin verweisenden Fußnote versehen – bekräftigte er diese Auffassung zwar, doch ließ er die Einschränkung folgen, dass die Juden in Palästina zukünftig „das Recht [...] einer eigenen nationalen Entwicklung“ hätten. Auch die Forderung nach „Wiedergutmachung“, von Kahn verstanden sowohl als Rückerstattung oder Entschädigung geraubten jüdischen Vermögens wie auch als Akt sozialer Fürsorge, griff er auf und bezeichnete sie als „sittliches Gebot“. Ungewöhnlich für einen zuvorderst am Gemeinwohl orientierten Kommunisten hob er das jüdische Schicksal also unter anderen heraus und unterstrich die Notwendigkeit entsprechender Maßnahmen. Überhaupt ging Kahn angesichts der Tragödie, die die (deutschen) Juden erlebt hatten, von einer besonderen Verantwortung auch der sozialistischen Gesellschaft gegenüber ihren jüdischen Bürgern aus. Man dürfe sie weder dem Zwang zur Assimilation aussetzen noch sie an der „Entfaltung jüdischen Eigenlebens“ hindern.14
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Kahns Schrift war nur eine Stimme in einer breiter angelegten Debatte jener Zeit in der sowjetischen Zone, in der (nicht nur jüdische) Rückkehrer und Überlebende unter dem Schlagwort „Deutsche Misere“ danach trachteten, die jüngeren Ereignisse auf den Begriff zu bringen. Die in Schrift, Prosa, Radio und Film stattfindenden Diskussionen, die in den West-Zonen ein Pendant in Schriften wie Friedrich Meineckes Die deutsche Katastrophe hatten, suchten zu ergründen, wie es zu Hitler hatte kommen können, und dies im Rückgriff auf die deutsche Geschichte und Kultur.15 Einer der bekanntesten Vertreter diese Ansatzes in der SBZ war der jüdische Partei-Journalist und Mexiko-Emigrant Alexander Abusch. Nach seiner Rückkehr im Juli 1946 leitete er als Sekretär den Kulturbund und wurde Chefredakteur der wiederaufgelegten Weltbühne. In seinem Bestseller Irrweg einer Nation beschrieb er Hitler als das Ergebnis eines seit den Bauernkriegen des 16. Jahrhunderts anhaltenden dialektischen Ringens zwischen fortschrittlich-demokratischen Kräften und der Reaktion, in dem der Diktator letztlich aufgrund der stets zögerlichen Haltung der Bourgeoisie habe siegen können.16 Als treuer Kader der Partei stellte freilich auch Abusch seine durchaus kritische Schrift in den Dienst einer sozialistischen Zukunft, die – vorausgesetzt, man beseitigte die Ursachen des „Faschismus“ – quasi gesetzmäßig eintreten würde. Kahn wiederum, der sein Buch ebenfalls als „Beitrag zur kritischen Überprüfung eines Teiles unseres geistigen Erbes“ verstanden wissen wollte, stellte insofern eine Ausnahme dar, als seine Zukunftskonzepte die jüdische Erfahrung berücksichtigten. Die Nachrichten von der Judenvernichtung dürften in allen Fällen der Beschäftigung mit der „deutschen Misere“ einer der Auslöser der Verunsicherung gewesen sein. Doch machten die Wenigsten diese – wie Kahn – zum Ausgangspunkt und Gegenstand ihrer Überlegungen.17 Weshalb Kahn mit seinen Ausführungen, in denen er das jüdische Schicksal ernst nahm, seinen Zeitgenossen voraus war, geht aus den gedruckten Quellen nicht hervor.18 Kahn, 1909 in Berlin geboren, war eigentlich ein Bilderbuchkommunist. Er war 1929 durch seine Mitarbeit im sogenannten M-Apparat, dem geheimen Nachrichtendienst der KPD, in die innersten Zirkel der Partei vorgedrungen. Nach der Machtübertragung an die Nazis mit weiteren illegalen Tätigkeiten betraut, wurde er im November 1933 verhaftet und wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu knapp drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Doch nach seiner Freilassung nahm er einen anderen Weg als die meisten seiner Genossen. Bis zu seiner Emigration 1938 nach Prag war er als Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinde Berlin tätig, danach in der Tschechoslowakei für kurze Zeit auch als Mitarbeiter eines Jüdischen Flüchtlingskomitees. Während dies zweifelsohne Tätigkeiten waren, die ihm als Juden überhaupt einen Gelderwerb ermöglichten, zu denen er also als Kommunist ein eher instrumentelles Verhältnis hatte, steht zu vermuten, dass sie hinsichtlich des
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Stellenwerts des Antisemitismus in der NS-Ideologie dennoch einen Eindruck hinterließen. Kahn gewann dadurch aus erster Hand, ja am eigenen Leib intime Kenntnis davon, worin sich das jüdische Schicksal von dem anderer (politisch) Verfolgter, eingeschlossen seiner selbst, unterschied. Verstärkt – so ist anzunehmen – wurde diese Erfahrung schließlich ab 1939 im englischen Exil. Dort stieg er in die Leitung der KPD-Exilgruppe um Jürgen Kuczynski auf. Zu großen Teilen aus jungen emigrierten Juden bestehend und bestärkt von der weitverbreiteten deutsch-kritischen Haltung der britischen Öffentlichkeit, bot ihr das englische Exil – im Gegensatz etwa zur „Gruppe Ulbricht“ in Moskau – einen besonderen Resonanzraum, in dem die deutschen Verbrechen und der Rückhalt der Nazis in der deutschen Bevölkerung kontrovers diskutiert wurden.19 Vor diesem Hintergrund deutete Kahn auch 1948 noch das „grausige Drama“, in dem „6 Millionen Menschen abgeschlachtet wurden, nur weil sie Juden waren“, als essenziell für das Verständnis des Nationalsozialismus.20
REPRÄSENTATION Dass ein aus Parteisicht vergleichsweise unorthodoxes Buch wie das von Siegbert Kahn 1948 im östlichen Sektor Berlins überhaupt erscheinen konnte, lag daran, dass die Thematisierung des jüdischen Schicksals zu jener Zeit schlichtweg noch nicht derart marginalisiert war, wie es in späteren Jahrzehnten in der DDR der Fall sein würde. Insofern hatte der 8. Mai 1945 die Überlebenden der Zuchthäuser, Konzentrationslager und Todesmärsche zunächst durchaus auf eine Stufe gestellt. Einen Fürsprecher hatte dieser Personenkreis in der VVN, die zumindest bis 1949/1950 selbstverständlich auch die Belange der jüdischen Verfolgten vertrat. Angesichts der Zahlenverhältnisse war dies auch kein Wunder, standen zu dieser Zeit (im Mai 1946) doch 4600 politischen Verfolgten allein in Berlin mehr als 10 000 jüdische NS-Verfolgte gegenüber.21 Dem 40-köpfigen Zentralvorstand für die SBZ gehörten 1948 nicht weniger als zehn jüdische Vertreter an.22 Nicht von ungefähr war Heinz Galinski (1912–1992), der spätere Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde (West-) Berlins und des Zentralrats der Juden in Deutschland, in seiner Funktion als 2. Vorsitzender der Berliner VVN offiziell Gastgeber der Gedenkveranstaltung im Lustgarten gewesen. Auch die monatlich in der SBZ erscheinende Verbandszeitschrift Unser Appell (ab 1949: Die Tat) räumte jüdischen Themen bis zu ihrer erzwungenen Einstellung 1953 in praktisch jeder Ausgabe Platz ein. Behandelt wurden dabei der grassierende Antisemitismus, das Ausbleiben der Restitution und die Entwicklung in Israel.23 Im Zentrum dieser Aktivitäten im Ostteil Berlins stand das SED-Mitglied Julius Meyer, wie Galinski ein Auschwitz-Überlebender.24 Bis Anfang
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der 1950er Jahre vereinigte Meyer nicht weniger als fünf einflussreiche Ämter in seiner Person, die alle der Vertretung jüdischer Interessen dienten, wobei er aufgrund seiner vormaligen Position als Funktionshäftling in Auschwitz auch Kritik auf sich gezogen hatte.25 Zunächst leitete er ab Oktober 1945 beim Hauptamt Opfer des Faschismus des Berliner Magistrats die eigens gegründete Abteilung „Opfer der Nürnberger Gesetzgebung“. Im Dezember 1945 wurde er auch in den Vorstand der Jüdischen Gemeinde Berlin gewählt, wo er für den Bereich „Soziales“ zuständig war. Mit der Zeit traten weitere Funktionen hinzu, so als Mitglied im Vorstand der VVN und als Präsident des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden in der SBZ, später der DDR. Als deren Delegierter wurde er auch in das Direktorium des Zentralrats der Juden entsandt. Auf diese Weise wurde Meyer zu einem der bekanntesten Fürsprecher jüdischer Anliegen in der SBZ. Dabei hatte Meyer vor dem Krieg nur wenig Berührung mit jüdischen Angelegenheiten gehabt. 1930 in die KPD eingetreten, war Meyer ein gelernter Leder-Konfektionär, dessen beruflicher Werdegang rüde abgebrochen worden war, als er ab 1938 Zwangsarbeit unter anderem als Straßenarbeiter hatte verrichten müssen. Nach seiner Verhaftung und der Deportation nach Auschwitz im Februar 1943 war er schließlich als „Kapo“ mit Aufsichtsaufgaben im Kommando Straßenbau und Kanalisation betraut worden. Eine nach der Befreiung zunächst aufgenommene Tätigkeit als Beauftragter für Obst, Gemüse und Kartoffeln beim Berliner Ernährungsamt gab er jedoch bald zugunsten der Funktion beim Magistrat wieder auf. Als ein Schlüsselerlebnis gab Meyer später an, bei seiner ersten Vorstellung an der Sozialbetreuungsstelle für ehemalige KZ-Häftlinge kurz nach seiner Ankunft in Berlin mit den Worten beschieden worden zu sein, er „sei als Jude kein Opfer des Faschismus“. Daraufhin habe er sich dem Kampf um die Anerkennung jüdischer Opfer als gleichgestellte Versorgungsberechtigte, mithin also dem jüdischen Kollektiv verschrieben.26 Dabei war in Ost-Berlin die parteiübergreifende VVN zunächst der naheliegende Bündnispartner, um in diesem Sinne Interessenpolitik zu betreiben. Jenseits der Einflussnahme durch die SED fand man hier Verbündete, die aufgrund vergleichbarer Erfahrungen ein offenes Ohr hatten, wenn es um die Rechte und Ansprüche von NS-Verfolgten ging.27 So herrschte in der VVN starker Unwillen sowohl angesichts des Verlaufs der Entnazifizierung, die von der SMAD im Februar 1948 für abgeschlossen erklärt wurde, und der daraus folgenden gesellschaftlichen Integration ehemaliger Mitläufer, als auch hinsichtlich der ausbleibenden Wiedergutmachungsgesetzgebung. Zugleich krankte die Vereinigung jedoch daran, dass sie in den anhebenden Systemkonflikt hereingezogen wurde. In den westlichen Zonen wurde die VVN argwöhnisch beäugt und als Vorposten der SED kritisiert, was dazu führte, dass die SPD im September 1948 eine Unvereinbarkeitsklausel erließ, die
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SPD-Mitgliedern die Zugehörigkeit untersagte. Der Dissens ging so weit, dass die SPD anlässlich des Gedenktags eine eigene Kundgebung vor dem Reichstag – also im Westteil der Stadt – abhielt, die von der SED prompt als „faschistisch“ bezeichnet wurde.28 Und auch innerhalb der Jüdischen Gemeinde Berlins blieb die VVN umstritten, da man Gemeindefunktionären Zurückhaltung bei der Ausübung politischer Ämter nahelegte. Während jedoch Galinski nach langem Hadern Anfang Dezember 1948 seine Funktionen innerhalb der VVN aufgab und sich fortan allein seinen Aufgaben innerhalb der Jüdischen Gemeinde widmete, hielt der Kommunist Meyer – ob aus Überzeugung oder nicht – der SED vorerst die Treue.29
RESTITUTION Höhe- und Kristallisationspunkt aller Bemühungen jener Jahre, jüdischen Ansprüchen zu ihrem Recht zu verhelfen, war indes die Debatte um Restitution und Entschädigung, die auch im sowjetischen Sektor Berlins geführt wurde. Innerhalb der SBZ hatte es schon lange, auch von Seiten der VVN, Rufe gegeben, endlich eine Regelung über die Versorgungsansprüche von NS-Verfolgten zu verabschieden, zumal in den westlichen Zonen derartige Erlasse in Aussicht standen. Unter Zugzwang beauftragte die SED deshalb im Sommer 1947, nachdem sich die Hoffnung auf eine gemeinsame alliierte Regelung dieser Frage endgültig zerschlagen hatte, die Deutsche Verwaltung für Arbeit und Sozialfürsorge unter der Leitung von Paul Merker (1894–1969) und Helmut Lehmann (1882–1959) mit der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs. Für Merker ergab sich daraus die Gelegenheit, endlich Überzeugungen in Rechtsform zu gießen, die ihn und seinen engen Mitarbeiter, den jüdischen Juristen Leo Zuckermann bereits während ihrer Zeit des Exils in Mexiko beschäftigt hatten. Dort war die von Merker geleitete Exilgruppe mit der Forderung an die Öffentlichkeit getreten, dass die Verbrechen an den Juden „wiedergutgemacht“ werden müssten. Zudem hatte sie die Errichtung eines jüdischen Staats in Palästina als berechtigte Forderung des jüdischen Volkes anerkannt. 30 Zurück in Deutschland galt es nun freilich, verschiedenen Einschränkungen Rechnung zu tragen. Zum einen musste die künftige sozialistische Wirtschaftsordnung berücksichtigt werden, in der große Betriebe der Schlüsselindustrien, Banken und Versicherungen – darunter auch ehemalige jüdische Unternehmen – bereits verstaatlicht worden waren und damit für eine Restitution nicht länger zur Verfügung standen. Zum anderen galt es, Rücksicht zu nehmen auf die Befindlichkeiten der Parteiführung, von der anzunehmen war, dass sie den jüdischen Aspekt der Bevölkerung gegenüber nicht zu stark hervorgehoben sehen wollte. Ein Gesetz „allein“ die Restitution betreffend hätte von vornherein
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Dr. Leo Zuckermann, etwa 1947 − 50. Zuckermann kam 1947 aus dem mexikanischen Exil zurück, arbeitete im Zentralsekretariat der SED, wurde 1949 Leiter der außenpolitischen Kommission des SED-Vorstands und war Mitautor der Verfassung der DDR. Nach dem Slánský-Prozess wurde er 1952 als zionistischer Agent diffamiert und floh aus der DDR, zuerst nach Frankreich, dann zurück nach Mexiko. Foto: Abraham Pisarek, Deutsche Fotothek, SLUB Dresden
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keine Aussicht auf Erfolg gehabt. Merker und Zuckermann umgingen dieses Problem, indem sie es mit ihrem eigentlichen Auftrag einer Versorgungsregelung für NS-Verfolgte zusammenführten. Die Restitutionsfrage wurde integriert, indem zunächst rassisch und politisch Verfolgte gleichgestellt und denselben Bestimmungen unterworfen wurden. Erst danach, im zweiten Teil, sah der Entwurf vor, Personen, „denen das Vermögen in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 aus Gründen der Rasse, Religion, Weltanschauung oder politischen Gegnerschaft gegen [den] Nationalsozialismus entzogen worden ist“, ihre Vermögenswerte zurückzuerstatten, oder, sollte dies nicht möglich sein, eine Entschädigung in Aussicht zu stellen.31 Im Endeffekt wäre das Gesetz auf eine sogenannte „kleine Lösung“ hinausgelaufen, indem es in erster Linie die Rückgabe „arisierter“ Kleinbetriebe, vor allem aber von Immobilien und Grundstücken in der SBZ (insgesamt immerhin etwa 55 000 an der Zahl) nach sich gezogen hätte.32 Trotz des absehbaren nicht unerheblichen Eingriffs in die sensible Eigentumsordnung der ostdeutschen Nachkriegsgesellschaft stimmte das Zentralsekretariat der SED dem Gesetzesentwurf in seiner Sitzung vom 26. Januar 1948 zu. Mit diesem Entwurf begab sich Zuckermann verdächtig in die Nähe von Personen, die sich für einen Kommunisten eigentlich nicht schickte. Er wies nämlich deutliche Schnittmengen mit Positionen auf, die heute gemeinhin als Kern jüdischer Nachkriegsforderungen angesehen werden, mit Konzepten, die seit 1944 im Umfeld etwa Nehemiah Robinsons in den Vereinigten Staaten und Siegfried Moses’ in Palästina entwickelt worden waren und die die Restitution beziehungsweise Entschädigung von Vermögenswerten forderten, derer man die Juden in ganz Europa beraubt hatte.33 Diesen Überlegungen lag ein Verständnis der Juden als Kollektiv zugrunde, das als solches Anspruch auf Entschädigung habe. Es leitete sich ab aus dem spezifischen Charakter der nationalsozialistischen Verfolgung, die danach getrachtet hatte, aller Juden auf der Welt allein darum habhaft zu werden, um sie ermorden zu können. Daraus folgte nun nachträglich und ungewollt so etwas wie die Erhebung zu einem quasi-nationalen Kollektiv.34 Bei allen ideologischen Differenzen zu Zionisten wie Robinson und Moses hatten Merker und Zuckermann im mexikanischen Exil angesichts der aus Europa eintreffenden Nachrichten von der unterschiedslosen Ermordung der Juden eine ähnliche Unterscheidung getroffen. Auch sie vertraten die Auffassung, dass die Kommunisten ihrer Weltanschauung wegen von den Nazis bekämpft wurden, die Juden hingegen allein darum, weil sie Juden waren.35 Nach Zuckermanns vormals vorgenommener Distanzierung vom Judentum, die ihren sinnfälligsten Ausdruck im 1928 vollzogenen Eintritt in die KPD gefunden hatte, war bei ihm angesichts des Holocaust demnach eine Art Wiederaneignung seiner jüdischen Herkunft erfolgt. Der 1947/1948 in diesem Geist verfasste SED-Entwurf stellte also mithin so etwas dar wie den Niederschlag
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einer sich in der gesamten jüdischen Welt einstellenden Reaktion auf die Vernichtung, die nach 1945 unter anderem die flächendeckende Ausbildung einer Vorstellung der Juden als Volk nach sich zog – wenngleich in diesem Fall bezeichnenderweise im sowjetischen Sektor von Berlin. Gemeinsam mit den sozialfürsorgerischen Bestimmungen wäre von einem derartigen Restitutionsgesetz ein ernstzunehmendes Signal der Parteiführung ausgegangen, die „Arisierung“ rückgängig machen beziehungsweise ihre Folgen abmildern zu wollen. Nicht auszudenken, was dies langfristig für den Stellenwert der jüdischen Erfahrung, die Beziehungen zur Jüdischen Gemeinde in der DDR, aber auch zum Staat Israel bedeutet hätte. Auch für Zuckermann stellte dies offenbar so etwas wie die Grundlage dar, auf der er sich jüdisches Leben in einem sozialistischen Deutschland vorstellen konnte. Damit gab er sich gleichzeitig als Gegner jenes symbolischen „Banns“ zu erkennen, den internationale jüdische Organisationen zur selben Zeit in der Überzeugung über Deutschland verhängt hatten, im Land der Täter könne es nach der Katastrophe keine Zukunft für die Juden geben. 36 Bekanntermaßen kam es dazu jedoch nicht mehr. Obwohl der Entwurf noch im Herbst 1948 mit wenigen Änderungen von den Sowjets bestätigt worden war, wurde er nicht zur Abstimmung an die Länder überwiesen. Die Gründe dafür lagen, neben anfänglichen Widerständen in der Justizverwaltung, die in dem Gesetz einen problematischen Präzedenzfall witterte, darin, dass die Sowjetunion 1948/49 in ihrer Nahostpolitik eine Kehrtwende vollzog. Wenige Tage vor der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 verabschiedete das ZK hastig eine Verordnung, die allein die Rechtsstellung der VVN (inklusive der rassisch Verfolgten) regelte, während die Bestimmungen zur Rückerstattung kassiert wurden. 37 Dabei blieb es bis zum Ende der DDR. Die Frage der Restitution in Ostdeutschland wurde erst 1990 im Zwei-plus-Vier-Vertrag beziehungsweise im Einigungsvertrag geregelt.
DAS ZEITFENSTER SCHLIESST SICH Auch in der Sowjetischen Besatzungszone gab es demnach Manifestationen jenes vielleicht bedeutsamsten Charakteristikums der „Zwischenzeit“ nach 1945: Eines neugewonnenen kollektiven jüdischen Selbstverständnisses nach der Katastrophe, das selbst jüdische Kommunisten innerhalb der SED an den Tag legten. Ging man bislang davon aus, dass der sowjetische Machtbereich in dieser Hinsicht Niemandsland darstellte (von einigen Ausnahmen vornehmlich in Polen, dem Schauplatz der Katastrophe, einmal abgesehen), waren derartige Bemühungen, spezifisch jüdische Erfahrungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs juristisch, politisch und intellektuell angemessen abzubilden, offen-
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bar auch in den sich volksdemokratisch homogenisierenden Staaten Ost- und Mitteleuropas verbreitet. Der Spielraum dazu bestand freilich nur so lange, wie die Sowjets derartige Bestrebungen zuließen. Erste Hinweise darauf, dass die Parteilinie in Bewegung geraten war, verdichteten sich für aufmerksame Beobachter in Ost-Berlin bereits im Spätsommer 1948, nur wenige Wochen nach jener Kundgebung im Lustgarten: In einem Prawda-Artikel Ilja Ehrenburgs, der am 3. Oktober im Neuen Deutschland nachgedruckt wurde, nahm einer der prominentesten sowjetischen Juden öffentlich Abschied von den Avancen, die die Sowjetführung den Juden in den vorangegangenen Jahren etwa in Form des Jüdischen Antifaschistischen Komitees ( JAK) gemacht hatte. Die Aufgabe dieses 1941 nach dem deutschen Überfall auf Anregung Stalins eingerichteten Komitees hatte vornehmlich darin bestanden, in der westlichen Hemisphäre Unterstützung für die Rote Armee zu organisieren. Zugleich trug es immens zu einer Erneuerung eines kollektiven jüdischen Selbstverständnisses unter den sowjetischen Juden bei. Sieben Jahre später beharrte eine der Gallionsfiguren des JAK nun wieder darauf, allein die Sowjetunion komme als „sozialistisches Vaterland“ für die sowjetischen Juden infrage. Das war ein deutlicher Fingerzeig, dass allzu positive Bezugnahmen auf Israel und ein wie auch immer geartetes partikulares jüdisches Selbstverständnis fortan tabu waren.38 Vordergründig reagierte Ehrenburg mit seinem Artikel auf die Verschlechterung der sowjetisch-israelischen Beziehungen nach dem Moskau-Besuch Golda Meirs im September 1948. Doch bildete den Hintergrund dieser neuen Linie nicht zuletzt die sich global verändernde politische Lage des Jahres 1948. Der Februarumsturz in der Tschechoslowakei, die Lostrennung Jugoslawiens vom sowjetischen Block im März, aber auch die Berlin-Krise im Juni markierten endgültig das Anheben des Kalten Kriegs. Für die Politik zunächst der KPdSU und dann auch ihrer Satelliten, hier der SED, zeitigte dies zahlreiche Rückwirkungen. Auch auf die jährlichen Kundgebungen der VVN im Lustgarten wirkte sich dieser Kurswechsel aus. Während die Veranstaltung des Jahres 1949 noch weitgehend denen der Vorjahre glich, inklusive der zentral präsentierten Flagge mit Davidstern, nahm die Kundgebung ein Jahr darauf einen neuen Charakter an. Am 10. September 1950 fand der Gedenktag in Form einer gemeinsamen Friedenskundgebung der VVN und der Federation internationale des anciens prisioniers politiques (FIAPP), dem Dachverband europäischer Widerstandskämpfer gegen Hitler-Deutschland, statt und firmierte unter dem Motto „Weltfriedensfront gegen Krieg und Faschismus“. Damit war eine entscheidende Neuorientierung angezeigt, die jüdischen Belangen nur noch wenig Raum ließ. Die Veranstaltung wurde nun nicht nur zum Gedenktag für die politischen Opfer Hitlers deklariert, sondern vollends in den Dienst der Systemkonfrontation gestellt. Fortan verwischte die Warnung vor neuen Kriegen
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die Spezifik des vergangenen. Die Jüdische Gemeinde Berlin hatte sich dem Schauspiel zu diesem Zeitpunkt bereits entzogen. Wie Galinski in einer Rede festhielt, hatte sie ihre Feierstunde anlässlich des Gedenktags „bewußt“ in die Synagoge Pestalozzistraße verlegt, „um zu verhindern, daß unsere Toten auf anderen Kundgebungen für politische Zwecke mißbraucht werden“.39 Ab 1951 fand dann bis auf Weiteres keine zentrale Gedenkfeier im Lustgarten mehr statt, und auch die hier vorgestellten Protagonisten, die sich für die Berücksichtigung des jüdischen Schicksals eingesetzt hatten, verstummten. Leo Zuckermann und Julius Meyer verließen die DDR im Zuge der antisemitisch konnotierten Parteisäuberung um die Jahreswende 1952/53 fluchtartig, weil sie fürchten mussten, aufgrund ihrer früheren Parteinahme zu Angeklagten in einem Ost-Berliner Schauprozess gemacht zu werden. Abraham Pisarek zog sich unterdessen aus der politischen Bildberichterstattung (und nach West-Berlin) zurück und widmete sich fortan nahezu ausschließlich einem weniger umkämpften Sujet, der Theaterfotografie. Einzig Siegbert Kahn machte weiterhin Karriere im Parteiapparat der SED, schwieg nun allerdings offiziell zu jüdischen Themen. Als Direktor des Deutschen Wirtschaftsinstituts wandte er sich wieder klassisch orthodox-marxistischen Analysen des Imperialismus zu. Die „Zwischenzeit“ von 1945 bis 1950, die die mehr oder minder gleichberechtigte Präsentation jüdischer Anliegen auch im Osten erlaubt hatte, war endgültig vorüber. 1
Das wahre Berlin steht im Weltlager des Friedens. Neues Deutschland Nr. 214 vom 14.9.1948, 1. 2 http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/88930567/df_pk _0000488_033 (6.9.2018). 3 Emmerich, Wolfgang: Buchenwald. Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 1. Weimar/Stuttgart: Metzler, 2011, 441 − 4 46; Hartewig, Karin: Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR. Köln: Böhlau, 2000, 476 − 4 81. 4 Vgl. Pisarek, Abraham: Jüdisches Leben in Berlin 1933 − 1941. Herausgegeben und mit einem Essay von Joachim Schlör. Berlin: Edition Braus, 2012; Unikower, Inge: Suche nach dem gelobten Land. Die fragwürdigen Abenteuer des kleinen Gerschon. Berlin: Verlag der Nation, 1978. 5 http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/88930388 (6.9.2018). 6 Grossmann, Atina: Juden, Deutsche, Allierte. Begegnungen im besetzten Deutschland. Göttingen: Wallstein, 2012, 148 − 1 62, 197 − 210. 7 Diner, Dan; Frankel, Jonathan (Hrsg.): Dark Times, Dire Decisions. Jews and Communism (Studies in Contemporary Jewry, Bd. 20). Oxford: Oxford University Press, 2005. 8 Kahn, Siegbert: Antisemitismus und Rassenhetze. Eine Übersicht über ihre Entwicklung in Deutschland. Berlin: Dietz, 1948. 9 Hartewig, Karin: Meyer, Julius. Müller-Enbergs, Helmut [u. a.] (Hrsg.): Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, https://www.bundesstiftung-aufarbeitung. de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424.html?ID=2314 (6.9.2018). 10 Zuckermann, Leo: Die Bedeutung des VdN-Gesetzes. Unser Appell Nr. 7 vom 15.5.1948, 1. 11 Diner, Dan: Zwischenzeit 1945 bis 1949. Über jüdische und andere Konstellationen. Aus Politik und Zeitgeschichte 65.16/17 (2015), 16 − 20.
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Gedenkveranstaltung im Lustgarten (Tag der Opfer des Faschismus) am 12. September 1948. Foto: Gerhard Gronefeld, © Gerhard Gronefeld / Deutsches Historisches Museum, Berlin
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Heller, Otto: Der Untergang des Judentums. Die Judenfrage, ihre Kritik, ihre Lösung durch den Sozialismus. Wien/Berlin: Verlag für Literatur und Politik, 1931. 13 Stalin, Josef W.: Marxismus und nationale Frage. Stalin, Josef W.: Werke, Bd. 2. Berlin: Dietz, 1950, 272, 276. 14 Kahn: Antisemitismus und Rassenhetze, 8, 88, 90f. 15 Vgl. Hartewig: Zurückgekehrt, 442 − 4 60. 16 Abusch, Alexander: Irrweg einer Nation. Berlin: Aufbau-Verlag, 1946. 17 Merker, Paul: Deutschland – Sein oder Nicht Sein, 2 Bde. Mexiko-Stadt: El libro libre, 1945. 18 Hartewig: Zurückgekehrt, 449 − 452. Siehe auch Barth, Bernd-Rainer: Kahn, Siegbert. Müller-Enbergs (Hrsg.): Wer war wer in der DDR?, https://www.bundesstiftung-aufarbeitung. de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424.html?ID=1619 (6.9.2018). 19 Etwa in der Monatsschrift Freie Tribüne, die zwischen 1939 und 1946 in London verlegt wurde. 20 Kahn: Antisemitismus und Rassenhetze, 7. 21 Reuter, Elke; Hansel, Detlef: Das kurze Leben der VVN von 1947 bis 1953. Berlin: edition ost, 1997, 95. 22 Der Zentralvorstand der VVN für die sowjetische Besatzungszone. Unser Appell Nr. 5 vom 20.3.1948, 7. 23 Fabian, Hans-Erich: Israel – die Heimat eines Volkes. Unser Appell Nr. 11/12 vom 12.9.1948, 23; Mayer, Hans: Auschwitz. Unser Appell Nr. 15 vom 1.12.1948, 5 − 7; Almosen statt Wiedergutmachung. Die Tat Nr. 2 vom 16.2.1949, 7; Unser Kommentar zum Harlan-Prozeß. Die Tat Nr. 9 vom 4.5.1949, 3. 24 Vgl. Weigelt, Andreas: „Der zionistische Agent Julius Meyer und seine Auftraggeber …“ Julius Meyer (1909 − 1979). Weigelt, Andreas; Simon, Hermann (Hrsg.): Zwischen Bleiben und Gehen. Juden in Ostdeutschland 1945 bis 1956. Zehn Biographien. Berlin: edition berlin, 2008, 73 − 129. 25 Weigelt: Julius Meyer, 77. 26 Zitiert nach Weigelt: Julius Meyer, 78. 27 Hartewig: Zurückgekehrt, 373 − 3 86. 28 Ende, Lex: Wieder Reichstagsbrandstifter. Neues Deutschland No. 211 vom 10.9.1948, 1. 29 Weigelt: Julius Meyer, 86. 30 Merker, Paul: Hitlers Antisemitismus und wir. Freies Deutschland Nr. 12 (1942), 9 − 11. 31 Gesetz über die Rechtstellung der Verfolgten des Naziregimes (VdN-Gesetz), SAPMO DY 30/IV 2/2027/31, Bl. 67 − 78. 32 Spannuth, Jan Philipp: Rückerstattung Ost. Der Umgang der DDR mit dem „arisierten“ Eigentum der Juden und die Rückerstattung im wiedervereinigten Deutschland. Essen: klartext, 2007, 164 − 1 66, 204. 33 Robinson, Nehemiah: Indemnification and Reparations. Jewish Aspects. New York: Institute of Jewish Affairs, 1944; Moses, Siegfried: Die jüdischen Nachkriegs-Forderungen. Tel Aviv: Bitaon, 1944. 34 Diner, Dan: Restitution. Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 5. Stuttgart/ Weimar: Metzler, 2014, 202 − 209. 35 Merker, Paul: Diskussion ueber ‚Hitlers Antisemitismus und wir‘. Freies Deutschland Nr. 4 (1943), 33; Zuckermann, Leo: Restitution und Wiedergutmachung. Weltbühne Nr. 17 vom 27.4.1948, 430 − 432. 36 Vgl. Diner, Dan: Im Zeichen des Banns. Michael Brenner (Hrsg.): Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart. München: Beck, 2012, 15 − 66. 37 Anordnung zur Sicherung der rechtlichen Stellung der anerkannten Verfolgten des Naziregimes. Zentralverordnungsblatt Teil I, Amtliches Organ der Deutschen Wirtschaftskommission und ihrer Hauptverwaltungen sowie der Deutschen Verwaltungen für Inneres, Justiz und Volksbildung Nr. 89, 14.10.1949, 765f. 38 Ehrenburg, Ilja: Die Sowjetunion, der Staat Israel und die Lösung der „jüdischen Frage“. Anlässlich eines Briefes. Neues Deutschland Nr. 231 vom 3.10.1948, 3. 39 Zitiert nach Weigelt: Julius Meyer, 81.
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literatur Abusch, Alexander: Irrweg einer Nation. Berlin: Aufbau-Verlag, 1946. Almosen statt Wiedergutmachung. Die Tat Nr. 2 vom 16.2.1949, 7. / Barth, Bernd-Rainer: Kahn, Siegbert. MüllerEnbergs, Helmut [u. a.] (Hrsg.): Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424.html-?ID=1619 (6.9.2018). / Das wahre Berlin steht im Weltlager des Friedens. Neues Deutschland Nr. 214 vom 14.9.1948, 1. / Diner, Dan; Frankel, Jonathan (Hrsg.): Dark Times, Dire Decisions. Jews and Communism (Studies in Contemporary Jewry, Bd. 20). Oxford: Oxford University Press, 2005. / Diner, Dan: Im Zeichen des Banns. Michael Brenner (Hrsg.): Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart. München: Beck, 2012, 15 − 66. / Diner, Dan: Restitution. Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 5. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2014, 202 − 209. Politik und Zeitgeschichte 65.16/17 (2015), 16 − 20. / Ehrenburg, Ilja: Die Sowjetunion, der Staat Israel und die Lösung der „jüdischen Frage“. Anlässlich eines Briefes. Neues Deutschland Nr. 231 vom 3.10.1948, 3. / Emmerich, Wolfgang: Buchenwald. Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 1. Weimar/Stuttgart: Metzler, 2011, 441 − 4 46. / Fabian, Hans-Erich: Israel – die Heimat eines Volkes. Unser Appell Nr. 11/12 vom 12.9.1948, 23. / Grossmann, Atina: Juden, Deutsche, Allierte. Begegnungen im besetzten Deutschland. Göttingen: Wallstein, 2012. / Hartewig, Karin: Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR. Köln: Böhlau, 2000. / Hartewig, Karin: Meyer, Julius. Müller-Enbergs, Helmut [u. a.] (Hrsg.): Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-inder-ddr-%2363%3B-1424.html?ID=2314 (6.9.2018). / Heller, Otto: Der Untergang des Judentums. Die Judenfrage, ihre Kritik, ihre Lösung durch den Sozialismus. Wien/Berlin: Verlag für Literatur und Politik, 1931. / Kahn, Siegbert: Antisemitismus und Rassenhetze. Eine Übersicht über ihre Entwicklung in Deutschland. Berlin: Dietz, 1948. / Mayer, Hans: Auschwitz. Unser Appell Nr. 15 vom 1.12.1948, 5 − 7. / Merker, Paul: Hitlers Antisemitismus und wir. Freies Deutschland 1.12 (1942), 9 − 11. / Merker, Paul: Diskussion ueber ‚Hitlers Antisemitismus und wir‘. Freies Deutschland 2.4 (1943), 33. / Merker, Paul: Deutschland – Sein oder Nicht Sein, 2 Bde. Mexiko-Stadt: El libro libre, 1945. / Moses, Siegfried: Die jüdischen Nachkriegs-Forderungen. Tel Aviv: Bitaon, 1944. / Pisarek, Abraham: Jüdisches Leben in Berlin 1933 − 1941. Herausgegeben und mit einem Essay von Joachim Schlör. Berlin: Edition Braus, 2012. / Reuter, Elke; Hansel, Detlef: Das kurze Leben der VVN von 1947 bis 1953. Berlin: edition ost, 1997. / Robinson, Nehemiah: Indemnification and Reparations. Jewish Aspects. New York: Institute of Jewish Affairs, 1944. / Spannuth, Jan Philipp: Rückerstattung Ost. Der Umgang der DDR mit dem „arisierten“ Eigentum der Juden und die Rückerstattung im wiedervereinigten Deutschland. Essen: klartext, 2007. / Stalin, Josef W.: Marxismus und nationale Frage. Stalin, Josef W.: Werke, Bd. 2. Berlin: Dietz, 1950, 266 − 3 33. / Unikower, Inge: Suche nach dem gelobten Land. Die fragwürdigen Abenteuer des kleinen Gerschon. Berlin: Verlag der Nation, 1978. / Unser Kommentar zum Harlan-Prozeß. Die Tat Nr. 9 vom 4.5.1949, 3. / Weigelt, Andreas: „Der zionistische Agent Julius Meyer und seine Auftraggeber …“ Julius Meyer (1909 − 1979). / Weigelt, Andreas; Simon, Hermann (Hrsg.): Zwischen Bleiben und Gehen. Juden in Ostdeutschland 1945 bis 1956. Zehn Biographien. Berlin: edition berlin, 2008, 73 − 129. / Wieder Reichstagsbrandstifter. Neues Deutschland No. 211 vom 10.9.1948, 1. / Zuckermann, Leo: Restitution und Wiedergutmachung. Weltbühne Nr. 17 vom 27.4.1948, 430 − 432. / Zuckermann, Leo: Die Bedeutung des VdN-Gesetzes. Unser Appell Nr. 7 vom 15.5.1948, 1.
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DIE STADT DER JÜDISCHEN GENOSSEN ERIK RIEDEL Die Errichtung eines demokratischen Deutschland gibt den deutschen Juden neue Möglichkeiten und neue Hoffnungen, auch in Deutschland Seite an Seite mit den fortschrittlichen Kräften um ein menschenwürdiges Dasein zu kämpfen. Wilhelm Pieck, Dezember 19471 Von den rund 160 000 Jüdinnen und Juden, die 1933 in Berlin lebten, waren nach Kriegsende noch etwa 8000 am Leben. Die meisten waren den Deportationen durch eine sogenannte „privilegierte Mischehe“ mit einem nichtjüdischen Partner entgangen. Etwa 1900 Berliner Juden hatten in den verschiedenen Lagern überlebt, weitere 1400 bis 1700 als Untergetauchte in der Stadt selbst die Befreiung durch die Rote Armee erlebt.2 Unmittelbar nach der Kapitulation des letzten Berliner Kampfkommandanten am 2. Mai 1945 etablierte die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) in Berlin wieder eine funktionierende Verwaltung und Infrastrukturen wie beispielsweise das öffentliche Verkehrswesen. Noch im Mai setzte die sowjetische Stadtkommandantur einen ersten Magistrat und eine vorwiegend auf KPD-Mitglieder gestützte Stadtverwaltung ein. Als die Westalliierten Anfang Juli 1945 in der Stadt eintrafen und die ihnen auf der Konferenz von Jalta zugewiesenen Besatzungszonen übernahmen, existierten also bereits wieder administrative Strukturen, und Berlin wurde nun von einer gemeinsamen alliierten Kommandantur verwaltet. Auch die Jüdische Gemeinde in Berlin nahm bereits wenige Wochen nach Kriegsende ihre Tätigkeit wieder auf. Neben dem religiösen Gemeindeleben lag der Schwerpunkt dabei zunächst auf Hilfsleistungen für die Überlebenden und die osteuropäischen Displaced Persons (DPs), die in die Stadt strömten. Die Teilung in Ost- und Westberlin spielte dabei zunächst nur eine marginale Rolle. Trotz der verschärften Ost-West-Trennung durch die Blockade 1948–1949 wurde die organisatorische Trennung in eine West- und eine Ostgemeinde erst 1953 vollzogen.
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Koschere Metzgerei mit der Aufschrift „Verkauf nur an jüdische Kundschaft“, Berlin, 1947. Foto: Fritz Eschen, Deutsche Fotothek SLUB Dresden
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Wohnungstür mit Judenstern und Behelfsnamensschild (Emil Israel Blumenfeld), 1947. Der Judenstern an der Wohnungstür war vielleicht ein stiller Protest dagegen, dass Jüdinnen und Juden in der Sowjetischen Besatzungszone zunächst nicht als Opfer des Faschismus anerkannt wurden. Foto: Fritz Eschen, Deutsche Fotothek SLUB Dresden
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Die Teilung der Stadt in die verschiedenen Besatzungssektoren war aber insofern schon früh relevant, als viele der Juden, die Kommunisten oder Sozialisten waren, nach 1945 aus der Emigration explizit nach Ostberlin kamen, um am Aufbau einer neuen Gesellschaft mitzuwirken. Die meisten von ihnen waren allerdings säkular und nicht Mitglieder der Jüdischen Gemeinde. Trotz ihrer Bemühungen, sich in die entstehende sozialistische Gesellschaft zu assimilieren, war ihre jüdische Herkunft mitunter auch vor der stalinistischen Judenverfolgung schon problematisch.3 „In bestimmten sozialen und politischen Konstellationen drängten die Lebensgeschichten jüdischer Kommunisten und die Verfolgungsgeschichten ihrer Familien an die Oberfläche und verstießen gegen politisch-ideologische Sprachregelungen und Tabus.“4
GEMEINDE UND PARTEI Die Sowjetische Besatzungszone und später die DDR definierten sich als entschieden antifaschistisch, als das „andere“ Deutschland, das sich aus der Verfolgung durch und dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus legitimierte. Diese Emphase auf politisch motivierte Verfolgung und Widerstand resultierte allerdings in einer Vernachlässigung anderer Opfergruppen, namentlich der Juden. Bereits am 15. Juli 1945 sehen sich Vertreter der Jüdischen Gemeinde gezwungen, an die Besatzungsbehörden zu appellieren: „Daher bitten wir unsere Befreier, uns die versprochene Hilfe zu gewähren. Wir bitten insbesondere zu veranlassen, dass die Juden, welche a) in Konzentrationslagern waren, b) sich vor den Verfolgungen der Gestapo verborgen hielten, c) den David-Stern tragen mussten, sowie ihre Frauen und Kinder als Opfer des Nationalsozialismus behandelt und in jeder Beziehung den Opfern des Faschismus gleichgestellt werden.“5 In den ersten Nachkriegsmonaten bedeutete die Anerkennung als Opfer des Faschismus (OdF) den Zugang zu lebenswichtigen Unterstützungsleistungen etwa in Form zusätzlicher Lebensmittelrationen. Zunächst wurden nur aktive Widerstandskämpfer durch die OdF-Ausschüsse anerkannt, erst im Oktober 1945 wurden nach heftiger öffentlicher Debatte auch „rassisch Verfolgte“ als Opfer des Faschismus anerkannt. Allerdings wurde nun zwischen Opfern des Faschismus und Kämpfern gegen den Faschismus unterschieden, wobei letztere wiederum privilegiert waren.6 Das Thema der Opfer des Faschismus und die damit verbundenen Fragen von Entschädigung und „Wiedergutmachung“ veranschaulichten von Anfang an das Konfliktpotenzial zwischen Jüdischer Gemeinde und dem sozialistischen Regime. Die Restitution von Eigentum, das durch den nationalsozialistischen Staat beschlagnahmt worden war, wurde abgelehnt, da dieses im Falle der zahl-
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reichen Emigranten eine Stärkung der Interessen des kapitalistischen Auslands zur Folge gehabt hätte. Ein bereits von der SED genehmigtes Entschädigungsgesetz wurde 1949 nach der Gründung der DDR nicht ratifiziert.7 Andererseits wurden Vertreter der Jüdischen Gemeinde in administrative Aufgaben eingebunden – etwa im Rahmen des Magistratsausschusses „Opfer des Faschismus“, in dessen Büro „Abteilung Nürnberger Gesetzgebung“ Heinz Galinski, Julius Meyer und andere Repräsentanten der Gemeinde mitarbeiteten. Dies ist allerdings nicht als bloße Instrumentalisierung der Gemeinde durch die Staatsführung zu werten, denn die Gemeindevertreter versuchten ernsthaft, durch die Mitarbeit in Verbänden wie der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) oder in politischen Gremien, die Anliegen der Jüdischen Gemeinde zu vertreten. Judentum und Sozialismus erschienen in Ostberlin in den unmittelbaren Nachkriegsjahren also nicht unbedingt als Gegensätze, zumal auch Funktionäre jüdischer Herkunft wie Alexander Abusch – Mitglied des Parteivorstandes der SED und Abteilungsleiter im Kulturbund – oder Leo Zuckermann – später Leiter der Kanzlei des Präsidenten der DDR Wilhelm Pieck und Mitautor der Verfassung der DDR – wichtige Positionen in Partei und Staatsführung einnahmen.
DISPLACED PERSONS UND REMIGRANTEN Bereits unmittelbar nach dem Krieg kamen zahlreiche Displaced Persons in Berlin an. In den Westsektoren entstanden drei Lager für jüdische DPs: Mariendorf und Schlachtensee (Düppel) im amerikanischen und Wittenau im französischen Sektor. Im November 1946 waren hier rund 7800 Personen untergebracht.8 Bis 1948 war Berlin die wichtigste Durchgangsstation für jüdische DPs in Deutschland. In der sowjetischen Zone wurden keine DP-Lager eingerichtet, die beiden von der Jüdischen Gemeinde in Berlin-Mitte und Pankow eingerichteten Durchgangslager mussten bereits Anfang 1946 wieder geschlossen werden.9 Die meisten jüdischen DPs waren Überlebende der Konzentrationslager oder osteuropäische Juden, die vor der deutschen Besatzung in die Sowjetunion geflüchtet waren. Nun flohen sie vor dem zunehmenden Antisemitismus in Osteuropa, wie er sich etwa im Juli 1946 im Pogrom von Kielce manifestierte. Bemerkenswert ist aber auch die Rückkehr von rund 300 jüdischen Berlinern aus Shanghai, die im Sommer 1947 in Berlin eintrafen.10 Die Unterstützung jüdischer Flüchtlinge aus der Volksrepublik Polen und der Sowjetunion durch die Jüdische Gemeinde führte zu Spannungen mit der Sowjetischen Militäradministration. Einige Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinde unterstützten die Fluchthilfeorganisation Bricha, die Juden aus den sozialistischen Staaten Osteuropas bei der Ausreise in die Westzonen half, um ihnen die
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Julius Meyer mit Heinz Galinski auf der Gedenkveranstaltung im Lustgarten (Tag der Opfer des Faschismus), 1948. Foto: Abraham Pisarek, Deutsche Fotothek SLUB Dresden
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Einwanderung nach Palästina zu ermöglichen. Die sowjetischen Behörden reagierten mit der Festnahme von Gemeindevertretern. So wurden der ehemalige Vorsitzende Erich Nelhans und das Vorstandsmitglied Fritz Katten verhaftet und von sowjetischen Militärgerichten wegen antisowjetischer Tätigkeit und Beihilfe zum Landesverrat durch Sowjetbürger zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Nelhans verstarb nach zwei Jahren Haft in einem sowjetischen Lager, während Katten 1956 entlassen wurde und nach Westdeutschland ausreisen konnte.11 Als sich die Spannungen zwischen den Westalliierten und der SMAD im Sommer 1948 verschärften, wurden im Rahmen der Berlin-Blockade die Straßen, Schienenverbindungen und Wasserwege zwischen Westberlin und den westlichen Besatzungszonen für den Personen- und Güterverkehr gesperrt. Im September 1948 lösten die Alliierten angesichts der prekären Situation der Stadt die Berliner DP-Lager auf. Im Zuge der Luftbrücke, mit der Westberlin von den Westalliierten teilweise versorgt wurde, evakuierten die Amerikaner und Briten die DPs aus ihren Sektoren nach Westdeutschland und verteilten sie auf DPLager in den Westzonen.
EXODUS Nach 1948 wuchs der Druck auf die jüdischen Organisationen. Die BerlinBlockade, die Staatsgründung Israels 1948 und schließlich die Gründung von BRD und DDR 1949 waren die markantesten Stufen dieser Eskalation des OstWest-Konflikts. Der Zionismus wurde nun zum Feindbild, die Kontakte jüdischer Gemeindefunktionäre zu internationalen Hilfsorganisationen wie dem JDC wurden zur Zusammenarbeit mit dem kapitalistischen Ausland oder gar zur Spionage für den Westen umgedeutet. Anfang 1953 eskalierte die Situation schließlich und es kam zu einer Massenflucht, bei der rund 600 Juden die DDR verließen, darunter zahlreiche Vorstandsmitglieder der verschiedenen jüdischen Gemeinden. Die Mitgliederzahlen der Jüdischen Gemeinde in Ostberlin schwanden in den folgenden Jahren stetig, die Gemeinde, die viele Jahre lang keinen eigenen Rabbiner mehr hatte, zählte 1989 nur noch etwa 250 Mitglieder.12 1
Presseerklärung des Parteivorsitzenden der SED Wilhelm Pieck vom 3.12.1947 zum UNO-Teilungsbeschluss für Palästina, Bundesarchiv Berlin, Stiftung Parteien und Massenorganisationen der DDR, DY 30/IV 2/4/Bd. 112, Bl. 377, zitiert nach Weigelt, Andreas: Leo Zuckermann (1908 − 1985). Weigelt, Andreas; Simon, Hermann (Hrsg.): Zwischen Bleiben und Gehen. Juden in Ostdeutschland 1945 bis 1955. Zehn Biographien. Berlin: text verlag edition berlin, 2008, 216. 2 Siehe Alexander, Gabriel E.: Berlin. Gutman, Israel [u. a.] (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Berlin: Argon 1993, Bd. 1, 204. Grossmann, Atina: Juden, Deutsche, Alliierte. Begegnungen im besetzten Deutschland. Göttingen: Wallstein, 2012, 148, 150 (Fußnote 4).
