Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa [3 ed.] 3534262808, 9783534262809

Das Handbuch umreißt das gesamte Spektrum der 2000-jährigen Geschichte der Juden auf europäischem Boden. Wissenschaftler

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Titel
Impressum
Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa: Band 1
Inhaltsverzeichnis
Mitteleuropa
Das Heilige Römische Reich bis 1648
Anfänge im Hochmittelalter
Vom Interregnum bis zum Schwarzen Tod
Von der Mitte des 14. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts
Vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts
Preußen und Norddeutschland 1648–1871
Vom Dreißigjährigen Krieg zur absolutistischen Normalität (1648–1770)
Veränderungen durch die Aufklärung (1770–1805)
Reformpolitik und Emanzipation im Zeichen der Napoleonischen Kriege (1805–1815)
Restauration, Revolution und neuerliche Restauration (1815–1860)
Emanzipation (1860–1871)
Bayern und Süddeutschland 1648–1871
Vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Französischen Revolution
Das 19. Jahrhundert
Deutschland seit 1871
Grenzen gesellschaftlicher Integration
Abwehrstrategien gegen den Antisemitismus
Kriegsbegeisterung und Ernüchterung
Zwischen Selbstzweifel und Selbsthaß
Gegen Zionisten und Ostjuden
Selbstbehauptung im Untergang
Der Neuanfang nach dem Ende
Die Schweiz
Von den Anfängen bis 1350
Spätmittelalter und Reformation
Neuanfang in der frühen Neuzeit (1550–1798)
Der lange Weg zu Emanzipation (1798–1879)
Nach der Gleichstellung (1879–1933)
Zeit der Bedrohung (1933–1945)
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
Österreich, Böhmen und Mähren 1648–1918
Böhmen
Mähren
Alpenländer
Österreich nach 1918
1918–1938
1938–1945
Nach 1945
Die Tschechoslowakei seit 1918
Der rechtliche Status der Juden nach der Verfassung und dem Sprachengesetz von 1920
Die soziale, berufliche und nationale Gliederung des tschechoslowakischen Judentums
Die Lage der Juden im Protektorat Böhmen und Mähren
Das Ghetto Theresienstadt
Nach 1945
Ungarn
Von der Römerzeit bis zum Aussterben der Árpád-Dynastie (3. Jh. u. Z.–1301)
Vom Aussterben der Árpád-Dynastie bis zur Vertreibung der Türken (1301–1686)
Vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg
Vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (1919–1945)
Von 1945 bis heute
Ostmitteleuropa und Osteuropa
Rußland, Ukraine, Weißrußland, Baltikum (Lettland, Estland)
Vorbemerkung
Die ersten Juden in Osteuropa und die Ostslaven
Die Moskauer Rus' und das russische Imperium
Das Zarenreich von den Teilungen Polens bis zur Oktoberrevolution
Sowjetunion und Postsozialismus
Die Juden in Lettland und Estland
Polen und Litauen
Von der Zuwanderung nach Polen bis zur Katastrophe von 1648
Die Herausbildung einer neuen Lebensform (1648–1815)
Auf dem Weg zu neuen Selbstverständnissen (1815–1914)
Das Jahrhundert der Schoa – und dennoch Hoffnung? (1914–2000)
Südeuropa und Südosteuropa
Rumänien
Von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert
Vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart
Der Balkan bis zum 15. Jahrhundert
Antike und Spätantike
Mittelalter
Der Balkan vom 15. bis zum 20. Jahrhundert
Von der Niederlassung der Sefarden in der Balkanregion bis zur Blütezeit des 16. Jahrhunderts
Niedergang und Neuorientierung im 17. und 18. Jahrhundert
Die Juden des Osmanischen Reichs im Zeitalter der Nationalstaaten
Die Juden in den Nachfolgestaaten des Osmanischen Reichs
Jüdische Emigration aus der Balkanregion
Die Iberische Halbinsel
Früheste Zeugnisse jüdischen Lebens auf der Iberischen Halbinsel
Unter westgotischer Herrschaft
Im muslimischen Reich
Das christliche Iberien
Portugal
Das Problem der „Conversos" nach 1492
Epilog: Juden in Spanien und Portugal im 19. und 20. Jahrhundert
Italien
Gesellschaft, Wirtschaft, rechtliche Stellung
Kultur
Italienisch-jüdische Gemeinden in der Spätrenaissance und der Frühen Neuzeit: Eine anthropologische Perspektive
Westeuropa und Nordeuropa
Frankreich
Von den Anfängen bis zu den Vertreibungen
Die regionale Geschichte der Juden nach den Vertreibungen
Von der Revolution bis zum Ende des Ersten Weltkriegs
Vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs
Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart
Die Niederlande
Die Republik der Vereinigten Niederlande (1579–1795)
Die revolutionäre Zwischenzeit (1795–1813)
Zu Hause im eigenen Land (1813–1940)
Besatzung und Schoa (1940–1945)
Rückblick und Wiederaufbau (1945–1990)
Belgien
Das Mittelalter
Vom Kryptojudentum zur Toleranz
Die Österreichischen Niederlande (1713–1794)
Die „Franzosenzeit" (1794–1815)
Unter der holländischen Krone (1815–1830)
Die Unabhängigkeit (1830)
Die Bipolarisierung zwischen Brüssel und Antwerpen
Die Zwischenkriegszeit
Schoa und Neubeginn
Großbritannien und Irland
Jüdisches Leben in Großbritannien bis 1290
Von der Ausweisung zur Wiederzulassung (1290–1656)
Die Etablierung der Juden im modernen England (1656–1789)
Emanzipation und Akkulturation (1789–1918)
Vom Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (1918–1945)
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (1945–1990)
Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert
Irland
Skandinavien
Dänemark
Norwegen
Schweden
Finnland
Auswahlbibliographie
Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa: Band 2
Inhaltsverzeichnis
Binnenstruktur
Demographische Entwicklung der europäischen Juden vom 12. bis zum 20. Jahrhundert
Historischer Überblick
Muster und Determinanten demographischen Wandels
Die aktuelle Lage
Jüdische Siedlungsformen: Überlegungen zu ihrer Bedeutung
Gebote und Situationen
Grenzen und Zwischenräume
Abgrenzungen und Rückzugsgebiete
Schtetl-Bilder
Auf dem Weg in die großen Städte
Großstadt-Bilder
Sozial- und Wirtschaftsstruktur der jüdischen Gemeinden
Die jüdischen Hoffaktoren
Eine neue Gruppe: Die Conversos aus Portugal und Spanien
Juden in Italien
Entwicklungen im Königreich Polen-Litauen
Migrationen im 18. Jahrhundert
Vorläufer der Akkulturation
Rußland/Polen nach 1800
In Deutschland
Methodische Probleme
Migration osteuropäischer Juden
Nach 1945
Rechtsstellung und Strukturen jüdischer Gemeinden im europäischen Kontext
Der äußere Rahmen jüdischer Diasporaexistenz
Die jüdische Gemeinde und ihre Institutionen
Übergemeindliche Selbstverwaltung
Juden aus dem östlichen Europa in Mittel- und Westeuropa
Motivationen und Voraussetzungen
Die osteuropäische jüdische Migration als Teil der allgemeinen europäischen Migragration und ihre Spezifika
Konjunkturen der Ansiedlung in Mittel- und Westeuropa
Initiativen und Organisationen der Emigrationshilfe
„Alte“ und „neue“ Jischuwim
Stereotypenbildung
Frauen im Judentum
Frauen und Torastudium
Sozialgeschichtliche Konsequenzen
Frauen und jüdisches Leben
Schlußbemerkung
Die Familie im Judentum
Einleitung
Bedeutung von Familie
Partnerwahl und Verlobung
Mitgift (Nedunja)
Eheschließung
Einschränkungen des Heiratsverhaltens
Familien- und Haushaltsgrößen
Beziehungen zwischen den Geschlechtern
Beziehung zwischen Eltern und Kindern
Scheidung und Verwitwung
Erbrecht (Dine Nachalot)
Neueste Entwicklungen
Religion
Halachische Traditionen
Hermeneutik – Die Kunst der Auslegung
Geschichte
Halacha heute
Messiaserwartungen
Rabbinische Passivität – messianische Aktivität
Maimonidische Messiaslehre
Messianismus
Sabbatai Zwi
Post-Messianismus
Jüdische Mystik
Die Grundformen jüdischer Mystik und die Weisen ihrer sprachlichen Mitteilung
Das körperlich- personalisierte Welt- und Gottesbild des antiken rabbinischen Judentums und seine Mystik
Die onomatologisch-linguistische Theologie als mystische Beschreibungssprache
Das philosophische Gottes- und Weltbild und die theosophische Kabbala
Das psychologische System der lurianischen Kabbala des 16./17. Jahrhunderts
Der osteuropäische Chassidismus
Reform und Orthodoxie im europäischen Judentum der Neuzeit
Entwicklung von Orthodoxie und Reformbewegung in Deutschland
Die „Neu-Orthodoxie“
Konservative Strömungen
Protagonisten der Reformbewegung
Entwicklungen im übrigen Europa
Überregionale religiöse Vereinigungen
Kulturelle Entwicklung
Vom Mythos zum Text: Zu Begriff und Geschichte der jüdischen Literatur
Biblische Dichtung und Kanon
Das Mittelalter und die jiddische Literatur
Osteuropa und die Emigration
Haskala und Zionismus
Die neue hebräische Literatur und Israel
Die Moderne und die Suche nach einer deutsch-jüdischen Identität
Jüdische Kunst
Buchmalerei
Buchillustration seit dem 16. Jahrhundert
Kunstgewerbe
Der Toraschmuck
Die Objekte des Privathaushaltes
Grabkunst
Die jüdischen Maler und Graphiker des 19. und 20. Jahrhunderts
Jüdische Architektur
Die Synagogen
Die Mikwen
Jüdische Musik
Mittelalterliche Pijutim
Anlehnung an nicht-jüdische Musik
Chassidische Musik
Synagogalmusik
Musik – ein jüdisches Volksgut
„Gesellschaft für jüdische Volksmusik“
Nachfolgegenerationen der „Gesellschaft für jüdische Volksmusik“
Jüdische Volkskunde – jüdische Volkskultur
Grundstrukturen jüdischer Volkskultur
Die Ordnung des jüdischen Lebens: Minhagim
Assimilation und Lebensstil
Geistige Entwicklung
Religionsphilosophie
Jüdische Aufklärung („Haskala“)
Nachgeholte, beschleunigte Aufklärung
Beginn und Ziel der Haskala
Minoritäten-Aufklärung
Doppelte Aufklärung: Binnendiskurs und Außendiskurs
Mehrsprachige und multikulturelle Aufklärung
Bürgerliche Verbesserung der Juden
Aufklärung der Religion, nicht von der Religion
Haskala in Europa
Jüdisches Schulwesen
Die Schulen der deutschen Neo-Orthodoxie
Das Schulsystem in Osteuropa
Mädchenbildung
Zusammenfassung
Die Wissenschaft des Judentums
Das Programm
Die Wissenschaftsgebiete und Disziplinen
Rabbinerseminare und „jüdische Theologie“
Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums
Zionismus und Hebräische Universität Jerusalem
Europa nach dem Zweiten Weltkrieg
Jüdische Presse
Die Anfänge des jüdischen Pressewesens in Europa (17.–18. Jh.)
Grundzüge der sprachlichen Differenzierung der jüdischen Presse in Europa
Die typologische und organisatorische Differenzierung des europäisch-jüdischen Pressewesens
Die europäisch-jüdische Presse im Zeitalter der Emanzipation (1780–1918)
Die europäisch-jüdische Presse im Zeitalter der Weltkriege (1914/18–1945)
Kontinuität und Neubeginn der jüdischen Presse in Europa nach 1945
Die Juden und die christliche Gesellschaft
Die rechtliche Stellung der Juden im Mittelalter
Der Rechtsstatus der Juden unter christlichen Kaisern und Königen
Die Juden im Kirchenrecht
Regelungen des spätmittelalterlichen Judenrechts
Kriminalisierung und Ausweisung der Juden
Zwischen Ausweisung und Aufklärung: Juden in der christlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit
Humanismus, Reformation und Gegenreformation
Von der „christlichen Obrigkeit“ zum säkularen Staat
Judenordnungen, Schutzjuden und „Betteljuden“
Konversion in Europa
Zwangstaufen im Mittelalter
Missionsbestrebungen von Kovertiten und Pietisten
Konversionsmotive in der Moderne
Die Emanzipation der Juden in Europa
Inner- und außerjüdische Diskussion über die Gleichberechtigung
Zwischen Ausgrenzung und religiöser Toleranz
Emanzipation. Eine Begriffsklärung
Der Weg zur rechtlichen Gleichstellung aller Religionen
Emanzipationsentwicklung in Europa und darüber hinaus
Wege der Akkulturation
Akkulturation versus Assimilation
Die Bedingtheit von Emanzipation und Akkulturation
Jüdisch-christliche Annäherung
Innerjüdische Debatte um Nation und Konfession
Die Illusion einer deutsch-jüdischen Symbiose
Westjüdische Parvenüs und ostjüdische Paria
Judenfeindschaft
Antijudaismus
Die Abgrenzung des Christentums vom Judentum
Antijüdische Schlüsseltexte
Zwischen Duldung und Vertreibung
Die Reformation
Nichtreligiöse Elemente des Antijudaismus
Moderner Antisemitismus von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus
Reaktionen auf die Emanzipation
Die Epoche des Liberalismus
Der Antisemitismus in Mitteleuropa 1871–1918
Die Zwischenkriegszeit
Schoa
Von 1933 bis 1945
1935: Die Nürnberger Gesetze
Die Verschärfung der Rassenpolitik seit 1937
Das Jahr 1938
Die jüdische Gemeinschaft seit 1939
Vorbereitung des Massenmords
Ghettoisierung
Vernichtung
Die Aktion Reinhard und der jüdische Widerstand
Auschwitz
1945, das Jahr der Befreiung
Antisemitismus in Europa nach 1945
Die Nachkriegsjahre
Die ruhigen Jahre: 1953–1967
Die Wende mit dem Sechs-Tage-Krieg
Die achtziger Jahre: Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus
Das Jahr 1989 und die Folgen
Nationalismus, Kosmopolitismus, Internationalismus
Die Juden und der Nationalstaat
Von der Frühen Neuzeit bis zur Französischen Revolution
Zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg
Zwischen Beginn des Ersten und Ende des Zweiten Weltkriegs
Seit der Nachkriegszeit
Die zionistische Bewegung
Die Vorläufer des politischen Zionismus
Theodor Herzls Programm und seine Kontrahenten
Die Entdeckung der arabischen Bevölkerung
Die zionistische Bewegung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs
Auf dem Weg zur „Balfour Declaration“
Abschlußbemerkung
Juden und Demokratie
Die jüdische Minderheit und die Demokratisierung der Gesamtgesellschaft im 18. Jahrhundert
Die Emanzipationsbestrebungen der Juden und die Achtundvierziger Revolution
Das Hineinwachsen der Juden in demokratische Staatsformen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Der Erste Weltkrieg
Juden bis zur Zerstörung der Weimarer Demokratie
Die Juden, der Sozialismus und die Arbeiterbewegung
Der Bund, der Poale Zion und die jüdische Arbeiterbewegung
Die jüdischen Intellektuellen und der Sozialismus
Anhang
Glossar
Auswahlbibliographie
Abkürzungsverzeichnis
Personenregister für Band 1 und 2
Nachbemerkung
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Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa [3 ed.]
 3534262808, 9783534262809

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Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa Herausgegeben von Elke-Vera Kotowski, Julius H. Schoeps, Hiltrud Wallenborn 3. Auflage

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

3., unveränderte Auflage 2013 (unveränderter Nachdruck der einbändigen Sonderausgabe 2012) © 2012 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 1. Auflage 2001 Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Covergestaltung: Neil McBeath, Stuttgart Coverbild: Berlin, Synagoge in der Oranienburger Straße. © akg-images Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26280-9

Die Buchhandelsausgabe erscheint beim Primus Verlag. Umschlaggestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M. Umschlagabbildungen: © akg-images ISBN 978-3-86312-363-5 www.primusverlag.de

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-86312-816-6 (Buchhandel) eBook (epub): 978-3-86312-817-3 (Buchhandel)

Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa Band 1 Länder und Regionen

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Inhaltsverzeichnis Mitteleuropa Friedrich Battenberg Das Heilige Römische Reich bis 1648 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anfänge im Hochmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Interregnum bis zum Schwarzen Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Mitte des 14. bis zum Ende des 15.Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Albert Bruer Preußen und Norddeutschland 1648–1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Dreißigjährigen Krieg zur absolutistischen Normalität (1648–1770) . . . . . . . . Veränderungen durch die Aufklärung (1770–1805) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reformpolitik und Emanzipation im Zeichen der Napoleonischen Kriege (1805– 1815) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Restauration, Revolution und neuerliche Restauration (1815–1860) . . . . . . . . . . . . . Emanzipation (1860–1871) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 15 22 27 34

47 48 54 58 59 64

Monika Berthold-Hilpert Bayern und Süddeutschland 1648–1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Französischen Revolution . . . . . . . . . Das 19.Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67 67 74

Julius H. Schoeps Deutschland seit 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzen gesellschaftlicher Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abwehrstrategien gegen den Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kriegsbegeisterung und Ernüchterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Selbstzweifel und Selbsthaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegen Zionisten und Ostjuden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstbehauptung im Untergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Neuanfang nach dem Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78 78 79 81 83 84 86 88

8

Inhaltsverzeichnis

Uri R. Kaufmann Die Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von den Anfängen bis 1350 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spätmittelalter und Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuanfang in der frühen Neuzeit (1550–1798) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der lange Weg zu Emanzipation (1798–1879) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nach der Gleichstellung (1879–1933) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeit der Bedrohung (1933–1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90 90 90 91 93 95 97 98

Louise Hecht, Albert Lichtblau, Michael L. Miller Österreich, Böhmen und Mähren 1648–1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Böhmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mähren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alpenländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

101 101 112 123

Albert Lichtblau Österreich nach 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1918–1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1938–1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135 135 138 140

Peter Kosta Die Tschechoslowakei seit 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der rechtliche Status der Juden nach der Verfassung und dem Sprachengesetz von 1920 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die soziale, berufliche und nationale Gliederung des tschechoslowakischen Judentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Lage der Juden im Protektorat Böhmen und Mähren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ghetto Theresienstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . András Kovács Ungarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Römerzeit bis zum Aussterben der Árpád-Dynastie (3. Jh. u. Z.–1301) . . . . Vom Aussterben der Árpád-Dynastie bis zur Vertreibung der Türken (1301–1686) . Vom 18.Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (1919– 1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von 1945 bis heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143 143 144 147 148 149

151 151 152 154 157 160

Inhaltsverzeichnis

9

Ostmitteleuropa und Osteuropa Norbert Franz, Wilfried Jilge Rußland, Ukraine, Weißrußland, Baltikum (Lettland, Estland) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ersten Juden in Osteuropa und die Ostslaven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Moskauer Rus’ und das russische Imperium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Zarenreich von den Teilungen Polens bis zur Oktoberrevolution . . . . . . . . . . . . Sowjetunion und Postsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Juden in Lettland und Estland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167 167 168 172 178 195 214

Heiko Haumann Polen und Litauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Zuwanderung nach Polen bis zur Katastrophe von 1648 . . . . . . . . . . . . . . . . Die Herausbildung einer neuen Lebensform (1648–1815) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf dem Weg zu neuen Selbstverständnissen (1815–1914) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Jahrhundert der Schoa – und dennoch Hoffnung? (1914–2000) . . . . . . . . . . . . .

228 228 235 245 264

Südeuropa und Südosteuropa Avram Andrei Ba˘leanu Rumänien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Von den Anfängen bis ins 19.Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Steven Bowman Der Balkan bis zum 15.Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Antike und Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Aron Rodrigue Der Balkan vom 15. bis zum 20.Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Niederlassung der Sefarden in der Balkanregion bis zur Blütezeit des 16. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niedergang und Neuorientierung im 17. und 18.Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Juden des Osmanischen Reichs im Zeitalter der Nationalstaaten . . . . . . . . . . . . . Die Juden in den Nachfolgestaaten des Osmanischen Reichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jüdische Emigration aus der Balkanregion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bernd Rother Die Iberische Halbinsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Früheste Zeugnisse jüdischen Lebens auf der Iberischen Halbinsel . . . . . . . . . . . . . . Unter westgotischer Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im muslimischen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das christliche Iberien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Portugal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem der „Conversos“ nach 1492 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epilog: Juden in Spanien und Portugal im 19. und 20.Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . Alessandro Guetta, Michele Luzzati, Roni Weinstein Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesellschaft, Wirtschaft, rechtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Italienisch-jüdische Gemeinden in der Spätrenaissance und der Frühen Neuzeit: Eine anthropologische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Westeuropa und Nordeuropa Esther Benbassa Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von den Anfängen bis zu den Vertreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die regionale Geschichte der Juden nach den Vertreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Revolution bis zum Ende des Ersten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs . . . . . . . . . . . Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Renate G. Fuks-Mansfeld Die Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Republik der Vereinigten Niederlande (1579–1795) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die revolutionäre Zwischenzeit (1795–1813) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu Hause im eigenen Land (1813–1940) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besatzung und Schoa (1940–1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückblick und Wiederaufbau (1945–1990) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jean-Philippe Schreiber Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Kryptojudentum zur Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Österreichischen Niederlande (1713–1794) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

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Die „Franzosenzeit“ (1794–1815) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unter der holländischen Krone (1815–1830) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Unabhängigkeit (1830) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bipolarisierung zwischen Brüssel und Antwerpen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schoa und Neubeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

446 447 447 448 450 452

William D. Rubinstein Großbritannien und Irland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jüdisches Leben in Großbritannien bis 1290 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Ausweisung zur Wiederzulassung (1290–1656) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Etablierung der Juden im modernen England (1656–1789) . . . . . . . . . . . . . . . . . Emanzipation und Akkulturation (1789–1918) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (1918–1945) . . . . . . . . . Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (1945–1990) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf dem Weg ins 21.Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ulf Haxen Skandinavien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dänemark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norwegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schweden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finnland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501

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Mitteleuropa

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Friedrich Battenberg

Das Heilige Römische Reich bis 1648 Anfänge im Hochmittelalter Die Anfänge jüdischer Siedlung im Bereich des Heiligen Römischen Reiches liegen im dunkeln. Als sich im 10. Jh. aus dem östlichen Teil des zerfallenden Frankenreiches allmählich wieder eine großräumige Herrschaftsordnung zu entwickeln begann, die in Abwehr äußerer Gegner im Innern eine starke Königsmacht herausbildete, waren die Bedingungen geschaffen, die wieder eine kontinuierliche Siedlung von Juden zuließen. Die Begründung eines erneuerten römischen Kaisertums durch Otto den Großen 962 mit dem Anspruch einer das gesamte christliche Europa umfassenden Universalgewalt ließ ältere Schutzpflichten über „homines minus potentes“, die seit karolingischer Zeit auch Juden erfaßten, neu erstehen. Die Legende, im Jahre 982 habe ein Angehöriger der jüdischen Familie Kalonymos dem Kaiser Otto II. in einer Schlacht das Leben gerettet, belegt das Bewußtsein einer engen Verbindung zum Kaisertum. Seit dieser Zeit, im späten 10.Jh., etablierten sich durch Zuwanderung aus unterschiedlichen Richtungen an den großen Handelswegen, zuerst vor allem in den ehemaligen römischen Civitates unter dem Schutz der Reichsbischöfe, die ersten größeren Judengemeinden. Es waren dies Kaufmannskolonien, die die sich nun bietenden ökonomischen Chancen zu nutzen wußten. Die älteste und bis ins 11. Jh. wichtigste unter ihnen war – sieht man von der schon im 9. Jh. gegründeten Gemeinde in Metz ab – die seit etwa 917 belegte Mainzer Gemeinde. Einige Jahrzehnte danach werden die Wormser (980), die Regensburger (981) und die Kölner Juden erstmals erwähnt, später dann die Gemeinden in Trier (1066) und Speyer (1084), wenn auch archäologischen Befunden zufolge meist ältere Ursprünge zu vermuten sind. Nicht zufällig waren Juden auch in den Pfalzorten Magdeburg (965) und Merseburg (973) anzutreffen, obwohl sich hier noch keine Gemeinden bildeten. Bis zum Ende des 11. Jhs. etablierten sich weitere jüdische Gemeinden in Aachen, Bamberg, Bonn, Heilbronn, Neuss, Prag und Xanten. Mit der Neuansiedlung von Juden im ottonisch-salischen Reich, die nur in selteneren Fällen auf älteren Kernen beruhte, setzte auch eine wirtschaftliche Neuorientierung ein. Waren die Juden der fränkischen Zeit meist Kaufleute – die Raffelstetter Zollordnung von 903/05 setzte sie geradezu mit diesen gleich –, die sich um die Versorgung der herrschaftlichen Pfalzen kümmerten, so wurden sie nun als Kaufleute in den Städten ansässig, um vielfältigere Handelskontakte anknüpfen zu können. Neben den weiterbestehenden Transithandel mit Seide, Gewürzen, Pelzen und Medikamenten trat nun über die Messen und Märkte die Versorgung der Stadtbevölkerung mit Rohstoffen, Nahrung, Metallen, Wein, Getreide, Vieh und Kleidung, keinesfalls aber in Form eines Handelsmonopols. Ergänzend zum Messegeschäft entwickelte sich das Kredit- und Geldwechselgeschäft.

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Friedrich Battenberg

Die Geschäftsform der „ma’arufia“, eine von der örtlichen Gemeinde anerkannte Alleinberechtigung eines jüdischen Kaufmanns bei seinen nichtjüdischen Partnern, und auch die Praxis der Darlehensaufnahme bei Nichtjuden zu Handelszwecken zeugen von einer zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtung mit der nichtjüdischen Umwelt. Dem entspricht auch die Wohnweise: Keineswegs entstanden in sich abgeschlossene Ghettos, wie man lange Zeit geglaubt hat, sondern allenfalls Wohnviertel um einen kultischen Mittelpunkt, wie sie auch bei anderen Bevölkerungsgruppen üblich waren, so daß man geradezu von einer „concivilitas“ im Verhältnis zu den Christen sprechen kann. Das um 1020 als „iudeorum habitacula“ bezeichnete Regensburger Judenviertel, wie in Köln entlang der römischen Mauer gelegen, ist in diesem Sinn zu verstehen. So ist es kaum auffällig, daß noch zwei Jahrhunderte später christliche Gebäude hier als „circumsita iudeis“ beschrieben wurden. Nur konsequent war es, daß, wie in Worms belegt, christliche Bauleute der Dombauhütten auch die Synagogen und Mikwot errichteten. Die wohl schon von einem Kollegium der Parnassim und einem Vorsteher (auch Judenbischof) geleiteten Kehilot des aschkenasischen Siedlungsraums im römisch-deutschen Reich erfüllten von Beginn an im Kern kultisch-religiöse Aufgaben und entwickelten sich meist bald zu Zentren rabbinischer Gelehrsamkeit. Sie standen in enger Verbindung mit den älteren Gemeinden des Westfränkischen Reiches, z. B. in Limoges, Orléans, Rouen, Reims und Troyes. Schon bald nach der Jahrtausendwende entstanden Synagogen in Mainz, Köln, Speyer und Worms, denen Jeschiwot angegliedert waren. Durch die Anlage von Friedhöfen (Worms 1076) und die Errichtung von Mikwot wurde die Entstehung eines geregelten Gemeindelebens ermöglicht. Die Mainzer Jeschiwa des Talmudgelehrten Gerschom ben Jehuda, der den Beinamen „Leuchte des Exils“ (Meor ha-Gola) trug, war die bedeutendste dieser Zeit. In zahlreichen, auf Anfrage vieler deutscher, französischer und italienischer Judengemeinden erteilten Responsen und Takkanot versuchte Gerschom – wie andere Rabbinen der Zeit – von dort aus die religiösen Grundsätze des Judentums mit den ethisch-sittlichen Erfordernissen des Lebens in Europa in Übereinstimmung zu bringen. Andere, wie Meschullam ben Kalonymos und Simon der Große in Mainz und der Wormser Vorbeter Mëir ben Isaak, wurden um die gleiche Zeit durch ihre mystischen und liturgischen Dichtungen berühmt. Der in Worms aufgewachsene und später in Troyes lehrende Salomo ben Isaak, gen. Raschi, ein Schüler des berühmten Mainzer Talmudisten Jakob ben Jakar, erlangte nachhaltigen Ruhm durch seine vereinfachende, leicht verständlich geschriebene Zusammenfassung der aschkenasischen Tradition (Perusch Raschi). In ähnlicher Weise war in Speyer Rabbi Eljakim ben Meschullam tätig, der durch einen nur teilweise überlieferten Talmudkommentar hervortrat, und in Worms Salomo ben Simson, vermutlich identisch mit dem „Judenbischof“ Salman, der als Halachist ebenso wie als synagogaler Dichter Berühmtheit erlangte. Die Wirksamkeit dieser und zahlreicher anderer Gelehrter führte dazu, daß noch im 13.Jh. Isaak ben Mose, gen. Or Sarua, aus Wien rühmen konnte: „Von unseren Lehrern in Mainz, Worms und Speyer ist die Lehre ausgegangen für ganz Israel, und seitdem Gemeinden in den

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Rheinlanden, in ganz Deutschland und in unseren Königreichen gegründet sind, hat man sich daselbst an ihre Vorschriften gehalten.“1 Die Beziehungen zur christlichen Herrschaft – zu den Vertretern der beiden Universalgewalten ebenso wie zu regionalen Funktionsträgern – waren am beiderseits anerkannten Paradigma der Schutzherrschaft orientiert. Der Missionseifer eines Herrschers konnte zu Störungen führen wie 1012, als Kaiser Heinrich II. Zwangsbekehrungen und Vertreibungen in Mainz veranlaßte. In Privilegienbriefen vom Februar 1090, die durchaus auf halachisches Recht Rücksicht nahmen, erteilte Heinrich IV. den Juden der Gemeinden von Speyer und Worms, wahrscheinlich kurz darauf auch denen von Regensburg, umfangreiche Rechte. Danach durfte z. B. niemand ihr Vermögen beeinträchtigen. Sie sollten innerhalb des Reiches ungehindert Handel treiben können, ohne dafür Zollabgaben entrichten zu müssen. Den Wormser Juden wurde darüber hinaus der Geldwechsel in eigenen Wechselstuben gestattet. Niemand durfte ihre Kinder zwangsweise taufen, und auch ihre Sklaven durften nicht durch Taufe dem Dienst entfremdet werden. In Rechtsstreitigkeiten mit Christen sollte jede Partei nach ihrem Gesetz Recht geben und ihre Sache beweisen. Konflikte untereinander sollten von den Juden selbst geregelt werden. Für Worms wurde zusätzlich bestimmt, daß der Ortsbischof und seine Amtsträger in Rechtsangelegenheiten nur mit demjenigen unter den Juden verhandeln sollten, dessen Wahl vom Kaiser legitimiert worden war, da sie zur kaiserlichen Kammer gehörten („ad cameram nostram attineant“). Mit dieser Formel, die ähnlich später im rheinfränkischen Landfrieden Friedrich Barbarossas von 1179 Verwendung fand („iudei, qui ad fiscum imperatoris pertinent“), wurde, obwohl hier noch ohne negative Konnotation, die kaiserliche Kammerknechtschaft der Juden vorgebildet. Nur insoweit läßt sich die These K. Stows von der „Wasserscheide“ mittelalterlicher jüdischer Geschichte zwischen älterer Freiheit und neuer Abhängigkeit aufrechterhalten.2 Auch wenn nicht alle jüdischen Gemeinden im ottonisch-salischen Reich über derartige Vorrechte verfügten, so repräsentieren diese doch einen Rechtsstatus, der in späterer Zeit nicht mehr erreicht wurde. Indes wurde das bisher weitgehend friedliche Zusammenleben zwischen Juden und Christen durch die Verfolgungen im Vorfeld des Ersten Kreuzzugs jäh abgebrochen. Im November 1095 hatte Papst Urban II. in Clermont zur Waffenhilfe für die von muslimischen Seldschuken bedrängten Christen im Vorderen Orient aufgerufen. Der auf große Resonanz stoßende Aufruf wurde bald so aufgefaßt, daß auch die Feinde Christi im eigenen Land bekämpft werden sollten. Schon um die Jahreswende 1095/96 kam es in Rouen zu ersten Ausschreitungen gegen Juden. Berüchtigt wurde der nach Osten ziehende Kreuzfahrerhaufen des Grafen Emicho aus dem Nahegau. Dieser und vermutlich drei andere verursachten nacheinander Massaker unter den Judengemeinden der Städte Speyer, Worms, Mainz, Trier, Metz, Köln, Neuss und Xanten. Innerhalb der Monate Mai und Juni, noch bevor sich das reguläre Kreuzfahrerheer sammeln konnte, wurden alle wichtigen Gemeinden des lothringisch-rheinischen Raumes vernichtet. Auf dem Wege nach Osten er1 2

Zit. nach Germania Judaica 1, Tübingen 1963, S.186. Stow 1992, S.101.

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faßte man schließlich noch die Gemeinden von Regensburg und Prag. Ausweislich der Memorbücher waren von über 20 000 Juden mindestens 5000 Opfer zu beklagen, davon allein in Mainz über 1000 und in Worms weitere 800. Lediglich die Speyerer Judengemeinde konnte sich dank des energischen Eingreifen des Bischofs Johann erfolgreich zur Wehr setzen. Wie viele der jüdischen Gemeinden des römisch-deutschen Reiches überlebten oder sich reorganisieren konnten, ist schwer zu sagen. Als Folge der Pogrome entstand eine gewisse Diversifizierung der jüdischen Siedlungen, die jetzt nicht mehr auf die großen Pfalz- und Bischofsstädte beschränkt waren, sondern auch kleinere Landstädte erfaßten. Die Anzahl der Wohnplätze vermehrte sich von 13 um 1096 auf etwa 90 anderthalb Jahrhunderte später. Eine gewisse räumliche Konzentration ist für die Rheinlande, im 13. Jh. auch für das mittlere Deutschland, für Franken und Schwaben festzustellen. Nicht minder bedeutsam war der mentalitätsgeschichtliche Wandel, der sich in den zahlreichen Pijutim und Chroniken niederschlug: Ein durch die Erfahrungen der Verfolgungszeit geprägtes neues Bewußtsein der eigenen, vom Leiden bestimmten Schicksalsgemeinschaft begleitete fortan das aufkeimende jüdische Gemeindeleben. Dem Eingreifen des während der Pogrome in Italien weilenden Kaisers Heinrich IV. ist es zu danken, daß die kaiserliche Schutzzusage erneuert und in einem 1103 verkündeten allgemeinen Landfrieden normiert wurde. Die Vervielfältigung jüdischen Lebens schlug sich nun auch in einer Ausweitung möglicher Tätigkeitsbereiche nieder. Hierzu zählten Münzprägungen, Zollpachten und Finanzoperationen im Dienste christlicher Herrscher, besonders der Herzöge von Bayern, Böhmen, Mecklenburg, Österreich, Schlesien und Tirol wie auch der Erzbischöfe von Magdeburg, Salzburg und Trier. Der Bischof von Würzburg bestellte gar einen jüdischen „Lokator“. Die Ausbildung christlicher Konkurrenz in den Städten verringerte allerdings gleichzeitig den Anteil der Juden am allgemeinen Warenhandel. Eine größere Rolle als bisher spielte der Handel mit verfallenen Pfändern und mit Wein. Dominierend wurde nun das jüdische Engagement im Darlehensgeschäft, das jetzt angesichts wachsender kirchlicher Kritik am Zinsgeschäft christlicher Kaufleute zu einem eigenständigen Geschäftszweig wurde. Doch erst im 13. Jh., als die Anfeindungen gegenüber Juden zunahmen, wurde der Geldhandel zur eigentlichen Grundlage jüdischer Existenz, wogegen der Warenhandel fast vollkommen zurücktrat. Der allgemeine Mangel an liquidem Geld führte dazu, daß außer dem hohen und niederen Adel auch die Geistlichkeit und die Stadtbürgerschaft Kreditleistungen der Juden gerne in Anspruch nahmen. Eine übergreifende Organisation der Gemeinden des Reiches kam nicht zustande. Wohl aber organisierten sich seit dem 12. Jh. unter Lösung von der bisherigen Orientierung an den Synoden von Troyes und Reims die drei bedeutendsten Judengemeinden in Speyer, Worms und Mainz zu gemeinsamen Tagungen. Als sogenannte SCHUM-Gemeinden, so benannt nach den hebräisch transliterierten Anfangsbuchstaben ihres Namens, nahmen sie für sich das Recht in Anspruch, unter Bannandrohung allgemeingültige Takkanot zu erlassen. Auf einer ersten Versammlung 1150 in Mainz wurde festgelegt, daß die SCHUM-Gemeinden für alle Streitfälle der Juden und jüdischen Gemeinden untereinander zuständig

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sein sollten. Trotz Wiederholung der Beschlüsse auf Tagungen von 1223 und 1250 gelang es indes nicht, diese Grundsätze umzusetzen und die Autorität der drei Gemeinden dauerhaft zu etablieren, da die traditionell autonome Struktur der deutschen Gemeinden bindende Eingriffe von außen nicht zuließ. Dennoch wurden viele Takkanot der SCHUM-Gemeinden richtungweisend. Die Kultur der rheinischen rabbinischen Gelehrten konnte ebenfalls nach kurzer Unterbrechung wieder neu stabilisiert werden. Der Talmudkommentar Raschis (Perusch Raschi) wurde nun seinerseits zur Grundlage der im 12. Jh. wirksamen Schule der Tosafisten, besonders der beiden Enkel Raschis, Samuel ben Mëir, gen. Raschbam, und Jakob Tam, gen. Rabbenu Tam. Sie entwickelten zur Fortbildung des vorgefundenen Rechtskorpus und zur Anpassung an die neuen Bedürfnisse des alltäglichen Lebens eine analytische, auf Frage und Antwort beruhende Dialektik der Rechtsauslegung. Mit der Sanktionierung der Geldleihe leisteten sie einen bedeutsamen Beitrag zur Stabilisierung der jüdischen Kreditpraxis. Namentlich erwähnt werden sollen die beiden Gelehrten Elieser ben Joel, gen. Ravia, aus Mainz, der nach Studien in Mainz, Metz, Regensburg und Speyer in Bonn, Bingen, Köln, Würzburg und Frankfurt am Main wirkte, sowie Isaak ben Mose, gen. Or Sarua, aus Böhmen, der vor allem in Wien wirkte. Neben die Tosafisten traten seit der 2. Hälfte des 12. Jhs. die Vertreter einer neuen mystischen Bewegung, der Chasside Aschkenas. Mit deren bedeutendstem Exponenten, dem um 1140 in Speyer geborenen und zuletzt in Regensburg wirkenden Rabbi Jehuda ha-Chassid, wird die Entstehung des „Buches der Frommen“ (Sefer Chassidim) in Verbindung gebracht. In dieser Sammlung von Exempla wurde für eine elitäre, ethisch verfeinerte und esoterisch angelegte Glaubenshaltung geworben. Weiter verbreitet wurden die Lehren namentlich durch seinen Schüler Rabbi Eleasar ben Jehuda aus Worms, gen. Rokeach, der in zahlreichen mystischen Schriften die chassidischen Lehren systematisierte, theoretisch begründete und zugleich popularisierte, ohne den elitären Anspruch seines Lehrers aufrechtzuerhalten. Das urbane Leben der Juden des römisch-deutschen Reiches, umgeben von der Umwelt der Gojim, paßte sich den veränderten Gegebenheiten an. Standen im 10./11. Jh. die verschiedenen städtischen Gruppen im Rahmen einer offenen Verfassung noch relativ unverbunden einer königlichen bzw. bischöflichen Stadtherrschaft gegenüber, so vollzog sich hier seit dem 12.Jh. ein Wandel. Nach dem Vorbild der oberitalienischen Kommunen begannen die städtischen Bürger unter Führung patrizischer Familien ein neues Gemeinschaftsbewußtsein zu entwickeln, mit dem sie sich von herrschaftlichen Bindungen zu befreien und zugleich von adeligen Lebensformen abzugrenzen versuchten. Der nun allenthalben sichtbar werdende Trend zur „Verstädterung“ und zur „Verselbständigung“ der Stadtbewohner brachte neue Abgrenzungen hervor, die eindeutigere Zuordnungen der Menschen innerhalb der Gesellschaftsordnung ermöglichten, aber auch Lösungen aus der Selbstverständlichkeit überkommener Bindungen provozierten. Eine Konsequenz daraus war, daß die Juden nun ihre Stellung im urbanen Umfeld neu definieren mußten, da sie wie die christlichen Bürger am säkularen Urbanisierungsprozeß partizipierten. Dies führte einerseits zu einer normativen Annäherung bis hin zu einer „concivilitas“ gegenüber christ-

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lichen Bürgern wie etwa in Regensburg, wo König Philipp 1207 die Steuerlasten und König Konrad IV. 1251 die Verteidigungslasten der Christen und Juden der Stadt synchronisierten; andererseits kam es aber auch zu einer gewissen Marginalisierung, da Juden dem Schwurverband der christlichen Gemeinde nicht angehören konnten und damit außerhalb der neuen Organisationsstrukturen standen. Die Gefahr bestand um so mehr, als seit dem 11. Jh. von den Bischöfen Burchard von Worms und Ivo von Chartres die patristische Konstruktion der „servitus perpetua iudeorum“ als eine Rechtsfolge der Erbsünde in den Normenkanon des Kirchenrechts aufgenommen wurde, was eine Verrechtlichung der jüdischchristlichen Beziehungen im Sinne einer minderen, abhängigen Rechtsstellung der Juden zur Folge hatte. Wenn diese nicht verdrängt werden wollten, mußten sie ihre gefährdete Position mit Hilfe ihrer jeweiligen Schutzherren stabilisieren. Dies geschah z.B. in Regensburg mit einem 1230 von König Heinrich (VII.) ausgestellten Privileg, das einen Freiheitsbrief Friedrich Barbarossas bestätigte. Die Regensburger Juden sollten danach unbeschränkt mit Gold, Silber und anderen Waren handeln dürfen. Sie sollten nur vor demjenigen Richter zu Recht stehen, den sie selbst gewählt und angenommen hatten. Sie sollten durch einen Zeugenbeweis nur dann überführt werden können, wenn mindestens ein Jude als Zeuge zur Verfügung stand, und sie sollten schließlich diejenigen Güter, die sie seit mindestens zehn Jahren in ihrer Gewalt hatten, endgültig behalten dürfen. Mit diesen recht umfassenden Gewährleistungen zum Schutz ihres Handels, ihrer Position vor Gericht und ihres Vermögensstandes wurde ein effektiver Ausgleich dafür geschaffen, daß die Regensburger Juden an dem verdichteten Organisationsgefüge der Stadt nicht mehr partizipieren konnten.3 Eine Gefahr drohte den im Reich ansässigen Juden des 12./13. Jhs. indes noch von den erstmals 1144 in Norwich verbreiteten Vorwürfen des Ritualmords an christlichen Kindern. Seit 1221 hatten diese Vorwürfe auch im Heiligen Römischen Reich Nachahmung gefunden. 1235 waren an verschiedenen Orten derartige Beschuldigungen aufgetaucht, und besonders in Lauda, Tauberbischofsheim und Fulda kam es zu Ausschreitungen gegen die hier ansässigen Juden. Durch den Fuldaer Fall wurde Kaiser Friedrich II. zum Einschreiten veranlaßt. Auf unerklärliche Weise war am Heiligabend des genannten Jahres das Haus eines Müllers in Fulda niedergebrannt, wobei die fünf Kinder des Müllers umkamen. Die Juden wurden verdächtigt, sie benötigten das Blut dieser Kinder zu Heilzwecken und hätten zur Vernichtung der Spuren das Haus in Brand gesteckt. Die 32 Mitglieder der Gemeinde wurden festgesetzt und noch vor Ende des Prozesses von einer aufgehetzten Menge ermordet. Der vor das Hofgericht des Kaisers gebrachte Prozeß, mit dem die Verantwortung der Juden für alle Ritualmorde bestätigt werden sollte, erbrachte einen Freispruch. Kaiser Friedrich II. ließ aufgrund eines Sachverständigengutachtens im Juli 1236 durch Rechtsspruch der Fürsten feststellen, daß die Juden aufgrund der Lehren des Alten und des Neuen Testaments keinen Durst nach Menschenblut haben könnten. 3 Friedrich Battenberg, Regensburg, die Juden und das Reich der Hohenstaufen um 1200, in: Daxelmüller (Hrsg.) 2001.

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Der Staufer begnügte sich jedoch nicht mit dieser Feststellung, sondern nahm den Freispruch zum Anlaß, seine schutzherrliche Gewalt über die Juden in Auseinandersetzung mit dem Papsttum zu erneuern. Auf dem Augsburger Hoftag vom Juli 1236 erteilte er den Juden des Reiches ein umfassendes Privileg, mit dem er die Geltung eines von Friedrich Barbarossa 1157 den Wormser Juden gegebenen Freiheitsbriefs auf das gesamte Reich ausdehnte. Dabei nahm er die Gelegenheit wahr, in Übernahme älterer Ansätze die Zugehörigkeit der Juden zum kaiserlichen Fiskus zu statuieren, dem sie als Sklaven unterstünden („universi Alemannie servi camere nostri“). In einem im September 1236 an Papst Gregor IX. gerichteten Schreiben stellte er ergänzend klar, daß die Juden im Reich nach gemeinem Recht seiner – und nicht der päpstlichen – Gewalt unmittelbar unterworfen seien („iudeos autem etsi tam in imperio quam in regno nobis communi iure immediate subiaceant“). In einem 1237 der Stadt Wien erteilten Privileg begründete der Kaiser die Kammerknechtschaft der Juden damit, daß diese so von öffentlichen Amtsfunktionen ausgeschlossen werden sollten, weil sie von alters her zur Buße für ihre Verbrechen – gemeint ist der angebliche Gottesmord – zu ewiger Knechtschaft verdammt seien. Damit wurde die im kirchlichen Rechtsbuch des sogenannten Liber Extra von 1234 nach den Vorgaben Burchards und Ivos stereotypisierte Begründung für die „servitus perpetua iudeorum“ übernommen. Dies geschah aber offensichtlich zur Legitimierung der kaiserlichen Schutzgewalt in Auseinandersetzung mit Kirche und Papst. Eine Rechtsminderung war damit nicht beabsichtigt. Abhängigkeit und Kammerzugehörigkeit bedeuteten indes für die Juden des Reiches, daß sie die Gewährung kaiserlichen Schutzes durch eine finanzielle Sonderbelastung erkaufen mußten. Die für das Jahr 1241 überlieferte Steuermatrikel der kaiserlichen Kammer läßt dies deutlich werden: Besteuert wurden hier in erster Linie die königlichen Domanialstädte. Die dort jeweils ansässigen Juden wurden gesondert veranschlagt, und zwar mit Summen, die ihren Bevölkerungsanteil bei weitem überschritten. Daß sie mit insgesamt 16% aller im Bereich der Königs- und Freistädte veranschlagten Steuerleistungen beteiligt wurden, macht deutlich, daß ihre Steuerkraft gegenüber derjenigen der Bürger als recht hoch eingestuft wurde. Die Effektivität des kaiserlichen Schutzes hing ganz von der konkreten politischen Situation ab. Die Vernichtung der Frankfurter Juden in der „Judenschlacht“ von 1241 etwa, die vielleicht eine Reaktion auf die katastrophale Niederlage eines christlichen Ritterheeres gegen die Mongolen war, vielleicht aber auch die geplante Fortsetzung eines Rechtskonflikts der jüdischen mit der christlichen Gemeinde um den Bestand einer Taufe,4 provozierte zwar ein Eingreifen König Konrads IV., doch mußte er schließlich 1246 im Namen seines Vaters Friedrich II. auf die Ahndung der durch die Duldung der Vernichtung der Frankfurter Juden und kaiserlichen Kammerknechte („exterminium iudeorum de Frankenfurt, servorum camere nostre“) verletzten kaiserlichen Schutzrechte verzichten und der Stadt 4 Ernst Karpf, Das Frankfurter Judenpogrom von 1241, in: Backhaus (Hrsg.) 1995, S.57–92, hier S.71ff.

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Verzeihung gewähren. Der Verzicht sollte Frankfurt als Stützpunkt der staufischen Partei absichern.5

Vom Interregnum bis zum Schwarzen Tod Das Ende der Stauferdynastie in der Mitte des 13. Jhs. bedeutete für die Juden des römisch-deutschen Reiches zugleich das Ende der bisherigen Rahmenbedingungen. Es zeigte sich sehr bald, daß die kaiserliche Schutzherrschaft über die Juden, die im allgemeinen einen tragbaren Modus vivendi gebracht hatte, nicht einfach durch eine solche der päpstlichen Kurie oder gar der Territorialfürsten ersetzt werden konnte. Nicht von ungefähr stieß Herzog Bolesłav V. von Großpolen in dieses Herrschaftsvakuum vor, als er mit seinem 1264 verkündeten Statut von Kalisch den Zuzug jüdischer Siedler in sein Land befördern wollte. Doch provozierte er damit den kirchlichen Widerstand, der sich um den päpstlichen Legaten Guido auf der für die Diözese Gnesen 1267 nach Breslau einberufenen Synode formierte. Hier wurde erstmals unter Berufung auf die Beschlüsse des vierten Laterankonzils von 1215 die konsequente Trennung christlicher und jüdischer Lebensbereiche gefordert, etwa dadurch, daß die jüdischen Stadtviertel durch Mauer oder Graben abgetrennt werden sollten („muro vel fossato iudeorum habitacio separetur“). Ähnlichen Bestrebungen der im gleichen Jahr einberufenen Wiener Synode begegnete König Ottokar II., der in Böhmen und Österreich das durch das Ende der Staufer entstandene Machtvakuum ausfüllte, 1268 durch Wiederholung seines 1262 verkündeten umfassenden Privilegs für die ihm unterstehenden Juden, „da diese zu unserer Kammer gehören und in besonderer Weise unserer Verteidigung und unseres Schutzes bedürfen“.6 Durch Freigabe des Zinsfußes für Darlehen sollte hier der Geldhandel erleichtert werden.7 Beide am Rande oder außerhalb der Grenzen des Reiches ausgetragenen „Stellvertreter-Konflikte“ zwischen weltlicher und kirchlicher Gewalt lassen erkennen, daß die noch von Friedrich II. von Hohenstaufen in Anspruch genommene Schutzkompetenz nicht mehr durchsetzbar war. Die Juden des Reiches sahen sich mit neuen Bedingungen konfrontiert, die letztlich aus der vordringenden Ideologie der „servitus perpetua iudeorum“ resultierten. Für die existentiellen Rahmenbedingungen, unter denen die Juden des Reiches seit der zweiten Hälfte des 13. Jhs. lebten, sind vor allem zwei Vorgänge maßgebend geworden: Die weitere Verrechtlichung der Kammerknechtschaft im Sinne des geltenden kanonischen Rechts und die beginnende Territorialisierung der kaiserlichen Schutzrechte. Erstere setzte unter König Rudolf von Habsburg ein, der die ihm zustehenden Schutzrechte im Sinne einer Verfügungsgewalt über die Juden als einer politischen Konkretisierung der „servitus

5 Bernd Schneidmüller, Eine Pfalzstadt in der Krise. Frankfurt am Main im Jahre 1241, in: Backhaus (Hrsg.) 1995, S.15–56, hier S.43. 6 Shlomo Spitzer, Bne Chet. Die österreichischen Juden im Mittelalter. Eine Sozial- und Kulturgeschichte, Wien/Köln/Weimar 1997, S.35. 7 Lohrmann 1990, S.101.

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perpetua“ zu instrumentalisieren beabsichtigte. Schon 1275 hatte der König die sogenannte Sicut-Iudeis-Bulle, die erstmals von Papst Kalixt II. 1120 formuliert und von späteren Päpsten immer wieder neu verkündet worden war, als unmittelbar geltendes Reichsrecht rezipiert. Dies war ein für die weitere Entwicklung wichtiger Schritt, weil damit erstmals die augustinische Lehre vom minderen, aber erhaltenswerten Status der Juden in konkretes kaiserliches Recht umgesetzt wurde. Stand hier noch der Schutzcharakter im Vordergrund („protectionis nostre clypeum indulgemus“), so machte der König bald deutlich, daß er die Juden auch als nutzbare Objekte ansah. Anlaß für ein Eingreifen in diesem Sinne boten zahlreiche nach Palästina auswandernde Juden aus Speyer, Worms, Mainz, Oppenheim und der Wetterau. Unter ihnen war Rabbi Mëir ben Baruch von Rothenburg, die größte talmudische Autorität des 13. Jhs., dessen Auswanderungsversuch freilich mit seiner Gefangennahme in Trient endete. Da beträchtliche Einnahmeverluste für die königliche Kammer zu befürchten waren, schien eine Reaktion geboten. In einem Mandat an die Stadt Mainz von 1286 stellte der König daher klar, daß alle Juden, seine Kammerknechte, ihm mit Leib und Gut zugehörten („universi et singuli utpote camer nostre servi cum personis et rebus suis omnibus specialiter nobis attineant“), soweit sie nicht lehnsweise an Fürsten weitergegeben worden waren. Sofern sich diese Juden ohne Zustimmung ihres Herrn aus dessen Gewalt entfernt hätten, könnten deren Besitzungen eingezogen werden. Damit wurde das Vermögen der Juden als für den König oder den jeweiligen Inhaber der Schutzrechte disponibel angesehen, zumindest für den Fall, daß die Steuerleistungen nicht mehr erbracht wurden. Rudolf folgte damit nur der Auffassung, die kurz zuvor, um 1275, ein Augsburger Minorit im Rechtsbuch des sogenannten Schwabenspiegels niedergelegt und popularisiert hat. Er erklärte die Leibeigenschaft der Juden durch den Verkauf der gefangenen Juden nach der Eroberung Jerusalems: „Dieselben gab der kunig Tytus ze eigen in dez kuniges kamer; und davon suln si sin des riches knechte.“8 Auch nach der in der Summa Theologiae des Thomas von Aquin 1267 verfestigten scholastischen Lehre waren die Juden infolge ihrer eigenen Schuld am Tode Christi den jeweils herrschenden Fürsten zu ewiger Knechtschaft unterworfen. Diese sollten deshalb berechtigt sein, das Gut der Juden an sich zu nehmen, sofern sie ihnen nur das für ihren Lebensunterhalt Notwendige beließen. Alles, was die Juden erwarben, erwarben sie nach Thomas nicht für sich, sondern für ihren jeweiligen Schutzherrn. Neu war diese Lehre nicht; mit der Autorität des 1323 kanonisierten Aquinaten jedoch erreichte sie politische Wirksamkeit. Seither waren einschränkende Maßnahmen der Feudalherren gegenüber den Juden ohne weiteres legitimiert, soweit sie diesen ein Existenzminimum beließen. In diese Tendenz zur Umdeutung der Kammerknechtschaft paßt auch die Einführung des sogenannten Goldenen Opferpfennigs durch Kaiser Ludwig der Bayer 1342, auch wenn dahinter in erster Linie das Bestreben stand, die weitgehend entfremdete Judensteuer auf neuer Grundlage zu reaktivieren. Es war dies eine Kopfsteuer in Höhe von einem Gulden, die jeder über zwölf Jahre alte Jude zu zahlen hatte, soweit er ein Vermögen von mindestens 8

Schwabenspiegel I, 260; dazu: Kisch 21978, S.86.

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20 Gulden besaß. Als Vorbild diente möglicherweise der „fiscus iudaicus“, der in der Antike von den Juden im Römischen Reich zur Erhaltung des Tempels des Juppiter Capitolinus in Rom erbracht werden mußte. Schon 1347 übernahm Kaiser Karl IV. die Abgabe des Opferpfennigs und legte ihn 1348 auch einem Privileg für die Juden des Erzstifts Trier zugrunde. Seither wurde diese Steuer zu einer der wenigen regelmäßigen Einnahmequellen des Kaisers, die keiner weiteren Begründung bedurfte und deren Einziehung dem Kaiser vorerst von niemandem bestritten wurde. Was die Territorialisierung der kaiserlichen Schutzrechte über die Juden anbelangt, so wurde diese schon in dem erwähnten Mandat an die Stadt Mainz von 1286 angesprochen, hier vor allem im Hinblick auf die schon von König Ottokar II. und den österreichischen Herzögen in Anspruch genommenen Rechte. Vor allem mit der Verpfändung von Königsgut an regionale Potentaten gerieten die dort ansässigen Juden häufig unter deren Herrschaft. Dies geschah erstmals ausdrücklich 1251 durch König Konrad IV. hinsichtlich der in Rothenburg lebenden Juden, die zusammen mit dieser königlichen Stadt an Gottfried von Hohenlohe versetzt wurden. Als Kaiser Ludwig der Bayer 1330 die Städte Zürich, Schaffhausen, St. Gallen und Rheinfelden an die Herzöge von Österreich verpfändete, benannte er im Pfandbrief ausdrücklich auch die Judensteuer. Seit dem Ende des 13. Jhs. wurde in Stadtprivilegien häufig auch das Recht zur Aufnahme von Juden verliehen. Das 1312 von Kaiser Heinrich VII. dem Grafen Diether VI. von Katzenelnbogen erteilte Privileg, in Lichtenberg im Odenwald zwölf Juden aufnehmen zu dürfen, die dem Grafen dienen sollten („eidem comiti serviendum“), ist nur eines von zahlreichen Beispielen dieser Art, die für die Zeit Ludwigs des Bayern in großer Anzahl belegt sind. Es ist anzunehmen, daß der Kaiser dieses bald als Judenregal bezeichneten Recht gegen eine feste Ablösesumme verliehen hat, die als Ausgleich für den zu erwartenden Einnahmeausfall dienen sollte. Im Ergebnis aber wurden die kaiserlichen Schutzrechte durch die unkontrollierte Weitergabe an Dritte zu disponiblen Handels- und Nutzobjekten. Aus einer verpflichtenden Personalbeziehung wurde schon bald eine den Inhaber berechtigende Sachbeziehung. Freilich muß dieser Verdinglichungsprozeß in den Zusammenhang eines übergreifenden Desintegrationsprozesses der kaiserlichen Gewalt gestellt werden: Auch andere Herrschaftsrechte gerieten seit dem 13.Jh. in die Hand regionaler Feudalherren. Das fast völlige Fehlen administrativer Kompetenz des Kaisers verstärkte den Prozeß der Dezentralisierung. Die etwa 100 jüdischen Gemeinden des Reiches, die um 1250 existierten und die sich bis um 1300 auf eine Anzahl von 350 vermehrt hatten, waren einer systematischen fiskalischen Erschließung kaum zugänglich, so daß die Judensteuer schon deshalb effektiver von regionalen Dynasten eingenommen werden konnte. Parallel zur Lockerung der kaiserlichen Schutzherrschaft und der Regionalisierung des Judenregals kam es zu einer Intensivierung der städtischen Herrschaft über die Juden, die durch den Prozeß der Emanzipation der Städte von einer unmittelbaren kaiserlichen oder bischöflichen Herrschaft ermöglicht wurde. Die Stadträte nahmen de facto unter dem Gesichtspunkt der Friedenswahrung Schutzfunktionen wahr, auch ohne dazu ausdrücklich vom Stadtherrn legitimiert zu sein. In den von König Wilhelm von Holland unterstützten

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Rheinischen Städtebund von 1254 wurden die Juden ausdrücklich eingeschlossen. Dies machte sich 1255 bemerkbar, als die Konföderation in Anspruch nahm, den Darlehenszins für sie zu regulieren. Ebenso übten die Stadträte auch die Gerichtsbarkeit über die in ihrer Stadt wohnenden Juden aus, was etwa 1347 für die Stadt Straßburg von König Karl IV. bestätigt wurde. Seit dem Ende des 13. Jhs. verdichtete sich in vielen Städten die Rechtsposition der Juden zu einem eigenständig ausgestalteten sogenannten Judenbürgerrecht, das freilich in keinem Fall die Chance zur Partizipation in der Stadtverwaltung mit sich brachte. Immerhin aber ermöglichte dieses Bürgerrecht die Stabilisierung existentieller Bedingungen jenseits der Kammerknechtschaft und des Judenregals. Begünstigt wurde mit ihm die Ausbildung autonomer jüdischer Gemeinden (Kehillot). Die Verfassung einer solchen Kehilla wird in einem Privileg sichtbar, das Bischof Emmerich von Worms 1312 der dortigen Judengemeinde erteilte. Hier wurde bestimmt, daß von den Gemeindemitgliedern ein zwölfköpfiger Judenrat gewählt werden sollte, der innerjüdische Streitigkeiten nach „jutschem reht rihten“ sollte. Von diesen zwölf Parnassim sollte ein vom Wormser Bischof bestätigter „Judenbischof“ ernannt werden. Die Aufgaben derartiger Vorsteher, wie sie auch in anderen Gemeinden nachweisbar sind, waren einige Jahre zuvor schon von Rabbi Mëir ben Baruch aus Rothenburg umschrieben worden: Sie haben Älteste und Kantoren zu wählen, Gabbajim (Verwaltungsbeamte) zu ernennen, Wohltätigkeitskassen zu gründen, für den Bau und die Reparatur der Synagogen zu sorgen sowie Räume für Hochzeitsfeiern und für öffentlich arbeitende Fachleute zu erwerben. Im Falle eines Dissenses sollen sie der Mehrheit folgen.9

Wie sehr die Existenz der Juden des Heiligen Römischen Reiches seit der 2. Hälfte des 13. Jhs. gefährdet war, läßt sich an den häufiger werdenden Verfolgungen und Pogromen ablesen, die jeweils in Zeiten defizitärer königlicher Autorität in Erscheinung traten. Die ersten dieser Gewaltausbrüche im April 1298 wurden durch die Schwäche der Reichsgewalt in den Thronkämpfen zwischen Adolf von Nassau und Albrecht von Habsburg ausgelöst. Sie gingen von Röttingen an der Tauber aus, wo die hier ansässigen Juden des Hostienfrevels beschuldigt wurden. Ein Einwohner der Stadt namens Rintfleisch verkündete nach Bekanntwerden des Vorwurfs der versammelten Menschenmenge, er selbst sei von Gott dazu ausersehen, diese Schändung zu rächen und die schuldigen Juden vom Erdboden zu ver tilgen. Es kam zu Massakern, denen sämtliche 21 Röttinger Juden zum Opfer fielen. Danach zogen die Rintfleisch-Anhänger in einem mehrmonatigen Raubzug durch fast alle Städte Frankens und Bayerns, in denen Judengemeinden existierten. Aus den jüdischen Memorbüchern läßt sich ermitteln, daß etwa 5000 Juden ermordet wurden, allein in Würzburg 941, in Nürnberg 715 und in Rothenburg 470. Der Vorwurf der Hostienschändung, der erst kurz vorher als Wanderlegende von Paris aus hierher gekommen war, wurde meist erst nachträglich zur Rechtfertigung der „Judenschlachten“, die in der Regel von den Bürgern selbst in die Wege geleitet worden waren, erhoben. Das Neuartige der Rintfleisch-Pogrome bestand 9

Zitiert nach Battenberg 1990, Bd. 1, S.116.

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darin, daß erstmals für ein einem einzigen Juden angelastetes Verbrechen alle Juden des Landes verantwortlich gemacht wurden. Ähnliche Ausschreitungen wiederholten sich in den Jahren 1336 bis 1338. In dieser Zeit organisierten sich um Arnold von Uissigheim, einen verarmten Adeligen, der sich König Armleder nennen ließ, unzufriedene Bauernscharen als „Judenschläger“. Die mit Lanzen, Äxten und Heugabeln ausgerüsteten Mordhaufen durchzogen wiederum Franken, wüteten außerdem in Schwaben, in Österreich und bis in die Steiermark. Ein anderer Bauernhaufen unter Führung des elsässischen Gastwirts Johann Zimberli zog mordend und plündernd durch das Elsaß und durch den Rheingau. Im bayerischen Deggendorf war sogar der Stadtrat an der Vernichtung der jüdischen Gemeinde beteiligt. Hier wie auch andernorts bot der Vorwurf des Hostienfrevels den willkommenen Anlaß, die Juden loszuwerden, oder diente dazu, Pogrome im nachhinein zu rechtfertigen. All diese Ausschreitungen aber waren nur ein Vorspiel zu dem, was sich in der Mitte des 14. Jhs. im Zusammenhang mit der Ausbreitung des Schwarzen Todes ereignete. Innerhalb von drei Jahren wurde über ein Drittel der Bevölkerung Europas Opfer dieser Seuche. Da niemand sich die Ursache des Sterbens anders erklären konnte, kam es zu dem Gerücht, die Juden hätten die Brunnen vergiftet und dadurch die Seuche verursacht. Zum ersten Male tauchten derartige Vorwürfe in dem – noch zum Reich zählenden – Herzogtum Savoyen auf. Wo sie bekannt wurden und Verbreitung fanden, kam es sogleich zu Ausschreitungen gegen die Juden. Die Einsicht, daß die Verfolgung nicht nur den vermeintlichen Feinden Christi, die sich angeblich zur Vernichtung der Christenheit mit dem Teufel verbunden hatten, sondern auch Darlehensgläubigern galt, deren man sich so entledigen konnte, scheint das latente Gewaltpotential der Bevölkerung überhaupt erst aktiviert zu haben. Vom Südwesten des Reiches her nahmen die Verfolgungen ihren Ausgang. Seit November 1348 kam es in den Städten Solothurn, Zofingen und Bern zu blutigen Pogromen. Noch im gleichen Monat wurden Stuttgart, Burgau und Landsberg am Lech, kurz darauf schließlich die Judengemeinden fast aller süddeutschen und elsässischen Königsstädte heimgesucht, unter ihnen Kaufbeuren, Memmingen, Augsburg, Nördlingen, Lindau, Reutlingen, Esslingen, Kolmar, Freiburg, Konstanz, Speyer, Ulm, Überlingen, Straßburg, Hagenau und viele andere. Zuletzt, nach der Zerstörung traditionsreicher Gemeinden wie Frankfurt am Main, Friedberg, Mainz, Köln und Trier, wurden auch die jüdischen Gemeinden in Norddeutschland erfaßt, so besonders Halle, Dortmund, Lüneburg, Minden, Münster in Westfalen, Rostock und Stralsund. Ende 1350 hatten nahezu 100 Judengemeinden aufgehört zu existieren. Die meisten Juden waren erschlagen oder auf das Land vertrieben worden. Der neu gewählte und um die Befestigung seiner Herrschaft bemühte König Karl IV. von Luxemburg verzichtete auf Interventionen zugunsten seiner Kammerknechte, da er die Städte als Verbündete im Thronkampf benötigte. Einen Ansehensverlust mußte er nicht befürchten, da er den beteiligten Stadträten die „Judenschlachten“ durch Gnadenbriefe großmütig verzieh und damit eine äußere Distanzierung von den Ausschreitungen demonstrierte, von denen er im übrigen selbst profitiert hatte. Die Folge der Massaker von 1298, 1336/38 und 1348/49 war, daß es Mitte des 14. Jhs.

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keine einzige größere jüdische Gemeinde mehr in den deutschen Städten gab. Diese Ereignisse blieben zwar insofern Episode, als sich recht bald wieder neue Gemeinden zu konstituieren begannen, sie beendeten jedoch eine Phase in der Geschichte der Juden des römisch-deutschen Reiches, die einerseits eine Systematisierung und Verrechtlichung der Schutzbeziehungen zum Kaiser und anderen Herrschaftsträgern gebracht hatte und die andererseits durch das städtische Judenbürgerrecht und die Befestigung der Gemeindeautonomie zu einer Stabilisierung jüdischer Existenz geführt hatte. Vielleicht aber war gerade diese in der christlichen Umwelt wahrgenommene Besserstellung, die den von der Kirche eingeforderten Status der „perpetua servitus iudeorum“ verdeckte, die eigentliche Ursache dafür, daß in Krisenzeiten alte oder neu erfundene Stereotype gegen Juden aktiviert wurden und sich in gewaltsamen Ausschreitungen niederschlugen.

Von der Mitte des 14. bis zum Ende des 15.Jahrhunderts Als sich der böhmische und römische König Karl IV. von Luxemburg Ende der vierziger Jahre des 14. Jhs. gegen seine Widersacher Ludwig den Bayern und Günther von Schwarzburg durchgesetzt hatte, hatte sich die Situation im Heiligen Römischen Reich grundlegend geändert. Das auf dynastischen Beziehungen beruhende Herrschaftsgeflecht der Wittelsbacher war zerbröckelt, und Karl konnte mit Unterstützung des Papsttums ein neues Machtgefüge aufbauen. Dieses sollte sich, als es ein knappes Jahrhundert später von den Habsburgern übernommen wurde, als dauerhaft und leistungsfähig erweisen. Es umspannte ein durch regionale Dynasten beherrschtes, aber doch von einer zentralen Ordnungsmacht abhängiges Gebiet, in dem die Königsmacht in unterschiedlicher Intensität wirksam werden konnte. Königsnahen Landschaften standen königsferne gegenüber, in denen der römisch-deutsche König allenfalls als Legitimationspotential eine Rolle spielte. Juden siedelten vor 1350 vornehmlich in königsnahen Landschaften im Südwesten und in der Mitte des Reiches, überhaupt überall dort, wo sich königliche Herrschaft als sanktionsfähig erwies oder wo – wie in den habsburgischen Herzogtümern – ein königgleiches Geschlecht Schutzfunktionen gegenüber Juden energisch wahrzunehmen in der Lage war. Die Verfolgungen der Pestzeit hatten allenthalben im Reich die bisherige urbane Siedlungskontinuität unterbrochen. Lediglich im Südwesten des Reiches, im Machtbereich Herzog Albrechts II. und seines Nachfolgers Rudolf IV. von Österreich, aber auch in den von Karl IV. selbst beherrschten Ländern der Krone Böhmens, wo es nur in begrenztem Umfang zu Verfolgungen gekommen war, ging die Siedlung kontinuierlich weiter. Allein für 58 Gemeinden ist hier eine Kontinuität belegt. Im allgemeinen aber wurden schon wenige Jahre nach den Pogromen neue Gemeinden an den alten Siedlungsorten gegründet. Vielfach, wie in Augsburg, Donauwörth, Nürnberg, Passau und Rothenburg, konnten die Neuankömmlinge ihre alten Wohnplätze nicht mehr einnehmen, da man sie ihrer Synagogen und Häuser beraubt hatte. Meist jedoch, wie etwa in Breslau, Brünn, Eger, Erfurt, Graz, Halle, Heilbronn, Hildesheim, Koblenz, Köln, Konstanz, Magdeburg, München und Prag, konnten die

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ehemaligen Judenviertel wieder in Besitz genommen werden. Nur selten kam es im Verlaufe des 15. Jhs. zu einer ghettoartigen Abschließung, wie sie in Frankfurt am Main 1462 durch eine Verlegung des Judenviertels an die östliche Stadtmauer zustande kam. Allerdings trat jetzt allenthalben eine weitere Streuung der – immer noch überwiegend urbanen – Ansiedlungen ein. Für die Zeit von 1350 bis zum beginnenden 16. Jh. konnten über 1000 Orte identifiziert werden, an denen Juden – innerhalb oder außerhalb einer Gemeinde – ansässig wurden. In nahezu der Hälfte dieser Orte siedelten vor 1350 keine Juden. Die ersten nach den Pogromen neu entstandenen jüdischen Gemeinden sind 1349 in Heidelberg und Nürnberg anzutreffen, 1350 in Breslau, Nordhausen und Villach, 1351 in Braunschweig, Koblenz und Wittlich, 1352 in Halle, 1353 in Worms, 1354 in Berlin, Bingen, Eltville, Erfurt, Landau/Pfalz, München, Naumburg, Speyer, Trier und Ulm und schließlich 1355 in Augsburg. In den sechziger und siebziger Jahren des 14. Jhs. kam es zu einem ausgesprochenen Siedlungsboom, der seit den achtziger Jahren wieder zurückging. Die Größe der neuen jüdischen Wohnplätze und Gemeinden war sehr unterschiedlich. Legt man den als Großfamilien mit Dienstpersonal verstandenen Haushalten einen Koeffizienten von acht zugrunde, so erreichten einzig die Judengemeinden in Wien, Regensburg und Prag im Laufe des 15. Jhs. Mitgliederzahlen von 600 bis 900. Mit mehr als 300 Mitgliedern sind die Gemeinden in Augsburg, Breslau, Erfurt, Nürnberg, Rothenburg/Tauber, Wiener Neustadt und vielleicht auch Oppenheim vertreten. Zwischen 150 und 300 Personen zählten die Gemeinden in Bamberg, Braunschweig, Eger, Esslingen, Frankfurt am Main, Graz, Hildesheim, Köln, Konstanz, Landshut, Magdeburg, München, Worms und Würzburg. Mehr als drei Viertel aller jüdischen Wohnplätze jedoch waren Klein- und Kleinstgemeinden mit unter zehn, überwiegend sogar lediglich ein bis zwei Familien. Um 1400 lag die Gesamtzahl der jüdischen Bevölkerung des Reiches bei vielleicht 7000 bis 8000 Haushalten, also vermutlich über 50 000 Personen. Sie hatte damit allenfalls die Hälfte des Niveaus vor den Pogromen erreicht. Ein Teil des demographischen Aderlasses läßt sich auch mit – zahlenmäßig kaum faßbaren – Auswanderungen nach Italien, in den Balkan und nach Polen-Litauen erklären. Das 1264 von Herzog Bolesław V. erlassene und 1334 von König Kasimir III. erneuerte Statut von Kalisch hat gewiß eine große Anzahl von jüdischen Siedlern angezogen, die in den Städten des Reiches keine Bleibe mehr fanden. Trotz der an den Zahlen ablesbaren Stabilisierung jüdischer Existenz in der zweiten Hälfte des 14. Jhs. blieb die durch die Pogrome ausgelöste Verunsicherung bestehen und fand sogar ihren rechtlichen Niederschlag. Zwar betrieben einzelne, an einer Umsetzung des neu erworbenen Judenregals interessierte Territorialfürsten eine mehr oder weniger systematische Ansiedlungspolitik, indem sie etwa – wie der Kurfürst von Mainz – den günstigen Rechtsstatus der städtischen Judenbürgerschaft generalisierten. Auch einzelne Städte wie Frankfurt am Main und Worms ließen ihre neu zuziehenden Juden durch Vereidigung auf ein Sonderstatut – hier die sogenannte Stättigkeit – zu. Im allgemeinen jedoch mußten sich die Juden ihre Wiederzulassung durch Erwerb eines Schutzbriefs erkaufen, der ihnen ein zeitlich limitiertes Wohnrecht unter Beschränkung auf wenige Gewerbezweige gewährte. Die Schutzrechte ihrerseits vervielfältigten sich, und nicht selten gab es für die Juden einer

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einzigen Stadt eine größere Anzahl von Herren aus dem Patriziat oder dem Niederadel, die jeweils in unterschiedlichem Maße Bedingungen für die Schutzgewährung festlegten. Charakteristische Beschränkungen galten dem Darlehens- und Pfandleihgeschäft, dem wichtigsten beruflichen Betätigungsfeld, das den Juden nach den Pogromen noch verblieben war. Neben dem nach Ausweis der Schutzbriefe dominierenden Geldhandel betätigten sich die Juden vor allem in „Dienstleistungsberufen“ innerhalb ihrer eigenen Gemeinde. Sie waren Rabbiner und Gelehrte, Vorsänger, Schulklopfer, Synagogendiener und Schreiber, Schächter und Bäcker. In größeren Gemeinden kamen einige Spezialberufe hinzu wie Badewärter, Totengräber, Gemeindeköche, Wasserträger und Botenläufer. In den durch Schutzbriefe privilegierten Haushalten der Geldleiher wurden zumeist Kinderhauslehrer, Knechte und Mägde beschäftigt, die für die Sozialisation der Nachkommenschaft ebenso wie für logistische und organisatorische Dienste innerhalb des Geschäfts zuständig waren. Gemeinde- wie Haushaltsbedienstete zusammen bildeten als „versteckte“ jüdische Bevölkerung dieser Zeit vielleicht die Hälfte der überlieferten Seelenzahl der spätmittelalterlichen Juden im Reich. Hinzu kam die Berufsgruppe der Ärzte, Tierärzte, Apotheker und Hebammen. Auch der Warenhandel, besonders der Wein-, Vieh- und Pferdehandel sowie der Handel mit Gebrauchtwaren, mit Luxusgütern und Mobiliar, ist gut bezeugt. Eher vereinzelt sind gewerbliche Betätigungen nachweisbar, da die christlichen Zünfte und Gilden, denen Juden nicht angehören konnten, hier eine exklusive Zuständigkeit beanspruchten. Doch gibt es Quellennachweise zu jüdischen Schustern und Sattlern, zu Webern und Schneidern, zu Goldschmieden und Schwertfegern, auch zu Malern, Spielkarten- und Würfelmachern, Brauern, Branntweinbrennern, Drechslern, Maurern und Glasern. Für das Bild der Juden in der christlichen Gesellschaft waren indes die Geld- und Pfandleiher entscheidend. Ebenso wie es in bezug auf die demographische, die rechtliche und wirtschaftliche Situation um 1350 zu schweren Einbrüchen kam, muß auch ein Niedergang der früheren rabbinischen Kultur konstatiert werden. Um die traditionellen Zentren der Gelehrsamkeit am Mittelrhein (mit Ausnahme vielleicht von Mainz) und in Regensburg wurde es still, während es lediglich im Südosten des Reiches zu einer gewissen Nachblüte kam. Die „österreichischen Weisen“ („Chachme Österreich“) nahmen jetzt einen hervorragenden Platz ein. Der zunächst in Worms, Erfurt und Frankfurt am Main wirkende Rabbi Mëir ben Baruch Segal (gest. um 1406) war der erste bedeutende Gelehrte dieser Zeit, dessen Wirken bezeichnenderweise durch seinen Schwiegervater, den einflußreichen Geldverleiher David Steuss in Wien, ermöglicht wurde. Noch bedeutender wurde der gleichzeitig mit ihm in Wien lehrende Rabbi Abraham Klausner (gest. 1408). Er verfasste eine Sammlung des lokalen religiösen Brauchtums (Sefer Minhagim Maharak), die erste ihrer Art in Österreich überhaupt. Als Vertreter der Chasside Aschkenas wurde Rabbi Schalom ben Isaak aus Wiener Neustadt (gest. um 1415) bekannt, in dessen Responsen sich das Alltagsleben der Neustädter Juden spiegelt. Schließlich muß noch der um 1460 gestorbene Rabbi Israel Isserlein, Sohn des Rabbi Petachja aus Marburg (Maribor), der sich nach der Wiener Gesera 1421 in seinem slowenischen Geburtsort, schließlich aber in Wiener Neustadt niederließ. Er war Verfasser zweier Responsensammlungen, von Lehrbüchern zum Kaschrut und zur Ehe-

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scheidung, von Kommentaren und Moralpredigten. Mit Rabbi Schalom teilte er angesichts seiner mystischen Neigungen die Verehrung für den Sefer Chassidim. Im allgemeinen bedeutete jedoch die Wiener Gesera 1420/21, der auch Rabbi Aharon Blümlein aus Krems zum Opfer fiel, ein Ende der jüdischen Gelehrsamkeit in Österreich. Als Schüler des erwähnten Rabbi Mëir wurde Rabbi Hillel ben Salomo bekannt, der als Parnas in Erfurt und als Judenmeister in Thüringen wirkte. Wesentlich bedeutender wurde ein anderer Schüler, Rabbi Jakob ben Mose Molin, gen. Maharil (gest. 1427), der seit 1395 als Rabbiner in Mainz tätig war. Er wurde aufgrund seiner Responsen und Sendschreiben – etwa zu den hussitischen Wirren von 1421 – zur anerkannten Autorität zahlreicher jüdischer Gemeinden innerhalb und außerhalb des Reiches. Als Schtadlan der jüdischen Gemeinden genoß er auch großes Ansehen bei der christlichen Obrigkeit und wurde deshalb von König Sigismund 1426 zu einem der drei Rabbiner des Reichs ernannt. Die von Maharil verkündeten Responsen und Minhagim, meist auf älteren Vorlagen der Zeit vor 1350 fußend, bildeten die Grundlage für die Kodifikationen des 15. und 16. Jhs. Schließlich kann noch auf den um 1420 geborenen Rabbi Mose Minz in Mainz hingewiesen werden, der sich vor allem durch eine Aktivierung älterer Takkanot und eine rege Korrespondenz um eine Erneuerung der Gemeindeverfassungen und des Rabbinats bemühte. Insgesamt bleibt hier – wie hinsichtlich der österreichischen Weisen – der Eindruck des Epigonenhaften: Man vertraute weitgehend den älteren Autoritäten, die man allenfalls zusammenfassen und kodifizieren, weniger jedoch reformieren wollte. Seit dem 15. Jh. begannen die römisch-deutschen Kaiser und Könige damit, sich der Juden als einer königsnahen Gruppe zu versichern und sie nachhaltiger als bisher für eigene politische und fiskalische Zwecke zu instrumentalisieren. Hatte die repressive Finanzpolitik der Könige Karl IV. und Wenzel im 14. Jh. (s. u.) zu einer Minimalisierung des verfügbaren Steuerkapitals der Juden geführt, so standen jetzt Maßnahmen im Vordergrund, die Folgen der Territorialisierung des Judenregals rückgängig zu machen. In diesem Zusammenhang sind die Bemühungen König Ruprechts von der Pfalz zu sehen, einen ihm selbst unterstehenden, überterritorialen Verband der Juden des Reiches unter einem Hochmeister zustande zu bringen. Als solchen setzte er – ganz im Rahmen seiner Maßnahmen zur Verbesserung der Bürokratie und zum Ausgleich seiner defizitären Machtgrundlagen – 1407 gegen den Widerstand vieler Judengemeinden den Rothenburger Rabbiner Israel ben Isaak aus Nürnberg ein. Seine rabbinische Kompetenz wurde reichsweit legitimiert und durch das Recht zur Eintreibung der königlichen Steuern ergänzt. Die von ihm verkündeten Bannsprüche sollten durch die Reichsacht des Königs sanktioniert werden. Zur Durchsetzung dieses Systems fehlten Ruprecht indes die ausreichenden Machtmittel. Sein Nachfolger Sigismund versuchte, die Judengemeinden, die er mit Hilfe seines umtriebigen Erbkämmerers Konrad von Weinsberg systematischer besteuerte, in ein festes System einzubinden. Eine auf dem Konstanzer Konzil im Juni 1415 erlassene allgemeine Judenordnung gab ihm Gelegenheit, die ihm zustehende Schutzkompetenz wieder stärker zur Geltung zu bringen. Danach erhielten die Juden die Freiheit, daß niemand gegen ihren Willen von ihnen außer der jährlichen Judensteuer eine Steuer verlangen oder eine Schuldentilgung durchführen

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durfte, Klagen gegen sie nur vor den zuständigen städtischen Gerichten und nicht vor dem königlichen Hofgericht oder einem Landgericht geltend gemacht werden durften, sie keinen höheren Zoll als Christen zahlen mußten, gefangene Juden wegen ihrer Zugehörigkeit zur königlichen Kammer nicht gepfändet werden durften, es hinsichtlich der Schutzgelder sowie der Darlehenszinsen bei den alten Gewohnheiten bleiben sollte, die zum Schaden der königlichen Kammer vertriebenen Juden wieder aufgenommen werden solten, unrechtmäßige Verfügungen über Leib und Gut der Juden ungültig sein sollten, Zwangstaufen jüdischer Kinder nicht erlaubt sein und ein Gerichtskollegium zur Wahrung ihrer Freiheiten eingesetzt werden sollte. Die Funktionen eines Steuereinnehmers wurden nicht benannt, da sie dem Königshof vorbehalten blieben. Die Funktionen des Gerichtskollegiums übernahmen die Hochmeister, die, obwohl sie nicht mehr vom König autoritativ mit herrschaftlichen Machtbefugnissen versehen wurden, dennoch kraft eines königlichen Einsetzungsdekrets legitimiert wurden. Als solche bestallte Sigismund 1426 Nathan von Eger, Jochanan Treves von Cambrai und den genannten Maharil, die teilweise schon vorher reichsweit tätig gewesen waren. Kaiser Friedrich III. setzte später mit dem aus Völkermarkt stammenden Levi von Nürnberg ebenfalls einen Rabbiner zum Hochmeister der Juden im Reich ein, ohne sich damit aber durchsetzen zu können. Obwohl dieser auch von Maximilian I. übernommen und mit gerichtlichen Befugnissen bei die königliche Kammer betreffenden Gerichtssachen versehen wurde, blieb sein Einfluß gering. Für die Zukunft prägender wurden die Versuche Friedrichs III. von Habsburg, die überkommene Kammerknechtschaft zur Grundlage der Konstruktion einer reichsunmittelbaren Beziehung der Juden auszubauen. Diese Versuche sind in den Gesamtrahmen der Verfassungsentwicklung des Reiches zu stellen, die sich seit den siebziger Jahren des 15. Jhs. von einem offenen zu einem normativ festgefügten System verdichtete. Stärker als bisher mußte die Stellung der Juden im Reichsganzen definiert werden. Um seinen kaiserlichen Schutzpflichten nachkommen zu können, versuchte Friedrich III. deshalb, dem Prozeß der Territorialisierung entgegenzuwirken und die Juden wieder stärker an den Reichshof zu binden. In einem 1470 der gemeinen Judenschaft des Reiches verkündeten Privileg wurde festgelegt, daß kein Jude daran gehindert werden sollte, sich in irgendeiner Sache an den Kaiser selbst zu wenden. Als 1476 die Reichsstadt Regensburg aufgrund eines Ritualmordvorwurfs die dort ansässigen Juden zu vertreiben beabsichtigte, konnte dies der Habsburger verhindern, nachdem sich die betroffenen Juden an ihn gewandt hatten. Freilich mußten sie die Intervention des Kaisers mit einem Betrag von 10 000 fl. bezahlen. Wenn auch das beharrliche Insistieren auf den unmittelbaren Bezug der Juden zum Kaiser auf Dauer den Territorialisierungsprozeß nicht verhindern konnte, so ist doch auf diese Weise eine Beziehung zum Reichsoberhaupt und zu den Reichsgerichten aufgebaut worden, die in vielen Fällen zugunsten der Juden wirksam wurde. Kennzeichnend für die Lage der Juden im spätmittelalterlichen Reich war die extensive und tendenziell zunehmende Besteuerung, die als Konsequenz des im 13. Jh. normierten Status minderen Rechts gerechtfertigt wurde. Der von Kaiser Ludwig dem Bayern eingeführte „Goldene Opferpfennig“, der unter König Ruprecht einen Betrag von 16 000 fl. er-

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brachte, wurde unter König Sigismund von Erbkämmerer Konrad von Weinsberg zu einem beträchtlichen Einnahmeposten der Kammer ausgebaut. Ohne nachhaltigen Erfolg wurde unter König Maximilian I. 1495 mit dem „Gemeinen Pfennig“, der sich nach dem Vermögen richtete, eine Flexibilisierung versucht. Der Weinsberger projektierte eine Aktivierung der alten Judensteuer als regelmäßige Einnahmequelle zur Finanzierung der Hofausgaben, scheiterte damit aber vollkommen. Ertragreicher war das seit König Sigismund forcierte Projekt, anlaßbezogene Sondersteuern auszuschreiben. So setzte er in den Jahren 1414 und 1415 eine Steuer zur Finanzierung des Konstanzer Konzils fest, die er den in den Reichsstädten wohnhaften Juden abverlangte. In Einzelverhandlungen wurde die Steuerhöhe festgelegt, allein für die Kölner Judengemeinde auf eine Summe von 84000 fl. Die erwähnte Judenordnung von 1415 bestimmte, daß alle Juden den Wert von 10% ihrer beweglichen Habe, ausgenommen nur Kleidung und Haushaltsgeräte, an die königliche Kammer zu entrichten hätten. Der mit der Einziehung beauftragte Jude Lew Colner konnte am Ende eine Summe von 10 000 fl. zusammenbringen. Von späteren Kaisern und Fürsten immer wieder nachgeahmt wurde die von Sigismund erstmals zu seiner Kaiserkrönung eingeforderte sogenannte Krönungssteuer. Sie basierte auf der Legende, der König sei an sich berechtigt, bei seiner Krönung allen seinen Juden Gut und Leben zu nehmen, sofern er eine gewisse Anzahl unter ihnen zum ewigen Gedächtnis und zum Zeugnis der Wahrheit der Heilsgeschichte erhalte – nichts anderes als eine popularisierte Form der alten Lehre von der ewigen Knechtschaft der Juden. Insgesamt betrugen die Einnahmen aus der Krönungssteuer von 1433 mit allen Nebeneinnahmen der Kammer etwa 50000 fl. Waren die erwähnten Reichssteuern, zu denen noch die Schutzgelder und territoriale bzw. städtische Sondersteuern traten, bis zu einem gewissen Grade kalkulierbar, so stellten die unter König Wenzel einsetzenden sogenannten Judenschuldentilgungen eine existentielle Bedrohung dar. Da der König sich kraft seiner Schutzgewalt als stiller Teilhaber der Schuldforderungen jüdischer Kreditgeber ansah, wollte er im Falle ihrer Aufhebung oder Kürzung von den betroffenen Schuldnern eine angemessene Entschädigung erhalten. Dies wurde schon unter Karl IV. vereinzelt praktiziert, aber erst von seinem Sohn Wenzel in großem Stil als politisches Mittel eingesetzt. Es ging besonders um die Forderungen jüdischer Gläubiger an städtische Schuldner, die inzwischen ein beträchtliches Maß angenommen hatten. Die Reichsstädte, die sich mit Krediten der bei ihnen wohnenden Juden den wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Ende der Pestzeit finanziert hatten, waren daran interessiert, sich von ihrer Belastung zu befreien. 1385 kam ein diesbezüglicher Vertrag zwischen dem König und 37 Reichsstädten zustande. Danach erteilte dieser gegen eine an die königliche Kammer zu zahlende Pauschale von 40000 fl. der Reduktion der Ansprüche jüdischer Gläubiger seine Zustimmung. Dies war nur ein Bruchteil derjenigen Summen, mit denen die Stadträte ihrerseits rechnen konnten. Die Stadt Nürnberg nahm allein einen Betrag von 60000 fl. ein. Leidtragende der Aktion waren indes außer den Juden auch die Fürsten, da zu einem großen Teil solche Juden betroffen waren, die sie als Inhaber des Judenregals unter ihrem Schutz hatten. Als die im Rheinischen Städtebund zusammengeschlossenen Städte 1388 bei Pfeddersheim eine militärische Niederlage gegen die Fürsten hinnehmen mußten,

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die den König veranlaßte, jetzt zu deren Partei überzuwechseln, war die Gelegenheit für eine neue Schuldentilgung unter verändertem Vorzeichen da. Auf einem Nürnberger Fürstentag kam es im Jahr 1390 zu einem Vertrag zwischen König Wenzel und den Reichsständen über eine erneute „Judenschuldentilgung“. Die Juden der Reichsstädte hatten danach unverzüglich ihre Schuldbriefe herauszugeben. Die Gelder, die als Anteile der begünstigten Fürsten in die königliche Kammer flossen, waren beträchtlich. Allein vom Herzog von Bayern, dem Würzburger Bischof und den Grafen von Oettingen erhielt der König einen Betrag von 45 000 fl. 1411 ergänzte König Wenzel die Aktionen durch eine Kassation aller Schuldforderungen seiner Juden in Prag. Für die Juden selbst war die zweite „Schuldentilgung“ wesentlich verhängnisvoller als die erste. Sie umfaßte nicht nur ein wesentlich größeres Gebiet, rheinabwärts bis Köln und im Westen bis in das Elsaß hinein, sondern auch den über die Stadtgrenzen hinausgehenden „Schutzbereich“ der Fürsten, so daß fast alle Juden des südlichen und südwestdeutschen Raumes einen großen Teil ihres Vermögenskapitals einbüßten. Sie war auch in ihrer Dimension umfassender, da im Gegensatz zu der ersten „Schuldentilgung“ nicht nur die Zinsen, sondern auch die jeweilige Hauptsumme für erloschen erklärt wurde. Die Vorteile der extensiven Sondersteuern sowie der besprochenen „Schuldentilgungen“ für die königliche Kammer waren gleichwohl begrenzt. Auf Jahre hinaus konnten mangels ausreichender Steuerkraft keine regelmäßigen Steuern mehr von den Juden des Reiches erhoben werden. Für diese selbst aber hatten die Schuldenkassationen einen langfristigen Mentalitätswandel zur Folge: Sie mußten erkennen, daß selbst verbriefe Schuldforderungen wenig Wert hatten, wenn sie von den zuständigen Schutzherren nicht sanktioniert wurden. Damit hatten sie einen weiteren Risikofaktor in die Zinsen einzukalkulieren und mußten außerdem auf eine Absicherung der Kreditsummen durch Sachpfänder bestehen. Sie mußten weiter darauf achten, nicht durch einige wenige große Darlehen die Begehrlichkeit der Könige und Landesherren unnötig zu wecken, sondern lieber in zahlreichen kleineren Kreditsummen kurzfristig Hilfen anbieten, die für sich genommen besser abzusichern waren. So trugen die Kassationen von 1385 und 1390 entscheidend dazu bei, daß sich das Kreditgeschäft der Juden im 15. Jh. fast ganz auf das kleine, alltägliche Pfandleihgeschäft reduzierte, das in der engen sozialen Gemeinschaft der Kleinstädte, in der jeder Schuldner den anderen kannte und ein System von sozialen Kontrollen für den notwendigen Rückzahlungsdruck sorgte, eher zu realisieren war. An die Stelle der Großfinanziers des 14. Jhs. traten nun im allgemeinen Konsortien, die das Risiko auf viele Schultern verteilten. Die seit dem späten 14. Jh. prekäre Situation der Juden, deren Kapital- und Steuerkraft auf ein Minimum reduziert worden war, gleichzeitig aber auch die zunehmende Prosperität der Städte, die sich vom Aderlaß des Schwarzen Todes erholt hatten, ließ zunehmend das Gefühl aufkommen, daß die Juden entbehrlich seien. Bestärkt sah man sich durch die Agitation der Bettelordensprediger in den Städten, auch wenn diese im Gegensatz zu Ritualmord- und Hostienfrevelbeschuldigungen meist nicht unmittelbar zu Vertreibungen führten. So wurden nach und nach im 15.Jh. bis zum Beginn des 16. Jhs. die Juden aus fast allen bedeutenderen Städten des Reiches vertrieben. Den Anfang machte schon 1397 die Freie

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Stadt Basel. Zu umfangreichen Vertreibungen kam es danach vor allem 1424/25 in Köln, Freiburg und anderen vorderösterreichischen Städten, 1439 in Augsburg, 1455 in Breslau, 1473 in Mainz und 1499 in Ulm. Die letzte größere Judenausweisung dieser Zeit fand 1519 in Regensburg statt. Hier hatten Einsprüche Kaiser Maximilians I. die Austreibung zunächst verhindert. Erst die ab 1516 wirksam werdenden Predigten des Dompredigers Balthasar Hubmaier führten zu einem Druck, der sich nach dem Tode des Kaisers Bahn brach. Die Synagoge der zumeist nach Italien ausgewanderten Regensburger Juden wurde unverzüglich niedergerissen und durch eine Wallfahrtskirche ersetzt. Seither gab es innerhalb des Reichs nördlich der Alpen bedeutendere städtische Judengemeinden nur noch in Frankfurt a. M., Friedberg, Prag, Wien und Worms. Immerhin konnten sich in vielen Fällen die vertriebenen Juden in Vororten oder im Umland niederlassen und von dort aus wenigstens am Marktverkehr teilnehmen. Das Beispiel der Städte machte bald auch in den Territorien Schule. Unter ihnen machten 1442/50 die bayerischen Herzogtümer den Anfang. In den siebziger Jahren folgten die Bistümer Mainz, Bamberg und Passau, bis schließlich 1490 mit den Erzstiften Magdeburg und Salzburg, den Herzogtümern Steiermark, Kärnten und Krain sowie Mecklenburg und der Markgrafschaft Brandenburg weite Teile des Reiches erfaßt waren. Ein Vertreibungsversuch des Mainzer Kurfürsten Albrecht von Brandenburg, der hierfür eine Koalition von hessischen und pfälzischen Herrschaften zustande bringen wollte, scheiterte am Widerstand Maximilians I., der einen Ausfall seiner Judensteuern befürchtete. Obwohl die meisten Austreibungen selten so rigoros durchgeführt wurden, daß alle Juden das Land verlassen mußten, ist doch davon auszugehen, daß ein beträchtlicher Teil der Juden des römisch-deutschen Reiches, soweit sie nicht in den Nischen reichsritterschaftlicher Herrschaften oder aufstrebender Kleinstädte Unterschlupf fanden, auswandern mußte. Die Abwanderung eines weiteren Teils der Juden in Dörfer und Kleinstädte brachte den schon lange vorher angelaufenen Prozeß der De-Urbanisierung der römisch-deutschen Judenschaft zum Abschluß. Zu Beginn des 16. Jhs. war das vormals vorwiegend urbane Judentum zu einem marginalen Faktor geworden.

Vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 17.Jahrhunderts Spätestens seit dem beginnenden 16.Jh. ist die Geschichte der Juden Mitteleuropas nicht mehr eine solche des Reiches. Die Konzentration der Siedlung auf kleine Herrschaften und Dörfer brachte zugleich eine verfassungsrechtliche Umorientierung von den autonomen jüdischen Gemeinden auf die sogenannten Landjudenschaften, die sich nicht unbedingt mit den älteren regionalen Medinot mit ihren eigenständigen Minhagim deckten, sondern stärker auf die christlichen Landesherrschaften bezogen waren. Die statistisch kaum noch faßbare Siedlung splitterte sich auf kleinste Einheiten auf. Vielfach betrieben die Landesherren eine gezielte Ansiedlungspolitik, indem sie die schutzberechtigten Familien auf einzelne Dorfschaften und Ämter des Landes verteilten. Zu einer systematischen „Peuplierung“ kam

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es in Franken um Mergentheim, Weikersheim, Dörzbach und Crailsheim. Meist konnte ein Minjan nur noch mit wenigen weit auseinander wohnenden Familien zustande gebracht werden, und auch die für das religiöse Leben notwendigen Friedhöfe und Bethäuser wurden gewöhnlich von den Juden einer größeren Region gemeinsam genutzt. Neue Synagogen durften nur ausnahmsweise als Ersatz älterer gebaut werden. Erst für das beginnende 17.Jh., als es allgemein zu einer Zunahme der Bevölkerung kam, lassen sich Dimension und Verteilung der jüdischen Bevölkerung zahlenmäßig abschätzen. Geht man von einem Haushaltsfaktor von sechs aus, so könnte man bei 2000 Haushalten die jüdische Bevölkerung des Reiches für diese Zeit mit 12000 Seelen angeben. Hinzu kommen mindestens die etwa 2000 Juden des Prager Ghettos. Im gesamten Gebiet des Reiches, dessen Bevölkerung für diese Zeit auf 12 bis 20 Millionen Personen geschätzt wird, sind die Juden anteilig sehr ungleichmäßig vertreten. Für das Oberfürstentum Hessen, dessen Seelenzahl für die vierziger Jahre des 17. Jhs. auf 60 000 veranschlagt werden kann, konnten 189 jüdische Haushalte bzw. bei einem hier genauer berechenbaren Haushaltsfaktor von 6,3 insgesamt etwa 1200 Juden ermittelt werden. Mit einem Anteil von 2% an der Gesamtbevölkerung entspricht dies einer verhältnismäßig dichten jüdischen Bevölkerung, die sich zum größeren Teil auf ein Dutzend „Friedhofsregionen“ mit jeweils etwa 50 bis 100 Personen verteilte. Seit dem späten 16. Jh. gab es Impulse zur Gründung neuer städtischer Gemeinden, die ihrerseits zwar keine eigenen Traditionen mitbringen, dennoch aber an die Kultur der älteren Kehillot anknüpften. Konnte die Mitte des 16. Jhs. wieder zugelassene Gemeinde in Metz sich noch auf ihre Vorgängergemeinde berufen, so war allerdings die in dem gemeinsam vom Domstift Bamberg und den Markgrafen von Brandenburg-Ansbach verwalteten Marktflecken Fürth entstandene Gemeinde ohne Vorläuferin. Sie spielte mit einem Einwohneranteil von 20% in der Stadt eine dominierende Rolle. Etwas später kam es in Niederdeutschland durch Zuwanderung vertriebener sefardischer (portugiesischer) sowie bald darauf aschkenasischer (hochdeutscher) Juden zu einigen bedeutsamen Gemeindegründungen in Glückstadt, Altona, Hamburg – dort wuchs die Anzahl der jüdischen Familien vom Beginn bis zur Mitte des 16. Jhs. von sieben auf über 100 –, Emden und Stade, zumeist auf Initiative der an einer willfährigen „Ersatzbürgerschaft“ und an einer „Peuplierung“ mit wohlhabenden Gewerbetreibenden interessierten landesherrlichen Obrigkeit. Gleichzeitig entstand in den Städten Halberstadt und Hanau neues jüdisches Leben, in letzterer auf Betreiben des calvinistischen Landesherrn und beeinflußt von seiner niederländisch-oranischen Verwandtschaft. Teilweise unter Führung von Hofjuden als Inhabern des Vorsteheramtes konnten sich die neuen „Großgemeinden“ seit der Mitte des 17. Jhs. zu eigenständig handelnden politischen Faktoren entwickeln, so daß für diese Zeit nicht ohne Grund von einer Re-Urbanisierung der deutschen Judenschaft gesprochen wird.10 Für das Leben der mitteleuropäischen Juden wurde vor allem die Auflösung der Einheit der christlichen Kirche entscheidend. Hatte der Beginn der Reformation und das Auftreten 10

Israel 1985, S.96.

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Martin Luthers anfangs bei vielen Juden noch einige Hoffnungen geweckt, so wurden diese doch sehr schnell durch die Verfestigung und Abgrenzung der Konfessionen zerstört. Bis zur Mitte des 16. Jhs. war die dogmatische Verfestigung der Neu- und Altgläubigen so weit fortgeschritten, daß die Ansätze einer Neuorientierung des christlich-jüdischen Verhältnisses nicht mehr zum Tragen kamen. Die sich unter der Confessio Augustana sammelnden Anhänger Luthers ebenso wie die im Tridentinum einem rigorosen Dogma unterstellten papsttreuen Altgläubigen grenzten sich gegenüber abweichenden Denominationen stärker als bisher ab. Das gleiche gilt für den im Augsburger Religionsfrieden von 1555 zunächst nicht anerkannten, doch noch im 16.Jh. als eine „zweite Reformation“ in zahlreichen deutschen Landesherrschaften sich durchsetzenden Calvinismus, auch wenn er sich vom orthodoxen Luthertum durch eine flexiblere Einstellung zu den Juden unterschied. Dies alles führte dazu, daß – trotz gemäßigter Stimmen unter einzelnen Reformatoren wie Wolfgang Capito, Philipp Melanchthon und Andreas Osiander – die im Spätmittelalter verschärften antijüdischen Traditionen zum festen Lehrbestandteil der sich konstituierenden Konfessionen wurden. Dies gilt weniger für die Blutbeschuldigungen, die allerdings mit offizieller Duldung in katholischen Gebieten zum Bestandteil der Volksfrömmigkeit wurden, als für den eschatologisch erklärten Sonderstatus der Juden, durch den diskriminierende Regelungen gerechtfertigt wurden. Anteil am humanistischen Geistesleben im Reich konnten sich die verbliebenen Juden nicht erringen. Der Hebraist Elia Levita aus Neustadt an der Aisch wanderte noch vor 1500 nach Italien aus; immerhin konnten viele seiner sprachwissenschaftlichen Schriften in der Reichsstadt Isny am Bodensee gedruckt werden. Angesichts der bedrückenden Situation der Juden im Reich der Reformationszeit erstaunt es nicht, daß unter ihnen eine gewisse Empfänglichkeit für messianische Bewegungen und „falsche Propheten“ entstand, wie sich beim Auftreten des Ascher Lemmlein in Istrien um 1500 und des jemenitischen Juden David Reubeni 30 Jahre später zeigte, dessen Gesandter Salomo Molcho vor dem Regensburger Reichstag von 1532 erschien. Ebenso entstand eine große Bereitschaft zur Aufnahme kabbalistischer Gedanken, wie schon bei dem in Frankfurt am Main als Vorsänger wirkenden Naftali Hirz Treves um 1560. Die noch im 15. Jh. blühende rabbinische Kultur jedoch war im aschkenasischen Deutschland zusammengebrochen. Erst gegen Ende des 16. Jhs. kam es, vor allem von Prag aus, zu einer neuen Blüte der Gelehrsamkeit. Mitverantwortlich dafür war auch die „Protektion“ Kaiser Rudolfs II., der seine Residenz in diese Stadt verlegte. Die bekannteste Gestalt dieser Zeit wurde Rabbi Jehuda Löw ben Bezalel, gen. Maharal, aus Worms, der unter der Bezeichnung „der Hohe Rabbi Löw“ populär geworden ist. Nach Studien in Polen wurde er mährischer Landesrabbiner in Nikolsburg (Mikulov), wohnte und lehrte aber ab 1573 in Prag. Sein Einfluß als rabbinischer Gelehrter war schon unter seinen Zeitgenossen beträchtlich. In seinem Werk verknüpfen sich mystische mit philosophischen Gedanken. Bekannt wurde er auch durch seine rationalistische Kritik an der tradierten talmudischen Gelehrsamkeit, die seiner Ansicht nach mit der Methode des Pilpul in den Jeschiwot zu bloßen sophistischen Gedankenspielen verkommen war. Angeregt durch ihn wurden weitere talmudische Gelehrte wie Rabbi Mordechai Jaffe, der Anfang des 17. Jhs. an der Prager Jeschiwa lehrte und vor

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dem Hintergrund eines breiten kabbalistischen und philosophischen Wissens wie Maharal die Methode des Pilpul bekämpfte. Wenig später wirkte in Prag Jomtow Lipmann Heller aus Wallerstein in der Grafschaft Oettingen, der als hervorragender Kenner des halachischen Rechts unter dem Einfluß seines Lehrers Maharal einen Mischna-Kommentar verfaßte. Sein Zeitgenosse Salomo Efraim Lunschitz machte sich als Prediger und Vorsitzender des Rabbinatsgerichts in Prag einen Namen. Ein anderer Gelehrter dieses Kreises, David Gans aus Westfalen, wurde durch chronographische und astronomische Werke berühmt, vor allem durch seine unter dem Namen Zemach David bekannt gewordene 1592 entstandene Weltchronik. Auch Maharals älterer Bruder, Chajim ben Bezalel, der die Stelle eines Rabbiners in Friedberg in der Wetterau bekleidete, verdient Erwähnung, da er als Verfasser einer hebräischen Grammatik Pionierarbeit im aschkenasischen Judentum leistete. Nur am Rande sei der zeitweise für Rudolf II. als Astronom tätige und in Prag beerdigte Philosoph und Mathematiker Josef Salomo Delmedigo (Rofe) aus Candia in Kreta genannt, dessen Wirksamkeit hauptsächlich mit dem Süden und Südosten Europas in Verbindung zu bringen ist. Neben Prag konnten sich auch Frankfurt und Worms ebenso wie Friedberg, Fulda und Hanau einen gewissen Ruf als Zentren rabbinischer Gelehrsamkeit erhalten. Hingewiesen sei auf Josef Juspa Hahn aus Nördlingen, der als Rabbiner um 1600 die Frankfurter Jeschiwa leitete. Ganz in der Tradition der Chasside Aschkenas stellte er in seinem Werk Jossif Omez die Minhagim der Frankfurter Gemeinde zusammen, um daraus Handlungsanleitungen für religiöse Pflichterfüllung und Redlichkeit im Alltag zu gewinnen. Gleichzeitig wirkte der in Frankfurt geborene Mëir (Maharam) Schiff als Rabbiner in Fulda, der in seinen Erläuterungen zum Schulchan Aruch eine gemäßigte Form der Pilpul-Methode vertrat. Als Kabbalist bekannt wurde Elia Loans, Enkel des Josel von Rosheim, der Anfang des 17. Jhs. als Rabbiner in Fulda, Hanau, Friedberg und Worms wirkte. Als Verfasser verbreiteter Werke zur Kabbala wurden um die gleiche Zeit auch der später nach Safed in Palästina auswandernde Jesaja Horowitz, Rabbiner in Frankfurt und Prag, und der in Frankfurt geborene Naftali Bacharach berühmt, der 1648 mit seinem Werk Emek ha-Melech (Tal des Königs) die kabbalistische Lehre des Isaak Luria einem breiteren Publikum bekannt machte. Der eine Generation später lebende Wormser Rabbiner Josef (Juspa) Schammes, der durch ein umfangreiches Werk über die religiösen Sitten der Wormser Gemeinde bekannt wurde, entfaltete seine Wirksamkeit größtenteils erst nach dem Dreißigjährigen Krieg. Eine für das Heilige Römische Reich völlig neue jüdische Kultur entstand mit der Gründung der portugiesischen (sefardischen) Gemeinde in Hamburg am Ende des 16. Jhs. Sie wurde in der Anfangszeit von Persönlichkeiten getragen, die als „Conversos“ (Judeo-Christen) eng mit der christlichen Kultur in Berührung gekommen waren. Nur einige wenige ihrer in der ersten Hälfte des 17. Jh. aufgetretenen Exponenten können genannt werden: der Arzt und Dichter Rodrigo de Castro, der schon erwähnten Delmedigo, der sich von 1622 bis 1625 in Hamburg aufhielt, dann die Lexikographen Benjamin Mussafia und David de Isaak Kohen de Lara, der Dichter und Grammatiker Mose Gideon Abudiente, der Rabbiner Abraham da Fonseca. Sie alle haben nur noch wenig gemein mit der tradi-

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tionellen rabbinischen Gelehrsamkeit, sondern repräsentieren einen Typ von philosophischen Denkern, die in der christlichen ebenso wie in der jüdischen Geisteswelt der Renaissance zu Hause waren. Eine Umorientierung jüdischen Lebens in Mitteleuropa wurde darüber hinaus durch die juristische Konstituierung der Landeshoheit bewirkt. Unter dem Einfluß gelehrter, am römischen Recht geschulter Juristen versuchten Landesfürsten ebenso wie die zu Freien Reichsstädten vereinheitlichten Kommunen, später auch die reichsritterschaftlichen Herrschaften, einheitliche Untertanenverbände zu schaffen. Der frühe Versuch Johannes Reuchlins, die Juden des Reichs durch Konstruktion eines römischen Bürgerrechts zu Untertanen des römisch-deutschen Kaisers zu erklären, führte zwar zur Verbesserung der Rechtsstellung der Juden vor den Reichsgerichten, nicht aber zu einer Aufhebung der tradierten Sonderstellung. Diese wurde jetzt noch mehr als bisher vom landesherrlichen Judenregal bestimmt, nachdem auch die alten, aus der Kammerknechtschaft resultierenden kaiserlichen Schutzrechte zu bloßen Kontrollrechten über die Regalien verdünnt wurden. Da aber die Regalität zu einem wichtigen Konstituens der Landeshoheit wurde, ebenso wie auf städtischer und ritterschaftlicher Ebene die „iura recipiendi iudeos“ den obrigkeitlichen Charakter der Herrschaften wesentlich mitbestimmten, hing die Ansiedlung von Juden seither davon ab, ob ein Landesherr, Stadtrat oder Reichsritter sich von der Judenaufnahme einen ökonomischen Nutzen versprach, nicht davon, ob der Kaiser als oberster Schutzherr zustimmte. In den Reichsterritorien, in denen die Landstände oder die Domkapitel ein Mitspracherecht an der Regierung hatten, wurden vielfach interne Aufnahmebeschränkungen derart festgelegt, daß der Landesherr nur eine bestimmte Anzahl von Juden in seinem Lande aufnehmen durfte. Der Einfluß der den gewerblichen Sektor regulierenden Zünfte kam in einzelnen Territorien – wie in der Landgrafschaft Hessen – dadurch zum Ausdruck, daß diese mit Hilfe der Städtekurie des Landtags Ansiedlungsverbote für Juden in den landesherrlichen Städten durchsetzen konnten, um die wirtschaftliche Konkurrenz der nicht in den Zünften vertretenen Juden fernzuhalten. Daneben wurde sowohl in protestantischen wie in katholischen Territorien und Städten der Einfluß der Geistlichkeit dadurch wirksam, daß diese durch Gutachten und theologische Traktate immer wieder auf die Juden als Adressaten des Missionsauftrags der Kirche hinwies und deshalb einer Duldung nur unter einschränkenden Voraussetzungen zustimmte. Exponenten einer solchen offensiven „politischen Theologie“ waren etwa Martin Bucer aus Straßburg in den dreißiger und der Braunschweiger Superintendent Martin Chemnitz in den siebziger Jahren des 16. Jhs. Bis zum Ende des 16. Jhs. setzte sich unter den „Reichspublizisten“ und obrigkeitlichen Rechtsberatern die Ansicht durch, „daß die Juden, wenn sie ruhig und friedlich leben, zu dulden sind und nicht vertrieben werden dürfen“, wie es der Gießener Professor Theodor Reinkingk formulierte. Obwohl Vertreibungen weiterhin vorkamen, gab es nun doch angesichts des fortgeschrittenen Prozesses der Verrechtlichung jüdischer Existenz im Rahmen des Judenregals neue Chancen des Rechtsschutzes. Hierzu gehörte vor allem die Klage vor den Reichsgerichten sowie die Einschaltung des kaiserlichen Fiskalprokurators, der Verstöße gegen den Kernbereich des Judenregals als crimen laesae maiestatis ahndete. Die meisten

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Landesherren, städtischen und ritterschaftlichen Obrigkeiten gingen, soweit sie zur Duldung von Juden bereit waren, dazu über, in detaillierten Regelungen die Bedingungen der Aufnahme und der Beziehungen zu den eigenen Untertanen festzulegen. Dies konnte in umfassenden Statuten, Generalgeleiten, Privilegien oder Judenordnungen geschehen, wie 1539 in der Landgrafschaft Hessen, 1584 in Worms, 1599 in Kurköln und 1617 in Frankfurt; dies konnte aber auch durch Policey-Verordnungen und Einzeldekrete geschehen, mit denen auf Beschwerden und Suppliken reagiert wurde. All diese Regelungen bildeten ein „supplementäres“ Regelungsgeflecht, mit dem das auch für Juden geltende Landesrecht durch Einschränkungen und Vorbehalte ergänzt wurde. In den Augsburger Reichs-PoliceyOrdnungen von 1530, 1548 und 1551 und der Frankfurter Reichs-Policey-Ordnung von 1577 wurden hinsichtlich des Geldhandels, der gewerblichen Tätigkeit der Juden und ihres Umgangs mit Christen Rahmenbedingungen für diejenigen Territorien und Stände festgelegt, die über das Judenregal oder sonstige Schutzrechte verfügten. Darüber hinaus wurden seit Mitte des 16. Jhs., zahlreicher unter den Kaisern Ferdinand I., Maximilian II. und Matthias, an reichsunmittelbare oder die Unmittelbarkeit beanspruchende Stände kaiserliche privilegia contra iudaeos erteilt, mit denen die Darlehens- und Pfandgeschäfte der Juden eng begrenzt oder ganz verboten wurden. Da hiermit Kernbereiche obrigkeitlichen Judenschutzes normiert waren, dienten diese Regelungen vor allem in kleineren Herrschaften als Legitimation für die eigene „Judenpolitik“. Diese wurde in jedem Fall durch Schutzund Geleitbriefe für einzelne Juden konkretisiert. Die Juden selbst stellten sich auf die Verfestigung der Landeshoheit durch eigenständige territoriale Zusammenschlüsse ein. Vielfach kam es seit dem beginnenden 16. Jh. zur Einsetzung von Landesrabbinern, die gerichtliche Befugnisse in innerjüdischen Streitigkeiten sowie in „Zeremonialangelegenheiten“ wahrnehmen konnten. Allerdings hatten die älteren Landesrabbinate zumeist einen über die Territorien hinausgehenden Sprengel. Der Landesrabbiner in Friedberg war etwa für die ober- und niederhessischen Juden sowie teilweise diejenigen des Hochstifts Paderborn zuständig. Sein Wormser Kollege betreute den kurmainzischen Rheingau, die Kurpfalz, Hessen-Darmstadt und das Hochstift Speyer. Der in Frankfurt am Main ansässige Rabbiner war auch für Ostfriesland, die Mark Brandenburg, die Hochstifte Münster und Paderborn, Kurtrier und die Markgrafschaft Ansbach zuständig. Weitere Landesrabbinate befanden sich im habsburgischen Günzburg an der Donau (nach der Vertreibung der Juden von dort 1617 nach Wallerstein verlegt), in Fulda, Bonn, Bingen, Fürth und Hildesheim. Erst im Laufe des 17. Jhs. gelang es den Landesherren, auch die Rabbinatsgerichte zu territorialisieren. Seit der ersten Hälfte des 17. Jhs. wurden in einigen Ländern mit landesfürstlicher Zustimmung „Judenvorgänger“ (Vorsteher, Parnassim) bestallt, die für die Umlage gemeindlicher Abgaben und auch die Einziehung von Landessteuern zuständig waren. Ihnen zugeordnet wurden, die „Landjudenschaften“ oder „Judenlandtage“ als Beschlußgremien aller in einem Territorium oder einer Region ansässigen jüdischen Haushalte. Sie wurden nicht selten von einzelnen Landesherren als Zusammenkünfte zur Publikation von Verordnungen und auch von Missionspredigten instrumentalisiert. Für die beteiligten Schutzjuden boten

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die Landtagssessionen den konstitutionellen Rahmen für die Wahl und Einsetzung ihrer Selbstverwaltungsorgane und Rabbinen. Auf ihnen konnten ihre Statuten beraten und publiziert werden. Sie bildeten die Foren für die Austragung von Streitigkeiten, die auf der Ebene autonomer Gemeinden nicht mehr reguliert werden konnten, und schließlich stellten sie Informationsbörsen dar, durch die der solidarische Zusammenhalt der verstreut angesiedelten jüdischen Familien bestärkt wurde. Durch die Wahl von Schtedlanim, die die Interessen der territorialen Judenschaft gegenüber dem Landesfürsten vertraten, konnten sich die jüdischen Landtage allmählich zu handlungsfähigen Organen in christlicher Umwelt entwickeln. Letzlich traten sie in jeder Beziehung an die Stelle der autonomen Gemeinden. Die seit dem späten 17. Jh. sich allgemein durchsetzende Institution des Hofjudentums hatte hingegen im 16. und frühen 17. Jh. noch keine nachhaltige Bedeutung als Bindeglied zwischen dem kaiserlichen oder landesherrlichen Hof und den Judengemeinden. Michel von Derenburg und der Berliner Münzmeister Lippold, die im 16. Jh. für den Hof der Markgrafen von Brandenburg tätig waren, standen in der Tradition älterer Finanziers, ohne damit schon dem Typ des merkantilistischen Hoffaktors zu entsprechen. Die ersten Ansätze eines Hofjudentums bildeten sich hingegen im Prag Kaiser Rudolfs II. heraus. Der erste Vertreter dieses Systems war Mordechai Meisel, der 1593 vom Kaiser besonders privilegiert wurde, ohne aber schon den Titel eines Hoffaktors zu erhalten. Diesen konnte nach ihm der sefardische Jude Jakob Bassevi von Treuenburg, Primator der böhmischen Judenschaft, erlangen. Seine Verdienste um den Prager Hof wurden damit 1611 von Kaiser Matthias anerkannt und 1622 von dessen Nachfolger Ferdinand II. bestätigt. Als Hausfaktor des Generalissimus von Wallenstein hatte er an der Finanzierung des Dreißigjährigen Kriegs einigen Anteil. Der etwa gleichzeitig entstehende Typ des jüdischen Residenten, der die Interessen eines christlichen Herrschers in Städten des Heiligen Römischen Reiches wahrzunehmen hatte, wird zuerst in dem portugiesischen (sefardischen) Juden Duarte Nunes da Costa (Jakob Curiel) sichtbar, der 1641 vom portugiesischen König Johann IV. zum Cavaleiro Fidalgo und zugleich zum Residenten der Krone in Hamburg ernannt wurde. Die Schwerpunkte gewerblicher Tätigkeit der Juden waren noch mehr als im späten Mittelalter auf die jeweils vorhandenen Märkte fixiert. Eine bedeutende Rolle spielten dabei die Messen in Frankfurt und Leipzig, die jeweils zu den Messezeiten im Frühjahr und im Herbst eine große Anzahl von jüdischen Händlern anzogen. Dort, aber auch auf den regionalen Wochen- und Jahrmärkten konnten die auf dem Land ansässigen Juden landwirtschaftliche und dörfliche Produkte anbieten und dafür Fertigwaren zum Verkauf auf den Dörfern erwerben. Für Frankfurt konnte festgestellt werden, daß die dort ansässigen jüdischen Finanziers zum Verbindungsglied in der Vermarktungskette der landwirtschaftlichen Erzeugnisse wurden, zu deren Transport in die Stadt sie ebenso jüdische Mittelsleute wie christliche Fuhrleute und Dienstboten beschäftigten. Objekte des von Juden betriebenen Handels waren namentlich Pferde und Vieh, Leder und Textilien, daneben Gewürze, Tabak, Bier, Tuche, Metalle, Arzneien und Hausrat. Gehandelt wurde auch mit verfallenen Pfändern, über die wegen Nichtrückzahlung von Darlehen verfügt werden konnte. Ansonsten

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war die Bandbreite möglicher gewerblicher Tätigkeiten gering. Neben der weiterhin hauptsächlich betriebenen Geldleihe gegen Pfand spielten solche Handwerke eine Rolle, die für den kultischen Bedarf der Gemeinde notwendig waren, wie Schächter und Bäcker, oder auch solche, die von den Zünften nicht kontrolliert wurden, wie Goldschmiede, Glaser und Geldwechsler, in geringerem Umfang auch Färber, Würfelmacher und Textilbearbeiter. Hinzu kamen akademisch – etwa in den Universitäten Padua und Orléans – ausgebildete Mediziner und „handwerkliche“ Wundärzte, die sich bei christlichen Patienten großer Beliebtheit erfreuten. Hingewiesen sei auf den aus Lissabon stammenden sefardischen Juden Emanuel Bocarro y Rosales, der sich 1615 in Hamburg als Arzt niederließ. Angesichts seiner Verdienste um die ärztliche Versorgung des Wiener Hofes verlieh ihm Kaiser Ferdinand III., ausdrücklich non obstante hebraismo, 1641 das „kleine Palatinat“. Im allgemeinen hatten die jüdischen Pfandleiher und Händler ebenso wie auch die Ärzte einen weit über die Territorien hinausgehenden Aktionsradius. Mit Hilfe von kaiserlichen oder landesherrlichen Geleitbriefen konnten sie den Schutz der jeweiligen Obrigkeiten beanspruchen, waren aber dennoch vielfältigen Behinderungen und Anfeindungen ausgesetzt. Die ihnen abverlangte Abgabe des Leibzolls bzw. der Leibmaut und auch die diesen pervertierende, obrigkeitlich nicht sanktionierte Form des Würfelzolls stellten schikanöse Handelsbelastungen dar, die als Reminiszenzen an die kirchliche Lehre vom Minderstatus der Juden zu erkennen sind. So wenig sich die Juden des Reiches dem Territorialisierungsprozeß entziehen konnten, so sehr waren sie daran interessiert, zum Schutz ihrer im Rahmen regionaler Obrigkeiten bedrohten Existenz ihre überkommenen überterritorialen Verbindungen aufrechtzuerhalten. Der Kampf um die Beschlagnahme herbräischer Bücher auf Betreiben des Apostaten Johannes Pfefferkorn 1509, der nur durch die guten Verbindungen der Frankfurter Judenschaft zum Kaiserhof und die Intervention des Humanisten Johannes Reuchlin gewonnen werden konnte, hatte deutlich gemacht, wie sehr auch die zu landesherrlichen bzw. städtischen Schutzverwandten herabgestuften Juden des Reiches des kaiserlichen Wohlwollens bedurften. Für sie war das Heilige Römische Reich Legitimationsinstanz und Aktionsrahmen zugleich, wodurch ein Netzwerk von Aktivitäten sanktioniert und solidarisches Handeln als Minderheit gegenüber den Gojim ermöglicht wurde. In diesem Zusammenhang müssen das Auftreten Josels von Rosheim und zuletzt der Zusammenschluß der sogenannten Frankfurter Rabbinerverschwörung gesehen werden. Josel ben Gerschon Roschaim aus Hagenau, dessen Familie wohl aus dem burgundischen Louhans stammte, kann als der bedeutendste Fürsprecher der Juden des Heiligen Römischen Reiches angesehen werden. Als Schüler des Talmudisten Jochanan ben Aaron Luria in Hagenau und beeinflußt durch die Lehre der Chassidim, die ihm über das 1473 erschienene Kleine Buch der Frommen des Mose ha-Kohen ben Eleasar vermittelt wurde, konnte er sich in den Kreis der rabbinischen Gelehrten der Zeit einordnen, mußte aber gleichzeitig seinen Lebensunterhalt als Geldverleiher bestreiten. Seine „Laufbahn“ als politischer Unterhändler der Judenschaft begann 1507, als er sich erfolgreich bei dem Kaiser für die aus der Reichsstadt Oberehnheim vertriebenen Juden einsetzte. 1510 zum Schtadlan der Judenschaft in der habsburgischen Landvogtei Unterelsaß erwählt, konnte er sich kraft dieses Mandats in

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zahlreichen Interventionen bei christlichen Herrschaftsträgern für seine verfolgten Glaubensgenossen einsetzen. Als er 1529 von einer Rabbinerversammlung zu Günzburg an der Donau beauftragt wurde, sich bei König Ferdinand I. von Böhmen für die des Ritualmords beschuldigten Juden in Pösing einzusetzen, konnte er sich den – vom kaiserlichen Fiskal allerdings bestrittenen – Titel eines „Befehlshabers gemeiner Jüdischeit deutscher Nation“ zulegen. Zeugnisse über Interventionen des seit 1525 in der Reichsstadt Rosheim ansässigen Josel beim Kaiser oder den jeweils verantwortlichen Obrigkeiten haben sich in reicher Anzahl erhalten. Er verhinderte Vertreibungen, löste gefangene Juden aus, besorgte Geleitbriefe und vermittelte in konkreten Streitfällen zwischen Juden und Christen. Am Reichskammergericht in Speyer machte er zahlreiche Prozesse zur Absicherung des in landesherrlicher und städtischer Hand befindlichen Judenregals anhängig. Doch sorgte er auch zur Besänftigung der um ihre Hoheitsrechte bangenden Obrigkeiten für eine Niederschlagung jüdischer Schuldklagen am kaiserlichen Hofgericht in Rottweil. Erfolg hatte 1530 eine von Karl V. auf dem Augsburger Reichstag angeordnete Disputation zwischen ihm und dem Renegaten Antonius Margaritha, bei der er den Kaiser beeindrucken konnte. Eine Intervention bei Martin Luther, durch die eine 1537 geplante Vertreibung der Juden aus Sachsen verhindert werden sollte, blieb allerdings trotz seiner freundlichen Beziehungen zum Reformator erfolglos. Dagegen erzielte Josel eine über das 16. Jh. hinausreichende Wirkung, indem er zahlreiche kaiserliche Privilegien erwirkte, die bis zum Ende des Reiches zur Legitimation von Schutzansprüchen verwendet wurden. Schon 1515 stand er mit Kaiser Maximilian I. in Koblenz persönlich in Kontakt, und anläßlich seiner Königskrönung gewährte der von Josel aufgesuchte Karl V. 1520 eine Privilegienbestätigung, die im Mai 1530 von Innsbruck aus erneuert und im August dieses Jahres durch eine Ausdehnung der 1415 von König Sigismund den unterelsässischen Juden gewährten Freiheiten auf das gesamte Reich ergänzt wurde (beides 1541 erneut bestätigt). Das wohl freiheitlichste und großzügigste Privileg, das den Juden des Reiches jemals erteilt wurde,11 konnte Josel im April 1544 während des Speyerer Reichstags erwirken. Der später immer wieder erneuerte Brief brachte den Juden des Reiches insbesondere einen Bestands- und Geleitschutz sowie die Zurückweisung des immer wieder erhobenen Ritualmordvorwurfs. Mit nicht minder großer Energie kämpfte Josel um solidarisches Handeln und moralische Erneuerung innerhalb der durch Verfolgungen und Vertreibungen bedrängten Judenschaft. Wichtigstes Ergebnis seiner Bemühungen waren die am Rande des Augsburger Reichstages 1530 von den dort zusammengerufenen Gemeindevorstehern gebilligten Vorschriften in Form von Takkanot, die Josel sogleich an mehrere Reichsstände verteilen ließ. Mit ihnen sollte zur Verhinderung von „ungeburd“ das Darlehensgeschäft reglementiert und die Jurisdiktion der Parnassim gestärkt werden. Insgesamt aber wurde Redlichkeit im Geschäftsgebaren angemahnt, „als dann unser judischer Gebruch und gemeiner Canon Ordnung und Gesetze von Alter her und unser Heilige Schrift ausweist und vermag“. Durch 11

Stern 1959, S.161.

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zwei Schriften, den 1531 am Hof Karls V. in Brüssel entstandenen Derech ha-Kodesch (Weg zur Heiligung) und den Sefer ha-Mikne (Buch des Erwerbs), in denen er bedenkenswerte historische Ereignisse und eigene Lebenserfahrungen zusammenstellte, wollte er die Erinnerung seiner Glaubensgenossen an die Zeit der Verfolgungen wachhalten und zugleich Wege zur inneren Heiligung und sittlichen Vervollkommung aufzeigen. Als Josel von Rosheim 1554 starb, fand er keinen Nachfolger. Weder konnte sich die Institution eines Reichsrabbinats durchsetzen – das zuletzt von Jakob ben Chajim aus Worms bekleidete Amt wurde seit 1574 nicht mehr besetzt –, noch konnten vor dem Zeitalter der Hofjuden einzelne Persönlichkeiten die Funktion eines allgemein anerkannten Fürsprechers am Kaiserhof übernehmen. Dennoch aber blieb das Werk Josels von nachhaltiger Wirkung; es hat letztlich die vollständige Territorialisierung der Juden des Reichs verhindert und die überterritoriale Solidarität zum Bewußtsein gebracht. Darauf konnten die seit dem Dreißigjährigen Krieg als feste Institution der merkantilistischen Fürstenstaaten auftretenden Hofjuden aufbauen. In die gleiche Tradition konnten sich aber auch die Rabbinerkollegien stellen, die sich seit der Günzburger Zusammenkunft von 1529 zur besseren Regelung des gemeindlichen Lebens und der Jurisdiktion informell bildeten. Die bedeutendste Zusammenkunft dieser Art, die „Frankfurter Rabbinerverschwörung“, kann die Grenzen solidarischen Handelns der Juden im Reich deutlich machen. Im Rahmen der Herbstmesse trat 1603 in Frankfurt am Main ein Rat von Delegierten und Weisen zahlreicher jüdischer Gemeinden des Reiches zusammen, um „die Bedürfnisse der Gesamtheit zu erwägen, um vorzubeugen und um nach den Erfordernissen der Zeit und der Zustände Anstalten zu treffen, damit nicht das Volk sei wie eine Herde ohne Hirten“. Man wollte den Versuch einer organisatorischen Zusammenfassung und Konzentration der Kräfte machen, um den Konsequenzen der Territorialisierung zu entgehen und eine reichsunmittelbare Stellung unter dem Kaiser zu behaupten, aber auch, um Schaden von der Religion abzuwenden.12 Auf der Zusammenkunft wurde eine umfängliche Ordnung zur Organisation und inneren Erneuerung der deutschen Judenschaft beschlossen. Vorgesehen war u. a. die Einrichtung von fünf Rabbinatsgerichten zu Frankfurt am Main, Worms, Fulda, Friedberg und Günzburg an der Donau. Hierbei handelte es sich um Sitze von älteren Rabbinatskollegien, die sich auch vorher schon eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den jeweiligen Territorien hatten erhalten können. Diese Gerichtshöfe sollten im Rahmen bestimmter Sprengel als Oberinstanz der lokalen Rabbinate in innerjüdischen Streitigkeiten für das gesamte Gebiet des Reiches zuständig sein. Gleichzeitig sollte die Autonomie der jüdischen Gemeinden gestärkt werden. Zu diesem Zweck wurden örtliche Steuern eingeführt, die gemeindeweise erhoben und eingeschätzt werden sollten. Durch eine einprozentige Vermögensabgabe sollten die Vorsteher der Judenschaft des Reiches besoldet werden, „um die Gemeinden in geeigneten Stunden und mit dem Beistand dessen, 12

Volker Press, Kaiser Rudolf II. und der Zusammenschluß der deutschen Judenheit. Die sogenannte Frankfurter Rabbinerverschwörung von 1603 und ihre Folgen, in: Haverkamp/Ziwes (Hrsg.) 1981, S.243–293, S.247.