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Ankunft jüdischer Rückkehrer aus Shanghai im Transitlager Teltower Damm in Berlin-Zehlendorf, 1947. Foto: Henry Ries, © Henry Ries / Deutsches Historisches Museum, Berlin
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Landeanflug eines Transportflugzeugs im Rahmen der Berliner Luftbrücke auf den Flughafen Tempelhof, 1948. Foto: Henry Ries, © Henry Ries / Deutsches Historisches Museum, Berlin
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Seit 1948 wurden in den kommunistischen Parteien im Machtbereich Stalins mehrere „Parteisäuberungen“ durchgeführt, die Ende 1952 eine offen antisemitische Wendung nahmen und auch in der DDR zu einer Reihe von Maßnahmen gegen vermeintliche „zionistische Agenten“ führten. Siehe Hartewig, Karin: Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR. Köln: Böhlau, 2000, 315 − 3 86; Timm, Angelika: Hammer, Zirkel, Davidstern. Das gestörte Verhältnis der DDR zu Zionismus und Staat Israel. Bonn: Bouvier, 1997, 98 − 126. 4 Hartewig: Zurückgekehrt, 106. 5 Archiv der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, CJA, 5A1, 0045, Bl. 43/45. 6 Timm: Hammer, Zirkel, Davidstern, 51 − 53. 7 Vergleiche den Beitrag von Philipp Graf in diesem Band. 8 Grossmann: Juden, Deutsche, Alliierte, 199. 9 Arolsen Archives. International Center on Nazi Persecution: Verzeichnis der DP-Lager. ht tps://dpcampinventor y.its-arolsen.org/uebersicht-zonen/berlin-westsek toren/ dp-camps (14.6.2019). Außerdem existierte in Berlin-Niederschönhausen von 1945 bis 1953 ein Kinderheim der jüdischen Gemeinde, in dem zahlreiche DP-Kinder untergebracht waren, wenngleich es kein reines DP-Kinderheim war. 10 Armbrüster, Georg: Das Ende des Exils in Shanghai. Rück- und Weiterwanderungen nach 1945. Armbrüster, Georg [u. a.] (Hg.): Exil Shanghai 1938 − 1947. Jüdisches Leben in der Emigration. Teetz: Hentrich & Hentrich, 2000, 190f. 11 Weigelt, Andreas: Fritz Katten (1898 − 1964). Weigelt, Andreas; Simon, Hermann (Hrsg.): Zwischen Bleiben und Gehen. Juden in Ostdeutschland 1945 bis 1955. Zehn Biographien. Berlin: text verlag edition berlin, 2008, 55 − 74; Weigelt, Andreas: Erich Nelhans (1899 − 1950). Weigelt, Andreas; Simon, Hermann (Hrsg.): Zwischen Bleiben und Gehen. Juden in Ostdeutschland 1945 bis 1955. Zehn Biographien. Berlin: text verlag edition berlin, 2008, 131 − 1 61. 12 Zentralrat der Juden in Deutschland: Von Komitees in Besatzungszonen zum zentralen Dachverband. Die Geschichte des Zentralrats der Juden in Deutschland. https://www. zentralratderjuden.de/der-zentralrat/geschichte/ (14.6.2019).
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Julius Meyer (1909 – 1979) Julius Meyer wurde 1909 in Krojanke (Westpreußen) geboren. 1930 trat er nach seiner Lehre in der Lederindustrie in die KPD ein. Ab 1935 lebte er in Berlin, wo er im Februar 1943 verhaftet wurde. Meyer durchlief verschiedene Konzentrationslager, zuletzt Auschwitz und Ravensbrück. 83 seiner Familienangehörigen, darunter seine Frau und seine Kinder wurden von den Nationalsozialisten ermordet. 1945 bis 1953 gehörte er dem Vorstand der Jüdischen Gemeinde in Berlin an, ab 1946 war er deren Vorsitzender und ab 1947 Präsident des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in der SBZ. Julius Meyer war außerdem Leiter der Abteilung „Opfer der Nürnberger Gesetzgebung“ beim Hauptamt „Opfer des Faschismus“ (OdF) im Berliner Magistrat und Vorstandsmitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), für die er auch als Abgeordneter in die Volkskammer gewählt wurde. Meyer setzte sich besonders für die Entschädigung der jüdischen Verfolgten und für ihre Anerkennung als „Opfer des Faschismus“ ein. Nachdem auch in der DDR im Zuge der spätstalinistischen Kampagne der antisemitische Druck gewachsen war, floh er im Januar 1953 vor einem bevorstehenden Verhör nach West-Berlin. Er war zuvor als Zionist und wegen seiner zahlreichen Westkontakte denunziert worden. Meyer emigriert nach Brasilien, wo er 1979 verstarb. Sein in der BRD gestellter Entschädigungsantrag wurde zunächst mit Verweis auf seine SED-Mitgliedschaft und seine Tätigkeit als Abgeordneter der Volkskammer abgelehnt.
Julius Meyer bei der Pessachfeier im Schöneberger Rathaus mit Berliner Juden und Jüdinnen und Soldaten der vier Besatzungsmächte, 1946. Foto: Gerhard Gronefeld, © Gerhard Gronefeld / Deutsches Historisches Museum, Berlin
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Julius Meyer bei der Gedenkstunde im Funkhaus zum Thema „Kristallnacht“, Berlin 1946. Foto: Abraham Pisarek, Deutsche Fotothek SLUB Dresden
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Schabbat beim Ehepaar Meyer mit amerikanischen Soldaten, 1945. Foto: Gerhard Gronefeld, © Gerhard Gronefeld / Deutsches Historisches Museum, Berlin
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Anna Seghers (1900 – 1983) Anna Seghers wurde 1900 als Anna (Netty) Reiling in Mainz in ein traditionelles jüdisches Elternhaus geboren. 1925 heiratete sie den ungarischen Soziologen László Radványi. Ihr erstes Buch Aufstand der Fischer von St. Barbara erschien 1928 unter dem Pseudonym Anna Seghers. Im selben Jahr wurde sie Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands, vier Jahre später trat sie formell aus der jüdischen Gemeinde aus. 1934 floh Seghers nach Frankreich und nach Kriegsbeginn weiter über die unbesetzte Zone im Süden Frankreichs nach Mexiko. Dort erfuhr sie vom Völkermord an den europäischen Juden und setzte sich in zwei autobiografischen Essays mit ihrem jüdischen Familienerbe auseinander. 1944 wurde sie durch die Verfilmung ihres Romans Das siebte Kreuz mit Spencer Tracy in der Hauptrolle weltberühmt. Seghers kehrte 1947 nach Deutschland zurück, wo sie zunächst in Westberlin wohnte, und trat in die SED ein. Im gleichen Jahr wurde sie mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Im April 1948 reiste sie mit einer Delegation von Kulturschaffenden in die Sowjetunion. 1950 zog sie schließlich nach Ost-Berlin und wurde zum Gründungsmitglied der Deutschen Akademie der Künste berufen. 1951 erhielt sie den Nationalpreis der DDR und unternahm eine Reise in die Volksrepublik China. Obwohl sie nach ihrer Rückkehr aus der Emigration zunächst über die Zustände in Deutschland schockiert war, hielt Anna Seghers an ihrem Glauben an den Aufbau einer besseren und gerechteren Welt durch den Sozialismus fest. Von 1952 bis 1978 war sie Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR. 1983 starb sie und wurde nach einem Staatsakt in der Akademie der Künste der DDR in Berlin beigesetzt.
Anna Seghers vor ihrer ersten Wohnung nach der Rückkehr aus dem Exil in einem Westberliner Hotel am Wannsee, 27. April 1947. Foto: Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst, Bundesarchiv, Bild 183-19000-1020
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Anna Seghers erhält vom Präsidenten der DDR Wilhelm Pieck eine der ersten Mitgliedsurkunden beim Festakt zur Eröffnung der Akademie der Künste der DDR am 24. März 1950. Foto: Rudolph, Bundesarchiv, Bild 183-S94952
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Vorläufige Aufenthaltserlaubnis für Netty Radvanyi (Anna Seghers) vom 26. Juli 1947, ausgestellt von der Berliner Polizei, Abteilung Fremdenpolizei. Akademie der Künste, Anna-Seghers-Archiv, Signatur Seghers 3285 Bei Staatsangehörigkeit ist „Mexico“ angegeben, unter Wohnort „Bln.[Berlin]-Wannsee, Am Landwerder 5“.
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FOTOGRAFINNEN UND FOTOGRAFEN IN BERLIN ERIK RIEDEL In den unmittelbaren Nachkriegsjahren war eine Reihe bemerkenswerter Fotografinnen und Fotografen in Berlin aktiv. Ihre Bilder stellen nicht nur herausragende Dokumente der Zeitgeschichte dar, sondern veranschaulichen auch, in welcher Art und Weise und in welchen Zusammenhängen Fotografen in der unmittelbaren Nachkriegszeit Jüdinnen und Juden sowie jüdische Themen ins Bild setzen. Abraham Pisarek (1901–1983) stand in der Weimarer Republik der KPD nahe und arbeitete unter anderem für die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung. Während der NS-Zeit war seine Tätigkeit auf das Umfeld der Jüdischen Gemeinde beschränkt, wobei er als einziger Fotograf für den Jüdischen Kulturbund Berlins und die fünf bis 1941 bestehenden jüdischen Zeitungen zugelassen war. Danach musste er Zwangsarbeit leisten, blieb aber wegen der „privilegierten Mischehe“ mit seiner nichtjüdischen Ehefrau von der Deportation verschont. In der Sowjetischen Besatzungszone war Pisarek als Presse- und später vor allem als Theaterfotograf tätig.1 Henry (ursprünglich Heinz) Ries (1917–2004) floh 1937/38 in die USA. Während des Zweiten Weltkriegs schloss er sich der US Air Force an, wurde zum Fotografen für Luftaufnahmen ausgebildet und kehrte schließlich als Besatzungssoldat in seine Geburtsstadt Berlin zurück. Als Fotoreporter der USArmee berichtete er vom Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, aus dem zerstörten Berlin und über das Schicksal der 4500 Flüchtlinge auf dem Schiff „Exodus“, die 1947 vor der Küste des britischen Mandatsgebiets Palästina zur Rückkehr nach Deutschland gezwungen wurden. Sein Fotoband German Faces über die besiegten Deutschen wurde in den USA zum Bestseller.2 Gerhard Gronefeld (1911–2000) war als Kriegsberichterstatter Mitarbeiter der Propaganda-Kompanie der Wehrmacht. Obwohl er nicht jüdisch war, schuf er in den unmittelbaren Nachkriegsjahren einige Fotoserien, die jüdisches Leben in Berlin thematisierten. Es handelte sich dabei um Fotoreportagen für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, aber auch um private
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Gemeindehaus in der Rosenstraße, nach 1945. Foto: Abraham Pisarek, Deutsche Fotothek, SLUB Dresden Das während eines Luftangriffs zerstörte Gebäude der Jüdischen Gemeinde war Schauplatz des RosenstraßeProtests. 1943 demonstrierten hunderte Frauen, die in sogenannten „Mischehen“ lebten, erfolgreich gegen die Deportation ihrer Ehepartner.
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Aufnahmen. So begleitete er über mehrere Jahre die Familie von Julius Meyer, einem Mitglied des Gemeindevorstands, mit der Kamera. In den 1950er Jahren spezialisierte sich Gronefeld auf Tierfotografie.3 Fritz Eschen (1900–1964) war seit 1928 als freiberuflicher Bildjournalist für verschiedene Agenturen tätig. Nach dem Ausschluss aus dem Reichsverband der Deutschen Presse Ende 1933 erhielt er nur noch gelegentliche Aufträge von amerikanischen Agenturen, die dann unter einem Pseudonym veröffentlicht wurden. Trotz Verhaftung und Zwangsarbeit überlebte er aber in Berlin, da er dank seiner „privilegierten Mischehe“ mit seiner nichtjüdischen Ehefrau von der Deportation ausgenommen war. Nach 1945 arbeitete Fritz Eschen als freier Bildjournalist für zahlreiche Berliner Zeitungen und Zeitschriften.4 Eva Kemlein (1909–2004) arbeitete als Wissenschafts- und Reisefotografin. Während der NS-Zeit schlug sie sich als Arbeiterin unter anderem bei Siemens durch. Um der bevorstehenden Deportation zu entgehen, ging sie mit ihrem Lebensgefährten 1942 in den Untergrund. Nachdem sie mehr als 30 Mal das Versteck wechseln mussten, erlebten sie die Befreiung in einem Schöneberger Keller. Nach dem Krieg war Kemlein für die neugegründete Berliner Zeitung tätig und wurde zur Grenzgängerin: Sie lebte in Westberlin, arbeitete aber in Ostberlin. Als Theaterfotografin dokumentierte sie alle wichtigen Aufführungen der Ostberliner Bühnen.5 1
Siehe Delang, Kerstin u. a.: Pisarek, Abraham. Deutsche Fotothek. http://www.deutsche -fotothek.de/documents/kue/90011828 (5.8.2019). 2 Ries, Henry: Ich war ein Berliner. Erinnerungen eines New Yorker Fotojournalisten. Berlin: Parthas, 2001; Berlin. Ries, Henry: Photographien 1946 − 1949. Berlin: Nicolai, 1998; Ries, Henry: Photographien aus Berlin, Deutschland und Europa 1946 − 1951. Berlin: Berlinische Galerie, 1988. 3 Ranke, Winfried: Deutsche Geschichte kurz belichtet. Photoreportagen von Gerhard Gronefeld 1937 − 1965. Berlin: Nicolai, 1991. 4 Vgl. Eschen, Fritz. Deutsche Fotothek. http://www.deutschefotothek.de/documents/ kue/90023707 (5.8.2019). 5 Vgl. Fischer, Anna; Schütz, Chana (Hrsg.): „Berlin lebt auf!“ Die Fotojournalistin Eva Kemlein. Berlin: Hentrich & Hentrich, 2016; Kemlein, Eva; Pietzsch, Ingeborg: Eva Kemlein. Ein Leben mit der Kamera. Berlin: Edition Hentrich, 1998.
FOTOGRAFINNEN UND FOTOGRAFEN IN BERLIN
Rückkehr jüdischer Berliner aus Shanghai, 1947. Foto: Henry (Heinz) Ries, © Henry Ries / Deutsches Historisches Museum, Berlin Das Bild entstand nach der Ankunft von rund 300 jüdischen Emigranten aus Shanghai. Es ist deutlich als Momentaufnahme erkennbar, die eindrücklich die Emotionen des Augenblicks festhält.
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Wiedersehen zweier jüdischer KZ-Überlebender, 1945. Foto: Gerhard Gronefeld, © Gerhard Gronefeld / Deutsches Historisches Museum, Berlin Dieses Foto entstand im August 1945 im Kontext des Artikels Dem Leben wiedergegeben, in dem die Deutsche Volkszeitung einige exemplarische Schicksale jüdischer Überlebender vorstellte. Die Bilder sind sorgfältig inszeniert, was etwa ein genauerer Blick auf die Kleidung der Personen verrät.
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Zwei junge Frauen beim Zeitunglesen auf einer Bank mit der Aufschrift „Für Juden verboten“, Berlin, 1945. Foto: Fritz Eschen, Deutsche Fotothek, SLUB Dresden Das Foto veranschaulicht, dass mit Kriegsende die NS-Ideologie keineswegs plötzlich verschwand. Während die Hakenkreuze zügig von Regierungsgebäuden entfernt wurden, übersah man an manchen weniger auffälligen Stellen zunächst die Zeugnisse der Ausgrenzung.
FOTOGRAFINNEN UND FOTOGRAFEN IN BERLIN
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Schwarzmarkt an der Friedrichstraße, Berlin 1945. Foto: Eva Kemlein, Stiftung Stadtmuseum Berlin, Reproduktion: Friedhelm Hoffmann Der Schwarzmarkt als Berliner Nachkriegs-Lebensstil, festgehalten von der Theaterfotografin Eva Kemlein. Sie hatte die Verfolgung als sogenanntes U-Boot in Berlin überlebt.
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TAMAR LEWINSKY 1949 fing der renommierte Fotograf Chim (David Seymour) eine Straßenszene in München ein. Auf diesem Bild, aufgenommen an der Möhlstraße im ehemals großbürgerlichen Villenviertel im Stadtteil Bogenhausen, zwängt sich zwischen ein koscheres Lokal und einen einfachen Ladenflachbau ein Bretterverschlag, der einen Kiosk beherbergt. „Jude!“, heißt es in jiddischer Sprache auf der Werbetafel über dem Verkaufsfenster: „Kauf deine Zeitung nur hier! Und unterstütze damit den Jüdischen Nationalfonds“. Auf den abnehmbaren Läden der Holzbude, unter Aufmachern und schlecht angekleisterten jiddischen Informationsplakaten sind die drei Lettern KKL – Keren Kajemeth Le-Israel (Jüdischer Nationalfonds) – zu erkennen. Die Fotografie offenbart mehr als ein dokumentarisches Interesse an der Möhlstraße mit ihrer jüdischen Infrastruktur. Chim, der umgeben von jiddischen und hebräischen Büchern als Sohn eines angesehenen jüdischen Verlegers in Warschau als David Szymin aufgewachsen war,1 erzählt hier von der Zerstörung einer ehemals blühenden Kultur. Es ist eines der wenigen explizit jüdischen Motive in Chims Werk, entstanden nur wenige Monate, nachdem der Fotograf endlich Gewissheit über das Schicksal seiner Eltern – ihre Ermordung – erhalten hatte.2 Mit diesem Bretterverschlag verweist Chim nicht nur auf das Ausmaß der Vernichtung. Er schafft ein Bild, das all das charakterisiert, was jüdische Kultur im besetzten Deutschland ausmachte: Sie war auf Zeit geschaffen, zwangsläufig improvisiert, zionistisch orientiert und überwiegend jiddisch. Zum Zeitpunkt der Aufnahme war von dieser Kultur allerdings nur noch wenig übriggeblieben. Die meisten DPs hatten die Amerikanische Besatzungszone mit der Gründung des Staates Israel und der Lockerung der Einwanderungsbestimmungen in den USA im Vorjahr verlassen können. Dies galt auch für die kleine Gruppe von Journalisten, Historikern, Schriftstellern, Schauspielern, Musikern und Künstlern – und eine wesentlich größere Gruppe engagierter
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Möhlstraße, München, 1949. Auf dem Kiosk in der Mitte ist auf Jiddisch zu lesen: „Jude! Kauf Deine Zeitung nur hier! Und unterstütze damit den Jüdischen Nationalfond.“ Der Originaltitel des Fotos lautete „Milchstrasse“. Foto: Chim (David Seymour), Jüdisches Museum Berlin
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Laien –, ohne die das kurzzeitige Aufleben jüdischer Kultur ausgerechnet in Deutschland kaum möglich gewesen wäre. Diese Kultur im Transit hatte vier Jahre zuvor ihre ersten Blüten gezeigt. Ihre Ursprünge reichten aber in die Jahre der Verfolgung zurück: Gerade einmal drei Wochen waren seit der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald vergangen – der Krieg war damals noch nicht zu Ende –, als dort Anfang Mai 1945 eine jiddische Zeitung erschien. Ein Kollegium, dessen Mitglieder heimlich die inhaftierten Kinder unterrichtet hatten, zeichnete unter dem programmatischen Titel Tkhies hameysim (Die Wiederbelebung der Toten) für die Inhalte verantwortlich. Nach dem Willen der Redaktion sollte die Zeitung den Anfang einer sich neu entwickelnden Presse markieren, die gleichzeitig die Fahne der jüdischen Kultur weitertragen sollte.3 Zwei Monate später erschien Nitsots (Der Funke). Die hebräische Zeitschrift war im litauischen Kaunas von Mitgliedern einer zionistischen Jugendorganisation gegründet und zunächst unter sowjetischer Besatzung publiziert worden. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht im Sommer 1941 erschien die Zeitschrift im Ghetto. Schließlich wurden ihre Redakteure im September 1944 aus Litauen in den Süden Deutschlands deportiert. In einem Außenlager des Konzentrationslagers Dachau stellten sie bis Kriegsende unter schier unvorstellbaren Bedingungen weitere sieben Nummern zusammen. Erscheinungsort der ersten Ausgabe in Freiheit wurde das oberbayerische Benediktinerkloster St. Ottilien, das durch einen historischen Zufall zu einem DP-Krankenhaus und zur Keimzelle jüdischer Selbstorganisation in der Amerikanischen Besatzungszone werden sollte.4 Überlebende des Konzentrationslagers Dachau waren es auch, die den Grundstein für eine reguläre jiddische Presse legten. Am 12. Oktober 1945 erschien in München die erste Nummer von Unzer veg (Unser Weg) als offizielle Zeitung des wenige Monate zuvor gegründeten Zentralkomitees der „befreiten Juden in der deutschen Diaspora“, wie es in der Titelzeile hieß. Abgesehen von einer längeren Unterbrechung sollte diese Zeitung bis Ende 1950 ein- bis zweimal wöchentlich mit Auflagen von bis zu 20 000 Exemplaren erscheinen.5 Aber nicht nur in der ehemaligen Hauptstadt der nationalsozialistischen Bewegung, sondern in vielen der über die gesamte Besatzungszone verstreuten Displaced Persons Camps entstanden Zeitungen unterschiedlichster Formate und Qualität. Ihre Herausgeber wurden von dem Bedürfnis angetrieben, den Hunger der in Deutschland gestrandeten Überlebenden nach Information und Lesematerial zumindest ein wenig zu stillen. Bis zur Auflösung der DP-Lager sollten weit über hundert Zeitungen und Zeitschriften erscheinen.6 Es ist bemerkenswert, unter welchen technischen Bedingungen diese ersten Zeitungen produziert wurden. Nicht nur Nitsots und Tkhies hameysim, sondern auch die meisten Lokalzeitungen in der Amerikanischen Besatzungszone
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mussten sorgfältig von Hand geschrieben und vervielfältigt werden. Was für ein seltener Luxus war damals eine jiddische Schreibmaschine, wie sie den Gründern der jiddischen Zeitung Undzer lebn (Unser Leben) in Berlin zur Verfügung stand. In dieser Zeit des Mangels und der zwangsläufigen Improvisation kam es daher zu einer einmaligen Episode in der jiddischen Publikationsgeschichte: Weil kaum hebräische Drucklettern aufzufinden waren (mit denen auch das Jiddische geschrieben wird), ging man vielerorts dazu über, die Zeitungen in lateinischen Buchstaben und gemäß polnischer Orthografie zu setzen.7 Ab 1947 wurde die Lokalpresse mit wenigen Ausnahmen von der zionistischen Parteipresse abgelöst. Unter dem Einfluss von Emissären aus Palästina und der bereits vor ihrer Ankunft politisierten Flüchtlinge aus Polen, die besonders nach dem blutigen Pogrom in Kielce zu Zehntausenden in die Amerikanische Besatzungszone strömten, hatte sich das politische Spektrum in der DP-Gemeinschaft erweitert. An die Stelle einer zionistischen Einheitspartei, die sich zu Beginn der Selbstorganisation gebildet hatte, traten nun diverse zionistische Gruppen, die weitgehend das Parteiensystem im vorstaatlichen Palästina abbildeten und sich mit ihren jeweiligen Parteiblättern an ihre Sympathisanten richteten. Gedruckt wurden diese Zeitungen in München. Denn dort, vor allem in der Möhlstraße und ihrer unmittelbaren Umgebung, hatten sich nicht nur die Besatzungsbehörden, die Hilfsorganisationen und die jüdische Selbstverwaltung angesiedelt, dort hatten auch die zionistischen Parteien ihre Büros eingerichtet. Der Stadt an der Isar kam der Status einer inoffiziellen Hauptstadt der DPs zu. Ihr geschäftiges Zentrum in Bogenhausen wurde Anlaufpunkt für die tausenden Juden in der Stadt und die DPs aus den Flüchtlingseinrichtungen im Großraum München – insgesamt schätzungsweise 75 000 Personen.8 Die inhaltliche Ausrichtung der Parteipresse orientierte sich weitgehend an den gleichnamigen hebräischen Schwesterorganen in Palästina. Viele Artikel wurden fast unverändert übernommen. Neben der politischen Berichterstattung zeichnete sich die Parteipresse in Deutschland in ihrem Profil aber auch dadurch aus, dass sie Geschichte, Kunst und Kultur einen zentralen Platz einräumte. Auf den Feuilletonseiten waren Artikel zu jüdischer Geschichte, Auszüge aus osteuropäisch-jiddischer Literatur, wie auch Sachartikel, Kurzgeschichten und Memoiren zu finden. Die Parteipresse setzte also fort, was bereits für die frühe Lokalpresse charakteristisch gewesen war: Durch eine enge Verknüpfung von journalistischen und didaktischen Zielen wollte sie einen Beitrag zum Bildungsprogramm leisten. 9 Dem Jiddischen kam dabei eine zentrale Funktion zu. Es war nicht nur der größte gemeinsame sprachliche Nenner innerhalb der heterogenen Flüchtlingsgemeinschaft, sondern verortete die entwurzelten Displaced Persons, denen in den Kriegsjahren oft nur eine rudimentäre Bildung zuteil geworden war, in einer kulturellen Tradition. Freilich hätten die zionistischen Parteien
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Der Gedichtband In fremdn land von Mates Olitski (1915 − 2008). Dieses 1947 im hessischen Eschwege publizierte Buch stellt die Begegnung der Displaced Persons mit dem ihnen fremden und verhassten Deutschland ins Zentrum. Olitski hatte in der Sowjetunion überlebt, kam 1946 nach Polen zurück und von dort in die amerikanische Zone Deutschlands. GoetheUniversität Frankfurt am Main, Universitätsbibliothek JCS
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ihre kulturpolitischen Aktivitäten gern ausschließlich ins Hebräische verlagert. Doch die Unvereinbarkeit von Ideal und Wirklichkeit hatte sie, wie schon die sozialistischen Zionisten der Zwischenkriegszeit, eine pragmatische Haltung einnehmen lassen. Offiziell orientierten sich die DPs deshalb an der Vorkriegsdefinition, nach welcher Jiddisch als die Sprache der Gegenwart und Hebräisch als die Sprache der Zukunft verstanden wurde. Erst auf das Fundament einer grundlegenden Bildung sollte und konnte eine jüdisch-nationale und zionistisch ausgerichtete Erziehung aufbauen.10 Von Anfang an standen die Feuilletonseiten auch Schriftstellern als Forum für ihre Texte zur Verfügung. Dass der Literatur – sei es der genuin von DPs geschaffenen, der klassischen jüdischen oder der Weltliteratur in Übersetzung – Platz eingeräumt wurde, ist sicherlich auch in der Tradition jiddischer Publikationsgeschichte zu lesen: Die jiddische Presse in Polen und Litauen wie auch jiddische Zeitungen in den USA machten literarische Texte zum Bestandteil jeder Nummer. Führt man sich vor Augen, dass in Palästina just in dieser Zeit radikale Attacken gegen das Jiddische und die jiddische Literatur geführt wurden, mag es aber paradox anmuten, dass sich die zionistische Presse in Deutschland nicht nur der in Palästina geächteten Diasporasprache bediente, sondern zugleich auch Geburtshilfe bei der Publikation neuer jiddischer Literatur leistete.11 Ein Teil der Kurzgeschichten und Gedichte aus der DP-Presse wurden nach und nach auch in Buchform gedruckt. Insgesamt erschienen bis zur Auflösung der DP-Lager in der Amerikanischen Besatzungszone rund dreißig Gedicht- und Prosabände. Nicht wenige davon kamen in den kleinen Parteiverlagen heraus, die eigentlich gegründet worden waren, um die DPs mit politischen Basistexten zu versorgen.12 Einige der Schriftsteller und der wenigen Schriftstellerinnen – der Mangel an weiblichen Stimmen zieht sich durch fast alle Bereiche kultureller Tätigkeit in den DP-Lagern – hatten bereits in den 1930er Jahren erste Texte publiziert, andere wiederum begannen erst nach Kriegsende mit dem Schreiben. Gemeinsam aber war ihnen allen, dass sie sich während ihres Aufenthalts in Deutschland literarisch mit dem Holocaust, den Kriegsjahren und ihrer gegenwärtigen Situation auseinandersetzten. Sie schrieben, um ihren persönlichen Erfahrungen einen Ausdruck zu geben. Damit schufen sie eine Literatur, in der sich die Konsequenzen der Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums in ihrer weitesten geografischen Ausdehnung – von Dachau bis Samarkand – widerspiegelt. Zeitlich decken die Gedichte und Kurzgeschichten die Gesamtheit der Erfahrungen des osteuropäischen Judentums von der Zwischenkriegszeit bis in die Gegenwart des Schreibens ab. Man kann diese Werke durchaus als früheste Beispiele einer Holocaust-Literatur bezeichnen, wobei sie sich stets an der Grenze zwischen Kriegs- und Nachkriegsliteratur bewegen.
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Lange vor Adornos berühmtem Diktum, wonach es barbarisch sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, diskutierten die Mitglieder des Schriftstellerverbandes, der als einer von zahlreichen Berufsverbänden entstanden war, durchaus kontrovers, wie man sich der gerade erst erlittenen Katastrophe literarisch zu nähern habe. Allerdings entzündete sich ihre Auseinandersetzung mit dieser Frage an rein ästhetischen und künstlerischen Fragen. Der spätere Literaturprofessor Benjamin Harshav, der den Krieg im Ural überlebt hatte und als gerade einmal Neunzehnjähriger seinen ersten Gedichtband in München veröffentlichen konnte, kommentierte dies rückblickend so: „In der Behaglichkeit amerikanischer Universitäten konnten sich assimilierte deutsche Juden die Frage leisten: ‚Wie kann man nach Auschwitz Gedichte schreiben?‘ Yidishe yidn wussten, dass man das kann, immer gekonnt hat und auch muss.“13 Ein titelloses Gedicht Shloyme Vorzogers, der wie viele seiner Kollegen den Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion überlebt hatte, mag als Beispiel dafür dienen, wie die jiddischen Schriftsteller damit rangen, die adäquate Form zu finden: Zu früh – um zu vergessen Zu tief – um zu verheilen Es fehlt die Sprache – um zu erzählen Es fehlt das Maß – um zu messen Es fehlt – ein Name Jedes Wort – ist Lästerung Oh, gib mir Kraft, Gott – um zu schweigen.14 Freilich führte das Bedürfnis zu schreiben auch dazu, dass sich die Grenzen zwischen Literatur und Zeitzeugenschaft verwischten. Genau diese Unterscheidung zwischen Fiktion und Erinnerung hatte für die DPs jedoch eine konkrete Dimension. Seit Herbst 1945 bemühten sich Historische Kommissionen in der Amerikanischen Besatzungszone um eine möglichst akkurate und umfassende Dokumentation dessen, was man später Schoa oder Holocaust nennen sollte, vorerst aber auf Hebräisch als Churban und auf Jiddisch als Khurbn (Zerstörung) bezeichnet wurde.15 Schon kurz nach der Gründung der Historischen Kommission in München wandte sich ihr Direktor Israel Kaplan, dem Imperativ des Sammelns und Dokumentierens folgend, erstmals mit einem Aufruf an die jüdische Öffentlichkeit, in dem er eine weite Spannbreite an Dokumenten auflistete, mit denen sich die DPs an der Beschreibung ihrer traumatischen Geschichte beteiligen sollten.16 Bereits in der ersten Nummer der historischen Zeitschrift Fun letstn khurbn (Von der letzten Zerstörung), erschienen im August 1946, konnten Ergebnisse der bisherigen Arbeit vorgewiesen werden: Auf 36 Seiten präsentierten die Heraus-
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Plakat „Helft shraybn di geshikhte fun letstn khurbn“ („Helft mit, die Geschichte der jüngsten Zerstörung zu schreiben“), Pinkas Schwarz, München 1947. Dieser Entwurf gewann einen von der Historischen Kommission in der amerikanischen Besatzungszone ausgerufenen grafischen Wettbewerb. Das Poster sollte mithelfen, Überlebende aufzurufen, ihre Erinnerungen und Dokumente zu der Zeit des Überlebens zu sammeln und zu teilen. Jüdisches Museum Berlin
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geber Aufsätze über die praktische Arbeit und die Zielsetzung der Kommission, eine Bibliografie und einen Tätigkeitsbericht, den ersten Teil einer historischen Arbeit über das Ghetto in Wilna, eine Auswahl von Augenzeugenberichten, während des Holocaust verfasste Gedichte, sowie nationalsozialistische Dokumente und Fotografien. Kaplan stellte auch eine erste Auswahl von Redensarten aus Ghetto und KZ – einer eigentlichen Geheimsprache – vor, die er später in Buchform unter dem Titel Dos folks-moyl in natsi-klem (Der Volksmund im Würgegriff der Nazis) veröffentlichte.17 Erklärtes Ziel der Zeitschrift war es, die DPs dazu anzuregen, sich mit ihren Erinnerungen, Dokumenten und musealen Objekten an der Dokumentation des Holocaust zu beteiligen. Denn welcher Ort war geeigneter für die Sammlung von Material als die DP-Camps? Israel Kaplan merkte 1947 auf der Konferenz der jüdischen Historischen Kommissionen in Deutschland an, dass Geschichte jedem DP auf der Zungenspitze liege: „Man braucht nur ein Ohr zu haben. Lasst uns sammeln – retten!“ In den DP-Lagern lebten die Überlebenden zusammen und konnten ihre Erinnerungen miteinander vergleichen. Nach der Auflösung dieser Schicksalsgemeinschaft konnte auf dieses Reservoir kollektiver Erfahrung nicht mehr so leicht zurückgegriffen werden.18 In der Realität erwies es sich jedoch nicht immer als einfach, die DPs zur Mitarbeit zu bewegen. Die Historischen Kommissionen begannen daher, mit einer systematischen Kampagne an das moralische Gewissen der Überlebenden zu appellieren. Nicht nur mit Sammelaufrufen in ihrer Zeitschrift, sondern auch mit regelmäßigen Anzeigen in der Presse, durch Plakate und Flugblätter wurden die DPs zur Mitarbeit an diesem nationalen Dokumentationsprojekt aufgefordert. 1947 schrieb die Zentrale Historische Kommission in München sogar einen künstlerischen Wettbewerb für die Gestaltung eines Werbeplakats aus.19 Einer der beiden Gewinner war der junge Künstler Pinchas Schwarz (später hebraisierte er seinen Namen zu Shaar). Auf seinem Entwurf, der in Farbe gedruckt in den Räumlichkeiten der Kommission an der Möhlstraße und in verschiedenen DP-Lagern aufgehängt wurde, ist der Oberkörper eines Toten zu sehen. Auf der Pergamentrolle, die sich über seiner nackten Brust entrollt, sind die ersten Worte des biblischen Buches Esther zu lesen: „Und es begab sich in jenen Tagen...“ Federkiel und Tinte stehen bereit, .um die Geschichte von Verfolgung und Befreiung bis in die Gegenwart fortzuschreiben. „Helft mit, die Geschichte der jüngsten Zerstörung zu schreiben“, wird in großen Buchstaben gefordert. Bemerkenswert ist nicht nur die suggestive Kraft des Bildes, sondern auch die Motivgeschichte. Als Vorlage für den nackten Torso diente eine Fotografie des Łódźer Ghetto-Fotografen Mendel Grossman, die einen Hungertoten zeigt. Grossman und Schwarz waren enge Freunde gewesen und hatten
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kurz vor Kriegsausbruch an gemeinsamen Projekten zu arbeiten begonnen. Als ihre Deportation aus dem Ghetto bevorstand, versteckten sie zehntausende Negative, einige hundert Abzüge und die Leica, mit der Grossman das Leben und Leiden im Ghetto dokumentiert hatte. Grossman selbst überlebte den Krieg nicht, doch Schwarz kehrte nach seiner Befreiung nach Łódź zurück, wo er einen Teil der noch erhaltenen Abzüge an sich nehmen konnte. Darunter war auch die Fotografie, nach der er das Plakat gestaltete.20 Zusammen mit zehn weiteren bildenden Künstlern war Schwarz in einer Gruppe organisiert, die sich als eigene Sektion dem Schriftstellerverband angeschlossen hatte. Der Mangel an Mal- und Zeichenmaterial erschwerte ihre Arbeit. Ungewöhnlicheres Arbeitsmaterial, etwa eine größere Menge Gips für die Herstellung einer Herzl-Büste, war kaum zu beschaffen. Von langer Hand musste auch eine eigene Kunstausstellung in München geplant werden. Im Herbst 1948 konnten schließlich eine Künstlerin und vier Künstler insgesamt 165 Werke unterschiedlichster Technik in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus präsentieren. Unter den ausgestellten Werken von Schwarz befanden sich auch Bühnenbildmodelle, die er für das jiddische Theater im DP-Camp Feldafing und das Münchener Jiddische Theater gestaltet hatte. Ein Rezensent hob seine Begabung hervor, kritisierte aber, dass er sich allzu vielseitig betätige. Doch war gerade das Engagement in unterschiedlichen Bereichen charakteristisch für die kleine Gruppe gesellschaftlich aktiver Kulturschaffender letztlich.21 In Feldafing, dem ersten rein jüdischen DP-Lager, probten die Gründungsmitglieder des Dramatischen Kreises „Amcho“ zunächst in einem Kellerraum. Es entstand eine bunte Revue, in der erinnerte Dialoge, Liedzeilen und Geschichten in neuer Form zusammenflossen. Die Texte mussten aus dem Gedächtnis rekonstruiert werden, es gab kaum geeignete Requisiten und die Schauspieler verfügten oftmals über genauso wenig Theatererfahrung wie das Publikum. Insofern gab es zu dieser Form oft loser Nummernfolgen kaum eine Alternative. Sie bot gleichzeitig ein entferntes Echo der jiddischen Kleinkunst. Mit diesem Genre, einer Art Cabaret mit Tanz und Liedern, satirischen Sketchen und Nummern, hatte das jiddische Theater im Polen der Zwischenkriegszeit Erfolge gefeiert. Viele der kleineren Laiengruppen – schätzungsweise sechzig Ensembles gab es in den westlichen Besatzungszonen insgesamt – führten Szenen des gefeierten Schauspieler-Duos Dzigan und Schumacher und der Kleinkunstbühnen Ararat und Azazel auf. Sie griffen in eigenen Produktionen aber auch in satirischer Manier neue Themen auf, darunter die Lebensbedingungen in den DP-Lagern.22 Als professionelles Theater etablierte sich das Münchener Jüdische Theater. Gegründet in Niederschlesien von Schauspielern aus der Schule des großen Schlomo Michoels, die in der Sowjetunion überlebt hatten, wurde es mitsamt einem Teil seiner Requisiten von der Fluchthilfeorganisation Bricha nach
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Deutschland transferiert. In München stießen weitere ausgebildete Schauspieler zum Ensemble, das in den folgenden Jahren unter der künstlerischen Leitung von Israel Becker und Aleksander Bardini versuchte, sein Programm nicht zuletzt nach didaktischen Kriterien zusammenzustellen. Aufgeführt wurden sowohl Stücke aus dem klassischen jiddischen Repertoire als auch neue Produktionen. Da die DPs bisher kaum geübte Theaterbesucher waren, wurden die Tourneen durch ein Rahmenprogramm mit Vorträgen, Diskussionsrunden und literarischen Veranstaltungen zu den Stücken begleitet. Sogar eine Theaterakademie mit eigenem Curriculum war geplant. Realisiert wurde diese Ausbildungsstätte für Laienschauspieler jedoch nicht.23 Die Truppe in München führte 1947 die Holocaust-Tragödie Ikh leb (Ich lebe) von Moyshe Pintshevsky auf. Die Wahl war nicht ohne Grund auf ein Stück gefallen, das von den Vernichtungslagern handelte. Zu diesem Zeitpunkt stellten polnische Juden, die aus der Sowjetunion repatriiert worden waren, die Mehrheit der DPs in der Besatzungszone. Für sie, die oft erst nach ihrer Rückkehr das Ausmaß der Katastrophe zu begreifen begannen, sollte dieses Stück aufklärend wirken. Lucy Schildkret (die später als Lucy Dawidowicz bekannt gewordene Historikerin), die damals für den JDC in Deutschland tätig war, berichtete in einem privaten Brief von einem Gespräch mit dem Regisseur und ihrem Theaterbesuch in München: „Sie wissen nicht, wie es in den Todeslagern zuging [...] Daher wurde gerade dieses Stück aufgeführt. Es ging dabei gewissermaßen darum, ‚dass wir niemals vergessen mögen‘. Das Theater selbst, ein recht ehrwürdiger deutscher Bau, war brechend voll. Ich würde schätzen, dass mindestens 1000 Menschen gekommen waren, vielleicht mehr. Es wurde die ganze Zeit viel geschluchzt und geweint.“24 Besonders in den Inszenierungen der Laienspielgruppen verband sich Theater mit Musik. Das jiddische Theater, egal ob in Polen, den USA oder Argentinien hatte immer in enger Verbindung zu musikalischen Traditionen gestanden. Als im DP-Lager Feldafing zeitgleich mit dem jiddischen Theater ein Laienchor seine Proben aufnahm, war es ganz selbstverständlich, dass dessen Mitglieder auch bei der ersten Bühnenproduktion mitwirken würden. Avrom Yoakhimovitsh, der als Conférencier durch den Abend führte, stellte die Sängerinnen und Sänger als „Ersten jiddischen Chor in Bayern“ vor.25 Ausgebildete Musiker gab es dagegen nur wenige. Umso bemerkenswerter ist deshalb die Geschichte des späteren Repräsentanz-Orchesters des Zentralkomitees, das mit einem Repertoire aus klassischer und jüdischer Musik sowie mit hebräischen und jiddischen Volksliedern durch die Amerikanische Besatzungszone tourte – und 1948 sogar mit Leonard Bernstein auftreten konnte. Sein erstes Konzert gab dieses Ensemble nur wenige Wochen nach der Befreiung am 27. Mai 1945 in St. Ottilien. Ungefähr 800 Überlebende, die in St. Ottilien oder einem der unweit der befreiten Konzentrationslager eingerich-
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Das Ex-KZ-Orchester St. Ottilien gab zwischen 1945 − 1946 in gestreiften KZ-Uniformen Konzerte in München. Vorne steht geschrieben „Am Yisrael Chai“ (Die Nation Israels lebt). United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C., courtesy of Sonia Beker
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Purim im DP-Lager Feldafing 1946 − 1948. Hitler und Goebbels als bettelndes Leiherkasten-Duo. Der persische Regierungsbeamte Haman aus der Esther-Geschichte, der die Juden an einem Tag ermorden wollte, wurde nach 1945 im Purim-Spiel häufig durch einen Hitler-Darsteller verkörpert. United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C., courtesy of Allen Rezak
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Jiddisches Theater im DP-Lager Feldafing, 1947/48. Eine Aufführung von Tewje, basierend auf der 1894 erschienenen Serie von Kurzgeschichten Tewje, der Milchmann von Scholem Alejchem. Das Foto stammt aus der Sammlung der Schauspielerin Leah Fischer (dritte von rechts). United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C., courtesy of Leah Zynger Fisher-Lee
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teten DP-Camps versorgt wurden, saßen im Publikum. Außerdem waren auch Vertreter der Militärregierung und Delegierte der UNRRA zugegen. Der offizielle Teil des Abends wurde mit Griegs Triumphmarsch eröffnet. Es folgte eine bewegende und für die Entstehung der Selbstorganisation der befreiten Juden wegweisende Rede des Arztes und künftigen Vorsitzenden des Zentralkomitees der befreiten Juden, Zalman Grinberg. Im weiteren Verlauf des Konzerts – es handelte sich um die erste kulturelle Veranstaltung für die DPs in Deutschland überhaupt – wurden neben zwei Sätzen von Bizet und Solveigs Lied von Grieg unter anderem auch jüdische Volkslieder aufgeführt.26 Die Lieder intonierte die Sängerin Henia Durmaschkin, die auch in den folgenden Jahren als Solistin mit dem Orchester auftrat. Ihre Schwester, die Pianistin Fania Durmaschkin gehörte ebenfalls dem kleinen Orchester an. Beide hatten, wie einige weitere Musiker des Repräsentanz-Orchesters, dem Orchester angehört, das ihr Bruder, der umgekommene Komponist Wolf Durmaschkin im Ghetto Kaunas geleitet hatte. Zum Repertoire der Sängerin gehörten neben Volksliedern auch Lieder aus dem Ghetto. Zwei davon standen auch bei einem Konzert im Nürnberger Opernhaus, das für die Mitglieder des internationalen Militärtribunals und die Prozessbesucher veranstaltet wurde, auf dem Programm. Das Opernhaus war wiederholt zur Verbreitung nationalsozialistischer Propaganda genutzt worden, und die Musiker inszenierten ihren dortigen Auftritt als öffentlichkeitswirksamen Appell an das Weltgewissen: Das Orchester trat in gestreiften Uniformen auf und kündigte sich als „Ex-Concentration Camp-Orchestra“ an.27 Nach der Gründung des Staates Israel 1948 konnten die DP-Lager nach und nach geschlossen werden. In dieser chaotischen Zeit der „Liquidierung“, wie die DPs die Auflösung sämtlicher Einrichtungen nicht ohne Ironie bezeichneten, wurden die kulturellen Aktivitäten nur noch minimal weitergeführt. 1949 wurden die Berufsverbände aufgelöst und ihre Mitglieder nicht weiter finanziert. Natürlich hatten auch die Künstler und Kulturschaffenden die Auflösung dieses Provisoriums ersehnt. Doch während das Archiv der Historischen Kommission nach Israel verschifft werden konnte, wurde mit einigem, was jüdische Kultur in Deutschland ausgemacht hatte, achtlos verfahren. So wurde das Inventar des Repräsentanztheaters in einem Innenhof an der Möhlstraße aufgehäuft. In einem Akt von Galgenhumor hatte jemand ein Werbeplakat für eine der erfolgreichsten Produktionen des Ensembles, Di Hofenung (Die Hoffnung), an den achtlos weggeworfenen Requisiten befestigt.28 Nach der Emigration erfüllte sich die Hoffnung der Kulturschaffenden, sich weiter ganz der künstlerischen Arbeit widmen zu können, nur zum Teil. In vielen Fällen verliert sich die Spur derjenigen, die es sich allen Umständen zum Trotz zur Aufgabe gemacht hatten, die Reste einer untergegangenen Kultur am Leben zu erhalten. Doch ist es ihnen zu verdanken, dass die Schicksals- und
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Erinnerungsgemeinschaft der jüdischen Displaced Persons vorübergehend ein Stück Normalität und kulturelle Autorität zurückerlangen konnten. 1
Den Künstlernamen Chim, abgeleitet von seinem Nachnamen, wählte Szymin Anfang der 1930er Jahre in Paris. Seit 1939 lebte der Fotograf und Mitbegründer der Fotoagentur Magnum in New York. Er erhielt 1943 die amerikanische Staatsbürgerschaft und nahm offiziell den Namen David Robert Seymour an. 2 Young, Cynthia: We Went Back. Photographs from Europe 1933 − 1956 by Chim. Young, Cynthia (Hrsg.): We Went Back. Photographs from Europe 1933 − 1956 by Chim. München: Prestel, 2013, 46f.; Cohen, Roger: Actual Responsibility. Young (Hrsg.): We Went Back, 56 − 58. 3 Fun der redaktsye. Tkhies hameysim Nr. 1 vom 4.5.1945, 6; Szeintuch, Yechiel: „Tkhies hameysim” – ha-iton ha-rischon schel sche’erit ha-peleta ve-orecho. Khulyot 10 (2006), 191 − 218. 4 Shafir, Shlomo: Ha-„Nitsots“ sche-lo kava. Kescher 9 (1991), 52 − 57; Ayin-Yud: Mi-hektograf le-linotip. Nitsots 13 (80) (11 July 1947), 1 − 2; Mankowitz, Zeev W.: Life between Memory and Hope. The Survivors of the Holocaust in Occupied Germany. Cambridge: Cambridge University Press 2002, 30f. 5 Tsamriyon, Tsemach Mosche: Ha-itonut schel sche’erit ha-peleta be-Germania ke-bitui le-va’ajoteha. Tel Aviv: Irgun Sche’erit Hapleta, 1970, 95. 6 Lewinsky, Tamar: Displaced Poets. Jiddische Schriftsteller im Nachkriegsdeutschland, 1945 − 1951. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008, 33f. 7 Lewinsky: Displaced Poets, 35f. 8 Lewinsky: Displaced Poets, 147 − 150; Holian, Anna: Die Möhlstraße und der Wiederaufbau jüdischen Wirtschaftslebens in Nachkriegsdeutschland. Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur 12.1 (2018), 23 − 34. 9 Lewinsky: Displaced Poets, 147 − 150. 10 Mendelsohn, Ezra: On Modern Jewish Politics. New York: Oxford University Press, 1993, 30, 57; Lewinsky, Tamar: Kultur im Transit. Osteuropäisch-jüdische Displaced Persons. Osteuropa 8 − 10 (2008), 268 − 270. 11 Segev, Tom: One Palestine Complete. New York: Metropolitan Books, 2000, 263 − 269. 12 Lewinsky: Displaced Poets, 68f. 13 Harshav, Benjamin: Erinnerungsblasen. Lewinsky, Tamar (Hrsg.): Unterbrochenes Gedicht. Jiddische Literatur in Deutschland 1944 − 1950. München: Oldenbourg, 2011, VIII. 14 Aus: Vorzoger, Shloyme: Zayn. Lider. München: Nayvelt, 1948, 35. Übersetzung in Lewinsky (Hrsg.): Unterbrochenes Gedicht, 11. 15 Siehe den Beitrag von Elisabeth Gallas. 16 Jockusch, Laura: Collect and Record. Jewish Holocaust Documentation in Early Postwar Europe. New York: Oxford University Press 2012, 128f.; Kaplan, Israel: Zamlen un fartseykhenen. Unzer veg Nr. 12 vom 21.12.1945, 3. 17 Fun letstn khurbn 1 (1946); Kaplan, Israel: Dos folks-moyl in natsi-klem. reydenishn in geto un katset. München: Tsentrale historishe komisye, 1949. 18 Jockusch: Collect and Record, 140. Zitat aus: Kaplan, Israel: In der tog-teglekher historisher arbet. Fortrag gehaltn af dem tsuzamenfor fun di historishe komisyes. München: Tsentrale historishe komisye, 1947, 24. 19 Jockusch: Collect and Record, 141 − 145. 20 Shaar, Pinchas: Mendel Grossman. Photographic Bard of the Lodz Ghetto. Shapiro, Robert Moses (Hrsg.): Holocaust Chronicles. Individualizing the Holocaust Through Diaries and Other Contemporaneous Personal Accounts. Hoboken, N.J.: KTAV, 1999, 125 − 140, bes. 131f., 134. Die Negative und die Kamera brachte die Schwester des Verstorbenen nach Palästina, wo sie in den Wirren des Unabhängigkeitskrieges für immer verschwanden. Das Originalfoto befindet sich heute in Yad Vashem.