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der uns nicht verwaisen läßt, vor Königen vertreten zu können“. Zahlreiche weitere Bestimmungen regelten in der Tradition der Takkanot die Geschäftspraktiken im Verkehr mit den Gojim, die so gehalten sein sollten, daß sie keinen Anlaß zu Ärgernissen gaben, das Verbot der Münzverschlechterung, die Ausstellung von Rabbinatsdiplomen, die Einhaltung der Kaschrut-Gebote, das Verhalten jüdischer Frauen im Kontakt mit Gojim, Einschränkungen des Luxusaufwandes und die Kontrolle des Drucks hebräischer Bücher. Sieht man von der vorher so nicht vorhandenen reichsweiten Organisierung einer zweiinstanzlichen Rechtspflege ab, so enthielten die übrigen Beschlüsse nur das, was auch Gegenstand älterer Takkanot oder ohnehin Praxis war. Dennoch konnten die Beschlüsse der Frankfurter Versammlung nicht verbindlich umgesetzt werden, da die Landesherren, die durch den wohlinformierten Kölner Kurfürsten gewarnt worden waren und sich in ihren Rechten beeinträchtigt fühlten, Widerspruch anmeldeten und der damals regierende Kaiser Rudolf II. nicht in der Lage war, die Juden als seine Schutzbefohlenen über die Territorialgrenzen hinweg an sich zu binden. Die königsnahe Gruppe der Juden war für ihn als politischer Faktor nicht wichtig genug, um ihr einen reichsunmittelbaren Status zu verleihen. Statt dessen wurden sie durch den kaiserlichen Reichshofrat in Wien wegen ihres angeblichen crimen laesae maiestatis zu einer Geldbuße verurteilt. In gewisser Weise dokumentiert der Frankfurter Versuch einer reichseinheitlichen Regelung interner jüdischer Angelegenheiten die Unmöglichkeit, die territorialen Grenzen durch normative Festlegungen zu überschreiten. Über die Landjudenschaften und die Landesrabbinate, die an die Stelle der autonomen Gemeinden traten, begannen die Territorien längst eigene Wege zu gehen, die spätestens mit dem Westfälischen Frieden 1648 auch verfassungsrechtlich sanktioniert wurden. Spätere Versuche der Vereinheitlichung jüdischer Angelegenheiten auf Reichsebene, wie sie 1659 von einer nach Hanau einberufenen Rabbinerversammlung initiiert wurden, hatten keine verfassungsrechtlichen Auswirkungen mehr im Reich. Insgesamt jedoch war die Lage der Juden im Heiligen Römischen Reich seit dem 17. Jh. verfassungsrechtlich derart konsolidiert, daß jede Veränderung des Status quo Gegenreaktionen hervorrief, entweder von seiten des Kaisers und der Reichsgerichte, für die es um die Substanz des Judenregals ging, oder von seiten der regionalen Obrigkeiten, wenn sie ihre Schutzkompetenzen beeinträchtigt sahen. Zu Testfällen wurden die Judenvertreibungen aus Frankfurt und Worms, auf die deshalb abschließend eingegangen werden soll. Beide Ereignisse vollzogen sich im Rahmen sozialer Unruhen innerhalb lutherisch gewordener Freier Reichsstädte, in denen die Präsenz des Kaiserhofes und der katholischen Geistlichkeit noch deutlich spürbar war. In beiden Städten gab es starke jüdische Gemeinden, die die Verfolgungen des 15. und 16. Jhs. unbeschadet überstanden hatten. Frankfurt hatte um 1610 etwa 2200 Juden, was einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 11% entsprach. Die Wormser Gemeinde umfaßte im gleichen Jahr 650 Juden, was ebenfalls auf einen Bevölkerungsanteil von 11% in der Stadt hinauslief. In beiden Städten bildete die ghettoartig abgeschlossene Judenschaft einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor. Um 1610 kam es in Frankfurt wie in Worms zu Unruhen, die sich gegen die Mißwirtschaft der patri-

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zischen Stadträte richteten. Initiatoren der Aufstände waren die Zünfte, die nur über beschränkte Einflußmöglichkeiten im Stadtregiment verfügten. Nur in zweiter Linie waren die Juden als unliebsame Konkurrenten der Zünfte Zielscheibe der allgemeinen Unzufriedenheit. Sie nämlich hatte man im Verdacht, durch undurchsichtige geschäftliche Machenschaften zu den Mißständen beigetragen zu haben. In der Reichsstadt Frankfurt gab die Wahl des Erzherzogs Matthias zum römischen Kaiser im Juni 1612 den Anlaß zur Artikulation der Unzufriedenheit innerhalb der Bürgerschaft. Unter der Führung des Lebkuchenbäckers Vinzenz Fettmilch richteten sich die Forderungen der in den Zünften organisierten Aufständischen mehr und mehr gegen die Juden als schwächste Glieder des Gemeinwesens. Der Rat wurde aufgefordert, die Juden als unnütz und verderblich für die Stadt zu vertreiben, da sie zu hohe Zinsen nähmen. Als der Rat dies verweigerte, kam es 1614 zum Ausbruch des Aufstands. Nach einem Überfall von Zunftangehörigen im Judenviertel wurde im September des Jahres die Judengasse geplündert und ihre Anwohner vertrieben. Doch schon einen Monat später mußten unter dem Druck des Kaisers und der als Reichskommissare eingesetzten Fürsten, des Kurfürsten von Mainz und des Landgrafen von Hessen-Darmstadt, die Aufständischen aufgeben. Die Drohung des Kaisers, der Stadt alle ihre Privilegien zu entziehen, hatte die Stellung des alten Rates wieder gestärkt. Die Juden wurden feierlich in die Stadt zurückgeholt und in ihre alten Rechte wieder eingesetzt, die Rädelsführer des Aufstands gleichzeitig hingerichtet. Mit Privileg vom Januar 1617 bestätigte der Kaiser die erweiterte „Judenstättigkeit“ und stabilisierte damit die Rechtssituation der Frankfurter Juden für die Zeit bis zum Ende des Alten Reiches. In der Reichsstadt Worms entstanden die Bürgerunruhen, die sich im zünftisch besetzten „Gemeinen Rat“ artikulierten, ab 1613 aus Unzufriedenheit mit dem patrizischen „Dreizehnerrat“. Da die Zünfte den dem Schutz des Dreizehnerrats unterstellten Juden mißbräuchliche Darlehenspraktiken und überhöhte Zinssätze vorwarfen, gerieten diese neben den Patriziern ins Kreuzfeuer der Kritik. Nachdem ein Vermittlungsversuch des Kurfürsten von der Pfalz scheiterte, kam es am Ostermontag 1615 zu Gewalttätigkeiten gegenüber den Juden und zu Plünderungen in der Judengasse. Schließlich wurden die Juden der Stadt über den Rhein vertrieben, die Synagoge erheblich beschädigt und der Friedhof durch Zerschlagung und Umstürzen vieler Grabsteine geschändet. Auf Intervention des Kaisers Matthias wurde der aufständischen Bürgerschaft geboten, den Juden die Stadttore wieder zu öffnen, sie wieder zur Nutzung der städtischen Allmende zuzulassen, alle gegen sie eröffneten Prozesse niederzuschlagen und die entwendeten Pfandstücke zurückzugeben. Aufgrund eines vom pfälzischen Kurfürsten vermittelten Vergleichs durften die Juden schließlich zurückkehren, ihren alten Besitz wieder einnehmen und ihre Synagoge wiederaufbauen. Die alten Privilegien wurden bestätigt. In Frankfurt wie auch in Worms wurde die dem Rat als Obrigkeit unterstellte Judenschaft weitgehend als Teil der alten, patrizisch orientierten Ordnung verstanden. Sie konnte deshalb leicht in den Strudel sozialer Unruhen geraten und zum Spielball von urbanen Machtkämpfen werden. Da der Kaiser ebenso wie die Landesfürsten als Garant der alten

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Ordnung in der Regel an einer Stabilisierung der patrizischen Herrschaft in den Städten interessiert war, konnte durch Konstellationen, wie sie in den beiden Reichsstädten anzutreffen waren, ein Solidarisierungseffekt zugunsten der Judenschaft entstehen, der die ansonsten für sie gefährlichen Zünfte als Exponenten ökonomischer Macht neutralisierte. Die kaiserliche Sanktion bewirkte in beiden Städten, daß bis zum Ende des Alten Reiches an den bestehenden Verhältnissen nichts mehr geändert wurde und die Juden kraft kaiserlicher und landesfürstlicher Schutzgarantie unbehelligt blieben. Aber auch auf dem Lande kam es immer wieder zu Versuchen, die Judenschaften oder wenigstens ihre weniger begüterten Mitglieder des Landes zu verweisen. Doch wie in den Städten stabilisierte sich hier die Lage seit dem beginnenden 17.Jh. Kam es zu einer Vertreibung, wie etwa 1628 in der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt, so schaltete sich der Kaiser als oberster Schutzherr mit Hilfe des Reichskammergerichts ein. Die kaiserliche Schutzgewalt war zwar selbst nicht mehr in der Lage, handelnd einzugreifen, doch führten die kammergerichtlichen Verfahren zur Befriedung und zur Wiederherstellung des Status quo ante oder zur Stabilisierung des gefährdeten Status quo.13 Die häufig von den Städten ausgehenden Vertreibungsbegehren fanden zudem in der Schutzgewalt des Landesherrn ihre Grenze. Zu Verschiebungen konnte es nur noch innerterritorial kommen, wenn etwa die städtischen Zünfte eine Verweisung auf das Land erreichten. Für die breite Masse der Landjuden wie auch der städtischen Judengemeinden im römisch-deutschen Reich kann also festgehalten werden, daß sie im beginnenden 17.Jh. zwar noch immer schutzlos den unkontrollierten Aktionen konkurrierender Wirtschaftskräfte, besonders der Zünfte, ausgeliefert waren; doch blieben Vertreibungen regionale Einzelaktionen, die regelmäßig schutzbereite Gegenkräfte mobilisierten, die aus den verschiedensten Motiven heraus an einer Wiederherstellung des Status quo ante interessiert waren. Mehr als für ihre christliche Umwelt bildete das Kaisertum für die Judenschaft noch immer einen stabilisierenden Faktor zur Existenzsicherung innerhalb der Territorien, und so ist es erklärlich, daß seit Josel von Rosheim der habsburgische Hof zum entscheidenden Angelpunkt jüdischen Lebens im Heiligen Römischen Reich wurde.

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Frey 1983, S.133.

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Preußen und Norddeutschland 1648–1871 Am Anfang stand ein Großer, der Kurfürst und Markgraf von Brandenburg, dem Kernland des preußischen Staates. Für den vorläufigen Abschluß sollte ein anderer Großer, der Kanzler des neuen deutschen Kaiserreiches, stehen. Der Anfang: Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst, gestattete 1670 etwa 50 Familien der in Wien bedrängten Juden die Ansiedlung in seinem Territorium. Der Abschluß: Die von Otto von Bismarck herbeigeführte Gründung des Kaiserreichs brachte 1871 allen Juden in Deutschland die rechtliche Gleichstellung mit allen anderen Bürgern. Mit dem Verweis der Zugehörigkeit zum Judentum in den rein konfessionellen Bereich, der keine Relevanz für den Status des Staatsbürgers mehr besaß, ging ein sich über exakt zwei Jahrhunderte erstreckender Weg zu Ende. Mit dem Ende dieses von vielen Gabelungen und verschlungenen Strecken gekennzeichneten Weges begann etwas Neues: Die rechtliche Gleichstellung der Juden als von oben ausgesprochene Klärung einer alten Frage. Was diese rechtliche Klärung im gesellschaftlichen Kontext bedeuten konnte und sollte, mußte sich noch zeigen. Deutschlands Judenfrage befand sich jedenfalls von da ab in einer Schwebelage, denn der rechtliche Status war nur ein Element, wenngleich das wichtigste, das über das Los der Juden entschied. Der preußische Machtstaat hatte zur Gleichstellung der Juden ungemein viel beigetragen. Mehr noch, ohne seine über sein eigenes, sich fortwährend vergrößerndes Territorium weit hinausreichende Wirksamkeit sind die Entwicklungen der Judenfrage in Deutschland und die hierauf gegebenen Antworten nicht vorstellbar. Deshalb steht in diesem Beitrag dieser eine Staat so deutlich im Vordergrund. Während Norddeutschland im Hinblick auf die Judenpolitik zunächst eher stagnierte und dann unter der Herrschaft Napoleons die französischen Emanzipationsgesetze übernahm, um sie im Zuge der Restauration rasch wieder abzuschaffen, hatte Preußen einen eigenen, vom Auf und Ab der den Juden über die Zeit zugebilligten Freizügigkeit gekennzeichneten Kurs eingeschlagen. In Preußen vollzog sich der auf die Emanzipationsgesetzgebung zulaufende Modernisierungsprozeß des Judentums am deutlichsten, wodurch auf vielfältige Weise die Entwicklung in anderen deutschen Staaten beschleunigt wurde. Die rechtliche Entwicklung wurde überlagert und vertieft von sozialen Veränderungen bei den Juden selbst, wobei schon hier die Stichworte „Beginn der bürgerlichen Integration“ und „Assimilation“ zu nennen sind. Einen weiteren Faktor stellte die Entwicklung des preußischen Staats selbst dar. Dieser stieg zwischen 1670 und 1871 von einem armseligen Territorialstaat zu einer Großmacht auf. Die preußischen Juden machten diese Entwicklung mit und prägten sie auf ihre Weise. Aus einer winzigen Gemeinde, aus einer in ihrer Kultur und Religion separierten Minderheit wurde ein Judentum, das sich seiner Umwelt umfassender und intensiver als irgendwo sonst zuwandte.

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Der Prozeß, dessen Abschluß die rechtliche Gleichstellung der Juden bildete, vollzog sich in fünf wechselvollen Etappen, die sich folgendermaßen benennen lassen: Vom Dreißigjährigen Krieg zur absolutistischen Normalität (1648–1770), Veränderungen durch die Aufklärung (1770–1805), Reformpolitik und Emanzipation im Zeichen der Napoleonischen Kriege (1805–1815), Restauration, Revolution und neuerliche Restauration (1815–1860), Emanzipation (1860–1871). Diese fünf Etappen sollen im folgenden behandelt werden.

Vom Dreißigjährigen Krieg zur absolutistischen Normalität (1648–1770) Seit der Hinrichtung des jüdischen Münzmeisters Lippold im Jahr 1573 und der anschließenden Vertreibung der Juden aus Brandenburg gab es bis in das 17. Jh. hinein in der Mark nur wenige jüdische Ansiedlungen. Als jedoch Preußen als Entschädigung für die Abtretung Pommerns an Schweden im Rahmen des Westfälischen Friedens (1648) die Bistümer Minden und Halberstadt erhielt, deutete sich jedoch eine kleine Wende an: Der Kurfürst Friedrich Wilhelm (1640–1688) erließ 1650 für die Halberstädter Juden ein „Privilegium“, wonach sie gegen ein jährliches Geleitgeld von acht Talern in der Stadt bleiben konnten. Die hier getroffene Regelung wurde zum Muster für die später in Berlin betriebene Politik. Der Anlaß für eine dauerhafte Niederlassung von Juden in der Mark selbst kam 1669/70 mit der von Kaiser Leopold I. auf Drängen des Magistrats und der Bürgerschaft von Wien angeordneten Vertreibung der Juden aus Niederösterreich. Als der brandenburgische Resident in Wien von diesem Plan nach Berlin berichtete, entschloß der Kurfürst sich, 50 dieser Familien den Aufenthalt in der Mark für 20 Jahre zu gestatten. Neben den aus Österreich Vertriebenen wanderten bald auch Juden aus anderen Gebieten, z. B. aus Polen und Hamburg, zu. Ihre Aufnahme war typisch für die Bevölkerungs- und Wirtschaftspolitik der Hohenzollern. Der gesteuerte Zuzug ausländischer Unternehmer, Kaufleute und Handwerker, gerade auch gegen den Widerstand der beharrenden Kräfte (Stände, Zünfte, Innungen) betrieben, erschien ihnen zur Erreichung ihrer beiden Hauptziele, der eigenen Machterweiterung und der wirtschaftlichen Konsolidierung des Landes, sinnvoll. Indem nämlich die Herrscher, den Leitlinien einer merkantilistischen Wirtschaftspolitik folgend, zur Erweiterung des wirtschaftlichen Potentials seines Landes Fremde hinzuzog, erschütterte er gleichzeitig auch die Stellung des Adels, seines Kontrahenten im Kampf um die Herrschaftsgewalt. Die Auseinandersetzungen um die Ansiedlung der Juden sind somit auch als Teil des großen, die Etablierung des Absolutismus einleitenden Machtkampfes zu sehen. Wo der Kurfürst die Stände überwunden hatte, dort konnte er nach seinen Vorstellungen verfahren. Wo hingegen, wie etwa in Magdeburg, der Kampf mit den Ständen und der lokalen Obrigkeit lange Zeit unentschieden verlief, gab es für eine Ansiedlung von Juden noch keine Chance.

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Zunehmende Bedeutung für die Wirtschaft Unter König Friedrich I. (1688–1713) blieb der gesetzliche Rahmen für die preußischen Juden im großen und ganzen dem Edikt von 1670 verpflichtet, das letztlich ein „Tauschgeschäft“ zwischen den Juden und dem Staat vorsah. Der Staat vergab Schutzbriefe an einige wenige Juden. Diese „vergleiteten“ Juden zogen Familienangehörige und Gehilfen nach sich, die dann auch bald Schutzjuden wurden. Für die Duldung hatten die Juden noch vergleichsweise moderate Abgaben zu zahlen. So betrug das Schutzgeld acht Reichstaler pro Jahr. Bei Heirat oder Erbschaft war eine Sondergebühr von einem Gulden fällig. Juden, die ihre Kinder ins Ausland verheirateten, mußten den vierten Teil der Aussteuer dem preußischen Staat überlassen. Neben einer Vielzahl von solchen speziellen Abgaben und Steuern trugen die Juden auch zu den Zoll- und Akziseeinnahmen des Staates erheblich bei. Mehr und mehr Juden ließen sich in Brandenburg nieder. Hatten 1688 in der gesamten Kurmark einschließlich Berlins noch 101 jüdische Familien gelebt, waren es zwölf Jahre später bereits 277. Ihre Rolle für den preußischen Finanzhaushalt ergibt sich recht deutlich aus der Steuerstatistik Berlins. Danach entrichteten die Juden 1696 in der Hauptstadt 8614 Taler an Akzise (Warensteuer). Die entsprechenden Einnahmen der Staatskasse aus ganz Berlin betrugen in diesem Jahr 78 669 Taler. Selbst wenn man annimmt, daß die Juden höhere Akzisesätze zu entrichten hatten als die übrigen Einwohner, deuten diese Zahlen nicht nur auf einen überproportionalen Beitrag der Juden an den Einnahmen der Staatskasse hin, sondern auch auf eine überdurchschnittliche wirtschaftliche Produktivität und damit einen überproportionalen Anteil an der Entwicklung der preußischen Wirtschaft. In der Folgezeit trat dieser Befund noch stärker hervor, wie die folgende Aufstellung zeigt: Akziseeinnahmen des preußischen Staates in Berlin1

1699 1703 1705

Zahlungen der Berliner Juden

Zahlungen Berlins insgesamt

15268 Taler 42495 Taler 117431 Taler

89413 Taler 134631 Taler 168332 Taler

Ähnliches belegt eine Bestandsaufnahme für Königsberg aus den Jahren 1691/92. Die steigende Bedeutung der Juden für Preußens Wirtschaft erwies sich als willkommener Anlaß zur kontinuierlichen Erhöhung ihrer Abgaben. Für die aufwendige Hofhaltung Friedrichs I., für die Armee Friedrich Wilhelms I. und schließlich für die Großmachtpolitik Friedrichs II. waren große Summen notwendig, für die die Akzise- und Kontributionseinnahmen bald nicht mehr ausreichten. In immer kürzeren Abständen wurden deshalb zusätzliche Steuern erhoben. So mußte die Berliner jüdische Gemeinde ab 1700 jährlich eine besondere Steuer von 1000 Dukaten zahlen. Ursprünglich hatte man sogar 3000 Dukaten 1

Angaben nach: Stern 1962ff., Bd. 1, S.123.

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gefordert. Außerdem wurde der Beitrag der Juden zur Unterhaltung des Militärs auf 30360 Taler Werbekosten und 55068 Taler Verpflegungskosten im Jahr taxiert. Neben der kontinuierlichen Anhebung der Belastungen bis hin zu schikanöser Ausbeutung zeigte sich die „absolutistische Normalität“ des preußischen Machtstaates für die Juden im wesentlichen noch in zwei weiteren Punkten: der vom Staat betriebenen Unterscheidung zwischen „erwünschten“ und „unerwünschten“ Juden sowie den staatlich geplanten Münzmanipulationen unter Mitwirkung jüdischer Unternehmer. Abgaben und „Ausleseverfahren“ Friedrich II. (1740–1786) führte das Prinzip, die Gesamtheit der Juden in verschiedene Kategorien mit jeweils unterschiedlichen Rechten einzugruppieren, systematisch in die Judenpolitik ein. Nach dem 1750 von ihm erlassenen Edikt sollte es folgende Gruppen von Juden geben: 1. Generalprivilegierte; 2. ordentliche Schutzjuden; 3. außerordentliche Schutzjuden; 4. „publique jüdische Bediente“ (Gemeindeangestellte); 5. Unvergleitete, d. h. ohne Geleitschutz Anwesende – in der Regel Hausierer, Trödler und Betteljuden – sowie das häusliche Gesinde. Das Edikt von 1750 brachte den preußischen Juden insgesamt die bislang härtesten Vorschriften. So hatten sie neben den ständig erhöhten regelmäßigen Abgaben (z. B. für „Schutzgelder“ und „Rekrutengelder“) u. a. noch Folgendes zu leisten: Sie mußten den Münzhof mit einer bestimmten Menge Silber zu festgelegten Preisen, die unter dem Marktwert lagen, beliefern. Für das Ausstellen von Urkunden hatten sie Stempelgebühren zu zahlen, wobei für die Ausstellung eines Trauscheins eine Sondergebühr verlangt wurde. Bei einer Eheschließung hatte das erste ein eigenes Heim gründende Familienmitglied 100 Taler, das zweite Familienmitglied 150 Taler zu zahlen. Hinzu kam die Abnahme von Erzeugnissen der königlichen Manufakturbetriebe im Wert von 1500 Talern. An dem Juden-Edikt Friedrichs II. und den kontinuierlich erhöhten Abgaben zeigt sich besonders deutlich, daß der Hohenzollern-Staat nur diejenigen Juden dulden wollte, von denen er sich einen wirtschaftlichen Nutzen versprach, sei es als Händler, Geldbeschaffer oder Fabrikanten. Dahinter stand eine bestimmte Systematik. Preußen wurde in erster Linie deshalb groß, weil seine Herrscher verstanden, daß das kleine und rückständige Land nur dann modernisiert werden konnte, wenn man andernorts aus konfessionellen Gründen nicht geduldete Leistungsträger wie Unternehmer und Handwerker einwandern ließ. Französische Hugenotten oder eben auch Juden konnten in dieser Konstellation eine Art Ersatzbürgertum sein, das sich gezielt zur wirtschaftlichen Modernisierung einsetzen ließ. Juden hatten als Gegenleistung für die als „Privileg“ verstandene Genehmigung der Einwanderung zwar Sonderabgaben zu zahlen, aber sie verstanden es, die Möglichkeiten, die ihnen in dieser Weise kaum ein anderer Staat des 17. Jhs. bot, zu nutzen. Damit setzte eine ständige Aufwärtsbewegung ein, die Teile des preußischen Judentums zu Wohlstand, obrigkeitlich gedecktem Ansehen und politischer Sicherheit führte. Obwohl die rechtliche Absicherung nur für die von staatlicher Seite erwünschten Juden galt, funktionierte dieses „Ausleseverfahren“ nur unzulänglich. Gerade die reichen und

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wohlhabenden jüdischen Familien, die man ja durchaus im Land haben wollte, benötigten für ihre Geschäftstätigkeit die weniger Begüterten als Mittler, Händler, Agenten oder Hilfskräfte. Die Angehörigen dieser unteren Schichten waren in den meisten Fällen als illegale Zuwanderer gekommen. Viele von ihnen blieben als legale Einwohner, weil sie Aufenthaltsrechte zweiten, dritten oder vierten Grades über die wohlhabenden und für den Staat wichtigen Familien erhielten. Damit zeigte sich das Dilemma der preußischen Judenpolitik in vollem Ausmaß: Wenn man eine funktionsfähige ökonomische Elite des Judentums als „Ersatzbürgertum“ haben wollte, dann mußte man die mit ihr verbundenen Unterschichten in Kauf nehmen. Dieses Dilemma wurde noch zusätzlich verschärft, weil gerade die jüdischen Unterschichten im 17. und 18.Jh. so gut wie nirgends geduldet wurden. Bei der zahlenmäßig stärker werdenden jüdischen Elite Preußens fanden die umherziehenden Trödler, Hausierer und Bettler günstigere Unterschlupfmöglichkeiten als anderswo in Deutschland. Im Osten grenzten die preußischen Territorien außerdem an das krisengeschüttelte Polen, das Zentrum des osteuropäischen Judentums. Im Gegensatz zu diesem auseinanderbrechenden Reich war der Schutz für vergleitete Juden in Preußen äußerst wirkungsvoll. Deshalb wurde der Hohenzollern-Staat auch für die Juden aus Osteuropa zu einem attraktiven Einwanderungsland. So nahm die jüdische Bevölkerung in Preußen trotz des Verbots der Ansiedlung für unvergleitete Juden stetig zu. Um 1743 waren in Berlin offiziell 120 Familien zugelassen. In Wirklichkeit lebten dort aber mindestens 333 jüdische Familien, insgesamt 1945 Personen. 1784 wohnten trotz der restriktiven Maßnahmen Friedrichs II. bereits 3670 Juden in Berlin, ca. 2,5% der Gesamtbevölkerung – bis 1740 waren es lediglich einige Promille gewesen. Juden in der Kurmark2 Jahr

Berlin

Provinz

Kurmark insges.

1750 1760 1770 1780 1790 1800

2188 2791 3842 3386 3379 3322

1685 1711 1996 2472 2255 2456

3872 4502 5838 5858 5634 5748

Die Funktion der Hofjuden Einige Angehörige der jüdischen Oberschicht gelangten im Fürstendienst zu hohem Ansehen und großem wirtschaftlichen Erfolg. Zwar hatten bereits während des späten Mittelalters europäische Herrscher Juden als Hoffinanziers, Juweliere und Edelmetallhändler ein2

Angaben nach: Bruer 1991, S.84.

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gesetzt, doch wurde diese Praxis während des 17. und noch mehr im 18. Jh. intensiviert. In wenigen Ländern erreichten die Hofjuden allerdings einen derart spektakulären Aufstieg wie in Preußen. Hier kam vieles zusammen: ehrgeizige, aber vergleichsweise arme Könige, ein Mangel an einheimischen Finanziers und als wichtige Drehscheibe die Grenze zu Polen. Friedrich Wilhelm I. (1713–1740) hatte einige Juden noch widerwillig als Armeelieferanten beschäftigt und sie für ihre Dienste mit sogenannten Generalpatenten entschädigt. Auf diese Weise wurde beispielsweise der „Hof- und Garnisonsjude“ Mayer Rieß 1724 den christlichen Kaufleuten gleichgestellt. Bezeichnend daran ist, daß Mayer Rieß auf sein Patent nicht weniger als elf Schutzprivilegien für andere Familien erhielt, von denen wiederum weitere Familien Privilegien ableiten konnten. Unter Friedrich II. entwickelten sich die Schutzbriefe und Schutzprivilegien noch deutlicher zu Papieren, von denen nicht bloß eine Familie ihr Aufenthaltsrecht ableitete, sondern zahllose Einzelpersonen, die für Haushalt und/oder Betrieb des ursprünglich Berechtigten unentbehrlich waren. So gab es in Schlesien das „Famulizsystem“, mit dem auf einen Schutzbrief neben der ausdrücklich berechtigten Familie noch weitere 50 Juden ein Aufenthaltsrecht begründen konnten. Während des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) mußte Preußen gegen so mächtige Gegner wie Österreich und Frankreich bestehen. Wenn dies gelingen sollte, dann war auch die Finanzquelle zu nutzen, die seit dem 16. Jh. im ganzen Reich bekannt war: Münzen wurden wie Edelmetalle aufgekauft und im Gegenzug der Wertgehalt des selbst geprägten Geldes reduziert. Als Agenten und Ausführende kamen dafür nur die im Geld- und Edelmetallhandel Europas generell dominierenden jüdischen Unternehmer in Frage. So waren die Münzprägungsanstalten in der Regel an Juden verpachtet. In diesen Pächtern, vor allem in Unternehmern wie Daniel Itzig und Veitel Ephraim, fand der König die Helfer, mit denen er eine systematische Manipulation von Münzen betreiben konnte. Ephraim hatte beispielsweise 1756 in dem von Preußen besetzten Sachsen die Leipziger und Dresdner Münzstätten zur Pacht übernommen. Er ließ dort über eine Million Taler herstellen. Aus einer Mark Silber wurden jedoch nicht wie im Reich üblich 14, sondern bis zu 19 Taler gewonnen. Wollte man diese Münzen in den Verkehr bringen oder gar den österreichischen Armeen Geldwechsler hinterherschicken, die im Troß Habsburgs werthaltige Taler und Groschen gegen Preußens minderwertige Zahlungsmittel eintauschten, dann brauchte man hierfür die jüdischen Unterschichten in besonderem Maße. Das gleiche gilt für die besonders rabiat betriebene Münzverschlechterung polnischer und russischer Stücke durch Beimengung von Kupfer. Die preußischen Prägeanstalten reduzierten den Feingehalt um die Hälfte. Mit diesem Geld wurden vor allem in Polen wichtige Geschäfte durchgeführt: Jüdische Agenten, vorwiegend die des Daniel Itzig, kauften dort ständig werthaltige Münzen und Getreide, wofür sie mit den vergleichsweise wertlosen preußischen Geldstücken bezahlten. Die Erträge aus den Münzmanipulationen waren gewaltig. Insgesamt hatte der Siebenjährige Krieg Preußen 170 Millionen Taler gekostet. Die Einnahmen aus den Münzgeschäften deckten hiervon 17%. Folglich bescherten die Münzgeschäfte auch den jüdischen Unternehmern enorme Gewinne.

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Die längerfristige Bedeutung dieses Prozesses bestand darin, daß den reich gewordenen Familien der Ausbruch aus dem bisher üblichen Status von Untertanen minderer Klasse gelang, und dies, obwohl Friedrich II. im allgemeinen von Generalprivilegien für einzelne jüdische Familien nichts hielt. Noch 1756 hatte er einen entsprechenden Antrag Ephraims abgelehnt. Der Krieg und die wachsende Abhängigkeit von jüdischen Finanziers brachten hier jedoch eine Wende. Ephraim und Itzig erhielten 1761 für sich wie für ihre Nachkommen „Generalprivilegien christlicher Kaufleute und Bankiers“. Damit waren Zeichen gesetzt. Bis zu seinem Tod stattete Friedrich II. in Berlin zwölf, in Breslau sechs weitere Familien mit Generalprivilegien aus. Diese politische Absicherung einzelner Familien begünstigte in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. einen bedeutsamen Prozeß. Mit ihrem Reichtum und der Hinwendung zur Kultur der Umwelt begannen sich jüdische Unternehmer von den starren Bindungen an das herkömmliche Gemeindeleben zu lösen. Soziale Schichtung Repräsentative Aussagen zum Wohlstand und zur sozialen Stellung der Juden im preußischen Staat sind erst ab dem ausgehenden 18.Jh. möglich. Nur für Berlin existieren auch für frühere Jahrzehnte einige Angaben. 1750 gab es in der Stadt 321 Schutzjuden. Davon widmeten sich 74,4% dem Handel, 11,5% fanden ihr Auskommen in Sparten, die dem gewerblichen Bereich zuzurechnen waren. Die restlichen 1,4% setzten sich vornehmlich aus Lehrern und Rabbinern zusammen. Allerdings waren die 321 Schutzjuden nur ein Teil des Berliner Judentums, und zwar derjenige, der originäre Aufenthaltsrechte vorweisen konnte. Zählte man die Juden mit abgeleiteten Privilegien hinzu, dann hatte die jüdische Gemeinde Berlins insgesamt 802 Erwerbspersonen. 35% von ihnen waren als Gesinde beschäftigt oder schlugen sich als Tagelöhner und Handlanger durch. Von den insgesamt 802 jüdischen Erwerbspersonen Berlins lebten 64,7% am Existenzminimum. Etwas über 26% waren mittelmäßig begütert und nur 9% konnten als reich gelten. Gerade diese Oberschicht stieg in den folgenden Jahren zu einer Bedeutung auf, die man vorher nicht einmal annähernd erahnen konnte. Insgesamt legten die rigiden Judengesetze den Betroffenen jedoch eine große Belastung auf. Die große Masse der Juden konnte nicht anders, als den Kleinhandel oder das Hausierer- und Trödlergewerbe zu betreiben. Bei einzelnen zeigte sich jedoch schon, daß sie aus den kleinlichen Verhältnissen auszubrechen und sich Geschäften größeren Umfangs zuzuwenden vermochten. In ihrem Sog etablierte sich vor allem während der zweiten Regierungshälfte Friedrichs II. eine Art jüdischer Mittelstand. Die Verordnungen, mit denen der König die wirtschaftliche Tätigkeit der Juden einschränkte, lenkten diese noch intensiver in die wenigen für Juden zugelassene Erwerbszweige. Wie den Hofjuden blieb auch den jüdischen Kaufleuten gar nichts anderes übrig, als mit höheren Risiken zu arbeiten. Folglich betätigten sie sich vorwiegend in noch nicht „besetzten“ Wirtschaftsbereichen oder konzentrierten sich auf Aktivitäten wie den Import, z. B. von Schokolade und Kaffee, wo sie eine monopolartige Stellung innehatten. Hier

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kamen ihnen die zahlreichen Verbindungen mit ihren Glaubensgenossen im Außenhandel zugute. Trotz der Regulierungspolitik weiteten sich die wirtschaftlichen Betätigungsfelder der Berliner Juden schon in den siebziger Jahren des 18. Jhs. aus. In einer Liste der Betriebe, die jüdischen Unternehmern gehörten, wurden unter anderem folgende Bereiche erwähnt: Seide, Baumwolle, Zwirn, Likör, Leder, Leinen, Gold und Silber.

Veränderungen durch die Aufklärung (1770–1805) Die Veränderungen, denen das preußische Judentum während des 18. und 19. Jhs. unterworfen war, zählen zu den spannendsten Prozessen, die die europäische Sozialgeschichte zu bieten hat. Wie in fast allen deutschen Territorien mit jüdischen Niederlassungen hatten auch in Preußen die jüdischen Gemeinden auf den externen Druck der Staatsgewalt mit einer zunehmenden internen Hierarchisierung reagiert. Die Geschicke der Gemeindemitglieder wurden von den Angehörigen der Oberschichten, die im Bunde mit den Rabbinern standen, lange Zeit nahezu absolutistisch regiert. Im ausgehenden 18. Jh. rebellierten dann die gebildete Jugend und soziale Aufsteiger gegen die Herrschaftskombination aus neuem Reichtum und alter Schriftgelehrtheit. Die Revolte stand im Zeichen der jüdischen Aufklärung (Haskala) und bildete den Anstoß für einen Modernisierungsprozeß des preußischen Judentums. Das traditionelle, von Schriftgelehrten und Rabbinern stets aufs Neue interpretierte jüdische Wertesystem war jahrtausendelang die wichtigste Grundlage für die Existenz der Juden inmitten verschiedenster Kulturen. Die jüdische Aufklärung versetzte dieser traditionellen Schriftgelehrtheit einen so heftigen Stoß, daß diese ihre prägende Kraft für das geistige und soziale Leben in den Gemeinden West- und Mitteleuropas verlor. Nur in den osteuropäischen Gebieten konnte die rabbinische Orthodoxie ihren Machtanspruch behaupten. In Preußen waren es zuerst die wohlhabenden Familien und einzelne wie Moses Mendelssohn, die sich häufig bei der jüdischen Finanzaristokratie als Hauslehrer verdingten, die sich von der traditionellen, strikt an den religiösen Vorschriften orientierten und nach außen abgeschlossenen Lebensform abwandten. In der Haskala formierten sich diese einzelnen zu einer Bewegung, die mit Unterstützung des Staates eine neue, schon auf die Assimilation gerichtete Lebensform proklamierte. Sobald die Werte dieser neuen Lebensform in das Bildungssystem eindrangen, konnte kein Zweifel mehr bestehen, daß der jüdische Traditionalismus zu einer versöhnlichen Haltung finden mußte, wenn er nicht à la longue völlig untergehen wollte. Diese reformerische Position konnte nur in einem Mittelweg zwischen Haskala und Tradition bestehen. Sie sollte sich erst in den zwanziger Jahren des 19. Jhs. entwickeln. Eine Alternative zum Umbau des jüdischen Bildungssystems gab es nicht. Mit dem Übergang vom merkantilen Wirtschaftssystem zur Industriegesellschaft stiegen allenthalben die erwerbsbedingten Anforderungen an die Bevölkerung. Im Rückblick bildeten die Reform

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und die Öffnung des jüdischen Bildungssystems zu Wissensdisziplinen wie der deutschen Sprache oder auch der Mathematik die Voraussetzung für das Entstehen einer breiten jüdischen Mittelklasse, die ihren Lebensunterhalt dank guter Ausbildung auch als Angestellte verdienen konnte. Wenn man bedenkt, daß noch an der Wende vom 18. zum 19. Jh. die überwältigende Mehrheit der deutschen Juden in bitterster Armut gelebt hatte, stellte diese Entstehung einer jüdischen Mittelklasse einen der markantesten sozialgeschichtlichen Prozesse in der jüdischen Geschichte des 19. Jhs. dar. So gesehen bildeten Preußens Aufklärung und Haskala die Anfänge einer bemerkenswerten Wende, die schließlich ganz Mitteleuropa erfassen sollte. Aufklärung und Haskala führten auch zu Veränderungen im christlichen Judenbild, das jahrhundertelang von Diskriminierung und Feindseligkeit, ja sogar Haß geprägt gewesen war. In seinem Jugendstück Die Juden präsentierte Gotthold Ephraim Lessing 1749 einen Juden auf der Bühne, über den ein Christ sagt: „[…] verehrungswürdig wären die Juden, wenn sie alle Ihnen glichen.“ Die Antwort des Juden: „Und wie liebenswürdig die Christen, wenn sie alle Ihre Eigenschaften besäßen.“ In seinem Nathan der Weise setzte Lessing 1779 das mit den Juden angeschnittene Thema fort. Ein Klosterbruder urteilt über den Titelhelden: „Nathan […] Ihr seid ein Christ! Ein besserer Christ war nie!“ Dieser erwidert kühl: „[…] was mich Euch zum Christen macht, das macht Euch mir zum Juden.“ Lessings Stücke, die für eine Versöhnung der Religionen im Zeichen der Vernunft plädierten und dabei das Judentum durchaus in einem positiven Licht erscheinen ließen, sind nur die prominentesten Beispiele einer allgemeinen Tendenz auf den Berliner Bühnen. Zahllose Autoren verwandelten Shakespeares Shylock in einen „guten Juden“. Programm zur Verbürgerlichung Das epochemachende und ungewöhnlich intensive Debatten auslösende Plädoyer für die Emanzipation der Juden schrieb ein Freund von Moses Mendelssohn und Lessing. Mendelssohn hatte stets die Ansicht vertreten, daß Schriften zur Verteidigung der Juden besser von Nichtjuden kommen sollten. Als sich elsässische Juden 1781 mit der Bitte um Abfassung einer Schutzschrift an ihn wandten, bat er folglich den preußischen Verwaltungsbeamten Christian Wilhelm von Dohm (1751–1820), diese Aufgabe zu übernehmen. Dohm verfaßte daraufhin eine Verteidigungsschrift, die sich als das grundlegende Werk der Aufklärung zur Judenfrage erweisen sollte. Dohm hielt durchaus an der negativen Einschätzung der Juden fest: Ich kann es zugeben, daß die Juden sittlich verdorbener sein mögen als andere Nationen; daß sie sich einer verhältnismäßig größeren Zahl von Vergehungen schuldig machen als die Christen, daß ihr Charakter im ganzen mehr zu Wucher und Hintergehungen im Handel gestimmt, ihr Religionsvorurteil brennender und ungeselliger sei.

Er beließ es jedoch nicht bei dieser negativen Sicht. Ganz im Sinne der deutschen Aufklärung, die für Mißstände stets vernunftwidrige, äußere Umstände verantwortlich machte, folgerte Dohm, daß die

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einmal vorausgesetzte größere Verdorbenheit der Juden eine notwendige und natürliche Folge der drückenden Verfassung ist, in der sie sich seit so vielen Jahrhunderten befinden.

Diese Politik nannte er ein Überbleibsel der Barbarei der verflossenen Jahrhunderte, eine Wirkung fanatischen Religionshasses, die der Aufklärung unserer Zeit unwürdig, durch dieselbe längst hätte getilgt werden sollen.3

Sein Vorschlag zur Änderung dieses Zustandes zielte vor allem auf die völlige Gleichberechtigung. Mit Dohms Schrift lag das Programm zur Verbürgerlichung der Juden in Preußen und Deutschland auf der Basis der rechtlichen Gleichstellung vor. Als eine der wichtigsten Maßnahmen, die in diesem Zusammenhang ergriffen werden sollten, betrachtete Dohm es, die Juden von den Handelsberufen abzubringen und sie für Ackerbau und Handwerk zu interessieren. Die von christlichen Aufklärern und jüdischen Maskilim unternommenen Anstrengungen zur Verbürgerlichung der preußischen Juden stellen freilich nur die eine Seite der Medaille dar. Die Beharrungskräfte waren vor allem unter den polnischen Juden, die durch die polnischen Teilungen (1772, 1793 und 1795) unter preußische Herrschaft kamen und an Zahl die vom Hohenzollernstaat geprägten westlichen Juden weit übertrafen, sehr stark. Diese osteuropäischen Juden verkörperten in ihrer ungebrochenen Bindung an die Tradition genau die Lebensformen, von denen sich ein beträchtlicher Teil der Juden im Westen schon entfernt hatte. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß sich die traditionelle jüdische Bildung in Preußen bald nur noch mit Lehrern und Schriftgelehrten aus Polen aufrechterhalten ließ. Mit ihrem Festhalten an den traditionellen Lebensformen bildeten Preußens polnische Juden – wie die des Ostens generell – das mächtigste Bollwerk gegen die Assimilation. Sowohl für ihre um Assimilation bemühten Glaubensgenossen im Westen als für deren christliche Umgebung waren die Ostjuden deshalb eine ständige Erinnerung an das von der Aufklärung bekämpfte Zerrbild des Juden. Sachsen und Hamburg In Sachsen hing die Ansiedlung der Juden mit dem in Dresden ansässigen Unternehmer und Hofjuden Behrend Lehmann (Issachar Bermann) aus Halberstadt zusammen, der für den Kurfürst August praktisch unentbehrlich war. Im Jahre 1697 stellte er beispielsweise dem Kurfürsten von Sachsen die für die Erwerbung des polnischen Thrones benötigten zehn Millionen Taler zur Verfügung. Aus einigen Familien im Einflußbereichs Lehmanns entwickelten sich in Dresden und Leipzig bedeutende jüdische Gemeinden. Parallelen zu Preußen sind darin zu finden, daß Sachsens Bürokratie gegen die vor allem in Zentren wie Dresden und Leipzig stark gewachsenen Gemeinden restriktiv vorging. Den „Privilegierten“ bürdete man für die ihnen bewilligten „Konzessionen“ schwere Steuer3 Christian Wilhelm Dohm, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Teil I, Berlin/Stettin 1781, S.34ff.

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lasten auf, während man bestrebt war, die Unbemittelten auszuweisen. Dies geschah z. B. 1777 in Dresden, als mehrere hundert Juden aus der Stadt vertrieben wurden. In den folgenden Jahren verlief die Judenpolitik Sachsens eher unspektakulär. Als Vergleich zu Preußen und aufgrund der durch die Situation der Hafen- und Hansestadt bedingten Sonderentwicklung verdient die jüdische Ansiedlung in Hamburg und in den benachbarten dänischen Städten wie Altona besonderes Interesse. Hamburg ist fast die einzige Stadt Deutschlands, in der sowohl eine aschkenasische als auch eine sefardische Gemeinde existierte. Schon in der ersten Hälfte des 17. Jhs. hatten sich die von der Iberischen Halbinsel vertriebenen Sefardim in Hamburg niedergelassen. Für den Überseehandel der Region kam ihnen große Bedeutung zu, da sie über weitverzweigte Kontakte verfügten. Demzufolge war die Politik des Hamburger Senats ihnen gegenüber – trotz des Widerstandes der christlichen Kaufmannschaft und der Geistlichkeit – vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht großzügig. Die Situation der Aschkenasim war zunächst ungleich schwieriger. In der Hansestadt selbst entstand im Umfeld der sefardischen Gemeinde im 17. Jh. nur eine kleine Kolonie von Aschkenasim, die sich als Hausangestellte der wohlhabenderen sefardischen Kaufleute und später auch als selbständige Kleinhändler betätigten. Diese von den Sefardim „Tudescos“ (Deutsche) genannten aschkenasischen Juden mußten Hamburg 1649 auf Verlangen der Bürgerschaft verlassen, kehrten jedoch bald in die Stadt zurück. Einige von ihnen ließen sich jedoch auch in den zu Dänemark gehörenden Städten Altona und Wandsbek nieder, in denen zu diesem Zeitpunkt bereits aschkenasische Gemeinden existierten. Auch hier hatten sie jedoch unter der Feindseligkeit der christlichen Bevölkerung zu leiden – allein in Altona kam es während des 17. und 18. Jhs. viermal zu öffentlichen Ausschreitungen gegen die Juden. In Hamburg begann die aschkenasische Gemeinde die sefardische Gemeinde in den letzten Jahrzehnten des 17. Jhs. sowohl in demographischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht einzuholen, und im 18. Jh. gelang es ihr, diese in beiden Beziehungen bei weitem zu übertreffen. Während die sefardische Gemeinde um 1800 fast in die Bedeutungslosigkeit herabgesunken war, war die aschkenasische Gemeinde zu dieser Zeit die größte Deutschlands. Die rechtlichen Bedingungen für ihren Aufenthalt in der Stadt formulierte die 1710 erlassene Judenordnung, die einen Bestandteil des auf kaiserliche Intervention zustande gekommenen Langen Rezesses aus demselben Jahr darstellte. Laut dieser Judenordnung, die die aschkenasischen Juden erstmals den sefardischen Juden gleichstellte, hatte die aschkenasische Gemeinde neben den normalen und außerordentlichen Abgaben, die alle Stadtbürger zahlen mußten, Sonderzahlungen zu leisten, die zwischen Stadt und Judenschaft je nach Vermögen jährlich festgelegt wurden. Das Reglement von 1710 galt bis zur Zeit Napoleons und wurde nach 1815 wieder in Kraft gesetzt.

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Reformpolitik und Emanzipation im Zeichen der Napoleonischen Kriege (1805–1815) Im ausgehenden 18. Jh. hatte sich Preußens Judenpolitik auch wegen der territorialen Veränderungen des Staates zu einem undurchschaubaren Geflecht einander z.T. widersprechender Bestimmungen entwickelt. Die zeitgemäße Lösung konnte eigentlich nur noch in der Beseitigung dieser Gesetze und in der rechtlichen Angleichung an die übrigen Unter tanen bestehen. Von einem den Juden so ablehnend gegenüberstehenden Herrscher wie Friedrich II. war dies aber nicht zu erwarten. Sein Nachfolger Friedrich Wilhelm II. (1786– 1797) empfand zwar anders, war aber zu schwach, um eine Emanzipation der Juden Preußens gegen die Bedenken der Bürokratie durchzusetzen. So versandeten zwischen 1787 und 1801 mehrere Anläufe zur Verbesserung der rechtlichen Lage der Juden. Immerhin wurde im Oktober 1801 die Solidarhaftung, nach der für ein Vergehen eines einzelnen Juden die gesamte Gemeinde haftete, abgeschafft. Hierin erschöpften sich jedoch bereits die Versuche zur Emanzipation der Juden im preußischen Ancien Régime. Bis zur Niederlage bei Jena und Auerstedt von 1806 erwies sich der Hohenzollernstaat als unfähig, seine erstarrte Administration und veraltete Sozialstruktur mit zeitgemäßen Zügen auszustatten. Die gescheiterten Versuche zur Emanzipation der Juden waren nur einer der Aspekte dieser generellen Erstarrung. Reformpolitiker wie Reichsfreiherr Karl vom und zum Stein (1757–1831) und Freiherr Karl August von Hardenberg (1750–1822) standen nach der Niederlage von 1806 vor der Herausforderung, den bedrängten Hohenzollernstaat so zu reformieren, daß er zunächst lebensfähig blieb, um später Frankreich und Bonaparte widerstehen zu können. Aussichtsreich konnte diese Hoffnung nur unter der Voraussetzung eines gründlichen Umbaus von Staat und Gesellschaft sein. Alle zur Verfügung stehenden Ressourcen mußten genutzt werden. In diesem Plan konnten für Hardenberg die Juden Preußens nicht ausgeklammert bleiben. Insbesondere für die Wirtschaft des Landes versprach er sich, ganz im Sinne der Überlegungen Dohms, von einer Gleichstellung der Juden wichtige Beiträge. Die Emanzipation der Juden nach den von Dohm vorgegebenen Leitlinien stellte somit ein Element der generellen Reformpolitik, die nun in die Wege geleitet wurde, dar. Kein preußischer Politiker förderte die Emanzipation der preußischen Juden so nachdrücklich wie der ab 1810 als Staatskanzler amtierende Hardenberg. Schon am 6. März 1812 legte dieser dem König ein Emanzipationsgesetz zur abschließenden Besprechung vor. Friedrich Wilhelm III. (1797–1840) stimmte dem Entwurf grundsätzlich zu, lehnte aber einige Einzelbestimmungen, z. B. die Öffnung der Beamten- und Offizierslaufbahn für Juden, ab. Der vom König veränderte Wortlaut enthielt daher schließlich Einschränkungen, die der preußischen Bürokratie auch später noch dazu dienten, den Aufstieg von Juden in die Offiziersränge zu verhindern. Am 11. März 1812 wurde das 39 Paragraphen umfassende Edikt rechtskräftig. Alle in den damaligen Landesgrenzen Preußens legal lebenden Juden wurden durch dieses Edikt den Christen annähernd gleichgestellte „Einländer“. Das jahrzehntelange Ringen der preußischen Juden um die staatsbürgerliche Emanzipation hatte damit einen (vorläufigen) Abschluß gefunden.

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Das Emanzipationsedikt von 1812 galt für das seit der Niederlage gegen Napoleon deutlich verkleinerte „restpreußische“ Gebiet. Der größte Teil Deutschlands stand zu dieser Zeit jedoch unter der Herrschaft anderer Staaten: Im Süden regierte Österreich, der Westen war bis zum Rhein direkt an Frankreich gefallen, und im Norden hatten sich französische Vasallenstaaten etabliert. Die im Rheinbund zusammengeschlossenen rechtsrheinischen Staaten waren ebenfalls von Frankreich abhängig. Wie überall in Europa wurde auch in Deutschland in den direkt oder indirekt unter der Herrschaft Napoleons stehenden Staaten unter dem französischen Einfluß die Emanzipation der Juden betrieben. So galten in den linksrheinischen Gebieten nun die französischen Emanzipationsgesetze von 1791, und im Königreich Westfalen, Napoleons Modellstaat für Deutschland, wurde ebenfalls die vollständige bürgerliche Gleichstellung der Juden gegen den heftigen Widerstand von Bürokratie, Kaufleuten und Handwerkern durchgesetzt. In den meisten Rheinbundstaaten hingegen kamen die Emanzipationsgesetze nur mit eingeschränkten Bürgerrechten für die Juden zustande. Vergleichsweise wenig änderte sich für die Juden in einigen am äußersten Rand des Rheinbunds gelegenen Staaten wie Sachsen, Mecklenburg-Strelitz und MecklenburgSchwerin. Im Vergleich mit den in den übrigen deutschen Staaten erlassenen Emanzipationsedikten nahm das preußische Edikt von 1812 eine Art Mittelposition ein. Es war großzügiger als die Gesetze in vielen Rheinbundstaaten und schon gar als die in den eher abseits gelegenen Staaten wie Sachsen oder Thüringen, infolge einiger Beschränkungen aber auch nicht so umfassend wie das des Königreichs Westfalen. Aufs Ganze gesehen hatte Preußen 1812 seinen Juden – zumindest auf dem Papier – mehr zugestanden als das Gros der deutschen Staaten. Einen Überblick gibt die Tabelle auf der folgenden Seite.

Restauration, Revolution und neuerliche Restauration (1815–1860) In den Jahrzehnten seit 1770 begann der Weg der deutschen Juden in die Moderne, der einerseits durch eine partielle Aufgabe der religiösen Tradition durch die Juden selbst und andererseits durch von verschiedenen Seiten betriebene Bemühungen um ihre mehr oder weniger vollständigen bürgerlichen Gleichstellung gekennzeichnet war. Dieser Weg mündete in der oben beschriebenen Emanzipationsgesetzgebung der napoleonischen Zeit. Mit dieser schien eine liberale Lösung für die „Judenfrage“ gefunden zu sein. Mit der Entkonfessionalisierung des Staats- und Gesellschaftslebens war es möglich geworden, Juden nicht mehr als religiös gebundenes Kollektiv innerhalb eines Staates, sondern als der bürgerlichen Teilhabe befähigte Individuen zu verstehen. Die Juden vollzogen diesen Wandel von ihrer Seite aus nach. So war das auffallendste Merkmal der preußischen Judenschaft in den Jahren nach 1812 die Intensität, mit der sie sich an die Umwelt anzugleichen suchten. Als zahlenmäßig erfaßbarer Beleg für diese Assimilationsbestrebungen kann die Zahl der Konversionen von Juden zum Christentum dienen, die vor allem in Preußen ganz erheblich zunahm.

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Albert Bruer Die Emanzipation der Juden in deutschen Territorialstaaten

Gruppe 1: Von 1808 bis 1814 Emanzipation nach dem Muster des Königreichs Westfalens. Danach Beseitigung oder administrative Beschränkungen

Braunschweig, Bremen, Hamburg, Lübeck: Emanzipation um 1816 wieder außer Kraft gesetzt. Hannover: Nach 1814/15 nur noch Schutzverhältnisse; seit 30. September 1842 Bürgerrechte ohne politische Rechte. Hessen-Kassel: Seit 1814 nur noch eingeschränkte und ausgewählte Staatsbürgerrechte; seit 1833 Staatsbürgerrechte aufgrund der Verfassung von 1831.

Gruppe 2: Preußen

Gruppe 3: Unterschiedliche, überwiegend traditionelle Regelungen

In Altpreußen seit 1808 Stadtbürgerrechte; nach Gesetz vom 11. März 1812 Staatsbürgerrechte mit Einschränkungen. In den später hinzugekommenen Gebieten insgesamt 22 unterschiedliche Judenordnungen, die erst im Juli 1847 vereinheitlicht wurden. In der Provinz Posen von 1833 bis 1848 Sonderregelungen.

Holstein und Lauenburg: Duldung nur in einzelnen Städten; in Altona Stadtbürgerrechte für Sefarden. Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz: 1813 bis 1817 Judengesetze nach dem preußischen Muster; dann Schutzverhältnisse mit Verbesserungen, in Strelitz „Recognitionsgeld“ (Sondersteuer) für Kultuszwecke. Oldenburg: Für Teile des Landes Birkenfeld eingeschränkte Emanzipation; im übrigen Gebiet bis 1827 keine eigentlichen Bürgerrechte, sondern auf den ältesten Sohn vererbbare Schutzzusagen. Königreich Sachsen: Duldung nur in Dresden und in Leipzig zur Messe. Sachsen-Weimar: In der Praxis stark eingeschränkte Staatsund Lokalbürgerrechte nach Verordnung vom 20. Juni 1823. Schwarzburg-Sondershausen: Seit 28. Februar 1815 Staatsbürgerrechte mit gewerblichen Einschränkungen; in anderen thüringische Staaten Duldung von Juden nur mit persönlichen Schutzbriefen; in Meiningen teilweise individuelle Einbürgerung.

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In den Jahren 1815 bis 1847/48 und auch noch darüber hinaus stand jedoch die vollständige bürgerliche Gleichstellung der Juden nicht mehr auf der politischen Agenda. Vielmehr wurde die „Judenfrage“ mit der Rückkehr zu einem christlichen Staats- und Gesellschaftsverständnis von der nun dominierenden Restauration verdrängt. Ein Vorfall, der sich 1816, vier Jahre nach dem Erlaß des preußischen Emanzipationsedikts zutrug, illustriert den Rükkschritt, der in diesem Bereich zu verzeichnen war: Ein jüdischer Kaufmann hatte sich mit der Bitte an Friedrich Wilhelm III. gewandt, einen seiner Söhne nach dem König nennen zu dürfen. Der über dieses „Ansinnen“ erboste Monarch verbot daraufhin nicht getauften Juden, eindeutig christliche Namen anzunehmen. Erst die Revolution von 1848 führte dazu, daß Juden Namen wie „Christian“, die explizit christlich konnotiert waren, tragen durften. Beschränkung der Emanzipation Die teilweise oder vollständige Rücknahme der Emanzipationsgesetze, wie sie sich nach 1815 allenthalben beobachten ließ, stand im Zusammenhang mit der restaurativen Atmosphäre dieser Jahrzehnte. Fortschrittsfeindlichkeit und reaktionäre Zielsetzungen fanden ihren deutlichsten Ausdruck in der von den Herrschern Preußens, Rußlands und Österreichs 1815 gegründeten „Heiligen Allianz“, der später fast alle christlichen Staaten Europas beitraten. Das Christentum war für die Politik wieder bestimmend geworden. Dies beinhaltete auch die Vorstellung vom Gottesgnadentum der Herrscher sowie die Rückkehr des schon für überholt gehaltenen ständischen Ordnungssystems. Die Aufklärung, die vor allem in Preußen die Bemühungen um die Emanzipation der Juden vorangetrieben hatte, konnte ihre führende Rolle nicht halten und verfiel zusehends der Bedeutungslosigkeit. Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) hatte die Aufklärung bereits 1801 als ein Fossil aus vergangenen Zeiten beschrieben. Gegenüber den Fürsprechern einer Judenemanzipation bemerkte er: Fällt euch denn hier nicht der begreifliche Gedanke ein, daß die Juden, welche ohne euch Bürger eines Staates sind, der fester und gewaltiger ist als die eurigen alle, wenn ihr ihnen auch noch das Bürgerrecht in euren Staaten gebt, eure übrigen Bürger völlig unter die Füße treten werden.4

Damit waren die heftigsten Sätze gegen die Juden und auch gegen das kosmopolitische Weltbild der Aufklärung gesprochen. In dem Weltbild eines so wirkungsmächtigen Denkers wie Fichte gab es für Juden ebensowenig Platz wie bei den einflußreichen Romantikern. Das Staats- und Gesellschaftsverständnis der Restauration war damit vorbereitet. Bereits auf dem Wiener Kongreß wurden mit der dort im Juni 1815 verabschiedeten Bundesakte die ersten Schritte zur Rücknahme der gewährten Bürgerrechte gemacht. Zwar hatten sich vor allem der preußische Staatskanzler Hardenberg und Wilhelm von Humboldt, seit 1810 Preußens Gesandter in Wien, für eine einheitliche Emanzipationsgesetzgebung aller deutschen Staaten als Bestandteil der Bundesverfassung eingesetzt, aber der Widerstand mehrerer kleinerer Staaten, darunter vor allem der Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck, war zu heftig. Sie forderten kompromißlos, die als unrechtmäßig ange4

Fichte, Werke VI, S.149f.

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sehene – weil von Frankreich oktroyierte – Gleichberechtigung der Juden rückgängig zu machen. Die „Regulierung des Judenwesens“ stand damit jeweils im Belieben der 39 Staaten des 1815 konstituierten Deutschen Bundes. In allen deutschen Staaten wurden die Rücknahme und die administrative Einschränkung der bereits erlassenen Emanzipationsgesetze vorgenommen. Bis zur Revolution von 1848 und der erst später erfolgenden endgültigen Emanzipation überzog Deutschland ein tristes Mosaik von überwiegend strengen Judengesetzen, die vor allem als „Erziehungsmaßnahmen“ gedacht waren: Die Juden sollten sich, so die Vorstellung, einer vollständigen Emanzipation zunächst als „würdig“ erweisen. Problematische Entwicklung in Preußen Besonders problematisch verlief die Entwicklung in Preußen. Hardenberg forderte zwar, das Edikt von 1812, das bislang nur für die Provinzen galt, die zum Zeitpunkt des Erlasses zu Preußen gehört hatten (Brandenburg, Pommern, Ostpreußen und Schlesien), auf alle Provinzen des 1815 erheblich erweiterten Staatsgebietes auszudehnen, konnte sich hiermit jedoch nicht gegen den Widerstand des Königs durchsetzen. Vielmehr wurden in den neuen Provinzen – mit Ausnahme einiger Gebiete im Westfälischen – alle unter französischem Einfluß eingeführten rechtlichen Verbesserungen für die Juden außer Kraft gesetzt und damit die Rechtslage wiederhergestellt, wie sie vor dem französischen Eingreifen bestanden hatte. So galten nun innerhalb der Grenzen des neuen preußischen Staates anstelle der einst erstrebten Verwaltungseinheit rund 20 verschiedene Judenordnungen. Die Rechtslage der Juden war also nach 1815 unsicherer und verworrener denn je. In Aussicht gestellte „neue allgemeine Bestimmungen“ blieben über drei Jahrzehnte lang ebenso ein uneingelöstes Versprechen wie die von Hardenberg vor dem Abschluß des Wiener Kongresses geäußerte Zusage, eine Verfassung zu erarbeiten. Aus den Beratungen der ersten Provinziallandtage über die künftige Judengesetzgebung (1824–1826) kam durchgehend die Empfehlung, die Judenfrage in den Provinzen restriktiv zu behandeln bzw. die alten Schutzverhältnisse wiederherzustellen. Auch wurden Eingriffe des Staates in das jüdische Kultus- und Unterrichtswesen gefordert, um ihrer „Absonderung“ entgegenzuwirken und die Juden „zur möglichst vervielfältigten Annahme des Christentums herbeizuführen“. Während der siebentägigen Debatten des Ersten Vereinigten Preußischen Provinziallandtages in Berlin im Dezember 1824 hatten Vertreter aus ländlichen Gebieten und Protestantisch-Konservative wie der Staatsminister Ludwig Gustav von Thile gegen die Gleichstellung der preußischen Juden offen Stellung bezogen. Begründung: Es sei dem Christentum „unerträglich, den Juden obrigkeitliche Rechte [d.h. höhere Ämter im Staatsdienst] beizulegen“.5 Die Emanzipation wurde abgelehnt. Solche Aussagen deckten sich mit den Überzeugungen Friedrich Wilhelms IV. (1840– 1861), der als „Romantiker auf dem preußischen Königsthron“ den „christlich-germanischen Staat“ propagierte. Unter ihm verschärfte sich die Situation der Juden weiter. Sie gal5

Zitiert nach: Elbogen/Sterling 1966, S.233.

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ten nun wieder als „fremde Körperschaft“, als „Staat im Staate“. Nachdem die revidierte Städteordnung von 1831 den Juden bereits den Zugang zum Bürgermeisteramt, das ihnen sowohl nach der Städteordnung von 1808 als auch nach dem Emanzipationsedikt von 1812 offengestanden hatte, versperrt und man ihnen 1833 die Ausübung des Schulzenamtes in ländlichen Gemeinden verboten hatte, bestätigte das Gesetz vom 23. Juli 1847 den preußischen Juden wiederum, daß sie nur Staatsbürger zweiter Klasse waren. So wurde Juden lediglich der Zugang zu solchen Staatsämtern erlaubt, die nicht die Ausübung einer „richterlichen, polizeilichen oder exekutiven“ Gewalt beinhalteten. Dies galt auch im kommunalen Bereich, sogar für gewählte Magistratsmitglieder und ernannte Beigeordnete. Um die Position eines Bürgermeisters oder Gemeindevorstehers sowie als deren Stellvertreter konnten sich Juden nicht bewerben. Von der Beratung und Abstimmung über christliche Kultus- und Unterrichtsangelegenheiten waren sie grundsätzlich ausgeschlossen. Für zwei Fünftel der in der Monarchie lebenden Juden, für die in der Provinz Posen, blieb es unverändert bei dem Ausschluß von den Rechten auf Freizügigkeit. Für die Juden Posens gab es eine Gewerbefreiheit ebensowenig wie die Möglichkeit, subalterne Staatsund Kommunalämter oder den Unterricht an christlichen Fachschulen zu übernehmen. Antijüdische Ausschreitungen Im Jahre 1819 setzten, ausgehend von Würzburg, in Bayern, Kurhessen, Franken, Baden, dem Rheinland und Westfalen sowie in Hamburg die „Hep-Hep-Krawalle“ ein, die nach dem die Ausschreitungen begleitenden Spott- und Hetzruf, ursprünglich eine Abkürzung der an den Universitäten entstandenen Parole „Hierosolyma est perdita“ (Jerusalem ist verloren), benannt sind. Zum ersten Mal seit dem Mittelalter gab es damit in Deutschland wieder Judenverfolgungen größeren Umfangs. Der Ablauf war überall ähnlich: Fensterscheiben wurden eingeworfen, Läden geplündert, Brände gelegt, Synagogen verwüstet, jüdische Grabsteine geschändet. Juden wurden auf offener Straße mißhandelt. Im Revolutionsjahr 1830 und in der Anfangsphase der Revolution von 1848/49 wiederholten sich die Pogrome, ohne aber das Ausmaß der „Hep-Hep-Krawalle“ zu erreichen. In den alten Gebieten Preußens gab es solche Krawalle nicht. Hier stand das Gewaltmonopol des Staates, der derartige Unruhen grundsätzlich als Verstöße ahndete, Tumulten wirksamer entgegen als in anderen Territorien. Dagegen ging in Hamburg der Rat der Stadt nach den „Hep-Hep-Krawallen“ nicht etwa gegen die Gewalttäter vor, sondern ermahnte sämtliche jüdischen Einwohner, die Gesetze streng zu befolgen. Im Jahre 1835 wurden jüdische Gäste in Hamburger Kaffeehäusern mißhandelt und hinausgeworfen. Die in großer Zahl anwesenden Polizeibeamten sahen darüber hinweg. In die auf allen Bereichen lastenden Versuche, das Rad zurückzudrehen, fiel für ganz kurze Zeit die Revolution von 1848 (1848/50). Sowohl die Nationalversammlung als auch zahlreiche Landesparlamente forderten die Judenemanzipation als wichtigen Teil der angestrebten fortschrittlichen Politik. Nach der zweiten Lesung der deutschen Grundrechte in der Frankfurter Paulskirche, nach denen das religiöse Bekenntnis die staatsbürgerlichen Rechte nicht einschränken sollte, wurde die vollständige Emanzipation der Juden in fast

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allen deutschen Staaten eingeführt. Die Revolution und ihre Errungenschaften wurde dann aber rasch von einer neuerlichen Restaurationswelle abgelöst. So war in Preußen nach der revidierten Verfassung von 1850 für Staatsämter wieder das christliche Religionsbekenntnis erforderlich.

Emanzipation (1860–1871) Als Otto von Bismarck 1862 preußischer Ministerpräsident wurde, zeichnete sich erstmals ein Durchbruch in der Gleichstellungsdebatte ab. Vor allem auf sein Drängen kam es in dem von Preußen begründeten Norddeutschen Bund 1869 zur Gleichberechtigung für alle Konfessionen, damit auch für die Juden. Die vollständige Emanzipation der Juden wurde dann 1871 für das neue deutsche Kaiserreich insgesamt gültig. Damit hatte die Frage der Bürgerrechte für die Juden Deutschlands, die sich so lange in der Schwebe befunden hatte, die Lösung erhalten, die der Liberalismus als vergleichsweise neue politische Kraft schon seit längerer Zeit gefordert hatte. Auch aus der Sicht der Juden selbst trat an die Stelle religiöser und sozialer Gegensätze nun die vor allem kulturell verstandene Einordnung unter eine Juden und Christen übergeordnete „begriffliche Einheit“. Diese „begriffliche Einheit“ waren Rechtsstaat und bürgerliche Gesellschaft, die sich in ihrer gegenseitig bedingenden Dualität fundamental von Rechtlosigkeit und Untertanentum unterschieden. Wohnte in dieser Zeit die Mehrzahl der Juden noch in Kleinstädten und Dörfern, so nahm der Zuzug in Städte wie Berlin, Königsberg und Breslau nun in großem Umfang zu. Es entstand in zunehmendem Maße ein jüdisches Bürgertum. Berlins jüdische Gemeinde hatte 1817 lediglich 3700 Mitglieder gezählt. Im Jahre 1870 waren es bereits 36 105 oder 4,4% der Gesamtbevölkerung Berlins und zehn Jahre später 53 916 bzw. 4,8%. Bezogen auf ganz Deutschland erhöhte sich die Zahl der Juden zwischen 1815 bis 1870 allerdings nur unwesentlich auf etwa 470 000 (1867). Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung lag der Prozentsatz durchgehend bei ca. 1,2%. Preußen vereinigte mit 218 750 Personen im Jahr 1848 knapp die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Deutschlands auf sich. Die territoriale Ausweitung von 1866 ließ die Zahl auf 314797 bzw. 62% steigen. In den Staaten Norddeutschlands wie Bremen, Lübeck, Hamburg oder Sachsen-Altenburg blieb die Zahl der Juden konstant auf niedrigem Niveau. Zum Teil galt in diesen Territorien noch bis in die fünfziger und sechziger Jahre ein Ansiedlungsverbot für Juden. Hamburg verhielt sich seit den fünfziger Jahren den Juden gegenüber zunehmend fortschrittlich, was rasch zu einer deutlichen Zunahme der aschkenasischen Gemeinde führte. Vergleichsweise unbedeutend blieb in diesem Kontext das Königreich Sachsen, wo noch Mitte der vierziger Jahre wegen äußerst restriktiver Gesetze weniger als 1000 Juden lebten. Gegen Ende der sechziger Jahre stieg die Zahl auf über 3000. Soziale Transformation und Gefährdung Abgesehen von einigen Kleinstaaten verlief die soziale Transformation der Juden geradezu spektakulär. Ein relativ großer Teil des Judentums hatte schon früh begonnen, die beste-

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henden Machtstrukturen in Frage zu stellen und sich für fortschrittliche Lebensformen einzusetzen. Zu Recht hofften sie, daß es in einem liberalen Staat und in einer bürgerlichen Gesellschaft keine Benachteiligungen von Minderheiten mehr geben würde. Neben herausragenden Karrieren gab es einen sich ausgesprochen breit entwickelnden und gut situierten Mittelstand. Noch 1843 waren von den insgesamt 21 739 selbständigen jüdischen Händlern in Preußen 61% in den niedrigsten Sparten dieses Geschäftsbereichs anzusiedeln (Hausierer und Trödler, in Posen oft in Verbindung mit bescheidenster Schankwirtschaft). 1861 betrug die Zahl aller im Handel tätigen Juden Preußens, einschließlich der Unselbständigen, 38 683. Von ihnen waren 22 771 bzw. 59% schon „richtige Kaufleute“. Diese lassen sich folgendermaßen aufgliedern: Kaufleute in Preußen 1861 Bankiers Kaufleute mit Läden Großhändler Agenten, Makler, Pfandleiher Angestellte Insgesamt

550 9736 2785 2035 7665 22771

Eine ursprünglich unbedeutende Minderheit hatte sich auf breiter Basis von dem exterritorialen Status der einstigen Paria-Existenz gelöst und in der unterentwickelten Wirtschaft zunehmend wichtige Funktionen übernommen. Vor allem auf drei Sektoren waren Juden überproportional repräsentiert: Textilindustrie, Handel und Geldwirtschaft. Die Brüder Mannheimer hatten 1837 in Berlin als erste mit der konfektionsmäßigen Fertigung von Mänteln begonnen. Die Rothschilds bauten noch im Frankfurter Ghetto Finanzinstitute auf, die das europäische Anleihengeschäft beherrschten. Im Jahr 1862 gehörten von 642 Banken im Preußen allein 550 Juden, eine Dominanz, die sich in der Folgezeit nur langsam abbaute. Aus Kleinhändlern und Geldverleihern wurden bedeutende Unternehmer. Beeindruckende Beispiele hierfür lieferten in erster Linie die Rothschilds, die Warburgs in Hamburg, die Oppenheims in Köln, das Bankhaus Mendelssohn in Berlin sowie Bismarcks Bankier Gerson von Bleichröder, der reichste Mann Berlins, der mit den französischen Rothschilds die Kriegskontributionen aushandelte, die Frankreich nach 1871 an Preußen zu zahlen hatte. Gerade Bleichröder illustriert auf besondere Weise den Aufstieg von jüdischen Unternehmern. Noch sein Großvater hatte sich um 1740 nur deshalb in Berlin ansiedeln können, weil die Gemeinde bereit gewesen war, ihn als Totengräber für den jüdischen Friedhof einzustellen. Der Beginn der Industrialisierung überlappte sich mit der wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte der deutschen, zumal der preußischen Juden. Hierfür gibt es viele Gründe. Ein wesentlicher ist jedoch sicherlich der, daß geschäftliche Erfolge für Außenseiter wie Juden

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fast den einzigen Weg des gesellschaftlichen Aufstiegs darstellten. Gleichzeitig barg die erfolgreiche Rolle, die die deutschen Juden im 19. Jh. in dem ökonomischen Prozeß der Abwendung von überkommenen Wirtschafts- und Sozialvorstellungen und der Entstehung des Kapitalismus spielten, auch eine Gefahr. Sobald diese Rolle nämlich im Sinne einer Verschwörungstheorie auf eine „jüdische Komplizenschaft“ reduziert wurde, sobald Reaktionäre in den Juden die angeblich entscheidende Antriebskraft einer vorwärtsstürmenden Moderne auszumachen vermochten und hiermit auch Zuspruch in der Öffentlichkeit fanden, war die Lage dieser Minderheit gefährdet. Anders formuliert: Als der Liberalismus 1860 seinen Höhepunkt erreicht hatte, befand sich die stets latent vorhandene Judenfeindschaft, die im Antisemitismus bald einen modernisierten Ausdruck finden sollte, auf dem Tiefpunkt. Eine Wende setzte jedoch mit dem Gründerkrach von 1873 ein. Der Kapitalismus hatte erstmals demonstriert, daß allgemeine Prosperität und profitable Haussespekulation nur eine, eben die positive Seite der Medaille waren. Mit der Desillusionierung begann der Niedergang des Liberalismus. Der Wind blies nun aus einer anderen Richtung. Und von da an hatten ihn die Juden fast ständig im Gesicht.

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Bayern und Süddeutschland 1648–1871 Vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Französischen Revolution Nach den Vertreibungen der Juden aus den Städten und den Ausweisungen aus einer Reihe von geistlichen und weltlichen Territorien im 15. und 16. Jh. wurde das Landjudentum in Süddeutschland zur vorherrschenden Form jüdischer Existenz. Nach der Mitte des 16. Jhs. duldeten nur noch wenige Reichsstädte, z.B. Wimpfen, Buchau und Frankfurt a.M., Juden innerhalb ihrer Mauern. Der Judenschutz, zunächst kaiserliches, dann landesherrliches Privileg, wurde schließlich auch von den Domkapiteln, den Klöstern und der Reichsritterschaft, die vor allem in Franken, Schwaben und Hessen stark vertreten war, beansprucht. Diese sah in „ihren“ Schutzjuden den lebendigen Beweis ihrer politischen Unabhängigkeit. Die Aufnahme von Juden bot darüber hinaus auch die Möglichkeit, neue Einnahmequellen zu sichern und leere Staatskassen zu füllen. Als Gegenleistung für die Ansiedlung wurde bis in das 19. Jh. hinein ein ganzes Bündel von Abgaben erhoben. Doch selbst hohe Schutzgelder konnten keine Rechtssicherheit schaffen. Die Juden blieben der Willkür der Obrigkeit ausgeliefert und stets von Vertreibungen bedroht. So ist z. B. in Württemberg eine Reihe von kleineren Orten bekannt, in denen im 16. und 17. Jh. über kürzere oder längere Zeit jüdische Siedlungen bestanden. Grundsätzlich hielten das Herzogtum Bayern und das Herzogtum Württemberg bis zum Beginn des 19. Jhs. an ihrer Ausschlußpolitik den Juden gegenüber fest. Wohl aus diesem Grunde waren um 1800 im Herzogtum Württemberg nur 534 Juden und in den oberen Erblanden des Herzogtums Bayern etwa 360 Familien ansässig. Nachdem die Vertreibungen mit der Ausweisung aus dem Herzogtum Bayern im Jahr 1553 ihren Höhepunkt erreicht hatten, läßt sich ab dem ausgehenden 16. Jh. eine Konsolidierung der Verhältnisse der süddeutschen Landjuden konstatieren. Die Beziehungen zwischen Schutzherren und jüdischen Untertanen verfestigten sich, die jüdischen Siedlungen wuchsen und konzentrierten sich in bestimmten Gebieten wie in Franken und Schwaben. Innergemeindliche Einrichtungen wie Friedhöfe und Synagogen wurden gegründet. Eigene jüdische Korporationen und Verwaltungsorgane entstanden. Die Herausbildung von Traditionsbindungen schloß diese Konsolidierungsphase ab. Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) unterbrach zwar diese Entwicklung, beendete sie aber nicht. Die Verheerungen der jahrzehntelangen Kriegshandlungen brachten den Handel nahezu vollständig zum Erliegen. Ortschaften wurden dem Erdboden gleichgemacht, ganze Landstriche durch Seuchen und marodierende Soldaten entvölkert und zerstört. In Franken z. B. waren in vielen Dörfern nicht mehr als vier oder sechs Einwohner übrig-

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geblieben. Die jüdische Bevölkerung wurde in zunehmendem Maße Angriffsziel plündernder Söldner, da für sie kein organisierter Schutz zu erwarten war. Nach dem Westfälischen Frieden (1648) bedienten sich die größeren und kleineren Territorialherren Süddeutschlands des Instruments der Peuplierung zum Wiederaufbau. Die Reichsritterschaft betrieb in ihren Herrschaftsbereichen verstärkt die Ansiedlung von Juden aus wirtschaftlichen Gründen. Durch finanzielle Zugeständnisse bei Schutzbriefen oder auch durch großzügigere Vergabe von Privilegien versuchte man, die Handelstätigkeit der Juden und ihre weitverzweigten Verbindungen zur Erreichung von Zielen, die aus einer merkantilistischen Wirtschaftspolitik abgeleitet waren, zu nutzen. So bot der pfälzische Kurfürst Karl Ludwig (1649–1680) den Juden günstige Ansiedlungsbedingungen in Mannheim. Seine Konzession (1652) gewährte den Neuankömmlingen, die sich zum Bau eines zweistöckigen Hauses verpflichten mußten, nahezu die gleichen Rechte wie den christlichen Einwohnern, weitgehende Gewerbefreiheit und eine zwölfjährige Befreiung von Abgaben. Zudem mußten die Mannheimer Juden nicht in einem abgesonderten Wohnbezirk leben und auch keine Kennzeichnung an ihrer Kleidung tragen. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges gelang einer kleinen Gruppe innerhalb der jüdischen Gesellschaft der Aufstieg zu Macht, Einfluß und Vermögen im Umkreis der Landesherren. So entstand neben den traditionellen Eliten der jüdischen Gesellschaft, den Rabbinern, Talmudgelehrten und Gemeindevorstehern, erstmals eine weltlich orientierte Oberschicht: die Hoffaktoren. In ihrer höfischen Prachtentfaltung orientierten sich gerade die kleineren und mittleren Fürsten am Vorbild des französischen Hofes in Versailles. Zur Finanzierung dieser Lebensweise, zur Beschaffung von Luxusgütern aller Art sowie von Metallen zur Münzprägung, zur Belieferung ihrer Truppen und für politische und diplomatische Missionen bedienten sich die stark verschuldeten Staaten der Hofjuden. Ihre Dienste wurden mit einer Vielzahl von Sonderrechten belohnt. Dazu gehörten u. a. die Befreiung von Leibzoll- und Schutzgeldzahlungen und die Ansässigmachung in ansonsten für Juden gesperrten Territorien oder Städten wie z.B. München. Die Stellung als Hoffaktor barg aber auch zahlreiche Risiken. Sie war ausschließlich auf ein persönliches Verhältnis zu den jeweiligen Herrschern gegründet. Jeder Thronwechsel oder auch der Verlust der Gunst des Herrschers konnte die Rückzahlung der Kredite sowie Leib und Leben gefährden. So wurde 1712 der ansbachische Hoffaktor Elkan Fränkel (1675–1720), der gleichzeitig Gemeindevorsteher der jüdischen Gemeinde Fürth war, zusammen mit seinem Bruder, dem Fürther Rabbiner Hirsch Fränkel, durch einen von der rivalisierenden Hoffaktorenfamilie Model bestochenen Konvertiten denunziert. Seitens der Anklage wurde behauptet, die Gebrüder Fränkel besäßen hebräische Bücher, die Schmähungen gegen das Christentum enthielten, hätten den Markgrafen beleidigt und sich Übergriffe auf das Staatswesen zuschulden kommen lassen. Elkan Fränkel wurde daraufhin öffentlich ausgepeitscht und bis zu seinem Tode 1720 inhaftiert. Seinem Bruder Hirsch widerfuhr ein ähnliches Schicksal. Die Hoffaktorenfamilien paßten sich in ihrer Kleidung und ihrem Lebensstil häufig sehr

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stark an ihre nichtjüdische Umgebung an, ohne sich aber vollständig von ihren Glaubensgenossen zu entfremden. Im Gegenteil, oft erreichten sie durch ihre persönlichen Kontakte zum Herrscher die Rücknahme von Ausweisungsmandaten oder ermöglichten Niederlassungsrechte für weitere Familien in bisher für Juden gesperrten Gebieten. So intervenierte der Hofbankier Samson Wertheimer (gest. 1724), ein Neffe Samuel Oppenheimers, erfolgreich beim Kaiser für ein Niederlassungsrecht seiner Verwandten und Geschäftsvertreter in Speyer. Sie engagierten sich auch im religiösen Bereich und stellten Geldmittel zur Erbauung von Synagogen zur Verfügung, wie der Kaiserliche Oberhoffaktor Samuel Wertheimer 1717 in Marktbreit oder der brandenburgisch-bayreuthische Hofjude Samson 1711 in Baiersdorf. Der bekannteste süddeutsche Hofjude war Josef Süß Oppenheimer (hingerichtet 1738). Kaum eine andere jüdische Persönlichkeit des 18. Jhs. erfuhr so vielfältige publizistische Beachtung wie er. Oppenheimer wurde in den neunziger Jahren des 17. Jhs. im kurpfälzischen Heidelberg als Mitglied einer angesehenen, ursprünglich aus Oppenheim stammenden Händlerfamilie geboren. In jungen Jahren führten ihn Reisen quer durch Europa, bis er sich schließlich als Geld- und Warenhändler in der Pfalz niederließ. Seine Geschäfte tätigte er vornehmlich in Mannheim und Frankfurt a. M., wo er gesellschaftlichen Zutritt zu seinen adeligen Geschäftskunden, u. a. den Fürsten von Thurn und Taxis, fand. Zudem pflegte er enge Kontakte zum Mannheimer Hof, seit 1723 als Pächter des Stempelpapiers. Sein eigentlicher Aufstieg begann, als er ab 1732 für den württembergischen Prinzen und späteren Herzog Karl Alexander (1733–1737) tätig wurde. Er sanierte das bankrotte Herzogtum u. a. durch eine fünfprozentige Steuer auf Beamtengehälter, wodurch er sich viele Feinde innerhalb der alteingesessenen Familien machte. Die Einführung staatlicher Monopole auf Leder, Salz, Tabak und Wein und die Übertragung der Pachtmonopole an Glaubensgenossen machte ihn zusätzlich unbeliebt. Oppenheimers offen zur Schau gestellter Reichtum tat ein Übriges. Seine Position am württembergischen Herzogshof verdankte er ausschließlich seiner persönlichen Beziehung zum Herzog. Nach dessen Tod wurde er jedoch alsbald verhaftet und trotz fehlender Beweise wegen Betrug und einer Reihe anderer Vergehen zum Tod verurteilt. Eine Konversion zur Rettung seines Lebens lehnte er ab. Das Gros der jüdischen Bevölkerung hatte am Aufstieg der Hofjuden und deren Privilegien keinen Anteil. Sie führten bis ins 19.Jh. hinein eine Randexistenz. Die Verdrängung aus ihrem ursprünglich urbanen Lebensraum hatte sich für sie als verheerend erwiesen. Armut blieb das ganze 18. Jh. hindurch ein die süddeutschen Dorfjuden prägendes Charakteristikum. So konnten im Fürstentum Bayreuth beispielsweise 150 von 350 jüdischen Haushalten keinen Beitrag zu den Abgaben leisten, die an den Fürsten zu entrichten waren. Die Größe und Anzahl der Häuser, in denen Juden leben durften, war genau festgelegt. Auch bei einem Anstieg der jüdischen Bevölkerung in einem Ort wurde eine Ausweitung ihres Wohnraums in der Regel nicht geduldet. In Mergentheim lebten in einem von vornherein beschränkten Quartier um das Jahr 1790 knapp 70 Menschen, zehn Jahre später betrug ihre Zahl bereits 90 Personen. Die Enge der Wohnverhältnisse, gepaart mit Armut, zog häufig problematische hygienische Zustände nach sich. Dies wiederum förderte das christ-

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liche Vorurteil von der naturgegebenen Unsauberkeit der Juden. In mehreren ritterschaftlichen Dörfern in der Fränkischen Schweiz erhielten die Juden das Aufenthaltsrecht in verfallenen, nicht mehr genutzten Schlössern und Burgen. In diesen sogenannten „Judenhöfen“ – u.a. in Tüchersfeld, Weilersbach, Buttenheim und Hüttenbach – drängten sich auf engstem Raum häufig bis zu hundert Personen. Auf dem Land boten sich den Juden nur geringe wirtschaftliche Möglichkeiten. Sie waren von Grundeigentum und Handwerk ausgeschlossen und außerdem einer Reihe von Beschränkungen im Handel unterworfen. Im süddeutschen Raum verdienten Landjuden ihren Lebensunterhalt in der Regel als Vieh- und/oder Naturalienhändler oder fristeten ein karges Dasein als Hausierer. Der Hausiererhandel war dabei eng verknüpft mit der Pfandleihe. Im Gegensatz zu nichtjüdischen Geldverleihern konnten bei Juden auch Geldbeträge auf Alltagsgegenstände geliehen werden, die als Pfand deponiert und bei Nichtauslösung verkauft wurden. Spezifisch lokale Geschäftszweige waren der Hopfenhandel in Franken und der Weinhandel in der Pfalz. In all diesen Handelszweigen übernahmen die Juden nahezu ausschließlich die Funktion des Zwischenhändlers, der landwirtschaftliche Produkte dem städtischen Verbrauch zuführte und im Gegenzug die Landgebiete mit in den Städten hergestellten Produkten versorgte. Alle Versuche der Obrigkeit, den Schacher- oder Hausiererhandel abzuschaffen und Juden neue Erwerbsquellen in Handwerk oder Landwirtschaft zuzuweisen, ließen außer acht, welch wichtigen Wirtschaftsfaktor gerade der jüdische Kleinhandel für den ländlichen Raum bedeutete. Die Berufsspezifizierung als Zwischenhändler verlangte ein hohes Maß an Mobilität. Häufig blieben in den Dörfern unter der Woche nur Frauen, Kinder und Alte zurück, während die Männer außerhalb ihre Geschäfte betrieben. Besonders der Handel mit Vieh entwickelte sich zu einer nahezu allein von Juden dominierten Berufssparte. In der Nordpfalz lag der Handel mit Rindern in der Mitte des 17. Jhs. zu einem Drittel in jüdischen Händen, Ende des 18. Jhs. zu fast neun Zehntel. Im Kurfürstentum Mainz war die Haupterwerbsquelle der Landjuden der Pferde- und Viehhandel. In Franken und Schwaben hatten jüdische Viehhändler bis in die Zeit des Nationalsozialismus faktisch eine Monopolstellung erreicht. Ihre Verdrängung brachte hier nach 1933 den Viehhandel zeitweise fast zum Erliegen. Die Geschäftsbeziehungen zwischen Bauern und Viehhändlern gingen meist weit über den eigentlich getätigten Verkauf hinaus. Geschäfte wurden auf Kreditbasis abgeschlossen, da der bäuerliche Kundenkreis außerhalb der Erntezeiten selten über genügend Bargeld verfügte. Daher war der Viehhandel in der Regel mit Geldverleih verknüpft. Eine andere Art der Geschäftsbeziehungen stellte das sogenannte Einstellvieh dar. Mageres Vieh brachten die Viehhändler bei Bauern zum Mästen unter und verkauften es anschließend mit höherem Gewinn weiter. Die Bauern konnten in dieser Zeit die Milch und Arbeitskraft der Tiere nutzen. Diese Praxis hatte ihren Ursprung darin, daß Juden über kein eigenes landwirtschaftlich nutzbares Land verfügten, auf dem sie Getreide oder Futtermittel herstellen konnten. Zudem hatten sie keinen Anteil an den gemeinschaftlich genutzten Weideflächen dörflicher Gemeinden.

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Die starke Präsenz von Juden im Viehhandel schlug sich auch sprachlich nieder. Das mundartlich eingefärbte und mit einer Vielzahl von Hebraismen und Jiddismen durchsetzte Deutsch der jüdischen Viehhändler entwickelte sich im 18. und 19. Jh. zur allgemein gebräuchlichen Handelssprache auf den süddeutschen Viehmärkten. So entstanden bereits im ausgehenden 18. Jh. kleine Wörterbücher, die bis in die dreißiger Jahre des 20. Jhs. in einer Vielzahl von Auflagen und Varianten herausgegeben wurden. Sie enthalten neben den Zahlen von 1 bis 1000 und Bezeichnungen für die verschiedensten Münzsorten auch ein Verzeichnis einschlägiger Wörter. Die bereits erwähnte Konzentration der jüdischen Bevölkerung in bestimmten ländlichen Gegenden führte zu einem starken Konkurrenzdruck unter den einzelnen Händlern, die häufig am Rande des Existenzminimums lebten. Der bescheidene Verdienst reichte in den meisten Fällen gerade aus, um die zahlreichen von der Obrigkeit geforderten Abgaben zu begleichen. In welch eng gesetztem Rahmen sich die Juden dabei bewegten, mag das Beispiel der jüdischen Gemeinde Schnaittach im 17. und 18. Jh. zeigen: Neben der traditionellen jährlichen Schutzgeldleistung fiel hier eine jährliche Pauschalablösung für den Leibzoll an, das sogenannte Zoll- oder Nachtgeld. Bei der Neueinsetzung eines Burggrafen auf der nahegelegenen Festung Rothenberg wurde ein Aufzugsgeld erhoben, das der reichsweiten Krönungssteuer bei der Neuwahl eines Kaisers entsprach. Hinzu kamen das Reinfalgeld, eine Ablösung für das Privileg, daß im Bezirk Rothenberg nur einheimische Juden Handel treiben durften, der Opfergulden jährlich an Michaeli, eine Mastgans jährlich an Martini und eine jährliche Weinabgabe an den Festungskommandanten. Auch Beerdigungen waren steuerpflichtig. Nicht nur die Schutzherren hielten sich an ihren jüdischen Untertanen schadlos. Auch die christlichen Geistlichen des Bezirks forderten ihren Anteil. Noch 1807 erhielt jeder in Schnaittach neu angestellte Pfarrer zum Einstand sechs silberne Löffel und ein silbernes Salzfaß von der jüdischen Gemeinde zum Geschenk. Außerdem standen ihm bis weit ins 19. Jh. hinein Stolgebühren zu. Diese wurden als eine Art Entschädigung für entgangenen Gewinn betrachtet, da Juden bei Taufen, Hochzeiten und Todesfällen ihre mit Gebühren verbundenen Dienste nicht in Anspruch nahmen. Zusätzlich zu all diesen Spezialabgaben mußten Juden des Bezirks Rothenberg noch die üblichen, für alle Untertanen verbindlichen Steuern aufbringen: Haus- und Kommunalabgaben, Vermögenssteuern und Holzhauergeld. Eine weitere Belastung für die Gemeinden stellten die Züge von verarmten Wanderjuden dar. Sie waren Teil einer während des 17. und 18. Jhs. ständig anwachsenden Schar von Bettlern, die auf der Suche nach einem Auskommen durch Mitteleuropa zogen. Zu ihnen gehörten neben Pogromflüchtlingen aus Osteuropa und Vertriebenen aus anderen Territorien auch diejenigen Juden, die keine Mittel zum Ankauf von Schutzbriefen aufbringen konnten und deshalb gezwungen waren, von Ort zu Ort zu wandern. Die Obrigkeit versuchte bis ins 19.Jh. hinein durch eine Vielzahl von Erlassen erfolglos, das auf Massenarmut gründende soziale Problem der Bettler und Vaganten durch Ausweisungsmandate zu lösen. Das religiöse Gebot der Wohltätigkeit zwang die jüdischen Gemeinden zu solidarischer

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Hilfeleistung gegenüber ihren verarmten Glaubensgenossen. Über ein ausgeklügeltes System, das alle Mitglieder nach ihren jeweiligen finanziellen Möglichkeiten belastete (Billetoder Plettenverteilung), wurden durchziehende jüdische Bettler zur Versorgung den einzelnen ansässigen Familien zugewiesen. Welches Ausmaß die Bettlerzüge angenommen hatten, soll folgendes Beispiel, ebenfalls aus Schnaittach, verdeutlichen. Man erließ dort 1754 die Anordnung, daß nicht mehr als 28 Pletten pro Tag ausgegeben werden dürften. Größere und reichere Gemeinden wie Fürth unterhielten zur Unterbringung der Durchziehenden eigene Herbergen, die nicht selten den Hospitälern oder Pfründneranstalten angeschlossen waren. Die Geschichte der Fürther jüdischen Gemeinde, der wichtigsten und bedeutendsten Gemeinde Süddeutschlands, später auch von dem in Wien tätigen Rabbiner Sabbatai Scheftel Horwitz (1592–1660) wegen der vielen hier lebenden großen jüdischen Gelehrten als ebenso bedeutend wie Antiochia bezeichnet, beginnt im Jahr 1528. Aus kleinen Anfängen entwickelte sich Fürth zum größten jüdischen Gemeinwesen Süddeutschlands mit städtischem Gepräge. Die aus der komplizierten politischen Struktur des Marktes – bis 1792 konkurrierten die Reichsstadt Nürnberg, das Markgrafentum Ansbach und die Domprobstei Bamberg um Herrschaftsrechte – resultierenden Kompetenzstreitigkeiten eröffneten gewisse Freiräume, welche die Entwicklung der jüdischen Gemeinde begünstigten. Die Fürther Juden dienten dem Ansbacher Markgrafen in seinen machtpolitischen Auseinandersetzungen mit der Reichsstadt Nürnberg, die 1499 alle Juden vertrieben hatte und ihnen die Neuansiedlung bis 1856 verweigerte, als lebender Beweis seiner Ansprüche auf Fürth. So nahmen denn auch alle ansbachischen ebenso wie später die bambergischen Ausweisungsdekrete des 16. und 17. Jhs. die Fürther Judenschaft ausdrücklich aus. Im Gegensatz zu den umliegenden Herrschaften statteten die Ansbacher und Bamberger ihre Fürther Schutzjuden mit einer Vielzahl von Privilegien aus, die die Gemeinde kontinuierlich wachsen ließen. 1617 wurde die erste Gemeindesynagoge errichtet, der im Lauf der Jahrhunderte vier weitere, eine Vielzahl privater Bet- und Lehrhäuser sowie andere Gemeindeeinrichtungen folgten. Einen starken Aufschwung nahm das jüdische Leben in Fürth, als sich nach der Vertreibung der Juden aus Wien (1670) die Fränkels, eine der vornehmsten Familien des Wiener Ghettos, in Fürth niederließen und mit der Stiftung einer Talmudschule (1707) den Ruf Fürths als eines der geistigen Zentren des europäischen Judentums begründeten. Die 1691 eingerichtete hebräische Druckerei in Fürth zog zusätzlich Gelehrte aus ganz Mittel- und Osteuropa an, die hier eine Möglichkeit sahen, ihre Werke drucken zu lassen. Der rabbinische Gerichtshof (Bet Din), der bei religiösen und juristischen Streitigkeiten häufig als Berufungsinstanz diente, festigte Fürths Stellung in der jüdischen Welt. Die jüdische Bevölkerung Fürths stieg stetig an: 1601 waren 22 Familien ansässig, 1706 100 Familien, 1752 500 Familien und 1806 schließlich 543 Familien. Zu diesem Zeitpunkt betrug der Anteil der Juden an der Fürther Gesamtbevölkerung etwa 22%. Die oben bereits angesprochenen Privilegien, mit denen die Ansbacher Markgrafen und die Bamberger Dompröbste die Fürther Juden ausstatteten, wurden zum ersten Mal 1719 in dem Reglement für die gemeine Judenschaft in Fürth niedergeschrieben. Es handelt sich um

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einen Bestätigungsbrief und eine Zusammenfassung früher erteilter Rechte. So wurde der Gemeinde in religiösen Fragen weitgehende Selbständigkeit garantiert. Sie durfte die Wahl von Rabbinern und anderem Gemeindepersonal frei regeln, Synagogen errichten und in innergemeindlichen Streitfällen ihre eigene Jurisdiktion ausüben. Außerdem lag die Entscheidung darüber, welche Juden sich in Fürth niederlassen durften, im Ermessensbereich der Gemeinde und nicht in dem des Landesherrn. Ein Mitspracherecht in der nichtjüdischen Gemeindeversammlung wurde den Juden ebenso zugestanden wie der freie Wegzug aus Fürth ohne Bezahlung einer Nachsteuer. Die Fürther Privilegien unterschieden sich stark von den Rechten anderer süddeutscher Gemeinden. Als Vergleich sei hier die Judenordnung der Herrschaft Schwarzenberg von 1764 herangezogen, die unter anderem Scheinfeld und Marktbreit betraf. Hier behielt sich der Fürst die Bestellung der Kultusbeamten und Gemeindevorsteher vor. Jüdischer Grundbesitz war beschränkt, der in Fürth frei durchführbare Geldverleih mußte amtlich protokolliert werden, und bei Wegzug wurde eine hohe Nachsteuer fällig. Die offizielle Politik gegenüber den Juden in den süddeutschen Territorien blieb, wie diese beiden Beispiele zeigen, auch noch während des 18. Jhs. schwankend. Die reichsunmittelbaren Ritterschaften und bischöflichen Territorien erlaubten und förderten jüdische Ansiedlungen aus wirtschaftlichen Motiven. Dagegen gewährten die Herzogtümer Bayern und Württemberg sowie die Mehrzahl der freien Reichsstädte mit Ausnahme einiger wohlhabender Hoffaktorenfamilien nach wie vor kein Niederlassungsrecht für Juden. In den süddeutschen Klein- und Mittelstaaten mit ihren teilweise sehr restriktiven Judenverordnungen galten Juden nach wie vor hauptsächlich als fiskalische Objekte und Untertanen minderen Rechts, die von der Obrigkeit mit Mißtrauen beobachtet wurden. Seit der Mitte des 18. Jhs. verwarf die sich ausbreitende Aufklärung jedoch zusehends alte antijüdische Vorurteile und erlaubte einen freieren Blick auf das Judentum. Gleichzeitig veränderte sich im Zuge einer allgemeinen Säkularisierung auch die jüdische Traditionsgemeinschaft. Es begann eine allmähliche Anpassung der Juden an die Kultur der umgebenden Mehrheitsgesellschaft, die sich in der Lockerung religiöser Bräuche und der Hinwendung zu nichtjüdischen Bildungswerten äußerte. Die Anhänger der Aufklärung strebten eine “bürgerliche Verbesserung” der Juden – so der Titel einer Schrift des preußischen Kriegsgerichtsrat Christian Wilhelm Dohm von 1781 – und die Aufhebung ihrer immer noch in allen Lebensbereichen bestehenden Ausgrenzung an. Jedoch hatte die in Gelehrtenzirkeln diskutierte Frage der Judenemanzipation zunächst keine Breitenwirkung. Im Zeitraum zwischen 1780 und 1850, der mit den Begriffen Naturalisierung, Reform, bürgerliche Verbesserung, Amalgamierung und Emanzipation beschrieben wird, war die jüdische Gemeinschaft tiefgreifenden Veränderungen unterworfen, die den gesetzmäßigen Status, die berufliche Aufgliederung, die kulturellen und religiösen Anschauungen sowie die Lebensgewohnheiten maßgeblich beeinflußten. Es begann eine Entwicklung, die die Juden aus der sozialen Isolierung und dem religiös-kulturellem Eigenleben, das ihre Existenz seit dem Mittelalter bestimmte, herausführte. Die Emanzipation der Juden in den süddeutschen Staaten erhielt erst durch die Französi-

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sche Revolution eine unerwartete Dynamik. 1791 hatte das revolutionäre Frankreich den französischen Juden das uneingeschränkte Bürgerrecht verliehen. Für Bayern, das hier exemplarisch für die süddeutschen Staaten behandelt wird, stellte sich die Frage der bürgerlichen Gleichstellung der Juden erst infolge der Revolutions- und Napoleonischen Kriege. Die Kurpfalz kam unter französische Herrschaft und damit unter französisches Recht, das die Juden den übrigen Einwohnern gleichstellte. Die territorialen Neuerwerbungen brachten dem Kurfürstentum und späteren Königreich Bayern einen massiven Zuwachs an jüdischer Bevölkerung. 96,5% der nunmehr bayerischen Juden lebten in Franken (81,3%) und Schwaben (15,2%). Damit geriet die Frage der Behandlung der jüdischen Untertanen zwangsweise auf die politische Tagesordnung, da der Regierung an einer einheitlichen rechtlichen Einstufung der Juden in ihren Territorien gelegen war.

Das 19. Jahrhundert Die bis in die Mitte des 19. Jhs. gültige Grundposition der bayerischen Judenpolitik wurde in einem kurfürstlichen Reskript vom Januar 1801 festgeschrieben. Ausgehend von der grundsätzlichen „Schädlichkeit“ der Juden für den Staat und einem negativen Urteil über ihre gegenwärtige Verfassung, formulierte der Staat einen Erziehungsanspruch, der nur dem „nützlichen Staatsbürger“ Gleichberechtigung bei Anpassung und Wohlverhalten verhieß. Gleichzeitig verschlechterte der bayerische Staat die ohnehin schon prekäre wirtschaftliche Lage der Landjuden durch das Verbot jeglichen Güterhandels, ohne ihnen die im Reskript angesprochenen weiteren Wirtschaftszweige tatsächlich zu eröffnen. Die ins Auge gefaßten Reformen wurden jedoch nicht konsequent durchgeführt. Zwar wurden mit der Öffnung aller höheren und niederen Schulen, mit der Einführung der Militärdienstpflicht und mit der Abschaffung des Leibzolls einige Einzelfragen gelöst, aber der Versuch einer Gesamtlösung erfolgte erst 1813 mit dem Edikt Die Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen betreffend. Das Judenedikt hatte einen hächst restriktiven Charakter, aber für den Großteil der betroffenen Juden bedeutete es zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein gewisses Maß an Rechtssicherheit. Dem Grundsatz nach strebte es zwar eine Gleichstellung mit der übrigen Bevölkerung an, aber die Vielzahl der formulierten Einschränkungen verkehrte diese Intention nahezu ins Gegenteil. Die Rechte des Edikts kamen nur denjenigen zugute, die das bayerische Bürgerrecht erworben hatten und sich innerhalb von drei Monaten unter Annahme eines deutschen Familiennamens in eine gesonderte Judenmatrikel eintragen ließen. Das Edikt sah jedoch keine Niederlassungsfreiheit vor, denn in den einzelnen Judenorten durfte die Anzahl der Familien nicht erhöht werden. Ausnahmen gab es nur für Gründer von Fabriken und Handelsunternehmen. Der Hausierer-, Not- und Schacherhandel wurde verboten, der Güterhandel eingeschränkt, neue Erwerbsquellen in Handwerk und Landwirtschaft sollten dafür ermöglicht werden. Die jüdischen Gemeinden erhielten den Status einer Privatkirchengesellschaft. Gleich-

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zeitig griff das Edikt massiv in die religiöse Selbstverwaltung ein. Rabbiner wurden vom Generalkommissariat ernannt, mußten eine wissenschaftliche Ausbildung besitzen und wurden in ihrer Funktion allein auf kultische Aufgaben beschränkt. Mit dieser Bestimmung versuchte man, den Einfluß der Traditionalisten innerhalb der jüdischen Gemeinden zurückzudrängen. Die Folgen des Edikts für die jüdische Bevölkerung waren schwerwiegend. Besonders der bis 1861 geltende Matrikelparagraph hatte weitreichende Konsequenzen. Die Einschränkung der Niederlassungsfreiheit hatte eine große Auswanderungswelle zur Folge, da vor allem die junge Generation keine Chancen auf eine gesicherte Zukunft sah. Schätzungsweise 11 000 Juden verließen deshalb Bayern mit dem Ziel Amerika. Der bayerische Anteil an der jüdischen Gesamtbevölkerung Deutschlands sank zwischen 1813 und 1871 von 20 auf 10%. Aus der Pfalz und dem Bezirk Kissingen wanderten bis 1861 20% der Juden nach Amerika aus. Bei den Emigranten handelte es sich in der Regel um unverheiratete berufstätige jüngere Männer und Frauen. Aus Tigerfeld, einem kleinen Dorf in Württemberg, emigrierte die gesamte jüdische Gemeinde mit Ausnahme der Alten und Kranken in die USA. Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Judenedikts setzte eine Jahrzehnte dauernde, erregte öffentlich Diskussion über die Emanzipationsfrage ein, die in Flugschriften, Petitionen und Gutachten ihren Ausdruck fand. Die jüdischen Gemeinden, allen voran die in Fürth und München, forderten eine Revision der diskriminierenden Bestimmungen und die volle rechtliche Gleichstellung. Zeitgleich formierte sich jedoch eine lautstarke Opposition, die eine Emanzipation der Juden radikal ablehnte oder als Voraussetzung für diese eine bedingungslose Assimilation durch eine Aufhebung der Speisegesetze, die Verlegung des Schabbat auf den Sonntag und die Abschaffung der hebräischen Sprache im Gottesdienst forderte. Auf der Basis religiös begründeter Vorurteile und wirtschaftlichen Konkurrenzneides entstanden antijüdische Karikaturen, Bilderbögen und Theaterstücke, die die antisemitische Propaganda noch im 20. Jh. prägen sollten. Weite Verbreitung und einen überwältigenden Erfolg hatte die 1814 in Wien gedruckte Posse Unser Verkehr von Carl Borromäus Alexander Sessa, in der die Bemühungen der Juden um Emanzipation lächerlich gemacht und Juden als vornehmlich geldgierig charakterisiert wurden. In Süddeutschland schufen Schriften wie der Judenspiegel des preußischen Schriftstellers Hartwig von Hundt-Radowsky, der 1819 empfahl, sich der Juden durch Ausweisung oder physische Vernichtung zu entledigen, ein Klima, das die Pogrome dieses Jahres, die sog. Hep-Hep-Unruhen, geistig vorbereitete. Diese Verfolgungswelle, die 1819 im unterfränkischen Würzburg ausbrach und innerhalb weniger Tage und Wochen auf ganz Deutschland und die angrenzenden Staaten übergriff, äußerte sich in tätlichen Angriffen auf Juden, in Demolierungen und Plünderungen ihrer Häuser, Geschäfte und Warenlager sowie in der Verwüstung und Zerstörung von Synagogen. In Würzburg flohen jüdische Familien aus der Stadt und kehrten erst, nachdem sie mehrere Tage unter Militärschutz auf Feldern außerhalb der Stadt kampiert hatten, wieder zurück. Der Würzburger Professor Sebald Bendel, der öffentlich eine Emanzipation der Juden befürwortet hatte, wurde das Opfer mehrerer

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Attentate. In Frankfurt a.M., in Fulda und in einigen Teilen Badens, wo es vor allem in Heidelberg und Karlsruhe zu erheblichen Tumulten kam, mußte die öffentliche Ordnung durch Entsendung und Stationierung von Truppen wiederhergestellt werden. Der Kampf der Juden um ihre rechtliche und bürgerliche Gleichstellung mit den übrigen bayerischen Untertanen sollte sich jedoch noch Jahrzehnte hinziehen. Gesetzesentwürfe zur Revision des Judenedikts erhielten in den Kammern des bayerischen Landtages keine Mehrheiten. Wiederholte Petitionen der Kultusgemeinden Fürth, Bamberg und München, bedeutender Rabbiner wie Samson Wolf Rosenfeld oder auch der angesehenen Bankiers Baron Jacob von Hirsch und Baron Rothschild blieben ohne jeglichen Erfolg. Das als Folge der Revolution von 1848 in den Landtag eingebrachte Gesetz, das die vollkommene bürgerliche und politische Gleichstellung der Juden vorsah, wurde nach einer Flut von Petitionen 1850 in der Kammer der Reichsräte abgewiesen. Erst 1861 wurde der von jüdischer Seite besonders bekämpfte Matrikelparagraph aufgehoben. Damit wurde den bayerischen Juden zum ersten Mal das Recht auf Freizügigkeit eingeräumt. Weitere Einschränkungen fielen in den folgenden Jahren, und 1871 schließlich folgte per Reichsgesetz die endgültige Gleichstellung. Auch in den anderen süddeutschen Staaten brachten erst die sechziger Jahre des 19. Jhs. eine deutliche Verbesserung für die Juden, nachdem rechtliche Errungenschaften der gescheiterten Revolution von 1848/49 von der anschließend einsetzende Reaktion vielfach rückgängig gemacht worden waren. 1864 war die bürgerliche Gleichstellung der Juden in Württemberg vollendet, 1862 hatte die Judenemanzipation in Baden ihren Abschluß erreicht. Im Zeitraum zwischen 1848 und 1871 läßt sich trotz der nach wie vor geltenden rechtlichen Einschränkungen ein enormer wirtschaftlicher Erfolg der süddeutschen Juden und ein damit verbundener sozialer Aufstieg konstatieren. Jahrhundertelang auf den Geld- und Warenhandel beschränkt, engagierten sie sich auch im 19.Jh. in diesen Wirtschaftszweigen, die höchste Expansionsraten aufzuweisen hatten. Eine gesellschaftliche Integration der Juden in die sie umgebende Mehrheitsgesellschaft fand jedoch nicht statt, wenn auch die Akkulturation der Juden an die Lebensweise der nichtjüdischen Umwelt immer stärker wurde. In den fränkischen und schwäbischen Landgemeinden, aber auch in größeren Städten wie Fürth scheinen eher zwei nebeneinander bestehende Gesellschaften entstanden zu sein, die seit der Mitte des 19. Jhs. größere Berührungspunkte, vornehmlich im geschäftlichen Bereich entwickelten. Diesen Schluß lassen, zumindest für Fürth und München, die Tagebücher von Clementine Ortenau (1838–1920) zu. Die Gattin des ersten jüdischen Kriegsgerichtsrates in Bayern, Ignaz Ortenau, die sich in beiden Städten in der jüdischen Oberschicht bewegte, notierte in ihren aus dem Zeitraum 1859–1864 erhaltenen Aufzeichnungen akribisch alle gesellschaftlichen Beziehungen. Nichtjuden werden nicht erwähnt. Auf der Ebene des Bildungsbürgertums nahmen die Kontakte zwischen Juden und Christen jedoch nachweislich zu. So engagierte sich beispielsweise der Fürther Reformrabbiner Isaak Loewi (um 1802–1873) beim Bau der ersten deutschen Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth und war Gründungsmitglied des Gewerbevereins. Von ihm ist überliefert,

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daß er sich regelmäßig mit seinen protestantischen und katholischen Amtskollegen zum Stammtisch traf. Im Bereich der jüdischen Unterschicht scheinen die Beziehungsgeflechte zu Nichtjuden intensiver gewesen zu sein. Für Fürth lassen sich seit den zwanziger Jahren des 19. Jhs. Kontakte zwischen beiden Gruppen nachweisen, sowohl kurzfristige Verhältnisse wie auch langjährige Beziehungen, aus denen Kinder hervorgingen. Ehen zwischen Juden und Christen wurden jedoch selten geschlossen. Die Einführung der Freizügigkeit leitete das Ende der Epoche der süddeutschen Landjuden ein. Bis in die Emanzipationszeit hinein hatten 80% der jüdischen Bevölkerung auf dem Land gelebt. Nach 1871 begannen sich viele der jüdischen Landgemeinden aufzulösen. Die jüngere Generation und die vermögende Oberschicht wanderten aus den häufig abgelegenen Dörfern, die nur schlechte Verdienstmöglichkeiten boten, in die Städte ab. Die Gemeinden schrumpften, überalterten und verarmten. Synagogen und andere Gebäude wurden verkauft. Bis 1900 verringerte sich die Zahl der bayerischen Landgemeinden um ein Drittel. In den zwanziger Jahren des 20. Jhs. waren die Auflösungstendenzen bereits so weit fortgeschritten, daß der „Verband der Israelitischen Gemeinden Bayerns“ eine historische Kommission ins Leben rief, die sich mit der Erfassung der jüdischen Kunstdenkmäler Bayerns befassen sollte. So entstand noch vor der endgültigen Zerstörung der jüdischen Landgemeinden durch die Schoa eine Bestandsaufnahme der reichen Kulturschätze einer im Untergang begriffenen Welt.

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Deutschland seit 1871 Mit der Reichsgründung 1871 schien die Gleichstellung der Juden in Deutschland vollzogen zu sein. Das Gefühl der Freude, das sich einstellte, verbunden mit der Hoffnung, daß nun alles besser werden würde, wirkte insbesondere auf jene, die im wirtschaftlichen Sektor tätig waren, unmittelbar stimulierend. Im Bank-, Industrie- und Verkehrswesen nahmen eine Reihe von Juden bald führende Stellungen ein. Veränderungen in der Berufsstruktur begannen sich abzuzeichnen. Dies war ein langsamer, aber sich stetig vollziehender Prozeß. So waren z. B. 1895 noch 56,02% der Juden im Berufsfeld Handel und Verkehr beschäftigt. 1907 war die Beteiligung der Juden an diesem Sektor um mehr als 10% zurückgegangen (50,35%), was erkennen läßt, daß ein Prozeß der Berufsumschichtung eingesetzt hatte. So positiv diese Entwicklung erschien, so deutlich war aber auch, daß die Position der Juden nicht so gesichert war, wie sie eigentlich hätte sein sollen. Gesellschaftlich integriert waren die Juden nicht, auch wenn es vielfach den Anschein hatte. Bei einer ganzen Reihe von ihnen schlug sich das Gefühl des Nichtdazugehörens und des Ausgegrenztseins in einer Art innerer Unsicherheit nieder. Berühmt geworden ist eine Äußerung von Walther Rathenau, der unter seiner Herkunft litt und einmal bekannte, er fühle sich immer von neuem schmerzlich daran erinnert, als „Bürger zweiter Klasse“1 in die Welt getreten zu sein. Keine Tüchtigkeit und kein Verdienst, klagte er, könne ihn aus dieser Lage befreien.

Grenzen gesellschaftlicher Integration Trotz der gesetzlichen Gleichstellung war Juden der Zutritt zu bestimmten Bereichen der Gesellschaft nach wie vor verwehrt. Es zeigte sich, daß es so gut wie ausgeschlossen war, eine militärische Karriere zu machen und zum Offizier befördert zu werden. Bis 1910 dienten in Preußen schätzungsweise zwischen 25000 und 30000 Einjährig-Freiwillige jüdischen Glaubens. Von diesen hat kein einziger das Reserveoffizierspatent erhalten. In Bayern und Baden gelang dies nur einigen wenigen. Dies schmerzte und war vielen Juden der Beweis, daß noch immer ein tiefer Graben zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen existierte. In den Jahren nach 1900 war der Sachverhalt, daß Juden keine Reserveoffiziere werden konnten, häufig Gegenstand parlamentarischer Verhandlungen im preußischen Abgeordnetenhaus. Eine Folge der Debatten war die von der Generalversammlung des „Vereins zur Abwehr des Antisemitismus“ am 16. April 1904 beschlossene Resolution, in der die 1 Walther Rathenau an Frau General von Hindenburg, 12. Dezember 1917, in: Ders., Briefe, Bd. 1, Dresden 1926, Nr. 321, S. 338f.

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Zurücksetzung der Juden im Heer als eine „staatsbürgerliche Ehrenkränkung“ kritisiert und als eines Rechtsstaates „unwürdig“ bezeichnet wurde. Vor 1914 waren Juden in allen deutschen Bundesstaaten von fast allen staatlichen Ämtern ausgeschlossen. Vereinzelt gelang es dem einen oder anderen, in der Ministerialbürokratie Fuß zu fassen. Dies waren aber Ausnahmen. In der Regel standen Juden nur politisch einflußlose Stellen in nachgeordneten Behörden offen, so im Bereich der Eisenbahn, der Baubehörden oder der Reichspost. Nach der Berufsstatistik von 1907 waren von 12388 höheren Reichs- und Staatsbeamten nur 244 (1,93%) und im mittleren Dienst von 167 579 Beamten nur 589 Juden (0,35%). Wie im Militär waren auch im Justizdienst die Karrierechancen für Juden sehr eingeschränkt. In Sachsen und Hessen – dort mit einer Ausnahme – wurden Juden von der Richterlaufbahn ferngehalten. In Preußen wiederum war es Juden nach 1870 nur möglich, zu Kreis- oder Stadtrichtern ernannt zu werden. Auf den Posten eines Landesgerichtspräsidenten oder gar eines Oberlandesgerichtspräsidenten konnten sie jedoch nicht gelangen. Erst 1907 verfügte Wilhelm II., daß jüdische Richter zumindest zu Oberlandesgerichtsräten ernannt werden konnten. Auch an den Universitäten hatten Juden es schwer, Fuß zu fassen. 1910 gab es im Reich rund 200 jüdische Hochschullehrer, von denen jedoch mehr als die Hälfte an den medizinischen Fakultäten lehrten. Die meisten waren Privatdozenten, von denen nur einige zu außerordentlichen Professoren ernannt wurden. Auf ein Ordinariat gelangten nur sehr wenige. Auf einen Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur oder für klassische Altertumswissenschaft und Sprachen ist vor 1933 kein Jude berufen worden. Der Altphilologe Jacob Bernays brachte es nur zu einer außerordentlichen Professur. Bei den Philosophen sah es nicht viel besser aus. Hermann Cohen, Nachfolger des Philosophen Friedrich Albert Lange auf dessen Lehrstuhl in Marburg und in gewisser Weise repräsentativ für den Typ des Juden, der im Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg seine große Blütezeit erlebte, gelangte von Marburg nicht nach Berlin, obwohl an der dortigen Universität mehrfach Vakanzen bestanden. Der Mediävist Harry Breßlau, der Soziologe Georg Simmel und der Philosoph Ernst Cassirer haben sehr darunter gelitten, daß man sie wegen ihrer jüdischen Abstammung nicht akzeptierte und daß man ihnen, wo immer es ging, in ihrer akademischen Laufbahn Steine in den Weg gelegt hat.

Abwehrstrategien gegen den Antisemitismus Es war Heinrich von Treitschke, der den Antisemitismus in Deutschland in den Kreisen des nationalen Bürgertums salonfähig machte. Der Berliner Historiker und zeitweilige Reichstagsabgeordnete trug mit seinen Aufsätzen, Broschüren und Büchern, insbesondere mit seinem vielgelesenen Geschichtswerk Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert (5 Bde., 1879–1894) seit dem Ende der siebziger Jahre zur Verbreitung antijüdischer Stereotypen im Bildungsbürgertum bei. Vielleicht mehr noch als Richard Wagners Rassenhetze und die

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Straßenagitation des protestantischen Hofpredigers Adolf Stoecker kerbte sich sein Schlachtruf „Die Juden sind unser Unglück“ in das allgemeine Bewußtsein ein und beeinflußte das politische Verhalten bürgerlicher Kreise in den Jahren des Kaiserreichs und danach. Mit Ausnahme des Historikers Theodor Mommsen waren es hauptsächlich Männer jüdischer Herkunft, die sich gegen Treitschkes Auffassungen in der sogenannten „Judenfrage“ wandten. In Broschüren und Zeitungsartikeln wurden sie nicht müde zu versichern, die Juden würden sich als Deutsche fühlen und unterschieden sich von den christlichen Deutschen nur durch gewisse Verschiedenheiten des religiösen Glaubens. Auffallend war, daß die jüdischen Verteidiger sich zwar wortreich gegen die infame Hetze Treitschkes und der Antisemiten wandten, aber es in gewisser Weise es doch nicht verstanden, sich so zur Wehr zu setzen, wie es notwendig gewesen wäre. Ihre Apologien wurden von vielen Nichtjuden – und nicht nur von erklärten Antisemiten – als „unwürdig anbiedernde Stellungnahmen“ (Alex Bein) empfunden. Der Schriftsteller Berthold Auerbach ahnte, daß der Abwehr Grenzen gesetzt sein würden. In einem seiner zahlreichen Briefe, die an seinen Freund Jacob Auerbach gerichtet waren, klagte er: „Es ist zum Verzweifeln, in den Freiesten steckt ein Hochmuth und Widerwille gegen die Juden, der nur auf die Gelegenheit wartet, um zu Tag zu kommen.“2 Bei aller Skepsis gegenüber der Wirksamkeit aufklärerischer Maßnahmen bemühte man sich aber dennoch, durch gezielte Gegeninformation den Antisemitismus zu bekämpfen. Noch war der Glaube an die Vernunft und den moralischen Fortschritt ungebrochen. Die Mitglieder des 1893 gegründeten „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (C. V.) sahen im Antisemitismus eine „heilbare Krankheit“, lästig, aber keinesfalls gefährlich. Die Zuversicht, es werde gelingen, die „Überreste der Vergangenheit“ auf den „Schutthaufen der Geschichte“ zu kehren, gehörte zur Grundüberzeugung des „Centralvereins“ und nährte sich aus der Gedankenwelt der Aufklärung, der Klassik und des Idealismus sowie dem Glauben, daß Humanität und Gleichheit die Menschheit prägen würden. Die Abwehrpropaganda des C. V. bemühte sich, die Argumentation dem Denken und Fühlen der Gegner mit dem Ziel anzupassen, diese von der Unrichtigkeit ihrer Behauptungen zu überzeugen. Falschen Angaben sollte nicht nur widersprochen, sondern diese sollten mit Tatsachenmaterial widerlegt werden. Die Themen, mit denen man sich dabei befaßte, bezogen sich insbesondere auf die Rolle des Sündenbocks, die behauptete Kollektivverantwortung der Juden für alle Übel der Welt, die angebliche jüdische Minderwertigkeit sowie die mangelnde Vaterlandsliebe, die von den Antisemiten bei jeder sich bietenden Gelegenheit immer wieder ins Feld geführt wurde, um die „Fremdstämmigkeit“ der Juden zu beweisen. Der C. V., der 1918 rund 40000 und 1926 rund 60000 Mitglieder zählte und mit den ihm angeschlossenen Vereinigungen etwa ein Drittel der jüdischen Bevölkerung Deutschlands 2 Berthold Auerbach, Briefe an seinen Freund Jacob Auerbach, hrsg. von Jacob Auerbach, Bd. 2, Frankfurt am Main 1884, S.427.

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umfaßte, betonte in seinem Programm nicht nur den Kampf um die Gleichberechtigung, sondern auch das Ziel der Integration. In seinen Leitsätzen hieß es zunächst: „Wir sind nicht deutsche Juden, sondern deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens.“ Und an anderer Stelle: „Wir deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens stehen fest auf dem Boden der deutschen Nationalität.“3 Diese Sätze sind repräsentativ für das nationale Selbstverständnis vieler deutscher Juden am Ende des 19. Jhs.

Kriegsbegeisterung und Ernüchterung Als im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, empfand es die überwiegende Mehrzahl der deutschen Juden als ihre Aufgabe und Pflicht, sich der Gesamtheit ein- und unterzuordnen. Am 1. August 1914, dem Tag des Mobilmachungsbefehls, wandten sich der C. V. und der „Verband der deutschen Juden“ mit einem gemeinsamen Aufruf an die Öffentlichkeit: Daß jeder deutsche Jude zu den Opfern an Gut und Blut bereit ist, die die Pflicht erheischt, ist selbstverständlich. Glaubensgenossen! Wir rufen Euch auf, über das Maß der Pflicht hinaus Eure Kräfte dem Vaterland zu widmen! Eilet freiwillig zu den Fahnen! Ihr alle – Männer und Frauen – stellt Euch durch persönliche Hilfeleistung jeder Art und durch Hergabe von Geld und Gut in den Dienst des Vaterlandes!4

Wie das Bildungsbürgertum und die Arbeiterschaft wurden auch die deutschen Juden von einer Woge „rauschhaften Gemeinschaftsgefühls und patriotischer Kriegsbegeisterung“ (Egmont Zechlin) ergriffen. Gar mancher vergaß über Nacht das klassisch-humanistische Bildungsgut, in dem er erzogen worden war, ebenso wie die kosmopolitischen Elemente der jüdischen Tradition, denen er sich vielleicht noch vor Kriegsausbruch verpflichtet gefühlt hatte. Zum populärsten Kriegslied der Deutschen wurde Ernst Lissauers Haßgesang gegen England, von dem Stefan Zweig in seinen Erinnerungsbuch Die Welt von gestern schrieb, es sei wie eine „Bombe in ein Munitionsdepot“5 gefallen: Dich werden wir hassen mit langem Haß, / Wir werden nicht lassen von unserem Haß, / Haß zu Wasser und Haß zu Land, / Haß der Hämmer und Haß der Kronen, / Drosselnder Haß von 70 Millionen, / Sie lieben vereint, sie hassen vereint, / Sie haben alle nur einen Feind: England! 6

Es ist viel darüber gerätselt worden, wie es dazu kam, daß es gerade ein Jude war, der das „Evangelium eines übersteigerten Nationalismus“ (Egmont Zechlin) dichterisch verkünden 3 Paul Rieger, Ein Vierteljahrhundert im Kampf um das Recht und die Zukunft der deutschen Juden. Ein Rückblick auf die Geschichte des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in den Jahren 1893–1918, Berlin 1918, S.21. 4 Im deutschen Reich (1914), S.339. 5 Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt 1947, S.268. 6 Ernst Lissauer, Flugblätter 1914, Göttingen 1914.

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mußte. Ernst Lissauer, den Wilhelm II. mit dem Roten Adlerorden 2. Klasse ehrte, war „gläubiger an Deutschland als der gläubigste Deutsche“ (Stefan Zweig); gleichzeitig war er stolz auf sein Judentum, darauf, daß er nicht die Taufe genommen hatte. Ernst Lissauers Patriotismus bildete unter den deutschen Juden keine Ausnahme. Die Begeisterung für diesen Krieg, von dem man vielfach glaubte, er würde wie ein reinigendes Gewitter wirken und alle noch vorhandenen gesellschaftlichen Hindernisse endgültig hinwegfegen, ergriff Gesetzestreue wie Anhänger der Reform, Linke wie Rechte. Der Publizist Maximilian Harden z.B. stellte bei Kriegsausbruch seine Zeitschrift Die Zukunft ganz in den Dienst der nationalen Propaganda, und der Sprachphilosoph und Theaterkritiker Fritz Mauthner verfaßte Kriegsartikel, die so chauvinistisch und hetzerisch waren, daß sie sogar bei regierungsloyalen Zeitungen auf Ablehnung stießen. Von ihrer Loyalität und ihrem Patriotismus konnten die Juden ihre Mitbürger aber trotzdem nicht überzeugen. Gleichgültig wie sie sich verhielten, die Umwelt begegnete ihnen weiterhin mit Vorurteilen und Mißtrauen. Deutlich wurde dies, als das Kriegsministerium im Oktober 1916 eine „Judenstatistik“ anforderte, angeblich weil zahllose Anzeigen über Drückebergerei unter den jüdischen Mitbürgern eingegangen waren. Das Ministerium wollte durch diese Statistik, und zwar getrennt für Feldheer, Etappe und Besatzungsheer, folgende Fragen beantwortet wissen: Wie viele Juden haben sich freiwillig gemeldet, wie viele sind an der Front gefallen und wie viele sind mit dem EK I oder EK II ausgezeichnet worden? Im jüdischen Bevölkerungsteil löste die Anordnung Proteste aus. Im Reichstag kam es zu einer hitzigen Debatte, in der Ludwig Haas, der Sprecher der „Fortschrittlichen Volkspartei“, aus Briefen jüdischer Soldaten zitierte, in denen immer wieder darüber geklagt wurde, man würde durch diese Anordnung „gezeichnet“ und zu „Soldaten zweiter Klasse“ degradiert. Als nach dem Krieg die methodischen Grundlagen der vom Ministerium in Auftrag gegebenen Statistik bekannt wurden, insbesondere die Art der Erhebung und die Verarbeitung der ermittelten Ziffern, nannte der Soziologe Franz Oppenheimer die Untersuchung eine „statistische Ungeheuerlichkeit“ und erinnerte an das englische Witzwort: „Es gibt dreierlei Arten von Lügen: ,Notlügen, gemeine Lügen und Statistik‘.“7 Jüdischerseits war man sich im klaren, daß den antisemitischen Behauptungen, die Juden hätten sich nicht in genügend großer Zahl für die Verteidigung des Vaterlandes geopfert, mit hieb- und stichfestem Zahlenmaterial entgegengetreten werden mußte. Auf Grund der nach dem Krieg zur Verfügung stehenden Daten, insbesondere auf der Grundlage des vom „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ (RjF) veröffentlichten Namenslisten mit Geburtsund Todesdaten, Truppenteil und Dienstgrad der Gefallenen ließ sich ein eindeutiges Urteil über die Teilnahme der deutschen Juden am Ersten Weltkrieg ermitteln. Danach haben von einem Bevölkerungsanteil von 550 000 Juden (die ausländischen, nicht militärpflichtigen nicht mitgerechnet) rund 100 000 Mann in Heer, Marine und Schutztruppe gedient. Von 7 Franz Oppenheimer, Soziologische Streifzüge. Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd. 2, München 1927, S. 259.

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diesen sind rund 80 000 an der Front gewesen, davon sind mindestens 12 000 gefallen. Dekoriert wurden 35 000 und befördert 23 000, davon mehr als 2000 zu Offizieren und 1159 zu Sanitätsoffizieren und höheren Beamten. Der statistische Abwehrkampf ist nach Kriegsende noch fünfzehn Jahre lang mit Zeitungsartikeln, Broschüren und Büchern weitergeführt worden. Die jüdischen Organisationen glaubten, keine andere Wahl zu haben, als sich auf eine Zahlenschlacht einzulassen. Hätten sie geschwiegen, wäre ihnen das sicher als Eingeständnis ausgelegt worden, daß nur 5600 Juden gefallen seien, wie das von der antisemitischen Propaganda hartnäckig behauptet wurde. Beeindrucken ließen sich die Antisemiten von dieser Art von Publizistik jedoch nicht. Ihr Urteil stand bereits fest: „Je mehr Juden in diesem Krieg fallen“, so hatte Walther Rathenau bereits im August 1916 in einem Brief an Wilhelm Schwaner prophezeit, „desto nachhaltiger werden ihre Gegner beweisen, daß alle hinter der Front gesessen haben, um Kriegswucher zu treiben. Der Haß wird sich verdoppeln und verdreifachen.“8

Zwischen Selbstzweifel und Selbsthaß Die vom Kriegsministerium angeordnete „Judenzählung“ stellt in der deutsch-jüdischen Beziehungsgeschichte eine unübersehbare Zäsur dar. Viele derjenigen, die 1914 begeistert in den Krieg gezogen waren und bis zu diesem Zeitpunkt auf ihr Recht als Deutsche gepocht und sich als Staatsbürger definiert hatten, fühlten sich durch die Anordnung zurückgestoßen. Manche waren erbost, andere beleidigt oder zumindest enttäuscht. Selbst die Gutgläubigsten wurden von Zweifeln beschlichen. Vielleicht, so begann man sich zu fragen, war der Weg doch nicht richtig, für den man sich im guten Glauben entschieden hatte? Hatten die Antisemiten vielleicht doch recht mit ihrer Behauptung, Juden könnten keine Deutsche sein? Von nicht wenigen jüdischen Intellektuellen sind Äußerungen überliefert, daß alle Bemühungen um Anpassung und Anerkennung eigentlich zum Scheitern verurteilt seien. Jakob Wassermann z.B., ein durch und durch deutscher Dichter und Schriftsteller, beklagte sich nach Kriegsende in seinem autobiographischen Buch Mein Weg als Deutscher und Jude über die in beleidigender Form erfolgenden Zurücksetzungen, die er und seine Glaubensbrüder erfuhren. Die Juden, bemerkte Wassermann, könnten sich verhalten, wie sie wollten, die antisemitische Vorurteilsstruktur sei letztlich nicht aufzubrechen: Jedes Vorurteil, das man abgetan glaubt, bringt, wie Aas die Würmer, tausend neue zutage. […] Es ist vergeblich, in das tobsüchtige Geschrei Worte der Vernunft zu werfen. Sie sagen: was, er wagt es aufzumucken? Stopft ihm das Maul. […] Es ist vergeblich, für sie zu leben und für sie zu sterben. Sie sagen: Er ist ein Jude.9

Empfindlichere Naturen quälte es, auf Geringschätzung und kaum verhüllten Haß zu stoßen. Manche Juden haben in ihrer Verzweiflung die Vorurteile der Umwelt übernom8

Walther Rathenau an Wilhelm Schwaner, 4. August 1916, Nachlaß Rathenau Nr. 4, Bundesarchiv Koblenz. 9 Jakob Wassermann, Deutscher und Jude. Reden und Schriften 1904–1933, Heidelberg 1984, S.127.

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men. Diese Neigung vieler Juden, das vom Haß verzerrte Judenbild der Nichtjuden als richtige Einschätzung zu übernehmen, ist ein Phänomen, auf das Fritz Bernstein in seinem Buch Der Antisemitismus als Gruppenerscheinung (1926) hingewiesen hat. Der von den Nationalsozialisten im Sommer 1933 heimtückisch im Marienbader Exil ermordete Kulturphilosoph und Schriftsteller Theodor Lessing ging noch einen Schritt weiter. Die Selbstbetrachtung und Selbstbewertung nach den Wertmaßstäben einer feindseligen Umwelt bedinge geradezu Gefühle des Selbsthasses, meinte er. In seinen Lebenserinnerungen schildert Lessing die Atmosphäre, in der er aufwuchs, die ihn glauben ließ, „daß Jude etwas Böses sei“.10 Wenn seine Mitschüler ihn mit albernen Versen („Jude, Jude Itzig, mach dich nicht so witzig“) neckten, dann habe ihm dies innerlich einen Stich versetzt und seinen Seelenfrieden gestört. Bisweilen, so bekannte er, habe das „Leiden am Judesein“ Formen angenommen, „die schlechthin wahnsinnig genannt werden müssen“.11 Die gesellschaftliche Ausgrenzung führte dazu, daß sich nicht wenige in den vielfältigsten Außenseiterpositionen wiederfanden. Theodor Lessing zum Beispiel wurde ein Oppositioneller aus Prinzip. Aus Gründen der Nichtanerkennung, der verletzten Liebe, daß er als Jude nicht akzeptiert wurde, griff er an, kritisierte und polemisierte, war bewußt Rebell und Moralist in einem. Es war eine Einstellung, die, ähnlich wie bei Heinrich Heine, Karl Kraus oder Kurt Tucholsky, von der Umgebungsgesellschaft nicht anerkannt wurde. Sie stieß auf Widerstand und Ablehnung, vor allem wohl auch deshalb, weil die Normverletzung durch den Außenseiter häufig als Anmaßung oder als Bedrohung empfunden wird.

Gegen Zionisten und Ostjuden Die häufig geäußerte Annahme, die Juden hätten den Zionismus als eine nationale Emanzipationsbewegung begrüßen müssen, unterschätzt zumeist den Grad der Anpassung, der in Deutschland relativ hoch war. Als Theodor Herzl seinen Gedanken des Judenstaats propagierte, stand das assimilierte deutsche Judentum diesem ablehnend gegenüber. Die Mehrzahl der deutschen Juden sah im Zionismus eine rückläufige Bewegung, die die Entwicklung des Judentums zu einer freien allweltlichen, rein universal-religiösen Gemeinschaft aufhalte. Der Zionismus, so die Argumentation, würde die Juden in unendliche Loyalitätskonflikte stürzen, aber keines ihrer wirklichen Probleme lösen. Paradoxerweise unterschieden sich die Zionisten in ihren Hoffnungen und Wünschen nicht wesentlich von der Mehrzahl der deutschen Juden. Auch sie hofften, ihr Einsatz im Krieg werde durch ihre vollkommene gesellschaftliche Gleichstellung und Anerkennung belohnt werden. Dafür war man vielfach sogar bereit, sich dem Vorwurf auszusetzen, illoyal gegenüber den Glaubensbrüdern in England oder Frankreich zu handeln. 10 11

Theodor Lessing, Einmal und nie wieder. Lebenserinnerungen, Gütersloh 1969, S.112. Ebd., S.113

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„Jetzt“, so bemerkte der Soziologe Franz Oppenheimer, „fechten wir uns heraus aus dem Viertelbürgertum, dem verhaßten Metökentum in die Vollbürgerschaft. Jetzt können und wollen wir zeigen, daß wir unser Vaterland nicht minder heiß lieben als alle anderen […].“12

Das vorbehaltlose Bekenntnis mancher Zionisten zu Deutschland änderte aber nichts an der Tatsache, daß das assimilierte deutsche Judentum im Zionismus eine Gefahr sah. Man glaubte, die zionistische Propaganda unterminiere die erreichte staatsbürgerliche Stellung. Wer sich zum Zionismus bekannte, wurde als Außenseiter angesehen. In Variationen tauchte vor 1933 in Debatten immer wieder das Argument auf, ein deutscher Jude könne sich doch unmöglich mit dem Zionismus einlassen, da die Emanzipation ja gerade durch Aufgabe der nationalen Hoffnungen des Judentums errungen worden sei. „Der [zionistische] Standpunkt“, so formulierte es Ludwig Holländer, langjähriger Chefredakteur der C.V.-Zeitung, „schlägt nicht nur unserer innersten Überzeugung geradezu ins Gesicht, sondern widerspricht auch vollkommen unseren Wünschen und Hoffnungen. Er ist uns so fremd wie möglich.“13

Noch deutlicher war die Gegnerschaft in Vereinigungen wie dem „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ oder dem „Verband nationaldeutscher Juden“, die als Abwehrvereine gegen den Antisemitismus gegründet worden waren. Die Mitglieder waren zumeist nationaldeutsch-konservativ orientiert und dachten nicht daran, Zionisten zu werden, sondern wollten sowohl Deutsche wie Juden sein und das auch in Zukunft bleiben. In diesen Vereinigungen wurde keinerlei historische oder kulturelle Gemeinsamkeit mit den Millionen Juden außerhalb Deutschlands anerkannt. Trafen Mitglieder dieser Vereinigungen auf einen französischen oder englischen Juden, dann sahen sie in ihm zwar einen Glaubensbruder, in erster Linie aber einen Franzosen oder Engländer, im Ernstfall also den Feind. Abgelehnt wurde aber nicht nur der Zionismus, sondern auch die während des Krieges und danach einsetzende Zuwanderung von Ostjuden. Das deutsch-jüdische Bürgertum empfand diese in seiner überwiegenden Mehrheit als schmutzig, laut, roh, unsittlich und kulturell rückständig. Für Walther Rathenau zum Beispiel waren Ostjuden eine „asiatische Horde“, „ein abgesonderter fremdartiger Menschenstamm“.14 Theodor Wolff, Chefredakteur des „Berliner Tageblatts“ und Mitbegründer der „Deutschen Demokratischen Partei“, sprach von „unerfreulichen Schacherfiguren“ und „lichtfeindlich wirkenden Gestalten“.15 J. Hobrecht vom „Verband nationaldeutscher Juden“ warnte vor der „Ostjudengefahr“,16 die Deutschland wie Sturmflut zu verschlingen drohe. Die von manchem Vertreter des deutschen Judentums verwandte Wortwahl erinnert in einigen Passagen an den keifenden Jargon der Völkischen und der Antisemiten. Letztere scheuten sich im übrigen nicht, zu Propagandazwecken jüdische Stimmen zur Ostjudenfrage wie die von Hobrecht, Wolff oder Rathenau genüßlich in ihren Schriften zu zitieren. 12

Franz Oppenheimer, Antisemitismus, in: Neue Jüdische Monatshefte 2 (1917/18), S.1. Ludwig Holländer, Rückblicke, in: Im deutschen Reich (1914), S.301. 14 W. Hartenau [Rathenau], „Höre Israel!“, in: Die Zukunft 18 (1897), S.454ff. 15 Theodor Wolff, Die Juden. Ein Dokument aus dem Exil 1942/43, Königstein/Ts. 1984, S.104. 16 J. Hobrecht, Die Ostjudengefahr, in: Kölnische Zeitung vom 18. Dezember 1922. 13

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Hinter dem Haß gegen die Ostjuden, der in der Zeit der Weimarer Republik fast schon irreale Züge annahm, steckten tiefsitzende Bedrohungsängste. Die zunehmende Zahl osteuropäischer Juden, die das Bild rund um die Grenadierstraße in Berlin („Scheunenviertel“) prägte, löste bei vielen deutschen Juden die Befürchtung vor einer „Überfremdung“ aus. Außerdem warf man den Ostjuden vor, sie würden durch ihre Erscheinung und ihr Auftreten in der Bevölkerung antisemitische Gefühle provozieren. Man organisierte zwar Hilfe, war aber auf der anderen Seite um eine möglichst schnelle Weiterwanderung der Ostjuden in die Vereinigten Staaten oder in andere Länder bemüht. Eheschließungen mit einem ostjüdischen Partner wurden als nicht standesgemäß angesehen, und in den Kultusgemeinden wehrte man sich vielfach dagegen, den Ostjuden bei den Gemeindewahlen gleiche Rechte zuzugestehen.

Selbstbehauptung im Untergang Als Hitler und die Nazis im Januar 1933 an die Macht kamen, war das der Anfang vom Ende. Der Kampf um Emanzipation und Gleichberechtigung, über 100 Jahre geführt, schien verloren. Enttäuschung breitete sich aus. Viele empfanden es als einen jähen Schock. So zum Beispiel der 86jährige Maler und Grafiker Max Liebermann, der Inbegriff eines deutschen Juden, der feststellte, er sei aus dem Traum der Assimilation, den er sein Leben lang geträumt hätte, erwacht. Die jüdische Bevölkerungsgruppe hat nicht einheitlich auf die nationalsozialistische Bedrohung reagiert. Einige wollten wie Max Liebermann ausharren, andere entschlossen sich zur Auswanderung, die meisten waren unsicher und verhielten sich abwartend. Bis in den Sommer 1935 hinein hoffte so mancher, man könne sich mit dem Regime in irgendeiner Form arrangieren. Insbesondere diejenigen, die Deutschland als ihre Heimat betrachteten, die stolz auf die im Weltkrieg gebrachten „Blutopfer“ waren, verwahrten sich gegen die Ausgrenzungspolitik der NSDAP: „Wir wiederholen in dieser Stunde das Bekenntnis unserer Zugehörigkeit zum deutschen Volke, an dessen Erneuerung und Aufstieg mitzuarbeiten unsere heiligste Pflicht, unser Recht und unser sehnlichster Wunsch ist“ (29. März 1933). Von zionistischer Seite ist der Versuch der Anpassung an die geänderten gesellschaftlichen Verhältnisse scharf kritisiert worden. Man schüttelte den Kopf darüber, daß Repräsentanten von Vereinigungen wie dem RjF oder dem „Vortrupp. Gefolgschaft deutscher Juden“ daran glaubten, die Nazis durch ein betont nationales und soldatisches Auftreten beeindrucken zu können. Für besonders abwegig hielt man die von einigen ernsthaft vertretene Überzeugung, daß eine „ehrenhafte“ Eingliederung in den NS-Staat möglich sei. Diejenigen, die in den zwei Jahren, in denen das vielleicht noch möglich schien, zwischen 1933 und 1935 also, eine solche Annäherung mittels Denkschriften und Eingaben versucht haben, wurden nach 1945 heftig attackiert, vereinzelt sogar der Kollaboration mit den Nazis bezichtigt. Von zwei Seiten angegriffen, von den Nazis auf der einen, von den Zionisten auf

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der anderen, retteten sich die deutschgesinnten Juden in Losungen wie „Bereit für Deutschland“ (Hans-Joachim Schoeps) oder zogen sich auf Parolen wie „Jeder bleibt auf seinem Posten“ zurück. Im Lager des deutschen Judentums hat man die Maßnahmen der neuen Machthaber zunächst falsch eingeschätzt. Man verkannte die Politik der Dissimilation, die auf Ausgrenzung abzielte, darauf, den Juden nicht nur ihre Existenzgrundlage, sondern auch ihre „deutsche“ Identität zu nehmen. Tragisch ist, daß trotz dieser Erfahrungen die Mehrzahl der deutschen Juden an dem Bekenntnis zu Deutschland festgehalten hat und nicht verstehen konnte, daß dieses Bekenntnis nicht akzeptiert wurde. Man verschloß davor die Augen, wollte es vielleicht auch nicht wahrnehmen, wohl in der geheimen Hoffnung, es werde im Deutschland Goethes und Schillers letztlich so schlimm schon nicht kommen. Jugendliche fragen heute oft, warum sich die deutschen Juden eigentlich gegen die Ausgrenzung nicht gewehrt, warum sie sich schließlich wie Schafe zur Schlachtbank hätten treiben lassen. Das sind legitime Fragen, die aber die Möglichkeiten der damaligen Situation verkennen. Der Masse der deutschen Juden fehlte jede Voraussetzung, sich kollektiv zur Wehr zu setzen. Weder war dafür der Wille noch das nötige Bewußtsein vorhanden. Vermutlich ist dies auch von einer jüdischen Gemeinschaft zuviel verlangt, die in der Struktur bürgerlich war, überaltert und politisch zersplittert. Die Mehrzahl der deutschen Juden hatte – wie im übrigen auch die nichtjüdische Bevölkerung – bis dahin angepaßt gelebt und war loyal gegenüber der Staatsautorität. Die meisten hätten es abgelehnt, Anordnungen der Behörden in Frage zu stellen. Die Vorstellung, mit der Waffe in der Hand Widerstand zu leisten, war vollständig undenkbar und entsprach auch nicht dem traditionellen Verhalten, nachzugeben, sich in Situationen der Gefahr zu arrangieren – in der Hoffnung, so am ehesten unbeschadet überleben zu können. Kaum noch nachvollziehbar ist der psychische Druck, dem die Juden nach 1933 ausgesetzt waren. Diffamierungen, Boykott und Ausschreitungen erzeugten Unsicherheit, schufen eine Atmosphäre der Angst. Das Gefühl der sozialen Isolierung ergriff fast jeden. In der Memoirenliteratur ist nachzulesen, wie weh manchem die Recht- und Wehrlosigkeit getan hat, wie bitter die gesellschaftliche Ausgrenzung empfunden wurde. Als im Herbst 1935 die sogenannten Nürnberger Gesetze („Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“, „Reichsbürgergesetz“) in Kraft traten, mit denen zwischen Deutschen und Juden ein Trennstrich gezogen wurde, begannen viele zu ahnen, daß ein Juden und Deutschen gemeinsames Kapitel der Geschichte mit Riesenschritten dem Ende entgegenging. Den allermeisten der rund 260000 deutschen Juden, die in den Jahren von 1933 bis 1940 auswanderten, ist der Entschluß, Deutschland zu verlassen, nicht leicht gefallen. Diejenigen, die ihn schließlich fällten, taten es, weil sie für sich keinen anderen Ausweg mehr sahen. Aber selbst dann noch, als sie erkennen mußten, daß sie in dem Land, dem ihre Liebe galt, als unerwünscht angesehen wurden, selbst dann hielt so mancher an seinem Deutschsein fest. Ernst Levin z. B., der nach Südamerika geflüchtet war, schrieb im fernen Buenos Aires im Dezember 1939 ein Gedicht, das er Ein deutscher Jude an die Nationalsozialisten betitelte. Es ist Trotz, aber auch verzweifeltes Bekennen, die sich in den Versen spiegeln:

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Ihr habt uns beschimpft und bespieen, / Verfolgt mit wildem Hass, / Erniedrigt wie die Hunde / Ihr Tröpfe! Was macht uns das! / Beschmutzt habt ihr Euch selber, / Wir blieben fleckenlos rein, / Und werden auch in Zukunft / Die besseren Deutschen sein.17

Der Neuanfang nach dem Ende Wenige Monate nach seiner Befreiung aus dem KZ Theresienstadt bemerkte Rabbiner Leo Baeck, einer der führenden Repräsentanten des deutschen Judentums vor 1933: Für uns Juden aus Deutschland ist eine Geschichtsepoche zu Ende gegangen. Eine solche geht zu Ende, wenn immer eine Hoffnung, ein Glaube, eine Zuversicht endgültig zu Grabe getragen werden muß. Unser Glaube war es, daß deutscher und jüdischer Geist auf deutschem Boden sich treffen und durch ihre Vermählung zum Segen werden können. Dies war eine Illusion – die Epoche der Juden in Deutschland ist ein für alle Mal vorbei.18

War aber tatsächlich alles nur eine „Illusion“, wie Leo Baeck meinte, oder gar eine „Fiktion“, wie Gerschom Scholem einige Jahre später behauptet hat? Unmittelbar unter dem Eindruck von Auschwitz und dem organisierten Judenmord hat man sich vermutlich gar nicht anders äußern können, als es Baeck und Scholem seinerzeit getan haben. Anderseits ist solchen Äußerungen mit gebotener Zurückhaltung zu begegnen, denn es sind Feststellungen post festum, die bekanntlich mitunter eine gefährliche Projektionen und die Wirklichkeit konterkarierende Geschichtsbilder produzieren. Die Vorstellung von Leo Baeck, daß Deutschland künftig ein Land ohne Juden sein werde, hat sich nicht erfüllt. Nach der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten 1990 setzte eine starke Zuwanderung von Juden aus der früheren Sowjetunion ein, die zu einer Veränderung der bis dahin existierenden Situation führte. Bis 1989 waren in der alten Bundesrepublik nur rund 30 000 Juden in den Gemeinden gemeldet. Diese waren zumeist als Displaced Persons, als Flüchtlinge und Gestrandete aus den Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslagern im Nachkriegsdeutschland hängengeblieben waren. In der DDR wiederum waren 1989 gerade noch 450 Juden in den wenigen dort noch existierenden jüdischen Gemeinden gemeldet. Bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten konnte man sich als Jude mit der Bundesrepublik oder der DDR identifizieren. Man verstand sich als Bürger des Staates, in dem man lebte, und es war nicht notwendig, ein wie auch immer geartetes Bekenntnis zu Deutschland und dem Deutschtum abzulegen. Den Juden in der Bundesrepublik und in der DDR bot die eingeschränkte Souveränität, d. h. die Anwesenheit der Siegermächte des

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Memoiren Ernst Levin, LBI New York, ME 722. Es handelt sich um die Passage einer Rede, die Leo Baeck am 4. Dezember 1945 vor einer Versammlung der „American Federation of Jews from Central Europe“ in New York hielt. Der Verf. verdankt diesen Hinweis Hermann Simon, Stiftung Neue Synagoge-Centrum Judaicum (Berlin). Vgl. Die Zeit vom 8. November 1991. 18

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Zweiten Weltkrieges, einen gewissen Schutz, der es ihnen ermöglichte, ohne Ängste und Befürchtungen im Nachkriegsdeutschland zu leben. Sieht man sich die Altersstruktur der Gemeinden im Nachkriegsdeutschland an, so läßt sich feststellen, daß diese hoffnungslos überaltert war. Das Durchschnittsalter schwankte in den Jahrzehnten nach 1945 zwischen 45 und 50 Jahren, was heißt, daß die Gemeinden überwiegend aus älteren Menschen bestanden. Im Gegensatz zur DDR wurde in der alten Bundesrepublik die Bevölkerungsabnahme jedoch durch einen entsprechenden Einwanderungsüberschuß gerade noch ausgeglichen. Es war vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten jedoch nur noch eine Frage der Zeit, bis es zur Schließung von Gemeinden und damit zu einem Erliegen jüdischen Lebens gekommen wäre. Hätte nicht nach 1990 eine zahlenmäßige signifikante Zuwanderung von Juden eingesetzt, wäre die demographische Entwicklung derart verlaufen, daß es in absehbarer Zeit ein jüdisches Leben in Deutschland nicht mehr gegeben hätte. Durch die Zuwanderung von Juden aus der früheren Sowjetunion hat sich aber eine neue Lage ergeben. Heute besteht die Perspektive, daß über kurz oder lang ein neues deutsches Judentum entstehen könnte. Es wird, daran kann kein Zweifel bestehen, jedoch ein anderes deutsches Judentum sein als das vor 1933 – eines, das sich nicht mehr auf eine heute weitgehend versunkene bildungsbürgerliche Tradition beruft, die wir mit den Namen Schiller, Goethe, Heine, Uhland oder Hauff verbinden, eines, das sich nicht mehr vorbehaltlos mit Deutschland identifiziert, sondern seine kulturellen und geistigen Wurzeln hauptsächlich in Osteuropa oder in Israel haben wird.

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Die Schweiz Von den Anfängen bis 1350 Juden siedelten sich seit Beginn des 13. Jhs. auf dem Gebiet der späteren Schweiz an (Konstanz sei hier mit eingeschlossen). Sie konzentrierten sich auf die Städte und Marktorte, die für ihre berufliche Tätigkeit interessant waren. In den Quellen erscheinen sie meist als Geld- oder Warenhändler. Einzelne vermochten sich Reichtum zu erarbeiten und wohnten in guten städtischen Lagen. Die „Judengassen“ (z.B. in Solothurn) waren keine Ghettos. Der jüdische Geldhändler Manasse aus Zürich ließ in einem spätmittelalterlichen Empfangssaal die Wappen seiner adligen Kunden aus der Nordostschweiz auf die Mauern aufmalen und in hebräischer Kursive beschriften. In Zürich ist auch ein Rabbiner belegt, der einen Superkommentar zum Sefer mizwot katan (Kleines Buch der Gebote) verfaßte. Juden wohnten um 1300 in den beiden wichtigen Handelsstädten Basel und Genf, aber auch in Bern, Konstanz, Luzern, St. Gallen, Schaffhausen und Zürich sowie in kleineren Orten. Die Familienvorstände erhielten „Judenbürgerbriefe“ für eine gewisse Frist und mußten den erhaltenen Rechtsschutz und die physische Verteidigung bezahlen. Allmählich ging das Recht, Juden aufzunehmen, vom deutschen Kaiser auf die Magistrate über. Im Zeitraum von 1200 bis 1347 ist nur eine Verfolgung bekannt (Bern 1294). 1348/49 aber spielte das Gebiet zwischen dem Genfer See und dem Bodensee eine wichtige Rolle bei der Übertragung der Legende der Brunnenvergiftung nach Oberdeutschland. Die Verfolgungen dieser Zeit bedeuteten das Ende der Gemeinden. Schon zeitgenössische Chronisten machten darauf aufmerksam, daß auch Bereicherungsabsichten ein Motiv für diese Verfolgungen waren.

Spätmittelalter und Reformation Nach 1349 bildeten sich wieder jüdische Gemeinden und Niederlassungen, doch in kleinerem Umfang. Einige Jahrzehnte später kam es wieder zu Vertreibungen, die der Ansiedlung von Juden in den Städten auf dem Gebiet der entstehenden Eidgenossenschaft ein Ende setzten. In Luzern wurden die sie 1384 vertrieben, in Basel flüchteten sie 1397. Ausgewiesen wurden sie weiter aus Bern (1427), Zürich (1436), Konstanz (1449), Freibourg (1463), Schaffhausen (1475), Thurgau (1491) und anderen Städten. Eine erneute Ritualmordunterstellung führte zur Ermordung von Juden in Diessenhofen und Schaffhausen (1401). Vereinzelt mochten Juden auch danach kurzfristig auf dem Gebiet der Schweiz anzutreffen sein, eine kontinuierliche Niederlassung scheint es nach dem jetzigen Forschungsstand jedoch nicht mehr gegeben zu haben. Ein wichtiges Motiv war die Loslösung vom

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Kaiser, der trotz des Verkaufs des Judenregals weiter Abgaben von Juden eintreiben konnte. Ärzte wurden an einigen Orten weiter aufgenommen, doch nach 1500 erscheinen sie nicht mehr in den Quellen. Ein Konstanzer Register aus den vierziger Jahren des 15. Jhs. zeigt anschaulich, daß ein großer Teil der Kunden jüdischer Geldhändler auf dem Land in der Nordostschweiz gewohnt hatten. Wohin die Vertriebenen sich wandten, ist nicht erforscht. Ein Teil ging wahrscheinlich nach Norditalien oder von der Westschweiz ins Burgund, andere scheinen in Süddeutschland untergekommen zu sein. Es ist somit von einer Unter brechung in der Siedlungsgeschichte auszugehen, die auf die Zeit zwischen 1475 und 1550/60 festzulegen ist. Zur Zeit des Bauernkrieges (1525) und in der frühen Phase der Reformation muß eine stark judenfeindliche Stimmung in der Schweiz geherrscht haben, da Schweizer Truppen im Elsaß Juden systematisch verfolgten. Allerdings sind von den Schweizer Reformatoren Ulrich Zwingli und Jean Calvin keine judenfeindlichen Ausbrüche wie diejenigen von Martin Luther bekannt. Auch ohne Präsenz von Juden wurden Basel und Zürich wichtige Orte des frühen hebräischen Buchdrucks (Frobenius und Froschauer). Teilweise gaben Juden diese Werke in Auftrag. Eine besondere Blüte feierte die Hebraistik im 17. Jh. in Basel mit der Gelehrtenfamilie Johannes Buxtorf.

Neuanfang in der frühen Neuzeit (1550–1798) Zwischen 1550 und 1650 entstanden allmählich vor allem in dem an die Eidgenossenschaft angrenzenden Raum (südliches Elsaß, rechtsrheinisches Umfeld) jüdische Niederlassungen und Gemeinden, nun ausschließlich auf dem Land. Um 1550/60 sind die ersten Juden in der Gegend von Waldshut und im gemeinsam verwalteten Untertanengebiet „Grafschaft Baden“ belegt. Um 1612 wird dort eine „Judenschaft“ erwähnt, eine fiskalische Organisation analog der Landesjudenschaften. Nach 1696 wurde der Judenschaft ein Schutzbrief auf jeweils sechzehn Jahre ausgestellt. In einem langsamen Konzentrationsprozeß siedelten sich die in der „Grafschaft“ zerstreut lebenden jüdischen Familien in Lengnau (1622) und Endingen (1678) an. Hier konnten sie als Folge einer langsamen wirtschaftlichen Konsolidierung um die Mitte des 18. Jhs. große repräsentative Synagogen erbauen. Während die regierenden Orte der Alten Eidgenossenschaft im 16. und 17. Jh. keine Juden mehr dulden wollten – eine Ausnahme war Solothurn –, war die Lage in der gemeinsamen „Grafschaft Baden“ eine andere. Hier wechselte der Landvogt bis 1711 alle zwei Jahre. Eine effektive Kontrolle seiner Zulassungspolitik war kaum möglich. Für den Betreffenden waren die Abgaben der Juden aber eine interessante Einkommensquelle. Dies erklärt die Zulassung jüdischer Familien trotz einer abweisenden Politik auf eidgenössischer Ebene. Einzelne Juden besaßen bereits gegen Ende des 18. Jhs. in Endingen und Lengnau Häuser, obwohl dies rechtlich nicht gestattet war. Seit dem 17. Jh. wohnte im schweizerischen Surbtal mindestens ein Rabbiner, der teilweise von recht weither stammte. Zusammen wiesen die beiden Landgemeinden um 1780 immerhin 659 Personen auf. Diese Zahl

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war nach den damaligen Verhältnissen in Westeuropa nicht unbedeutend, und die Juden spielten im Leben der Dörfer eine wichtige Rolle. Darüber hinaus wurden Juden in einigen Dörfern des „zugewandten“ Fürstbistums Basel (Allschwil, Muttergemeinde von Hegenheim, bis 1694) und im solothurnischen Dornach (bis 1740) geduldet. Oft befanden sich die jüdischen Landgemeinden nur wenige hundert Meter neben der Schweizer Grenze (etwa Gailingen bei Diessenhofen). Wichtig waren die Landgemeinden des südlichen Elsaß von Niedersept bis Hegenheim, vom rechtsrheinischen Lörrach über Gailingen bis zum (später) vorarlbergischen Hohenems. Diese jüdischen Handelsleute waren als Wochenaufenthalter seit 1560 in den Regionen Basel (Kembs) und Waldshut/Zurzach (Tiengen 1551) sowie ab 1617 in Vorarlberg präsent. Um 1780 wohnten etwa 2300 Juden im grenznahen Elsaß, vermutlich an die tausend am Oberrhein von Basel bis zum Bodensee und 274 in Hohenems. Sie beschäftigten sich mit dem Vieh- und Pferdehandel. In den letzten beiden Handelssparten waren sie unbedeutender als die christliche Konkurrenz, die aus der alpinen „Hirtenregion“ einen schwungvollen Export nach Norditalien betrieb. Gerade für kleinere Bauern war die Vermittlungstätigkeit jüdischer Viehhändler interessant. Sie erhielten Vieh „eingestellt“, profitierten von dessen Milch-, Dünger- und Zugleistung und teilten sich den durch Mästung bedingten Zugewinn mit dem jüdischen Händler. Die Landjuden hatten eine eigene Gruppensprache, das Jüdisch-Deutsche oder Westjiddische entwickelt, das für gewisse Bereiche stark mit hebräischen Begriffen durchsetzt war. Diese wurden von der christlichen Dorfbevölkerung in erstaunlichem Umfang ebenfalls verstanden und verwendet. Es existierte ein Brauchtum, z. B. das Sticken von Torawimpeln aus Windeln (hebr. Mappot) oder der Holekreisch, eine Namensgebungszeremonie, die ihre Wurzeln in der aschkenasischen mittelalterlichen Kultur hatte und noch heute vereinzelt von traditionellen Familien gepflegt wird. Die Rechtslage für Juden in der Schweiz war sehr unterschiedlich. Der Viehexport wurde geduldet, im Sinne des Merkantilismus sogar befürwortet. In gewissen Kantonen wurde den Juden das Hausieren gestattet. Teilweise waren sie auf den Besuch der Messen und Märkte verwiesen (Basel nach 1768). Eine besonders rigorose Politik gegen Juden verfolgte das von Kaufleuten und Zunftmeistern bestimmte Zürich, das nach 1634 weder das Betreten noch den Warentransit auf dem Kantonsgebiet gestattete. Nicht alle diese Verordnungen wurden befolgt. Die Modernisierung der Wirtschaftspolitik in den achtziger Jahren des 18. Jhs. führte zu einer strengeren Politik gegenüber den Juden. Man versuchte, den Wortlaut der älteren Verordnungen wieder durchzusetzen oder verschärfte im Sinne eines physiokratischen Paternalismus gewisse Bestimmungen gegen den durch Juden betriebenen Viehhandel. Als es ein in einen Prozeß verwickelter elsässisch-jüdischer Handelsmann wagte, sich mittels französischer Stellen zu wehren, verbannten einige Orte alle Juden (Bern, Basel, Neuenburg). Dies wurde mit der Besetzung der Schweiz durch französische Truppen (März 1798) hinfällig. Bekannter als die abweisende Politik der Alten Orte der Eidgenossenschaft ist die Kontroverse zwischen Johann Caspar Lavater und Moses Mendelssohn (1769), die sich aus der

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Aufforderung Lavaters an Mendelssohn ergab, dieser möge sein Festhalten am Judentum begründen. Im Verlauf der Debatte wies Mendelssohn sarkastisch darauf hin, daß er die Stadt Zürich nicht einmal betreten dürfte. Von Lavater ist kein Vorgehen gegen die Zürcher Judenpolitik bekannt. Der Aufklärer Isaak Iselin war offener eingestellt und machte Mendelssohn zum Mitglied einer angesehenen Gesellschaft. Der zum Pietismus Hallescher Prägung neigende Zürcher Pfarrer Johann Caspar Ulrich verfaßte 1768 eine ausführliche Landesgeschichte, eine der frühesten ihrer Art im deutschsprachigen Raum. Er äußerte darin ein passives Mitleid für die Lage der Landjuden, übte aber an den abweisenden Zürcher Bestimmungen keine Kritik.

Der lange Weg zur Emanzipation (1798–1879) Eine erste Wende in der Judenpolitik der Alten Eidgenossenschaft erreichte der Druck der französischen Politik. Der Leibzoll für Juden wurde 1797 in Basel, 1798 auf dem gesamten Gebiet der Schweiz (nun: „Helvetik“) abgeschafft. Zu dieser Zeit (1798/99) wurden im Parlament zwei heftige Debatten über die bürgerliche Stellung der Juden ausgetragen. Die Landjuden in Endingen und Lengnau hatten im Dezember 1798, inspiriert vom französischen Vorbild, eine Eingabe verfaßt, in der sie vollständige Gleichstellung forderten. Paradox mag erscheinen, daß die sonst sehr fortschrittlichen revolutionären Politiker die Juden nicht zum Bürgereid zulassen wollten, ja sogar über die allgemein übliche Wartefrist von zwanzig Jahren hinaus ein spezielles Stichdatum (1792) zur Antragstellung für die Einbürgerung festlegten, das für Christen nicht galt. Im September 1802 kam es im Kontext des taktischen Rückzugs französischer Truppen in den beiden Landgemeinden Endingen und Lengnau zu Ausschreitungen gegen die Juden. Die Schuldigen wurden von der Regierung, auch als ruhigere Verhältnisse einkehrten, nicht bestraft. Nach 1803 und der Rückkehr der Schweiz zum Föderalismus (napeoleonische „Mediation“) wandelten sich ehemalige Revolutionäre zu konservativen Staatsmännern. Der Aargauer Hans Herzog, ein ehemaliger Befürworter der Gleichberechtigung, handelte 1825 mit Frankreich den Ausschluß der Juden aus einem schweizerisch-französischen Niederlassungsvertrag aus. Trotzdem kam es in den dreißiger Jahren des 19. Jhs. zur Zulassung einzelner Juden in Westschweizer Kantonen, nach 1843 auch auf dem Kantonsgebiet von Zürich. Das konservative calvinistische Genf erlaubte ihnen 1843 den Bau eines privaten Betsaals in der Stadt, und allmählich durften die um 1780 unter piemontesischer Herrschaft in Carouge zugezogenen Juden in Genf selbst wohnen. Eine neue elsässisch-jüdische Landgemeinde entstand nach 1827 im waadtländischen Avenches, ein für den Pferdehandel bedeutendes Kleinstädtchen. Im für den Uhrenhandel wichtigen La Chaux de Fonds bildete sich 1833 eine Gemeinde. Die Aargauer und Elsässer Juden, nach 1826 von der französischen Realpolitik im Stich gelassen, führten einen langen vergeblichen Kampf um die Emanzipation – und dies in einem bürgerlichen, demokratischen und emanzipierten Staat. Der als besonders liberal bekannte neue Kanton Basel-Land wollte Juden prinzipiell Liegenschaftskäufe verbieten. Dies ging Frankreich

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doch zu weit, und die Regierung in Paris verfügte 1835/36 eine Grenzsperre gegen Baselbieter Kantonsangehörige. Ein Hort liberaler Freiheit war die von deutschen Emigranten geprägte Universität Bern, die 1836 Gustav Gabriel Valentin als Professor für Anatomie und Physiologie und damit als ersten jüdischen Ordinarius im deutschsprachigen Raum berief. Hier wirkte von 1860 bis 1866 auch Moritz Lazarus auf einem Lehrstuhl für Völkerpsychologie. Er hatte Zugang zum einflußreichen Honoratiorenkaffeetreffen der Berner Kantonsregierung („Regierungskaffee“). 1864 diente er als Rektor der Universität, zeitgleich wie in Zürich der jüdische Historiker Max Büdinger. Das hartnäckige Andauern von Ressentiments gegen die Landjuden in der liberalen politischen Klasse wurde 1848 sichtbar, als sie in der neuen Bundesverfassung von der Niederlassungsfreiheit ausgenommen wurden. 1851 wurden die christlichen Heimatlosen, vor allem die fahrenden „Jenischen“ (Wanderhandwerker) durch eine Verordnung des Bundes eingebürgert. Die Juden wurden weiter übergangen. Die Aargauer Juden besaßen in ihrem eigenen Kanton bis in die sechziger Jahre des 19. Jhs. weder Freizügigkeit noch Stimmrecht. Sie wurden jedoch bereits 1853 zum Militär eingezogen. Langjähriger Vorkämpfer für ihre Gleichstellung war der Endinger jüdische Lehrer Marcus Getsch Dreifus, der als erster Schweizer Jude eine Universität besucht hatte und von der jüdischen Reformbewegung durch seine Aufenthalte in Baden (um 1829) und seine Korrespondenzen mit Isaac Marcus Jost und Ludwig Philippsohn beeinflußt war. Nach 1861 wurde er in seinen Bemühungen von dem bedeutenden Rabbiner und Ranke-Schüler Moritz Kayserling abgelöst, der nach seinem Aufenthalt in den beiden entlegenen schweizerisch-jüdischen Landgemeinden Endingen und Lengnau 1870 nach Budapest berufen wurde. Von französischer Seite her wirkte Moses Nordmann aus Hegenheim, der von den in die Westschweiz und nach Basel ausgewanderten Elsässer Juden als Rabbiner beigezogen wurde. Nordmann intervenierte verschiedentlich beim französischen Außenministerium. 1860 zeichnete sich ein Wandel in der französischen Politik ab. Für den Abschluß eines neuen Freihandelsvertrags mit der Schweiz wurde die Gleichstellung der Schweizer Juden zur conditio sine qua non erklärt. Auch England, die Niederlande (1863) und der amerikanische Botschafter Theodore S. Fay signalisierten ihre Kritik an der Schweizer Politik. Letzterer verfaßte 1859 eine Denkschrift, die die Diskriminierungen von Schweizer Juden durch die Kantone bloßstellte und für eine schlechte Presse im Ausland sorgte. Darauf bemühten sich einige liberale Politiker, Diskriminierungen abzuschaffen. Im Aargau geschah dies im Mai 1862 unter der Voraussetzung, daß die Juden keinen Anteil am lokalen Bürgernutzen, d. h. dem Eigentum der Ortsbürgergemeinde (Wald, Brennholz usw.), erhalten sollten. Trotzdem entwickelte die katholisch-konservative Seite eine heftige Agitation, die mit der Abberufung des Aargauer Parlamentes wegen der „Judenfrage“ durch ein Referendum endete. Der Bundesrat mußte hier 1863 die Bundesexekution androhen, um die freie Niederlassung von Juden im Kanton durchzusetzen, sowie ihr Stimm- und Wahlrecht sicherzustellen. Durch diese Auseinandersetzung wurde die lokale Einbürgerung der Juden bei den Politikern noch unpopulärer, als sie es vorher schon gewesen war. Zum 1. Januar 1879 erhielten die alteingesessenen „autochthonen“ Aargauer Juden das Ortsbürger-

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recht, allerdings in juristisch getrennten „rein-jüdischen“ Ortsbürgergemeinden. Dies erst bedeutete den Abschluß des Kampfes um die Emanzipation nach über achtzig Jahren (1798–1879). Die in den sechziger Jahren des 19. Jhs. etablierte Form der direkten Demokratie hatte die Bedeutung judenfeindlicher Vorurteile in der Politik gesteigert, eine allgemeine gesellschaftliche Emanzipation hatte entgegen zeitgenössischen Wunschvorstellungen, etwa Heinrich Heines in seinen Reisebildern, in der Schweiz lange keine Gleichberechtigung mit sich gebracht. Sie erfolgte hier spät und erst auf ausländischen, d. h. vor allem französischen Druck.

Nach der Gleichstellung (1879–1933) Die Folge der langen restriktiven Politik gegenüber Juden war eine künstliche Verzögerung der Verstädterung. Städtische jüdische Gemeinden entstanden erst in den sechziger Jahren des 19. Jhs. (Zürich 1862, St. Gallen 1863, Luzern 1867, Lausanne 1868). Kleine ältere Gruppen in Städten wie Basel, Bern und Genf erhielten erst jetzt eine substantielle Verstärkung. Deshalb blieb in der Schweiz auch das Landjudentum und seine Gruppensprache lange lebendig. Die Elsässer Juden ließen sich in ihren altbekannten Handelsgebieten westlich einer Linie von Basel nach Luzern nieder. Südbadische Juden gingen nach Zürich und in die Nord- und Ostschweiz, wo sie sich mit Hohenemser Juden trafen. Jetzt erst kam es – abgesehen von Genf und Avenches – zu meist maurischen (neoislamischen) Synagogenbauten (Basel, Zürich, La Chaux de Fonds, Bern, St. Gallen). Auch nach den Emanzipationskämpfen war es für die Juden in den Städten nicht einfach, eine jüdische Infrastruktur aufzubauen. Gegen die Errichtung jüdischer Friedhöfe bildete sich oft Widerstand, und die Schulbehörden hatten häufig kein Verständnis für die Beachtung der Schabbatruhe durch Schulkinder. In Zürich wurde letztere erst in den siebziger Jahren des 20. Jhs. rechtlich geschützt. In der Reihe dieser Widerstände ist auch die erste erfolgreiche Volksinitiative der Schweizer politischen Geschichte zu nennen, die 1893 das jüdische Schlachten, das „Schächten“, in der Bundesverfassung(!) verbot. Die freie wirtschaftliche Betätigung erlaubte den Juden eine soziale Mobilität. Jüdische Kaufleute wurden prominent im Textilhandel, stiegen aber auch teilweise in die Produktion ein (Seide, Konfektion, Stickereien usw.). Die Hälfte aller Warenhausdirektoren um 1930 war jüdisch (Maus und Nordmann, Loeb usw.). In den wichtigen Branchen der Schweizer Exportindustrie (Maschinenbau, Chemie) waren sie jedoch mit Ausnahme der Uhrenindustrie kaum vertreten. Im Bankwesen herrschten protestantische Familien. Daneben waren allenfalls die Privatbanken Julius Bär und Dreyfus (Basel) von Bedeutung. In den neunziger Jahren des 19. Jhs. kamen viele jüdische Studenten aus Osteuropa in die Schweiz. Das gesamte ideologische Spektrum war hier vertreten, von den Zionisten (Wladimir Jabotinsky) bis zu den Bundisten (Chaim Schitlowski) und proletarischen Internationalisten (Rosa Luxemburg, die von 1888 bis 1897 in Zürich war). Chaim Weizmann habilitierte sich 1903 für Chemie in Genf. An jüdischen Themen Interessierte gruppierten sich um den Berner Philosophieprofessor Ludwig Stein, der zahlreiche Dissertationen zu jüdi-

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schen Themen annahm. Dies zeigt, daß der Übergang von der russisch-polnischen Talmudhochschule zur deutschsprachigen Universität fließend war. Die guten Verbindungen eines anderen ostjüdischen Studenten, David Farbstein (1868–1953), ermöglichten Theodor Herzl die Abhaltung des Ersten Zionistenkongresses in Basel (1897). Die zentrale Lage der Schweiz und ihre Neutralität führte dazu, daß bis 1939 viele Kongresse hier abgehalten wurden. Für nicht wenige deutsche Zionisten stellte das plurikulturelle Zusammenleben in der Schweiz ein Modell für ihren idealen Staat im Lande Israel dar, so z. B. für Hans Kohn, eines der Gründungsmitglieder des Brit Schalom, der sich für einen binationalen Staat Palästina einsetzte, in dem Juden und Araber die gleichen Rechte haben sollten. In der sozialistisch-zionistischen Partei Poale Zion spielte nach der Staatsgründung Hanna MeiselSchochat (1880–1972), die ebenfalls in der Schweiz studiert hatte, eine wichtige Rolle. Die Studentenkolonien lebten abseits von den Gemeinden. Einzelne betätigten sich sehr am allgemeinen kulturellen Leben, wie z. B. der Rechtsanwalt Wladimir Rosenbaum mit seinem offenen Haus in Zürich. Farbstein ließ sich von Sozialdemokraten in das Zürcher kantonale und städtische Parlament wählen und avancierte 1922 sogar zum ersten jüdischen Nationalrat (bis 1937). Ostjüdische orthodoxe Familien bauten nach 1900 eigene Betgemeinschaften oder Gemeinden auf. Wie in Deutschland existierten hier lange gegenseitige Vorbehalte zwischen West- und Ostjuden, die eigentlich erst von der nächsten Generation durch die gemeinsame Sozialisierung, z. B. im Religionsunterricht oder in den Jugendbünden, überwunden werden sollten. Die bis nach 1945 fehlende rechtliche Anerkennung der jüdischen Gemeinden erleichterte die organisatorische Zersplitterung sehr. In Zürich hatten sich bis 1912 drei jüdische Gemeinden gebildet: 1862 die Israelitische Cultusgemeinde, 1895 die Israelitische Religionsgesellschaft, eine neo-orthodoxe Austrittsgemeinde nach Frankfurter Vorbild, und 1912 die Agudas Achim, eine lose Interessengemeinschaft ostjüdischer Betstübel unterschiedlichster landsmannschaftlicher Herkunft. Von 1927 bis 1975 existierte in Montreux eine Talmudhochschule litauischer Tradition, die von der Familie Botschko geleitet wurde. In ihr fand der bekannte Gelehrte Rabbiner Jechiel Weinberg Zuflucht, ein ehemaliger Dozent des orthodoxen Rabbinerseminars zu Berlin, der aus den Fängen der Nazis gerettet werden konnte. Die in der Schweiz tätigen Rabbiner stammten meist aus dem deutschsprachigen Raum und hatten ihre Ausbildung in den Rabbinerseminaren von Breslau, Berlin und Wien erhalten. Der aus dem westpreußischen Flatow stammende neo-orthodoxe Rabbiner Arthur Cohn wurde nach Basel berufen und zu einem Gründer der Agudat Israel, einem Dachverband orthodoxer Guppierungen aus Mittel- und Osteuropa. Erst 1904 schlossen sich die meisten Gemeinden lose zu einem „Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund“ (SIG) zusammen, der das vom Bundesrat nach der Schächtinitiative zugestandene Koscherfleisch-Importkontingent verteilte und Anstrengungen gegen den Antisemitismus koordinierte. Bedeutende Historiker waren der Basler Arzt Achilles Nordmann und die aus Galizien stammende Augusta Steinberg. Letztere verstarb 1932 über einem Werk zur neuzeitlichen Geschichte der Juden in der Schweiz. 1902 hatte sie über die

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Juden in der mittelalterlichen Schweiz promoviert. 1901 löste das Israelitische Wochenblatt für die Schweiz die Korrespondentenberichte in der deutsch-jüdischen Presse ab. Für das jüdisch-kulturelle Leben in Zürich wichtig war die Vereinigung für soziale und kulturelle Arbeit im Judentum, die berühmte Gelehrte und Publizisten wie z. B. Martin Buber nach Zürich einlud.

Zeit der Bedrohung (1933–1945) Nach 1933 kam es zu einer Bewährungsprobe für die Schweizer Parteien. Die faschistischen „Fronten“ waren 1933/34 im Aufwind, und sogar bürgerliche Parteien gingen Listenverbindungen mit ihnen ein. Zunehmend wurde jedoch das NS-Regime als Bedrohung für die Unabhängigkeit der Schweiz empfunden, und nach 1935 verloren rechtsextreme Parteien an Bedeutung. In einem Prozeß wurden die Protokolle der Weisen von Zion durch die Bemühungen des Rechtsanwaltes Georges Brunschwig gegen die deutsche Regierung gerichtlich als „Schundliteratur“ bezeichnet. Eine weitere kritische politische Situation entstand, als der NSDAP-Führer Wilhelm Gustloff in Davos durch einen Juden, David Frankfurter, erschossen wurde. Die neutrale Schweiz bildete für internationale jüdische Organisationen einen wichtigen Stützpunkt im nach 1939 von den Nationalsozialisten dominierten Kontinentaleuropa, z. B. für den 1935 am Sitz des Völkerbundes in Genf gegründeten „World Jewish Congress“, der von dem ehemaligen Berliner Rechtsanwalt Gerhart Riegner vertreten wurde, das „American Joint Distribution Committee“ und die Dachorganisation zionistischer Jugendbünde Hechaluz mit Nathan Schwalb. Erst heute werden nähere Einzelheiten über Botendienste, kodierte Korrespondenzen und Widerstandsarbeit für die verfolgten Juden bekannt. Wichtig waren dabei auch die jüdischen Jugendbewegungen. Die Emigranten, meist jüdischer Herkunft, führten das Zürcher Schauspielhaus zu europäischer Bedeutung als freie Bühne deutscher Kultur. Trotz der Abwehr der NS-Politik war die politische Klasse der Schweiz den jüdischen Flüchtlingen gegenüber nicht sonderlich freundlich eingestellt. Die Politik differenzierte schon 1933 zwischen zuzulassenden „politischen“ Flüchtlingen (de facto Sozialdemokraten und Kommunisten, die eine aktive Parteistellung und direkte persönliche Verfolgung nachweisen konnten) und abzuweisenden „rassisch Verfolgten“, d. h. Juden. Das Schlagwort von der „Überfremdung“ war damals eindeutig antijüdisch konnotiert. Der Chef der eidgenössischen Fremdenpolizei, Heinrich Rothmund, versicherte anläßlich eines Besuchs im KZ Oranienburg im Oktober 1938 den deutschen Behörden, daß die Schweiz erfolgreich eine „Verjudung“(!) verhindert habe. Viele Flüchtlinge wurden gedrängt, weiterzureisen, oder an der Grenze zurückgewiesen. Vermögende Juden wurden teilweise bevorzugt. Die jüdische Gemeinschaft mußte die Kosten für die aufgenommenen jüdischen Flüchtlinge bezahlen, während der Staat sich bis 1939 weitgehend dieser Aufgabe entzog. Diese konfessionelle Solidarhaftung war singulär. Um Juden von Nichtjuden unterscheiden zu können, vereinbarten die Schweizer Unterhändler mit NS-Deutschland im Herbst 1938 die Kennzeichnung der deutschen Pässe durch ein „J“.

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Aller Wahrscheinlichkeit nach auf der Basis von Informationen über den Massenmord an den europäischen Juden schloß der Bundesrat im Frühling/Sommer 1942 die Grenzen für einen großen Teil der „rassisch“ Verfolgten. Zwischen dreißig- und vierzigtausend Juden wurden an der Grenze zurückgewiesen, was für die meisten den sicheren Tod bedeutete. Die Internierung der Zugelassenen erfolgte in Lagern, deren Kommandanten unterschiedlich eingestellt waren. Der bekannte Germanist Hans Mayer wurde beispielsweise im Zuchthaus Witzwil interniert und daran gehindert, sein Fähigkeiten einzusetzen. Ob die Entsumpfung oder der Straßenbau durch die meist dem großstädtischen Milieu entstammenden Flüchtlinge sinnvoll waren und man nicht die professionelle Ausbildung der Emigranten hätte besser nutzen können, müssen Forschungen erst noch untersuchen. Das Verhalten gegenüber den Behörden war für die jüdischen Repräsentanten sehr schwierig. 1943 mußte der Vorsitzende des SIG, Saly Mayer, ein Kaufmann aus St. Gallen und Ver trauensmann des „American Joint Distribution Committee“, zurücktreten, weil er einigen jüdischen Politikern als zu anpasserisch galt. Während 1942 für den katholisch-konservativen Nationalrat Heinrich Walther aus Luzern mit 5000 Juden „das Boot voll“ war, wurden 1944 hunderttausend französische Flüchtlinge aufgenommen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Nach 1945 setzte die Fremdenpolizei die Bemühungen fort, die jetzt etwa 26 000 jüdischen Flüchtlinge, deren Familien ermordet worden waren, zur Weiterwanderung nach Palästina/Israel und in die USA zu drängen. 1953/57 entspannte sich in der Schweiz eine erste Debatte über die Schweizer Flüchtlingspolitik, 1967 eine zweite und seit 1994 eine dritte. Bereits 1954 und 1974/75 diskutierte man ausführlich über die Frage der herrenlosen Vermögen. Inzwischen stellte sich heraus, daß der verantwortliche Bundesrat Emil von Steiger, ein Berner Patrizier, wichtige Akten vernichten ließ. Andere Unterlagen wurden sogar offiziell beauftragten Fachleuten wie Prof. Edgar Bonjour vorenthalten und sind erst heute zugänglich. Einige Emigranten durften durch Einheirat in der Schweiz bleiben. So konnte der Berliner Emigrant Hermann Levin Goldschmidt, der sich als Fortsetzer der dialogischen Philosophie Martin Bubers verstand, mit seinem Jüdischen Lehrhaus versuchen, die Tradition Franz Rosenzweigs wiederzubeleben (1951–1961). Andere – z. B. Robert Neumann, Erich Fromm, Hans Habe und Margarete Susmann – wanderten in den fünfziger und sechziger Jahren zu und verbrachten ihren Lebensabend in der Schweiz. Für die Schweizer Juden setzte nach 1945 – parallel zum Abbau innerchristlicher Ressentiments, z.B. gegen Katholiken im protestantischen Zürich – ein Prozeß der verstärkten Integration ein. In der Wirtschaft und der Armee wurden Juden Stellen zugänglich, die ihnen vorher nicht offenstanden. 1964 durfte sich die jüdische Gemeinschaft anläßlich der Landesaustellung in Lausanne präsentieren, was den SIG motivierte, 1966 den hundertsten Jahrestag der – taktisch-politisch vordatierten – Emanzipation zu feiern. Die herausragende

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Gelehrte dieser Zeit war Florence Guggenheim-Grünberg, die sich in der Erforschung des Westjiddischen und des Brauchtums der Landjuden einen Namen machte und 1966/70 endlich das Buch ihrer Vorgängerin Augusta (Weldler-)Steinberg über die Geschichte der Juden in der Schweiz herausgeben konnte. Die soziale Mobilität beschleunigte sich, und kleinstädtische Gemeinden starben aus. Unter dem Eindruck der Verfolgung in Europa verstärkte sich in den Gemeinden der Traditionalismus, was wiederum liberale Kreise motivierte, 1958 eine eigene Jüdisch-Liberale Vereinigung zu gründen. 1973 wurde das Schächtverbot aus der Bundesverfassung entfernt, aber im Tierschutzgesetz untergebracht und ist immer noch gültig. Im selben Jahr wurde die Israelitische Gemeinde Basel als erste in der Schweiz öffentlich-rechtlich anerkannt. Es folgten darauf Fribourg, Bern und St. Gallen. In Zürich sind die Gemeinden noch heute Vereine nach Privatrecht und dort – ironischerweise – als solche kirchensteuerpflichtig. Ein Zeichen der Integration dagegen war 1993 die Wahl der jüdischen Gewerkschafterin Ruth Dreifuss zur ersten Bundesrätin. 1978 entstand eine eigene liberale Gemeinde in Zürich, später eine in Genf, die sich stark aus dort niedergelassenen angelsächsischen jüdischen Familien rekrutierte. Eine traditionelle nordafrikanisch-jüdische Gemeinde gruppierte sich in Genf außerdem um einen Sponsor, den Hotelier Nissim Gaon. Aus Ungarn (1956) und der Tschechoslowakei (1968) wanderten einige Familien ein. 1980 wohnten 82% aller Juden in den großen Städten. Trotz der Zuwanderungen nahm die Zahl nicht zu. Ein Drittel der Ehen sind gemischte Ehen. Insgesamt erfolgte eine Umschichtung aus dem selbständig betriebenen Textilhandel hin zu höheren Angestelltenberufen. Viele jüdische Jugendliche sind in Jugendbünden organisiert. Vier jüdische Grundschulen existieren in der Schweiz, ein Viertel aller jüdischen Kinder besuchte 1980 ihren Unterricht. In Kriens gibt es eine Talmudhochschule litauischer Tradition für Jüngere. Die Debatte über die Kollaboration der Schweiz mit dem NS-Regime, die nach 1994 einsetzte, riß alte Wunden auf und spülte Ressentiments an die Oberfläche. Eine unabhängige Historikerkommission mit prominenten Mitgliedern wurde eingesetzt. Amerikanische Wortführer des „World Jewish Congress“, die nicht immer große Sachkenntnis bewiesen, heizten das Klima an. Den Schweizer Banken wurde der Vorwurf gemacht, Raubgold aus NS-Besitz angenommen und nach 1945 die Nachkommen der Opfer bei der Rückerstattung der ihnen zustehenden Guthaben sehr abweisend behandelt zu haben. Umgekehrt nahmen höchste politische Stellen zugunsten der Banken eine apologetische Haltung ein, die nur vor dem Hintergrund der Betroffenheit der älteren Generation zu erklären ist, die ihren identitätsstiftenden Widerstandsmythos der Zeit von 1933 bis 1945 relativieren mußten. Im Juni 1999 führten diese nationalistischen Trotzgefühle im konservativen Ständerat, der Vertretung der Kantone, dazu, die Aufhebung der Immunität eines Nationalrats zu verweigern, der zu einem Boykott der Juden aufgerufen hatte und nach dem 1994 knapp angenommenen Antirassismus-Gesetz verklagt worden war. Durch die Auswanderung nach Israel hat die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz Substanzverluste erlitten. 1990 bezeichneten sich nur noch 17 500 Einwohner als Juden. Trotz-

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dem ist die Intensität des jüdischen Leben hier größer als in Deutschland. So sind Vereinsleben und Jugendbewegungen stärker, der Anteil religiöser Juden ist bedeutend, und es können sich zwei jüdische Wochenzeitungen und ein Periodikum ohne staatliche Unterstützung halten.

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Österreich, Böhmen und Mähren 1648–1918 Böhmen 1618–1711 Die kulturelle, politische und religiöse Bedeutung des böhmischen Judentums ist aufs engste mit seiner besonderen demographischen Situation verknüpft. Ende des 16. Jhs. lebte etwa die Hälfte der böhmischen Juden in der Hauptstadt Prag, während sich der Rest mehrheitlich auf Dörfer und Landstädte verteilte. Trotz der beiden Vertreibungsdekrete Ferdinands I. von 1541 und 1557, welche die Juden für zwei bzw. drei Jahre zum Verlassen der Stadt zwangen, war Prag, mit Ausnahme von Frankfurt am Main, die einzige große europäische Stadt mit kontinuierlicher jüdischer Besiedlung seit dem Mittelalter. Zu einer Zeit, als mitteleuropäische Juden vom städtischen Leben größtenteils ausgeschlossen waren, besaßen die böhmischen Juden also ein starkes urbanes Zentrum – bis zum Beginn des 19. Jhs. die größte jüdische Siedlung überhaupt –, das die restlichen Gemeinden des Landes in allen Lebensbereichen dominierte. Anfang des 18. Jhs. zählte die Prager Judenstadt etwa 330 Häuser oder, nach der ersten genauen Konskription von 1729, 10 507 Einwohner. Damit stellten die Juden 28% der Prager Gesamtbevölkerung, eine Dichte, die sonst nur in osteuropäischen Schtetln erreicht wurde. Der Rest der böhmischen Juden – im Jahre 1724 etwa 30 000 – war auf rund 800 Orte verteilt, etwa 600 davon Dörfer mit vereinzelten jüdischen Einwohnern, ohne jüdische Institutionen. Diese verstreute Siedlungsform ließ die böhmischen Landjuden bei kriegerischen Auseinandersetzungen und Unruhen zu einer leichten Beute für durchziehende Truppen werden. Im Falle von länger andauernden militärischen Konflikten wie etwa dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) waren jedoch gerade die Prager Juden Übergriffen ausgesetzt. Der Prager Fenstersturz, der am 23. Mai 1618 den zweiten böhmischen Ständeaufstand einleitete, bildete für die Prager Unterschicht gleichzeitig das Angriffssignal auf die Judenstadt. Man bezichtigte die Juden, die Partei der Habsburger ergriffen zu haben, eine Theorie, die durch die bevorzugte Behandlung, die Ferdinand II. (1619–1637) den Juden nach dem Sieg der Habsburger in der Schlacht am Weißen Berg (1620) zuteil werden ließ, bestätigt zu werden schien. Außer Schutz vor Plünderungen und Militäreinquartierungen bewilligte der Kaiser den Prager Juden den Ankauf von 39 nahe der Judenstadt gelegenen Christenhäusern, wodurch die aus 250 Häusern bestehende Judenstadt erheblich erweitert werden sollte. Abgesehen von der für die christlichen Prager unerwünschten Vergrößerung der Judenstadt rief die Tatsache, daß es sich bei diesen Häusern um den konfiszierten Besitz von vertriebenen Aufständischen handelte, besondere Erbitterung hervor. Nach dem „judenfreundlichen“ Statthalter von Böhmen, Fürst Karl von Liechtenstein, wurden diese Ge-

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bäude im Volksmund als Liechtenstein-Häuser bezeichnet. Liechtensteins Wohlwollen in der Sache war hauptsächlich durch die Bereitschaft der Juden bestimmt, dem Böhmischen Rentmeisteramt – der Behörde der böhmischen Finanzverwaltung – einen namhaften Beitrag zu den Kriegskosten zu leisten. Für die Juden war die sonst rare Möglichkeit, zusätzliche Häuser zu erwerben, in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Sie bot zum einen eine willkommene Chance, dem chronischen Platzmangel im Ghetto abzuhelfen. Darüber hinaus gewährte der Besitz oder Teilbesitz eines Hauses auch einen gewissen Schutz vor Vertreibungen, die sich vornehmlich gegen „Nichtansässige“ oder „keine Kontribution Zahlende“ richteten. Auch innerhalb der jüdischen Gemeinde war der Hausbesitz sozial und ökonomisch bedeutsam: Die traditionelle jüdische Gesellschaft in Böhmen war ebenso wie die christliche ständisch gegliedert. Da den Juden jedoch Bodenbesitz – die Grundlage des christlich-europäischen Feudalwesens – versagt blieb, bildete der Hausbesitz die Basis für die sozialen Abstufungen innerhalb der jüdischen Gesellschaft, die bis ins frühe 19.Jh. fortbestanden. Haus- und Teilhausbesitzer waren zugleich Steuerträger (Kontribuenten) und Schutzjuden. Nur sie besaßen Handels- sowie unbeschränktes Aufenthaltsrecht und waren innerjüdisch für bestimmte religiöse Funktionen qualifiziert. Ein Pächter (Bestandjude, Arendar) erhielt das Aufenthaltsrecht nur für die Dauer der Pacht, d. h. vorübergehend. Das Pachtverhältnis gewährte lediglich das Recht, selbst hergestellte Erzeugnisse – z. B. Branntwein oder Leder – zu verkaufen, nicht aber sonstigen Handel zu treiben. Der Inmann, der bei einem Hausbesitzer zu Untermiete wohnte, hatte keines dieser Rechte. Er betätigte sich gewöhnlich als Handwerker. Seine finanzielle Lage war wegen der hohen Mieten meist prekär und die Gefahr, ausgewiesen zu werden, groß. Völlig ohne Rechtstitel waren öffentliche und private Bedienstete. Sofern sie als Gemeindeangestellte fungierten, gleichgültig, ob als religiöse – Rabbiner, Kantoren, Kinderlehrer usw. – oder als weltliche – Ärzte, Bader, Hebammen usw. –, lebten sie mit ihren Familien im allgemeinen in „Gemeindehäusern“. Mit der Beendigung ihres Dienstes erlosch auch ihre Aufenthaltserlaubnis. Private Dienstboten hingen vollkommen von ihrem Arbeitgeber ab, der sie jederzeit wegschicken und gegen andere austauschen konnte. Mittellose Vertriebene und vor Verfolgung flüchtende Juden konnten nur in dieser letzten Kategorie Aufnahme in bestehende Gemeinden finden. Da die christlichen Behörden gemeinhin aber auch die Zahl der zugelassenen Dienstboten festlegten, waren der jüdischen Solidarität enge Schranken gesetzt. Wollten sie ihre eigene legale Existenz nicht gefährden, mußten die Ansässigen ihre Glaubensgenossen im Stich lassen. So entstand am Rande der jüdischen Gemeinden eine asoziale und teilweise sogar kriminelle Schicht von Landstreichern, die aus dem Geburtenüberschuß zusätzlich genährt wurde. Zur Fortführung des Krieges benötigte Ferdinand II. auch nach dem Sieg über die böhmischen Stände die finanzielle Unterstützung der Juden. In seinem 1623 erlassenen Judenprivileg für Prag und Böhmen erweiterte er daher die jüdischen Erwerbsmöglichkeiten, senkte zur Erleichterung des Handels Zoll- und Mautgebühren und hob Unterschiede in der Gerichtsordnung auf. Mit der Ausmerzung des Protestantismus durch die siegreiche Gegenreformation wurde die junge präkapitalistische Bourgeoisie, die sich größtenteils

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zum Protestantismus bekannt hatte, in den habsburgischen Ländern entscheidend geschwächt. Der Staat war also auch nach Beendigung des Krieges zur Aufrechterhaltung seiner Wirtschaft auf jüdische Kredite und Heereslieferungen ebenso angewiesen wie auf den jüdischen Groß- und Kleinhandel und auf die jüdischen Kontributionen. Letztere betrugen im Jahre 1640 mit 40000 Gulden immerhin 1/17 der gesamten Landeskontribution für Böhmen. Fiskalische Argumente verhinderten daher bis in die Regierungszeit Maria Theresias (1740–1780) größere Judenvertreibungen. Die böhmischen Städte und Stände hatten jedoch weniger das Wohlergehen des Staates als jenes ihrer Bürger im Auge, und diese fühlten sich durch die rasch anwachsende jüdische Bevölkerung in ihren wirtschaftlichen Interessen bedroht. So beschloß der böhmische Landtag 1650, daß die Juden aus allen Städten vertrieben werden sollten, in denen sie nicht bereits 1618 ansässig gewesen waren. Weiterhin sollte ihnen die Pacht von Zöllen und Mauten untersagt werden, wie auch das Halten von christlichem Gesinde. Speziell in Prag wurde ihnen der Handel an Sonn- und Feiertagen verboten. Zwar schwächte das Reskript von Ferdinand III. (1637–1657) aus dem Jahr 1652 den Landtagsbeschluß in einigen Punkten ab, doch die antijüdische Politik hatte damit einen Etappensieg errungen. 1711–1780 In der Folgezeit wurde jede Katastrophe, die die Juden heimsuchte – wie etwa die Pest von 1679/80 oder der Brand, der 1689 einen Großteil der Prager Judenstadt zerstörte –, ein willkommener Anlaß für Vertreibungs- oder Reduktionsversuche von seiten der städtischen Obrigkeiten. Neben den religiösen traten dabei wirtschaftliche Motive immer deutlicher in den Vordergrund. Obwohl die geforderten Maßnahmen zunächst nicht durchgeführt wurden, erarbeitete man so bereits ein detailliertes Instrumentarium für den Fall, daß die Interessen des Staates mit jenen der Städte konvergieren sollten. Dies traf Anfang des 18. Jhs. zu, als die Wiener Regierung eine merkantilistische Politik verfolgte und die böhmische Industrie sowie den Handel zu beleben suchte. Zu diesem Zweck wurde 1705 das Kommerzkolleg gegründet, das die Juden als wirtschaftliches Hindernis betrachtete. Karl VI. (1711–1740) setzte 1714 eine Judenkommission ein, der erstmals auch Vertreter der böhmischen und der Hofkammer angehörten. Ihre Ziele waren erstens die Absonderung der Juden durch Schaffung geschlossener Wohngebiete, zweitens eine Reduktion der jüdischen Einwohner und drittens die Beschränkung jüdischen Einflusses auf wirtschaftlichem Gebiet. Hatten frühere Judenreduktionskommissionen ihre Aktivität ausschließlich auf Prag beschränkt, so lenkte das Kommerzkolleg die Aufmerksamkeit nun auch auf die Landjuden. Mitte der zwanziger Jahre wurden eine Reihe von Handelsbeschränkungen für Juden eingeführt, ebenso eine Leibmaut und das Verbot, Mauten, Schäfereien, Bierbrauereien, Mühlen und Höfe zu pachten. Das Gesetz mit den zweifellos weitreichendsten Folgen war jedoch das Reskript vom 25. September 1726, das bestimmte, daß in jeder Familie nur ein männliches Mitglied eine rechtsgültige Ehe eingehen und Ansässigkeit (Inkolat) erhalten könne. Dieses sogenannte Familiantengesetz setzte die Zahl der Familienstellen für Böhmen auf

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8541 fest. Im Unterschied zu früheren Plänen war der Zweck des Gesetzes nicht die Reduktion, sondern das Konstanthalten der jüdischen Einwohner. Als Basis diente daher die im Zensus von 1724 ermittelte Familienzahl. Außerdem legte man fest, daß Juden sich nirgends niederlassen durften, wo sie nicht schon 1726 ansässig gewesen waren. Obwohl es sich in der vorliegenden Form also bereits um einen Kompromiß handelte, verhinderte das Familiantengesetz für mehr als 120 Jahre die natürliche Entwicklung der jüdischen Bevölkerung und verurteilte Teile derselben zu einem unsicheren Wanderleben. Im Laufe des 17. Jhs. trugen verschiedene Ereignisse dazu bei, die dominante Stellung der Prager Juden zu schwächen. Bis dahin war Prag nicht nur das demographische, sondern vor allem auch wirtschaftliches Zentrum der böhmischen Juden gewesen. Die Prager Kontribuenten beglichen einen Großteil der den böhmischen Juden auferlegten Abgaben, und folgerichtig wurde der Prager Oberrabbiner als Repräsentant der gesamten böhmischen Judenheit angesehen. Mit ihrem eigenen Magistrat verfügte die Prager Judenstadt außerdem über eine Munizipalautonomie, die sie im Prinzip den christlichen Prager Städten (Altstadt, Neustadt, Kleinseite) gleichstellte. Aufgrund interner Streitigkeiten während des Dreißigjährigen Krieges sahen sich die christlichen Behörden mehrmals veranlaßt, in die innerjüdische Administration einzugreifen. Dies führte im Jahre 1636 zu einer Beschränkung der jüdischen Autonomie durch die Einsetzung eines Inspektors der Judenschaft, der als christliches Überwachungsorgan des Gemeindelebens fungierte. Ihm folgte wenig später ein christlicher Rentmeister, der für die Steuereintreibung zuständig war. Parallel zu dieser institutionellen Schwächung der Prager Juden erlebten die Landjuden durch den Zuzug von Flüchtlingen aus dem Osten einen demographischen Aufschwung. Da sie 1654 bereits ein Drittel der Landeskontribution aufzubringen hatten, schufen sie sich mit den Deputierten und Beisitzern der böhmischen Landesjudenschaft eine eigene Ver tretung. Die Pest des Jahres 1680 und der Brand von 1689 verzögerten nach dem Tod von Simon Spira-Wedeles (1679) die Wahl eines neuen Oberrabbiners für Prag. Dies nutzte die Landesjudenschaft 1689 zur Wahl eines eigenen Landesrabbiners. Obwohl sich das Bevölkerungsgleichgewicht zwischen Prag und den Landjuden bis in die zweite Hälfte des 19. Jhs. ständig zugunsten der letzteren verschob, konnte diese Institution sich nicht lange halten. Dazu trug zweifellos die Wahl des gelehrten David Oppenheim (1664–1736), eines Neffen des Wiener Hofjudens Samuel Oppenheimer, zum Oberrabbiner von Prag im Jahr 1702 bei. Seit 1717 fungierte er auch als böhmischer Landesrabbiner. Da der Landesrabbiner damit also in Prag saß, wurden für jeden der zwölf Landkreise Kreisrabbiner eingesetzt, um eine bessere Betreuung der verstreut lebenden Landjuden zu gewährleisten. Maria Theresia kamen die neuen Kreisrabbinate bei ihrer Verwaltungsreform von 1749 sehr gelegen, denn sie ermöglichten ihr eine direktere Kontrolle ihrer jüdischen Untertanen. Da die Regierung relativ rasch auf die Besetzung der Kreisrabbiner Einfluß gewann, wurden diese – entgegen der ursprünglichen Intention – am Ende des 18. Jhs. zu Aposteln der Aufklärung unter den böhmischen Landjuden. Das böhmische Landesrabbinat dagegen erlosch bald nach Oppenheims Tod, im Jahre 1749. Neben der zunehmenden wirtschaftlichen Mißgunst ihrer christlichen Zeitgenossen und

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fortgesetzten religiösen Angriffen waren die Juden auch anderen Beschuldigungen ausgesetzt. Als nach dem Tod von Karl VI. der Österreichische Erbfolgekrieg (1740–1748) losbrach, wurden vor allem die Prager Juden im Verlauf der Kampfhandlungen immer wieder der Kollaboration mit dem Feind bezichtigt. Gerüchte um angeblichen jüdischen Landesverrat während des Krieges mit Preußen im Jahre 1744 boten Maria Theresia nach der Rükkeroberung Prags durch die kaiserliche Armee einen willkommenen Vorwand, sich der Juden in den Erbländern zu entledigen. In einem Reskript vom 18. Dezember 1744 dekretierte sie, „daß künftighin kein Jud mehr in Unserem Erbkönigreich Böheim geduldet werden solle“. Das Dekret wurde 1745 auf Mähren und Schlesien ausgeweitet. Jüdische und nichtjüdische Interventionen aus dem In- und Ausland erreichten zwar die Aufhebung des Ausweisungsdekrets für die böhmischen und mährischen Landjuden, die Prager Juden mußten die Stadt jedoch im März 1745 verlassen. Nur anhaltende diplomatische Bemühungen, die Erklärung der böhmischen Stände, daß sie nicht in der Lage seien, die durch die Ausweisung der Juden entstandenen Steuerausfälle zu ersetzen, und das jüdische Angebot, hohe Kontributionen zu leisten, ermöglichte ihnen 1748 schließlich die Rückkehr nach Prag. Trotz dieser existentiellen Unsicherheit blühte das geistige Leben in Prag auch während des 17. und 18. Jhs. Aufgrund seiner berühmten Jeschiwot war Prag der Anziehungspunkt für jüdische Studenten aus vielen Ländern. Zu den herausragenden Oberrabbinern dieser Periode zählen Jomtow Lipmann Heller (1578–1654; Oberrabbiner 1627–1629), der allerdings 1629 aufgrund der Behauptung, daß er in Büchern und Predigten die christliche Religion geschmäht habe, des Landes verwiesen wurde, die bereits erwähnten Simon SpiraWedeles und David Oppenheim sowie der wegen seiner Gelehrsamkeit allseits geschätzte Ezechiel Landau (1713–1793; Oberrabbiner ab 1754), der während der Josephinischen Reformen eine entscheidende Rolle spielen sollte. Neben ihrer Lehrtätigkeit an der Jeschiwa waren die Oberrabbiner auch Vorsitzende des Obergerichts. Obwohl die Autonomie der Prager Judenstadt seit der Einsetzung des christlichen Inspektors 1636 beschränkt war, verfügte sie immer noch über eigenständige Gerichtsbarkeit, die auf ihrer selbständigen Steuergebarung beruhte. Trotz zahlreicher Versuche von seiten der Prager Altstadt, diese Autonomie zu zerschlagen und ihre eigene Autorität auf die Judenstadt auszudehnen, wurde sie sogar noch 1762 von Maria Theresia bestätigt. Erst 1784 hob Joseph II. die autonome Gerichtsbarkeit auf. Von jenem Zeitpunkt an unterstanden die Juden der Ortsgerichtsbarkeit. Jüdische Gerichte durften nur noch religiöse Angelegenheiten verhandeln. Von der Pionierrolle der böhmischen Juden beim Aufbau des modernen Wirtschaftssystems zeugen unter anderem die erwähnten Konflikte zwischen ihnen und der christlichen Bevölkerung. Wie in Mähren, Galizien und Ungarn gab es zwar auch in Böhmen eine relativ breite jüdische Handwerkerschicht – Anfang des 18. Jhs. 27% der Prager und 19% der Landjuden –, vor allem aber bauten die Juden im Verlaufe des 17. und 18. Jhs. das System des Zwischenhandels auf. Ebenso wie der böhmische Adel wandten sie sich im letzten Drittel des 18. Jhs. der Industrie zu und entwickelten die Baumwollindustrie in Böhmen. Der merkantilistische Staat unterstützte diese Bemühungen durch Ausnahmen vom

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Zunftzwang und Zollerleichterungen. Durch Verbindung dieser Tätigkeit mit Großhandel, Bankwesen und der Pacht des Tabakgefälles – das Tabakmonopol wurde in Österreich 1701 eingeführt – gelangten einige Juden, darunter die Familien Popper, Hoenig, Laemel und Porges, zu großem Reichtum. Ein Teil dieser Familien (Popper und Hoenig) wurde bereits Ende des 18. Jhs. nobilitiert. Popper und Laemel erhielten die Erlaubnis, sich in der Prager Christenstadt anzusiedeln. Der letztere verlegte aber ebenso wie Israel Hoenig seinen Wohnsitz schließlich in die Residenzstadt Wien. Infolge des wirtschaftlichen Aufstiegs erwachte in der jüdische Bourgeoisie auch der Wunsch, an der Kultur der Umwelt teilzuhaben. Früher noch als in Wien begannen Prager Juden, sich säkulare Bildung anzueignen, sich modisch zu kleiden, Kaffeehäuser, Theater, die Oper sowie sonstige christliche Vergnügungsstätten zu frequentieren und die jüdische Tradition zu vernachlässigen. Schon vor 1771 hatte die Prager Universität verschiedentlich jüdische Ärzte und Bader diplomiert. Aufgrund anhaltenden Drucks verfügte Maria Theresia im Jahre 1774, daß Juden an allen Universitäten des Reiches zum Medizinstudium zuzulassen seien. Trotz dieser scheinbar weitgehenden Akkulturation der neuen Finanzoligarchie stieß der Versuch der Kaiserin, 1776 in Prag eine deutschsprachige jüdische Schule zu errichten, auf erbitterten Widerstand. Noch war der durch äußere Restriktionsmaßnahmen entscheidend mitgeprägte traditionelle Rahmen zu starr. Ihn aufzuweichen, sollte erst Joseph II. (1741–1790, Kaiser ab 1765) gelingen, der nach dem Tod seiner Mutter 1780 die Alleinherrschaft antrat. 1780–1848 Bald nach dem Regierungsantritt Josephs II. begannen die Debatten über die Tolerierung nichtkatholischer Minderheiten. Das am 19. Oktober 1781 unter der Überschrift Verordnung zur besseren Bildung und Aufklärung veröffentlichte Hofdekret für die böhmischen Juden war das erste in der Serie von Toleranzpatenten, die Joseph II. für die Juden der Habsburgermonarchie erließ. Außer den in der Überschrift deklarierten Zielen verfolgte das Dekret den Zweck, die böhmischen Juden an ihre Wohnorte zu binden und sie durch Beschäftigung in Industrie, Handel und Handwerk für den Staat „nützlich“ zu machen. Der Integration in die christliche Gesellschaft sollte die Verfügung dienen, daß deutsch-jüdische Normalschulen errichtet werden oder, wo die Juden dies nicht leisten konnten, jüdische Kinder in christliche Schulen geschickt werden sollten. Außerdem eröffnete man den Juden den Zugang zu höherer Bildung einschließlich der Universitäten. Auch die diskriminierende Kleiderordnung – in Prag mußten Juden seit 1551 den gelben Judenfleck tragen – wurde aufgehoben. Um ihre „Produktivierung“ voranzutreiben, erlaubte man den Juden, sich ohne Kontrolle der Zünfte dem Gewerbe und Großhandel, der Manufaktur, Industrie und verschiedenen Handwerken zu widmen. Den Reichen wurde die Pacht von Grund und Boden gestattet, den Armen der Einzelhandel und das Hausieren, um ihren Unterhalt an den Wohnorten zu sichern. Die erniedrigende Leibmaut wurde zwar abgeschafft, andere jüdische Sondersteuern blieben jedoch in Kraft. Da es keineswegs in der Absicht des Kaisers lag, „die jüdische Nazion [sic!] in den Erblanden mehr auszubreiten oder da, wo sie noch

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nicht toleriret ist, neu einzuführen“, gewährte er keine Erleichterung bei den Familiantengesetzen und der Beschränkung der Freizügigkeit. Diese Einschränkungen und die Tatsache, daß das Dekret die jüdische Autonomie vorläufig unangetastet ließ, sicherten ihm die Akzeptanz durch christliche und jüdische Konservative. Wie aber wirkte sich die Einführung der neuen Gesetze auf die böhmischen Juden aus? Die Etablierung der jüdisch-deutschen Normalschulen in Böhmen ist zweifellos als Erfolgsgeschichte zu bezeichnen. Hatten sich die Prager Juden 1776 noch nachdrücklich gegen die Errichtung einer säkularen Schule gewehrt, erfolgte die Eröffnung der deutsch-jüdischen Hauptschule in Prag nun bereits wenige Monate nach der Publikation des Toleranzpatents, im Mai 1782. Dieser Meinungsumschwung verdankte sich weniger den zu erwartenden Segnungen der josephinischen Toleranzpolitik als der Umsicht des Schuloberaufsehers für Böhmen, Ferdinand Kindermann von Schulstein. Indem er den Religionsunterricht von vornherein aus dem Lehrplan ausschloß und sich auch in anderen kritischen Punkten kompromißbereit zeigte, gewann der Pädagoge das Vertrauen des konservativen Oberrabbiners Ezechiel Landau. Mit dessen Unterstützung konnte das Projekt rasch realisiert werden. Nach dem Muster der Prager Hauptschule wurden bis zum Jahre 1787 in Böhmen 25 Trivialschulen errichtet. Während in Ungarn die josephinischen Normalschulen schon im ersten Jahrzehnt nach ihrer Einführung mangels Interesse geschlossen und die galizischen nach zahlreichen Suppliken von jüdischer Seite 1806 offiziell aufgehoben wurden, hatte sich die Zahl der böhmischen bis 1820 fast verdoppelt. Völlig richtig hatte die jüdische Orthodoxie erkannt, daß die Gefahr weniger von staatlichen Verordnungen als von den Aufklärern aus den eigenen Reihen drohte. Tatsächlich waren viele der Maßnahmen, die von orthodoxen Kreisen als besonders drückend empfunden wurden und letztlich auch wirklich das traditionelle Leben unterminierten, von den Maskilim inspiriert worden. So konnte sich Ezechiel Landau mühelos mit Ferdinand Kindermann auf die Einführung des deutschen Pflichtschulunterrichts einigen. Kurz zuvor hatte er jedoch eine flammende Predigt gegen Naphtali Herz Weisels (Hartwig Wessely) 1781 erschienenes pädagogisches Reformprogamm Dibre schalom we-emet (Worte des Friedens und der Wahrheit) gehalten, in dem Weisel weltliche Bildung über die religiöse stellte. So ist es auch zu erklären, daß die weiteren Josephinischen Reformen – z. B. die Verpflichtung, offizielle Urkunden und Unterlagen in der „Landessprache“ (d.h. auf Deutsch) abzufassen (1784), die Aufhebung des autonomen jüdischen Gerichtswesens (1784) und die Einführung von festen Vor- und Familiennamen in deutscher Form (1787) – auf relativ wenig Widerstand stießen. Einzig die Einführung der Militärpflicht (1788) rief kontroverse Reaktionen hervor. Sie wurde jedoch durch Ezechiel Landaus Segnung der ersten 25 jüdischen Rekruten aus Prag im Jahre 1789 sanktioniert. Anders dagegen die von jüdischen Aufklärern angeregten Maßnahmen zur Hebung des Schulbesuchs. Die Tatsache, daß zusätzlich zu den bereits bestehenden Restriktionen zur Erlangung der Heiratserlaubnis ab 1786 auch der Vorweis eines Normalschulzeugnisses und ab 1812 eine Prüfung aus dem von dem radikalen böhmischen Aufklärer Herz Homberg (1749–1842) verfaßten „jüdischen Katechismus“ Bene Zion (Wien 1812) verpflichtend wurden, empörte die traditionel-

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len Kreise. Auch die Debatte um einen staatlich kontrollierten Religionsunterricht, der in Konkurrenz zu dem traditionellen jüdischen Unterricht stehen sollte, wurde in den ersten Jahrzehnten des 19. Jhs. mit großer Heftigkeit geführt. Nach dem Erlaß der Toleranzpatente äußerten die böhmischen Juden erstmals den Wunsch nach einer Erweiterung ihrer Rechte und einer Änderung ihres politischen Status. So bat z. B. ein Gesuch von 1790, das fortschrittliche galizische Judenpatent auch in Böhmen einzuführen. Im Unterschied zum böhmischen Patent enthielt das galizische nämlich keine festgesetzte Familienzahl und keinerlei Heiratsbeschränkungen. Trotz seiner progressiveren Präambel brachte das von Franz II. (1792–1835) im Jahre 1797 erlassene Systemalpatent im Hinblick auf bürgerliche Rechte keine Verbesserung. Das Patent ließ nicht nur alle Restriktionen in Kraft, sondern griff auch massiv in innerjüdische religiöse Angelegenheiten ein. Es beschränkte die religiöse Macht der Rabbiner und nahm Einfluß auf die Besetzung religiöser Ämter. Die Zulassung zum Talmudunterricht wurde von einer Prüfung in der deutschen Sprache abhängig gemacht. Einige dieser Neuerungen waren wiederum auf Vorschlag des jüdischen Aufklärers Herz Homberg erfolgt. Als im Verlauf der Napoleonischen Kriege (1792–1815) die Heeresbewegungen 1809 auch Prag in die Gefahrenzone brachten, bildeten sich eine Studentenlegion und eine Bürgergarde. Während die Studentenlegion jüdische Freiwillige ohne Einschränkungen aufnahm, wurde die patriotische Euphorie der Juden von der Bürgergarde strikt abgelehnt. Offensichtlich befürchtete man, daß die Juden aus ihrem Einsatz für das Vaterland später Rechte ableiten könnten. Daran dachten sie aber paradoxerweise erst zu einem Zeitpunkt, als die unter Napoleon eingeführten bürgerlichen Rechte für Juden auf dem Wiener Kongreß revidiert wurden. Das dem Kaiser 1815 vorgelegte Immediatgesuch, welches auch unter Berufung auf die Beteiligung der Juden an der deutsch-österreichischen Freiwilligenbewegung forderte, die Juden bezüglich „Erwerbs-, Gewerbs- und Besitzrechten“ der übrigen Bevölkerung gleichzustellen, blieb ohne Erfolg. So bestand zumindest für die neuen jüdischen Eliten die Diskrepanz zwischen einem hohen Maß an Akkulturation und Identifikation mit der Monarchie und einer stark diskriminierenden Gesetzgebung bis 1848 weiter. Aus den sozioökonomischen Umwälzungen des ausgehenden 18. Jhs. ergab sich – parallel zum nichtjüdischen Bereich – einerseits der finanzielle Aufstieg der kapitalistischen Bourgeoisie und andererseits die Etablierung eines Bildungsbürgertums, das seinen Autoritätsanspruch nunmehr auf säkulares Wissen gründete. Innerjüdisch hatte das nicht nur die erwähnten Kämpfe zwischen Maskilim und Orthodoxen zur Folge, sondern auch einen rapiden Autoritätsverlust der traditionellen Gelehrtenschicht. War Prag unter Ezechiel Landau noch eines der wichtigsten Zentren jüdischer Gelehrsamkeit gewesen, so verlor es in den folgenden Generationen trotz bedeutender Rabbiner wie Eleasar Fleckeles (1754– 1826) und Salomo Jehuda Rappoport (1790–1867, ab 1840 in Prag) zusehends an Anziehungskraft. Neben Orthodoxen und radikalen Aufklärern gab es in Prag seit dem Ende des 18. Jhs. auch eine Gruppe von gemäßigten Maskilim, die im Gegensatz zur Berliner Haskala die nationale jüdische Eigenart betonten. Sie schlossen sich 1802 in der „Gesellschaft der

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jungen Hebräer“ zusammen und gaben die kurzlebige Jüdisch-deutsche Monatsschrift in deutscher Sprache mit hebräischen Buchstaben heraus. Außer der Familie Jeitteles zählte zu dieser Gruppe u.a. der Druckereibesitzer Moses I. Landau (1788–1852), ein Enkel von Ezechiel Landau. Dieser spezifischen Qualität der Prager Haskala ist es mitzuverdanken, daß die Ideen der Reformbewegung in Böhmen nicht zu ähnlichen Spaltungen innerhalb der Gemeinden führten wie in Deutschland oder Ungarn. 1848–1867 Mit dem Beginn der industriellen Revolution Anfang des 19. Jhs. trugen – ähnlich wie in Mähren – vorwiegend jüdische Unternehmer zur Entwicklung der böhmischen Textilindustrie bei. Vor allem der Kattundruck galt als jüdisches Monopol. In den neu gegründeten Fabriken der Prager Vorstädte wurde die modernste Technologie eingesetzt. Als Fabrikbesitzer traten die Juden damit in ökonomischen Gegensatz zu einer neuen Bevölkerungsschicht, dem Industrieproletariat. So machte die Streikbewegung der Prager Kattunarbeiter im Juni 1844 nicht bei der Plünderung der Porges’schen Fabrik in der Prager Vorstadt Smíchov halt, sondern weitete sich zu antijüdischen Demonstrationen und Überfällen in der ganzen Stadt aus. Neben den ökonomischen Spannungen tauchte ab dem zweiten Drittel des 19. Jhs. ein neues Konfliktpotential auf, dessen Wurzeln bereits in der Regierungszeit Maria Theresias zu suchen sind. Von den Germanisierungstendenzen des aufgeklärten Absolutismus ermuntert, hatten die Juden sich sprachlich und kulturell an die deutsche Bürokratie und Bourgeoisie assimiliert. Früher hatte man im privaten Bereich auf Jiddisch, mit der nichtjüdischen Umwelt aber je nach sprachlicher Umgebung auf deutsch oder tschechisch kommuniziert. Nun verschob sich vor allem in den Städten das Gleichgewicht in beiden Bereichen zugunsten des Deutschen. Dies sollte den Juden beim Erwachen der tschechischen Nationalbewegung, welche die Rolle des Deutschen kulturell und politisch in Frage stellte, vorgeworfen werden. Eine Gruppe jüdischer Intellektueller versuchte sich zunächst der tschechischen Nationalbewegung anzunähern, unter ihnen der spätere Redakteur der Neuen Freien Presse Moritz Hartmann (1821–1872), der slawophile Schriftsteller Siegfried Kapper (1821–1879), der durch seine Darstellung des jüdischen Lebens in Böhmen bekannt gewordene Leopold Kompert (1822–1886) und der Publizist David Kuh (1818–1879). Auf verschiedene Weise bemühten sie sich, eine Parallele zwischen den unterdrückten Tschechen und den Juden herzustellen. Die Mehrheit der Tschechen wies diesen jüdischen Annäherungsversuch allerdings zurück. Nach den antijüdischen Ausschreitungen des Jahres 1844 in Prag und noch viel mehr nach jenen, die während der Revolution von 1848 in ganz Böhmen stattfanden – die größte davon im April des Jahres in Prag –, waren die meisten Juden vom grundsätzlich judenfeindlichen Charakter der Tschechen überzeugt. Dies verstärkte vor allem in den Städten ihre Loyalität zum Zentralstaat und die Verbundenheit mit der deutschen Kultur. So wurden die Truppen des Fürsten Windischgrätz, der im Juni 1848 den Prager Pfingstaufstand niederschlug, aber auch weitere Übergriffe gegen Juden unterband, von vielen mit Erleichterung empfangen. Erst

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das Zusammenwirken verschiedener Faktoren sollte ab den siebziger Jahren des 19. Jhs. jene Identifikationsmuster ändern. Die bürgerliche Revolution von 1848 endete vor allem in Böhmen für die meisten Beteiligten in einer Enttäuschung. Die tschechische Nationalbewegung, deren Führer Frantisˇek Palacky (1798–1876) seine Ziele im Rahmen der Habsburgermonarchie verwirklicht sehen wollte, mußte ebenso eine Niederlage hinnehmen wie die Liberalen, die eine großdeutsche Lösung angestrebt hatten. Viele der während der Revolution gewonnenen Freiheiten wurden nach dem Sieg der Reaktion wieder zurückgenommen. Für die Juden, die sich mehrheitlich auf seiten der Liberalen an den Kämpfen beteiligt hatten, brachte das Revolutionsjahr jedoch eine dramatische Änderung ihrer Situation. Die bürgerliche Emanzipation, welche ihnen die von Kaiser Franz Joseph I. (1848–1916) oktroyierte Verfassung vom 4. März 1849 garantiert hatte, wurde zwar nach der Niederlage der Revolution widerrufen, die Niederlassungsfreiheit und die Aufhebung der Familiantengesetze sowie der jüdischen Sondersteuern (bereits 1846 erfolgt) blieben aber in Kraft. So waren die Juden von den Ausnahmegesetzen, unter denen sie seit Jahrhunderten zu leiden hatten, erlöst. Einzig die Besitzfähigkeit wurde ihnen während des Neoabsolutismus (1851–1859) wieder abgesprochen. Während sich die Hoffnung der Slawen, neben Deutschen und Ungarn als drittes, gleichberechtigtes Staatsvolk anerkannt zu werden, 1867 im „Ausgleich“ mit Ungarn endgültig zerschlug, brachte das Jahr den Juden die lang ersehnte gesetzliche Emanzipation. Das Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 stellte sie in jeder Beziehung allen anderen Staatsbürgern gleich. Eine unmittelbare, verwaltungstechnische Konsequenz aus der veränderten gesetzlichen Situation war 1852 die Aufhebung der Prager Judenstadt als eigener Verwaltungseinheit. Den nun mit den anderen vier Prager Städten (Altstadt, Neustadt, Kleinseite, Hradcˇany) vereinigten Bezirk nannte man zu Ehren Josephs II. „Josefstadt“ (Josefov). Im Zuge der Assanierung wurden 1896 die meisten Gebäude der ehemaligen Judenstadt niedergerissen. Der Revolution in der Gesetzgebung folgten noch weitere auf sozialem, ökonomischem und – die vielleicht wichtigste – auf demographischem Gebiet. Die nach der Einführung der Freizügigkeit einsetzende Landflucht veränderte den Charakter der böhmischen Judenschaft nachhaltig. Ein Großteil der bis dahin verstreut lebenden Landjuden siedelte sich in größeren Städten und industriellen Zentren an. 1850 lebten die etwa 75 000 böhmischen Juden (1,72% der Gesamtbevölkerung) in 347 Gemeinden. 1890 war die Zahl der jüdischen Bevölkerung zwar auf etwa 95 000 (1,62% der Gesamtbevölkerung) angewachsen, die Zahl der jüdischen Gemeinden hatte sich jedoch auf 197 reduziert. Bis 1921 lebten nur noch 14,5% der Juden in Orten mit weniger als 2000 Einwohnern. Im Laufe eines halben Jahrhunderts hatten sich die böhmischen Juden von einer mehrheitlich ruralen in eine urbane Gesellschaft verwandelt. In Prag, dessen jüdische Einwohnerzahl bis zur Aufhebung der Familiantengesetze konstant zwischen 10 000 und 12 000 betrug, hatte sich die jüdische Bevölkerung bis 1910 fast verdreifacht (29 107). Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung war mit 6,3% zwischen 1869 und 1910 jedoch konstant geblieben und verringerte sich bis 1921 sogar auf 4,7%, obwohl

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zu dieser Zeit bereits ein Drittel der böhmischen Juden in Prag lebte. Während sich der jüdische Bevölkerungsanteil in anderen Großstädten, wie Wien oder Berlin, in diesem Zeitraum vervielfachte, sank die „Metropole von Israel“ – so die Bezeichnung für Prag in einer jüdischen Quelle des 18. Jhs. – nun auch demographisch zur Bedeutungslosigkeit herab. Einer der Gründe für diese Entwicklung ist in der Emigrationsbewegung aus den böhmischen Ländern zu sehen. Zogen ab der zweiten Hälfte des 19. Jhs. auch viele nichtjüdische Böhmen aus ökonomischen Gründen Richtung Westen, so galt dies in verstärktem Maß für arme Juden, die zusätzlich dem Antisemitismus zu entfliehen hofften. Allein in Prag fanden zwischen 1844 und 1921 acht antisemitische Ausschreitungen statt (1844, 1848, 1863, 1897, 1904, 1905, 1920 und 1921). 1867–1918 Mit der Zuwanderung von jüdischer wie auch nichtjüdischer Landbevölkerung aus den tschechischsprachigen Teilen Böhmens ab der Mitte des 19. Jhs. verschob sich in den Städten und industriellen Zentren das sprachliche Gleichgewicht zugunsten des Tschechischen. Das meist deutschsprachige Bürgertum sah sich einer aufstrebenden Gruppe tschechischsprachiger Zuwanderer gegenüber, die Rechte einforderten. Eine wichtige Rolle bei der Beförderung des Tschechischen spielte die liberale Erziehungsreform der sechziger Jahre. Das Schulgesetz von 1869 hob die kirchliche Kontrolle über die Grundschulen auf und schuf so die Basis für ein säkulares Bildungssystem. Dies wurde von der tschechischen Nationalbewegung zum Ausbau eines nationalen Schulsystems in tschechischer Sprache genutzt, was 1882 in der Errichtung der tschechischen Universität in Prag gipfelte. Die Entkonfessionalisierung der Erziehung beseitigte aber gleichzeitig den Hauptgrund für die Aufrechterhaltung separater jüdischer Schulen, in denen auch auf dem Lande in deutscher Sprache unterrichtet wurde. Viele dieser seit dem Josephinismus bestehenden deutschen Schulen wurden, z.T. unter massivem Druck der tschechischen Nationalbewegung, während des letzten Drittels des 19. Jhs. geschlossen oder durch tschechische ersetzt. Eine langfristige Folge dieser Bemühungen war die Tatsache, daß 1930 die Zahl der jüdischen Studenten an der tschechischen Karls-Universität erstmals diejenige an der Deutschen Universität übertraf (1421 gegenüber 1069). 40 Jahre zuvor hatten nur 10% der jüdischen Studenten der tschechischen Universität den Vorzug gegeben (57 gegenüber 528 an der Deutschen Universität). Das böhmische Judentum hatte seit der Zeit des aufgeklärten Absolutismus eine umfassende Modernisierung durchgemacht, die mit der Übernahme der deutschen Sprache und Kultur einherging und in der Emanzipationsgesetzgebung Mitte des 19. Jhs. ihren Abschluß fand. Unter dem Einfluß der tschechischen Nationalbewegung durchlief es etwa ab 1870 einen sekundären Akkulturationsprozeß, der durch bewußten Bilingualismus gekennzeichnet war und die liberale deutsch-jüdische Allianz in Frage stellte. In einer von erbitterten Nationalitätenkonflikten geprägten Gesellschaft mußte sich auch die jüdische Politik einer nationalen Terminologie bedienen. Dies war ein wesentlicher Grund, warum trotz der im allgemeinen westlichen Prägung des böhmischen Judentums der Zionismus Ende des 19. Jhs. in weiten Kreisen der jüdischen Bevölkerung Böhmens Fuß fassen konnte.

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Beeinflußt vom Kulturzionismus Achad Haams (1856–1927) und dem politischen Zionismus Theodor Herzls (1860–1904), aber auch von den Theorien des jüdischen Philosophen Martin Buber (1878–1965) und des Staatsgründers der Tschechoslowakei Tomásˇ Masaryk (1850–1937), propagierte die zionistische Bewegung einen national-jüdischen Weg und stand sowohl deutsch- als auch tschechischsprachigen Juden offen. Das Herz der Bewegung bildeten zwei in Prag situierte Institutionen – der „Verein jüdischer Hochschüler in Prag Bar Kochba“ und ab 1907 die zionistische Zeitung Selbstwehr. Die Prager Zionisten zählten so illustre Namen wie den Philosophen Hugo Bergmann (1883–1975), den Schriftsteller Max Brod (1884–1968) und den Journalisten Robert Weltsch (1891–1982) zu ihren Mitgliedern. Auch die meisten Schriftsteller, die zum sog. „Prager Kreis“ gerechnet werden, standen in engerer oder loserer Verbindung zu den Zionisten. Diesem Kreis gehörten Männer an, welche die deutschsprachige Literatur so nachhaltig beeinflußten wie Franz Kafka (1883–1924) oder Max Brod, aber auch weniger berühmte wie etwa Oskar Baum (1883– 1941), Ludwig Winder (1889–1946) und Felix Weltsch (1884–1964). Ebenso wie in den deutschsprachigen Ländern nahm die antisemitische Agitation nach der Erweiterung des Wahlrechts (1882 und 1896) auch in Böhmen zu. Charakteristischerweise wurde der Antisemitismus von beiden rivalisierenden Volksgruppen zur Massenmobilisierung benutzt, wobei man sich u. a. sogar der mittelalterlichen Ritualmordbeschuldigung bediente. Die Höhepunkte antisemitischer Propaganda bildeten die Unruhen nach dem Sturz der Regierung Badeni (1895–1897), die sich um eine Neuregelung der Sprachenfrage bemüht hatte, sowie die Ritualmordbeschuldigung gegen den jüdischen Landstreicher Leopold Hilsner aus dem böhmischen Grenzdorf Polna im Jahre 1899. Der „Fall Hilsner“ wurde sogleich von der tschechischen, deutschnationalen und christlichsozialen Presse aufgenommen, was in einer beispiellosen antisemitischen Kampagne zu Hilsners Verurteilung zum Tode führte. In der Folge kam es in ganz Europa zu antisemitischen Kundgebungen und Ausschreitungen, von denen besonders die kleinen Landjudengemeinden in Böhmen und Mähren betroffen waren. Eine rühmliche Rolle in dieser Affäre spielte der spätere Gründer der Tschechoslowakischen Republik, Tomásˇ Masaryk. Masaryk verurteilte in mehreren Schriften den Prozeßverlauf sowie das Verhalten der Öffentlichkeit und forderte – allerdings vergeblich – eine Revision des Verfahrens. Leopold Hilsner wurde zwar erst im Jahre 1917 von Kaiser Karl I. begnadigt, sein mutiges Eintreten gegen mittelalterliche Vorurteile verschaffte Masaryk jedoch internationale Popularität, die ihm im weiteren helfen sollte, seine politischen Anliegen durchzusetzen. Die intellektuelle und politische Integrität Masaryks ließen nach dem Zusammenbruch der Monarchie im Jahre 1918 schließlich auch die Juden in Böhmen und Mähren auf eine bessere Zukunft in der neugegründeten Tschechoslowakischen Republik hoffen.

Mähren Als Böhmen und Mähren 1526 Teil des Habsburgerreiches wurden, hatten bereits mehrere Ereignisse stattgefunden, die das Gesicht der mährischen Judenschaft bis weit ins 19. Jh. prägen sollten. Eine Reihe von Vertreibungen während des 15. und 16. Jhs. legten

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Niederlassungsform sowie ökonomische Strukturen fest, und die Entstehung des mährischen Landesrabbinats sicherte die Zukunft Mährens als Zentrum rabbinischer Gelehrsamkeit. Die Juden Mährens wurden niemals en masse vertrieben, doch zwischen 1426 und 1572 verjagte man sie aus einzelnen Städten, darunter auch aus den sechs königlichen Städten Brünn, Olmütz, Iglau, Znaim, Ungarisch-Hradisch und Neustadt. In der Folge siedelten sie sich unter dem Schutz von Feudalherren an, oft in der Nähe der königlichen Städte. Da den Juden die Niederlassung auf dem flachen Land seit dem 13.Jh. untersagt war, verteilten sich die mährischen Juden auf kleine Landstädte. Im Gegensatz zu den böhmischen Juden waren sie weder über Dörfer verstreut noch in einem großen urbanen Zentrum konzentriert. Die Juden dieser Kleinstädte arbeiteten häufig als Textilhändler oder pachteten und betrieben die Zollhäuser, Mühlen und Brauereien ihrer Feudalherren. Textilhandel und Pacht waren bis weit ins 19.Jh. typisch jüdische Berufe in Mähren. Die Ursprünge des mährischen Landesrabbinats liegen etwas im dunkeln. Wahrscheinlich ist jedoch, daß diese für die mährischen Juden zentrale Einrichtung während der Regierungszeit von Maximilian I. (1493–1519) entstand. Das benachbarte Galizien sowie Böhmen hatten zwar zu verschiedenen Zeiten ebenfalls Landesrabbiner, aber nur in Mähren bestand das Landesrabbinat durchgehend vom 15.Jh. bis zum Zerfall der Habsburgermonarchie im Jahre 1918. Der mährische Landesrabbiner übte sowohl religiöse als auch juridische Funktionen aus und wurde so zum Symbol der jüdischen Gemeindeautonomie. Der Landesrabbiner residierte in Nikolsburg, der größten jüdischen Ansiedlung Mährens, und unterhielt dort eine große und bedeutende Jeschiwa. Einem der ersten Landesrabbiner, Rabbi Jehuda Löw ben Bezalel (in Nikolsburg von 1553–1573) – besser bekannt als der „Hohe Rabbi Löw von Prag“, der einen Golem erschuf –, werden die Schai (= 311) Takkanot zugeschrieben, die Gemeindeverordnungen, welche den mährischen Juden als eine Art Verfassung dienten. Auch andere illustre Landesrabbiner, wie Jom Tow Lipmann Heller (1624) und der bibliophile David Oppenheimer (1690–1702) übersiedelten schließlich nach Prag. Rabbi Mordechai Benet war ebenso bekannt für seine talmudische Gelehrsamkeit wie für die ihm nachgesagten Wunder. Samson Raphael Hirsch (1847–1851) nahm als mährischer Landesrabbiner an der Revolution von 1848 teil, bevor er zum Verteidiger der Orthodoxie in Frankfurt a. M. wurde. 1648–1780 Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) brachte Verwüstung und Zerstörung über Mitteleuropa. Obwohl Krieg und Blutvergießen sich rasch über ganz Böhmen und Mähren ausbreiteten, war das Schlimmste für die Juden bereits 1623 überstanden. Ferdinand II. (1578– 1637, Kaiser ab 1619) brauchte sie, um seine Truppen während des Krieges mit Geld, Nahrungsmitteln, Uniformen sowie Quartieren zu versorgen, und danach, um die zerstörte Wirtschaft wiederaufzubauen. Da ein Teil der Bevölkerung im Krieg gefallen war, viele Bürger und Adelige emigriert und die Wiedertäufer vertrieben worden waren, benötigte man die Juden aus ökonomischen Gründen. 1628 dehnte Ferdinand II. daher die weitreichenden

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Privilegien, mit denen er 1623 die Erwerbsmöglichkeiten der Juden Böhmens verbessert hatte, auch auf Mähren aus. Diese „verneuerte Landesordnung“ wurde von allen folgenden Herrschern bestätigt und von Maria Theresia im Jahre 1755 sogar erweitert. Trotz der ungeheuren Verluste an Menschenleben während des Dreißigjährigen Krieges erholten sich die mährischen Juden demographisch ziemlich schnell. Zum Teil ist dies durch eine hohe Geburtenrate zu erklären, doch eine viel wesentlichere Rolle spielte die jüdische Einwanderung aus den kriegsgeschüttelten Nachbarländern. Viele polnische Juden, darunter auch rabbinische Autoritäten wie Gerschon Aschkenasi und Sabbatai ben Mëir ha-Kohen, flohen infolge der Kosakenmassaker und der Invasion durch Schweden und Moskowiter zwischen 1645 und 1656 nach Mähren. Ungarische Juden siedelten sich während der Türkenkriege im 16. und 17. Jh. sowie nach dem Kuruzenaufstand 1680 an. Auch eine Reihe von Wiener Juden kam, nachdem sie 1670 aus der Reichshauptstadt vertrieben worden waren, nach Mähren, vor allem nach Nikolsburg. Der mährische Landtag war eifrig bestrebt, diesen Trend umzukehren. So beschloß er 1650 dieselben antijüdischen Maßnahmen wie der böhmische Landtag, darunter eine Vertreibung der Juden aus allen Orten, an denen sie nicht bereits vor 1618 ansässig gewesen waren. Diese Maßnahmen traten 1650 in Kraft, doch 1681 korrigierte Leopold I. das entscheidende Jahr von 1618 auf 1657. Damit konnten die Flüchtlinge aus Polen legal im Land bleiben, während die 1670 aus Wien Vertriebenen zumindest theoretisch ausgeschlossen waren. Die 1648 beginnende Periode, gipfelnd in der Regierungszeit Maria Theresias, zeichnet sich durch eine zunehmend antijüdische Politik und eine Segregation von Juden und Christen im öffentlichen wie auch im privaten Leben aus. So wollten der böhmische und mährische Landtag nicht nur die Zahl der Juden reduzieren, sondern auch verhindern, daß jene z. B. als Steuereintreiber oder Dienstgeber in die Lage kämen, Autorität über Christen auszuüben. Die in der Folge der 1714 von Karl VI. eingesetzten Judenkommission in Böhmen erlassenen Gesetze traten ebenso auch in Mähren in Kraft. So wurde nach den Familiantengesetzen von 1726 die erlaubte Zahl jüdischer Familien für Mähren auf 5160 festgelegt. Diese Zahl wurde zwar 1787 auf 5400 erhöht, doch sollten die Familiantengesetze das Leben der mährischen Juden bis zur ihrer Aufhebung am 4. März 1849 bedrücken. 1727 dekretierte Karl VI. außerdem die absolute Trennung zwischen Juden und Christen in den meisten mährischen Städten. Juden, die in christlichen Vierteln lebten, wurden mitunter gezwungen, ihre Häuser mit Christen zu tauschen, die in jüdischen Vierteln wohnten. Die Absicht dieser Maßnahme war es, klar abgegrenzte, jüdische Wohnbereiche entstehen zu lassen. Diese geschlossenen Gemeinden sollten für die mährischen Juden charakteristisch werden. Sie bestanden bis 1849 und in veränderter, aber immer noch autonomer Form bis 1919. Vor allem die Familiantengesetze zehrten an der Substanz des mährischen Judentums, indem sie neue soziale Spannungen hervorriefen, das traditionelle Familienleben unterminierten und zahlreiche Juden zur Emigration zwangen. Die Zuteilung von Familienstellen war ein häufiger Anlaß für soziale Spannungen und Klassenkämpfe. In vielen Gemein-

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den kam es deswegen zu Gerichtsverfahren, Denunziationen, Bestechungen und illegalem Verkauf der Familienstellen an nicht Ortsansässige. Die Familiantengesetze zwangen auch viele Juden zu geheimen, sogenannten Bodenhochzeiten. Diese waren zwar nach jüdischem Recht gültig, nicht jedoch nach den Staatsgesetzen. Die Kinder aus solchen Verbindungen wurden vom Staat daher als illegitim angesehen und bekamen den Namen der Mutter. Einige mährische Juden heirateten in Ungarn, wo es keine Familiantengesetze gab, doch die Regierung traf bald ihre Vorkehrungen, um derartige Gesetzesumgehungen zu verhindern. Abgesehen von der Zerrüttung des traditionellen Familienlebens schufen die Familiantengesetze auch eine neue Bettlerklasse, nämlich eine Personengruppe, die aufgrund des Niederlassungsverbots gezwungen war, ohne einträglichen Erwerb von Ort zu Ort zu ziehen. Kein Wunder, daß viele Juden unter diesen Umständen die Emigration vorzogen, vor allem ins benachbarte Ungarn und hier hauptsächlich in die heutige Slowakei, wo sie Tochtergemeinden gründeten. Waag-Neustadtl (Nové Mesto nad Váhom, Vág-Ujhely) beispielsweise war hauptsächlich von Juden aus Ungarisch-Brod gegründet und besiedelt worden. Wollte Karl VI. mittels der Familiantengesetze Zahl und wirtschaftlichen Einfluß der Juden reduzieren, so begann seine Tochter und Nachfolgerin Maria Theresia ihre Regierungszeit mit dem Versuch, sie aus Böhmen, Mähren und Schlesien vollständig zu vertreiben. Nachdem sie den Großteil Schlesiens im Österreichischen Erbfolgekrieg (1740–1745) verloren hatte, nahm sie 1744 Gerüchte um eine jüdische Kollaboration mit den preußischen Truppen zum Anlaß, die Vertreibung der Juden aus Brünn und Olmütz, wo einzelne seit dem 15. Jh. Aufenthaltsbewilligungen hatten, zu dekretieren. Im darauffolgenden Jahr dehnte sie den generellen Ausweisungsbefehl für die böhmischen Juden, den sie im Dezember 1744 erlassen hatte, auch auf Mähren und Schlesien aus. Nach erfolgreicher diplomatischer Intervention von jüdischer Seite sowie Appellen von christlichen Einwohnern, die die verheerenden wirtschaftlichen Auswirkungen einer Massenausweisung befürchteten, wurde das Vertreibungsdekret jedoch am 15. Mai 1745 für Mähren wiederaufgehoben. Den mährischen Juden wurde für die nächsten zehn Jahre Duldung garantiert, doch diese hatte ihren Preis. Hatten sie bis dahin 8000 Gulden an jährlichen Schutzgeldern bezahlt, so verlangte man 1748 von ihnen die Summe von 87 700 Gulden pro Jahr; 1752 wurde das Schutzgeld auf 90000 Gulden im Jahr festgesetzt. Der Österreichische Erbfolgekrieg – der dritte in einer Reihe von bedeutenden Niederlagen, welche der Monarchie schwere Verluste an Prestige, Land, Bevölkerung und Steuereinnahmen eintrugen – brachte die Notwendigkeit einer umfassenden Verwaltungsreform mit sich, die auch die Juden betraf. In Übereinstimmung mit ihren allgemeinen Zentralisierungstendenzen erließ Maria Theresia 1754 die General-, Polizei-, Prozeß- und Kommerzialordnung, die zu großen Teilen auf einer Übersetzung der Schai Takkanot durch Aloys von Sonnenfels beruhte. Die Verordnung legte die Wahl- und den Wirkungskreis des Landesrabbiners fest, die Organisation des jüdischen Gemeinde- und Steuerwesens, das Zivilrecht zwischen Juden und Nichtjuden sowie die Handelsbeziehungen. Die überwiegende Mehrheit der 20327 mährischen Juden fiel 1754 unter die Jurisdiktion dieser neuen Verordnung, doch es gab einige schillernde Persönlichkeiten, die vom Rest der

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mährischen Juden nicht nur sozial und ökonomisch, sondern oft auch geographisch getrennt waren. Zu diesen zählte die Familie Dobruschka, die vor 1750 das einträgliche Tabakmonopol vom Staat gepachtet und bereits davor eine Sondergenehmigung erhalten hatte, sich in Brünn anzusiedeln. Eine weniger rühmliche Erscheinung war Jakob Frank (1726– 1791), der als selbsternannter Nachfolger des falschen Messias Sabbatai Zwi seine Lehre der „Erlösung durch Sünde“ nach Mähren brachte. Zwischen 1773 und 1786 unterhielt er seinen ebenso luxuriösen wie verruchten Hof in Brünn und zählte unter anderem Mose Dobruschka zu seinen Anhängern. Der Landesrabbiner Gerson Chajes (1780–1789) bekämpfte den häretischen und verderblichen Einfluß Franks auf das Entschiedenste. Es ist uns jedoch nicht bekannt, welche jüdischen Besucher der Brünner Jahrmärkte sich Dobruschkas und Franks Hof anschlossen. Dobruschka, der sich in aufklärerischer Poesie versuchte, konvertierte zum Chrisentum. Er war ein Mitbegründer der Freimaurerloge der „Asiatischen Brüder“ in Deutschland und beendete sein Leben in Frankreich auf der Guillotine. 1780–1848 Während Maria Theresias Judenpolitik, wie auch ihr Verhalten anderen nichtkatholischen Minderheiten gegenüber, weitgehend durch ihre religiösen Überzeugungen geprägt war, bestimmte die eher säkulare Orientierung des „aufgeklärten Absolutismus“ die Politik und Anschauungen ihres Sohnes, des Mitregenten und Nachfolgers Joseph II. Sein Glaube an einen von Vernunft regierten zentralistischen Staat setzten religiöse Toleranz, Volksbildung, die Aufhebung von Handelsbeschränkungen sowie die Schaffung einer effizienten Bürokratie voraus. Seine Toleranzpatente, mit denen für die Juden der Kronländer ein neues Zeitalter anbrach, müssen als Teil dieser utilitaristischen Rationalisierungs- und Produktivierungsbestrebungen gesehen werden. In dem am 13. Februar 1782 für Mähren erlassenen Toleranzpatent heißt es dementsprechend: Es bestehen demnach die Begünstigungen, welche der jüdischen Nazion durch gegenwärtige Abänderungen zuflüssen in Folgenden; Da Wir dieselbe hauptsächlich durch besondere bessere Unterrichtung, Aufklärung ihrer Jugend, und durch Verwendung auf Wissenschaften, Künste, und Handwerke, dem Staate nützlicher und brauchbarer zu machen zum Ziele nehmen […].1

Das Patent erweiterte den Bildungshorizont der Juden, indem es ihnen gestattete, ihre eigenen Normalschulen – unter der Oberaufsicht aller deutschen Schulen – zu errichten und die Universitäten zu besuchen. Um die Juden vom Handel wegzubringen, wurden ihnen verschiedene neue Berufszweige eröffnet. So konnten sie die Befugnis zu allen Gattungen des Handwerks erhalten, wenn sie bei einem christlichen Meister in die Lehre gingen. Sogar das Meisterrecht konnten sie erlangen. Die mährischen Juden wurden auch dazu ermuntert, Fabriken zu errichten und Ackerbau zu betreiben, wofür sie landwirtschaftliche Grundstücke für zwanzig Jahre pachten konnten. Um die soziale Integration der Juden zu fördern, versuchte das Toleranzpatent nicht nur die von außen oktroyierten „Merkmale 1 Wilma Iggers (Hrsg.), Das mährische Toleranzpatent Josephs des Zweiten, in: Günter Sternberger (Hrsg.), Die Juden. Ein historisches Lesebuch, München 41995, S. 210–215, hier S. 211.

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und Unterscheidungen, als das Tragen der Bärte, auszeichnender Kleidung“ zu eliminieren, sondern auch den öffentlichen Gebrauch von Hebräisch und Jiddisch, um die „Aufrechterhaltung des gemeinschaftlichen Zutrauens“ zu forcieren. Alle Dokumente, die in „hebräischen und jüdischen Buchstaben“ geschrieben worden waren, wurden als „ungiltig und nichtig“ betrachtet. Einige der bedrückendsten Steuern, wie die Leibmaut, wurden abgeschafft, doch blieben, ebenso wie in Böhmen, das Familiantengesetz und die Ansiedlungsbeschränkungen in Kraft. Bei letzteren wurde nur für Juden eine Ausnahme gemacht, die beabsichtigten, eine Fabrik zu errichten oder ein nützliches Gewerbe auszuüben. Im folgenden Jahrzehnt erließ Joseph II. eine Reihe weiterer Gesetze, welche die Juden in die bürgerliche Gesellschaft integrieren sollten. 1784 wurde die rabbinische Jurisdiktion abgeschafft, und so die Autorität der Rabbiner durch jene des Staates ersetzt. Wie in den anderen Ländern wurde die Militärpflicht eingeführt, und 1787 wurden die Juden verpflichtet, deutsche Vor- und Familiennamen anzunehmen. Durch das Hofdekret vom 26. Juli 1787 schuf Joseph II. den mährisch-jüdischen Landesmassafond, der bedürftigen jüdischen Gemeinden Unterstützung gewähren sollte und bis 1869 von christlichen Behörden verwaltet wurde. Der Fonds wurde gespeist aus verschiedenen jüdischen Steuergeldern, aus der Hälfte der jüdischen Verzehrungssteuer, der Familien- und Toleranztaxen fremder Juden, den Abfahrtsgeldern jüdischer Auswanderer sowie diversen Strafgeldern. Ursprünglich für „rentlich herabgekommene Gemeinden“ gedacht, wurden seine Gelder bald auch für die Errichtung und Erhaltung der Schulen, für Darlehen an jüdische Familianten zur Herstellung und Errichtung ihrer Häuser sowie zur Bezahlung des Landesrabbiners und anderer Beamten verwendet. Nachdem der Fond 1869 der „gesamten Judenschaft Mährens“ übergeben worden war, übernahm ein aus elf Personen bestehendes Kuratorium seine Verwaltung. Als im Zuge von Urbanisierung und jüdischer Migration in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. kleine Gemeinden in finanzielle Schwierigkeiten gerieten, unterstützte der Landesmassafond die Gemeindeinstitutionen und -beamten, die andernfalls nicht mehr zu finanzieren gewesen wären. Wie der Landesmassafond blieben auch die meisten anderen von Joseph II. eingeführten Institutionen und Reformen bis 1848 in Kraft, ja viele sogar bis zur Auflösung des Habsburgerreiches im Jahre 1918. Obwohl Joseph II. auf seinem Totenbett den Großteil seiner progressiven Gesetzesinitiativen widerrief, ließ er die Judengesetzgebung unangetastet. Einige Juden priesen daher seine Bemühungen, das jüdische Schicksal durch sprachliche und soziale Integration, Bildung und Produktivierung zu verbessern. Andere hingegen verurteilten seine Bestrebungen, die rabbinische Autorität sowie die sprachliche und kulturelle Andersartigkeit der Juden aufzuheben. Ein Nikolsburger Chronist, Abraham Chajes, sah die Militärkonskription als einen düsteren Augenblick in der jüdischen Geschichte an. Nach dem Tod Josephs II. und der zweijährigen Herrschaft seines Bruders Leopold II. bestieg Franz II. den Thron. In dieser Periode der Napoleonischen Kriege (1792–1815) und der Metternichschen Reaktion versuchte man teilweise zu vorjosephinischen Konzepten zurückzukehren, doch viele der Josephinischen Reformen blieben in Kraft. Als Napoleon 1806 den Sanhedrin einberief, wurden einige mährische Juden überwacht, weil man sie der Sym-

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pathie mit dem selbsternannten „großen Befreier“ verdächtigte. Verbote für Juden, christliche Dienstboten und Kindermädchen anzustellen, wurden regelmäßig wiederholt. 1798 wurde die Anzahl der mährischen Gemeinden, in denen sich Juden ansiedeln durften, auf 52 festgesetzt. Gleichzeitig verstärkte man die Bemühungen, Juden in deutschen Normalschulen zu erziehen, indem man die Eltern von Schule schwänzenden Kindern sowie nicht qualifizierte Privatlehrer bestrafte und Brautpaare aus dem deutsch-jüdischen Katechismus Bene Zion prüfte. Dieser Zeitraum kann als der Beginn einer umfassenden Germanisierung der mährischen Juden betrachtet werden, die gegen Ende der Periode bis in die Synagogen vordrang. Die erste deutschsprachige Synagogenpredigt in Mähren wurde im Jahre 1835 gehalten. In diesen Zeitraum fällt auch der Aufstieg einer jüdischen ökonomischen Elite, die vom Krieg profitierte und an der schrittweisen Industrialisierung Mährens teilhatte. Vor den Napoleonischen Kriegen gab es einzelne Familien, wie die Dobruschkas, die profitable Staatsmonopole gepachtet und spezielle Aufenthaltsgenehmigungen für Brünn bekommen hatten. Während der Napoleonischen Kriege stiegen die Bankierfamilien Gomperz und Auspitz in Brünn sowie der Armeelieferant Ehrenstamm in Prossnitz auf. Die Ehrenstamms sollten wie die Dobruschkas in Apostasie und Schande enden, doch die Familien Gomperz und Auspitz blieben bis ins frühe 20. Jh. politische, wirtschaftliche und philanthropische Stützen der mährischen Juden. Je phantastischer die Reichtümer waren, die diese Familien ansammelten, desto größer wurde die soziale Distanz zwischen ihnen und dem Rest der mährischen Juden. Die Familien Gomperz und Auspitz zählten zu den wenigen, die als Juden vor 1848 in Brünn leben durften und in engem Kontakt zu den Mitgliedern des christlichen Großbürgertums waren. Mähren galt als das Textilzentrum der gesamten Monarchie, und ein guter Teil des Einzelhandels wurde von Juden betrieben. Einigen von ihnen gelang es, Textilfabriken zu gründen. Veith Ehrenstamm, Sohn eines Textilimporteurs, war der erste Jude, der eine moderne, mechanische Textilfabrik besaß und betrieb. 1801 kaufte er eine Wollfabrik in Prossnitz und stellte 3000 (nichtjüdische) Arbeiter zur Fabrikation von Uniformen für die habsburgische Armee ein. Prossnitz wurde zu einem Zentrum der Textilindustrie, und die Juden spielten eine bedeutende Rolle bei ihrer Entwicklung. 1842 gab es dort 135 jüdische Textilhändler. 1859 errichteten Mayer und Isaac Mandel in Prossnitz die erste Fabrik für Konfektionsbekleidung auf dem europäischen Kontinent. Obwohl solche Innovationen in Prossnitz eingeführt wurden, überholte Brünn – als österreichisches Manchester bekannt – Prossnitz im Wettlauf um den Titel der Textilhauptstadt Mährens. Lazar Auspitz, ein tolerierter Jude, begründete die Textilindustrie in dieser Stadt zu Beginn des 19. Jhs. Julius Ritter von Gomperz und Mitglieder der Löw-Beer-Familie bauten Brünns Textilindustrie aus, besonders nachdem 1839 die Bahnverbindung nach Wien fertiggestellt und 1848 die Aufenthaltsbeschränkungen für Juden aufgehoben worden waren. Während einige privilegierte Juden in ökonomische Spitzenpositionen gelangten, versuchte die Mehrheit der mährischen Juden, im Einzelhandel ihr Auskommen zu finden. Die Inhaber eines Gewölbes, die auf den Olmützer, Brünner, Prager oder Pilsener Jahrmärkten

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ihre Ware direkt von den Fabriken beziehen durften, standen dabei an der Spitze der Pyramide. Weit zahlreicher waren die Hausierer, die ihre Produkte von Großhändlern bezogen, und die armen Dorfgeher (Pinkeljuden), die allerlei Kram, der ihnen von der Dorfbevölkerung angeboten wurde, aufkauften. Die Hausierer und Dorfgeher wanderten oft von Sonntagmorgen bis Freitagnachmittag über Land und kamen nur am Sabbat nach Hause, was das Familienleben destabilisierte und oft für die Zerrüttung der jüdischen Moral verantwortlich gemacht wurde. Trotz der erweiterten Erwerbsmöglichkeiten, die das Toleranzpatent den Juden 1781 garantiert hatte, führte die Mehrheit der mährischen Juden also auch noch am Vorabend der Revolution von 1848 ein Leben des „unnützlichen“ Handels und Wandels. 1848–1867 Die Revolution von 1848 markierte den Anbruch eines neuen Zeitalters und wurde von einem mährischen Juden als „das Jahr, in dem Israel von manchen ihrer Probleme erlöst wurde“ beschrieben. Tatsächlich veränderte sich der legale Status der Juden in ganz Cisleithanien von März 1848 bis März 1849 radikal und gipfelte in ihrer Emanzipation durch die oktroyierte Verfassung am 4. März 1849. Wenn auch „manche ihrer Probleme“ gelöst wurden, so erinnerte der traditionelle, wirtschaftlich und religiös motivierte Judenhaß doch stets daran, daß der Weg von der politischen zur sozialen Emanzipation noch weit war. Die mährischen Juden engagierten sich von Anfang an mit Blut und Feder für die Revolution und die Aussicht auf eine bessere Zukunft. Der Bisenzer Student Karl Heinrich Spitzer starb auf den Barrikaden Wiens, und der radikale Publizist Hermann Jellinek aus UngarischBrod wurde in Wien wegen Verrats gehängt. Die mährischen Juden kämpften in vielen lokalen Regimentern der Nationalgarde und schrieben für zahlreiche jüdische wie auch nichtjüdische Zeitungen, die nach der Lockerung der Zensurgesetze entstanden waren. Der Landesrabbiner Samson Raphael Hirsch unterstützte die liberalen Ideen in unzähligen Artikeln und Pamphleten. Der Enthusiasmus vieler dieser Menschen kann als Wunsch verstanden werden, den bedrückenden Restriktionen und erniedrigenden Steuern zu entgehen, die ihr tägliches Leben belasteten. Während viele mährische Juden enthusiastisch die vollständige Emanzipation erwarteten, bewegten sich die Reaktionen ihrer christlichen Mitbürger zwischen unvoreingenommener Unterstützung und heftiger Opposition. Als der mährische Landtag ein Komitee bildete, um die Judenfrage zu diskutieren, trat die gesamte Skala dieser Einstellungen zutage. Paradoxerweise konzentrierte sich ein Großteil der Diskussionen auf die Frage, ob Samson Raphael Hirsch, der als Jude kein Staatsbürgerrecht besaß, Mitglied des Komitees sein dürfe. Schließlich erhielt er die Erlaubnis. In einigen Gemeinden feierten die christlichen Bürger die neue Verfassung gemeinsam mit den Juden und hießen sie in der Nationalgarde willkommen, in anderen hingegen versuchte man, die Juden zu vertreiben und schloß sie von der Nationalgarde aus. In Strassnitz wurden jüdische Händler attackiert, in Olmütz jüdische Kaufleute vertrieben, in Prossnitz die Fenster einer jüdischen Fabrik eingeworfen und in Groß-Meseritsch wurden die Juden des Diebstahls der Monstranz aus der Kirche beschuldigt. Obwohl die Gewalttaten nach einem Appell des mährisch-schlesischen

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Statthalters Lazansky abflauten, war die antijüdische Einstellung vieler Bürger deutlich geworden. Als die Debatte über die Judenemanzipation vor den Reichstag kommen sollte, reichten mehr als 40 mährische Städte und Dörfer Petitionen ein, in denen sie ihren vehementen Widerstand zum Ausdruck brachten. Die meisten führten die schädliche jüdische Konkurrenz und die vermeintliche Unmoral der Juden als Grund an. Trotz dieser Proteste gewährte die Verfassung vom 4. März 1849 Glaubensfreiheit und Gleichheit aller Staatsbürger, womit die Juden in Cisleithanien emanzipiert waren. Die Familiantengesetzte und die Judensteuer wurden ebenso aufgehoben wie Berufs- und Ansiedlungsbeschränkungen. Die Juden erhielten Freizügigkeit und Grundbesitzrecht. In ganz Mähren wurden von den Juden zur Feier der Emanzipation Festgebete abgehalten, und viele heirateten in der Euphorie über die Aufhebung der Familiantengesetze. Diese Euphorie wurde einigermaßen getrübt, als die kaiserliche Verordnung vom 2. Oktober 1853 manche der Restriktionen, unter denen die Juden vor dem 1. Januar 1848 gelitten hatte, wiedereinführte. Von all den neuen Rechten, welche die Verfassung den Juden gewährte, hatte die Freizügigkeit den entscheidendsten und nachhaltigsten Einfluß auf die Demographie der mährischen Juden. Aufgrund der bis 1848 geltenden Siedlungsbeschränkungen lebten die mährischen Juden bis dahin fast ausschließlich in den 52 systemierten Judengemeinden in Kleinstädten. 1848 – in diesem Jahr lebten 37548 Juden in Mähren – zählte Nikolsburg, die größte mährische Judengemeinde, 3670 jüdische Einwohner. Nach der Einführung der Freizügigkeit, die den Juden nun auch die ihnen früher verschlossenen königlichen Städte öffnete, zogen viele von ihnen in die großen Städte, wo sie die ökonomischen Vorzüge von Industrialisierung und Modernisierung genossen. In Brünn, einem der Hauptanziehungspunkte, stieg die jüdische Bevölkerung von 445 im Jahre 1848 auf 1262 im Jahre 1857 und 4505 im Jahre 1869 bzw. 8238 zur Jahrhundertwende. Gleichzeitig verringerte sich die jüdische Bevölkerung Nikolsburgs von 3680 im Jahre 1857 auf 1500 im Jahre 1869, 1900 wohnten nur mehr 900 Juden im vormaligen Zentrum der mährischen Juden. Nachdem die Juden 1859 auch die Genehmigung erhalten hatten, sich auf dem flachen Land anzusiedeln, eröffneten eine Reihe von ihnen hier Gast- und Schankgewerbe. Im Gefolge der Revolution durchlief das jüdische Gemeindewesen in Mähren eine Transformation, aus der eine einmalige Institution hervorging: die politische Judengemeinde. Während die autonomen Judengemeinden in Galizien bereits 1785 und in Böhmen 1852 aufgelöst worden waren, vereinigten sich in Mähren trotz der Anordnung durch das provisorische Gemeindegesetz vom 17. März 1849 lediglich 25 jüdische Gemeinden mit den christlichen Gemeinden. Ein Ministerialerlaß vom 25. Juni 1850 gestattete den verbleibenden 27 Gemeinden, sich als unabhängige Israelitengemeinden zu konstituieren und schuf damit in Mähren eine Anomalie: politische jüdische Gemeinden, deren Grenzen geographisch und nicht konfessionell festgelegt waren. Die einzige politische Judengemeinde der Monarchie außerhalb von Mähren war Hohenems in Vorarlberg. Das Territorium und die kommunalen Gebäude der früheren jüdischen Ghettos bildeten nun die politischen Judengemeinden unabhängig davon, wer sie bewohnte. Als diese Gemeinden 1850 entstanden,

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war die überwiegende Mehrheit ihrer Bewohner Juden. Nachdem die Freizügigkeit die Ansiedlungsgewohnheiten der jüdischen wie der übrigen Bevölkerung verändert hatte, verloren viele dieser Judengemeinden ihre jüdische Mehrheit. 1880 hatten bereits fünf Gemeinden eine christliche Mehrheit, und 1900 waren es gar achtzehn. 1867–1918 Wie in Böhmen so war auch in Mähren die Geschichte der Juden zwischen 1867 und 1918 stark durch den tschechisch-deutschen Konflikt gezeichnet, der seit 1848 brodelte und 1867, als der „Ausgleich“ mit Ungarn die tschechischen Hoffnungen auf nationale Autonomie endgültig zerstörte, einen neuen Höhepunkt erreichte. Als deutsch akkulturierte Volksgruppe wurden die Juden in tschechischer Wahrnehmung meist der Gruppe der Deutschen, der nationalen Unterdrücker, zugezählt. So zielten die gegen Deutsche gerichteten ökonomischen Boykottmaßnahmen natürlich auch auf sie, und als in den achtziger Jahren des 19. Jhs. die „Svùj k svému“-Bewegung (Jeder zu den Seinen) entstand, zeigte die antideutsche Propaganda stark antijüdische Untertöne. Als 1897 und 1899 antideutsche Ausschreitungen ausbrachen, wurden jüdische Schaufensterscheiben eingeworfen. 1905 wurde die Fabrik von Löw-Beer in Boskowitz geplündert und verwüstet. An der Wurzel des Konflikts zwischen Tschechen und Juden lagen oft auch wirtschaftliche Spannungen, die sich aus der Urbanisierung sowie der bildungsmäßigen und ökonomischen Entwicklung der Tschechen in Mähren ergaben. Nach 1867 begannen die Tschechen vermehrt in größere Städte zu ziehen, wo sie von den ökonomischen und kulturellen Möglichkeiten sowie von den neu gegründeten tschechischen Handelsschulen profitierten. Früher „deutsche“ Städte wurden nun tschechisch, wie auch die politischen Judengemeinden in vielen Städten. Als Tschechen sich an Plätzen ansiedelten, wo der Handel früher ausschließlich in jüdischen Händen gelegen hatte, erhöhte sich der wirtschaftliche Wettbewerb zwischen den beiden Volksgruppen. Die Gemüter vieler Tschechen wurden zusätzlich durch die Tendenz der mährischen Juden erregt, sich politisch den Deutschen anzuschließen. Ähnliche politische Vorlieben der Juden waren auch in anderen Gegenden Cisleithaniens zu beobachten, da die liberalen Deutschnationalen stark mit den Ideen der Aufklärung identifiziert wurden, welche zur Emanzipation der Juden geführt hatten. Im Gegensatz zu Böhmen dauerte diese Entwicklung in Mähren jedoch noch lange nach dem Fall des Liberalismus im Jahre 1879 an. Dies hatte hauptsächlich zwei Gründe. Erstens stellten die Deutschen, obwohl sie in Mähren eine Minderheit bildeten (29% der Bevölkerung in den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jhs.), bis zum mährischen „Ausgleich“ im Jahre 1905 eine Mehrheit im mährischen Landtag und hatten auch noch nach diesem Zeitpunkt wirtschaftliche Machtpositionen inne. Zweitens waren die Deutschen in Mähren über das ganze Land verteilt und erreichten nirgends eine ähnliche Konzentration wie in Nordböhmen. Zur Erhaltung ihrer Kulturinstitutionen wie auch in politischen Fragen waren die Deutschen in Mähren daher häufig auf die Unterstützung der Juden angewiesen. In manchen Gebieten stellten die Juden die Mehrheit in deutschen Schulen und Vereinen dar. Als die deutschen Parteien der meisten

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westlichen Kronländer rassistische und antisemitische Töne anschlugen, konnten es sich die mährischen Deutschen nicht erlauben, diesem Trend zu folgen. Obwohl der völkische Nationalismus in Mähren zweifellos präsent war, gelang es ihm bis zum Ende des 19. Jhs. nicht, politischen Einfluß zu gewinnen. Die mährische Landtagswahlordnung aus dem Jahr 1861, die den Deutschen eine Landtagsmehrheit garantieren sollte, verlieh den politischen Judengemeinden eine entscheidende Rolle bei den Landtagswahlen. Da die politischen Judengemeinden zur Städtekurie zählten, wo – im Unterschied zur tschechisch dominierten Kurie der Landgemeinden – das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen meist ausgeglichen war, entschieden die jüdischen Stimmen die Wahl oft zugunsten des deutschen Kandidaten. In einigen Fällen waren die deutschen Kandidaten auch Juden. Vor diesem Hintergrund werden die von den Tschechen seit den siebziger Jahren des 19. Jhs. bis 1906 unternommenen Versuche verständlich, die politischen Judengemeinden, diese „Bastionen des Deutschtums“, aufzulösen oder zumindest in die tschechisch dominierten Landgemeinden zu integrieren. Eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes aus dem Jahre 1906 ordnete die Judengemeinden endgültig der Städtekurie zu, doch zu diesem Zeitpunkt war bereits ein Kompromiß erzielt worden, der das Wesen des Nationalitätenkonflikts in Mähren grundlegend verändern sollte. Der mährische Ausgleich von 1905 verlagerte den Nationalititätenkonflikt vom Landtag in die ökonomische, kulturelle und Bildungssphäre. 1905/06 wurden in jedem Wahlbezirk getrennte tschechische und deutsche Kataster erstellt, so daß in den meisten Kurien tschechische Kandidaten nicht mehr gegen deutsche antraten. Personen, die in keine der nationalen Kategorien paßten, d.h. Juden, wurden zunächst dem Kataster der Mehrheitsbevölkerung in jeder Gemeinde zugezählt. Da Deutsche und Tschechen sich bei den Wahlen nun nicht länger feindlich gegenüberstanden, verloren die Juden ihre Bedeutung als „Zünglein an der Waage“ und damit auch ihr Gewicht in der politischen Arena. Die mährischen Juden reagierten auf verschiedene Weise auf den Nationalitätenkonflikt und die damit verbundenen ökonomischen Probleme. Eine Minderheit wandte sich der zionistischen Bewegung zu, einige konvertierten zum Christentum, und eine weit größere Zahl wählte die Emigration, hauptsächlich nach Wien. Viele mährische Juden, die bekanntesten sind Sigmund Freud und Gustav Mahler, zogen zwischen 1867 und 1918 nach Wien. Zwischen 1867 und 1900 stammten etwa 10% bis 20% aller jüdischen Einwanderer in Wien aus Mähren. Zwar entsprach die Migration nach Wien aus verschiedenen Teilen der Monarchie einem allgemeinen Trend der Zeit, doch scheint das Phänomen bei den mährischen Juden das übliche Ausmaß zu übersteigen. Daraus erklärt sich auch das trotz des Zuzugs von jüdischen Flüchtlingen aus dem Zarenreich relativ geringe demographische Wachstum der mährischen Juden in den letzten Jahrzehnten des 19. Jhs. Während die Gesamtbevölkerung Mährens von 1869 bis 1900 pro Jahrzehnt zwischen 5,73% und 7,07% zunahm, vermehrte sich die jüdische Bevölkerung niemals um mehr als 2,97%. Von 1869 bis 1900 stieg die jüdische Bevölkerung Mährens von 42644 (2,1% der Gesamtbevölkerung) auf lediglich 44255 (1,8%). Bis 1910 dagegen verringerte sie sich auf 41255 (1,6%). Die überwiegende Mehrheit der mährischen Juden aber blieb und paßte sich den neuen

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Verhältnissen an. Im selben Ausmaß wie sich berufliche Möglichkeiten eröffneten und Tschechen in Handelsberufe vordrangen, wandten sich die Juden freien Berufen zu. 1900 waren die verbreitetsten Beschäftigungen unter mährischen Juden zwar immer noch Handel (46%) sowie Industrie und Gewerbe (27%), doch die Angehörigen freier Berufe machten bereits über 22% aus (gegenüber 3% in der Gesamtbevölkerung). Wie in Wien und Berlin gaben auch die mährischen Juden den Handel langsam zugunsten der neuen Berufe auf. Deutsch blieb weiterhin die primäre Sprache der mährischen Juden, das Tschechische gewann jedoch beständig an Terrain, vor allem unter jenen Juden, die in den Kleinstädten verblieben bzw. aufs Land gezogen waren. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914 und der Auflösung der Monarchie 1918 waren die mährischen Juden zwar in den Genuß der Früchte der Emanzipation gekommen, litten aber unter den Widrigkeiten des tschechisch-deutschen Konflikts. Sie bezeugten ihrem Befreier Franz Joseph I. Dankbarkeit, indem sie – wie überall in der Monarchie – in ihren Synagogen seinen Geburtstag feierten, in seiner Armee dienten und ihm während des Krieges die Treue hielten. Als nach Kriegsende die Tschechoslowakei gegründet wurde, setzten sich viele der Trends vom Ausgang des 19. Jhs. fort – berufliche Orientierung, Bevölkerungsabnahme und der Glaube an den Liberalismus. Zwar blieben viele mährische Juden in der deutschen Kultur verwurzelt, doch sie ersetzten ihr Vertrauen auf den Kaiser durch das Vertrauen auf eine liberale Demokratie, die ihnen der neue tschechoslowakische Staat versprach.