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Künstlerverband an Philipp Auerbach, 28.1.1948, YIVO RG 294.2, Folder 1348; Korrespondenz der Künstlerabteilung mit dem Bayerischen Staatsministerium des Inneren, 11.3.1948, YIVO RG 294.2, Folder 1348; Protokollbuch des Schriftstellerverbandes, Protokolle vom 21.4.1947 und 29.5.1947, YIVO RG 294.2, Folder 1343; Oysshtelung fun yidishe kinstler. München: [Kulturamt beim ZK der befreiten Juden in der US-Zone], 1948; Eckstein, Hans: Ausstellung jüdischer Künstler. Süddeutsche Zeitung Nr. 114 vom 11.12.1948, 2. 22 Yoakhomovitsh, Avrom: Vi azoy s’iz antshtanen der dram.-krayz „Amcho“. Dram. krayz „Amcho“ baym yidishn arbeter-komitet in Feldafing (Hrsg.): Ilustrirter yoyvl-zhurnal. Feldafing, 1946, 16. 23 Horovits, Norbert: Yidish teater in der sheyres hapleyte. Fun noentn over, Bd. 1. New York: Congress for Jewish Culture, 1955, 114 − 117; Giere, Jacqueline: Wir sind unterwegs. Aber nicht in der Wüste. Erziehung und Kultur in den Jüdischen Displaced Persons-Lagern der Amerikanischen Zone im Nachkriegsdeutschland 1945 − 1949. Frankfurt/Main, Univ.-Diss., 1993, 198. 24 Lucy Schildkrecht, Brief vom 17.11.1946, American Jewish Historical Society P-675, box 55, folder 3. Siehe auch Lewinsky: Displaced Poets, 166 − 167. 25 Shteynman: Di antshteyung un tetikayt fun khor. Ilustrirter yoyvl-zhurnal, 10. Fingerhut, L.: Nokhn khurbn. Ilustrirter yoyvl-zhurnal, 8. 26 Mankowitz: Life between Memory and Hope, 30f.; Königseder, Angelika; Wetzel, Juliane: Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland. Frankfurt/Main: Fischer, 1994, 81 − 85; Gar, Yoysef: Bafrayte yidn. Fun noentn over, Bd. 3. New York: Congress for Jewish Culture, 1957, 186f.; Programme of the Liberation-concert Hospital for political ex-prisoners in Germany in St. Ottilien. http://dphospital-ottilien. org/concert/ (9.11.2018). 27 Werb, Bret: „Vu ahin zol ikh geyn?“: Music Culture of Jewish Displaced Persons. Frühauf, Tina; Hirsch, Lily E. (Hrsg.): Dislocated Memories: Jews, Music, and Postwar German Culture. New York: Oxford University Press, 2014, 87f.; Wolf Durmashkin Award. https://wdc-award. org/?page_id=2 (18.6.2018); Programmheft des Jewish Ex-Concentration Camp Orchestra. Archiv des Jüdischen Museums Berlin, Inv.-Nr. 2015/367/1. 28 Volf, M.: A sheyres-hapleyte tog-bukh. Naye yidishe tsaytung Nr. 5 vom 8.12.1950, [Seitenzahl konnte nicht verifiziert werden].
literatur Ayin-Yud: Mi-hektograf le-linotip. Nitsots 13 (80) (11 July 1947), 1 − 2. / Cohen, Roger: Actual Responsibility. Young, Cynthia (Hrsg.): We Went Back. Photographs from Europe 1933 − 1956 by Chim. München: Prestel, 2013, 53 − 59. / Eckstein, Hans: Ausstellung jüdischer Künstler. Süddeutsche Zeitung Nr. 114 vom 11.12.1948, 2. / Fingerhut, L.: Nokhn khurbn. Dram. krayz „Amcho“ baym yidishn arbeter-komitet in Feldafing (Hrsg.): Ilustrirter yoyvl-zhurnal. Feldafing, 1946, 8. / Fun der redaktsye. Tkhies hameysim Nr. 1 vom 4.5.1945, 6. / Gar, Yoysef: Bafrayte yidn. Fun noentn over, Bd. 3. New York: Congress for Jewish Culture, 1957, 77 − 188. / Giere, Jacqueline: Wir sind unterwegs. Aber nicht in der Wüste. Erziehung und Kultur in den Jüdischen Displaced Persons-Lagern der Amerikanischen Zone im Nachkriegsdeutschland 1945 − 1949. Frankfurt/Main, Univ.-Diss., 1993. / Harshav, Benjamin: Erinnerungsblasen. Lewinsky, Tamar (Hrsg.): Unterbrochenes Gedicht. Jiddische Literatur in Deutschland 1944 − 1950. München: Oldenbourg, 2011, VII − IX. / Holian, Anna: Die Möhlstraße und der Wiederaufbau jüdischen Wirtschaftslebens in Nachkriegsdeutschland. Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur 12.1 (2018), 23 − 3 4. / Horovits, Norbert: Yidish teater in der sheyres hapleyte. Fun noentn over, Bd. I. New York: Congress for Jewish Culture, 1955, 113 − 1 82. / Jockusch, Laura: Collect and Record. Jewish Holocaust Documentation in Early Postwar Europe. New York: Oxford University Press 2012. / Kaplan, Israel: Zamlen un fartseykhenen! Unzer veg Nr. 12 vom 21.12.1945, 3. / Kaplan, Israel: In der tog-teglekher historisher arbet. Fortrag gehaltn af dem tsuzamenfor fun di historishe komisyes. München: Tsentrale histo-
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rishe komisye, 1947. / Kaplan, Israel: Dos folks-moyl in natsi-klem. reydenishn in get.o un k.atset.. München: Tsentrale historishe komisye, 1949. / Königseder, Angelika; Wetzel, Juliane: Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland. Frankfurt/Main: Fischer, 1994. / Lewinsky, Tamar: Displaced Poets. Jiddische Schriftsteller im Nachkriegsdeutschland, 1945 − 1951. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008. / Lewinsky, Tamar: Kultur im Transit. Osteuropäisch-jüdische Displaced Persons. Osteuropa 8 − 1 0 (2008), 265 − 277. / Mankowitz, Zeev W.: Life between Memory and Hope. The Survivors of the Holocaust in Occupied Germany. Cambridge: Cambridge University Press 2002. / Mendelsohn, Ezra: On Modern Jewish Politics. New York: Oxford University Press, 1993. Oysshtelung fun yidishe kinstler. München: [Kulturamt beim ZK der befreiten Juden in der US-Zone], 1948. / Segev, Tom: One Palestine Complete. New York: Metropolitan Books, 2000. / Shaar, Pinchas: Mendel Grossman. Photographic Bard of the Lodz Ghetto. Shapiro, Robert Moses (Hrsg.): Holocaust Chronicles. Individualizing the Holocaust Through Diaries and Other Contemporaneous Personal Accounts. Hoboken, N.J.: KTAV, 1999, 125 − 140. / Shafir, Shlomo: Ha-„Nitsots“ sche-lo kava. Kescher 9 (1991), 52 − 57. / Shteynman: Di antshteyung un tetikayt fun khor. Dram. krayz „Amcho“ baym yidishn arbeter-komitet in Feldafing (Hrsg.): Ilustrirter yoyvl-zhurnal. Feldafing, 1946, 10. / Szeintuch, Yechiel: „Tkhies hameysim” – haiton ha-rischon schel sche’erit ha-peleta ve-orecho. Khulyot 10 (2006), 191 − 218. / Tsamriyon, Tsemach Mosche: Ha-itonut schel sche’erit ha-peleta be-Germania ke-bitui le-va’ajoteha. Tel Aviv: Irgun Sche’erit Hapeleta, 1970. / Volf, M.: A sheyres-hapleyte tog-bukh. Naye yidishe tsaytung Nr. 5 vom 8.12.1950, [Seitenzahl konnte nicht verifiziert werden]. / Werb, Bret: „Vu ahin zol ikh geyn?“: Music Culture of Jewish Displaced Persons. Frühauf, Tina; Hirsch, Lily E. (Hrsg.): Dislocated Memories: Jews, Music, and Postwar German Culture. Oxford: Oxford University Press, 2014, 75 − 98. / Yoakhomovitsh, Avrom: Vi azoy s’iz antshtanen der dram.krayz „Amcho“. Dram. krayz „Amcho“ baym yidishn arbeter-komitet in Feldafing (Hrsg.): Ilustrirter yoyvl-zhurnal. Feldafing, 1946, 16. / Young, Cynthia: We Went Back. Photographs from Europe 1933 − 1956 by Chim. Young, Cynthia (Hrsg.): We Went Back. Photographs from Europe 1933 − 1956 by Chim. München: Prestel, 2013, 31 − 51.
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DAS KATSET-TEATER
IM DP-LAGER BERGEN-BELSEN WERNER HANAK
Vor einigen Jahren erhielt das Jüdische Museum Frankfurt ein Fotoalbum als Dauerleihgabe. Es zeigt Szenen des Katset-Teaters, eines 1945 gegründeten jiddischen Theaterprojekts im DP-Lager Bergen-Belsen. Eine genauere Untersuchung verrät, dass zwar die Fotos zumeist Originalabzüge sind, das Erinnerungsalbum jedoch aus späterer Zeit stammt. Darauf verweisen nicht zuletzt der englische, an ein internationales Publikum gerichtete Stempel „Concentration Camp Theater of the Central Jewish Committee of Bergen Belsen“ und der israelische Adresstempel auf der Rückseite eines Fotos des Theatergründers Sami Feder, der dort erst 1962 ankam. Sami Feder war 1909 im oberschlesischen Zawiercie auf die Welt gekommen, nach dem Ersten Weltkrieg zog er zu seinem Großvater nach Frankfurt am Main und schloss hier die Mittelschule ab. In Frankfurt bewegte er sich in polnisch-jüdischen Emigrantenzirkeln, begann sich für die jiddische Sprache, Literatur und auch das Theater zu interessieren. Nach seinem Umzug nach Berlin professionalisierte er seine Ambitionen sowohl in jiddischen Theatergruppen als auch beim Theatermacher Erwin Piscator.1 1945 wurde Feder im Konzentrationslager Bergen-Belsen befreit, nachdem er zwölf Konzentrations- und Arbeitslager überlebt hatte. In Bergen-Belsen traf er Theaterleute wie Sonia Boczkowska, mit denen er bereits in Gefangenschaft zusammengearbeitet hatte und nun eine Theatergruppe sowohl für Profischauspieler als auch talentierte Laien gründete. Zuerst rekonstruierten sie Stücke, Lieder oder Gedichte aus dem Gedächtnis, später erhielten sie wieder Zugriff auf die Theaterliteratur. Die Fotografien aus dem Album geben vor allem Szenen aus dem ersten und zweiten Kleinkunstprogramm vom September 1945 und Februar 1946 wieder. Das Programm bot den Überlebenden Zugang zu den jiddischen Klassikern und die Möglichkeit einer ersten künstlerischen Verarbeitung der gerade überlebten Zeit. Besonders wichtig war es den Theaterschaffenden, auch die sogenannten „Infiltrees“, die in der Sowjetunion überlebt hatten und nach ihrer Rückkehr nach Polen ab 1946 in die amerikanische und britische Zone flohen, mit diesen dokumentarischen Theaterabenden, die Stoffe aus den Ghettos, Konzentrations- und Todeslagern thematisierten, zu konfrontieren. 1
Siehe Fetthauer, Sophie: Musik und Theater im DP-Camp Bergen-Belsen. Zum Kulturleben der jüdischen Displaced Persons 1945 − 1950. Neumünster: von Bockel, 2012, 222.
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Der spätere Stempel des Katset-Teaters, Israel, 1960er Jahre. Das Katset-Teater in Bergen-Belsen spielte vom Sommer 1945 bis zum Sommer 1947 zehn Kleinkunstprogramme und 47 Theateraufführungen. Dieser englische Stempel entstand retrospektiv. Er zeigt zwei Theatermasken und eine Lyra von einem Stacheldrahtzaun umrandet, auf dessen Tor in hebräischen Lettern „Katset-Teater“ steht. Das Tor gibt den Blick auf eine Lagerbaracke frei.
Fotoalbum Katset-Teater im DP-Camp Bergen-Belsen, Fotos 1946/47, Israel, nach 1962. Jüdisches Museum Frankfurt, Dauerleihgabe Privatsammlung, Frankfurt am Main
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Szenenfoto aus Der Goel (Der Erlöser) aus dem ersten Kleinkunstprogramm des Katset-Teaters, September 1945. Der Goel ist der erste Akt aus dem in den 1920er Jahren erschienenen Drama Die Jagd Gottes von Emil Bernhard Cohn. Feder hatte die Dialoge für diese Aufführung aus dem Gedächtnis rekonstruiert.
DAS KATSET-TEATER IM DP-LAGER BERGEN-BELSEN
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Gruppenfoto des Katset-Teaters vor einer Konzentrationslager-Kulisse mit der Aufschrift „Eine Laus – dein Tod“. Der Theatergründer Sami Feder findet sich in der zweiten Reihe (dritter von links), seine spätere Frau Sonia Boczkowska sitzt rechts neben ihm, der Bühnenbildner Berl Friedler direkt unter ihm in der ersten Reihe (dritter von links). Katset-Teater im DP-Camp Bergen-Belsen, Fotos 1946/47, Album nach 1962.
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Sonia Boczkowska in Shikh (Schuhe), nach dem dramatisierten Gedicht Kh’hob gezen a barg... von Moses Schulstein. Das Bühnenbild zeigt einen Berg von Schuhen, an dessen Spitze das Wort Majdanek zu finden ist. Der Berg Schuhe, der, wie es im Gedicht heißt, „höher als der Mont Blanc und heiliger als der Berg Sinai ist“,
ist eine frühe künstlerische Auseinandersetzung mit den Hinterlassenschaften der ermordeten Jüdinnen und Juden in den Todeslagern. Der Berg der Schuhe sollte nicht zuletzt durch die Dauerausstellung des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau zu einer weltweit bekannten Ikone der Schoa werden.
DAS KATSET-TEATER IM DP-LAGER BERGEN-BELSEN
Di shvartse Sonya – Totenkolonne. Dieses Stück von Sami Feder erzählt von Partisanen, die eine Häftlingskolonne retten wollen, und brachte die Baracken der Konzentrationslager wieder auf die Bühne.
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Die Tanznummer Der yid der eybiker vanderer (Der Jude der ewige Wanderer) mit Dolly Kotz nach David Pinskis Einakter von 1906. Inmitten einer plastischen europäischen Landkarte brachte die Tänzerin den Stoff in die Gegenwart der DPs.
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FRAGMENTE EINER VERLORENEN WELT
ZUR RETTUNG UND RESTITUTION JÜDISCHER KULTURGÜTER IN DER NACHKRIEGSZEIT ELISABETH GALLAS Die Vernichtung der europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs ging mit der systematischen Zerstörung der jüdischen Kulturlandschaft in Europa und einem in seinem Ausmaß präzedenzlosen Transfer von Kulturgütern einher. Unzählige Bibliotheks- und Archivbestände, Kunstwerke und Ritualgegenstände mussten bei der Flucht oder Deportation zurückgelassen werden, wurden zweckentfremdet oder zerstört beziehungsweise verschwanden in staatlichen Institutionen und privaten Haushalten. Nur selten konnten sie von ihren Eigentümern an die Exilorte mitgenommen oder nach dem Krieg gerettet werden. Innerhalb weniger Jahre hatten die Nazis die über Jahrhunderte erwachsene materielle Kultur der europäischen Juden vollständig zunichte gemacht. Daher befinden sich heute jiddische Zeitungen aus Wilna in New York, Bibliothekssammlungen aus Berlin in Moskau, rabbinische Schriften aus Breslau in Mexiko Stadt, Gemeindeakten aus Wien in Jerusalem und Silberleuchter aus Frankfurt in London. Allerdings ist diese neue Topografie des jüdischen Kulturerbes nicht nur auf die – oftmals mehrfachen – Verschleppungen der betreffenden Gegenstände im Krieg und unmittelbaren Nachkrieg zurückzuführen, die in vielen Fällen kaum mehr eindeutig nachzuvollziehen sind. Sie geht auch auf die unmittelbar nach Kriegsende einsetzenden Aktivitäten jüdischer Interessenvertreter zurück, die sich mit großem Engagement der Rettung jüdischer Kulturgüter annahmen. Angesichts der gesamteuropäischen Reichweite des Verbrechens ist auch die Geschichte der Rettung des noch auffindbaren Raubguts eine transnationale, die ganz Europa umspannt. Sie ist eng verknüpft mit der Politik der Alliierten und verweist auf die für das jüdische Leben zu dieser Zeit entscheidende enge Zusammenarbeit jüdischer Organisationen mit den vier Besatzungsmächten, allen voran mit den Amerikanern. Dabei spielte die beginnende Blockkonfron-
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tation eine wichtige Rolle, da sich die Restitutions- und Wiederaufbaupolitik und die ihr zugrundeliegenden rechtlichen Bestimmungen in Ost und West teilweise deutlich unterschieden. Den beteiligten jüdischen Interessenvertreterinnen und -vertretern ging es allerdings um weit mehr als die bloße Bewahrung der auffindbaren Überreste des zerstörten jüdischen Kulturlebens. Die Geschichte dieser Rettung spiegelt vielmehr wesentliche Fragen wider, die sich mit Blick auf eine mögliche weitere jüdische Existenz in Europa nach der Katastrophe des Völkermords stellten, und sie zeugt von den unterschiedlichen Zukunftsvisionen der beteiligten jüdischen Akteure. Diese reichten vom angestrebten Wiederaufbau einer kulturellen Infrastruktur vor Ort bis zum umfassenden Transfer aller beweglichen Kulturgüter in die außerhalb Kontinentaleuropas gelegenen neuen Zentren jüdischen Lebens. Mit Blick auf die bestmögliche Verteilung bestand allerdings Uneinigkeit: Kam für die einen nur Palästina/Israel als neues Zentrum jüdischer Kultur in Frage, stand für andere eine modifizierte Fortentwicklung der jüdischen Diaspora, insbesondere in den Vereinigten Staaten, im Mittelpunkt. Zudem haben diese Vorgänge die Ausbildung individueller und kollektiver Formen des Gedenkens an den Holocaust maßgeblich beeinflusst. Als Gedächtnisträger, die die Geschichte ihrer vormaligen Eigentümer und die Wissens- und Traditionsbestände des europäischen Judentums konservierten, prägten die materiellen Überreste der zerstörten jüdischen Lebenswelt die im Entstehen begriffene jüdische Gedenkkultur inner- und außerhalb Europas entscheidend. Wichtige Aspekte dieser immensen kulturellen Neuordnung nach 1945 lassen sich anhand der Geschehnisse an zwei Orten besonders gut nachvollziehen, die geradezu emblematisch für die Vorgänge von Raub und Restitution und die Bedingungen der Möglichkeit von Wiederaufbau und Neuanfang in Europa stehen: zum einen Frankfurt am Main (und das benachbarte Offenbach), zum anderen Prag. Beide waren vor dem Nationalsozialismus Zentren jüdischen Kultur- und Bildungslebens, wurden unter der NS-Herrschaft zu Mittelpunkten des Raub- und Plünderungsgeschehens und standen schließlich im Mittelpunkt der Restitutionsaktivitäten der Nachkriegszeit.
FRANKFURT UND OFFENBACH Frankfurt hatte sich über Jahrhunderte hinweg zu einem kulturellen, religiösen und geistigen Zentrum der deutschen und europäischen Judenheiten entwickelt und beherbergte vor dem Krieg bedeutsame Buch-, Ritualobjekt- und Kunstsammlungen jüdischer Provenienz, darunter etwa das Museum jüdischer Altertümer und die Sammlung Aron Freimanns sowie die der israelitischen Religionsgesellschaft. Es verwundert daher nicht, dass sich 1941 mit dem von
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Alfred Rosenberg geleiteten Institut zur Erforschung der Judenfrage eine der notorischsten am nationalsozialistischen Kulturraub beteiligten Einrichtungen gerade hier etablierte. Innerhalb kürzester Zeit verfügte sie über etwa eine halbe Million im gesamten besetzten Europa geraubte Bücher und Archivalien, die seine Mitarbeiter für antisemitische Forschungszwecke missbrauchten. Am 9. April 1945 entdeckten zwei Angehörige der sogenannten Monuments, Fine Arts, and Archives-Einheit der amerikanischen Armee, die bereits während des Kriegs begonnen hatte, sich um die europaweiten Belange des Kunstund Denkmalschutzes zu kümmern, in der hessischen Kleinstadt Hungen ein Versteck mit mehreren hunderttausend Büchern und Dokumenten. Sie stammten aus dem Bestand des Rosenbergschen Instituts und waren zum Schutz vor Bombenangriffen aus der Stadt ausgelagert worden. Die unsachgemäß und chaotisch gelagerten Bände waren zeitweise der Witterung und wiederholten Plünderungen ausgesetzt gewesen und boten Zeitzeugen zufolge einen trostlosen Anblick. Der amerikanischen Journalistin Janet Flanner, die durch das kriegszerstörte Europa reiste und für den New Yorker berichtete, verdanken wir eine der frühesten Schilderungen verschiedener derartiger Funde, darunter auch der in (und um) Hungen: In einem Ziegeleiofen [der Schlossanlage] in der Stadt Hungen […] waren ungeheuer wertvolle jüdische Archivalien, Folianten und Ritualgegenstände aus ganz Europa versteckt, unter ihnen die Sammlungen der Amsterdamer Rosenthaliana und der Frankfurter Rothschilds. Der Ofen diente Rosenberg als Lager für jüdische Materialien, die er in seiner für die Nachkriegszeit in Planung befindlichen Universität einsetzen wollte. Dort sollte der Antisemitismus als exakte Wissenschaft gelehrt werden. Man fand dort illuminierte Ausgaben der Torah von unschätzbarem Wert, die zerschnitten worden waren, um aus dem Pergament Hüllen für die Schreibmaschinen der Nazistenografen bzw. Schuhe zu fertigen. Außerdem fanden sich dort tausende mit einem gelben „J“ versehene jüdische Ausweise, die einzig noch von der Existenz ihrer in den Krematorien der Nazis umgebrachten Inhaber zeugten.1 Ähnliches berichtete auch der amerikanische Militärrabbiner Herman Dicker, der kurz nach der Entdeckung dieser Bestände in Hungen eintraf und den verstörenden Ort in Anlehnung an die rituell in oder nahe der Synagoge eingerichteten Räume zur Aufbewahrung von unbrauchbar gewordenem sakralen Schriftgut als „Genisa“ beschrieb, allerdings als „Genisa mit Nazi-Färbung“.2 Etwa zur gleichen Zeit bargen amerikanische Soldaten außerdem die Restbestände im bombengeschädigten Frankfurter Institutsgebäude an der Bockenheimer Landstraße, wo etwa 900 bis 1000 Kisten mit Büchern aus
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Eine Seite aus dem Fotoalbum des amerikanisch-jüdischen Historikers Koppel Pinson. Die Fotos dokumentieren die Sortier-Arbeiten in der ehemaligen Rothschild-Bibliothek in Frankfurt und im Offenbach Archival Depot (OAD), 1945 − 1946. The Magnes Collection of Jewish Art and Life, University of California, Berkeley
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Koppel Pinson (vierter von links) mit seinen Kollegen vor dem Rothschild-Palais, wo sich die ehemalige Rothschild-Bibliothek befand, 1945 − 1946. Seit 1988 beherbergt das Palais das Jüdische Museum Frankfurt. Im Album wurde das Foto irrtümlich mit Offenbach bezeichnet. The Magnes Collection of Jewish Art and Life, University of California, Berkeley
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der Sowjetunion, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Deutschland zum Vorschein kamen. Diese wurden im Sommer 1945 zur Sicherung in das weitgehend intakt gebliebene Rothschild-Palais – das heutige Haupthaus des Frankfurter Jüdischen Museums – am Untermainkai überführt.3 Mehrere jüdische Interessenvertreter, die nach Frankfurt kamen, hinterließen eindrucksvolle Berichte über die hier von den Amerikanern eingerichtete provisorische Bibliothek. Als verstörende und nachhaltige Erfahrung schilderte etwa der amerikanisch-jüdische Historiker Koppel S. Pinson, der die Kultur- und Bildungsarbeit des JDC für die jüdischen Displaced Persons in der amerikanischen Zone beaufsichtigte, rückblickend seine Eindrücke: Nie habe ich mich in meinem Leben so klein gefühlt, nie war ich so voller Demut und geistig so erschüttert wie im Okt. 1945, als ich zum ersten Mal in die ehemalige Rothschild-Bibliothek am Untermainkai in Frankfurt am Main ging und dort sah, was von den kulturellen Schätzen des europäischen Judentums noch übrig war. Hier waren sie, etwa drei Millionen Bücher, die von Rosenberg, Himmler und Streicher in ganz Europa geplündert und geraubt worden waren […] Es gab dort Bücher, Manuskripte und Inkunabeln, die aus Sammlungen in ganz Europa, von Kiew, Charkow und Odessa bis zu den englischen Kanalinseln, stammten. Dies war alles, was von den bedeutenden Bibliotheken, Schulen und Akademien des europäischen Judentums geblieben war. Und als ich diese heimatlosen, bis heute verwaisten Bücher sah, wusste ich, dass es um das europäische Judentum geschehen war. […] Übrig geblieben sind lediglich einige tausend Menschen, einige Millionen Bücher und ruhmreiche Erinnerungen.4 Sechzig von der amerikanischen Besatzungsbehörde rekrutierte deutsche Zivilisten, zu denen auch einige wenige Bibliothekare gehörten, arbeiteten im Rothschild-Palais an der notdürftigen Konservierung dieser Sammlung, die der in Prag gebürtige Publizist Robert Weltsch, der zunächst nach Palästina geflohen und nach dem Krieg nach England übergesiedelt war, überrascht als die „wahrscheinlich [...] größte jüdische Bibliothek der Welt“ bezeichnete.5 Weltsch war einer der zahlreichen jüdischen und nicht-jüdischen Reporter, Journalisten, Sozialarbeiter und politischen Interessenvertreter, die nach Kriegsende ins zerstörte Europa und insbesondere nach Deutschland reisten, um sich ein Bild von der Lage zu machen und darüber zu berichten oder um verschiedene Wohlfahrtsorganisationen und die Alliierten bei ihrer Wiederaufbau- und Versorgungsarbeit zu unterstützen. Da das Gebäude aber bei weitem nicht ausreichte, um alle Funde aufzunehmen, richtete die U.S.-Militärregierung im Lauf des Jahres 1945 sieben
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sogenannte Collecting Points in der amerikanischen Besatzungszone ein, um dort die Raubgüter zu sammeln, zu ordnen, zu identifizieren und für eine mögliche Rückerstattung vorzubereiten. Die zentrale Sammelstelle für jüdische Bücher und Ritualgegenstände entstand im Nahe Frankfurt gelegenen Offenbach. Im Winter 1945/46 auf einem ehemaligen I.G.-Farben-Gelände am Mainufer eingerichtet, wurde sie ab März 1946 offiziell unter dem Namen Offenbach Archival Depot (OAD) betrieben. Sämtliche geborgenen Bücher aus Hungen und Frankfurt wurden hierher transportiert und zusammen mit zahlreichen weiteren Funden in den großen Hallen des fünfstöckigen Gebäudes gelagert. Bald türmten sich hier wiederum mehrere Millionen Bücher und Dokumente aus den berühmtesten jüdischen Einrichtungen Europas, etwa der École Rabbinique in Paris, dem Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau, dem Collegio Rabbinico in Rom und der Zentrale des Jiddischen Wissenschaftlichen Instituts YIVO in Wilna. Hinzu kamen tausende in Kisten verpackte Bände aus jüdischen Privatsammlungen. Die mit dieser Aufgabe betrauten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der amerikanischen Besatzungsbehörde unternahmen herkulische Anstrengungen, um die Raubzüge der Nazis rückgängig zu machen. Etwa zwei Drittel der Bestände konnten mithilfe offiziell am Depot akkreditierter Bevollmächtigter aus den betreffenden Ländern, die häufig die jeweiligen nationalen Bibliotheken und Archive vertraten, identifiziert und an die Herkunftseinrichtungen rückgeführt werden. Zahlreiche Sammlungen wurden im Lauf des Jahres 1946 insbesondere nach Frankreich, Belgien, in die Niederlande und nach Italien verschifft. Offizielle und private Dokumente der Beteiligten belegen, dass die amerikanischen Verantwortlichen, die häufig selbst jüdischer Herkunft waren, ebenso wie die jüdischen Überlebenden der Rückführung der geraubten jüdischen Bibliotheken mit Blick auf einen erhofften Wiederaufbau der jüdischen Kulturlandschaft in Europa eine äußerst hohe symbolische Bedeutung beimaßen. Das leitende Personal des Depots hatte schnell gemerkt, dass es um weit mehr als den sentimentalen Erinnerungswert der Materialien ging. So betonte der am OAD tätige Leutnant Leslie I. Poste voller Empathie auch diesen Aspekt: „Diese Bücher und Objekte waren das, was von den hunderten jüdischen Bildungseinrichtungen und jüdischen Gemeinden, die durch den Holocaust des Hitlerismus ausgelöscht wurden, übriggeblieben war. Nur wenige können die Tiefe der jüdischen Tragödie ergründen, von der diese Überreste als trauriges Denkmal zeugen.“6 Und er fügte mit Blick auf die empfundene Verantwortung für den künftigen Umgang mit den Objekten hinzu: „Das Depot agiert als amerikanischer Treuhänder für die Millionen Juden, die von den Nazis vernichtet wurden.“7 Allerdings erwies sich die Übernahme eines Treuhänderstatus für die ermordeten Juden letztlich als sehr viel komplizierter, als er sie hier erinnert.
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Stapel von unidentifizierten Büchern im Lagerhaus des Offenbach Archival Depot, 1946. Yad Vashem, Jerusalem
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Das Schaubild (1946/47) erklärt, woher die im Offenbach Archival Depot gesammelten Bücher stammten und wohin sie ursprünglich auch zurückgebracht werden sollten. Schließlich fanden die Bücher vor allem in den USA und Israel eine neue Heimat. Yad Vashem, Jerusalem
Sortierte Bücher im Offenbach Archival Depot vor dem Rücktransport in die Sowjetunion. Capt. Isaac Bencowitz (Mitte), Leiter des OAD mit zwei sowjetischen Restitutionsbeauftragten, 1946. Yad Vashem, Jerusalem
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Denn die Bestimmung eines Rechtsnachfolgers, der die Interessen des jüdischen Kollektivs vertreten und in seinem Sinne handeln könnte, war umstritten. Von ihr hing die Zukunft hunderttausender Objekte im Depot ab, deren Provenienz entweder nicht auszumachen war oder auf die infolge des Holocausts keine vormaligen Eigentümer oder Erben mehr Anspruch erheben konnten. Viele der in Offenbach aufbewahrten Bücher konnten eben nicht – wie es noch bei vielen westeuropäischen Institutionen der Fall gewesen war – an wiedereröffnete Bibliotheken oder Gemeindeeinrichtungen zurückgegeben werden.
WIEDERHERSTELLUNG JÜDISCHEN BESITZES Eine Reihe jüdischer Akteure in Europa, Palästina und Amerika nahm sich dieses Problems an. Ihre Initiativen wurden schließlich auf Betreiben des angesehenen Historikers Salo Wittmayer Baron in New York koordiniert und zusammengeführt. Unter seiner Leitung fanden sich etablierte und jüngere jüdische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Hannah Arendt, Horace Kallen, Cecil Roth und Gershom Scholem zusammen, die sich des Schicksals der jüdischen Sammlungen annehmen wollten. Baron hatte schon 1944 ein Komitee gegründet, das den Alliierten mit Blick auf den Schutz jüdischen Kulturguts beratend zur Seite stehen sollte. Zur Vorbereitung möglicher Rückerstattungsforderungen initiierten die Mitglieder ein umfassendes Rechercheprojekt zur detaillierten Dokumentation aller wichtigen vor dem Krieg vorhandenen Sammlungen der jüdischen Gemeinden und Institutionen Europas. Unter Hannah Arendts Federführung trug eine vorrangig aus Emigrantinnen und Emigranten bestehende Gruppe sämtliche auffindbaren Informationen zusammen, um ein möglichst vollständiges Bild der unwiederbringlich zerstörten jüdischen Kulturlandschaft zu zeichnen. In den Jahren 1946 bis 1948 veröffentlichte sie fünf „Tentative Lists“, in denen jüdische Buch- und Archivsammlungen, Verlage, Zeitschriften und Bildungseinrichtungen aus zwanzig Ländern verzeichnet waren.8 Dabei ging es zunächst darum, das Ausmaß der Zerstörung und die gegenwärtige Lage der betroffenen Kultureinrichtungen zu dokumentieren. Doch die Kataloge boten weit mehr: Sie stellten den Kulturraub der Nazis und dessen Bedeutung für den übergeordneten Vernichtungsplan erstmals systematisch dar. Damit lieferten sie auch die empirische Grundlage für das Konzept des kulturellen Genozids, das der aus Polen nach Amerika geflohene jüdische Jurist Raphael Lemkin von der UNO im Kontext des internationalen Straftatbestands des Völkermords festschreiben lassen wollte.9 Darüber hinaus stellten die Listen in ihrer bibliografischen und bestandsbezogenen Detailgenauigkeit Schlüsseldokumente für die damals als eigenständiges Feld noch gar nicht ins
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Auge gefasste Provenienzerschließung dar. Letztlich sind sie eine Art textuelles Archiv der zerstörten jüdischen Kulturlandschaft Europas. Die Listen geben nicht nur Auskunft über die Vielfalt jüdischer Kultureinrichtungen, sie zeigen auch die politischen und religiösen Strukturen der Zeit auf, zeugen von der Sprachenvielfalt der Juden und verweisen auf die geografischen Zentren und Peripherien jüdischen Lebens im Spannungsverhältnis von Tradition und Moderne. Neben ihrer Recherchetätigkeit wurden die Mitglieder des Komitees auch politisch aktiv. Die wachsende Zahl erbenloser, von alliierten Soldaten allerorts geborgener Objekte machte die Schaffung einer offiziell anerkannten jüdischen Treuhandgesellschaft, die das Material beanspruchen und weiter nutzbar machen würde, zur dringlichen Aufgabe. Von selbst verstand es sich nämlich nicht, dass jüdische Interessenvertreter ein Anrecht auf vormals jüdisches Eigentum würden geltend machen können. Das im Januar 1946 von den Alliierten auf der Pariser Reparationskonferenz vereinbarte, auf zwischenstaatlicher Grundlage organisierte Restitutionsrecht berücksichtigte die Ansprüche nichtstaatlicher Akteure (einschließlich der Vertreter der Opfer) zunächst kaum. Diese Herangehensweise war nicht nur bei Restitutionsfragen bestimmend, trat aber hier besonders scharf zu Tage und bereitete jüdischen Akteuren weltweit große Sorge. Zwei Folgen der international vereinbarten Rechtsbestimmungen, die sich in Offenbach offenbart hatten, erschienen ihnen besonders problematisch. Dies betraf zum einen die Übergabe von Objekten jüdischer Provenienz an nichtjüdische Institutionen in Osteuropa. So waren im Sommer 1946 mehrere tausend überwiegend aus jüdischem Eigentum stammende Bücher an die bevollmächtigten Beauftragten aus der Sowjetunion und Polen ausgehändigt worden. Dass sie in jüdische Einrichtungen zurückkehren würden, schien allerdings angesichts der Zerstörung der meisten Gemeinden und der sowjetischen Nichtanerkennung einer spezifischen jüdischen Opfererfahrung sowie des Ausmaßes der auch kulturellen Verwüstung des Landes durch den deutschen Vernichtungskrieg illusorisch. Es war abzusehen, dass die Bestände nahezu vollständig in staatlichen Sammlungen aufgehen und der jüdischen Welt somit verloren gehen würden. Immer wieder drangen deshalb am Depot tätige jüdische Interessenvertreterinnen und -vertreter darauf, keine Rückerstattung von Objekten eindeutig jüdischer Provenienz in Richtung Osteuropa zu erlauben. Ein zweites grundlegendes Problem mit der bestehenden Rechtslage stellte das sogenannte Heimfallrecht dar. Ritualgegenstände und Bücher deutsch-jüdischer Herkunft, deren rechtmäßige Eigentümer nicht ermittelt werden konnten, drohten an den deutschen Staat zu fallen. Dies schien den jüdischen Beobachtern unerträglich. Deutschland, so die vorwiegende Meinung,
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habe sein Recht verwirkt, jüdische Kulturgüter beherbergen oder gar sein Eigen nennen zu dürfen. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, unternahmen Baron und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter zahlreiche Anstrengungen, um das amerikanische State Department und andere beteiligte Behörden von der Notwendigkeit einer Veränderung des geltenden Rückerstattungsrechts zu überzeugen. Es ging ihnen um die Anerkennung eines Anspruchs des jüdischen Kollektivs – in Form einer repräsentativen Vertretung – auf all jene Objekte, die ihren vormaligen Eigentümern oder deren Erben nicht mehr übergeben werden konnten. Zusammen mit den wichtigsten jüdischen Organisationen und Einrichtungen der Zeit − darunter der World Jewish Congress, die Jewish Agency, die Hebräische Universität Jerusalem und der Council of Jews from Germany – bildeten sie 1947 eine Körperschaft namens Jewish Cultural Reconstruction, Inc. (kurz JCR) und bewarben sich um den Status als jüdische Treuhandgesellschaft für erbenlose Kulturschätze in Europa. Es sollte allerdings noch zwei Jahre dauern, bis die amerikanische Regierung diesem Ansinnen stattgab. Lange versuchte man vergeblich, eine Lösung für alle Besatzungszonen zu finden, konnte sich aber auf kein gemeinsames Vorgehen einigen. So wurde die JCR im Februar 1949 vertraglich als jüdische Treuhandgesellschaft anerkannt und ihr die Verantwortung für alle nicht zweifelsfrei restituierbaren Kulturgüter jüdischer Provenienz in der amerikanischen Zone übertragen. Der Vertrag sah vor, dass die JCR im Namen des jüdischen Volks die in ihre Obhut gegebenen Sammlungen verteilen und so das jüdische Kulturleben weltweit stärken solle. Was etwas legalistisch und technisch klingen mag, kam mit Blick auf die politische Vertretung jüdischer Interessen einer kleinen Revolution gleich: Jahrzehntelang hatten jüdische Juristen sich auf der diplomatischen Bühne um die rechtliche Anerkennung des weder staatlich noch territorial konstituierten jüdischen Kollektivs bemüht. Diese Form der kollektiven Bestätigung wurde nun durch den Vertrag der JCR quasi durch die Hintertür vollzogen, wenn auch ex negativo, als Folge des Holocaust. In dem abseits der großen politischen Bühne von drei weitgehend unbekannten Funktionären in Frankfurt unterzeichneten Vertrag wurde das jüdische Volk als unabhängiges Rechtssubjekt eingeführt. Das infolge der Vernichtungspolitik der Nazis erbenlos gewordene jüdische Eigentum hatte die Anerkennung eines eigenständigen jüdischen Kollektivanspruchs geradezu erzwungen. Dank dieser Vereinbarung (Frankfurt Agreement) gelang es der JCR, in den Jahren 1949 bis 1952 eine halbe Million Bücher und mehrere Tausend Ritualgegenstände, von denen mehr als die Hälfte aus dem Offenbacher Depot stammte, wieder in jüdischen Besitz zu überführen, wobei diese in der Regel nicht an ihre angestammten Orte zurückkehrten, sondern anderswo ihren Aufbewahrungsort fanden. Zwar stritten die Mitglieder der JCR häufig erbittert
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über deren angemessene Zuteilung, doch folgte die Vergabe fast immer dem gleichen Verteilerschlüssel: je 40 Prozent eines Bestands gingen nach Israel und in die Vereinigten Staaten, der Rest wurde in andere Länder gebracht, wobei Großbritannien besondere Berücksichtigung fand. Darüber, dass die Sammlungen aus Deutschland, ja aus ganz Kontinentaleuropa entfernt werden sollten, waren die Mitglieder des JCR sich jedenfalls einig. Ein künftiges jüdisches Leben dort, wo man es gänzlich auszulöschen versucht hatte, schien damals schlicht nicht vorstellbar. Stattdessen versuchten die Verantwortlichen, das Material dorthin zu schicken, wo die meisten Flüchtlinge und Überlebenden Schutz gefunden hatten. Dieses Vorgehen führte durchaus zu Konflikten zwischen den internationalen Organisationen und denjenigen in Deutschland und Europa verbliebenen Juden, die nach dem Krieg vorsichtig versuchten, dort ein neues Gemeindeleben aufzubauen. Sie wollten vorhandene Bücher und Ritualgegenstände für ihre Gemeindearbeit nutzen und kämpften, mitunter erbittert, gegen deren Ausfuhr. Hannah Arendt, Salo Baron und Gershom Scholem einte allerdings die Überzeugung, dass sich weder in Deutschland noch in Osteuropa lebendige Gemeinden entwickeln, und die verbliebenen Juden die betreffenden Länder früher oder später alle verlassen würden. Daher schien es ihnen zu riskant, dort jüdische Kulturgüter zurückzulassen. Die weitere Entwicklung der Gemeinden in Deutschland widerlegte diese Annahme zwar, doch war dies in den Jahren um 1950 kaum absehbar, und es überwog die Angst, die verbliebenen Kulturschätze könnten ein zweites Mal, und dann womöglich endgültig, verschwinden. Daher setzte die JCR sich häufig über die Wünsche der deutschen Gemeindemitglieder hinweg und stellte allen betroffenen west- und nordeuropäischen Gemeinden nur das Nötigste zur Verfügung. Wo die wertvollen Kulturgüter am besten aufgehoben sein würden, blieb anhaltender Streitpunkt. Die israelischen Vertreter argumentierten mit Nachdruck, das Kulturerbe solle vor allem nach Israel gebracht werden. Die – überwiegend in den USA beheimatete – Führung der JCR entschied jedoch, dass Israel und jüdische Institutionen in Nordamerika zwar in besonderem Maße, die jüdischen Gemeinden in West- und Nordeuropa, Südamerika, Südafrika und Australien aber ebenfalls berücksichtigt werden sollten, und die Bestände wurden schließlich an Einrichtungen in mehr als 20 Ländern verteilt. ˇ PRAG, TEREZÍN UND MIMON In Prag wurde in ähnlicher Weise um den richtigen Umgang mit dem hier aufgefundenen jüdischen Kulturerbe gerungen. Hier entstand eine der Lage in Offenbach durchaus vergleichbare Situation, wenn auch unter anderen politischen
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Vorzeichen. In dem von drei in diesem Zusammenhang neuralgischen Orten – Prag, Terezín und Mimoň – begrenzten Gebiet fand sich nach dem Holocaust nur noch ein Bruchteil der jüdischen Bevölkerung der Vorkriegszeit, dem gegenüber aber eine unüberschaubare Menge von Büchern und Kulturgütern jüdischer Provenienz. Auch hier hatte eine beträchtliche Anzahl bedeutsamer jüdischer Sammlungen den Krieg dank der Sammelwut und Raublust der Nazis überlebt. Die Nationalsozialisten hatten das 1906 in Prag gegründete Jüdische Museum nach dem deutschen Einmarsch in ein Repositorium für Raubgüter mit angeschlossener Ausstellungsfläche umfunktioniert, das bald die Kulturgüter zahlreicher jüdischer Gemeinden und Privatpersonen aus dem gesamten böhmisch-mährischen Gebiet beherbergte. Eine der vielfältigsten und reichsten jüdischen Kulturlandschaften Europas war hier in ihre materiellen Einzelteile zerlegt worden. Unter anderem lagerten in Prag mehr als 100.000 geraubte Bücher jüdischer Provenienz. Im Konzentrationslager Theresienstadt waren zwei Bibliotheken eingerichtet worden. In der den Internierten zugänglichen „Ghettobibliothek“ lagerten nach der Befreiung etwa 180.000 Bände, die verschiedenen tschechoslowakischen Gemeinden, Privathaushalten und Deportierten gehört hatten. In der gleichzeitig aufgebauten Sondersammlung der SS fanden sich etwa 60.000 wertvolle Judaica und Archivalien aus ganz Ostmitteleuropa. Schließlich türmte sich in mehreren Schlossanlagen rund um die nordböhmische Kleinstadt Mimoň (dt. Niemes) die aus dem Berliner Reichssicherheitshauptamt (RSHA) ausgelagerte Raubbibliothek, die deutsche Soldaten hier untergebracht hatten, um sie vor möglichen Luftangriffen zu schützen. In diesem Konglomerat fanden sich weitere Bestände aus angesehenen jüdischen Bibliotheken und Institutionen (darunter die Berliner Gemeindebibliothek und Material des YIVO) und zahlreichen bedeutsamen Privatsammlungen. In den ersten drei Jahren nach Kriegsende wurden die meisten geraubten jüdischen Kulturgüter nach Prag ins Jüdische Museum, in die Universitätsbibliothek und in Räumlichkeiten der Jüdischen Gemeinde überführt, wo über ihre weitere Zukunft entschieden werden sollte. Der Schriftsteller und Historiker H. G. Adler, selbst ein Überlebender des Lagers Theresienstadt, der 1947 nach England emigrierte, war ab Oktober 1945 an den Sortierungs- und Identifikationsarbeiten im Museum beteiligt und schrieb dazu in einem Brief an seine spätere zweite Frau Bettina Gross: „Unendliche Berge von Magazinen bergen hunderttausende von Büchern, Ritualien, Bildern und alle möglichen und unmöglichen Dinge. Es ist wohl eine Reihe von Jahrzehnten anzusetzen, bevor […] alles gesichtet, inventarisiert und verarbeitet sein wird. […] An den Gegenständen selbst ist für Empfindsame Judenleid und Hitlerwut zu riechen. Es ist ja ein trauriges Erbe, das wir verwalten.“10 Es gab verschiedene Versuche, die „Verwaltung“ dieses Erbes zu
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beeinflussen. Die Vertreter der JCR waren relativ früh durch Berichte eines ihrer Gewährsmänner, des jüdischen Altphilologen Ernst Grumach, der als Zwangsarbeiter in der Raubbibliothek des RSHA eingesetzt worden war und in Berlin überlebt hatte, auf die nach Böhmen evakuierten Schätze hingewiesen worden. Allerdings zogen sie sich schließlich angesichts der immer eindeutigeren Zurückweisung durch die tschechoslowakischen Behörden gänzlich zurück. Ihre engen US-amerikanischen Verbindungen machten eine Zusammenarbeit praktisch unmöglich. Die Vertreter der Hebräischen Universität hatten dagegen mehr Glück. Dabei half ihnen die Tatsache, dass mehrere von ihnen, so etwa Arthur und Shmuel Hugo Bergman, selbst aus Prag stammten. Ihr Ansinnen, die betreffenden Sammlungen sollten nach Möglichkeit alle nach Jerusalem überführt werden, wurde zumindest angehört. Ähnlich wie ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter in Offenbach gingen auch sie davon aus, dass die jüdische Gemeinde vor Ort infolge des nationalsozialistischen Völkermords zu sehr geschwächt sei, um – noch dazu angesichts der zunehmenden sowjetischen Einflussnahme und des kommunistischen Umbaus im Lande – auf Dauer lebensfähig zu sein. In Israel würden die wertvollen Bestände dagegen dem kulturellen Aufbauwerk und der Erinnerungsarbeit dienen können, so die Überzeugung Gershom Scholems und seiner Partner. Doch auch die von den Vertretern der Hebräischen Universität geltend gemachten Ansprüche stießen in Prag auf Widerstand. So wandten sich örtliche Gemeindevertreter und Museumsmitarbeiter einerseits und staatliche Behörden und Bildungseinrichtungen andererseits ganz unabhängig von dessen Provenienz (ein beträchtlicher Teil des Materials stammte ja ohnehin nicht aus der Region) gegen den Versuch, dort befindliche Kulturgüter außer Landes zu bringen. Insgesamt wurden auf unterschiedlichen Wegen letztlich etwa 50.000 Bücher aus Prag nach Israel gebracht. Zusammen mit den von der JCR zugeteilten Sammlungen bildeten sie einen Grundstock für die Bildungseinrichtungen des jungen Landes, allen voran die Jerusalemer Nationalbibliothek, und spielten damit eine wichtige Rolle im Rahmen des staatlichen Aufbauwerks. Die neuen Nutznießer der Gegenstände und Bücher aus diesem Bestand „allesamt aus dem Brande geretteter Reste“ (wie es in einem zeitgenössischen Bericht hieß) reagierten häufig euphorisch und veranstalteten zu deren Begrüßung Ausstellungen und teils sogar Feste.11
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BÜCHER UND GEDÄCHTNIS Die symbolische Bedeutung, die der Rettung der Bücher für das jüdische Leben nach dem Holocaust beigemessen wurde, ist kaum zu überschätzen. Sie ergab sich zum einen aus dem hohen Ansehen, das das geschriebene Wort in der jüdischen Tradition genießt, zum anderen aus der mit ihm zusammenhängenden, häufig anzutreffenden Parallelisierung des Schicksals von Büchern und Menschen während des Holocausts. Seit der Vertreibung aus dem alten Israel galt die Torah den in der Diaspora lebenden Juden auch als Ersatz für das fehlende gemeinsame Territorium und fungierte als Bindeglied zwischen den verschiedenen Judenheiten weltweit. Ihre Zusammengehörigkeit beruhte nicht auf einem formal verfassten politischen Raum, sondern auf einem Schriftkanon, der das geteilte Gesetz und die gemeinsame Geschichte des Kollektivs bewahrte. Diese Wahrnehmung verallgemeinerte und säkularisierte sich in der Moderne insofern, als der gemeinsame Kanon sich auf Schriftstücke auch jenseits des sakralen Korpus erweiterte. Nicht mehr nur ein bestimmter Kanon, sondern Texte, Bücher ganz allgemein galten vielen nun als ein gemeinsames, eben textuelles, Territorium. Die Verwüstung und der systematische Raub der zahlreichen jüdischen Buchsammlungen durch die Deutschen vor und während des Kriegs wurden deshalb als integraler Bestandteil des Vernichtungskriegs gegen die Juden wahrgenommen, als Angriff auf die geistigen Grundfesten ihrer Existenz. Die Rettung der noch auffindbaren Teile dieser Sammlungen nach dem Krieg galt vor diesem Hintergrund als wichtiger Beitrag zur erneuten Aneignung von Geschichte und Gedächtnis, ja, als Garant des künftigen Fortbestands des jüdischen Kollektivs. Gerade das Offenbacher Depot beschrieben viele jüdische Zeitgenossen als den Ort, an dem diese Zusammenhänge materiell greifbar wurden. Die spätere Holocausthistorikerin Lucy S. Dawidowicz, die 1947 mehrere Monate dort arbeitete, unter anderem, um die hier gelagerten Restbestände des geplünderten YIVO ausfindig zu machen, beschrieb die Wirkung des Orts in seiner ganzen Dramatik, als sie das Depot ein „Leichenhaus der Bücher“ nannte.12 Die hier gestapelten Bücherberge versinnbildlichten die Überreste jüdischer Zivilisation in Europa und gemahnten Dawidowicz täglich an die Toten, denen die Bücher einst gehört hatten. Doch damit nicht genug. Die Bände waren nicht nur Gedächtnisträger, sie standen geradezu für die Ermordeten selbst ein. Zahlreiche Zeitgenossen bemerkten, dass die Rettung der Bücher in gewisser Weise für die nicht erfolgte Rettung der Menschen einzutreten schien. Sie eröffnete eine Zukunftsperspektive auf das kollektive Weiterleben und ermöglichte eine besondere Form des Gedenkens an die Ermordeten, trug sie doch zur teilweisen Aufhebung der Anonymität des von den Nationalsozialisten verfügten Todes bei. Grabsteinen ähnlich, dienten sie dem Gedenken an ihre ermordeten
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Das jüdische Bekenntnis als Hinderungsgrund bei der Beförderung zum preußischen Reserveoffizier von Max I. Loewenthal, Berlin 1911, Jüdisches Museum Frankfurt, Bibliothek. Dieses Buch aus dem OAD weist zahlreiche Stempel, darunter von der Jewish Cultural Reconstruction (JCR), der Hermann Cohen Bibliothek und der Israelitischen Gemeinde in Frankfurt am Main, auf.