Alpenländer2 Das Wiener Ghetto Wegen des ständiges Ausweisungsdrucks waren die Juden in der frühen Neuzeit der Willkür und dem Gutdünken der lokalen Herrscher ausgeliefert, unter deren Schutz sie standen. Es kam allerdings nicht mehr zur willkürlichen Massenermordung von Angehörigen einer Gemeinde wie noch in der Wiener Gesera (Verordnung) des Jahres 1420/21, als diejenigen Juden Wiens, die nicht gewillt waren, ihrem Glauben abzuschwören, gefoltert und verbrannt wurden, nachdem sie kollektiv einer vermeintlichen Hostienschändung beschuldigt worden waren. Im 16. und frühen 17. Jh. häuften sich die Ausweisungsdekrete in den Alpenländern, doch die jüdische Bevölkerung konnte sich immer wieder dagegen wehren bzw. kehrte bald nach der Vertreibung wieder zurück. Der Chronist der jüdischen Geschichte Wiens, Gerson Wolf, bezeichnet die Regentschaft Ferdinands II. (1578–1637, Kaiser seit 1619) als „verhältnismäßig günstig“. Im ausgehenden 16. Jh. hatte die Zahl der Juden in Wien abermals zugenommen, da sie als „hofbefreite Juden“ zur Finanzierung der kostspieligen Hofhaltung und der Kriege beitragen sollten. Diese privilegierte Schicht konnte den Wohnort innerhalb der Stadt frei wählen und mußte auch nicht das Judenzeichen tragen. Im Dreißigjährigen Krieg waren die Juden Wiens 2

Wien, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Kärnten, Tirol, Vorarlberg.

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Übergriffen von seiten des Pöbels und der Soldaten ausgesetzt. Der Magistrat und die Stände versuchten wiederholt, die jüdischen Konkurrenten, die inzwischen nicht nur wichtige Positionen im Handel und Großhandel, als Heereslieferanten und Geldgeber erlangt, sondern auch im Münz- und Prägebetrieb ökonomischen Einfluß erworben hatten, zu schwächen bzw. ausweisen zu lassen. 1625 kam Ferdinand II. dem Druck der Judenfeinde entgegen und ordnete die Übersiedlung der Juden in ein Gebiet namens „Untern Wörth“ an. Das unwirtliche Ghetto lag an der Peripherie, im heutigen Wiener Stadtbezirk Leopoldstadt, und es war damals durch die Donau von der Stadt getrennt. Dieser Bezirk ist bis in die Gegenwart das Zentrum der jüdischen Ansiedlung in Wien geblieben. Die Juden mußten nun im neu eingerichteten Ghetto leben, konnten jedoch ihre Geschäfte weiterhin in der Stadt betreiben. Das ursprünglich 14 Häuser umfassende Ghetto expandierte und erreichte am Ende seines 45jährigen Bestehens eine Zahl von 136 Gebäuden. Darunter befanden sich drei Synagogen, Schulen, ein Kerker und ein Spital. Um 1660 wohnten im Ghetto bereits 500 Familien auf engstem Raum zusammengepfercht. Vertreibung und Wiederansiedlung Die Juden zu bekehren blieb eines der Ziele jener Zeit. Ein Versuch, die jüdischen Ghettobewohner durch den verordneten allwöchentlichen Besuch einer katholischen Messe von ihrem Glauben loszulösen, scheiterte am passiven Widerstand, etwa dem demonstrativen Schlafen während der Predigten. Kirchenkreise, Kaufleute und Magistrat der Stadt ließen nie locker, die Ausweisung der Juden zu fordern. Die Lage spitzte sich Ende der sechziger Jahre des 17. Jhs. zu. Der in jungen Jahren zur Regentschaft gelangte, zutiefst religiöse Kaiser Leopold I. (1640–1705, Kaiser seit 1658) vermählte sich mit der spanischen Infantin Margarethe Theresia. Da sie aus einem Land kam, in dem Juden nicht geduldet wurden, dürfte ihr Einfluß auf die spätere Vertreibung wesentlich gewesen sein. Als im Februar 1668 in einem Trakt der Hofburg ein Brand ausbrach, bei dem die Mutter des Kaisers in größter Lebensgefahr schwebte, machte ein Gerücht die Juden für den Brand verantwortlich. Der Rat der Stadt Wien und der Bürgermeister verlangten vom Kaiser die völlige „Abschaffung“ der Juden. Bei einem „Judenrummel“ an den Ostertagen 1668 drang eine entfesselte Menschenmenge in das Ghetto ein, mißhandelte dessen Bewohner und plünderte die Häuser. Während die zerstörungswütigen Studenten nicht belangt wurden, mußten im Mai 1668 hundert Juden das Ghetto zur Strafe verlassen. Es lag einzig in der Macht des Kaisers, die Juden Wiens unter seinem Schutz zu dulden oder sie auszuweisen. Mitte 1669 gab Leopold I. schließlich dem Druck der Ausweisungsforderungen nach, und wie so oft betraf es zuerst die finanzschwachen Juden. Die Inquisitionskommission, zuständig für die Begründung der Vertreibung, war zu dem Schluß gekommen, die Juden seien „die größten Feinde und Widersacher des christlichen Volkes“. Die Hoffnungen der Juden, das Unglück abwenden zu können, wurden enttäuscht. Internationale Interventionen und finanzielle Angebote schlug der Kaiser aus. Unter seinem Vorsitz wurde beschlossen, daß die Juden Wien, Nieder- und Oberösterreich bis zum Fronleichnamsfest 1670 verlassen mußten und nicht mehr wiederkehren durften. Damit wurde

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eine der lebendigsten jüdischen Gemeinden, die als religiöses und geistiges, von Gelehrsamkeit geprägtes Zentrum galt, zerschlagen. Die Vertriebenen fanden Aufnahme in dem zu Ungarn gehörenden Burgenland, in Mähren und in Berlin. Noch heute erinnert eine lateinische Inschrift der katholischen Kirche in der Großen Pfarrgasse, bei der es sich um eine umfunktionierte Synagoge handelt, an die Vertreibung. Die Stadt Wien, der Grund und Gebäude übertragen wurden, sollte den Ausfall der Einnahmen aus diversen Mautgeldern, Steuern und des Toleranzgeldes abgelten. Doch die Gegend des ehemaligen Ghettos blieb verarmt, der Handel litt unter der Abwesenheit der Juden. Mit dem Auftauchen Samuel Oppenheimers in Wien begann eine neue Phase, die der Hofjuden. Angesichts des immer weiter steigenden Geldbedarfs der Herrscher übernahmen die Hofjuden wichtige ökonomische Funktionen bei der Finanzierung der Hofhaltung und des Heeres und bei der Versorgung der Truppen. Samuel Oppenheimer, der ab 1672 Österreich belieferte, war zuvor Armeelieferant des Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz gewesen. Sein Wirken in Wien war geprägt von Intrigen und gegen ihn gerichteten Verschwörungstheorien des katholischen Klerus. Wie gereizt die durch die Pestepedemie und die Türkenbelagerung von 1683 belastete Wiener Bevölkerung auf den inzwischen mächtig gewordenen Oppenheimer reagierte, zeigt ein Zwischenfall aus dem Jahr 1700. Ein belang loser Streit – zwei Diener des Hauses hatten sich über Schornsteinfeger lustig gemacht – führte zu wilden Auseinandersetzungen und der Plünderung des Hauses von Oppenheimer. Der Zwischenfall kostete mehreren Menschen das Leben. Im Gefolge Oppenheimers kam die zweite herausragende Persönlichkeit nach Wien, Samson Wertheimer. Im Gegensatz zu Oppenheimer begab er sich allerdings nicht in die alleinige Abhängigkeit des Hofes. Wertheimer fand in der österreichisch-jüdischen Geschichte auch deswegen Anerkennung, weil er sich für die Belange seiner Glaubensgenossen engagierte und berühmte Talmudgelehrte unterstützte. Er verhalf etwa den aus Wien Vertriebenen, die in burgenländisch-ungarischen Ortschaften ansässig gewordenen waren, zur Gründung eigener Gemeinden. Immerhin hatte er das Ehrenamt eines ungarischen Landesrabbiners inne und führte den Titel eines Rabbiners der Gemeinden Wien, Nikolsburg, Eisenstadt und Worms. Bekannt blieb seine erfolgreiche Intervention gegen die Veröffentlichung des mit antijüdischen Klischees gespickten Buches Entdecktes Judentum von Johann Andreas Eisenmenger im Jahr 1700. Trotz der Ansiedlung so bedeutender Persönlichkeiten wie Oppenheimer und Wertheimer blieb die allgemeine Rechtsunsicherheit für die Juden bestehen. Mit dem Ablaufen der Privilegien von Oppenheimer 1723 sollten die etwa 100 Juden, die unter seinem Privileg standen, ausgewiesen werden. Dasselbe galt für diejenigen, die unter dem 1735 auslaufenden Privileg von Samson Wertheimer standen. Anders als zuvor wurden die Hofjuden und ihr Anhang nicht mehr gezwungen, in einem Ghetto zu wohnen. Es gab jedoch Pläne, sie wieder zum Tragen eines Abzeichens und zur Konzentration auf bestimmte Wohnbezirke zu zwingen. Der letzte Punkt scheiterte allerdings am Unwillen der Wiener Hauseigentümer. Der Friede von Passarowitz im Jahr 1718 ermöglichte türkischen Staatsbürgern den freien Aufenthalt in Österreich. Mit ihnen kamen sefardische Juden nach Wien, die Osthan-

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del betrieben. Der Prominenteste von ihnen war Diego d’Aguilar, dem 1723 die Neuorganisation des Tabakmonopols aufgetragen wurde. Die Zahl der sefardischen Juden in Wien blieb allerdings immer gering. Anders als die Hofjuden durften sie bereits im ausgehenden 18. Jh. eine eigene Gemeinde bilden. Die Annahme der türkischen Staatsbürgerschaft war später eine der mühsamen Strategien, ihren Aufenthalt in Wien durch Tricks zu legalisieren. Trotz der Nähe zum Herrscherhaus, der Privilegien und des Reichtums blieb es den aschkenasischen Juden Wiens bis ins 19. Jh. untersagt, eine Synagoge zu errichten und eine Gemeinde zu bilden. Mit den Familien der Hofjuden waren deren Angehörige, Geschäftsfreunde und Angestellte nach Wien gekommen. Die Forderungen nach erneuter Ausweisung seitens der Wiener verstummten nicht und wurden oftmals zum Vorwand für hohe Steuerleistungen zur Abgeltung des Schutzes genommen. Die wiederholten Erlasse zur Ausweisung derjenigen Juden, die sich unberechtigt in Wien aufhielten, zeigen letztlich nur, daß sich in Wien, ebenso wie an anderen Orten, illegale Zuwanderer befanden. Entscheidungen über die Judenpolitik wurden im Kraftfeld von Hof, Hofkammer, Bürgerschaft und Klerus getroffen. Die Abneigung gegenüber den Juden waren bei Karl VI. und seiner Tochter Maria Theresia offensichtlich. In einer berüchtigten Aktennotiz manifestierte sich die Abneigung der Kaiserin gegen die Juden: Ich kenne keine ärgere Pest von Staatt als diese Nation, wegen Betrug, Wucher und Geldvertragen, Leüt in Bettelstand zu bringen, alle üble Handlungen ausüben, die ein anderer ehrlicher Man verabscheuete; mithin sie, sovill sein kann, von hier abzuhalten und zu vermindern.3

Audienzen von Juden nahm die Kaiserin nur von einem Paravent verdeckt ab. Ihre Politik zielte daraufhin ab, einen weiteren Zuzug zu verhindern. 1752 ergab eine Zählung der Juden Wiens, daß sich 452 Personen unter der Aufsicht von zwölf Familien in der Stadt aufhielten. Bezüglich der Verbannung der Juden bildete das in Vorarlberg liegende Hohenems eine Ausnahme. Die Juden erhielten 1617 von Reichsgraf Kaspar einen Schutzbrief, dem allgemein ein toleranter Geist zugesprochen wird, denn sie wurden nicht gezwungen, in einem Ghetto zu wohnen oder ein Judenabzeichen zu tragen. Allerdings wurde der Schutz bald aufgehoben, die Lage der Juden verschlechterte sich, und 1676 wurden sie aus Hohenems ausgewiesen. Als man 1688 die Ansiedlung von zehn Familien wieder zuließ, mußten diese konzentriert in einem Viertel wohnen. Trotz erneuter Ausweisungsdrohungen konnten die Juden in Hohenems bleiben. Nach dem Tod des letzten Emser Reichsgrafen erwarben die Habsburger die Reichsgrafschaft, und Maria Theresia ergänzte den Schutzbrief durch neue Restriktionen: Nur Erstgeborene durften Familien gründen, der Erwerb von Immobilien wurde den Hohenemser Juden verboten. In den Wirren der Napoleonischen Kriege kam die Stadt kurze Zeit zu Bayern und profitierte von den liberaleren Gesetzen bezüglich des Ankaufs von Immobilien. Andererseits begrenzte die bayerische Regierung die „Normalzahl“ jüdischer Familien in Hohenems auf 90. Wie an vielen Orten, an denen Juden überhaupt wohnen durften, blieb die rechtliche Situation bis 1849 voller Widersprüche. 3

Zitiert nach: Hans Tietze, Die Juden Wiens, Wien 1933, ND Wien 1987, S. 99.

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Aufklärung und Toleranz Das von Joseph II. vertretene Prinzip des aufgeklärten Absolutismus brachte eine entscheidende Trendwende mit sich. War die Beziehung des Herrscherhauses zu den Juden bis dahin vor allem fiskalisch bestimmt gewesen, setzte sich nun eine physiokratische Haltung durch. Die Juden sollten durch Reformen in ökonomischer Hinsicht dem Staat nützlich werden und sich dem übergeordneten Ziel unterordnen, nämlich ein starkes, geeintes, zentralistisches, unter Hegemonie der Deutschen stehendes Reich zu schaffen. Mit der Annexion Galiziens waren mehr als 200 000 Juden einverleibt worden. Die Zuwanderung armer Juden aus dieser Region in die Alpenländer und insbesondere nach Wien sollte ebenfalls mit den Mitteln der Toleranzpolitik verhindert werden. Die Toleranzpolitik regelte erstmals verbindlich, unter welchen Kriterien ein Aufenthalt von Juden in Wien überhaupt möglich war. Sie räumte jedoch keineswegs mit allen schikanösen Einschränkungen auf. Viele Repressalien blieben. So wurde der Schutz nicht auf die Kinder der Tolerierten übertragen, und den Juden Wiens war es weiterhin untersagt, eine Gemeinde zu gründen. Zu den Errungenschaften der Toleranzpolitik gehörte dagegen die Möglichkeit, an der Universität zu studieren. 1789 konnte der erste jüdische Mediziner in Wien promovieren. Die Hürden für eine Zuwanderung von Juden nach Wien blieben bis 1848 bestehen. So stieg zwar die Zahl von 33 jüdischen Familien im Jahre 1782, als das Toleranzpatent erlassen wurde, auf 72 im Jahr 1790 an. Doch zeigt die Tatsache, daß sich 1847 lediglich 197 tolerierte Familien in Wien aufhielten, wie restriktiv die Maßnahmen weiterhin blieben. Fremde Juden, die in Wien Geschäfte trieben, wurden nach Abschaffung der Leibmaut bis 1848 durch ein sogenanntes Judenamt drangsaliert. Die geadelten Familien Eskeles und Arnstein leiteten gemeinsam das führende Bankhaus von Wien. Der Salon der Fanny von Arnstein (1758–1818), der „Königin der Wiener Gesellschaft“, im Stadtpalais am Hohen Markt erlebte seinen Höhepunkt zur Zeit des Wiener Kongresses. Fanny Arnstein war die Tochter des Berliner Bankiers Daniel Itzig und mit Nathan Adam Freiherr von Arnstein verheiratet. Ihr Salon, der von Juden wie von Nichtjuden frequentiert wurde, macht symbolisch deutlich, daß die Schranken zwischen beiden Gruppen im sozialen Leben Wiens zu fallen begannen. In einem Gutachten der Hofkanzlei aus dem Jahr 1833 hieß es, daß die Juden in Wien aufgehört hätten, sich wie früher zu isolieren, und die Christen gleichfalls ihre Abneigung gegen die Juden größtenteils aufgegeben hätten. Der hohe soziale Status der jüdischen Familien Wiens spiegelte sich in der Nobilitierung. 1821 lebten bereits neun geadelte jüdische Familien in Wien. Der eher konservative Moritz Güdemann (1835–1918), der 1867 Rabbiner und 1894 Oberrabbiner in Wien wurde, beschrieb in seinen Erinnerungen, welch hohes Ansehen die Wiener Juden im Ausland und im Breslauer Seminar genossen: Die Wiener Judengemeinde […] genoß den Ruhm großer Vornehmheit, Wohlhabenheit, Wohltätigkeit und einer wohlgeordneten religiösen Einrichtung. Das meiste […] trugen zum Ansehen der Wiener Judengemeinde die zahlreichen begüterten Juden bei, die von ihrem Reichtum den besten

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Gebrauch machten, Künste und Wissenschaften unterstützten, Wohltätigkeitsinstitute begründeten und erhielten.4

Ein Problem stellte es dar, daß viele Kinder der jüdischen Geadelten – so Güdemann – „ihren verblassenden Namen durch Taufwasser aufzufrischen“ versuchten und zum Christentum übertraten. Den aschkenasischen Juden von Wien gelang es erst im Vormärz, eine Synagoge zu errichten. Das im klassizistischen Stil erbaute Gotteshaus in der Seitenstettengasse wurde 1826 eingeweiht, und es bildet auch in der Gegenwart noch immer das Zentrum des Wiener jüdischen Lebens. Mit dem aus Dänemark stammenden Rabbiner Isaak Noah Mannheimer (1793–1865) prägte ein reformorientierter Rabbiner das religiöse Leben jener Zeit. Er durfte sich der Gesetze wegen nicht als Rabbiner bezeichnen und war offiziell als Lehrer angestellt. Die unter ihm entwickelte Gottesdienstordnung, der Versuch eines Kompromisses zwischen der Tradition und den Anforderungen der neuen Zeit, erhielt den Namen „Wiener Ritus“. Ihm zur Seite stand der aus Hohenems stammende, ebenfalls reformfreudige Kantor Salomon Sulzer (1804–1890), dessen Können und Schaffen weit über die jüdische Religionsgemeinschaft hinausging. Neben der offiziellen Tolerierung, von der nur eine kleine Zahl jüdischer Familien Gebrauch machen konnte, gab es bis 1848 für Juden noch mehrere andere Möglichkeiten, ihren Aufenthalt in Wien zu legalisieren. So konnten sie sich darum bemühen, den auf zwei Jahre beschränkten Regierungsschutz zu erhalten. Außerdem konnten sie versuchen, als „Angehörige“ oder „Bedienstete“ auf die sogenannten Familienlisten der Tolerierten zu gelangen und auf diese Weise mit fingierten Angaben in Wien zu leben. Fremde Juden konnten sich mit einem auf maximal 14 Tage befristeten Aufenthaltsschein legal in der Stadt aufhalten. Wer auf diese Weise länger in Wien leben wollte, mußte vor Ablauf der Frist die von einem Linienwall umgebene Stadt kurz verlassen, um mit einem erneut ausgestellt Schein wieder in die Stadt zurückzukehren. Diese Tätigkeit nannten die Wiener Juden damals „sich kaschern gehen“. Die tolerierten Juden Wiens hingegen hatten volle Wohnfreiheit und sogar das Recht, einen Degen zu tragen. Im Zeitalter der Emanzipation In der Zeit der Restauration war an eine politische Betätigung innerhalb des Landes nicht zu denken, so daß die kulturellen Leistungen eines Salomon Sulzers sicher auch einen Ersatz für gesellschaftliche Integration darstellten. Die Möglichkeit, am politischen Geschehen der revolutionären Bewegung 1848 aktiv teilzunehmen, sahen viele Juden als einzigartige Chance, um aus der Beklemmung des Biedermeiers und der restriktiven Gesetze auszubrechen. Der jüdische Arzt Adolf Fischhof (1816–1893) nahm an der Spitze der revolutionären Bewegung, die Pressefreiheit und den Sturz des autoritären Regimes forderte, teil. 4 Moritz Güdemann, Mein Leben (Typoskript im Archiv des Leo Baeck Institute, New York), Wien 1899–1918, S. 129.

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Unter den ersten Toten der Auseinandersetzung befanden sich auch zwei Juden. Als Ausdruck der bereits vorangeschrittenen Integration kann die von einem protestantischen, einem katholischen und einem jüdischen Geistlichen gemeinsam geleitete Beerdigung interpretiert werden. Berühmt wurden die beeindruckenden Worte Isaak Noah Mannheimers: Sie haben gekämpft für Euch, geblutet für Euch! Sie ruhen in Eurer Erde! Vergönnt nun aber auch denen, die den gleichen Kampf gekämpft und den schwereren, daß sie mit Euch leben auf einer Erde, frei und unbekümmert wie ihr. […] Nehmet auch uns auf als freie Männer, und Gottes Segen über Euch!5

Auf die Forderungen nach Gleichberechtigung der Juden reagierten reaktionäre und konservativ-klerikale Kräfte jedoch mit heftigen verbalen Attacken in ihren Flugschriften. In den Kronländern, in denen sich Juden seit dem Mittelalter bzw. nach der Vertreibung im 17. Jh. nicht ansiedeln durften, brachten die revolutionären Ereignisse von 1848 nur zum Teil eine Erleichterung. Die Märzverfassung des Jahres 1849 sah die Gleichstellung der Juden vor. Es hieß darin, daß jedem die volle Glaubensfreiheit gewährleistet und der Genuß der bürgerlichen und politischen Rechte vom Religionsbekenntnis unabhängig sei. Doch diese Verfassung wurde zwei Jahre später wiederaufgehoben, so daß das Ansiedlungsverbot vorerst kaum gelockert wurde. Der Grunderwerb blieb, so eine Verordnung von 1853, bis zu einer reichseinheitlichen Regelung untersagt. Einer der Fortschritte war die offizielle Gründung der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde, deren Statuten 1852 provisorisch genehmigt wurden. In der Alpenländern, die den Juden trotz der Toleranzpatente in der ersten Hälfte des 19. Jhs. weiterhin verschlossen geblieben waren, begann sich die Lage nun zu verändern. Vereinzelt mögen zwar Hausierer schon vor 1848 ihren Lebensschwerpunkt in einem der Alpenländer gewählt haben, doch der Aufbau jüdischer Gemeinden auf dem Lande war undenkbar. Ein Beispiel aus Niederösterreich: In Wiener Neustadt lebten 1708 bereits 535 Juden, doch 1713 wurden sie infolge der Pest ausgewiesen. Erst 1719 durften sie sich tagsüber wieder in der Stadt aufhalten, d.h., sie betrieben die Geschäfte von ihrem Wohnort im nahe gelegenen Ungarn aus. 1848 siedelten sich Juden wieder in Wiener Neustadt an, und 1871 wurden die Statuten zur Bildung der Israelitischen Kultusgemeinde von Wiener Neustadt genehmigt. Über einen eigenen Friedhof verfügten sie allerdings erst seit 1889. Die Fertigstellung der Synagoge im maurischen Stil im Jahre 1902 krönte die Ambitionen der jungen Gemeinde. Die Übernahme des als liberal geltenden „Wiener Ritus“ löste allerdings einen internen Streit aus, weswegen die Traditionalisten ihre Gottesdienste weiterhin in einem privaten Bethaus abhielten. Auch nach 1848 behinderten die lokalen Behörden die Entstehung eines jüdischen Gemeindelebens in Orten, in denen Juden nun geduldet wurden. So mußten die Juden, die sich in Linz niederließen, ihre Toten auf weit entlegenen Friedhöfen beerdigen. Erst 1863 5 Zitiert nach: Wolfgang Häusler, Die Revolution von 1848 und die österreichischen Juden. Eine Dokumentation, in: Studia Judaica Austriaca 1 (1974), S. 40f.

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konnten sie den Widerstand katholischer Kreise brechen und einen „israelitischen Friedhof“ anlegen. In der Steiermark dauerte die Verbannung der Juden seit 1496 an. Erst der Josephinismus ermöglichte Juden den Besuch des Grazer Jahrmarktes, der zweimal pro Jahr für die Dauer von 3–4 Wochen abgehalten wurde. Ansonsten durften sich durchreisende Juden z. B. in Graz höchsten 24 Stunden aufhalten. Trotz vereinzelter Widerstände gelang nach 1848 eine allmähliche Ansiedlung, die rasch zum Aufbau einer jüdischen Gemeinde führte. 1861 eröffnete die erste rituell geführte Gastwirtschaft, seit 1862 wurden Gottesdienste zelebriert, und 1864 konnten die Juden von Graz ihre Toten auf einem zu diesem Zweck angekauften Grundstück bestatten. Im selben Jahr eröffneten sie eine „Israelitische Privat-Volksschule“, die bis zum Nationalsozialismus ein Brennpunkt des lokalen jüdischen Lebens und der jüdischen Erziehung blieb. Im Jahr darauf konnte die Synagoge eingeweiht werden. Den Initiativen der jüdischen Pioniere jener Zeit war es wohl zu verdanken, daß Graz zur zweitwichtigsten jüdischen Gemeinde Innerösterreichs heranreifte. Von der Gewährung der Gleichberechtigung 1867 erhofften sich die österreichischen Juden zu Recht ein Ende der Demütigungen. Die letzten gesetzlich bedingten Barrieren fielen, und die Möglichkeiten der Mobilität innerhalb der Monarchie waren endlich grenzenlos. Doch in denjenigen Ländern und Orten, die selbst zwischen 1848 und 1867 keine Juden geduldet hatten, empfing man Neuankömmlinge nicht besonders freundlich: Albert Pollak war der Sohn einer religiösen Familie im ungarischen, heute burgenländischen Mattersburg. Er absolvierte zwar seit 1856 den Militärdienst in Salzburg, doch ein Anrecht, in diesem Ort zu wohnen, hatte er zu jener Zeit noch nicht. Als er 1862 in das Zivilleben zurückkehren und in Salzburg ein Geschäft eröffnen wollte, soll ihm der Bürgermeister entgegnet haben: „Wissen Sie denn nicht, daß ein Jude in Salzburg eigentlich nicht einmal übernachten darf? Ihre Niederlassung kann nicht geduldet werden.“ Fünf Jahre danach eröffnete Pollak ein später äußerst erfolgreiches Antiquitätengeschäft. Noch jetzt meinte man ihm sagen zu müssen: „Sie sind der erste, aber auch der einzige und letzte Jude in Salzburg.“ Albert Pollak paßte sich in seiner Lebensweise und Kleidung seiner Umgebung an, bemühte sich aber zugleich, den Aufbau einer jüdischen Gemeinde zu unterstützen. Wie in vielen anderen österreichischen Provinzorten, die den Juden jahrhundertelang versperrt geblieben waren, war der Zuzug nur geringfügig. Ein Charakteristikum der Zuwanderung war das Funktionieren von Familiennetzwerken, innerhalb deren erfolgreich aufgebaute Unternehmen zuerst den Verwandten Arbeitsmöglichkeiten boten. Für Kärnten läßt sich im Zeitraum von 1890 bis 1910 bei 83 Personen die Herkunftsregion bestimmen: 29 kamen aus Böhmen und Mähren, 26 aus Galizien bzw. der Bukowina, 26 aus dem damaligen Ungarn, und jeweils eine Person stammte aus Wien und Triest. Die Heterogenität der kulturellen und religiösen Praktiken der jüdischen Bevölkerung spiegelte sich somit selbst in kleinen Gemeinden wider. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung in den sogenannten Alpenländern blieb gering. Abgesehen von Wien und dem umgebenden Niederösterreich erreichte die jüdische Bevölkerung in dem halben Jahrhundert bis zum Niedergang der Habsburgermonarchie in keinem der Alpenländer einen Bevölke-

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rungsanteil, der über 0,2% lag. Die Volkszählung des Jahres 1910 vermerkte lediglich 341 Juden in Kärnten, 285 im Land Salzburg und nur 126 in Vorarlberg. Allein in Niederösterreich erreichte der Bevölkerungsanteil der Juden 0,6%. Dies waren 9461 Personen. Trotz ihrer geringen Zahl waren den Neuankömmlingen der Aufbau einer eigenen jüdischen Kultusgemeinde, der Bau einer Synagoge und die Entfaltung einer Infrastruktur für das Funktionieren eines jüdischen Lebens wichtige Anliegen. In Klagenfurt und Salzburg gerieten sie dabei in Konflikt mit jenen jüdischen Gemeinden, denen sie administrativ zugeordnet wurden. Klagenfurt versuchte sich vergeblich von der Grazer Kultusgemeinde zu lösen und erreichte erst 1922 einen unabhängigen Status. Salzburg gelang die Loslösung von der Linzer Kultusgemeinde bereits 1911. Die Juden in Tirol mußten sich erst von der traditionell in Hohenems wirkenden Gemeinde abkoppeln und bildeten 1913 eine eigenständige Kultusgemeinde. Die Distanz und Ablehnung seitens der nichtjüdischen Bevölkerung machten für viele Juden das Leben in den Alpenländern äußerst beschwerlich. Der ehemalige Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde von Linz, Karl Schwager, schrieb über die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, daß die Juden in Linz trotz Gleichberechtigung und Anerkennung „als soziales Element eine abgesonderte Gemeinschaft bildeten, was vielleicht damals niemandem so richtig zu Bewußtsein gekommen ist“.6 Der Hauptstrom der Migration richtete sich bis zum Ende der Monarchie auf die Kaiserstadt. Nachdem 1848 die Barrieren für die Ansiedlung gefallen waren, strahlte der attraktive „Magnet“ Wien auf alle Teile der Monarchie aus. Zuerst kamen Juden aus den näher und an den Eisenbahnlinien gelegenen Teilen Mährens und Ungarns, vor allem aus der Slowakei. Die jüdischen Gemeinden von Nikolsburg und Preßburg wurden besonders oft als Geburtsorte genannt. Noch 1880 waren über zwei Drittel der Wiener Juden nicht in Wien geboren. Mehr als ein Viertel stammte damals aus Ungarn, zu dem auch die Slowakei gehörte, ca. ein Fünftel aus Böhmen und Mähren. Erst danach holte die Zuwanderung aus Galizien auf. Wenn für den Gesamtbereich der Monarchie von einer Urbanisierung der jüdischen Bevölkerung gesprochen werden kann, dann ist ein weiteres Charakteristikum die „Metropolisierung“, ein Phänomen, das sich an der ausgeprägten Zuwanderung in die beiden Hauptstädte der Doppelmonarchie, Wien und Budapest, beobachten läßt. Auch im vorarlbergischen Hohenems wirkte sich die Freizügigkeit massiv aus. Die jüdische Bevölkerung nahm seit der Mitte des 19. Jhs. dramatisch ab, und das obwohl Hohenems zwischen 1849 und 1879 – ganz gegen den Trend der Zeit – eine autonome Judengemeinde bildete. Lebten zwischen 1800 und 1860 durchschnittlich ca. 500 Juden in Hohenems, sank die Zahl bis 1910 auf 66 Personen ab. 1913 mußte sogar die israelitische Privatschule des Ortes schließen. Wiens Gesamtbevölkerung vervierfachte sich im Zeitraum von 1848 bis 1910, und mit über 2 Millionen Einwohnern gehörte die Haupt- und Residenzstadt nach der Jahrhun6 Karl Schwager, Geschichte der Juden in Linz, in: Hugo Gold, Geschichte der Juden in Österreich, Tel Aviv 1971, S. 57.

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dertwende zu den größten Städten jener Zeit. Wie viele Juden während der Revolution 1848 tatsächlich in Wien lebten, bleibt unklar. Die Schätzungen reichen von 3000 bis 12 000, wobei die untere Zahl wohl eher realistisch sein dürfte. Bis zur Volkszählung im Jahr 1910 stieg die Zahl der in Wien lebenden Personen mit jüdischem Religionsbekenntnis auf 175318 an, das entsprach einem Bevölkerungsanteil von 8,6%. Der Bevölkerungsanstieg beruhte vor allem auf der Zuwanderung, aber auch auf dem Geburtenüberschuß, zwei Faktoren, die erst am Ende des Zeitraums von der ansteigenden Austrittsquote der „Taufmaschine Wien“ beeinträchtigt wurden. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jhs. verlor die jüdische Religionsgemeinschaft in Wien bereits durchschnittlich 580 Personen pro Jahr durch Austritte. Bezogen auf das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden schienen sich die Hoffnungen, die mit der liberalen Idee der Gleichberechtigung verknüpft worden waren, anfangs zu erfüllen. Für kurze Zeit entspannte sich die Situation so weit, daß es tatsächlich den Anschein hatte, es sei lediglich Privatsache, der jüdischen Religion anzugehören. Die späteren Protagonisten des konservativen und rassistischen Antisemitismus, Karl Lueger und Georg Ritter von Schönerer, scheuten sich noch nicht, ihre politischen Anliegen gemeinsam mit jüdischen Politikern zu vertreten. Die „Große Depression“ und der von Berlin ausgehende Impuls des modernen Antisemitismus, gepaart mit der Dynamik des Nationalitätenkonflikts, brachten seit den achtziger Jahren jedoch eine beängstigende antijüdische Stimmung zutage, mit der niemand gerechnet hatte. Dies wirkte wie ein Rückfall in die finstere Zeit des Mittelalters, um so mehr, als 1882 sogar die Ritualmordgerüchte aus dem ungarischen Tiszaeszlár Gehör fanden. Der in einem galizischen Wahlkreis in den Reichsrat gewählte, doch in einem Vorort von Wien wirkende Rabbiner Josef Samuel Bloch (1850–1923) schreckte die moderaten, liberal gesinnten Juden Wiens auf, indem er die Antisemiten direkt attackierte. Auch der vor allem von Nichtjuden getragene „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“, dem Bertha von Suttner und der Walzerkönig Johann Strauß angehörten, stellte sich dem Kampf gegen die Verbreitung der Vorurteile. Der Siegeszug der als Antisemiten antretenden deutschnationalen und christlichsozialen Gruppen unter dem Juristen Dr. Karl Lueger und ihr beängstigender Wahlerfolg bei den Wiener Kommunalwahlen 1895 machte sie ratlos. Für die jüdische Bevölkerung war dieses Ergebnis ein Schock und ein unerklärbarer Kulturbruch. Und trotzdem dürfte der Gewöhnungseffekt – die Christlichsozialen stellten von 1895 bis 1919 den Wiener Bürgermeister – rasch eingetreten sein. Allein die zweimalige Ablehnung der Wahl Luegers zum Bürgermeister von Wien durch Kaiser Franz Joseph I. (1830–1916, Kaiser seit 1848) konnte als Signal verstanden werden, daß die in der Verfassung zugesicherte Emanzipation trotz des verbal aggressiven Antisemitismus unangetastet bleiben werde. Als wolle man sich gegenseitig vergewissern, daß die in der Gruppe des anderen vermutete Gefahr nicht so bedrohlich sei wie befürchtet, kam es immer wieder zu Beziehungen zwischen Juden und Antisemiten. Lueger war darin der Prototyp der demagogischen österreichischen Antisemiten. Arthur Schnitzler reflektierte zum Phänomen Lueger in seiner Autobiographie Jugend in Wien:

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Es gab und gibt Leute, die es ihm zum Vorzug anrechnen, daß er auch in seiner stärksten Antisemitenzeit persönlich für viele Juden eine gewisse Vorliebe beibehalten und daraus gar kein Hehl gemacht hatte: Mir galt gerade das immer als der stärkste Beweis seiner moralischen Fragwürdigkeit.7

Die schlimmste Wirkung hatte der Erfolg des Antisemitismus auf die zukünftige Entwicklung. Es war die Zeit der Jugend von Adolf Hitler, der dem Auftreten von Schönerer und Lueger in Mein Kampf breiten Raum widmen sollte. Der Erfolg des Deutschnationalismus mit seinem rassistischen Antisemitismus unter den in Ausbildung befindlichen Eliten an den Universitäten wirkte sich ebenfalls katastrophal aus. Dem Antisemitismus gelang auch, was durch die Gesetzeslage überwunden schien: der Aufbau neuer Barrieren und eine Dissimilation im täglichen Leben. Nur wenige Nischen des Zusammentreffens blieben im positiven Sinne offene Bereiche. Die Kultur war eine davon. Stefan Zweig wurde zu einem bedeutenden Chronisten jener Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, die er in seiner Autobiographie Die Welt von gestern verklärend als das „goldene Zeitalter der Sicherheit“ charakterisierte. Wir jungen Menschen aber, völlig eingesponnen in unsere literarischen Ambitionen, merkten wenig von diesen gefährlichen Veränderungen in unserer Heimat: Wir blickten nur auf Bücher und Bilder.8

Für die Juden Wiens verengte sich der Bewegungsspielraum auf politischer Ebene. Mit dem unaufhaltsamen Niedergang der liberalen Parteien verloren sie eine konservative Option, denn die Deutschnationalen und Konservativen verschlossen sich ihnen gegenüber. Lediglich die aufstrebende Sozialdemokratie blieb offen. Mit ihrer antireligiösen und assimilatorischen Diktion konnten die Sozialdemokraten allerdings nur jene erreichen, die sich von der religiösen Bindung gelöst hatten. Die führende Persönlichkeit der österreichischen Sozialdemokratie war Viktor Adler (1852–1918), ein Arzt und Politiker jüdischer Herkunft, der mit dem utopischen Anspruch angetreten war, mit dem Sozialismus den Antisemitismus zu überwinden. Der Erfolg des Antisemitismus war auch für Adler eine bittere Ernüchterung, die ihm 1898 zu der Formulierung führte: „Der letzte Antisemit wird erst mit dem letzten Juden sterben.“ Auf der Suche nach Lösungen im heftig wütenden Nationalitätenstreit hoffte eine Minderheit national gesinnter Juden, die Anerkennung der Juden als Nation innerhalb des Vielvölkerstaates sei ein gangbarer Weg. Nach geltendem Recht besaßen die Juden jedoch nur den Status einer anerkannten Religionsgemeinschaft. Unruhe in die durch den Antisemitismus nahezu lahmgelegte Wiener jüdische Gesellschaft brachte der Vordenker des Zionismus, Theodor Herzl (1860–1904). Seine Utopie verlieh der Diskussion um die nationale Identität der Juden in Österreich eine neue Note. Herzl nahm die Idee des Anspruches auf ein eigenes, geschlossenes Territorium für das jüdische Volk in sein Programm auf. In seiner Utopie des Judenstaates manifestierten sich viele Facetten der assimilierten Wiener jüdischen Kultur. Der Angriff Herzls gegen das Jiddische als Ghettosprache war typisch für die 7 8

Arthur Schnitzler, Jugend in Wien. Eine Autobiographie, Frankfurt a.M. 1981, S. 142. Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a.M. 1970, S. 84.

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oftmals heftige Ablehnung, die die bereits angepaßten oder aus nichtjiddischen Sprachregionen stammenden Juden dem als minderwertig beurteilten Jiddisch entgegenbrachten. Damit verband sich auch die Ablehnung jener Menschen, die unter dem Begriff „Ostjuden“ subsumiert wurden. Die obligatorischen Gesamtausgaben von Goethe oder Schiller zur Bar Mizwa waren sinnbildlicher Ausdruck dieser Lebensform, in der die deutsche Kultur als hochwertig und wertvoll empfundenen wurde. Noch blieb die Wiener Kultusgemeinde von einer liberal und patriotisch orientierten Fraktion dominiert, die Zionisten konnten sich erst in der Ersten Republik durchsetzen. Im Ersten Weltkrieg wirkte sich der überdurchschnittlich hohe Bildungsgrad der jüdischen männlichen Bevölkerung aus. Da viele jüdische Absolventen von Mittelschulen die Ausbildung zu Reserveoffizieren absolviert hatten, rückten sie im Kriegsverlauf nach den massiven Anfangsverlusten in wichtige Positionen vor. Von den ca. 300000 jüdischen Soldaten, die auf seiten der k. k. Armee am Ersten Weltkrieg teilnahmen, hatten 25000 einen Offiziersrang. Die Offensiven russischer Truppen im Osten der Monarchie lösten eine enorme Fluchtbewegung von Juden in Galizien und der Bukowina aus, die im Landesinneren Schutz suchten. Im Mai 1917 befanden sich z. B. 40 637 mittellose jüdische Flüchtlinge in Wien. Während die Zensur anfangs die Gehässigkeiten gegen die Flüchtlinge unterdrückte, begann 1917 eine fortdauernde verbale Hetzjagd der antisemitischen Kreise gegen die „Ostjuden“, die nun verstärkt zur Projektionsfläche allen Übels wurden. Der vom Nationalitätenkampf geprägte österreichische Antisemitismus, nun aggressiv verstärkt durch die Verrohung im Ersten Weltkrieg, gehörte zur Konkursmasse, die von der Ersten Österreichischen Republik übernommen werden mußte. Nach Meinung des Schriftstellers Franz Theodor Csokor (1885–1969) kämpften allein die Juden im Ersten Weltkrieg als wahre Österreicher. Schon aus Gründen ihrer weitverzweigten familiären und ökonomischen Beziehungen hatten sie ein legitimes Interesse am Fortbestand des Staatsgefüges der Habsburgermonarchie.

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Österreich nach 1918 1918–1938 Das Ende des Ersten Weltkrieges und der Zusammenbruch des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn hinterließ im Reststaat der Ersten Österreichischen Republik eine exponierte jüdische Minderheit in einem mehrheitlich deutschsprachigen und katholischen Land. Die Trennung von den bisherigen Herkunftsgebieten, vor allem Galizien, Ungarn, Böhmen und Mähren, hatte auch soziale Konsequenzen. Mehr als 90% der österreichischen Juden lebten nun in der Hauptstadt Wien und von ihnen waren wiederum mehr als 60% in anderen Ländern als der Republik Österreich geboren worden. Lediglich jener von Ungarn abgetretene Teil Westungarns, der den Namen Burgenland annahm, konnte auf die weit zurückreichende Tradition einer friedlichen Koexistenz von mehrheitlich orthodoxen Juden mit der nichtjüdischen Bevölkerung verweisen. Abgesehen von Enklaven wie dem vorarlbergischen Hohenems hatten ansonsten bis ins 19. Jh. in den übrigen Provinzen Ansiedlungsverbote für Juden gegolten. Lediglich die nach 1848 enorm angewachsene jüdische Gemeinde Wiens hatte mit ihrem Anteil von ca. 10% an der Gesamtbevölkerung eine auch politisch relevante Dimension erreicht. Mit dem Verlust der Kronländer fiel das frühere Reservat der Zuwanderung weg. Da in den Provinzen der jungen Republik nur wenige Juden lebten, litt die in ihrer Zahl abnehmende Wiener Gemeinde unter der ausbleibenden Zuwanderung und der allmählich einsetzenden Überalterung. Einen letzten Zustrom hatte sie von Flüchtlingen aus Galizien und der Bukowina im Ersten Weltkrieg erhalten, von denen ca. 25 000 in Wien blieben. Sie waren in den politisch brisanten Nachkriegsjahren Zielscheibe der Antisemiten aller Couleurs. Selbst die Sozialdemokratie kam der xenophoben Stimmung entgegen und forderte die ostjüdischen Flüchtlinge wiederholt zum Verlassen Österreichs auf. Der Antisemitismus konnte in Österreich bereits auf eine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte zurückblicken. Obwohl in der Ersten Republik das allgemeine Wahlrecht die Hegemonie der antisemitischen Christlich-Sozialen in Wien brach und mit der sozialdemokratischen Stadtregierung die Ära des „Roten Wien“ ermöglichte, konnten die Antisemiten auf Bundesebene ab 1919 die Regierungen in Koalitionen von Christlich-Sozialen und diversen deutschnationalen Parteigruppierungen majorisieren. Abgesehen von ihrem Kampf gegen das „Rote“ und das „Jüdische Wien“ ballte sich fast die gesamte deutschnationale Energie des in der Monarchie wütenden Nationalitätenkampfes gegen die Juden innerhalb der Landesgrenzen. Besonders die in den Landeshauptstädten und Landgemeinden lebenden Juden bekamen dies zu spüren. In Wien, wo knapp zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung in aneinander angrenzenden Bezirken lebten (Innere Stadt, Leopoldstadt, Brigittenau

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Albert Lichtblau

und Alsergrund), gewährte dieses kompakte Zusammenleben hingegen Schutz gegenüber einer feindlich gesinnten Umwelt. Andererseits war es kaum möglich, der antijüdischen Stimmung zu entrinnen. Häufig sind Berichte von Übergriffen in den Schulen überliefert, und nach wie vor blieb der katholische Antijudaismus mit seinem Bild von den uneinsichtigen Juden und den Juden als „Christus-Mördern“ ein maßgeblicher Faktor für die antisemitische Sozialisation. Berüchtigt waren die tätlichen antisemitischen Ausschreitungen an den Universitäten, die auch deswegen gewalttätig eskalierten, weil der Polizei der Zutritt zum Universitätsgelände untersagt war. Erschreckend nahm die Gewaltbereitschaft der Antisemiten zu: Der Journalist und Autor des Romanes Stadt ohne Juden, Hugo Bettauer, starb im März 1925 an den Folgen eines Attentates. Nur wenige Bereiche des öffentlichen Lebens blieben von der Gehässigkeit des Antisemitismus verschont. Nach wie vor zehrte Österreich von der außerordentlichen Kreativität jüdischer Kulturschaffender, von denen freilich viele zur jüdischen Religion in Distanz standen. Dies gilt für den Bereich der Wissenschaft, der Hochkultur – man denke etwa an die Literaten Stefan Zweig, Franz Werfel, Karl Kraus, Arthur Schnitzler und Richard Beer-Hofmann – und ebenso für jenen der Unterhaltungskultur, etwa mit Hermann Leopoldi in Kabarett und Wienerlied. Das soziale jüdische Leben hatte im damaligen Österreich, vor allem in Wien, einen regen Aufschwung zu verzeichnen, und es wurden unzählige Vereine neu gegründet. Die publikumswirksamsten Erfolge erzielte der Sportklub Hakoah, dessen mit einem Davidstern antretende Sportler in etlichen Sparten, etwa dem Ringen und Schwimmen, öster reichische Meistertitel erzielten. Legendär wurde Hakoah vor allem durch den Gewinn der österreichischen Fußballmeisterschaft in der Spielsaison 1924/25. Hakoah war einer der vielen Versuche, das Selbstbewußtsein der jüdischen Jugend zu heben und dem Klischee von den körperlich schwachen Juden zu begegnen. Mit der Eröffnung eines jüdischen Privatgymnasiums 1919, das später den Namen Chajes-Realgymnasium erhielt und auch heute wieder besteht, gelang es, eine wichtige Institution für die Heranbildung der jüdischen Jugend zu installieren. Das Gemeindeleben blühte einerseits auf, andererseits war es vom Zerfall in einzelne Fraktionen und Richtungen gekennzeichnet. Da die österreichische Gesetzgebung die Juden einer Region jeweils in einer Kultusgemeinde zusammenfaßte, mußte diese die Spannungen zwischen Orthodoxie, Chassiden, Reformorientierten und Säkularen aushalten. Lediglich die kleine sephardische Gemeinde konnte einen quasi-autonomen Status für sich in Anspruch nehmen. Mit dem ab 1918 eingesetzten Oberrabbiner Zwi Perez Chajes (1876–1927) fand die Wiener Kultusgemeinde einen allgemein anerkannten Gelehrten, der auch innerhalb der internationalen zionistischen Bewegung hohes Ansehen genoß. Die Orthodoxen rund um die Schiffschul und die Agudas Jisroel versuchten dem ungarischen Vorbild zu folgen und die Klammer der Kultusgemeinde zu sprengen, allerdings ohne Erfolg. Lediglich im Burgenland bestanden die noch in ungarischer Zeit gegründeten orthodoxen und neologischen Gemeinden fort. Niederösterreich hatte mit 15 die größte Zahl an „Israelitischen Kultus-

Österreich nach 1918

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gemeinden“, gefolgt vom Burgenland mit zehn und Oberösterreich mit zwei. In allen anderen Ländern bestand jeweils nur eine Kultusgemeinde. Politisch wurde das jüdische Gemeindeleben anfangs von der liberalen Fraktion der „Union deutsch-österreichischer Juden“ bestimmt. Damit lebte der Liberalismus in einem kleinen gesellschaftlichen Segment fort, während er auf allgemein-politischer Ebene bereits mit dem Entstehen der Republik in die Bedeutungslosigkeit herabsank. Erst die Wiener Kultusgemeindewahlen Ende 1932 signalisierten mit dem Sieg der zionistischen Fraktionen eine Trendwende. Angesichts der Schwäche der linksgerichteten, sozialdemokratischen und orthodoxen Fraktionen kann diese Entwicklung auch als ein Hinwenden zur einzigen noch offenen politischen Option interpretiert werden. Andererseits zeigt sich darin auch die Polarisierung innerhalb der österreichischen und europäischen Gesellschaft. Spätestens der Erfolg der Nationalsozialisten in Deutschland signalisierte den Mißerfolg des auf Integration und kulturelle Assimilation abzielenden Konzepts des Liberalismus. Der bekannteste innerhalb des jüdischen Lebens engagierte Politiker war der Zionist Robert Stricker, der in der Provisorischen Nationalversammlung sogar kurze Zeit ein Mandat innehatte. Außerhalb des jüdischen Gemeindelebens nahmen jüdische Politiker vor allem in der Sozialdemokratie wesentliche Positionen ein, allen voran der Theoretiker des Austromarxismus, Otto Bauer. Der Zusammenbruch der demokratischen Kultur im Bürgerkrieg 1934 und der darauffolgende Austrofaschismus hatten mit dem Verbot der Sozialdemokratie die einzig relevante Kraft Österreichs, die den Antisemitismus weitgehend abgelehnt und ihre Reihen Politikern jüdischer Herkunft geöffnet hatte, aus dem politischen Leben verbannt. Das Verbot sozialdemokratischer Organisationen im Austrofaschismus traf die Jüdische Gemeinde jedoch nur begrenzt. Bei den Kultusgemeindewahlen lagen die Stimmenanteile der Sozialdemokraten zwischen 10% und 15%, d. h., sie nahmen keine führenden Funktionen ein. Die Vertreter der Orthodoxie erhofften sich von der Maiverfassung 1934 eine Hinwendung zu theokratischen Prinzipien und somit einen Aufschwung ihrer Anliegen. Auch die anderen Fraktionen arrangierten sich mit der neuen Nomenklatur. Mit dem „Bund Jüdischer Frontsoldaten“ nahm eine Vereinigung einen beträchtlich Aufschwung, die sich dem Österreich-Patriotismus verpflichtet fühlte. Obwohl der Antisemitismus ein Programmpunkt der herrschenden Christlich-Sozialen geblieben war, stellte die neue Verfassung das Prinzip der Gleichberechtigung nicht in Frage. Im Gegenteil: Mit der Aufnahme jüdischer Funktionäre in wichtige Funktionen signalisierten die Austrofaschisten Kooperationsbereitschaft. Der Präsident der Wiener Kultusgemeinde, der Zionist Desider Friedmann, erhielt die wichtige Position eines Staatsrates. Je aggressiver der Antisemitismus in Hitler-Deutschland ausuferte, um so mehr war man auf den Schutz der Austrofaschisten angewiesen – eine bizarre Situation. Trotz der Kooperation setzte sich der Siegeszug des Antisemitismus ungehemmt fort. Praktiken, die zuvor als charakteristisch für den osteuropäischen Numerus-clausus-Antisemitismus galten, machten sich breit. Beispielsweise wurden jüdische Jungärzte benachtei-

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ligt, jüdische Spitalsärzte wurden 1934 unter dem Vorwand früherer sozialdemokratischer Betätigung entlassen.

1938–1945 Nur wenige österreichische Juden erkannten die Gefahr des aggressiven Nationalsozialismus rechtzeitig, nur wenige sorgten vor. Nach seinem Besuch bei Adolf Hitler im Februar 1938 sah sich der österreichische Kanzler Kurt von Schuschnigg gezwungen, Arthur SeyßInquart als Verbindungsmann zu den Nationalsozialisten in die Regierung zu berufen. Mit dem Ministerposten des Inneren lag die Obhut über die Ordnungsmacht bereits ab 15. Februar in den Händen eines Nationalsozialisten. Als Schuschnigg am 9. März für den 13. März eine Volksabstimmung zur Unabhängigkeit Österreichs ankündigte, erhielt er rükkhaltlose Unterstützung seitens der Jüdischen Gemeinde: „Wir österreichischen Juden stehen zu Volk und Heimat; wir werden unsere Pflicht tun: Mit Schuschnigg für Österreich!“, schrieb die Zeitung der „Union österreichischer Juden“. Die Regierung Schuschnigg hielt dem Druck aus Deutschland nicht stand. Sie demissionierte am 11. März 1938, und damit fing für die Juden in Österreich die Katastrophe an. Von Beginn an waren sie den demütigenden Übergriffen und dem Raubzug der Nationalsozialisten und der nichtjüdischen Bevölkerung schutzlos ausgeliefert. Ein Spezifikum waren die selbstorganisierten Diebstähle. Berüchtigt wurde in den ersten Tagen das sogenannte Straßenwaschen, bei dem aufgegriffene Juden zum Beseitigen der Wahlparolen für die Volksabstimmung oder zu anderen Putzaktionen gezwungen wurden. Ein weiteres Spezifikum waren die sogenannten „wilden Arisierungen“, die selbst den Interessen der Nationalsozialisten wegen des unkontrollierten Entzugs materieller Werte zuwiderliefen. In der Gesamtsicht der Entwicklung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik brachten die Ereignisse in Österreich radikalisierende Elemente ein: Sie zeigten die Gewaltbereitschaft der Nichtjuden gegenüber der jüdischen Bevölkerung und zugleich die geringe Bereitschaft, hiergegen offen Stellung zu beziehen. Von Beginn an waren die Juden Österreichs völlig rechtlos und jeglichen Übergriffen ausgeliefert. Anders als in Deutschland erkannten viele deswegen schon vor dem Novemberpogrom, daß es keine andere Perspektive als eine Flucht gab. Alles zielte darauf ab, die Juden mit Gewalt aus Österreich zu vertreiben. Dies ist ein Grund dafür, daß es ca. 130 000 Juden gelang, vor Kriegsausbruch zu fliehen. Ende April formulierte ein Artikel im Völkischen Beobachter das Ziel der NS-Politik: Bis zum Jahre 1942 muß das jüdische Element in Wien ausgemerzt und zum Verschwinden gebracht werden. Kein Geschäft, kein Betrieb darf zu diesem Zeitpunkt mehr jüdisch geführt sein, kein Jude darf irgendwo noch Gelegenheit zum Verdienen haben, und mit Ausnahme der Straßenzüge, in denen die alten Juden und Jüdinnen ihr Geld – dessen Ausfuhr unterbunden ist – verbrauchen und aufs Sterben warten, darf im Stadtbild nichts davon zu merken sein.

Eine Woche nach dem „Anschluß“ wurde das Amtsgebäude der Wiener Kultusgemeinde besetzt, und ihre Funktionäre wurden verhaftet. Viele von ihnen deportierte man mit dem ersten Transport ins KZ Dachau, unter ihnen den Präsidenten der Wiener Kultusgemeinde,

Österreich nach 1918

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Desider Friedmann und Robert Stricker. Mit dem Auftauchen von Adolf Eichmann wurde ein Modell entwickelt, das in der späteren Vernichtungspolitik noch eine wichtige Vorbildfunktion einnehmen sollte: die Organisation der Vertreibung und die tragische Instrumentalisierung der Funktionäre der Jüdischen Gemeinde für Zwecke der NS-Politik. Während Friedmann und Stricker nach wie vor im KZ inhaftiert waren, wurden am 2. Mai 1938 die Geschäfte der wiedereröffneten Israelitischen Kultusgemeinde dem früheren Amtsdirektor Josef Löwenherz übertragen. Sofort installierte man eine eigene Auswanderungsabteilung, deren Aufgabe es war, die Fluchtbemühungen zu unterstützen bzw., aus nationalsozialistischer Sicht, die Vertreibungspolitik zu forcieren. Am 20. August 1938 wurde auf Initiative Eichmanns die „Zentralstelle für Jüdische Auswanderung“ im ehemaligen Rothschildpalais eröffnet. Außerhalb Wiens entbrannte ein Wettkampf der lokalen Nazigrößen, ihre Gaue möglichst schnell „judenfrei“ zu bekommen. Ihre Gewaltbereitschaft zeigte sich vor allem beim Novemberpogrom. In Salzburg wurden beispielsweise alle jüdischen Männer nach Dachau deportiert, um so die Familien zum endgültigen Verlassen des Landes zu zwingen. Am schlimmsten wüteten die Übergriffe gegen die kleine Zahl der Juden in Innsbruck. Der Leiter der Innsbrucker Kultusgemeinde, Richard Berger, wurde ermordet und seine Leiche in den Inn geworfen, zwei andere Gemeindemitglieder wurden erstochen. Am 15. März 1939 wurde Tirol schließlich für „judenfrei“ erklärt. Mit dem Novemberpogrom forcierten die Nationalsozialisten die Arisierung von Wohnungen und Betrieben bzw. deren Liquidation. Insgesamt wurden 4600 Juden aus Österreich ins KZ Dachau deportiert. Für die Juden Österreichs begann ein Wettlauf mit der Zeit. In ihrer Verzweiflung entschlossen sich Eltern, ihre Kinder alleine außer Landes zu schicken, weswegen eine große Zahl der „Kindertransport-Kinder“ aus Österreich stammte. Zwischen dem 10. Dezember 1938 und dem 22. August 1939 verließen 2844 Kinder das Land, von denen 2262 in England Asyl fanden. Die Aktivitäten der Funktionäre der Gemeinde waren vollends auf die Organisation der Auswanderung und auf die zunehmende Last der Fürsorge für diejenigen konzentriert, die kein Asylland finden konnten und von der NS-Politik gezielt in Armut gestürzt wurden. Schon 1939 kam es zu Zwangsarbeitsmaßnahmen. Der Ausbruch des Krieges verschärfte die Lage. Nur wenigen gelang jetzt noch die Flucht in immer abgelegenere Länder, etwa nach Schanghai, das ca. 8000 Vertriebene aus Österreich aufnahm. Polnische und staatenlose Juden wurden sofort verhaftet. Anfang Oktober 1939 verschleppte man mehr als 1000 Menschen nach Buchenwald. Die von den Nationalsozialisten geplante „Umsiedlungsaktion“ der jüdischen Bevölkerung in die neu eroberten Gebiete Polens bedingte im Oktober 1939 die sogenannten Nisko-Transporte, mit denen Juden in Lager im Gebiet von Lublin gebracht wurden. Die Kultusgemeinde sah sich gezwungen, die Transportlisten zusammenzustellen und die Transporte auszustatten. Kaum angekommen, wurden viele über die Grenze in sowjetisches Gebiet gejagt. Bald danach stellte man die Deportationen vorerst ein. Trotz der sich weiterhin ständig verschärfenden Gesetzgebung bemühte man sich in Wien, das jüdische Gemeindeleben aufrechtzuerhalten. Dies geschah z.B. durch Unterricht,

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Albert Lichtblau

Veranstaltungen des Kulturbundes oder die nach wie vor stattfindenden Gottesdienste in der ältesten Synagoge der Stadt in der Seitenstettengasse, die im Novemberpogrom nicht zerstört worden war. „Kommet einzeln, nicht in Gruppen! Verweilet nicht auf der Straße!“, hieß es beispielsweise in einer Einladung zum Jugendgottesdienstes anläßlich des Pessachfestes 1941. Anfang 1941 befanden sich noch 53 604 „Glaubensjuden“ im Gebiet des ehemaligen Österreich. Im Februar und März 1941 begannen Deportationen in den Lubliner Distrikt. Unter den mehr als 5000 Deportierten befanden sich erstmals auch alte, geschwächte und behinderte Menschen. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion setzte im Oktober 1941 die dritte, ein Jahr andauernde Deportationswelle ein, die 38 425 Menschen betraf. Zuerst waren die Deportationsziele Lodz, Riga und Minsk, später Izbica und das „Altersghetto“ Theresienstadt. Nach Abschluß der großangelegten Deportationen wurde die Wiener Kultusgemeinde aufgelöst, und deren Funktionäre wurden nach Theresienstadt deportiert, wo sie wiederum Funktionen übernehmen sollten. In Wien übertrug man die Geschäfte ab dem 1. November 1942 einem „Ältestenrat der Juden“. Auch danach wurden Juden aus Österreich bis zum Kriegsende in die Konzentrations- und Vernichtungslager verschickt. Der vormalige Präsident der Kultusgemeinde Desider Friedmann und der international bekannte Zionist Robert Stricker wurden Opfer der Schoa. Am 31. Dezember 1944 lebten in Wien noch 5799 Menschen, die den Nürnberger Gesetzen entsprechend als Juden definiert wurden. Von ihnen waren 3388 durch privilegierte Mischehen und 1053 durch nichtprivilegierte Mischehen geschützt. Nur eine geringe Zahl konnte versteckt überleben, die Angaben schwanken zwischen 280 und 619 Personen. Ermordete österreichische Juden Deportation auf der Flucht in NS-Gewaltbereich geraten KZ-Lager Euthanasie Totschlag Polizeigewahrsam Todesurteil

46791 16692 1576 363 18 8 9

gesamt

65457

Nach 1945 An den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden in Österreich dachte anfangs kaum jemand. Von jenen, die überlebten, kehrten nur wenige zurück. Zuerst waren es die Überlebenden der Konzentrationslager. Doch auch von ihnen kehrten viele Österreich den Rücken, da sie im Land der Mörder nicht leben konnten. Lediglich die im Exil weilenden Kommunisten riefen dazu auf, nach Österreich zurückzukehren. Die Sozialdemokratie

Österreich nach 1918

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schien dagegen weitaus weniger um ihre ehemaligen jüdischen Funktionäre bemüht. Abgesehen von Einzelfällen und Ausnahmen, wie dem Wiener Stadtrat Viktor Matejka, kümmerten sich österreichische Politiker nicht um die Rückkehr der jüdischen Vertriebenen. In den ersten Nachkriegsjahren war die US-Zone Österreichs mit etlichen Lagern eine wichtige Zwischenstation für mehr als 200 000 jüdische Displaced Persons (DPs), Überlebende aus den Lagern und Verstecken. Die „Bricha“, eine 1944 von Partisanen aus dem Warschauer Ghetto gegründete Rettungsorganisation, die die Flucht von Juden nach Palästina organisierte, setzte alles daran, sie illegal dorthin zu schleusen, um sie für den Aufbau des Landes zu gewinnen. Jene, die in Österreich blieben – Schätzungen vermuten 5000 Personen –, stellten eine zweite wichtige Gruppe für den Wiederaufbau des jüdischen Gemeindelebens dar. Die Spannungen zwischen den vor dem Zweiten Weltkrieg in Österreich Lebenden und den später Zugewanderten wurden nie ganz überwunden. Öffentlich eskalierte dieser Konflikt 1975 vor allem zwischen Simon Wiesenthal und dem sozialdemokratischen Bundeskanzler jüdischer Herkunft Bruno Kreisky, der in den zwanziger Jahren aus der Kultusgemeinde ausgetreten war. Wiesenthal kritisierte die Koalitionsbereitschaft Kreiskys mit der FPÖ, dessen Obmann Peter der Waffen-SS angehört hatte, und die Tatsache, daß im Kabinett Kreisky vier ehemalige Nationalsozialisten Ministerposten einnahmen. Ein österreichisches Spezifikum war der anfängliche Einfluß der Kommunisten auf die reorganisierte Israelitische Kultusgemeinde in Wien, deren Oberhaupt sie bis 1948 stellten. Danach folgten bis zum Jahr 1981 Sozialdemokraten an der Spitze der Kultusgemeinde. Die vormals bedeutende Fraktion der liberalen „Union österreichischer Juden“ war mit ihrem Programm der Anpassung und des Patriotismus nach der Schoa keine Option mehr. Österreich gelang es bis in die neunziger Jahre, die Moskauer Deklaration der Alliierten vom 30. Oktober 1943 über die Wiederherstellung eines freien und unabhängigen Österreichs einseitig zu seinen Gunsten auszulegen und sich international als erstes Opfer von Hitler-Deutschland darzustellen. Mit dieser politischen Lebenslüge entledigte sich die Zweite Republik der Verantwortung. Anders als Deutschland, dessen Demokratiefähigkeit auch an seiner Einstellung gegenüber jüdischen Überlebenden und dem Staat Israel gemessen wurde, spielte dies im Falle Österreichs kaum eine Rolle. Der Kalte Krieg und die Integration ehemaliger Nationalsozialisten Ende der vierziger Jahre überdeckten bald die selbstkritische Aufarbeitung der Vergangenheit. Nach dem Abzug der Alliierten 1955 bewies die Republik ihre Demokratiefähigkeit und die Integration in die westliche Welt viel eher mit Antikommunismus und der Aufnahme von Flüchtlingen aus den kommunistisch regierten Ländern. Damit erklärt sich auch, daß in Österreich antisemitische Haltungen weniger tabuisiert waren als in der BRD. Die Zahl der jüdischen Bevölkerung in Österreich blieb gering, und wie zuvor lebte die überwiegende Mehrheit in Wien. In vielen ehemaligen jüdischen Provinzgemeinden gelang es nicht mehr, ein jüdisches Gemeindeleben wiederzubeleben. Ein Beispiel ist die niederösterreichische Hauptstadt St. Pölten, in der zwar die ehemalige Synagoge wieder aufgebaut wurde, aber angesichts fehlender jüdischer Mitglieder nur für säkulare Zwecke genutzt wird. Kleinere Gemeinden wie Salzburg leiden ebenfalls unter der geringen Zahl ihrer Mit-

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glieder und setzen sich überaus heterogen zusammen – KZ-Überlebende aus Österreich, DPs, Flüchtlinge aus osteuropäischen Ländern, Neuzuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Auch in der einst an die 200 000 Mitglieder zählenden jüdischen Gemeinde Wiens schwankte die Zahl nur mehr zwischen 10 000 und 15 000. Überhaupt blieb die Jüdische Gemeinde unauffällig und politisch sehr zurückhaltend. Erst der Präsidentschaftswahlkampf 1986 und der Skandal um den erfolgreichen Bewerber Dr. Kurt Waldheim verunsicherte viele und zerstörte manche Illusionen.

Peter Kosta

Die Tschechoslowakei seit 1918 Der rechtliche Status der Juden nach der Verfassung und dem Sprachengesetz von 1920 Die Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik im Jahr 1918 führte zu einer Stabilisierung der Situation der Juden, da ihnen zum ersten Mal legislative Sicherheiten gewährt wurden. Bereits vor der Gründung des tschechoslowakischen Staates hatten die Vertreter der böhmischen Zionisten im Wiener Parlament im Jahr 1917 mit den tschechischen Politikern über die künftige Regelung der jüdischen Angelegenheiten erfolgreich verhandelt. Auch der spätere tschechoslowakische Präsident Tomásˇ G. Masaryk versicherte noch vor Kriegsende im Namen des „Tschechoslowakischen Nationalrats“ in Paris in einer Botschaft an die amerikanischen Zionisten, daß die Juden im künftigen Staat gleiche Rechte wie die übrigen Bürger genießen würden und daß es ihnen zudem freistehen werde, in Palästina eine jüdische Heimstätte aufzubauen. Am 22. Oktober 1918 gründeten die nationalbewußten Juden Böhmens eine eigene politische Vertretung, den „Jüdischen Nationalrat“ mit dem Sitz in Prag, dem kurz darauf auch der „Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden“ beitrat. Auch die Juden in der Slowakei und in der Karpato-Ukraine, die durch das Abkommen von Trianon im Jahr 1920 der Tschechoslowakei zugeordnet wurde,1 gründeten eigene Verbände. In seinem Memorandum vom 28. Oktober 1918 forderte der „Nationalrat“ u. a. die Gewährleistung der nationalen und konfessionellen Selbstbestimmung sowie die völlige Gleichstellung der Juden vor dem Gesetz. Ferner warnte das Memorandum vor dem zunehmenden Antisemitismus, insbesondere in der Slowakei. Der Präsident des „Jüdischen Nationalrats“ Ludvik Singer verhandelte bei der Friedenskonferenz in Paris mit dem tschechoslowakischen Außenminister Benesˇ über die Stellung der jüdischen Minderheit in der Tschechoslowakei. Diese Verhandlungen, die in Prag fortgesetzt wurden, führten schließlich zur Anerkennung der jüdischen Nationalität in der Verfassungsurkunde. Damit hatten Juden neben der Möglichkeit, sich als Angehörige der „israelitischen Konfession“ zu bekennen, nun auch das Recht, sich der „jüdischen Nationalität“ zuzuordnen. Dieses Recht galt selbstverständlich auch für Personen, die selbst konfessionslos waren, aber jüdische Vorfahren besaßen. Die Verfassungsurkunde legte demnach nicht eindeutig fest, ob das Judentum als Konfession oder als Nationalität zu betrachten sei. Während für die übrigen Volksgruppen die Sprache das ausschlaggebende Kriterium für die Zuordnung zu einer Nationalität war, war dies bei den Juden aufgrund ihrer sprach1

Vgl. auch den Beitrag zu Ungarn in diesem Band S. 158.

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Peter Kosta

lichen Diversität nicht möglich. Juden hatten daher bei Volkszählungen die Wahl, entweder als Nationalität „jüdisch“ anzugeben oder sich derjenigen Nationalität zuzuordnen, der sie sprachlich angehörten, und „jüdisch“ bzw. „israelitisch“ unter der Rubrik „Konfession“ anzugeben. Bei den Volkszählungen von 1921 und 1930 ergaben sich daher folgende Zahlen2: 1921

Nationalität „Jüdisch“ Bekenntnis „Israelitisch“

1930

absolut

in %

absolut

in %

180855 354342

1,35 2,6

186642 356839

1,29 2,42

Die sprachliche Diversität der Juden in der Tschechoslowakai trug auch dazu bei, daß Jiddisch und Hebräisch nach dem Sprachengesetz von 1920 niemals den Status einer Amtssprache erhalten konnten. Noch nicht einmal in der Karpato-Ukraine und der Slowakei, wo noch viele Juden lebten, deren Muttersprache Jiddisch war, erreichten sie den Anteil von 20% der Bevölkerung eines Amtsbezirks, der nach diesem Gesetz notwendig war, um eine Sprache in den Status einer Amtssprache zu erheben. Gleiches gilt für das tschechoslowakische Wechselgesetz von 1927. Letztlich hatte die Tatsache, daß die Juden in der Ersten Tschechoslowakischen Republik im Gegensatz zu den Verhältnissen in der alten Habsburgermonarchie nun als Nationalität anerkannt waren, also nur geringe praktische Auswirkungen. Die kulturelle und sprachliche Zersplitterung der jüdischen Gemeinschaft war zu stark, als daß sie sich in dem neuen Staat als gesonderte und einheitliche Gruppe hätte etablieren können. Darüber hinaus wollten die deutsch oder tschechisch sprechenden Juden auch meist als Angehörige dieser Nationalitäten gelten. Im ganzen läßt sich sagen, daß die Tschechoslowakei, was die Gesetze anging, die den rechtlichen Status der Juden regelten, das liberalste Land unter den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie war. Die von der Verfassung garantierte Gleichberechtigung wurde jedoch, ähnlich wie es bei der deutschen Minderheit der Fall war, in der politischen Praxis nicht immer voll umgesetzt. Die Durchführungsbestimmungen zu einzelnen Gesetzen zeigen, daß die schwerfällige tschechoslowakische Administration der gleichberechtigten Partizipation der Juden im Wege stand und so hinter den berechtigten Erwartungen, die in dieser Hinsicht an eine demokratische Regierung gestellt werden konnten, zurückblieb.

Die soziale, berufliche und nationale Gliederung des tschechoslowakischen Judentums Der Zusammenschluß von zuvor politisch, territorial und kulturell verschiedenen Gebieten in der Ersten Tschechoslowakischen Republik hatte, wie bereits angedeutet, dazu geführt, daß die jüdische Gemeinschaft in sprachlicher, kultureller, sozialer und beruflicher 2

Angaben nach: Lipscher 1983, S.274.

Die Tschechoslowakei seit 1918

145

Hinsicht eine sehr heterogene Struktur aufwies. Zum einen gab es die böhmisch-mährischen Juden, die dem österreichisch-deutschen Kulturkreis angehört hatten und von denen viele seit dem 19.Jh. einen Prozeß der sekundären Akkulturation an ihre tschechische Umgebung durchlaufen hatten. In den zwei Jahrzehnten der Ersten Tschechoslowakischen Republik zwischen 1918 und 1938 beschleunigte sich dieser Akkulturationsprozeß und erreichte zur Zeit der Ausrufung des von Hitler oktroyierten Protektorats Böhmen und Mähren (15. März 1938) seinen Höhepunkt. In den polnischen Minderheitsgebieten Nordostmähren und Schlesien machte sich dagegen der Einfluß des polnischen Judentums bemerkbar. In den westlichen Teilen der Slowakei waren nach wie vor die ungarischen Traditionen lebendig, während in der Ostslowakei und der angrenzenden Karpato-Ukraine das galizische Judentum dominierte. Auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen waren grundverschieden. Während die jüdische Bevölkerung im Osten vorwiegend auf dem Land lebte und die Beschäftigungsquote unter ihnen gering war, konzentrierten sich die im Westen des Landes lebenden Juden auf die industriellen urbanen Zentren Böhmens und Mähren-Schlesiens. In Böhmen waren allein 46,4% der dortigen Juden in Groß-Prag ansässig, in Mähren konzentrierten sich 57% der Bevölkerung auf die Großbezirke Brünn, Ostrau und Olmütz-Stadt. Der Urbanisierungsprozeß des in den westlichen Landesteilen lebenden Judentums, der sich in diesen Zahlen ausdrückt, hatte sowohl wirtschaftliche als auch kulturelle Gründe. Während auf dem Land die wirtschaftliche Konkurrenz der nichtjüdischen Bevölkerung in Kleinhandel und Kleingewerbe immer weiter zunahm, besaßen jüdische Kaufleute im Großhandel, der Großindustrie und dem Finanzwesen der Städte eine deutliche Dominanz. Auch waren die Bildungschancen und die mit ihnen verbundenen Aufstiegsmöglichkeiten sowie die Angebote für wissenschaftliche, kulturelle und literarische Betätigungen in den Städten erheblich breiter als auf dem Land. Schließlich trieb auch der auflodernde Antisemitismus, der sich in den ländlichen Gebieten stärker bemerkbar machte, die Abwanderung der Juden in die Städte voran. Einen Überblick über die Verteilung der jüdischen Bevölkerung über die einzelnen Landesteile vermitteln die Ergebnisse der Volkszählungen von 1921 und 1930.3 Die nachstehende Tabelle macht deutlich, daß die Zahl der Juden in Böhmen und Mähren im dritten Jahrzehnt des 20. Jhs. abnahm, während sie in der Karpato-Ukraine deutlich anstieg. Dies weist auf die Bedeutung des karpato-ukrainischen Judentums für die Erhaltung des tschechoslowakischen Judentums hin. Insgesamt nahm die jüdische Bevölkerung in der Tschechoslowakei in absoluten Zahlen leicht zu. Da jedoch die Gesamtbevölkerung im selben Zeitraum ein schnelleres Wachstum zu verzeichnen hatte, sank der jüdische Bevölkerungsanteil von 2,6% auf 2,42%. Politisch stellten die nationalen Spannungen im neugegründeten tschechoslowakischen Staat, insbesondere der latente Antisemitismus, die jüdische Bevölkerung vor zwei grundsätzliche Alternativen: Assimilation oder Zionismus. Die meisten böhmischen Juden wähl3

Angaben nach: Lipscher 1983, S. 277.

146

Peter Kosta 1921

Böhmen

Mähren-Schlesien

Slowakei

Karpato-Ukraine

Insgesamt

1930

absolut

in %

absolut

in %

Nat. „Jüdisch“ Bek. „Israelitisch“

11251 79777

1,2

12735 76301

1,07

Nat. „Jüdisch“ Bek. „Israelitisch“

19016 45306

1,4

17267 41250

1,16

Nat. „Jüdisch“ Bek. „Israelitisch“

70529 135918

4,5

65385 136737

4,11

Nat . „Jüdisch“ Bek. „Israelitisch“

80059 93341

15,4

91255 102542

14,14

Nat. „Jüdisch“ Bek. „Israelitisch“

180855 354342

186642 356839

1,29 2,42

1,35 2,6

ten den Weg der Assimilation, und zwar, wie bereits dargestellt, an den tschechischen Kulturkreis. Nach der Staatsgründung gewann jedoch auch die zionistische Idee an Bedeutung. Die böhmischen Zionisten betonten die eigenständige Nationalität des Judentums, sahen jedoch die sprachliche Assimilation an die Umgebungsgesellschaft als eine Sache des Taktes an. Der religiöse Bereich war geprägt von dem Gegensatz zwischen den Anhängern der von Deutschland ausgehenden religiösen Reformbewegung des Judentums, den „Neologen“, und den Orthodoxen, die streng an der überlieferten religiösen Weltanschauung und den tradierten Lebensformen festhielten. Die Orthodoxen dominierten vor allem im Osten der Republik, während die Neologen vor allem in den westlichen Teilen des Landes einschließlich der urbanen Zentren Prag und Brünn zu finden waren. Eine zentrale Rolle im jüdischen Leben spielten die Kultusgemeinden. Neben ihrer religiösen Funktion besaßen sie eine beträchtliche soziale und kulturelle Bedeutung. Sie stellten freie Vereinigungen dar, die sich in der Regel in eine der beiden eben beschriebenen religiösen Richtungen orientierten. Der Dachverband der jüdischen Kultusgemeinden in den westlichen Landesteilen war der „Oberste Rat der israelitischen Kultusgemeinden in Böhmen, Mähren und Schlesien“, der vom Schulministerium 1927 als höchste Verwaltungseinheit offiziell genehmigt wurde. In der Slowakei wurden zwei Spitzenorganisationen offiziell anerkannt: der „Verband der orthodoxen israelitischen Kultusgemeinden“ und der „Verband der israelitischen Kultusgemeinden Jeschurun“ als Dachorganisation der Neologen. Die nationalbewußten Juden sahen in diesen Organisationen ein wirkungsvolles Mittel zur Wahrung ihrer nationalen und religiösen Anliegen. Auf der Konferenz des „Jüdischen Nationalrats“ am 5. und 6. Januar 1919 wurde auch die Gründung der „Jüdischen Partei“ beschlossen. Diese Parteigründung bedeutete einen wichtigen Schritt für die Anerkennung

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der politischen Rechte der Juden in der Ersten Republik. Daß sie dennoch ohne parlamentarische Vertretung blieben, war nicht zuletzt eine Folge interner Zwistigkeiten. Vor allem aber fehlte es der Partei an Wählern, da die assimilierten Juden ihre Stimme eher einer der etablierten tschechischen, slowakischen oder deutschen Parteien gaben. Die Orthodoxen bekämpften die „Jüdische Partei“, weil sie ihre religiösen Anliegen nicht deutlich genug artikulierte. Erst bei den Parlamentswahlen von 1929 und 1935 konnte die „Jüdische Partei“ geringe Erfolge verbuchen.

Die Lage der Juden im Protektorat Böhmen und Mähren Bis zum Beginn der Krise im Sudetenland unterschätzten die Juden in Böhmen und Mähren die Vorkommnisse im Deutschen Reich. Zwar berichteten Emigranten aus Deutschland, die nach 1933 in immer größeren Zahlen in die Tschechoslowakei kamen, über die systematische Entrechtung der deutschen Juden durch den NS-Staat, aber angesichts der bestehenden internationalen Garantien für die Tschechoslowakei glaubte kaum jemand an einen Einmarsch deutscher Truppen. Als sich im Herbst 1938 die Lage der Republik verschärfte und sich die bevorstehende deutsche Besetzung des Sudetenlandes abzuzeichnen begann, flohen zahlreiche Juden aus den gefährdeten Grenzgebieten zum Deutschen Reich in das Landesinnere. Diejenigen, die blieben, hatten hierfür die unterschiedlichsten Gründe. Rudolf M. Wlaschek nennt das Bekenntnis zum Deutschtum, den Austritt aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft, eine Ehe mit einem nichtjüdischen Partner, eine hohe verantwortliche Position in der Wirtschaft, das Bemühen um die Erhaltung von Arbeitsplätzen in der Wirtschaftskrise, die Sorge um den Verlust der Existenz oder des Vermögens sowie militärische Verdienste im Ersten Weltkrieg.4 Auf den „Anschluß“ des Sudetenlandes an das Deutsche Reich im Oktober 1938 folgte am 15. März 1939 die Besetzung der Rest-Tschechoslowakei und die Ausrufung des „Protektorats Böhmen und Mähren“. Besonders gefährdet waren nun die seit 1933 in die Tschechoslowakei geflohenen deutschen Juden und Gegner des NS-Regimes. Es kam zu panikartigen Situationen, als diese versuchten, in Prag noch rechtzeitig ein Ausreisevisum zu erhalten. Nur wenigen gelang die Flucht. Auch für die in Böhmen und Mähren ansässigen Juden begann nun die systematische Entrechtung, die schließlich in Deportation und Massenmord endete. Jüdischer Besitz wurde enteignet, jüdische Vereinigungen, Verbände und Geschäfte geschlossen, jüdische Ärzte und Rechtsanwälte erhielten Berufsverbot, jüdische Schüler und Studenten wurden aus Schulen und Hochschulen ausgeschlossen. Später wurden auch jüdische Gottesdienste verboten und alle Synagogen geschlossen. Seit September 1942 mußten die Juden des Protektorats den „Judenstern“ tragen. Unterstützt vom Prager Palästina-Amt, den in dem Dachverband HICEM zusammenge4

Wlaschek 1997, S. 101.

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schlossenen amerikanischen und europäischen jüdischen Emigranten-Hilfsorganisationen, der Prager Kultusgemeinde und dem Refugee Committee bei der britischen Gesandtschaft in Prag, verließen zahlreiche Juden das Land. Bis zum Ende des Jahres 1939 konnten etwa 25 000 Personen emigrieren. Im Juli 1940 richtete Adolf Eichmann in Prag nach dem Wiener Muster eine „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ ein, um die Emigration der Juden aus dem Protektorat zu forcieren. Bei der Organisation der Auswanderung sollte die Prager Kultusgemeinde behilflich sein. Als vorbereitende Maßnahme wurde die Verwaltung der noch bis Ende 1941 bestehenden 14 jüdischen Kultusgemeinden des Protektorats durch die Prager Kultusgemeinde sowie die Umsiedlung aller böhmischen und mährischen Juden nach Prag verfügt. Auch wenn sich letzteres als undurchführbar erwies, stellte die Gründung der „Auswanderungs-Zentralstelle“ doch den ersten Schritt zur vollständigen Liquidierung der jüdischen Gemeinschaft in Böhmen und Mähren dar. Die Abnahme der jüdischen Bevölkerung im Protektorat durch freiwillige und erzwungene Auswanderung sowie durch Deportationen läßt sich an folgender Tabelle ablesen: Die jüdische Bevölkerung des Protektorat Böhmens und Mährens5

15. 03. 1939 30. 06. 1940 31. 12. 1940 30. 06. 1941 31. 12. 1941 31. 03. 1942 15. 07. 1943

bis 18 J.

19–45 J.

46–60 J.

über 60 J.

insgesamt

18033 12147 11998 10946 9307 7230 1273

49482 34021 33146 32274 25799 21481 4013

28871 24985 24672 24556 20115 16695 2513

21924 20842 20225 20910 18969 15914 896

118310 91995 90041 88686 74190 61320 8695

Insgesamt ist zu sagen, daß sich das Schicksal der Juden aus dem Protektorat kaum von dem der übrigen Juden aus Mitteleuropa unterschied; einzig der Anteil jener, die sich mit Hilfe von Nichtjuden verstecken konnten und überlebten, war höher als im Deutschen Reich.

Das Ghetto Theresienstadt Auf dem Gebiet des Protektorats gab es zwischen 1939 und 1945 nur ein einziges selbständiges Konzentrationslager, das Anfang 1942 als „Sammel- und Durchgangslager“ für die Deportation der böhmischen und mährischen Juden geschaffene Ghetto Theresienstadt, das einige Monate später in ein „geschlossenes Siedlungsgebiet“ für arbeitsfähige Juden aus dem Protektorat und gleichzeitig in ein „Altersghetto“ für deutsche Juden umgewandelt wurde. Hierher kamen seit Mitte 1942 alle über 65 Jahre alten Juden, mit Orden ausgezeichnete oder kriegsbeschädigte Frontkämpfer sowie „Prominente“ aus dem „Alt5

Angaben nach: Wlaschek 1997, S. 116.

Die Tschechoslowakei seit 1918

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reich“ und der „Ostmark“. Zu den in Theresienstadt Inhaftierten gehörte auch Leo Baeck, der führende rabbinische Repräsentant des deutschen Judentums, der zuletzt Vorsitzender der „Reichsvertretung der deutschen Juden“ gewesen war. Weiter befanden sich unter den Gefangenen die bekannten tschechischen Schriftsteller Norbert Fryd und Karel Polácˇek, die Maler Bedrˇich Fritta, Otto Ungar und Lev Haas, der Architekt Frantisˇ ek Zelenka, der Bildhauer Rudolf Saudek, Komponisten, Dirigenten und Sänger wie Jan Krása, Karel Ancˇrl, Karel Berman sowie zahlreiche bedeutende Wissenschaftler, Politiker, Ärzte und Lehrer. Trotz der im Ghetto herrschenden Enge – bis April 1945 waren hier in den Räumlichkeiten von zwölf Kasernen und einigen wenigen Häusern und Baracken jeweils bis zu 50000 Menschen zusammengepfercht – und trotz der daraus resultierenden unerträglichen hygienischen Bedingungen, die das Auftreten von Epidemien begünstigten und denen insgesamt über 30 000 Menschen zum Opfer fielen, erschien den Häftlingen, die aus anderen Lagern hierher gebracht wurde, Theresienstadt oft wie ein unwirkliches Paradies. Das Ghetto befand sich weitgehender als andere Lager in jüdischer Selbstverwaltung, Kinder erhielten Unterricht von ausgebildeten Erziehern, und Hilfspakete aus dem Protektorat und dem neutralen Ausland verbesserten die Ernährungslage. Es gab sogar zahlreiche kulturelle und wissenschaftliche Aktivitäten, bei denen hochbegabte Künstler und Wissenschaftler, namhafte tschechische und deutsche Persönlichkeiten, Vorträge sowie Theater- und Musikveranstaltungen organisierten. Von dem Zynismus der Nationalsozialisten zeugen die Besuche von Vertretern des Internationalen Roten Kreuzes, bei denen das Ghetto als ein „deutsches Auswahllager für die Umerziehung jüdischer Bürger“ präsentiert wurde. Die trügerische Idylle, die den internationalen Hilfsorganisationen präsentiert wurde und von der sich auch die im Lager Inhaftierten nicht selten in Sicherheit wiegen ließen, muß vor dem Hintergrund der Tatsache gesehen werden, daß Theresienstadt fast während der gesamten Zeit seiner Existenz als Durchgangslager für Transporte nach Auschwitz diente. Von den etwa 75 000 böhmischen und mährischen Juden, die in das Ghetto eingeliefert wurden, wurden 60 500 nach kürzerem oder längerem Aufenthalt nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Gleiches gilt für 24 000 der knapp 42 000 deutschen und 15 000 österreichischen Juden, die nach Theresienstadt gebracht wurden. Insgesamt wurden über 140000 Juden in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Nur 16800 von den längere Zeit hier Inhaftierten erlebten die Befreiung des Lagers.

Nach 1945 Von den schätzungsweise 14 000 bis 18 000 Juden, die sich unmittelbar nach Kriegsende noch in der ganzen Republik aufhielten, emigrierten bald über zwei Drittel nach Westeuropa, Palästina bzw. Israel, in die USA und nach Australien. Nach der kommunistischen Machtübernahme vom Februar 1948 wurde eine Reihe hoher KP-Funktionäre jüdischer Herkunft mit Rudolf Slánsky, dem Generalsekretär der

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Partei, an der Spitze vor Gericht gestellt. Im Hauptprozeß gegen die angeblichen „zionistischen“ Verräter wurden elf Angeklagte zum Tode verurteilt und hingerichtet, drei weitere zu lebenslanger Haft verurteilt. Mit den Schauprozessen ging eine antisemitische Welle einher, die neben Justizrepressionen berufliche und soziale Benachteiligungen zur Folge hatte. Mitte der achtziger Jahre bestanden in der Tschechoslowakei noch fünf jüdische Gemeinden. Die aktivste dieser Gemeinden befindet sich in Prag. Hier gab und gibt es zwei Synagogen, in denen Gottesdienste neuerdings wieder von einem Rabbiner abgehalten werden. Das Prager Jüdische Museum, das auch Forschungsarbeit zum böhmischen Judentum leistet, hatte zu diesem Zeitpunkt größtenteils nichtjüdische Mitarbeiter. Zu den jüdische Fragen betreffenden Publikationen gehören neben der wissenschaftlichen Zeitschrift Judaica Bohemiae auch die vom Rat der jüdischen Gemeinden veröffentlichten Nachrichtenblätter sowie ein literarisches Jahrbuch. Erst die Wende von 1989 machte die erheblich geschrumpfte Judenschaft Böhmens und Mährens zu einer gleichberechtigten Gemeinschaft im Staat. Die neue demokratische Führung bemühte sich nun erstmals um Maßnahmen zur Entschädigung der Überlebenden der Schoa und richtete entsprechende Institutionen und Fonds ein. Gleichzeitig entstand in den neunziger Jahren ein neues Interesse an jüdischer Geschichte und Kultur, das sich in zahlreichen Forschungsaktivitäten und Veröffentlichungen äußert. Dies kann freilich kaum darüber hinwegtäuschen, daß es nur noch sehr wenige Überlebende der Schoa gibt, die aus erster Hand über ihre Lebensgeschichte und das Grauen der Verfolgungen berichten können.

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Ungarn Von der Römerzeit bis zum Aussterben der Árpád-Dynastie (3. Jh. u.Z.–1301) Die ersten Beweise dafür, daß in der Provinz Pannonia Juden lebten, stammen aus dem 3. Jh. u. Z. Eine zu Ehren des Kaisers Severus Alexander und seiner Mutter aufgestellte Votivtafel berichtet uns von der Existenz einer jüdischen Gemeinde und einer Synagoge. In der Mitte des 5. Jhs. fegten die Wellen der Völkerwanderung die hier ansässigen Juden hinweg. Danach stammt die erste Kunde über die Anwesenheit von Juden im Karpaten-Becken aus dem 10. Jh. Die ältesten jüdischen Gemeinden auf dem Gebiet des ungarischen Staates waren die von Esztergom (11.Jh.), Buda (Ofen, 12.Jh.) und Pozsony (Preßburg, 13.Jh.). Im 14. Jh. folgten die von Sopron (Ödenburg) und Székesfehérvár (Stuhlweißenburg), im 15.Jh. die von Kismarton (Eisenstadt) und Óbuda (Alt-Ofen) und im 16.Jh. die von Pest. Die Stellung der im Lande lebenden Juden wurde erstmals 1092 durch den „Heiligen König Ladislaus“ geregelt. Er verbot den Juden die Eheschließung mit christlichen Frauen, die Beschäftigung von christlichen Bediensteten sowie die Arbeit an Sonntagen und an christlichen Feiertagen. König Kálmán wiederholte im Jahr 1100 das Verbot der Beschäftigung christlicher Bediensteter, begrenzte das Wohnrecht der Juden auf die Bischofssitze und genehmigte ihnen den Erwerb von Grund und Boden unter der Bedingung, daß die jüdischen Besitzer ihre Felder nur durch nichtchristliche Bedienstete bestellen ließen. Später regelte der König auch die Darlehens- und Verkaufsgeschäfte zwischen Christen und Juden. Von der Stabilität der Lage der Juden zeugt die Tatsache, daß dies für über ein Jahrhundert die letzten judenrechtlichen Bestimmungen waren, die der ungarische Staat erließ. Gesetzliche Regelungen, die sich auf Juden beziehen, finden sich erst wieder in der „Goldenen Bulle“ von 1222, die bestimmte, daß nur ungarische Adelige Gespane für Geldwechsel, Salzkammerherren und Zöllner sein durften, und den Juden diese Tätigkeiten verbot. Dieses Verbot änderte jedoch nichts daran, daß Juden weiterhin öffentliche Ämter innehatten. Die katholische Kirche übte Druck auf die ungarischen Herrscher aus, um hier eine Veränderung zu erreichen, und König Andreas II. (1205–1235) leistete dem Papst schließlich sogar einen Eid, daß er auch in Ungarn die Beschlüsse des IV. Laterankonzils von 1215, die den Juden die Ausübung öffentlicher Ämter und die Beschäftigung von christlichen Bediensteten verboten und ihnen das Tragen eines Abzeichens zur Pflicht machten, umsetzen werde. Als jedoch Béla IV. 1235 den Thron bestieg, bat er den Papst aufgrund des schlechten Zustands seiner Schatzkammer um Erlaubnis, königliche Einnahmequellen an Juden verpachten zu dürfen. Da das von den Tataren verwüstete Land auf die Dienste der Juden angewiesen war, verlieh Béla IV. ihnen 1251 ein Privileg, das ihre Stellung detailliert regelte und sie als königliche Kammerknechte dem Fiskus zuordnete. Das Privileg garantierte den Juden

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persönliche Sicherheit und das Recht der freien Religionsausübung. Die Rechtsprechung über die Juden behielt sich der König durch die Institution des „Judenrichters“ selbst vor.

Vom Aussterben der Árpád-Dynastie bis zur Vertreibung der Türken (1301–1686) Zu Beginn des 14. Jhs. war die Zahl der Juden in Ungarn gering. Die Mehrzahl der bekannten Gemeinden – Preßburg, Ofen, Esztergom – entstanden in den Städten im Westen des Landes, die sich gerade erst entfalteten. Obwohl diese Gemeinden Synagogen, Friedhöfe und Mikwot besaßen, war das religiöse Leben nicht hoch entwickelt. Mit dem Erlöschen der Árpád-Dynastie (1301) ging für die Juden ein dreihundertjährige Zeit der Ruhe, in der sie, verglichen mit dem christlichen Europa, recht günstige rechtliche Bedingungen genossen hatten, zu Ende. Ludwig I. (1342–1382), nach Karl I. (1308–1342) der zweite ungarische Herrscher aus dem Haus Anjou, vertrieb kurzzeitig die in Ungarn lebenden Juden. Auch ließ er die Schuldbriefe, die sich im Besitz von Juden befanden, vernichten, ein bis dahin in Ungarn unbekanntes Verfahren. König Sigismund (1387–1437) ließ am Ende des 14. Jhs. die Institution der Kammerknechtschaft, die durch das Privileg von 1251 eingeführt worden war, durch eine Bestätigung dieses Privilegs wieder aufleben. Für die Juden bedeutete dies einerseits immer weiter steigende Steuerbelastungen, andererseits aber auch effektiven königlichen Schutz vor Angriffen von seiten der Städte. Sigismund führte auch die Institution des „Landesjudenrichters“ ein, ein Amt, das gewöhnlich von dem jeweiligen Schatzmeister, gelegentlich auch vom Palatin, dem königlichen Hofpfalzgrafen, bekleidet wurde. Als Matthias Corvinus 1451 den Thron bestieg, nahm für die Juden die Belastung durch Steuern noch einmal bedeutend zu. Gleichzeitig garantierte Matthias Corvinus den Juden jedoch geordnete Rechtszustände sowie den Schutz ihrer Person und ihres Eigentums. Er schuf das Amt eines für jüdische Angelegenheiten zuständigen „Präfekten“, das das Amt des „Judenrichters“ ablöste und im Gegensatz zu diesem nicht von einem Christen, sondern immer von einem Juden ausgeübt wurde. Dieses Amt überlebte die Niederlage der ungarischen Truppen gegen das Aufgebot des Osmanischen Reiches in der Schlacht von Mohács im Jahr 1526 und befand sich bald fest in der Hand der Familie Mendel aus Ofen. Der „Präfekt“ besaß mehr Machtbefugnisse als sein Vorgänger, der „Judenrichter“. Als alleiniger Vertreter der Krone gegenüber den Juden entschied er über die Verteilung der Steuern und sorgte auch für ihre Eintreibung. Er durfte gegen Diebe und gegen diejenigen, die sich der Steuerzahlung entzogen, vorgehen und verfügte sogar über ein eigenes Gefängnis. Durch seine direkte Beziehung zum König hatte er die Möglichkeit, gegen übermäßige Steuerforderungen, gegen Versuche der Vernichtung von Schuldbriefen und gegen die Gewalttätigkeiten von seiten der Gutsherren oder der städtischen Behörden wirksamer vorzugehen. War die Lage der Juden in Ungarn gegen Ende der Regierungszeit von Matthias Corvinus im ganzen günstiger als in vielen anderen Teilen Europas, so änderte sich dies mit dem Tod

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des Herrschers im Jahr 1490. Vier Jahre später wurde in Nagyszombat eine Ritualmordbeschuldigung erhoben, die erste in der Geschichte des Landes überhaupt, aufgrund deren 14 Juden in den Feuertod geschickt wurden. Zu Beginn des 16. Jhs. gab es an mehreren Orten – in Ofen, Preßburg, Nagyszombat, Székesfehérvár, Gyôr, Esztergom, Alt-Ofen, Kassa usw. – größere jüdische Gemeinden. Daneben existierte eine Vielzahl von kleinen Gemeinden. Nachdem die Truppen des Osmanischen Reiches 1526 bei Mohács über die Ungarn gesiegt und den größten Teil des Landes besetzt hatten, nahm die Anzahl der Juden in Ungarn ab. Historisch bedeutende Gemeinden lösten sich auf und wurden im 16. und 17.Jh. meist auch nicht mehr neu gegründet. In dem von den Osmanen besetzten Ofen wuchs die jüdische Gemeinde jedoch aufgrund von Zuwanderung an. In der zweiten Hälfte des 16. Jhs. gab es hier bereits drei Synagogen – eine nach sefardischem, eine nach syrischem und eine nach aschkenasischem Ritus, wobei die zahlenmäßig größte Gruppe die Aschkenasim waren. Auch in anderen Orten des Eroberungsgebietes lebten Juden, so z. B. in Gyöngyös, Vác und Székesfehérvár. Die Osmanen schränkten die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit der Kaufleute anderer Konfessionen nicht ein, da diese als Steuerzahler eine wichtige Rolle für die Besatzungsmacht spielten. Der erste Bericht über Juden in Siebenbürgen stammt aus dem 16.Jh. Anfangs wanderten hier in erster Linie sefardische Juden ein, die sich in Gyulafehérvár niederließen. Aschkenasische Juden ließen sich erst in der zweiten Hälfte des 17. Jhs. hier nieder, drängten die Sefardim dann aber mehr und mehr in den Hintergrund. Gyulafehérvár blieb für die Juden in Siebenbürgen weiterhin das Zentrum, und die dortigen Rabbiner, deren Aufgabe es auch war, für die Eintreibung der Steuern zu sorgen, trugen den Titel „Primarius des in Siebenbürgen lebenden ganzen jüdischen Volkes“. Aufgrund dieser Konstellation konnten die Juden in Siebenbürgen im Laufe der Zeit eine Landesorganisation ausbauen. Das Siebenbürgen des 16. und 17. Jh. war auch der Schauplatz einer einzigartigen Episode der (jüdisch-)ungarischen Geschichte: der Entstehung des Sabbatariertums. Die judaisierende Sekte der Sabbatarier trennte sich bereits 1588 von den Unitariern, einer radikalen Richtung innerhalb der ungarischen Reformationsbewegung, die die traditionelle Dreifaltigkeitslehre ablehnte. Zur Entfaltung, die in einer vollständigen Identifizierung mit dem Judentum mündete, kam das Sabbatariertum jedoch erst zu Beginn der zwanziger Jahre des 17. Jhs. Die Sabbatarier, unter denen sich auch viele reiche und politisch bedeutende Personen befanden, wurden bald verfolgt, und es erschienen eine Reihe von Anordnungen, die das Sabbatariertum verboten. Schließlich wurde unter Androhung der Todesstrafe und der Konfiszierung von Hab und Gut der 1. Juli 1638 als der letzte Termin für die Rückkehr zu einer der anerkannten Konfessionen bestimmt. Nach Ablauf der Frist wurden die Prozesse schnell durchgeführt. Hunderte von Sabbatariern, die ihrem Glauben treu blieben, wurden eingekerkert, und die Zahl der Urteile über Vermögenskonfiszierungen betrug mehrere Tausend. Die Sabbatarier-Bewegung wurde dadurch fast vollständig zerstört. In den Türkenkriegen von 1663/64 und 1683–1699 gelang es den Habsburgern, die Osmanen aus Ungarn zu verdrängen und die österreichisch-ungarische Großmacht zu begründen. Als die kaiserlichen Truppen 1686 Ofen eroberten, ermordeten sie fast die Hälfte

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der dortigen Juden, die bis dahin friedlich unter der osmanischen Herrschaft gelebt hatten und an der Seite der Osmanen kämpften. 500 Juden wurden umgebracht, die übrigen monatelang gefangen gehalten und erst nach Zahlung eines Lösegeldes wieder freigelassen. Die Überlebenden wurden auf Anordnung von Kaiser Leopold I. (1655–1690) aus den königlichen Städten verdrängt. Dieses Verbot konnten aber nur die Bergbaustädte in Oberungarn über eine längere Zeit – bis 1860 – durchsetzen.

Vom 18.Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg In der ersten Hälfte des 18. Jhs. kamen zahlreiche jüdische Einwanderer nach Ungarn. Viele von ihnen siedelten sich auf den Landgütern von Gutsherren an, wo sie Teile des Grundbesitzes pachteten, verschiedene Gewerbe-, Dienstleistungs- und Handelstätigkeiten ausübten und als Gegenleistung für den gewährten Schutz Abgaben zahlten. Die Ursache für diese Zuwanderung waren in erster Linie die 1726 von Karl VI. für die österreichischen Provinzen erlassenen sogenannten Familiantengesetze, nach denen in jeder jüdischen Familie nur ein männliches Mitglied eine rechtsgültige Ehe eingehen und Ansässigkeit erhalten konnte. Viele der dortigen Juden, vor allem aus Böhmen und Mähren, wanderten daher nach Ungarn aus. Als Galizien mit seinem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil nach der ersten Polnischen Teilung im Jahr 1772 Teil der Habsburgermonarchie geworden war, nahm die Zuwanderung von Juden nach Ungarn noch einmal stark zu. Waren bei der ersten nationalen Erfassung der Juden in Ungarn im Jahr 1735 noch 11 621 Personen gezählt worden, wobei 35% der Familienoberhäupter Ungarn als Geburtsort angaben, so waren es laut einer auf Befehl Kaiser Josephs II. im Jahr 1787 durchgeführten Registrierung bereits 83 000. Selbst wenn man berücksichtigt, daß die Zahl der ungarischen Juden 1735 wahrscheinlich höher lag als die angebenen 11 621 Personen, da die Zählung nicht in jedem Komitat (Verwaltungsbezirk) durchgeführt wurde, ist der Zuwachs doch beträchtlich. Bei der Volkszählung von 1825 wurden 193 000 Juden gezählt, bei der von 1840 239 000. 1857 lebten 410 000 Juden auf dem Gebiet des ungarischen Staates (4% der Gesamtbevölkerung), 1880 waren es 624737 (4,4%) und 1910 909531 (ca. 5%). Unter der Herrschaft Maria Theresias wurden die Juden 1746 auf ein Gesuch der Bürger von Ofen hin aus der Stadt ausgewiesen und konnten sich erst 1783 wieder hier ansiedeln. Maria Theresia führte 1749 auch die sogenannte Duldungssteuer ein, die die Juden für die Duldung ihres bloßen Daseins an die Reichskasse zu zahlen hatten. Die Höhe dieser Steuer stieg ständig. Während der Gesamtbetrag 1749 noch 20000 Forint betrug, lag er 1813 schon bei 160000 Forint. Die Herrschaft Josephs II. veränderte das Leben des ungarischen Judentums entscheidend. Sein Toleranzedikt von 1781 und seine Systematica Gentis Judaicae Regulatio von 1783 garantierten den Juden das Recht der Freizügigkeit (mit Ausnahme der Bergbaustädte), hoben die bestehenden beruflichen Beschränkungen vollständig auf und schafften

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die demütigende Verpflichtung zum Tragen eines Kennzeichens ab. Um den Gebrauch des Hebräischen und Jiddischen unter der jüdischen Bevölkerung zu beschränken und den der deutschen Sprache zu fördern, wurde die Einrichtung deutsch-jüdischer Schulen unter staatlicher Kontrolle angeordnet. Auch wurde den Juden der Besuch der christlichen Schulen und der Universitäten gestattet. 1787 verordnete Joseph II. außerdem, daß jeder Jude, der bis dahin keinen Familiennamen getragen hatte, ab Januar 1788 verpflichtet war, einen deutschen Familiennamen anzunehmen. Nach dem Tod des Kaisers versuchten die Städte, einige der früheren die Juden betreffenden Beschränkungen wiederzubeleben. Dies wurde jedoch von der Krone und vom ungarischen Parlament verhindert. Während der Parlamentssitzungen der Jahre 1839/40 wurde die Forderung erhoben, die Duldungssteuer abzuschaffen, das Judentum als gleichberechtigte Religionsgemeinschaft anzuerkennen und die Juden den nichtadeligen Bewohnern des Landes gleichzustellen. Der kaiserliche Hof stimmte dieser Forderung jedoch nicht zu. Dennoch ist das Gesetz Nr.29 aus dem Jahr 1840 als Fortschritt zu betrachten, da es den Widerwillen der Städte gegen die Ansiedlung von Juden endgültig brach (mit Ausnahme der oberungarischen Bergbaustädte) und den Juden die Gründung von Firmen, die freie Gewerbetätigkeit und den Erwerb von städtischen Immobilien ermöglichte. Ferdinand I. schaffte 1846 die schon lange nicht mehr gezahlte Duldungssteuer ab. Die von Joseph II. ausgelösten Veränderungen spalteten auch in Ungarn die Einheit der traditionellen jüdischen Gemeinschaft. Durch die Vermittlung des Arader Rabbiners Aaron Chorin gelangten zu Beginn des 19. Jhs. die Haskala und das Gedankengut der Reform auch hierher. 1827 wurde der „Cultustempel“ der Pester Gemeinde eröffnet, in dem die Ideen der Reform umgesetzt werden sollten. Ebenfalls zu Beginn des 19. Jhs. wurde eine der größten Persönlichkeiten der Orthodoxie, Moses Sofer (Chatam Sofer), an die Spitze der traditionsreichen Preßburger Gemeinde und Jeschiwa gewählt. Zu dieser Zeit gewann mit Rabbiner Moses Teitelbaum aus Sátoraljaújhely auch der Chassidismus an Einfluß. Als Reaktion auf die vom Parlament diskutierte Emanzipation der Juden und das Gesetz aus dem Jahr 1840 wurde die Idee der „Ungarisierung“ in den Reihen des ungarischen Judentums begeistert aufgenommen. Auf Initiative der Pester Israelitischen Gemeinde entstand 1842 der „Magyar Izraelita Kézmû- és Földmûvelésügyi Egyesület“ (Ungarischer Israelitischer Handwerks- und Ackerbauverein), der neben der Pflege der ungarischen Sprache auch die Verbreitung der verschiedenen Handwerks- und Gewerbetätigkeiten sowie des Ackerbaus unter den Juden anstrebte. Während der ungarischen Revolution von 1848 flammte der Antisemitismus wieder auf. In den ersten Wochen der Revolution kam es in Preßburg, in Pest und in anderen Städten zu antisemitischen Unruhen. Im April wurde dann die Aufnahme der Juden in die Nationalgarde ausgesetzt. Die antisemitische Stimmung war auch dafür verantwortlich, daß die Emanzipation der Juden in die von der revolutionären Gesetzgebung verfaßten sogenannten April-Gesetzen des Jahres 1849 nicht aufgenommen wurde. Dennoch unterstützte die Mehrheit des ungarischen Judentums begeistert die Revolution und den nationalen Freiheitskampf gegen die habsburgische Herrschaft. An ihm beteiligten sich etwa 20 000 jüdi-

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sche Soldaten. Um dies anzuerkennen, wurde am 28. Juli 1849 im Parlament zu Szeged das Gesetz über die Emanzipation der Juden verabschiedet. Dieses trat jedoch nach dem Sturz der revolutionären Regierung nicht mehr in Kraft. Nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstands waren von den habsburgischen Vergeltungsmaßnahmen auch die Juden betroffen. Viele emigrierten, andere kamen ins Gefängnis. General Haynau verpflichtete die ganze jüdische Gemeinschaft, Kontributionen zu zahlen. Kaiser Franz Joseph I. senkte 1850 die geforderte Summe und bestimmte, daß davon ein Unterrichtsfonds eingerichtet werden sollte. Diese Maßnahme stellte einen von mehreren Schritten zur weiteren Säkularisierung des jüdischen Schulwesens dar. Jede Gemeinde wurde zudem verpflichtet, eine öffentliche Grundschule einzurichten, in der das Lehrmaterial vom Staat bestimmt wurde. Diese Grundschulen sollten die traditionellen jüdischen Schulen, die Chedarim, ablösen. 1857 wurde die aus den Mitteln des Fonds aufgebaute „Országos Izraelita Tanítóképzô Intézet“ (Israelitische Landeslehranstalt) eröffnet. Durch den Entzug der politischen Rechte verschwand der noch verbliebene gemeinrechtliche Charakter des jüdischen Gemeinwesens, und die jüdischen Gemeinden wurden erst in dieser Zeit zu reinen Glaubensgemeinschaften. Die Lage der Juden änderte sich erst, als die europäische Machtposition der Habsburgermonarchie geschwächt wurde. Die Verordnungen des Kaisers von 1859 und 1860 genehmigten es den Juden wieder, christliche Diener und Mägde zu beschäftigen, schafften die Verpflichtung der Juden ab, vor einer Eheschließung die Genehmigung der Obrigkeiten einzuholen, gestatteten den Juden jegliche Gewerbetätigkeit für Juden, und erlaubten ihnen auch die Ausübung früher verbotener Tätigkeiten wie der Pharmazie, der Schankwirtschaft, der Schnapsbrennerei usw. Auch die Tore der oberungarischen Bergbaustädte standen den Juden nun offen, und es war ihnen jetzt erlaubt, Immobilien im gesamten Reichsgebiet zu erwerben. Im Jahr des „Ausgleichs“ (1867), unmittelbar nach der Entstehung der österreich-ungarischen Doppelmonarchie wurde das Gesetz über die Emanzipation der Juden im ungarischen Parlament verabschiedet. Das Gesetz Nr. 17 von 1867 garantierte die Gleichstellung der Juden in bürgerlicher und politischer Hinsicht. Das Gesetz definierte das Judentum als Religionsgemeinschaft, die allerdings den christlichen Konfessionen nicht gleichgestellt war. Dies geschah erst 1895 durch das „Rezeptionsgesetz“. Erst jetzt war die Heirat zwischen Juden und Christen erlaubt und die Konversion von Christen zum Judentum möglich. Kurze Zeit nach der Verabschiedung des Emanzipationsgesetzes begann der Kultusminister József Eötvös, der sich auch um die Anerkennung der jüdischen Gemeinden als gleichberechtigte Religionsgemeinschaften bemüht hatte, mit den Vorbereitungen für einen jüdischen Landeskongreß. Das Ziel des Kongresses war es, eine Landesorganisation der jüdischen Gemeinden zu schaffen, die über die inneren Angelegenheiten des Judentums selbst entscheiden konnte. Der Plan stieß auf den heftigen Widerstand der Orthodoxie, und die im Jahr 1868/69 zusammengerufene israelitische Landesversammlung endete mit Mißerfolg. Zwar gründeten die auf dem Kongreß anwesenden reformorientierten Kräfte, die „Neologen“, eine Landesorganisation, aber die Orthodoxen lehnten jede Beteiligung daran

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ab. Sie gründeten 1871 vielmehr eine selbständige Organisation. Hierdurch spaltete sich das ungarische Judentum in mehrere Gruppen auf. Neben den „Neologen“ und den „Orthodoxen“ existierten die sogenannten „Status quo ante-Gemeinden“, die sich, ebenso wie die chassidische Gemeinschaften, keiner der beiden Richtungen anschlossen. Im Laufe der Zeit entwickelte sich die reformorientierten Richtung zur stärksten Kraft: Sie dominierte das 1877 eröffnete und nach Kaiser Franz Joseph I. benannte Landesrabbinerseminar, und 1910 gehörten bereits 43,1% der ungarischen Juden neologen Gemeinden an. Obwohl es auch im Ungarn des ausgehenden 19. Jhs. deutliche antisemitische Strömungen gab – 1882 erregte ein Prozeß um eine Ritualmordbeschuldigung in Tiszaeszlár, der mit einem Freispruch der angeklagten Juden endete, die Öffentlichkeit und setzte judenfeindliche Emotionen frei, und ein Jahr später wurde die Antisemitische Landespartei (Országos Antiszemita Párt) gegründet –, wird doch die Periode zwischen der Emanzipation und dem Ersten Weltkrieg gewöhnlich als das „goldene Zeitalter“ des ungarischen Judentums bezeichnet. In dieser Zeit trieb der von liberalen Adeligen geführte Staat die rasche Modernisierung des Landes voran und unterstützte die Teilnahme der Juden an dieser Entwicklung. Die Folge waren ein schneller gesellschaftlicher Aufstieg und die rasche Assimilation zahlreicher Juden. Ein weiteres Kennzeichen dieser Zeit war die Urbanisierung des ungarischen Judentums. Während 1825 nur 8% der Bevölkerung von Pest und Buda Juden waren, stieg dieser Prozentsatz bis 1880 auf 14,6% und bis 1910 auf 23,1%. In diesem Jahr lebten 203687 Juden in Budapest. Von der gesellschaftlichen Mobilität der Juden zeugen die Bildungs- und Beschäftigungsstatistiken. 1910 beendeten 5,9% der Juden die achte Oberschulklasse (Landesdurchschnitt: 1,3%). Im Jahr 1880 waren 20%, im Jahr 1900 25% und im Jahr 1910 29% aller ungarischen Studenten jüdisch. Während der Prozentsatz der Juden unter den staatlichen Beamten oft nur knapp ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung erreichte, waren 1910 12,4% der Industrieunternehmer, 54% der Kaufleute, 85% der selbständig im Finanzwesen Tätigen, 13% der Freiberuflichen, 42,2% der Journalisten, 48,9% der Ärzte und 42,5% der Anwälte Juden. Für den Fortschritt der Assimilation war die Verbreitung des Ungarischen unter der jüdischen Bevölkerung kennzeichnend. Während 1880 nur 5% der Juden Ungarisch als ihre Muttersprache bezeichneten, waren es 1910 landesweit 77% und in Budapest sogar 90%. Nach 1895 nahm auch die Zahl der Mischehen zwischen Juden und Nichtjuden zu: Im Jahr 1900 waren 6% der von Juden geschlossenen Ehen Mischehen, im Jahr 1910 bereits 9,7%.

Vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (1919–1945) Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs war der ungarische Liberalismus in eine verhängnisvolle Krise geraten. Die Niederlage, die Revolution, die proletarische Diktatur, und besonders das mit dem Friedensvertrag verbundene Trauma waren die Ursachen dafür, daß Nationalismus und Antisemitismus zur herrschenden politischen Ideologie der folgenden

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Jahrzehnte wurden. Dies zeigte sich auch in dem im Jahr 1920 verabschiedeten „Numerusclausus-Gesetz“, das, obwohl weder das Wort „Israelit“ noch das Wort „jüdisch“ in seinem Text zu finden war, vor allem die Zahl der jüdischen Universitätsstudenten zu begrenzen suchte. Durch den Gebietsverlust, den Ungarn aufgrund der Grenzziehung des Friedensabkommens von Trianon hinnehmen mußte, verlor das Land etwa die Hälfte seiner jüdischen Bevölkerung. Die Volkszählung im Jahre 1920 registrierte 473 355 Juden im Vergleich zu 909 531 im Jahr 1910. Der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung veränderte sich jedoch kaum. Hatte er 1910 etwa 5% betragen, so lag er nun bei 5,9%. 1930 lebten 445 670 Juden in Ungarn (5,1% der Bevölkerung), und im Jahr 1941 zählte man innerhalb der „Trianon-Grenzen“ 400 981 Juden. Zu dieser Zeit betrug die Gesamtzahl der Juden in dem durch die Wiener Schiedssprüche von 1938 und 1940 vergrößerten Gebiet 725 007. Hinzu kamen noch 89 640 Personen, die nicht jüdischen Glaubens waren, die jedoch das Gesetz aus dem Jahr 1939, das noch eingehender zu behandeln sein wird, als jüdisch betrachtete. Der Gebietsverlust nach dem Ersten Weltkrieg veränderte auch die Verteilung der Juden zwischen Stadt und Land grundlegend: Der Anteil der in Städten lebenden Juden stieg nun auf fast 73%. In Budapest lebten im Jahre 1920 215 560 Juden (23,4% der Gesamtbevölkerung der Stadt). Bis 1941 sank diese Zahl auf 184453 (15,8%). Durch den Verlust der größtenteils jiddischsprachigen Orthodoxen, die in den abgetrennten nordöstlichen Gebieten lebten, stieg der Anteil der Juden, deren Muttersprache Ungarisch war, auf über 95%. 1920 gehörten 63,4% der ungarischen Juden „neologen“ Gemeinden an, 1930 waren es 65,7%. Als jedoch 1941 mit der Karpato-Ukraine, Oberungarn und dem Nordteil von Siebenbürgen Gebiete, in denen zahlreiche orthodoxe Juden lebten, Ungarn wieder angegliedert wurden, sank dieser Prozentsatz auf 36,6%. Die judenfeindlichen Gesetze der ersten Hälfte der zwanziger Jahre hatten eine dramatische Wirkung auf die gesellschaftliche Mobilität der Juden: Der Anteil der jüdischen Studenten sank 1926 auf 9,6%, 1936 auf 8,9% und 1941 sogar auf 2,8%. Der Prozeß der Assimilation und der gesellschaftlichen Verschmelzung geriet hingegen nicht ins Stocken. Zwischen 1920 und 1929 lag der Anteil der Mischehen an der Gesamtzahl der Eheschließungen von Juden bei etwa 20%, und in der Zeit zwischen 1930 und 1938 schwankte er zwischen 20% und 25%. Seit der Mitte der zwanziger Jahre ließen die antisemitischen Tendenzen in der Politik zunächst ein wenig nach. Das als Teil des Konsolidierungsprozesses verabschiedete Gesetz über das Oberhaus (Nr.22/1926) sicherte den Vertretern der neologen und der orthodoxen Gemeinden je einen Platz im Oberhaus zu. Ebenso wurde das Numerus-clausus-Gesetz abgemildert. Nach der Machtübernahme Hitlers in Deutschland entstanden und erstarkten jedoch auch in Ungarn verschiedene rechtsradikale Parteien. Auf den Druck dieser Parteien hin und aufgrund des Einflusses, den das „Dritte Reich“ auf die ungarische Politik ausüben konnte, verabschiedete das ungarische Parlament seit dem Ende der dreißiger Jahre eine Reihe von judenfeindlichen Gesetzen. Das erste „Judengesetz“ über „die wirksamere Siche-

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rung des Gleichgewichtes des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens“ (Nr.15/1938) band die Ausübung intellektueller Tätigkeiten an die Mitgliedschaft einer der entsprechenden Kammer und setzte den maximalen Anteil der Juden, die in diese Kammern aufgenommen werden konnten, auf 20% fest. Ebenso wurde die Obergrenze für den Anteil der Juden unter den Handelsangestellten auf 20% festgelegt. Kaum ein Jahr später, 1939, trat das zweite „Judengesetz“ über „die Beschränkung der Verbreitung der Juden in der Wirtschaft und im öffentlichen Leben“ (Nr. 4/1939) in Kraft, das bereits offen auf einer rassistischen Basis beruhte. Dieses Gesetz definierte, unabhängig von der Religionszugehörigkeit, alle diejenigen als Juden, bei denen mindestens ein Elternteil oder zwei Großeltern israelitischer Konfession waren. In der Kammer der Akademiker wurde die Obergrenze für den Anteil der Juden auf 6% reduziert. Juden durften nicht als Redakteure und Zeitungsverleger tätig sein, keine Kinos oder Theater leiten und nicht im öffentlichen Dienst beschäftigt werden. Privatunternehmen durften Juden nur bis zu einem maximalen Anteil von 12% an der gesamten Belegschaft anstellen. Im April 1941 wurde der Arbeitsdienst von Juden, der sich schon seit 1939 angebahnt hatte, endgültig per Regierungsanordnung eingeführt. Das ebenfalls in diesem Jahr erlassene dritte „Judengesetz“ (Nr.15/1941) verbot die Ehe zwischen Juden und Nichtjuden, und ihre außerehelichen sexuellen Beziehungen wurden – nach deutschem Vorbild – als „Rassenschande“ bezeichnet und bestraft. 1942 wurde das Gesetz über die Anerkennung der israelitischen Religion aus dem Jahr 1895 außer Kraft gesetzt und diese damit aus der Reihe der anerkannten Konfessionen gestrichen. Auch das Recht, Immobilien zu erwerben, wurde den Juden genommen. Trotz dieser Entrechtung, der Demütigungen und des Arbeitsdienstes galt Ungarn unter den von Deutschland beeinflußten Staaten noch als verhältnismäßig sicher: Zwar wurden die Juden, die nicht die ungarische Staatsangehörigkeit besaßen, 1942 aus dem Land ausgewiesen und mehrere tausend von ihnen fielen dem Massenmord in Kamenetz-Podolsk zum Opfer, aber den Juden mit ungarischer Staatsangehörigkeit drohte vorläufig noch keine physische Gefahr. Nachdem Ungarn unter dem Ministerpräsidenten Graf Paul Teleki eine zweigleisige Politik zwischen einer Unterstützung Deutschlands und Verhandlungen mit den Alliierten betrieben hatte, schwenkte das Land unter Telekis Nachfolger László v. Bárdossy stärker auf eine deutschlandfreundliche Politik ein und trat an der Seite des „Dritten Reichs“ in den Krieg gegen die Sowjetunion ein. Als der Reichsverweser Miklós Horthy nach 1942 Anstalten machte, sich aus dem Bündnis mit Deutschland zu lösen, ließ Hitler am 19. März 1944 deutsche Truppen in Ungarn einmarschieren. Damit war das Schicksal des ungarischen Judentums besiegelt. Noch Ende März erschien eine Flut von Verordnungen, die die Lebensbedingungen der Juden noch weiter verschlechterten. Die Juden waren nun verpflichtet, den gelben Stern zu tragen, und auch der Arbeitsdienst wurde verschärft. Mitte Mai wurde im ganzen Land, die Hauptstadt ausgenommen, mit der Konzentration der Juden in Ghettos und mit ihrer Deportation in die Vernichtungslager begonnen. Durch die aktive Hilfe der ungarischen Behörden und Gendarmerie wurden bis Ende Juni alle Juden vom Lande

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deportiert. Die Deportation der Juden in Budapest wurde durch Horthy Anfang Juli 1944 einstweilig ausgesetzt. Nachdem Horthy, der den Plan der Loslösung von Deutschland noch nicht ganz aufgegeben hatte, die ungarischen Truppen am 15. Oktober 1944 erfolglos zur Einstellung der Kampfhandlungen aufgefordert hatte, wurde er von deutscher Seite gezwungen, den Führer der Pfeilkreuzler-Partei, Franz Szálasi, zum Ministerpräsidenten zu ernennen. In der kurzen Zeit, die den Pfeilkreuzlern bis zur vollständigen Besetzung Ungarns durch sowjetische Truppen noch verblieb, betrieben sie die systematische Vernichtung der noch in Ungarn verbliebenen Juden und die Konfiszierung ihres Vermögens. Am 3. November 1944 wurden daher alle jüdischen Vermögen verstaatlicht. Die Errichtung des großen Ghettos in Pest am 29. November diente der Vorbereitung der Deportation. Diese wurde zwar aufgrund der militärischen Situation nicht mehr durchgeführt, doch fiel ein bedeutender Teil der Juden dem Terror der Sondereinheiten der Pfeilkreuzler zum Opfer. Von den Überlebenden dieser Zeit zwischen Oktober 1944 und Mitte Januar 1945 verdankten viele ihr Leben dem Einsatz ausländischer Diplomaten wie Raoul Wallenberg, Charles Lutz, Giorgo Perlasca und Angelo Rotta sowie der Rettungsarbeit kirchlich gebundener Personen wie z. B. Margit Schlachta, Gábor Sztehló, József Eliás und anderen.

Von 1945 bis heute Große Teile des ungarischen Judentums wurden in der Schoa ermordet. Die Zahl der Opfer wird auf 430 000 bis 560 000 auf dem Staatsgebiet von 1944 geschätzt. Die Katastrophe überlebten etwa 200000 Juden, die meisten von ihnen in Budapest. Hier lebten unmittelbar nach Kriegsende 144000 Juden, während die Mitgliedszahlen der jüdischen Gemeinden in den Provinzstädten auf wenige Dutzend zusammenschrumpfte. Auch in Budapest nahm jedoch die Zahl der Juden aufgrund von Auswanderung, Mischehen und niedrigen Geburtenraten, die unter anderem auch auf die finanziellen und psychischen Folgen der Verfolgung zurückzuführen waren, in der Folgezeit stark ab. So lebten 1949 nur noch 96537 Juden in Budapest, 9,1% der Gesamtbevölkerung. Insgesamt verließen im Rahmen der Auswanderungswellen von 1945–1948 und 1956/57 zwischen 30 000 und 60 000 Juden das Land. Dies führte einerseits zu einer verstärkten Assimilationsbereitschaft bei denjenigen, die sich zum Bleiben entschieden hatten, und andererseits aufgrund der durch die Auswanderung verursachten sogenannten selektiven Verluste zu einer ungleichmäßigen Alters- und Geschlechtsverteilung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Die Folge war, daß sich viele Juden, vor allem Frauen, dazu veranlaßt sahen, einen nichtjüdischen Partner zu heiraten. Auf diese Weise verringerte sich die Anzahl derjenigen, die der jüdischen Gemeinschaft angehörten, während die Zahl der Familien, die auch Juden zu ihren Mitgliedern zählten, stieg. Heute wird die Zahl der Juden in Ungarn auf 60000 bis 150000 geschätzt. 1999 gaben in einer repräsentativen Studie 2% der erwachsenen Befragten an, Juden unter ihren Eltern oder Großeltern gehabt zu haben.

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Der nach Kriegsende die gesamte Gesellschaft erfassende Umschichtungsprozeß erwies sich für die Juden, die im Durchschnitt besser ausgebildet waren als ihre nichtjüdischen Zeitgenossen, traditionell eine größere Mobilität besaßen und außerdem aufgrund der erlittenen Verfolgungen als politisch zuverlässig galten, als vorteilhaft. Plötzlich wurden ihnen Arbeitsplätze zugänglich, in denen sie vor dem Krieg aus politischen Gründen keine Anstellung gefunden hätten. Viele Juden traten in die neu organisierte Verwaltung, den Staatsdienst, politische Einrichtungen, Armee und Polizei ein. Aufgrund der Rolle, die die sowjetische Armee bei der Befreiung des Budapester Ghettos und der Konzentrationslager gespielt hatte, und aufgrund des Versprechens der Kommunisten, der Diskriminierung Einhalt zu gebieten, standen nicht wenige Juden dem kommunistischen System loyal gegenüber. Viele von ihnen waren vor dem Aufstand von 1956 der Partei beigetreten und in mittlere oder sogar höhere Positionen gelangt. Die Parteikader jüdischer Herkunft gaben ihre vorherige Identität, ihre kulturelle Tradition und ihre Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft auf. Die Konfrontation mit Realität des Stalinismus führte jedoch bei der kommunistischen jüdischen Intelligenz zu einer immer stärkeren Desillusionierung, und viele ihrer Mitglieder schlossen sich der entstehenden Oppositionsbewegung an und unterstützten 1956 aktiv den Aufstand. Gleichzeitig hatten nach der Machtübernahme der Kommunisten das jüdische Kleinbürgertum und der Mittelstand unter den Maßnahmen der Regierung gegen Religion und Bürgertum zu leiden. Von der Deportation der früheren „Ausbeuter“ waren Juden wie Nichtjuden betroffen. Darüber hinaus bereitete auch die antizionistische Kampagne der Regierung den Juden Schwierigkeiten. So wurde der „Zionistische Verband“ aufgelöst und mehrere seiner Mitglieder verhaftet. 1953, nach dem sowjetischen „Ärzteprozeß“, wurde der Chefarzt des Jüdischen Krankenhauses festgenommen. Nach dem Aufstand von 1956 und dem Sechstagekrieg von 1967 versuchte die Kommunistische Partei, die Beteiligung der Juden am politischen Leben mit unauffälligen Mitteln zu beschränken. Das religiöse Leben wurde kurz nach dem Krieg in – vorwiegend neologen – Gemeinden wiederhergestellt, doch waren in den fünfziger Jahren aufgrund der Umsiedlungen, Aussiedlungen und politischen Veränderungen nur etwa 60 bis 80 von ihnen, vor allem solche in größeren Städten, funktionsfähig. Bereits 1950 waren die Organisationen und Verbände der verschiedenen Richtungen der jüdischen Gemeinschaft aufgelöst und die jüdischen Gemeinden dem neu gegründeten Landesbüro der Ungarischen Israeliten bzw. der Landesvertretung der Ungarischen Israeliten (Magyar Izraeliták Országos Képviselete, MIOK) unterstellt worden. Dabei war auch die Selbständigkeit der Orthodoxen Gemeinschaft abgeschafft worden. Die beiden neuen Dachorganisationen fungierten innerhalb der vom Staat bestimmten Grenzen ausschließlich als religiöse Einrichtungen. Sie standen dem System loyal gegenüber, lehnten den Zionismus ab und verurteilten die israelische Politik. Obwohl das jüdische religiöse Leben zu dieser Zeit fühlbaren Einschränkungen unterlag, konnte die jüdische Gemeinschaft doch ein Krankenhaus, ein Waisenhaus und ein Seniorenheim unterhalten. 1948 wurden alle Elementarschulen, Bürgerschulen und Lehrerseminare sowie vier der fünf Gymnasien der Gemeinde verstaatlicht. Das Anne-Frank-Gymnasium und das Rab-

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binerseminar, das über eine wertvolle Bibliothek verfügt, blieben unter der Aufsicht des „Staatlichen Amtes für Religiöse Angelegenheiten“ erhalten. Am Rabbinerseminar, in seiner Art einmalig in Osteuropa, studierten auch Jugendliche aus den benachbarten Ländern. Dennoch blieb die Zahl der Lehrer und Studenten sehr niedrig. Die Zahl der Gymnasiasten sank bis zu Beginn der achtziger Jahre stetig – 1976 gab es lediglich zehn Schüler am Gymnasium –, danach war ein leichter Anstieg bemerkbar. In den Jahren der „sanften“ Diktatur (1963–1989) konnte sich das jüdische Leben wieder etwas besser entfalten. 1988 entstand eine säkulare jüdische Organisation, der „Magyar Zsidó Kulturális Egyesület“ (Jüdischer Kulturverein Ungarn), der sich die Erhaltung der ungarisch-jüdischen Kultur und die Wiederbelebung des weltlichen jüdischen Lebens zum Ziel setzte. Der Verein zählt heute zwischen 1500 und 2000 Mitgliedern. Nach der Wende von 1989 nahm das Interesse für jüdische Religion, Tradition und Kultur stark zu. Zahlreiche kulturelle, religiöse und zionistische Organisationen entstanden oder wurden reorganisiert. Auch die Zahl der jüdischen Zeitschriften und Periodika stieg seit 1989 um das Mehrfache an. Zu nennen sind hier die Zeitung Új Élet (Neues Leben) des „Verbandes der Jüdischen Gemeinden Ungarns“, der vom „Jüdischen Kulturverein Ungarn“ herausgegebene Szombat (Samstag) und die bereits 1911 von József Patai gegründete und 1989 neu publizierte Zeitschrift für Literatur und Kunst Múlt és Jövô (Vergangenheit und Zukunft). Auch zwei jüdische Verlage, „Makkabi“ und „Múlt és Jövô“, wurden 1989 gegründet. Auch das jüdische Schulwesen wird immer breiter. Die Wiederbelebung der religiösen Erziehung wird von der Chabad-Lubawitsch-Bewegung, die vor einigen Jahren einen Rabbiner nach Budapest gesandt und kürzlich einen Kindergarten sowie eine Schule eingerichtet hat, stark unterstützt. Institutionen wie die American Endowment School mit 200 Schülern, 1990 von der Reichmann-Stiftung gegründet, bieten eine traditionelle religiöse Erziehung. Die Schule des „Verbandes der Jüdischen Gemeinden in Ungarn“, die SándorScheiber-Schule, sieht sich der Neologie verpflichtet, die 1990 entstandene Lauder Javne Jüdische Gemeinschaftsschule (und Kindergarten) unterrichtet ihre Schüler im liberalen jüdischen Geist. Am Rabbinerseminar wurde nach der Wende mit dem Pädagogium eine neue Fakultät eingerichtet, an der Religionslehrer und Sozialarbeiter ausgebildet werden. Während die kommunistische Regierung Ungarns niemals offiziell die Verantwortung für das den ungarischen Juden vor 1945 zugefügte Unrecht übernommen und ihnen deshalb weder eine moralische noch eine materielle Entschädigung zugebilligt hatte, wurde die Frage der Entschädigung nach der Wende von 1989 wieder aktuell. Die demokratisch gewählten Regierungen drückten nun ihr Bedauern über die Leiden der Juden im Zweiten Weltkrieg aus. Das Parlament verabschiedete 1991 und 1992 drei Entschädigungsgesetze, nach denen allen ungarischen Staatsbürgern, die 1939 rechtswidrigen Verfolgungen zum Opfer gefallen waren, deren Eigentum widerrechtlich konfisziert worden war oder die aus politischen Gründen ermordet oder ihrer Freiheit beraubt worden waren, Entschädigung zusteht (Gesetz Nr. 25/1991, 24/1992, 32/1992). Diese Entschädigung kommt den Opfern selbst bzw. ihren Ehegatten oder unmittelbaren Nachkommen zugute. Aufgrund dieser

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drei Gesetze haben etwa 30 000 ungarische Juden Entschädigung in Form von Staatspapieren erhalten. Mit dem Untergang der kommunistischen Diktatur keimte auch der Antisemitismus in Ungarn wieder auf. Laut empirischen soziologischen Untersuchungen sind 8% der ungarischen Erwachsenen entschieden antisemitisch. Der offene politische Antisemitismus tritt lediglich in marginalen rechtsextremen Gruppierungen in Erscheinung, die über keine bedeutende politische Unterstützung verfügen. Die größte politische Organisation des rechtsextremen Spektrums, die „Partei für ungarische Wahrheit und Leben“ (MIÉP), erreichte bei den Parlamentswahlen 1994 1,5% der Wählerstimmen und verpaßte damit den Einzug ins Parlament. Bei den Wahlen im Mai 1998 überwand sie jedoch mit 250 000 Stimmen die Fünfprozenthürde und erhielt 14 Sitze im Parlament. (Übersetzt von Brigitta Eszter Gantner)

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Ostmitteleuropa und Osteuropa

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Norbert Franz, Wilfried Jilge

Rußland, Ukraine, Weißrußland, Baltikum (Lettland, Estland) Vorbemerkung Ein großer Teil der osteuropäischen Juden lebte über lange Perioden der Geschichte in den Gebieten der Staaten Rußland, der Ukraine, der Belarus’ (Weißrußland), Lettland und Estland. Das Verständnis der politischen und sozialen Entwicklung der Juden Osteuropas entzieht sich aber einer an den Grenzen der noch vergleichsweise jungen Nationalstaaten orientierten Perspektive. Den größten und kulturell wie religiös wohl bedeutendsten Ansiedlungsbereich der Juden Osteuropas stellte das Königreich Polen-Litauen dar, das lange Zeit weite Teile der ukrainischen und weißrussischen Gebiete unter seiner Herrschaft vereinigte. Nach den Teilungen Polens kam der größte Teil der osteuropäischen Judenheit zum Russischen Reich, das bereits im 18.Jh. die heute zu Lettland und Estland gehörenden Territorien Livlands und Kurlands inkorporiert hatte. Die Geschichte der Juden Osteuropas ist durch die politischen und sozioökonomischen Bedingungen in diesen Vielvölkerreichen nachhaltig beeinflußt worden. Einige wichtige Zentren der osteuropäischen Judenheit, wie z. B. Galizien, die Bukowina oder die Karpatho-Ukraine, können in diesem Beitrag nicht behandelt werden, auch wenn sie heute teilweise Bestandteil des ukrainischen Staates sind. Die Geschichte der Juden in diesen Regionen, die lange Zeit zum Habsburgerreich (Galizien: 1772–1918; Bukowina: 1775–1918) gehörten, wird in anderen Länderartikeln ausführlich berücksichtigt. Zudem unterschieden sich die für die Juden relevanten staatsrechtlichen und politischen Bedingungen im Habsburgerreich in mancher Hinsicht von denen im Zarenreich. Ähnliches gilt für das seit dem Wiener Kongreß mit dem Zarenreich verbundene Königreich Polen („Kongreßpolen“), das trotz seiner im Laufe der Zeit immer engeren Anbindung an das Zarenreich stärker als die früheren Ostgouvernements Polen-Litauens den Charakter eines Gebietes eigener Art bewahrte und ebenfalls im Artikel zu Polen-Litauen Erwähnung findet. Der in historischen Darstellungen für die Juden Osteuropas häufig verwendete Begriff des „Ostjudentums“ wird hier weitgehend vermieden. Der Begriff wurde 1903 erstmals von Nathan Birnbaum benutzt. Er sollte den in seinem Volk und in den Traditionen verwurzelten Juden von dem assimilierten Juden westeuropäischen Typs abgrenzen. In der historiographischen Literatur lebt der Terminus fort, häufig allerdings als Oberbegriff für die Juden Osteuropas verwendet, oder er bezeichnet eine besondere Form jüdischer kultureller Identität, die sich im 18. Jh. innerhalb der Judenheit Osteuropas u. a. auf der Grundlage der Frömmigkeitsbewegung des Chassidismus und der Ausbildung einer eigenständigen Sprache, des Ostjiddischen, herausgebildet habe. Die Gründe für die weitgehende Vermeidung

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des Begriffs „Ostjuden“ liegen zum einen darin, daß in diesem Artikel nur am Rande auf die Lebenswelt der Juden in Polen-Litauen – dem eigentlichen Kerngebiet des „Ostjudentums“ – eingegangen wird. Wichtiger aber noch ist die Einsicht, daß ein einheitlicher Begriff auch eine weitgehende kulturelle Identität suggeriert, die aber angesichts der Vielfalt, die die Judenheit Osteuropas vor allem im 20. Jh. kennzeichnet, kaum plausibel bestimmt werden kann. Für antijüdische Maßnahmen und Einstellungen bis in die Zeit des ersten Drittels des 19. Jhs. werden grundsätzlich die Begriffe „antijüdisch“ oder „judenfeindlich“ verwendet, da der Begriff des Antisemitismus vor allem mit ideologischen Strömungen verbunden ist, die ihrerseits in engem Zusammenhang mit Industrialisierung und den politischen Strukturen der Massengesellschaft standen, die zum Ende des 19. Jhs. aufkamen.

Die ersten Juden in Osteuropa und die Ostslaven Herkunft und Vorgeschichte der Juden in Osteuropa Die Anfänge jüdischer Präsenz in Osteuropa verlieren sich im Sagenhaften. Der Legende nach haben die ersten jüdischen Siedler den Kaukasus bereits nach der Zerstörung des Reiches Juda durch Nebukadnezar erreicht. Dort lebten vorindoeuropäische Völker wie die Georgier mit indoeuropäischen und später mit turkstämmigen Völkern auf relativ engem Gebiet miteinander. Auch recht kleine Gruppen konnten in unzugänglichen Bergtälern ihre sprachliche und kulturelle Identität wahren. In den Bergtälern v. a. des späteren Daghestan setzten sich auch jüdische Gruppen fest, die sogenannten Bergjuden, die einen iranischen Dialekt sprechen und in der Alltagskultur den übrigen Kaukasiern sehr ähnlich sind. Die Volkszählung von 1959 ermittelte 30 000 Personen, die sich dieser Gruppe zugehörig erklärten. Die georgischen Juden (1959: 36 000) sprechen, seit es im 9. Jh. Aufzeichnungen über sie gibt, Georgisch. Damals bildete sich unter ihnen eine karaitische Gruppierung. Der Ursprung der Karaiten ist Kleinasien. Von dort breiteten sie sich bis nach Ägypten und im 11.Jh. nach Byzanz aus. Der nördliche Rand des Schwarzen Meeres, vor allem die Halbinsel Krim, war seit der Antike ein ökonomisch und militärisch wichtiger Vorposten der griechischen Welt. Da die Stimmung in Byzanz nicht immer judenfreundlich war, emigrierten immer wieder Gruppen aus dem Zentrum in die Rand- und Grenzgebiete, was sich am Nordrand des Schwarzen Meeres besonders anbot, weil die Oberschicht im benachbarten Chasarischen Reich sich zum Judentum bekannte. Außerdem war die Krim ein idealer Ausgangspunkt für den Fernhandel nach Norden und Osten. Hier entstanden größere jüdische Gemeinden mit einem bedeutenden Anteil an Karaiten. Zerstreut über viele Länder, konnten die Juden für den Fernhandel der Diasporasituation einen Vorteil in Form vielfältiger länderübergreifender Kontakte abgewinnen. Die Attraktivität der Krim und anderer Orte der Schwarzmeerküste blieb auch erhalten, als im 10. Jh. die aus dem Norden kommende Rus’ militärisch präsent wurde. Ab dem Jahr

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1223 begannen tataro-mongolische Truppen die Krim zu erobern, die bis auf wenige Flecken dem Reich der Horde eingemeindet wurde. 1455 entstand das selbständige Chanat „Kyrym“ oder „Krym“. Auch während der Herrschaft der Chane wanderten Juden von Byzanz auf die Krim aus, wo sie weniger in der eigentlichen Küstenregion als vielmehr im Hinterland, der sogenannten Berg-Krim, siedelten. Die Krim-Juden assimilierten sich sprachlich an ihre Umgebung. Auf der Basis der von den Krim-Tataren gesprochenen Turksprache entstand das „Krimtschakische“. Daß ihre Sprecher, soweit sie Rabbaniten waren, „Krimcˇaki“ genannt werden, geht auf die russischen Behörden im 19. Jh. zurück. Auf der Krim bildeten nämlich die Karaiten die Mehrheit unter den Juden, und weil für diese seit dem 18.Jh. besondere Bestimmungen galten, gibt es eine eigene Bezeichnung für die rabbanitischen Juden der Krim. Der Zensus von 1959 ermittelte noch etwa 1500 Krimtschaken, von denen etwa 10% das Krimtschakische ihre Muttersprache nannten. Als Untertanen des für die Krim zuständigen Chan waren die Karaiten auch in die gelegentlich stattfindenden militärischen Auseinandersetzungen mit den Litauern verwickelt, die ihr Reich möglichst weit nach Süden ausdehnen wollten. Auf diese Weise gerieten Karaiten als Kriegsgefangene bis nach Wilna und in andere Städte, wo sie Gemeinden bildeten. Mit dem massiven Zuzug rabbanitisch orientierter Juden aus West- und Mitteleuropa wurden die litauischen Karaiten zu einer Minderheit. Über die Anfänge der Chasaren weiß man wenig. Sicher war ihr Reich, das mehr als vier Jahrhunderte bestand, ein Vielvölkerreich, in dem kaukasische, asiatische und Turkvölker zusammenlebten. Das Reich der Chasaren erstreckte sich in einem breiten Halbkreis nordöstlich des Schwarzen Meeres von der Krim bis zum Kaukasus. In ihrem Gebiet verliefen und kreuzten sich wichtige Handelsstraßen. In der West-Ost-Richtung waren es die Vorläufer der späteren Seidenstraße, in der Nord-Süd-Richtung war es die Verbindung aus dem persisch-arabischen Raum zur nördlichen Steppe über die Pässe des Kaukasus oder – diesen umgehend – an der Küste des Kaspischen oder des Schwarzen Meeres entlang. Die Kontrolle dieser Engpässe war für das Chasarenreich lebensnotwendig. Als sich im 7. Jh. die Armeen des Kalifats anschickten, über den Kaukasus in die osteuropäischen Steppen vorzudringen, wurden sie von den Chasaren aufgehalten. Die muslimischen Nachbarn im Süden suchten von da an die Chasaren zum Islam zu bekehren. Deren politische Führung wollte sich jedoch nicht einem der beiden benachbarten Kulturkreise anschließen, was durch einen Übertritt zum Islam oder zum Christentum byzantinischer Prägung die notwendige Folge gewesen wäre. Angesichts dessen hatten jüdische Kaufleute und in deren Gefolge reisende Gelehrte die Chance, den Chasaren das Judentum nahezubringen. In der Tat entschloß sich – nach einigen Quellen um 740, nach anderen im 9. Jh. – die chasarische Oberschicht dazu, den jüdischen Glauben anzunehmen. Die Masse der Bevölkerung hing weiterhin Naturreligionen, dem Islam oder dem Christentum an, für das im 9. Jh. die späteren Slavenmissionare Kyrillos und Methodios während einer Missionsreise ins Chasarenreich besonders warben. Durch das Auftauchen der skandinavischen Normannen bzw. Waräger entstand ein neuer Handelsweg in Nord-Süd-Richtung: „ot varjag do grek“ (von den Warägern zu den

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Griechen). Die Kaufmanns-Krieger aus dem Norden unterwarfen sich die slavischen Stämme und stellten Expeditionen bis in den Kaukasus oder nach Konstantinopel zusammen. Zumindest am Dnepr’ gerieten sie in einen Konflikt mit den Chasaren, der den Untergang des Chasarischen Reiches gegen Ende des 10. Jhs. zur Folge hatte. Die warägischen Rus’ eroberten 986 die Hauptstadt und rissen die Schlüsselpositionen im Fernhandel an sich. Die jüdische Oberschicht der Chasaren schloß sich den jüdischen Gemeinden auf der Krim, im Kaukasus oder in Innerasien an, wobei es auch Überlieferungen gibt, ursprünglich chasarische Juden hätten sich bis nach Spanien durchgeschlagen. Die Kiever Rus’ Rus’ war ursprünglich ein Ethnonymikon für die Waräger, das dann auch auf die slavischen Untertanen und schließlich auf das Land Anwendung fand. Formen von Staatlichkeit hatte es sicher schon vor dem legendären Gründungsjahr 861/62 gegeben, aber erst im 9. Jh. war der Fernhandel so ertragreich geworden, daß der Zusammenschluß der einzelnen Territorien von der Ostsee bis tief in die Steppe hinein organisiert und umfassend gesichert werden mußte. Die Oberschicht der Rus’ ging schon nach wenigen Generationen völlig in der bodenständigen Bevölkerung auf. Die Hauptstadt war Kiev, in dem bereits die ältesten Stadtbeschreibungen ein „zˇ idovski vorota“ (Judentor), und ein „zˇidove“ erwähnen. Ob es sich hierbei um einen ganzen jüdischen Stadtbezirk oder nur um einige Kaufmannshöfe handelte, ist unklar und auch umstritten. Angesichts der Tatsache, daß sich in Kiev verschiedene Handelswege kreuzten, darf man annehmen, daß nicht nur chasarische, sondern auch aus Byzanz und Westeuropa stammende jüdische Kaufleute in einer gewissen Anzahl und vor allem auch dauerhaft in der Stadt lebten. Als sich die Oberschicht der Rus’ zu einer größeren kulturellen Annäherung an einen Nachbarn durch Annahme der dortigen Staatsreligion entschied, wurde die Wahl – wie schon vorher bei den Chasaren – nicht zufällig getroffen. Bei der Rus’ war es Byzanz, das zwar mächtig, aber auch genügend weit entfernt, d.h. nicht in die Rus’ hinein expansiv war. Die relativ späte Christianisierung im Jahr 988 hatte die Übernahme des byzantinischen Kulturmodells zur Folge, das allerdings nicht in seinen über Jahrhunderte gewachsenen Differenzierungen, sondern nur in wesentlichen Zügen „übersetzt“ wurde. Missions- und Kultsprache war slavisch, weshalb die entstehende orthodoxe Kultur der Rus’ „einsprachig“ war. Die Aufwertung des Slavischen zur Schriftsprache hatte sicher vieles für sich. Ein entscheidender Nachteil war jedoch, daß sie nur eine partielle Teilhabe an der europäischen Kultur, wie sie sich im tradierten lateinischen und griechischen Schriftgut sedimentiert hatte, erlaubte, soweit sie eben ins Slavische übersetzt war. Die orthodoxe Kultur brachte es mit sich, daß man sich für die spätere Geschichte nicht so sehr an die direkten Erfahrungen aus der im großen und ganzen friedlichen Nachbarschaft von Juden und Christen erinnerte, sondern es wurden vielmehr die im Schrifttum tradierten Vorstellungen vom Judentum wirksam. Dieses stammte überwiegend aus der Zeit der frühchristlichen Abgrenzungen. Spätestens seit den christologischen Konzilien galt

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das Judentum als Häresie, da die Juden Jesus von Nazareth nicht als Messias und Gottessohn bezeugten. In der Rus’ war die Furcht vor Häresien besonders ausgeprägt, da – der fehlenden Sprachkenntnisse wegen – die über Jahrhunderte fortgeschriebene Kriteriologie nicht direkt nachvollziehbar war. Wegen vieler Fragen mußten sich die Bischöfe nach Byzanz wenden. Die Juden waren jedoch nicht die einzigen und nicht die wichtigsten Häretiker, mit denen sich die theologisch eher ängstlichen ostslavischen Mönche konfrontiert sahen. Die stärkeren Angriffe galten den Lateinern. Angesichts des unaufhaltbar scheinenden Schismas – vollzogen wurde es 1054 – wurden klare Grenzen gezogen. Das Abendmahl mit Azymen statt mit gesäuertem Brot zu feiern, galt als ebenso jüdische wie lateinische Häresie. Die Unterschiede zu den Andersgläubigen, unter ihnen den Juden, wurden in der Literatur sehr deutlich akzentuiert. Als besonders autorisierte Texte galten dabei die Predigten des Johannes Chrysostomos Adversus Iudaeos, die im 12.Jh. ins Slavische übersetzt worden waren. An ihnen orientierten sich einheimische Homileten, aber es bedurfte ihrer nicht, um aus dem Gegensatz Judentum – Rus’ theologische Funken zu schlagen: Ilarion, der erste Slave auf der Kathedra des Metropoliten von Kiev, verfaßte bereits um 1056 eine Predigt Slovo o zakone i blagodati (Predigt von Gesetz und Gnade), in der er die Paulinische Deutung (Gal 4, 22–31) der SaraHagar-Dichotomie (Gen 11–23) auf Judentum und Rus’ überträgt: So wie Hagar Abraham zuerst einen Sohn gebar, dann aber verstoßen wurde, so waren auch die Juden zuerst Gottes Volk, erwiesen sich dann aber dessen nicht würdig und wurden verstoßen. Und wie man neuen Wein nicht in alten Schläuche gieße (Mt 9, 17), so erfreue sich eben das zuletzt missionierte Volk – die Rus’ – der besonderen Zuwendung Gottes. Der Verweis darauf, daß die ersten die letzten und die letzten die ersten sein werden, stellt (erstbekehrte) Juden und (letztbekehrte) Rus’ in ein Spannungsverhältnis, das einerseits eine große Ähnlichkeit (Bewußtsein der Erwählung) impliziert, andererseits aber auch eine klare Konkurrenz und Abgrenzung. Sieht man von dieser sehr offensichtlichen Indienstnahme bekannter Topoi ab, bleibt der ganze Bereich der unpolemischen Aneignung des Jüdischen: Unter Jaroslav dem Weisen (1019–1054) wurde das Bellum Iudaicum des Iosephus Flavius (über eine Mittlersprache) ins Slavische übersetzt. An ihm orientierten sich die Gattungen der Kriegerzählungen. Andere Texte, wie das biblische Buch Ester und einige nichtkanonische Werke, wurden anscheinend direkt aus dem Hebräischen übersetzt. Reiseberichte von Wallfahrten nach Palästina gaben Kunde vom Heiligen Land. Byzanz war nicht nur in religiöser und allgemein kultureller Hinsicht das große Vorbild für die Rus’, es war es auch im Politischen. Dennoch hat die Rus’ dieses Ideal nicht in toto übernommen. So war z. B. ihr Rechtssystem eigenständig, wenn auch das christliche Reich byzantinischen Zuschnitts als Ideal wirksam blieb. Die in Byzanz gesetzlich fixierte Benachteiligung der Juden (Ausschluß von bestimmten Ämtern; Verbot, christliche Sklaven zu haben, usw.) war in der Kiever Rus’ daher nicht wirksam. Dort war die Politik anscheinend sehr pragmatisch. Die Chroniken erwähnen die Juden nur ganz selten. Erwähnung finden

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sie z. B. unter dem Jahr 1113, in dem es nach dem Tod des Großfürsten Svjatopolk in Kiev zu Übergriffen gegen Juden kam, die moderne Historiker in Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um das Salzmonopol bringen. Der neue Großfürst Vladimir Momomach verwies die Juden dann der Stadt. Die Kiever Rus’ war ein politisch sehr instabiles Gebilde, das nicht erst des Tatareneinfalls im 13. Jh. bedurfte, um zu zerbrechen. Das Senioratsprinzip, das eine hohe Mobilität unter den Fürsten voraussetzt, hat nie richtig funktioniert, und die wirtschaftliche Entwicklung verlief in den einzelnen Fürstentümern sehr unterschiedlich. Zusammengehalten wurde die Rus’ durch das Bewußtsein, einen gemeinsamen Glauben, eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Geschichte, ein kulturelles Erbe zu haben. (Norbert Franz)

Die Moskauer Rus’ und das russische Imperium Das 13. bis 16.Jh. in Moskovien In den Rivalitäten der Fürsten Zentralrußlands um die Vormacht spielte nicht nur militärische Durchsetzungskraft, sondern auch die symbolische Legitimierung eine Rolle. Dies steigerte die politische Bedeutung der orthodoxen Kirche, denn nicht zuletzt die Kathedra des Metropoliten machte eine Fürstenstadt zur Hauptstadt. Für die Moskauer Fürsten war es deshalb eine große Aufwertung, daß der Metropolit ab 1320 seinen Sitz dauerhaft in der Stadt nahm. Waren schon in der Kiever Zeit Sprache, Geschichte und Religion die wichtigsten Bausteine der kollektiven Identität gewesen, so nahm in der Moskoviter Zeit die Rolle der Religion zu, zumal die tradierten Institutionen Großfürstentum und Kirche stärker aufeinander bezogen waren. Die aus Byzanz ererbte Vorstellung von der „Symphonia“, dem „Gleichklang“ staatlicher und kirchlicher Macht, wurde zumindest insofern nachgeahmt, als eine größtmögliche Homogenität angestrebt wurde: Jurisdiktionsbereich des Metropoliten und Herrschaft des Großfürsten sollten in eins fallen, legitimer Herrscher aller orthodoxen Ostslaven war – in dieser Konzeption – eigentlich nur der Moskoviter Großfürst. Es entstand die Vorstellung vom „Heiligen Rußland“, in dem staatliche Herrschaft und Orthodoxie eine untrennbare Mischung eingingen. Das anfangs sehr kleine, aber expansive Fürstentum Moskau hatte zunächst keine nichtorthodoxen Untertanen. Dort, wo an den Rändern des Herrschaftsbereichs heidnische Völker, wie etwa die Syrjänen, Untertanen des Fürsten wurden, setzte eine intensive Missionstätigkeit ein. Als es in den siebziger und achtziger Jahren des 15. Jhs. zu Kontakten mit jüdischer Gelehrsamkeit kam, geriet die orthodoxe Kultur in eine tiefe Krise. Es ist dies ein kompliziertes Kapitel im russisch-jüdischen Verhältnis, weil die Hintergründe nur indirekt aus den größtenteils polemischen Quellen abgeleitet werden können. Es gibt aber anschaulich Aufschluß über die Verschiedenheit der orthodoxen Kultur in- und außerhalb Moskoviens. In den siebziger und achtziger Jahren des 15. Jhs. gab es Unruhen unter der Novgoroder Stadtgeistlichkeit. Ein Pope hatte dem Erzbischof einen direkt aus dem Hebräischen übersetzten Psalter übergeben und ihn auf eine Gruppe von Geistlichen aufmerksam gemacht,

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die einer Häresie anhängen sollten. Bei der weiteren Verfolgung der Angelegenheit mußte Erzbischof Gennadij feststellen, daß die Häretiker in Moskau Unterstützung fanden und dies nicht nur bei Teilen der Geistlichkeit, sondern auch bei reichen Kaufleuten und hohen Beamten des großfürstlichen Außenamtes. Nach 1490 nahm sich Iosif, der Abt des Klosters von Volokolamsk, der Angelegenheit an. Er entfaltete einen großen Propagandafeldzug aus Briefen, Traktaten und Sendschreiben gegen die Lehren der Häretiker, die er „zˇidovstvujusˇcˇie“ (Judaisierende) nennt. Er erreichte, daß 1504 ein Prozeß angestrengt wurde, an dessen Ende die Verurteilung einer ganzen Gruppe zu langen Haftstrafen, in einigen Fällen auch zum Tode, stand. Für schuldig befunden wurden eine Schwiegertochter des Großfürsten, hohe Beamte aus dem Dienstadel und Stadtgeistliche. Da die Schriften Iosifs über weite Strecken sehr polemisch sind, hat man die Bezeichnung „Judaisierende“ bisweilen als reine Polemik, als Instrumentalisierung antijüdischer Vorurteile, ansehen wollen. Erst detaillierte Untersuchungen aus den letzten Jahrzehnten haben gezeigt, daß zwar nicht wenige Argumentationsstrategien grundsätzlichen politischen Auseinandersetzungen geschuldet waren, der Kern der Anschuldigungen jedoch nicht einfach aus der Luft gegriffen war. Bei den Häretikern waren nämlich Bücher bekannt, die entweder aus dem Hebräischen oder zumindest über jüdische Vermittlung ins RussischKirchenslavische übersetzt worden waren: das Vocabularium logicae des Moses Maimonides, das Schesch Kenafim („Sechsflügelbuch“) des Immanuel ben Jakob Bonfils, die Schriften von Ghasali, das pseudoaristotelische Secretum secretorum und andere philosophische, naturkundliche und mystische Schriften. Eine davon, das Ladoicäische Sendschreiben, wird als Versuch gedeutet, gnostisch-kabbalistische Spekulationen auf das slavische Alphabet anzuwenden. Nach der Lektüre dieser Texte sollen die Häretiker die Trinität geleugnet und die Ikonenverehrung abgelehnt haben. Ort der Übersetzung war wohl Kiev gewesen, und da die Kiever Juden in ihrer Stadt keine eigene Ausbildungsstätte hatten, pflegten sie besonders gute Beziehungen nach Konstantinopel und auf die Krim, versuchten aber gerade in der zweiten Hälfte des 15. Jhs. selbständiger zu werden. In Moskau und Novgorod fand die Übersetzungsliteratur das besondere Interesse der bildungsbeflissenen Aufsteiger, die ihrer Fähigkeiten und ihres Wissens wegen im Klerus oder als Beamte Karriere gemacht hatten. Letztere lieferten dem Großfürsten und Zaren wichtige Argumente in dessen Auseinandersetzungen mit der kirchlichen Hierarchie um den Grundbesitz der Kirche – was erklärt, warum dieser sie schützte, solange er konnte. Daß vor allem Iosif von Volokolamsk mit solcher Wucht auf die Lehren reagierte, zeigt, daß ein ganz grundsätzlicher Bereich berührt war, nämlich der der Offenbarung und damit der Vorstellung von Gott als trinitarischem oder als monopersonalem. Daneben auch die nicht minder sensible Frage nach dem Verhältnis von Traditionalität und Rationalität, die hinsichtlich der Gottesbilder (Ikonen) für die Orthodoxie von besonderer Bedeutung ist. Eine Folge der Kulturkrise war jedenfalls, daß führende Hierarchen der Orthodoxie Bildungsmaßnahmen einleiteten.

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Im allgemeinen waren jüdische Kaufleute nur auf Reisen im Moskauer Reich unterwegs, was in erster Linie damit zu tun hat, daß sie in der Regel Untertanen des polnischen Königs waren und als Fremde nur eine kurze Aufenthaltsgenehmigung erhielten. Anders war es um die Ausländer bestellt, die vor allem unter Ivan III. in Westeuropa – meist in Italien – als Fachkräfte angeworben worden waren: Architekten, Ingenieure, Münzmeister. Daß diese römischen oder – wie im Fall des „Kreml’-Arztes“ Leone – jüdischen Glaubens waren, nahm man in Kauf. Leone wurde 1490 im Moskau geköpft, weil er den Thronfolger bei einer schweren Krankheit nicht hatte vor dem Tod bewahren können. Man warf ihm einen Kunstfehler vor. Die jüdischen Kaufleute, die von Polen-Litauen aus nach Moskovien einreisten, waren öfter Gegenstand diplomatischer Auseinandersetzungen. Da sie auf der Rückreise im Grenzgebiet nicht selten überfallen wurden, intervenierten die polnischen Könige beim Zaren. Ivan IV. Vasil’evicˇ (1533–1584), genannt „der Schreckliche“, schloß deshalb die Grenzen für jüdische Kaufleute. Dieser Schritt muß offensichtlich im Zusammenhang mit den Anstrengungen englischer Kaufleute gesehen werden, den Westhandel Rußlands ganz für sich zu beanspruchen, um ihn auf dem Seeweg über den Hafen Archangelsk abzuwickeln. Das kam den Russen gelegen, denn die Beziehungen mit Polen-Litauen waren oft von kriegerischen Auseinandersetzungen um Städte im Grenzgebiet geprägt, und das machte den Handel zu Lande schwierig. Während des moskovitisch-litauischen Krieges von 1562 bis 1570 nahm Ivan IV. in einem raschen Erfolg die Festung Polock. Mit der Unerbittlichkeit, der er seinen Beinamen verdankte, schüchterte er die Bevölkerung ein. Etwa 300 Juden, die sich nicht taufen lassen wollten, ließ er in der Düna ertränken, ihr Vermögen wurde eingezogen. Maßnahmen dieser Art ergriff Ivan häufiger nach der Eroberung von Städten. So ließ er z.B. 1570 einen großen Teil der Bevölkerung Novgorods ermorden, weil er Verräter in der Stadt wähnte. (Norbert Franz) Die Juden im Zarenreich seit der „Zeit der Wirren“ Während der „Zeit der Wirren“ (1598–1772), einer Zeit, in der Rußland eine schwere politische und wirtschaftliche Krise durchlief, verstärkten sich antijüdische Parolen. Nachdem 1598 mit dem Tod Fedors, des letzten überlebenden Sohnes Ivans IV., die Dynastie der Rjurikiden ausgestorben und auch der daraufhin zum Zaren gewählte Boris Godunov verstorben war, brach die bestehende Ordnung zusammen. Das Interregnum führte zur militärischen Intervention Polen-Litauens und Schwedens. Juden waren insofern an den Ereignissen beteiligt, als sie sich im Gefolge der Polen aufhielten bzw. als Marketender die polnischen Armeen begleiteten. Die Gefährdung der politischen Einheit und religiösen Identität Moskaus durch Polen-Litauen erzeugte xenophobe Stimmungen und verstärkte die judenfeindliche Einstellung Moskaus. Die Juden wurden als Helfer des polnischen Feindes angesehen oder mit ihm direkt identifiziert. Die Kirche brandmarkte die Juden als „Gottesmörder“. Die mehrfach als falsche Zarensöhne auftretenden Thronanwärter bezeichnete man, um sie abzuwerten, als gebürtige „Juden“.

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Als 1610 der polnische Prinz Władisłav zum Zaren gewählt wurde, wurde ihm durch seine Anhänger vor der Wahl auferlegt, keine Kirchen und Kapellen von Katholiken zu dulden und die Ausübung anderer nichtorthodoxer Religionen nicht zu tolerieren. Besonders erwähnt wurde, daß die Juden nicht ins Moskauer Reich gelassen werden dürften, auch nicht zu geschäftlichen oder irgendwelchen anderen Zwecken. Die antijüdische und fremdenfeindliche Agitation kam teilweise aus Kreisen der Familie der Romanovs, die diese Propaganda beim Kampf um die Nachfolge auf den russischen Thron für ihre Ziele einsetzte. Es mag auch an diesen aktuellen Umständen der Thronfolge liegen, daß fast alle nachfolgenden Romanovs die antijüdischen Haltungen ihrer Vorgänger teilten, was sich aber nicht unbedingt in einer antijüdischen Regierungspraxis niederschlug. In der Regierungszeit des Zaren Alexej Michaijlovicˇ (1645–1676) wurden ebenfalls antijüdische Maßnahmen getroffen. Da Rußland in die Auseinandersetzungen zwischen den aufständischen Kosaken unter Bogdan Chmel’nickij gegen die polnische Adelsrepublik eingriff, kamen die russischen Truppen beim Einmarsch in polnisch-litauische Gebiete in Kontakt mit den hier bereits lange etablierten jüdischen Gemeinden. Die russischen Besatzer wollten beispielsweise die weißrussische Stadt Mogilev erst betreten, wenn alle Juden aus der Stadt verbannt waren. In der Hoffnung auf baldige Wiederkehr der polnischen Herrschaft zögerten viele Juden, die Stadt zu verlassen, und so kam es bis zur Ankunft polnischer Truppen dort zu von Russen an Juden verübten Massakern. In Vitebsk leisteten die Juden tapferen Widerstand, konnten die Einnahme der Stadt durch die Russen aber nicht verhindern. Die meisten Juden wurden gefangengenommen und ins Innere Rußlands abgeschoben, wobei ein Teil zum Übertritt zum orthodoxen Glauben gezwungen wurde. Das Schicksal der Kriegsgefangenen wurde im polnisch-russischen Friedensvertrag geregelt. Zu Einzelfragen dieser Regelungen existieren in der Forschung unterschiedliche Varianten. Nach Simon Dubnow durften ungetauft gebliebene Juden in die Heimat zurückkehren, während die getauften und namentlich inzwischen mit Russen verheiratete Frauen in Rußland bleiben mußten. Auf diese Weise bildete sich in Moskau eine kleine Kolonie von jüdischen Täuflingen in der Moskauer Vorstadt, die teilweise im geheimen ihrem früheren Glauben treu blieben. Manche wurden sogar in die Ehrengilde der Kaufmannschaft aufgenommen. Für ungetaufte Juden aber wurde das Ansiedlungsverbot in Moskau 1676 durch einen Ukaz des Zaren erneuert. In früheren Zeiten hatte es immer wieder kleinere jüdische Gemeinden in Rußland gegeben, und in den Großstädten ließen sich bisweilen einzelne Juden als Händler nieder. Doch erst mit der Annexion der linksufrigen Ukraine im Waffenstillstand von 1667 kam eine größere Gruppe von Juden unter Moskauer Herrschaft. Zwar wurden die Juden in den Verträgen mit Polen von 1678 und 1686 vom Handel in der russischen Hauptstadt ausgeschlossen. Jedoch konnte der Verbleib von Juden, die den Chmel’nickij-Aufstand und die russische Invasion überlebt hatten, in den annektierten, ehemals zu Polen-Litauen gehörenden Gebieten nicht verhindert werden. Peter der Große (1682/89–1725) leitete im Zeichen von Frühaufklärung und rationalem Fortschrittsdenken tiefgreifende Reformen in Rußland ein, um das Zarenreich in ein den

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Westmächten ebenbürtiges Imperium zu verwandeln. Doch obwohl Peter I. bei der Modernisierung von Staat und Gesellschaft auf Gelehrte und Fachkräfte vor allem aus protestantischen Ländern zurückgriff und die Bedeutung konfessioneller Toleranz für die Entwicklung Rußlands erkannte, kam es zu keiner Zäsur in der staatlichen Politik gegenüber den Juden. Jedenfalls hat Peter I. keine Juden in sein Land eingeladen, um westliche Produktionsmethoden und wissenschaftliche Neuerungen einzuführen. Petersburg blieb den Juden unter Peter I. grundsätzlich verschlossen. Die Motive Peters des Großen für diese Politik sind nicht ganz klar. Möglicherweise war er der Ansicht, daß er auf eventuelle judenfeindliche Strömungen im Volk und vor allem auf die der Altmoskauer Tradition verhafteten Kreise am Hof sowie auf die orthodoxe Kirche, die die Ideologie der russischen Autokratie grundlegte, Rücksicht nehmen mußte. Eine allzu tolerante Politik hätte den Widerstand dieser traditionsverbundenen Gruppen provozieren können. Peter selbst teilte zudem mit seinen Vorgängern gewisse antijüdische Abneigungen. So soll er gesagt haben, Juden seien Betrüger und listig, und er versuche, das Böse auszurotten, nicht es zu verbreiten. Andererseits hat Peter während des Großen Nordischen Krieges gegen Schweden (1700– 1721) durch persönliches Eingreifen gewaltsame Übergriffe gegen Juden durch eigene Truppenteile verhindert und die verantwortlichen Anführer exekutieren lassen. Zudem wurden trotz des allgemeinen Einreiseverbots vorübergehend in St. Petersburg weilende jüdische Kaufleute geduldet, was ebenfalls eine eher pragmatische, von ökonomischen Kriterien geleitete Einstellung Peters gegenüber den Juden andeutet. Manche dieser Juden, die als Staatslieferanten oder Finanzagenten tätig waren wie z. B. der Faktor des Zaren, Israel Hirsch, verfügten sogar über starken Einfluß und mächtige Fürsprecher am Petersburger Hof. Das bezüglich der Geschichte der Juden in Rußland wichtigste Ereignis der Regierungszeit Peters I. hing mit seiner Expansionspolitik nach Nordosten zusammen. 1710 eroberte er im Nordischen Krieg gegen Schweden Livland mit der Stadt Riga, also Teile des heutigen Lettland. Dadurch kam, wie nach der Inkorporation der linksufrigen, ukrainischen Gebiete im Jahre 1667, noch vor den Teilungen Polens 1772 eine nennenswerte Zahl von Juden ins Petersburger Reich. Unter den Regierungen Katharinas I. (1725–1727), Peters II. (1727–1730) und Anna Ivanovnas (1730–1740) kam es zu keiner Änderung des Aufenthaltsverbotes für Juden im Russischen Reich. Vielmehr wurden 1727 alle Juden durch einen Ukaz der Zarin Katharina I. formal aus Rußland und der Ukraine ausgewiesen. Zugleich wurde ihre Einreise verboten. Katharina I. bezog sich dabei auf einen Erlaß Peters I., konnte aber ihren Befehl ebensowenig durchsetzen wie dieser, da die Juden für die Wirtschaft in der Ukraine zu wichtig waren. Etwa ein Jahr nach Veröffentlichung des Erlasses wurde der ukrainische Hetman Daniı¯l Apostol in Moskau vorstellig, um den Aufenthalt für Juden zu geschäftlichen Zwecken zu erbitten, da wegen des Erlasses von 1727 der Handel der ukrainischen Märkte mit Polen stark beeinträchtigt worden war. Im August 1728 erging daraufhin im Namen des noch minderjährigen Zaren Peter II. ein Ukaz, der den Juden gestattete, „nach dem Kleinen Ruß-

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land während der Messen zu kaufmännischem Geschäft zu kommen“, was aber auf den Großhandel beschränkt blieb. 1731 wurde dieses Zugeständnis auch auf das Gouvernement Smolensk ausgedehnt, und seit 1734 durften sich die Juden in den ukrainischen Gebieten auch im Kleinhandel betätigen. Wenn der russische Staat in der Folgezeit wieder schärfer gegen Juden vorging, dann hing dies wie zu früheren Zeiten vor allem mit der Furcht der Regierung vor Proselytentum zusammen. 1738 untersuchte die russische Regierung den Fall des aus den Diensten entlassenen Marinekapitäns Aleksandr Voznicyn, der unter dem Einfluß des Juden Baruch Leibov zum Judentum übergetreten war. Baruch Leibov hatte in einem Dorf in der Nähe von Smolensk sogar eine Synagoge errichtet, was den heftigen Widerstand russischer Bürgersleute herausforderte. Er kam aus dem im westlichen Grenzgebiet gelegenen Distrikt Smolensk, wo schon im frühen 18.Jh. kleinere jüdische Gemeinden existierten. Der Prozeß kulminierte in der öffentlichen Verbrennung beider Beschuldigter in St. Petersburg am 15. Juli 1738. Zu dieser Zeit bestätigte die Zarin Anna das Ausweisungsdekret, das auch alle Juden aus der Ukraine vertreiben sollte. Mit Elisabeth (1741–1762) bestieg eine Zarin den Thron, die den orthodoxen Glauben konsequent vertrat und sich durch eine scharfe Intoleranz gegen alle nichtorthodoxen Bekenntnisse auszeichnete. Sie setzte eine Kampagne zur zwangsweisen Konversion von nichtorthodoxen Einwohnern in Gang, die sich vor allem gegen Muslime und Juden richtete. 1742 erließ sie einen Ukaz, der die bedingungslose Ausweisung aller Juden des Reichs vorsah, sofern sie sich nicht taufen ließen. Geschäftliche Zwecke galten nicht mehr als Ausnahme. Gemäß diesem Ukaz, der auch die Juden in der Ukraine sowie in Livland und Riga betraf, fanden in der Folgezeit umfangreiche Vertreibungen statt. 1753 sollen nach allerdings umstrittenen Angaben 35000 Juden aus Rußland ausgewiesen worden sein. Die Einstellung und Politik der russischen Herrscher gegenüber den Juden im 17. und 18. Jh. ist immer noch ein vernachlässigtes Gebiet der Forschung. Gleichwohl wird diese Politik vor der Regierungszeit Katharinas II. häufig als eine mehr oder weniger bruchlose judenfeindliche Tradition beschrieben, die geprägt gewesen sei von „byzantinischem Klerikalismus“ (Dubnow) und fanatischem christlichen Glaubenseifer. Diese Einschätzung ist insofern zutreffend, als die antijüdischen Maßnahmen der Herrscher tatsächlich rein religiös begründet waren, was sich daran ablesen läßt, daß getaufte Juden grundsätzlich als russische Bürger voll anerkannt waren und jede Position besetzen konnten, die ihnen durch Stand und persönlichen Status zugänglich war. In diesem Zusammenhang ist jedoch festzuhalten, daß die Politik der Zaren gegenüber den Juden sich nicht grundsätzlich von ihrer Politik gegenüber den Muslimen und anderen nichtorthodoxen Religionsgemeinschaften unterschied. Auch ist festzustellen, daß sich antijüdischen Stereotype, wie z. B. die im übrigen Europa verbreiteten Ritualmordanschuldigungen, in Rußland kaum entfalten konnten, was auf die geringe Zahl der dort lebenden Juden zurückzuführen sein mag. Die wenigen Juden, die in Moskau oder anderen Städten Innerrußlands oder aber in den abgelegeneren Gebieten des Zarenreiches, z. B. in Riga, Smolensk oder Cˇernigov, lebten, wurden als Fremde angesehen, genossen aber noch nicht einmal diejenigen Rechte, die der

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Status des Fremden anderen bot. Dennoch kamen auch vor der Regentschaft Katharinas II. immer wieder Juden ins Russische Reich. Dies geschah entweder illegal oder mit Genehmigung Polen-Litauens zu Zwecken des Handels. Den Juden aus den weißrussischen Grenzgebieten, die ihre Waren direkt an den Staat lieferten, wurden bisweilen sogar Ausnahmegenehmigungen für einen befristeten Aufenthalt in der Stadt Moskau erteilt. Zudem bezeugen gerade die häufigen Wiederholungen der von den Zaren ausgesprochenen Aufenthaltsverbote sowie die besondere Erwähnung dieser Verbote in Verträgen zwischen Rußland und Polen-Litauen, daß der Aufenthalt von Juden eine dauerhafte Erscheinung im Zarenreich war und daß es eine stringente Politik gegenüber den wenigen Juden seitens der Regierung nicht gab. Darüber hinaus sollte die Judenpolitik etwa der Zaren Ivan IV. und Elisabeth I. nicht vergessen lassen, daß sich in Rußland betont judenfeindliche Traditionen immer wieder mit einer pragmatischen Tradition abwechselten. (Wilfried Jilge)

Das Zarenreich von den Teilungen Polens bis zur Oktoberrevolution Aufklärerisch-absolutistische Integrationskonzepte (1772–1855) Durch die erste Teilung Polens im Jahr 1772, bei der sich Rußland die Wojewodschaften Polock, Vitebsk, Mstislav und Polnisch-Livland sicherte,1 wurden mehr als 100 000 Juden Untertanen der russischen Zarin Katharina II. (1762–1796). Nun hatte auch Rußland, was man später eine „jüdische Frage“ (evrejskij vopros) nannte: die tatsächlichen und eingebildeten Probleme um die Emanzipation der Juden und das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden. Zu diesen Problemen hatte sich bereits seit dem frühen 18.Jh. ein neuer Aspekt gesellt. Von der „kommerziellen Marginalisierung Osteuropas“ (Hildermeier) waren vor allem die Städte betroffen, so daß ein großer Teil der jüdischen Stadtbevölkerung bereits verarmt war und wirtschaftliche Alternativen sich nicht abzeichneten. Der Judenpolitik Katharinas II. lag das Prinzip der Gleichbehandlung zugrunde, das sich, wie es in der von aufklärerischen Grundsätzen getragenen Judenpolitik anderer Staaten auch der Fall war, mit der Forderung und dem Bemühen verband, die traditionellen jüdischen Lebensformen aufzubrechen und die jüdische „Andersheit“ einzuebnen. Hinzu kam, daß sich in Rußland der Gedanke der Aufklärung mit einem tradierten Absolutismus verband, was zur Folge hatte, daß der Staat viel stärker als z. B. in Polen mit Reglementierungen in das wirtschaftliche und soziale Leben der Juden eingriff und die Gemeindeautonomie, die ihnen zugestanden wurde, zu einem Instrument seiner Verwaltung machte. Es war nun kein Recht mehr, sondern eine für alle Juden geltende Pflicht, sich in Kehillot zu organisieren, über die Kahal-Verwaltungen die Steuern zu entrichten und vor diesen Rechtsstreitigkeiten zu klären. 1 Zu den Teilungen Polens und ihre Auswirkungen auf die Situation der Juden in den betroffenen Gebieten vgl. auch den Artikel zu Polen in diesem Band S. 241f.

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Andere Maßnahmen zielten auf eine vorsichtige Integration der wohlhabenderen Juden: Seit 1778 durften sie in den Teilungsgebieten in die Ständegesellschaft überwechseln. Besaßen sie mehr als 500 Rubel, stand ihnen die Klasse der Kaufleute offen, waren sie nicht ganz so reich, das Stadtbürgertum. Anfangs war ihnen noch das Wahlrecht für Magistrat und Stadtgericht vorenthalten, das sie jedoch 1783 erhielten. Die sogenannte Gnadenurkunde von 1785, die Rechte und Pflichten aller Bewohner der Städte festlegte, schloß die Juden nicht aus, weshalb diese ihre Rechte im Bedarfsfall einklagen konnten, auch wenn die christlichen Kaufleute hiergegen heftig protestierten. Die der aufklärerischen Vernunft geschuldeten Maßnahmen waren für die Juden jedoch nicht nur günstig. Vor allem in Rußland war das Projekt der Aufklärung mit einem „social engineering“ großen Stils verbunden – man denke nur an die Reformen Peters des Großen. Der Ehrgeiz Katharinas II. richtete sich auf den Süden und Westen. Ganze Landstriche wie das Wolgagebiet und die Schwarzmeerküste sollten besiedelt werden und reiche Ernteerträge einfahren, neu gegründete Städte sollten Handel, Verkehr und nicht zuletzt die Kultur beleben. An dem von den Städten erwarteten Innovationsschub für Wirtschaft und Gesellschaft sollten nach Katharinas Vorstellung auch die Juden mitwirken. So erging 1782 ein Ukaz, der die jüdische Bevölkerung verpflichtete, in die Städte umzuziehen. Auf dem Land erfüllten sie in den Augen der Monarchin keine produktive Funktion, es sei denn, sie bearbeiteten den Boden. Das Betreiben von Schenken wurde ihnen verboten. Statt dessen erhielt der Landeigner, der in der Regel ein Großgrundbesitzer war, das Alkoholmonopol für seinen Bereich. Einige Juden suchten als Bauern im Süden ihr Glück, aber die Zahlen waren vergleichsweise gering. Auch die Abwanderung in die Städte erfaßte längst nicht die gesamte jüdische Bevölkerung. In einem so großen und schwach organisierten Reich wie dem russischen wurden bei weitem nicht alle Weisungen aus der Hauptstadt umgesetzt. Der Umgang mit Ge- und Verboten war und ist – abgesehen von den Jahrzehnten des Totalitarismus im 20.Jh. – immer pragmatisch. „Rußland ist groß, und der Zar ist weit weg“, heißt es in einem Sprichwort. In den Städten erhielten die Juden 1786 zwar wieder das Schankrecht, aber diese Erlaubnis nützte denjenigen nichts, die bis dahin in andern Funktionen, z.B. als Verwalter, Müller o.ä., auf dem Land tätig gewesen waren. So entstanden die Ansätze zu einer jüdischen Dreiklassengesellschaft: die reichen Kaufleute, die nicht ganz so reichen Bürger und die vielen anderen, denen auf dem flachen Land faktisch keine und in den Städten nur wenige Berufe offenstanden. Die Verpflichtung, in Städten zu leben, wirkte sich auch deshalb besonders nachteilig aus, weil Juden sich nicht in allen Städten zu annehmbaren Bedingungen niederlassen konnten. So konnte sich außerhalb der Teilungsgebiete kein Jude in die Kaufmannslisten irgendeiner Stadt einschreiben lassen. Die Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der städtischen Gesellschaft waren also geographisch eng begrenzt. Daher blieben die Juden in der Regel in den Teilungsgebieten ansässig. Die zweite Teilung Polens brachte 1793 den ganzen Osten Polens bis zu einer Linie Dünaburg–Chotin an Rußland, mit der dritten Teilung 1795 kam noch das polnische

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Litauen, der Rest von Schwarzrußland, Poslesien, Wolhynien, Kurland und Semgallen hinzu. Die Situation in den neuen Gebieten war schwierig. So zeigte der Kosciuszko-Aufstand von 1794, an dem sich polnische Nichtjuden und Juden gleichermaßen beteiligten, daß viele die Eingliederung in das russische Imperium nicht einfach hinzunehmen bereit waren. St. Petersburg mußte also mit länger andauerndem Widerstand rechnen und ließ deshalb in polnischen Angelegenheiten nun größere Vorsicht walten. Gleichzeitig aber bestand Handlungsbedarf, denn die christlichen Kaufleute aus den Westgebieten beschwerten sich über die Massierung jüdischer Konkurrenz, und die Juden selbst kämpften um den Anspruch, sich auch in Moskau, St. Petersburg oder in einer beliebigen anderen größeren Stadt niederlassen zu können. Bereits im Dezember 1791 hatte Katharina II. den Juden die Niederlassung als Kaufleute in den innerrussischen Provinzen und den Hafenstädten verboten. Nach der zweiten Teilung Polens wurde am 23. Juni 1794 eine Liste derjenigen Gebiete erstellt, innerhalb deren Juden siedeln durften. So entstand der sogenannte „Ansiedlungsrayon“ (cˇerta osiedlosti), der die Gebiete von Minsk, Izjaslav (Wolhynien), Brazlaw (Podolien), Polock (Vitebsk), Mohilev, Kiev, Cˇernigov, Novgorod-Seversk (Poltava) und das im Süden neu hinzugewonnene Gebiet Novaja Rossija (Ekaterinoslav und Taurien) umfaßte. Dieser Rayon wurde nach der dritten Teilung Polens um Wilna, Grodno und Kurland und im 19. Jh. durch Astrachan, den nördlichen Kaukasus (1804) und Bessarabien (1812) erweitert. Der Ansiedlungsrayon war keine Schutzzone für die Juden, vielmehr ein groß dimensioniertes Ghetto. Wer versuchte, sich anderswo niederzulassen und dabei ertappt wurde, mußte eine Strafe in Höhe von drei Jahressteuersätzen entrichten und wurde dann in den Rayon zurückgesiedelt. Wer blieb oder neu hinzuzog, hatte die hohen Steuern zu zahlen, die für alle nicht der Staatskirche angehörenden Untertanen galten. Neben den Juden waren dies z.B. die Altritualisten, die sich 1667 von der Staatskirche getrennt hatten. Auch war die Beschränkung der Mobilität keine Maßnahme, die ausnahmslos die Juden getroffen hätte. Sie war eher ein Charakteristikum der Zeit: Der weitaus größte Teil der russischen Bevölkerung, die leibeigenen Bauern, hatten in den Jahrzehnten der katherinäischen Regierung die letzten Spuren ihrer früheren Unabhängigkeit verloren und waren nicht nur an den Boden gebunden, den sie bewirtschafteten, sondern ganz zum frei verfügbaren Besitz der Gutsbesitzer geworden. Auch die Städter, ja selbst die Kaufleute waren Freizügigkeitsbeschränkungen unterworfen. Dies waren die Komplementärerscheinung zu dem ausgeprägten wirtschaftlichen Protektionismus. Innerhalb des Ansiedlungsrayons waren die Juden weiterhin auf die Städte beschränkt, wo nur die Wohlhabenden als Bürger oder Kaufleute die Möglichkeit der politischen Partizipation hatten. Eine den Wünschen der christlichen Stadtbewohner Rechnung tragende Bestimmung engte diese jedoch noch einmal ein: Juden durften nur maximal ein Drittel der Mandate im städtischen Magistrat halten. Die Beschränkung auf die Städte verschärfte die sozialen Probleme, weshalb die Situation der Juden bald zur „jüdischen Frage“ wurde. Armut und Not der jüdischen Bevölkerung waren im Siedlungsbereich der Juden am Ende des 18. Jhs. jedenfalls schärfer ausgeprägt als im russischen Kernland.

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War die Verstädterung, die allerdings, wie angedeutet, nicht konsequent und nur selten mit Gewalt durchgesetzt wurde, eine eher problematische Folge aufklärerischer Politik, so wirkte sich die Anerkennung des Judentums als Religion positiv aus. Der absolutistische Staat verhielt sich gegenüber den Untertanen, die nicht der russisch-orthodoxen Kirche angehörten, tolerant. Dies schlug sich in der Verwaltungspraxis nieder, die die Religionszugehörigkeit nur als ein Personenmerkmal unter vielen in den Dokumenten seiner Untertanen fixierte. Hierzu wurde das Wort „evrej“ (Hebräer) verwendet, das im Gegensatz zu dem häufig abwertend gemeinten „zˇid“ bis ins zeitgenössische Russisch hinein als stilistisch neutral gilt. Parallel zu dem Zugewinn an Land und Untertanen im Westen durch die Teilung Polens erfolgte die Expansion Rußlands nach Süden. In Kriegen mit dem Osmanischen Reich eroberte Katharinas Günstling Fürst Potemkin die Schwarzmeerküste und die Krim (1784). Die abgesetzte tatarische Verwaltung erreichte bei den Übergabeverhandlungen an die Russen u. a. eine Sonderbehandlung für die Karaiten. Diese wurden 1795 den Christen unter der Voraussetzung gleichgestellt, daß sie keine Krimcˇaken in ihre Gemeinden aufnahmen. Die rabbanitischen Juden, deren Zahl gegenüber dem 15. Jh. deutlich zurückgegangen war, mußten wie in den Westgebieten höhere Steuern zahlen und sollten nur in den Städten wohnen. Nicht zuletzt wegen der den Krim-Karaiten zugestandenen Privilegien setzte eine Wanderbewegung der in Polen-Litauen verstreuten Karaiten in Richtung Krim ein. CˇufutKale und Evpatorija wurden zu Zentren der karaitischen Kultur mit eigenen Schulen und Druckereien. Dies wiederum verstärkte die Tendenz zur Ausbildung einer eigenen karaitischen Identität gegenüber den rabbanitischen Juden. Die Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung war während der langen Regierungszeit Katharinas II. von insgesamt drei Prinzipien getragen: dem Toleranzgedanken, physiokratisch-merkantilistischen Ideen und der Maßgabe des Staatsnutzens. Katharinas Motive ähnelten denen, die etwa in den Debatten um die Emanzipation der preußischen Juden, z. B. von Christian Wilhelm Dohm in seiner programmatischen Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781), angeführt wurden. Ihre Maßnahmen waren, auch wenn sie auf längere Sicht wenig Wirkung zeigten, doch zunächst konsequenter als die vieler ihrer regierenden Zeitgenossen, Joseph II. eingeschlossen. Mit ihren gesetzlichen Regelungen legte Katharina II. den Grundstein für die ganze spätere Politik der russischen Zaren gegenüber ihren jüdischen Untertanen. In den weißrussischen Gebieten, die nach den Teilungen Polens in das Russische Reich inkorporiert worden waren, kam es bald nach dem Tod Katharinas II. (1796) zu Spannungen zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Bevölkerung. 1797 wurden nach einer Mißernte, die eine Hungersnot zur Folge hatte, die Juden angeklagt, sie hätten durch den Alkoholausschank die Bauern zu Faulheit und Trunksucht angestiftet. Beschuldigungen dieser Art waren nicht neu. Da das Ausmaß der Hungersnot jedoch erheblich war, wurde eine Untersuchungskommission unter der Leitung des früheren Justizministers Gavriil R. Derzˇ avin eingesetzt. Dieser legte ein Gutachten vor, dessen Titel bereits zeigt, zu welchen Ergebnissen er gekommen war: Meinung des Senators Derzˇavin über die Beseitigung der Ge-

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treidenot Weißrußlands durch Eindämmen der gewinnsüchtigen Gewerbe der Juden. Mit den „gewinnsüchtigen Gewerben“ war der Alkoholverkauf gemeint, den der Senator tatsächlich als letzte Ursache für die Getreideknappheit ausmachen zu können glaubte. Dieser Vorwurf sollte als diffamierendes Stereotyp in der russischen Gesellschaft während des ganzen 19. Jhs. und auch noch im 20.Jh. lebendig bleiben: Die armen Weißrussen, Ukrainer oder Russen werden von den Juden aus purer Gewinnsucht verführt und ausgebeutet. In seine Untersuchung integrierte Derzˇavin auch noch zwei von jüdischer Seite entwikkelte Projekte, die ganz dem aufklärerischen Zeitgeist verpflichtet waren: Zum einen sollten die Juden stärker assimiliert werden. Zu diesem Zweck sollten alle jüdischen Kinder ab dem 12. Lebensjahr eine allgemeinbildende Schule besuchen, in Kleidung und Sprache sollte sich die jüdische Bevölkerung der nichtjüdischen anpassen, und zumindest im Geschäftsverkehr sollte sie sich des Russischen, Polnischen oder Deutschen bedienen. Eine staatliche hebräische Druckerei sollte die Produktion der religiösen Bücher „mit philosophischen Noten“ übernehmen. Auch sollte die Kahal-Autonomie abgeschafft werden. Das zweite Anliegen bestand darin, die Juden stärker der „produktiven Arbeit“ zuzuführen. Derzˇavin befürwortete die Projekte und schlug zu ihrer Durchführung eine Reihe administrativer Maßnahmen vor, wie z. B. die generelle Registrierung der Juden und die Zuteilung zu einer der vier „produktiven“ Gruppen: Kaufleute, Stadtbürger, Handwerker bzw. Fabrikanten oder Bauern. „Unproduktive Juden“ sollten ins benachbarte Ausland abgeschoben werden. Pacht- und Schankwirtschaft sollten ihnen verboten sein. Derzˇavins Gutachten wurde zur Arbeitsgrundlage für ein Komitee, das unter dem Vorsitz des Innenministers im November 1802 seine Arbeit aufnahm. Dieses Komitee legte nach knapp zwei Jahren Tätigkeit einen Vorschlag vor, der am 9. Dezember 1804 als „Polozˇ enie dlja evreev“ (Judenordnung) Gesetzeskraft erlangte. Diese Ordnung schrieb sowohl den Ansiedlungsrayon mit seinen elf Gouvernements als auch die Konzentration der Juden auf die Städte fest. Eine Ausnahme wurde für diejenigen gemacht, die tatsächlich Landwirtschaft betrieben. Für die Umsiedlung in die Städte wurden konkrete Fristen – zwei oder drei Jahre – gesetzt. Auch in vielen anderen Punkten folgte die Ordnung dem Gutachten Derzˇavins, etwa in der Frage der Registrierungspflicht, der Kleiderordnung und dem Sprachengebot, das nicht nur die Amts- und Geschäftssprache regelte, sondern auch die Schulsprache. Die Kahal-Autonomie blieb dagegen bestehen, und die freie Religionsausübung wurde als Recht festgeschrieben. Als Grundgedanke der Ordnung ist erkennbar, daß die Integration an eine (zumindest partielle) Assimilation gebunden war. Emanzipation wurde nicht gewährt, sie mußte erkauft werden. Die Judenordnung von 1804 steht in einer ganzen Reihe von Reformmaßnahmen, die Alexander I. nach seiner Thronbesteigung in Auftrag gab. Dazu gehörten eine Verwaltungsund eine Rechtsreform, eine Bildungsreform und Ansätze zur Verbesserung der Lage der leibeigenen Bauern. Selbst eine Verfassung schien im Bereich des Möglichen. Die allgemeine Schulpflicht für jüdische Kinder stellte also nicht allein eine Assimilierungsmaßnahme dar, sondern war vor allem eine Folge des 1802/03 umgebauten Bildungswesens. Die Auswirkungen, die der Erlaß der Judenordnung auf die Betroffenen hatte, waren ambiva-

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lent. Einerseits schuf sie eine gewisse Rechtssicherheit, die in der Folgezeit durch Maßnahmen wie den 1817 verordneten Schutz vor leichtfertigen Anklagen noch weiter ausgebaut wurde, andererseits verstärkte und systematisierte sie die staatlichen Eingriffe in das Leben der jüdischen Bevölkerung. In den Jahren nach dem Erlaß der Ordnung bemühten sich die Juden daher um mäßigende Ausführungsbestimmungen, die die unangenehmsten Folgen der Judenordnung abmildern bzw. außer Kraft setzen konnten. Dies wurde nach 1812 möglich, als Rußland alle Kräfte mobilisieren mußte, um Napoleons Grande Armée wieder aus dem Land zu drängen. Trotz der Emanzipationsgesetze, die in den von den napoleonischen Truppen besetzten Gebieten Europas erlassen worden waren, sah das osteuropäische Judentum in Napoleon mehrheitlich einen nicht legitimierten Aggressor und unterstützte daher die bestehenden Regierungen in ihren Abwehrkämpfen. Juden dienten, ohne daß sie der Wehrpflicht unterlegen hätten, in der russischen Armee, waren Sanitäter, Kundschafter und Lieferanten. Vertreter der Selbstverwaltungsorgane betrieben in St. Petersburg Lobby-Politik, indem sie als „Deputierte des jüdischen Volkes“ auftraten, und sie erreichten tatsächlich Steuererleichterungen. Die im Jahr 1812 bewiesene Loyalität trug nicht lange Früchte. Zwar wurde die Einrichtung der Deputierten bis zum Tod Alexanders I. im Jahr 1825 beibehalten, aber ansonsten zeigte der Zar für die Anliegen der Juden wenig Verständnis. Nach der Vertreibung Napoleons sah er sich als „Retter Europas“. Die religiöse Überhöhung, die er dieser Rolle beilegte, wird in der Gründung der auf sein Betreiben zustande gekommenen „Heiligen Allianz“ zwischen den christlichen Monarchien Österreich-Ungarn, Preußen und Rußland ebenso deutlich wie in seiner innenpolitischen Propagierung eines stark moralisierenden christlichen Biblizismus, der den zarischen Absolutismus ideologisch untermauern sollte. Die Juden hatten in einem solchen System nicht nur keinen Platz, sondern sie waren sogar verstärkten Missionierungsbemühungen von seiten der aus England stammenden und von Alexander I. unterstützten „Bibelgesellschaft“ ausgesetzt. Es wurde eine „Gesellschaft der israelitischen Christen“ gegründet, deren Ziel es war, die materielle Sicherstellung der getauften oder sich auf die Taufe vorbereitenden Juden zu gewährleisten. Die Bibelgesellschaft wurde 1826 von Alexanders Nachfolger Nikolaus I. aufgelöst, die „Gesellschaft der israelitischen Christen“ 1833. Über Erfolge, so es sie denn überhaupt gab, wurde nicht berichtet. Die intensive Lobby-Politik der „Deputierten des jüdischen Volkes“ hatte nach 1812 erreicht, daß die in der Judenordnung von 1804 vorgesehenen Umsiedelungen vom Land in die Städte zunächst nicht wirklich in Angriff genommen wurden. Dies änderte sich in den zwanziger Jahren, als in den Gouvernements Mohilev und Vitebsk mindestens 20000 Menschen ihre ländlichen Wohnsitze verlassen mußten. Im Süden dagegen machte man mit den Plänen zur zwangsweisen Verbäuerlichung der Juden ernst. Hunderte von Familien wurden in dem Gürtel nördlich des Schwarzen Meeres in Kolonien angesiedelt. Das Experiment war jedoch so schlecht vorbereitet, daß es bald wieder eingestellt werden mußte. Die Herrschaft Nikolaus I. (1825–1855) war von einem großen Mißtrauen gegen jede Art von politischer Unabhängigkeit geprägt. Daß adelige Offiziere ihm vor seiner Inthronisa-

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tion durch Eidverweigerung eine Verfassung abtrotzen wollten (Dekabristenaufstand), war eine lange nachwirkende Erfahrung. Geprägt durch das Militär, schwebte dem Zaren das Ideal einer Gesellschaft vor, die in den Kategorien von Befehl und Gehorsam funktionierte. Er baute die innenpolitischen Kontrollinstrumente aus und nutzte das Militär zur Homogenisierung der nachwachsenden Generationen. Das bedeutete konkret die Ausweitung der Wehrpflicht auch auf die Volksgruppen des Vielvölkerstaates, die sich bislang durch eine Wehrsteuer vom aktiven Dienst hatten loskaufen können. Mit Ukaz vom 26. August 1827 wurde der Wehrdienst auch für die Juden zur Pflicht, ohne daß sie jedoch in den Genuß der Rechte gekommen wären, die für die übrige Bevölkerung galten. Der Wehrdienst bedeutete für Juden im Rußland des 19. Jhs. in der Regel einen völligen Bruch mit der eigenen Herkunft: Der Dienst dauerte 25 Jahre, eingezogen wurden Jungen und junge Männer im Alter von 12 bis 25 Jahren. Wer noch nicht das 18. Lebensjahr erreicht hatte, wurde zunächst in einer Kantonistenschule ausgebildet, deren Besuch auf die Dienstzeit angerechnet wurde. Beim Militär hatten die Juden in der Regel keine Gelegenheit, ihre Religion auszuüben, zumal die Angehörigen von Minderheiten üblicherweise auf unterschiedliche Einheiten verteilt wurden und im Fall der Juden auch konsequent eine Politik der Russifizierung und Christianisierung betrieben wurde. Der Kontakt zur Familie war schwierig bis unmöglich, die Ehefrauen der Soldaten mußten bei ihren Herkunftsfamilien unterkommen, da für sie jede Sozialfürsorge fehlte. Normalerweise mußten 1000 Einwohner sieben Rekruten stellen, bei den Juden waren es zehn. Die Auswahl der Rekruten oblag den jüdischen Gemeinden, die hierzu eigene Kommissionen bilden mußten. Diese zogen anfangs Familienväter nicht ein, so daß frühe Heiraten zunahmen, eine Praxis, die schließlich jedoch durch die neue Judenordnung aus dem Jahr 1835, die Eheschließungen vor dem 18. Lebensjahr verbot, unmöglich gemacht wurde. Die Rekrutenaushebungen innerhalb der jüdischen Gemeinden führten bald auch zu einer neuen Form innerjüdischer Ausbeutung, da arme Haushaltsvorstände ihre Steuer oder andere Schulden bisweilen nur durch das Stellen eines Rekruten begleichen konnten. Die am 13. April 1835 erlassene Neufassung der Judenordnung brachte kaum Verbesserungen, ja überhaupt nur wenige Änderungen: Der Ansiedlungsrayon wurde geringfügig ausgeweitet, dafür wurde 1843 an der Westgrenze des Reiches ein 50 Werst (ca. 53 km) breiter Streifen zur Verbotszone erklärt. Die Beschränkung auf die Städte wurde beibehalten, wobei es einige neue Anreize für Juden gab, die sich als Bauern niederlassen wollten. Die Verbesserungen betrafen das religiöse Leben. Die Bestimmungen für den Bau von Synagogen wurden vereinfacht, die Rabbiner wurden wie die christlichen Priester zu Staatsangestellten. Rechtlich etwas besser gestellt wurden nun auch die wohlhabenden Juden. Waren sie Kaufleute der ersten Gilde, durften sie sich in geschäftlichen Angelegenheiten bis zu sechs Monaten im Jahr außerhalb des Ansiedlungsrayons aufhalten. Kaufleute der zweiten Gilde durften dies für drei Monate, alle anderen nur für sechs Wochen. Die Beschränkungen für die Mitwirkung in den lokalen Institutionen wurden aufgehoben. Nikolaus I. setzte zur Verwirklichung seiner politischen Vorstellungen von einer arbeitsamen und servilen Untertanenschaft mit patriotischer Gesinnung große Hoffnungen auf

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das Bildungssystem. Die Einrichtung von Schulen und Universitäten wurde forciert, ihnen fehlte jedoch innere Autonomie, ihr Bildungsauftrag beschränkte sich vielmehr auf dem Staat nützliche Funktionen. Im Rahmen dieser Politik nahm sich der Volksbildungsminister Sergej S. Uvarov der Neugestaltung auch des jüdischen Schulsystems an. Er versuchte, die Leitlinie von Integration durch Anreize und Verbote auch in der Schule umzusetzen und griff dabei auf Konzepte zurück, die ihm Juden vorgelegt hatten, die ihr Schulsystem für hochgradig reformbedürftig hielten. Sie sahen in dem Minister den glaubwürdigen Repräsentanten einer Integrationspolitik, von der sie sich letztlich die Emanzipation erhofften. Neben das Traditionswissen sollten ihrer Ansicht nach die Wissensbestände der Aufklärung treten, und die Schulen sollten die Absolventen auch auf ein Leben in einem nichtjüdischen Umfeld vorbereiten. Da die jüdischen Einrichtungen zu einer solchen Reform allein nicht fähig seien, sollte der Staat das Schulwesen an sich ziehen. In diesem Sinn äußerte sich z. B. Isaak Baer Levinsohn in seinem Buch Teuda be-jisrael von 1828. Uvarov konnte den Pädagogen Max Lilienthal für das Schulreformprojekt gewinnen. Er holte ihn ins Russische Reich, übertrug ihm zunächst die Leitung einer Schule in Riga und beauftragte ihn dann 1841 mit dem Aufbau eines Systems staatlicher Schulen für jüdische Kinder. Da Lilienthal im Ansiedlungsrayon nicht genügend Lehrkräfte fand, die ihm für die Umsetzung seiner Vorstellungen geeignet erschienen, warb er deutsche Juden als Schulleiter für seine Reformschulen an. Diese Schulen stießen bei großen Teilen der Bevölkerung auf erbitterten Widerstand. Man befürchtete eine Entfremdung von den eigenen Traditionen, ja den Verlust der jüdischen Religion und der jüdischen Identität. Der Schulstreit wurde so zu einer innerjüdischen Auseinandersetzung zwischen Reformwilligen und Reformgegnern, die ganz ähnliche Diskussionen hervorbrachte, wie sie unter den christlichen Russen in der Petrinischen Epoche ausgetragen worden waren. Die Akzeptanz der staatlichen Schulen blieb gering, solange die dort erworbene Bildung nur theoretisch die Türen in die russische Gesellschaft öffnete und den wirtschaftlich-sozialen Aufstieg ermöglichte. Erst als in der Regierungszeit Alexanders II. den Juden mehr Berufe offenstanden, wurden die Schulprojekte zum Erfolg. Lilienthal jedenfalls gab auf und wanderte nach Amerika aus. Daß sowohl in die Derzˇavinschen Konzepte als auch in die Uvarovschen Schulreformen Ideen aufgeklärter Juden, der Maskilim, Eingang gefunden hatten, macht deutlich, daß die Verbreitung aufklärerischer Ideen im Judentum andere Auswirkungen hatte als die bisherigen inneren Differenzierungen, die sich innerhalb der Judenheit vollzogen hatten. Die Maskilim verstanden sich als Teil einer nicht mehr nach Religionen und tradierten Kulturen unterscheidenden Menschheit, die sich an der Vernunft orientierte und dieser die zentrale Rolle im Aufklärungsprojekt zuwies. Die Haskala hatte, wie die vorstehenden Ausführungen deutlich gemacht haben, im 19. Jh. auch unter den Ostjuden Anhänger gefunden. Der erwähnte Levinsohn, den man den russischen Mendelssohn nannte, war einer der führenden Vertreter. Die strenggläubigen Juden lehnten die Aufklärung und ihre Einrichtungen heftig ab. Eine der Ursachen für diese Reformunwilligkeit lag in den schlechten Erfahrungen, die viele Juden mit der staatlichen Verwaltung, in der Korruption und Mißwirtschaft nicht selten

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waren, gemacht hatten. Besonders spürbar war dies 1844 geworden, als den Kahal-Behörden zwar ihre Ordnungs- und Repräsentativfunktion abgesprochen wurde, die ungeliebten Aufgaben der Rekrutenaushebung und des Steuereintreibens jedoch blieben. Dadurch verschärften sich die Konflikte innerhalb der Gemeinden weiter. Daneben spielten jedoch religiöse bzw. ideologische Gründe eine große Rolle. Der innerhalb der Judenschaft geführte Streit um die Rolle der Tradition war der Nährboden für die Belebung der neuhebräischen und das Entstehen einer jiddischen Literatur in Osteuropa. Jiddisch wurde die Sprache der Aufklärung, denn nur über diese Sprache konnten die Maskilim die Massen erreichen. Die Kahal-Verwaltungen wurden in der Regel von konservativen Kräften dominiert, was die Neuerer zwang, sich eine Plattform außerhalb der bestehenden Institutionen zu schaffen. Hierfür kamen entweder Zeitungen und Zeitschriften oder aber Theater in Frage. Letzteres galt traditionell als religiös anstößig, so daß die Anfänge eines selbständigen jüdischen Theaters erst in den sechziger Jahren des 19. Jhs. liegen. Auch die Gründung von Zeitschriften erwies sich als nicht einfach, da diese der Genehmigungspflicht unterlagen. Erst 1862 erschien unter dem Namen Kol mewasser (Stimme des Boten) die erste jiddischsprachige Beilage zu der in Odessa herausgegebenen Zeitschrift Ha-meliz (Der Anwalt). Daß der Erscheinungsort der ersten eigenständigen Publikation der Maskilim im Russischen Reich Odessa war, hängt damit zusammen, daß diese Stadt sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jhs. zu einem Zentrum der osteuropäischen Haskala entwickelt hatte. Die erst 1794 vom Russischen Reich eingenommene Stadt war schnell zu einem bedeutenden Getreideexporthafen avanciert. Hier galten eine Reihe von Regelungen nicht, die die Juden in anderen Hafenstädten vom Fernhandel und von Finanzierungsgeschäften ausschlossen. Der jüdische Anteil an der Bevölkerung war schon in den zwanziger Jahren des 19. Jhs. groß, hier konnte profanes Wissen früh zu gesellschaftlichem Aufstieg nutzbar gemacht werden, so daß sich in der Entwicklung Odessas in nuce der Emanzipationsprozeß der bildungswilligen Juden veranschaulichen läßt. Odessa war in vielerlei Hinsicht ein Sonderfall. (Norbert Franz) Zwischen Integration und Diskriminierung (1855–1917) Die Regierungszeit Alexanders II. (1855–1881) war geprägt von tiefgreifenden inneren Reformen, die durch Rußlands Niederlage im Krimkrieg (1854–1856) angestoßen wurden. Sie sollten auch das jüdische Leben im Russischen Reich verändern. Die sogenannte „jüdische Frage“ rückte im letzten Drittel des 19. Jhs. zunehmend ins Zentrum der öffentlichen Diskussion, wobei es ihre soziale Dimension war, die ihr die Brisanz verlieh. Armut und Not der jüdischen Bevölkerung in den Gebieten des Ansiedlungsrayons waren schon Ende des 18. Jhs. groß und verschärften sich im Laufe des 19. Jhs. aufgrund des sich auch in Rußland durchsetzenden kapitalistischen Wirtschaftssystems. Gemäß der Volkszählung von 1897 lebten 3,9 Mio. Juden im Russischen Reich, die polnischen Gebiete nicht eingerechnet. Zusammen mit diesen belief sich die jüdische Bevölkerung auf 5,2 Mio. Dies entsprach 4% der Gesamtbevölkerung des Zarenreichs und machte etwa die Hälfte der damaligen jüdischen Weltbevölkerung aus. Im Ansiedlungsrayon lebten allein 4,9 Mio. Juden (11,5% der dortigen Gesamtbevölkerung). Auf dem Land siedelten

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nur noch 13,5% der Juden, 86,5% lebten in den Städten. Dies stellte die sonst herrschende Stadt-Land-Proportion Rußlands auf den Kopf. Etwa 40% – im Ansiedlungsrayon sogar 73% – der erwerbstätigen Juden waren im Handel-, Bank- und Kreditwesen beschäftigt, weitere 40% in Handwerk, Verkehrswesen und Industrie. Nur 3% betrieben Ackerbau. Auch dies war der Gesamtbevölkerung, von der drei Viertel in der Landwirtschaft beschäftigt waren, entgegengesetzt. Der Handel entwickelte sich allmählich zur wichtigsten Erwerbsquelle der Juden. Das Handwerk war aufgrund der Billigkonkurrenz der Industrie einem ruinösen Wettbewerb ausgesetzt, und die jüdischen Handwerker verarmten gerade während des Wirtschaftsbooms Ende des 19. Jhs. massiv. Aufgrund des kapitalistischen Konzentrationsprozesses und der zunehmenden Dominierung des Handels durch Großkaufleute veränderte sich die für die Juden im Zarenreich so typische Mittlerfunktion zwischen Stadt und Land. Der jüdische „Dorfgeher“, der zwischen Stadt und Dorf pendelte und als Agent der Großhändler und Gewerbetreibenden auftrat, geriet immer mehr in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die Mittlerfunktion verschob sich tendenziell von der direkten Vermittlung von Ware gegen Ware hin zur kapitalistischen geld- und großhändlerischen Warenvermittlung. Das jüdische Schankgewerbe, das bereits im ersten Drittel des 19. Jhs. stark eingeschränkt worden war, verschwand in den neunziger Jahren fast ganz. Dies war das Ende der traditionellen Mittlerposition der Juden zwischen der adeligen und der bäuerlichen Gesellschaft, die sich in der Vergangenheit allerdings häufig genug als problematisch erwiesen hatte. Gleichzeitig entstand im Verlauf des 19. Jhs. vor allem in der Tabak-, Textil- und Nahrungsmittelindustrie eine jüdische Arbeiterklasse. Ebenso wie anderswo in Europa engagierten sich Juden in diesen Industriezweigen auch erfolgreich als Unternehmer. Sie kontrollierten zunehmend den bedeutenden Getreideexport über die Schwarzmeerhäfen, engagierten sich im Bankwesen und hatten vor allem in der Zeit zwischen 1850 und 1870 am Eisenbahnbau, dem gewinnträchtigsten Unternehmen der russischen Gründerzeit, erheblichen Anteil. Den wenigen reichen jüdischen Großunternehmern stand jedoch eine verbreitete Armut gegenüber, die selbst im Ausland Aufsehen erregte. Die eingeschränkte Freizügigkeit und das niedrige wirtschaftliche Entwicklungsniveau im Ansiedlungsrayon bei einem gleichzeitigen enormen demographischen Wachstum begrenzten die Subsistenzquellen der jüdischen Bevölkerung auf einschneidende Weise. 1898 war ein Fünftel der Juden im Ansiedlungsrayon, wo diese zumeist auf engstem Raum in den überfüllten Städten lebten, auf die Armenfürsorge angewiesen. Das Erscheinungsbild dieser Städte wurde von den sogenannten „Luftmenschen“ geprägt, die keiner geregelten Tätigkeit nachgingen und von der Hand in den Mund lebten. All das führte zur sozialen Polarisierung zwischen Arm und Reich innerhalb der Judenheit im Russischen Reich. Seit den neunziger Jahren des 19. Jhs. verschärften sich die Konflikte zwischen jüdischen Großunternehmern, verarmten Kleinunternehmern und Arbeitern. Mit der sozialen Polarisierung vertiefte sich auch die geistige und ideologische Ausdifferenzierung der Juden im Russischen Reich. Der Einfluß der jüdischen Oberschicht auf

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ihre Glaubensgenossen verringerte sich, der Widerstand innerhalb der Gemeinden gegen die exklusive und oligarchisch orientierte jüdische Selbstverwaltung und die Dominanz der Talmudgelehrten nahm zu. Jüdische Pächter von Staatsmonopolen lösten sich zuerst aus der Enge der Kahal-Oligarchie und faßten die rechtlich immer noch eng begrenzte Möglichkeit der Assimilation an die russische Mehrheitsbevölkerung als Ausweg aus der Krise ins Auge. Ein Teil der jüdischen Intelligenz strebte im Zeichen der Haskala weiterhin eine Modernisierung und Säkularisierung des jüdischen Lebens an. Die Reformära Alexanders II. schien diesen Bemühungen Vorschub zu leisten. Die geschilderten sozialen Entwicklungen beeinflußten auch die Wahrnehmung der Juden durch die nichtjüdische Bevölkerung. Der Erfolg der jüdischen Oberschicht nährte antijüdische Vorurteile, obwohl die Mehrheit der Juden in Armut lebte. Im bäuerlichen Rußland, das in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. tiefgreifende sozioökonomische Veränderungen erlebte, wurden „die Juden“ als Sündenböcke für die negativen Auswirkungen des aufkommenden Kapitalismus verantwortlich gemacht. So stellt die Industrialisierung mit ihren für den Durchschnittsbürger nur schwer zu durchschauenden Distributions- und Produktionsprozessen einen wichtigen Schlüssel für das Verständnis der zunehmenden Judenfeindschaft in der Bevölkerung dar. Die Reformen Alexanders II. brachten jedoch zunächst einige Erleichterungen für die jüdische Bevölkerung. Im Sommer 1856 wurden die diskriminierenden „Kantonistengesetze“ aufgehoben und die Juden hinsichtlich der militärischen Dienstpflicht den anderen Landesbewohnern gleichgestellt. Die Aufhebung der rechtlichen Diskriminierungen wurde allerdings von der Bereitschaft der Juden abhängig gemacht, sich zu assimilieren, und außerdem sehr stark unter dem Gesichtspunkt des Nutzens für den Staat betrachtet. So blieb der Ansiedlungsrayon zunächst bestehen, doch erhielten wohlhabende und gebildete Juden – 1859 die Kaufleute der ersten Gilde, 1861 die Inhaber akademischer Grade, 1865 Zunfthandwerker, Brauer, Schnapsbrenner und Mechaniker sowie 1879 alle Absolventen der Universitäten und gleichartiger Bildungseinrichtungen – das Recht, sich im Inneren Rußlands niederzulassen. Die Gewährung von Freizügigkeit für entlassene gemeine Soldaten und deren Nachkommen (1867) sowie Handwerker bedeutete einen bescheidenen Einbruch der Reformen in die Unterschichten. Insgesamt war der Effekt der gewährten Freizügigkeit jedoch wahrscheinlich gering, da viele Juden aufgrund der wirtschaftlichen Rückständigkeit der westlichen Gouvernements gar nicht die Mittel zur Umsiedlung aufbrachten. 1856 wurde für Universitätsabsolventen und 1862 für Ärzte und Apotheker das Verbot, staatliche Ämter zu bekleiden, aufgehoben. Auch erhielten Juden nun wieder das Recht, Alkohol zu verkaufen und Pachtverträge zu schließen. Von der letzteren Möglichkeit machten sie allerdings nur in be scheidenem Umfang Gebrauch und investierten, sofern sie dazu in der Lage waren, eher in die anlaufende Industrie. Die allgemeinen Reformen in Politik, Justiz und Militär galten grundsätzlich auch für Juden ohne Einschränkungen. So durften Juden im Rahmen der Einrichtung der Zemstva, die den südlichen und ukrainischen Gebieten eine lokale Selbstverwaltung ermöglichte, ungehindert an dieser teilnehmen. Bei der Stadtreform von 1870 wurde dagegen die Quote von maximal einem Drittel jüdischer Ab-

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geordneter aufrechterhalten, so daß den Christen auch in Gebieten mit jüdischer Mehrheitsbevölkerung die Kontrolle über die kommunalen Angelegenheiten verblieb. Zudem durften Juden nicht das Amt des Stadtoberhaupts bekleiden. Im ganzen blieben die Reformen Alexanders II. in bezug auf die „jüdische Frage“ also ein vorsichtiger Kompromiß. Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß sie zu einer erheblichen sozialen Mobilisierung der Juden führten. In der Zeit der „Großen Reformen“ wurde auch das Judentum im Russischen Reich von dem geistigen und politischen Umbruch erfaßt. Die Zahl der Juden in den allgemeinen Bildungseinrichtungen und Universitäten stieg deutlich an. Es formierte sich eine assimilationsbereite, verweltlichte Intelligencija, die vor allem in die freien Berufe wie den Anwaltsstand drängte. An den Universitäten kam diese Intelligencija mit der russischen revolutionären Bewegung in Kontakt, und einige Juden schlossen sich ihr an. Indessen vollzog sich bereits zur Regierungszeit Alexanders II. eine Wende zu antisemitischen Ressentiments und Übergriffen. Nicht zufällig stockte die allmähliche Abschaffung der rechtlichen Diskriminierungen schon in den siebziger Jahren. Der mit den Reformen und dem wirtschaftlichen Wachstum verbundene zunehmende Wohlstand jüdischer Unternehmer und Großhändler hatte in der nichtjüdischen Bevölkerung Konkurrenzängste geweckt. Darüber hinaus war in der Auseinandersetzung mit den nichtrussischen Nationalbewegungen der Nationalismus in der russischen Gesellschaft spürbar gewachsen und beeinflußte seit den sechziger Jahren die Regierungspolitik. Die nationalistische Presse konnte einen bedeutenden Teil der gebildeten russischen Öffentlichkeit mobilisieren. Auf revolutionäre und nationale Bestrebungen, die als Gefahr für die Einheit des Reichs angesehen wurden, reagierte der Staat mit verstärkter Unifizierung, Repression und sprachlicher Russifizierung, insbesondere nach dem polnischen Aufstand von 1863. Sozialreformerische Bestrebungen verloren demgegenüber an Bedeutung. Ein erstes Ergebnis der veränderten Haltung gegenüber den Juden war ein absolutes Landkaufverbot für Juden, das 1864 im Rahmen der Russifizierung der westlichen Gouvernements verhängt wurde und russische Interessenten vor jüdischer Konkurrenz schützen sollte. 1871 kam es in Odessa zu einem Pogrom gegen die dortige jüdische Bevölkerung, zu dem vor allem griechische Kaufleute, hauptsächlich aus Konkurrenzneid, angestiftet hatten. 1878 wurden mehrere Juden im kaukasischen Kutais des Ritualmords bezichtigt. Zwar wurden sie freigesprochen, doch diskutierte die Presse, ob Juden Christenblut mißbrauchten. Auch die Bürokratie wurde von antijüdischen Stimmungen erfaßt. In diesem Zusammenhang muß auch der Schriftsteller Fedor M. Dostoevskij genannt werden. Ihm kommt „die zweifelhafte Ehre zu, den modernen Antisemitismus im russischen Denken salonfähig gemacht zu haben“ (Golczewski/Pickhan). Dem messianischen Nationalismus Dostoevskijs galten moderne westliche Institutionen als Symbol von Dekadenz, die für ihn wiederum die Juden repräsentierten. Dostoevskij stellte die angebliche Absonderung der Juden als „Staat im Staate“ der universalistischen russischen Idee gegenüber. Festzuhalten ist, daß Dostoevskijs Antisemitismus keineswegs originell war, sondern sich aus der aktuellen antisemitischen „Spezialliteratur“ Europas speiste.

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Nach der Ermordung Alexanders II. am 1. März 1881 ereigneten sich zahlreiche Pogrome, die endgültig erst 1884 ein Ende fanden. Dabei diente die Beteiligung einer Terroristin jüdischer Herkunft an dem Attentat, die in der Presse hochgespielt wurde, als Rechtfertigung. Die Pogrome, die sich vornehmlich auf die Ukraine konzentrierten, gingen vor allem von den städtischen Unterschichten aus, die die im Kleinhandel und Handwerk konzentrierten Juden für soziale Mißstände verantwortlich machten. Von den russisch geprägten Städten verlagerten sich die Pogrome auf das Land, wo sich auch ukrainische Bauern beteiligten. Die neuere Forschung hat die Meinung entkräftet, daß die Ausschreitungen von der Petersburger Zentralregierung organisiert wurden. Auch die lokalen Behörden haben die Übergriffe offenbar nicht angestiftet, sie aber doch geduldet und dadurch gefördert. Die Ermordung Alexanders II. und die anschließenden Pogrome bedeuteten für die Juden Rußlands eine tiefe Zäsur: Sie schienen nicht nur die Fruchtlosigkeit aller Bemühungen um Integration und Assimilation zu belegen, sondern hatten auch einen Stopp der Reformpolitik und eine Verschärfung der Politik gegenüber den Juden zur Folge: Der neue Zar Alexander III. (1881–1894) und seine Regierung hatten die Pogrome zunächst als Beginn einer spontanen sozialen Revolution interpretiert. Obwohl ihnen aus Gründen der Staatsräson daran gelegen sein mußte, diese so schnell wie möglich niederzuschlagen, weigerte sich Alexander III. doch, die Juden ausdrücklich unter den Schutz des Staates zu stellen. Statt dessen wurde den Opfern der Pogrome und ihrem „religiösen Fanatismus“ die Schuld an den Ausschreitungen gegeben. Durch „Wucher“ und „Verschlagenheit“ hätten die Juden die eingesessene Bevölkerung ausgebeutet, die, so die absurde Erklärung, zu den Pogromen geradezu provoziert worden sei. Die Konsequenzen für die Politik ergaben sich aus dieser Bestandsaufnahme von selbst: Die als zarentreu und konservativ geltenden Bauern mußten vor den Juden geschützt werden. Diskriminierende Maßnahmen, die die Ausgrenzung der Juden verschärfen sollten, ließen nicht lange auf sich warten: Die sogenannten „Maigesetze“ von 1882 verboten den Juden, sich auf dem Land niederzulassen und Pachtverträge abzuschließen. Einen besonderen Rückschlag für das Streben nach Gleichberechtigung stellte die Einführung eines Numerus clausus für Juden an Gymnasien und Hochschulen dar: Juden durften seit 1887 im Ansiedlungsrayon maximal 10%, im übrigen Rußland maximal 5% und in St. Petersburg und Moskau maximal 3% der Studierenden stellen. Weil die Regierung auf Ausgrenzung setzte, waren die Juden von der unter Alexander III. massiv betriebenen Russifizierung nicht sonderlich betroffen. Die massenhafte Ausweisung von über 10 000 jüdischen Handwerkern aus Moskau im Jahr 1891 sollte dagegen bereits vorhandene Ansätze zur Assimilation unterbinden. Die Politik der rechtlichen Diskriminierung und der zunehmende Antisemitismus trafen in Rußland nicht nur auf Zustimmung. Schriftsteller wie Nikolaj S. Leskov oder der Philosoph Vladimir Solov’ev setzten sich für Toleranz und Gleichbehandlung der Juden ein. Auch in der Regierung gab es Kräfte, die sich für eine vorsichtige Emanzipation der Juden aussprachen. Zu ihnen gehörte der russische Finanzminister Vitte, der mit seinen Hinwei-

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sen auf die positive Rolle der Juden bei der Industrialisierung des Landes vor allem wirtschaftlich-pragmatische Motive für seine Haltung anführte. Die vom Zaren eingesetzte Kommission unter dem Vorsitz des Grafen Pahlen, die die „jüdische Frage“ zwischen 1883 und 1888 begutachtete, machte ebenfalls Vorschläge, die im deutlichen Gegensatz zur bisherigen Regierungspolitik standen. Von einer „jüdischen Gefahr“ könne keine Rede sein, das Hauptproblem sei die extreme Armut vieler Juden. Sie empfahl daher, als Remedur die rechtliche Gleichstellung anzustreben. Wesentliche rechtliche Verbesserungen für die Juden wurden jedoch nicht durchgesetzt, die Politik der Ausgrenzung dominierte bis 1917. Nach der Wende von 1881 verfolgte die Regierung eine Politik der „defensiven Modernisierung“, um die Autokratie, die ständische Ordnung und die Dominanz des Adels zu bewahren. Im Zeichen der seit den neunziger Jahren betriebenen Industrialisierung breitete sich in Rußland ein reaktionärer und nationalistischer Antikapitalismus aus. Getragen wurde diese Politik vor allem vom Innenministerium sowie vom Oberprokuror des Heiligen Synods und ehemaligen Erzieher Alexanders III., Konstantin P. Pobedonoscev. Er prägte die Formel „ein Herrscher, ein Glaube, eine Sprache“ und hatte wesentlichen Anteil an der Ausbildung des russischen Nationalismus zur Staatsideologie. Innerhalb dieser stellte der Antisemitismus als „reaktionäre Utopie“ (Löwe) ein wichtiges Element dar. Die Staatsführung nutzte judenfeindliche Parolen dazu, die eigene schrumpfende politische Basis und die Autokratie zu stabilisieren. Die Juden konnten in verschiedene Richtungen und mit einander zum Teil widersprechenden Vorwürfen als Sündenböcke für die aus der Industrialisierung resultierenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme instrumentalisiert werden. So ließen sich liberale Politiker mit Stereotypen von der „jüdischen Absonderung“ oder „Rückständigkeit“ mobilisieren. Die bäuerlichen Unterschichten waren für vormoderne, religiös motivierte antijüdische Vorurteile empfänglich. Den reaktionären Kräften wiederum galten die Juden als Vertreter des Kapitalismus und der westlichen Demokratie, die die Macht der traditionellen Herrschaftseliten gefährdeten. Mit dem extremen russischen Nationalismus verbanden sich Vorstellungen einer polnisch-jüdischen Konspiration und die Legende von einer Verschwörung der Juden zur Übernahme der Weltherrschaft. Diese Verschwörungstheorien fanden wahrscheinlich durch die 1905 erstmals im Anhang zur dritten Auflage des Buches Das Große im Kleinen von Sergej Nilus veröffentlichten Protokolle der Weisen von Zion weite Verbreitung. Bei den Protokollen handelt es sich erwiesenermaßen um eine Fälschung, die möglicherweise in Regierungskreisen beschlossen und durch die Geheimpolizei vorbereitet wurde. Wenn auch die genaue Herkunft und Wirkungsgeschichte der Protokolle noch nicht geklärt ist, so ist doch unbestritten, daß diese die weitere Geschichte des Antisemitismus bis hin zum Nationalsozialismus nachhaltig beeinflußt haben. Unter den Juden riefen die Pogrome und die damit verbundene Diskriminierungspolitik vor allem zwei Reaktionen hervor: die vorübergehende Verstärkung der Emigration, die aus sozioökonomischen Gründen längst eingesetzt hatte, und die politische Radikalisierung. Zwischen 1881 und 1914 sind etwa zwei Millionen Juden aus Rußland, überwiegend aus

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den Gebieten des Ansiedlungsrayons, ausgewandert, meist nach Nordamerika. Neben der rechtlichen Diskriminierung seit 1881 waren es vor allem sozioökonomische Faktoren, die Juden zur Auswanderung veranlaßten. Diese erfolgte fast ausschließlich im Familienverband und stellte häufig eine definitive und endgültige Entscheidung dar. Politische Ernüchterung hatte sich unter der integrationswilligen jüdischen Intelligencija bereits nach dem Berliner Kongreß von 1878 ausgebreitet, nachdem die Vertreter der russischen Regierung deutlich gemacht hatten, daß diese den Juden in den russischen Provinzen keine gleichen staatsbürgerlichen und politischen Rechte zugestehen wolle. Die jüdischen Reaktionen auf diese Enttäuschung und die nachfolgenden Pogrome und Diskriminierungen fielen keineswegs einheitlich aus. Zahlreiche Juden wandten sich jüdisch-nationalen, andere sozialistischen Ideen zu. Die jüdische Aufklärungsbewegung, die nach dem Ende der Reformära gescheitert schien, wirkte in diesen neuen politischen Strömungen in Form einer neuen, für die Juden im Zarenreich typischen, in ihren Schattierungen bisher noch nicht erforschten säkularen Identität, die allen Strömungen gemeinsam war, weiter. Trotz dieser Entwicklungen übten die traditionsorientierten Kräfte wie das Rabbinertum, das die religiösen Elemente jüdischer Identität betonte, oder ein weltabgewandter, mystischer Chassidismus weiterhin großen Einfluß auf weite Teile der jüdischen Bevölkerung aus. Wie bei den anderen Nationalitäten des Reiches hatte sich auch unter den Juden seit der Mitte des 19. Jhs. auf der Basis der Überlegung, daß die Gleichberechtigung im Staat nicht als „Geschenk von außen“, sondern nur durch die Besinnung auf die eigene kulturelle Identität und die aktive Veränderung des politischen Systems zu erreichen sei, eine Nationalbewegung formiert, die kulturell u. a. eine Wiederbelebung der hebräischen Sprache und eine Aufwertung des Jiddischen propagierte und politisch Autonomierechte für die jüdische Bevölkerung im Russischen Reich forderte. Zielte diese Bewegung auf eine national-kulturelle Konsolidierung der jüdischen Gemeinschaft in der Diaspora, so strebte der Zionismus, der seit den achtziger Jahren im Russischen Reich zahlreiche Anhänger fand, einen jüdischen Nationalstaat an. Die unabhängig vom späteren politischen Zionismus entworfenen Konzepte wie z. B. die bereits auf eigenes, nationales Territorium zielende Idee der „Autoemanzipation“ Leon Pinskers oder der „Kulturzionismus“ Achad Haams (ursprünglich: Ascher Ginzberg) waren vor dem Hintergrund des jüdischen Ansiedlungsrayons entstanden. Im Zionismus bestanden religiöse, bürgerliche und sozialistische Strömungen nebeneinander. 1905 wurde die Partei „Poale Zion“ (Arbeiter Zions) gegründet, die Sozialismus und Zionismus zu verbinden suchte und zur bedeutendsten zionistisch-sozialistischen Bewegung in Rußland wurde. In Konkurrenz zum Zionismus formierte sich unter den Juden des Russischen Reichs eine Arbeiterbewegung, die schon in den neunziger Jahren Streikbewegungen organisierte und sich 1897 in Wilna als „Allgemeiner jüdischer Arbeiterbund in Litauen, Polen und Rußland“ gründete. Bis zur Zulassung von Parteien im Oktobermanifest von 1905 agierte der „Bund“ illegal. Er wandte sich gegen den Zionismus und versuchte, nationale und sozialistische Forderungen zu synthetisieren. In Anlehnung an die nationalitätenrechtlichen Autonomieforderungen der österreichischen Sozialisten (Austromarxisten) forderte der

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„Bund“ für die jüdische Nation eine nicht an ein Territorium gebundene, personale Kulturautonomie mit einem jiddischsprachigen Bildungssystem. Ursprünglich verstand sich der „Bund“ als Teil der russischen Sozialdemokratie. Diese lehnte seine nationalen Ziele aber ab, was 1903 im Austritt des „Bund“ aus der Russischen Sozialdemokratie kulminierte. Bereits 1903 verfügte der „Bund“ über 25 000 Mitglieder und war die mitgliederstärkste marxistische Untergrundbewegung Rußlands vor 1914. Nach der Thronbesteigung Nikolaus‘ II. (1894) veränderte sich die politische Situation der Juden im Russischen Reich nicht wesentlich. Zu Beginn des 20. Jhs. nahmen Diskriminierungen und Antisemitismus noch zu. Die angespannte Lage entlud sich in zahlreichen Pogromen. Eingeleitet wurden sie durch einen der berüchtigsten und wohl auch bekanntesten Pogrome, der sich am Ostersonntag 1903 im bessarabischen Kisˇinev (heute: Chis¸inau) ereignete und bei dem etwa 50 Juden, also mehr als bei allen Pogromen von 1881 bis 1884 zusammen, getötet wurden. Die Ereignisse entsetzten die Judenheit in aller Welt und lösten Entrüstung in ganz Rußland, aber auch im übrigen Europa und der Welt aus. Im September folgten weitere Übergriffe. Im Jahre 1904 kam es zu einer dritten Welle von 43 Pogromen. Während der vierten Welle, in der revolutionären Phase von 1905, kam es allein in der Periode zwischen Oktober 1905 und September 1906 zu rund 650 Pogromen, die sich durch ein bis dahin nicht gekanntes Ausmaß an Gewalt auszeichneten. Zahlreiche Pogrome ereigneten sich unmittelbar nach der Veröffentlichung des Oktobermanifests am 30. Oktober 1905, mit dem der Zar Zugeständnisse an die Revolutionäre machte. Allein in Odessa wurden direkt nach der Verkündigung des Manifests 800 Juden in einem Pogrom getötet. Das komplexe Geflecht der Kausalitäten der Pogrome, das von der neueren Forschung differenziert herausgearbeitet wurde, kann hier nicht annähernd erschöpfend behandelt werden. Wie die Ausschreitungen der Jahre 1881–1884 waren auch diese Pogrome, die vorwiegend in den südlichen und südwestlichen Gouvernements des Russischen Reichs stattfanden, vor allem ein urbanes Phänomen. Beschleunigte Industrialisierung und Modernisierung verstärkten in den südlichen Städten die sozialen Spannungen. Teile der Bevölkerung machten für ihre wirtschaftlich schlechte Lage die Juden verantwortlich, die durch den Verlust ihrer Mittlertätigkeit in die Städte gezwungen worden waren. Zudem wanderten viele Juden von den rückständigeren weißrussisch-litauischen Städten im Nordwesten des Ansiedlungsrayons in die Städte des Südens, was die Spannungen verschärft haben könnte. Zu den wirtschaftlichen Spannungen und einer antisemitischen Agitation in der Presse, die bereits 1881 für den Ausbruch der antijüdischen Gewalt ausschlaggebend waren, kamen in den Jahren 1903–1906 noch einige neue Momente hinzu: So wird z. B. als Grund für die Pogromwelle 1904 die Mobilmachung im Russisch-Japanischen Krieg genannt. Die antisemitische Presse bezichtigte die Juden der Kollaboration mit den Japanern und schob ihnen die Verantwortung für den Krieg zu. Für die Reservisten waren die Juden die Hauptverantwortlichen ihrer schlechten Lage und wurden zur Zielscheibe einer sich in Gewalt entladenden Frustration. Einen weiteren zentralen Faktor stellt die Revolution von 1905 dar, die zu einem Erstarken der russischen Rechten führte. Der Anstieg der antijüdischen Gewalt nach dem Oktobermanifest dürfte auf die Beteiligung der „Schwarzen Hundert-

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schaften“, dem militanten Arm der russischen Rechten, zurückzuführen sein, die mit Propaganda und Straßengewalt gegen Juden vorgingen. Eine Übereinstimmung zwischen den Ereignissen von 1881–1884 und 1903–1906 besteht darin, daß sich die lokalen Behörden und Militäreinheiten in den einzelnen betroffenen Gouvernements sehr unterschiedlich verhielten. Manche haben – sei es aus Unfähigkeit, sei es in stillem Einverständnis mit den Pogromisten – nicht direkt Maßnahmen gegen die Ausschreitungen ergriffen. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen die staatlichen Behörden versuchten, den Ausschreitungen Einhalt zu Gebieten. Schließlich haben häufig auch unklare Kompetenzverhältnisse und mangelnde Koordination zwischen den lokalen Verantwortlichen eine schnelle Beendigung der Übergriffe verhindert. Ähnlich wie 1881 wurden die Pogrome meist aus den russisch geprägten Städten aufs Land getragen, wo sich auch Ukrainer an ihnen beteiligten. Lange Zeit umstritten war die Frage, ob die Zentralregierung diese Welle der Pogrome geplant habe. Zweifelsohne haben Regierungsmitglieder einschließlich des Zaren mit rechten, antisemitischen Organisationen wie der „Union des Russischen Volkes“ sympathisiert und vor allem den Juden selbst wie schon 1881 die Schuld an den Pogromen gegeben. Die neuere Forschung hat aber den Vorwurf der Initiierung der Pogrome durch die Zentralregierung entkräftet. Auch 1903–1906 hatte sie wenig Interesse an den Ausschreitungen, da sie die Stabilität des zarischen Regimes selbst hätten gefährden können. Gleichwohl trägt die Regierung eine gehörige Mitverantwortung an den Pogromen, da sie durch ihre Diskriminierungspolitik und das wohlwollende Verständnis für die Ausschreitungen den Pogromisten den Eindruck vermittelte, Übergriffe gegen Juden seien sanktioniert. Infolge der Revolution von 1905 sah sich der Zar genötigt, politische Konzessionen zu machen und ein Parlament zu schaffen sowie den Erlaß von Grundrechten im „Oktobermanifest“ zu verkünden. In diesem Zusammenhang wurde auch den Juden das Wahlrecht für die 1906 zum ersten Mal gewählte Duma zugestanden, und die durch die Revolution geförderte Parteibildung kam ihnen ebenfalls zugute. Insgesamt wurden jedoch die von der Revolution genährten Hoffnungen der Juden auf Emanzipation enttäuscht. Zar Nikolaus II. lehnte diese eindeutig ab. Die Lage der Juden verschärfte sich noch einmal nach der Ermordung des Ministerpräsidenten Stolypin im Jahre 1911, unter dessen Regime die Pogrome unterdrückt worden waren. 1911 wurde der Kiever Jude Mendel Beilis des Ritualmordes an einem christlichen Jungen bezichtigt. Die Regierung, die daran interessiert war, bei den Wahlen für die 4. Dumaperiode die antiliberalen Kräfte zu unterstützen, bediente sich des Falls zu Propagandazwecken. Erst 1913 wurde Beilis aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Angesichts dieser Ereignisse, die das Ansehen des Zarenregimes im In- und Ausland beschädigten, schien Rußland am Vorabend des Ersten Weltkriegs weiter denn je davon entfernt zu sein, einen Ausweg aus der „jüdischen Frage“ zu finden. Mit Rumänien war es das einzige Land in Europa, das die Emanzipation der Juden noch nicht vollzogen hatte. Die desolate Situation der Juden im Zarenreich setzte sich im Ersten Weltkrieg fort. Der Ansiedlungsrayon wurde zum Schauplatz der Kriegshandlungen, die Hunderttausende von

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Juden zur Flucht zwangen. Die russischen Militärbehörden und polnische Nationalisten streuten den Verdacht, die Juden spionierten für die feindlichen Mittelmächte. Unter dem Vorwand, die Juden verhielten sich illoyal, ging die zarische Militärverwaltung dazu über, diese in die Gegenden des Ansiedlungsrayons auszuweisen, die nicht vom Krieg betroffen waren. Als die Zustände dort immer unerträglicher wurden, gestattete die Regierung die Niederlassung im ganzen Reich. So wurde paradoxerweise der seit dem Ende des 18. Jhs. bestehende Ansiedlungsrayon im Zeichen der Repression beseitigt: Bei den Deportationen blieben Gewalttaten nicht aus, und viele Juden wurden in die Frontgebiete getrieben. Erst infolge der Februarrevolution und des Zarensturzes kam es vorübergehend zur Emanzipation der Juden in Rußland. Insgesamt läßt sich sagen, daß die Zeit des späten Zarenreichs geprägt war von antijüdischen Diskriminierungen und der Ausbildung einer betont judenfeindlichen Ideologie. Der regierungsamtliche Antisemitismus und die restriktive Politik gegenüber den Juden lassen sich nicht allein mit der programmatischen Rückbesinnung des zarischen Regimes auf das autokratische Prinzip und seine traditionellen Stützen wie Orthodoxie und Volkstümlichkeit erklären. Die „jüdische Frage“ war in einer Phase der inneren Krisen des Zarenreichs auch deswegen brisant, weil die Gewährung der Emanzipation der Juden anderen Forderungen nach Demokratisierung hätte Auftrieb geben können. Mit anderen Worten: Die „jüdische Frage“ im späten Zarenreich war Teil eines größeren Problems, nämlich der Unfähigkeit der zarischen Regierung, zeitgemäße Antworten auf die Fragen von Modernisierung, Demokratisierung und Nationalitätenproblemen zu finden. (Wilfried Jilge)

Sowjetunion und Postsozialismus Von der Februarrevolution bis zum Tod Stalins (1917–1939) Nach dem Sturz des Zaren in der Februarrevolution 1917 setzte die russische Provisorische Regierung als eine ihrer ersten Amsthandlungen die volle Gleichberechtigung der Juden durch. In der Periode zwischen dem Sturz des Zarentums im März 1917 und dem Machtantritt der Bolschewiki kam es zu einer bemerkenswerten Entfaltung der jüdischen Parteien und der Beteiligung der assimilierten Juden am politischen Leben des ganzen Landes. Auf der lokalen Ebene etablierten sich in Städten und Dörfern jüdische Gemeinden, deren Institutionen von der örtlichen jüdischen Bevölkerung demokratisch gewählt wurden. Dies war in den traditionell oligarchisch organisierten Gemeinden keineswegs selbstverständlich. Es entwickelte sich eine Publizistik in Hebräisch, Jiddisch oder Russisch, und jüdische Bildungsanstalten vom Kindergarten bis zum Lehrerseminar wurden geschaffen. Bereits vor der Revolution hatte sich in St. Petersburg und Moskau ein jüdisches Bürgertum herausgebildet, das die Revolution der Bolschewiki wenigstens in Teilen überlebte und bis in die zwanziger Jahre noch ansatzweise fortbestand. Obwohl nach der Oktoberrevolution von 1917 die bereits in der Februarrevolution erreichte rechtliche Gleichstellung der Juden bestätigt wurde und sich unter dem neuen Re-

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gime gerade für Juden, die sich bereits vor der Revolution in der sozialistischen Bewegung engagiert hatten, neue Betätigungsfelder eröffneten, brachte der nun ausbrechende Bürgerkrieg vor allem zwischen der Roten Armee der Bolschewiki und den konservativ-monarchistischen Verbänden der „Weißen“, der in den südlichen Gebieten des ehemaligen Zarenreichs tobte, zunächst eine neue Leidenszeit für die Juden. Dies gilt speziell für die Ukraine, deren nationale Organisationen mit den roten und weißen Bürgerkriegsparteien konkurrierten und die Unabhängigkeit von Petrograd anstrebten. Bereits im Januar 1918 proklamierte die ukrainische Central’na Rada (Zentralrat) die von Rußland unabhängige „Ukrainischen Volksrepublik“ (UNR) und damit den ersten ukrainischen Nationalstaat. Die Minoritätenpolitik der Rada gab der jüdischen Bevölkerung zunächst Anlaß zur Hoffnung. So wurde wurde den zahlenmäßig größten Minoritäten, also Juden, Russen und Polen, in Anlehnung an austromarxistische Konzepte eine umfassende national-personale Autonomie zugebilligt. Jedem Individuum wurde unabhängig von seinem Wohnsitz der Schutz seiner nationalkulturellen und sprachlichen Rechte garantiert. Diese Rechte betrafen den Schulbereich, nationalkulturelle Organisationen und religiöse Vereinigungen. Zudem sollten nationalkulturelle Institutionen finanzielle Förderung von der Rada-Regierung erhalten. Es wurde sogar ein Ministerium für jüdische Angelegenheiten etabliert. Das Jiddische wurde eine der offiziellen Sprachen der UNR. Auch in der Weißrussischen Volksrepublik (BNR), die die kurze Phase der weißrussischen Nationalstaatlichkeit begründete, wurden den Nationalitäten in der Verfassung vom Februar 1919 der Schutz vor Repression und gleiche Rechte zugesichert. 1919 wurde die Ukraine jedoch zum Hauptschauplatz von Bürgerkrieg und Bauernaufständen und damit von Anarchie und Chaos. In diesem und im folgenden Jahr kam es hier, aber auch außerhalb der Ukraine zu Pogromen, die in ihren Ausmaßen die vorangegangenen übertrafen und mindestens 30 000 Juden das Leben kosteten. Antikommunistische Kräfte bedienten sich immer wieder des Klischees von der angeblich besonderen Affinität der Juden zum Bolschewismus als Vorwand für Übergriffe, obwohl sich nur ein kleiner Teil der russifizierten ukrainischen Juden für die Bolschewiki engagierte. Die Pogrome wurden vor allem, aber nicht ausschließlich von den irregulären Verbänden eigenmächtiger Atamane begangen, die formal unter dem Oberkommando Symon Petljuras standen, des Vorsitzenden des sogenannten „Direktoriums“, das seit November 1918 in der Ukraine regierte. Stark beteiligt waren zudem die aus russischen Offizieren und Kosaken bestehenden Truppen der „Weißen“. Von den bolschewistischen Truppen verübte Pogrome sind ebenfalls belegt. Die genaue Rolle, die die Direktoriums-Regierung bei diesen Pogromen spielte, ist in der Forschung umstritten. Im ganzen zeichnet sich jedoch ab, daß der ukrainischen Führung zumindest ein verspätetes und halbherziges Durchgreifen gegen die Ausschreitungen zur Last zu legen ist. Erst mit dem polnisch-sowjetischen Frieden von 1921 kehrte für die ukrainischen Juden weitgehend Ruhe ein. Auch außerhalb der Ukraine erlebten viele Juden die Zeit des Kriegskommunismus (1917–1921) als einen Kampf um ihre physische Existenz. Maßnahmen der Bolschewiki wie die Zentralisierung der Produktion und Güterverteilung sowie das Verbot des Privat-

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handels hatten für die Juden schwerwiegende Folgen, da sie überwiegend in Handel, Handwerk und Industrie beschäftigt waren. Besonders verhängnisvoll wirkte sich für sie die von den Bolschewiki eingeführte Klassifizierung der Bevölkerung in „Werktätige“ und „Nicht-Werktätige“ bzw. „Klassenfremde“ aus. Letzteren, den sogenannten „lisˇ ency“ (wörtlich: denen man etwas [das Recht] genommen hat), waren elementare Rechte wie das Recht zur Wahl der Sowjets genommen, die Registrierung auf den Arbeitsämtern untersagt und der Bezug von Lebensmittelkarten verwehrt, was einer Verweigerung des Lebensunterhalts gleichkam. Die Regelung sollte der Beseitigung „bourgeoiser Ausbeutung“ dienen und wurde beispielsweise auf Geistliche, Unternehmer, Gastwirte, Grundbesitzer und Zwischenhändler sowie deren Angehörige angewandt. Die Juden waren von dieser Maßnahme überdurchschnittlich betroffen: Etwa ein Drittel der Juden der Sowjetunion zählte zur Gruppe der „lisˇ ency“. Manche jüdische Händler wurden als Spekulanten erschossen, traditionelle Zwischenhändler verloren ihre Basis, und gleichzeitig verödeten die SchtetlStrukturen. Erst 1928 wurde den „lisˇency“ die berufliche Integration in die Sowjetgesellschaft offiziell erlaubt. Nachdem sich die Bolschewiki im Bürgerkrieg durchgesetzt hatten, wurde 1922 die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) gegründet, die auch die Ukraine und Weißrußland einschloß, nicht aber die nach der Revolution von 1917 abgefallenen Gebiete Polens, Finnlands, Litauens, Lettlands und Estlands. Um die Politik dieses neuen Staates gegenüber den Juden zu verstehen, muß man sich vor allem die Haltung Lenins und Stalins in der nationalen Frage und gegenüber dem Judentum vor Augen führen. Die Position der Bolschewiki in der „jüdischen Frage“ entwickelte sich in Auseinandersetzung mit den Zielen des „Bund“, der zwar die Forderung der Zionisten nach einem jüdischen Staat ablehnte, sich aber für ihre nationale Autonomie in den Staaten der Diaspora einsetzte. Lenin lehnte dieses Konzept mit der Begründung, daß den Juden die wichtigsten Merkmale einer Nation, nämlich Sprache – das Jiddische galt ihm als Relikt des Mittelalters – und Territorium, fehlten, scharf ab. Der Fortbestand des osteuropäischen Judentums als abgrenzbarer Gruppe beruhe ausschließlich auf dem Antisemitismus, der jedoch seinerseits als Produkt der gesellschaftlichen Konflikte im Kapitalismus unter der Integrationskraft des Sozialismus bald verschwinden müsse. Die Folge sei die vollständige Assimilation des Judentums im Rahmen der allgemeinen von den Marxisten angestrebten Verschmelzung der Nationen zu einer homogenen sozialistischen Weltgesellschaft. Verbindlich in der Nationalitätenproblematik und damit auch in der „jüdischen Frage“ wurde für die Bolschewiki Stalins Aufsatz Marxismus und nationale Frage von 1912/13, in dem er den Juden ebenfalls die Merkmale einer Nation absprach. Das Ziel müsse daher die Assimilation der Juden sein. Autonomierechte könnten nur einer Bevölkerung mit einem abgegrenzten Territorium gewährt werden, nicht aber einer extraterritorialen Minderheit wie den Juden. Obwohl Lenin wie auch Stalin von allen Bevölkerungsgruppen die Aufgabe nationaler Eigenschaften erwarteten, waren die Juden doch die einzige Gruppe, von der sie eine so direkte und rasche Assimilation forderten.