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ELISABETH GALLAS
Eigentümer und die vernichteten Stätten jüdischen Kulturlebens. Die geretteten Bücher leisteten einen materiellen Beitrag zur Bewahrung der jüdischen Kultur, des jüdischen Wissens und der jüdischen Tradition. Ihre Raub- und Vernichtungsgeschichte war ihnen eingeschrieben, häufig in ganz konkreter Form: In zahlreichen Bänden waren Exlibris ihrer früheren Besitzer zu finden, sie waren von Markierungen der nationalsozialistischen Raubeinheiten und Forschungsinstitute gezeichnet, waren mit einem Stempel des Offenbacher Depots und schließlich mit dem Logo der Jewish Cultural Reconstruction versehen worden. Gleichzeitig sollten die Bände aber auch den Neuanfang beziehungsweise die Kontinuität jüdischer Existenz außerhalb Kontinentaleuropas begründen helfen. Die Geschichte der Rettung dieser Objekte spiegelt damit einen außergewöhnlichen Kampf um Recht und Gerechtigkeit, um Erinnerung und Anerkennung wider, den die Überlebenden und die mit dieser Frage befassten jüdischen Akteure im Europa der frühen Nachkriegszeit vielen Widerstände zum Trotz auf sich nahmen, um sich nach der Katastrophe aktiv an der Gestaltung der Nachkriegsordnung und der Ausformung jüdischen Lebens in seinen verschiedenen, teils umstrittenen alten und neuen Zentren zu beteiligen. 1
Flanner, Janet: Annals of Crime. The Beautiful Spoils III: Monuments Men. New Yorker, 8.3.1947, 48. 2 Dicker, Herman: The Genizah of Hungen, Germany. The National Library of Israel, Jerusalem, Library Papers, Arc 4°793/288/6. 3 Poste, Leslie I.: The Development of U. S. Protection of Libraries and Archives in Europe During World War II. Chicago, Univ.-Diss., 1958, 333 − 339. 4 Pinson, Koppel S.: Commencement Address to Gratz College, 17.6.1947, 2f. Stanford University Libraries, Special Collections, Jewish Social Studies Papers, M0670, BOX 4, Correspondence M − S, 1947 − 1965, Folder: Pinson Personal. 5 Weltsch, Robert: Besuch in Frankfurt. Mitteilungsblatt des Irgun Olej Merkaz Europa, 11. 1. 1946, 10. 6 Poste, Leslie I.: Books go Home from the Wars. Library Journal 73.21 (1948), 1702. 7 Poste: Books go Home, 1703. 8 Research Staff of the Commission on European Jewish Cultural Reconstruction: Tentative List of Jewish Cultural Treasures in Axis-Occupied Countries. Jewish Social Studies 8.1 (1946), Beilage; Tentative List of Jewish Educational Institutions in Axis-Occupied Countries. Jewish Social Studies 8.3 (1946), Beilage; Tentative List of Jewish Periodicals in Axis-Occupied Countries. Jewish Social Studies 9.3 (1947), Beilage; Addenda and Corrigenda to Tentative List of Jewish Cultural Treasures in Axis-Occupied Countries. Jewish Social Studies 10.1 (1948), Beilage; Tentative List of Jewish Publishers of Judaica and Hebraica in Axis-Occupied Countries. Jewish Social Studies 10.2 (1948), Beilage. 9 Lemkin, Raphael: Axis Rule in occupied Europe: Laws of Occupation, Analysis of Government, Proposals for Redress. Washington: Carnegie Endowment for International Peace, Division of International Law, 1944, insbes. 84f. Die Einführung einer expliziten Bestimmung zum kulturellen Genozid konnte 1948 bei der Verabschiedung der Völkermordkonvention durch die Vereinten Nationen nicht durchgesetzt werden. 10 H. G. Adler an Bettina Gross, 11.1.1946, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Bestand A: Adler, Hans Günther. Siehe auch Adler, H. G.: Die Geschichte des Prager jüdischen Museums. Monatshefte 103.2 (2011), 161 − 172. Adler schrieb diesen zuvor unveröffentlichten Text 1947.
FRAGMENTE EINER VERLORENEN WELT
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Ben-Chorin, Schalom: Ausstellung geretteten Kulturgerätes im Jerusalemer Bezalel Museum. Der Weg. Zeitschrift für Fragen des Judentums 5.31 (1950), 4. 12 Dawidowicz, Lucy S.: From that Place and Time. A Memoir, 1938 − 1947. New Brunswick: Rutgers University Press, 2008, 316. literatur Adler, H. G.: Die Geschichte des Prager jüdischen Museums. Monatshefte 103.2 (2011), 161 − 172. / Ben-Chorin, Schalom: Ausstellung geretteten Kulturgerätes im Jerusalemer Bezalel Museum. Der Weg. Zeitschrift für Fragen des Judentums 5.31 (1950), 4. / Dawidowicz, Lucy S.: From that Place and Time. A Memoir, 1938 − 1947. New Brunswick: Rutgers University Press, 2008. / Flanner, Janet: Annals of Crime. The Beautiful Spoils III: Monuments Men. New Yorker, 8.3.1947, 38 − 55. / Flanner, Janet: Men and Monuments. London: Hamilton, 1957. / Lemkin, Raphael: Axis Rule in occupied Europe: Laws of Occupation, Analysis of Government, Proposals for Redress. Washington: Carnegie Endowment for International Peace, Division of International Law, 1944. / Poste, Leslie I.: Books go Home from the Wars. Library Journal 73.21 (1948), 1699 − 1704. / Poste, Leslie I.: The Development of U. S. Protection of Libraries and Archives in Europe During World War II. Chicago, Univ.-Diss., 1958. / Research Staff of the Commission on European Jewish Cultural Reconstruction: Tentative List of Jewish Cultural Treasures in Axis-Occupied Countries. Jewish Social Studies 8.1 (1946), Beilage. / Research Staff of the Commission on European Jewish Cultural Reconstruction: Tentative List of Jewish Educational Institutions in Axis-Occupied Countries. Jewish Social Studies 8.3 (1946), Beilage. / Research Staff of the Commission on European Jewish Cultural Reconstruction: Tentative List of Jewish Periodicals in Axis-Occupied Countries. Jewish Social Studies 9.3 (1947), Beilage. / Research Staff of the Commission on European Jewish Cultural Reconstruction: Addenda and Corrigenda to Tentative List of Jewish Cultural Treasures in Axis-Occupied Countries. Jewish Social Studies 10.1 (1948), Beilage. / Research Staff of the Commission on European Jewish Cultural Reconstruction: Tentative List of Jewish Publishers of Judaica and Hebraica in Axis-Occupied Countries. Jewish Social Studies 10.2 (1948), Beilage. / Weltsch, Robert: Besuch in Frankfurt. Mitteilungsblatt des Irgun Olej Merkaz Europa, 11.1.1946, 9f.
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RETTUNGSVERSUCHE
DAS UNGARISCHE JÜDISCHE MUSEUM UND DAS JÜDISCHE KULTURERBE NACH 1945 KATA BOHUS
Im Vorfeld und während des Völkermords an den europäischen Juden wurde jüdisches Eigentum in allen von Nazideutschland kontrollierten Ländern systematisch enteignet und geplündert. Davon waren auch Kunstwerke und Kulturobjekte betroffen. Nach dem Krieg konnten zahlreiche jüdische Kulturgüter und Kunstwerke, deren rechtmäßige Besitzer nicht mehr zu ermitteln waren, geborgen werden. Damit stellte sich die Frage, wem sie nun zustünden. Es war zunächst keineswegs selbstverständlich, dass jüdische Organisationen einen Anspruch auf Besitztümer würden geltend machen können, deren rechtmäßige Eigentümer nicht mehr ermittelt werden konnten. Der 1947 auf eine amerikanische Initiative hin gegründeten Jewish Cultural Reconstruction, Inc. (JCR) ist es zu verdanken, dass ein Großteil des in der amerikanischen Besatzungszone aufgefundenen jüdischen Eigentums in die Vereinigten Staaten und nach Israel geschickt wurde. So gelangten beispielsweise Objekte, die vor dem Krieg dem Frankfurter Museum jüdischer Altertümer gehört hatten, in Museumssammlungen in Übersee. Gestohlene Bücher und Objekte aus Osteuropa wurden unter den Nationalsozialisten auch nach Prag gebracht. Hier konnte jedoch erst nach dem Zusammenbruch des Kommunismus vier Jahrzehnte später über die Möglichkeit einer Restitution befunden werden. Gleichwohl machten es sich Jüdische Museen und örtliche jüdische Institutionen mancherorts inner- und außerhalb der sowjetischen Einflusszone zur Aufgabe, was vom regionalen und nationalen jüdischen Kulturerbe noch gerettet werden konnte, zu bewahren. Zu diesen Institutionen gehörte auch das Jüdische Museum im ungarischen Budapest. Im September 1945 wandte das Museum sich an sämtliche jüdischen Gemeinden des Landes und bat sie, alle von den Vorkriegsgemeinden „erhalten gebliebenen Erinnerungsstücke und Dokumente ausfindig zu machen, provisorisch zu lagern“ und das Museum von diesen Beständen in Kenntnis zu setzen.1 So konnte das Museum im ersten Jahrzehnt nach der Schoa eine Vielzahl entsprechender Objekte retten.
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Innenansicht des ehemaligen Studiensaals (Beit Midrasch) der Synagoge in Bonyhád, 1955. Das Foto wurde von zwei Rabbinatsstudenten aus Budapest aufgenommen. Sie waren vom Ungarischen Jüdischen Museum beauftragt worden, Informationen über die Überreste der jüdischen Gemeinden in der transdanubischen Region zu sammeln. Magyar Zsidó Múzeum és Levéltár, Budapest
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Im August 1955 besuchten zwei Rabbinatsstudenten im Auftrag des Museums die jüdischen Gemeinden in Süd- und Zentral-Transdanubien. Sie sammelten Informationen, Dokumente und andere Objekte, die Aufschluss über die Geschichte der Gemeinden, deren Zerstörung durch den Faschismus und ihre aktuelle Lage boten. Das verbliebene ungarisch-jüdische Kulturerbe galt ihnen nicht nur als Informationsquelle, sondern auch als entscheidender Träger der einzigen Spuren, die ihre ermordeten Eigentümer hinterlassen haben. 1
Erhebung des Ungarischen Jüdischen Museums und Archivs zur Erfassung des verbleibenden Besitzes der jüdischen Gemeinden, September 1945. Toronyi, Zsuzsanna: Zsidó közösségek öröksége. Budapest: Magyar Zsidó Levéltár, 2010, 29.
RETTUNGSVERSUCHE
Registerbuch der Jüdischen Gemeinde von Kaba, Ungarn, 1867 − 1910. Die Gemeinde stiftete das Buch 1949 dem Ungarischen Jüdischen Museum. Von der Jüdischen Gemeinde in Kaba, die vor dem Krieg rund 250 Menschen zählte, überlebten nur 25 die Schoa. Nach 1945 konstituierte sich die Gemeinde neu, wurde aber 1956 aufgelöst, nachdem alle Mitglieder weggezogen waren. Magyar Zsidó Múzeum és Levéltár, Budapest
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FRANKFURT UND ZEILSHEIM AMERIKA IN DEUTSCHLAND MORITZ BAUERFEIND Wir können nicht annehmen, daß es Juden gibt, die sich nach Deutschland hingezogen fühlen. Hier riecht es nach Leichen, nach Gaskammern und nach Folterzellen. Aber tatsächlich leben heute noch ein paar Tausend in Deutschland […] Dieser Rest jüdischer Siedlung soll so schnell wie möglich liquidiert werden […] Deutschland ist kein Boden für Juden. Robert Weltsch, 1946 Die jüdische Geschichte der Frankfurter Region zwischen 1945 und 1948 ist von zwei Zentren getragen. In der Arbeitersiedlung Frankfurt-Zeilsheim im Westen richtete die US-Armee ein Unterbringungslager für vor allem osteuropäische Juden, sogenannte Displaced Persons (DPs) ein, die in die amerikanische Besatzungszone strebten. Die hiesigen Bewohner wurden nie gänzlich von der übrigen Bevölkerung abgetrennt, weshalb es unausweichlich zu Kontakten, aber auch Konflikten kam. In der Innenstadt waren die Spuren der Kriegszerstörungen an der gesamten Bausubstanz und noch mehr an ehemaligen Einrichtungen der Jüdischen Gemeinde unübersehbar. Von den ehemals 29 000 Mitgliedern – sie machten 1933 knapp fünf Prozent der Gesamtbevölkerung aus, was der höchste Schnitt in einer deutschen Großstadt war – konnte sich etwas mehr als die Hälfte in das Exil retten.1 Weniger als 200 Jüdinnen und Juden überlebten den Terror der Nationalsozialisten in der Stadt selbst. Jedoch versuchte hier eine Gruppe aus Frankfurt stammende Rückkehrer den vorsichtigen Wiederaufbau der einstmals so wichtigen Stadtgemeinde. Ihr Zentrum befand sich zunächst im Frankfurter Ostend, wo um die Baumwegsynagoge und das ehemalige jüdische Krankenhaus vornehmlich Überlebende des Lagers Theresienstadt eine eigene Infrastruktur schufen. Unter den Rückkehrenden befand sich mit Dr. Leopold Neuhaus auch der letzte Rabbiner der Vorkriegsgemeinde. Erst nach der Schließung des DP-Lagers und dem Umzug einiger Zeilsheimer in die Innenstadt kam es vermehrt zu Kontakten zwischen den beiden Gruppen, aus denen schließlich die heutige Jüdische Gemeinde Frankfurts mit ihrem Hauptsitz im Westend hervorging.
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ZEILSHEIM Auf ihrer Flucht vor neuerlichen Pogromen, ausgehend von der polnischen Zivilbevölkerung, aber auch angetrieben durch die Erkenntnis, dass Polen ein „großer jüdischer Friedhof“ geworden war, kamen ab August 1945 zunächst überwiegend polnische Juden in die von den US-Truppen besetzten deutschen Gebiete und wurden unter anderem hier als DPs untergebracht. Ihre Zahl betrug 1947 für die amerikanische Zone, nach ungenauen Statistiken, 157 000, wovon geschätzt 110 000 im Rahmen der Massenflucht aus Polen gekommen waren.2 Von ihrer Anwesenheit in der amerikanischen Besatzungszone versprachen sich die Geflüchteten bessere Chancen auf eine Ausreise in die USA oder nach Palästina. In Zeilsheim waren so bereits ein halbes Jahr nach der Eröffnung bis zur Auflösung des Lagers konstant etwa 3 000 Bewohner ansässig.3 Die Gesamtzahl der zeitweilig im offiziell Jewish Assembly Center Zeilsheim genannten Lager untergebrachten DPs lässt sich heute nicht mehr beziffern. Unter ihnen waren jene aus Polen kommenden in der großen Mehrheit (rund 70 Prozent). Aus Ungarn (sechs Prozent) und der Tschechoslowakei (vier Prozent) stammende Überlebende machten die nächstgrößeren Kontingente aus.4 Untergebracht wurden die ersten, aus Buchenwald und Bergen-Belsen befreiten 185 Lagerbewohner ab August 1945 zunächst in ehemaligen Zwangsarbeiterbaracken der Farbwerke Höchst (ehemals I.G. Farben), die jedoch durch stetigen Zuzug schnell an ihre Belegungsgrenzen kamen. Von Beginn an achtete die Militärverwaltung darauf, dass in Zeilsheim in einem Modellversuch ausschließlich jüdische DPs und nicht nach Herkunftsnationen gesammelte Personen untergebracht wurden, wie es andernorts üblich war. Die überall herrschenden chaotischen Zustände und das im Harrison-Bericht aus politischen Gründen bewusst überzeichnete Bild von noch nach Kriegsende in Lagern hinter Stacheldraht internierten Juden machten es bald nötig, dass die US-amerikanischen Militärbehörden weiteren Wohnraum zur Verfügung stellen mussten. Hierfür wurden 200 Häuser aus einem Teil der anliegenden Werkssiedlung der nahegelegenen Chemiefabrik beschlagnahmt und den DPs zugewiesen. Neben dem ständigen Zuzug aus dem Osten, insbesondere von Flüchtlingen aus Polen, die aus der Sowjetunion, wo sie den Krieg überlebt hatten, repatriiert worden waren, führte auch die hohe Geburtenrate in Zeilsheim zu neuen Platzproblemen. Bereits im ersten Halbjahr 1946 wies das Lager 80 Geburten und 150 weitere Schwangere auf. Für das Jahr 1947 wurde mit einer Rate von monatlich ungefähr 700 Neugeborenen in der amerikanischen Zone die damals höchste aller jüdischen Gemeinden weltweit registriert.5 Die großzügige Unterstützung durch Hilfsorganisationen wie die UNRRA und das JDC ermöglichte den Meisten den allmählichen (wenn auch schwierigen) Übergang vom Überleben zum Weiterleben und half ihnen, Partner zu
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Einfahrt zum DP-Lager Zeilsheim, IRO Assembly Center 557, 1947 − 48. Foto: E. M. Robinson, United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C., courtesy of Alice Lev
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finden und Familien zu gründen. Noch im Jahr 1948 waren in der gesamten Zone für das JDC 560 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tätig, die die verbliebenen jüdischen DPs betreuten, deren Zahl infolge der Staatsgründung Israels und der vereinfachten Ausreise in die USA von 165 000 im April auf 30 000 im September zurückging.6 Zur Ermöglichung dieser Unterstützung hatten amerikanische Juden in den Nachkriegsjahren knapp 200 Mio. Dollar gesammelt.7 In Zeilsheim wurde der Stab des JDC von Oktober 1945 bis Sommer 1947 von der US-Bürgerin Sadie Sender geleitet. Trotz des allgegenwärtigen Mangels, der Unsicherheit und des ständigen Zu- und Wegzugs konnten so Institutionen wie Schulen, Ausbildungsstätten, Kultureinrichtungen, politische Parteien und Sportvereine unterhalten werden. Ausgebildet wurde ab Ende 1945 unter anderem zum Blechschmied, Klempner, Zimmermann, Automechaniker, Hutmacher, Fotografen, Formenbauer, Chauffeur und Zahntechniker, wobei insgesamt 1151 ausgebildete Abgänger verzeichnet wurden.8 Die lagereigene Kulturverwaltung organisierte in Zusammenarbeit mit den Hilfsorganisationen eine People’s University mit Sprachkursen und Vorträgen über Geschichte, Religion, Kultur und Hygiene. Das Lagerhospital beherbergte im Sommer 1946 50 Patienten, die meist an Tuberkulose erkrankt waren. Laut Zeitungsberichten konnte in Zeilsheim auch die erste koschere Küche in den deutschen DP-Lagern eingerichtet werden. Gesellschaftliche Ereignisse und durch die Nähe zum Hauptquartier der US-Besatzungszone in Frankfurt begünstigte Besuche Prominenter wie David Ben-Gurion und Eleanor Roosevelt wurden in der Zeilsheimer Lagerzeitung dokumentiert. Unter dem Titel Undzer mut wurde diese zwei Monate nach ihrem Münchner Vorbild (Unzer veg) gegründet und am 20. Dezember 1945 erstmals verteilt. Die Zeitung, die im April 1946 in Unterwegs umbenannt wurde und von der bis Dezember 1947 insgesamt 45 Ausgaben in einer Auflage von 7500 Stück erschienen, fungierte als Zentralorgan für alle in Hessen gelegenen Lager.9 Ob es sich um religiöse, politische, sportliche oder ausbildende Vereinigungen handelte, war doch der gesamten, durch ein Komitee organisierten Selbstverwaltung des Lagers gemeinsam, dass die Bewohner auf ein neues Leben vorbereitet werden sollten. Wie in anderen DP-Lagern auch war eine vollständige Trennung zwischen Lagerbewohnern und Ortsansässigen nicht möglich, sodass es zu Kontakten und Tauschgeschäften kam. In der örtlichen Presse überwog die Darstellung des Lagers als sittenloses Zentrum des regionalen Schwarzmarkthandels. Deutsche Zeitgenossen merkten an, dieser sei durch „Jüdischkeit und russisches Denken“ geschaffen worden,10 durch die auch rechtschaffene Deutsche verführt worden seien. Ausgestattet mit Hilfsgütern verschiedener Institutionen verfügten die jüdischen Überlebenden über ein „Startkapital“, das vielerorts die Missgunst der nichtjüdischen Deutschen auf sich zog. Auch von Seiten der amerikanischen Militärs wurden sie zunächst als von NS-Verstrickungen unbelastete
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Geschäftspartner bevorzugt. In der Frankfurter Rundschau vom 18. August 1947 beschrieb der Journalist Arno Rudert den illegalen Handel dagegen als eine normale Konsequenz des herrschenden Mangels. Gleichzeitig riet er seinen Zeitgenossen, „das Moralisieren über das Leben im Verschlepptenlager mit einiger Zurückhaltung zu üben“.11 Die Reduktion des Lagers auf die dort stattfindenden Geschäfte ersparte der Mehrheitsgesellschaft jedes Nachdenken über die problematische Lage der DPs oder deren Gründe. Als allgemein verbreitetes Phänomen wurde die Teilhabe am Schwarzmarkt also mit der persönlichen Notlage der Deutschen gerechtfertigt, während sie bei dem unbekannten Gegenüber als Verbrechen angeprangert wurde. Das ganze Ausmaß der Verwicklung der amerikanischen Militärjustiz und kommunaler Institutionen in Schmiergeldzahlungen rund um den Frankfurter Schwarzmarkt beschrieb der Frankfurter Autor Valentin Senger in seinen Erinnerungen an die Nachkriegszeit.12 Ungewöhnlich war auch, dass in Zeilsheim nichtjüdische Bewohner weiterhin präsent waren.13 Auch die Frankfurter Oberbürgermeister und Polizeipräsidenten beteiligten sich zeitweise an der Hetze gegen die DPs, immer mit dem Verweis, dadurch einen neuerlichen Ausbruch des weiter bestehenden Antisemitismus verhindern zu wollen. Größere Ausschreitungen konnten wohl vor allem durch die amerikanische Militärpräsenz verhindert werden. Nach der Staatsgründung Israels und Vereinfachung der Einreise in die USA wurde 1948 die Auflösung des Lagers angestrebt, sodass die verbliebenen 2000 bis 2500 Bewohner Zeilsheim zum 16. November verlassen mussten. Sie wurden größtenteils auf die übrigen Lager verteilt; 200 von ihnen erhielten die Zuzugsgenehmigung für die Frankfurter Innenstadt.14
INNENSTADT In Frankfurt selbst hatten weniger als 200 Jüdinnen und Juden den Tag der Befreiung am 29. März 1945 erlebt. Die meisten, so auch der erste Verwalter der Restgemeinde, August Adelsberger, hatten in sogenannten „Mischehen“ überlebt. Adelsberger veranlasste bereits im April und Mai die Rückkehr von Überlebenden aus Buchenwald sowie einer größeren Zahl von knapp über 300 ehemaligen Gemeindemitgliedern im Juni und Juli aus Theresienstadt.15 Unter den bis Ende August in die Stadt zurückgekehrten 650 deutschen Juden befand sich auch der letzte Rabbiner der Vorkriegsgemeinde, Dr. Leopold Neuhaus. Er fand bei seiner Rückkehr bereits die Jüdische Betreuungsstelle vor, die von der US-Kommandantur als erste Gemeindeinstitution unter Leitung von Vorkriegsmitgliedern in einem ehemaligen Kindergarten untergebracht wurde. Hier fanden ab dem 15. Mai wieder regelmäßig Gottesdienste statt,
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Polnisch-jüdische Familie(n) im DP-Lager Zeilsheim. Da es nicht sicher ist, wann dieses Foto exakt entstanden ist, wurden die Dargestellten in der Literatur sowohl als Ankommende im Jahr 1946 als auch als Ausreisende im Jahr 1948 beschrieben. Da auf dem Foto sowohl Kinder, Eltern und möglicher-
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weise auch Großeltern festgehallten sind, liegt der Schluss nahe, dass die Dargestellten ursprünglich aus Polen stammten, in der Sowjetunion überlebt hatten und um 1946 aus Polen nach Zeilsheim geflohen waren. Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main
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Die ersten Kinder, die im DP-Lager Zeilsheim geboren wurden, 1946. Yad Vashem, Jerusalem
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und die Überlebenden konnten mit dem Nötigsten versorgt werden. Mit der Unterstützung der Stadtverwaltung und des JDC konnten zu den hohen Feiertagen des Jahres 1945 auch schon erste Gottesdienste in der Westendsynagoge veranstaltet werden, dem ehemaligen Zentrum der Gemeinde, das in der Pogromnacht nur im Inneren verwüstet worden war. Die Rückkehrer um Neuhaus sahen ihre Aufgabe im Wiederaufbau der Vorkriegsgemeinde und konnten dementsprechend auch die Restitution eines Teils des geraubten Gemeindebesitzes durch die Stadtverwaltung erreichen. Der bereits erwähnte Kindergarten, gelegen im traditionell jüdisch geprägten Ostend der Stadt, diente als erster Sitz einer zunächst provisorischen Gemeindeverwaltung. Als weitere wichtige Institution konnte im November 1945 im nahe gelegenen ehemaligen jüdischen Krankenhaus ein Altersheim errichtet werden, das nötig wurde, da sich unter den Überlebenden aus Theresienstadt eine Vielzahl älterer Menschen befand. Die im Nordend gelegenen Friedhöfe wurden auf Anordnung der Amerikaner von ehemaligen Nationalsozialisten in Ordnung gebracht. Die Gemeinde war massiv von der Unterstützung durch die Hilfsorganisationen und öffentlichen Ämter abhängig. Einzelne Gemeindemitglieder konnten mit der Hilfe von Kleinkrediten in an der zentral gelegenen Hauptwache befindlichen Bretterbuden wieder erste Geschäfte eröffnen. Der sozialdemokratische Oberbürgermeister Walter Kolb rief in seiner Neujahrsansprache 1947 die in alle Welt verstreuten Frankfurter Überlebenden und Exilierten zur Rückkehr auf – was deutschlandweit wohl einzigartig war. Er erhielt darauf jedoch vor allem von Nichtjuden vornehmlich negative Rückmeldungen, da die übrige Bevölkerung eine Bevorzugung der Rückkehrer befürchtete. Auch das offizielle Gedenken der Stadt wurde zunächst von der US-Militärverwaltung erzwungen: Gedenksteine für die drei zerstörten Synagogen wurden im September 1945 durch die Stadtverwaltung finanziert und aufgestellt. Ebenso wurde der Umgang der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung mit den Überlebenden gerade im Ausland als Prüfstein der demokratischen Gesinnung verfolgt.16 Gleichzeitig verweigerten viele abseits der offiziellen Anlässe die Empathie mit den kurz zuvor noch Verfolgten. Ebenso wurde auch die Frankfurter Gemeinde von den jüdischen Organisationen als Liquidationsgemeinde angesehen, da eine Wiedergeburt jüdischen Lebens kurz nach der Schoa im Land der Täter unmöglich erschien. Parallel zur Entwicklung der im Wiederaufbau befindlichen Gemeinde hatte sich ab 1946 auch eine größere Zahl dezentral untergebrachter ausländischer Juden im Stadtgebiet niedergelassen, die von einem eigenständigen Komitee der befreiten Juden in Frankfurt am Main unterstützt wurden und über rudimentäre eigene Gemeindestrukturen verfügten. Gerade die Zahl der nicht in Zeilsheim lebenden osteuropäischen Juden wuchs in der Stadt weiter an, wobei sie von den Überlebenden der Stadtgemeinde jedoch nicht akzeptiert
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wurden. Dr. Neuhaus erkannte aber bald, dass seine Vorstellung von einer möglichen Kontinuität zur Vorkriegsgemeinde eine Illusion bleiben musste, und wanderte 1946 in die USA aus. Auch seine Gegenüber auf Seiten des Komitees, Dr. Leon Thorn und Uri Bluth, bauten die religiösen Einrichtungen ihrerseits weiter auf, sorgten aber ebenso für ein weiteres Nebeneinander von vornehmlich polnischen DPs und deutschen Rückkehrern. Letztere konnten ihre Mitgliederzahl bis April 1949 zwar auf 850 steigern, waren jedoch akut von Überalterung bedroht.
ZUSAMMENSCHLUSS Schließlich machte die im Juni 1948 in Westdeutschland durchgeführte Währungsreform die Fortführung dieser Doppelstruktur unmöglich. Die Fusion wurde schließlich durch Selbstauflösung des Komitees und Einzelbeitritt seiner 1073 ehemaligen Mitglieder vollzogen, wobei auch für die zukünftigen Vorstände eine Bevorzugung der aus Deutschland stammenden Juden festgeschrieben wurde.17 Besiegelt wurde der Beschluss durch den gemeinsamen Vorstand am 24. April 1949, womit die bis heute bestehende Nachkriegsgemeinde ihre Gründung erfuhr. Als erster gemeinsamer Rabbiner stand der vereinigten Gemeinde der bereits ab 1948 amtierende Dr. Wilhelm Weinberg vor. Da auch dieser 1951 von den vorgefundenen Verhältnissen frustriert auswanderte, brach erst mit dem Amts-antritt seines Nachfolgers Isaak Emil Lichtigfeld eine neue Zeit der Kontinuität an. Der Aufenthalt im „Wartesaal“ war beendet, doch wurden die sprichwörtlichen Koffer unter dem Bett noch lange nicht ausgepackt, und vielen stand noch ein langer Kampf um individuelle finanzielle Restitutionsleistungen bevor. Bis hierher hatte vor allem die Doppelung der Strukturen zwischen DPs und deutschen Überlebenden das Leben in der amerikanischen Hauptstadt Deutschlands bestimmt. Erst nach der Schließung des DP-Lagers und dem Umzug vieler Familien und Einzelpersonen aus Zeilsheim nach Frankfurt kam es vermehrt zu Kontakten zwischen diesen beiden Gruppen, aus denen schließlich die heutige jüdische Gemeinde Frankfurt mit ihrem Hauptsitz im Westend hervorging. Insbesondere die zwischenzeitlichen Zeilsheimer kamen erst jetzt mehr oder weniger erfolgreich in Deutschland an. 1
Tobias, Jim: Zeilsheim. Eine jüdische Stadt in Frankfurt. Nürnberg: ANTOGO, 2011, 19. Tobias: Zeilsheim, 41 − 45. 3 Für Angaben aus den offiziellen Lagerstatistiken von YIVO und Joint, vgl. Tobias: Zeilsheim, 127. Aufgrund einer Anzahl von Personen mit unvollständigen Dokumenten oder generell undokumentiertem Aufenthalt sind diese jedoch kaum als vollständig zu betrachten.
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Razzia im DP-Lager Zeilsheim am 24. März 1948 durch US-Behörden. Die Razzien stellten einen Versuch dar, den Schwarzmarkt einzudämmen. Deutsche Presse Agentur, Frankfurt am Main
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Razzia im DP-Lager Zeilsheim am 7. August 1948. Im Keller eines Hauses entdeckte die US-Militärpolizei einen Lebensmittelverkaufsladen. Deutsche Presse Agentur, Frankfurt am Main
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Tobias: Zeilsheim, 7. Tobias: Zeilsheim, 70. 6 Grossmann, Atina; Lewinsky, Tamar: Erster Teil 1945 − 1949. Zwischenstation. Brenner, Michael (Hrsg.): Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart. Politik, Kultur und Gesellschaft. München: C. H. Beck, 2012, 142. 7 Tobias: Zeilsheim, 35. 8 Ritter, Florian: Das „Displaced Persons“-Lager in Frankfurt am Main/Zeilsheim. Heuberger, Georg (Hrsg.): Wer ein Haus baut, will bleiben. 50 Jahre Jüdische Gemeinde Frankfurt am Main. Anfänge und Gegenwart. Frankfurt a. M.: Societäts-Verlag, 1998, 112. 9 Tobias: Zeilsheim, 82f. 10 Zitat aus dem Brief eines katholischen Priesters aus Frankfurt an den Bischof von Limburg. Überliefert bei Tobias: Zeilsheim, 106. 11 Zitiert nach Ritter: „Displaced Persons“-Lager, 115. 12 Senger, Valentin: Kurzer Frühling. Frankfurt a. M.: Fischer, 2011, 145 − 1 60. 13 Hilton, Laura J.: The Reshaping of Jewish Communities and Identities in Frankfurt and Zeilsheim in 1945. Patt, Avinoam; Berkowitz, Michael (Hrsg.): We Are Here: New Approaches to Jewish Displaced Persons in Postwar Germany. Detroit: Wayne State University Press, 2010, 194 − 226. 14 50 Jahre Jüdische Gemeinde: Bilddokumentation. Heuberger, Georg (Hrsg.): Wer ein Haus baut, will bleiben. 50 Jahre Jüdische Gemeinde Frankfurt am Main. Anfänge und Gegenwart. Frankfurt a. M.: Societäts-Verlag, 1998, 55. 15 Tauber, Alon: Zwischen Kontinuität und Neuanfang. Die Entstehung der jüdischen Nachkriegsgemeinde in Frankfurt am Main 1945 − 1949. Wiesbaden: Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, 2008, 28. 16 Der Begriff „Prüfstein“ („touchstone“) wurde in diesem Zusammenhang erstmals von John McCloy, dem amerikanischen Hohen Kommissar in Deutschland, eingeführt. Siehe Grossmann, Atina: Juden, Deutsche, Alliierte. Begegnungen im besetzten Deutschland. Göttingen: Wallstein, 2012, 408. 17 Grossmann: Juden, Deutsche, Alliierte, 203. 5
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Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main gedenken der zerstörte Synagoge am Börneplatz am 20. März 1946. Im Hintergrund ist zwischen den Bombenruinen der Frankfurter Kaiserdom St. Bartholomäus zu erkennen. Deutsche Presse Agentur, Frankfurt am Main
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ROSA ORLEAN (GEB. 1927) Rosa Orlean wurde 1927 in eine bürgerliche Familie in Krakau geboren. Zum Zeitpunkt des deutschen Überfalls auf Polen war sie zwölf Jahre alt, ihre gesamte Jugend verbrachte sie in diversen Ghettos und Lagern, unter anderem in Auschwitz. Nach der Befreiung 1945 konnte sie sich mit einer Gruppe junger Frauen zu den amerikanischen Truppen durchschlagen und daraufhin nach Krakau zurückkehren. Dort erlebte sie mit ihrer Tante einen Angriff auf ihr Wohnheim, weshalb sie sich ein Weiterleben in Polen nicht mehr vorstellen konnte. Sie gelangte über mehrere Stationen in das DP-Lager Frankfurt-Zeilsheim, wo sie auch ihre Schwester traf, die als einziges weiteres Mitglied der Familie überlebt hatte. In den insgesamt drei Jahren ihres Aufenthaltes im DP-Lager arbeitete sie für die UNRRA-Verwaltung. Auch lernte sie hier ihren Mann kennen. Als junge Frau genoss sie die Nähe zur großen Stadt und fuhr regelmäßig mit anderen Überlebenden zum Tanzen in die Frankfurter Innenstadt. Das Leben im Lager selbst war schwierig und von Unsicherheit und Perspektivlosigkeit geprägt. Rosa Orlean plante daher, mit ihrem Mann in die USA auszuwandern. Den beiden wurde jedoch aufgrund einer Lungenerkrankung Rosas die Einreise in die USA verweigert, sodass sie 1948 nach Auflösung des DP-Lagers in Frankfurt heirateten und eine Familie gründeten. Der Umzug vom „Wartezimmer“ Zeilsheim nach Frankfurt wurde somit zum tatsächlichen Beginn ihres neuen Lebens in Deutschland.
Rosa Orlean in DP-Lager Zeilsheim , 1945 − 1946. Privatsammlung Rosa Orlean, Frankfurt am Main
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Rosa Orlean (links) mit einer Freundin im Gemüsegarten des DP-Lagers Zeilsheim, 1945 − 1946. Privatsammlung Rosa Orlean, Frankfurt am Main
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Rosa Orlean bei der Hochzeit mit Stefan Orlean am 10. April, 1949. Privatsammlung Rosa Orlean, Frankfurt am Main
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ABRAHAM ROZENBERG (1928 – 2013) Abraham Rozenberg kam 1928 im polnischen Sosnowiec zur Welt, wo seine Eltern eine Bäckerei betrieben. Der deutsche Überfall auf Polen riss die Familie Rozenberg auseinander. Sein Vater Shamshe wurde 1940 ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert. 1943 wurde Abraham bei einer Selektion vor dem Bahnhof in Sosnowiec von seiner Mutter Leah und seine beiden jüngeren Brüdern Favel (Felek) und Issosre ( Jurek) getrennt. Abraham kam zunächst ins Lager Fünfteichen, ein Außenlager des Konzentrationslagers Groß-Rosen, von dort wurde er nach Buchenwald deportiert. Dort traf er Anfang 1945 im Krankenlager auf seinen sehr geschwächten Vater. Kurze Zeit später wurde er auf einen Todesmarsch nach Theresienstadt gezwungen, hier befreite ihn schließlich die Rote Armee. Nach Kriegsende kehrte Abraham Rozenberg zurück nach Sosnowiec, fand jedoch keine Familienmitglieder vor. Seine Mutter und seine Brüder waren vermutlich in Auschwitz ermordet worden. Im August 1945 gelangte er mit anderen überlebenden Kindern und Jugendlichen aus Theresienstadt über Prag nach Windermere (England), wo er eine Ausbildung zum Mechaniker machte. 1948 erreichte Abraham, der sich auf seine Auswanderung nach Israel vorbereitete, die Nachricht, dass sein Vater ebenfalls überlebt hatte und im deutschen Friedberg bei Frankfurt am Main wohnte. Er reiste daraufhin zu ihm und blieb. 1949 wurde er Mitglied der Boxmannschaft von Eintracht Frankfurt. Schnell wurde er ein Star, gewann drei Mal hintereinander die Hessenmeisterschaft und boxte sich 1951 ins Finale der Deutschen Meisterschaft in Hamburg. Im selben Jahr trat er bei der Makkabiade in Israel unter der Staatsangehörigkeit Scheerit Hapletah Germania (Rest der Geretteten Deutschlands) an. 1955 folgte er seinem Vater in die USA, wo er als Profi und als Sparringpartner von Weltmeister Rocky Marciano boxte. 1957 entschloss er sich zur Rückkehr nach Frankfurt. Er arbeitet als Türsteher und betrieb später unter anderem die nach ihm benannte Gaststätte „Bei Romme“ , die auch Oskar Schindler oftmals besuchte. 1973 heiratete er seine Frau Esther und bekam mit ihr zwei Söhne, Doron und Yuval.
Abraham Rozenberg, nachdem er Hessischer Meister im Schwergewicht wurde, in einer Sporthose mit Davidstern-Motiv, 1950. Privatsammlung Familie Rozenberg, Frankfurt am Main
FRANKFURT UND ZEILSHEIM
K.o.-Sieg für Abraham Rozenberg, um 1950. Der 1928 in Sosnowiec geborene Abraham Rozenberg, war nach einem Todesmarsch von Buchenwald vor Theresienstadt von der Roten Armee befreit worden. Zusammen mit anderen überlebenden Kindern und Jugendlichen kam er 1945 zur Erholung nach Großbritannien, wo auch sein Boxtalent entdeckt wurde. Privatsammlung Familie Rozenberg, Frankfurt am Main
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Die Titelseiten eines Fotoalbums, das Abraham Rozenberg anlässlich seiner mehrjährigen Mitgliedschaft von seinem Verein Eintracht Frankfurt 1955 erhielt. Rozenberg war erst 1949 Mitglied der Eintracht geworden, nachdem er 1948 wegen seines Vaters nach Frankfurt gekommen war, der Verein gratulierte ihm dennoch zum zehnjährigen Jubiläum. Privatsammlung Familie Rozenberg, Frankfurt am Main
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JÜDISCHE EHRENGERICHTE
IN DER AMERIKANISCHEN BESATZUNGSZONE DEUTSCHLANDS UND DIE ALLIIERTE JUSTIZ KATARZYNA PERSON
Im September 1946, auf dem Höhepunkt der Abwanderung osteuropäischer Juden in DP-Lager in Deutschland, Österreich und Italien, schrieb der jüdische Anwalt M. Cukerfajn einen Bericht für die viel gelesene jiddische Tageszeitung Undzer hofenung, die im DP-Lager in Eschwege produziert wurde. Darin beschrieb er die Einrichtung eines Lagergerichts in dem eben in Betrieb genommenen, in Hessisch Lichtenau gelegenen DP-Lager Herzog:1 Da es uns darum geht, eine Gesellschaft im Kleinen aufzubauen, Einzelne unter uns aber die ihr zugrundeliegenden gemeinsamen Regeln brechen könnten, und wir für solche Fälle eigene Lösungen finden und sie nicht von Fremden beurteilen lassen wollen, hat das Jüdische Komitee auf einer seiner Sitzungen vernünftigerweise beschlossen, im Lager ein Bürgergericht zu installieren. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es ist nicht die Absicht des Gerichts, Angst zu verbreiten, und es wird sich niemandem gewaltsam aufzwingen. Es ist lediglich bestellt worden, um dem Komitee bei der Aufrechterhaltung der Ordnung und Gerechtigkeit in unserem Lager beizustehen. In einem späteren Abschnitt fügte Cukerfajn noch hinzu: Unser Bürgergericht will niemanden bestrafen und, wie gesagt, keine Furcht verbreiten. Es geht ihm lediglich um die Lösung wirklicher Konflikte und darum, die Aufmerksamkeit auf schädliche Verhaltensweisen zu lenken, um deren Wiederholung zu verhindern. Um in dieser Weise als Wegweiser zu dienen, haben wir dieses Bürgergericht in unserem Lager eingerichtet.2
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Das Gericht im DP-Lager Herzog, dem Cukerfajn vorstand, war eines von hunderten. Derartige Gerichte wurden in allen größeren DP-Lagern in Deutschland eingerichtet.3 Teils waren sie auch als Ehrengerichte, disciplinary committees oder advisory committees bekannt.4 Ihre Mitglieder wurden von den Bewohnern des jeweiligen Lagers gewählt. Neben ihrer Rolle bei der Beilegung alltäglicher Konflikte boten diese Gerichte den jüdischen DPs auch eine entscheidende Möglichkeit, sich ihrer wiedergewonnenen Handlungsfähigkeit zu versichern und so zur Gestaltung einer Zukunft beizutragen, die in erster Linie ihren eigenen Vorstellungen und weniger jenen der Alliierten entsprechen würde. Die DP-Lager wurden anfangs von der UNO-Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung (United Nations Relief and Rehabilitation Administration, UNRRA) und dann von ihrer Nachfolgeinstitution, der Internationalen Flüchtlingsorganisation (International Refugee Organization, IRO) in Zusammenarbeit mit verschiedenen Hilfsorganisationen – allen voran dem Joint (JDC) – verwaltet. Die Bewohner der Lager entfalteten zahlreiche Aktivitäten und nutzten ihren Aufenthalt in Deutschland, um den Wiederaufbau ihres zerstörten Gemeinschaftslebens zu betreiben. Sie waren politisch aktiv und schufen politische Parteien, produzierten Zeitungen und organisierten jiddischsprachige Kulturprogramme. Vor allem aber entwickelten sie vielfältige Initiativen, um ihrer ermordeten und umgekommenen Angehörigen und Freunde und ihrer zerstörten Gemeinden zu gedenken. Dabei wollten sie die Vergangenheit zugleich zum Grundstein einer besseren Zukunft machen. Die Gerichte gehörten zu den zentralen Institutionen, die in DP-Lagern eingerichtet wurden. Mit anderen Initiativen der Überlebenden hatten die Gerichte gemein, dass sich ihre Arbeitsweise je nach dem Wohlwollen der örtlichen Vertreter der Militärregierung und der UNRRA von Lager zu Lager stark unterschied.5 Ihre Existenz stand immer wieder in Frage und ihre Vollstreckungsbefugnisse waren denkbar gering. Dennoch dienten sie, wie Cukerfajn betonte, nicht nur der Wahrung geregelter Abläufe im Lageralltag. Sie gaben den jüdischen DPs auf entscheidende Weise ihre Handlungsfähigkeit zurück. Die Gerichte befassten sich mit den unterschiedlichsten Streitfällen, die sich in der zwar relativ kleinen, aber enorm vielfältigen Lagerbevölkerung ergaben. Die jüdischen DPs stammten aus einer Vielzahl von Gegenden und sprachen eine ganze Reihe von Sprachen. Auch ihr religiöser und politischer Hintergrund und ihre Erfahrungen während des Kriegs unterschieden sich zum Teil erheblich. So befassten die Gerichte sich beispielsweise mit Konflikten, die die Verteilung von Hilfsgütern und Nahrungsmitteln im Lager betrafen, mit Problemen, die sich aus der Überbelegung des Lagers oder im Zusammenhang mit der Zuteilung von Unterkünften ergaben, mit Fällen von Trunkenheit und Diebstahl, mit Schlägereien und mit Verleumdungsvorwürfen, die sich häufig auf die Anschuldigung bezog, jemand habe im Krieg Verbrechen gegen andere
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Das Ehrengericht im DP-Lager Leipheim, 1946 − 1947. Yad Vashem, Jerusalem
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Juden begangen. Über Verstöße gegen religiöse Gesetze entschieden in vielen Lagern rabbinische Gerichte. Cukerfajn wies darauf hin, dass es den Gerichten gerade darum ging, dass die jüdischen DPs „für solche Fälle eigene Lösungen finden und sie nicht von Fremden beurteilen lassen“. Dies entsprach gewiss der talmudischen Tradition, Juden in der Regel nicht an die nichtjüdischen Behörden zu überstellen, spiegelte aber auch die Entschlossenheit der jüdischen DPs wider sicherzustellen, dass das von den Überlebenden des Holocaust erlittene unvergleichliche Trauma auf angemessene Weise berücksichtigt würde. Die jüdischen DPs waren davon überzeugt, dass nur die Überlebenden selbst die Last dieser Erfahrungen wirklich würden verstehen können, und verlangten daher, dass die Rechtsprechung in den jüdischen DP-Lagern auch nur von Menschen vorgenommen werden dürfte, die sich von dem Erleben der Überlebenden der Lager und Ghettos wirklich einen Begriff machen konnten. Das schloss Nichtjuden automatisch aus. Viele bezweifelten sogar, dass Juden, die den Holocaust nicht unmittelbar durchlitten hatten, die entsprechende Eignung mitbringen würden. So bezeichnete ein ehemaliger Ghettoinsasse, der vor einem Lagergericht als Zeuge ausgesagt hatte, die aus der Sowjetunion kommenden Juden als „jene Herren aus Russland“, die „groß vom Heldentum tönen“, während „nur wir wissen, dass die wahren Helden heute verstummt sind“.6 Die Diskussionen über die Arbeitsweise dieser Gerichte spiegelte also auch Auseinandersetzungen mit Blick auf den Status bestimmter Gruppen unter den jüdischen DPs und die Entstehung einer hierarchischen Ordnung wider, die zwischen drei verschiedenen Gruppen unterschied: Jenen, die die Ghettos und Lager überlebt hatten, jenen, die aus der Sowjetunion gekommen waren und die ab 1946 die überwiegende Mehrheit der DPs bildeten, und jenen, die als Soldaten oder Vertreter jüdischer Hilfsorganisationen aus Westeuropa oder den Vereinigten Staaten ins Lager gekommen waren. Für die Annahme, dass es Außenstehenden an Verständnis für die Lage der Überlebenden mangeln würde, gab es durchaus gute Gründe. Die DPs unterlagen während ihres Aufenthalts in Deutschland durchweg den von den Militärregierungen erlassenen Gesetzen und Regeln und somit der Militärgerichtsbarkeit.7 Die von den Überlebenden herausgegebenen Zeitungen und Zeitschriften berichteten wiederholt über Fälle, in denen Militärgerichte Überlebende ungerecht behandelt hatten, insbesondere wenn es um Verstöße gegen bestimmte von den Militärregierungen erlassene Gesetze ging, die beispielsweise den illegalen Waffenbesitz und Grenzübertritt und insbesondere den Handel auf dem „Schwarzmarkt“ untersagten.8 So wurde der 20jährige ehemalige Buchenwaldhäftling Chaim K. beispielsweise durch das britische Militärgericht wegen illegalen Waffenbesitzes zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt. K. sprach keine der beiden Sprachen, in denen die Verhandlung geführt
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wurde (Deutsch und Englisch), und obgleich er ein Anrecht auf den Beistand des polnischen Verbindungsoffiziers hatte, stand ihm dieser nicht bei.9 K. wurde nur darum schließlich doch noch freigesprochen, weil Vertreter jüdischer Hilfsorganisationen internationale Aufmerksamkeit auf den Fall lenkten, indem sie darüber in London berichteten. Solche Vorkommnisse bestärkten die Überlebenden in ihrem Entschluss, derartige Fälle wenn möglich unter sich auszumachen, und die amerikanischen Militärbehörden gestanden inoffiziell durchaus zu, dass jüdische Straftäter aus den DP-Lagern „nicht an die Gerichte der Militärregierung überstellt werden“ und jüdische Zeugen „in den Militärgerichten nicht gegen andere Bewohner der Lager aussagen“.10 Für die jüdischen DPs trug das Richten über andere Juden in jenen Fällen in besonderem Maße zur Rückerlangung der eigenen Handlungsfähigkeit bei, in denen es um Kollaborationsvorwürfe ging. Diese erweckten auch das stärkste Interesse unter den Überlebenden in den Lagern. Erhoben wurde dieser Vorwurf gegen ehemalige Angehörige der Judenräte, des Jüdischen Ordnungsdiensts und Kapos, sogenannte Funktionshäftlinge, die den Lagerleitungen bei der Ausübung ihrer Kontrolle über die Gefangenen in den Zwangsarbeits- und Konzentrationslagern geholfen hatten. Unter Kollaboration wurden zahlreiche Tatbestände gefasst, die von der Erlangung wirtschaftlicher Vorteile durch Zusammenarbeit mit den Deutschen, Bestechung und Ausübung von Gewalt gegen andere Gefangene oder Ghettobewohner bis zur Auslieferung von Juden an die Deutschen reichten. Ähnlich wie andere Gruppen in Europa, die sich mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs auseinanderzusetzen hatten, nahmen auch die jüdischen DPs sich dieser Fälle überwiegend direkt an, ohne rechtliche Verfahren abzuwarten. Wie viele der Kollaboration verdächtigte Menschen in den Lagern nach der Befreiung getötet wurden, ist nicht bekannt, doch wurden sie mit großer Häufigkeit verprügelt.11 Im November 1945 verwies die im DP-Lager im bayrischen Landsberg herausgegebene Landsberger Lager-Cajtung auf „zahlreiche Fälle, in denen einzelne Lagerbewohner Leute angreifen und verletzen, die sie für Kapos halten“, und forderte die DPs auf, von dieser Form der „Selbstjustiz“ abzusehen.12 Die Etablierung der Gerichte stellte letztlich eine Reaktion auf diese Situation dar, einen Versuch, die Selbstjustiz dadurch im Zaum zu halten, dass man Institutionen schuf, denen die Überlebenden vertrauen konnten und die es ihnen ermöglichen würden, Konflikte unter den DPs weiterhin selbst zu lösen, ohne sich an Außenstehende zu wenden. Gerade den Umgang mit Kollaborateuren wollten die DPs unter sich ausmachen. Verständlicherweise wollten die Überlebenden den antisemitischen Mythos von der weit verbreiteten jüdischen Komplizenschaft während des Holocaust nicht nähren. Viele der Überlebenden meinten, „dass nichtjüdischen Gerichten das Urteilen über Verbrechen von Juden an Juden nicht zugetraut“ werden könne. Sie waren „zutiefst davon überzeugt, und empfanden mit großer
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Jüdische Polizisten des DP-Camps Zeilsheim verhaften einen Mann, der in Zeilsheim als ehemaliger Kapo erkannt wurde, 1945 − 1948. United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C., courtesy of Alice Lev
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Das jüdische Ehrengericht im DP-Lager Hofgeismar, 1946−1949. Yad Vashem, Jerusalem
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Dringlichkeit, dass Juden nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hatten, diese internen Angelegenheiten unter sich auszumachen“.13 Viele der Überlebenden hatten ihren Blick bereits auf den Beitrag gerichtet, den die DPs bei der Schaffung Israels als einer neuen nationalen Heimstätte würden leisten können. Aus ihrer Sicht sollten die Gerichte nicht nur die Ordnung im Lager aufrechterhalten und den Alliierten gegenüber einen guten Eindruck machen. Ihnen galt die Arbeit der Gerichte auch als Mittel zur Schaffung einer Gemeinschaft, die mit sich im Reinen und den Herausforderungen der Zukunft gewachsen war, ohne von den Vergehen Einzelner während des Kriegs überschattet zu werden. Oft waren die der Kollaboration verdächtigen Personen nur schwer ausfindig zu machen. Dank einer bemerkenswert effektiven Vernetzung, die den Austausch von Informationen über die Migrationspfade der Holocaust-Überlebenden nach dem Krieg ermöglichte, konnte dennoch eine überraschend hohe Zahl von Beschuldigten vor Gericht gestellt werden. Die entsprechenden jüdischen Institutionen in den DP-Lagern tauschten sich über den möglichen Verbleib vermeintlicher Kollaborateure mit einer Reihe jüdischer Organisationen in Polen, Westeuropa, den Vereinigten Staaten und Südamerika aus, und ermöglichten so einen regen Austausch relevanter Dokumente und Zeugenaussagen.14 Anfangs fanden die Prozesse gegen angebliche Kollaborateure vor den regulären Lagergerichten statt. So ging es in einem der ersten Prozesse vor dem eingangs erwähnten Lagergericht in Hessisch Lichtenau um einen Angeklagten, der der Kollaboration verdächtigt wurde. Der 23-jährige Jakow Flajszheker wurde beschuldigt, „von Anfang 1942 bis Ende 1943, während er in den Bädern des Lagers in Skarżysko-Kamienna als Desinfektionsarbeiter tätig war,15 jüdische Insassen und insbesondere Frauen misshandelt, ins Gesicht geschlagen, verprügelt und gezwungen zu haben, sich in seiner Gegenwart auszuziehen, Wertsachen der Neuankömmlinge gestohlen und zahlreiche andere brutale Handlungen begangen zu haben“. Flajszheker gestand einige der Vergehen, die ihm vorgeworfen wurden, und wurde zu drei Monaten Haft im Lagergefängnis verurteilt (allerdings verfügte das Gericht über keine offizielle Befugnis, die Strafe zu vollstrecken). Anschließend sollte er das Lager und seine unmittelbare Umgebung verlassen, doch beschloss das Gericht, Flajszheker könne sich dann nach einem Jahr „an jedes beliebige jüdische Gericht wenden, um sich begnadigen zu lassen, vorausgesetzt, er kann nachweisen, dass sein Verhalten und seine Arbeit während dieses Jahres der jüdischen Gesellschaft genutzt, und er sich so der uneingeschränkten Bürgerrechte als würdig erwiesen habe“.16 Diese von den üblichen juristischen Konventionen deutlich abweichende Option der Rehabilitation und Reintegration war das Herzstück der von den Überlebenden gewünschten und durchgeführten Rechtsprechung. Die Entscheidungen der Gerichte stießen nicht immer auf volle Zustimmung. Milde Urteile wie jenes gegen Flajszheker führten oft zu Protesten,
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gerade von DPs, denen die Kollaborateure direkt geschadet hatten. Im Sommer 1946 beklagte der Autor eines in der jüdischen DP-Zeitung A Heim veröffentlichten Artikels den „Mangel an Disziplin in unseren Massen, die wahrlich lachhaften Handlungen unserer Sicherheits- und Rechtsinstitutionen“ und das „feige Verhalten unserer Richter“. Angesichts der milden Urteile fragte er: „Welchem Kodex folgen diese Herren? Folgen sie der Torah? Darin finden sich Maßgaben wie ‚Auge um Auge‘, die gewährleisten, dass jeder die Strafe erhält, die er verdient.“17 Einwände dieser Art ergaben sich nicht zuletzt aufgrund der überaus begrenzten Vollstreckungsmöglichkeiten der Gerichte. Doch lagen ihnen auch grundlegendere Auseinandersetzungen zugrunde. Trotz des gegenläufigen Drucks vieler aufgebrachter DPs beschlossen die Lagergerichte schließlich, dass weder die Mitgliedschaft im Jüdischen Ordnungsdienst noch die Tätigkeit als Kapo als solche den Ausschluss Beschuldigter aus der jüdischen Gemeinschaft rechtfertigten. Nur denjenigen, die besonderer Brutalität überführt worden waren, wurde die Wahrnehmung von Leitungsfunktionen untersagt. Einer der einflussreichsten jüdischen DPs, Samuel Gringauz, ein Überlebender des Ghettos in Kowno,18 der zweimal zum Präsidenten des Rats der befreiten Juden in Bayern gewählt wurde und später die ersten Aufsätze zur Organisation und Soziologie des Lebens im Ghetto und der dortigen Machtstrukturen schrieb, setzte sich nachdrücklich für dieses nachsichtige Vorgehen ein. Er war zutiefst davon überzeugt, dass die jüdische Erneuerung konstruktiv angegangen werden müsse. Nicht Vergeltung auf Gedeih und Verderb, sondern nur produktive Arbeit und Bildung werde die erhoffte „innere Reinigung und moralische Erneuerung“ bringen.19 Vom Sommer 1946 an wurden die einzelnen Lagergerichte in der amerikanischen Besatzungszone von dem vom Zentralkomitee der befreiten Juden eingerichteten zentralen jüdischen Ehrengericht in München beaufsichtigt. Seine Mitglieder wurden von den Delegierten der Kongresse der befreiten Juden in der US-Besatzungszone gewählt. Das Zentralkomitee schuf 1947 eine neue Einrichtung, die Rehabilitationskommission, die ausschließlich mit der Bearbeitung von Anschuldigungen der Kollaboration betraut war. Sie übernahm 1948 alle derartigen Fälle. Es wurde angenommen, dass die Kommission eher als die einzelnen Lagergerichte imstande sein würde, Beweismittel zu sichern und Zeugen ausfindig zu machen, und dass die Beaufsichtigung durch das von der US-Militärregierung offiziell anerkannte Zentralkomitee eher eine erfolgreiche Durchführung derart wichtiger Verfahren gewähren würde. Außerdem diente die Kommission jenen, die ihre Verurteilung durch einzelne Lagergerichte für ungerechtfertigt hielten, als Berufungsinstanz und entschied über Rehabilitationsgesuche. Dies war ein wichtiges Tätigkeitsfeld, da durchaus nicht alle Anschuldigungen der Kollaboration gerechtfertigt waren beziehungsweise
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in gutem Glauben erfolgten. Die relevanten Archivmaterialien belegen unmissverständlich, dass solche Anschuldigungen auf eine ganze Reihe (einander zum Teil überschneidender) Motive zurückgehen konnten, darunter auch Neid (etwa, wenn jemand im Lager ein hohes Amt bekleidete oder ein Ausreisevisum erhalten hatte) oder das Bedürfnis, alte (zum Teil sogar noch aus der Vorkriegszeit herrührende) Rechnungen zu begleichen beziehungsweise sich an Einzelnen aus rein persönlichen Gründen zu rächen. In ganz besonders schwerwiegenden Fällen überstellte die Rehabilitationskommission Beschuldigte an die Alliierten Militärgerichte der britischen und amerikanischen Besatzungszonen. Wie schwer diese Entscheidung wog, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass die Betroffenen keinerlei Unterstützung von jüdischer Seite mehr erhielten. Ein besonders berüchtigter Fall war jener des ursprünglich aus Galizien stammenden ehemaligen Lagerältesten des mit einer Munitionsfabrik verbundenen Zwangsarbeiterlagers der Hasag in Częstochowa, Norbert Jolles. Ehemalige Häftlinge des Lagers beschrieben ihn einhellig als Sadisten, der über eine enorme Machtfülle in dem Lager verfügt habe. Ihm sei es gestattet worden, nicht nur jüdische Gefangene, sondern auch manche der deutschen Vorarbeiter zu schlagen. Zeugen gaben an, er habe Einfluss darauf gehabt, wer auf die Deportationslisten kam. Dadurch sei es ihm möglich gewesen, Häftlinge, die ihn hätten belasten können, in den Tod zu schicken. Ein Zeuge sagte aus, dass „Jolles eine Art Schreckgespenst in den Lagern war. Alle fürchteten sich vor ihm. Wenn uns jemand drohen wollte, hieß es: Jolles wird zu dir kommen.“20 Jolles’ Schuld wog umso schwerer, als seine Position im Lager beziehungsweise im Ghetto es ihm gestattet hätte, anderen Gefangenen zu helfen. „Hätte er nur gewollt, wäre für uns alles leichter gewesen“, so ein Zeuge; er „konnte Menschen vor dem Tod bewahren, wenn er es nur wollte“, so eine Zeugin.21 Die Rehabilitationskommission in München befand Jolles des Verrats am jüdischen Volk für schuldig (einen schwerwiegenderen und schmachvolleren Urteilsspruch gab es nicht) und überstellte ihn an das amerikanische Militärgericht. Damit nicht genug, legte sie der polnischen Militärmission in Berlin nahe, Jolles’ Auslieferung zu erwirken. Aus der Akte Jolles’ im Warschauer Instytut Pamięci Narodowej geht hervor, dass die polnischen Behörden 1950 über einen Auslieferungsantrag berieten, letztlich aber wegen der schlechten Beweislage davon absahen.22 Ein weiterer Jude, der vor ein Militärgericht gestellt wurde, war Ignatz Schlomowicz. Zusammen mit der berüchtigten Stella Goldschlag wurde er als ehemaliger Kapo im Rahmen des BergenBelsen-Prozesses in Hamburg verschiedener Kriegsverbrechen angeklagt. Goldschlag hatte als „Greiferin“ hunderte Juden, die sich versteckt hatten, an die nationalsozialistischen Behörden verraten.23 Auch gegen einige andere Kollaborateure wurde vor alliierten Militärgerichten verhandelt, doch blieb dies die absolute Ausnahme.24
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Das jüdische Ehrengericht im DP-Lager Föhrenwald, in der Mitte Dr. Zygmunt Herzig, 1945 − 50. Wie im Gerichtsraum im DP-Lager Hofgeismar führt auch in Föhrenwald Theodor Herzl den symbolischen Vorsitz bei Gericht. Privatsammlung Dr. Hanna Herzig, Tel Aviv, Israel
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Büro des jüdischen Ehrengerichts im DP-Lager Föhrenwald, 1945−1950. Privatsammlung Dr. Hanna Herzig, Tel Aviv, Israel
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Die Gerichte waren ebenso wenig auf Dauer angelegt wie die übrigen von den DPs geschaffenen Institutionen. Nach der Gründung Israels und der Einführung der Displaced Persons Acts in den USA in den Jahren 1948 und 1950 schlossen die Lager nach und nach, und die meisten DPs verließen Europa. Trotz ihrer kurzen Lebensspanne spielten die Gerichte beim Wiederaufbau des jüdischen Gemeinschaftslebens nach der Verheerung des Holocaust jedoch eine außerordentlich wichtige Rolle. Rivka Brot zufolge spiegelten sie die Entschlossenheit der jüdischen DPs wider, „als eigenständige, politisch, kulturell und rechtlich unabhängige nationale Gemeinschaft die unter den gegebenen Umständen größtmögliche Anerkennung zu erzielen“.25 Indem sie ihre eigenen Gerichte schufen, versuchten die jüdischen DPs, sich von außen aufoktroyierten, nichtjüdischen Interpretationen ihrer Erfahrungen des Kriegs und der Verfolgung zu entziehen. Um dies ohne ernsthafte Vollstreckungsmöglichkeiten leisten zu können und ihre Glaubwürdigkeit unter den DPs zu wahren, mussten die Gerichte sich auf eine mündige, nichtpolitisierte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit einlassen und sich ihren Dämonen nach bestem Vermögen stellen. Trotz der grauenhaften Verfolgung, die ihre Angehörigen erlitten hatten, setzte die Gemeinschaft sich mehr oder weniger umgehend kritisch mit ihren Handlungen während des Kriegs auseinander. Dies erwies sich als ebenso wichtig wie die juristische Abrechnung mit denen, die maßgeblich für die an den Juden begangenen Verbrechen verantwortlich waren. Den DPs ging es bei der Rechtsprechung im Umgang mit den eigenen Leuten nicht nur um Fragen der Gerechtigkeit, sondern ganz wesentlich auch darum, Grundlagen für ihr künftiges Leben und den Wiederaufbau einer Gemeinschaft nach der furchtbaren Traumatisierung und Verheerung durch den Holocaust zu schaffen. 1
Camp Herzog wurde im Juli 1946 in ehemaligen Fabrikarbeiterbaracken eingerichtet und beherbergte bis zu seiner Auflösung im Januar 1949 ungefähr 1200 jüdische DPs. 2 Cukerfajn, M.: Undzer lager-gericht. Undzer hofenung Nr. 12 vom 25.9.1946, 7. 3 Derartige Gerichte richteten nicht nur jüdische DPs, sondern auch die Angehörigen anderer nationaler Gruppen ein. Zu entsprechenden polnischen Initiativen siehe beispielsweise: Sądownictwo i samorząd. Osiągnięcia obozu wysiedleńców w Wentorf. Defilada Nr. 9 vom 9.05.1946, 6, zitiert bei Żak, Jakub: Polscy dipisi w zachodnich strefach okupacyjnych Niemiec na łamach polskiej prasy emigracyjnej. Naukowy Przegląd Dziennikarski Nr. 23 (2017), 102; Archivmaterialien zu polnischen Gerichten finden sich im Archiv des Piłsudski Institute in New York City, zespół archiwalny nr 024, Uchodźcy Polscy w Niemczech 1939–1952. Zum Streben der Holocaustüberlebenden nach Gerechtigkeit siehe Jockusch, Laura; Finder, Gabriel N. (Hrsg.): Jewish Honor Courts: Revenge, Retribution, and Reconciliation in Europe and Israel after the Holocaust. Detroit: Wayne State University Press, 2015. 4 Zur Begrifflichkeit siehe Brot, Rivka: Conflicting Jurisdictions: The Struggle of the Jews in the Displaced Persons Camps for Legal Autonomy. Dapim: Studies on the Holocaust 31.3 (2017), 196f. 5 Zum rechtlichen Status der Gerichte siehe Brot: Conflicting Jurisdictions. 6 Abraham Steczer an Hermann Altbauer, 10.3.1948, YIVO Archive, RG 294.3, MK 489, Micro-
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film reel 17, folder 189. Dass Menschen, die nicht selbst in den Lagern gewesen waren, die Fälle ehemaliger Kapos angemessen beurteilen könnten, wurde auch anderswo in Europa bezweifelt, so beispielsweise in Polen. Siehe Wóycicka, Zofia: U „kresu pewnej moralności“: dyskusje wokół procesów więźniów funkcyjnych w Polsce 1945–1950. Zagłada Żydów: Studia i Materiały 3 (2007), 363f. 7 Im Mai 1945 wurde jüdischen und nichtjüdischen polnischen DPs in Dortmund ein Militärgerichtsprozess angedroht, weil sie sich nicht an die verhängte Ausgangssperre hielten, nachts nicht in die Baracken zurückkehrten beziehungsweise das Lager ohne Erlaubnis verließen. Siehe Przepisy dla uczestników obozu Nr. 2, 2 maja 1945. Głos Wyzwolenia: Pismo obozowe wyzwolonych z niewoli niemieckiej robotników przymusowych w Dortmundzie Nr. 8 vom 3.5.1945, 4. 8 Rivka Brot zufolge bestand das Justizsystem der Militärregierung in der amerikanischen Besatzungszone aus drei Instanzen: den gewöhnlichen Gerichten der unteren Instanz, einer mittleren Berufungsinstanz und einem obersten Gerichtshof. Die meisten Prozesse gegen DPs fanden vor den gewöhnlichen Gerichten statt. Brot: Conflicting Jurisdictions, 177, Fn 12. Siehe auch Mintzer, Oscar A.: In Defense of the Survivors: The Letters and Documents of Oscar A. Mintzer, AJDC Legal Advisor, Germany, 1945–46. Berkeley: Judah L. Magnes Museum, 1999. 9 Control Office for Germany and Austria, Brief an Brian Robertson, 11.3.1946, The National Archives (TNA), London, FO 1032/2257, Treatment of Jewish DPs and other irrepatriables: vol II. 10 Memorandum von Major General H. L. McBride, Hauptquartier der Neunten Infanteriedivision, an den Kommandierenden General der Dritten US-Armee, 21.11.1946, UNRRA Archive, New York, S-0425-0018-12, Legal Matters – Courts – Camps. 11 Kathryn Hulme, die als stellvertretende Leiterin eines UNRRA-Teams im DP-Lager Wildflecken tätig war, zitiert in ihren Erinnerungen die Aussage, dass „die Polen ihre Kapos beseitigen“ (Hulme, Kathryn: The Wild Place. Boston: Little, Brown, 1953, 14). 12 Appeal to Residents of the Landsberg Center. Landsberger lager-cajtung Nr. 5 vom 12.11.1945, 6. 13 Jockusch, Laura: Rehabilitating the Past? Jewish Honor Courts in Allied-Occupied Germany. Jockusch u. Finder (Hrsg.): Jewish Honor Courts, 52. 14 Siehe Person, Katarzyna: Jews Accusing Jews. Denunciations of Alleged Collaborators in Jewish Honor Courts. Jockusch u. Finder (Hrsg.): Jewish Honor Courts, 225–246. 15 Das in der polnischen Stadt Skarżysko-Kamienna gelegene Zwangsarbeitslager für jüdische Gefangene war von August 1942 bis August 1944 in Betrieb. In dem Lager kamen schätzungsweise 18 000 bis 23 000 Juden um. 16 Urteil fun lager-gericht n. 146. Undzer hofenung Nr. 12 vom 25.9.1946, 7. Zum Umgang der jüdischen Nachkriegsgerichte mit sexueller Gewalt siehe Ewa Koźmińska-Frejlak: „I’m Going to the Oven Because I Wouldn’t Give Myself to Him“: The Role of Gender in the Polish Jewish Civic Court. Jockusch u. Finder (Hrsg.): Jewish Honor Courts, 247–278. 17 Ami, Ben: Wi zat ojs bei undz der gerechtikajts-organ? A Heim Nr. 13 vom 4.6.1946, 11. 18 Interview mit Samuel Gringauz, Leo Baeck Institute Archives, AR 25385. Zu Gringauz’ Rolle in den DP-Lagern siehe Mankowitz, Ze’ev: Life between Memory and Hope: The Survivors of the Holocaust in Occupied Germany. Cambridge: Cambridge University Press, 2002, 173–191. 19 Gringauz, Samuel: In cejchn fun martirertum hofnung un arbet. Landsberger lager-cajtung Nr. 2 (14) vom 18.1.1946, 1, zitiert in Mankowitz: Life between Memory and Hope, 187. 20 Zeugenaussage Leib Storch, Yad Vashem Archive, M.21.2, folder 4. 21 Zeugenaussagen von Chaim Fisz und Rola Klempner, Yad Vashem Archive, M.21.2, folder 4. 22 Instytut Pamięci Narodowej Archive, GK 164/1424, Norbert Jolles. 23 Zu Stella Kübler-Isaacksohn (geb. Goldschlag) siehe Wyden, Peter: Stella: One Woman’s True Tale of Evil, Betrayal, and Survival in Hitler’s Germany. New York: Simon & Schuster, 1992. 24 Jockusch: Rehabilitating the Past, 52. 25 Brot: Conflicting Jurisdictions, 193.
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KATARZYNA PERSON
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JÜDISCHE EHRENGERICHTE IN DER AMERIKANISCHEN BESATZUNGSZONE
Das Ehrengericht in Ulm verhört einen Mann, dem vorgeworfen wird, ein Kapo gewesen zu sein, 1947. Yad Vashem, Jerusalem
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AMSTERDAM
DIE STADT DER KONFLIKTE KATA BOHUS In Amsterdam ist eine Nachbarschaft weitgehend verwaist. Die Häuser sind leer und verfallen erneut. Die Straßen sind so still und voller klaffender Schlaglöcher. Wo sind die Menschen? Werde ich sie je wiedersehen? Wo sind die Obst- und Blumenhändler, wo ist der Lumpensammler, der stets kam? Wo sind die Zehntausenden, die hier namenlos bleiben müssen? Wo sind Amsterdams Juden? Aus Hans Kriegs Lied Wo sind Amsterdams Juden? (1947)1 Britische und kanadische Truppen befreiten Amsterdam im Mai 1945. Unter den Juden Westeuropas hatten die holländischen im Krieg die verheerendsten Verluste erlitten. Weniger als 25 Prozent der Juden in den Niederlanden (etwa 35 000) hatten überlebt. Vor dem Krieg gab es 77 000 Juden in Amsterdam, nun waren es nur noch knapp 15 000.2 Die meisten Überlebenden waren davon überzeugt, dass die Geschichte der holländischen Juden an ihren Endpunkt gelangt war. Paradoxerweise bemühten dieselben Menschen sich aber gleichzeitig um den Wiederaufbau des jüdischen Lebens.3 Die Frage, wie dieser Wiederaufbau erfolgen sollte, bestimmte sämtliche Diskussionen unter den Juden der Hauptstadt. Obwohl das Jüdische Koordinationskomitee (Joodse Coördinatie Commissie, JCC) als zentrale Interessenvertretung der organisierten holländischen Juden im Sommer 1945 ein Büro in Amsterdam einrichtete, erkannten die niederländischen Behörden sein Mitspracherecht nur begrenzt an. Dies wurde im Rahmen der Auseinandersetzung um die Zukunft der etwa 3500 jüdischen Waisen, die in den Niederlanden überlebt hatten, deutlich. Von ihnen waren 1300 jünger als fünfzehn.4 Im August 1945 wurde die amtliche Kommission für Kriegspflegekinder (Commissie voor Oorlogspleegkinderen, OPK) eingerichtet, um zu entscheiden, wer sich künftig um sie kümmern sollte. Die OPK gestand den Juden keinen kollektiven Anspruch darauf zu, dass die Kinder an die Überlebenden übergeben oder von jüdischen Institutionen betreut werden sollten. Viele von ihnen blieben daher bei ihren christlichen Pflegeeltern und wuchsen
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Lina Kaufmann und ihre Tochter Marion, die während des Kriegs getrennt versteckt waren, fanden nach der Befreiung wieder zusammen. Marion Kaufmann überlebte in einem katholischen Kloster vor den Toren Amsterdams. Ihre Mutter versteckte sich zuerst in einem fensterlosen Raum in der Stadt, danach für eineinhalb Jahre in einem Heuhaufen. Das Foto wurde 1945 nach ihrer Rückkehr nach Amsterdam aufgenommen. United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C., courtesy of Marion I. Cassirer
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heran, ohne sich ihrer jüdischen Herkunft bewusst zu sein. Der Kampf um die „versteckten Kinder“ war wohl das dringlichste Anliegen der holländischen Juden im Rahmen ihrer Bestrebungen um den Aufbau einer Zukunft nach der Katastrophe. Das alte jüdische Viertel Amsterdams war während des Hungerwinters 1944/45 beinahe vollständig demontiert worden: das Holz war aus sämtlichen Gebäuden entfernt und als Brennstoff verwendet worden. Die berühmte portugiesische Synagoge Esnoga war als Bauwerk von nationaler Bedeutung unter Denkmalschutz gestanden und blieb verschont. Die mit der Esnoga verbundene Etz-Hayyim-Bibliothek konnte 1947 wiedereröffnet werden, nachdem es gelungen war, die meisten Manuskripte und Sammlungen aus ihrem Bestand aus dem berüchtigten nationalsozialistischen Institut zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt rückzuführen.5 Beim ersten Gottesdienst nach dem Krieg sprach Rabbiner Justus Tal, der in Amsterdam im Untergrund überlebt hatte, am 9. Mai 1945 zu den in der Esnoga versammelten Überlebenden. Tal wurde 1951 zum Amsterdamer Oberrabbiner ernannt und stand später dem Obersten Rabbinat der Niederlande vor. Gemeinsam mit einigen anderen Rabbinern, die überlebt hatten, bemühte sich Tal, den „typischen Charakter des holländischen Judentums“ zu bewahren.6 Darunter verstand er eine „gemäßigte Orthodoxie“, in deren Rahmen die Gläubigen in der Synagoge der Autorität des Rabbiners und des jüdischen Religionsgesetzes (der Halacha) unterstellt waren, sich aber zugleich in die holländische Zivilgesellschaft integrierten. Diese holländische Orthodoxie galt es zudem vor „ausländischen“ Einflüssen zu schützen, ob liberal oder ultraorthodox.7 Ido de Haan hat darauf hingewiesen, dass eine der Konsequenzen des Holocaust darin bestand, dass den holländischen Nachkriegsrabbinern „mehr an der Orthodoxie als dem Austausch mit der Umwelt gelegen war“.8 In der abgeschiedenen Welt der Religion fühlten sie sich sicherer und sie sahen sich als Hüter der species hollandia judaica. Die aschkenasische und die portugiesische Gemeinde (beide waren orthodox),9 konnten nach der Befreiung bald wieder regelmäßige Gottesdienste abhalten. Das Rabbinat wurde zum wichtigsten Verbündeten der streng orthodoxen Agudas-Jisroel-Bewegung. Diese Organisation und ihr Arbeiterflügel Poale Agudat Jisrael spielten beim Wiederaufbau der jüdischen Infrastruktur nach dem Krieg eine entscheidende Rolle. Sie errichteten in Amsterdam eine Aufnahmestelle für Überlebende, gründeten verschiedene Zeitschriften und organisierten regionale Studienseminare (Limmud-Tage). Zudem wurde die eigenständige Hasjalsjelet-Jugendbewegung ins Leben gerufen, der es auch gelang, nichtorthodoxe Jugendliche zu erreichen. Die liberale Gemeinde (Liberaal Joodse Gemeente) bildete in Amsterdam bis Mitte der 1950er Jahre eine kleine deutsch-jüdische Enklave inmitten der holländischen Juden. Erst danach vergrößerte sie sich erheblich.
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Erster Nachkriegsgottesdienst in der portugiesischen Synagoge am 9. Mai 1945. Fotos: Boris Kowadlo, Nederlands Fotomuseum Rotterdam, Niederlande
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Der säkulare Zionismus zog wiederum zahlreiche, überwiegend junge Überlebende an und wurde die wichtigste Alternative zur traditionellen holländisch-jüdischen Orthodoxie. Die seit Langem etablierte Wochenzeitung der holländischen Juden, Nieuw Israëlietisch Weekblad, die bereits am 17. Mai 1945 wieder erschien, unterstützte im Gegensatz zu ihrer orthodoxen Ausrichtung vor dem Krieg nun den Zionismus.10 Der Niederländische Zionistenbund (Nederlandse Zionisten Bond) war die erste bereits vor dem Krieg bestehende jüdische Organisation, die unmittelbar nach der Befreiung wieder auf die Beine kam. Ende 1945 hatte er in der Hauptstadt 706 Mitglieder, im nächsten Jahr waren es bereits 1039.11 Die Zionisten wurden vom Jüdischen Koordinationskomitee unterstützt. Sie richteten Hachscharot (Ausbildungslager für junge Juden in Vorbereitung auf die Emigration nach Palästina) ein und organisierten in Amsterdam eine Kundgebung gegen die britische Palästinapolitik. Die Jewish Agency unterhielt in der Stadt ein Palästinabüro, das Auswanderungswillige unterstützte.12 Viele holländische Juden wanderten in der Tat aus, doch gingen von den schätzungsweise 6 000, die die Niederlande unmittelbar nach dem Krieg verließen, nur ungefähr 1000 nach Palästina/Israel.13 Die holländischen Nichtjuden stellten ihre eigenen Sorgen in den Vordergrund und brachten den zurückkehrenden Juden wenig Mitgefühl entgegen. Sie waren nicht bereit anzuerkennen, dass die Juden während des Kriegs besonders schwere Verluste erlitten und in besonderem Maße gelitten hatten. Die damals weit verbreitete Haltung wurde in einem Artikel treffend zusammengefasst, der 1945 in der Juliausgabe der Widerstandszeitschrift De Patriot erschien. Juden wurden dort aufgefordert, sich mit ihrer Lage zufriedenzugeben und „zunächst jenen ihre Dankbarkeit zu erweisen, die der Juden wegen zu Opfern wurden“. Schließlich seien sie „gewiss nicht die Einzigen“ gewesen, „denen es schlecht ging und die zu leiden hatten“.14 Im Jahr 1951 wurde das erste Holocaustdenkmal in Amsterdam errichtet. Allerdings war dieses „Denkmal der jüdischen Dankbarkeit“ in erster Linie jenen gewidmet, die Juden während des Kriegs unterstützt hatten. Die Vorstellung von einem vereinten holländischen Widerstand gegen die antijüdischen Maßnahmen und die deutsche Besatzungsmacht wurde zum Gründungmythos der holländischen Nachkriegsgesellschaft. Folglich wurde aller holländischen Kriegsopfer gleichermaßen gedacht, und es war kaum jemand bereit, sich mit der spezifischen Opfererfahrung der Juden auseinanderzusetzen. Der Fall der Hollandsche Schouwburg in Amsterdam illustriert dies. Die Schouwburg war vor dem Krieg ein Theater gewesen, diente aber in den Jahren 1942 und 1943 als Sammellager, in dem die Nationalsozialisten insgesamt mindestens 46 000 Juden vor ihrer Deportation festhielten.15 Im November 1945 eröffnete dort wieder eine Vergnügungsstätte, wogegen sich bald Proteste erhoben. Es folgten jahrelange Auseinandersetzungen zwischen dem neuen Eigentümer, der Amsterdamer
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Zionistisches Sommerlager, an dem viele junge Amsterdamer Juden und Jüdinnen teilnahmen. 1946 − 1947. Joods Historisch Museum, Amsterdam
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Das Schiff „Negbah“ verlässt den Hafen von Amsterdam in Richtung Israel, 1948. Joods Historisch Museum, Amsterdam
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Das Gebäude der Hollandschen Schouwburg in Amsterdam, das als Sammellager für die Deportationen verwendet wurde. Foto 1955. Joods Historisch Museum, Amsterdam
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Kommune und einer jüdischen Stiftung, die das Gebäude für sich beanspruchte. Der Amsterdamer Stadtrat rang sich erst 1958 dazu durch, in dem Gebäude ein Mahnmal für die Opfer der Schoa zu errichten. Inmitten der überwiegend hartherzigen nichtjüdischen Mehrheit in den Niederlanden tat sich die dezimierte jüdische Bevölkerung Amsterdams schwer, sich selbst neu zu definieren. Viele wandten sich der traditionellen holländisch-jüdischen Orthodoxie, andere dem säkularen Zionismus zu. Bis heute leben einige tausend Jüdinnen und Juden in Amsterdam, doch erinnern die meisten jüdischen Orte und Symbole in der Stadt vor allem an das einstige, so brutal ausgelöschte jüdische Leben in der Stadt.
1
Siehe: Hollandsche Schouwburg ontdekt uniek naoorlogs lied. Waar bleven de Joden van ons Amsterdam. https://yadvashem.nl/hollandsche-schouwburg-ontdekt-uniek-naoorlogslied-waar-bleven-de-joden-van-ons-amsterdam/ (8.7.2019). 2 Tammes, Peter: Surviving the Holocaust: Socio-demographic Differences among Amsterdam Jews. European Journal of Population 33.3 (2017), 293; Voolen, Edward van: Ashkenazi Jews in Amsterdam. Museum of the Jewish People at Beit Hatfutsot. https://www.bh.org.il/ ashkenazi-jews-amsterdam/ (16.4.2019). 3 Wallet, Bart: Eine Familie von Gemeinschaften. Die Dynamik des Judentums in den Niederlanden in der Nachkriegszeit. Unveröffentlichter Entwurf, 2018.), 2. Die Autorin dankt Bart Wallet für die Zusendung dieses Texts. 4 Wolf, Diane L.: Beyond Anne Frank: Hidden Children and Postwar Families in Holland. Berkeley: University of California Press, 2007, 116. 5 The Netherlands. American Jewish Year Book 50 (1948/49), 332. Zum Raub jüdischer Kulturgüter siehe Elisabeth Gallas’ Beitrag in diesem Band. 6 Brasz, Chaya: After the Shoah: Continuity and Change in the postwar Jewish community of the Netherlands. Jewish History 15.2 (2001), 154. 7 Wallet: Eine Familie von Gemeinschaften, 2 − 3. 8 Haan, Ido de: Prominent Jews. Absence and presence of Jews in postwar Netherlands. Unveröffentlichtes Manuskript, 2019, 2. 9 Für eine ausführliche Darstellung siehe Blom, Hans; Fuks-Mansfeld, Renate G.; Schöffer, Ivo (Hrsg.): The History of the Jews in the Netherlands, Übersetzung von Arnold J. Pomerans. Oxford: Littman Library, 2007. 10 Brasz, Chaya: Removing the Yellow Badge. The Struggle for a Jewish Community in the Postwar Netherlands. Jerusalem: Institute for Research on Dutch Jewry, 1995, 102. 11 Boas, Henriëtte: De Nederlandse Zionisten Bond na de bevrijding. https://likoed.nl/1995/06/ de-nederlandse-zionisten-bond-na-de-bevrijding/ (23.4.2019). Dieser Text wurde 1995 zunächst in Het beloofde land veröffentlicht. 12 Wallet: Eine Familie von Gemeinschaften, 1. 13 Brasz: After the Shoah, 152. 14 Hondius, Dienke: Return: Holocaust Survivors and Dutch Anti-Semitism. Westport, CT: Praeger, 2003, 59. 15 Duindam, David: Fragments of the Holocaust: The Amsterdam Hollandsche Schouwburg as a Site of Memory. Amsterdam: Amsterdam Unive
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ABEL JACOB HERZBERG (1893 – 1989) Abel Jacob Herzberg war ein Sohn jüdischer Einwanderer aus Russland. Er studierte in Amsterdam Jura und war vor dem Krieg Vorsitzender der Zionistischen Vereinigung in den Niederlanden. Während des Zweiten Weltkriegs wurde er in Bergen-Belsen inhaftiert. Die Rote Armee befreite ihn aus einem Zug, in dem er kurz vor der Befreiung des Lagers abtransportiert worden war. Seine Frau Thea überlebte ebenso wie ihre drei Kinder, Esther, Ab und Judith, die in den Niederlanden bei nichtjüdischen Pflegeeltern versteckt waren. Herzberg kehrte nach dem Krieg nach Amsterdam zurück, wo er wieder mit seiner Familie vereint wurde. Amor fati, die erste seiner zahlreichen Publikationen über die jüdischen Erfahrungen während des Kriegs, kam 1946 heraus. Im Jahr 1950 veröffentlichte er das Tagebuch, das er in Bergen-Belsen geführt hatte unter dem Titel Tweestromenland (Zweistromland). Mit unzähligen Zeitschriftenartikeln und etlichen Büchern mischte Herzberg sich in sämtliche Debatten der Nachkriegszeit über die Verfolgung der Juden ein. Er erhielt zahlreiche renommierte holländische Literaturpreise, darunter 1949 den Wijnandts Franckenprijs für Amor Fati und 1974 den P.C. Hooft-prijs für sein literarisches Lebenswerk. Nach dem Krieg wurde er Partner in einer Anwaltskanzlei. Als Anwalt vertrat er Abraham Asscher und David Cohen, die während des Kriegs Führungsrollen innegehabt hatten und sich nun vor dem Jüdischen Ehrenrat wegen angeblicher Kollaboration verantworten mussten. Dies schadete seinem Ruf in der jüdischen Gemeinde, doch war er davon überzeugt, dass Asscher und Cohen nicht mit den Nazis kooperiert hatten, und dass es niemandem zustehe, über sie zu urteilen. Während zwei seiner drei Kinder nach Israel auswanderten, blieb Abel Jacob Herzberg bis an sein Lebensende in Amsterdam.
Abel J. Herzberg spricht anlässlich des 50. Todestags von Theodor Herzl in der portugiesischen Synagoge von Amsterdam, 1954. Foto: Boris Kowadlo, Nederlands Fotomuseum Rotterdam
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Gemeinsames Treffen der Niederländischen Zionistischen Vereinigung und der Spendenorganisation United Israel Appeal in Amsterdam, 1953. Abel J. Herzberg (dritter von links) war langjähriges Mitglied der Zionist Association. Foto: Boris Kowadlo, Nederlands Fotomuseum Rotterdam
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Abel J. Herzberg hält eine Rede auf dem Museumplein in Amsterdam nach der Staatsgründung Israels. 16. Mai, 1948. Foto: Jaap Vaz Dias, Literatuurmuseum, Den Haag
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BLOEME EVERS-EMDEN (1926 – 2016) Bloeme Evers-Emden wurde als Bloeme Emden in eine arme Familie sozialistischer Juden in Amsterdam geboren. Während des Kriegs versteckte sie sich zunächst bei Freunden ihrer Eltern. Obwohl sie ihr Quartier häufig wechselte, wurde sie entdeckt und 1944 nach Auschwitz deportiert. Von dort wurde sie später ins Konzentrationslager Liebau verlegt, wo sie von der Roten Armee befreit wurde. Sie war die Einzige aus ihrer Familie, die überlebte. Ihre Mutter, ihr Vater und ihre jüngere Schwester Roosje wurden im Vernichtungslager Sobibor ermordet. Ein sechswöchiger Fußmarsch führte sie zusammen mit einer kleinen Gruppe von Freunden wieder in die Niederlande. Anfangs wohnte sie in Den Haag bei einem befreundeten Überlebenden. Dort traf sie ihren künftigen Mann, den Kunstsachverständigen Hans Evers. Sie zogen nach Amsterdam, wo sie sechs Kinder bekamen. Bloeme Evers-Emden arbeitete als Krankenschwester. Sie meldete sich 1948 zur Hachschara, um sich auf die Auswanderung nach Israel vorzubereiten, doch Hans war dagegen und das Paar blieb in den Niederlanden. Wie sie sich später erinnerte, konnte sie damals nicht über ihre Erfahrungen während des Kriegs sprechen. Im Jahr 1964 begann sie Psychologie an der Universität in Amsterdam zu studieren und sich mit dem Trauma jüdischer Kinder, die während des Kriegs versteckt worden waren, zu beschäftigen. Ihre Promotion in Psychologie schloss Bloeme Evers-Emden 1989 ab. In ihren bahnbrechenden Arbeiten untersuchte sie die psychologischen Auswirkungen des Versteckt-Seins während des Kriegs nicht nur auf die Kinder, sondern auch auf deren Eltern und Pflegeeltern. Ihre Autobiografie Als een pluisje in de wind (Wie ein Fussel im Wind) wurde 2012 veröffentlicht.
Bloeme Emden, 1948. Joods Historisch Museum, Amsterdam
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Bloeme Emdens Porträt mit ihrem Vater Emanuel und ihrer jüngeren Schwester, 1942. Nur Bloeme überlebte die Schoa. United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C., courtesy of Bloeme Evers-Emden
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Bloeme Emdens Anmeldeformular für ein HachscharaSchulungsprogramm des Verbandes palästinensischer Pioniere in den Niederlanden, 1948. Das Hauptziel des Programms bestand darin, junge Jüdinnen und Juden für die Auswanderung nach und das Leben in Palästina vorzubereiten. Trotz der vorgenommenen Registrierung zog Bloeme Emden zu diesem Zeitpunkt nicht nach Israel. Joods Historisch Museum, Amsterdam
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UNSER MUT
DIE BEDEUTUNG DES ZIONISMUS FÜR DIE ÜBERLEBENDEN DES HOLOCAUST
AVINOAM PATT Die jüdischen Displaced Persons (DPs) – auch als Scheerit Hapleta (der „Rest der Geretteten“) bekannt − bildeten nach der Katastrophe des Holocaust eine dynamische, rege und nachdrücklich auf ihre Unabhängigkeit bedachte Gruppe, die in den diplomatischen Verhandlungen, die schließlich in die Gründung des Staats Israel mündeten, eine prominente Rolle spielte. Internationale Beobachter, die damit beauftragt worden waren, eine Lösung für das Problem der Staatenlosigkeit vieler jüdischer Überlebender zu finden, interpretierten deren „Leidenschaft für Palästina“ dahingehend, dass es diplomatisch auf die Errichtung eines jüdischen Staats in Palästina hinauslaufen müsse. Es ist deshalb im historischen Kontext wichtig zu verstehen, wie der Zionismus dieses nach dem Krieg in Deutschland befindlichen „Rests der Geretteten“ zu erklären und bewerten ist. Wie konnte so rasch eine das zionistische Projekt so stark begünstigende Stimmung entstehen? Warum entschieden sich so viele junge jüdische Überlebende für diese Option, und wie kam es, dass ihre Präferenz die Haltung der jüdischen Holocaustüberlebenden insgesamt so maßgeblich beeinflusste? Worin bestand die Attraktivität des Zionismus für die jüdischen DPs, und wie schlug er sich, während sie in Deutschland auf eine Lösung des Problems ihrer Staatenlosigkeit warteten, praktisch in ihrem Alltag nieder? Infolge ihrer erheblichen Relevanz für unser Verständnis der Gründung des Staats Israel im Jahr 1948 sind dies wichtige Fragen. Der allem Anschein nach unbändige Enthusiasmus der jüdischen DPs für den Zionismus, der sich unter anderem im Streben einer großen Zahl junger jüdischer DPs in die Kibbuzim und Hachscharot ausdrückte, führte zur Wahl leidenschaftlicher Zionisten an die Spitze der Komitees in den jüdischen DP-Lagern und zur Schaffung von Bildungs- und Kulturnetzwerken, die auf eine Zukunft der Juden in Israel ausgerichtet waren. Auf der diplomatischen Ebene beeinflusste er zudem die Entscheidungsfindung der internationalen Beobachter, die die Forderungen der vielen jüdischen Flüchtlinge in Europa im Auftrag der Vereinigten Staaten,
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Großbritanniens und der UNO einschätzen sollten. Selbst für jene jüdischen DPs, die schließlich nicht nach Israel gingen, spielte der Zionismus eine entscheidende Rolle. Verschiedene Gruppen jüdischer Überlebender fühlten sich ebenso wie manche Vertreter der amerikanischen Besatzungsbehörden aus unterschiedlichen Gründen zum Zionismus hingezogen. So entstand in der amerikanischen Besatzungszone ein florierendes zionistisches Netzwerk, das die Gründung des Staats Israel erfolgreich beförderte.
DIE LAGE DER JUDEN IN DEUTSCHLAND NACH DER BEFREIUNG Unmittelbar nach der Befreiung standen die etwa 50 000 jüdischen DPs vor einer schwierigen Wahl. Sollten sie versuchen, in ihre Heimatländer zurückzukehren oder im besetzten Deutschland bleiben? Im Unklaren darüber, was sie in ihrer alten Heimat erwarten würde, und in der Regel ziemlich sicher, dass ihre Familien während des Kriegs ermordet worden waren, mussten diejenigen, die in einem der DP-Lager blieben, sich auch damit abfinden, dass sie zunächst gezwungen sein würden, dort mit Kollaborateuren, vor allem mit DPs aus dem Baltikum, die sich weigerten, in ihre Heimat zurückzukehren, zusammenzuleben. Jüdische Überlebende, die beschlossen, in Deutschland zu bleiben, mussten sich also entscheiden, ob sie in eines der DP-Lager gehen oder sich eigenständig in einer deutschen Stadt niederlassen sollten. Die etwa 15 000 aus Deutschland stammenden Überlebenden, die sich 1945 großteils außerhalb der DP-Lager aufhielten, neigten eher zu der zweiten Möglichkeit.1 Zu den ersten auswärtigen Juden, die mit den jüdischen Überlebenden in Kontakt kamen, gehörten die jüdischen Militärrabbiner der US Army. Der besonders engagierte Rabbiner Abraham Klausner erstattete seinen Vorgesetzten in den Vereinigten Staaten über die Bedingungen, mit denen die jüdischen DPs in Deutschland konfrontiert waren, Bericht. Einen Monat nach der Befreiung besuchte Klausner siebzehn DP-Lager, in denen ungefähr 14 000 Juden untergebracht waren. Er fand die Bedingungen in den Lagern erbärmlich. Die Unterkünfte seien unzureichend, die sanitären Anlagen und Versorgung mit Bekleidung völlig ungenügend. Krankheiten und Unterernährung seien weit verbreitet, und das amerikanische Militär agiere völlig planlos. Die „paradoxe Lage“ der Juden bestehe darin, dass sie „befreit aber nicht frei“ seien.2 Tatsächlich starben von den etwa 50 000 bis 60 000 befreiten Juden, die sich in Deutschland aufhielten, tausende an durch Krankheit, Hunger und die Lagererfahrung verursachten Komplikationen.3 Während sie ihre eigene Selbstorganisierung vorantrieben, machten die DPs und Militärrabbiner wie Klausner in Schreiben an die Militärbehörden und internationale jüdische Organisationen fortlaufend auf die unhaltbare
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U. S. Armeekaplan Rabbi Abraham Klausner spricht auf der ersten zionistischen Nachkriegskonferenz in München, 1945. Foto: George Kadish / Zvii Kadushin, United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C.