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Stalin äußerte sich zur „jüdischen Frage“ ohne tiefere Kenntnisse der Geschichte und Kultur der Juden im Ansiedlungsrayon. Von den 2,68 Mio. Juden in der Sowjetunion lebten 1926 in der ukrainischen Sowjetrepublik 1,57 Mio. (5,4% der Republikbevölkerung), in der russischen Sowjetrepublik 624 000 (0,5%) und in der weißrussischen Sowjetrepublik 407000 (8,2%). Im Unterschied zu Westeuropa war unter den Juden des Russischen Reiches das Selbstverständnis einer nationalen Gruppe sehr stark verbreitet. Dies äußerte sich auch im Wahlverhalten. In Rußland erhielten Ende 1917 bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung die national-jüdischen Listen 83,7% der jüdischen Stimmen, wobei der mit Abstand größte Anteil auf die zionistischen Parteien entfiel. Gerade die Juden der westlichen Gebiete des ehemaligen Zarenreichs mit ihren Schtetl-Strukturen standen den ideologischen und sozialen Konsequenzen der Oktoberrevolution ablehnend bis feindselig gegenüber. Die ukrainischen und weißrussischen Gebiete waren Zentren jiddischer Kultur. Die dortigen Juden praktizierten die jüdische Religion, verfügten über eine spezifische, kulturelle Identität und waren daher meist assimilationsunwillig. Dies änderte sich erst mit den Pogromen 1919/20. Da diese Pogrome vor allem auf das Konto der „weißen“ Revolutionsgegner gingen, erschienen die Bolschewiki – trotz der Beteiligung einzelner Verbände an den Ausschreitungen – vielen Juden als Beschützer. Nach dem Oktoberumsturz hatten sich die Bolschewiki angesichts des Bürgerkrieges zunächst gezwungen gesehen, ideologische Prämissen zwecks Sicherung von Macht und sozialer Stabilität zurückzustellen. Ein Kennzeichen der pragmatischeren, praxisorientierten Politik war eine flexible Nationalitätenpolitik. Kern dieser Politik war die „korenizacija“ (Einwurzelung). Diese vom Prinzip der Assimilation zunächst abrückende Politik zielte darauf, die Verwaltung der Randregionen loyalen, nichtrussischen Eliten zu übertragen und deren Anteil in den Republikapparaten der Sowjetunion zu erhöhen. Zudem sollten die durch Bürgerkrieg und Revolution erlittenen Verluste in den gebildeten russischen Oberschichten kompensiert werden. Dabei griff die Regierung ähnlich wie die vormoderne zarische Nationalitätenpolitik wieder auf die mobilen Diasporagruppen, vor allem auf Juden zurück. Diese strömten seit der Aufhebung ihrer Freizügigkeitsbeschränkungen in der Februarrevolution in die Städte, hofften auf sozialen Aufstieg und standen dem Sowjetregime häufig loyal gegenüber. Die Bolschewiki schienen nun die zuvor vernachlässigte Tatsache zu berücksichtigen, daß es sich bei den Juden in den westlichen Gebieten der Sowjetunion um eine klar abgrenzbare Gruppe mit eigener kultureller Identität sowie einer besonderen Sozial- und Berufsstruktur handelte. Vor allem aber sah sich die sowjetische Führung angesichts des sozialen Elends der Ostjuden nach 1917 mit der Frage konfrontiert, wie die jiddischsprachige Bevölkerung in die Sowjetgesellschaft zu integrieren sei. Unter Stalin, dem Volkskommissar für Nationalitätenangelegenheiten, wurde nun auch gegenüber den Juden eine Politik der Nationsbildung betrieben, um sie in die sozialistische Gesellschaft einzugliedern. Bereits 1918 waren das „Jüdische Kommissariat“ (Evkom) auf der Staatsebene und die „Jüdische Sektion“ (Evsekcija) auf der Parteiebene eingerichtet worden. Ihre Vertreter setzten sich aus Mitgliedern des „Bundes“, der „Poale Zion“ sowie den aufgelösten linken jüdi-

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schen Parteien zusammen. Das Evkom war ebenso wie die Institutionen anderer Nationalitäten seit 1920 Stalins Volkskommissariat untergeordnet. Die Führer der Evsekcii wurden nicht gewählt, sondern von der Partei ernannt. Nach kurzer Zeit schon wurde klar, daß es die eigentliche Aufgabe der neuen Organe war, die Parteibeschlüsse in der jiddischsprachigen Bevölkerung mit Hilfe einer jiddischen Presse und jiddischen Klubs umzusetzen. Schon wegen des Mißtrauens der Bolschewiki gegenüber den Bundisten und Zionisten sowie der jiddischsprachigen Bevölkerung, die sie des „kleinbürgerlichen Nationalismus“ verdächtigten, sollten Evkom und Evsekcija keine Organe freier Interessenartikulation der sowjetischen Juden werden. In der ersten Phase konzentrierte sich das Interesse der Evsekcii darauf, die unabhängigen jüdischen Parteien und Organisationen zu bekämpfen. Nach inneren Spaltungsprozessen in pro- und antikommunistische Flügel kam es schließlich zum Beitritt zur Russischen Kommunistischen Partei (RKP). In Weißrußland versuchte der „Bund“, seine Selbständigkeit innerhalb der RKP durchzusetzen, was mißlang: Von 1921 an war der „Bund“ illegal. Nur die linke Fraktion der „Poale Zion“ blieb bis zu ihrem Verbot im Jahr 1928 ein von den Bolschewiki geduldetes Reservat des sozialistischen Zionismus. Besonders repressiven Charakter trug die von den jüdischen Organen mitgetragene Kampagne gegen die Zionisten außerhalb der „Poale Zion“-Linken und gegen die hebräische Sprache. Seit 1920 wurden die verbliebenen Anhänger zionistischer Parteien massiv verfolgt, in Lager gesperrt oder nach Sibirien und Zentralasien verbannt. Zionismus wurde als „jüdischer Faschismus“ und Nationalismus gebrandmarkt, der die Verbreitung kommunistischer Ideen unter den jüdischen Massen erschwere. Gebrauch und Pflege der hebräischen Sprache wurden massiv behindert, auch wenn es kein formales Verbot gab. Eine weitere Hauptaktivität der Evsekcii war die Durchführung der Antireligionskampagne 1921/22. Nachdem in der Anfangszeit der Sowjetunion die jüdischen Religionsschulen (Chedarim und Jeschiwot) noch eine Weile existieren konnten, leiteten die sowjetischen Behörden schon bald Repressionen gegen die religiösen Institutionen ein. Rabbiner, rituelle Schlachter und Lehrer wurden verhaftet. Wie die christlichen Kirchen und Moscheen wurden nun auch Synagogen und Bethäuser (23% bis 1927) geschlossen, wobei einige von Evsekcii-Mitgliedern verwüstet oder in Arbeiterklubs umgewandelt wurden. Als Ersatz wurde den Juden eine „lebende Synagoge“ – analog zur „lebenden Kirche“ – mit linksorientierten Rabbinern angeboten. Die jüdischen Gemeindeinstitutionen als traditionelle Repräsentationsorgane der Juden sowie ihre karitativen Funktionen wurden liquidiert. Ebenso wie die anderen extraterritorialen Minderheiten, etwa Tataren und Deutsch-Lutheraner, wurden die Juden von diesen Repressionen besonders hart getroffen, weil die Wahrung ihrer kulturellen Identität stark an die traditionellen Institutionen gebunden war. Die Auflösung des traditionellen jüdischen Lebens kann nicht als gezielt antijüdische Maßnahme gewertet werden. Der sowjetische Staat war an der Schaffung des „sozialistischen Menschentypus“ interessiert, nicht an der Erhaltung einer spezifischen, mit dem Religiösen eng verbundenen Identität. Die jüdischen Evsekcija-Aktivisten erprobten die sozioökonomische und kulturelle Neustrukturierung des sowjetischen Judentums und versuch-

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ten, an die Stelle traditioneller jüdischer Institutionen eine „sowjet-jiddische Ersatzkultur“ zu setzen. Tatsächlich blühte diese sowjet-jiddische Kultur von Mitte der zwanziger bis Mitte der dreißiger Jahre auf. Ein reges jiddischsprachiges Publikationswesen in Presse und Literatur begann sich zu entwickeln. Das von Solomon Micho’els geleitete Moskauer Staatliche Jüdische Theater war überregional bekannt. Zudem wurden jüdische Dorf- und Stadtsowjets, Gerichte und Polizeistationen eingerichtet, in denen das Jiddische einen offiziellen Status erhielt. Dennoch kam es nicht zu einer breiten Verankerung der jiddischen Sowjetkultur in der jüdischen Bevölkerung. Schon aus Gründen des sozialen Aufstiegs hatte es in der Judenheit bereits eine deutliche Hinwendung zur russischen Kultur gegeben, und für diejenigen, die ihre kulturelle Identität erhalten wollten, war eine von traditionellen Institutionen und Bräuchen gereinigte sowjet-jiddische Kultur unattraktiv. Das zweite wichtige Element der Politik der Bolschewiki gegenüber den Juden war der Versuch, diese durch den Einsatz in der Landwirtschaft zu „produktivieren“ und so die verarmte jüdische Bevölkerung in die sozialistische Gesellschaft zu integrieren. Dies war kein genuin sozialistischer Ansatz: Schon seit Katharina II. hatten die Zaren versucht, mit Hilfe aufklärerischer Konzepte aus „unproduktiven Wucherern“ „nützliche Bauern“ zu machen. Zwar erhöhte sich aufgrund der sowjetischen Politik der Anteil der jüdischen Landbevölkerung deutlich, aber der Erfolg der Landansiedlung im Westen der Sowjetunion, vor allem auf der Krim in Weißrußland und der Ukraine, wurde begrenzt durch den Widerstand der jeweiligen Republikorgane sowie die Migrationen von Juden aus dem früheren Ansiedlungsrayon in die großen Städte – Kiev, Odessa, Moskau, St. Petersburg – im Zeichen der Ende der zwanziger Jahre forcierten Industrialisierung. Zwischen 1926 und 1939 wanderten etwa 300 000 Juden aus der weißrussischen und ukrainischen Sowjetrepublik in die russische Sowjetrepublik ein. In engem Zusammenhang mit der Landansiedlung stehen die Projekte der Bolschewiki um die Schaffung eines autonomen jüdischen Territoriums in der Sowjetunion. 1928 entschied sich das Präsidium des ZK für das klimatisch und geographisch unattraktive Gebiet Birobidzˇan im Fernen Osten der Sowjetunion, das am 8. Mai 1934 sogar zur „Autonomen Jüdischen Provinz“ erklärt wurde. Dies bedeutete zugleich das Ende der Idee einer jüdischen Sowjetrepublik auf der Krim. Die Regierung nahm dabei Rücksicht auf den Widerstand der politischen Führungen der ukrainischen Sowjetrepublik und der Autonomen Republik der Krimtataren sowie auf Proteste in der ansässigen Bevölkerung. Vor allem wollten die Bolschewiki mit der Wahl Birobidzˇans das verbreitete antisemitische Klischee entkräften, sie seien „Handlanger der Juden“, denen sie die attraktive Krim schenkten, während sie russische und ukrainische Bauern ins unwirtliche Sibirien schickten. In der Forschung werden neben der Produktivierung der Juden durch Landwirtschaft und dem Mangel an freiem Land in den westlichen Gebieten der Sowjetunion häufig auch wirtschaftspolitische (Erschließung von Bodenschätzen) sowie sicherheitspolitische (Sicherung der sowjetisch-chinesischen Grenze durch Kolonisierung) Interessen als Gründe der Sowjetführung für die Errichtung einer Autonomen Jüdischen Provinz Birobidzˇan genannt. Neuere Forschungen heben auch die Tatsache hervor, daß die Sowjetführung in Birobidzˇan

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– anders als auf der Krim – keinen Separatismus fürchten mußte, da dort die Bildung eines politisch-kulturellen Zentrums der Juden nicht zu erwarten war. Nationalitätenkonflikte drohten in dem dünnbesiedelten Gebiet ebenfalls nicht. Vor allem aber konnte Birobidzˇan das Prestige der Sowjetunion im Ausland heben. Eine Autonome Jüdische Provinz ermöglichte es, die Gleichberechtigung der Juden in einem multinationalen, sozialistischen Staat nach außen hin zu demonstrieren. Die Übersiedlung erreichte nie die von der Regierung gesteckten Ziele. Viele Juden bevorzugten im Zeichen von Industrialisierung und Fünfjahresplan eher den direkten Weg in die Sowjetgesellschaft, die nun neue Arbeitsmöglichkeiten bot. Anstatt der für die Zeit von 1928 bis 1933 geplanten 60 000 Übersiedler gingen nur 20 000 Juden nach Birobidzˇan. Von diesen blieben nur 8500 dauerhaft dort. Die offiziellen Sprachen in Birobidzˇan waren Jiddisch und Russisch. Es entstanden Bibliotheken und 1934 ein eigenes Theater. 1937 gab es 16 Schulen mit Jiddisch als Unterrichtssprache. Während der politischen Säuberungen im Hoch- und Spätstalinismus 1934–38 und 1948–1953 wurde Birobidzˇan jedoch in Mitleidenschaft gezogen. Von einer eigenständigen jüdischen Kultur blieb nicht viel übrig. Hatten 1948 noch etwa 30 000 Juden in Birobidzˇan gelebt, so war die Zahl 1982, als die Autonome Jüdische Provinz aufgelöst wurde, auf unter 10 000 gefallen. Seit der Perestrojka verstärkte sich die jüdische Auswanderung, vor allem nach Israel, und hielt die gesamten neunziger Jahre hindurch an. Die von den jüdischen Kommunisten erhoffte Verwirklichung eines „Roten Palästina“ blieb ein Traum. Insgesamt bedeutete die Zeit der frühen UdSSR für die Juden ein beachtliches Maß an Partizipation im Sowjetstaat. Dies wiederum förderte manches antijüdische Klischee. So wurde – und wird gelegentlich – die Tatsache der relativ hohen Anzahl von Personen jüdischer Herkunft in der Führungsspitze der Bolschewiki als Ausweis der besonderen Affinität der Juden zum Bolschewismus gedeutet. Für prominente Bolschewiki wie Trockij, Kamenev, Sverdlov oder Zinov’ev spielte die eigene jüdische Herkunft für ihr politisches Selbstverständnis jedoch keine Rolle. Vergleicht man den Anteil aktiver Juden innerhalb der Bolschewiki mit ihrem Anteil bei den Menschewiki oder jüdischen Linksparteien, dann verschiebt sich die Frage nach dem Anteil von Juden bei den Bolschewiki hin zur allgemeineren Frage nach ihrer Aktivität in linken Bewegungen überhaupt. Dieses Engagement läßt sich wiederum mit den gesellschaftlichen Barrieren und Diskriminierungen im späten Zarenreich erklären, die viele Juden mit Hilfe der emanzipatorischen linken Parteien zu überwinden hofften. Der urbane Charakter der jüdischen Sozialstruktur erklärt größtenteils den im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überdurchschnittlichen Anteil von Juden in der Kommunistischen Partei, in der Städter grundsätzlich überrepräsentiert waren. Zudem bot der Parteieintritt neue Aufstiegsmöglichkeiten und eine politisch definierte neue Heimat, die fehlende Bindungen zur nichtjüdischen Umwelt zu kompensieren half. Die urban geprägte jüdische Sozialstruktur war auch ein Grund für den hohen Anteil von Juden in den Staatsbehörden der Ukraine und Weißrußlands (jeweils etwa 43%). Unionsweit waren 30% der Juden in staatlichen Unternehmen, Kooperativen mit Handel und im Kreditwesen vertreten. Staatliche Ge-

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sellschaften boten vielen Juden einen Ersatz für vorrevolutionäre Betätigungsfelder und Funktionen wie z.B. den zuvor für diese Bevölkerungsgruppe so bedeutenden Privathandel und konservierten sogar traditionelle jüdische Berufsstrukturen. Gleichzeitig wechselten viele Juden aufgrund ihrer überdurchschnittlich guten Bildung in wissenschaftliche, technische und freie Berufe. Juden galten als urbane Bildungselite der UdSSR und waren im Hochschulwesen stark vertreten (1926/27: 16%). In Weißrußland und der Ukraine stellten sie z. B. fast die Hälfte aller Medizinstudenten. Sowohl in der Partei als auch in den staatlichen Institutionen ging der Anteil von Juden im Verlauf der zwanziger Jahre zurück. Grund dafür war die zunehmende Rekrutierung von Ukrainern und Weißrussen im Zeichen der Nationsbildung. Die starke Partizipation von Juden in dem neu gegründeten sowjetischen Staat sollte jedoch nicht vergessen lassen, daß die Eingliederung in die Sowjetgesellschaft für viele Juden des ehemaligen Ansiedlungsrayons gravierende soziale und berufliche Umschichtungen mit sich brachte, die einen Teil von ihnen zunächst zu Verlierern der neuen Ordnung machte. Nach dem Tod Lenins im Jahr 1924 brach ein Machtkampf zwischen Stalin und Trockij um die Führung von Partei und Staat aus. 1928 hatte Stalin seine innerparteilichen Konkurrenten ausgeschaltet. Als Generalsekretär der Kommunistischen Partei strebte er nun mit repressiven Mitteln in Form von Gleichschaltung, Terror und Zwangskollektivierung eine forcierte Industrialisierung an, die zu einer tiefgreifenden Transformation der Gesellschaft führte. Damit ging eine Abkehr von der bisherigen pragmatisch-flexiblen Nationalitätenpolitik im Sinne der Politik der „Einwurzelung“ und der Förderung nationalkultureller Autonomie einher. Nicht der „großrussische Chauvinismus“, sondern der „lokale Nationalismus“ der nichtrussischen Nationalitäten galt jetzt als Hauptgefahr. Ab 1934 wurde mit dem „Sowjetpatriotismus“ eine neue Mobilisierungs- und Integrationsideologie geschaffen, die den nicht mehr vorhandenen revolutionären Enthusiasmus ersetzen sollte. Der Sowjetpatriotismus war eine alle Völker überwölbende „Reichsidee“ (Gerhard Simon), die sowjetische Heimatliebe und Stalinkult mit russischem Nationalismus und Zarenglauben verband. Als Vorboten der eigentlich erst Mitte der dreißiger Jahre einsetzenden neuen Nationalitätenpolitik Stalins konnte die Auflösung der jüdischen Sektionen, die bis zu einem gewissen Grad ein jüdisches Gemeinschaftsbewußtsein wachgehalten hatten, im Jahr 1930 gelten. Die jiddische Sprache wurde zurückgedrängt, jiddische Publizistik und Kultur wurden radikal dezimiert. Jüdische Verlage, jiddische Schulen außerhalb Birobidzˇan sowie das Institut für jüdische Kultur in Kiev wurden beseitigt. Dem stalinistischen Terror in den „Großen Säuberungen“ der Jahre 1936–1938 fielen auch zahlreiche jüdische Wissenschaftler und Künstler unter dem Vorwurf des „jüdischen Nationalismus“ und des „Trockismus“ zum Opfer. Jüdische Politiker in Birobidzˇan blieben ebenfalls nicht verschont. Es ist jedoch festzuhalten, daß der stalinistische Terror der dreißiger Jahre sich nicht explizit gegen Juden, sondern grundsätzlich gegen internationalistische Alt-Bolschewiki der ersten Stunde richtete. Juden waren sowohl unter den Opfern als auch unter den Tätern. Ähnliches gilt für die seit 1928 verschärfte Verfolgung von Religion, die zur Schließung der Jeschiwot und bis 1939 der meisten Synagogen führte, was die jid-

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dischsprachige jüdische Bevölkerung besonders hart traf. Insgesamt unterschied sich die Verfolgung der jüdischen Religion und Kultur qualitativ nicht von der anderer Religionen und Kulturen. Eine tiefe Verunsicherung verspürten viele Juden der Sowjetunion, als Stalin 1939 einen außenpolitischen Kurswechsel vollzog und nicht mehr auf die Westmächte, sondern auf das nationalsozialistische Deutschland setzte, mit dem er am 23. August den später als „HitlerStalin-Pakt“ bekannt geworden Nichtangriffspakt schloß. Die Sowjetunion paßte sich nun der aggressiven deutschen Expansionspolitik an und verzichtete auf ihre bisherige Rhetorik, die zur Solidarität mit den unterdrückten und nach Gerechtigkeit strebenden Völkern und Klassen aufrief. Die sowjetischen Medien durften nicht mehr über die Verfolgungen und Diskriminierungen der Juden in Deutschland berichten. Die Entlassung des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten Litvinov, der jüdischer Herkunft war, am 5. Mai 1939 sowie die anschließende Entlassung zahlreicher Juden aus dem diplomatischen Dienst, wurde weltweit als „antijüdische“ Geste Stalins gedeutet. Sie diente wohl zugleich als Beschwichtigungsmaßnahme gegenüber dem Deutschen Reich, da Stalin befürchtete, Hitler könne mit den Westmächten gegen die Sowjetunion paktieren. Gleichwohl sei darauf hingewiesen, daß Litvinovs Entlassung primär mit dem Scheitern seiner westlich orientierten Außenpolitik zusammenhing und auch nach dieser Aktion zahlreiche Funktionäre jüdischer Herkunft, wie z. B. Lazar Kaganovicˇ, die zugleich zu den Vollstreckern von Stalins Terrorbefehlen zählten, an der Spitze der Führung der Bolschewiki verblieben. Von einer gezielt antijüdischen Maßnahme kann also allenfalls bedingt die Rede sein. Die Annexion der ostpolnischen Gebiete 1939/40 durch die Sowjetunion bedeutete einen wichtigen Einschnitt für die dortige jüdische Bevölkerung. Nach einer kurzen Schonzeit und der anfänglichen Förderung jüdischer Kommunisten und anderer Linker in den „Revolutionskomitees“, die häufig freiwerdende Posten im zerschlagenen polnischen Staat einnahmen, begannen die stalinistischen Terrororgane mit der Zerstörung autonomer jüdischer Institutionen sowie der Verhaftung und Deportation der aktiven Vertreter der jüdischen Gemeinden in den annektierten Gebieten, bis schließlich ein eigenständiges jüdisches Leben vollends erloschen war. Den Eliten anderer Völker, z. B. der Polen, in den von der Sowjetunion annektierten Gebieten erging es freilich nicht besser. Die aggressive Politik der Sowjetunion in Ostmitteleuropa im Bündnis mit Hitler erwies sich jedoch als Fehlkalkulation. Im Sommer 1941 wurde die Sowjetunion von den deutschen Truppen überrollt und mußte nun um ihr Überleben kämpfen. Grundsätzlich hatte das stalinistische Regime kein Interesse daran, die Leiden des jüdischen Volkes oder seine Beteiligung an den Kriegsanstrengungen hervorzuheben. Dennoch griff es in dieser Notsituation auf die Hilfe der Juden zurück, um die öffentliche Meinung im Ausland und vor allem in den Vereinigten Staaten zum Beistand im Krieg gegen Deutschland zu mobilisieren. Zu diesem Zweck gründete die Sowjetregierung im April 1942 das „Jüdische Antifaschistische Komitee“ (JAFK), das Juden in aller Welt aufrief, die Sowjetunion gegen das nationalsozialistische Deutschland zu unterstützen und vor allem in den angelsächsischen

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Ländern Sympathien für die Sowjetunion gewinnen sollte. Ihm gehörten bekannte Ver treter der jüdischen Intelligencija aus der Partei und der sowjetischen Gesellschaft an. Vorsitzender wurde der Schauspieler und Direktor des Staatlichen Jüdischen Theaters sowie Leninpreisträger Solomon Micho’els. Tatsächlich stand das JAFK unter Kontrolle des Geheimdienstes NKWD, mit dem alle Personalfragen und Aktivitäten abgestimmt werden mußten. Trotz seines unübersehbar propagandistischen Charakters wurde das JAFK zu einem Sammelpunkt jüdischen Lebens in der Sowjetunion und erinnerte an die gemeinsamen Bande, die die jüdischen Gemeinden in aller Welt verknüpften. Dies zeigt, daß die Bolschewiki, die ja in ihren Theorien die Existenz einer jüdischen Nation leugneten, in großer Not bereit waren, von ideologischen Prämissen abzurücken. Die vorrückenden deutschen Truppen gingen mit brutalster Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung, die ihnen in die Hände fiel, vor. Von den 2,7 Mio. sowjetischen Juden, die in deutsche Gewalt gerieten, überlebten nur ca. 100 000 die Schoa. Die sowjetische Presse schwieg hierzu und wies, abgesehen von wenigen Ausnahmen, in ihren Berichten über die Greueltaten der nationalsozialistischen Einsatzgruppen und Sonderkommandos, an denen auch weißrussische Polizeieinheiten und ukrainische Hilfspolizei beteiligt waren, niemals auf den Sondercharakter der Ermordung der Juden hin. Ein Beispiel für dieses Verschweigen der Schoa, das sich auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fortsetzte, sind die Berichte der „Außerordentlichen Staatlichen Kommission“ in Moskau zur Untersuchung der nationalsozialistischen Verbrechen: In den nach langen Abstimmungsprozessen zur Veröffentlichung freigegebenen Akten über den von deutschen Einsatzgruppen verübten Mord an 33 771 Juden in der Kiever Schlucht Babij Jar am 29./30. September 1941 und über das Konzentrationslager Auschwitz durfte hinsichtlich der Opfer nicht von Juden, sondern nur von „friedlichen Sowjetbürgern“ oder „Bürgern europäischer Länder“ gesprochen werden. Angesichts neuerer Forschungserkenntnisse läßt sich dieses skandalöse Verschweigen der nationalsozialistischen Verbrechen an den Juden kaum mehr nur mit der Angst der Regierung vor einem „Antisemitismus von unten“ erklären. Es stand auch im Zusammenhang mit der Haltung der jungen, stalintreuen russischen Kader in Bürokratie und Partei in den vierziger Jahren, die für den russischen Chauvinismus im Gewand der offiziellen Ideologie des Sowjetpatriotismus sowie für antisemitische Stimmungen durchaus empfänglich waren. Um dem Verschweigen der nationalsozialistischen Verbrechen an den Juden entgegenzutreten, beschloß das JAFK, Dokumente über die Schoa zu sammeln und als „Schwarzbuch“ zu veröffentlichen. Die Idee eines „Schwarzbuches“ stammte von Albert Einstein und wurde vor allem von den Schriftstellern Il’ja E˙renburg und Vassilij Grossman vorangetrieben. Doch das „Schwarzbuch“ durfte in der Sowjetunion nicht erscheinen und blieb bis zur Perestrojka Gorbatschows unter Verschluß. Als die Sowjetregierung nach dem Zweiten Weltkrieg als erste den 1948 neu gegründeten Staat Israel anerkannte und die unter sowjetischem Einfluß stehende Tschechoslowakei Israel mit Waffen für seine militärischen Auseinandersetzungen mit den arabischen Staaten belieferte, begrüßten die sowjetischen Juden ebenso wie die Juden im Ausland diese „pro-

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zionistische Wende“ mit Hoffnung und Freude. Stalin diente die Unterstützung Israels freilich nur dazu, die britische und die amerikanische Position im Nahen Osten im Zeichen des Kalten Krieges zu untergraben. Als sich die sowjetisch-israelischen Beziehungen wegen der immer engeren Anlehnung des jüdischen Staates an den Westen massiv verschlechterten, ging die sowjetische Propaganda wieder dazu über, den Zionismus als Agent des amerikanisch-englischen Kapitalismus und als Feind der Arbeiter zu brandmarken. Im Zusammenhang mit der „Antikosmopolitismus-Kampagne“, die sich seit 1946 gegen westliche Einflüsse und die „Ideologie der amerikanischen Weltherrschaft“ richtete, wurde trotz mancher Widersprüche der Antisemitismus seit dem Herbst 1948 zu einem festen Bestandteil der staatlichen Politik. Die Jahre 1948 bis 1953 werden auch als „schwarze Jahre“ des sowjetischen Judentums bezeichnet. Den Prolog zu der scharf antijüdischen Politik bildete die als Autounfall getarnte Ermordung des Leiters des JAFK, Solomon Micho’els, im Januar 1948. Anschließend wurde das JAFK wegen angeblich sowjetfeindlicher Spionage und als Organisation des „jüdischen Zionismus“ aufgelöst. Führende Mitglieder wurden Ende 1948/Anfang 1949 verhaftet. 1952 wurden dreizehn von ihnen zum Tode verurteilt und hingerichtet, darunter die bekannten Dichter Isaac Fefer und David Bergel’son. Das JAFK sollte in der Sowjetunion erst 1989 offiziell rehabilitiert werden. Seit dem Herbst 1948 begann die Liquidierung sämtlicher jüdischer Institutionen, darunter auch des renommierten Moskauer Staatlichen Jüdischen Theaters. Zahlreiche jüdische Funktionäre wurden wegen antisowjetischer Tätigkeit verhaftet und beschuldigt, Teil eines imperialistischen Komplotts gewesen zu sein, dem auch zionistische Organisationen in Israel angehört hätten. Juden wurden in wahrscheinlich von Stalin redigierten Pravda-Artikeln als unzuverlässige „Kosmopoliten“ und antisowjetische „Verschwörer“ mit „Schmarotzern“ verglichen, die alles in der Welt zu zerstören trachteten. Diese Aussagen lassen sich nicht mehr als Anti-Zionismus auf dem Konto eines antinationalistischen „Internationalismus“ verbuchen, sondern weisen unübersehbare Analogien zur Sprache des Nationalsozialismus auf. Einen Höhepunkt der Kampagne gegen die Juden nach 1948 bildete der sogenannte „Ärztekomplott“. Anfang 1953 meldete der sowjetische Geheimdienst eine „Verschwörung“ von Kremlärzten, die das Ziel gehabt habe, die Führer der Sowjetunion und Stalin zu ermorden. Die Verschwörung bestehe „zufällig“ ausschließlich aus Juden und sei vom US-Geheimdienst und internationalen jüdischen Organisationen gesteuert. Den verhafteten Juden drohte die Hinrichtung. Die Kampagne gegen Juden blieb aber nicht auf die Sowjetunion beschränkt, sondern wurde auf den gesamten kommunistischen Machtbereich ausgedehnt, was dem Nachweis der antisowjetischen Machenschaften des „Weltzionismus“ dienen sollte. Die Ärzte wurden nur durch Stalins Tod am 5. März 1953 gerettet: Der angekündigte Mordprozeß gegen sie fand nicht statt. Die Pravda sprach von einem schweren Irrtum des Geheimdienstes, und die Ärzte wurden rehabilitiert. Die von Sowjetführung und Geheimdienst konstruierte Kampagne könnte als Auftakt zu weiteren Parteisäuberungen mit antisemitischem Hintergrund gedacht gewesen sein. Im Zusammenhang mit dem „Ärztekomplott“ haben einige Historiker darauf hingewiesen,

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daß sogar eine Deportation der Juden aus den Großstädten in den Fernen Osten geplant gewesen sei. Da Stalin während des Zweiten Weltkrieges ganze nationale Gruppen wie Krimtataren oder Deutsche deportieren ließ, ist eine solche Maßnahme durchaus vorstellbar. Für eine geplante Deportation von Juden konnten aber noch keine schriftlichen Belege angeführt werden. Betrachtet man den Umgang der Bolschewiki mit der „jüdischen Frage“ für die gesamte Zeit von 1917–1953, dann läßt sich die Trennung in einen „Philosemitismus“ Lenins und einen Antisemitismus Stalins kaum aufrechterhalten. Zwar verurteilte Lenin die Pogrome gegen Juden im Bürgerkrieg ebenso scharf wie die spätzarische Diskriminierungspolitik. Aber seine Sympathien für die Juden waren klassenabhängig und bedeuteten keinen Einsatz für einen klassenneutralen Schutz der Juden vor Diskriminierungen. Die Gewährung einer jiddischen Sowjetkultur diente vor allem der „Übersetzung“ der kommunistischen Ideologie in die Sprache der jüdischen Massen. Die Frage nach Bedeutung und Ausmaß des Antisemitismus der Person Stalins ist umstritten. Jedenfalls zeigt Stalins Politik gegenüber den Juden mit all ihren Widersprüchen und ihrer Ambivalenz, daß er den Antisemitismus mit Rücksicht auf antijüdische Traditionen in der Bevölkerung dosiert einzusetzen wußte und bis 1948 auch durchaus bereit war, die projüdische Karte zu spielen. Philo- und Antisemitismus waren daher in mancher Hinsicht komplementäre Seiten ein und derselben Medaille, nämlich der hier wie dort betriebenen Instrumentalisierung der „jüdischen Frage“ zur Stabilisierung der bolschewistischen Herrschaft. (Wilfried Jilge) Zwischen Assimilierung und neuer Identität (1953–1985) Stalins Tod ermöglichte es der Kommunistischen Partei, neue Führungskräfte zu etablieren, die die bisherige politische Linie des Terrors verließen und sich von ihr distanzierten. Nikita Chrusˇcˇev warf auf dem XX. Parteikongreß 1956 Stalin vor, er habe „mit allen Mitteln die Glorifizierung seiner Person betrieben“ und die sozialistische Gesetzlichkeit vielfach verletzt. Bei der Auflistung der Verbrechen und politischen Fehler Stalins erwähnte Chrusˇcˇev auch die ungerechte Behandlung der Minderheiten, nannte unter den Beispielen die Juden jedoch nicht. Für diese endeten mit dem Tod Stalins zwar die „Schwarzen Jahre“, aber auch die poststalinistischen Sowjetführer waren nicht gewillt, von den Grundsätzen der Stalinschen Nationalitätenpolitik abzugehen. So gab es keine Chance, die Institutionen der jüdischen kulturellen Autonomie wiederherzustellen, selbst wenn diese, wie etwa das Jiddische Theater GosET, bis 1952 existiert hatten. Auch Chrusˇcˇev sprach demonstrativ fast nur vom „sowjetischen Volk“ und lobte den hohen Grad der Assimilierung, den die jüdischen Bevölkerung erreicht habe. Diesen sah er durch eine Gewährung kultureller Autonomie gefährdet. Der im Politbüro besonders mit Fragen der Ideologie betraute Suslov erklärte 1956, als er von kanadischen Kommunisten auf die Situation der jüdischen Bevölkerung angesprochen wurde, man wolle keine „tote Kultur“ wiederbeleben. Da die Partei die jiddischsprachigen Institutionen nur zugelassen hatte, um ihre eigenen Ziele zu befördern, fiel es für die Überlegungen nicht ins Gewicht, daß im Jahr 1959 bei der Volkszählung von den 2267000 Juden

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noch rund 400 000 Jiddisch ihre Muttersprache nannten. Kulturelle Institutionen über einen Bedarf „von unten“ zu begründen galt zumindest in der Chrusˇcˇev-Zeit als tendenziell sowjetfeindliche Einstellung. Immerhin erschienen ab 1959 wieder einige wenige Bücher in jiddischer Sprache, erst 1961 wurde in Birobidzˇan die Zeitschrift Sovietisˇ Gejmland (Sowjetische Heimat) gegründet, die politisch ganz dem offiziellen Kurs folgte. Die Zurückhaltung in bezug auf jüdische kulturelle Institutionen hatte ein Pendant in der Forcierung des Russischen als Verkehrssprache für alle Sowjetbürger und der Propagierung eines einheitlichen „sovetskij obraz zˇizni“ (sowjetischer Lebensstil), zu dem u. a. ein kämpferischer Atheismus gehörte. Seit 1960 wurde der Kampf gegen die Religionen, die als Erscheinungsformen nationaler Eigenheit und damit als Hindernisse auf dem Weg zu einem einheitlichen Sowjetvolk angesehen wurden, wieder besonders intensiv geführt. Wie Christentum und Islam war auch das Judentum Ziel vielfältiger Maßnahmen, die von Diffamierungen und Unterstellungen bis zur Zerschlagung der religiösen Gruppierungen und Schließung oder Zerstörung der Gotteshäuser reichten. Während den Christen und Muslimen kleine Rückzugsgebiete in Form von Klöstern und Ausbildungszentren blieben, verfügten die Juden über keine einzige Rabbinerschule mehr, keine Druckerei zur Vervielfältigung der Gebetbücher. Fast alle rituellen Schlachtereien und Bäckereien waren geschlossen, das Backen von Mazzot stand zwischenzeitlich sogar unter Strafe. Bis zu dem Abebben der antireligiösen Propagandawelle fielen ihr fast 90 der etwa 150 aus der Stalinzeit verbliebenen Synagogen zum Opfer. Eigentliche Gemeinden hatte es auch schon vorher nicht mehr gegeben, nur noch „Dvadcatki“, Zusammenschlüsse von mindestens 20 Personen, die als religiöse Vereinigung registriert waren. Auch diese wurden nun dezimiert, da die Beschuldigungen, die zur Schließung von Synagogen führten, für nicht wenige Mitglieder der jeweiligen Dvadcatka mit Strafprozessen und Haftstrafen endeten. Von der mit Chrusˇcˇevs Distanzierung von Stalin verbundenen Liberalisierung, die nach dem Titel eines Kurzromans von Il’ja E˙renburg als „Tauwetter“ bezeichnet wird, konnten auch Schriftsteller jüdischer Herkunft, die – wie z. B. E˙renburg selbst – weitgehend assimiliert waren, profitieren, solange sie das Jüdische nicht direkt thematisierten. Dies blieb – wie alle Minderheitenprobleme – tabu. Da während des „Tauwetters“ auch die Rehabilitierung von Opfern der stalinistischen Verfolgungen möglich wurde, konnten Werke verfemter oder ermordeter Klassiker, die – wie z.B. Perec Markisˇ – vorrangig in Jiddisch publiziert hatten, nun wieder gedruckt werden. Die Auflagen waren freilich sehr niedrig. Daß die Juden der Sowjetunion trotz der fortgeschrittenen freiwilligen und unfreiwilligen Assimilation noch als Gruppe erschienen, ist einerseits der Außenwahrnehmung geschuldet. In vielen Fällen machte die Umwelt die Akkulturation zunichte, indem sie die unterschiedliche Herkunft zu einem tatsächlichen Unterschied erklärte. Der Antisemitismus war als Begriff geächtet, nicht als diskriminierende Verhaltensweise. Andererseits gab es auch die Innenwahrnehmung der Juden als einer Schicksalsgemeinschaft, die von der Erfahrung von Unterdrückung und Verfolgung geprägt war. Darin, daß das Verhältnis von Innen- zur Außenwahrnehmung nicht offen angesprochen werden konnte, lag ein

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zentrales Problem jüdischer Existenz in der Sowjetunion. Die Juden konnten sich gegen den existierenden, aber geleugneten Antisemitismus ebensowenig wehren, wie sie ihre historischen Erfahrungen aufarbeiten konnten. Von staatlicher Seite wurden nicht nur, wie bereits erwähnt, die jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Rassenideologie während der Zeit der deutschen Besatzung verschwiegen, sondern auch, der Logik der nur sehr selektiven Aufarbeitung des Stalinismus folgend, die stalinistischen Unterdrückungen der Juden tabuisiert. Als Beispiel für den Umgang sowjetischer offizieller Stellen der nachstalinistischen Zeit mit den nationalsozialistischen und stalinistischen Verfolgungen der Juden kann noch einmal das bereits erwähnte Massaker in der Schlucht von Babij Jar bei Kiev herangezogen werden: Als der Stadtsowjet von Kiev plante, die Schlucht aufzufüllen und an ihrer Stelle einen Sportpark anzulegen, regte sich dagegen öffentlicher Protest, der zu einen Skandal eskalierte. Der damals 29jährige Evgenij Evtusˇenko plädierte in einem Poem für ein Denkmal und sprach vom gegenwärtigen Antisemitismus in der Sowjetunion. Er, der Dichter, sei deshalb ein echter Russe, weil er von den Antisemiten wie ein Jude gehaßt werde. Evtusˇenko, der das Poem in Auditorien und auf öffentlichen Plätzen vortrug, wurde stark angefeindet, auch Chrusˇcˇev erklärte, er halte das Poem für überflüssig. Die Literaturnaja gazeta, die Zeitung des Schriftstellerverbandes, die schon die Protestbriefe gegen die Sportparkpläne publiziert hatte, druckte jedoch am 19. September 1961 den Text ab. Viele Intellektuelle unterstützten Evtusˇ enko. Dmitrij Sˇ ostakovicˇ z. B. widmete dem Poem seine 13. Symphonie. Babij Jar erhielt 1976 ein Denkmal, das jedoch unterschlug, daß es sich bei den Opfern um Juden handelte. Der Antisemitismus, der bei der Entscheidung im Kiever Stadtsowjet sichtbar wurde, ist methodisch schlecht faßbar. Er war nicht Teil einer Kampagne wie Stalins Vorgehen gegen das JAFK, sondern erscheint vielmehr als ein Klima der Rechtsunsicherheit, in dem kleinere und größere Diskriminierungen möglich waren, ja sogar als normal gelten konnten, zugelassen von Desinteresse und mangelnder Sensibilität für die Belange einer Minderheit. Auch der 1964 vollzogene Wechsel in der Parteispitze, bei dem Nikita Chrusˇcˇev von Leonid Brezˇnev abgelöst wurde, führte in dieser Beziehung zu keinen erkennbaren Veränderungen. Obwohl die Rekonstruktion dieses latent antisemitischen Klimas und die Bestimmung der Rolle, die Regierung und Behörden bei seiner Aufrechterhaltung – eventuell sogar seiner Verdichtung – spielten, schwierig ist und entsprechende sozialwissenschaftliche Untersuchungen fehlen, erscheinen doch folgende, freilich aus einer Reihe von Einzelbeispielen gewonnenen Aussagen möglich: Erstens: Die offizielle Politik ließ trotz aller Beschwörungen gegenüber dem Ausland die massenhafte Verbreitung von antisemitischen Stereotypen und Vorurteilen in Broschüren nichtamtlichen Charakters zu. Diese fanden sich in großer Zahl in Publikationen, die sich den Anstrich der „Wissenschaftlichkeit“ gaben, mit ihren „Enthüllungen“ über das Judentum jedoch lediglich alte Vorurteile neu präsentierten. Untersuchungen zu sowjetischen Massenmedien zeigen, daß es neben den auch im Ausland wahrgenommenen Karikaturen vor allem auch literarische Texte waren, die alte antisemitische Vorurteile aufwärmten: lite-

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rarische Figuren mit jüdischen Namen verhielten sich geldgierig und illoyal und schadeten braven Sowjetbürgern. Die Verantwortung für diese Publikationen trug letztlich die Partei, die das Publikationsmonopol besaß. Zweitens: Die offizielle Politik ließ nicht nur die Verbreitung von antisemitischen Vorurteilen in nichtamtlichen Publikationen zu, sondern auch die Regierungs- und Parteizeitungen schürten die Stimmung gegen Juden. Dies wird vor allem im Zusammenhang mit der Politik gegenüber Israel deutlich. Der „Ärztekomplott“ 1953, die Suez-Krise 1956 und der Sechstagekrieg 1967 führten zu politischen Konflikten mit dem Staat Israel, in deren Verlauf jeweils für begrenzte Zeit die diplomatischen Beziehungen abgebrochen wurden. Israel, die internationalen jüdischen Organisationen und auch die USA wurden in der Regierungs- und Parteipresse heftig angegriffen. „Zionismus“ wurde mit „Imperialismus“, bisweilen sogar mit „Faschismus“ gleichgesetzt, über das Schlagwort vom „Weltzionismus“ wurde wieder an alte Verschwörungstheorien angeknüpft. Die Karikaturen auch in den regierungsamtlichen Presseerzeugnissen hatten bisweilen eine fatale Ähnlichkeit mit denen im Stürmer. Drittens: Gleichzeitig bemühte sich die sowjetische Führung, nach außen den Schein zu wahren, ihr sei an einem gleichberechtigten Miteinander der Kulturen gelegen. Antisemitismus gebe es in der Sowjetunion nicht. Ein besonders aussagekräftiges Beispiel dafür ist der im Februar 1966 gegen die Schriftsteller Julij M. Danie˙l (1925–1988) und Andrej D. Sinjavskij (1925–1997) eröffnete Prozeß. Die beiden hatten unter den Pseudonymen „Nikolaj Arzˇak“ und „Abram Terc“ satirische Texte verfaßt und in Frankreich drucken lassen. Da der alltägliche sowjetische Antisemitismus Gegenstand der Satire war, argumentierten die Ankläger, die Autoren verbreiteten antisemitische Propaganda. Gleichzeitig hielt die regierungsamtliche Zeitung Izvestija Sinjavskij vor, es sei eines Russen „unwürdig“, ein jüdisches Pseudonym gewählt zu haben. Danie˙l und Sinjavksij wurden zu fünf bzw. sieben Jahren Lager verurteilt. Es ist auch festzuhalten, daß die sowjetische Führung nicht ausschließlich mit Repressionen auf den den Wunsch vieler Juden reagierte, das kulturelle Leben der Sowjetunion durch eigene Beiträge mitgestalten zu können. Dies kam vor allem, aber nicht ausschließlich, der jiddischsprachigen Kultur in Birobidzˇan zugute. Dort wurde ebenso wie in Wilna (heute: Vilnjus) und Kisˇinev ein jiddisches Theater wieder zugelassen, eine zweite Zeitschrift, stundenweise Rundfunksendungen u. ä. kamen hinzu. Dies waren Zugeständnisse in Richtung auf eine „sprachliche Vielfalt“, die Inhalte waren jedoch die allgemein sowjetischen. Viertens: Während der Regierungszeit Chrusˇcˇevs und Brezˇnevs wurden Sowjetbürgern jüdischer Herkunft bestimmte berufliche Karrieren verwehrt bzw. erschwert. Seit den Stalinschen „Säuberungen“ hat es praktisch keine Juden mehr im Auswärtigen Dienst, im Außenhandelsministerium und in den hohen Offiziersrängen von Militär und Geheimdiensten gegeben. Sowohl für höhere Partei- und Staatsämter als auch für höhere Bildungseinrichtungen gab es inoffizielle „Judenquoten“, die in den siebziger und achtziger Jahren von Hochschulzulassungskommissionen nicht selten damit begründet wurden, man wolle ja nicht die Spezialisten für Israel ausbilden. Trotzdem hielt sich das Vorurteil zäh, Juden seien

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in den leitenden Funktionen „überrepräsentiert“, wobei sich statistisch nur feststellen läßt, daß Juden überdurchschnittlich häufig in „White-Collar-Berufen“ tätig waren. Unter den habilitierten Wissenschaftlern stellten sie nach den Russen die zweitgrößte ethnische Gruppe. Daß sich die Innenwahrnehmung der jüdischen Gemeinschaft in der Sowjetunion als einer Minderheit mit eigenen historischen Erfahrungen zu einer gewissen Gruppenindentität entwickelte, hängt u.a. mit einem Wandel in der Intelligencija zusammen: In den sechziger Jahren wuchs unter den Enttäuschten der Widerstand gegen das Sowjetsystem, dessen humanistisches Pathos spätestens nach der Besetzung der CˇSSR 1968 nicht mehr glaubhaft erschien. Der Widerstand war seit dem Ende der Stalinzeit nicht mehr direkt lebensgefährlich, zumal die Öffentlichkeit in den westlichen Ländern das Geschehen beobachtete und bei Verletzungen der Menschenrechte protestierte. In vielen der nun entstehenden Dissidentengruppen spielte die Analyse des Antisemitismus eine wichtige Rolle. Daneben gab es auch jüdische Gruppen, die über den Weg diskutierten, den die sowjetischen Juden einschlagen sollten. Die Renaissance jüdischen Selbstbewußtseins äußerte sich in einer Vielfalt von Optionen, die die starken Differenzierungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft – noch Anfang der achtziger Jahre war jeder sechste bis siebte erwachsene sowjetische Jude Mitglied der Kommunistischen Partei – reflektierten. Die sich neben dem Offiziellen etablierende Vielfalt fand in dem gut organisierten Untergrund entsprechende Ausdrucksformen. Durch die forcierte Assimilierungspolitik der vergangenen Jahrzehnte war in einem großen Teil der jungen Generation das Wissen um jüdische Traditionen verlorengegangen. Jüdisch – das war oft nur die im Paß eingetragene Nationalität. Vor allem diese Generation entdeckte in der jüdischen Subkultur eine ihr unbekannte Welt des Judentums, und der Reiz des Verbotenen tat das Seine. Jüdisches Selbstbewußtsein bedeutete für einige die Rükkkehr zur jüdischen Religion, wie überhaupt in den sechziger Jahren das Religiöse in der Sowjetunion eine Renaissance erlebte. Politisch wichtiger aber waren die Diskussionen, die die zionistischen Ideale wiederbelebten und die Debatten der Jahrhundertwende gewissermaßen neu führten. Heftig wurde um die Rolle des Staates Israel gestritten: Sollte er das Ziel jüdischen Engagements sein oder doch eher die Veränderung der angestammten Sowjetunion? Im Jahr 1967 organisierten jüdische und nichtjüdische Untergrundgruppen vor der Moskauer Choral-Synagoge eine Demonstration gegen den Antisemitismus, bei der 20 000 Menschen auf die Straße gingen. Die menschenrechtlich orientierten Gruppen, bei denen Julij E˙jdelman und Anatolij Sˇcˇaranskij eine zentrale Rolle spielten, sprachen sich für einen Kampf um Gleichberechtigung in der Sowjetunion aus. Sie engagierten sich in den sogenannten Helsinki-Komitees und erhielten Unterstützung von anderen Dissidenten, wie z.B. von Andrej Sacharov, der in seinem Offenen Brief an den Obersten Sowjet im Mai 1971 den Antisemitismus kritisierte. Die Anführer des jüdischen Untergrunds wurden seit 1970 in einzelnen Verfahren zu langen Freiheitsstrafen verurteilt, Sˇcˇaranskij z.B. 1977 zu 13 Jahren. Er durfte 1986 ausreisen und wurde in den neunziger Jahren in Israel Kabinettsmitglied. Der latente Antisemitismus und die überzogene Polemik gegen die israelische Politik stärkten im ganzen das jüdische Selbstbewußtsein und den Zionismus. Es wuchs die Solida-

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rität mit Israel und der Wunsch, dorthin zu emigieren. Das Ziel der Emigration war aber nicht nur Israel und das Motiv beileibe nicht immer der Zionismus. Für viele stellte die Emigration die einzige Möglichkeit dar, den Unzulänglichkeiten und Widrigkeiten der sowjetischen Lebensverhältnisse zu entkommen, weshalb Amerika oder Westeuropa als Ziele ebenfalls sehr attraktiv waren. Man sprach von diesen ausreisewilligen Juden als „Refuseniks“, weil sie es ablehnten, weiter in der Sowjetunion zu leben. Die Emigration schürte ihrerseits wiederum den Antisemitismus, der z. T. dem Neid entstammte, nicht selbst ausreisen zu können. Seit der Mitte der sechziger Jahre versuchte die Sowjetführung, sich eines Teils des Drukks dadurch zu entledigen, daß sie mehr Personen ausreisen ließ. Zwischen 1954 und 1960 waren es insgesamt 1676 Juden, 1965 bereits 891 und 1966 2046. Ein Einbruch ist für die Jahre 1967 bis 1970 zu verzeichnen, eine Reaktion auf den Sechstagekrieg, den die Sowjetunion scharf verurteilte. Wie groß der Leidensdruck der Ausreisewilligen war, zeigte sich 1970, als eine verzweifelte Gruppe von Juden durch die Entführung eines Verkehrsflugzeugs nach Israel zu gelangen versuchte. Der Prozeß erregte internationales Aufsehen, zumal die Angeklagten zum Tode verurteilt wurden. Nach massiven ausländischen Protesten wurde das Urteil am 31. Dezember 1970 in Freiheitsstrafen umgewandelt. Im Jahr 1971 begann die Sowjetführung, ihre Politik gegenüber dem harten Kern der Oppositionellen zu ändern. Zum ersten Mal verwies sie mit einer größeren Gruppe jüdischer Dissidenten unbequeme Mitbürger des Landes. In den Folgejahren konnten mehr als 172000 Juden ausreisen. 1980 waren es noch einmal 20000. Dann gingen die Zahlen kontinuierlich zurück. Mit weniger als 1000 im Jahr 1983 erreichte sie einen neuen Tiefstand. Auch Rußlanddeutsche und Armenier durften in größeren Kontingenten ausreisen. Aufsehen erregten die Zwangsausbürgerungen bekannter Intellektueller wie etwa 1974 die von Aleksandr Solzˇenicyn, Viktor Nekrasov, Vladimir Maksimov oder Efim E˙tkind. Parallel zur Abschiebung wurde ein Propaganda-Feldzug in Gang gesetzt, der die Vorzüge der Sowjetunion für Juden hervorhob und die Vorwürfe des Antisemitismus zurückwies. Auch Juden wirkten dabei mit. So ließen sich 1983 genügend prominente Persönlichkeiten finden, die als „Antizionistisches Komitee“ gegen die Ausreisewilligen Stimmung machten. Zugleich hatte die Sowjetführung erkannt, daß sich für die Ausreise der Juden, wie für die der Rußlanddeutschen, in der internationalen Politik ein Preis erzielen ließ. In den siebziger Jahren spielten die Ausreisemöglichkeiten für sowjetische Juden widerholt eine Rolle bei amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen. Im Jahr 1979 gaben noch 1,8 Mio. Sowjetbürger an, jüdischer Nationalität zu sein, das waren etwa 450000 weniger als 1959. Fast 200000 waren emigriert, zwischen 10% und 15% waren so weit assimiliert, daß sie sich nicht mehr als Juden bezeichneten. Der restliche Schwund erklärt sich mit der schon in den fünfziger Jahren relativ ungünstigen Alterspyramide und der für Städter typischen niedrigen Reproduktionsrate. Drei Viertel der sowjetischen Juden lebten im europäischen Teil der Sowjetunion, fast alle in Städten, mehr als ein Viertel allein in den Metropolen Kiev, Moskau und Leningrad. (Norbert Franz)

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Sowjetische Perestrojka und Postsozialismus In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre traten in der Sowjetunion tiefgreifende Änderungen ein. Der am 11. März 1985 zum Generalsekretär gewählte Michail Gorbacˇev versuchte, die Sowjetunion gründlich umzubauen („perestrojka“). Die 1987 propagierte Transparenz („glasnost’“) sollte eines der Mittel des Umbaus werden: der schrittweise Abbau von Tabus und das Zulassen einer kritischen Öffentlichkeit. Dies ermöglichte die Diskussion von jüdischen Themen in der Öffentlichkeit, lange zurückgehaltene Bücher und Filme wurden freigegeben. In den Jahren 1987 und 1988 entstand eine Reihe von jüdischen Organisationen und Gesellschaften, die als Träger kultureller und wissenschaftlicher Einrichtungen fungierten. Dabei erwies es sich als hilfreich, daß sich in Israel und den USA bereits eine russischsprachige jüdische Kultur etabliert hatte. Schätzungen zufolge soll 1995 die Zahl der jüdischen Kulturvereinigungen 400 bis 500 betragen haben. Diese gaben ca. 100 Zeitungen und Zeitschriften heraus. Zwei jüdische Universitäten wurden gegründet. Neue Bestimmungen für die Religionsgemeinschaften erleichterten ab 1988 die Wiedererrichtung religiöser Institutionen. Vorsichtigen Schätzungen zufolge praktizierten etwa 10% der Juden Rußlands ihren Glauben – verläßliche Zahlen liegen nicht vor. Deutlich ist ein kulturelles Interesse an den jüdischen Traditionen. Die Bildungseinrichtungen sind eher auf „Jewish studies“ ausgerichtet als auf die Vermittlung religiöser Grundlagen. Glasnost’ bedeutete allerdings auch publizistische Freiheiten für die Minderheit, die den versteckten Antisemitismus nun öffentlich bekannte und propagierte. Die Aussicht auf marktwirtschaftliche Elemente im Wirtschaftsleben ängstigte vor allem viele Kulturschaffende, deren Wohlergehen zuvor weitgehend unabhängig vom tatsächlichen Verkauf ihrer Werke gewesen war. So formierten sich vor allem unter den Schriftstellern sehr schnell die Lager, die später die ganze Gesellschaft – soweit sie sich politisch engagierte – spalten sollten: Auf der einen Seite die Befürworter einer starken Westorientierung, die parlamentarische Demokratie und Marktwirtschaft einschließt, auf der anderen Seite die Anhänger eines politischen wie wirtschaftlichen „Sonderweges“. Die Lager waren und sind höchst heterogen und weniger zur Beschreibung der politischen Landschaft tauglich als zur Charakterisierung grundsätzlicher kultureller Optionen. Bei den Verfechtern des Sonderwegs ist der Antisemitismus zu einem verbindenden Element und zu einem Massenphänomen geworden, denn Nationalisten, Monarchisten, Faschisten, Leninisten, Stalinisten und viele andere haben außer der Reichsidee und der Ablehnung der westlichen Kultur und Zivilisation nicht viel Gemeinsames. Im Umfeld dieser Gruppierungen hat sich eine eigene Subkultur mit Zeitungen und Buchpublikationen herausgebildet, wo u. a. die alten Hetzschriften wie z.B. Die Protokolle der Weisen von Zion wiederaufgelegt werden. Hatten bislang vor allem Juden den ganzen Komplex der (verweigerten) kulturellen und religiösen Selbständigkeit und des Antisemitismus „jüdische Frage“ genannt und dazu aufgerufen, diese öffentlich zu diskutieren, so versuchen nun die Antisemiten, den Terminus „jüdische Frage“ zu besetzen. Sie benutzen ihn, um damit ihre Verschwörungstheorien zu bezeichnen, die alle Fehlentwicklungen in Staat, Ökonomie und Gesellschaft den Juden an-

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lasten. Ihre am weitesten verbreitete Formulierung haben diese Verschwörungstheorien in dem Essay Rusofobija des Mathematikers und Schriftstellers Igor Sˇafarevicˇ gefunden. Aus Angst vor den ihm zahlenmäßig überlegenen Russen hätte „ein kleines Volk“ den Entschluß gefaßt, dessen „religiöse und nationale Lebensgrundlagen endgültig zu zerstören“. Das „kleine Volk“ sei die wurzellose Intelligencija, innerhalb deren die Juden eine besondere Rolle spielten. Die Kultur sei jüdisch „zersetzt“ (Freud, Schönberg, Picasso[!], Brodskij), der „lebendige Volkskörper“ werde „abgeschlachtet und zerteilt“. Die Oktoberrevolution und der ganze Sozialismus werden als Werk einer jüdischen Clique gedeutet, und die Russen werden zur Wehrhaftigkeit aufgerufen. In ähnlichen Mythen werden Juden und Freimaurer gleichgesetzt. In den seit dem Ende des Sozialismus in Rußland abgehaltenen Wahlen haben die radikalen Parteien zwar keine Mehrheiten erhalten, gleichwohl ist der postsowjetische Antisemitismus ein Massenphänomen und nicht mehr, wie noch zur Zarenzeit oder unter den Sowjets, ein vom Regime eingesetztes Instrument. Während einzelne Politiker, angefangen vom Präsident Boris Jelzin bis in die Stadträte, und auch der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche antisemitische Auswüchse beim Namen nennen und verurteilen, teilen weite Kreise der mittleren Ebene in Staat und Kirche die antisemitischen Vorurteile oder dulden diese zumindest. Durch die Passivität der Staatsorgane bleiben antisemitische Hetze und Aufrufe zur Gewalt gegen Juden meist ungeahndet, selbst die Abgeordneten der Duma konnten sich 1998 nicht mehrheitlich zu einer Rüge für den kommunistischen Abgeordneten Viktor Il’juchin durchringen, der den Juden im Parlament „Genozid im großen Maßstab am russischen Volk“ vorgeworfen hatte. Auch der KP-Chef Gennadij Sjuganov stuft heute den Zionismus gefährlicher ein als den Faschismus. Die Vertreter der russische Kultur tun sich schwer damit, daß aus der Konkursmasse der Sowjetunion auch eine russischsprachige jüdische Kultur hervorgegangen ist, die sich mit der russischen in vielen Bereichen deckt, aber nicht in allen. So wurden etwa Romane, die den Mord an dem Vorsitzenden des JAFK Micho’els literarisch bearbeiten (z.B. A. u. G. Vajner: Petlja i kamen’ …; A. Askol’dov: Vozvrasˇcˇenie v Ierusalim), interessiert aufgenommen, aber schon der Versuch, die Geschichte des 20. Jhs. ganz konsequent aus einer jüdischen Perspektive zu gestalten (F. Gorensˇtejn: Psalom), stieß fast nur noch auf Unverständnis. Das Schicksal Rußlands ist unsicher, viele Juden haben in den letzten anderthalb Jahrzehnten das Land verlassen. Während der Perestrojka wanderten 39 141 Juden aus, in den Jahren 1989 bis 1994 sollen es laut Neue Zürcher Zeitung ca. 800 000 gewesen sein. Sollten diese Schätzungen durch genaue Recherchen bestätigt werden, wäre die Zahl der „russischen Juden“ schon unter die Marke von einer Million gesunken. (Norbert Franz)

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Die Juden in Lettland und Estland Die Juden in Livland, Kurland und Lettgallen bis zum Ende des 18.Jahrhunderts Die Geschichte der Juden insbesondere in den Territorien Kurlands und Livlands ist – mit Ausnahme einiger jüngerer Arbeiten – noch nicht intensiv erforscht und wird in Übersichtsdarstellungen oft vernachlässigt. Es fehlen gründliche, archivgestützte Gesamtdarstellungen, die die auch in einschlägigen Lexika meist unkritisch übernommenen und häufig widersprüchlichen Angaben, insbesondere zur rechtlichen Lage, aber auch zur Datierung von einzelnen Ereignissen, überprüfen würden. Ähnliches gilt für die Forschungslage zur Geschichte Lettlands und Estlands in der Zwischenkriegszeit und während des Zweiten Weltkriegs. Livland (lett. Vidzeme), Estland, Kurland und Semgallen (lett. Kurzeme bzw. Zemgale; im folgenden nur: Kurland) gehörten seit dem 13. Jh. überwiegend zum Besitz des Livländischen Zweiges des Deutschen Ordens sowie zum Erzbistum Riga (lett. Rı¯ga). Im Verlauf des Livländischen Krieges (1558–1582) zwischen Moskau, Schweden und Polen-Litauen löste sich der Livländische Ordenszweig auf, und Altlivland wurde unter Polen-Litauen und Schweden aufgeteilt: Estland wurde schwedisch, Lettgallen (lett. Latgale), die südöstliche Region des heutigen Lettland und das übrige überdünische Livland kamen zu Polen-Litauen. Aus dem ehemaligen Ordensbesitz südlich der Düna wurde das Herzogtum Kurland unter polnischer Lehnshoheit gebildet. Riga konnte seine Unabhängigkeit bis 1581 bewahren, mußte sich dann aber Polen unterwerfen. In allen drei Gebieten blieb die tonangebende Rolle des deutschen Adels, der von der Wirtschaftskraft seiner estnischen und lettischen Bauern abhing, sowie der deutschen Stadtbewohner, die von Handel und Handwerk lebten, erhalten. Nachdem Livland und Estland bereits 1710, Lettgallen 1772 und Kurland sowie das Stift Pilten dann 1795 in das Russische Reich eingegliedert worden waren, standen die Territorien der heutigen Staaten Lettland und Estland gänzlich unter russischer Herrschaft. Der Beginn jüdischer Präsenz in Altlivland ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Gemäß einem Erlaß des livländischen Ordensmeisters, der aus dem Jahre 1309 datiert, war den Juden der Aufenthalt auf Ordensterritorium untersagt. Diese Bestimmung ist jedoch offensichtlich nicht immer streng befolgt worden. Man nimmt im allgemeinen an, daß die Anfänge jüdischer Geschichte in Riga bis zur Mitte des 16. Jhs., in Kurland und Estland aber bis zum 14. Jh. zurückreichen. Aber auch diese Datierungen sind in der Literatur bisweilen umstritten. In der Urkunde, mit der sich der letzte livländische Ordensmeister Gotthard Kettler 1561 Sigismund II. August, König von Polen und Großfürst von Litauen, unterwarf, wurde festgelegt, daß die Juden auf immer von Handel und Zollpacht in Livland ausgeschlossen sein sollten. Diese Bestimmung, die sich sowohl auf das überdünische, an Polen gefallene Livland als auch auf das Herzogtum Kurland und Semgallen bezieht, läßt nicht klar erkennen, ob sie für bereits anwesende Juden galt oder den Zuzug von Juden beschränken sollte. Dies bleibt auch im Privileg König Sigismunds III. von 1593 offen, wenn er auf Ersuchen der Rigaer Bürgerschaft festsetzte, daß Juden „wie bisher“ weder in Riga wohnen noch sich dort

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aufhalten dürften. De facto kam die Bestimmung aber einem Niederlassungsverbot für Juden gleich. Daß die Klagen der Rigaer Bürgerschaft, die die wirtschaftliche Konkurrenz der Juden fürchtete, auch nach 1593 nicht verstummten, deutet darauf hin, daß die zahlreichen rechtlichen Bestimmungen, die den Aufenthalt von Juden verboten, nicht viel fruchteten. Dies galt für das Land noch mehr als die für Stadt Riga. In ländlichen Kleinstädten wurden Juden zeitweilig geduldet, wenn es der dortigen Bürgerschaft nützlich war. Solange die Juden keine unliebsame Konkurrenz für die ortsansässigen Kaufleute darstellten und solange sie als Vermittler des Handels mit Polen-Litauen dienen konnten, sah man den Geschäftsverkehr mit ihnen als notwendig an. Nach der Eroberung Livlands durch Schweden 1621 erneuerte der schwedische König Gustav Adolf das Aufenthaltsverbot für „Juden und Fremde im Lande“. Diese Maßnahme war für das streng protestantische Schweden, das den Juden im eigenen Land noch lange den Aufenthalt verwehrte, selbstverständlich. Dennoch gab es auch unter dem Druck der schwedischen Herrschaft einige wenige Juden in Livland, die im Interesse des Handels mit Polen-Litauen als Vermittler geduldet wurden. Um die Mitte des 17. Jhs. brachten jüdische Kaufleute aus Polen und Litauen vor allem Holz auf der Düna nach Riga. Dort verkauften sie ihre Waren und kauften andere ein, was auch für die Rigaer Kaufleute ein gewinnbringendes Geschäft war. Die Zahl der Juden in Riga blieb aber insgesamt gering: 1645 lebten 20, 1728 60 Juden in Riga. Das Bestreben, den Aufenthalt der Juden zu verkürzen und zu kontrollieren, führte zur Einrichtung von besonderen Judenherbergen, deren Anfänge wahrscheinlich im Jahr 1638 liegen. 1710 eroberte Zar Peter I. Estland und Livland. Die allgemeine Rechtslage der Juden blieb davon unberührt. Da die Grundprinzipien russischer Eingliederungspolitik – Wahrung des Status quo und Kooperation mit der fremden Elite – angewandt wurden, blieben die gewachsenen ständisch-korporativen Institutionen der Ritterschaften und Städte weitgehend unangetastet. In der Kapitulationsurkunde wurden die Juden zwar nicht speziell erwähnt, aber alle früheren Privilegien, wie die von 1593 und 1621 wurden bestätigt, einschließlich der für die Juden relevanten Bestimmungen. Auch während der russischen Herrschaft gab es zahlreiche Klagen und Gesuche der Bürgerschaft am Zarenhof, um den Aufenthalt der Juden in der Stadt zu unterbinden. Einige „Hofjuden“ wie der Goldschmied Isaac Marcus Salomon, die starken Einfluß und Fürsprecher am Zarenhof besaßen, konnten solche Bestimmungen jedoch umgehen. Die Petersburger Regierung kam ihren Bitten um Verbleib in der Stadt auch aus finanzpolitischen Gründen nach, da diese einzelnen Juden eine große Summe an Zöllen ins Land brachten. In der ersten Hälfte des 18. Jhs. durften Juden, auch bestens empfohlene jüdische Kaufleute, sich in Riga nur in der Vorstadt und in der Judenherberge aufhalten. Die Dauer des Aufenthalts war auf wenige Wochen (meist die Messezeit) begrenzt, wobei dem Bürgermeister im Fall der Aufenthaltsbewilligung ein Geleitgeld zu zahlen war. Unter der Zarin Elisabeth (1741–1762) verschlechterte sich die Situation der Juden in Livland noch einmal. Der Ukaz der Zarin vom 2. Dezember 1742, der die bedingungslose Ausweisung der Juden aus

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allen Teilen des Russischen Reichs vorsah, wurde auch in Livland und Riga angewandt. Auch eine Interventionen des Rats der Stadt Riga, der entgegen den früheren Klagen nun offenbar bei einer Ausweisung der Juden eine Beeinträchtigung des Handels mit Polen befürchtete, konnte die Vertreibung nicht verhindern. Die Änderungen der rechtlichen Lage der Juden in Riga im letzten Drittel des 18. Jh. waren eng verknüpft mit der Thronbesteigung Katharinas II. (1762) und ihrer von aufgeklärt-absolutistischen Ideen geprägten Politik. Zwar verfügte Katharina II. keine offizielle Wiederzulassung der Juden im Russischen Reich, doch wurde unter ihrer Herrschaft das immer noch gültige Ansiedlungsverbot Elisabeths I. unterlaufen. Im Rahmen dieser Politik wurde seit 1764 auch die Niederlassung jüdischer Kaufleute in Riga geduldet. Bezeichnenderweise wurde in den entsprechenden Dokumenten das Wort „Jude“ nicht erwähnt. Statt dessen wurde der Begriff „neurussische Kaufleute“ verwendet, hinter dem sich kurländische Juden verbargen, die laut Erlaß vom Sommer 1764 angeblich für die Organisation der Übersiedlung von Ausländern nach „Neurußland“ in die Stadt Riga gesandt worden waren. In der Folgezeit verfestigte sich die Duldung der Ansiedlung von Juden in Riga zu einem ständigen Aufenthaltsrecht. So bestimmte die durch den livländischen Generalgouverneur genehmigte Verordnung des Rates der Stadt Riga vom Februar 1766, daß sich Juden zur Beförderung des ausländischen Handels, v. a. mit Polen, Litauen und Kurland, sechs Wochen lang in Riga aufhalten dürften. Die privilegierten „neurussischen Kaufleute“ erhielten als „Schutzjuden“ das Wohnrecht in der Stadt. Der Aufenthalt der Juden hing jetzt nicht mehr vom Wohlwollen der städtischen Obrigkeit ab, sondern war mit kaiserlicher Zustimmung gesetzlich geregelt. Laut kaiserlichem Ukaz von 1785 erhielten Kaufleute „ohne Unterschied der Nation und Religion“ die Erlaubnis, sich im 26 Meilen von Riga entfernten Kirchspiel Schlock (Sloka), das 1783 von Kurland an Rußland abgetreten und dem Gouvernement Livland zugeschlagen worden war, niederzulassen. Zahlreiche Juden ließen sich nun in Schlock registrieren, um von dort aus in Riga ihren Geschäften nachgehen zu können. Im Herzogtum Kurland gab es trotz der seit 1561 geltenden Beschränkungen für die wirtschaftliche Tätigkeit von Juden kein formelles Aufenthaltsverbot. Dennoch siedelten sich erst um die Mitte des 17. Jhs. als Folge des Chmel’nickij-Aufstandes eine größere Zahl von Juden in den ländlichen Bezirken Kurlands an. Die Geschichte der Juden im Kurland des 17. Jhs. bedarf noch intensiver Erforschung. Fest steht jedoch, daß der kurländische Herzog Jakob (1642–1682) sich des Kapitals und der Handelsverbindungen der Juden bediente, um die Wirtschaft in seinem Herzogtum auf der Grundlage des Merkantilismus zu fördern. In dieser Zeit, die auch als das „Goldene Zeitalter“ des Herzogtums Kurland gilt, ist beispielsweise die Tätigkeit von Juden in der Zollaufsicht belegt. Ende des 17. Jh. erhielten Hofjuden wie z. B. der Juwelenhändler Isaak Wulf aus Memel vom kurländischen Herzog das Recht, in Kurland Handel zu treiben. Die wenigen Aufenthaltsbeschränkungen, die für Juden im 17. Jh. in Kurland ausgesprochen wurden, wurden ebenso halbherzig umgesetzt, wie die Landtagsbeschlüsse von 1692, 1698 und 1699, die die Handelstätigkeit der Juden verboten. Einen Sonderfall stellt die Situation der Juden im Stift Pilten dar. Um möglichst großen Nutzen aus seinen Besitzungen zu ziehen, erlaubte der Bischof reichen Juden die Niederlas-

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sung in dem aus dem Bistum Kurland hervorgegangene Stift Pilten (lett. Piltene). Im Jahre 1559 verkaufte der kurländische Bischof die Rechte auf seine Länder dem dänischen Königshaus. Bereits 1570 genossen die Juden in Pilten das Stadtbürgerrecht sowie das Recht auf Immobilienbesitz und Teilhabe an der Selbstverwaltung. Als Pilten zum Königreich Polen-Litauen kam, wo die Juden eine umfassende Gemeindeautonomie genossen, blieben diese Bestimmungen in Kraft. Auch nach der Eingliederung Piltens in das Herzogtum Kurland im Jahr 1685 – im Jahr 1717 wurde es bereits wieder ausgegliedert – blieb die Situation für die Juden hier immer noch vergleichsweise günstig. Im 18. Jh. verschlechterte sich die rechtliche Lage der Juden in Kurland. 1713 und 1714 befahl Herzog Ferdinand (1711–1737) die Ausweisung der Juden aus Kurland. Die Wiederholungen dieses Befehls zeigen, daß er offensichtlich nicht befolgt wurde. Ob diese Maßnahme, wie in der Literatur manchmal angegeben wird, auf den Einfluß des Russischen Reiches zurückzuführen ist, in dessen Machtbereich Kurland im Zuge des Nordischen Krieges (1700–1721) geriet, ist fraglich. Im weiteren Verlauf des 18. Jh. verboten zahlreiche Landtagsabschiede den Aufenthalt von Juden in Kurland. Schon die Vielzahl dieser Verbote legt nahe, daß diese selten oder gar nicht zur Anwendung kamen. Darüber hinaus gibt es auch eine Reihe von Landtagsabschieden, die den Juden gegen Zahlung einer Steuer den Aufenthalt in Kurland gestatteten. Häufig war es der Adel, der sich für eine Tolerierung der Juden einsetzte, da ihm die von den Juden gezahlten Steuern direkt zugute kamen und er außerdem von ihrer Mittlerrolle beim Kauf und Verkauf von Waren über die Grenzen Kurlands hinaus profitierte: Belegt ist das Engagement von jüdischen Kaufleuten beim Import von Waren aus Königsberg über Litauen ins kurländische Mitau (lett. Jelgava). Wichtig war auch ihre Rolle in dem Handel, der über den Hafen von Libau (lett. Liepa¯ja) oder über Mitau durch Litauen nach Königsberg und Memel abgewickelt wurde. Die deutschen Stadtbürger sahen in den jüdischen Kaufleuten und Handwerkern dagegen vor allem eine unliebsame Konkurrenz. Ihre Klagen an die polnische Krone richteten sich aber grundsätzlich gegen „fremde Kaufleute“, wobei nicht unbedingt Juden gemeint sein mußten. In Lettgallen, das sich zwischen 1561 und 1772 unter polnischer Herrschaft befand, siedelten sich erst in der zweiten Hälfte des 17. Jh. verstärkt Juden an, die vor den Pogromen im Rahmen des Chmel’nickij-Aufstandes geflohen waren. Hier waren die Juden wie in den anderen Gebieten Polen-Litauens vor allem mit Zollpacht, Propination und Kleinhandel sowie der wirtschaftlichen Mittlertätigkeit zwischen Konsument und Produzent beschäftigt. (Wilfried Jilge) Unter russischer Herrschaft Nach der ersten Teilung Polens kam Lettgallen zum Russischen Reich und gehörte zunächst zum Gouvernement Pskov, dann zum Gouvernement Polock und schließlich bis zu seiner Eingliederung in die Republik Lettland 1918 zum Gouvernement Vitebsk. Gemäß dem Dekret Katharinas II. für die ehemals polnischen Gebiete von 1778 wurden den Gemeinden Lettgallens alle religiösen Rechte und Eigentumsrechte eingeräumt, die sie bis 1772 besaßen. Lettgallen gehörte zu dem 1794 gebildeten Ansiedlungsrayon. In kultureller

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und sozialer Hinsicht war die Situation der Juden in Lettgallen der in den anderen westrussischen Gouvernements des Ansiedlungsrayons sehr ähnlich. Mit der dritten Teilung Polens im Jahr 1795 wurden das Herzogtum Kurland und das Stift Pilten in das Russische Reich eingegliedert. Für die weitere Geschichte der Juden in dem neu gebildeten Gouvernement Kurland und in dem bereits seit 1710 bestehenden Gouvernement Livland sind die gesetzlichen Regelungen von 1799 und 1835 von Bedeutung, die zum einen der rechtlichen Angleichung an die oben geschilderten judenrechtlichen Bedingungen im Russischen Reich, wie sie Katharina II. geschaffen hatte, dienten und zum anderen Sonderregelungen für die Juden dieser beiden Gouvernements trafen, die der Bedeutung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit für Handel und Industrie in der Ostseeregion Rechnung trugen. Das Gesetz von 1799 verlieh den Juden Kurlands, das ebenso wie Livland nicht zum Ansiedlungsrayon gehörte, das Wohnrecht unter der Bedingung der jährlichen Paßerneuerung, das Recht auf Eintritt in die Kaufmannsgilde sowie das Recht auf Ausübung von Handel und Handwerk, letzteres gegen Zahlung einer Steuer, die das Doppelte der von Christen zu zahlenden Steuer betrug. Weiterhin wurde den Juden die Teilnahme an Wahlen zum städtischen Magistrat, die Gründung von Gemeinden und der Bau von Synagogen gestattet. Im Verlauf des 19. Jhs. erhöhte sich die Zahl der Juden in Livland und Kurland nicht zuletzt wegen des Zustroms von Juden aus dem Ansiedlungsrayon ständig. Eine Verordnung von 1829 bestimmte daher die Ausweisung derjenigen Juden, die gemäß ihren Pässen zu anderen Gouvernements gehörten, während die Juden, die eine legale Beschäftigung vorweisen und den Unterhalt für sich und ihre Familie garantieren konnten, bleiben durften. Die Verordnung von 1835 bestätigte den Juden im Gouvernement Kurland und in Schlok, Gouvernement Livland, die bei der letzten Revision dort registriert waren, das Wohnrecht und gewährte ihnen das Recht, sich wie die übrigen Bewohner in Handel, Handwerk und freien Berufen zu betätigen. Denjenigen Juden, die die Gouvernements Kurland und Livland verlassen hatten, war die Rückkehr untersagt. Wer bei der letzten Revision nicht registriert war, mußte in den Ansiedlungsrayon übersiedeln. Eine Zuwanderung von Juden war nicht gestattet. Von 1850 bis 1897 wuchs die Anzahl der Juden in Livland von 9000 auf 26900 (3,5% der Gesamtbevölkerung) an. In Riga lebten 1869 5254 Juden, 1897 21 962 und 1913 33 615. Im Gouvernement Kurland lebten 1850 22 700 Juden und 1897 bereits 51 000 (7,6% der Gesamtbevölkerung). Insgesamt lebten 1897 auf den später zu Lettland gehörenden Gebieten einschließlich Lettgallens 139700 und 1914 bereits etwa 190000 Juden. Im Zusammenhang mit dem ökonomischen Aufschwung in Rußland in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. verbesserte sich die materielle der Lage der Juden Kurlands und Livlands. Ihr Anteil am Exportund Importhandel sowie in der Industrie erhöhte sich. Juden waren am Anfang des 20. Jhs. stark an der Entwicklung des Holzexports nach England beteiligt, der zu einer führenden Branche im Außenhandel Kurlands und Livlands wurde. Riga und Kurland wurden früh zu Zentren der Haskala. Die Diskussion um Emanzipation, rechtliche Gleichstellung sowie kulturelle und soziale Integration wurde in Kurland

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viel eher geführt als in anderen Gouvernements des Russischen Reichs. In Riga wurde 1839/40 mit Erlaubnis der russischen Regierung und gegen den Willen des Stadtrats eine Gemeindeschule eröffnet, nach Tarnopol, Uman und Odessa die viertgrößte im Russischen Reich. Diese Schule wurde nicht zuletzt aufgrund der Tätigkeit ihres ersten Direktors, des Rabbiners Dr. Max (Menachem) Lilienthal (1815–1882) aus München, der zugleich Mitglied der Kommission des Grafen Kiselev zur Reform des jüdischen Lebens in der Hauptstadt St. Petersburg war, zum Vorbild für die Reform der staatlichen jüdischen Schulen im Ansiedlungsrayon. Die Einflüsse der deutsch-jüdischen Aufklärung sowie die fehlende Verbindung zu den kulturellen und religiösen Zentren der russischen Judenheit ließen einen spezifischen Typus des kurländischen Juden entstehen. Die Muttersprache der kurländischen Juden war bis in die zweite Hälfte des 19. Jhs. vorrangig Deutsch, das erst dann im Zuge der kulturellen Russifizierung vom Russischen überlagert wurde. Daneben sprach man das kurländische Jiddisch, das einen reichen Schatz deutscher Wörter enthielt. Trotz der deutschen Akkulturation waren die Juden Kurlands daher nicht assimiliert, sondern bildeten eine bemerkenswerte Synthese der Kultur der deutsch-westeuropäischen und litauisch-osteuropäischen Judenheit. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Riga kamen vorwiegend aus den lettgallischen und weißrussischen Gebieten, aber auch aus Kurland. Die kurländischen Juden nahmen dabei die führenden Positionen innerhalb der jüdischen Gemeinde ein und stiegen auch innerhalb der Rigaer Bürgerschaft auf. Riga war lange Zeit eine der modernsten jüdischen Gemeinden im Zarenreich, zu deren wichtigsten Merkmalen die Akkulturation in russischer und deutscher Form gehörte. Laut Angaben der Kratkaja Evrejskaja E˙ nciklopedija lebten in Lettgallen, das seit 1802 zum ehemaligen russischen Gourvernement Vitebsk und damit zum Ansiedlungsrayon gehörte, 1847 etwa 11 000 Juden, 1897 64 200 und kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges etwa 80 000. Ihre ökonomische Lage war deutlich schlechter als die der Juden in Kurland und Livland. Im Jahr 1898 sollen 18,5% der jüdischen Familien von der Armenfürsorge abhängig gewesen sein. Die Mehrheit der lettgallischen Juden war jiddischsprachig und orthodox, der Chassidismus war sehr stark verbreitet. Die jüdische nationale Politik blühte. Auch hinsichtlich der jüdisch-christlichen Beziehungen unterschied sich das katholische Lettgallen von den evangelisch geprägten Regionen Kurlands und Livlands. Bei anhaltendem Analphabetentum weiter Bevölkerungsteile war die Einstellung zu den Juden in gewissem Maße von antijüdischen kirchlichen Vorurteilen beeinflußt. So fand der einzige Ritualmordprozeß auf dem Gebiet der späteren Republik Lettland (Ludsen/lett. Ludza 1886) in Lettgallen statt. Doch entwickelten sich unter den Bedingungen des Schtetls zwischen Christen und Juden nicht nur Gegensätze, sondern auch Formen eines engeren Zusammenlebens. Die Kontakte der jüdischen Intelligencija mit den Gebildeten ihrer Umwelt waren auf der Basis der gemeinsamen russischen Sprache sehr rege. In den Gebieten des südlichen Livland und Kurland, die zusammen mit Lettgallen später die Republik Lettland bildeten, gab es keine ausgeprägten christlich-religiös oder national

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begründeten Traditionen der Judenfeindschaft. So war auch die lettische Nationalbewegung des 19. Jhs. deutlich weniger antisemitisch geprägt als vergleichbare Bewegungen in anderen Ländern. Antijüdische Stimmen fanden sich vor 1918 vor allem in der konservativen russischen Presse. Gleichwohl waren erste Anzeichen eines sich allmählich herausbildenden, vor allem ökonomisch motivierten Antisemitismus Ende des 19. Jh. in den Großstädten festzustellen, wo die vom Land zuwandernden aufstrebenden Letten die jüdischen Kaufleute und Intellektuellen als Konkurrenten betrachteten. 1905/06 blieben die Pogrome in den baltischen Gouvernements weitgehend aus. Die Ausschreitungen in Riga im Oktober 1905 wurden von den prozarischen Schwarzhundertschaften initiiert. Nicht zuletzt lettische Arbeiterpatrouillen, die gemeinsam mit jüdischen Arbeitern für die Revolution kämpften, verhinderten, daß er größere Ausmaße annahm. Im Ersten Weltkrieg streuten offizielle russische Stellen erfundene Berichte, die den Juden Kollaboration mit den Deutschen unterstellten, um von dem Versagen der militärischen Führung und den russischen Niederlagen abzulenken. 1915 wurden die Juden Kurlands auf Befehl des Oberkommandos der zurückweichenden russischen Armee ins Innere Rußlands verschickt. Von den etwa 185 000 Juden auf den Gebieten der späteren Republik Lettland wurden während des Ersten Weltkriegs 40 000 deportiert. Wie andere nichtjüdische Bevölkerungsteile flüchteten außerdem 80 000–90 000 Juden nach Innerrußland. Da viele nach dem Krieg nicht mehr nach Lettland zurückkehrten, war die Zahl der Juden in der späteren Republik Lettland im Vergleich zur Vorkriegszeit erheblich niedriger. Zur Entstehung von jüdischen Gemeinden in Estland kam es erst im 19. Jh. Bereits 1828 wurden jüdische Rekruten nach Reval (estn. Tallinn) gebracht, um in den speziell für die Kantonisten vorgesehenen militärischen Erziehungsanstalten ausgebildet zu werden. Diese Rekruten sowie andere dort stationierte jüdische Soldaten gründeten die dortige jüdische Gemeinde. 1856 gab es in Reval bereits einen jüdischen Friedhof und eine Synagoge. Aufgrund der im Rahmen der „stufenweisen“ Emanzipation von Zar Alexander II. seit 1856 erlassenen Verordnungen, die außer jüdischen Kaufleuten der ersten Gilde, Inhabern akademischer Grade und Zunfthandwerkern auch den demobilisierten Nikolaj-Soldaten erlaubten, den Ansiedlungsrayon zu verlassen und sich in den Städten niederzulassen, kamen Angehörige der letzteren Gruppe nach Reval und schlossen sich der dortigen jüdischen Gemeinde an. 1897 lebten in Estland rund 4000 Juden, davon allein 1200 in Reval. (Wilfried Jilge) Die Juden in Lettland und Estland seit 1918 Am 18. November 1918 rief der lettische Volksrat die unabhängige und demokratische Republik Lettland aus. Doch erst mit dem lettisch-sowjetischen Frieden von Riga am 1. August 1920 wurde der Unabhängigkeitskampf, an dem auch bis zu 1200 Juden teilgenommen hatten, beendet und die Eigenstaatlichkeit auch völkerrechtlich endgültig gesichert. Die lettische Republik umfaßte nun die südlichen livländischen und kurländischen Territorien sowie die Region Lettgallen. In der Republik Lettland lebten 1925 95 474 Juden (1935: 93 479), was einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 5,33% (1935: 4,79%) entspricht. 43,67% der lettischen Juden lebte 1935 in der Hauptstadt Riga. Knapp ein Drittel der Juden

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Lettlands wohnte in Lettgallen, fast der gesamte Rest in Kurland (12,8%) und Semgallen (7,88%). In Livland lebten nur 2458 (2,63%) Juden. Etwa 60% der Juden Lettlands lebten in den Städten Riga, Daugavpils (dt. Dünaburg) und Liepa¯ja . Die Mehrheit der Juden Lettlands war mehrsprachig – 1925 beherrschten etwa 65% drei und mehr Sprachen. Hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. das Russische das Deutsche zum Teil verdrängt, so nahm nun der Einfluß des Deutschen angesichts engerer Beziehungen zu Westeuropa vor allem im jüdischen Mittelstand sowie in der Intelligencija im Westen des Landes und in Riga wieder zu. In den zwanziger und dreißiger Jahren lernten jüdische Schüler auch Lettisch. Daneben wurde weiterhin biblisches Hebräisch gelehrt, was eine gute Voraussetzung für die Erlernung des modernen Iwrit schuf, das zusammen mit den Ideen des politischen Zionismus zunehmende Verbreitung fand. Die wichtigste Sprache der lettischen Judenheit blieb jedoch weiterhin das Jiddische, das 1897 86,5% und 1925 immer noch 85% als ihre Muttersprache angaben. Das jüdische Theater in Riga war jiddischsprachig, und es existierten zahlreiche jiddische Bücher und Zeitschriften sowie große jiddische Tageszeitungen (z.B. Dos Folk und Frimorgen). Die Unabhängigkeit Lettlands beförderte die Solidarität und die Bildung eines säkularnationalen Bewußtseins unter den lettischen Juden in den verschiedenen Landesteilen. Denn einerseits verloren die deutsche und russische Kultur mit der lettischen Eigenstaatlichkeit etwas an Bedeutung, andererseits hatte der lettische Staat ein Interesse daran, die jüdische Bevölkerung mit einer jüdischen Nationalität zu identifizieren, anstatt sie der russischen oder deutschen Nationalität zuzuordnen. Obwohl es unter den Juden Lettlands einen bemerkenswerten Grad von Akkulturation an die russische bzw. deutsche Kultur gab, führte dies keineswegs zur Assimilation und Übernahme einer nichtjüdischen Nationalität. In Lettland existierten günstige politisch-rechtliche Rahmenbedingungen für die jüdische Minderheit, die auf der Verfassung von 1922 und dem Schulgesetz der Minderheiten Lettlands von 1919 beruhten. Die Verfassung gewährte den Juden wie den Mitgliedern anderer Nationalitäten die volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung, die ihnen ein hohes Maß an Partizipation am politischen Leben Lettlands ermöglichte. So saßen bereits in der konstituierenden Versammlung sechs jüdische Abgeordnete. In den nachfolgenden Parlamenten (lett. Saeima) zwischen 1922 und 1934 besaßen jüdische Abgeordnete immer zwischen drei und sechs Mandaten. Die wichtigsten, mindestens in einer Parlamentsperiode vertretenen Parteien waren die streng-religiöse Partei „Agudat Israel“ (Vereinigung Israels), die jüdische nationaldemokratische Partei, die Allgemeinen Zionisten, die religiös-zionistische „Misrachi“-Partei (Geistiges Zentrum), die zionistisch-sozialistische Partei „Zeirei Zion“ (Eiferer Zions) sowie der sozialdemokratische „Bund“, der mit der lettischen Sozialdemokratie zusammenarbeitete. Die zionistische Bewegung genoß in weiten Teilen der jüdischen Bevölkerung starke Sympathien, auch wenn sich das nicht immer in der parlamentarischen Repräsentation entsprechend niederschlug. Wichtige Bedeutung kam der Revisionistischen Partei zu, die zionistisch eingestellt war und ein radikal-nationalistisches Programm vertrat. Sie war nicht im Parlament vertreten und bezog ihre Stärke unter anderem aus den mit ihr assoziierten

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Jugendorganisationen wie z. B. der Organisation „Beitar“ („Brit Trumpeldor“). Zwischen 1925 und 1935 emigrierten etwa 6500 Juden aus Lettland, von denen etwa 4500 ins Mandatsgebiet Palästina auswanderten. Gemäß dem Schulgesetz von 1919 durften die Minderheiten ihr Schulwesen selbst verwalten und besaßen ein durchaus beachtliches Maß an kultureller Autonomie. Fünf Minderheiten – Russen, Deutsche, Juden, Polen und Weißrussen – haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und eigene Schulverwaltungen beim Kultusministerium gegründet. Ihre Leiter hatten Beamtenstatus und wurden von den betreffenden Parlamentsfraktionen der Minderheiten ernannt. Die jüdische Abteilung beim Bildungsministerium verwaltete ein breites Netz von Schulen, in denen Iwrit und Jiddisch gelehrt wurden. 1928/29 lernten etwa 10300 jüdische Kinder bei 599 Lehrern in 85 Grundschulen. Die jüdische Minderheit in Lettland entfaltete in den zwanziger und dreißiger Jahren ein vielseitiges kulturelles und geistiges Leben, aus dem berühmte Persönlichkeiten in Wissenschaft und Kunst hervorgingen. Stellvertretend genannt seien nur Joseph Rosen (1858–1936), Rabbiner in Daugavpils und eine bedeutende Autorität des Chassidismus, Jeschajahu Leibowitz (1903–1994), ein bekannter jüdischer religiöser Denker, der in Riga geborene Philosoph Isaiah Berlin (1909–1997) und der Historiker Simon Dubnow (1860– 1941), der 1933 von Berlin nach Lettland emigrierte und 1941 im Rigaer Ghetto ermordet wurde. Die Juden Lettlands waren in allen Bereich der Wirtschaft tätig, vorwiegend in Handel (48,81%) und Industrie (27,66%). 5,89% arbeiteten in freien, vor allem akademischen Berufen. 2,85% waren im Transportwesen und 0,93% in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Zugang zum Staatsdienst gestaltete sich dagegen für Juden schwierig. Während die Juden Lettlands einerseits eine verhältnismäßig breite Schicht des begüterten gehobenen Mittelstands bildeten, dürften andererseits mindestens etwa 10% der jüdischen Bevölkerung zu den Armen des Landes gehört haben. Die Juden spielten eine wichtige Rolle im Wirtschaftsleben Lettlands in der Zwischenkriegszeit. Der junge lettische Staat verfügte nach seiner Gründung über kein Kapital und nicht genügend einheimische Führungskräfte zur raschen Behebung der Kriegsschäden. Beim Wiederaufbau der Industrie, des Handel-, Banken- und Kreditwesens und anderer Sektoren spielten Juden in der Anfangsphase der Republik eine entscheidende Rolle. Dank ihrer guten internationalen wirtschaftlichen Verbindungen haben gerade jüdische Bankiers zur Stimulierung der lettischen Wirtschaft beigetragen. Die jüdisch-lettischen Beziehungen waren besonders in der Anfangsphase der Republik und dann während der Weltwirtschaftskrise nicht frei von Spannungen. Bereits zwischen 1919 und 1921 kam es zu Ausschreitungen gegen Juden, ebenso in den zwanziger Jahren an der neugegründeten Universität Lettlands in Riga. Nach Erlangung der Unabhängigkeit begann sich der Antisemitismus in Lettland politisch und organisatorisch zu konsolidieren. Organisationen wie der 1922 gegründete „Latvju Naciona¯lais Klubs“ (Lettischer Nationaler Klub) sowie einige nationalistische und rechtskonservative Presseorgane wie die im Sinne des Nationalen Klubs agierende Zeitung Latvijas Sargs (Die Wacht Lettlands) oder die

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Zeitung des „Christlich-Nationalen Vereins“ Tautas Balss (Die Volksstimme) verbreiteten antisemitische Parolen. Zum wichtigsten Sammelbecken antisemitscher Kräfte wurde jedoch die 1930 von Ja¯nis Greble gegründete und seit 1932 von Gustav Celminsˇ geführte rechtsextreme Organisation „Feuerkreuz“ (lett. Ugunskrusts), die nach ihrem Verbot in „Donnerkreuz“ (lett. Pe¯rkonkrusts) umbenannt wurde. Unter der Parole „Lettland den Letten, Brot und Arbeit den Letten!“ vertraten die Donnerkreuzler einen radikalen lettischen Nationalismus mit scharf antijüdischer und antideutscher Stoßrichtung. Neben der Beseitigung der Demokratie forderten sie, den Juden (und anderen Minderheiten) die staatsbürgerlichen Rechte abzuerkennen, diskriminierende Gesetze einzuführen und ihre Verbannung aus Lettland vorzubereiten. Die Donnerkreuzler zählten rund 6000 Mitglieder und waren vor allem in den Städten konzentriert, wo sie Zulauf von lettischen Studenten erhielten. Dennoch sind die beschriebenen antisemitischen Gruppen und Presseorgane nicht repräsentativ für die politische Szene Lettlands. Die lettische Sozialdemokratie trat aktiv gegen den Antisemitismus auf. Für die überwiegende Mehrheit der lettischen Parlamentsfraktionen war Judenfeindschaft kein bestimmendes Element ihres Programms. Die „jüdische Frage“ stand nicht im Mittelpunkt der parlamentarischen Auseinandersetzungen. Allerdings ist der lettische Antisemitismus der Zwischenkriegszeit ein noch keineswegs hinreichend erforschtes Thema. Nach dem Staatsstreich am 16. Mai 1934 von Ka¯rlis Ulmanis wurde die Verfassung von 1922 sistiert, die parlamentarische Demokratie beseitigt und ein autoritäres Regime installiert. Die Rechte der Minderheiten wurden beschnitten, die Schulautonomie eingeschränkt, das Parlament aufgelöst, die Parteien verboten und die Presse einer Zensur unterworfen. Hierdurch wurde auch die jüdische Autonomie beeinträchtigt. Alle jüdischen politischen Organisationen und Parteien außer dem konservativ-religiösen „Agudat Israel“ und der zionistisch-revisionistischen Organisation „Beitar“ („Brit Trumpeldor“) wurden verboten. Die jüdischen Schulen wurden der Aufsicht der „Agudat Israel“ unterstellt, woraufhin alle jiddisch-säkularen Schulen geschlossen und die hebräisch-säkularen Schulen ihres Inhalts entleert wurden. An der Universität Riga existierten nun inoffizielle Quoten für jüdische Studenten. Das Ulmanis-Regime führte außerdem Maßnahmen zur „Lettisierung“ der Wirtschaft durch, die für viele jüdische Unternehmer nachteilige Konsequenzen hatten. Diese Wirtschaftspolitik war aber weniger antisemitisch als antikapitalistisch: Sie richtete sich nicht nur gegen jüdische, sondern auch gegen deutsche und lettische Unternehmer. Insgesamt war das Ulmanis-Regime zwar minderheitenfeindlich, aber nicht von einem spezifischen regierungsamtlichen Antisemitismus geprägt. Ob und inwieweit Ka¯rlis Ulmanis selbst ein Antisemit war, ist umstritten. Sicher ist jedoch, daß antisemitische Schriften und Literatur nach 1934 verboten und die bereits im März 1934 verbotenen „Donnerkreuzler“ unter Ulmanis besonders scharf verfolgt wurden. Auch wenn die Frage des lettischen Antisemitismus zur Zeit des Ulmanis-Regimes noch näher untersucht werden muß, läßt sich doch sagen, daß die Lage der Juden in Lettland in den dreißiger Jahren besser war als z. B. in

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Polen oder Rumänien. Die Grenzen des lettischen Staates blieben zwischen 1933 und 1939 länger als die anderer Länder – einschließlich Schwedens – für jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich geöffnet, genaue Zahlenangaben sind jedoch schwer zu ermitteln. Im Sommer 1940 endete die Unabhängigkeit des lettischen Staates. Im Geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes vom 23. August 1939 waren Lettland und Estland der sowjetischen Interessensphäre zugeschlagen worden. Obwohl die sowjetische Besetzung ein völkerrechtswidriger Gewaltakt war, stieß sie bei etwa 10% der Bevölkerung auf Unterstützung oder Sympathie. Dies galt auch für viele Juden Lettlands, die von den Greueltaten der deutschen Einsatzgruppen wußten und sich von der sowjetischen Besatzung Sicherheit vor dem nationalsozialistischen Deutschland erhofften. Juden waren zweifelsohne stark in der kommunistischen Untergrundbewegung vor 1940 vertreten und besetzten auch Vakanzen im Staatsdienst während der sowjetischen Herrschaft, in entscheidenden Positionen in Partei und Tscheka waren sie jedoch eher unterproportional vertreten. Die Hoffnungen der Juden wurden jedoch ebenso enttäuscht wie die der lettischen Arbeiter und Kommunisten. Sofort nach der Besetzung begann die Sowjetisierung auf allen Ebenen von Staat und Gesellschaft. Nationale und lokale Organisationen wurden aufgelöst. Die Reste jüdischer Autonomie wurden beseitigt, kulturelle und religiöse Freiheiten beschnitten. Jüdische Fabriken und Unternehmen wurden ebenso wie die anderer Nationalitäten verstaatlicht. Durch die Deportation „antisowjetischer“ Kreise sollte der latente Widerstand gegen das sowjetische Regime in der lettischen Bevölkerung gebrochen werden. Zu diesem Ziel wurden am 13. und 14. Juni 1941 etwa 15000 lettische Staatsbürger ins Innere der Sowjetunion deportiert. Nachdem die Wehrmacht einige Tage später Lettland besetzt hatte, wurde diese Deportation von der nationalsozialistischen und lettischen Propaganda als „Judenwerk“ dargestellt. Bis heute wirkt dieser Vorwurf nach. Manche Letten sahen und sehen in den lettischen Juden nicht Opfer, sondern Verbündete der Kommunisten und damit Unterdrücker des lettischen Volkes. Zusammen mit der Behauptung vom angeblich guten Verhältnis der Juden zu den Sowjets dürfte dieser Vorwurf während der nationalsozialistischen Herrschaft 1941–1944 als Motiv für die Kollaboration lettischer Einheiten an der Ermordung der Juden eine wichtige Rolle gespielt haben. Die Forschung hat aber eindeutig bewiesen, daß auch lettische Juden unter den von der Sowjetmacht Deportierten waren, und zwar in einer im Verhältnis zum jüdischen Bevölkerungsanteil hohen Anzahl. Die Schätzungen schwanken zwischen 1800 und 5000. Die eigentliche Leidenszeit der Juden Lettlands begann mit der deutschen Besetzung im Juni/Juli 1941. Zur Zeit des deutschen Einmarsches lebten etwa 75 000 Juden in Lettland. Ungefähr 4000 Juden hatten Lettland bereits vor der sowjetischen Okkupation verlassen, und zahlreiche Juden waren von den Sowjets im Juni 1941 deportiert worden. Als die Wehrmacht vorrückte, gelang etwa 15 000 Juden die Flucht ins Innere der Sowjetunion. Dem planmäßigen Massenmord der im Gefolge der Wehrmacht eintreffenden Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst (SD) fielen Zehntausende von lettischen Juden

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zum Opfer. Im Verlauf des Juli 1941 wurden in dem nahe Riga gelegenen Wald von Bik, ernieki mehrere tausend Juden erschossen. Am 30. November, dem „Rigaer Blutsonntag“, sowie am 8. Dezember wurden im Wald von Rumbula (unweit von Riga) etwa 25 000 bis 28 000 Juden von den Deutschen umgebracht, darunter der Historiker Simon Dubnow. Tausende von Juden aus dem deutschen Reichsgebiet wurden nach Lettland deportiert und dort ermordet. Insgesamt dürften nur etwa zwischen 1000 und 1300 der nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Lettland verbliebenen Juden die Schoa überlebt haben. Einige Hundert von ihnen wurden durch die nichtjüdische einheimische Bevölkerung unter drohender Lebensgefahr gerettet. Nachdem die Schoa in sowjetischer Zeit tabuisiert war, wird dieses Thema sowie die Beteiligung der einheimischen Bevölkerung an der Ermordung der Juden erst in jüngster Zeit äußerst kontrovers und emotionsgeladen diskutiert. Unumstritten ist jedoch inzwischen, daß lettische Formationen, wie z.B. die lettische Polizei (Provinz- und Hilfspolizei), an den Ermordungen beteiligt waren, auch wenn das genaue Ausmaß, die Qualität und die Gründe dieser Kollaboration noch intensiver Erforschung bedürfen. Besonders berüchtigt war das nach dem Polizeioffizier Viktors Ara¯ js benannte „Ara¯ jsKommando“, das sich überwiegend aus Letten zusammensetzte. Es war an zahlreichen Hinrichtungen in Riga und in den Provinzgebieten beteiligt. Zudem spielte es auch eine wichtige Rolle bei den Erschießungen in den Bik, ernieki-Wäldern, in Weißrußland und der Ukraine. Insgesamt wurden in Lettland rund 26 000–30 000 Juden von dem „Ara¯ js-Kommando“ ermordet. Die Beteiligung der „Perkonkrusts“ an der Ermordung von Juden ist schwer ermittelbar, ihre Verantwortung scheint vor allem in der Verbreitung antisemitischer Propaganda unter den Letten in der Spätphase des Parlamentarismus und den ersten Monaten der deutschen Okkupation zu liegen. Mitte August 1941 wurden sie von den Deutschen verboten. Handeln und Struktur der erst 1943 gegründeten „Lettischen SS-Freiwilligenlegion“ müssen noch intensiver untersucht werden. Laut Andrew Ezergailis war sie nach bisherigen Erkenntnissen nicht an Ermordungen beteiligt. Nach dem Krieg ermunterten die sowjetischen Behörden Bürger aus der Sowjetunion, darunter viele Juden, sich in Riga anzusiedeln. 1959 lebten bereits 36592 Juden in Lettland, davon über 30 000 in Riga. Rund 13 000 von ihnen waren Flüchtlinge, Überlebende der Konzentrationslager oder Überlebende der Deportationen nach Sibirien, doch die über wiegende Mehrheit waren „neue“ Einwanderer aus dem Innern der Sowjetunion. Ähnlich wie die Juden in anderen Teilen der Sowjetunion waren auch die Juden der lettischen Sowjetrepublik von den Ressentiments und Repressionen im Zusammenhang mit der „Antikosmopolitismus-Kampagne“ 1949–53 und den späteren antizionistischen und antisemitischen Kampagnen der Brezˇnev-Ära betroffen. Ein jüdisches nationales und religiöses Kulturleben wurde vom Sowjetregime auch in Lettland nicht gestattet. Jüdische nationale Aktivitäten konnten aber nicht ganz unterdrückt werden. Sie äußerten sich in der unmittelbar nach dem Krieg besonders in Lettland aktiven Untergrundorganisation „Bricha“ (Flucht), die die illegale Auswanderung der Juden aus Osteuropa nach Palästina organisierte, jedoch vom sowjetischen Innenministerium aufgedeckt wurde.

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Die Erinnerung an die Opfer der Schoa wurde in Lettland – auch dies in Übereinstimmung mit den Entwicklungen in anderen Teilen der Sowjetunion – zum Kristallisationspunkt eines neuen jüdischen Nationalbewußtseins. In den späten sechziger und frühen siebziger Jahren wurde Riga eines der Zentren des wiedererwachten nationaljüdischen Bewußtseins in der UdSSR und des Kampfes um Ausreisegenehmigungen für Israel. 1970 lebten in Lettland 36 680 Juden, die überwiegende Mehrheit in Riga (30 581 Personen). 1996 waren es noch 14 551. In den folgenden Jahren nahm ihre Zahl durch Auswanderung noch weiter ab. In Estland lebten 1922 4566 Juden, was 0,4% der Gesamtbevölkerung entsprach (1934: 4381; 0,4%), davon fast die Hälfte in der Hauptstadt Tallinn und in Tartu (dt. Dorpat). 30,4% der Juden waren im Handel, 14,8% im Handwerk, 9,4% in den freien Berufen, 5% als Unternehmer und 14% als Arbeiter beschäftigt. 8,9% aller Ärzte in Estland waren Juden. Neben den Russen, Deutschen und Schweden waren die Juden eine von vier Minderheiten, denen das estnische Parlament 1925 eine umfassende nationalkulturelle Autonomie gewährte, die sich am austromarxistischen Personalitätsprinzip orientierte. 1926 wurden autonome jüdische Institutionen etabliert, die von einem gewählten Kulturrat geleitet wurden. Im Kulturrat waren die Zionisten stets die stärkste Kraft. Neben zionistischen existierten auch sozialistische politische Gruppen. Es gab keinen jüdischen Vertreter im estnischen Parlament. Einer der Hauptstreitpunkte innerhalb der jüdischen Gemeinschaft war die Frage, ob das Jiddische oder das Hebräische als Unterrichtssprache in den jüdischen Schulen bevorzugt werden sollte. Der Streit wurde schließlich zugunsten des Hebräischen entschieden, obwohl Jiddisch die Muttersprache der überwiegenden Mehrheit der Juden Estlands war. Etwa 75% der jüdischen Kinder besuchte jüdische Schulen. An der Universität Tartu wurde ein Lehrstuhl für Hebräische Sprache und Literatur etabliert. Als Mitte der dreißiger Jahre die Organisation der nationalistischen, antiparlamentarischen und antisemitischen „Eesti Vabadussõjalaste Keskliit“ (Zentralverband der estnischen Freiheitskämpfer), die 1926 als Veteranenverband gegründet wurde, unter den Bedingungen des fortschreitenden wirtschaftlichen Niedergangs an Einfluß gewann, verstärkten sich Forderungen nach einer Zurückdrängung des jüdischen Einflusses in der Wirtschaft Estlands und einer Reduzierung der Zahl jüdischer Studenten. In der Phase des autoritären Regimes unter Konstantin Päts blieb die Autonomie der Minderheiten jedoch fast völlig unangetastet. Bei Kriegsausbruch 1939 lebten etwa 5000 Juden in Estland. Zur Zeit der sowjetischen Besetzung wurden jüdische wie estnische Fabriken und Unternehmen verstaatlicht und die kulturellen und religiösen Freiheiten der jüdischen Minderheit beschnitten. Rund 11 000 Bürger Estlands wurden deportiert, darunter 500 Juden. Die meisten verbliebenen Juden, etwa 4000, konnten noch vor der Eroberung Estlands durch die Deutschen in die Sowjetunion fliehen. 250 Juden wurden zum Estnischen Korps der Roten Armee eingezogen. Etwa 1000 Juden blieben in Estland zurück, fast alle fielen den Mordaktionen während der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft zum Opfer. Auch in Estland haben sich

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Einheimische an der Ermordung der Juden beteiligt. Genannt seien hier nur die Omakaitse-Einheiten, aus Esten bestehende, von der deutschen Besatzungsmacht zusammengestellte „Heimatselbstschutzeinheiten“, die die SS-Sonderkommandos unterstützten. Das Thema der Kollaboration ist heute in Estland umstritten. Ähnlich wie in Lettland wurde seitens des Staatspräsidenten eine Kommission eingesetzt, die u. a. die Zeit der deutschen Besatzung aufarbeiten soll. Zwischen 1944 und 1950 kehrten etwa 1500 Juden, die 1941 aus der Sowjetrepublik Estland geflüchtet waren, wieder nach Estland zurück. Auch den Überlebenden der sibirischen Verbannung wurde schließlich die Rückkehr nach Estland gestattet. Zusammen mit „neuen“ jüdischen Einwanderern aus anderen Gebieten der Sowjetunion lebten 1959 wieder 5436 Juden in Estland. Von diesen nannten 25% das Jiddische als Muttersprache. Heute dominiert das Russische. Von 1989 bis 1997 sind rund 1000 Juden nach Israel ausgewandert, die Zahl der jüdischen Bevölkerung betrug 1997 etwa 2500. (Wilfried Jilge)

Heiko Haumann

Polen und Litauen Von der Zuwanderung nach Polen bis zur Katastrophe von 1648 Die Ursprünge jüdischer Besiedlung im späteren polnischen Territorium liegen im dunkeln. Zeugnisse aus dem 8. Jh. belegen, daß jüdische Kaufleute von Westen her die ersten polnischen Marktorte besuchten und das Gebiet in Richtung Kiew, Schwarzes Meer, Byzanz und Arabien durchzogen. Einige ließen sich hier auch nieder, ebenso wie Juden, die von Südosten her vorgedrungen waren oder nach dem Zerfall des Chasarenreiches gegen Ende des 10. Jhs. dorthin weiterwanderten. Als älteste jüdische Gemeinde in Polen ist Przemysl zu Beginn des 11. Jhs. bezeugt. Der große Schub jüdischer Einwanderer nach Polen und Litauen erfolgte dann seit dem 12. und besonders seit dem 13. Jh. aus Deutschland und ganz Mitteleuropa, als dort die Juden immer schärferen Verfolgungen und Vertreibungen ausgesetzt waren. Bereits nach den Ausschreitungen und Morden anläßlich des Ersten Kreuzzuges (1096) suchten Juden aus deutschen und böhmischen Städten Zuflucht in Polen, zunächst vor allem in Schlesien. Vorübergehend unterbrach das Vordringen der Mongolen 1241 die Zuwanderung. Der großpolnische Herzog Bolesław der Fromme (1243–1279) erließ dann 1264 das Statut von Kalisch, das zur Grundlage aller weiteren Schutzverordnungen zugunsten der Juden wurde. Er setzte damit ein deutliches Signal, daß er an der Zuwanderung interessiert war: Ihre wirtschaftlichen Aktivitäten und Beziehungsnetze sowie nicht zuletzt ihr Geld machten die Juden attraktiv. Das Statut schrieb Privilegien Kaiser Friedrichs II. (1220–1250) von 1236 und namentlich des Herzogs von Österreich und Steiermark, Friedrichs II. von Babenberg (1230–1246), von 1244 fort. Darin waren die Juden zu „Kammerknechten“ des Fürsten erklärt worden, an den sie Zahlungen zu leisten hatten und der sie dafür zu schützen versprach. Zugesichert wurden ihnen darüber hinaus freie wirtschaftliche Betätigung, die Möglichkeit, Synagogen und Friedhöfe anzulegen, Gleichberechtigung im Zivilprozeß und innere Gerichtsautonomie. Bolesław gewährte ihnen außerdem ausdrücklich das Recht, sich zu selbstverwalteten Gemeinden zusammenzuschließen. Ritualmordbeschuldigungen, wie sie im Westen seit der ersten Hälfte des 13. Jhs. geradezu in Mode gekommen waren, stellte er ebenso wie sonstige Angriffe unter strenge Strafe. 1334 bestätigte der polnische König Kasimir III. der Große (1333–1370) das Statut von Kalisch und dehnte es auf das gesamte damalige Herrschaftsgebiet – Groß- und Kleinpolen sowie Masowien – aus. Als 1349 erneut Juden vor Pogromen in Mitteleuropa flohen – diesmal im Zusammenhang mit der Pest, dem „Schwarzen Tod“, für den sie fälschlicherweise verantwortlich gemacht wurden –, förderte er nachdrücklich ihre Ansiedlung in Polen. Mit

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Erlassen von 1364 und 1367 verbesserte er ihre rechtliche Situation weiter. Die Juden wurden dem allgemein geltenden deutschen Recht entzogen und der Rechtsprechung des Woiwoden, des Stellvertreters des Königs in den einzelnen Landesteilen, bei Halsgerichtsverfahren sogar unmittelbar der des Königs unterstellt. Juden durften nun auch Grundstücke und Häuser in Stadt und Land erwerben. Der König wollte sich die Juden verpflichten, um sie als Gegengewicht gegen das deutsche Bürgertum in den Städten zu nutzen, das in den Kämpfen um die Einheit der polnischen Teilfürstentümer nicht unbedingt zuverlässig auf der Seite der Dynastie gestanden hatte. Darüber hinaus nutzte er persönlich die Fähigkeiten seines jüdischen „Hofbankiers“ Lewko, dem er auch die Steuerpacht und die Salzgrubenverwaltung übertrug. Die Nachfolger Kasimirs bestätigten all diese Privilegien, die bis zu den Teilungen Polens Ende des 18. Jhs. die Grundlage für die Rechtsposition der Juden bildeten. Dies gilt gleichermaßen für den litauischen Reichsteil, der seit 1386 in Personalunion mit Polen verbunden war. Hier verlieh Großfürst Witold, ein Vetter des Königs, 1388/89 den drei jüdischen Gemeinden in Troki, Brest-Litowsk und Grodno ähnliche Privilegien, die die Juden zumindest im ökonomischen Bereich den nichtjüdischen Bürgern gleichstellten. Eine Einwanderungswelle war die Folge. Insgesamt erlangte die jüdische Bevölkerung in Polen auf diese Weise eine Förderung, die in Europa ihresgleichen suchte. Deshalb ist es keineswegs zufällig, daß hier eine Legende entstand, nach der Gott selbst den vertriebenen und bedrohten Juden ein Zeichen gegeben habe, nach Polen zu gehen. Selbst der Name entspringe der Sprache Israels, denn „po-lin“ bedeute „hier nächtige“, bis Gott die verstreuten Juden erneut sammeln werde. Dennoch stellten die Lebensbedingungen in Polen-Litauen für die Juden keineswegs eine Idylle dar. Vor allem die katholische Kirche wandte sich gegen die jüdische Zuwanderung. Schon 1267 hatte das Konzil von Breslau, das damals im Herrschaftsgebiet des polnischen Piastengeschlechtes lag und 1226 bereits Schauplatz einer vorübergehenden Vertreibung der Juden gewesen war, nach dem Vorbild des Laterankonzils von 1215 beschlossen, Juden hätten in besonderen Vierteln, getrennt von den Christen, zu leben und spezielle Abzeichen zu tragen. Sie sollten keine öffentlichen Ämter bekleiden und keine Posten bekommen, bei denen Christen ihre Untergebenen gewesen wären. Darüber hinaus wurde gefordert, Juden die Pacht von Zöllen, Steuern und Münzen zu verweigern und ihnen damit eine ihrer wichtigsten Einnahmequellen zu entziehen. Spätere Konzilien griffen diese Beschlüsse immer wieder auf. Christliche Kaufleute, die sich von der jüdischen Konkurrenz bedroht sahen, fühlten sich dadurch bestätigt und verlangten, die wirtschaftliche Tätigkeit der Juden soweit wie möglich einzuschränken oder gar völlig zu verbieten. Nicht zufällig tauchten seit dem 14. Jh. auch in Polen Ritualmord- und Hostienfrevel-Beschuldigungen auf. In einigen Städten kam es zu blutigen Ausschreitungen. So stürmte eine aufgehetzte Menge 1407 das Judenviertel von Krakau, ermordete viele Einwohner, plünderte die Häuser und taufte gewaltsam zahlreiche jüdische Kinder, nachdem ein Priester verkündet hatte, die Juden hätten ein christliches Kind getötet und sein Blut für ihre rituellen Zwecke verwendet. Dahinter standen

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nicht zuletzt ökonomische Gründe. 1453 kam der als „Geißel der Hebräer“ berüchtigte Franziskanermönch Johannes Capistrano nach Polen. Ihm gelang es, die Forderungen der Geistlichkeit, des christlichen Bürgertums und eines weiteren Bündnispartners, des verarmten und bei Juden verschuldeten Kleinadels, zu bündeln. König Kasimir IV. (1447–1492) mußte 1454 zugestehen, daß die Judenprivilegien nicht dem göttlichen Recht und der Verfassung widersprechen dürften. Dies interpretierten die Gegner der Juden als Unterstützung ihrer Haltung. 1463 wurde das Krakauer Judenviertel erneut geplündert, 1469 mußte es verlegt werden, um der Universität Platz zu machen. Zahlreiche Pogrome fanden zwischen dem 14. und 16.Jh. in Posen statt. Aus mehreren Städten vertrieb man die Juden, etwa 1454/55, 1483 und 1498 aus Warschau und 1494 aus Krakau – bis 1867 durften von nun an Juden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nur noch in der Vorstadt Kazimierz wohnen. Besonders hart gingen die Städte in „Preußen königlichen Anteils“, dem späteren Westpreußen, vor. Aus den Vertreibungen entwickelten sich die Privilegien „de non tolerandis Judaeis“, die im 16. Jh. 20 Städten verliehen wurden. Allerdings erhielten auch jüdische Gemeinden Privilegien „de non tolerandis Christianis“, so 1568 Kazimierz, 1633 das jüdische Viertel Posens oder 1645 alle jüdischen Gemeinden Litauens. Dies macht deutlich, daß in vielen Fällen ein einträchtiges Zusammenleben von Christen und Juden nicht für möglich gehalten wurde. 1538 erreichte der verschuldete niedere Adel auf dem Reichstag (Sejm) von Piotrków ein Verbot für die Juden, öffentliche Einnahmen zu pachten. Im Laufe des Jahrhunderts verstärkte sich die judenfeindliche Stimmung infolge der Gegenreformation. Aus Anlaß vereinzelter Übertritte zum Judentum wurden die Juden der Anstiftung zur „Ketzerei“ beschuldigt. Anklagen wegen angeblichen Ritualmordes oder Hostienfrevels häuften sich und hatten oft den Tod von Juden zur Folge. 1581 versuchte das höchste jüdische Selbstverwaltungsorgan, der Vierländersejm, in Lublin, den ökonomischen Hintergründen die Spitze zu nehmen und untersagte bei Strafe des Bannes Salinen, Münzen, Spundgelder, Zölle und Maut (Wegezoll) in Groß- und Kleinpolen sowie Masowien zu pachten. Ganz allein standen die Juden nicht im Kampf mit ihren Gegnern. So versuchte der König in der Regel, sie zu schützen, da sie eine wichtige Stütze seiner Macht darstellten. Auch der Hochadel wußte sich die Kenntnisse, Fähigkeiten und Verbindungen der Juden zunutze zu machen und trat deshalb für ihre Rechte ein. Neben ihren ersten zentralen Aufgabenbereichen als Steuerpächter, Stempelschneider, Münzmeister und Großhändler gründeten sie als Kolonisatoren Dörfer, pachteten Grundbesitz, betrieben Landwirtschaft – vor allem im Nebenerwerb – oder waren als Handwerker tätig. Zunächst waren diese als Fleischer, Bäcker oder Schneider für die Versorgung der jüdischen Bevölkerung selbst notwendig, um die strengen religiösen Vorschriften einhalten zu können. Doch auch Christen erteilten jüdischen Handwerkern Aufträge. Die christlichen Zünfte, die um ihr Monopol fürchteten, protestierten und konnten in vielen Städten – namentlich in denjenigen, die der Kirche gehörten – erreichen, daß jüdische Handwerker zur Einschränkung ihrer Tätigkeit oder zumindest zur Zahlung hoher Gebühren gezwungen wurden. Häufig unterliefen diese jedoch die Vorschriften. In manchen Städten konnten Juden durchaus christlichen Zünften

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angehören, und in Krakau, Lemberg und Przemysl gab es eigene jüdische Zünfte. Bis zur Mitte des 16. Jhs. waren die Juden in fast allen Handwerksberufen vertreten. So bildete sich neben einer kleinen Oberschicht reicher Kaufleute, Finanziers und Pächter eine verhältnismäßig breite Mittelschicht aus Handwerkern, Kleinhändlern, Geldverleihern, Maklern und Angestellten der Gemeinden heraus. Die Unterschicht setzte sich aus Handwerksgesellen, Krämern, Verkäufern, Fuhrleuten, Dienstboten sowie aus Hausierern und Bettlern zusammen, die oft am Rande des Existenzminimums lebten. Die soziale Mobilität innerhalb der jüdischen Gesellschaft war höher als in der christlichen. Soziale Konflikte blieben nicht aus. Seit der Mitte des 16. Jhs. mehrten sich Berichte über Kämpfe zwischen jüdischen Handwerkern und reichen Gewerbetreibenden, die deren Selbständigkeit bedrohten. In Schriften wurde die Ausbeutung von armen durch reiche Juden angeprangert. Hin und wieder gab es sogar Bündnisse von Juden und Christen gegen Zunftälteste oder Adlige. Ein herausragendes Beispiel ist eine Vereinbarung der Ratsherren von Kamionka Strumiłowa mit den Juden aus dem Jahre 1589: Diesen wurden alle Bürgerrechte gewährt und Schutz vor Verfolgung und Gewalt garantiert, weil sie „unsere Nachbarn“ seien; dafür verpflichteten sie sich, sich an allen Arbeiten und Aktionen zugunsten der Stadt zu beteiligen. Trotz solcher Verbindungen gelang die vollständige Integration der Juden in die polnische Gesellschaft nicht. Ein Aufstieg in den Adelsstand etwa war fast nicht möglich. Vor allem seit der Gegenreformation konnten Juden ohne Konversion ihre Absonderung kaum überwinden. In Litauen diente die Möglichkeit, ohne größere Formalitäten geadelt zu werden, als Anreiz für eine Konversion. Immerhin sind einige Ausnahmen überliefert, so als 1525 der litauische Steuereintreiber Michel Ezofowicz den Adelstitel erhielt, ohne zum Christentum übergetreten zu sein. Ein Zeichen ihrer besonderen Stellung war die sich entfaltende Selbstverwaltung der Juden, die weit über vergleichbare Einrichtungen im übrigen Europa hinausging. Jede Gemeinde (Kehilla) besaß ihren Kahal, ihr Verwaltungsorgan, das die politische und religiöse Macht in sich vereinigte. Innere Streitigkeiten konnten nach eigenen Grundsätzen geregelt werden. Die Kahalältesten wurden aus den angesehensten – und meist auch reichsten – Gemeindemitgliedern gewählt. Sie hatten über Ruhe und Sicherheit, über Sauberkeit und Einhaltung der religiösen Vorschriften zu wachen. Deshalb mußten sie die Badehäuser, die Fleischverwertung und die Beerdigungen ebenso kontrollieren wie das Schulwesen. Außerdem waren sie für die Wohltätigkeit verantwortlich und mußten die Steuersumme, die die Gemeinde zu zahlen hatte, auf die einzelnen Haushalte aufteilen und von diesen eintreiben. Nicht zuletzt, um das Steuerwesen effektiver zu gestalten, entschloß sich König Sigismund I. der Alte (1506–1548), die Selbstverwaltung der Juden über den Bereich der Gemeinde hinaus auszudehnen. Zwischen 1518 und 1522 ließ er vier jüdische „Länder“ einrichten, die ihre Ältesten und Steuereinnehmer wählen sollten. Um Streitfragen zwischen den Juden aus den einzelnen Ländern zu schlichten, ordnete er 1530 ein ständiges Schiedstribunal mit Sitz in Lublin an. Nachdem 1549 die Kopfsteuer für Juden eingeführt worden war, berief König Stephan Báthory (1575–1586) eine Hauptvertretung der jüdischen Bevöl-

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kerung für das gesamte polnisch-litauische Reich. Dieser Vierländersejm (Waad arba arazot), auch „Judenreichstag“ genannt, trat erstmals 1581 in Lublin zusammen. Er sollte mindestens einmal im Jahr tagen und aus seiner Mitte einen Rat wählen, der aus dem Generalmarschall, dem Generalrabbiner, dem Generalschreiber und dem Generalschatzmeister bestand – dies war die „Judengeneralität“. 1623 trennte man dann die Judenreichstage für die beiden Reichsteile Polen und Litauen, um die Steuereintreibung zu erleichtern. Erst 1764 wurden sie aufgelöst, kurz vor der Zerschlagung des polnischen Staates sogar noch einmal belebt, um einen Finanzausgleich für die verschuldeten Gemeinden zu erreichen und deren Steuerkraft zu stärken. Abgesehen von Steuerfragen befaßte sich der Waad mit wirtschaftlichen und sozialen Fragen, dem Verhältnis zur nichtjüdischen Umwelt, mit der Eingliederung jüdischer Flüchtlinge aus anderen Ländern, mit der Beteiligung an militärischen Aktionen des Reiches – kurz: mit allen Aspekten jüdischen Lebens. Darüber hinaus verhandelte er oder in seinem Auftrag die Generalität mit den staatlichen Behörden und Institutionen. Der „Fürsprecher“, der Schtadlan, war in diesem Zusammenhang beauftragt, sich am Tagungsort des polnischen Sejm aufzuhalten und die Interessen der Juden mit Vorsprachen und Geschenken zu vertreten. Das 16. und die erste Hälfte des 17. Jhs. stellte die Blütezeit für das Judentum in Polen dar. 1534 wurde in Krakau die erste hebräische Druckerei gegründet – ein Zeichen für die wachsende Bedeutung dieser Stadt als eines der geistigen Zentren der Judenheit. Hier erschienen zahlreiche rabbinische Schriften und Talmud-Kommentare. Die polnischen Jeschiwot, die Talmud-Hochschulen, wurden in der ganzen jüdischen Welt hochgeachtet. Jakub Polak (1460–1541), ein Krakauer Rabbiner, entwickelte den Pilpul („Pfeffer“) als Interpretationsmethode zu einem feinsinnigen System des dialektischen Spiels mit These, Antithese und Synthese, das auf Diskussion und Dialog angelegt war. Da dies auch zu Haarspaltereien führen konnte, befürworteten andere, so der Lubliner Rabbiner Salomo Luria (1510–1573), eine streng an der Sache orientierte Methode. Polak hatte auch die Krakauer Jeschiwa gegründet, die dann von dem berühmten Gelehrten Mose Isserles (um 1525– 1572) geleitet wurde. Dieser verfaßte neben zahlreichen wichtigen Büchern einen Kommentar zu einem der Hauptwerke talmudischer Literatur, dem von Josef Karo – Rabbiner von Adrianopel und Safed – geschriebenen Schulchan aruch („Gedeckter Tisch“). Isserles Mappa („Tischtuch“) paßte die dort aufgestellten Regeln den Bedürfnissen der Juden in Mittel- und Osteuropa an und machte sie zu einem Begleiter in allen Lebensfragen. Außerdem erschienen jüdische Polemiken, etwa die scharfsinnigen Angriffe Isaaks aus Troki (1533–1594), der auf Widersprüche in der christlichen Religion und vor allem zwischen Religion und Lebenswandel hinwies. Damit rief er heftige Diskussionen hervor und beeinflußte viele Religionskritiker bis hin zu Voltaire. Wie hier zeigte sich auch sonst in der rabbinischen Literatur früh aufklärerisches Gedankengut. Ebenso stellten Juden in den weltlichen Wissenschaften der damaligen Zeit hervorragende Vertreter. All dies verweist auf die weitgehende Toleranz gegenüber Juden in Polen, belegt aber auch den hohen Stand der Gelehrsamkeit. Die Grundlage dafür wurde schon in der Kindheit geschaffen: Seit dem

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16. Jh. waren die Juden verpflichtet, ihre Söhne vom vierten bis zum achten Lebensjahr in die Kahal-Schule zu schicken. Dort lernten sie Hebräisch, lasen die Bibel und wurden mit den vier Grundrechenarten sowie den Grundsätzen der Moral vertraut gemacht. In den Schulen der zweiten Stufe, die die Jungen zwischen acht und dreizehn Jahren besuchten, stand der Unterricht im Talmud und seinen Kommentaren im Vordergrund. Die Mädchen wurden von den Schulen ferngehalten und erhielten ihre Bildung zu Hause. Für sie war die Vorbereitung auf ihre späteren hausfraulichen Pflichten und die Gestaltung des Hauses als religiösem Zentrum entscheidend, nicht die Gelehrsamkeit. Hingegen galt es für den jüdischen Vater als höchstes Ziel, seine Tochter mit einem gelehrten jungen Mann, und sei er noch so arm, zu verheiraten. Um dies zu gewährleisten, finanzierte er oft seinem Schwiegersohn die Fortsetzung des religiösen Studiums. Dies überhaupt zu fördern, war der Familie oder der Gemeinde kein Opfer zu groß. Der hohe Stand der Gelehrsamkeit, die sich auch in bewundernswerten künstlerischen Erzeugnissen ausdrückte, wurde von einer einzigartigen wirtschaftlichen Stellung begleitet. Die Juden übernahmen bis zum 17. Jh. die Rolle der Mittler zwischen Stadt und Land. Gewiß ist diese Funktion auch aus anderen Ländern bekannt, doch in Polen erreichte sie einen Ausnahmerang. Die reicheren Juden gingen eine enge ökonomische und soziale Symbiose mit dem höheren Adel ein. Ihre Gewinne legten sie vielfach in Pachten an, die sie dann zur Verwaltung an ärmere Familienangehörige weitergaben: Steuern, Zölle, Maut, Mühlen, Brennereien, Brauereien, Schenken, nicht zuletzt auch Ländereien. Als Pächter und Verwalter von Adelsgütern traten die Juden ebenso in unmittelbaren Kontakt mit den Bauern wie in den Mühlen und Schenken. Da sie zugleich mit den jüdischen Händlern in Verbindung standen, organisierten sie bald die gesamte Wirtschaftstätigkeit. Als Verwalter und Pächter gaben sie Anweisungen für den Gutsbetrieb und die Produktion. Als Schankwirte verkauften sie Erzeugnisse des Adelsgutes – nicht nur Schnaps – an die Bauern und stellten den Umschlagplatz für viele geschäftliche Verhandlungen dar. Die Hausierer oder „Dorfgeher“ und die Krämer deckten den Bedarf der Bauern an städtischen Waren, kauften aber auch deren Produkte an. Jüdische Wirte wie Kleinhändler erwarben sich oft das Vertrauen der Bauern und wickelten dann sämtliche Aufträge für sie ab. Jüdische Händler waren es auch in der Regel, die die Überschußprodukte der Adelsgüter abnahmen und in der Stadt verkauften. Im Gegenzug lieferten sie Waren aus der Stadt, die sie häufig von den dortigen jüdischen Handwerkern bezogen. So herrschte ein Wirtschaftskreislauf zwischen Stadt und Land innerhalb der Judenheit wie allgemein innerhalb der Gesellschaft Polens. Bauern, Adlige und Städter wurden durch die Juden miteinander verbunden. In dieser zentralen Stellung lagen allerdings auch Keime für schwere Konflikte. Der katholischen Kirche war sie ein Dorn im Auge, der verschuldete Kleinadel und die christlichbürgerliche Konkurrenz versuchten sie immer wieder zu schwächen. Auch das Verhältnis zu den Bauern gestaltete sich vielschichtig. Selbst wenn diese „ihrem“ Juden vertrauten und ihm die Abwicklung ihrer Angelegenheiten übertrugen, prallten hier doch zwei unterschiedliche Lebenswelten aufeinander. Die Juden brachten mit ihren Geldgeschäften eine neue Ökonomie in das Dorf. Auf diese Weise blieben sie in gewisser Weise „fremd“. Wenn

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sie dann noch Abgaben eintrieben oder Schnaps ausschenkten, wurden sie leicht als Werkzeuge der adligen Gutsbesitzer angesehen und gerieten in die sozialen Spannungen zwischen Feudalherren und Bauern hinein. Katholische Priester schürten den Konflikt, indem sie die jüdische Schenke als Hort des Teufels an den Pranger stellten oder gar Ritualmordbeschuldigungen verbreiteten. In Krisenzeiten verfehlten derartige Vorwürfe, untermalt mit Verweisen auf die „geheimnisvollen“ religiösen Bräuche der Juden, ihre Wirkung nicht. Das gute Verhältnis zwischen Bauern und Juden konnte dann schnell in Aggressivität und gewaltsame Aktionen umschlagen. Die Mittlerfunktion bedeutete demnach zugleich, im Zentrum sozialer Gegensätze zu stehen. Das zeigte sich gerade im 16. und 17. Jh. In der Lubliner Union von 1569, mit der Polen und Litauen von einer Personal- zur Realunion übergingen, waren die Reichsteile neu verteilt worden. Polen erhielt das südliche Weißrußland, die Ukraine, Podlachien, Wolhynien und Podolien. Sofort begannen die Magnaten mit der Kolonisierung der wirtschaftlich wie herrschaftlich noch wenig erschlossenen Gebiete. Die Juden waren ihnen dabei als Finanziers, Pächter oder Verwalter hochwillkommen. Eine starke jüdische Wanderung nach Osten setzte ein, in einer Reihe von Städten stellten Juden bald die Mehrheit der Einwohner. Damit gerieten sie allerdings im Südosten des Reiches in eine noch schärfere Konfliktsituation als in den westlichen Gebieten. Die hier lebende bäuerliche Bevölkerung wurde jetzt in das polnische Feudalsystem gezwungen und erlebte die Juden als Handlanger der Adligen. So standen die Juden zwischen Gutsherren und Bauern, zwischen Katholiken, Orthodoxen und Unierten, zwischen Polen und Ruthenen (Ukrainern). Spannungen stauten sich auf, die sich leicht entladen konnten. Vorerst jedoch erreichte die sozioökonomische Tätigkeit der Juden ihren Höhepunkt. Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern und mit den folgenden Perioden ist es verständlich, wenn die Epoche bis zur Mitte des 17. Jhs. vielfach als „goldenes Zeitalter“ für die Juden bezeichnet wird. Insofern verwundert es nicht, wenn immer mehr Juden nach Polen zogen. Überwiegend kamen nach wie vor Aschkenasim aus dem Deutschen Reich, ergänzt von einer Anzahl Sefardim, die in Zamosc, südöstlich von Lublin, siedelten. Die Karäer (Karaiten), die sich im 17./18. Jh. in Litauen und auf der Krim niederließen, hielten sich von den übrigen Juden getrennt, da sie den Talmud und die rabbinische Gesetzestradition nicht anerkannten. Schätzungen der Bevölkerungszahl sind schwierig, da nur unvollständige Daten vorliegen und die Hochrechnungen von unterschiedlichen methodischen Überlegungen ausgehen. Um 1500 sollen zwischen 4500 und 30000 Juden in Polen und Litauen gelebt haben – jedenfalls weniger als 1% der Gesamteinwohnerschaft –, um die Mitte des 17. Jhs. wird ihre Zahl hingegen auf 500000 bzw. 5% geschätzt. Ein Fünftel bis ein Viertel der Juden wohnte auf dem Land, die Mehrheit in Städten. Regional an der Spitze lag Rotreußen mit einem Anteil von 30% bis 40% jüdischer Bevölkerung in den Städten, gefolgt von Kleinpolen mit 10% bis 15%, Großpolen mit 10% und – trotz weitgehenden Siedlungsverbotes – Masowien mit ebenfalls 10%.