General Joseph McNarney unterzeichnet die Charta der Anerkennung des Zentralkomitees der befreiten Juden in Bayern, wonach die amerikanische Armee das Zentralkomitee als offizielle Vertretung der jüdischen DPs in der amerikanischen Zone Deutschlands akzeptierte, 1946. United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C., courtesy of Herbert Friedman
UNSER MUT
Situation der DPs aufmerksam. Die jüdischen DPs forderten von der US-Militärregierung und der UNRRA eine Verbesserung ihrer elenden Lage.4 Gemeinsam mit anderen Militärrabbinern und einigen Angehörigen der britischen Jewish Brigade spielte Klausner, insbesondere als der Jischuw sich noch unsicher war, ob die DPs zum Kampf um die Staatsgründung würden beitragen können, eine wichtige Rolle bei der Vermittlung dieser Forderungen an eine breitere Öffentlichkeit. Während die Überlebenden in der Region München (Dachau, Landsberg, St. Ottilien und Umland) sich im Gefolge der Katastrophe in der Wahrnehmung ihrer Interessen als enorm einfallsreich erwiesen, waren sie von den jüdischen Hilfsorganisationen enttäuscht. Angesichts des verzögerten Eintreffens der Hilfsleistungen fühlten sie sich alleingelassen. Dieser Eindruck war für das beständige Streben des „Rests der Geretteten“ nach Unabhängigkeit von entscheidender Bedeutung. Frustriert, weil Hilfsleistungen internationaler jüdischer Organisationen erst allmählich eintrafen, und sie den Eindruck hatten, „die Menschheit“ sei unfähig zu begreifen, was die jüdischen Überlebenden durchgemacht hatten, griff Zalman Grinberg, ein Überlebender des Kownoer Ghettos, der in Kaufering befreit worden war, in Zusammenarbeit mit Klausner zur Selbsthilfe.5 Unterstützt von Überlebenden und Vertretern der Jewish Brigade beriefen sie die erste Sitzung des Zentralkomitees der befreiten Juden in der US-Zone (CCLJ) ein, die am 1. Juli 1945 im DP-Lager im nahe Dachau gelegenen Feldafing stattfand.6 Das Zentralkomitee sollte die Interessen der jüdischen DPs vertreten und die Aufmerksamkeit des US-Militärs und der UNRRA auf ihre Not lenken. Im September erkannten die Militärbehörden das CCLJ schließlich offiziell als „die rechtmäßige demokratische Vertretung der befreiten Juden in der amerikanischen Zone“ an. Die politische Orientierung dieser Interessenvertretung der jüdischen Überlebenden und die Prioritäten ihrer überwiegend zionistischen Spitzenvertreter sollten die Optionen, die den jüdischen DPs letztlich zur Verfügung standen, maßgeblich mit bestimmen. Das Komitee forderte die Juden zur Einheit im Kampf um die Gründung des jüdischen Staats auf und verlangte, dass die Briten die Tore nach Palästina öffnen sollten.7 Solange es existierte, beharrte das CCLJ leidenschaftlich auf seiner zionistischen Position. Unterstützt wurde es dabei von der Vereinigten zionistischen Organisation (UZO), gegründet von dem langjährigen zionistischen Aktivisten Yitzhak Ratner.8 Mit der Unterstützung jüdischer Militärrabbiner wie Klausner und amerikanischer GIs ging die nun gebildete Vertretung der DPs daran, die Bedingungen in den DP-Lagern zu verbessern. Sie wandte sich gegen die gemeinsame Unterbringung der jüdischen mit nichtjüdischen DPs, die allgemein als ehemalige Kollaborateure galten. Das US-Militär war in den Monaten nach der Befreiung mit der infolge des Zustroms osteuropäischer Juden ständig
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zunehmenden Zahl Jüdischer DPs völlig überfordert. Berichte der Überlebenden und jüdischen Militärrabbiner über die anhaltenden Entbehrungen und unzureichende Organisierung der Hilfsmaßnahmen in den befreiten Lagern veranlassten die amerikanischen Behörden dazu, sich intensiver mit dem Problem der DPs zu befassen. Im Sommer 1945 entsandte Präsident Truman Earl Harrison nach Europa, um „festzustellen, in welchem Maße militärische, amtliche und private Organisationen den Bedürfnissen [der DPs] gerecht werden“.9 In seinem im August 1945 veröffentlichten, vernichtenden Bericht an Truman empfahl Harrison, dass die Juden von den Nichtjuden getrennt und in eigenen Lagern untergebracht werden sollten. Zudem solle man 100 000 jüdischen DPs umgehend die Einreise nach Palästina gestatten. Die amerikanischen Behörden verlegten die jüdischen DPs daraufhin in eigene Lager und stimmten der Berufung eines Beraters in jüdischen Angelegenheiten zu. Indem er die Klärung der Situation der jüdischen DPs mit der Lage in Palästina verknüpfte, wertete Harrisons Bericht den Standpunkt der jüdischen DPs innerhalb der diplomatischen Diskussionen auf. Dennoch hatten die jüdischen DPs weiterhin den Eindruck, dass ihre zahlreichen Bitten um Unterstützung in Deutschland und den USA gleichermaßen auf taube Ohren stießen. In dieser Zeit gehörten der Führungsriege der jüdischen DPs etliche ehemalige Angehörige zionistischer Jugendgruppen an, die sich entschieden hatten, nicht nach Osteuropa zurückzukehren, sondern in Deutschland zu bleiben. Sie nahmen sich insbesondere der Bedürfnisse der jungen Überlebenden in den DP-Lagern an.10 Es stellte sich rasch heraus, dass mehr als die Hälfte der Überlebenden jünger als 25 und rund 80 Prozent jünger als 40 waren. Überlebt hatten sie die Jahre der Verfolgung und Vernichtung in der Regel, weil sie besonders zäh und daher als Arbeitskräfte selektiert worden waren. Außerdem hatten sie nicht auf das Wohlergehen eigener Kinder Rücksicht nehmen müssen. Sie selbst waren nun überwiegend elternlos und alleinstehend.11 Die überlebenden Angehörigen der zionistischen Jugendbewegungen spielten bei den Selbsthilfebestrebungen oftmals eine entscheidende Rolle und waren auch besonders aktiv, wenn es darum ging, den Überlebenden von einer Rückkehr nach Osteuropa abzuraten. Unabhängig davon, ob sie vor dem Krieg zionistischen Jugendgruppen angehört hatten oder nicht, zog es die jungen jüdischen Überlebenden – insbesondere jene die jünger als 35 waren – in die Kibbuzim, die ihnen mit ihrem Gemeinschaftsgefühl einen gewissen Ersatz für die Familien boten, die sie so sehr vermissten. Die Beliebtheit der alternativen Lebensformen, mit denen im Kibbuz Buchenwald experimentiert wurde, demonstrierte den Wert, den diese Option für die jungen Überlebenden und die führenden Vertreter der jüdische DPs hatte.12 Zwar gab es Bedenken, den verwünschten deutschen Boden zu bewirtschaften und sich mit den Deutschen vor Ort abzugeben, doch fanden die jungen Landwirte, dass das eigentliche Ziel – der Aufbau
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Landwirtschaftliche Ausbildung in Buchenwald, 1945 − 1947. Die Originalunterschrift des Fotos lautet: „Kibbuz Buchenwald. Den Weizen erntend. Die zionistische Flagge weht stolz über der jüdischen Farm. Ein kleines Stück Palästina in Deutschland.“ Foto: David Marcus, United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C., courtesy of David and Tamara Marcus
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Israels – den Frevel des vorübergehenden Arbeitens in Deutschland aufwiege. Insgesamt wurden in der amerikanischen Besatzungszone 40 Hachscharot errichtet. Auf der ersten Konferenz der befreiten Juden in Deutschland und Österreich am 25. Juli 1945 in München berichtete der Vertreter der Frankfurter DPs Leib Pinkusewitz von Verbesserungen bei der Ernährung und Unterbringung. Doch hätten die DPs nicht nur materielle Bedürfnisse. Sie bräuchten ein Heimatland. Wir wollen gewiss nicht in Deutschland bleiben. All die übrigen Nationen entfernen ihre Söhne aus Deutschland und geben ihnen in ihrem eigenen Vaterland eine Heimat. Doch wo sollen wir hingehen? Die Länder, aus denen wir stammen, bieten uns keine Heimat. Unsere Angehörigen wurden dort hingeschlachtet. Für uns gibt es nur den Weg nach Eretz Israel. Erst wenn wir in Eretz Israel ankommen, wird unser Leben wieder einen Sinn haben.13 Die Konferenz verabschiedete vierzehn Resolutionen. Unter anderem forderte sie die sofortige Gründung eines jüdischen Heimatlands, dessen Aufnahme in die UNO und ein einheitliches Vorgehen der Überlebenden. Außerdem appellierte die Führungsriege an die jungen Überlebenden: Sie seien die für die Wiedergeburt und Wiederbelebung des jüdischen Volks nach der Katastrophe entscheidende Kraft.
DAS DP-LAGER IN ZEILSHEIM UND DIE BEDEUTUNG DES ZIONISMUS FÜR DIE IDENTITÄT DER DPs Im DP-Lager in Frankfurt-Zeilsheim spielte der Zionismus bei der Schaffung einer gemeinsamen Identität eine entscheidende Rolle. Bei der Organisierung des jüdischen Lebens im Lager wirkten die osteuropäischen Zionisten in erster Reihe mit.14 Sie schufen zwei Kibbuzim, die auf das Leben in Eretz Israel vorbereiten sollten: Der kleinere, dem 75 Überlebende angehörten, konzentrierte sich auf die landwirtschaftliche Ausbildung, der größere, dem 250 Überlebende angehörten, auf andere Formen der Berufsausbildung. Sadie Sender vom JDC, die im September 1945 in Zeilsheim eintraf, schilderte ihren Vorgesetzten in New York die Situation gut drei Monate nach ihrer Ankunft in dem neu eingerichteten Lager wie folgt: „Da die Zionisten die einzige organisierte Gruppe sind, übernehmen sie die Führung. Die Mehrheit dieser Leute will nach Palästina, daher versammeln sie sich bereitwillig unter dem Banner des Zionismus.“15 Dass auch Nichtzionisten die zionistische Führung unterstützten, sei darauf zu-
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rückzuführen, dass auch diejenigen, die nicht selbst dorthin auswandern wollten, fest an die Notwendigkeit eines eigenen jüdischen Heimatlands glaubten. Den in Zeilsheim versammelten „Rest der Geretteten“ einten die Erfahrungen des Kriegs, die Staatenlosigkeit, der Verlust ihrer Angehörigen und vormaligen Lebenszusammenhänge, das intensive Bedürfnis, nach der Katastrophe ein neues Leben aufzubauen, und folglich eine starkes Zusammengehörigkeitsgefühl nicht nur mit Blick auf die übrigen DPs in Zeilsheim, sondern auch im Verhältnis zum europäischen Judentum insgesamt. Aus einer Untersuchung des JDC geht hervor, dass diese gemeinsame, auf die Erfahrungen der Vorkriegszeit und des Kriegs zurückgehende nationale Identität nicht unbedingt zionistischer Natur war. Das intensive Erleben eines gemeinsamen Kampfs, einer gemeinsamen Hoffnung auf die Zukunft, und des Alleingelassen-Seins mag auf den Zionismus projiziert worden sein, stellte aber auch eine einzigartige, nicht an sich palästinozentrische Form der jüdischen nationalen Identität dar. Diese Identität fand ihren Ausdruck auch in den Titeln jiddischer Lagerzeitungen: „Unsere Welt, Unser Ziel, Unser Wort, Unsere Hoffnung, Unsere Front, Unser Mut, Unsere Stimme, Unser Kampf und natürlich Unser Weg. Wie die Namen zeigen, [...] wurden diese Publikationen ,von Juden für Juden geschrieben‘“.16 In einer der ersten, im Dezember 1945 erschienenen Ausgaben der Zeilsheimer Lagerzeitung Undzer mut (Our Courage) wurde die Sehnsucht der Zeilsheimer DPs nach einer Lösung des Problems ihrer Staatenlosigkeit nach Jahren des Leidens und der Migration wie folgt ausgedrückt: „Wir hoffen, dass unsere Wünsche eines Tages erfüllt, und wir freie Bürger in PALÄSTINA, dem Land unserer Väter sein werden!“ Derselbe Gedanke fand im Mai 1946 auch im neuen Titel der Zeitung Ausdruck: „Unterwegs“. Nach der Veröffentlichung des Harrison-Reports schloss das JDC sich mit vier weiteren jüdischen Organisationen (der American Jewish Conference, der Jewish Agency for Palestine, dem World Jewish Congress und dem American Jewish Committee) zusammen, um sich bei der Regierung der Vereinigten Staaten für die DPs einzusetzen.17 Da sich das JDC als apolitische Organisation zur Vertretung aller Juden unabhängig von deren politischem Standpunkt verstand, stellte die Diskussion darüber, wie den jüdischen DPs am besten geholfen werden könne – ob durch Vorbereitung auf eine Zukunft in Palästina oder anderswo –, eine ernstzunehmende Herausforderung dar. Dennoch war das vom JDC gemeinsam mit der Jewish Agency erarbeitete (Aus-)Bildungsprogramm letztlich in erheblichem Maße auf die Vorbereitung auf ein künftiges Leben in Palästina ausgerichtet und spiegelte somit, in Yehuda Bauers Worten, den „Willen des Volkes“ wider.18
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Die Zeilsheimer DP-Lagerzeitung Undzer mut, Februar 1946. Ghetto Fighters‘ House Museum, Western Galilee, Israel
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Die Zeilsheimer DP-Lagerzeitung Undzer mut, Dezember 1945. Ghetto Fighters‘ House Museum, Western Galilee, Israel
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DER JISCHUW UND DER ZIONISMUS DER DPs Für die Leiter der Jugendgruppen und führenden Vertreter der DPs kam es bei der zionistischen Bildungsarbeit und Einrichtung der Kibbuzim, so sehr diese Aktivitäten auch an einer Zukunft in Palästina orientiert sein mochten, in erster Linie auf deren hohen therapeutischen Wert für die jungen Überlebenden an. Für andere Kräfte innerhalb der zionistischen Bewegung (und der Militäradministration in der amerikanischen Besatzungszone) war das Interesse am „Rest der Geretteten“ dagegen eher instrumenteller Art. Sowohl während des Kriegs als auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit bezweifelte man im Jischuw, ob die traumatisierten Überlebenden zur Staatsgründung wirklich ernsthaft beitragen könnten.19 Als David Ben-Gurion, der der Jewish Agency vorstand, im Oktober 1945 mehrere DP-Lager, Kibbuzim und Ausbildungswerkstätten besuchte, konnte er sich aber von dem Enthusiasmus zahlreicher DPs für den Zionismus überzeugen. Nach der Veröffentlichung des Harrison-Reports unterbreitete Ben-Gurion Eisenhower eine Reihe von Vorschlägen zur Hebung der Moral unter den jüdischen DPs. Unter anderem sollten die DPs das Recht auf Selbstverwaltung erhalten und der Hoheit der US-amerikanischen Militärbehörden unterstellt werden. Zudem sollte ihnen die Möglichkeit geboten werden, sich auf beschlagnahmten Gütern, die vormals Nazis gehört hatten, für die Landwirtschaft und andere Berufe ausbilden zu lassen.20 Die Arbeit im Kibbuz Buchenwald, im Kibbuz Nili (der auf dem nahe Nürnberg gelegenen Gut des Gauleiters Julius Streicher eingerichtet worden war) und in anderen Hachscharot beeindruckte manch einen Vertreter der amerikanischen Militäradministration. Dort war es nicht nur gelungen, die Moral der DPs zu heben und ihre Rehabilitation voranzutreiben. Außerdem ernährten sie sich dort selbst und bereiteten sich auf eine Zukunft in Palästina – und damit nicht in den Vereinigten Staaten – vor. Noch dazu stellten die Beschlagnahmung und Umwidmung der betreffenden Güter eine Bestrafung der betroffenen Nazis dar. Die Unterstützung der Hachscharot durch die UNRRA deckte sich also mit den diplomatischen Interessen der Jewish Agency, deren Vertreter in Deutschland die UNRRA bei der Beschaffung geeigneter Güter und Dozenten unterstützten. Die ersten 20 Gesandten (Schlichim) der Jewish Agency trafen Mitte Dezember 1945 in Deutschland ein. Offiziell unterstanden sie der UNRRA. Ihre Aufgaben bestanden darin a) die Alija der DPs zu organisieren, b) die Bricha-Fluchthilfeorganisation bei der Unterbringung der „Infiltrees“ zu unterstützen, die entweder in Polen überlebt hatten oder, in den meisten Fällen, aus der Sowjetunion repatriiert worden waren, c) die Ausbildung in landwirtschaftlichen und anderen Berufen zu ermöglichen, d) politischen Rat zu geben
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und e) zionistische Bildungsarbeit zu leisten.21 Im Laufe des Jahres 1946 kamen weitere Schlichim nach Deutschland und das Team der Jewish Agency intensivierte seine Bemühungen um die Eröffnung weiterer Hachscharot. Das politische Kalkül der Jewish Agency ging dahin, dass derartige landwirtschaftliche Ausbildungsstätten, ganz unabhängig davon, dass sie junge Überlebende auf das Leben in Palästina vorbereiteten, zusätzliche Aufmerksamkeit auf den Zionismus der DPs lenken würden. Zudem stärkten sie die besonders entschlossene und leistungsfähige Vorhut, indem sie sie von den restlichen DPs isolierte. Allerdings war die Einstellung der Vertreter der Jewish Agency eine überwiegend instrumentelle, denn die jungen Überlebenden waren, wie Haim Hoffman, der der Delegation der Jewish Agency aus dem Jischuw vorstand, einräumte, als Landarbeiter denkbar ungeeignet. Dennoch glaubte er, dass die Ausbildungshöfe ihre Bewohner in brauchbare Zionisten verwandeln könnten: „In kurzer Zeit entwickelten die Bewohner der Lager sich zu Menschen, die dem Menschenschlag in Eretz Israel noch viel ähnlicher waren“.22 Dank dieser Unterstützung durch verschiedene Gruppen nahm die Zahl der Höfe in der amerikanischen Besatzungszone stetig zu. Im Juni 1946, noch vor der massenhaften „Infiltration“ jüdischer Flüchtlinge aus Osteuropa, die mit Hilfe der Bricha nach Deutschland kamen, gab es bereits 35 Höfe mit mehr als 3600 Bewohnern. Dies legt nahe, dass die politischen Erwägungen ebenso wichtig gewesen sein mögen wie die demografischen und das erklärte Ziel, etwas gegen die Überfüllung der DP-Lager unternehmen zu wollen. Auf der diplomatischen Ebene war es ebenso wichtig, dass die Öffentlichkeitswirksamkeit der Kibbuzim und Hachscharot und der dort zur Schau gestellte Enthusiasmus für den Zionismus für Außenstehende einen Beleg für die von den jüdischen DPs empfundene „Leidenschaft für Palästina“ darstellte. Dass die DPs, deren Zahl stetig zunahm, dem Zionismus hohe Bedeutung beimaßen, überzeugte Angehörige des nach der Veröffentlichung des Harrison-Reports von den Regierungen Englands und der Vereinigten Staaten eingerichteten Anglo-Amerikanischen Untersuchungskomitees (AACI) von der Notwendigkeit einer zionistischen Lösung. Nachdem sie im Januar 1946 in Washington und London mit ihrer Arbeit begonnen hatten, besuchten sie ab Februar die DP-Lager und reisten nach Polen, um die Lage der Juden vor Ort zu begutachten.23 Obwohl das AACI einige Bedenken bezüglich der zionistischen Propaganda hegte und den Zionisten manipulatives Verhalten vorwarf, empfahl es am 20. April 1946, „(A) dass umgehend 100 000 Zertifikate für die Einreise von Juden, die Opfer der Verfolgung durch die Nazis und Faschisten wurden, autorisiert werden; (B) dass diese Zertifikate so weit als möglich 1946 zugeteilt werden und die tatsächliche Einwanderung so rasch vorangetrieben wird, als die Bedingungen es gestatten.“ Zu dieser Schlussfolgerung gelangte das Komitee nicht nur aus Mangel an Alternativen, sondern auch, weil es ehrlich davon
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überzeugt war, dass sie den Wünschen der jüdischen DPs am ehesten entsprach. „Fast alle wollen nach [Palästina]. Sie sind davon überzeugt, dass man sie dort, anders als sonst irgendwo, willkommen heißen wird. Sie hoffen, dass sie dort in Frieden leben werden und ihre Existenz wiederaufbauen können.“ Diese Feststellungen beruhten teils auf Umfragen unter den DPs und teils auf eigenen Beobachtungen von Mitarbeitern des Komitees. Die DPs mochten oft nicht arbeiten, hieß es etwa, doch „überall, wo Einrichtungen für die praktische Ausbildung für ein Leben in Palästina bereitstehen, greifen sie diese Möglichkeit begierig auf“.24 Überlebende in den DP-Lagern bemühten sich auch um das kollektive Gedenken an ihre Erfahrungen während des Kriegs. Obgleich ein Großteil der jüdischen DPs der Verfolgung durch die Nazis durch Flucht in die Sowjetunion entkommen war, wurde das Überleben in den Ghettos und Lagern, im Versteck und bei den Partisanen (wobei der Widerstand über Gebühr betont wurde) als die charakteristische Kriegserfahrung schlechthin wahrgenommen. Als der Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstands am 19. April 1946 erstmals in den DP-Lagern begangen wurde, stand eine spezifische zionistische Form des Gedenkens an den Aufstand im Mittelpunkt, die trotz der verschiedenen Hintergründe und Orientierungen der DPs zum Hauptbezugspunkt für die Erinnerungskultur der Überlebenden wurde. In seiner Rede auf der Gedenkveranstaltung zog Abraham Klausner eine Verbindung zwischen der Schlacht, die in Warschau begonnen habe, und dem anhaltenden Kampf um die Gründung eines jüdischen Staats in Eretz Israel. Der Präsident des Zentralkomitees Dr. Zalman Grinberg sprach über den geistigen und physischen Widerstand in den Ghettos und Lagern. Er beschrieb den „Aufstand in Warschau [als] den Ausdruck des Widerstandswillens der sechs Millionen ermordeten europäischen Juden“.25 Obwohl sich auch Widerstandskämpfer aus anderen Bewegungen in den DP-Lagern befanden, ging man davon aus, dass die Lehre aus dem Aufstand darin bestehe, die Forderungen der Zionisten zu unterstützen. Der „Rest der Geretteten“ wurde aufgefordert, sich „mit aller Kraft für die Schaffung eines souveränen jüdischen Staats im Land unserer Vorväter einzusetzen.“26 Folgte man dieser Logik, gelang den überlebenden Angehörigen der zionistischen Elite nun, da sie die Vormachtstellung in der verbliebenen jüdischen Bevölkerung innehatten, endlich das, worum es bei dem Aufstand in Warschau gegangen sei. Nur wenn es in einem eigenen Staat vereint sei, könne das jüdische Volk seine volle historische Kraft entfalten. Allerdings gab es auch abweichende Stimmen in den DP-Lagern, etwa von jüdischen Sozialisten des Bund und den vielen Juden, die kein Interesse daran hatten, sich in Israel niederzulassen. Die satirische Lagerpublikation Afn Tsimbl (Auf dem Zymbal) machte sich über die Tatsache lustig, dass etliche führende Zionisten unter den DPs sich alle Mühe gaben, jüdische DPs zur Alija
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zu bewegen, selbst aber in die USA auswanderten. Dieser Spott richtete sich beispielsweise gegen einen fiktionalen Charakter namens „Moshe Zilberberg, zionistischer Aktivist, Kämpfer im Warschauer Ghetto, Mitglied des Präsidiums des Z.K. der befreiten Juden in Deutschland, Leiter von Feldafing, Herausgeber von Dos fraye vort“ etc., der sich in Lynn, Massachusetts niedergelassen habe.27 Das gleiche Thema bearbeitete ein fiktiver Brief, in dem eine Mutter aus München ihre Tochter in New York darüber informiert, dass deren Vater ein Linkszionist geworden sei. Demnach würden er und die Mutter zu ihr nach New York ziehen, sobald der Vater all die übrigen DPs in den jüdischen Staat verfrachtet habe.28 Derartige gegen führende Persönlichkeiten gerichtete Sticheleien spiegelten durchaus eine gewisse Wahrheit über das Wesen des Zionismus in den DP-Lagern wider. Während die Überlebenden sich ganz überwiegend zum Zionismus als Lösung des Problems der jüdischen Staatenlosigkeit bekannten, bemühten sich einzelne Überlebende, die des langen Wartens müde wurden, intensiv darum, sich in anderen Ländern und insbesondere in Amerika niederzulassen. Die Vereinigten Staaten änderten ihre Einwanderungspolitik nach dem Krieg erst allmählich und mit den Monaten und Jahren zogen die jüdischen DPs zunehmend andere Einwanderungsoptionen in Betracht. Trotz der Empfehlungen des Anglo-Amerikanischen Komitees vom April 1946 kamen die diplomatischen Bemühungen in den Jahren 1946 und 1947 nur mühsam voran, und die Mehrheit der jüdischen DPs begriff, dass ihr Leben sich zunächst weiterhin in Deutschland und nicht in Palästina abspielen würde. Der massenhafte Zustrom osteuropäischer Juden führte zu einer bedeutsamen demografischen Verschiebung in den DP-Lagern. Unter den Juden, die in den Weiten der Sowjetunion überlebt hatten, waren weit mehr Familien. Im Laufe das Jahres 1946 brachte die Bricha schätzungsweise 100 000 Juden aus Osteuropa in die amerikanische Besatzungszone, von denen ein gutes Drittel in den Kibbuzim der zionistischen Jugendbewegungen organisiert war.29 Im Jahr 1947 lebten bereits 250 000 Juden in den DP-Lagern in Deutschland, Österreich und Italien, für deren Staatenlosigkeit dringend eine Lösung gefunden werden musste. Den UN-Teilungsplan für Palästina vom 29. November 1947 begrüßten sie mit großem Enthusiasmus.
FAZIT: DIE FUNKTION DES ZIONISMUS FÜR DIE JÜDISCHEN ÜBERLEBENDEN IN DEUTSCHLAND Den verwaisten jungen Überlebenden, die nach dem Krieg in den Kibbuzim nach Ersatzfamilien suchten, waren die ideologischen Erklärungen der Spitzenvertreter des Zentralkomitees, denen zufolge die jungen Überlebenden ver-
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pflichtet seien, sich als dynamische Kraft für die Wiedergeburt des jüdischen Volks einzusetzen, eher gleichgültig. Gleichwohl war die eigenständige Form des Zionismus, die viele der DPs einte und ihre politischen Nachkriegsforderungen auf der diplomatischen Ebene stärkte, auch ideologisch motiviert. Diese Art des Zionismus genoss bei ihnen so weitreichende Unterstützung, weil er ihnen aus ideologischen und praktischen Gründen einleuchtete. Dass er so viele Anhänger mobilisieren und bis auf Weiteres an sich binden konnte, liegt daran, dass er eine pragmatische Lösung für die drängendsten Probleme der jungen Überlebenden in Aussicht stellte. Es besteht kein Zweifel, dass die DPs bei der Gründung des Staats Israel eine wichtige Rolle spielten. Allerdings bedarf es nicht des nachträglichen Wissens, dass der Staat Israel am Ende tatsächlich gegründet wurde, um die Bedeutung des Zionismus für die jungen DPs unmittelbar nach dem Holocaust zu würdigen. Er bot ihnen ein sicheres Umfeld für ihre Bildung, Ausbildung und Rehabilitation und eine Ersatzfamilie. Er ermöglichte es ihnen, ihr Vertrauen in die Menschheit und die Zukunft des jüdischen Volks zurückzuerlangen. Für die jüdischen DPs insgesamt entsprach der Zionismus unabhängig davon, ob sie selbst in den neuen jüdischen Staat strebten, einem durch die Tragödie des Völkermords im jüdischen Volk ausgelösten symbolischen Bedürfnis. Einer der Überlebenden, der beabsichtigte, sich in Montevideo niederzulassen, bei einer Umfrage aber dennoch angab, Alija machen zu wollen, drückte dies so aus: „Ich kann vielleicht in Uruguay leben, aber die Juden ... die Juden müssen in Israel leben.“ Der Zionismus in den DP-Lagern war also nicht monolithisch auf die Bedürfnisse des Jischuw ausgerichtet, sondern orientierte sich an den wirtschaftlichen, therapeutischen und diplomatischen Bedürfnissen vieler verschiedener Strömungen unter den DPs. 1
Siehe Grossmann, Atina: Juden, Deutsche, Alliierte. Begegnungen im besetzten Deutschland. Göttingen: Wallstein, 2012, 148, 150 (Fußnote 4). 2 Zu Klausners Bericht siehe Grobman, Alex: Rekindling the Flame. American Jewish Chaplains and the Survivors of European Jewry, 1944 − 1948. Detroit: Wayne State University Press, 1993, 42 − 43. 3 Siehe Dinnerstein, Leonard: America and the Survivors of the Holocaust. New York: Columbia University Press, 1982, 28. 4 Siehe Grinberg, Zalman; Puczyc, Marian: Schreiben an OMGUS und UNRRA, 10.7.1945, YIVO Archive, DP Germany, MK 483, #340. 5 Dr. Zalman Grinberg, Bericht an den World Jewish Congress, 31.5.1945, YIVO Archive, DP Germany, MK 483, reel 21. 6 Zur frühzeitigen und weitreichenden Mitwirkung der jüdischen Militärrabbiner beim amerikanischen Militär an den Hilfsmaßnahmen und der Organisierung der Institutionen der DPs siehe Grobman: Rekindling the Flame. Zur Rolle der Jewish Brigade siehe Gelber, Yoav: The Meeting Between the Jewish Soldiers from Palestine Serving in the British Army and She’erit Hapletah. Gutman, Yisrael; Saf, Avital (Hrsg.): She’erit hapletah, 1944 − 1948. Rehabilitation and Political Struggle. Jerusalem: Yad Vashem, 1990, 60 − 79.
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Protokoll, Konferenz der befreiten Juden, 25.7.1945, YIVO Archive, MK 483, reel 61, 721 − 727. Klausner half der UZO, in München Büros zu finden, die an jene des CCLJ angrenzten. Siehe Klausner, Abraham: A Letter to My Children. From the Edge of the Holocaust. San Francisco: Holocaust Center of Northern California, 2002, 41 − 42; Bauer, Yehuda: Flight and Rescue. Brichah. New York: Random House, 1970, 61. 9 Kochavi, Arieh J.: Post-Holocaust Politics. Britain, the United States & Jewish Refugees, 1945 − 1948. Chapel Hill: University of North Carolina Press, 2001, 89; Dinnerstein: America and the Survivors, Kapitel zwei. 10 Siehe Mankowitz, Zeev W.: Life between Memory and Hope. Survivors of the Holocaust in Occupied Germany. New York: Cambridge University Press, 2002, 36; Mankowitz, Zeev W.: The Formation of She’erit Hapletah: November 1944 − July 1945. Yad Vashem Studies 20 (1990), 337 − 370. Mehrere DPs, die in den ersten Nachkriegsjahren verantwortliche Positionen übernahmen, waren Überlebende aus Kowno, die sich in Nebenlagern Dachaus befanden, so Samuel Gringauz und Zalman Grinberg, der Spitzenfunktionär der Organisation der Holocaustüberlebenden in Italien Leib Garfunkel und die Initiatoren der zionistischen DP-Jugendgruppe Nocham (Vereinigte Pionierjugend). 11 Eine im Juni 1945 von zwei Vertretern der Jewish Agency durchgeführte Umfrage ergab, dass 95 Prozent der Überlebenden jünger als 35 waren. Kliger, Ruth; Shaltiel, David: Schreiben an Moshe Shertok und Eliyahu Dobkin, 11.6.1945, Central Zionist Archives (CZA), S6/3659. Einer im Februar 1946 durchgeführten Umfrage unter den jüdischen DPs in Bayern zufolge waren 83,1 Prozent der DPs fünfzehn bis 40 Jahre alt, mehr als 40 Prozent fünfzehn bis 24 und 61,3 Prozent neunzehn bis 34 Jahre alt. Jewish Population in Bavaria, February 1946, YIVO Archive, MK 488, Leo Schwartz Papers, Roll 9, Folder 57, #581. Eine Studie des JDC in der US-amerikanischen Besatzungszone ein gutes Jahr nach der Befreiung ergab, dass 83,1 Prozent der DPs sechs bis 44 Jahre alt waren. YIVO Archive, MK 488, LS 9, 57, #682; Jewish Population, US Zone Germany, 30.11.1946. 12 Baumel, Judith Tydor: Kibbutz Buchenwald: Survivors and Pioneers. New Brunswick: Rutgers University Press, 1997. 13 Siehe YIVO Archive, DP Germany, MK 483, Reel 61, #721 − 727; Hilton, Laura J.: The Reshaping of Jewish Communities and Identities in Frankfurt and Zeilsheim in 1945. Patt, Avinoam J.; Berkowitz, Michael (Hrsg.): „We are Here“. New Approaches to Jewish Displaced Persons in Postwar Germany. Detroit: Wayne State University Press, 2010, 199. 14 Hilton: The Reshaping of Jewish Communities, 214. Siehe hierzu auch den Beitrag zu Frankfurt in diesem Band. 15 Sender, Sadie: Report on Displaced Persons at Zeilsheim, 25.12.1946, http://search.archives. jdc.org/multimedia/Documents/Geneva45-54/G45-54_Count/USHMM-GENEVA_00032/ USHMM-GENEVA_00032_00330.pdf#search (1.1.2019). 16 Gay, Ruth: Das Undenkbare tun. Juden in Deutschland nach 1945. München: C. H. Beck, 2001, 69. 17 Die American Jewish Conference wurde im August 1943 gegründet, um jüdische Organisationen in Amerika zusammenzuführen und Richtlinien für die Nachkriegszeit zu erarbeiten. Sie wurde 1949 aufgelöst. 18 Bauer, Yehuda: Out of the Ashes. The Impact of American Jewry on Post-Holocaust Jewish Europe. Oxford: Pergamon, 1988, 211. 19 Hierzu siehe beispielsweise Porat, Dina: The Role of European Jewry in the Plans of the Zionist Movement During World War II and Its Aftermath. Gutman, Yisrael; Saf, Avital (Hrsg.): She’erit hapletah, 1944 − 1948. Rehabilitation and Political Struggle. Jerusalem: Yad Vashem, 1990, 286 − 303. 20 Avizohar, Meir: Bikur Ben-Gurion be-makhanot ha’akurim we-tefisato ha-leumit be-tom milchemet ha’olam ha-scheniah. Pinkus, Benjamin (Hrsg.): Jahadut mizrach Eiropah bein Schoah le-tekuma 1944 − 1948. Sde Boker: Ben Gurion University, 1987, 260; Kochavi: Post-Holocaust Politics, 94; Nadich, Judah: Eisenhower and the Jews. New York: Twayne, 1953, 238. Kochavi und Avizohar beziehen sich auf Ben-Gurions eigenen Bericht vom 8
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11.6.1945 im Ben-Gurion Archive. Das US-Militär räumte den jüdischen DPs im September 1946 das Recht ein, sich selbst zu verwalten. 21 Hoffman (Yachil), Haim: Ha-mischlechet ha-Eretz Yisraelit le-sche’erit hapeletah. Yalkut Moreshet 30 (1980), 19. 22 Hoffman: Ha-mischlechet ha-Eretz Yisraelit, 29. 23 Visit of the sub-committee to the American zone of Austria, Wien, 25.2.1946, YIVO Archive, United Service for New Americans, RG 43 AACI Box 12, 4 − 5. 24 Report of the Anglo-American Commission of Enquiry Regarding the Problems of European Jewry and Palestine, Lausanne, 20 April 1946. London: The Majesty’s Stationery Office, 1946, 14. 25 Unzer veg Nr. 29 vom 19.4.1946. 26 Mankowitz, Zeev: Zionism and She’erit Hapletah. Gutman, Yisrael; Saf, Avital (Hrsg.): She’erit hapletah, 1944 − 1948. Rehabilitation and Political Struggle. Jerusalem: Yad Vashem, 1990, 220. 27 Es gab tatsächlich einen Zionisten namens Moshe Zilberberg, der im DP-Lager Feldafing eine führende Rolle spielte und am Ende offenbar wirklich zu einem Verwandten nach Massachusetts zog. Siehe Mankowitz: Life Between Memory and Hope, 82; Leo Schwarz papers, reel 46/1246, YIVO Archive. 28 Letter from Munich to New York, Leo Schwarz papers, reel 46/1251, YIVO Archive. 29 Siehe hierzu die Tabelle: Übersicht der Bricha-Fluchthilfeorganisation über die Migrationsbewegung in den Jahren 1945 (ab Juli) und 1946 (nach: Bricha-Archiv, Efal, Hativah Z. Netzer, Box 3, Folder 4) in Cohen, Yochanan: Overim kol gevul. Ha-Bericha – Polin 1945 − 1946. Tel Aviv: Zemorah-Bitan, Masu’ah, 1995, 469.
literatur Avizohar, Meir: Bikur Ben-Gurion be-makhanot ha’akurim we-tefisato ha-leumit be-tom milchemet ha’olam ha-scheniah. Pinkus, Benjamin (Hrsg.): Jahadut mizrach Eiropah bein Schoah le-tekuma 1944 − 1948. Sde Boker: Ben Gurion University, 1987, 253 − 270. / Bauer, Yehuda: Flight and Rescue. Brichah. New York: Random House, 1970. / Bauer, Yehuda: Out of the Ashes. The Impact of American Jewry on Post-Holocaust Jewish Europe. Oxford: Pergamon, 1988. / Baumel, Judith Tydor: Kibbutz Buchenwald: Survivors and Pioneers. New Brunswick: Rutgers University Press, 1997. / Cohen, Yochanan: Overim kol gevul. Ha-Bericha – Polin 1945 − 1946. Tel Aviv: Zemorah-Bitan, Masu’ah, 1995. / Dinnerstein, Leonard: America and the Survivors of the Holocaust. New York: Columbia University Press, 1982. / Gay, Ruth: Das Undenkbare tun. Juden in Deutschland nach 1945. München: C. H. Beck, 2001. / Gelber, Yoav: The Meeting Between the Jewish Soldiers from Palestine Serving in the British Army and She’erit Hapletah. Gutman, Yisrael; Saf, Avital (Hrsg.): She’erit hapletah, 1944 − 1948. Rehabilitation and Political Struggle. Jerusalem: Yad Vashem, 1990, 60–79. / Grobman, Alex: Rekindling the Flame. American Jewish Chaplains and the Survivors of European Jewry, 1944 − 1948. Detroit: Wayne State University Press, 1993. / Grossmann, Atina: Juden, Deutsche, Alliierte. Begegnungen im besetzten Deutschland. Göttingen: Wallstein, 2012. / Hilton, Laura J.: The Reshaping of Jewish Communities and Identities in Frankfurt and Zeilsheim in 1945. Patt, Avinoam J.; Berkowitz, Michael (Hrsg.): „We are Here“. New Approaches to Jewish Displaced Persons in Postwar Germany. Detroit: Wayne State University Press, 2010, 194 − 226. / Hoffman (Yachil), Haim: Ha-mischlechet ha-Eretz Yisraelit le-sche’erit hapeletah. Yalkut Moreshet 30 (1980), 7 − 4 0. / Klausner, Abraham: A Letter to My Children. From the Edge of the Holocaust. San Francisco: Holocaust Center of Northern California, 2002. / Kochavi, Arieh J.: Post-Holocaust Politics. Britain, the United States & Jewish Refugees, 1945 − 1948. Chapel Hill: University of North Carolina Press, 2001. / Mankowitz, Zeev W.: The Formation of She’erit Hapletah: November 1944 − July 1945. Yad Vashem Studies 20 (1990), 337 − 370. / Mankowitz, Zeev: Zionism and She’erit Hapletah. Gutman, Yisrael; Saf, Avital (Hrsg.): She’erit hapletah, 1944 − 1948. Rehabilitation and Political Struggle. Jerusalem: Yad Vashem, 1990,
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211 − 230. / Mankowitz, Zeev W.: Life between Memory and Hope. Survivors of the Holocaust in Occupied Germany. New York: Cambridge University Press, 2002. / Nadich, Judah: Eisenhower and the Jews. New York: Twayne, 1953. / Porat, Dina: The Role of European Jewry in the Plans of the Zionist Movement During World War II and Its Aftermath. Gutman, Yisrael; Saf, Avital (Hrsg.): She’erit hapletah, 1944 − 1948. Rehabilitation and Political Struggle. Jerusalem: Yad Vashem, 1990, 286 − 303. / Report of the Anglo-American Commission of Enquiry Regarding the Problems of European Jewry and Palestine, Lausanne, 20 April 1946. London: The Majesty’s Stationery Office, 1946. / Sender, Sadie: Report on Displaced Persons at Zeilsheim, 25.12.1946, http://search.archives.jdc.org/multimedia/Documents/Geneva45-54/G45-54_Count/USHMM-GENEVA_00032/USHMM-GENEVA_00032_00330. pdf#search (1.1.2019). / Unzer veg Nr. 29 vom 19.4.1946.
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DIE TRANSIT-STADT MORITZ BAUERFEIND Für die jüdischen Flüchtlinge und die wenigen verbliebenen Juden, die heute in verschiedenen europäischen Ländern leben, gibt es nur die Möglichkeit der Emigration, … Palästina ist das einzige Land auf Erden, das für eine derartige Masseneinwanderung real geeignet ist … Die Flüchtlinge, die nach Italien gekommen sind, hat es hierher verschlagen, weil dies der kürzeste Weg nach Palästina ist. Leon Garfunkel, Februar 19461
Die Stadt Bari und ihr Umland am Stiefelabsatz Italiens entwickelten sich für viele jüdische Flüchtlinge zu einer frühen und wichtigen Station auf ihrem illegalen Weg nach Palästina. Die Alliierten hatten Süditalien bereits im September 1943 erobert und ermöglichten hier Flüchtlingscamps für jüdische Überlebende zu einer Zeit, als im restlichen Europa noch der Krieg tobte, und Jüdinnen und Juden dem Massenmord durch die Nationalsozialisten noch weitere eineinhalb Jahre ausgesetzt waren. Bei den unmittelbar nach der alliierten Landung befreiten Juden in Süditalien handelte es sich um sogenannte „alte Flüchtlinge“,2 die sich ab Ende der 1930er Jahre aus den von den Nationalsozialisten eroberten Gebieten zu retten versucht hatten, von den italienischen Faschisten jedoch in Lagern wie Ferramonti di Tarsia in Kalabrien festgehalten worden waren. Nach Kriegsende im nördlichen Europa kamen insgesamt etwa 50 000 DPs mehr oder weniger organisiert als „neue Flüchtlinge“ in Italien an,3 von denen sich in den Jahren 1945 bis 1948 im Schnitt jeweils um die 15 000 gleichzeitig im Land aufhielten.4 Insgesamt gab es in Italien in den Jahren 1945 bis 1951 97 DP-Lager verschiedener Größe, von denen sich 60 südlich und nur 37 nördlich von Florenz befanden.5 In der Region rund um Bari (Apulien) begannen die DPs früh, ihr neues Leben nach dem Überleben zu entwerfen. In ihrer Vorstellung befanden sie sich in Italien bereits in Eretz Israel,6 auch wenn viele von ihnen noch Jahre auf die Weiterreise nach Palästina – ab 1948 nach Israel – warten
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Neujahrskarte mit dem Wunsch der Ausreise nach Palästina, Beschriftung: „Frohes Neues Jahr 1947 − Jahr der Erlösung unseres Volkes und Geburt unserer Freiheit – Bari 1947“. Privatsammlung Efi Livnat, Timrat, Israel
Neujahrskarte aus dem DP-Lager Bari, 1947. United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C., courtesy of Rachel Mutterperl Goldfarb
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mussten. Doch waren sie entschlossen, ihr Schicksal schon jetzt so weit wie möglich in die eigenen Hände zu nehmen: Sie verwalteten sich selbst, organisierten sich in landwirtschaftlichen Kollektiven (Hachscharot), bildeten sich weiter, studierten, arbeiteten, heirateten und gründeten Familien. Und sie ließen eine jüdische Gemeinde in Bari entstehen, nachdem es dort, wie auch in anderen Teilen Süditaliens, seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in Folge der spanischen Herrschaft und Inquisition kein jüdisches Leben mehr gegeben hatte. Möglich machte all dies ein vielfältiges Netzwerk von internationalen Flüchtlings- und jüdischen Hilfsorganisationen.7 Hilfestellung boten aber auch einzelne italienische Juden, die oftmals als wichtige Mittler gegenüber den Behörden des Landes agierten. Die Union der Italienischen Jüdischen Gemeinden (Unione delle Comunità Israelitiche Italiane, UCII), die vor allem mit dem Wiederaufbau der eigenen Gemeinden beschäftigt war, unterhielt kaum offizielle Beziehungen zu den Gestrandeten. Während die Volkszählung vom August 1938 in Italien noch 46 656 Juden dokumentiert hatte, die sich einer Gemeinde zugehörig fühlten, waren es in den Jahren nach 1945 nur noch knapp 30 000. Von den mehr als 7000 italienischen Juden, die von den deutschen Besatzern und ihren Verbündeten deportiert worden waren, kamen lediglich 831 in ihr Heimatland zurück.8 Durch „La Porta di Sion“ – das Tor nach Zion, wie Italien genannt wurde – reisten in der Zeit von August 1945 bis Januar 1948 mehr als 16 000 jüdische Passagiere auf dem Seeweg aus. Mindestens zwölf der 25 dokumentierten Schiffe begannen ihre Reise in Bari oder seinem unmittelbaren Umland.9 Für viele Passagiere endete die Reise durch das Nadelöhr der britischen Blockade jedoch vorerst mit einem Zwischenstopp in einem Internierungslager auf Zypern. In Apulien war Bari mit seinem Hafen der Ort des Aufbruchs. Im April 1945 beispielsweise hielten sich hier 1400 DPs auf, davon 500 im Lager und in den Hachscharot. Die übrigen 900 waren in der Stadt dezentral untergebracht. Die meisten Flüchtlinge wurden jedoch auf verschiedene Orte an der Küste und im Hinterland verteilt. Die vier größten Lager des Landes lagen an der Küste der südlich gelegenen Provinz Lecce: Santa Maria al Bagno, Santa Maria di Leuca, Santa Cesarea Terme und Tricase Porto. Diese Ortschaften beherbergten im April 1945 7000 Überlebende.10 Die Zahlen nahmen in der Folge kontinuierlich ab, im Frühjahr 1947 wurden die vier Camps in der Provinz Lecce geschlossen, der Zustrom konzentrierte sich nun auf Bari. Mit der Unterstützung jüdischer Soldaten aus den alliierten Armeen war hier bereits im September 1943 der Merkaz ha-Pelitim,11 die zentrale Anlaufstelle für alle DPs in der Region eingerichtet worden. Ausgestattet mit einer Kantine, Klinik, Synagoge, Schule und Schlafsälen, diente sie auch allgemein als Versammlungsort. Und unter der Leitung des im Dezember 1943 gegründeten
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Ankunft eines Zugs mit DPs aus München in Bari, um 1949. Die Angekommenen warten auf Lastwagen, die sie in die Transitlager bringen. Foto: Herbert Steinhouse, American Jewish Joint Distribution Committee, New York City
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Julius Levine, JDC-Vertreter in Süditalien, inspiziert die Mazzot-Lieferung für die DP-Lager und Siedlungen um Bari für Pessach 1947. American Jewish Joint Distribution Committee, New York City
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Zeev Abrahami Gottlib mit seinem Zwillingsbruder, geboren in Santa Maria di Leuka in Apulien, vor einer Karte von Eretz Israel 1947. Mit diesem Foto wollten ihre Eltern dem Wunsch und der Hoffnung Ausdruck verleihen, bald nach Palästina auswandern zu können. Privatsammlung Zeev Abrahami Gottlib, Israel
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Schneiderwerkstatt im DP-Camp Santa Cesarea Terme (Provinz Lecce), 1946. Sara Pollak nähte für ihren Lebensunterhalt im Hof des Hauses, in dem sie mit ihrem Mann, ihrem Sohn sowie zwei Schwestern samt deren Familien lebte. Privatsammlung Shmuel (Pollak) Pelleg, Kfar Saba, Israel
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Joint Palestine Emigration Committee (JPEC) konnten schon im Februar 1945 unter der Leitung zionistischer DPs aus Ferramonti und Bari die ersten Überfahrten aus dem Hafen von Tarent organisiert werden. Während in den von der UNRRA organisierten Lagern meist 200 DPs zusammenwohnten,12 schlossen sich in den Hachscharot kleinere Gruppen von 40 bis 120 Personen zusammen.13 Im Vergleich zu anderen Ländern wie Polen und Deutschland kamen die hiesigen Einrichtungen selten in größeren Bauernhöfen oder landwirtschaftlichen Ausbildungskommunen, sondern meist in ehemaligen Privatvillen unter, die in der Regel schnell überfüllt waren. Obwohl es in der Praxis an einem ausdifferenzierten Fortbildungs-, Kultur- und Freizeitprogramm mangelte, waren die Hachscharot bei den DPs beliebter. Insbesondere schätzten die Bewohner die Freiheiten ihrer (Teil-)Autonomie und die Abwesenheit irgendwelcher Zäune. Unterstützt wurden diese Kleinlager insbesondere vom JDC und Angehörigen der Jewish Brigade, sodass laut Zuteilung jede Bewohnerin und jeder Bewohner dreimal pro Woche frisches Fleisch sowie ein halbes Kilo Obst und 400 Gramm Brot täglich erhielt.14 Die Unterbringung der jüdischen Flüchtlinge in oftmals enteigneten Villen stieß in der nichtjüdischen italienischen Gesellschaft immer wieder auf Widerstand, auch wurde den Flüchtlingen vorgeworfen, mit dem überlassenen Eigentum nicht sorgsam genug umzugehen. Die Proteste vor Ort führten aber zu keinen größeren Demonstrationen oder Konfrontationen. Überlebende Juden aus der italienischen Zivilgesellschaft halfen den Flüchtlingen wiederum auf individueller Ebene, beispielsweise bei der Fischereiausbildung und der Beschaffung von Booten für die Weiterreise. Gemeinsame Aktivitäten blieben aber nicht zuletzt wegen einer fehlenden gemeinsamen Sprache die Ausnahme. Die vor allem aus Jugoslawien, Mittel- und Osteuropa stammenden DPs hinterließen auf lange Sicht kaum Spuren in Süditalien. Viele der von ihnen gegründeten Gemeinden blieben bis zur Auflösung nach ihrem Wegzug komplett von auswärtiger Unterstützung abhängig. Nach der Schließung der größten Lager in der Provinz Lecce im Frühjahr 1947 wurde die Mehrzahl der verbliebenen DPs in den Norden transferiert. Für die sehr heterogene Gruppe stellte die Zeit in Italien einen Zwischenstopp dar. Sie bot aber auch die Möglichkeit zur elementaren Neuorientierung hinsichtlich der eigenen jüdischen Identität und Hinwendung zu zionistischen Idealen, was schon durch die räumliche Nähe zum Mittelmeer und die damit direkt verbundene Perspektive auf Eretz Israel verstärkt wurde. Die Einstellung der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft warf für die Juden, ob sie nun aus Italien stammten oder als Flüchtlinge versuchten, im Land Fuß zu fassen, viele Fragen auf. Einer wissenschaftlichen und psychischen Aufarbeitung der Vergangenheit wurde im Herkunftsland des Faschismus aus dem Weg gegangen. Stattdessen wurde insbesondere mit Blick auf die Zeit vor dem Sturz des
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Faschismus eine Art „Amnesie“ vorgetäuscht, die ein konfliktfreies Zusammenleben im neuen Staat gewährleisten sollte.15 1
Leon Garfunkel (OJRI-Vorsitzender bis Ende 1947). OJRI war das Kürzel für die Organisation Jüdischer Flüchtlinge in Italien (Organization of the Jewish Refugees in Italy). Das Zitat findet sich in: Marzano, Arturo: Jewish DPs in Post-War Italy. The Role of Italian Jewry in a Multilateral Encounter (1945 − 1948). Bregoli, Francesca; Ferrara degli Uberti, Carlotta; Schwarz, Guri (Hrsg.): Italian Jewish Networks from the Seventeenth to the Twentieth Century. Bridging Europe and the Mediterranean. Cham: Springer, 2018, 160. 2 Chiara Renzo prägte die Begriffe „alte“ und „neue“ Flüchtlinge zur Unterscheidung zwischen jenen, die bereits in den 1930er-Jahren und jenen, die erst nach Kriegsende angekommen waren. Renzo, Chiara: „Our Hopes Are Not Lost Yet.“ The Jewish Displaced Persons in Italy. Relief, Rehabilitation and Self-understanding (1943 − 1948). Quest. Issues in Contemporary Jewish History Nr. 12 (2017), 90 − 111, hier 94 − 96. http://www.quest-cdecjournal.it/focus. php?id=396 (5.9.2019). 3 Bregoli, Francesca; Ferrara degli Uberti, Carlotta; Schwarz, Guri: Introduction. Bregoli, Francesca; Ferrara degli Uberti, Carlotta; Schwarz, Guri (Hrsg.): Italian Jewish Networks from the Seventeenth to the Twentieth Century. Bridging Europe and the Mediterranean. Cham: Springer, 2018, 16. 4 Renzo: „Our Hopes,“ 102. Für den Mai 1946 dokumentierte ein Bericht der UNRRA, die bald nach der Befreiung Roms im Sommer 1944 im Land tätig geworden war, die Unterstützung eines Höchststandes von 17 095 jüdischen DPs, von denen 7152 in Lagern, 5943 in Hachscharot und 4000 in Städten untergebracht waren. 5 Marzano: Jewish DPs in Post-War Italy, 161. 6 Shmoel Mordekai Rubinstein, Memories, available in Hebrew online http:// srmemo.blog.spot. it/2008/08/blog-post_185.html ; quoted in Renzo, "'Our Hopes'", 96. 7 Zu ihnen gehörten neben der UNRRA (später IRO) die folgenden jüdischen Organisationen: JDC, der Jischuw, ORT, HIAS. Auf nationaler Ebene wurden die DPs außer von der OJRI auch von der Italienischen Zionistenföderation unterstützt. Die UNRRA trug maßgeblich zur Verpflegung der DPs bei, während das JDC hauptsächlich die Unterkünfte finanzierte und HIAS die konkreten Aktivitäten organisierte. 8 Schwarz, Guri: After Mussolini. Jewish Life and Jewish Memories in Post-Fascist Italy. Edgware: Vallentine Mitchell, 2012, 5. 9 Verlässliche Auskünfte sind auch hier aufgrund der fehlerhaften oder gefälschten Dokumentation nicht möglich. Schätzungen liefern: Zertal, Idith: From Catastrophe to Power. Holocaust Survivors and the Emergence of Israel. Berkeley: University of California Press, 1998, 17; Marzano: Jewish DPs in Post-War Italy, 154 − 155; Renzo, Chiara: The Organization of the Jewish Refugees in Italy. Cultural Activities and Zionist Propaganda inside the Displaced Persons Camps (1943 − 48). Remembrance and Solidarity. Studies in 20th Century European History Nr. 5 (2016), 65. 10 Die Zahlen verdanke ich Chiara Renzos Recherchen in den Beständen der Allied Control Commission. 11 Zentrum für Flüchtlinge, ab Oktober 1944: Merkaz la-Golah be-Italia – Zentrum für die Diaspora in Italien. 12 Marzano, Arturo: Relief and rehabilitation of Jewish DPs after the Shoah. The Hachsharot in Italy (1945 − 48). Journal of Modern Jewish Studies 18.3 (2019), 8. 13 Marzano: Jewish DPs in Post-War Italy, 158. 14 Marzano: Jewish DPs in Post-War Italy, 159. 15 See Schwarz: After Mussolini, 174 − 175; Marzano, Arturo: „Prisoners of Hope“ or „Amnesia“? The Italian Holocaust Survivors and their Aliyah to Israel. Quest. Issues in Contemporary Jewish History Nr. 1 (2010), 92 − 107. http://www.quest-cdecjournal.it/focus.php?issue=1&id=194 (5.9.2019). /www.quest-cdecjournal.it/focus.php?issue=1&id=194 (5.9.2019).