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Die Herausbildung einer neuen Lebensform (1648–1815) 1648 brach die große Katastrophe herein. Bauern und Kosaken in der Ukraine erhoben sich unter der Führung Bogdan Chmel’nickijs (Bohdan Chmel’nyc’kyj, um 1593–1657) gegen die polnischen Kolonisierungsbestrebungen. In grausamen Feldzügen, die sich über mehrere Jahre hinzogen, drangen die Aufständischen in weite Teile des polnischen Reiches vor. Es kam zu unvorstellbaren Gemetzeln unter der polnischen und besonders unter der jüdischen Bevölkerung. Schätzungen der Zahl der jüdischen Opfer schwanken von einigen Zehntausenden bis über 100000. Damit wurden zum ersten Mal auch die Juden in Polen von Pogromen bisher unbekannter Gewalt getroffen. Ihre so sicher scheinende Existenz war im Kern bedroht. Das Leid und der Schock für die Überlebenden wirkten noch lange nach, verstärkt dadurch, daß diejenigen Gebiete, die von Juden am stärksten bevölkert waren, auch in den folgenden Jahrzehnten mehrfach zum Kriegsschauplatz wurden. Ebenso wurden Juden in weiteren Bauernaufständen zur Zielscheibe des Hasses. In Polen selbst ging, nicht zuletzt aufgrund der furchtbaren kriegerischen Ereignisse, die Zeit der relativen geistig-religiösen Toleranz zu Ende. Die katholische Gegenreformation entfaltete sich besonders aggressiv gegen Andersgläubige und machte gerade die Juden für viele negative Erscheinungen verantwortlich. Beschuldigungen des Ritualmordes und des Hostienfrevels nahmen drastisch zu und fanden in den unruhigen Jahren wachsende Resonanz. Die Juden mußten feststellen, daß zwar ein Teil der Polen für sie eintrat, sie verteidigte und gemeinsam mit ihnen gegen die Aufständischen kämpfte, ein anderer aber von ihnen abrückte und sie im Konfliktfall opferte. Auf den ersten Blick konnte sich die polnische Judenheit wieder rasch konsolidieren. Trotz der furchtbaren Menschenverluste und einer Umkehrung in der Migrationsrichtung – erstmals wanderten nach 1648 Juden wieder nach Westen, auch nach Deutschland, wo sie sich vor allem in Landjudengemeinden ansiedelten – lebten vor der ersten Teilung Polens 1772 nach verschiedenen Hochrechnungen bereits wieder 750 000 Juden in Polen und machten damit rund 7% der Bevölkerung aus. Namentlich eine hohe Geburtenrate, aber auch erneute Zuzüge von außen waren dafür verantwortlich. Dabei schien sich die Symbiose mit dem polnischen Hochadel zu wiederholen: Dieser holte noch stärker als früher Juden als Pächter, Verwalter und Schankwirte auf seine wiederhergestellten Güter im Südosten. Mehr Juden als vor 1648, nämlich ein Drittel, wohnte nun auf dem Land. Und doch war die Lage der Juden zutiefst verändert. Der Waad verlor an Bedeutung, im Kahal setzte sich oft eine Oligarchie durch, die aus den Geldgeschäften, nicht zuletzt mit dem Adel, Nutzen zog und die Armen nicht mehr gleichermaßen begünstigte. Insgesamt traten nun soziale Gegensätze zwischen Reich und Arm schärfer hervor. Im Verhältnis zu früher sank die Zahl der wirklich kapitalkräftigen Juden, nur wenigen gelang es, sich von der Katastrophe wirtschaftlich zu erholen. Immer mehr verarmten. Darüber hinaus war die Blüte der Gelehrsamkeit vernichtet. Das alte Niveau im Bildungswesen konnte nicht wieder erreicht werden. Viele Juden empfanden, daß ihre bisher so fest geordnete Welt mit ihren Werten zerbrochen war, und waren verunsichert. Die Antworten der Rabbiner auf die un-

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gewohnte Situation befriedigten häufig nicht mehr. Manch einer begann, nach neuen Wegen zu suchen. Insofern verwundert es nicht, daß gerade in den Jahren nach 1648 unter den Juden in Polen die messianische Bewegung Sabbatai Zwis (1626–1676) zahlreiche Anhänger fand. Als die Erlösung ausblieb, waren zwar viele Anhänger ernüchtert und wandten sich von ihm und seinen Lehren wieder ab, doch der verbleibende Rest radikalisierte sich. Nicht zuletzt die Idee von der „Heiligkeit der Sünde“, um das Böse von innen her zu überwinden, wurde ausgebaut und gipfelte schließlich in der Bewegung des Jakob Frank (1726–1791), der sich 1755 als Nachfolger Sabbatai Zwis und neuer Messias ausgab und später zum Katholizismus übertrat. Im Laufe der Zeit erweiterte sich bei Frank und seinen fanatischen Anhängern der Gedanke der Befreiung von der überkommenen religiösen Lehre und von den rabbinischen Autoritäten verschwommen zu einer Befreiung von allen geistigen und politischen Werten und Ordnungen. Die Forderung nach Emanzipation begnügte sich nicht mehr mit einer rein rechtlichen Gleichstellung, und die Erlösung wollte man nicht mehr passiv in einer unbestimmten Zukunft erwarten, sondern jetzt durch eigenes Handeln erzwingen. In dieser „Wende zum Aktivismus“ liegt die besondere Bedeutung des Frankismus, die seitdem auf alle Bewegungen im Judentum ausstrahlte. Die Frankisten wurden von Juden wie Nichtjuden heftig bekämpft, und nach dem Zerfall der Anhängerschaft zu Beginn des 19. Jhs. galt die Lehre vollends als Tabu. Es war gefährlich, als Sabbatianer oder Frankist entlarvt zu werden. Doch im gesellschaftlichen Leben Polens, und ebenso in den Aufständen des 19. Jhs. gegen die Besatzungsherrschaft, spielten Angehörige von Frankistenfamilien eine wichtige Rolle. Die Erschütterung durch die Katastrophe von 1648 und deren Folgen sowie die Ausstrahlung der messianischen Bewegungen schufen auch Raum für eine weitere Richtung. In der ersten Hälfte des 18. Jhs. begründete Israel ben Elieser (1700–1760), der den ehrenden Beinamen Baal Schem Tow (BeSchT), das heißt Meister des Heiligen Namens, also des Namens Gottes, trug, den Chassidismus, die Bewegung der Frommen. Er war davon überzeugt, daß man das Böse nicht mit der Sünde beantworten dürfe, sondern sich bemühen solle, Gutes zu tun und auf diese Weise dem Ewigen näherzukommen. Er sei den Menschen in Liebe verbunden, so daß man das Vergnügen an ihm nicht weltabgewandt, sondern in einer lebensbejahenden Frömmigkeit finde. In jedem einzelnen stecke die Erlösung, jeder müsse zu sich selbst finden. Die Revolution sollte demnach im Innern der Menschen stattfinden. Diese Ansichten stießen auf eine ungeheure Resonanz unter der jüdischen Bevölkerung, zunächst in Podolien und in der Bukowina, dann in Galizien. Hier lag der Weg offen, der aus der Trostlosigkeit und Leere herausführte. Orientiert an der Lebenswelt der Menschen, forderte der Chassidismus nicht Askese und Traurigkeit, nicht ständige Sühne oder persönliche Erniedrigung, sondern Fröhlichkeit und Frömmigkeit, Brüderlichkeit und Liebe. In Zeiten, in denen die alten Werte in Frage gestellt waren, in denen Leid und Elend herrschten, fanden die Juden wieder die Kraft zur Hoffnung und zur Freude. Unter den Nachfolgern des BeSchT – beginnend mit dem Maggid, dem Prediger, Dow

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Ber von Mie˛dzyrzecz (1704–1772) – wandelten sich Lehre und Bewegung. Um die ursprüngliche Harmonie wiederherzustellen, seien große Frömmigkeit und bewußter Quietismus nötig, die nicht alle Menschen gleichermaßen leisten könnten. Als Vermittler brauchten sie den Zaddik, den Gerechten. Darin war die Gefahr angelegt, daß die egalitäre Bewegung, in der alle in unmittelbarer Beziehung zu Gott standen, in einem elitären Mystizismus erstarrte. Die Gestalt des Zaddiks kam der weitverbreiteten Meinung entgegen, man müsse auf Wunderrabbis vertrauen, um mit Gott in Beziehung treten zu können. Doch die befreiende Kraft des Glaubens, wie sie in den Anfängen des Chassidismus spürbar ist, konnte nun leicht behindert werden. Die Gemeinde, so lehrte es der Maggid, müsse dem Zaddik helfen, sie hafte an ihm wie er an Gott. Zu dieser Hilfe zählten materielle Unterstützung, aber auch Tanz und Fröhlichkeit bis hin zur Ekstase, woraus der Zaddik Kraft schöpfe. Dies artete vielfach in eine absolute Machtstellung einzelner Zaddik-Dynastien aus, die dann regelrechte Schulen bildeten. In diesem Machtanspruch sind ebenso Einflüsse des Frankismus erkennbar wie in den aktivistischen Elementen, etwa wenn Zaddikim durch die Kraft ihrer Gebete Gott zur sofortigen Einleitung der Erlösung zwingen wollten. An den Auswüchsen des Zaddikismus gab es im übrigen immer wieder Kritik, früh schon etwa vom Urenkel des BeSchT, Rabbi Nachman von Bracław (1772–1810). Er wollte mit seiner Lehre und seinen allegorischen Erzählungen eine Rückbesinnung auf die Volksverbundenheit und auf die innere Frömmigkeit einleiten. Auch später erlangten mehrfach Erneuerungsansätze starken Einfluß. Der Verbreitung des Chassidismus taten die Erstarrungstendenzen keinen Abbruch. In mehr und mehr Orten organisierten sich seine Anhänger in Gemeinschaften gegen die Rabbiner. In oft heftigen Kämpfen mit der rabbinischen Strömung, den Misnagdim (Mitnaggedim), den „Gegnern“, dehnte sich die Volksbewegung im 19. Jh. bis nach Warschau und Lodz aus und hatte teilweise erheblichen Einfluß in weiteren jüdischen Siedlungsgebieten Osteuropas. Innerhalb vieler jüdischer Gemeinden, in denen sich die beiden Richtungen gegenseitig mit dem Bann belegten, ja blutige Zusammenstöße stattfanden, taten sich Risse auf, die nicht wieder geschlossen werden konnten. Durch die aktive Betätigung der Chassidim in Gemeinden wurde andererseits die Mystik kommunalisiert. Neu war, daß auch Frauen daran teilnehmen durften. Die Tora-Gelehrsamkeit, die ihnen nach überlieferter Auffassung verschlossen bleiben mußte, war für die Frömmigkeit der Chassidim nicht nötig. Deshalb konnte sich ihre Stellung im öffentlichgemeindlichen Leben verbessern. Zumindest im frühen Chassidismus waren Frauen auch beim gemeinsamen Tanz dabei. Später scheint sich jedoch, wenngleich in den verschiedenen Gemeinden und an den Zaddik-Höfen unterschiedlich, wieder die traditionelle Trennung zwischen Mann und Frau durchgesetzt, ja verfestigt zu haben. Immerhin ist es erstaunlich, daß mehrfach von einzelnen Frauen, meist Witwen oder Töchtern von Zaddikim, berichtet wird, die wegen ihrer spirituellen Kraft wie Zaddikim verehrt wurden. Ein Großteil der Juden folgte nicht den neuen Wegen, blieb im Rahmen der überlieferten Ordnung und versuchte, durch vertiefte Gelehrsamkeit und Rückbesinnung auf die Grund-

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lagen mit der eingetretenen Situation fertig zu werden. Doch in dieser Sinnsuche zwischen messianischer Endzeiterwartung und frommer, lebensbejahender Einrichtung in der nun einmal so gegebenen Welt, in dieser Gratwanderung zwischen Bewahrung der Lebenswelt und Befreiung von als sinnlos empfundenen Normen formte sich im 18.Jh. allmählich eine neue „in sich abgeschlossene Kulturpersönlichkeit“ (Nathan Birnbaum), für die sich seit dem Ende des 19. Jhs. die Bezeichnung „Ostjude“ eingebürgert hat. Dieser Begriff entstand aus dem innerjüdischen Sprachgebrauch heraus, wurde bereits auf dem Ersten Zionistenkongreß 1897 in Basel wie selbstverständlich verwendet und auch als Selbstbezeichnung beibehalten, nachdem er als Klischee in der antisemitischen Agitation eine wichtige Rolle zu spielen begonnen hatte. Bei allen individuellen, lokalen und regionalen Unterschieden meint dies einen Menschen, der sich bewußt zum Judentum bekennt, dessen Verständnis sich ihm in schweren Konflikten erschlossen hat. Er ist nicht bereit, seine Lebenswelt aufzugeben, um durch Assimilation gesellschaftliche Vorteile zu erreichen (und sogar bei denjenigen, die sich doch für die Assimilation entschieden, sind oft noch die Wurzeln spürbar). Darüber hinaus hängt er an seiner osteuropäischen Heimat, selbst wenn er aufgrund von Verfolgungen oder wirtschaftlicher Not emigriert ist. Tradition und Erinnerung üben eine prägende Wirkung aus, ohne daß der Ostjude deshalb konservativ eingestellt sein muß. Äußerlich war der Ostjude vielfach an einer eigenen Tracht erkennbar, die sich in Polen seit dem 16. Jh. herausgebildet hatte: bei den Männern Kaftan und schwarze Kopfbedeckung, Schläfenlocken und Bart, bei den verheirateten Frauen Perücke und Kopftuch. Die meisten lebten streng nach den religiösen Gesetzen sowie überlieferten Sitten und Ritualen, doch Ausnahmen stellten keineswegs nur eine Randerscheinung dar. Auf jeden Fall gehörte zum Ostjudentum, das auch eigene literarische und künstlerische Erzeugnisse sowie Rechtsnormen hervorgebracht hat, die jiddische Sprache. Gerade im 18.Jh. entfaltete sich das Ostjiddische – mit vielfältigen regionalen Besonderheiten – als durchorganisierte, eigenständige Form. Diese „mame loschen“ (Muttersprache) pflegten die Juden im täglichen Umgang miteinander. Hebräisch blieb die Sprache des religiös-kultischen Bereichs und der Gelehrsamkeit. In der Begegnung mit Nichtjuden waren sehr viele Jüdinnen und Juden in der Lage, sich der jeweiligen Landessprache zu bedienen. Ein nicht unerheblicher Teil beherrschte auch das Deutsche, das als Bildungssprache galt. Beeindruckend ist die Fähigkeit zum Sprachwechsel je nach Situation. Die Eigenständigkeit der Lebensformen schlug sich weiterhin auch darin nieder, daß sich aus der Begegnung von westaschkenasischen und osteuropäischen Musiktraditionen ein neuer Stil herausschälte, der sich im liturgischen Gesang und dann besonders nachhaltig in der Klezmer-Musik ausdrückte. Diese dehnte sich gerade von den chassidischen Zentren über das gesamte osteuropäische Siedlungsgebiet aus. Sozial und ökonomisch war nach wie vor die Mittlerfunktion zwischen Stadt und Land zentral für die Stellung der Ostjuden in der Gesellschaft. Als Händler zwischen Adel, Bauern und Städtern, als Hausierer, Geldgeber, Geschäftsabwickler, Pächter und Verwalter von Adelsgütern und als Schankwirte waren die Juden in den Wiederaufbauphasen in Polen nach den zahlreichen Kriegen und Verwüstungen besonders notwendig. Allerdings zeigte

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sich bald, daß sich die Grundlage dieser Funktion gegenüber früher schwerwiegend verändert hatte. Kennzeichnende Lebensform der Ostjuden wurde das Schtetl. Dies konnte eine Kleinstadt sein, in der Juden – wie häufig in Ostgalizien – die überwiegende Bevölkerungsmehrheit stellten, oder ein Städtchen, in dem die Juden in einem deutlich abgetrennten Viertel unter sich lebten. Manchmal wurden sogar die Quartiere in Großstädten – selbst in der Emigration – so bezeichnet. Den Stolz auf ihr heimatliches Schtetl zeigten die Juden nicht zuletzt in ehrenden Beinamen, die sie ihm gaben, etwa „Jerusalem Wolhyniens“ für Berdytschew oder „Jerusalem Galiziens“ für Rzeszów. Gewiß beeinflußt von der nichtjüdischen Umgebung, ist doch eine eigenständige Architektur in den Schtetln erkennbar. Im Mittelpunkt befand sich der Marktplatz, auf dem nicht nur Kauf und Verkauf abgewickelt, sondern auch die täglichen Nachrichten ausgetauscht wurden. Die Straßen, die auf diesen Platz zuliefen, enthielten in der Regel ebenfalls zahlreiche Läden in Hofeinfahrten oder Hinterhöfen. Außerdem standen viele Kleinhändler mit ihren Bauchläden oder Verkaufskörben am Straßenrand. Die Synagogen lagen oft versteckt in Nebenstraßen – nicht zuletzt aufgrund von Auflagen, den Eindruck der christlichen Kirchen nicht zu beeinträchtigen –, im Osten häufig aber auch unübersehbar als Wehrbauten im Zentrum. Holzsynagogen mit reichhaltiger künstlerischer Ausstattung bildeten wahre Kostbarkeiten. Darüber hinaus prägten zahlreiche Betstuben – „Schtibl“ – und Studierhäuser das Erscheinungsbild der Schtetl. Trotz des abgeschlossenen Lebens der Juden im Schtetl kam es zu vielfältigen Kontakten mit Nichtjuden. Sie fanden in erster Linie bei Geschäftsbeziehungen statt, doch es gab durchaus weitere Orte der Begegnung: beim Alltagsgespräch der Frauen auf der Straße, auf dem Markt oder im Laden, beim Treffen der Männer im Wirtshaus, bei gemeinsamen Aufgaben in der Stadt, bei nachbarschaftlichen Hilfen in der Not. Christliche Dienstmädchen und Dienstboten fanden in jüdischen Familien eine Anstellung (und waren am Schabbat und an Feiertagen eine wichtige Hilfe). Gemeinsame Spiele jüdischer und christlicher Kinder scheinen hingegen eher selten gewesen zu sein. Auf dem Land hatten die jüdischen Pächter und Verwalter, manchmal auch Gutsbesitzer oder Bauern, mit den polnischen und ruthenischen Bauern zu tun. Die jüdischen Hausierer boten nicht nur ihre Waren feil, sondern wickelten auch Geschäfte ihrer Kunden in den Städten ab, berichteten vom dortigen Leben oder von neuen Errungenschaften in der Landwirtschaft und im Haushalt. Sie waren ebenso bedeutende Kulturvermittler zwischen Stadt und Land wie die jüdischen Schankwirte, wohl die typische Erscheinung des Mittlers in den sozialen und wirtschaftlichen Beziehungsgeflechten. Im 18. Jh. gehörte über ein Viertel der jüdischen Bevölkerung Polen-Litauens zu dieser Schicht. Noch 1813 stellten die Juden – nach einer allerdings methodisch problematischen Schätzung – 61% der Erwerbstätigen in Produktion und Verkauf von Alkohol. Im Osten dürfte die Zahl wesentlich höher gelegen haben. An den Schankwirten wird auch erneut die ambivalente Stellung der Juden in der Gesellschaft deutlich. Sie waren ihren christlich-bäuerlichen Gästen vertraut und ver trauenswürdig, erledigten für sie Aufträge bei Behörden und in der Stadt, besprachen mit

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diesen deren familiäre Probleme. Auf der anderen Seite wurden sie mißtrauisch beobachtet, weil sie die Produkte der Adelsgüter verkauften – vor allem dann, wenn Zahlungen eines Adligen an die Bauern von diesen nur in dessen Schenke eingelöst werden konnten. Eine gewisse Fremdheit blieb. Der Verdacht des Wuchers war schnell bei der Hand. Mußte sich ein Bauer erst einmal verschulden, verfehlte die Hetze mancher katholischer Priester ihre Wirkung nicht: Die Schankwirte, so erklärten sie, verführten ihre Gäste zum Trinken und schwätzten ihnen unnötige Waren auf, um sie in Abhängigkeit zu bringen. Der Teufel benutze sie, um seine Ziele zu erreichen. Insgesamt verstärkten sich im 18. Jh. die antijüdischen Bemühungen katholischer Institutionen. Mehrfach setzten Kirchenversammlungen die diskriminierenden Konzilsbeschlüsse des Mittelalters wieder in Kraft. Synoden untersagten es Juden, sich während Prozessionen öffentlich zu zeigen oder christliche Dienstboten zu beschäftigen. Bau und Renovierung von Synagogen wurden behindert. Bischöfe ließen sich hin und wieder hohe Lösegelder zahlen, um von der Schließung der Synagogen abzusehen oder sie wieder rückgängig zu machen. Vermehrt tauchten Ritualmordbeschuldigungen auf, die in einer Reihe von Fällen zu Verurteilungen und Hinrichtungen führten. Die Verfolgungen nahmen derartige Ausmaße an, daß schließlich sogar Papst Clemens XII. (1758–1769) und König August III. (1733–1763), auf Bitten jüdischer Abordnungen hin, 1763 die Blutbeschuldigungen verurteilten. Die Vorurteile, die sich inzwischen festgesetzt hatten, konnten dadurch jedoch nicht ausgerottet werden. In den Städten lehnten es christliche Zünfte jetzt ab, Juden als Mitglieder aufzunehmen, und verboten es jüdischen Handwerkern, Aufträge von Christen entgegenzunehmen. Vielfach erschwerten Stadtverwaltungen jüdischen Händlern die Ausübung ihres Berufes. Die Rechte, die ihnen durch königliche oder adlige Privilegien gewährt worden waren, konnten Juden oft nur durch Zahlung hoher Bestechungsgelder wirklich in Anspruch nehmen. Immer wieder lesen wir auch von Überfällen auf Juden, Mißhandlungen und Plünderungen ihrer Häuser. Daß trotz der im europäischen Vergleich nach wie vor guten formalen Rahmenbedingungen die judenfeindliche Hetze häufig Wirkung zeigte, lag nicht zuletzt an dem sich verschärfenden ökonomischen Konkurrenzkampf. Hier – wie überhaupt in ihrer gesellschaftlichen Stellung – gerieten die Juden in eine immer schwächere Position, zumal der Schutz des Königs aufgrund seines niedergehenden Einflusses an Bedeutung verlor und sich vor allem die Symbiose mit dem Hochadel lockerte. Wie früher zogen die Grundbesitzer zwar Juden als Faktoren heran, weil diese für sie ökonomisch außerordentlich nützlich waren. Aber sie ließen sie auch schnell fallen, wenn ihnen der Nutzen zu gering oder wenn sie es aus anderen Gründen für opportun hielten. Die Erfahrungen der Unruhen seit 1648, in denen sich der Gegensatz zwischen Bauern und Adligen im Haß gegen die Juden entladen hatte, und die wachsende Wirkungsmacht der katholischen Kirche mit ihren Warnungen vor den Juden spielten ebenso eine Rolle wie der Gesichtspunkt der Konkurrenz. Die Grundbesitzer befürchteten – das negative Judenbild vor Augen – vielfach eine Übervorteilung durch die Verwalter oder Pächter und versuchten insbesondere in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten, sie loszuwerden. Der Adel setzte im

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18. Jh. auch durch, daß Juden nicht mehr zum Staatsdienst zugelassen wurden oder königliche Domänen verwalten durften. Die Einhaltung früher erlassener Aufenthalts- und Berufsbeschränkungen wurde strenger überwacht. Auf diese Weise sollten eigene Aufstiegsmöglichkeiten und Berufsfelder von Konkurrenten freigehalten werden. Die frühere Interessengemeinschaft verwandelte sich tendenziell in einen Interessengegensatz. Neue Rahmenbedingungen ergaben sich durch die Teilungen Polens 1772, 1793 und 1795 sowie die endgültige Grenzfestlegung auf dem Wiener Kongreß im Jahr 1815: Preußen erhielt das nun so genannte Westpreußen und die Provinz Posen, Österreich Galizien, wobei Krakau bis 1846 eine freie Stadt unter gemeinsamer Oberherrschaft der Teilungsmächte blieb, und Rußland wurde Litauen sowie Ost- und Zentralpolen zugesprochen. Während die zarische Autokratie den Gürtel von Litauen über Weißrußland und die Ukraine bis zum Schwarzen Meer annektierte, bildete sie aus dem Rest das mit Rußland in Personalunion verbundene Königreich Polen, das unter Anspielung auf seine Entstehung auch Kongreß-Polen genannt wurde. Die Habsburger gliederten ihre Erwerbung als Königreich Galizien und Lodomerien in ihr Reich ein. Ein selbständiger Staat Polen existierte bis zum Ende des Ersten Weltkrieges nicht mehr. Während der Teilungsprozeß in Gang gekommen war, setzten in Polen erhebliche Anstrengungen ein, mittels durchgreifender Reformen das Land zu stabilisieren und auf diese Weise die Freiheit zu erhalten. Die letzten Bemühungen gipfelten im Großen Sejm, der seit 1788 tagte und am 3. Mai 1791 die erste Verfassung in Europa verabschiedete. Die Frage, welche Stellung die Juden in der neuen Gesellschaft einnehmen sollten, spielte in den Beratungen eine große Rolle, wurde dann allerdings in der Verfassung ausgeklammert. Wie gereizt die Stimmung war, wurde deutlich, als es 1790 vor dem Hintergrund eines Konfliktes über Aufenthaltsbeschränkungen für Juden während der Sejm-Tagungen zu einem Plünderungssturm auf die Wohnungen und Läden der Juden in Warschau kam, dem erst durch das Militär Einhalt geboten werden konnte. In den Beratungen zur „Judenfrage“ schälten sich drei Positionen heraus: Zwischen den Extremen, die Rechte und Möglichkeiten der Juden – so wie es Verlautbarungen der katholischen Kirche verlangten – stärker als bisher einzuschränken oder sie – weil es für die Wirtschaft des Landes nützlich sei – weitgehend unbeschränkt zu fördern, entfaltete sich in verschiedenen Schattierungen eine mittlere Richtung. Wie es für das aufgeklärte Denken in vielen Ländern Europas typisch war, forderten Vertreter dieser Position, daß die Juden die Gleichberechtigung erhalten sollten, wenn sie sich im Sinne der Vernunft „verbessern“ ließen, also ihre eigene Tradition und Kultur ablegten. Wer dazu nicht freiwillig bereit sei, müsse gezwungen werden. So wurde in den polnischen Reform-Diskussionen daran gedacht, Frühehen zu verbieten, ungebildete Juden in den bürgerlichen Rechten zu beschränken, jüdisches Schrifttum zu zensieren, die jüdische Tracht abzuschaffen, „schädliche“ religiöse Bräuche aufzuheben, die Kahal-Autonomie zu schmälern, zumindest im öffentlichen Schriftverkehr nur noch Polnisch statt Jiddisch zuzulassen sowie die berufliche Betätigung auf Handwerk, Ackerbau und „ehrlichen“ Handel – unter Ausschluß des Schankgewerbes – zu begrenzen. Davon abgesehen und quasi als Gegenleistung seien den Juden das volle Bür-

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gerrecht, Toleranz und weitgehende Gewerbefreiheit zu gewähren. Die Anhänger einer judenfeindlichen Richtung verhinderten jedoch einen entsprechenden Beschluß des Sejm, der dies in die Verfassung aufnehmen wollte. Gerade dabei wurde offenkundig, daß der Hochadel nicht mehr wie früher hinter den Juden stand und sie vor ihren Gegnern schützte. Dennoch waren Hoffnungen auf eine gleichberechtigte Anerkennung unter den Juden weit verbreitet. Während des Aufstandes von 1794 unter Führung von Tadeusz Kosciuszko (1746–1817), der die Unabhängigkeit Polens sichern wollte, fehlte es nicht an patriotischen Bezeugungen. Zahlreiche Juden halfen bei der Verteidigung Warschaus mit, und schließlich wurde sogar eine jüdische Legion aufgestellt, die Berek Joselewicz (um 1770–1809) kommandierte. Nach der Niederschlagung des Aufstandes durch die Russen gelangten die Überreste der Legion unter abenteuerlichen Umständen nach Frankreich, wo sie in die polnische Legion eintraten und unter Napoleon 1806 die Bildung des Herzogtums Warschau miterlebten. 1809 fiel Joselewicz als Oberst des polnischen Heeres im Krieg gegen Österreich. Der Herzog von Warschau erlaubte seiner Witwe und ihren Kindern gnädig, sich auch in den Straßen Warschaus niederzulassen, in denen Juden eigentlich nicht wohnen durften. An dieser Ausnahmeregelung wird deutlich, daß wieder einmal Erwartungen der Juden auf Verbesserungen enttäuscht worden waren. Zunächst hatte ihnen die Übernahme des Code Civil im Herzogtum Warschau die Gleichberechtigung verschafft. Nachdem jedoch Napoleon im März 1808 in Frankreich die Emanzipation der Juden für zehn Jahre suspendiert hatte, setzten auch in Warschau die polnischen Gegner der Juden im Oktober desselben Jahres ein entsprechendes Dekret durch. Am 16. März 1809 folgte die Errichtung des Warschauer Judenghettos, das bald anderen Städten als Vorbild diente. Die vornehmeren Stadtteile mußten die Juden – mit Ausnahmen – verlassen. Während ihnen die Gleichberechtigung vorenthalten wurde, legte man ihnen neue Pflichten auf: 1808 wurde die Wehrpflicht für Juden verfügt. Diese Maßnahmen war für gläubige Juden besonders schmerzhaft, weil sie dann nicht mehr ihren religiösen Vorschriften Genüge tun konnten. Viele Führer der Chassidim baten die Regierung um Rücknahme des Gesetzes und boten dafür einen Verzicht auf bürgerliche Rechte und einen hohen finanziellen Tribut an. Da zugleich zahlreiche Juden passiven Widerstand leisteten und es ständig Unannehmlichkeiten gab, wurde in der Tat 1812 den Juden der Wehrdienst erlassen und statt dessen eine hohe Wehrsteuer angeordnet. Seit 1815 kam es dann im russisch beherrschten Territorium anläßlich der Beratungen über eine Verfassung für das neue Königreich Polen wiederum zu Erörterungen der „Judenfrage“. Die Verfassung griff insofern in das Leben der Juden ein, als sie das israelitische Bekenntnis nicht dem christlichen gleichstellte und vorschrieb, daß geistliche und weltliche Obrigkeiten voneinander getrennt sein sollten. Im übrigen klammerte sie ebenfalls weitergehende Aussagen aus. Auf polnischer Seite tauchten die früher vertretenen Richtungen wieder auf. Selbst die Befürworter einer Assimilation und Integration der Juden griffen deren Lebensweise an und argumentierten teilweise mit Stereotypen, die das Bild vom Juden bis in unser Jahrhundert prägten: Sie würden nicht von eigener Hände Arbeit leben, schmarotzen, betrügen und wuchern, die Bauern zum Trinken verführen und sie dann

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wirtschaftlich ruinieren. Von einem „fremden Volk“, das „kein polnisches Blut in sich habe“, wurde gesprochen. Die antijüdischen Anfeindungen fielen vermutlich deshalb so heftig aus, weil die Gegner einer Gleichberechtigung der Juden befürchteten, die zarische Regierung werde diese begünstigen. Der vom Zaren eingesetzte, in der Verfassung nicht vorgesehene Bevollmächtigte für Polen, Nikolaj Nikolaevicˇ Novosil’cev (1761–1836), war Mitglied des „Komitees zur Wohleinrichtung der Juden“ gewesen, das das 1804 erlassene „Statut für die Juden“ im Zarenreich („polozˇ enie dlja evreev“) vorbereitet hatte. Mit diesem war die Gewährung der Emanzipation an die „Verbesserung“ der Juden gebunden worden. Er wollte nun auch in Polen eine dauerhafte Lösung zuwege bringen. So verhinderte er zunächst Verordnungen, die für die Juden ungünstig gewesen wären, und schlug schließlich 1817 ein „Organisches Reglement für die im Königreich Polen lebenden Juden“ vor. Die gebildeten und wohlhabenden Juden sollten danach gleichberechtigt werden, also auch öffentliche Ämter bekleiden und sich politisch entfalten können. Den übrigen wären immerhin die bürgerlichen Rechte zu gewähren. An die Stelle des Kahal sollte ein Direktorat mit einem starken Rabbiner an der Spitze treten. Die Chassidim und andere „Sekten“ wollte Novosil’cev unter Kontrolle bringen. Die jüdische Gemeinde sollte für das Steueraufkommen und das Rekrutenkontingent haften. Weiterhin sah er vor, keine neuen Lizenzen im Schankgewerbe mehr an Juden zu vergeben sowie den Kredit- und Naturalhandel einschließlich des Hausierer wesens auf dem Land zu verbieten. Dem Bevollmächtigten des Zaren, der sich im übrigen durch seine Eingriffe in innerpolnische Belange äußerst unbeliebt gemacht hatte, blieb jedoch der Erfolg versagt. Der polnische Adel war wie das polnische Bürgertum nicht bereit, seine Interessen hintanzustellen. Die Juden waren für beide sozialen Gruppen inzwischen zu ökonomischen Konkurrenten geworden, sie galten auch dem Adel nicht mehr als Vermittler. Der Einfluß konservativer Kräfte in Rußland kam hinzu, um eine judenfreundliche Reform zu verhindern. Innerhalb der jüdischen Gemeinden schwankten die Einstellungen gegenüber den Reformabsichten. Eine Mehrheit aus Orthodoxen und Chassidim wollte weiter so leben, wie sie es gewohnt war, und nahm dafür auch einen Verzicht auf Gleichberechtigung und wirtschaftliche Förderung in Kauf. Eine Minderheit, namentlich in der wohlhabenden Schicht zu finden, war von der Aufklärung, der Haskala, beeinflußt. Diese Maskilim, die „Denkenden“, hatten teilweise die Vorurteile der nichtjüdischen Gesellschaft verinnerlicht und sahen mit Verachtung auf die traditionellen Sitten und Bräuche der Juden herab. Sie wollten die Juden aus ihrer Unmündigkeit befreien, in der sie nach ihrer Meinung vor allem die Chassidim hielten. Deshalb forderten sie eine radikale Bildungsreform und materielle Verbesserungen für die jüdischen Massen sowie eine Abschaffung des Kahal und seine Eingliederung in die polnische Zivilverwaltung, weil die Gemeindestrukturen erstarrt seien. Ende 1815 konnten sie ihre Vorstellungen sogar dem Zaren Alexander I. (1801–1825) vortragen, und in der Folgezeit standen sie in Verbindung mit Novocil’cev. Tiefer als diese unterschiedlichen Auffassungen spaltete die Gemeinden die Auseinandersetzung zwischen den Chassidim und den Misnagdim. Die Konflikte trafen besonders

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scharf in Weißrußland und Litauen aufeinander, namentlich in Wilna, dem „Jerusalem Litauens“. Hier befand sich die Hochburg des gelehrten Rabbinismus, aber auch der Haskala. Deren Anhänger wurden als „Berliner“ beschimpft und von allen frommen Richtungen bekämpft, so daß ihre Resonanz vorerst beschränkt blieb. Waren Orthodoxie und Chassidismus in dieser Frage vereint, so brach sich ihre Feindschaft ansonsten überaus heftig Bahn. Als unumstrittene Autorität des Rabbinismus galt vor der Jahrhundertwende der Wilnaer Gaon, die – geistige – „Majestät“, Elia (1720–1797), der den Chassidismus von Anfang an scharf angriff: In ihm herrsche das Gefühl vor, während es darauf ankomme, die Religion auf das Talmudstudium und die Befolgung der Gesetze zu bauen. Sein Hauptgegner, Schnëur Salman (1748–1813), argumentierte dagegen, daß man dem Gesetz nicht blind folgen dürfe, sondern sich durch das Wort Gott nähern solle. Dabei seien die drei Aspekte der göttlichen Seele – Weisheit, Vernunft und Erkenntnis – zu berücksichtigen. Nach den hebräischen Anfangsbuchstaben dieser drei Begriffe nannte man jene Richtung den ChabadChassidismus. Schnëur Salman reihte sich ein in eine ganze Anzahl von Reformern, die sich von den übersteigerten Kult- und Magie-Tendenzen abwandten, die Rückkehr zur einfachen Lehre anstrebten, zum Volksglauben, bei dem der Zaddik höchstens ein Sachwalter der Gläubigen sein dürfe. Der Gaon bannte die „Ketzer“ mehrfach und lehnte Bitten um eine Disputation mit Schnëur Salman schroff ab. In vielen Gemeinden kam es zu blutigen Zusammenstößen. Als Elia 1797 starb, feierten die Wilnaer Chassidim ein Fest. Daraufhin verschärften sich die Auseinandersetzungen, auch um die Führung des Kahal. Die Chassidim wurden von ihren Gegnern bei den zarischen Behörden als „staatsfeindlich“ denunziert. Für einige von ihnen hatte dies ihre Verhaftung zur Folge. Selbst Schnëur Salman mußte zweimal ins Gefängnis und kam erst nach längeren Untersuchungen wieder frei. Diese Wirren bildeten nicht zuletzt den Anlaß für die Regelung im 1804 erlassenen Statut für die Juden, daß die Chassidim von nun an ihre eigenen Synagogen und Rabbiner haben durften, die Kahal-Verwaltung jedoch erhalten blieb. In Galizien bekamen die Juden früher als in Russisch-Polen aufgrund von gesetzgeberischen Maßnahmen zu spüren, was Toleranz im aufgeklärt-absolutistischen Sinne bedeutete: Sie sollten auf ihre „Eigenart“ verzichten, sich „bessern“ und „nützlich“ machen. Seit 1773 waren Ehen vom österreichischen Statthalter zu genehmigen. Nur ein männlicher Nachkomme durfte heiraten und damit ein „Familiant“ werden. 1785 wurde darüber hinaus die Ehelizenz an einen bestimmten – deutschen – Bildungsstand gebunden. Die Folge war eine Zunahme heimlicher Ehen. Bereits 1776 waren das Schankgewerbe und die Pacht von Landgütern für Juden verboten worden. 1789 erließ Kaiser Joseph II. (1765–1790) ein besonderes Toleranzpatent, das die Kahal-Selbstverwaltung einengte, die wirtschaftlichen Verbote verschärfte, die Annahme eines Familiennamens zur Pflicht machte und die strenge Ehepolitik bestätigte. Aufklärung und Vorbedingungen für eine Emanzipation griffen somit tief in das tägliche Leben der Juden und in ihre traditionelle Kultur ein. Chassidim und Orthodoxe kümmerten sich vielfach zunächst gar nicht um Politik, akzeptierten auch die neuen Grenzen nicht und versuchten, ihre bisherigen Beziehungsnetze

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aufrechtzuerhalten. Wie im russischen Teilungsgebiet Polens kämpften sie auch in Galizien vereint gegen alle aufklärerischen Tendenzen. Auf Vorschlag jüdischer Aufklärer erlegte daraufhin die Regierung 1797 den Gläubigen eine „Lichtzündsteuer“ auf, die sich auf Sabbatund Feiertagskerzen bezog und bis 1848 in Kraft blieb. Dies bedeutete eine starke Belastung gerade der ärmeren Schichten. Höhere Steuern als der Rest der Bevölkerung mußten die Juden ohnehin bezahlen. Auch in die Militärdienstpflicht wurden sie einbezogen, loskaufen konnten sich nur die reicheren. Zahlreiche Juden entzogen sich ihr auf illegale Weise. Viele andere reagierten mit der Flucht ins Ausland. So sank die jüdische Bevölkerung in Galizien nach verschiedenen, allerdings umstrittenen Angaben von 225000 im Jahr 1773 auf 145000 im Jahr 1777. Später stieg sie dann, nicht zuletzt aufgrund des territorialen Zuwachses in der dritten Teilung Polens 1795, wieder an und lag 1803 bei etwa 400 000. Prinzipiell ähnliche Verhältnisse herrschten in der Bukowina, die 1775 von der Türkei an Österreich abgetreten worden war und seitdem zu Galizien gehörte. Die anfangs kleine Zahl der Juden – die Schätzungen schwanken zwischen 1000 und 3000 Personen – begann nun rasch anzusteigen. Wirtschaftlich bedeutete die neue staatliche Gliederung einen Vorteil für die Juden. Sie profitierten jetzt vom wachsenden Handel zwischen Rußland und der Habsburgermonarchie. Vor allem die Grenzstadt Brody wurde zu einem entscheidenden Warenumschlagplatz und einem Zentrum des Judentums in Galizien.

Auf dem Weg zu neuen Selbstverständnissen (1815–1914) So zerstritten die verschiedenen religiösen und geistigen Richtungen im Ostjudentum am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jhs. waren, bei näherem Hinsehen ist doch ein erstaunlicher gemeinsamer Grundzug erkennbar: der Einfluß des neuen Aktivismus, in dem sich messianische Hoffnungen ebenso wie Orientierungssuche in einer Umbruchzeit spiegeln. Unter einer – scheinbar über weite Bereiche recht statischen – Oberfläche entfaltete sich eine Dynamik, die die Lebenswelt der Individuen aus den Fugen brachte. Anzunehmen ist ein radikaler sozioökonomischer Strukturwandel in der ostjüdischen Bevölkerung. Durch die politischen Veränderungen aufgrund der Teilungen Polens und durch eine schwere Agrarkrise zu Beginn des 19. Jhs. wurde die bereits geschwächte monopolartige Stellung der Juden als Mittler zwischen Stadt und Land vollends zerstört. Manche von ihnen verloren durch den Ruin vieler Güter ihre Stellung als Pächter oder Verwalter. Der sinkende Getreidehandel zog die in diesem Sektor beschäftigten Juden in Mitleidenschaft. Vor allem aber wurde der Kampf um Marktanteile beim Branntweinabsatz auf Kosten der Juden ausgetragen. Dem Adel gelang es zunächst, die nichtjüdische bürgerliche Konkurrenz auszuschalten, da er weiterhin – bis 1844 – von der Schanksteuer befreit blieb und 1823 die Brennereien in den Städten, die sich nicht in adligem Privatbesitz befanden, auf staatliche Anordnung geschlossen wurden. Der polnische Staat, der 1822 ein entsprechendes Monopol errichtet hatte, teilte sich nun mit dem Adel die Einkünfte aus der Alkoholproduktion.

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Immer mehr Adlige dachten jetzt daran, ihre Stellung auf diesem Gebiet auszubauen, um einen Ausgleich für ihre insgesamt sinkenden Einnahmen aus der Landwirtschaft zu schaffen. Zu diesem Zweck begannen sie, die Juden aus Branntweinerzeugung und -absatz zu verdrängen. Der Staat erwies sich als Bündnispartner des Adels. Noch im Herzogtum Warschau wurde am 30. Oktober 1812 ein Dekret erlassen, das den Juden vom 1. Juli 1814 an Herstellung und Verkauf alkoholischer Getränke verbot. Adligen wurde es untersagt, einschlägige Geschäfte der Juden in irgendeiner Form zu decken. Lediglich um die erforderlichen technischen Fertigkeiten zu erlernen, durften sich die Brennereibesitzer noch ein Jahr länger jüdische Brennmeister halten. Allerdings mußte ein vollständiges Inkrafttreten des Gesetzes aufgeschoben werden, da die Adligen weder mit der Produktionstechnik ausreichend vertraut waren noch über die notwendigen unternehmerischen Fähigkeiten verfügten. Die Richtung war jedoch vorgegeben, und erhebliche Beeinträchtigungen der ökonomischen Tätigkeit von Juden zeichneten sich ab. Im neuen Königreich Polen nutzte man etwa die Möglichkeiten, die der am 8. Juni 1814 eingeführte besondere Gewerbeschein für Juden bot, um diese aus Schankgewerbe und adliger Wirtschaft zu verdrängen. Seit Mai 1816 durften darüber hinaus jüdische Schankwirte Bauern keine Getränke mehr auf Kredit oder gegen Agrarprodukte geben. Damit waren ihnen bedeutende Einkünfte genommen, denn viele Bauern, die nicht über genügend Bargeld verfügten, hatte die Aussicht auf die kommende Ernte dazu gebracht, ausgiebig zu trinken. Je mehr die polnischen Adligen die Juden als unerwünschte Konkurrenten betrachteten, die die Umstellung der Gutswirtschaft und die vollständige Beherrschung der Dörfer störten, desto heftiger kamen wieder antijüdische Ressentiments zum Vorschein. Genährt von der demographischen Entwicklung – der wesentlich rascheren Zunahme der jüdischen Bevölkerung als der christlichen – malte man immer häufiger ein bedrohliches Bild von den angeblich geldgierigen und in alle Erwerbszweige vordringenden Juden an die Wand. Ihnen dürfe die Gleichberechtigung nicht gewährt werden, zumal sie unaufgeklärt seien – hier ist eine Linie zu den Diskussionen über die „Judenfrage“ im Rahmen der Verfassungsberatungen zu ziehen. Die im Zarenreich bestehenden Gesetze erlaubten es außerdem, Juden durch administrative Maßnahmen vom Land zu vertreiben. Selbst wenn all diese Bestrebungen nicht in vollem Umfang verwirklicht werden konnten, strömten doch mehr und mehr Juden in die Städte. Vor allem zwischen 1819 und 1822 verringerte sich die Zahl der jüdischen Erwerbstätigen im Schankgewerbe drastisch. Hierzu dürfte die Verbreitung einer neuen Brenn-Technologie beigetragen haben, die sich auch ohne Juden handhaben ließ. Um 1830 verblieben, verglichen mit 1813, schätzungsweise nur noch etwa 12% Juden in dieser Branche. Von ihnen lebten lediglich rund 7% auf dem Land. Damit war ein traditionelles Band, das die Juden mit der adligen wie bäuerlichen Gesellschaft verbunden hatte, zerrissen. Der Anteil der Juden in den Dörfern verringerte sich insgesamt in dieser Zeit von etwa einem Drittel auf rund 20%, entsprechend stieg er in den Städten. Insgesamt lebten im Königreich Polen 1816 schätzungsweise 243 000 Juden, 8,7% der Bevölkerung. 1830 waren es vermutlich bereits ungefähr 400000 bzw. 10%. An der städ-

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tischen Einwohnerschaft machten sie jetzt über 35% aus, in den größeren Städten und in den nordöstlichen Woiwodschaften teilweise wesentlich mehr. Die in einigen Städten noch gültigen Privilegien, die es Juden untersagten, sich dort niederzulassen, konnten den Zuzug nicht aufhalten. Einen Ausweg fand man in der Anlage von besonderen Judenvierteln, den Ghettos. Ein Dekret vom Mai 1822 erlaubte nach dem Warschauer Vorbild entsprechende Maßnahmen in allen Städten. In den neuen „Judenrevieren“ drängten sich die verarmten Kleinbürger und rangen um die wenigen Erwerbsstellen. Die Masse der Juden verelendete zusehends und lebte unter unvorstellbaren Wohn- und Arbeitsbedingungen. Auf der anderen Seite gelang es einigen wenigen, zu steinreichen Unternehmern und Bankiers aufzusteigen. Etwa 40 Millionärsfamilien prägten das Bild des jüdischen „Kapitalisten“. Sie waren vielfach untereinander verwandtschaftlich verbunden und – meist von außerhalb Polens zugezogen – überwiegend in Warschau ansässig. Aber auch in anderen Städten gab es im allgemeinen eine kleine Oberschicht. Ihre Sonderstellung verdankte sie in der Regel einer engen Zusammenarbeit mit der Regierung. So verpachtete das Finanzministerium 1822 das staatliche Alkoholmonopol an den litauischen Juden Newachowicz (während gleichzeitig die Juden auf dem Land aus dem Schankgewerbe vertrieben wurden). Berek Szmul (Samuel) Sonnenberg pachtete 1816 das staatliche Salzmonopol. Jüdische „Entrepreneure“ wie Fraenkel, Neumark oder Bergson machten ihre Gewinne durch Lieferungen an die Armeen des Herzogtums Warschau, des Zarenreichs sowie des Königreichs Polen. Allerdings kündigte sich allmählich auch das Hineinwachsen nichtjüdischer Schichten in die Großbourgeoisie an. Die Tätigkeit jüdischer Heereslieferanten bot im übrigen einen guten Ansatzpunkt, Juden für die Not von Soldaten und Offizieren, für die schlechte Ausrüstung der Armee verantwortlich zu machen, sie als Betrüger, Parasiten, Blutsauger und Kriegsgewinnler hinzustellen, um von den Fehlern der Regierung und Militärführung abzulenken. Dies zieht sich wie ein roter Faden durch das 19.Jh. Die jüdischen Unternehmer übten eine neue Art ökonomischer Mittlerfunktion aus, so wie auch die Kleinhändler und Hausierer diese nicht völlig verloren. Aber anders als früher hatten sie im entstehenden Kapitalismus in diesem Bereich kein Monopol mehr. Die Macht des Marktes verstärkte sich, neben jüdische Konkurrenten traten in wachsendem Maße nichtjüdische, und dies bedeutete zugleich, daß die antisemitische Gegnerschaft neue Dimensionen gewann. Damit stellte sich wiederum – wie schon einmal im 18. Jh. – die Frage nach dem Platz der Juden in der Gesellschaft und nach ihrem Selbstverständnis. Nicht nur aus ihren ländlichen Gewerben wurden die Juden während der ersten Hälfte des 19. Jhs. weitgehend „ausgestoßen“. Ein ähnlicher Vorgang vollzog sich in den Städten bei vielen traditionellen Handwerkerberufen, die durch die einsetzende Industrialisierung an Bedeutung einbüßten. Dadurch wurde die jüdische Gemeinschaft von einer nachhaltigen sozioökonomischen „Umschichtung“ erfaßt. Zahlreiche Handwerker mußten ihre Tätigkeit aufgeben. Ein kleiner Teil fand Unterschlupf in einer Fabrik, die meisten trachteten danach, sich als Händler durchzuschlagen. Auf diese Weise verschärfte sich die innerjüdische Konkurrenz weiter. Mehr und mehr Menschen wurden ins Elend gestoßen. Einer wachsenden Zahl blieb kein anderer Ausweg, als von der „Luft“ zu leben, da ihnen nichts

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weiter gehörte: Sie wußten am Morgen nicht, ob sie irgendwoher Nahrungsmittel bekommen würden, sie mußten jede Gelegenheit nutzen, um etwas Geld oder Eßwaren zu verdienen, aber auch versuchen, sich auf die neuen Bedingungen einzustellen und zu „spekulieren“. Diese „Luftmenschen“ – ein Begriff, den vermutlich Mendele Mojcher Sforim (1835– 1917) in seiner 1865 erschienenen Erzählung Der Wunschring in die jiddische Literatur einführte – besaßen anders als die berufsmäßigen Bettler zunächst keinen festen Status in der jüdischen Gesellschaft. Oft konnten sie nur aufgrund der ausgeprägten individuellen und kollektiven jüdischen Wohltätigkeit überleben. Sie verarbeiteten ihr schweres Leben mit Selbstironie und bissigen Witzen, die ihnen einen Hauch scheinbarer Leichtigkeit verliehen. In vielen Städten Osteuropas wuchs im 19. Jh. der Anteil der Juden ohne feste Beschäftigung auf über 50% an. Allein in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre stieg die Zahl derjenigen, die einer Unterstützung bedurften, um fast ein Drittel an. Als für die von Jan Bloch – einem der einflußreichsten Unternehmer des Russischen Reiches, der sich auch nach seiner Konversion zum Christentum für eine Verbesserung der Lage der Juden einsetzte – angeregten Börsendenkschrift in den achtziger Jahren Untersuchungen im Russischen Reich durchgeführt wurden, konnte lediglich bei 44% der jüdischen Haushalte überhaupt die Art des Broterwerbs ermittelt werden. Die traditionelle jüdische Wohltätigkeit war diesem Verarmungsprozeß nicht mehr gewachsen. Der Handel wurde zur wichtigsten Erwerbsquelle, während zu Beginn des Jahrhunderts noch das Handwerk mit weitem Abstand vorne gelegen hatte. Nach der im Russischen Reich 1897 durchgeführten Volkszählung wohnten im Königreich Polen 1,3 Mio. Juden, 14% der Bevölkerung. Auf dem Land siedelten inzwischen nur noch 13,5% der Juden, in den Städten 86,5%. Jeweils rund 40% der erwerbstätigen Juden waren zu dieser Zeit in den beiden großen Beschäftigungsbereichen tätig, in Handel, Banken und Kreditwesen auf der einen Seite und in Handwerk, Industrie und Verkehrswesen auf der anderen. Der wachsende Anteil freier Berufe fiel von der Größenordnung her kaum ins Gewicht, ebensowenig die immer geringer werdenden Möglichkeiten, in der Landwirtschaft oder in anderen Bereichen zu arbeiten. In einigen Handelsbranchen waren Juden besonders stark vertreten: im Getreidehandel, im Pelz- und Lederhandel sowie im Hausierwesen. Selbst in den Alkoholhandel konnten sie vorübergehend noch einmal vordringen. Allerdings ist ein kapitalistischer Konzentrationsprozeß nicht zu übersehen. Den Handel dominierten zunehmend einige Großkaufleute. An der Spitze der erwerbs- und einkommensmäßigen Differenzierung standen die Bankiers. Sie setzten in gewisser Weise die Tradition der großen Geldvermittler für Regierungen und Fürsten fort, indem sie die Gunst der Stunde nutzten, als der Geldverkehr und vor allem die Geldbedürfnisse mit der Entfaltung der Industrialisierung, des Eisenbahnbaus und des Großhandels anstiegen. Zahlenmäßig nur eine kleine Minderheit und hauptsächlich in Warschau konzentriert, gehörten sie zu den Reichsten und Mächtigsten überhaupt. Unterhalb dieser Schicht existierten in den Groß- wie in den Kleinstädten viele Geldwechsler und -verleiher, die sich mehr schlecht als recht durchschlugen.

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In immer größere Schwierigkeiten geriet der „Dorfgeher“, der typische Mittler früherer Zeiten. Das Ausspähen von Marktlücken gelang seltener, die Möglichkeiten zur Finanzierung der Geschäfte wurden geringer. Der Handel mit Erzeugnissen der Konfektionsindustrie oder der jüdischen Handwerker ging stärker auf die Großkaufleute über. Eine Ausnahme von dieser Tendenz bildete der städtische Fertigwarenhandel. Während in Westeuropa gerade Juden die großen Kauf- und Warenhäuser gründeten, ersetzte in Polen nach wie vor die Zusammenballung von hochspezialisierten Kleinhändlern auf Märkten oder in Straßen den Großbetrieb. Die Konkurrenz war scharf, der Verdienst äußerst niedrig. Hier wirkte weiter, was schon früher den jüdischen Händler gegenüber dem nichtjüdischen in eine vorteilhafte Position gebracht hatte: Seine Bedürfnislosigkeit, die entgegen dem verbreiteten Klischee weniger ein Zeichen von Geldgier, sondern eher eine Anpassung an die Gegebenheiten war, ermöglichte es ihm, mit extrem geringen Verdienstspannen auszukommen. Das schmälerte zwar letztlich den Wert von Boykottbewegungen gegen ihn, wie sie im Zeichen wachsender Judenfeindschaft auch in Polen stattfanden, behinderte aber auch eine Regulierung innerjüdischer Konkurrenz. Der Vorzug des jüdischen Kleinhandels lag allerdings nicht nur in den niedrigen Preisen. Seine Dezentralisierung ermöglichte es ihm, sich flexibel den Bedürfnissen der Konsumenten anzupassen und durch Spezialisierung eine größere Auswahl anzubieten. Ein vergleichbarer Differenzierungsprozeß vollzog sich in Handwerk, Industrie und Verkehrswesen. Aufgrund der schwindenden volkswirtschaftlichen Bedeutung der Handwerker und ihres sich verschärfenden Konkurrenzkampfes lebten viele von ihnen unter erbärmlichen Bedingungen. Namentlich gilt dies für die traditionell am häufigsten vertretenen Handwerksberufe, die Schneiderinnen und Schneider sowie die Schuster. Ein Teil der Handwerker arbeitete auf Bestellung, entweder in einem kleinen Geschäft in der Stadt oder durch Reisen in die Dörfer. Eine andere Gruppe bot ihre Erzeugnisse auf dem städtischen oder dörflichen Markt an. Eine dritte hatte ihre Selbständigkeit bereits verloren und arbeitete für einen Verlag, und eine letzte Gruppe fand schließlich eine Anstellung in der expandierenden Industrie, insbesondere in der Textilbranche, die sich in Lodz und Umgebung konzentrierte. Allerdings zeigte sich, daß die jüdischen Arbeiter vorwiegend in nicht oder nur gering mechanisierten Fabriken von Juden beschäftigt wurden. Die deutschen Unternehmer in Lodz etwa holten sich lieber Facharbeiter aus Deutschland. Hier wirkte sich die strenge Beachtung religiöser Vorschriften nachteilig für jüdische Arbeiter aus. Gerade in mechanisierten Betrieben waren die Unternehmer nicht gewillt, die Maschinen am Schabbat abzuschalten. Daran wird es auch gelegen haben, daß Juden zwar im Durchschnitt größere Betriebe besaßen als Nichtjuden, diese aber zugleich weniger mechanisiert waren und folglich eine niedrigere Produktivität aufwiesen. Eine kleine Gruppe jüdischer Unternehmer zählte jedoch wiederum zu den bedeutendsten des Landes. Viele von ihnen führten die Traditionen der großen jüdischen Heereslieferanten aus der ersten Hälfte des 19. Jhs. fort, die den Aufstieg einiger Familien begründet hatten, und standen in enger Verbindung mit dem jüdischen Handels- und Bankkapital. Auf diese Weise konnten sie den gewaltigen Bedarf an Kapital decken, das den meisten

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Juden für ein Vorwärtskommen im Industrialisierungsprozeß fehlte. Stark waren die jüdischen Unternehmer vor allem dort, wo sie an frühere Tätigkeiten anknüpfen konnten: in der Textilindustrie (Poznanski), in der Zuckerindustrie (Epstein, Kronenberg) und im Transportwesen (Poljakov, Bloch). Ebenso hingen vermutlich ihre bahnbrechenden Bemühungen zur Integration verschiedener Unternehmensbranchen in konzernähnlichen Organisationsformen mit ihren historischen Erfahrungen zusammen. Während die Händler überwiegend meinten, sich „irgendwie“ durchschlagen zu können, wählten viele Handwerker oder auch Facharbeiter, die keine Perspektive mehr sahen, die Auswanderung. Zwischen den neunziger Jahren des 19. Jhs. und 1914 emigrierten über eine Million Jüdinnen und Juden aus dem Russischen Reich. Kongreß-Polen scheint dabei unter dem Durchschnitt geblieben zu sein; genaue Zahlen liegen allerdings nicht vor. Galizien verließen über 200 000 Juden. Die Mehrzahl der Auswanderer ging über Österreich und Deutschland, auch über England, in die USA, ein Teil nach Südamerika, ein Teil blieb in den Durchgangsländern, ein zunächst kleiner Teil wählte Palästina. Nicht alle Erwartungen erfüllten sich. Manche kamen wieder nach Osteuropa zurück; nach der Jahrhundertwende sollen es – nach allerdings umstrittenen Berechnungen – zwischen 15% und 20% gewesen sein. Eine zunehmende Judenfeindschaft, die namentlich seit den achtziger Jahren des 19. Jhs. in Verfolgungen und Pogromen gipfelte, beschleunigte den Entschluß zur Auswanderung und verschärfte zugleich die Orientierungskrise. Die sich wandelnden sozioökonomischen Bedingungen, der sich entfaltende Kapitalismus und die Industrialisierung setzten einen scharfen Verdrängungswettbewerb um wirtschaftliche Positionen in Gang, dem sich die Juden in ihrer veränderten, nicht mehr monopolartigen Mittlerrolle geschwächt stellen mußten. Sie wurden zur Zielscheibe der verschiedensten Projektionen, die dazu dienten, sich die Probleme der neuen Welt zu erklären. Ein Teil des Adels und der Oberschicht überhaupt brachte die Juden mit Kapitalismus, Modernisierung, ja Revolution – mit allem Bedrohlichen – in Verbindung. Antisemitismus wurde zu einer gleichzeitig antikapitalistischen wie antisozialistischen Ideologie, die dazu diente, das überkommene System zusammenzuhalten. Die aufstrebende polnische Bourgeoisie betrachtete die Juden darüber hinaus häufig als Fremde, die ihr die besten Plätze versperrten, identifizierte sie – etwa in Lodz – mit den Deutschen und verdächtigte sie der Zusammenarbeit mit der russischen Besatzungsmacht, obwohl es zahlreiche Juden, und gerade auch jüdische Unternehmer, nicht an sichtbaren Bekundungen polnischen Patriotismus fehlen ließen. Die „Judenfrage“ wurde ein Bestandteil der „nationalen Frage“. Dies war zunächst anders gesehen worden. Beim vergeblichen Aufstand von 1830 gegen die russische Herrschaft hatten viele Juden, die Tradition von 1794 weiterführend, mitgekämpft. Insbesondere die demokratische Richtung in der „Großen Emigration“ nach dem Zusammenbruch, namentlich der Historiker Joachim Lelewel (1786–1861), war deshalb auch entschieden für die Rechte der Juden eingetreten. Für den familiär mit dem Frankismus verbundenen Dichter Adam Mickiewicz (1798–1855) verschmolz der jüdische mit dem polnischem Messianismus, der die Geschichte Polens als den Leidensweg des Erlösers

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aller Völker betrachtete. Deshalb verlangte er eine vollständige Gleichberechtigung der Juden bei autonomer Bewahrung ihrer Kultur – eine polnisch-jüdische Synthese, die nicht verwirklicht werden konnte. Am Vorabend des wiederum gescheiterten Aufstandes von 1863 kam es in Warschau zu einer „Verbrüderung“ zwischen Juden und Polen anläßlich der Totenehrung für die Opfer einer antirussischen Demonstration am 27. Februar 1861. Die zarischen und polnischen Behörden versuchten daraufhin, durch Zugeständnisse an die Forderungen der jüdischen Bevölkerung einen Keil in dieses Bündnis zu treiben. Dahinter stand auch die Überlegung, auf diese Weise die Assimilationsbestrebungen innerhalb der Judenheit zu stärken sowie den Aktivitäten jüdischer Unternehmer und Bankiers freie Bahn zu schaffen, um ein kräftiges Wirtschaftsbürgertum heranzubilden. Obwohl sich nur ein kleiner Teil der Juden für die Annäherungsversuche – die ohnehin in den achtziger Jahren wieder abgebrochen wurden – empfänglich zeigte, wiesen nun ihre Gegner auf ihre angebliche nationale Unzuverlässigkeit hin. Anhänger der Konzeption einer „Organischen Arbeit“, die sich dafür aussprachen, nicht durch einen bewaffneten Aufstand, sondern durch wirtschaftliche Erfolge und ein harmonisches Verhältnis aller Gesellschaftsglieder zueinander die nationale Einheit und schließlich auch Unabhängigkeit zu erreichen, hatten zunächst versucht, die Juden mit einzubeziehen. Da sie jedoch die vollständige Assimilation und die Aufgabe traditioneller Kultur voraussetzten, stießen sie bei diesen nur auf geringe Resonanz. Die Enttäuschung führte vielfach zur Übernahme judenfeindlicher Klischees. In der Bevölkerung nährte der wirtschaftliche Erfolg der jüdischen Oberschicht die antijüdische Stimmung. Dies fiel um so leichter, als der jüdische Bankier oder Großhändler in der Regel viel weniger als Person konkret und faßbar war als der Dorfjude, dem der Bauer vertraute oder den er als verlängerten Arm des Gutsbesitzers haßte. In dem schwer zu durchschauenden kapitalistischen Produktions- und Distributionsprozeß konnte man deshalb „die Juden“ als traditionelle „Sündenböcke“ in Krisen für wirtschaftliche Schwierigkeiten oder negative Auswirkungen der Industrialisierung verantwortlich machen und ihnen zugleich die Mitschuld daran geben, daß die polnische Nation noch nicht wieder ihre staatliche Selbständigkeit erringen konnte. Als nach der Ermordung des Zaren Alexander II. (1855–1881) 1881 eine Pogromwelle das Russische Reich erfaßte, zeigte sich auch in Polen, wie leicht sich die durch die Probleme des sozioökonomischen Umbruchs hervorgerufenen Spannungen gewaltsam gegen die Juden entladen konnten. Nach einer Panik während einer Weihnachtsmesse in Warschau, bei der zwanzig Menschen ums Leben kamen, wurde ein Jude beschuldigt, diese ausgelöst zu haben. Daraufhin wüteten drei Tage lang Plünderungszüge in den jüdischen Wohngebieten. Erst dann griff die Polizei ein und stellte die Ordnung wieder her. Nur zum Teil gelang die Selbstverteidigung der Juden. In einem proletarischen Viertel wehrten Polen gemeinsam mit Juden die Plünderer ab. Noch deutlicher wurde der gesellschaftliche Hintergrund bei Unruhen in Lodz 1892. Eine anfangs erfolgreiche Streikbewegung ging in antijüdische Aktionen über, möglicherweise geschürt durch die russischen Behörden, die dadurch um so einfacher Militär zur Niederschlagung des „Aufstandes“ entsenden konnten. An den Ausschreitungen beteiligten sich nicht nur deklassierte Bevölkerungsgruppen, sondern auf Ge-

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rüchte hin kamen auch Bauern nach Lodz, um die Juden für angebliche kirchenfeindliche Handlungen zu strafen. Daß sich darüber hinaus eine Reihe von Arbeitern – nicht zuletzt unter Hinweis auf die jüdischen Kapitalisten – von ihren eigentlichen Zielen ablenken ließ, verdeutlicht, wie sehr die Juden die Rolle eines Katalysators im nicht klar durchschauten Konflikt einnehmen konnten. Die jüdische Gesellschaft selbst blieb nicht unbeeinflußt von den antijüdischen Projektionen. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jhs. wanderten immer mehr Juden – insgesamt wird ihre Zahl auf 250 000 Personen geschätzt – aus Rußland über Litauen nach Polen, weil ihre Existenz zerstört war oder sie im Gefolge der verschärften judenfeindlichen Gesetze des Zarenstaates nach 1881 aus Gebieten außerhalb des „Ansiedlungsrayons“ ausgewiesen wurden. Diese „Litwaken“, wie sie genannt wurden, bekamen die Krise im jüdischen Selbstverständnis zu spüren, als die von ihrer nichtjüdischen Umwelt vielfach diskriminierten und verachteten polnischen Ostjuden ablehnend auf die russischen Ostjuden reagierten und besonders viele Vorurteile auf sie richteten. Sie wurden für „Russen“ statt für „Polen“ gehalten und damit häufig für das Scheitern einer polnisch-jüdischen Annäherung und für die wachsende Judenfeindschaft verantwortlich gemacht. In der zweiten Generation scheint dann aber eine Integration gelungen zu sein. Ein Teil der Juden in Polen reagierte auf die tiefgreifenden Wandlungen und die neuartige Judenfeindschaft mit dem Versuch einer Assimilation oder Akkulturation – einer Angleichung an die nichtjüdische Kultur durch Aufgabe der eigenen oder einer Begegnung mit der anderen Kultur in der Erwartung einer Synthese. Im wesentlichen waren dies Juden, die ökonomisch Erfolg hatten oder von aufklärerischem Gedankengut beeinflußt waren. Reformbestrebungen der religiösen Praxis in der Synagoge wie im Alltagsleben gehören in diesen Zusammenhang. Die Vorstellungen reichten dabei von einem Optimismus, daß auf Dauer eine vollständige Verschmelzung mit der polnischen Gesellschaft möglich sei, über das Ziel einer kulturellen Angleichung, der jedoch eine Beseitigung diskriminierender Faktoren vorangehen müsse, bis zu einer Richtung, die eine Integration anstrebte, aber auf der Bewahrung jüdischer Identität bestand. Die Daten über Muttersprache und Nationalität, nach denen in den Volkszählungen gefragt wurde, machen etwas vom Bewußtsein der Assimilation deutlich. Bei der Warschauer Zählung von 1882 versuchte die von Assimilierten geleitete jüdische Gemeinde, im Interesse ihrer Überzeugung und als Folgerung aus den Weihnachtsausschreitungen, die Juden zu veranlassen, sich als Angehörige der polnischen Nationalität zu erklären. Sie hatte damit Erfolg: Lediglich 2,7% der Einwohnerschaft bezeichneten sich als Angehörige der jüdischen Nationalität. Anders 1897. Hier wurde nach der Muttersprache gefragt. 28,3% der Warschauer gaben Jiddisch an. Das waren 84% der Juden, während 14% von ihnen Polnisch als ihre Muttersprache anführten. Mit aller Vorsicht wird man letzteres als Anzeichen für eine Neigung zur Assimilation werten können. Unter diesen 14% sind darüber hinaus auch jene zu suchen, die sich allmählich von der religiösen Gemeinschaft lösten und sich „weltlichen“ Bewegungen anschlossen. Viele von ihnen fühlten sich, selbst wenn sie sich vom Glauben abwandten, noch als Juden. Daß Muttersprache und Nationalität nicht ohne weiteres zu-

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sammenfielen, zeigen die verbleibenden 2% der Warschauer Juden, die Russisch sprachen: Sie gehörten zu den „Litwaken“, die sich keineswegs als Russen, sondern als Juden betrachteten. In den Großstädten Warschau und Lodz – dort sind die Zahlen ähnlich – waren die Assimilationsbestrebungen stärker als in den kleineren Städten. In ganz Kongreß-Polen bekannten sich 1897 lediglich 3,5% der Juden zu Polnisch als ihrer Muttersprache. Etwas komplizierter gestaltete sich die Lage in Galizien, obwohl die Verhältnisse prinzipiell ähnlich waren wie in Kongreß-Polen. Die jüdische Bevölkerung nahm zwischen 1869 und 1910 von 576 000 auf 873 000 zu und machte damit vor dem Ersten Weltkrieg etwa 12% der gesamten Einwohnerschaft aus; in der Bukowina, die 1849 ein eigenes Kronland geworden war, lebten zu dieser Zeit rund 100 000 Juden, ein Anteil von 13%. Die rechtlichen Bedingungen sahen ein wenig günstiger aus als im Russischen Reich, wenngleich die Beschränkungen von Kultur und Lebensweise, die die Juden „zivilisieren“ sollten, durchaus als drückend empfunden wurden. Die rechtliche Gleichstellung erfolgte 1867. Wirtschaftlich ging es den Juden im Durchschnitt eher schlechter als in Kongreß-Polen. Die Verarmung nahm ungeahnte Ausmaße an. Als Besonderheiten sind ein jüdisches Proletariat in der Erdölindustrie bei Drohobycz sowie eine beachtliche Präsenz von Juden in der Landwirtschaft zu nennen. Im Jahr 1900 lag der Anteil der Juden, der sich in dieser betätigte, bei knapp 15%. In den Dörfern lebten die Juden meist in friedlicher Nachbarschaft mit den nichtjüdischen Bauern. Die Lockerungen in der zweiten Jahrhunderthälfte führten dazu, daß man den jüdischen Schankwirt ebenso wie den Steuerpächter oder den Verwalter eines Gutshofes wieder häufiger antreffen konnte. Damit traten jedoch auch die traditionellen Konfliktmuster erneut zutage, durch zusätzliche Elemente ergänzt. Die Juden als Mittler zwischen Stadt und Land, zwischen Gutsbesitzern und Bauern gerieten nicht nur in zunehmende soziale und ökonomische Konflikte hinein, sondern standen auch bei den sich zuspitzenden nationalen und religiösen Gegensätzen von Polen, Ruthenen und Deutschösterreichern, von Katholiken, Russisch-Orthodoxen und Unierten zwischen allen Fronten. Immer wieder forderte diese Welt mit ihren schwierigen materiellen Verhältnissen und oft als einengend-starr empfundenen Gegebenheiten aber auch zum Ausbruch heraus. Messianische Erlösungshoffnungen fanden hier ebenso ihre Zentren wie die Haskala. Nach 1867 erstarkte die Aufklärungsbewegung, zumal das verhältnismäßig gut ausgebaute Bildungswesen dafür eine günstige Grundlage bot. Ein Teil dieser Juden identifizierte sich dann mit der deutschen Kultur, ein anderer mit der polnischen, ein dritter sah nicht in der Akkulturation, sondern in der Besinnung auf das Nationaljudentum die Zukunft. Zugleich hatte auch der Chassidismus eines seiner Zentren in Galizien und der Bukowina. Die Mehrheit der dortigen Juden zählte sich zu seinen Anhängern und scharte sich um die zahlreichen Zaddik-Dynastien. Seit den dreißiger Jahren versuchte eine Gruppe von Reformern, Chassidismus und Rabbinismus miteinander zu verbinden, um gestärkt in den gemeinsamen Kampf gegen die Maskilim zu gehen. Das Leben in den Schtetln war ganz von Religion und Tradition geprägt. Durch das reiche literarische Erbe ist diese Welt lebendig geblieben. Hinter all diesen dramatischen gesellschaftlichen Bewegungen verbargen sich Millionen

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von Einzelschicksalen. In ihnen vollzogen sich auch eher unmerkliche Veränderungen in den Einstellungen und Verhaltensweisen der Individuen. Deutlich wird dies etwa in der Rolle der Frau. Um in den wirtschaftlichen Wechsellagen überleben zu können, mußte zumindest in weiten Teilen des Judentums weltliches Wissen zur Kenntnis genommen werden. Die Frauen waren hier zunächst überlegen, weil sie infolge der traditionellen Rollenverteilung vielfach schon eine weltliche Bildung und eine größere Praxiserfahrung besaßen. Während die Männer dem Ideal der Frommen nacheiferten, halfen die Frauen im Geschäft oder führten es sogar weitgehend selbständig. Dadurch konnten sie in manchen Fällen eine beherrschende Stellung in der Familie einnehmen. Auch in den ostjüdischen Witzen – einer hochinteressanten Quelle – kommt ihre zumindest gleichwertige oder gleich starke Stellung zum Ausdruck. Als nun mehr und mehr Männer sich weltliches Wissen aneigneten, war ihr Ideal der religiösen Gelehrsamkeit unmittelbar berührt. Sie mußten es aufgeben, wenn sie ihre weltliche Bildung vorantreiben wollten. Anders als die Mehrzahl der Frauen lösten sie sich meist rasch von der überlieferten Religiosität, erklärten die weltliche Bildung zum Zeichen des Fortschritts, ja zwangen – zur eigenen Rechtfertigung, zur Beruhigung des schlechten Gewissens – in manchen Fällen ihre Frauen dazu, ebenfalls ihre religiöse Praktiken einzustellen. Damit ging einher, daß mit der Verbürgerlichung der Geschäftstätigkeit die Frau dort immer mehr in den Hintergrund treten mußte. Sie verlor somit grundlegende Positionen und Funktionen in der Familie und in ihrer Geschlechterrolle. Natürlich galt dies nur begrenzt für die große Masse der armen ostjüdischen Familien, eher für die mittleren und oberen Schichten. Dennoch kann hierin ein weiteres Zeichen für die Krise des Selbstverständnisses im 19. Jh. gesehen werden, das weit über die unmittelbar Betroffenen hinaus registriert wurde. Auch in vielen chassidischen Familien wurde die strenge Frömmigkeit nur noch äußerlich eingehalten, während hinter dieser Fassade die „Zersetzungserscheinungen“ durch die Anforderungen der Lebensweise voranschritten. Einen besonders drastischen Hinweis geben Prostitution und „Mädchenhandel“. In manchen Fällen bedienten sich die Zuhälter und Mädchenhändler der Formen traditioneller Kultur, um an ihr Ziel zu gelangen: Sie trugen einem Vater, der sich oft noch in materieller Not befand, über einen Heiratsvermittler, den Schadchen, ihren Ehewunsch vor und ließen sich auch nach religiösem Ritus – aber wohlweislich nicht zivilrechtlich – trauen. War die junge Frau dann erst einmal aus dem Elternhaus und der jeweiligen Umgebung entfernt, gab es für sie ein böses Erwachen. Schon 1865 prangerte Mendele Mojcher Sforim in seinem bereits erwähnten Wunschring, leicht verschlüsselt, ein derartiges Verhalten an. Der Mädchenhandel wurde vor allem in Galizien – mit Verbindungen namentlich nach Südamerika – bekannt und von Bertha Pappenheim (1859–1936) seit Beginn des 20. Jhs. offensiv in die Öffentlichkeit getragen, um antisemitischen Ausfällen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Bertha Pappenheim sah die Wurzeln des Elends in den sozialen Bedingungen, in der Verelendung, aber auch in der minderwertigen Stellung der Frau im Judentum, die jetzt angesichts der nachlassenden Bindungskräfte von Religion und traditioneller Kultur besonders nachteilig hervortrete. Ein neues Selbstbewußtsein sei vonnöten, dem Zionismus könne hier eine wichtige Aufgabe zufallen.

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Ein Teil der Frauen reagierte auf diese Neudefinition ihrer Rolle, indem sie aus den Fesseln dieser Rolle ausbrachen und sich neue Handlungsspielräume schufen. In der zweiten Hälfte des 19. Jhs. mehren sich die Quellen, daß Mädchen aus streng religiösem Haus wie aus Familien, die einen Übergang wie den eben geschilderten mitmachten, sich nicht nur ihre Partner selbst auswählten, sondern sogar ihre Eltern verließen, um zu studieren, um sich ihre Emanzipation anderswo zu suchen. Viele gingen in sozialistische Gruppen, wie ein Blick auf die revolutionäre Bewegung zeigt. Für die Frauen der Unterschicht bildete die Lohnarbeit einen gewissen Ausweg, um unabhängig sein zu können. Oft war dies jedoch mit Verelendung verbunden, zumal es zu wenig Stellen gab. Bei den „verbürgerlichten“ jüdischen Familien fällt auf, daß die Quellen in wachsendem Maße von Unpäßlichkeiten, Krankheiten, seelischen Empfindlichkeiten sprechen. In zahlreichen autobiographischen Erinnerungen und literarischen Verarbeitungen wird geschildert, wie es bei vielen Frauen als vornehm, ja als Statussymbol galt, Medikamente einzunehmen und in die berühmten Heilbäder zu reisen. Das Kränkeln und – wenn man es sich leisten konnte – Zur-Kur-Fahren wurde, in Anlehnung an das Verhalten nichtjüdischer bürgerlicher Frauen, geradezu Mode: ein Zeichen, daß die Frauen eine neue Rolle, die sie ausfüllte, nicht gefunden hatten, daß sie nach Zuneigung und Aufmerksamkeit suchten, nachdem die Männer in ihre neue dominante Rolle hineingewachsen waren, die sie stärker als vorher von den Frauen trennte. Eine dritte Strategie richtete sich auf die Armenpflege, die öffentliche Wohltätigkeit als Ersatz für den Funktionsverlust, wiederum ähnlich wie bei den nichtjüdischen bürgerlichen Frauen. Diese Sozialfürsorge ging über die traditionelle jüdische Wohltätigkeit hinaus, die alle Juden verpflichtete, ärmere und benachteiligte Menschen zu unterstützen – privat etwa durch Verköstigung oder organisiert durch Vereine und Gemeinschaften, die Chewrot. Jetzt sollte die Hilfe zur Selbsthilfe anregen, „zur Arbeit erziehen“ und Bildung vermitteln. Neben die Bereiche, die sich auf die Behebung unmittelbarer Not richteten, traten nun Schulen, Weiterbildungskurse, vor allem in technischen Fertigkeiten, aber auch zur Betätigung in der Landwirtschaft, und überhaupt berufsorientierte Vereinigungen, Kreditbeschaffungsgesellschaften und nicht zuletzt kulturelle Organisationen. Dabei übernahmen viele der neuen Chewrot das bürgerliche Gedankengut der nichtjüdischen Umgebung und verbanden die Wohltätigkeit mit einem Leistungsanspruch: Man mußte sich durch Arbeit nützlich machen und schließlich auch Erfolge vorweisen, sonst verlor man die Berechtigung auf Unterstützung. Damit wandelten sich die traditionellen jüdischen Vorstellungen von Solidarität. Konflikte blieben nicht aus. Berichte veranschaulichen, daß in vielen Fällen die traditionellen Gemeindestrukturen erstarrt waren und eine Oligarchie zum eigenen Vorteil schaltete und waltete und daß dann oft erstaunlicherweise nicht von Reformkräften, sondern von den Chassidim der Anstoß zur Erneuerung ausging. Als Gegengewicht zu den bürgerlichen Gesellschaften gründeten sich Chewrot unter den armen Juden, vor allem in den Industriebezirken, in denen unter dem Einfluß sozialistischen Gedankengutes die Solidarität in einem neuen Sinn großgeschrieben wurde. Später gingen häufig Gewerkschaften aus ihnen hervor. Hervorzuheben ist, daß trotz des bürgerlichen Leistungsbegriffs und der

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inneren Streitigkeiten die soziale Verpflichtung nach wie vor als gemeinsame Aufgabe aller Juden verstanden wurde. Ein anderes Konfliktfeld bildete das Schulwesen, an dem die Veränderung jüdischer Lebenswelten aufgrund der radikalen sozioökonomischen Prozesse ebenso deutlich wird wie die Beharrungskraft der traditionellen Lebenswelt. Seit 1885 mußten auch in Polen die Lehrer der Chederschulen eine Konzession beantragen. Die damit verbundenen Bedingungen konnten sich viele dieser armen Melamdim nicht leisten, und sie führten ihre Schulen illegal weiter. Da ihr Schulgeld niedriger war als das in den konzessionierten Chadarim, hatten sie mehr Schüler. Es kam zu harten Konkurrenzkämpfen, in denen die konzessionierten Lehrer auch nicht vor einer Einschaltung der zarischen Behörden und vor Denunziationen zurückschreckten. Allerdings blieben viele Schulen unentdeckt, weil die Bevölkerung die Lehrer nicht verriet. Die zarische Verwaltung war hilflos. Letztlich scheiterten – jedenfalls bis zum Beginn des 20. Jhs. – alle Versuche der Behörden und der reformorientierten, assimilierten Juden, Schulen zum Erfolg zu verhelfen, die entsprechend den staatlichen Lehrplänen unterrichteten. In Warschau gab es z. B. 1892 fünfzehn öffentliche jüdische Schulen mit sage und schreibe 826 Schülerinnen und Schülern, hingegen 529 Chadarim mit 26 186 Kindern. Nach amtlichen Angaben hatten im Jahr 1900 in ganz Russisch-Polen noch 85% der jüdischen Schüler einen Cheder besucht. Erst allmählich begann sich dieses Verhältnis zu verändern. In Galizien, wo andere Rahmenbedingungen herrschten, wuchs der Anteil jüdischer Schüler in staatlichen oder staatlich anerkannten Schulen wesentlich schneller. Das Leben innerhalb der jüdischen Gemeinschaften war somit keineswegs eine Idylle. Konflikte, Streit, Neid, Haß und Gewalt gab es auch hier. Aber zugleich wird offenbar, daß es noch starke – ja vielleicht sogar: wieder neu erstarkte – Bande der Gemeinsamkeit und Zusammengehörigkeit gab, allen Richtungsunterschieden zum Trotz. Gegenüber der zarischen Bürokratie gelang es, die eigenen Lebensformen, zu denen der traditionelle Cheder gehörte, zu bewahren und den Verfolgungen und Diskriminierungen zu widerstehen. Dies galt weit über den schulischen oder wohltätigen Bereich hinaus. 1822 waren für Polen der Kahal als Gemeindeorganisation ebenso wie die Chewrot abgeschafft worden. Als einziges Vertretungsorgan erkannte der Staat die Synagogalaufsicht an. Später wurde auch die jüdische Tracht im Alltag – außer für religiöse Zwecke – verboten. Wiederum konnten all diese Bestimmungen letztlich nicht durchgesetzt werden, obwohl es in Einzelfällen zu schlimmen Strafen für Juden kam. Zu Beginn des 20. Jhs. arbeiteten nach wie vor illegale autonome jüdische Organisationen – mit stillschweigender Duldung der Behörden, aber auch gegen sie. Die meisten Juden lebten weiterhin eigenständig und entwickelten ihre eigenen internen Rechtsvorstellungen. Dieser unter großen Schwierigkeiten verteidigte hohe Grad an Autonomie und Selbstbehauptung trug wesentlich zu der Solidarität und dem Selbstbewußtsein bei, die – bei allen Problemen und Streitigkeiten – die jüdische Lebenswelt in Osteuropa bis in das 20. Jahrhundert hinein auszeichneten. Bei dieser Selbstbehauptung machten sich auch der Einfluß der Haskala sowie die Auseinandersetzungen zwischen ihren Vertretern und den Anhängern streng religiöser Rich-

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tungen bemerkbar. Anfangs hatten die Aufklärer kaum Anklang gefunden. Der traditionellen Lebenswelt der Ostjuden waren sie fremd geblieben, zumal sie mit ihren in Hebräisch verfaßten Werken die meisten Juden überhaupt nicht erreichen konnten. Allmählich war ein Gesinnungswandel spürbar geworden. Die 1826 in Warschau gegründete Rabbinerschule sowie die in Wilna und Zˇ itomir 1847 eingerichteten Rabbinerseminare übten als eine Art Ersatzgymnasium und Gegengewicht zu den Jeschiwot eine gewisse Wirkung aus. Eine neue Generation jüdischer Intellektueller erkannte um die Mitte des 19. Jhs., daß Aufklärung und Emanzipation nicht zwangsweise „von oben“ oder „von außen“ kommen dürften, sondern von der historisch-kulturellen Identität des Volkes auszugehen hätten. Dazu gehörte, daß man jetzt jiddisch schrieb. Das Aufblühen einer jiddischen Literatur seit der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts war eine Folge dieser Entwicklung. Ebenso drückte sie sich in Sammlungen und Forschungen zur jüdischen Volkskultur, zu Kleidung, Gegenständen des täglichen Bedarfs, Bräuchen, Liedern und Klezmer-Melodien, aus. Das Ziel, die Juden an die biblisch-hebräische Kultur wie an die jeweilige Landeskultur heranzuführen, also eine „doppelte Akkulturation“ zu erreichen, war zwar nicht aufgegeben worden, hatte aber einen anderen Stellenwert erhalten. Die neuen Aufklärer stammten überwiegend aus ärmeren Schichten und hatten die Auseinandersetzungen zwischen Chassidim, Misnagdim und Maskilim ebenso erlebt wie die Konflikte, die die Militärdienstpflicht für Juden und andere verschärfte Bestimmungen hervorriefen. Sie wußten, daß sie selbst Außenseiter der Gesellschaft waren, denen sich kaum Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs boten. Anfänglich konnte sich die neue Aufklärungsbewegung auch in mehreren polnischen Städten entfalten. Nach dem Scheitern des Aufstandes von 1863 und vollends mit dem Einsetzen neuer diskriminierender Bestimmungen nach 1881 wurde sie im Russischen Reich zunehmend behindert. Lediglich in den österreichischen Gebieten konnte sie weiterhin einen Aufschwung verzeichnen. Insgesamt ging sie in die verschiedenen nationaljüdischen, zionistischen, liberalen und sozialistisch-revolutionären Gruppierungen im Judentum über, die eines einte: das Verständnis einer kulturellen Zusammengehörigkeit, einer besonderen ostjüdischen Nationalität. Viele Juden schlossen sich den ersten sozialistischen Gruppierungen an. Als sich allerdings herausstellte, daß in ihnen oft eine verächtliche Einstellung gegenüber der jüdischen Kultur herrschte und die Pogrome nach 1881 teilweise sogar als spontane Erhebung der Massen gegen jüdische Ausbeuter begrüßt wurden, begann sich ein Drang nach größerer jüdischer Eigenständigkeit bemerkbar zu machen. Diejenigen, die sich bisher der polnischen Kultur genähert hatten, bemühten sich, dies in nationale Organisationen wie die 1892 gegründete „Polnische Sozialistische Partei“ (PPS) einzubringen. Aber auch hier gab es bald Unstimmigkeiten wegen mangelnder Berücksichtigung der „jüdischen Frage“ und wegen antisemitischer Tendenzen bei Teilen der Partei. Attraktiver waren deshalb internationalistische Gruppen, die sich – fußend auf der Marxschen Theorie – von der Weltrevolution nicht nur eine Aufhebung der Klassengegensätze, sondern auch eine Beendigung der nationalen Konflikte versprachen. Nach wichtigen Vorläufern wurde am bedeutendsten die „Sozialdemokratie im Königreich Polen und Litauen“ (SDKPiL, 1893/1900). Namen

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wie Rosa Luxemburg (1871–1919) und Jan Tyszka (Leon Jogiches, 1867–1919) deuten auf die Wirkung hin, die Juden hier ausgeübt haben. Deren Einfluß verstärkte sich durch eigenständige jüdische Arbeitergenossenschaften und -verbände, die seit den achtziger Jahren in Kongreß-Polen, vor allem Warschau, und in Galizien entstanden. 1897 wurde schließlich in Wilna der „Allgemeine Jüdische Arbeiterbund in Litauen, Polen und Rußland“ – kurz „Bund“ – gegründet. Wilna war zu einem Zentrum des jüdischen Sozialismus geworden: Hier wirkte die Tradition des Rabbinerseminars, das die Haskala verbreitet und spätere Sozialisten wie Aron Samuel Liberman (1845– 1880) oder Aron Zundelevicˇ zu seinen Schülern gezählt hatte, ebenso wie die Konzentration eines jüdischen Proletariates. Während man sich zunächst im Sinne der Aufklärung und Assimilation in Hebräisch oder Russisch an die Arbeiter wandte, brachte Arkadij (Aron) Kremers (1865–1935) Schrift von 1893/94 Über die Agitation die Wende: Man müsse den Alltag kennen und an die praktischen Erfahrungen der Menschen anknüpfen. Deshalb sei es notwendig, sich in Jiddisch zu verständigen. Auf diese Weise, nicht zuletzt über eine jiddische Presse, entfaltete sich der „Bund“ zu einer einzigartigen Massenorganisation, deren vielfältige Ausstrahlung auf die polnische und russische Arbeiterbewegung gar nicht überschätzt werden kann. Die Verankerung im jüdischen Proletariat erlaubte es, den Charakter als Massenpartei zu erhalten, obwohl die Führung meistens in der Illegalität tätig sein mußte. Darüber hinaus trug die Arbeit des „Bundes“ wesentlich zur Herausbildung eines neuen jüdischen Selbstverständnisses in Osteuropa bei. Die Entscheidung für das Jiddische fiel nicht nur aus taktischen Erwägungen. Bei den Bundisten – es seien noch Vladimir Medem (1879–1923), Michel Goldman (Mark Liber, 1880–1937), Wiktor Alter (1890–1943) und Henryk Erlich (Wolf Hersch, 1882–1942) genannt – verband sich das sozialistisch-internationalistische Denken mit der Überzeugung, daß die kulturelle Eigenständigkeit des jüdischen Volkes berücksichtigt werden müsse und deshalb vorerst auch eine kulturelle, „nichtterritoriale Autonomie“ für die Juden unumgänglich sei. So forderte der Vierte Kongreß des „Bundes“ 1901 in Białystok, das Russische Reich in eine Föderation von autonomen, nicht an ein Territorium gebundenen Nationalitäten umzuwandeln. In dieser personalen Zusammengehörigkeit erblickten die Bundisten eine Möglichkeit, ohne Verwischung kultureller Unterschiede den Nationalismus zu überwinden, der auf die Schaffung eines eigenen Territoriums unter Ausgrenzung anderer Nationalitäten abziele. Diese Vorstellungen fanden im jüdischen Proletariat, für das oft die Erfahrung antisemitischer Einstellungen unter nichtjüdischen Arbeitern prägend wirkte, wie unter Intellektuellen zahlreiche Anhänger. Es eröffnete sich die Möglichkeit, bei Bewahrung des Judentums zusammen mit anderen Arbeitern aktiv zu werden, Trennlinien zu überschreiten, um in der zukünftigen Gesellschaft nationale Grenzen ganz zu beseitigen. Wie stark die Juden in der Arbeiterbewegung tätig waren, zeigte sich auch daran, daß sie bei den Barrikadenkämpfen in Lodz während der Revolution von 1905 die meisten Opfer zu beklagen hatten. Über die Anerkennung einer organisatorischen Autonomie kam es allerdings zu Konflikten mit der russischen Sozialdemokratie, der sich der „Bund“ angeschlossen hatte. 1903 führten diese Konflikte zu einem vorübergehenden Bruch.

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Eine Alternative zur sozialistischen Orientierung bildete der Zionismus. Er war mehr als eine nationalistische Antwort auf die nationalistische Herausforderung der nichtjüdischen Umwelt. Seine Wurzel liegt, abgesehen von der jahrhundertealten Sehnsucht nach Zion, nach der Rückführung in das Land Israel, in der „aktivistischen Wende“ gegen Ende des 18. Jhs. Immer mehr Juden wollten dazu beitragen, die Erlösung aus eigener Kraft herbeizuführen. Vertreter eines religiösen Zionismus arbeiteten daran, die Einheit des jüdischen Volkes gegen Glaubensverfall, Emanzipation und Assimilation abzuschirmen, und erhofften Gottes Hilfe, wenn die Juden selbst die Rückkehr nach Israel einleiteten. Eine entsprechende Organisation – „Misrachi“ – bildete sich 1902 in Wilna. Zugleich wurde aber auch die Grundlage für den religiösen Antizionismus geschaffen: Eine vorzeitige Staatsbildung durch eine weltliche Bewegung wie den Zionismus sei Gotteslästerung. So sollten später Vertreter der Orthodoxie wie chassidischer Richtungen argumentieren. Sie schlossen sich 1912 in Kattowitz zur „Agudas Jisroel“ (Vereinigung Israels) zusammen. Eine andere Richtung des Zionismus entstand aus der Haskala. Das Scheitern der Erwartungen, die Aufklärung werde sich mit der Emanzipation und der Integration der Juden in die Gesellschaft verbinden, führte bei vielen Maskilim zu einer Rückbesinnung auf das Judentum und zu der Überzeugung, daß eine grundsätzliche Lösung der Probleme nur außerhalb der Diaspora gesucht werden könne. Einen frühen Niederschlag fand die Idee einer Staatsbildung in Palästina in dem 1852 veröffentlichten Roman Abraham Mapus (1807– 1867) Ahabat zion (Zionsliebe). Der sich immer heftiger äußernde Antisemitismus und schließlich die Pogrome im Russischen Reich gaben den Anstoß, den Ideen und Plänen auch Taten folgen zu lassen. Seit 1881 bildeten sich kleine Gruppen von „Chobebe Zion“ (Zionsliebenden), die sich lose zu der Bewegung „Chibbat Zion“ (Zionsliebe) zusammenschlossen. In ihr spielte Leon (Jehuda Lejb) Pinsker (1821–1891) eine führende Rolle, der den Wunsch nach Autoemancipation in seiner gleichnamigen Schrift 1882 formulierte. Die Chibbat-Zion-Bewegung bemühte sich über mehrere Konferenzen – die erste fand 1884 in Kattowitz statt –, eine dauerhafte Organisation zu schaffen, stieß jedoch bald auf Schwierigkeiten. Religiöse und weltliche Mitglieder zerstritten sich. Die Erste „Alija“, der „Aufstieg“ nach Zion, kam nur langsam voran, die Siedlungen in Palästina gerieten bald in eine schwere Krise. Der von Achad Haam („Einer aus dem Volke“, eigentlich Ascher Ginzberg) begründete „Kulturzionismus“ plädierte für ein geistiges Zentrum des Judentums in Palästina. Vor allem unter Berufung auf die ostjüdischen Wurzeln betonte diese Richtung die „Jüdischkeit“ und verband mit der Besinnung auf die eigene Kultur die Anerkennung der anderen. Unter dem Eindruck seiner Begegnung mit der ostjüdischen Kultur rief Nathan Birnbaum (1864–1937) dazu auf, ein eigenes jüdisches Selbstbewußtsein zu finden, gab ab 1885 die Zeitung Selbst-Emancipation heraus und prägte 1890 den Begriff „Zionismus“, um das Ziel einer neuen Einheit des jüdischen Volkes zu bestimmen. Seine Versuche, die verschiedenen Strömungen zusammenzufassen, kamen jedoch 1894 nicht über eine Vorkonferenz hinaus. So waren die Anläufe aus Osteuropa, eine nationale Bewegung zu formieren, ins Stocken geraten, aber es war hier doch der Boden für die neue Idee bereitet, als mit Theo-

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dor Herzls (1860–1904) 1896 veröffentlichter Schrift Der Judenstaat und dem Ersten Zionistenkongreß 1897 in Basel der Durchbruch erzielt wurde. Auch in Polen nahm nun die zionistische Bewegung einen Aufschwung. Wichtige Sprecher waren zunächst Israel Isidor Jasinowski (1842–1917), Israel Jelski (1865–1927) und Nahum Sokołow (1859–1936). Von Anfang an stand ein Grundzug im Mittelpunkt, der zum wesentlichen Kennzeichen des osteuropäischen Zionismus werden sollte: die Vereinigung von Nationaljudentum und Patriotismus gegenüber dem eigenen Land. Dies schloß die „Gegenwartsarbeit“ ein, mit der die Verhältnisse verbessert und die Anerkennung der Juden als autonome nationale Minderheit erreicht werden sollte. Daraus folgte eine kritische Haltung gegenüber der Politik des Kreises um Herzl, wie sie schon an der ersten allrussischen zionistischen Konferenz in Warschau vom 19. bis 22. August 1898 sichtbar wurde. Hinsichtlich der Herausgabe von Literatur und Zeitschriften erfolgte eine Zusammenarbeit mit galizischen Zionisten, die weniger Einschränkungen seitens des Staates zu berücksichtigen hatten. Einen Markstein bildete die Gründung der polnischsprachigen Wochenzeitung Wschod im Herbst 1900, die in Lemberg gedruckt wurde, deren Redaktionsteam jedoch in Warschau saß. Eine Erlaubnis zur Verbreitung der Zeitung im Russischen Reich konnte erreicht werden. Damit eröffnete sich ein neues Feld, assimilierte Juden ebenso wie nichtjüdische Kreise in Kongreß-Polen intensiver anzusprechen. Allerdings blieb die Anhängerschaft zunächst begrenzt. Die Assimilierten fürchteten, daß die zionistische Agitation die jüdische Absonderung von der polnischen Gesellschaft verstärken werde. Ebensowenig gelang letztlich ein durchschlagender Erfolg bei den Chassidim und Orthodoxen. Nicht zufällig fielen die Gründungen der zionistischen Organisation und des „Bundes“ in dasselbe Jahr. Beide Orientierungen entsprangen der Krise jüdischen Selbstverständnisses im 19. Jh., beide zogen besonders radikale Folgerungen aus der Notwendigkeit, neue Antworten auf die Herausforderungen der Zeit zu suchen, und aus der Überzeugung, daß dies nur durch eine aktive Beteiligung an den Bestrebungen geschehen könne, eine Verbesserung der Verhältnisse oder gar eine Erlösung zu erreichen. Sozialismus wie Zionismus antworteten darauf, daß der Messias ausblieb, aber die „Judennot“ dringend der Abhilfe bedurfte, sie antworteten auf Säkularisierung und Toleranz, auf Emanzipation und Liberalismus, auf Nationalismus und Antisemitismus, auf Industrialisierung und Verarmung, auf den Wandel der Lebenswelten. Beide fußten auf der Tradition im Judentum, griffen Elemente des Messianismus auf, führten aber auch viel Neues in die jüdische Geschichte ein. Der gemeinsame Ausgangspunkt ermöglichte, trotz aller Unterschiede in den Zielen und Wegen, die Zusammenarbeit beider extremer Alternativen in bestimmten Fragen. Anknüpfungspunkte gab es vor allem zwischen dem „Bund“ und dem sozialistischen Zionismus. Seit 1901 formierten sich in Osteuropa die „Poale Zion“ (Arbeiter Zions); 1906 erfolgte die Parteigründung. Ihr wichtigster Theoretiker wurde der Marxist Ber Borochov (1881–1917). Nicht auf Palästina als Zielland fixiert waren die gemäßigten Zionisten-Sozialisten unter Führung von Nachman Syrkin (1868–1924). Am wenigsten von marxistisch-sozialdemokratischem Gedankengut, sondern eher von den russischen Sozialrevolutionären beeinflußt war die ebenfalls 1906 gegründete „Jüdische Sozialistische Arbeiterpartei“. Sie verlangte eine

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Lösung der „nationalen Frage“ in der Diaspora durch eine territoriale Autonomie und wollte die Selbstverwaltungseinrichtungen erneuern – vom Kahal bis zum jüdischen Reichstag, einem Sejm, weshalb sie auch „Sejmisten“ genannt wurden. Alle sozialistischen Zionisten waren gewiß heftige Konkurrenten des „Bund“; die Kräfteverhältnisse entwickelten sich regional sehr unterschiedlich. Aber immer wieder gab es Bündnisse in konkreten Fragen, die die Verbesserung der Lage des jüdischen Proletariats zum Gegenstand hatten. Gegen den Widerstand orthodoxer Juden, die nichts von einer Einmischung in die Politik hielten, beteiligten sich zionistische und sozialistische Gruppierungen an der Revolution von 1905. In ihrem Verlauf entstand eine Art Dachorganisation verschiedener, meist liberaler Richtungen – vom „Bund“ boykottiert – im „Verband zur Erreichung der Vollberechtigung des jüdischen Volkes in Rußland“. Zunächst ging es um die Durchsetzung des Wahlrechtes für Juden, aber allmählich traten mehr und mehr Forderungen nach nationaler Autonomie und einer alljüdischen Nationalversammlung – nach dem Vorbild des Waad – in den Vordergrund. Obwohl der Verband die nationalen Ziele der Polen unterstützte, gaben die polnischen Nationaldemokraten die Parole aus: „Polen in Gefahr! Der Jude kommt!“ Als bei den Wahlen zur russischen Reichsduma 1912 in Warschau mit Hilfe der Juden ein sozialistischer Kandidat gewählt und in Lodz ein Jude die Mehrheit erhielt, eskalierten die Gegensätze. Die Nationaldemokraten organisierten einen Wirtschaftsboykott gegen die Juden und manifestierten damit deren Ausgrenzung aus ihrem Verständnis von nationaler Einheit. Zu dieser Zeit hatte sich der „Verband“ schon längst – nämlich nach der Dumawahl von 1906 – wieder aufgesplittert. Viele Mitglieder arbeiteten in den – nicht speziell jüdischen – Parteien mit. Immerhin verstärkte sich das Bewußtsein gemeinsamer politischer Interessen aller Juden. Die Zionisten wurden erheblich von den programmatischen Vorstellungen des „Verbandes“ beeinflußt. Einer seiner aktivsten Politiker, der Historiker Simon Dubnow (1860–1941), gründete 1906 die „Jüdische Volkspartei“, die sich 1916 noch einmal gesondert für Polen formierte. Sie äußerte am deutlichsten den Wunsch nach nationaler Autonomie, nach Anerkennung der Juden als nationaler Minderheit in dem Land, in dem sie leben wollten. Dubnow hatte seit den neunziger Jahren des 19. Jhs. die Auffassung vertreten, daß die Juden auch im Exil eine kulturell-historische Nation seien und deshalb hier die Rechte eines Volkes beanspruchen könnten. Insgesamt war eine politische Mobilisierung zahlreicher Juden erreicht worden – selbst wenn viele Chassidim nicht zur Wahl gingen, weil sie dies mit ihrer gläubigen Lebensweise nicht vereinbaren konnten. Eine offensiv auftretende Bewegung hatte die angemessenere Antwort auf die vorhandenen gesellschaftlichen Verhältnisse gegeben als die traditionellen Bittgänge der Schtadtlanin oder von Deputationen. Ein 1912 gebildetes „Politisches Büro“ hielt die Verbindung zu den jüdischen Duma-Abgeordneten und erwies sich dabei als recht wirksam. Das ihm unterstellte Informationsbüro sammelte Unterlagen über die Lage der Juden im Russischen Reich. Dies wurde gerade im Ersten Weltkrieg äußerst wichtig, als es zu zahlreichen Ausschreitungen gegen Juden kam und sich eine antijüdische Stimmung

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breit machte. Nicht zuletzt gestützt auf jene Nachrichten, konnten Duma-Abgeordnete bei den Behörden vorstellig werden oder Anfragen an den Ministerrat richten, um wenigstens teilweise für Abhilfe zu sorgen. In Galizien ließen sich grundsätzlich ähnliche Tendenzen beobachten, die aufgrund der unterschiedlichen politischen Zustände aber teilweise andere Formen annahmen. Zum wichtigsten Theoretiker des jüdischen Nationalismus wurde hier in einer ersten Phase der Schriftsteller und Bildhauer Alfred Nossig (1864–1943) aus Lemberg, das neben Krakau, Brody und Tarnopol das Zentrum der jüdischen Aufklärung und zudem ein Ausgangspunkt für die Bewegung zur Renaissance der jüdischen Kunst war. Er hatte ursprünglich eine Akkulturation an die polnische Gesellschaft angestrebt und noch zu Beginn der achtziger Jahre Polen als das wiedergeborene Israel angepriesen. Enttäuscht von wachsenden antisemitischen Tendenzen, wandte er sich dann aber dem Nationaljudentum und dem Ziel einer jüdischen Eigenstaatlichkeit in Palästina zu. 1883 hatte sich in Lemberg die erste nationaljüdische Organisation gegründet, auf die bald weitere Gruppierungen folgten. Die vorherrschende Meinung sprach sich für eine Übersiedlung der ärmeren und gefährdeten Juden als kolonisierende Bauern nach Palästina und für eine Pflege des nationalen Daseins in Galizien selbst aus. Auf dem Ersten Zionistenkongreß 1897 in Basel berichteten Abraham Salz (1864–1941) aus Tarnów, der auch zum Zweiten Vizepräsidenten gewählt wurde, über die Lage der Juden in Galizien und Mayer Ebner (1872–1955) aus Czernowitz über die Bukowina. Zum Konflikt mit westjüdisch geprägten Zionisten und Herzl kam es über die Arbeit in der Diaspora und über die Kolonisationstätigkeit der Galizier in Palästina. Auseinandersetzungen gab es aber auch mit den orthodoxen und mit den assimilationswilligen Juden in Galizien, bei denen die polenfreundliche Richtung allmählich überwog. Sie befürchteten, daß durch die politischen Aktivitäten der Zionisten – auch in den Kultusgemeinden – ihre Positionen gefährdet und die Juden noch stärker in den Nationalitätenkampf Galiziens hineingezogen würden. Anfang der neunziger Jahre wurde die „Jüdisch-Nationale Partei“ gegründet, um eigenständig in Galizien auftreten zu können. Die vor allem in Lemberg konzentrierten Nationaljuden hielten die zionistische Bewegung in Galizien für am stärksten und sahen sich von den Wiener Zionisten nicht genügend vertreten. Diese wollten aber eine organisatorische Zersplitterung nicht hinnehmen und zogen 1893 mit der in Krakau formierten „Allgemeinen Österreichischen Jüdisch-Nationalen Partei“ nach. Indem sie die Beschlüsse der Galizier anerkannten, gelang ihnen dann doch die gemeinsame Organisation. 1895 gaben sich jene mit dem „Politischen Verein“ ein Gremium, um die Landespolitik besser koordinieren zu können. Ihre Bestrebungen gingen dahin, als Volk und Nation die Gleichberechtigung mit den anderen Völkern in Galizien wie im gesamten Habsburgerreich und die nationale Autonomie zu erlangen. Die konkreten Vorschläge zur Minderung des Elends unter den Juden, zur Förderung wirtschaftlicher Betätigung sowie zur Hebung von Bildung und Kultur brachten einen beträchtlichen Anhang in der jüdischen Bevölkerung mit sich, der auch in die Arbeiterschaft

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hineinreichte; organisatorisch war hier vor allem „Poale Zion“ aktiv. Bei den österreichischen Parlamentswahlen von 1900/01 konnten die Zionisten erstmals einen Abgeordneten entsenden: Er kam aus dem galizischen Wahlbezirk Brody. 1907, bei den ersten allgemeinen und direkten Wahlen zum Abgeordnetenhaus des Reichsrates, wurden insgesamt 13 jüdische Abgeordnete gewählt. Vier von ihnen waren zionistische Politiker aus Galizien und der Bukowina. Sie bildeten den „Jüdischen Klub“, eine einmalige Erscheinung im damaligen Europa. Die Anerkennung der jüdischen Nationalität und der nationalen Autonomie – mit Jiddisch als eigener Sprache – war nun aus den politischen Diskussionen im Habsburgerreich nicht mehr wegzudenken. 1908 fand in Czernowitz eine von Nathan Birnbaum, der sich inzwischen vom Zionismus abgewandt hatte, organisierte „Jüdische Sprachkonferenz“ statt, die die Anerkennung des Jiddischen als einer nationalen Sprache des jüdischen Volkes forderte. Eine breite Schicht von Schriftstellern, Dramatikern, Historikern, Soziologen, Journalisten bis zu Arbeitern und Kleinhändlern erlebte sich – mit unterschiedlichen politischen Einstellungen – bewußt als Ostjuden, fand ihre Identität in Industrialisierung, Urbanisierung, neuer Lebenswelt. Letztlich konnte die nationale Autonomie nicht erreicht werden: Die österreichische Regierung fürchtete eine Schwächung des Deutschtums, wenn die jüdische Bevölkerung eine gesonderte Nationalität bilde. Immerhin: Für die Bukowina wurde beim nationalen Ausgleich von 1910 das Recht auf eigene jüdische Wahlkreise zugestanden, wenngleich die Juden formal der deutschen Wählerklasse eingegliedert waren. Bei den Wahlen von 1911 erlitten die Zionisten und Nationaljuden allerdings eine Niederlage. Verantwortlich dafür waren Anstrengungen der Assimilierten wie der Orthodoxen, die mit allen Mitteln ihren erneuten Sieg zu verhindern suchten. Dabei gingen sie nicht nur untereinander, sondern auch mit polnischen Parteien Bündnisse ein. Dennoch blieb die Anhängerschaft der Zionisten, vor allem außerhalb der Schtetl, erstaunlich groß. Die Arbeiterbewegung formierte sich als „Jüdische Sektion“ innerhalb der polnischen Sozialdemokratie, dann 1905 vor allem in der eigenständigen „Jüdischen Sozial-Demokratischen Partei Galiziens“, die eng mit dem „Bund“ zusammenarbeitete. Auch mit „Poale Zion“ gab es trotz der Konkurrenzsituation Bündnisse. Die gemeinsame politische Forderung zielte auf die nichtterritoriale Autonomie der Juden ab. Eine besondere Rolle innerhalb der galizischen Judenheit spielte die Krakauer Gruppe der „Unabhängigen Juden“, die Assimilation ebenso wie Parteiideologien ablehnte und sich für Demokratie und Gleichberechtigung einsetzte. Bei den Reichsratswahlen von 1900 gewann ihr Kandidat gegen den Präsidenten der jüdischen Gemeinde Krakaus, einen Anhänger der Assimilation, der von den polnischen Konservativen unterstützt worden war. Neben der auf den ersten Blick offensiven Haltung jüdischer politischer Gruppierungen war die nach innen gekehrte Einstellung, die den Halt im Glauben suchte, weit verbreitet. Die Besinnung auf die Innerlichkeit konnte die Form einer rigorosen, asketischen Frömmigkeit annehmen oder die Versenkung in die Mystik des Chassidismus. Zugleich wuchsen hier jedoch Kräfte, die sich der eigenständigen jüdischen Volkskultur bewußt wurden, der befreienden Elemente auch im Chassidismus. Der Stolz auf die „Jüdischkeit“, auf die Traditionen und Werte, verstärkte sich spürbar.

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Insgesamt schälte sich also ein neues, spezifisch ostjüdisches Selbstverständnis heraus, ein neues Selbstbewußtsein quer zu allen religiösen und politischen Gruppierungen, das in der Tradition stand, in der gemeinsamen Erinnerung, und sich ihrer bewußt war, aber sich auch den Widersprüchen der neuen Zeit stellte, sich also keineswegs als homogen verstand und die heftigen inneren Konflikte nicht überdeckte.

Das Jahrhundert der Schoa – und dennoch Hoffnung? (1914–2000) Während des Ersten Weltkrieges lag ein Großteil der jüdischen Siedlungsgebiete im Zentrum der Kriegshandlungen. Hunderttausende der Bewohner flohen vor den militärischen Auseinandersetzungen, Plünderungen und Requirierungen. Antisemitische Kreise der polnischen Nationaldemokraten und im russischen Generalstab schürten, indem sie bekannt gewordene Einzelfälle verallgemeinerten, den Vorwurf, die Juden spionierten für Deutschland und Österreich-Ungarn. In verschiedenen Ortschaften waren Pogrome die Folge. Zunehmend ging die zarische Militärverwaltung dazu über, Juden in Gegenden des Ansiedlungsrayons, die nicht vom Krieg betroffen waren, auszuweisen. Als dort die Zustände unerträglich wurden, erweiterte die Regierung im August 1915 den Rayon. Bei den Ausweisungen und Deportationen blieben Gewalttaten nicht aus. Teilweise wurden die Juden sogar auf die Gebiete des Gegners, in die Front hinein getrieben. Wer später wieder an seinen Heimatort zurückkehren konnte, sah oft seine Wohnung bereits von nichtjüdischen Menschen besetzt. Zahlreiche Organisationen, namentlich das „Jüdische Komitee zur Unterstützung der Kriegsopfer“ (EKOPO), versuchten, die Not zu lindern. Über die Politisierung mancher der Hilfseinrichtungen kam es allerdings zu Konflikten innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Die Haltung der polnischen Bevölkerung gegenüber den Juden wurde auch dadurch beeinflußt, daß sie zu großen Teilen die Hoffnung hegte, der Ausgang des Weltkrieges werde über ihre staatliche Unabhängigkeit entscheiden. In der zunehmend erregten Atmosphäre gerieten die Juden wiederum zwischen alle Fronten und wurden für nachteilige Erscheinungen verantwortlich gemacht. Selbst die scheinbar mittelalterlichen Vorwürfe der Brunnen- oder Milchvergiftung tauchten wieder auf. Die polnischen politischen Gruppierungen stritten heftig über die Stellung der Juden im zukünftigen Staat. Gemäß bereits geläufigen Argumentationsmustern unterschied man zwischen assimilierten Juden, mit denen man zusammenarbeiten könne, und den orthodoxen oder chassidischen, mit denen dies nicht möglich sei. Das polnisch-jüdische Verhältnis verschlechterte sich zusehends. In den Wirren um die Bildung des Nationalstaates entluden sich die aufgestauten Spannungen. Die Unzufriedenheit über Mangel, Not und Teuerung richtete sich gegen Juden, die man mit dem Klischee des Wucherers, Hamsterers oder Volksverderbers belegte oder als politische Feinde sah, die die neue Ordnung bekämpften. Polnische Händler und Studentengruppen denunzierten die Juden als Deutschfreunde, Sozialdemokraten oder Bolschewiken. In Galizien wandten

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sich die Bauern 1918/19 mit dem Ziel einer radikalen Landreform gegen Juden und polnische Gutsbesitzer. Die traditionelle Konstellation wurde nun mit dem „modernen“ Argument einer „bolschewistischen Verschwörung“ untermalt. 1920 publizierte man auch in Polen die angeblichen Protokolle der Weisen von Zion, die den Plan einer jüdischen Weltherrschaft beweisen sollten. Die Angriffe eskalierten rasch zu gewaltsamen Ausschreitungen, Ermordungen, Exekutionen und Pogromen. Auch polnisches Militär beteiligte sich daran, namentlich Einheiten General Józef Hallers (1873–1960), der in den Kämpfen um die Unabhängigkeit Polens große Popularität errungen hatte. In Lemberg, das zwischen Polen und Ukrainern heftig umkämpft war, fielen vom 21. bis 23. November 1918 55 Juden dem Morden zum Opfer; über 400 wurden verletzt, zahlreiche weitere obdachlos. 1919 wurde Galizien wieder dem polnischen Staat einverleibt. Ein Jahr später waren wiederum nicht zuletzt die Juden Leidtragende des Krieges zwischen Polen und Sowjetrußland, in dem es zu fürchterlichen Massakern kam. Erst der Frieden von 1921 brachte den Juden in den umkämpften Gebieten einigermaßen Ruhe. Viele Polen verurteilten die Exzesse, auch in öffentlichen Stellungnahmen. Doch in dieser Zeit, in der die Polen um ihre Unabhängigkeit rangen und noch um ihre Grenzen kämpfen mußten, war es für einen Großteil schwierig zu akzeptieren, daß die Juden sich inzwischen ihrer eigenen Nationalität bewußt geworden waren und nur in diesem Rahmen ihren Platz in der Gesellschaft beanspruchten – mit ähnlichen Forderungen, wie sie die Polen vor 1914 gegenüber Rußland, Österreich-Ungarn oder Deutschland angemeldet hatten. Jetzt verlangte ein „Jüdischer Nationalrat“ die Anerkennung der Juden als nationale Minderheit und eine national-kulturelle Autonomie, wurde darin allerdings nicht von allen jüdischen Organisationen unterstützt. Aus dem so entstehenden Kreislauf schien es keinen Ausweg zu geben: Die Juden verhielten sich aufgrund der antisemitischen Vorfälle und verstärkt durch das traditionelle politische Desinteresse breiter Massen zunächst zurückhaltend gegenüber dem neuen Staat. Dadurch sahen sich zahlreiche Polen in ihrem Vorwurf des Antipatriotismus bestätigt. Eine neue Verschlechterung des polnisch-jüdischen Verhältnisses war die Folge. Auch unterhalb der Gewaltgrenze nahmen in den nächsten Jahren die Diskriminierungen der Juden zu. Dies äußerte sich bei Stellenbesetzungen in öffentlichen Ämtern, im Bildungswesen und schließlich auch in Versuchen einer prozentualen Beschränkung beim Hochschulzugang. Durch die strikte Durchsetzung der Einhaltung der Sonntagsruhe minderte man die Konkurrenzfähigkeit der Juden, die damit zwei Tage mit der Arbeit pausieren mußten. Hier drückte sich die Kontinuität der kirchlichen Judenfeindschaft aus. Im Zusammenhang mit den Friedensverhandlungen in Versailles setzten sich Großbritannien, Frankreich und die USA für die Rechte der Juden in Polen ein. Das Auftreten des Nationaldemokraten Roman Dmowski (1864–1939), der diese Rechte beschneiden wollte, und die bekannt gewordenen Ausschreitungen hinterließen einen nachhaltigen Eindruck. Am 18. Juni 1919 mußte Polen einen Vertrag unterschreiben, der unter anderem den Minderheitenschutz der Juden einschloß. Im Land selbst rief dies nicht gerade Sympathien für sie hervor, sondern führte im Gegenteil zu einer neuen Welle antijüdischer Stimmung.

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Bei der politischen Rechten verstärkte sich der immer schon latent vorhandene Antisemitismus. Insbesondere die Nationaldemokraten – namentlich Dmowski und General Haller – taten sich in dieser Beziehung hervor. Die Judenfeindschaft war keineswegs unbedingt rassistisch bedingt, sondern vielmehr pragmatisch begründet, um in den Wirren Wählerstimmen zu erhalten. Konvertierte „gute Juden“ konnten sich der Partei durchaus anschließen. Hin und wieder führten gerade sie die erbittertsten Angriffe auf die Juden – ein Ausdruck des jüdischen „Selbsthasses“. Die Christdemokraten vertraten eine aggressive, religiös motivierte Judenfeindschaft. Auch in den Bauernparteien sowie in einigen kleineren Gruppierungen war der Antisemitismus weit verbreitet. Andererseits strebten gerade Bauernvertreter danach, ihn abzuschwächen, indem sie Ausschreitungen verurteilten und gegen unberechtigte Anschuldigungen vorgingen. Die Sozialisten verteidigten die Gleichberechtigung der Juden, der Antisemitismus galt ihnen als Werkzeug der Rechten im Klassenkampf. Allerdings blieb ihnen vielfach die Welt der Juden fremd, weil sie nicht in ihre theoretischen Vorstellungen hineinpaßte. Politisch kämpften sie gegen jüdischen Nationalismus, der ideologisch schädlich sei und von den sozialen Auseinandersetzungen ablenke, ja Anlaß für Antisemitismus gebe. Insofern kam es auch zu Spannungen zwischen polnischen Sozialisten und jüdischem „Bund“. In der 1918 gegründeten neuen Republik organisierten sich auch die Juden parteipolitisch, in allen Schattierungen. Für den „Bund“ stand der Klassenkampf im Vordergrund, aber auch er verlangte nach wie vor, die jiddische Sprache anzuerkennen und ein Recht auf Selbstverwaltung zu gewähren. Allerdings konnte er – nicht zuletzt wegen für ihn ungünstiger Besonderheiten des Wahlgesetzes – keinen Sitz im Sejm erringen. Das von ihm angestrebte Bündnis aller linken Organisationen war nur begrenzt erfolgreich. Besonders entschieden vertrat das von allen jüdischen Parteien unterstützte Prinzip der „do-ikejt“, des „Hier-Seins“, die „Jüdische Volkspartei“ („Folkisten“). Neben Jiddisch als Amtssprache forderte sie eine Garantie prozentualer Beteiligung an staatlichen Positionen und eine autonome jüdische Vertretung. Doch ihr häufig aggressives Verhalten rief antijüdische Reaktionen hervor, ihre Anhängerschaft unter den Juden blieb gering. Die stärkste parteipolitische Kraft stellten zunächst die Zionisten. Bei den ersten Wahlen erhielten sie die meisten Stimmen der jüdischen Wähler. Doch sie waren in sich nach wie vor zersplittert: von verschiedenen Gruppen der sozialistischen „Poale Zion“ bis hin zu den religiösen „Misrachi“. Und selbst die politisch einflußreichste Richtung, die „Allgemeinen Zionisten“, waren gespalten, vor allem zwischen dem „galizischen“ und dem „russischen“ Flügel. Die Ursachen lagen in persönlichen Gegensätzen sowie in den unterschiedlichen historischen Traditionen und regionalen Verhältnissen Galiziens und Kongreß-Polens einschließlich der Geschichte der dortigen zionistischen Organisationen. Vereint waren sie in dem Ziel, neben dem Eintreten für eine „Heimstätte“ in Palästina durch die „Gegenwartsarbeit“ die nationale Autonomie in Polen selbst zu erreichen und die Lage der hier lebenden Juden zu verbessern. Aber die Ansichten über den richtigen Weg trennten sie: Die eine Seite um Icchak Grünbaum (1879–1970), der zeitweise als Sprecher des gesamten polnischen Judentums galt, betrieb eine kompromißlose Politik. Insbesondere wollte sie durch

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eine aktive Mitarbeit im Block der nationalen Minderheiten eine starke Position im Staat aufbauen. Hingegen befürworteten die „Galizier“ um Leon Reich (1879–1929) und Abraham Ozjasz Thon (1870–1936) mehr Flexibilität und Entgegenkommen gegenüber der Regierung und den polnischen Parteien, um ihre Vorstellungen zu verwirklichen. Sie meinten, aufgrund ihres historischen Erbes, namentlich der langen Periode der Toleranz im ehemaligen Königreich, seien die Polen weniger antisemitisch eingestellt als die Ukrainer oder Weißrussen. Deshalb dürfe man durch eine Beteiligung am Block der nationalen Minderheiten keine judenfeindlichen Reaktionen seitens polnischer Gruppierungen provozieren. In dieser Hinsicht nahm die „Agudas Jisroel“ (Vereinigung Israels), in der sich die Parteien der religiösen Orthodoxie zusammengeschlossen hatten und die insofern auch einen großen Anhang hinter sich wußte, eine ähnliche politische Haltung ein. Da nach ihrer Meinung die Lage der Juden erst durch die messianische Erlösung grundlegend verändert werde, versprach sie sich von der politischen Neutralität die besten Ergebnisse und unterstützte die polnische Regierung. Damit konnte sie allerdings kein Gegengewicht gegen die Politik der Rechten bilden. Die polnisch-jüdischen Gegensätze und der Antisemitismus als politisches Instrument wurden besonders deutlich bei den Wahlen von 1922 und ihren Folgen. Nach den vorhergehenden Provisorien bei noch nicht feststehenden Grenzen wählten jetzt die Polen zum ersten Mal ihre obersten Verfassungsorgane: das Parlament – den Sejm –, den Senat und den Staatspräsidenten. Im Wahlkampf spielten gegensätzliche politische Konzeptionen eine zentrale Rolle, die sich schon 1918/19 ausgeprägt hatten. Die Nationaldemokraten vertraten die „piastische Staatsidee“: Statt nach Osten wollte man sich nach Westen ausdehnen. Politische Rechte sollte nur die polnische Nationalität erhalten. Hiergegen wandten sich mehrere Gruppierungen: die Sozialisten (PPS), einige gemäßigte Organisationen, auch der Block der nationalen Minderheiten mit seinem starken Anteil jüdischer Politiker. Sie plädierten für eine aktive, nicht unbedingt aggressive Politik nach Osten – die „jagiellonische Staatsidee“ –, für einen Bund aller osteuropäischen Staaten und für politische Minderheitenrechte. Dafür wurden sie als unnational abqualifiziert. Obwohl sie untereinander zerstritten waren, galten sie bei den Rechten doch als Einheit. Dadurch polarisierte sich der Wahlkampf zwischen Dmowski und Józef Piłsudski (1867–1935). Antisemitische Verunglimpfungen waren in den Auseinandersetzungen an der Tagesordnung. Bei der Wahl selbst erhielten die Rechten dann weniger Stimmen, als sie gehofft hatten. Wütende Angriffe und eine unbeschreibliche Hetzkampagne waren die Folge. Als die Wahl des Staatspräsidenten durch Sejm und Senat anstand, warfen die Nationalen dem Gegenkandidaten vor, er sei potentiell ein „Judenpräsident“, weil die Stimmen der Juden den Ausschlag gäben. Nach dem Verzicht Piłsudskis siegte am 9. Dezember 1922 Gabriel Narutowicz (1865–1922) über den Kandidaten der Rechten. Diese reagierten mit heftigsten antijüdischen Ausfällen, obwohl doch das Abstimmungsverhalten der Bauernparteien den Ausschlag gegeben hatte. Es kam zu Unruhen, die am 16. Dezember 1922 in der Ermordung Narutowiczs gipfelten. Nach dem ersten Schock drehte die Rechte die Zusammenhänge in bemerkenswerter Weise um: Sie machte die Juden und die Sozialisten – vor allem die „bol-

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schewistischen Juden“ – selbst für den Mord verantwortlich; sie hätten ihn durch ihr Verhalten provoziert. Später feierte man den hingerichteten Mörder, der erklärt hatte, er hätte jeden umgebracht, der durch Juden an die Macht gekommen sei, als Helden und Vaterlandsretter. In den folgenden Jahren ging jedoch der offene Antisemitismus zurück. Insbesondere nach dem Staatsstreich von 1926, der Piłsudskis einen überragenden Einfluß sicherte, beruhigten sich die nationalistischen Auseinandersetzungen. Trotz des autoritären Systems wurden zunächst demokratische Elemente stärker. In diese Zeit fiel eine Reihe von Zugeständnissen an die Juden. So wurde der Cheder staatlich anerkannt. Die Regierung förderte den vorherrschenden Einfluß der Orthodoxen in den Gemeinden, weil sie wiederum von diesen politisch unterstützt wurde. Ein 1925 mit der Regierung Grabski geschlossenes Abkommen konnte allerdings nicht verwirklicht werden, weil sich die verschiedenen jüdischen Gruppierungen darüber vollends zerstritten. Allmählich verbreitete sich unter der jüdischen Bevölkerung die Ansicht, daß die parlamentarische Arbeit der verschiedenen jüdischen Parteien trotz einiger Erfolge wenig bewirken könne. Deshalb folgten mehr und mehr Juden dem zionistischen Aufruf, in Palästina ein jüdisches Gemeinwesen aufzubauen. Hatten sich an der Zweiten Alija von 1904 bis 1914 ebenso wie an der Dritten von 1919 bis 1923 mehrheitlich Anhänger sozialistisch-zionistischer Ideen aus Osteuropa beteiligt, wanderten in der Vierten Alija zwischen 1924 und 1931 zum erstenmal größtenteils Juden aus dem Bürgertum Polens aus. Die Enttäuschung über die parlamentarische Tätigkeit schlug sich dann auch in den Wahlen von 1928 nieder, die den jüdischen Parteien eine eindeutige Niederlage brachte. Über Auseinandersetzungen, wie weiter vorzugehen sei, zerbrach die jüdische Fraktion ein Jahr später endgültig. Bei den folgenden Wahlen von 1930 und 1935 verloren die jüdischen Parteien erneut an Stimmen. Im Sejm spielten sie keine wesentliche Rolle mehr, waren aber immerhin bis zum deutschen Überfall 1939 vertreten. Diese Entwicklung spiegelt eine gewisse Ratlosigkeit darüber wider, wie man unter den gegebenen politischen Verhältnissen die Lage der Juden auf parlamentarischem Wege am ehesten verbessern könne. Dies sollte aber nicht einfach als Zeichen der Schwäche und der Aussichtslosigkeit des jüdischen Wunsches nach Gleichberechtigung und Autonomie interpretiert werden. In vielen Städten und Gemeinden waren die Juden außerordentlich stark politisch repräsentiert, und in den unterschiedlichen politischen Richtungen drückte sich zudem auch die kulturelle Vielfalt des Judentums in Polen aus. Die Juden stellten in der polnischen Republik mit etwa drei Mio. Menschen rund 10% der Gesamtbevölkerung. In den Großstädten machten sie im Durchschnitt ein Drittel der Einwohner aus – Warschau bildete mit 325 000 Juden die größte jüdische Gemeinde der Welt –, im Osten bildeten sie in zahlreichen Städten die Mehrheit. Beruflich waren sie – die Daten beziehen sich auf 1931 – mit 42% der jüdischen Erwerbstätigen in Industrie und Handwerk besonders stark vertreten, ebenso im Handel mit 37%. 5% arbeiteten im Verkehrs- und Kommunikationswesen, je 6% in freien Berufen, in der Verwaltung oder als Dienstpersonal, 4% in der Land- und Forstwirtschaft (eine deutliche Unterrepräsentation).