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RIVKA COHEN (GEB. 1946) Rivka Cohen wurde 1946 in der in Apulien gelegenen Ortschaft Santa Maria di Leuca als Kind Überlebender aus Ungarn geboren. Von Budapest aus erreichten ihre Eltern auf dem Weg über Triest, Mailand und Rom im Februar 1946 das DP-Lager in Santa Maria al Bagno in der Provinz Lecce. Mit ihnen kamen die Zwillingsschwester der Mutter mit ihrem Ehemann und die Schwester des Vaters. Sie hatten in Mailand in einem von der Jewish Brigade betriebenen Informationszentrum vom Ausbildungshof der Torah we-Avodah-Bewegung in Santa Maria al Bagno erfahren. Hier wurde den beiden jungen Paaren ein kleines Haus mit zwei Schlafzimmern und einer Küche überlassen. Die Zwillingsschwestern waren beide schwanger und brachten im August 1946 in der Geburtsklinik in Santa Maria di Leuca zwei Mädchen zur Welt, die sie nach den in der Schoa ermordeten Großmüttern Hannah-Rivka (Friedman-Cohen) und Sara-Rivka (Rosenfeld-Nevo) nannten. Im April 1947 wurden die Flüchtlingslager in der Provinz Lecce geschlossen und Rivka zog mit ihren Eltern, ihrer Tante, ihrem Onkel und ihrer Cousine in das Transitlager Bari-Palese, wo sie in großen Asbesthütten lebten. Am 24. Dezember 1947 verließen sie Italien vom nahe Rom gelegenen Hafen Civitavecchia aus Richtung Palästina, mussten zuvor jedoch noch einen Umweg über Abbiate in Norditalien in Kauf nehmen. Rivka Cohen kam 2014 als eine der Protagonistinnen des Dokumentarfilms Shores of Light von Yael Katzir an ihren Geburtsort Santa Maria di Leuca zurück.
Rivka Cohens Eltern, Tante, Onkel und Cousine in Santa Maria al Bagno, 1946. Privatsammlung Rivka Cohen, Jerusalem
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Kindergarten in Bari (Rivka Cohen ganz links, Rivka Rosen mit Schleife im Haar), 1947. Privatsammlung Rivka Cohen, Jerusalem
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Strandszene in Bari, 1947. Rivka Cohen mit ihrem Vater, links. Privatsammlung Rivka Cohen, Jerusalem
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FERENCZ GOLDSTEIN (FRANCESO GODELLI) (1914 – 1978) Ferencz Goldstein kam 1914 im heutigen Bistriţa, Siebenbürgen, damals Österreich-Ungarn, in einer ungarisch sprechenden Familie zur Welt. Nachdem Siebenbürgen nach dem Ersten Weltkrieg Rumänien zugesprochen wurde, zog die Familie in das damals italienische Fiume (heute Rijeka, Kroatien). Ferencz (von seinen Freunden und Angehörigen Feri genannt) studierte später Literaturwissenschaft in Padua und machte 1938 seinen Abschluss, bevor er wieder zurück nach Fiume ging, wo er seine Familie als privater Nachhilfelehrer finanziell unterstützte. Mit den neuen Rassegesetzen verloren die Goldsteins 1940 nicht nur die italienische Staatsbürgerschaft, sie wurden auch auseinandergerissen. Ferencz, sein Vater und einer seiner Brüder wurden in dem in den Abruzzen gelegenen mittelitalienischen Konzentrationslager Notaresco interniert. Goldsteins Vater durfte nach einiger Zeit wegen seiner angegriffenen Gesundheit nach Fiume zurückkehren und konnte sich dort mithilfe einiger Ärzte im Krankenhaus verstecken. Seine Mutter und Schwester tauchten mit Hilfe jugoslawischer Partisanen in den Wäldern unter. Ferencz jüngster Bruder wurde nach Auschwitz deportiert. Ferenc konnte 1944 schließlich zusammen mit seinem ebenfalls internierten Bruder aus dem Lager in den Abruzzen ausbrechen, wurde daraufhin von den Deutschen verhaftet, floh abermals und schlug sich dann in das bereits von den Alliierten befreite Bari durch. Wegen seiner Sprachfertigkeiten engagierten ihn die Alliierten im DP-Lager als Übersetzer von Radioübertragungen. Er selbst fand eine private Unterkunft und entschloss sich zu bleiben. Er nahm den Namen Francesco Godelli an und bewarb sich um eine Anstellung als Lehrer, die er trotz fehlender Spezialausbildung und Dokumente erhielt. Er heiratete eine seiner (katholischen) Kolleginnen und wurde Mitglied der Jüdischen Gemeinde Bari, die sich nach der Abreise der Displaced Persons Anfang der 1950er Jahre jedoch wieder auflöste. Francesco Godelli starb 1978 im Alter von 64 Jahren an einem Herzinfarkt. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof in Bari begraben.
Ferencz Goldstein (Godelli), ca. 1946 − 47. Privatsammlung Silvia Godelli, Bari
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Ferencz Goldstein (Godelli), rechts außen stehend, mit seinen Lehrerinnen- und Lehrerkollegen, 1950er Jahre. Privatsammlung Silvia Godelli, Bari
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Ferencz Goldstein (Godelli) mit seiner Frau Elisa, ca. 1945 − 46. Privatsammlung Silvia Godelli, Bari
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RÜCKBLICK AUF EINEN GENERATIONSÜBERGREIFENDEN PROZESS LENA INOWLOCKI Bei einem Besuch im Jüdischen Gemeindezentrum in Frankfurt am Main im Jahr 2019 ist es nicht ungewöhnlich und sogar zu erwarten, junge Frauen mit Scheitel anzutreffen und Männer, die sichtbar Zizit tragen.1 Sie arbeiten in der Gemeinde oder holen ihre Kinder vom Kindergarten ab: Mädchen in langen Röcken, Jungen mit Kippa und Zizit, manche auch mit Pejes. Es wirkt, als sei dies schon immer so gewesen, da ja die orthodoxe Lebensweise auf eine lange Tradition zurückgeht und nicht an Orten zu erwarten ist, an denen es keine Strukturen und Einrichtungen gibt, die die Lebensführung orthodoxer Familien unterstützen. Tatsächlich handelt es sich aber um eine neue Entwicklung, die durch Migration, Transmigration und eine globalisierte Zuwendung zur religiösen Lebensführung entstanden ist und zu den zahlreichen Veränderungen gehört, die in der Gemeinde in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben. In den Jahren der Neugründung der Gemeinde nach 1945, als jüdische Displaced Persons (DPs) und später ihre Familien die Mehrheit der Gemeindemitglieder bildeten, waren diese Entwicklungen nicht absehbar. Im Rückblick auf diese Zeit und die darauffolgenden Jahrzehnte möchte ich darauf eingehen, wie DPs, ihre Kinder und Enkel die Jahre nach 1945 in Frankfurt erlebten und wie sie auf gesellschaftliche und politische Veränderungen reagierten und diese mitgestalteten. Ich beziehe mich dabei auf meine Forschung zu drei Generationen von Frauen und Mädchen in jüdischen DP-Familien. Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre ging ich der Frage nach, inwiefern nach der Verfolgung in der Schoa, der Zerstörung der jüdischen Lebenswelten in Polen und dem Leben im Provisorium überhaupt Kontinuität vermittelt werden konnte.2 Meine Untersuchung galt den weiblichen Familienmitgliedern, da die Traditionsvermittlung
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in der häuslichen Sphäre als Aufgabe der Frauen gesehen wird.3 Es stellte sich heraus, dass die Orientierung an der Tradition nicht von der älteren Generation übernommen, sondern von Töchtern und Enkelinnen neu initiiert und intensiviert wurde. Dies geschah auch, um der Verfolgung während der Schoa eine konstruktive Familienatmosphäre entgegenzusetzen. Die nicht realisierte Auswanderung, inbesondere aus Deutschland, wurde zum Projekt der jüngeren Generationen. Auf die Erfahrungsdarstellungen der drei Generationen um 1990 möchte ich im Folgenden eingehen, um die in den ersten Jahrzehnten in den Nachkriegsgemeinden einsetzenden Veränderungsprozesse zu rekonstruieren. In Antwerpen, Amsterdam und Frankfurt hatten sich einige der älteren von mir interviewten Frauen nach der Schoa von einer religiösen Lebensführung distanziert, weil sie den Glauben an die Religion verloren oder aufgegeben hatten. Andere hielten die ihnen von zu Hause vertraute Traditionspraxis weiter bei, sofern die Umstände dies ermöglichten. Ihre in der Nachkriegszeit geborenen Töchter entfernten sich bis in die 1970er Jahre von dieser Traditionspraxis. Mit Blick auf ihre eigenen Kinder lag ihnen in den 1980er Jahren dann aber an einer Weiterführung einer Zugehörigkeit zum Judentum in einem nichtjüdischen Umfeld. In Antwerpen und Amsterdam sollten stärker an der Orthodoxie ausgerichtete jüdische Schulen einen intensiveren inhaltlichen Bezug zum religiösen Wissen gewährleisten. In Frankfurt gab es zunächst noch keine weiterführende jüdische Schule, aber vergleichbare Bestrebungen, wie an einem Beispiel gezeigt werden soll. Ende der 1980er Jahre setzte eine Dynamik der Re-Traditionalisierung ein, zunächst und hauptsächlich in Antwerpen. Aber auch in Amsterdam und in Frankfurt führte sie in den Familien der jüdischen DPs zu intergenerationellen Auseinandersetzungen und Aushandlungsprozessen. Die Bedeutung von Religion als Wissen und Praxis veränderte sich durch den Schulunterricht, sie sollte nicht mehr an der Elterngeneration orientiert und auch nicht durch die persönliche Erinnerung an die Verfolgung in der Schoa geprägt sein, sondern in Hinblick auf ein konstruktives und zukunftsorientiertes Familienleben neu gestaltet werden. Die Intensivierung religiösen Lernens bezeichneten Frauen der mittleren und jüngeren Generation, also die Töchter beziehungsweise Enkelinnen der Überlebenden, auf dramatische und paradoxe Weise selbst als „Brainwash“. Wie können wir das verstehen? Wenden wir uns zunächst der Nachkriegszeit zu. In Frankfurt am Main lebten 1945 nur noch wenige als zweihundert Angehörige der vormals großen Gemeinde, die der Deportation und Ermordung durch Untertauchen entkommen waren. Nach Frankfurt als Zentrum der Alliierten Zone der US-Amerikaner kamen dann ab 1945 Überlebende der Schoa aus Polen als jüdische Displaced Persons (DPs) mit der Absicht und in der Hoffnung auszuwandern, was
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Eröffnung des Kindergartens der Jüdischen Gemeinde in der Gagernstraße in Frankfurt am Main, 1950. Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main
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nicht allen gelang.4 Unter den Überlebenden befanden sich auch viele, die aus ihrem Exil in der Sowjetunion zunächst nach Polen repatriiert worden waren. In den 1950er Jahren folgten jüdische Familien aus Ungarn und Rumänien sowie Familien aus Israel, deren ältere Generation bereits in den 1930er Jahren oder unmittelbar im Anschluss an ihre Befreiung nach Eretz Israel ausgewandert war. Frankfurt – mit dem DP-Lager Zeilsheim – galt den Überlebenden als vorübergehender Aufenthaltsort, um nach Nord- oder Südamerika, Palästina, Australien oder in ein anderes aufnahmewilliges Land zu emigrieren. Für diejenigen, deren Auswanderungsvorhaben scheiterte, blieb das Leben in Deutschland ambivalent: „Wer in Deutschland blieb – aus gesundheitlichen Gründen, in Ermangelung eines Visums, oder weil man sich bereits eine bescheidene Existenz aufgebaut hatte –, musste mit der offenen Geringschätzung umgehen“.5 Dies betraf insbesondere auch die in den späten 1940er und in den 1950er Jahren zurückkehrenden Familien ehemals deutscher Juden aus Israel sowie remigrierende jüdische DPs.6 Außerdem kamen 1957 nach Auflösung des letzten jüdischen DP-Lagers in Bayern (Föhrenwald) viele Familien nach Frankfurt. In diesen Familien sprachen sogar die Kinder Jiddisch. Nach ihrer provisorischen Unterbringung in einem ehemaligen Schulgebäude der jüdischen Vorkriegsgemeinde im Röderbergweg 29 zogen sie in Wohnungen in der Nähe und besuchten die Synagoge im Erdgeschoss des ehemaligen Schulgebäudes.7 Gelang Überlebenden die Auswanderung nicht, wurde sie in vielen Familien zum intergenerationellen Projekt. So motivierte die in Frankfurt 1959 gegründete Zionistische Jugend Deutschlands die jüngere Generation, nach dem Abitur nach Israel auszuwandern. Auch Kinder deutscher Juden, die in den 1930er Jahren nach Palästinia migriert und in den 1950ern aus Israel zurückgekehrt waren, sahen ihre Zukunft in Israel. Zudem schuf die weiträumige Präsenz der Angehörigen der US-amerikanischen Streitkräfte in Frankfurt, mit ihrem Headquarter im ehemaligen I.G.-Farben-Gebäude, eine exterritoriale Verbindung zwischen den ehemaligen Verfolgten und ihren Befreiern und stellte eine zumindest imaginäre Nähe zum anderen Traum-Auswanderungsland, den USA her. Einige Bar-Mitzvot der Nachkriegszeit wurden im Casino-Anbau des I.G.-Farben-Gebäudes gefeiert. Tatsächlich wanderten dann viele Angehörige der jüngeren Generation der DP-Familien aus, vor allem nach Israel oder in die USA, so dass die Nachkommen dieser Familien, die von den Fünfzigern bis weit in die 1970er Jahre die Mehrheit der Frankfurter Gemeinde gebildet hatten, zur Minderheit wurden. In der Nachkriegszeit orientierten sich nur einzelne Familien in Frankfurt an einer orthodoxen Lebensweise. Familien, denen diese wichtig war, zogen nach Antwerpen oder schickten ihre Kinder auf Internate. Erst ab Mitte der 1950er Jahre war in Frankfurt koscheres Fleisch regelmäßig erhältlich. In
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vielen Familien polnischer Juden strukturierte der jüdische Kalender angesichts der Bedeutung des Sabbats und der Feiertage auch ohne orthodoxe Praxis den Jahresablauf. Die Bedeutung und Ausübung der Religion war nach dem Krieg noch lange untrennbar mit der unermeßlichen Trauer der Eltern verknüpft. Jede rituelle Handlung, jeder Feiertag erinnerte diese an das Zuhause, das ihnen genommen, und die vielen Angehörigen, die ermordet worden waren. So unausgesprochen die Geschichte der Verfolgung, der eigenen und der der Familienangehörigen, blieb, so ausdrucksvoll übertrugen sich Verzweiflung und Trauer in alle Gesten, sei es beim Kerzenanzünden, bei der Versammlung zum Beten in der Synagoge, beim Gedenken an die Pogromnacht am 9. November 1938 vor der zerstörten ehemaligen Synagoge in der Friedberger Anlage oder bei sozialen Zusammenkünften, etwa, wenn im damaligen MGM-Kino in der Schäfergasse ein Film auf Jiddisch gezeigt wurde. Die religiöse Lebensführung und ihre Gestaltung blieb bis in die 1970er Jahre die Angelegenheit der älteren Generation, auch wenn die Kinder mit dem wöchentlichen Religionsunterricht und Kabbalat Schabbat im damaligen Gemeindezentrum Baumweg in ihrem Wissen und ihrer Praxis des Judentums gestärkt werden sollten. Für die Kinder der DPs war die Erfahrung des religiösen Ritus – praktiziert, aber nicht erklärt – auf unbestimmte, nachdrückliche Weise mit der Verfolgung ihrer Eltern in der Schoa verknüpft, die immer im Raum stand, auch wenn nur in Andeutungen darüber gesprochen wurde. Im Interview mit einer älteren Frau, die die Schoa in Polen überlebt hatte und einzelne Familienmitglieder retten konnte, aber eben nur einzelne, was sie verzweifeln liess, erzählte sie, sie und ihr Mann hätten nicht über die Verfolgung gesprochen, um die Kinder zu schonen. Ihre um 1950 in Frankfurt geborene Tochter, die beim Interview mit ihrer Mutter dabei sein wollte, kommentierte dies: „Ihr habt immer darüber gesprochen.“8 Wie diese Mutter stammten viele Frauen aus der älteren Generation orthodoxen Familien, hatten sich aber bereits in ihrer Jugend in Polen säkular orientiert und ihre Zugehörigkeit zum Judentum mit kulturellen Aktivitäten und dem Engagement in sozialistischen bzw. zionistischen Organisationen verbunden.9 Aus Verzweiflung an der Menschheit und an Gott distanzierten sich Überlebende von der Religion, andere achteten bereits in den DP-Lagern auf die Einhaltung des Sabbats und der Feiertage. Nach der Schoa nahmen für viele der nicht religiös orientierten Überlebenden die Feiertage eine Bedeutung an, die sie mit ihrer Zugehörigkeit zum Judentum und der Unterstützung eines eigenen Staates verbanden, in dem Juden ohne Angst vor Verfolgung würden leben können.10 In den 1960er Jahren entfernten sich viele Angehörige der jüngeren Generation der DP-Familien in ihrer Adoleszenz im Zuge ihres Engagements in der Zionistischen Jugend in Deutschland (ZJD) bzw. der beginnenden kritischen
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Wohnzimmer in einer Frankfurter Wohnung einer überlebenden Familie, 1948. Jüdisches Museum Frankfurt
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DPs, darunter eine zionistische Jugendgruppe, vor dem Denkmal für die Ermordeten im DP-Lager Frankfurt-Zeilsheim, 1946. Jüdisches Museum Frankfurt, courtesy of Andrea Szapiro, Frankfurt am Main
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Öffentlichkeit und Protestbewegung an den Universitäten und Schulen von der Religionspraxis.11 Für die betreffenden Kinder aus den DP-Familien standen diese politischen und kulturellen Aktivitäten und der Kampf gegen Autoritarismus und Unterdrückung im Zeichen der Schoa. Die 1970er und 1980er Jahre waren für sie unter anderem gekennzeichnet durch die in Frankfurt gegründete „Jüdische Gruppe“; die Herausgabe der Zeitschrift Babylon – Beiträge zur jüdischen Gegenwart; den Protest gegen den gemeinsamen Besuch Reagans und Kohls auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg am 5. Mai 1985; den Protest im gleichen Jahr gegen die Aufführung des Fassbinder-Stücks „Der Müll, die Stadt und der Tod“; und den Börneplatz-Konflikt von 1987 angesichts der geplanten Errichtung eines Gebäudes der Stadtverwaltung auf den Ruinen der Judengasse.12 Wie auch an anderen Orten der Welt und in verschiedenen Religionen schien die fortschreitende Säkularisierung in den 1970er und 1980er Jahren unumkehrbar. Umso eindrucksvoller wirkte im Gegensatz dazu das jüdische Antwerpen Mitte der 1980er Jahre. Mein nostalgisch verklärter Besucherblick sah ein Schtetl vor sich, ein Trompe-l’œil der jüdischen Lebenswelt vor der Schoa in Polen. Selbst die jüngsten Kinder der großen Familien sprachen Jiddisch und es schien, als habe sich hier seit Generationen nichts verändert. Tatsächlich unterschied sich die neugegründete Gemeinde Antwerpens in ihrer Zusammensetzung in vielerlei Hinsicht von der Vorkriegsgemeinde.13 Gerade die ärmeren Angehörigen der Gemeinde waren während der Schoa ermordet worden, die früher prägenden sozialistischen und kommunistischen jüdischen Organisationen waren nun nicht mehr vertreten. Das zionistische Engagement wurde jetzt nicht mehr sozialistisch durch Poale Zion, sondern religiös durch Misrachi definiert. In der Vorkriegsgemeinde hatte es einzelne chassidische Gruppen gegeben, ab Ende der 1940er und in den 1950er Jahren ließen sich vermehrt streng orthodoxe und chassidische Juden in Antwerpen nieder.14 Orthodoxe Strömungen hatten sich also erst nach und nach so umfassend entwickelt, und während meiner Besuche und Aufenthalte Ende der 1980er Jahre konnte ich beobachten, wie diese Entwicklung weiter verlief. Ich konnte nachvollziehen, welche biografischen und intergenerationellen Auseinandersetzungen in den Familien mit der neuen Bedeutung der Orientierung an einer orthodoxen Tradition innerhalb der Gemeinde verbunden waren. Die Intensivierung nahm bei der jüngeren Generation, die noch zur Schule ging, ihren Anfang und bewirkte, dass sich dann auch die Mütter, für die die Traditionspraxis bis dahin eine eher beiläufige Rolle gespielt hatte, Zug um Zug an den neuen Regeln orientierten: Indem sie statt Jeans längere Röcke trugen und die eigenen Haare bedeckten, zunächst mit einem Haarband, dann mit einem Tuch, das je nach Gelegenheit angezogen oder abgelegt wurde; durch verändertes Kauf- und Konsumverhalten für den koscheren Haushalt, beispielsweise
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mit neu vermarkteter koscherer Milch, die nun noch eine Weile neben der herkömmlichen Milch im Kühlschrank stand. Der Druck der Veränderungen auf das eigene Maß religiöser Lebensführung wurde von Müttern und Töchtern kommentiert und als konflikthaft wahrgenommen. Gleichzeitig veränderte sich aber die Lebensführung auch derjenigen, die dem sozialen Druck kritisch gegenüberstanden. In den 1970er Jahren war es üblich gewesen, zukünftige Ehepartnerinnen und Ehepartner über Geschwister beziehungsweise Freunde und Freundinnen kennen zu lernen, bei gemeinsamen Café- und Kinobesuchen. Nun, in den 1980ern, erwarteten die jüngeren Geschwister in denselben Familien, dass ihnen Ehepartnerinnen beziehungsweise -partner vermittelt würden – was selbst in den Herkunftsfamilien der interviewten älteren Frauen in Polen kaum noch üblich gewesen war. Mit der Re-Traditionalisierung der Lebensführung setzten sich die Mädchen und Frauen persönlich und in ihren Beziehungen als Mütter und Töchter auseinander. Die Frauen der mittleren und älteren Generation standen der neuen Orthodoxie ambivalent gegenüber. Sie ermöglichte einerseits die erwünschte Kontinuität einer langen Tradition, dies jedoch andererseits auf eine Art, die nicht der gewohnten, hergebrachten Art und Weise entsprach, in der die Religion bisher in der Familie praktiziert und Traditionen vermittelt worden waren.15 In den Interviews wurde von den Enkelinnen der Überlebenden eindrucksvoll beschrieben, wie sich aus ihrer Perspektive die orthodoxe Strömung durchgesetzt hatte, und was das für sie bedeutete. Für Mädchen oder Frauen, die sich für eine stärker an der orthodoxen Tradition orientierte Lebensführung entschieden, stellte sich die Frage, wieso sie sich – durch das Einhalten religiöser Gesetze und die Hinnahme der damit verbundenen Ungleichbehandlung der Geschlechter – sozusagen freiwillig in eine weitere Abhängigkeit begaben. Außer dem religiösen Schulunterricht für Mädchen trägt auch die Auseinandersetzung mit der eigenen religiösen Überzeugung zur Dynamik der Traditionalisierung bei; gerade die Situationsdefinition „die Wahl zu haben“ setzt die Bereitschaft dazu in Gang.16 Der religiöse Schulunterricht der Töchter bewirkte ein neues Regelbewusstsein bei der Erfüllung der Traditionsbewahrung, das sich beispielsweise als Druck auf die Eltern äußerte, alle Bereiche des persönlichen und des Familienlebens traditionsorientiert zu gestalten. Die mit der Umstellung vor allem konfrontierte mittlere Generation von Frauen bezeichnete die von ihnen für die Traditionsorientierung als notwendig angesehene regelbezogene religiöse Erziehung der Töchter im Schulunterricht mit reichlich Ambivalenz als „Brainwash“ oder „Indoktrination“. Die überspitzte Formulierung weist darauf hin, dass gegenüber einer mehrheitlich nichtjüdischen Umwelt keine andere Wahl bestehe und nach dem Abbruch der Tradierung und der Zerstörung der jüdischen Lebenswelt andere Formen religiöser Erziehung schlichtweg nicht möglich seien.
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Die Auseinandersetzung mit diesen Veränderungen möchte ich im Folgenden in drei kurzen Vignetten beschreiben.17 Diese betreffen die Intensivierung des religiösen Lernens einer jungen Frau namens Diana in Antwerpen;18 ein Streitgespräch zu Tsniut, also Sittsamkeit, zwischen zwei jungen Frauen, Daphne und Nurith, und deren Mutter, Frau Neumann, in Amsterdam; und die Überlegungen der in den 1950er Jahren geborenen Frau Wieder zum religiösen Unterricht ihrer Kinder in Frankfurt um 1990.
ANTWERPEN Diana wuchs in Antwerpen auf und war Anfang 20, als ich sie dort interviewte. Ihre Eltern waren in sozialen Organisationen der Gemeinde aktiv und nicht religiös orientiert. Dianas Großeltern waren Überlebende und DPs und hatten sich, wie mir Dianas Großmutter erzählte, nach der Schoa von einer religiösen Lebensführung abgewandt. Diana besuchte zunächst die nichtreligiöse jüdische Schule in Antwerpen und bat dann Mitte der 1980er Jahre ihre Eltern, sie auf ein religiöses Internat zu schicken. Ihr Lehrer dort habe ihr „einen Brainwash gemacht“: Diana: Er hat angefangen, er hat versucht, mich zu überzeugen, überzeugen, überzeugen, während eines Jahres. Jedes Mal, ein Jahr, ich hatte Schiurim praktisch jeden Tag, also Schiurim, Schiurim, Schiurim,19 und ein Wochenende war ich in London, ich habe ein Wochenende bei den Lubawitschern in London verbracht. So ein Wochenende. Und das hat mich, das hat mich enorm berührt. Das hat mich enorm berührt. Sie betonte, es sei für sie wichtig gewesen, „die Wahl zu haben“, auf das religiöse Internat zu gehen. Sie trägt nach, dass dies durch eine für sie sehr schmerzhafte Erfahrung ausgelöst wurde, als ein Junge aus ihrer religiös orientierten Verwandtschaft sich weigerte, ihr „Schabbat Schalom“ zu erwidern, und ihr vorwarf, sie sei gar nicht jüdisch, weil sie Jeans trage und am Sabbat Auto fahre. Sie musste erkennen, dass sie in der religiöser werdenden Antwerpener Gemeinde zur Außenseiterin geworden war und einem Jungen, der gerade erst Bar Mitzwa geworden war, als Vertreter des neuen Mainstreams jetzt die Autorität zukam, ihr die zuvor selbstverständliche Zugehörigkeit abzusprechen. Ihre „Wahl“ entsprach dem Druck, religiöser als zuvor zu leben. Zwar habe sie nach ihrer Rückkehr aus dem Internat ihre Eltern nicht davon überzeugen können, einen koscheren Haushalt einzurichten, aber sie wünschte sich, dafür einen Mann zu heiraten, der selbst religiöser sei als sie.
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Wie in vielen DP-Familien wollten auch Dianas Großeltern, denen sie sehr nahe stand, ihr nicht erzählen, was sie durchlitten hatten. Um sich dies zumindest annähernd vorstellen zu können, nahm sie während einer Israelreise an einer Gruppe teil, in der Überlebende der Schoa von ihren Erfahrungen berichteten. Wir können hier von korrigierenden Interventionen sprechen, wenn Diana es einerseits unternimmt, sich einem „Brainwash“ zu unterziehen, um sich in einer religiöser werdenden Gemeinde weiterhin zugehörig fühlen zu können, andererseits über die innerhalb der Familie nicht mitteilbare Erfahrung der Verfolgung während der Schoa Aufschluss in einer Gesprächsgruppe Überlebender sucht. Beide Vermittlungsinstanzen erscheinen ungewöhnlich im Verhältnis zur „normalen“ intergenerationellen Tradierung, werden von Diana in ihrem Orientierungsprozess aber als notwendig angesehen.
AMSTERDAM In der Familie Neumann waren nicht nur die Großeltern während der Schoa verfolgt worden, auch Herr Neumann war als Kind im Konzentrationslager. Das erzählte mir seine Frau und kommentierte es gleich damit, dass sie in der Familie „Gott sei Dank“ darüber nicht sprechen würden. Die Kinder sollten zwar wissen, dass es die Schoa gab, aber im Sinne allgemeinen geschichtlichen Wissens und nicht in Bezug darauf, was ihr Vater und ihre Großeltern während der Verfolgung erlitten hatten.20 Frau Neumann und ihr Mann engagierten sich für eine orthodoxe jüdische Schule, die ihre sechzehn und fünfzehn Jahre alten Töchter, Daphne und Nurith, besuchten. Diese riefen im Interview mit mir ihre Mutter dazu, um mir zu erklären, wieso sie von Lehrern, die Jungen aber nicht von Lehrerinnen unterrichtet werden könnten. Frau Neumann argumentierte alltagspraktisch: Mädchen sollten keineswegs auffallen, sich nicht benehmen „wie Straßenjungen“. Die Töchter hingegen begründeten unterschiedliche Verhaltenserwartungen mit dem religiösen Begriff Tsniut21 – was Frau Neumann mir gegenüber unvermittelt kommentierte: „Da wird sehr viel den Kindern darüber eh, – gebrainwashed.“ Der orthodoxe Schulunterricht für Mädchen entspricht nicht der Traditionsvermittlung, die ohne Erklärungen auskommt, wie Frau Neumann es aus ihrem Elternhaus kannte. Ihre ambivalente Haltung gegenüber dem von ihr als wünschenswert und notwendig erachteten religiösen Schulunterricht entspringt der bitteren Erkenntnis, dass es nach der Schoa und der Zerstörung der osteuropäischen jüdischen Lebenswelten keine intergenerationelle Vermittlung der traditionellen Praxis und des traditionellen Wissen mehr gibt, die beides aktiv bewahren und weiterführen könnte. Mit der orthodoxen Schule soll dem
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Verlust gegengesteuert und Religiosität unbedingt verstärkt werden, um eine konstruktive Kontinuität zu gewährleisten, die die Erinnerung an die Schoa und insbesondere die persönliche Leidenserfahrung der älteren Generation in den Hintergrund rücken soll. Wie auch in anderen interviewten Familien steht das Auswanderungsprojekt für die jüngere Generation am Horizont.
FRANKFURT AM MAIN Das Anknüpfen an die orthodoxe Lebensführung nach der Schoa in Frankfurt können wir uns als eine paradoxe Reaktion vorstellen: Wie überhaupt weiterleben? Wie nach der Ermordung der eigenen Familie eine neue gründen und Kinder bekommen? Wie an einem Ort in Deutschland leben, an dem wenige Jahre zuvor das NS-Imperium herrschte? Unter den DPs und ihren Familien war die todtraurige, belastende Atmosphäre noch in den 1950er Jahren spürbar, wenn sie sich am 9. November an der Friedberger Anlage einfanden, um der 1938 in der Pogromnacht erfolgten Zerstörung der dortigen Synagoge zu gedenken, oder bei Filmvorführungen, zu denen Überlebende sich trafen, deren Inhalt für ihre Kinder nicht begreifbar war, offensichtlich aber etwas mit der Schwere zu tun hatte, die sie auch von zu Hause kannten. Nach den Fotos zu Hause auf dem Buffet konnte nicht gefragt werden, weil die Eltern verzweifelt reagierten. Gefragt werden konnte auch nicht nach den früheren Familien, den Kindern, die, wären sie nicht ermordet worden, an eigener Stelle lebten. Es hätte keinen Weg gegeben, sich zu kennen, das eigene Leben war an die Stelle ihres Lebens gerückt.22 Diese Zeit erscheint sehr fern und wird in Romanen und Filmen über die späten 1940er und die 1950er Jahre in Frankfurt vielfach so dargestellt, dass sich darüber sogar lustige Geschichten erzählen lassen, etwa über den mit Chutspe erworbenen Wohlstand. Dieser Blick zurück sagt mehr über die Mehrheitsperspektive der Gegenwart und kulturindustriellen Geschmack als die tatsächlichen damaligen Erfahrungen aus, Trauer und Verzweiflung werden dabei überspielt. In ihrem Interview zu Beginn der 1990er Jahre erzählt Frau Wieder von ihrer bedrückenden Kindheit in den späten 1950er Jahren. Sie spricht von einem „Ghetto“, in dem sie aufwuchs, in dem sich die Eltern und deren Bekannte, alle ebenfalls Überlebende, von der deutschen Umgebung abschirmten. Auswanderungsprojekte hatten sich als nicht realisierbar erwiesen, besonders für die Kinder rückkehrender Familien aus Israel war das Leben in Deutschland nicht akzeptabel. Frau Wieder bedauert, dass die Vermittlung von religiösem Wissen und religiöser Traditionspraxis in ihrer Kindheit und Jugend nicht möglich gewesen sei. Jetzt hingegen „indoktriniere“ sie ihre Kinder „natürlich“:
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sie schicke sie nach dem Schulunterricht zu einem alten jüdischen Lehrerehepaar, damit sie die Erfahrung gelebten religiösen Judentums machen könnten, „wie früher in Polen“, also wie sie es aus den Romanen von Isaac Bashevis Singer kenne, wie sie mit Ironie und Sehnsucht erzählt. Frau Wieder möchte für ihre Kinder eine Verbindung zur Tradition herstellen und anders als in ihrer eigenen Kindheit und Jugend der Zugehörigkeit zum Judentum eine positive Bedeutung geben. Mit ihrer Kurskorrektur gegenüber dem Bedeutungsverlust bewegt sie sich auf dem schmalen Grat, einerseits ihren Kindern gegenüber auf dem Unterricht zu bestehen, andererseits die Erwartungen des Lehrerehepaares in Schach zu halten, das ihre Kinder zu „frommen Juden“ erziehen und sie selbst dazu bewegen will, einen koscheren Haushalt einzurichten. In Frankfurt gab es Ende der 1980er Jahre kaum Strukturen und Einrichtungen für eine orthodoxe Lebensführung, und dies wäre auch nur für wenige relevant gewesen. Es gab aber ein starkes Interesse der jüdischen Nachkriegsgeneration, also der Generation von Frau Wieder, daran, dass sich ihre Kinder, die im Schulalter oder älter waren, nicht noch weiter vom Judentum entfernen sollten, als dies in ihrer eigenen Generation schon der Fall gewesen war. Das Gefühl eines drohenden Verlustes an Zugehörigkeit war mit dem Bewusstsein der Schoa verbunden und der nicht realisierten Auswanderung, die aber für die jüngere Generation als Projekt bestehen blieb. Wie auch andere ihrer Generation erkennt Frau Wieder das Dilemma, dass es kaum einen normalen Weg der Traditionsvermittlung durch die ältere Generation gibt und zudem ein Leben in Deutschland nach der Schoa als das falsche erscheint. Insofern unterscheidet sich die Situation in Frankfurt zu Beginn der 1990er Jahre nicht grundsätzlich von der Situation, in der 1948 um die Ausrichtung der Erziehung der Kinder in den jüdischen DP-Lagern gestritten wurde, auch wenn es dabei um den Zionismus ging und nicht um die Religion. Bei ihrem Besuch in den DP-Lagern kritisierte die US-amerikanische Pädagogin Marie Syrkin die einseitige Ausrichtung des Unterrichts auf Palästina und bezeichnete diese als „zionistische Indoktrinierung“. Die Antwort der Lehrkräfte lautete: „Vielleicht ist es keine gute Pädagogik, wenn man nur eine Seite präsentiert […] aber wir können uns einen solchen Luxus nicht leisten. Die Kinder haben nichts, gar nichts. Wovon sollen wir ihnen erzählen – von den Segnungen Polens? Sie kennen sie. Oder von Visa für die USA? Sie bekommen keine. Die Landkarte von Eretz ist ihre einzige Rettung. […] Indoktrinierung mag für normale Kinder in einer normalen Umgebung schlecht sein. Aber was ist an unserer Lage normal? … Oyf a krume fus past a krume shu.“23
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Frauen tanzen zusammen während der frommen Hochzeit von Renia Lustman (geb. Szuibas), Frankfurt am Main-Zeilsheim 1946. Jüdisches Museum Frankfurt, courtesy of Ruth Himmelfarb, Neuilly
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Purimfest in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main, 1956. Jüdisches Museum Frankfurt, courtesy of Karla Ihlder, Frankfurt am Main
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EPILOG Anders als in den Anfangsjahren nach der Gründung der Nachkriegsgemeinde bilden die Nachkommen der DPs in der Frankfurter Gemeinde heute eine Minderheit. Seit den 1990er Jahren ist die jüdische Gemeinde in Frankfurt, ebenso wie die Stadt insgesamt in ihrer Internationalität und Vielfalt zunehmend durch Migration, transnationale Lebensweisen und Globalisierung geprägt.24 Sie hat sich durch Transmigration sowohl innerhalb Europas als auch zwischen Israel, den USA und Frankfurt verändert, und ihre Mitgliederzahl hat sich durch die Einwanderung, insbesondere aus den früheren Republiken der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) nach Auflösung der Sowjetunion, verdoppelt. Die Hälfte der gegenwärtig etwa 6000 Gemeindemitglieder sind russischsprachig. In russischsprachigen jüdischen Familien konnte wegen des Verbots der Religionsausübung und der antisemitischen Repression oftmals nicht an ein religiöses Traditionswissen bezüglich der Lebensführung angeknüpft werden. Einige Angehörige der jüngeren Generation haben sich neu-orthodox orientiert. Zu den religiösen Angeboten seit den 1990er Jahren gehören Chabad-Lubawitsch und Initiativen verschiedener Gemeindemitglieder wie „Jewish Experience“.25 Die ganz überwiegende Mehrheit der Gemeindemitglieder orientiert sich nicht an einer religiösen Lebensführung oder setzt die Religionspraxis auf eine Weise fort, die ihnen aus ihrer Kindheit vertraut ist, was nicht ausschließt, dass sie auch neu-orthodoxe Angebote attraktiv finden und wahrnehmen. Bemerkenswert ist, wie sich die Strukturen und Einrichtungen der Jüdischen Gemeinde verändert haben. So wurden der vorschulische und schulische Bildungsbereich zunehmend erweitert und reichen nun von der frühen Kindheit bis zum Abitur. Es gibt viele gut besuchte kulturelle Veranstaltungen, die sich auch an ein allgemeines Frankfurter Publikum richten. Im Rückblick auf die Zeit der umstrittenen Neugründung der Gemeinde und der Infragestellung eines jüdischen Lebens in Deutschland nach der Schoa ist die Kontinuität ihres Bestehens und die Vielseitigkeit ihrer Aktivitäten beeindruckend. 1
Ich danke Atina Grossmann und Kata Bohus sowie Ina Marie Schaum und Nathan Lee Kaplan für ihre hilfreichen Kommentare zum Text und Rachel Heuberger und Susanna Keval für unsere anregenden Gespräche zum Thema. 2 Ich bat Frauen der älteren, mittleren und jüngeren Generation, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen, gerade auch in Hinblick auf Kontinuitäten und Veränderungen zwischen den Generationen in ihrer Familie. Siehe Inowlocki, Lena: Normalität als Kunstgriff. Zur Traditionsvermittlung jüdischer DP-Familien in Deutschland. Fritz Bauer Institut (Hrsg.): Jahrbuch 1997 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust: Überlebt und Unterwegs. Jüdische Displaced Persons im Nachkriegsdeutschland. Frankfurt a. M.: Campus, 1997, 267 − 288; Inowlocki, Lena: Wenn Tradition auf einmal mehr bedeutet: Einige Beobachtungen zu biographischen Prozessen der Auseinandersetzung mit Religion. Apitzsch, Ursula (Hrsg.): Migration und Traditionsbildung. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1999, 76 − 89; Inowlocki, Lena: Doing “Being Jewish”. Constitution of “Normality” in Families of Jewish Displaced Persons in Germany.
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Breckner, Roswitha; Kalekin-Fishman, Devorah; Miethe, Ingrid (Hrsg.): Biographies and the Division of Europe. Experience, Action, and Change on the ‘Eastern Side’. Opladen: Leske + Budrich, 2000, 159 − 178. Die Erfahrungsdarstellungen der älteren Frauen gingen zurück in ihre Kindheit und Jugend in unterschiedlichen jüdischen Herkunftskontexten in Polen in den 1920er bis 1930er Jahren und ihre Verfolgung während der Schoa. Sie erzählten von der Anfangszeit als jüdische DPs in den westeuropäischen Nachkriegsgemeinden Antwerpen, Amsterdam und Frankfurt am Main. Dort wurden die Frauen der mittleren Generation in den späten 1940er beziehungsweise 1950er Jahre und deren Töchter in den 1970er bis 1980er Jahren geboren. 3 In historischer Perspektive auf die Moderne wird deutlich, wie dieser Aufgabenbereich zunächst in relativ privilegierten jüdischen Familien im Zusammenhang ihrer Teilhabe an der bürgerlichen Emanzipation zustande kam. Siehe Kaplan, Marion A.: Women and the Shaping of Modern Jewish Identity in Imperial Germany. Volkov, Shulamith (Hrsg.): Deutsche Juden und die Moderne. München: Oldenbourg, 1994, 57 − 74; Hyman, Paula E.: Gender and Assimilation in Modern Jewish History. The Roles and Representations of Women. Seattle: University of Washington Press, 1995; Volkov, Shulamith: Jüdische Assimilation und Eigenart im Kaiserreich. Volkov, Shulamith: Antisemitismus als kultureller Code. München: Beck, 2000, 257 − 270. 4 Die Jüdische Gemeinde in Frankfurt am Main zählte 1933 knapp 30 000 Mitglieder. Ende 1945 lebten 450 bis 600 von ihnen (wieder) in Frankfurt. Im Komitee der befreiten Juden versammelten sich ab 1946 Jüdische DPs, die vor allem aus Polen kamen. Das Komitee zählte Ende 1948 knapp 1200 Mitglieder. Im April 1949 fusionierten die Gemeinde und das Komitee mit nun insgesamt gut 1900 Mitgliedern. Deren Anzahl sank bis Mitte der 1950er Jahre und stieg dann langsam wieder an, in den 1960er Jahren von 2700 auf 4300 Mitglieder. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen verringerte sich bis in die 1980er Jahre (Krohn, Helga: „Es war richtig, wieder anzufangen“. Juden in Frankfurt am Main seit 1945. Frankfurt a. M.: Brandes und Apsel, 2011, 25). Ende 2018 war der Anteil der Kinder und Jugendlichen unter den 6428 Mitgliedern der Frankfurter Gemeinde dagegen doppelt so hoch wie der sämtlicher jüdischer Gemeinden im Bundesdurchschnitt. Da der Anteil der über 61-jährigen zum gleichen Zeitpunkt 40 Prozent betrug, weist dies auf eine höhere Kinderzahl in jungen Familien hin, was möglicherweise auch mit einer stärkeren religiösen Orientierung zusammenhängt. Mares, Andrei; Maimon-Levi, Cornelia: Bericht des Gemeinderats. Jüdische Gemeindezeitung Frankfurt 52.2 (2019), 13. 5 Freimüller, Tobias: Mehr als eine Religionsgemeinschaft. Jüdisches Leben in Frankfurt am Main nach 1945. Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 7.3 (2010), 393. 6 Zu den Nachkriegsjahren in Frankfurt, besonders auch zum Verhältnis der zurückgekehrten deutschen Juden und der DPs siehe die zusammenfassende Darstellung von Freimüller: Mehr als eine Religionsgemeinschaft (mit zahlreichen Literaturhinweisen); Diner, Dan: Im Zeichen des Banns. Brenner, Michael (Hrsg.): Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart. München: Beck, 2012, 23. Zur Perspektive der nachfolgenden, zu Beginn der 1980er geborenen Generation siehe Trzebiner, Channah: Die Enkelin oder wie ich zu Pessach die vier Fragen nicht wusste. Frankfurt a. M.: Weissbooks, 2013. 7 Bönisch, Edgar: Das jüdisch geprägte Ostend und die jüdischen Institutionen im Röderbergweg. Seemann, Birgit; Bönisch, Edgar: Das Gumpertz’sche Siechenhaus – ein „Jewish Place“ in Frankfurt am Main. Geschichte und Geschichten einer jüdischen Wohlfahrtseinrichtung. Frankfurt a. M.: Brandes und Apsel, 2019, 52 − 54. 8 Inowlocki, Lena: Collective Trajectory and Generational Work in Families of Jewish Displaced Persons: Epistemological Processes in the Research Situation. Seeberg, Marie Louise; Levin, Irene; Lenz, Claudia (Hrsg.): Holocaust as Active Memory. The Past in the Present. Farnham: Ashgate, 2013, 38. 9 Feinstein, Margarete Myers: Holocaust Survivors in Postwar Germany, 1945 − 1957. New York: Cambridge University Press, 2010, 205 − 207.
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Zur Bedeutung der Religion und religiösen Praxis in den DP-Lagern siehe Feinstein: Holocaust Survivors, 207 − 214. 11 Siehe auch Freimüller: Mehr als eine Religionsgemeinschaft, 399. 12 Siehe Brumlik, Micha: Kein Weg als Deutscher und Jude. Eine bundesrepublikanische Erfahrung. München: Luchterhand, 1996; Krohn: „Es war richtig, wieder anzufangen“, 168 − 174; Ästhetik und Kommunikation 14.51 (1983): Deutsche, Linke, Juden. 13 In der Zeit zwischen den Weltkriegen wurde die jüdische Gemeinde Antwerpens zur größten in Belgien. Von den 1942 registrierten knapp 14 000 Juden überlebten nur wenige hundert im Versteck. Nach 1945 bildeten sie zusammen mit Überlebenden der Lager und Rückkehrenden aus den USA, Kuba, England und der Schweiz die neu gegründete Gemeinde. Siehe Daelen, Veerle Vanden: Returning: Jewish Life in Antwerp in the Aftermath of the Second World War (1944 − 45). European Judaism 38.2 (2005), 35. 14 Daelen: Returning, 38. Mit der Etablierung der Orthodoxie war auch verbunden, dass die Arbeit in der Diamantenindustrie und im Diamantenhandel mit einer orthodoxen Lebensweise vereinbar war und es orthodoxe jüdische Schulen gab. Siehe auch Abicht, Ludo: De Joden van Antwerpen. Antwerpen-Baarn: Hadewijch, 1993. 15 In generationsübergreifender Perspektive zeichnete sich in den Interviews mit den Großmüttern, Müttern und Töchtern eine Veränderung des Verhältnisses zwischen Traditionsorientierung und Religiosität ab. In den Interviews werden diese Umschichtungen beispielsweise so thematisiert, dass sich einige der interviewten Frauen in Abgrenzung zu anderen Frauen, die „frum“ seien, als „traditionell“ bezeichneten. Sie unterschieden damit zwischen einer vertrauten Lebensweise, die mehr oder weniger religiös inspiriert war, und einem intensiven und extensiven Befolgen der Gebote („frumkayt“), was für Frauen eher als Ausnahme galt. Für die jüngere Generation bestand die Alternative zwischen „traditionell“ und „frum“ allerdings nicht in derselben Weise, da es nach der Zerstörung des polnischen Judentums keinen überlieferten traditionellen Lebenszusammenhang mehr gab, und neue Formen von Religiosität und Traditionalität geschaffen wurden. 16 Lynn R. Davidman zeichnet eben diesen Prozess für Frauen und Mädchen nach, die sich in einer Synagoge in Manhattan bzw. in einem Chabad-Sommerlager stärker am Judentum orientieren. Davidman, Lynn R.: Tradition in a Rootless World: Women Turn to Orthodox Judaism. Berkeley: University of California Press, 1991. 17 Die Auseinandersetzung kam auch darin zum Ausdruck, dass in vielen meiner Interviews Frauen der mittleren Generation beim Interview mit ihrer Mutter bzw. ihrer Tochter oder ihren Töchtern dabei sein wollten. Es kam auch vor, dass Töchter ihre Mutter in die Interviewsituation holten. In vielen Fällen richtete die jüngere Generation dann ihre eigenen Fragen an die ältere. Inowlocki: Collective Trajectory [36-37]. 18 Ich habe die Namen der befragten Frauen durchgängig geändert. 19 Unterweisung, Lektionen (hebr.). 20 Zur Situation der jüdischen Bevölkerung Amsterdams nach 1945 siehe den Beitrag „Amsterdam: Eine Stadt kämpft um ihre jüdischen Traditionen“ in diesem Katalog; Haan, Ido de: The Postwar Jewish Community and the Memory of the Persecution in the Netherlands. Brasz, Chaya; Kaplan, Yosef (Hrsg.): Dutch Jews as Perceived by Themselves and Others. Leiden: Brill, 2001, 405 − 435. 21 Sittsamkeit, Dezenz, Bescheidenheit. 22 Zur Situation der jüdischen Bevölkerung Frankfurts nach 1945 siehe den Beitrag „Frankfurt und Zeilsheim“ in diesem Katalog 23 Syrkin, Marie: The D.P. Schools. Jewish Frontier 15.3 (1948), 14 − 19 (19), zitiert nach Giere, Jacqueline (1999) „Unterwegs, aber nicht in der Wüste“ Traditionsbildung in Lagern für Displaced Persons in der Nachkriegszeit. In: Apitzsch, Ursula (Hrsg.): Migration und Traditionsbildung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 35-44 24 Zu Frankfurt siehe Amt für multikulturelle Angelegenheiten, Frankfurt a. M.: Vielfalt bewegt Frankfurt. Integrations- und Diversitätsportal der Stadt Frankfurt am Main, https://www.vielfalt-bewegt-frankfurt.de/de (30.9.2019).
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Chabad Lubawitsch hat ein hochmodernes, auf die Rückführung von Juden zur Religion ausgelegtes globalisiertes Netzwerk entwickelt, in dem eine chassidische Form des Judentums gelehrt, studiert und praktiziert wird.
literatur Abicht, Ludo: De Joden van Antwerpen. Antwerpen-Baarn: Hadewijch, 1993. / Amt für multikulturelle Angelegenheiten, Frankfurt a. M.: Vielfalt bewegt Frankfurt. Integrations- und Diversitätsportal der Stadt Frankfurt am Main, https://www.vielfalt-bewegt-frankfurt.de/de (30.9.2019). / Ästhetik und Kommunikation 14.51 (1983) Deutsche, Linke, Juden. / Bönisch, Edgar: Das jüdisch geprägte Ostend und die jüdischen Institutionen im Röderbergweg. Seemann, Birgit; Bönisch, Edgar: Das Gumpertz’sche Siechenhaus – ein „Jewish Place“ in Frankfurt am Main. Geschichte und Geschichten einer jüdischen Wohlfahrtseinrichtung. Frankfurt a. M.: Brandes und Apsel, 2019, 41 − 72. / Brumlik, Micha: Kein Weg als Deutscher und Jude. Eine bundesrepublikanische Erfahrung. München: Luchterhand, 1996. / Daelen, Veerle Vanden: Returning: Jewish Life in Antwerp in the Aftermath of the Second World War (1944 − 45). European Judaism 38.2 (2005), 26 − 42. / Davidman, Lynn R.: Tradition in a Rootless World: Women Turn to Orthodox Judaism. Berkeley: University of California Press, 1991. / Diner, Dan: Im Zeichen des Banns. Brenner, Michael (Hrsg.): Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart. München: Beck, 2012, 15 − 66. / Feinstein, Margarete Myers: Holocaust Survivors in Postwar Germany, 1945 − 1957. New York: Cambridge University Press, 2010. / Freimüller, Tobias: Mehr als eine Religionsgemeinschaft. Jüdisches Leben in Frankfurt am Main nach 1945. Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 7.3 (2010), 386 − 4 07. / Giere, Jacqueline: „Unterwegs, aber nicht in der Wüste“. Traditionsbildung in Lagern für Displaced Persons in der Nachkriegszeit. In: Apitzsch, Ursula (Hrsg.): Migration und Traditionsbildung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 1999, 35 − 4 4 / Haan, Ido de: The Postwar Jewish Community and the Memory of the Persecution in the Netherlands. Brasz, Chaya; Kaplan, Yosef (Hrsg.): Dutch Jews as Perceived by Themselves and Others. Leiden: Brill, 2001, 405 − 435. / Hyman, Paula E.: Gender and Assimilation in Modern Jewish History. The Roles and Representations of Women. Seattle: University of Washington Press, 1995. / Inowlocki, Lena: Normalität als Kunstgriff. Zur Traditionsvermittlung jüdischer DP-Familien in Deutschland. Fritz Bauer Institut (Hrsg.): Jahrbuch 1997 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust: Überlebt und Unterwegs. Jüdische Displaced Persons im Nachkriegsdeutschland. Frankfurt a. M.: Campus, 1997, 267 − 288 / Inowlocki, Lena: Wenn Tradition auf einmal mehr bedeutet: Einige Beobachtungen zu biographischen Prozessen der Auseinandersetzung mit Religion. Apitzsch, Ursula (Hrsg.): Migration und Traditionsbildung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 1999, 76 − 89. / Inowlocki, Lena: Doing “Being Jewish”. Constitution of “Normality” in Families of Jewish Displaced Persons in Germany. Breckner, Roswitha; Kalekin-Fishman, Devorah; Miethe, Ingrid (Hrsg.): Biographies and the Division of Europe. Experience, Action, and Change on the ‘Eastern Side’. Opladen: Leske + Budrich, 2000, 159 − 178. / Inowlocki, Lena: Collective Trajectory and Generational Work in Families of Jewish Displaced Persons: Epistemological Processes in the Research Situation. Seeberg, Marie Louise; Levin, Irene; Lenz, Claudia (Hrsg.): Holocaust as Active Memory. The Past in the Present. Farnham: Ashgate, 2013, 29 − 43. / Kaplan, Marion A.: Women and the Shaping of Modern Jewish Identity in Imperial Germany. Volkov, Shulamith (Hrsg.): Deutsche Juden und die Moderne. München: Oldenbourg, 1994, 57 − 74. / Krohn, Helga: „Es war richtig, wieder anzufangen“. Juden in Frankfurt am Main seit 1945. Frankfurt a. M.: Brandes und Apsel, 2011. / Mares, Andrei; Maimon-Levi, Cornelia: Bericht des Gemeinderats. Jüdische Gemeindezeitung Frankfurt 52.2 (2019), 12 − 13. / Trzebiner, Channah: Die Enkelin oder wie ich zu Pessach die vier Fragen nicht wusste. Frankfurt a. M.: Weissbooks, 2013. / Volkov, Shulamith: Jüdische Assimilation und Eigenart im Kaiserreich. Volkov, Shulamith: Antisemitismus als kultureller Code. München: Beck, 2000, 257 − 270.
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AUTORINNEN UND AUTOREN NATALIA ALEKSIUN ist Professorin für Moderne Jüdische Geschichte an der Graduiertenschule für Jüdische Studien am Touro College in New York. Sie studierte Geschichte und Moderne Jüdische Geschichte und promovierte an der Universität Warschau sowie an der New York University. Ihr Buch Dokad dalej? Ruch syjonistyczny w Polsce 1944 ‒ 1950 (Wo als nächstes? Die zionistische Bewegung in Polen, 1944 ‒ 1950) wurde 2002 publiziert. MORITZ BAUERFEIND schreibt derzeit seine Dissertation an der Universität Bamberg, er studierte Geschichte und Slavistik in Bamberg und Olomouc, Tschechische Republik. Er war am Jüdischen Museum Franken und von 2017 ‒ 2019 als wissenschaftlicher Volontär am Jüdischen Museum Frankfurt tätig, wo er u. a. an der Ausstellung Unser Mut. Juden in Europa 1945 ‒ 48 mitarbeitete. KATA BOHUS ist auf die Geschichte des osteuropäischen Judentums unter kommunistischer Herrschaft spezialisiert. Als Kuratorin am Jüdischen Museum Frankfurt entwickelte sie die Wechselausstellung Unser Mut. Juden in Europa 1945 ‒ 48. Sie promovierte an der Central European University Budapest und war Postdoktorandin am Lichtenberg-Kolleg der Georg-August-Universität in Göttingen. KATHARINA FRIEDLA ist derzeit Postdoctoral Research Fellow an der Fondation pour la Mémoire de la Shoah Paris. Sie studierte Geschichte, Osteuropäische und Jüdische Studien an der Freien Universität Berlin und promovierte an der Universität Basel. Ihr Buch Juden in Breslau/Wroclaw 1933–1949, Überlebensstrategien, Selbstbehauptung und Verfolgungserfahrungen wurde 2015 veröffentlicht. ELISABETH GALLAS forscht am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow und leitet dort die Abteilung „Recht“. Sie ist spezialisiert auf Jüdische Gedächtnis- und Ideengeschichte im 20. Jahrhundert sowie jüdische Rechtsgeschichte. Ihre Monografie A Mortuary of Books. The Rescue of Jewish Culture after the Holocaust gewann 2020 den JDC-Herbert Katzki for Writing Based on Archival Material, überreicht vom Jewish Book Council. Sie studierte Kulturwissenschaften und Germanistik und promovierte sich an der Universität Leipzig.
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PHILIPP GRAF ist stellvertretender Leiter des Forschungsressorts „Recht“ am Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow. Derzeit arbeitet er an einer politischen Biografie des jüdischen Anwalts und Kommunisten Leo Zuckermann (1908 – 1985). Seine Monografie Die Bernheim-Petition 1933. Jüdische Politik in der Zwischenkriegszeit wurde 2008 publiziert. Er promovierte an der Universität Leipzig. ATINA GROSSMANN ist Professorin für Moderne Deutsche und Europäische Geschichte sowie Geschlechtergeschichte an der Cooper Union in New York. Sie unterrichtete u. a. am Mount Holyoke College in Massachusetts und an der New Yorker Columbia University. Sie ist Autorin und Herausgeberin mehrerer Bücher, darunter die 2007 (deutsch 2012) erschienene preisgekrönte Monografie Juden, Deutsche, Alliierte: Begegnungen im besetzten Deutschland. WERNER HANAK ist stellvertretender Direktor am Jüdischen Museum Frankfurt und Projektleiter der Wechselausstellung Unser Mut. Juden in Europa 1945 ‒ 48. Er studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft und promovierte an der Universität Wien. Als Chefkurator am Jüdischen Museum Wien kuratierte er zahlreiche Wechselausstellungen und die derzeitige Dauerausstellung. LAURA HOBSON-FAURE ist Professorin für moderne jüdische Geschichte und Mitglied des Zentrums für zeitgenössische Sozialgeschichte an der Panthéon-Sorbonne-Universität Paris 1, Paris. Sie promovierte in Geschichte an der École des Hautes Études en Sciences in Paris. Ihre Monografie Un Plan Marshall juif: la présence juive américaine en France après la Shoah, 1944 ‒ 1954 (Ein jüdischer Marshall-Plan. Amerikanisch-jüdische Präsenz in Frankreich nach der Shoah, 1944 ‒ 1954) wurde 2013 veröffentlicht und erscheint demnächst in Englisch. LENA INOWLOCKI ist Soziologin und Professorin (i. R.) im Fachgebiet Gesellschaft und Persönlichkeit mit dem Schwerpunkt Familien- und Jugendsoziologie und Migrationsbiografien an der Frankfurt University of Applied Sciences, wo sie weiterhin das Institut für Migrationsstudien und interkulturelle Kommunikation leitet. Sie ist Seniorprofessorin (apl) am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt. Sie habilitierte sich an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.
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KAMIL KIJEK ist Assistenzprofessor am Institut für Jüdische Studien an der Universität Wrocław, Polen. Seine Monografie Dzieci modernizmu. Świadomość i socjalizacja polityczna młodzieży żydowskiej w Polsce międzywojennej (Kinder der Moderne. Politisches Bewusstsein und Sozialisation der jüdischen Jugend in der polnischen Zwischenkriegszeit) wurde 2017 veröffentlicht. Er promovierte am Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau. TAMAR LEWINSKY ist Kuratorin für Zeitgeschichte am Jüdischen Museum Berlin und eine der KuratorInnen der neuen Dauerausstellung, die 2020 dort eröffnen wird. Sie studierte Jüdische Studien, Jiddistik und Linguistik und promovierte an der Universität München. Ihre Monografie Displaced Poets: Jiddische Schriftsteller im Nachkriegsdeutschland, 1945 ‒ 1951 wurde 2008 publiziert. AVINOAM PATT ist Direktor des Zentrums für Judaistik und zeitgenössisches jüdisches Leben an der University of Connecticut, wo er auch den Lehrstuhl für Judaistik von Doris und Simon Konover innehat. Er war Professor für moderne jüdische Geschichte und Co-Direktor des Maurice-Greenberg-Zentrums für Judaistik an der University of Hartford. 2010 erschien sein Sammelband We Are Here: New Approaches to Jewish Displaced Persons in Postwar Germany und 2009 seine Monografie Finding Home and Homeland: Jewish Youth and Zionism in the Aftermath of the Holocaust. KATARZYNA PERSON ist Assistenzprofessorin am Jüdischen Historischen Institut in Warschau. Sie promovierte an der University of London und erhielt Postdoktorandenstipendien, unter anderem in Yad Vashem, am Zentrum für jüdische Geschichte in New York und am Institut für Zeitgeschichte in München als Historikerin der osteuropäischen jüdischen Geschichte. Ihre neueste Monografie Dipisi. Żydzi polscy w amerykańskiej i brytyjskiej strefach okupacyjnych Niemiec, 1945 – 1948 (Dipisi: Polnische Juden in den amerikanischen und britischen Besatzungszonen Deutschlands, 1945 – 1948) wurde 2019 veröffentlicht. ERIK RIEDEL ist Kunsthistoriker und betreut die Exilkunst-Sammlung sowie das Ludwig Meidner-Archiv am Jüdischen Museum Frankfurt. Er studierte an der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg sowie der Goethe-Universität Frankfurt und kuratierte zahlreiche Ausstellungen zur Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, etwa zu Moritz Daniel Oppenheim, Ludwig und Else Meidner oder Charlotte Salomon.
AUTORINNEN UND AUTOREN
JOANNA TOKARSKA-BAKIR ist Kulturanthropologin, Literaturwissenschaftlerin und Religionswissenschaftlerin. Sie ist Professorin am Institut für Slawistik der Polnischen Akademie der Wissenschaften und veröffentlichte zahlreiche Bücher und Artikel zu Themen rund um die Anthropologie der Gewalt. Ihre neueste Monografie Pod klątwą. Społeczny portret pogromu kieleckiego (Verflucht. Ein soziales Porträt des Kielce-Pogroms) wurde 2018 veröffentlicht und 2015 Légendes du sang. Pour une anthropologie de l‘antisémitisme chrétien, editions (Legenden des Blutes. Für eine Anthropologie des christlichen Antisemitismus). Sie habilitierte sich an der Universität Warschau. MIRJAM WENZEL studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Theater-, Film und Fernsehwissenschaft sowie Politikwissenschaft in Berlin, Tel Aviv und München und ist seit 2016 Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt. Zuvor verantwortete sie die Vermittlung jüdischer Geschichte in digitalen und gedruckten Medien am Jüdischen Museum Berlin. Seit 2019 ist sie Honorarprofessorin der Goethe Universität Frankfurt.
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GLOSSAR ALIJA: Hebräischer Begriff (wörtlich: Aufstieg) für die Einwanderung von Juden nach Israel (beziehungsweise vor der Staatsgründung nach Palästina) ALIJA BET: Tarnname für die illegale Einwanderung europäischer Juden aus den von den Nazis kontrollierten Gebieten beziehungsweise unmittelbar nach dem Krieg (in der Zeit von 1934 bis zur israelischen Staatsgründung 1948) in das britische Mandatsgebiet in Palästina. ALLGEMEINER JÜDISCHER ARBEITERBUND: Allgemein als „Bund“ bekannte säkulare sozialistische Partei, die 1897 in Russland gegründet wurde, wo sie bis zu ihrer Auflösung im Jahr 1921 tätig war. Ende 1917 machte der polnische Zweig der Partei sich kurz vor der Wiedergründung eines unabhängigen Polens selbständig und wirkte dort bis 1948. Mitglieder des Bundes wurden allgemein als Bundisten bezeichnet. ANGLO-AMERICAN COMMITTEE OF INQUIRY (AACI): Das AngloAmerikanische Untersuchungskomitee wurde im Januar 1946 geschaffen, um das Problem der jüdischen Einwanderung in das britische Mandatsgebiet in Palästina zu untersuchen und Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Die Briten hatten die Amerikaner hinzugezogen, um angesichts des befürchteten arabischen Widerstands gegen die fortgesetzte Einwanderung von Juden die Verantwortung zu teilen und sich der Unterstützung der Amerikaner zu versichern. In seinem Bericht empfahl das Komitee, dass 100 000 heimatlosen Juden die Einwanderung gestattet und Palästina weder ein jüdischer noch ein arabischer Staat werden sollte. Diese Vorschläge wurden von den Arabern und Juden gleichermaßen abgelehnt, und Großbritannien bat die Vereinten Nationen, sich des Problems anzunehmen. ÄRZTEVERSCHWÖRUNG: Eine von Stalin organisierte antisemitische Kampagne in den Jahren 1952 und 1953, in deren Verlauf eine Gruppe vornehmlich jüdischer Ärzte verhaftet wurde. Ihnen wurde unterstellt, sie hätten Angehörige der sowjetischen Führung töten wollen. Nach Stalins Tod zog die neue sowjetische Führung die Vorwürfe zurück, und die inhaftierten Ärzte kamen wieder frei. BEIT MIDRASCH: In der Regel in oder neben der Synagoge gelegenes Lehrhaus, in dem die religiösen Texte studiert und interpretiert werden. Da diese
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Einrichtung in der frühen rabbinischen Literatur erwähnt wird, wissen wir, dass es sie bereits im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung gab. BRICHA: Von Angehörigen des jüdischen Widerstands in Europa, der Jewish Brigade in der britischen Armee und bereits im Mandatsgebiet lebenden Juden während des Zweiten Weltkrieg und unmittelbar nach dem Krieg betriebene illegale Fluchthilfeorganisation, die verfolgten Juden und jüdischen Überlebenden die Flucht nach Palästina ermöglichte. CHEDER: Jüdische Grundschule, in der Jungen traditionell Hebräisch lernten und ein Grundwissen über das Judentum erwarben. DEPORTÁLTAKAT GONDOZÓ ORSZÁGOS BIZOTTSÁG (DEGOB): Das im Sommer 1945 mit der Unterstützung internationaler jüdischer Hilfsorganisationen gegründete Nationale Hilfskomitee für Deportierte war die maßgebliche Organisation der jüdischen Nachkriegsgemeinden in Ungarn, die sich mit der Repatriierung der Überlebenden befasste, sie finanziell unterstütze und ihre Erfahrungen während des Kriegs dokumentierte. DISPLACED PERSONS (DPS): Nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnete der Begriff Menschen ( Juden und Nichtjuden), die während des Kriegs aus ihren Herkunftsländern vertrieben oder verschleppt worden waren, sich daher nach dem Krieg außerhalb ihrer Heimatländer befanden und ohne Unterstützung weder dorthin zurückkehren noch sich in einem anderen Land ansiedeln konnten. Heute wird der Begriff allgemein auf gewaltsam vertriebene Menschen angewandt. EHRENGERICHT: Die jüdischen Ehrengerichte waren nach dem Zweiten Weltkrieg von Juden vor Ort errichtete Tribunale, die sich mit fragwürdig erscheinenden Verhaltensweisen von Juden während der Zeit der deutschen Besatzung befassten und die Beschuldigten gegebenenfalls verurteilten und bestraften. Die meisten dieser Gerichte gab es in den DP-Lagern und in Polen, doch fanden auch anderswo von Fall zu Fall Verhandlungen statt. Die Ehrengerichte wurden 1950 geschlossen. HACHSCHARA (PLURAL: HACHSCHAROT): Hebräischer Begriff (wörtlich Vorbereitung) für zionistische Ausbildungsprogramme und Landwirtschaftszentren im Europa der Nachkriegsjahre, in denen junge Juden technische Fähigkeiten erlernten, derer sie bedurften, um nach Israel auswandern und in den dortigen Landwirtschaftskommunen leben zu können.
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HAGANA: Von 1920 bis 1948 tätige illegale jüdische Miliz im britischen Mandatsgebiet in Palästina, die nach der Staatsgründung den Kern der israelischen Streitkräfte (IDF) bildete. HALACHA: Der Gesamtkorpus der jüdischen Religionsgesetze. Die Halacha bezieht sich nicht nur auf religiöse Praktiken und Überzeugungen, sondern auch auf zahlreiche Aspekte des alltäglichen Lebens. HASCHOMER HAZAIR: Eine 1913 in Österreich-Ungarn gegründete sozialistische und säkulare jüdische Jugendbewegung. HEBREW IMMIGRANT AID SOCIETY (HIAS): Eine 1881 in New York zur Unterstützung vor den Pogromen in Russland und Osteuropa fliehender jüdischer Einwanderer gegründete Hilfsorganisation, die für diese bei ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten Mahlzeiten, Unterkünfte und Arbeitsmöglichkeiten bereitstellte. Während des Zweiten Weltkriegs unterstützte die Organisation, die inzwischen über mehrere Zweigstellen in Europa verfügte, europäische Juden bei der Flucht vor den Nazis. Nach dem Krieg stand HIAS Überlebenden bei der Suche nach verbliebenen Angehörigen bei und ermöglichte jüdischen DPs die Übersiedlung insbesondere nach Nordamerika. HITACHDUT: In Polen in den 1920er Jahren gegründete säkulare zionistische Organisation, die sich für die Errichtung eines nationalen jüdischen Zentrums im Einklang mit sozialistischen Prinzipen und die Schaffung einer nichtreligiösen hebräischen Kultur in Palästina einsetzte. ICHUD: Eine kleine 1942 im Mandatsgebiet in Palästina gegründete zionistische Partei, die sich für eine binationale Lösung für Palästina, also einen arabisch-jüdischen Staat mit gemeinsamen Verfassungsorganen einsetzte. „INFILTREES“: In der Nachkriegszeit bezeichnete dieser Begriff (wörtlich: Einsickerer) polnische Juden, die den Krieg in der Sowjetunion überlebt, die Konzentrations- und Todeslager der Nazis also nicht selbst erlitten hatten, und ab 1946 in die amerikanische Besatzungszone „einsickerten“. INTERNATIONAL REFUGEE ORGANIZATION (IRO): Die Internationale Flüchtlingsorganisation wurde 1946 als zwischenstaatliche Einrichtung gegründet, um sich mit dem Problem der europäischen DPs und Flüchtlinge nach dem Krieg zu befassen. Die IRO wurde 1948 zu einer Agentur der Vereinten Nationen und übernahm die meisten Aufgaben, die zuvor der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) oblegen hatten.
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Als die IRO 1952 geschlossen wurde, gingen viele ihrer Aufgaben an das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) über. JDC (American Jewish Joint Distribution Committee, auch als Joint bekannt): In New York ansässige jüdische Hilfsorganisation, die 1914 gegründet wurde, um Juden, die im von den Osmanen regierten Palästina lebten, zu unterstützen. Nach dem Ersten Weltkrieg organisierte das JDC in ganz Osteuropa großangelegte Hilfsprogramme für die vom Krieg verwüsteten jüdischen Gemeinden. Angesichts der Machtübergabe an Hitler im Jahr 1933 begann das JDC, seine Aktivitäten auf die Fluchthilfe für Juden aus Nazideutschland zu konzentrieren. Im Zweiten Weltkrieg wurden diese Bestrebungen auf Juden in allen von den Nazis besetzen Teilen Europas ausgedehnt. Nach dem Krieg spielte das JDC bei der Unterstützung der Überlebenden eine entscheidende Rolle. Es finanzierte Nothilfeprogramme, um die für viele Überlebende bestehende Gefahr des Verhungerns zu bannen, finanzierte aber auch Bildungsund Kulturprogramme und schließlich langfristige Rehabilitationsprogramme für die Überlebenden. JEWISH AGENCY FOR PALESTINE/ISRAEL: Im Jahr 1908 im von den Osmanen regierten Jerusalem als Palästinabüro der Zionistischen Organisation zur Vertretung der Interessen der dort lebenden Juden gegründete gemeinnützige jüdische Organisation, die auch mit dem Erwerb von Grund und Boden für die Ansiedlung jüdischer Einwanderer betraut war. Im Jahr 1929 in Jewish Agency for Palestine umbenannt, gelang es ihr, mit den Briten eine Ausweitung der jüdischen Einwanderung ins Mandatsgebiet zu vereinbaren. Nach der Machtübergabe an Hitler im Jahr 1933 ermöglichte die Agentur jüdischen Flüchtlingen aus Europa auch über die mit den Briten vereinbarte Quote hinaus die Einwanderung nach Palästina. Nach dem Krieg wurde sie zu einer maßgeblichen Größe in den diplomatischen Auseinandersetzungen um die Gründung des Staats Israel. Zugleich setzte sie die Unterstützung der illegalen Einwanderung von Juden nach Palästina fort. Auch nach der Staatsgründung unterstützte die Agentur weiterhin die Einwanderung und die Eingliederung der Einwanderer. JEWISH BRIGADE: Eine 1944 innerhalb der britischen Armee eingerichtete Formation, der mehr als 5000 jüdische Freiwillige aus dem Mandatsgebiet in Palästina angehörten. JEWISH CULTURAL RECONSTRUCTION, INC. (JCR): Die 1947 in New York gegründete Organisation befasste sich mit der Sammlung und Verteilung in der amerikanischen Besatzungszone befindlicher jüdischer Kulturgüter, deren rechtmäßige Eigentümer nicht mehr zu ermitteln waren. Geleitet wur-
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de sie von einigen der prominentesten jüdischen Intellektuellen der Zeit. Als die Organisation 1952 ihre Tätigkeit einstellte, hatte sie für hunderttausende Bücher und Ritualobjekte neue Eigentümer gefunden. Den Großteil davon schickten sie nach Israel und in die Vereinigten Staaten. JIDDISCH: Die von Juden in Mittel- in Osteuropa traditionell gesprochene Sprache. Im Verlauf der Schoa wurden die jüdischen Bevölkerungen, die im Alltag Jiddisch sprachen, weitestgehend vernichtet, was zu einem massiven Rückgang im Gebrauch der Sprache führte. Doch unmittelbar nach dem Krieg konnten die bunt zusammengewürfelten jüdischen DPs sich am ehesten auf Jiddisch miteinander verständigen. Daher entstand ein Großteil der zahlreichen und vielfältigen von ihnen verfassten Texte auf Jiddisch. JISCHUW: Hebräischer Begriff (wörtlich: bewohntes Land, Siedlung) für die vor der Gründung des Staats Israel in Palästina lebenden Juden und ihre Einrichtungen. JUDENRAT: Auf Befehl der Nazis in den Ghettos im besetzen Europa errichtete Institution. Die Judenräte waren mit der Grundversorgung der Juden in den Ghettos betraut, mussten aber auch von den Nazis angeordnete Maßnahmen umsetzen. KAPOS: Sogenannte Funktionshäftlinge, die in den Lagern im Auftrag der SS unter anderem die Barracken und die Trupps der Zwangsarbeiter leiteten und überwachten und Aufgaben in der Verwaltung übernahmen. Sie selbst waren in der Regel von der Zwangsarbeit ausgenommen und genossen gewisse Privilegien. KIBBUZ (plural: Kibbuzim): In der Regel landwirtschaftlich ausgerichtete Kommunen in Israel. Unmittelbar nach dem Krieg gab es auch in Europa Kibbuzim, in denen zionistische Organisationen Ausbildungsprogramme für junge Juden durchführten, um sie auf die Einwanderung nach Palästina beziehungsweise Israel vorzubereiten. Angehörige eines Kibbuz werden oft als Kibbuzniks bezeichnet. KIPPA: Von vielen eher traditionell ausgerichteten religiösen jüdischen Männern getragenes Scheitelkäppchen. MIKWE: Jüdisches Ritualbad.
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NKWD (Volkskommissariat des Inneren): Von 1917 bis 1946 das Innenministerium Russlands beziehungsweise (nach deren Gründung im Jahr 1922) der Sowjetunion, das wegen seines brutalen Vorgehens gegen politische Gegner berüchtigt und unter anderem für eine unübersehbare Zahl von Hinrichtungen und die Leitung des sowjetischen Systems der Zwangsarbeiterlager (Gulag) verantwortlich war. ORT (Organisation – Reconstruction – Training): Im Jahr 1880 als Vereinigung zur Förderung handwerklicher und landwirtschaftlicher Berufe unter den Juden in Russland (Obschtschestwo remeslennogo i zemledeltscheskogo truda) gegründet, widmete die Organisation sich zunächst der Ausbildung armer Juden im russischen Kaiserreich. Später zog sie nach Berlin, dann nach Paris und schließlich nach Genf und errichtete unterdessen in zahlreichen Ländern Zweigstellen. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte die Organisation Rehabilitationsprogramme für Überlebende durch, nach der Staatsgründung kamen Ausbildungsprogramme in Israel hinzu. ORT ist heute ein weltweit tätiges jüdisches Berufsbildungsnetzwerk. PEJES: Hebräischer Begriff für die Schläfenlocken orthodoxer Juden. PESSACH: Jüdischer Feiertag, an dem der Befreiung der Juden aus der ägyptischen Sklaverei gedacht wird. Traditionell beginnen die Feierlichkeiten mit einer Mahlzeit am Vorabend, dem sogenannten Seder, während dessen der entsprechende biblische Bericht vorgetragen wird. Zu den Traditionen des Seder gehört auch der Verzehr von ungesäuertem Brot (Matze), anderen symbolischen Speisen und vier Bechern Wein. POALE ZION: Eine jüdische marxistisch-zionistische Arbeiterorganisation, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Polen und Russland tätig war. Ihre sozialdemokratisch und kommunistisch ausgerichteten Flügel trennten sich 1920 während des Parteitags der Organisation in Wien. PURIM: Feiertag, an dem der Rettung der Juden in Persien gedacht wird. Wie das Buch Esther berichtet, hatte Haman, der ranghöchste Berater des Königs Ahasveros, beabsichtigt, sämtliche Juden in Persien töten zu lassen. REHABILITATIONSKOMMISSION: Ein 1947 vom Zentralkomitee der befreiten Juden in München eingerichtetes Tribunal, das mit der Verhandlung von Fällen betraut war, in denen es um Vorwürfe der Kollaboration mit den Nazis ging.
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SCHAMMES: Angehöriger der jüdischen Gemeinde, der sich um die Synagoge und den Friedhof kümmert. SCHEERIT HAPLETA (Rest der Geretteten): Eine der Bibel entnommene Formulierung, die jüdische Überlebende nach dem Zweiten Weltkrieg wählten, um sich selbst und ihre Gemeinden zu bezeichnen. Damit verband sich die Hoffnung eines von den Überlebenden ausgehenden jüdischen Wiederaufbaus. SCHLICHIM: Vertreter der Jewish Agency for Palestine beziehungsweise Israel. SCHOCHET: Fleischer, dem die rabbinischen Behörden bescheinigt haben, dass er Rinder und Geflügel im Einklang mit den jüdischen Ritualgesetzen schlachtet. SCHTETL (plural: Schtetlach): Dörfer und Kleinstädte in Mittel- und Osteuropa, in denen vor der Schoa eine nennenswerte jüdische Bevölkerung lebte. SCHUL: Umgangssprachlicher jiddischer Begriff für Synagoge. SOWJETISCHE MILITÄRADMINISTRATION IN DEUTSCHLAND (SMAD): Die SMAD regierte von 1945 bis 1950 die Sowjetische Besatzungszone. Mit der Gründung der DDR wurde sie 1949 abgelöst und ihre Vollmachten gingen auf die Regierung der DDR über. SOZIALISTISCHE EINHEITSPARTEI DEUTSCHLANDS (SED): Die aus der Zwangsvereinigung von Sozialdemokraten und Kommunisten hervorgegangene kommunistische SED regierte die DDR von ihrer Gründung 1949 bis zum Winter 1989/1990. TORA: Die fünf Bücher Mose. Traditionell werden die Schriftrollen mit dem hebräischen Text der Tora am heiligsten Ort in der Synagoge (dem Toraschrein, hebräisch: Aron Hakodesch) aufbewahrt und während der Gottesdienste für Lesungen verwendet. UNITED ISRAEL APPEAL/KEREN HAYESOD: Eine 1920 für die weltweite Sammlung von Spenden für die Gründung einer jüdischen Heimstätte im späteren Israel gegründete Organisation. Während des Zweiten Weltkriegs unterstützte sie mit Sondersammlungen aktiv den Kriegseinsatz der Alliierten. Nach dem Krieg förderte sie die illegale Einwanderung von Juden ins Mandatsgebiet in Palästina.
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UNITED NATIONS RELIEF AND REHABILITATION ADMINISTRATION (UNRRA): Eine von 1943 bis 1947 tätige internationale Hilfsorganisation, die von 1945 bis 1947 der UNO unterstand. Sie legte Notprogramme für Überlebende des Kriegs auf und organisierte vornehmlich die Lieferung von Lebensmitteln, Bekleidung und Medikamenten. In Deutschland war sie nach dem Krieg vor allem in den DP-Lagern tätigt. UNITED ZIONIST ORGANIZATION (UZO): Von den Zionisten in den DP-Lagern 1945 im deutschen Landsberg gegründete Organisation, deren Hauptziel darin bestand, jüdische Überlebende auf sozialistischer Grundlage und unter Betonung der Arbeit auf das Leben in Israel vorzubereiten. VEREINIGUNG DER VERFOLGTEN DES NAZIREGIMES (VVN): In der 1947 in Frankfurt am Main gegründeten VVN schlossen sich zahlreiche örtliche Gruppen aus den vier Besatzungszonen und Berlin zusammen, um gemeinsam die Interessen der politischen Gefangenen und Verfolgten der Nazizeit zu vertreten. WORLD JEWISH CONGRESS: Weltweit tätige jüdische Interessenvertretung, die 1936 in Genf gegründet wurde, um als „diplomatischer Arm des jüdischen Volks“ zu fungieren und sich für jüdische Minderheitenrechte einzusetzen. Während des Zweiten Weltkriegs konzentrierte sie sich allerdings auf Bestrebungen zur Rettung gefährdeter Juden. Nach dem Krieg verwandte sie sich für die Bürgerrechte der Juden, Reparationszahlungen und die Rückgabe geraubten Eigentums an die Überlebenden. YIVO (Yidisher visnshaftlekher institut): Das bis heute fortbestehende Jiddische Wissenschaftliche Institut wurde 1925 im damals zu Polen gehörenden Wilna (heute Vilnius) gegründet, um das Leben insbesondere der jiddischsprechenden Juden Osteuropas zu erforschen und zu dokumentieren. Die Nazis plünderten das Institut zwar während des Zweiten Weltkriegs, doch konnten manche seiner Bestände ins Ausland geschmuggelt und so gerettet werden. Zudem fanden amerikanische Truppen bei der Befreiung einige der Sammlungen des YIVO in einer ehemaligen Nazieinrichtung in Frankfurt am Main vor. Das Hauptquartier des YIVO zog bereits während des Kriegs nach New York, und die geborgenen Sammlungen wurden nach dem Krieg dorthin gebracht. ZENTRALE JÜDISCHE GESCHICHTSKOMMISSION (POLEN): Die Kommission wurde 1944 unter der Obhut des Zentralkomitees der Juden in Polen gegründet, um die Zeugenaussagen jüdischer Überlebender aufzuzeichnen und zu sammeln. Sie veröffentlichte zahlreiche Berichte, Memoiren
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und Tagebücher, in denen die Verbrechen der Nazis dokumentiert wurden. Außerdem sicherte sie die verbliebenen historischen Urkunden der jüdischen Bevölkerung Polens, insbesondere solche aus den Kriegsjahren. Zudem unterstützte sie die jüdischen Ehrengerichte und die an ihnen tätigen Anwälte bei ihren Ermittlungen. Aus der Kommission ging 1947 das Jüdische Historische Institut hervor. ZENTRALKOMITEE DER BEFREITEN JUDEN IN DER US-AMERIKANISCHEN BESATZUNGSZONE (CCLJ): Von 1945 bis 1950 die offizielle Interessenvertretung der jüdischen DPs in der amerikanischen Besatzungszone. Sein Hauptquartier befand sich in München. Das Zentralkomitee befasste sich mit allen Lebensbereichen der jüdischen DPs. ZIZIT: Der hebräische Begriff bezeichnet auf besondere Weise verknotete Fransen am Gebetsschal (Tallit), die von traditionell ausgerichteten religiösen Juden getragen werden.
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FOTO- UND VIDEOQUELLEN
American Jewish Historical Society, New York American Jewish Joint Distribution Committee, New York Amsterdam City Archives Archive of the Taube Institute of Jewish Studies, University of Wroclaw, Polen Beit Hatfutsot, Museum of the Jewish People, Tel Aviv, Israel – Simona Benyamini Budapest City Archives Bundesarchiv, Koblenz Center for Traditional Music and Dance, New York CHRONOS-MEDIA, Kleinmachnow Deutsche Fotothek in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden dpa Picture-Alliance, Frankfurt am Main Emanuel Ringelblum, Jewish Historical Institute, Warschau Fortepan, Budapest Ghetto Fighters House Museum, Western Galilee, Israel Heally Gross and the Natan and Yaakov Gross Archive, Israel Dr. Hanna Herzig, Tel Aviv Hungarian Telegraphic Agency (MTI), Budapest Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main JDC Archives, New York City Jüdische Gemeinde Frankfurt am Main Andreas Kuba, Wien Landesarchiv Berlin Library of Congress Geography and Map Division, Washington D.C., USA Literatuurmuseum Den Haag Magyar Nemzeti Filmalap, Budapest Magyar Távirati Iroda, Budapest MairDumont, Ostfildern Mémorial de la Shoah, Paris Muzeum Miejskie Dzierżoniowa, Polen National Science and Media Museum, Bradford Nederlands Fotomuseum, Rotterdam Nederlands Instituut voor Beeld en Geluid, Hilversum Shmuel Pelleg, Kfar Saba, Israel Polish National Film Archive – Audiovisual Institute, Warschau PROGRESS Filmverleih, Halle/Saale Aviva Slesin, New York Benjamin Soussan, Kirchzarten Staatsbibliothek zu Berlin Steven Spielberg Jewish Film Archive, Hebrew University of Jerusalem Stiftung Stadtmuseum Berlin
Andrea Szapiro, Frankfurt am Main The Joseph and Margit Hoffmann Judaica Postcard Collection at the Folklore Research Center of the Mandel Institute of Jewish Studies, The Hebrew University of Jerusalem, Israel The Magnes Collection of Jewish Art and Life, University of California, Berkeley, USA Unione Delle Comunità Ebraiche Italiane, Rom United States Holocaust Memorial Museum, Washington, D.C. University Archives and Special Collections, Paul V. Galvin Library, Illinois Institute of Technology, Chicago Yad Vashem – The World Holocaust Remembrance Center, Jerusalem YIVO Institute for Jewish Research, New York City
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DANK LEIHGEBERINNEN UND LEIHGEBER
UNTERSTÜTZUNG, RAT UND TAT
Akademie der Künste, Berlin Arolsen Archives, Bad Arolsen Abraham Ben, Frankfurt am Main Binyamin Ben-Perach, Israel Ewa Buszko, Warschau Rivka Cohen, Jerusalem Dr. Helena Datner, Warschau Silvia Godelli, Bari Deutsches Historisches Museum, Berlin Kurt de Jong, Frankfurt am Main Joods Historisch Museum, Amsterdam Jüdisches Museum Berlin Jüdisches Museum München Jüdisches Museum Wien Keren Kajemet Leisrael – Jüdischer Nationalfonds, Düsseldorf Efi Livnat, Timrat, Israel Magyar Zsidó Múzeum és Levéltár, Budapest Magyarországi Autonóm Orthodox Izraelita Hitközség, Budapest Familie Julius Meyer, Campinas, Brasilien Hannah und Rebecca Nieznanowski, Uppsala Rosa Orlean, Frankfurt am Main POLIN Museum of the History of Polish Jews, Warschau Lidia Robak, Warschau Familie Rozenberg, Frankfurt am Main Dr. Hermann Simon, Berlin Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum Éva Szepesi, Frankfurt am Main The Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau United States Holocaust Memorial Museum, Washington, D.C. Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Goethe-Universität, Frankfurt am Main Vintage Galéria, Budapest Yad Tabenkin Archives, Ramat Efal, Ramat Gan, Israel Zentrum für verfolgte Künste, Solingen
Esther Alexander-Ihme, Frankfurt am Main Dr. Floriane Azoulay, Bad Arolsen Sándor Bacskai, Budapest Johannes Viktória Bányai, Budapest Eberhard Bätza, Frankfurt am Maien Monique Behr, Frankfurt am Main Hetty Berg, Berlin Johannes Beermann-Schön, Frankfurt am Main Michael Bernstein, Wien Jonathan Crossen, Frankfurt am Main und Tromsø Gábor Dombi, Budapest Dr. Axel Dossmann, Jena Jutta Fleckenstein, München Dr. Stefan Fricke, Frankfurt am Main Katharina Friedla, Warschau Dr. Christian Groh, Bad Arolsen Familie de Jong, Frankfurt am Main Kamil Kijek, Wrocław Prof. Dr. Salomon Korn, Frankfurt am Main Katie Lanza, Washington D.C. Linda Levy, New York Tamás Lózsy, Budapest Tobias Picard, Frankfurt am Main Claudia Schüßler, Frankfurt am Main Adam Strohm, Chicago Bart Wallet, Amsterdam
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FÖRDERER
PROJEKTPARTNER
Bundeskulturstiftung der Republik Deutschland Daimler Hannelore Krempa Stiftung Christiane Weickart und Nicolaus Weickart Gesellschaft der Freunde und Förderer des Jüdischen Museums e.V. Gemeinnützige Hertie-Stiftung Stiftung Polytechnische Gesellschaft, Frankfurt am Main European Association for Jewish Studies
Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon-Dubnow
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IMPRESSUM Diese Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung Unser Mut. Juden in Europa 1945 – 48 Jüdisches Museum Frankfurt 24. März 2021 – 22. August 2021 AUSSTELLUNG DIREKTORIN Prof. Dr. Mirjam Wenzel PROJEKTLEITUNG Dr. Werner Hanak KURATOR*INNEN Dr. Kata Bohus, Erik Riedel WISSENSCHAFTLICHE BERATUNG Prof. Dr. Atina Grossmann (New York), Dr. Elisabeth Gallas (Leipzig) WISSENSCHAFTLICHER VOLONTÄR Moritz Bauerfeind WISSENSCHAFTLICHE MITARBEIT Dr. Chiara Renzo (Recherche Italien), Franciszek Zakrzewski (Recherche Polen) Dennis Eiler (Jiddische Literatur und Pessach 1946) AUSSTELLUNGSKOORDINATION, REGISTRATUR Sabine Paukner BILDUNG UND VERMITTLUNG Manfred Levy, Kathrin Schön KOMMUNIKATION Sarah Mirjam Fischer, Korbinian Böck, Theresa Gehring ADMINISTRATION Dorothea Spillmann, Michaela Dittrich, Jutta Keller AUSSTELLUNGSGESTALTUNG UND GRAPHIC DESIGN gewerkdesign, Berlin: Jens Imig, Bianca Mohr, Birgit Schlegel, Franziska Schuh, Jens Lohmann MEDIENPLANUNG Graphscape, Berlin, Michael Lorenz SOUND DESIGN Peter Imig, Römstedt FOTOGRAFISCHE ARBEITEN Studio für Fotografie Herbert Fischer, Frankfurt am Main AUSSTELLUNGSBAU UND GRAPHISCHE AUSFÜHRUNG Messegraphik und Messebau Schreiber, Frankfurt RESTAURATORINNEN UND RESTAURATOREN Atelier Carta, Martina Noehles LICHT Lightsolutions, Stephan Zimmermann, Oberursel ÜBERSETZUNGEN INS ENGLISCHE Nick Somers, Wien
KATALOG HERAUSGEGEBEN von Kata Bohus, Atina Grossman, Werner Hanak und Mirjam Wenzel REDAKTIONELLE KOORDINATION Sabine Paukner und Erik Riedel FOTOREDAKTION Sabine Paukner LEKTORAT Karin Lederer GRAFISCHE GESTALTUNG gewerkdesign Berlin, Birgit Schlegel UMSCHLAGABBILDUNG Überlebende feiern Pessach in Białystok, 1946. Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute, Warschau, Polen ERSCHIENEN IM VERLAG WALTER DE GRUYTER ISBN 978-3-11-064918-5 E-ISBN (PDF) 978-3-11-065317-5 LIBRARY OF CONGRESS CONTROL NUMBER 2020943490 BIBLIOGRAFISCHE INFORMATION DER DEUTSCHEN NATIONALBIBLIOTHEK Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston VERLAGSHERSTELLUNG André Horn DRUCK UND BINDUNG Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza www.degruyter.com Trotz aller Bemühungen ist es uns nicht gelungen, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen. Wir bitten daher, sich mit dem Jüdischen Museum Frankfurt in Verbindung zu setzen, damit die üblichen Vergütungen vorgenommen werden können.