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Schwerpunkte ihrer beruflichen Tätigkeit erkennt man auch daran, daß 62% der im Handel Beschäftigten Juden waren, 26% in Industrie und Handwerk, 27% im Gesundheitswesen, 20% im Bildungswesen. Die überwiegende Zahl fand nach wie vor im Kleingewerbe ihren Platz. Die Verarmung breiter Massen war noch größer geworden. Trotz aller Schwierigkeiten erreichte die jüdische Kultur eine neue Blüte. Insbesondere das Jiddische erlebte einen Aufschwung, der sich in zahlreichen literarischen Werken, in Theateraufführungen und in Zeitungen niederschlug. In der Kunst ging es nicht zuletzt darum, was denn eigentlich das „Jüdische“ an ihr sei. Eine wichtige Rolle spielten das 1925 in Berlin gegründete „Jiddische Wissenschaftliche Institut“ (YIVO), das seinen Hauptsitz in Wilna nahm, und das 1928 in Warschau eröffnete „Institut für Judaistische Wissenschaften“. Daneben waren aber auch Tendenzen der Säkularisierung und Abwendung vom Judentum nicht zu übersehen. 1930 hatten nur noch 23% der jüdischen Schüler einen Cheder besucht. In Sprache, Kleidung, Sitten und Verhalten glichen sich mehr und mehr Juden, vor allem in den größeren Städten, den polnischen Normen an. Zunehmend wurden Stimmen laut, die forderten, sich darauf zu konzentrieren, daß die gesetzlich garantierten Rechte eingehalten würden, anstatt weiter von einer Autonomie zu träumen. Auf der anderen Seite akzeptierten durchaus viele Polen inzwischen die ostjüdische Nationalität, auch die „Jiddischkeit“ des jüdischen „Folks“. In zahlreichen Erinnerungen finden sich Beispiele guter Nachbarschaft. Die antisemitischen Ausbrüche sollen keineswegs verharmlost, aber auch nicht verallgemeinert werden. Die Vielfalt der politischen Gruppierungen zeigt die Entfaltungsmöglichkeiten der Juden in Polen trotz aller Behinderungen an. Es ist schwer zu sagen, wie sich diese Faktoren ohne den Nationalsozialismus weiterentwickelt hätten. Die ernste Wirtschaftskrise seit Ende der zwanziger Jahre sowie das Erstarken judenfeindlicher Parteien und Bewegungen in ganz Europa führten auch in Polen zu einem erneuten Aufflackern des Judenhasses, der schließlich wieder auf die offizielle Politik übergriff. Die Nationaldemokraten, die durch Piłsudskis Regime der „nationalen Gesundung“ an den Rand gedrängt worden waren, hatten sich radikalisiert und propagierten teilweise offen faschistische Parolen. Die ihnen nahestehende Bewegung „Lager Großes Polen“ (OWP) rief geradezu zu antijüdischen Ausschreitungen auf. 1933 wurde sie deshalb verboten. Rückhalt fand der Antisemitismus namentlich im Mittelstand und unter Akademikern, die sich durch die Wirtschaftskrise am stärksten bedroht fühlten. Ihr Aufstieg war behindert, und es drohte ihnen die „Proletarisierung“. Der Verdrängungswettbewerb gegenüber den Juden verschärfte sich. Die Fälle häuften sich, in denen Juden auch als Arbeiter oder Ingenieure keine Anstellung mehr fanden. Wieder wurde zu Boykottaktionen gegen jüdische Händler und Geschäftsleute aufgerufen. Hier war vor allem die den Nationaldemokraten nahestehende „Liga des Grünen Bandes“ aktiv. Als Piłsudski 1935 starb, verlor das Regime seien charismatischen Führer. Um sich zu halten, suchte es nun die Verbindung zu den Nationaldemokraten und zu noch weiter rechts stehenden Gruppierungen. Der Antisemitismus diente dabei als wirksames Bindemittel. Juden durften der 1937 gegründeten Massenbasis für das Regime, dem „Lager der

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Nationalen Einheit“ (OZN), nicht angehören. Im selben Jahr richtete man in den Hörsälen der Universitäten als Ergebnis eines heftigen studentischen Radau-Antisemitismus sogenannte Ghetto-Bänke ein, auf denen jüdische Studenten Platz nehmen mußten. Der zugleich verschärfte Numerus clausus, der schon in den zwanziger Jahren inoffiziell praktiziert worden war, hatte im übrigen Erfolg: 1921/22 hatten die Juden etwa 25% der Studierenden gestellt, 1938/39 waren es nur noch 8%. Viele Berufsverbände nahmen offene oder versteckte „Arierparagraphen“ in ihre Satzungen auf. Die Regierung billigte 1937 auch die „Polonisierung der Wirtschaft“ durch Boykottmaßnahmen seitens offizieller Stellen sowie der katholischen Kirche. Schon 1936 war das rituelle Schächten für Juden, Muslime und Karaiten auf bestimmte Regionen eingeschränkt worden; der Antrag auf ein allgemeines Verbot hatte sich nicht durchsetzen können. In den folgenden Jahren führte die Hetze sogar zu Pogromen mit zahlreichen Toten und Verletzten. Exemplarisch sei auf die Ausschreitungen in Przytyk 1936 hingewiesen. Durch all diese Maßnahmen und das sich verschärfende judenfeindliche Klima verarmte die jüdische Bevölkerung weiter. Die Zahl der Hilfsbedürftigen wurde immer größer. Reaktionen auf die neue Situation waren Resignation, ja sogar eine steigende Zahl von Selbstmorden, aber auch erhöhte Aktivität. Anfang der dreißiger Jahre hatten die radikalen Zionisten-Revisionisten, die kompromißlos – auch unter Einsatz von Waffengewalt – für eine Staatsgründung in Palästina eintraten, Zulauf erhalten. An der Fünften Alija zwischen 1932 und 1939 beteiligten sich wiederum viele polnische Juden. 1936 schloß die britische Mandatsmacht jedoch die Grenze, und man konnte fast nur noch illegal nach Palästina gelangen. Auch andere westliche Länder erschwerten die Möglichkeiten zur Einwanderung oder verschlossen gar ihre Grenzen vor den Juden. Rund 100 000 polnische Juden pro Jahr versuchten am Ende dieses Jahrzehnts zu emigrieren – mit immer geringeren Chancen, eine Aufnahme zu finden. Mehr und mehr wurde nun die Politik des „Bund“ als einzige Möglichkeit angesehen, dem Antisemitismus zu begegnen. Nicht zuletzt fand damit Anerkennung, daß der „Bund“ schlagkräftige Selbstschutz-Einheiten organisiert hatte und Verbündete in den linken polnischen Parteien besaß. Er wurde jetzt zur stärksten jüdischen Einzelpartei und konnte bei den Kommunalwahlen von 1938 und 1939 in den Großstädten eine führende Stellung erreichen. Insgesamt klagte man in diesen Jahren über Demoralisierungstendenzen in der polnischen Judenheit. Andererseits finden sich immer wieder Zeugnisse, wie sich selbst bei vielen Menschen, die sich bereits vom jüdischen Glauben abgewandt hatten, das Bewußtsein einer gemeinsamen (ost)jüdischen Tradition und Kultur wieder verstärkte. Die katholische Kirche förderte die judenfeindliche Stimmung aktiv und sprach ebenso wie Nationaldemokraten und Regierung von Juden als „fremden“, ökonomisch lästigen und moralisch minderwertigen Elementen; sie folgte dem überkommenen Stereotyp. Das Verhalten der Regierung war nicht frei von Widersprüchen. So arbeitete sie nach wie vor mit „Agudas Jisroel“ zusammen. Diese nutzte die Unterstützung und schreckte aus Furcht vor einem Überhandnehmen linker, revolutionärer Tendenzen auch vor Wahlmanipulationen nicht zurück. Darüber hinaus unterhielt die Regierung Kontakte zu den Zionisten. Dies

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hing allerdings damit zusammen, daß sie zwar immer noch Pogrome und Ausschreitungen verurteilte, jedoch Überlegungen anstellte, wie die Emigration der Juden gefördert werden könne. Bis ins Außenministerium hinein wurden Pläne entwickelt, Juden nicht nur nach Palästina, sondern auch nach Madagaskar auszusiedeln; anders als bei den Nazis, die diesen Plan ebenfalls vorübergehend vorantrieben, standen keine Verfolgungsabsichten, sondern Großmachtvisionen mit eigenen Kolonien dahinter. Einige politische Gruppierungen ließen sich hingegen von ähnlichen Gedankengängen leiten, wie sie hinter den Nürnberger „Rassengesetzen“ von 1935 standen. Im Unterschied zu Deutschland folgten in Polen auf diese Ideen allerdings keine konkreten Maßnahmen. Die polnische Regierung versuchte außerdem, die Rückreise polnischer Juden, die sich im Ausland – etwa in Deutschland – niedergelassen hatten, zu verhindern. Die Zahl der Juden in Polen sollte nicht größer werden. Ein Konflikt mit der NS-Regierung war damit unausweichlich: Diese strebte danach, die Ostjuden auszuweisen, weil sie wegen ihres Ausländerstatus bei Boykotts und ähnlichen Aktionen ausgenommen werden mußten. Im Oktober 1938 transportierten die Nazis zwischen 17 000 und 20 000 polnische Juden an die Grenze, um sie in ihr Heimatland abzuschieben – Modell und Vorübung der späteren Deportationen. Die Verhandlungen zwischen beiden Regierungen hatten sich festgefahren, nachdem die polnische Regierung nach dem „Anschluß“ Österreichs an das Deutsche Reich den dort lebenden etwa 20 000 polnischen Juden die Staatsbürgerschaft entzogen und die deutsche Regierung daraufhin die gesetzlichen Möglichkeiten zur Ausweisung verschärft hatte. Jetzt schloß die polnische Seite die Grenze und begann mit der Ausweisung deutscher Juden. Erst nach dem Anschlag Herszel Grynszpans (1921–1945), dessen Eltern sich unter den deportierten Juden befanden, auf den deutschen Botschaftsangehörigen vom Rath in Paris und der folgenden „Reichskristallnacht“ am 9./10. November 1938 kam es zu neuen Verhandlungen, die 1939 zur Aufnahme der Juden durch Polen führten. Kurze Zeit später, als am 1. September 1939 die deutschen Truppen in Polen einfielen, standen die Juden mit den anderen Bevölkerungsgruppen Polens in einer Reihe zur Ver teidigung bereit. Neben Militäreinsatz, vielfältigen Spenden, Mitarbeit beim Aufbau der Zivilverteidigung und Hilfen für Verwundete beteiligten sie sich selbst am Schabbat an den Befestigungsarbeiten, etwa in Warschau. Nach dem Sieg der deutschen Wehrmacht flohen zahlreiche Juden – wie viele andere polnische Staatsbürger – in die Sowjetunion. Dort erwartete sie ein ungewisses Schicksal. Wenngleich ein Teil weiter nach Palästina gelangte, fielen nicht wenige von denen, die in der UdSSR blieben, dem stalinistischen Terror, Deportationen und Arbeitseinsätzen zum Opfer. Für die übrigen Juden, die nicht fliehen konnten oder wollten, begann die Leidenszeit der Schoa. Das Leben der Juden im Osten unter der deutschen Besatzung, in den Ghettos und in den Lagern ist kaum zu schildern. Sie mußten „Judenräte“ bilden, die die Verwaltung organisierten – bis hin zur Zusammenstellung der Transporte in die Gaskammern. Manche Judenräte bemühten sich, das Leben der Ghettobewohner zu retten, indem sie die Nazis davon zu überzeugen suchten, daß deren qualifizierte Arbeit unbedingt notwendig sei, oder indem sie einen Teil opferten, in der Hoffnung, daß dann der Rest überleben werde. Der

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Lodzer Judenälteste Mordechai Chaim Rumkowski (1877–1944) ist hierfür vielleicht das herausragendste Beispiel. Trotz einer Reihe von Deportationen bestand das Ghetto bis 1944, wurde dann aber ebenfalls „liquidiert“. Rumkowski entging der Ermordung nicht. Der Vorsitzende des Warschauer Judenrates, Adam Czerniaków (1880–1942), wählte den Freitod, als er einen Deportationszug von Kindern zusammenstellen sollte. Dies war kein Einzelfall; andere verweigerten die Ausführung von deutschen Befehlen und ließen sich eher erschießen. Im Warschauer Staatsarchiv liegt die Akte des Obmanns des Judenrates in Warschau 1940 bis 1942. Neben vielfältigen Daten über Wohnverhältnisse, Ernährung und Schulwesen finden sich hier Unterlagen über die „Arbeiterbataillone“ und über die erbärmlichen Zustände, denen die Juden in den Arbeitslagern ausgesetzt waren. Anfang 1942 lebten noch etwa 400 000 Juden im Warschauer Ghetto. Von den Erwerbstätigen waren 47% im Handwerk, 24% im Handel, 5% in der Industrie und 24% in sonstigen Bereichen beschäftigt. Aufgrund der Hungersnot stieg seit 1941 die Sterblichkeit rasch an. Die Akte endet mit einer Aufstellung der rückständigen Gasgebühren in den jüdischen Wohnvierteln. Ein Teil der Juden versuchte, bewaffnet Widerstand zu leisten. In verschiedenen Ghettos kam es zu Aufständen, etwa in Warschau von April bis Mai 1943, in Lemberg im Juni 1943, in Białystok im August, in Wilna im September 1943. Alle wurden blutig niedergeschlagen, nur wenige Teilnehmer konnten entkommen. Schon lange gehörte es zu den gängigen Klischees, Juden – und gerade Ostjuden – als unterwürfig und feige hinzustellen. Ihre Geschichte beweist, daß sie in bestimmten Situationen durchaus kämpfen und Widerstand leisten konnten. Aber die bewaffnete Aktion galt nicht als Tugend. In der Regel antwortete man duldend auf Gewalt. Dahinter standen das Vertrauen auf Gottes Willen und die künftige Erlösung, ein anderes Selbstbewußtsein, das höhere Werte als Kämpfertum kannte – namentlich die Gelehrsamkeit – und nicht zuletzt die Einsicht in die Sinnlosigkeit von Gewalt. Gewalt gebar immer nur neue Gewalt. Diese lebensweltlichen Erfahrungen bestimmten auch die Verhaltensweisen unter der Nazi-Herrschaft, zumal das Ausmaß der bevorstehenden Vernichtungsaktionen zunächst unvorstellbar war, so daß gar kein Widerstand organisiert werden konnte. Gewiß gab es in den Ghettos und in den Vernichtungslagern auch Versuche, sich kleinere oder größere Vorteile zu verschaffen, ja sein Leben auf Kosten anderer zu retten. Wer vermag darüber heute zu richten? Aber: In der Haltung des Chassiden, der mit dem Gebet „Schema Israel“, „Höre, Israel“ – dem Bekenntnis der Einzigkeit Gottes –, in den Tod ging, der Frau, die ihren Mann auf seinem letzten Weg nicht allein lassen wollte, des Lehrers und der Erzieherin, die ihre Kinder in die Gaskammer begleiteten und sie trösteten, des Menschen, der vor Angst fast wahnsinnig wurde, sich unermeßlich demütigen ließ, sein eigenes Grab aushob, obwohl er wußte, was ihm bevorstand, liegt ebensoviel Würde wie im Kampf gegen die Mörder. Hätten die Polen den Juden mehr helfen können? Das ist in Polen ebenso heftig umstritten wie unter den Juden selbst. Übereinstimmung besteht darin, daß die polnischen Hilfsorganisationen für Juden einzigartig in Europa waren und daß es zahlreiche individuelle Hilfsaktionen gab. Aus kaum einem Land ist ein so hoher Anteil von Menschen überliefert,

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die Juden geholfen haben – die Liste der dafür Geehrten in Yad Vashem, der Gedächtnisstätte in Jerusalem, belegt dies eindrücklich; bis Anfang 1995 waren 4478 Personen eingetragen. Dennoch vertreten manche die Auffassung, diese Haltung habe eher die Ausnahme dargestellt. Antisemitische Tendenzen hätten immer noch eine entscheidende Rolle gespielt, das polnisch-jüdische Verhältnis sei distanziert geblieben. Auch im Untergrund und im bewaffneten Widerstand habe man wenig Kontakt miteinander gehabt. Berücksichtigen muß man auf jeden Fall, daß zahlreiche Rettungsversuche unbekannt oder erfolglos blieben und daß viele Menschen ihre vielleicht vorhandene Hilfsbereitschaft aus Furcht vor Repressionen der Nazis nicht in die Tat umzusetzen wagten: Wer Juden in irgendeiner Weise behilflich war, mußte mit der Todesstrafe rechnen. Fast jede polnische Familie bangte um eines ihrer Mitglieder in einem Konzentrationslager, im Gefängnis oder in der Zwangsarbeit. Die ständigen Razzien, die öffentlichen Hinrichtungen und das Niederbrennen ganzer Dörfer verfehlten ihre Wirkung nicht. Mit Kriegsende war der Leidensweg der Juden in Polen keineswegs vorbei. Sie gerieten hier in eine merkwürdige Konstellation. Als es um die zukünftige politische Ordnung ging, ereigneten sich in Krakau, Parczew, Kielce und weiteren Orten erneut Pogrome, denen zahlreiche Juden zum Opfer fielen. Allein in Kielce wurden am 4. Juli 1946 42 Menschen ermordet. Auslöser waren in der Regel wieder einmal Ritualmordgerüchte. Die Stimmung war angeheizt durch Auseinandersetzungen zwischen den Kommunisten und ihren Gegnern. Einige von ihnen – und hier muß wieder der katholischen Kirche eine Mitverantwortung zugewiesen werden – benutzten antijüdische Vorurteile, um die Kommunisten zu bekämpfen: Sehr viele Mitglieder der polnischen KP waren Juden, die der Partei nicht zuletzt in der Hoffnung beigetreten waren, daß der Sozialismus in Polen endlich wieder eine Gesellschaft schaffen werde, in der sich auch die Juden wohl fühlen konnten. Ein Teil betätigte sich in der Politischen Polizei und war an Verbrechen beteiligt; deren Verhalten wurde dann als typisch für Juden hingestellt. Hinzu kam das Problem, daß sich die Besitzungen der Juden in anderen Händen befanden und die neuen Eigentümer sie oft nicht wieder abgeben wollten. Vieles am Ablauf der Pogrome ist noch nicht geklärt. Seit dem Ende der kommunistischen Herrschaft werden die Ereignisse allmählich erforscht. Damals wurde eine erste neue Auswanderungswelle ausgelöst. Die Ausschaltung der jüdischen Parteifunktionäre aufgrund der stalinistischen Politik schloß sich an. Allerdings verlief sie nicht so blutig wie in der CˇSSR oder in Ungarn. Auch in den späteren Jahren benutzten verschiedene Parteirichtungen den Antisemitismus, um sich politischer Gegner zu entledigen. 1968 erreichte diese Form der Auseinandersetzung ihren Höhepunkt. Unter dem erstarrten Gomułka-Regime war es zu neuen Machtkämpfen innerhalb der Partei gekommen. In einer brisanten Situation führten Studentendemonstrationen, die für mehr Freiheit an den Hochschulen veranstaltet wurden, zu Zusammenstößen mit der Polizei. Unruhen breiteten sich aus, für die ein Parteiflügel die Juden verantwortlich machte. Man verwies auf den israelisch-arabischen Krieg von 1967. Hier habe sich herausgestellt, daß die Zionisten Aggressoren seien. Wer jetzt noch für Israel eintrete, unterstütze damit deren Politik. Mit dieser „Argumentation“ wurden die Juden in Polen als An-

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hänger einer aggressiven Politik denunziert. Um seinen Einfluß zu bewahren, schloß sich Parteichef Władysław Gomułka (1905–1982) dieser Richtung an. Eine scharf antijüdische Vorgehensweise war die Folge, die zunächst die Juden innerhalb der KP, aber dann auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen – vor allem in Wissenschaft und Kunst – traf. Viele verloren ihre Stellungen, wurden verhört oder gar verhaftet. Schockiert von dieser unerwarteten judenfeindlichen Aktion verließen die meisten der noch rund 30 000 Juden das Land. Lediglich etwa 5000 blieben zurück. Angestoßen durch die verhältnismäßig offene Diskussion über die Beziehungen zwischen Polen und Juden in Organen der „Solidarnosc“, in katholischen Blättern, aber auch in der regierungsoffiziellen Presse sowie durch öffentliche Kundgebungen fand 1988 endlich auch innerhalb der Kommunistischen Partei eine Erörterung über die Vorgänge von 1968 statt, die eine Verurteilung des Antisemitismus und des damaligen Verhaltens der Parteiführung bewirkte, ohne allerdings die Hintergründe vollständig aufzuhellen. Immerhin: die Diskriminierungen wurden schwächer, jüdische Institutionen erhielten wieder mehr staatliche Unterstützung. Nach der „Wende“ von 1989/90 konnte sich jüdisches Leben vollends frei entfalten, auch wenn sich Antisemitismus erneut offen äußert. Viele Juden in Polen leben in entwürdigenden Umständen, sind einsam und krank. Das Durchschnittsalter lag um 1990 bei 70 Jahren. Oft kam nicht einmal ein Minjan für einen Gottesdienst zustande. Seitdem ist die Zahl der Juden aber wieder angestiegen. Manche, die im Nachkriegspolen ihr Judentum „versteckt“ hatten, kehrten nun zu ihm zurück. Junge Leute, die nicht in den jüdischen Traditionen aufwuchsen, bekannten sich jetzt bewußt zu ihrer Herkunft. Viele Juden arbeiten mit allen Kräften daran, die Tradition und Kultur zu bewahren und den Nachkommen zu vermitteln. Eine wichtige Funktion haben in diesem Zusammenhang auch wissenschaftliche Einrichtungen wie das „Jüdische Historische Institut“ (Z˙ydowski Instytut Historyczny) in Warschau, das „Mordechaj Anielewicz Lehr- und Forschungszentrum für Geschichte und Kultur der Juden in Polen“, ebenfalls in Warschau, und das „Forschungsinstitut für jüdische Geschichte und Kultur“ in Krakau. So wird die ostjüdische Kultur in Polen, gestärkt durch die Erinnerung, in veränderter Form weiterleben.1

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Teilweise habe ich Formulierungen aus meiner „Geschichte der Ostjuden“ übernommen.

Südeuropa und Südosteuropa

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Rumänien Von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert Juden lebten seit frühesten Zeiten auf dem Gebiet des heutigen Rumänien, das vor zweitausend Jahren von einem thrakischen Volk, den Dakern, bewohnt wurde. Im Jahre 106 u. Z., als das Römische Reich das damalige Dakien eroberte, gehörten zu den kaiserlichrömischen Kohorten auch Soldaten, deren Heimat Judäa war. Daneben wurden die Truppen auch von jüdischen Kaufleuten begleitet. Als archäologische Beweise jüdischer Anwesenheit unter den römischen Kolonisatoren und der einheimischen Bevölkerung in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung fand man unter anderem hebräische Inschriften und Münzen im nördlichen Einzugsgebiet der Donau. In den folgenden Jahrhunderten zogen zahlreiche Volksstämme durch die Region, in der sich auch die zum Judentum übergetretenen Chasaren im 8. Jh. für kurze Zeit niederließen. Zum Abschluß dieses langwierigen Prozesses der multiethnischen Vermischung entstand ein neues Volk, die Rumänen, die in drei politisch zunächst voneinander unabhängigen Gebieten lebten: dem Fürstentum Walachei (gegründet um 1290), dem Fürstentum Moldau (gegründet um die Mitte des 14. Jhs.), die beide mehrere Jahrhunderte unter der Oberhoheit des Osmanischen Reichs standen, sowie in Transsylvanien, das dem Königreich Ungarn angehörte, im 16. Jh. unter osmanische Herrschaft geriet und seit 1690 habsburgisches Kronland wurde. Seit dem 14.Jh. wurden die Juden ermutigt, sich in der Moldau und der Walachei niederzulassen, um die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Fürst Dan, der in den Jahren 1384–1386 in der Walachei regierte, garantierte ihnen Rechte. Angelockt von dem günstigen Status, der ihnen angeboten wurde, kamen Juden aus den südlichen Donaugebieten, aus Spanien, Polen und der Ukraine in die rumänischen Fürstentümer, da es hier weder Ghettos noch Pogrome gab. Die Juden gründeten Handelszentren, bauten Mühlen und Gasthöfe und übten verschiedene Handwerke aus. Sie trugen durch Ausfuhr von Getreide, Häuten und Vieh zur Ausweitung des Außenhandels bei. Der Geldverleih gegen Zinsen wurde von den rumänischen Juden nur in geringem Umfang betrieben und war nicht ihre ausschließliche Domäne: Rumänen, Griechen und Armenier waren hier ebenfalls tätig. Bei großen Anleihen wandten sich die Fürsten und Bojaren gelegentlich an reiche Juden aus Konstantinopel. 1579 vertrieb Fürst Petru Schiopul die Juden aus der Moldau, doch wurden sie 1612 von Fürst Stefan Tomsa zurückgerufen. Brutale antisemitische Maßnahmen und blutige Ausschweifungen waren in der Moldau und Walachei sehr selten. Eine Massenhinrichtung, die Fürst Michael der Tapfere im Jahre 1594 anordnete, war nicht nur gegen Juden, sondern gegen dfremde Kreditgeber überhaupt gerichtet. Da der griechisch-orthodoxen Kirche in

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Rumänien Fanatismus fern lag, waren in der Regel Unterschiede des Glaubensbekenntnisses kein Grund für eine gewaltsame Verfolgung. Dennoch stand hinter bestimmten Diskriminierungen von Juden im 17.Jh. unter den Fürsten Matei Basarab in der Walachei und Vasile Lupu in der Moldau der Wunsch, die Juden zum Christentum zu bekehren. Druck in diese Richtung wurde jedoch nicht ausgeübt. Gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jhs. tauchten in diesen Ländern die ersten Pamphlete antisemitischen Charakters auf: Ordinul de aur (Der goldene Befehl, 1771) und Infruntarea jidovilor (Die Schelte der Juden, 1803). Im 18. Jh. wurde erstmals in Targu Neamt (Moldau) auch eine Ritualmordbeschuldigung erhoben, die jedoch von dem Fürsten Dimitrie Cantemir zurückgewiesen wurde. Ungefähr 15 solcher Beschuldigungen lassen sich in der Moldau und der Walachei bis zur Mitte 19. Jhs. feststellen. Diese Verleumdungen riefen Gewalttätigkeiten und Plünderungen hervor. Daher verlangte Fürst Alexandru Ipsilanti 1796 in einem Schreiben an den walachischen Metropoliten, falschen Beschuldigungen dieser Art entgegenzutreten, da es bekannt sei, daß solche Morde „nicht dem jüdischen Brauch entsprächen“ und außerdem bei den Untersuchungen keine Schuldigen gefunden würden. In einigen Fällen versteckten orthodoxe Kleriker tatsächlich Juden in den Kirchen, um sie vor der blinden Wut der Menge zu retten. Zahlreiche Dokumente zeigen, daß die Juden im allgemeinen Rechtsschutz genossen. Die Ermordung eines Juden wurde gewöhnlich ohne Ansehen der Person bestraft. 1794 befahl Fürst Alexandru Moruzi von der Walachei, die jüdische Gemeinde vor jedweden Verletzungen oder Beleidigungen zu bewahren. Im folgenden Jahr bestrafte er einen Rumänen, der versucht hatte, ein jüdisches Kind zwangsweise zu taufen. Den jüdischen Gemeinden wurde innere Autonomie gewährt. Ihr Leiter, der im 18. und Anfang des 19. Jhs. den Namen „Chacham baschi“ trug, war ein Rabbiner. Er wurde vom Herrscher benannt und genoß besondere Rechte und Privilegien. Die Juden waren darüber hinaus in einer Gilde mit einem „Staroste“ an der Spitze organisiert. Die jüdische Gilde hatte in erster Linie einen fiskalischen Zweck. Sie war verpflichtet, eine kollektive Steuer zu leisten. Infolge des langen Zusammenlebens mit den Rumänen waren die Juden in den rumänischen Fürstentümern tief verwurzelt. In der Moldau waren 1831 gemäß einer offiziellen Volkszählung von den 33908 Familienoberhäuptern, die in den Städten lebten, 91% einheimische Juden und nur 9% Neuzuwanderer. Über 60 Städte und Dörfer wurden während des 18. und 19. Jhs. von den Juden in der Moldau gegründet. Nach dem Russisch-Türkischen Krieg von 1828 und dem Friedensvertrag von Adrianopel (1829) befanden sich die Walachei und die Moldau bis 1834 unter russischer Besatzung. Der Gouverneur beider Länder, General Pavel Kiselev, verkündete das „Organische Reglement“, die erste rumänische Verfassung, die auch für die Juden wichtige Vorschriften enthielt. Sie wurden von einer Naturalisierung ausgeschlossen. Juden, die keiner „nützlichen Beschäftigung“ nachgingen, sollten ausgewiesen werden. Noch restriktiver war ein Gesetz von 1839: Alle Juden, die nicht in der Lage waren, ein Vermögen von mindestens 5000 Piastern nachzuweisen, und die keinen „anerkannten Beruf“ ausübten, wurden als „Vaga-

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bunden“ angesehen und sollten des Landes verwiesen werden. Obwohl dieses Gesetz 1851 aufgehoben wurde, wiederholten die Gegner einer Emanzipation der Juden in der Folgezeit häufig den Vorwurf, die Juden seien Vagabunden und letztlich für den Staat nutzlos. Die statistischen Erhebungen der Volkszählungen entkräften solche Vorwürfe: Im Jahr 1889, als die Juden 4,48% der Gesamtbevölkerung bildeten, stellten sie 19,7% der Handwerker, 26,26% der Meister, 16,72% der Arbeiter und 8,96% der Lehrlinge in der Industrie. In Bezirken wie Botosani, Jassy und Dorohoi (Nord-Moldau) stellten sie sogar über 65% der Handwerker. 1904 waren 42,5% der Juden in Industrie und Handwerk tätig, 37,9% im Handel und im Bankgeschäft, in dem sie eine wichtige Rolle für das wirtschaftlich unterentwickelten Rumänien spielten. Das Programm der rumänischen Unabhängigkeitsbewegung in der Walachei und der Moldau, die 1848 in einen Aufstand gegen das russische Protektorat mündete, forderte unter anderem die Gleichberechtigung der Juden. 1859 vereinigten sich die beiden Länder unter einem einzigen Fürsten, Alexandru Ioan Cuza. Dieser gestand den Juden in der sogenannten „kleinen Naturalisierung“ das lokale Wahlrecht zu. Der liberale Cuza wurde jedoch 1866 zur Abdankung gezwungen und an seiner Stelle Karl von Hohenzollern-Sigmaringen als Herrscher eingesetzt (seit 1880 König). Viele von den Revolutionären von 1848 vergaßen, nachdem sie Minister und Abgeordnete geworden waren, ihre Ideale bezüglich der Emanzipation der Juden und verwandelten sich in erbitterte Antisemiten. Während der Vorbereitung der neuen Verfassung (1866) wurden antijüdische Demonstrationen organisiert, jüdische Viertel geplündert und der neugegründete Choral-Tempel in Bukarest beschädigt. Dem angeblichen „Wunsch des Volkes“ folgend, stimmte das Parlament für den siebten Artikel der Verfassung, der Nichtchristen grundsätzlich von den Staatsbürgerrechten ausschloß. Kurz darauf begann die Polizei, Juden aus den Dörfern zu verjagen und angebliche „jüdische Landstreicher“ über die Grenze abzuschieben. In der zweiten Hälfte des 19. Jhs. wurde „die jüdische Frage in Rumänien“ zu einem schmerzlichen Problem, das auf europäischer Ebene heftig diskutiert wurde. Nach dem rumänischen Unabhängigkeitskrieg gegen das Osmanischen Reich von 1877 machten die europäischen Mächte auf dem Berliner Kongreß 1878 die Emanzipation der rumänischen Juden zur Bedingung für ihre Zustimmung zur vollständigen Unabhängigkeit des rumänischen Königreichs. Angesichts der starken Opposition seitens der rumänischen Vertreter akzeptierten die Signatarmächte des Berliner Vertrags schließlich einen Kompromiß, der die individuelle Naturalisierung der Juden durch Parlamentsbeschluß vorsah. In den folgenden 38 Jahren wurden jedoch nur 883 jüdische Soldaten, die im Krieg von 1877 gekämpft hatten, und noch einige hundert weitere Juden eingebürgert. Die große Mehrheit wurde weiterhin als „Fremde“ behandelt. Es war ihnen untersagt, Ackerboden zu besitzen, als Staats- oder Eisenbahnbeamte, Ärzte in staatlichen Krankenhäusern, Anwälte, Lehrer, Chemiker oder Börsenmakler zu arbeiten und bestimmte Waren wie Tabak oder Salz zu verkaufen. Jüdische Frauen durften nicht als Hebamme tätig sein. Obwohl die Juden ab 1854 Wehrdienst zu leisten hatten, konnten sie nicht Offizier werden. 1893 wurden jüdische Kinder aus den öffentlichen Volksschulen ausgeschlossen, in den folgenden Jahren

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auch aus den Gymnasien und den Berufsschulen, weshalb die jüdischen Gemeinden ihr eigenes Schulnetz aufbauten. 1913 publizierte der „Verband der bodenständigen Juden“ eine Liste von ungefähr 200 Verboten, die im Laufe der Zeit erlassen wurden. Einige jüdische Intellektuelle und Publizisten, die die antisemitische Politik der Regierung scharf kritisierten und die Weltöffentlichkeit über diese unterrichteten, wurden 1885 ausgewiesen. Unter diesen befand sich auch der bedeutende Wissenschaftler Dr. Moses Gaster, der auf die sozialen und politischen Hintergründe des rumänischen Antisemitismus hingewiesen hat: Über 80% der 5,5 Mio. Menschen zählenden rumänischen Bevölkerung waren Bauern, die zum größten Teil in sehr niedrigen Verhältnissen lebten und von den Regierungsbeamten ebenso wie von den Grundbesitzern ausgebeutet wurden. Sie waren anfällig für die von den beiden großen politischen Parteien, den Konservativen und den Liberalen, verbreitete Propaganda, die für das Elend der Dörfer nicht die Großgrundbesitzer, sondern die jüdischen Pächter, Kaufleute und Schankwirte verantwortlich machte. Daß die Juden unter den großen Pächtern nur eine Minderheit darstellten (553 von 2498 im Jahr 1906) und daß die Großgrundbesitzer selbst den Alkohol produzierten und ihre Saisonarbeiter häufig sogar mit Schnaps bezahlten, spielte dabei keine Rolle. Die antisemitische Aufwiegelung der Bauern hatte gelegentlich ganz andere Auswirkungen als beabsichtigt. Der größte bäuerliche Aufstand in der Geschichte Rumäniens begann im Frühling 1907 aufgrund antisemitischer Provokationen im Norden der Moldau. Schon bald richtete sich der Aufstand jedoch auch gegen die großen Latifundien und wurde von der Regierung blutig niedergeschlagen, wobei 11 000 Opfer unter den Bauern zu beklagen waren. 1886 fand in Bukarest der erste internationale antisemitische Kongreß statt. Auch, und dies ist vielleicht kein Zufall, die erste zionistische Weltkonferenz fand in Rumänien statt (1882 in Focs¸ani). Emigranten aus Rumänien gründeten zwei der ersten Siedlungen in Palästina, Sichron Ja’akob und Rosch Pinna. Von den 266 652 Juden, die bei der rumänischen Volkszählung von 1889 registriert wurden, verließen vor dem Ersten Weltkrieg aufgrund der antisemitischen Verfolgung über 70 000 das Land und machten sich in Richtung Amerika, England oder Palästina auf. Gleichzeitig entwickelte sich auch eine Tendenz zur Assimilation, die vor allem der „Verband der bodenständigen Juden“ (gegründet 1910) vertrat, eine Organisation, die sich für die Emanzipation der Juden unter Beibehaltung ihrer religiösen und kulturellen Identität einsetzte. Dieses Ziel war erst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zu erreichen.

Vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem in der rumänischen Armee 30000 jüdische Soldaten kämpften, obwohl sie offiziell nicht einmal die rumänische Staatsangehörigkeit besaßen, wurden dem Königreich Rumänien durch den Vertrag von Trianon eine Reihe von Gebieten mit vorwiegend rumänischer Bevölkerung angegliedert: das seit dem 17. Jh. zur Habs-

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burgermonarchie gehörende Transsylvanien (Siebenbürgen) und ein Teil des Banats, das ursprünglich zur Moldau gehörende und 1812 von Rußland annektierte Bessarabien, die ebenfalls ursprünglich moldauische Provinz Bukowina, die 1775 vom Osmanischen Reich an die Habsburgermonarchie abgetreten worden war, sowie die Dobrudscha.1 Hierdurch wurde das rumänische Territorium von 53 489 qkm auf 122 282 qkm mehr als verdoppelt. Die Bevölkerungszahl stieg von 7,5 Mio. auf 16 Mio. Die jüdische Gemeinschaft zählte nun knapp 800000 Personen, 5% der Gesamtbevölkerung, die sich folgendermaßen auf die einzelnen Regionen verteilte: 230 000 im „alten Königreich“, ungefähr 240 000 in Bessarabien, 130000 in der Bukowina und 200000 in Transsylvanien und im Banat. Als die Westmächte auf der Pariser Friedenskonferenz Rumänien die neuen Provinzen zusprachen, taten sie dies unter dem Vorbehalt, daß „Groß-Rumänien“ den Juden die Staatsbürgerrechte verlieh. Die Verfassung von 1923 garantierte auch die Verleihung der Staatsbürgerrechte an alle Juden einschließlich derjenigen, die in den neu hinzugewonnenen Gebieten lebten. Ein Gesetz von 1924 sprach jedoch allen Juden das Recht auf Einbürgerung ab, die als österreichische Staatsbürger vor dem 18. November 1918 noch keinen festen Wohnsitz in diesen Provinzen gehabt hatten oder beim Umzug hierher vor diesem Stichtag noch nicht volljährig gewesen waren. Entgegen der Idee der Rechtsgleichheit wurde den Juden der Zugang zur staatlichen Verwaltung, zur Magistratur, zum Offizierskorps und zu den Universitätslehrstühlen verwehrt. Als Staatsbürger nahmen die Juden am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben Rumäniens aktiv teil. Jüdische Parteien traten bei Wahlen an und konnten, z. T. im Verbund mit rumänischen demokratischen Parteien, in den zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre einige Abgeordnete in das Parlament entsenden: 1928 gab es vier jüdische Abgeordnete in Parlament; bei den Wahlen von 1932 gewann die jüdische Partei fünf Sitze. Jüdische Kinder hatten freien Zugang zu den staatlichen Schulen, und die jüdischen Gemeinden besaßen auch ihr eigenes Netz von Schulen, viele von ihnen in hebräischer oder in jiddischer Sprache, zu der sich zu dieser Zeit 69% der jüdischen Bevölkerung als Muttersprache bekannten. 1876 gründete Abraham Goldfaden in Jassy das erste jiddische Profitheater in der Welt. Zwischen den beiden Weltkriegen existierten sogar mehrere jiddische Theater in verschiedenen Städten Rumäniens. Die Juden schenkten der rumänischen Kultur hervorragende Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler, Musiker, Schauspieler und Regisseure. Hier sind Tristan Tzara, einer der Begründer des Dadaismus, sowie die weltberühmten modernen Maler Victor Brauner und Marcel Iancu zu nennen. Einige der wichtigsten Autoren von Standardwerken im Bereich der rumänischen Philologie waren die Juden Laza˘ r S¸a˘ineanu, Aureliu Candrea, Heinrich Tiktin und J. Byk. Unter den besten Vertretern der rumänisch1 Zur Geschichte der Juden in Transsylvanien bis 1918 vgl. den Artikel zu Ungarn (S. 152–157), zu der Bukowina bis 1918 vgl. den Artikel zu Polen und Litauen (S. 245–264) und zur Situation der Juden im Bessarabien des 19. Jhs. vgl. den Artikel zu Rußland, Weißrußland, der Ukraine und dem Baltikum (S. 180–195).

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sprachigen Literatur sind bedeutende jüdische Namen zu verzeichnen, wie Mihail Sebastian und Benjamin Fundoianu, der später als Benjamin Fondane seine dichterische Karriere in Frankreich fortsetzte. In der Bukowina, besonders in Czernowitz, dessen jüdische Einwohner (etwa 50 000) die Hälfte der Stadtbevölkerung stellten, blühte eine deutsch-jüdische Kultur auf. Es gab dort eine ganze Generation jüdischer deutschsprachiger Dichter, zu denen unter anderem Paul Celan und Rose Ausländer gehörten. In Czernowitz wurde auch der weltbekannte Tenor Joseph Schmidt geboren, der in seiner Heimatstadt als Synagogenkantor seine musikalische Tätigkeit begann. Obwohl die Verfassung von 1923 formal die „jüdische Frage“ löste, nahm der Antisemitismus in der Folgezeit aufgrund des Aufstiegs rechtsradikaler Strömungen noch zu. Noch 1923 wurde die „Liga für national-christliche Verteidigung“ gegründet, deren einzige „Ideologie“ der Antisemitismus war. Ihr Begründer und Führer A. C. Cuza war schon seit Ende des 19. Jhs. der schärfste Verfechter einer antijüdischen Politik. Noch aggressiver aber war die „Legion des Erzengels Michael“, gegründet 1927 unter Leitung von Corneliu Zelea Codreanu, die 1929 dem Namen „Eiserne Garde“ annahm und in den dreißiger Jahren die Rolle einer „fünften Kolonne“ des nationalsozialistischen Deutschland in Rumänien spielte. Die politische Klientel dieser rechtsextremen Organisationen waren junge Leute aus den mittleren Gesellschaftsschichten, Studenten, Lehrer, Rechtsanwälte und kleine Händler, die die Juden als Konkurrenz betrachteten. So kann es nicht verwundern, daß eine der wichtigsten Forderungen dieser Organisationen die Einführung eines Numerus clausus für jüdische Studenten war, um deren Zugang zum intellektuellen und wissenschaftlichen Bereich zu beschränken. Übrigens wurden tatsächlich bestimmte Maßnahmen in diese Richtung stillschweigend hingenommen. In Czernowitz z. B. betrug der Prozentsatz jüdischer Studenten im Jahre 1935 nur ein Viertel von dem der Vorkriegszeit. Die ersten blutigen Ausschreitungen fanden an den Universitäten statt. 1926 wurde in Czernowitz der jüdische Student Falik ermordet, weil er gegen den Numerus clausus protestiert hatte, und der Mörder wurde freigesprochen. 1927 hielten die rechtsradikalen Studenten eine Tagung im nordtranssylvanischen Oradea ab und organisierten in dieser Stadt ein Pogrom. Fünf Synagogen wurden verwüstet, Torarollen auf öffentlichen Plätzen verbrannt. Die Gewalttätigkeiten breiteten auch über Cluj (Klausenburg) und andere Städte Transsylvaniens und der Moldau aus. In den dreißiger Jahren entstanden neue antisemitische Parteien und Organisationen und sorgten für eine Verschärfung der antijüdischen Übergriffe. Die großen rumänischen Parteien ermutigten die antisemitische Propaganda. Diese diente auch als Ablenkungsmanöver angesichts einer sich immer weiter verschärfenden wirtschaftlichen Krise und einer steigenden Arbeitslosigkeit. Trotzdem gelang es den jüdischen Gemeinden, Hilfsorganisationen für die Flüchtlinge aus den von Deutschland besetzten Länder zu organisieren. Hierbei erhielten sie Unterstützung von zahlreichen rumänischen Intellektuellen und Priestern. Die Regierung unternahm nichts dagegen, solange noch nicht klar war, ob sich Rumänien mit England und Frankreich oder mit Deutschland verbünden würde. Die Regierung Goga-Cuza, die im Jahre 1938 nur kurz an der Macht blieb, erklärte den Antisemitismus zur Staatspolitik und erließ ein Rassengesetz. Nach einer Revision der Ge-

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setze über den Erwerb der Staatsbürgerrechte durch Juden wurden bis Ende 1939 36% der jüdischen Bevölkerung die bereits verliehenen Staatsbürgerrechte wieder entzogen. 1938 wurde die jüdische Presse zum Verstummen gebracht. Die Berufsverbände der Ärzte, Apotheker, Rechtsanwälte, Ingenieure und Architekten begannen, die Juden aus ihren Reihen auszustoßen, und auch aus bestimmten Zweigen der Industrie wurden sie ausgeschlossen. Unter der „königlichen Diktatur“ (1938–1940) wurde ein Gesetz erlassen, nach dem jüdische Männer gezwungen waren, anstelle der Ableistung ihres Militärdienstes eine hohe Ablösesumme zu zahlen. Dies brachte vor allem Juden aus ärmeren Verhältnissen in große Schwierigkeiten. Außerdem wurden nun Eheschließungen zwischen Juden und Christen sowie das rituelle Schlachten verboten. Nachdem Rumänien bereits am 23. März 1939 ein Wirtschaftsabkommen mit dem Deutschen Reich geschlossen hatte, das das Königreich wirtschaftlich eng an Deutschland anschloß, suchte die rumänische Regierung nach den deutschen Siegen an der Westfront die Bindungen zwischen den beiden Ländern noch zu verstärken. Gemäß den Geheimbestimmungen des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes von 1939 über die jeweiligen Einflußsphären der beiden Länder in Ostmitteleuropa übte die deutsche Regierung im Sommer 1940 Druck auf Rumänien aus, einem sowjetischen Ultimatum, das die Abtretung der Nordbukowina und Bessarabiens verlangte, nachzugeben. Ende Juni wurden die beiden Gebiete von sowjetischen Truppen besetzt. In der Folgezeit wurde eine große Zahl der hier lebenden Juden als „Kapitalisten“ und „Klassenfeinde“ nach Sibirien verschleppt. Die rumänischen Truppen ermordeten ihrerseits auf ihrem Rückzug zahlreiche Juden in der Bukowina und der Moldau. In Dorohoi kamen auf diese Weise über 50 Juden um. Ebenfalls 1940 wurde Rumänien durch den Zweiten Wiener Schiedsspruch gezwungen, den Norden Transsylvaniens an Ungarn abzutreten.2 Aus der hierdurch ausgelösten Staatskrise ging Rumänien endgültig als Satellitenstaat des nationalsozialistischen Deutschland hervor. Im September 1940 wurde König Karl II. durch den kurz zuvor zum Staatsführer ernannten Generalstabschef Ion Antonescu zur Abdankung zugunsten seines Sohnes Michael gezwungen. Da dieser noch sehr jung war, blieb Antonescu der wahre Herrscher im Land und regierte mit fast diktatorischen Vollmachten. Seiner Regierung gehörten auch Mitglieder der „Eisernen Garde“ an. Ungestraft verübten die Angehörigen der „Eisernen Garde“ Verbrechen und Gewalttätigkeiten gegen Juden. Diese kulminierten vom 21. bis zum 23. Januar 1941 in einem schrecklichen Pogrom in Bukarest. 120 Juden wurden ermordet, viele von ihnen im Schlachthof gehängt, 25 Tempel und Synagogen in Brand gesetzt, zerstört oder verwüstet, über 600 jüdische Geschäfte und ungefähr 600 Wohnungen geplündert. Gleichzeitig organisierte die „Eiserne Garde“ einen Aufstand in der Absicht, die ganze Macht im Staat an sich zu reißen. Der Putsch wurde jedoch von der militärischen Führung unter Antonescu vereitelt. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 trat Rumänien an 2 Zum weiteren Schicksal der dortigen Juden vgl. den Artikel über Ungarn in diesem Band S. 158–160.

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der Seite Deutschlands in den Krieg ein. Auf dem Marsch nach Osten begingen deutsche und rumänische Truppen Massaker unter den Juden im Norden der Moldau. Ende Juni wurden in Jassy ungefähr 4000 Juden – nach anderen Quellen sogar mehr – in Viehzüge gepfercht und ermordet. In den wiedereroberten Gebieten wurde der gelbe Stern eingeführt, das Vermögen der Juden konfisziert, Unterricht und Gottesdienst wurde ihnen untersagt. Der Czernowitzer Tempel wurde angezündet, und zum ersten Mal in der Geschichte dieser Stadt wurde in Czernowitz ein Ghetto eingerichtet. Ebenso entstanden Ghettos in Bessarabien. Von 1941 bis 1942 fanden Massendeportationen statt. Fast alle Juden aus Bessarabien und der Bukowina wurden in das als „Transnistrien“ bezeichnete Gebiet jenseits des Dnjester verschleppt und kamen dort teilweise um. Überall zwischen Dnjestr und Bug – in Bogdanowka, Atmeketka und Domanowka, in Golta, Vapniarka, Peciora, Moghilew, in Jaruga, Sargorod, Djurin, Kopaigorod, Vorosilovka und in Dutzenden anderer Ortschaften – wurden Vernichtungslager errichtet. Zehntausende Deportierte wurden von rumänischen Militäreinheiten oder von deutschen Einsatzgruppen erschossen; viele andere starben an Hunger, Kälte und Epidemien. Im Oktober 1941 ermordeten die rumänischen Besatzungstruppen auf persönlichen Befehl Antonescus in Odessa 25 000 Juden; die Leichen, in Holzbaracken gesammelt, wurden verbrannt. Das Schicksal der rumänischen Juden unterschied sich in den einzelnen Gebieten des Landes, in Abhängigkeit von den spezifischen historischen und politischen Bedingungen. In Nordtranssylvanien, das zu Ungarn gehörte und 1944 von der deutschen Armee besetzt wurde, wurden mit Unterstützung der ungarischen Gendarmen alle Juden über dreizehn Jahre nach Auschwitz deportiert (130 000). Nur ungefähr 10 000 von ihnen überlebten. Unter ihnen befand sich der zu diesem Zeitpunkt sechzehnjährige künftige Nobelpreisträger Elie Wiesel. Im „alten Königreich“ wurde, obwohl Gustav Richter, der Gesandte Eichmanns, Transporte in polnische Vernichtungslager vorbereitet hatte, die Deportation unerwartet von Ion Antonescu abgelehnt. Dies war keinen Akt der Menschenliebe, wie es führende rumänische Kreise für sich in Anspruch nahmen, sondern die Konsequenz der Niederlage vor Stalingrad und des Zusammenbruchs der rumänischen Front in der Ukraine. Nach dem Krieg entstand die nicht nur von der rumänischen Staatsführung, sondern auch von verschiedenen Vertretern des Judentums verbreitete Legende, daß es in Rumänien keine Schoa gab. Die Anhänger dieser falschen These vergessen die ungefähr 200 000 Juden, die in Transnistrien umgebracht wurden, die Zehntausende von Opfern der Pogrome von Jassy, Bukarest, Dorohoi, Odessa u.a. Aus dem „alten Königreich“ und Südtranssylvanien wurden nur wenige Juden nach Transnistrien deportiert. Dort aber wurden harte Rassengesetze eingeführt. Jüdische Unternehmen wurden zwangsweise „rumänisiert“, jüdische Immobilienbesitzer und Landeigentümer enteignet, den Juden wurde der Besuch der Hochschulen und die Ausübung bestimmter Berufe verboten. Zuletzt wurden jüdische Männer zur unbezahlten Zwangsarbeit verpflichtet. Die Strafe für Nichterscheinen bei der Zwangsarbeit war die Vertreibung der

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gesamten Familie nach Transnistrien. Freilich mußten die Juden aus dem „alten Königreich“ nicht den gelben Stern tragen und sich auch nicht in Ghettos zusammendrängen. Die jüdischen Schüler, die aus dem Staatsunterricht ausgeschlossen wurden, durften jüdische Schulen besuchen. Jüdische Schauspieler und Musiker, allesamt von der Mitwirkung an rumänischen künstlerischen Einrichtungen ausgeschlossen, sammelten sich um das Bukarester Jüdische Theater, das in den Jahren 1942/43 in rumänischer Sprache Vorstellungen geben durfte. Nur aus Rumänien liefen während des Krieges Emigrantenschiffe mit Juden nach Palästina aus, insgesamt 31 an der Zahl mit 13000 Menschen am Bord. Zwei der Schiffe sanken. Manche dieser „Zugeständnisse“ wurden mit enormen Summen von den jüdischen Gemeinden bezahlt. Rumänische Persönlichkeiten aus Politik und Kultur haben sich gelegentlich zugunsten der Juden eingesetzt. Die königliche Familie z. B. erreichte die Befreiung einiger Juden aus Bukarest, die nach Transnistrien deportiert werden sollten. Aus Protest gegen die antisemitischen Massaker trat der Patriarch der orthodoxen Kirche Nicodem im Dezember 1942 zurück. Demokratische Parteiführer wie Iuliu Maniu und Gheorghe Bra˘tianu setzten sich für die Verhinderung der nationalsozialistischen „Endlösung“ ein. In Nordtranssylvanien verurteilten der griechisch-katholische Bischof Iuliu Hossu und sein römisch-katholischer Amtsbruder Marton Aron 1944 die Deportationen und riefen die christliche Bevölkerung auf, den Juden Beistand zu leisten. Dem rumänischen Bürgermeister von Czernowitz Dr. Traian Popovici ist es zu verdanken, daß ein Teil der jüdischen Einwohner dieser Stadt vor der Deportation gerettet wurden. Über 40 rumänische Staatsbürger wurden für die Hilfe, die sie verfolgten Juden geleistet haben, vom Staat Israel als „Gerechte der Völker“ ausgezeichnet. Bei Kriegsende lebten auf dem Gebiet Rumäniens, dem Nordtranssylvanien wieder angegliedert worden war, nicht aber Bessarabien und die Nordbukowina, die bei der Sowjetunion verblieben, etwa 400 000 Juden. Die Mehrheit der Juden, deren Erwerbstätigkeit auf dem Bestehen privatwirtschaftlicher Strukturen basierte, sah ihre Existenz durch die fortschreitenden Verstaatlichungen bedroht und strebte daher die Emigration an. Allein in den Jahren 1949–1951 wanderten über 100000 Juden nach Israel aus. Eine viel kleinere Gruppe wandte sich dem Sozialismus zu und beschritt den Weg der Assimilation. Dazu gehörte eine geringe Anzahl von Städtern, die Einlaß in den kommunistischen Parteiapparat, in dem sie jedoch zahlenmäßig keine große Rolle spielten, in die städtischen Verwaltungen und in die Presse fanden. Daneben gab es eine Schicht von Intellektuellen, vorwiegend linksorientierte Jugendliche, die aufrichtig glaubten, daß die neue Gesellschaftsordnung, die alle rassistischen Gesetze aufhob und humanistische Prinzipien proklamierte, tatsächlich soziale Gerechtigkeit, Freiheit für alle Nationalitäten und Brüderlichkeit bringen würde. Doch diese Illusionen fingen bald an, zu verblassen. Der Moskauer „Ärzteprozeß“ erzeugte auch in Rumänien eine ernüchternde Welle des Antisemitismus. Die zionistischen Organisationen wurden aufgelöst, ihre Führung verhaftet. Schrittweise wurden die meisten Juden aus den Parteiorganen und aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Parallel zu diesen

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Maßnahmen wurde das kulturelle Leben der Juden eingeschränkt. Im Juni 1948 gab es in Rumänien 69 Volksschulen und 23 Gymnasien mit Jiddisch als Unterrichtssprache, 13 000 Schülern und 1000 Lehrern. 1949, als alle Schulen vom Staat übernommen wurden, blieben nur drei Schulen, deren Unterrichtssprache Jiddisch war, übrig. Das Jüdische Staatstheater in Jassy wurde in den sechziger Jahren abgeschafft, unter dem Vorwand, daß es mit dem Bukarester Jüdischen Theater „fusioniert“ sei. Der Nationalkommunismus Ceaus¸escus, der 1965 Erster Sekretär des ZK der Kommunistischen Partei Rumäniens und 1967 Staatschef wurde, heizte den Antisemitismus an und verwendete ihn als politische Waffe. Antisemitische Angriffe in Zeitschriften und Zeitungen wurden toleriert oder sogar ermutigt. Die Emigration nach Israel wurde gegen Zahlung hoher Geldbeträge gestattet. So wurde die Massenauswanderung der Juden ein Menschenhandel, ein Geschäft großen Ausmaßes. Nach dem Sturz Ceaus¸escus 1989 lebten in Rumänien noch etwa 14 000–16 000 Juden. Ihre Zahl sank in den letzten Jahren noch weiter. Repräsentanten und Bewahrer der jüdischen kulturellen Identität sind das Bukarester Jüdische Theater, das auch ein rumänisches Publikum anzieht und Tourneen ins Ausland (Israel, Amerika, Deutschland u. a.) unternimmt, der Verlag Hasefer, der zahlreiche wertvolle Bücher über das Judentum publiziert, die ausgezeichnete Zeitschrift Realitatea Evreiasca (Die jüdische Realität) und das Institut für die Geschichte der Juden in Rumänien, das in den letzten Jahren wichtige Forschungen und bisher nicht bekannte Dokumente veröffentlicht hat. Das Ende der Diktatur bedeutete für die jüdische Gemeinschaft zwar größere Bewegungsfreiheit, wurde aber gleichzeitig auch als totale Freiheit für xenophobe und antisemitische Strömungen gedeutet. Bücher wie Mein Kampf und die Protokolle der Weisen von Zion wurden frei auf der Straße verkauft. Eine ganze Reihe rechtsradikaler Zeitungen verbreitete offen den Judenhaß. Gruppierungen, die sich als Einheiten der „Eisernen Garde“ verstehen, wurden neu gegründet und erfreuten sich mit ihren Veranstaltungen einer oft unkritischen Berichterstattung der Presse. In den Medien lief eine breite Kampagne für die Rehabilitierung ideologischer Aussagen der antisemitischen Bewegungen der zwanziger und dreißiger Jahre, deren Schriften neu herausgegeben wurden. Mit Unterstützung einer neofaschistischen Stiftung wurden in drei Städten Standbilder von Ion Antonescu errichtet, die einzigen Denkmäler, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa einem Verbündeten Hitlers gewidmet wurden. Bedeutende rumänische Politiker, Literaten und Publizisten warnten vor Xenophobie und Fremdenfeindlichkeit als Hemmnisse auf dem Weg zur Demokratisierung des Landes.

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Der Balkan bis zum 15.Jahrhundert Antike und Spätantike Auf dem Balkan gab es bereits im 4. Jh. v. u. Z. jüdische Gemeinden, die seit langer Zeit die Küstenstriche und die Handelsstraßen säumten. Jules Juster1 führt 28 Städte an, für die es in dem im Corpus Inscriptionum Latinarum gesammelten Material Hinweise auf die Existenz von Juden gibt. Spätere Forschungen belegen weitere jüdische Ansiedlungen, so z. B. in der Kolonie Pannonia: Intercisa (Dunapentele), Tricciana (Sagvar), Aquincum, Esztergom, Savaria. Die Schwerpunkte jüdischer Siedlung lagen jedoch nach wie vor in den städtischen Niederlassungen Kleinasiens und entlang den Küsten Italiens, zwei Regionen, aus denen während des gesamten Mittelalters ein stetiger Strom von Immigranten auf den Balkan gelangte. Die Juden der Antike waren griechischsprechende Städter, die Handwerk und Handel trieben. Ihre Kultur war die hellenistische Kultur, auch wenn sie der Autorität des jüdischen Patriarchen in Palästina, dessen hebräischer Titel Nasi lautete, unterstanden. Dieser legte den liturgischen Kalender der Diaspora fest und gab ihn bekannt, er legte den Juden die Tora und die Mischna, die verbindliche Sammlung der „mündlichen Überlieferung“, aus und repräsentierte sie gegenüber den römischen Behörden. In den zwei Jahrhunderten von der Eroberung Jerusalems im Jahr 63 v. u. Z. durch Pompeius bis zur Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstands, dem letzten jüdischen Aufstand gegen das römische Weltreich, unter Kaiser Hadrian in den Jahren 132–135 u. Z., hatten die Juden eine leidvolle Zeit zwischen Anpassung und Selbstbehauptung durchlebt, in der sie im Jahr 70 u. Z. die Zerstörung des Zweiten Tempels und ihrer Hauptstadt sowie den Verlust ihrer Unabhängigkeit hinnehmen mußten. Im polytheistischen Römischen Reich fanden sie indes eine Nische. Unter der Herrschaft Diokletians (284–305 u. Z.), der seine Hauptstadt an den Bosporus verlegt hatte, konvertierte die Schwester des Kaisers sowie einige Mitglieder der Oberschicht sogar zum Judentum. Andere sympathisierten mit dieser monotheistischen Religion. Neben bedeutenden Synagogenanlagen im anatolischen Sardis, in Aphrodisias und auf den ägäischen Inseln gab es auch in Stobi, Thessaloniki, Verroia und anderen Orten Synagogen. Trotz der lückenhaften Quellenlage bestehen kaum Zweifel daran, daß es von den städtischen Ansiedlungen der Ägäis bis an das Grenzgebiet des Imperiums an der Donau eine starke jüdische Präsenz gegeben haben muß. Seit Julius Cäsar (59–44 v. u. Z.) war das Judentum eine vom Staat anerkannte Religion. Juden, die ihr Judentum praktizierten, waren von öffentlichen Handlungen und Auflagen, die ihre religiösen Gesetze verletzten, befreit. Außerdem war es ihnen erlaubt, ihre Religion 1

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auszuüben und sich zum gemeinsamen Mahl zu versammeln sowie den Sabbat und die jüdischen Feiertage zu halten. Sie konnten über die Mittel zur Errichtung neuer Synagogen verfügen. Ihr Gemeindebesitz und ihre jährlichen Abgaben nach Jerusalem waren ebenfalls durch das Gesetz geschützt. Die von Kaiser Caracalla (211–217 u. Z.) im Jahr 212/13 erlassene Constitutio Antoniniana gestand fast alle freien Männern, einschließlich der Juden, das römische Bürgerrecht zu. Dies erklärt auch, weshalb sich unter den griechischsprechenden romaniotischen, also „römischen“ Juden bis in die heutige Zeit Namen wie Romanos, Politis usw. erhalten haben. Kurz, jüdische Männer waren Inhaber des römischen Bürgerrechts und Angehörige eines autonomen Gemeinwesens mit einem autorisierten Kult, der nach Tertullian als „religio licita“, erlaubte Religion, bezeichnet wird. Dieser Status war vielleicht der entscheidende Faktor dafür, daß die Juden und die jüdische Religion im christlich-römischen Reich und in dessen Nachfolgestaaten im lateinischen Westen und auf dem orthodoxen Balkan das Mittelalter überdauert haben. Diese günstigen Lebensumstände begannen sich erst mit dem Aufstieg und der Alleinherrschaft Konstantins I. (306–337 u. Z.) zu ändern. Dieser erkannte nicht nur mit dem Toleranzedikt von 311 das von Diokletian verfolgte Christentum als „religio licita“ an, sondern er machte es nun auch unter den anderen Religionen zur „prima inter pares“, zur „Ersten unter Gleichen“. Damit leitete er einen Wandel in der römischen Religionspolitik ein, die letztlich jüdische „cives romani“ (römische Bürger) zu Bürgern zweiter Klasse und den jüdischen Glauben zu einer verachteten Religion machen und Juden und Judentum damit für das gesamte nächste Jahrtausend in einen Zustand der Erniedrigung versetzen sollte. In der Zeit zwischen der Herrschaft Konstantins bis zur Kodifizierung des offen judenfeindlichen Codex Theodosianus (veröffentlicht 438 u. Z.) läßt sich die Geschichte und die gesellschaftliche Stellung der Juden auf dem Balkan durch die Betrachtung einer Reihe von Ad-hoc-Gesetzen genauer beleuchten. In diesen Gesetzen spiegelt sich die Rivalität zwischen Christentum und Judentum und der Aufstieg des Christentums zur Mehrheitsreligion, die das staatliche System benutzte, um die älteren polytheistischen Religionen, die schließlich auch verboten wurden, zu attackieren und das Judentum zu schwächen. Daß das Judentum in einem Zustand der Erniedrigung überdauerte, wurde aus christlich-theologischer Perspektive als zwingend erforderlich betrachtet, denn dieser Zustand sollte als Beweis dienen, daß der monotheistische Gott Israels seine Gnade vom „alten Israel“ auf das „neue Israel“ übertragen hatte. Während der gesamten Vorherrschaft des Christentums auf dem Balkan wurde das Überleben des Judentums stets vom Staat oder von der Kirche sichergestellt, auch wenn es in späteren Zeiten aus politischen Gründen, auf die noch einzugehen sein wird, zu Zwangstaufen von Juden kam. Die Analyse der genannten Ad-hoc-Gesetze kann in manchen Fällen zum tieferen Verständnis der spezifischen Situation der Gebiete, in denen sie verkündet wurden, dienen. Unter Byzantinisten gilt dies seit langem als anerkannte Herangehensweise, doch sollte dieses methodische Vorgehen niemals ohne eine kritische Betrachtung der jeweiligen lokalen Situation und der besonderen Beziehung des Gesetzes zu derselben angewandt werden. Im

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folgenden wird eine Reihe von Gesetzespromulgationen angeführt, die in der Tat die lokale Lage verdeutlichen. Im Jahr 329 u. Z.. verbot Konstantin I. in Burgulu in Thracia den Juden, jene Juden zu verfolgen, die zum Christentum konvertiert waren.2 Zuvor hatte er bereits verfügt, daß Juden keine christlichen Sklaven besitzen durften, was für die wirtschaftliche Lebensgrundlage der Juden natürlich eine schwerwiegende Einschränkung bedeutete. Darüber hinaus verbot Constantius II. (337–361 u.Z.), vermutlich in Konstantinopel, jüdischen Männern, christliche Sklaven zu kaufen und zu Proselyten zu machen sowie Mischehen mit den in den Webereien des Reichs tätigen Frauen einzugehen.3 Beide Gesetze, die in einer feindseligen religiösen Sprache gehalten waren, wirkten sich wirtschaftlich zum Nachteil der Juden aus, im letzteren Fall insbesondere für die jüdischen Kleidungswerkstätten, die in Konkurrenz zum Reichsmonopol standen. Die kurze Zeit zwischen der Herrschaft von Constantius II. und der von Theodosius I. (379–395 u. Z.) und Theodosius II. (408–450 u. Z.) sah mit Julian Apostata (361–363 u. Z.) ein letztes antichristliches und für die Juden günstiges Zwischenspiel, das mit der offen feindseligen Judengesetzgebung von Theodosius I. ein Ende fand. Im Jahr 388 u.Z. verfügte er die gesetzliche Verankerung des Verbots der Ehe zwischen Christen und Juden.4 Dieses Gesetz stellte im Vergleich zu früheren Eheverboten insofern eine Verschärfung dar, als nun nicht mehr nur Familienangehörige, sondern jeder berechtigt war, einen Verstoß gegen das Mischehenverbot anzuzeigen. Die Tatsache, daß das Gesetz in Thessaloniki verkündet wurde, spiegelt möglicherweise den Umstand wider, daß gerade in dieser Stadt derartige Mischehen vorkamen. Daß zu dieser Zeit in der Nähe des Forums eine prächtige samaritanische Synagoge existierte, weist auf eine starke jüdische Präsenz hin. Verzierungen dieser Synagoge sind in Resten in der byzantinischen Stadtmauer sowie ihre Inschrift am Tor der Anna Palaiogina erhalten. Nach dem Tod Theodosius’ I. im Jahr 395 destabilisierten sich die Verhältnisse in der Präfektur von Illyricum durch die internen Konflikte zwischen dem in der Folge zu Macht gelangten römischen Reichsfeldherrn Stilicho und dem Hofbeamten Rufinus. Die Lage wurde durch die Invasion des westgotischen Heerführers Alarich I. im selben Jahr noch verschärft. Diese Situation nutzten die Christen Illyricums, um Juden und ihre Synagogen anzugreifen. Seit der Zeit des Bischofs Ambrosius von Mailand (374–397 u.Z.) hatte es immer wieder solche aggressiven Übergriffe gegeben. Arcadius, ein Sohn von Theodosius I., befahl deshalb 397 u. Z. dem anatolischen Präfekten von Illyricum, das auch die Provinzen Dacia und Macedonia einschloß, die Juden und ihre Synagogen zu schützen. Theodosius II. erneuerte um 420 u.Z. mit einem an Philipus, den Prätorianerpräfekten von Illyricum, adressierten Dekret diesen kaiserlichen Schutz.5 Der 438 promulgierte Codex Theodosianus enthielt ein relativ umfassendes Judenrecht, 2

Codex Theodosianus (CTh) 16:8:1. CTh 16:8:6 und 16:9:2. 4 CTh 3:7:2. 5 CTh 16:8:21. 3

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das während des gesamten Mittelalter den christlichen Staaten als Basis für die Judengesetzgebung diente. Bis zur Epoche der osmanischen Eroberungen im 14. und 15.Jh. sollte es zusammen mit dem Corpus Iuris Civilis des oströmischen Kaisers Justinian (527–565) das grundlegende Recht für die Juden auf dem Balkan darstellen. Diese Kodifizierungen römischen Rechts sowie alle nachfolgenden Gesetze erkannten die Juden als römische Bürger an, die jedoch Rechtsminderungen unterworfen waren, durch die sie aus dem Militär, aus der Politik (abgesehen vom Dienst in der Senatsversammlung) und aus dem Rechtswesen des christlichen Staates ausgeschlossen blieben. Im Umgang mit den Christen wurden sie in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht ebenso reglementiert wie in sexuellen Kontakten mit diesen. Trotzdem konnten sich die Juden auch hier Nischen schaffen, in denen sie ökonomisch überleben und sogar zur Blüte gelangen konnten, z. B. in der Fertigung von Bekleidung (dem Färben wie der Herstellung), der Gerberei, der Filigranarbeit in Gold und Silber sowie im Handel mit Edelsteinen und Schmuck, im Fernhandel und anderem mehr. Es scheint keine Beschränkungen hinsichtlich jüdischen Grundbesitzes auf dem Land oder in der Stadt gegeben zu haben, und es gibt Quellen, die von der Existenz jüdischer Landarbeiter zeugen. In den jüdischen Gemeinden gab es außerdem Personen, die Bücher und Manuskripte herstellten und religiöse Ämter versahen. Die jüdische Medizin erlebte auf dem Balkan eine Hochblüte und könnte in bestimmten Phasen sogar ein Monopol dargestellt haben. Die drei Jahrhunderte zwischen 400 und 700 stellten für die Juden des Balkans nicht nur im Hinblick auf ihre Stellung in der Gesellschaft eine Zeit des Niedergangs dar, sondern möglicherweise, obwohl dies aus den Quellen nicht belegbar ist, auch in demographischer Hinsicht. Wenn dies der Fall war, war die Ursache hierfür wohl in erster Linie Konversionen zum Christentum. Die einzigen Anhaltspunkte für die demographische Entwicklung der jüdischen Bevölkerung auf dem Balkan sind heutige Berechnungen für das 1. Jh. und die Angaben im Reisebericht Benjamins von Tudela, der in der zweiten Hälfte des 12. Jhs. Griechenland und Umgebung besuchte. Ein Vergleich dieser beiden Zahlenreihen – die Gesamtweltbevölkerung der Juden belief sich im 1. Jh. u. Z. auf etwa 10 bis 12 Millionen und im 12. Jh. auf etwa zwei Millionen – ergibt in absoluten Zahlen einen kontinuierlichen Rückgang der jüdischen Bevölkerung, der sich bis zu dem Tiefststand von etwa einer Million um das Jahr 1500 fortsetzte. In dieser langen Zeitspanne gab es Einwanderungswellen von Juden auf den Balkan, die dort die Verluste durch Assimilation und Konversionen wieder ausglichen und die jüdische Bevölkerung möglicherweise sogar anwachsen ließen. Eine wesentliche Ursache für die demographischen Veränderungen, denen die jüdische Bevölkerung des Balkans im 5. und 6. Jh. unterworfen war, stellte das Ende des Patriarchats in Palästina dar. Als die christlich-byzantinischen Autoritäten nach dem Tod des letzten jüdischen Patriarchen 426 keinen Nachfolger anerkannten, brach das Patriarchatssystem zusammen. Dies hatte Folgen für zahlreiche jüdische Gelehrte, von denen viele auf den Balkan, vor allem nach Konstantinopel, gingen. Dort existierte die vielleicht größte jüdische Gemeinde des Reiches. Die Kontroversen zwischen den hebräischkundigen Einwanderern und den einheimischen griechischsprechenden Juden sind in einer der Gesetzesnovellen

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des Kaisers Justinian dokumentiert. In Novelle 146 wird berichtet, daß sich die einheimischen Juden beklagten, die aus Palästina kommenden Gelehrten versuchten ihnen das Lesen der Schriften in hebräischer Sprache aufzuzwingen. In seiner Eigenschaft als Pontifex Maximus griff Justinian in den innerjüdischen Streit ein und verfügte, daß die Tora in jeder Übersetzung gelesen werden durfte – vorzugsweise in der christianisierten Septuaginta – und daß den Juden das Studium der „Deuterosis“ – dieser Ausdruck bezieht sich hier aller Wahrscheinlichkeit nach auf die „mündliche Überlieferung“ des Rabbinats in Palästina, einschließlich der im 2. Jh. kodifizierten Mischna – verboten sein sollte. Da diese Novelle das Gebet nicht untersagte, faßten die Gelehrten – vornehmlich in Palästina – die mündliche Gesetzesüberlieferung in liturgischen Dichtungen, den Pijjutim, zusammen, die zu dieser Zeit Eingang in den Synagogengottesdienst fanden und schließlich zur Entwicklung der romaniotischen und anderer synagogaler Riten auf dem gesamten Balkan beitrugen. Möglicherweise hatte die Tatsache, daß die Bestimmungen der Novelle 146 die griechischsprachigen Juden weitgehend von den religiösen Traditionen des Judentums abschnitt, vermehrte Konversionen oder zumindest eine verstärkte Assimilation zur Folge. Das Ende des Patriarchats in Palästina hat möglicherweise auch eine Rolle bei der Entstehung der messianischen Bewegung gespielt, die sich im Jahr 440 auf Kreta um einen Pseudo-Messias sammelte, der behauptete, er sei Mose, vom Himmel gesandt, um die Juden trockenen Fußes über das Meer in das Gelobte Land zurückzuführen. Die Datierung des Ereignisses stammt von dem Kirchenhistoriker Sokrates (380–450). Das Jahr 440 entspricht dem Jahr 4200 der jüdischen Zeitrechnung und ergibt gemäß den Zahlenwerten der hebräischen Buchstaben das hebräische Wort D“R („wohnen“), was sich als Voraussage auf die Rückkehr der Juden nach Palästina deuten ließ. Auch die Einnahme Roms durch Alarich im Jahr 410, durch die Augustinus (354–430 u. Z.) zu seinem apologetischen Werk De civitate Dei angeregt wurde, und Unruhen im Osten des Reiches haben möglicherweise zu der messianischen Begeisterung auf Kreta beigetragen. Die Unternehmung des „Mose von Kreta“ endete mit einem Debakel. Zahlreiche seiner Anhänger – so behauptete es zumindest die kirchliche Polemik – ertranken, weil sich die Wasser für diesen Mose redivivus nicht geteilt hatten, und von den Überlebenden konvertierten viele zum Christentum.

Mittelalter Im 7. Jh. könnten die demographischen Verluste der Juden durch das Vordringen der Slawen auf den Balkan und die damit verbundenen Umwälzungen sowie durch die muslimischen Eroberungen der östlichen und südlichen Randgebiete des Reiches, die dort günstigere Bedingungen für Juden schufen, verstärkt worden sein. Es existieren keine Quellen, die die Folgen dieser einschneidenden Ereignisse auf die Juden des Balkans beschreiben. Dasselbe gilt auch für die Folgen der Zwangsbekehrungspolitik, die zwischen 620 und 630 unter Kaiser Herakleios (610–641) und nach 720 unter Kaiser Leon III. (717–741) betrieben wurde. Die Quellenangaben für die Zwangsbekehrungen unter Basileios I. (867–886),

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die sich vorwiegend im südlichen Italien abgespielt haben mögen, und die gewaltsamen Bekehrungsversuche unter Kaiser Romanos Lekapenos in den dreißiger Jahren des 10. Jhs., die Flüchtlingsströme in das von einer zum Judentum konvertierten Oberschicht beherrschte Chasarenreich auslösten, erlauben ebenfalls nur Spekulationen darüber, welche Folgen sie für die Bevölkerungsentwicklung der Juden auf dem Balkan gehabt haben könnten. Jüdische Siedlungen des 10. Jhs. sind für Sparta, Korinth, Theben, Saloniki und Konstantinopel aus spärlichen Quellen, gelegentlich auch nur indirekt, zu belegen. Möglicherweise setzte etwa im 10. Jh. eine Immigrationsbewegung von Juden in die nördlich des Byzantinischen Reichs gelegenen Gebiete, die seit dem 7. Jh. von dem zwischen Isker, Balkan und Schwarzem Meer entstandenen Reich der Bulgaren kontrolliert wurden, ein. Die jüdischen Siedlungen, die bereits seit römischer Zeit in den Provinzen Dacia und Pannonia existierten, scheinen einen gewissen Einfluß auf die bulgarischen Eroberer – Wolgatürken, die schließlich von ihren Untertanen slawisiert wurden – gehabt zu haben. Im 9. Jh. entsandte der byzantinische Kaiser Michael III. (842–867) die aus Saloniki stammenden Brüder Kyrillos und Methodios, um die Slawen zu christianisieren. Das politische Ziel dieser Maßnahme war die Reetablierung der byzantinischen Kontrolle über die Gebiete im Norden des Reichs. Methodios und Kyrillos bedienten sich bei ihrer Missionstätigkeit des Slawischen in der Liturgie und übersetzen auch die Bibel und andere fundamentale Texte in diese Sprache, die später Alt-Kirchenslawisch genannt wurde. Hierbei bedienten sie sich eines selbstentworfenen Alphabets, das auf dem griechischen Alphabet beruhte und zur Bezeichnung von nicht in das Griechische übertragbaren Phonemen auch einige Buchstaben ( und ) aus dem hebräischen Alphabet, das die Brüder in ihrer Heimatstadt gelernt hatten, enthielt. Durch das Wirken von Methodios und Kyrill entstand schließlich ein Corpus an religiöser, liturgischer und historischer Literatur, die den Slawen erstmals einen Zugang nicht nur zu der christlichen, sondern auch zu der jüdischen Tradition – z. B. in Gestalt der jüdischen Quellen aus der Septuaginta und der Werke des Josephus, die ebenfalls zu dem Corpus der Übersetzungen gehörten – eröffnete. Auf diese Weise wurde die Entwicklung jüdischer oder zumindest judaisierender Strömungen begünstigt. Der Bulgarenfürst Boris empfing 864/65 in Konstantinopel die Taufe und holte nach Methodios und Kyrillos weitere griechische Missionare ins Land. Gleichzeitig war er jedoch entschlossen, die politischen Machtansprüche, die die byzantinischen Kaiser mit der Missionstätigkeit im Bulgarenreich verbanden, zurückzuweisen. Um die Unterstellung der bulgarischen Kirche unter den Patriarchen in Konstantinopel zu vermeiden und eine autokephale Kirchenorganisation aufzubauen, wandte er sich 866 an Papst Nikolaus I. mit der Bitte um Bestellung eines Patriarchen und um Bescheid über Fragen der kirchlichen Disziplin. Nikolaus I. stellte daraufhin die Einsetzung eines Erzbischofs mit Pallium und besonderen Vollmachten in Aussicht und übersandte Boris seine Responsa ad consulta Bulgarorum, die den Anschluß an Rom einschärften und vor verschiedenen griechischen Bräuchen warnten. Unter den kritisierten Riten befanden sich auch einige, die im Verdacht jüdischen Einflusses standen.

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Die Konkurrenz zwischen der lateinischen Kirche und den Byzantinern bei der Christianisierung der Bulgaren, bei der es sich letztlich um einen Kampf um den Verlauf der kirchlich-kulturellen Grenze zwischen Ost und West handelte, stellte auch für die Lebensbedingungen der auf bulgarischem Gebiet lebenden Juden einen wesentlichen Faktor dar. Hinzuzufügen ist, daß im Nordosten, an der Küste des Schwarzen Meeres, mit dem Chanat der Chasaren ein von einer judaisierten Oberschicht beherrschter Staat existierte, der den Juden im bulgarischen Herrschaftsbereich einen gewissen Grad an Unterstützung gewährt haben könnte. Diese mag die „Modernisierung“ Bulgariens in Richtung der monotheistischen Welt mit vorangetrieben haben. In den folgenden Jahrhunderten sollte das jüdische Spektrum im bulgarischen und im serbisch-orthodoxen Reich sehr heterogen sein. Aschkenasische und sefardische Juden siedelten sich in der Zeit nach den Kreuzzügen (1096–1292) neben den griechischsprachigen romaniotischen Juden an und begründeten ihre eigenen Gemeinden. Das 10. Jh. stellte für das Byzantinische Reich eine Zeit der Expansion dar, in der es zur bedeutendsten militärischen Macht Europas und Vorderasiens aufstieg. Der Vormarsch der Byzantiner nach nach Anatolien und Syrien eröffnete einer neuen jüdischen Sekte die Möglichkeit, ihren Wirkungskreis von den arabischsprachigen Gebieten auf das Byzantinische Reich zu erweitern. Es handelte sich um die im 8. Jh. entstandene „biblizistische“ Sekte der Karäer, die die Autorität der Rabbinen offen herausforderten, bis Saadja (882–942) als Gaon der Akademie von Sura schließlich den intellektuellen Sieg über sie davontrug. Durch die Emigration in das byzantinisch-christliche Gebiet wurde den Karäern innerhalb der griechischen Kultur, an die sie sich akkulturierten, der Fortbestand ermöglicht. Sie entwickelten sich hier parallel zu den traditionsgebundenen jüdischen Siedlungen weiter und wanderten nordwärts, zuerst nach Konstantinopel und später in Städte am Schwarzen Meer, vor allem auf die Krim. Vom 11. bis zum 15. Jh. erlebte das Judentum auf dem gesamten byzantinischen Balkan und in seinem orthodoxen Hinterland eine geistige Blütezeit. Bedeutende romaniotische Gelehrte waren z.B. Tobias ben Elieser in Kastoria, Hillel ben Eljakim in Theben, Schemarja Ikriti aus Kreta, der später in Chalkis lebte, und Jehuda ibn Mosconi in Ochrida. Außerdem lebten Gelehrte unterschiedlichster Schulen über den gesamten Balkan und die Inseln der Ägäis verstreut. Byzantinische Karäer, z. B. Jehuda Hadassi und Aaron ben Josef, schrieben Bibelkommentare und philosophische Werke, in denen Prämissen späterer Geistesentwicklungen angelegt waren und die bis zum heutigen Tage studiert werden. Viele rabbinische Schriften und Pijjutim fanden, häufig anonym, den Weg nach Osteuropa. Auf dem gesamten Balkan gab es Dutzende von liturgischen Dichtern (Pajjetanim), und ihr Werk ist nicht nur in Textform, sondern auch in den verschiedenen synagogalen Riten erhalten, vor allem im romaniotischen Machsor. Der Messianismus blühte auf: So lassen sich sowohl das gelehrte Studium der Kabbala und anderer Formen der jüdischen Mystik als auch messianische Bewegungen, z. B. in Saloniki im 11. und in Andravida im 13. Jh., historisch belegen. Diese Bewegungen wurden von der ständigen Angst vor Kreuzzügen aus dem Westen und

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später durch die Bedrohung von seiten der Mongolen aus dem Osten vom späten 11. bis in das 13.Jh. hinein immer wieder angefacht. Benjamin von Tudela (gest. 1173) hat in seinem Reisebericht demographische und ökonomische Aspekte sowie Einzelheiten zum Geistesleben und der Kultur der Juden im Gebiet des späteren Griechenlands und Mazedoniens festgehalten. Die von ihm niedergelegten Zahlen, die allerdings durch Generationen von Schreibern verfälscht worden sind, sind von heutigen Wissenschaftlern extrem verschieden interpretiert worden, von wortwörtlichen 8000 plus bis zu Extrapolationen von 75000 bis 100000. Die Wortführer dieser Gemeinden trugen dem Bericht Tudelas zufolge überwiegend griechische und zum Teil auch italienische Namen. Eine jüdische Seidenherstellung in Theben und Zentren wie Saloniki und Konstantinopel fanden unter den 25 Städten und Ortschaften, die auf seinem Reiseweg lagen, besondere Erwähnung. Der Bericht Benjamins von Tudela stellt die wohl wertvollste Quelle zur Verteilung der jüdischen Siedlungen im Byzantinischen Reich dar. Seiner Liste können mit heutigem Wissen Gemeinden wie die von Dyrrhachium und spätere Zentren wie Mistra und Janina hinzugefügt werden. Seit dem 13.Jh. tauchten verstärkt spanische und italienische Juden auf, und Spannungen zwischen den Gemeinden der venezianischen und romaniotischen Juden in Konstantinopel geben Anlaß zu der Annahme, daß ökonomische Probleme nicht selten waren. Später trugen die romaniotischen Juden zu der Akkulturation der spanischen Einwanderer bei. In Thrakien und Bulgarien siedelten sich im späten 14. Jh. französische und ungarische Vertriebene in den Gebieten an, die unter die Herrschaft des neuen osmanischen Sultanats geraten waren, vor allem in dessen Hauptstadt Edirne (Adrianopel). Diese entwickelte sich zu einem Zentrum talmudischer Studien, das sowohl aus den Reihen der Rabbaniten als auch aus denen der Karäer romaniotische Schüler anzog, von denen nach der Eroberung Konstantinopels durch Mohammed II. im Jahr 1453 einige in die Hauptstadt übersiedelten. Karäische Immigranten von der Krim begründeten in Edirne und Istanbul erste Vorposten und spätere Zentren ihrer Gemeinden. In Istanbul konnten sie dabei an die früheren Niederlassungen im byzantinischen Konstantinopel, die des 11. und 12. Jhs. unter der Leitung von Tobias ben Mose sowie die der Mitte des 14. Jhs. unter Aaron ben Elija – anknüpfen. Die osmanische Eroberung brachte den Juden des Balkans ein neues politisches System. Die ältere romaniotische Gemeinde, die nach 1455 zu einem großen Teil zum Wiederaufbau der Hauptstadt nach Istanbul umgesiedelt wurde, wurde zu „sürgün“ (Zwangsumgesiedelten) erklärt und in ihrer Bewegungsfreiheit Einschränkungen unterworfen. Die aus dem Westen kommenden jüdischen Immigranten, bei denen es sich nach 1492 in der Hauptsache um Sefarden handelte, wurden hingegen zu „kendi gelen“ (freiwilligen Einwanderern) erklärt, und man räumte ihnen eine Reihe von Privilegien ein. Im frühen 16. Jh. standen die Juden Istanbuls unter der Führung romaniotischer Oberrabbiner (Mose Capsali und Elija Misrachi), deren Zuständigkeitsbereich sich allerdings auf die Hauptstadt beschränkte. Sie stellten jedoch eine Instanz dar, durch die sich die zerstreuten jüdischen Gemeinden bei den herrschenden Osmanen Gehör verschaffen konnten. Die Zersplitterung der vornehmlich sefardischen jüdischen Gemeinden der verschiedensten Traditionen führte

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bald zu einem Ende dieses übergeordneten Amtes und sollte in der Folge zu einem Charakteristikum der Gemeindeorganisation der Juden im Osmanischen Reich werden, mit deren Geschichte sich der folgende Beitrag befaßt. (Übersetzt von Eva-Maria Ziege)

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Der Balkan vom 15. bis zum 20.Jahrhundert Die Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahr 1492 und die erzwungene Massenkonversion der portugiesischen Juden im Jahr 1497 leiteten das Ende des bis dahin blühenden jüdischen Lebens auf der Iberischen Halbinsel ein. In der jüdischen Geschichte stellt dieses Ereignis eine Zäsur dar, die das Verschwinden der bedeutendsten und glänzendsten aller mittelalterlichen jüdischen Gemeinden und den Höhepunkt einer langen Geschichte von Vertreibungen in Westeuropa markiert. Im Jahr 1290 waren die Juden aus England ausgewiesen worden, im Jahr 1394 aus Frankreich und aus der Provence und Mitte des 14. Jhs. aus zahlreichen deutschen Städten. Gegen Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jhs. gab es in Westeuropa, abgesehen von bestimmten Gebieten in Deutschland und Italien, keine Juden mehr. Die nachfolgenden Bevölkerungsbewegungen verschoben das Zentrum jüdischen Lebens nach Osten. Die aschkenasischen Juden sammelten sich in Polen-Litauen, während das Osmanische Reich und insbesondere der osmanische Balkan für den Großteil der sefardischen Juden mit der Zeit zu einem sicheren Zufluchtsort wurde.

Von der Niederlassung der Sefarden in der Balkanregion bis zur Blütezeit des 16. Jahrhunderts Vom 14. Jh. bis weit in die Neuzeit hinein war der Balkan ein wesentliches, ja sogar ein Kerngebiet des Osmanischen Reichs, und die dortige politische und wirtschaftliche Lage war mit der in den anderen Gebieten des Großreichs auf das engste verknüpft. Die osmanischen Türken errangen im 14. und 15. Jh. einen Sieg nach dem anderen und machten aus einem kleinen Stammesfürstentum an der Grenze des Byzantinischen Reichs in Anatolien eine Macht, die im Lauf des 14. Jhs. einen großen Teil des Balkans unter ihre Herrschaft brachte und schließlich im Jahr 1453 sogar Byzanz selbst eroberte. 1516/17 setzten sie der Herrschaft der Mameluken im Heiligen Land und in Ägypten ein Ende, und bis zur Mitte des 16. Jhs. hatten sie den größten Teil des Vorderen Orients und Nordafrikas unter ihre Kontrolle gebracht. Dem Rest der Welt erschienen sie als schreckenerregende, schier unbesiegbare Macht. Die jüdischen Gemeinden waren eine von vielen religiösen und ethnischen Gruppen, die durch die Eroberungen unter osmanische Herrschaft kamen. Griechischsprechende Juden aus den byzantinischen Gebieten, die sogenannten Romanioten, lebten seit der Römerzeit auf dem Balkan und in Kleinasien. Südlich und östlich von Anatolien besiedelten arabischsprachige jüdische Gemeinden den Großteil des Fruchtbaren Halbmonds und Ägyptens. In Ägypten und Konstantinopel lebten Karäer, Anhänger einer jüdischen Sekte, die Anfang des

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8. Jhs. in Babylonien entstanden war und die talmudisch-rabbinische Gesetzestradition ablehnte. Im Lauf des 15. Jhs. setzte außerdem eine aus Mitteleuropa kommende kleinere aschkenasische Migrationsbewegung in das Reich ein. Die Mehrzahl dieser aschkenasischen Juden ließ sich in den unter türkischer Herrschaft stehenden Städten des Balkans nieder. Außerdem waren in den Jahrzehnten nach den spanischen Verfolgungen von 1391 und den Massenkonversionen des beginnenden 15. Jhs. auch bereits sefardische Juden auf den osmanischen Balkan gekommen. Die osmanische Politik im Hinblick auf die Juden entsprach dem klassischen islamischen Muster, das durch die sogenannte Dhimma (türk. Zimmet) bestimmt wurde. Dieser Pakt regelte die Beziehungen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen im Sinne der Toleranz und des Schutzes von Christen und Juden, die gegenüber den „rechtgläubigen“ Muslimen jedoch den Status sozialer und rechtlicher Inferiorität einnahmen. Beiden, Christen und Juden, wurde damit in der Ausübung ihrer Religion und in den inneren Angelegenheiten ihrer Gemeinden ein beträchtliches Maß an Freiheit gewährt. Im Austausch dafür mußten sie bestimmte Steuern wie eine Kopfsteuer (Cizye) und eine Steuer auf Landbesitz (Harac) sowie andere, weniger wichtige Abgaben entrichten. Sie wurden einschränkenden Bekleidungsvorschriften und Richtlinien beim Bau und der Instandsetzung von Kultstätten unterworfen. Vor den muslimischen religiösen Gerichten hatten jüdische und christliche Männer nicht die gleichen Rechte wie muslimische Männer. Diese in der Dhimma festgeschriebenen Erschwernisse sollten soziale Grenzen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen schaffen, aufrechterhalten und den nachgeordneten sozialen Status letzterer demonstrieren. Trotz der Strenge der Lehre blieben die gesellschaftlichen Trennlinien wie so oft in muslimischen Gesellschaften fließend und wurden in der Praxis je nach Lage und Laune der Herrschenden in sehr unterschiedlichen Graden von Rigorosität durchgesetzt. Den ausschlaggebenden Teil der Dhimma eben bildeten die von Nichtmuslimen zu entrichtenden Sondersteuern, für den Sultan eine wichtige Einnahmequelle. Die Osmanen führten zwei politische Neuerungen ein, die Nichtmuslime direkt betrafen. Mit der Devschirme, der „Knabenlese“, wurden in vielen Gebieten und insbesondere auf dem Balkan christliche Knaben nach ihrer Zwangsbekehrung zum Islam für das militärische Elitekorps der Janitscharen in die Armee gezwungen. Außerdem betrieben die Osmanen eine vornehmlich ökonomisch begründete, breit angelegte Politik von Zwangsumsiedlungen, um bestimmte Landstriche und Orte gezielt zu bevölkern (türk. Sürgün). Während die Praxis der Devschirme die von der Militärdienstpflicht grundsätzlich ausgeschlossenen Juden nicht betraf, erstreckte sich der Sürgün im 15. und 16. Jh. häufig auch auf jüdische Gemeinden. So wurden z.B. zahlreiche jüdische Familien aus Edirne und schließlich die gesamte Gemeinde von Saloniki nach der Eroberung von Konstantinopel zwangsweise in die Hauptstadt, die nun Istanbul hieß, umgesiedelt. Saloniki hatte deshalb kaum noch jüdische Einwohner, als nach 1492 allmählich sefardische Juden in die Stadt kamen. Auch wenn der Sürgün meist nicht als Strafaktion verhängt wurde, sondern eine strategische Siedlungspolitik darstellte, zog er für viele Gemeinden Leid und Wirren nach sich. Im Lauf des 16. Jhs. wurden die Deportationen jedoch immer seltener, wie auch die Zwangsrekrutierung nach dem 17.Jh. ganz aufhörte.

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Die rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen jüdischen Lebens unter osmanischer Herrschaft, die dieses bis in das 19. Jh. hinein kennzeichnen sollten, waren bereits vor der Massenankunft der Sefarden seit 1492 vollständig ausgebildet. Dabei muß man sich vor Augen halten, daß die genannten Benachteiligungen, denen Nichtmuslime in den osmanischen Herrschaftsgebieten ausgesetzt waren, vor den unmittelbar zuvor in Spanien und anderen Teilen Europas gemachten Erfahrungen der Juden verblaßten. Als neue triumphale Macht, die einen sicheren Hafen bot, stellte das Osmanische Reich für viele sefardische Juden einen starken Anziehungspunkt dar, ja sein Aufstieg und seine Siege wurden von manchen Vertretern religiöser Gelehrsamkeit sogar messianisch gedeutet, als Vorzeichen des aus dem Osten kommenden Anbruchs der Erlösung. Sultan Bayezid II. (1481–1512) soll die Juden angesichts ihrer Vertreibung aus Spanien sogar ermuntert haben, in sein Reich zu ziehen: So hörte Sultan Bayezid, König der Türkei, von all dem Unheil, das der spanische König über die Juden gebracht hatte und hörte, daß sie eine Zuflucht und einen Ort der Ruhe suchten. Er hatte Mitleid mit ihnen und schrieb Briefe und sandte Boten in sein ganzes Königreich, damit keiner seiner Stadtväter so grausam sein möge, den Juden die Einreise zu verweigern oder sie zu vertreiben. Sie sollten vielmehr willkommen geheißen werden.1

Außerdem soll er gesagt haben: „Kann man einen solchen König weise und klug nennen? Er beraubt sein Reich und bereichert meines.“ Diese Zitate werden ihm von jüdischen Quellen zugeschrieben, in osmanischen Texten existieren für solche Äußerungen keine Belege. Die sefardischen Juden wurden von den Osmanen zwar als Bereicherung willkommen geheißen, doch reflektieren diese dem Sultan in den Mund gelegten Sätze nicht eine gezielte Politik der Osmanen, sondern geben vielmehr Aufschluß über die Weltsicht und die Geistesverfassung der damaligen jüdischen Gemeinden. Sie spiegeln die hochfliegenden Hoffnungen und Erwartungen der Juden wider, die das erschütternde Trauma der Vertreibung zu überwinden suchten, welches in der Folge eine messianische Unterströmung nährte, die mit dem Sabbatianismus anderthalb Jahrhunderte später an die Oberfläche gelangte. Man kann zwei Migrationswellen der sefardischen Juden in den Balkan unterscheiden. Die erste dieser Wellen bestand aus den 1492 aus Spanien Vertriebenen und den Juden, denen es nach den Zwangskonversionen in Portugal 1497 gelungen war, das Land zu verlassen. Viele von ihnen gingen nicht gleich in das Osmanische Reich, sondern blieben einige Jahre in verschiedenen Teilen Italiens, bevor sie allmählich weiter nach Osten zogen, entweder von der adriatischen Küste auf dem Landweg in Richtung Balkan und Kleinasien oder auf dem Seeweg in die größten der osmanischen Hafenstädte. Die zweite Welle, die wesentlicher schwächer war, bestand aus Conversos, die vor allem aus Portugal kamen. Diese Migrationswelle setzte ein, nachdem die Inquisition dort 1547 endgültig Fuß gefaßt hatte und sollte bis weit in das 17.Jh. hinein nicht ganz verebben. Die Route der Conversos, die oft der 1 Elija Capsali, Seder Elijahu Zuta, hrsg. v. Meir Bonayahu, Shlomoh Simonsohn und Aryeh Shmuelevitz, Jerusalem 1975–77, Bd. 2, S. 218 (hebr.).

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ersten Welle über das Mittelmeer folgte, verlief jedoch weniger direkt und führte unter anderem sogar über die Spanischen Niederlande. An den osmanischen Bevölkerungsregistern läßt sich das migrationsbedingte Ansteigen der jüdischen Bevölkerungszahl in einigen bedeutenden osmanischen Städte des frühen 16. Jhs. in aller Deutlichkeit ablesen. Während eine türkische Quelle aus dem Jahr 1477 1647 jüdische Haushalte Istanbul angibt, werden in einem vergleichbaren Register von 1535 in der Hauptstadt 8070 jüdische Haushalte gezählt. In Saloniki, wo es dem Verzeichnis von 1478 zufolge gar keine jüdischen Einwohner gab, zählte man zwischen 1520 und 1530 2645 jüdische Haushalte. Ein vergleichbarer Zuwachs war in vielen osmanischen Zentren des Balkans und Kleinasiens zu beobachten. Durch die beschriebene Einwanderungsbewegung sowie eine Binnenmigration innerhalb des Osmanischen Reichs – so gab es z.B. im späten 16.Jh. einen größeren Zustrom von Juden aus Saloniki nach Izmir (Smyrna) in Kleinasien – bildete sich schließlich das neue sefardische Siedlungsgebiet im Osmanischen Reich heraus. Vier bedeutende Städte, Istanbul, Izmir, Saloniki und Edirne (Adrianopel), wurden zu Eckpunkten von Achsen, um die sich, entlang der wichtigen Handelsstraßen der Region, kleinere Satellitengemeinden gruppierten. Die Gemeinden von Sarajevo, Monastir (Bitola) und Üsküb (Skopje) bildeten Bindeglieder zwischen den Juden Salonikis und dem adriatischen Raum und Venedig. In Philippopel, Sofia, Nikopolis und Widin säumten jüdische Siedlungen die Handelsroute von Istanbul über Edirne bis zum Donaubecken und von dort gen Westen bis nach Mitteleuropa und gen Norden bis nach Polen. Izmir bildete den End- und Knotenpunkt aller großen Handelsstraßen von Asien bis Anatolien, und die Gemeinden von Aidin, Tire, Manisa und Bergama hatten in diesem bedeutenden Handelszentrum ihren Mittelpunkt. Obwohl sefardische Juden sich schließlich auch in Safed, einer kleinen Stadt in Obergaliläa, die sich seit dem 15. Jh. zu einem Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit und Mystik entwickelte, sowie in Jerusalem, Aleppo, Damaskus, Kairo und Alexandria niederlassen sollten, lag der Siedlungsschwerpunkt der sefardischen Juden in der Levante doch in den genannten vier Städten und deren Hinterland. Mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung der Balkanregion lebte in den drei Städten Saloniki, Edirne und Istanbul. Die Beziehungen zwischen den Sefarden und den seit der Römerzeit in der Balkanregion heimischen Romanioten blieben jahrzehntelang gespannt und konfliktreich. Tiefgreifende Unterschiede in der Auslegung des jüdischen Religionsgesetzes, der Halacha, in Bräuchen und Kultur, ja einer ganzen Lebensweise trennten die beiden Gemeinden voneinander. Istanbul war von diesem Dauerkonflikt am stärksten betroffen, da dort der Großteil der Romanioten lebte. Mose Capsali wurde von Mohammed II. nach der Eroberung Konstantinopels als Oberrabbiner bestätigt, der die Gesamtheit der Juden vertrat. 1498 wurde der bedeutende Gelehrte Elija Misrachi sein Nachfolger. Beide waren einheimische Romanioten. Nach dem Tod Elija Misrachi 1526 wurde wegen der Machtkämpfe zwischen Romanioten und Sefarden kein weiterer Nachfolger ernannt, und die dem Oberrabbiner übertragene Aufgabe, die Steuern einzuziehen, fiel nun einem führenden Mitglied der sefardischen Gemeinde zu. Das Amt des Oberrabbiners, dessen Zuständig-

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keit sich nie über die Grenzen Istanbuls hinaus erstreckt hatte, wurde abgeschafft und erst im 19.Jh. wieder eingeführt. Im späten 16. und frühen 17. Jh. gewannen die Sefarden schließlich die Oberhand über die Romanioten, so daß bei letzteren ein Prozeß der Judeo-Hispanisierung einsetzte. Mit Ausnahme weniger isolierter Zentren wie Janina im Epeiros erfolgte schließlich eine vollständige Assimilation an die zahlenmäßig überlegene Gruppe der Sefarden. Die Auseinandersetzungen zwischen Sefarden und Romanioten und die Abschaffung des Oberrabbinats zeigen, daß sich in der osmanischen Balkanregion und in Kleinasien zwar schließlich ein homogenes jüdisch-spanisches Kulturgebiet entwickelte, daß dieses jedoch nie zu einer politischen Einheit wurde. Jede Gemeinde war unabhängig und besaß ihre eigene Leitung, die sie gegenüber den Obrigkeiten vertrat. In der jüdischen Tradition gab es keine strenge religiöse Hierarchie, und den osmanischen Herrschern schien die dezentrale Herrschaftsstruktur im Hinblick auf ihre jüdischen Untertanen, mit denen sie vor allem durch lokale jüdische Vertreter in Kontakt traten, offenbar nicht von Nachteil. Gelegentlich waren dies Rabbiner, aber meist einfach führende Mitglieder der Gemeinde, die kein religiöses Amt innehatten. Dies entsprach letztlich dem generellen osmanischen Herrschaftsmuster. In vielen eroberten Gebieten blieben die lokalen Führungsstrukturen erhalten, und die Beziehungen zum politischen Zentrum des Osmanischen Reichs wurden durch je eigene und spezifische Gesetze und Regelungen hergestellt. Bis zum Beginn der westlich beeinflußten Reformen im 19.Jh. existierte in den osmanischen Territorien keine zentrale Regierungsgewalt. Die sefardische Bevölkerung blieb noch viele Jahrzehnte nach ihrer Ankunft im Inneren zersplittert. Gemeinden (Kehalim) bildeten sich nach dem Kriterium der geographischen Herkunft: Neu hinzukommende Einwanderer schlossen sich Gemeinden an oder gründeten Gemeinden mit Juden, die aus denselben Gebieten in Spanien und Portugal stammten. Jede dieser Gemeinden besaß eigene Rabbiner, Synagogen, eine eigene Almosenpflege usw. Spaltungen innerhalb der Gemeinden führten ebenfalls häufig zu Neugründungen. Rabbinische Gelehrte wie Samuel de Medina (1506–1589) aus Saloniki, der in Fragen der Halacha über große Autorität verfügte, trugen durch ihre weithin anerkannten Rechtsentscheide zwar zur Harmonisierung der Gemeinden bei, doch blieben interne Spaltungen in den meisten sefardischen Zentren bis in das 17. Jh. ein tiefgreifendes Problem. Erst allmählich verblaßten die durch die unterschiedliche Herkunft bedingten Differenzen, und die gemeinsamen Lebensumstände – Brände, Seuchen und die wachsende Abgabenpflicht – führten zu einer relativen Einheitlichkeit und zur Entstehung einer Gesamtgemeinde (Kehilla) innerhalb einer Stadt, deren Führung für die Kontakte mit den örtlichen Machthabern und den Gerichten sowie für die Besteuerung zuständig war. Doch gab es zu keinem Zeitpunkt eine zentrale jüdische Führung auf Reichs- oder Regionalebene, bis der letzte osmanische Oberrabbiner Haim Nahum ernannt wurde, der nach 1909 alle Juden des Großreichs unter seine Autorität zu zwingen versuchte. Die Gemeinden genossen ein gewisses Maß an innerer Autonomie. Der jüdische Gerichtshof (Bet Din) setzte das jüdische Religionsgesetz um, das alle Bereiche jüdischen

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Lebens erfaßte. Rechtsdispute zwischen Juden und Muslimen mußten vor muslimischen Gerichtshöfen verhandelt werden, wo Juden deutlich im Nachteil waren, da nach dem islamischen Gesetz dem muslimischen Zeugnis Vorrang vor dem von Nichtmuslimen gebührte. Trotzdem wurden häufig sogar Fälle, die nur Juden betrafen, vor muslimischen Gerichtshöfen verhandelt, auch wenn dies von den Rabbinern auf das Schärfste mißbilligt wurde. Zahlreiche Quellen weisen darauf hin, daß Entscheide jüdischer Gerichtshöfe vom Staat nicht rückhaltlos akzeptiert wurden. Juden wandten sich mit ihren Rechtsangelegenheiten deshalb oft an muslimische Gerichte, um ein eindeutiges Urteil zu erhalten, das später nicht mehr umgestürzt werden konnte. Die rechtliche Autonomie der jüdischen Gemeinden, die nach modernen Maßstäben beträchtlich war, läßt sich demnach also bestenfalls als eine relative Autonomie betrachten. Die Gemeindeleitung, die aus den einflußreichsten Mitgliedern der Gemeinde und den Rabbinern bestand, war für die Einziehung der Kopfsteuer und anderer Abgaben zuständig, die sie der Obrigkeit als Pauschalsumme übergaben, nachdem der Beitrag eines jeden Steuerpflichtigen nach dessen Vermögen festgesetzt worden war. Dies galt auch für die von den Gemeindemitgliedern zu entrichtenden internen Kopfsteuern, die in Saloniki Pescha und in Istanbul Kizbe hießen. Diese Mittel wurden für den Unterhalt von Gemeindeeinrichtungen wie Schulen (Talmudei Tora), Lehrhäusern für Fortgeschrittene (Jeschiwot) und Wohltätigkeitsorganisationen, für den Freikauf von Juden, die von Freibeutern und Piraten gefangengenommen worden waren, sowie für die Unterstützung der im Heiligen Land lebenden Juden verwandt. Indirekte Steuern für denselben Zweck wurden zusätzlich auf Käse, Wein und Fleisch erhoben. In den Balkanstädten, in denen eine Vielfalt von ethnischen und religiösen Gruppen wie Türken, Griechen, Bulgaren, Armeniern, Serben, Albanern und andere lebte, wohnten die Juden in eigenen Vierteln, in denen jedoch auch Angehörige anderer Gruppen ansässig waren. In vielen Zentren wie Sarajevo und Monastir entwickelte sich schon im 16. Jh. eine besondere jüdische Form des Wohnens, eine Art Anlage, in der viele Familien rings um einen großen Innenhof lebten, der dem gesamten Komplex auch seinen Namen gab, Il Kurtijo, nach dem jüdischspanischen Wort für Innenhof. Juden kamen mit anderen Gruppen vor allem im Wirtschaftsleben in Kontakt. Auch im Alltagsdasein herrschte im Hinblick auf Nahrung, Musik, Kleidung und volkstümliche Kultur ein intensiver sozialer Austausch, doch wurde von außen Kommendes der jüdischspanischen Kultur letztendlich immer angepaßt, primär durch die jüdischspanische Sprache und durch die allumfassende rabbinische Kultur, die alle Bereiche der Gesellschaft zutiefst prägte. Das gesamte System der jüdischen Selbstverwaltung beruhte auf dem wirtschaftlichen Wohlstand und der individuellen Leistungsfähigkeit der Gemeindemitglieder. Das 16.Jh., in intellektueller und sozialer Hinsicht das Goldene Zeitalter der Sefarden im Osmanischen Reich, war auch die Zeit ihres Aufstiegs in der osmanischen Wirtschaft. Mit ihren aus Europa mitgebrachten urbanen Fertigkeiten waren sie geeignet, bestimmte Lücken in der osmanischen Wirtschaft auszufüllen. Sie besaßen enge Verbindungen zu den europäischen Handelskreisen, Verbindungen, die durch die fortwährende Zuwanderung von Conversos

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zudem immer wieder gestärkt und aufgefrischt wurden. Don Josef Nassi (ca. 1524–1579) und seine Tante Gracia (1510–1569), vermögende Conversos, die als Finanziers und Kaufleute den größten Teil ihres Reichtums in das Osmanische Reich hatten überführen können, sind hierfür ein gutes Beispiel. Josef Nassi nahm unter der Herrschaft seines Freundes Suleiman II. (1520–1566), der den Beinamen „der Prächtige“ trug, in der Finanzwirtschaft des Reichs als Steuerpächter, Bankier und Handelsfürst eine höchst angesehene Stellung ein und nutzte seine Kenntnisse der europäischen Wirtschaft und Politik nicht nur zu seinem eigenen, sondern auch zum Vorteil des Sultans. Auch viele andere Sefarden fungierten, da sie mit den europäischen Sprachen und der europäischen Kultur vertraut waren, als Mittler zwischen der Wirtschaft ihrer Region und den Märkten der Welt. In dieser Hinsicht kam dem Handel mit Italien und vor allem mit Venedig eine besondere Bedeutung zu. Die Sefarden beherrschten den osmanischen Handel mit Venedig über den Hafen von Spalato (Split) an der dalmatinischen Küste, der im späten 16.Jh. auf Betreiben eines reichen sefardischen Finanziers aus Venedig, Daniel Rodriguez, gebaut worden war. Dieser wurde zum Knotenpunkt der von ihnen kontrollierten über Land führenden Handelsroute über den Balkan und Mazedonien. Die Juden Salonikis begründeten eine florierende Textilmanufaktur. Wolltextilien sowie Blei, Häute, Wachs, Pfeffer, Leinen und Baumwolle wurden aus den verschiedensten Teilen des Reichs nach Venedig exportiert. Damit wurden paradoxerweise gerade die aus dem Westen vertriebenen Sefarden und ihre unter den Osmanen zu einer eindrucksvollen Blüte gelangenden Nachkommen zu begehrten Handelspartnern des Westens. Die wirtschaftliche „Nützlichkeit“ der levantinischen Sefarden ließ die Herrscher sogar schließlich den Juden insgesamt gegenüber wieder großzügiger handeln. Venedig und Livorno erließen 1589 und 1593 relativ liberale Judenordnungen und begannen die Zuwanderung von Juden zu fördern. Das „Nützlichkeitsargument“, das die merkantilistische Politik gegenüber den Juden im 17. Jh. bestimmte und dazu beitrug, daß sie gerade in solchen Gebieten toleriert und wieder zugelassen wurden, aus denen sie zuvor vertrieben worden waren, war direkt mit der Wertschätzung des realen oder als solchen wahrgenommenen jüdischen Erfolgs in der Levante verbunden. Osmanische Sefarden gewannen außerdem Einfluß als Dolmetscher und Kaufleute, belieferten das Militär und gelangten im Geld-, Zoll- und Steuerwesen sowie bei der Münzprägung in z. T. außerordentlich bedeutende Positionen. Die Familie der Hamon, die generationenlang die Ärzte bei Hof stellte, verfügte über direkten Zugang zu den Sultanen und erwarb sich großen Reichtum und Einfluß. In der Textilmanufaktur von Saloniki und in einem geringerem Maße in der von Safed waren Tausende von Sefarden beschäftigt. Der Manufaktur wurde von der Obrigkeit solche Bedeutung beigemessen, daß die von den Juden Salonikis zu zahlende Kopfsteuer 1568 sogar in eine in Naturalien zu zahlende Steuer umgewandelt wurde, die jedes Jahr mit einer bestimmten Menge von Wollstoffen an die Janitscharen zu entrichten war. Juden waren darüber hinaus auch in verschiedenen anderen Wirtschaftsfeldern aktiv, z. B. als Kunsthandwerker, Ladenbesitzer, Trödler und Kleinhändler. Diese vielfältige und erfolgreiche wirtschaftliche Tätigkeit der jüdischen Gemeinde bilde-

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te die Basis für die Hochblüte des jüdischen Geisteslebens im 16. Jh. Im Jahr 1493 gründeten Sefarden in Istanbul die erste Buchdruckerei des Osmanischen Reichs. Istanbul, Saloniki und Edirne entwickelten sich zu herausragenden Standorten des hebräischen Buchdrucks. Mit Safed wurden sie schließlich zu den wichtigsten Zentren jüdischen Geisteslebens und jüdischer Gelehrsamkeit, in denen sich bedeutende Jeschiwot und Talmud-Tora-Schulen entfalteten. Die große Talmud-Tora-Schule von Saloniki zog selbst aus so fernen Gegenden wie Polen Schüler in die Stadt. Große halachische Gelehrte wie Josef Mitrani, Jakob ben Chabib und sein Sohn Levi ben Chabib, Samuel de Medina, Josef Taitazak und Josef Levi (Bet Halevi) lehrten in diesen Einrichtungen und verfaßten zahlreiche Werke zum jüdischen Religionsgesetz. Josef Karo ging nach Safed, nachdem er in Istanbul, Edirne, Nikopolis und Saloniki gelehrt hatte, und schrieb den Schulchan Aruch (Der gedeckte Tisch), das bedeutende Gesetzeswerk, das für die jüdischen Gemeinden des Osmanischen Reichs und ganz Europas zu einem allgemein anerkannten Kodex wurde. Auch das kabbalistische Denken gewann zunehmend an Einfluß, vor allem in Safed, wo Mose Cordovero, Salomo Alkabez, Isaak Luria und Chajim Vital lernten und lehrten.

Niedergang und Neuorientierung im 17. und 18.Jahrhundert Mit dem ausgehenden 16. Jh. begann sich die Lage der Sefarden zu verschlechtern, und die gesamte jüdische Gemeinschaft erlebte in den meisten Bereichen einen langsamen, aber stetigen Niedergang, der sich bis in das 19. Jh. hinein fortsetzen sollte. In vielen Beziehungen spiegelte das Schicksal der in der Balkanregion lebenden Sefarden damit den Aufstieg und Niedergang der osmanischen Herrscher wider. Das Osmanische Reich hatte am Ende des 16. Jhs. den Höhepunkt seiner Ausdehnung erreicht. Zu Wasser wie zu Land geboten ihm nun die europäischen Mächte Einhalt. Die in Europa mit der spanischen Edelmetallzufuhr aus Übersee einsetzende Inflation schadete den Staatsfinanzen des Osmanischen Reichs. Die osmanischen Herrscher machten deshalb zunehmend von skrupellosen Steuereintreibern Gebrauch, die die steuerpflichtige Bevölkerung zu ihrer eigenen Bereicherung ausbeuteten. Die Janitscharen, die mit dem Ende der Expansionszüge der Beute aus den Plünderungen verlustig gingen, entwickelten sich zu einem zusätzlichen zersetzenden Faktor in dem um sich greifenden Chaos. Die Sultane und das Zentrum verloren allmählich die Kontrolle über die fernen Provinzen, und lokale Machthaber gelangten an der Peripherie zu mehr und mehr Einfluß, der die Zentralgewalt langfristig schwächte. Auf die Sefarden wirkte sich diese Entwicklung negativ aus. Die Geschichte zeigt, daß Juden stets unter dem Machtverlust von Zentralgewalten zu leiden hatten. Hier war es nicht anders. Lokale Machthaber erhöhten die Abgabenpflicht. Ganze Vermögen wurden willkürlich konfisziert, was dem Prozeß der Kapitalakkumulation schweren Schaden zufügte. Nach dem Tod von Don Joseph Nasi im Jahr 1579 entging selbst sein Vermögen nicht diesem Schicksal. Gestiegene Steuern und Katastrophen wie Brände und Seuchen stürzten die meisten Gemeinden in ernste Schwierigkeiten. Die Textilmanufaktur von Saloniki, die ohnehin

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unter dem Druck dieser Probleme stand, konnte außerdem mit dem englischen Tuch nicht konkurrieren, das neuerdings den Markt überschwemmte. Sie erlebte einen dramatischen Niedergang und war fortan, obwohl sie sich bis ins 19. Jh. hinein halten konnte, nur noch ein Schatten früherer Zeiten. Die wesentlichen Ursachen des Niedergangs der sefardischen Juden lagen jedoch in dem tiefgreifenden ökonomischen Strukturwandel, von dem die gesamte Region betroffen war. Die Öffnung neuer Handelsstraßen nach Osten, die nicht mehr über das Mittelmeer, sondern nunmehr an Afrika vorbei führten, schwächte die Bedeutung des Handels im Mittelmeerraum. Italienische Städte wie Venedig verloren seit den mit dem Französisch-Osmanischen Vertrag von 1536 beginnenden „Kapitulationen“ ihren herausragenden Stellenwert in diesem Handel, mit dem die Juden eng verbunden gewesen waren, an die nun dominierenden Engländer, Franzosen und Holländer. Die „Kapitulationen“ gewährten den europäischen Mächten zahlreiche Konzessionen und Vorzugsbedingungen, die den Osmanen den Wettbewerb extrem erschwerten. Darüber hinaus wurde die nachlassende Verbindung der Juden zu Italien nicht durch vergleichbar starke Bindungen an die neuen Kräfte ersetzt. Die Griechen und Armenier, deren Eliten mit der Zeit enge Beziehungen zu den Europäern entwickelt hatten und die ihre Söhne häufig an ausländischen Universitäten studieren ließen, begannen die Juden als Mittler in dem lukrativen Handel mit dem Westen abzulösen und zu den bevorzugten lokalen Partnern europäischer Händler zu werden. Die Sefarden der Levante verloren damit schließlich den Hauptvorteil, über den sie gegenüber ihren Konkurrenten lange verfügt hatten, ihre Bedeutung im Rahmen westlicher wirtschaftlicher Interessen und ihre genaue Kenntnis der wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in Europa. Im 17. Jh. nahm die Einwanderung der Conversos in das Osmanische Reich stark ab, denn neue Handelszentren wie Amsterdam, London und Hamburg, um die sich die aufstrebende atlantische Wirtschaft zentrierte, wurden zu immer stärkeren Anziehungspunkten. Parallel zu dem ökonomischen und politischen Aufstieg Westeuropas richteten die sefardischen Juden, von außen wie von innen von Chaos und Anarchie bedroht, ihren Blick in steigendem Maße auf das Innere. Um die Mitte des 17. Jhs. war damit ein fruchtbarer Boden für die bedeutendste messianische Bewegung der jüdischen Geschichte bereitet. Das Studium des Sohar (Buch des Glanzes), des Ende des 13. Jhs. entstandenen Hauptwerks der Kabbala, hatte im Lauf des 16. Jhs. an Verbreitung gewonnen. Die Entwicklung des kabbalistischen Denkens in Safed und die Entstehung der „lurianischen Kabbala“, einer auf Isaak Luria zurückgehenden Interpretation der Kabbala, im 16.Jh. boten einen neuen Impetus für esoterische Kontemplation. In der Person von Sabbatai Zwi verschmolz dieser mit dem latenten Messianismus, der unter den Sefarden seit der Vertreibung immer erhalten geblieben war, und brachte so eine messianische Explosion hervor, die fast die gesamte jüdische Welt erschütterte. Sabbatai Zwi, ein sefardischer Jude aus Izmir, erklärte sich 1665 zum Messias und verkündete den Beginn der Erlösung. In der gesamten jüdischen Welt innerhalb wie außerhalb des Osmanischen Reichs zog er eine breite Anhängerschaft an und wurde von den Massen, wo immer er auftauchte, mit überschäumender Begeisterung empfangen. Scharenweise gaben Juden

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ihre Arbeit auf und verkauften in Erwartung der Rückkehr in das Heilige Land Hals über Kopf ihre gesamte Habe. Die Obrigkeiten ignorierten die Bewegung zunächst, aber deren Gegner führten ihnen die revolutionären Implikationen, die diese besaß, bald vor Augen. Der Sultan stellte Sabbatai Zwi 1666 vor die Wahl, zum Islam überzutreten oder in den Tod zu gehen. Sabbatai Zwi entschied sich für die Konversion. Die in Aufruhr geratene jüdische Welt wurde jäh aus ihren Träumen gerissen. Dennoch gab eine beträchtliche Zahl seiner Anhänger selbst nach seinem Abfall den Glauben an ihn nicht auf, ja manche folgten seinem Beispiel und traten zum Islam über. Sie bildeten eine Sekte, die islamischen Dönme – nach dem türkischen Wort für jemanden, der umgekehrt, zurückgekehrt ist –, die in Saloniki bis in das 20.Jh. hinein überlebte. Obwohl der Sabbatianismus zweifellos im Kontext der Entwicklung jüdischen Denkens und jüdischer Glaubenspraxis im 16. und 17.Jh. und insbesondere der Popularisierung der Kabbala zu sehen ist, waren doch die ökonomischen und sozialen Krisen in der sefardischen Welt seit dem Beginn ihres Niedergangs der entscheidende Auslöser für die Suche nach radikalen Lösungen. Der Sabbatianismus war ein Symptom, eine Reaktion auf die Krise, die diese wiederum mit aller Macht anfachte. Der gewaltige psychologische Schock, der auf das abrupte Ende der messianischen Bewegung folgte, wurde durch die wachsende Rigidität des sefardischen Rabbinats verstärkt, das neue unkontrollierbare Ausbrüche messianischer Begeisterung fürchtete. Im Verlauf des 18. Jhs. wurde der ökonomische Niedergang mehr und mehr auch von einem geistigen Niedergang begleitet, und es entstanden in den angesehenen Zentren jüdischen Lebens nur noch wenige originelle und bahnbrechende rabbinische Werke. Im 18. Jh. wurde die wachsende religiöse Unbildung der breiten Bevölkerung jedoch selbst wiederum zur Grundlage neuer kultureller Entwicklungen, die sich als ausgesprochen fruchtbar erweisen sollten. Der Rabbiner Jakob Culi verfaßte ein umfangreiches volkstümliches Kompendium von Kommentaren und religiösem Wissen in jüdischspanischer Sprache, um das Volk zu bilden und moralisch zu bessern. Der erste Band, ein Kommentar zum Buch Genesis, wurde im Jahr 1732 unter dem Titel Me-am loes veröffentlicht. Dieses ungeheure enzyklopädische Kompendium von Bibelkommentaren, das in den nächsten beiden Jahrhunderten von Isaak Magriso, Isaak Arguete, Isaak Jehuda Aba, Rachamim Menachem Mitrani, Rafael Tontremoli, Abraham Konfino, Chajim Isaak Schaki u. a. fortgeführt und in allen bedeutenden Zentren sefardischen Lebens wiederholte Male nachgedruckt wurde, wurde zu dem unter den Sefarden des Ostens mit Abstand am weitesten verbreiteten Werk, das auf die Juden der Levante eine bedeutende Wirkung ausübte. Indem es die Lehren aus Midrasch und Haggada und die über Jahrhunderte überlieferten Werke jüdischer Gelehrter paraphrasierte, definierte es den Denkhorizont des jüdischspanischen religiösen Universums. Bis zur Publikation des Me-am loes war das Jüdischspanische primär eine gesprochene Sprache gewesen. Die Sefarden hatten seit der Vertreibung aus Spanien unbeirrbar an der spanischen Sprache festgehalten. Während ihr Spanisch in der ersten Hälfte des 16. Jhs. dem auf der Iberischen Halbinsel gesprochenen Spanisch noch weitgehend glich, ent-

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wickelte es sich danach aufgrund des nachlassenden Kontakts zu Spanien eigenständig weiter. Dazu trug auch die Tatsache bei, daß das Jüdischspanische in hebräischen Buchstaben geschrieben wurde. Lehnworte aus dem Hebräischen, Türkischen, Italienischen und Griechischen verliehen ihm außerdem einen distinkten Charakter. Wie das Jiddische entwickelte es sich schließlich zu einer eigenen Sprache, obwohl es dem Spanischen stets näher blieb als das Jiddische dem Deutschen. In den ersten beiden Jahrhunderten nach der Vertreibung wurde verhältnismäßig wenig in jüdischspanischer Sprache publiziert. Mit Ausnahme einiger weniger Werke handelte es sich dabei um Übersetzungen heiliger hebräischer Texte wie beispielsweise die Übersetzung des Pentateuch, die 1547 in Istanbul erschien. Das Gebetbuch und die Pessach-Haggada wurden ebenfalls übersetzt, und die Übersetzungen nahmen bald schon den Heiligkeitscharakter des Originals an. Nachdem sie von den Rabbinern einmal akzeptiert worden waren, blieben sie unverändert und unveränderbar. Mit der Weiterentwicklung der Sprache im Lauf der Jahrhunderte wirkten diese Texte und ihre Sprache auf die Bevölkerung zunehmend archaisch. Rabbinische und gelehrte Schriften wurden stets in Hebräisch verfaßt und blieben damit der Mehrheit der sefardischen Bevölkerung ohnehin unzugänglich. Hier lag die revolutionäre Bedeutung des Me-am loes. Mochte das Werk auch eine religiös-moralisierende Absicht haben, so war es doch eine bedeutende und umfangreiche Publikation in der Sprache der breiten Bevölkerung. Es legitimierte den Gebrauch des Jüdischspanischen in gelehrten Diskursen und markierte einen Neubeginn, indem es die Vorbedingung zu und den schließlichen Anstoß für weitere rabbinische Schriften und Übersetzungen in dieser Sprache gab. Das Meisterwerk von Bachja ibn Pakuda, der Torat chobot ha-lebabot, war bereits 1713 in Venedig übersetzt worden. Im Verlauf des 18. und 19. Jhs. erschien eine Reihe einflußreicher religiöser Schriften in jüdischspanischer Sprache. Zu diesen gehörten u.a. Abraham Asas Übersetzung des Schulchan Aruch von Josef Karo, Elijahu ben Salomo Abraham ha-Kohens Schebet Mussar, Schabetai Vitas Meschibat ha-nefesch, Jechiel bar Jekutiels Maalot ha-midot, Elieser Papos Damasek Elieser und Pele joez und viele andere, darunter auch zahlreiche Übersetzungen der Pirke Abot. Die meisten dieser Schriften befaßten sich mit ethischen Fragen und konzentrierten sich auf religiöse Vorschriften, die für eine richtige Lebensführung unerläßlich waren. Schriften zur Bildung, Moral und insbesondere zur Lehre der hebräischen Sprache bildeten ein weiteres wichtiges Genre. Ozar ha-chajim von Chajim Israel aus Belgrad, Darche haam von Jehuda Alkalai, Livriko de primera klasa von Mose David Alkalai – alles Werke von in Serbien, also einem Grenzgebiet der sefardischen und aschkenasischen Judenheit, lebenden Autoren – signalisierten ein wachsendes Interesse an Bildung und an der hebräischen Sprache. Im 19.Jh. wurden in jüdischspanischer Sprache zahlreiche Bücher zur hebräischen Grammatik veröffentlicht, von denen Rab pealim von Menachem Farchi und Jabi mi-pirjo von Isaak Bechor Juda die bedeutendsten waren. Führt man sich das Gesamtbild am Vorabend der Moderne vor Augen, kann man sagen, daß die jüdischspanische Gemeinde in dem Mosaik der verschiedenen religiösen und ethni-

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schen Gruppen, das insgesamt den osmanischen Balkan konstituierte, eine klar abgegrenzte Gemeinschaft mit einer spezifischen Religion, Kultur und Sprache darstellte. Vom Staat toleriert und beschützt, den Muslimen sozial und rechtlich untergeordnet und mit einer begrenzten, trotz allem aber beträchtlichen Autonomie ausgestattet, bildete die jüdische Gemeinde im osmanischen Großreich eine von mehreren anerkannten nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften, einen Millet, um die arabische Bezeichnung einzuführen, die im 19.Jh. in allgemeinen Sprachgebrauch kam. Die jüdischspanische Ethnizität nahm im Austausch mit den sie umgebenden Gemeinschaften und Kulturen in bezug auf Ernährung, Kleidung, Musik, volkstümlichen Glauben, wirtschaftliche Aktivitäten und gesellschaftliche Umgangsformen immer wieder neue Formen an und befand sich in einem ständigen Prozeß der Rekonstruktion. Diese für Ethnizitäten allgemein kennzeichnende Dialektik drückte sich im spezifischen Fall der jüdischspanischen Gemeinde in einem Prozeß aus, der zu einer Aneignung des „anderen“ durch seine Judaisierung mit Hilfe des normativen rabbinischen Judentums und durch seine Hispanisierung mit Hilfe des Mediums der jüdischspanischen Sprache führte. Die eigenständige jüdischspanische Identität, sowohl durch die jüdische Tradition als auch durch die herrschenden Autoritäten legitimiert, blieb allbestimmend und allumfassend.

Die Juden des Osmanischen Reichs im Zeitalter der Nationalstaaten Diese traditionell lebende jüdischspanische Gemeinde wurde seit dem Ende des 18. Jhs. durch den wachsenden Einfluß des Westens auf das ökonomische, kulturelle und politische Leben des Osmanischen Reiches in ihren Grundfesten verändert. Modernisierende Reformen der Osmanen und auch die Bildung neuer Staaten in den Gebieten, in denen die osmanische Herrschaft zerfiel, waren die Folge des massiven Übergreifens westlicher ökonomischer, politischer und ideologischer Einflüsse auf die Region, die sich in all diesen Bereichen den Herausforderungen durch die wachsende westliche Dominanz stellen und radikalen Wandel zulassen mußte. In den meisten Feldern des öffentlichen Lebens in der Levante sollte der Westen im 19. und 20.Jh. zum alles entscheidenden Faktor werden, sei es, daß seine Werte von den politischen Kräften der Region übernommen, sei es, daß sie bekämpft wurden. Für die alten und neuen Eliten besaß vor allem eine Besonderheit westlicher Macht eine unwiderstehliche Anziehungskraft – der moderne Staat, vor allem der französische Nationalstaat. Der postnapoleonische französische Staat des 19. Jhs., extrem zentralisiert, rationalisiert und bürokratisiert, wurde Ideal aller reformwilligen Eliten der Region. Das osmanische Beamtentum, seit 1839 mit dem unter dem Begriff „Tanzimat“ (Neuordnung) zusammengefaßten Reformprogramm befaßt, ahmte mit diesen durch ihre Verwestlichungstendenz als Allheilmittel gegen die Übel der osmanischen Gesellschaft gedachten Reformen nicht nur den siegreichen Westen nach. Die „Neuordnung“ war auch ein konkreter Versuch des Zentrums, die Kontrolle über die Peripherie wiederzuerlangen und die

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neu entstehenden Partikularmachtzentren zu schwächen und zu zerstören. In der Zentralisierung lag der Schlüssel. Für die aufstrebenden nichtmuslimischen Gegeneliten, die sich der Sprache und der Terminologie eines weiteren aus dem Westen kommenden Importguts bedienten, des Nationalismus, waren westliche politische Praktiken ebenfalls das Hauptinstrument zur Schaffung neuer Nationalstaaten in den „vom türkischen Joch befreiten“ Gebieten. Durch die Einführung neuer Verwaltungsstrukturen und die Schaffung von Öffentlichkeit wurden aus überwiegend bäuerlichen Bevölkerungen, die ein „nationales“ Bewußtsein bislang nicht gekannt hatten, neue Nationen gemacht. Die Entstehung des modernen Staats hatte das Leben der Juden in West- und Mitteleuropa bis dahin bereits stark verändert. Die rechtlich anerkannte jüdische „Nation“ wurde durch die Emanzipationsgesetze der französischen Nationalversammlung von 1790 und 1791 abgeschafft. Diese Maßnahme stand im Zusammenhang eines Programms zur Auflösung aller korporativen Gruppen. Die Politik der „Nationalisierung“ des modernen Staats, die eine geeinte und unteilbare „Nation“ anstrebte, hatte weitreichende Konsequenzen, denn um Teil des neuen Gemeinwesens werden zu können, mußten die Juden ebenso wie andere ethnische oder regionale Gemeinschaften ihren Partikularismus ablegen. Welche Auswirkungen hatte die Umsetzung einer vergleichbaren Politik auf die jüdischspanische Gemeinde des Balkans, wo sie sich allerdings wesentlich später als im Westen Europas vollzog? Die Frage läßt sich nicht allgemein beantworten. Es ist jeweils zwischen den Gebieten im osmanischen Herrschaftsbereich zu unterscheiden – z.B. Belgrad bis 1830, Bulgarien und Sarajevo bis 1878, Saloniki bis 1912 und die Türkei bis 1922 – auf der einen Seite und der „nationalstaatlichen“ Geschichte der Einzelgebiete im Anschluß an die zu den unterschiedlichen Zeitpunkten beendete osmanische Herrschaft auf der anderen Seite zu unterscheiden. Wenden wir uns zunächst dem osmanischen Teil der Geschichte zu. Die 1839 eingeleitete Reformepoche der „Neuordnung“ brachte den osmanischen Juden zusammen mit den anderen Nichtmuslimen mit dem Reform-Ferman von 1856 die Emanzipation. Weiter ausgeführt wurde dieser Emanzipationserlaß im osmanischen Staatsbürgerrecht von 1869, welches das neue Konzept der osmanischen Staatsbürgerschaft, die alle Untertanen des Sultans ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit einschloß, explizit formulierte. Die osmanistische Agenda der Reformer beinhaltete ein dem Sultan gegenüber loyales und geeintes osmanisches Staatsbürgertum, wobei Religion und Ethnizität in den Bereich des Privaten verwiesen wurden. In diesem Zusammenhang erschien die Rechtsautonomie der verschiedenen nichtmuslimischen Gruppen nicht mehr wünschenswert. Wie in den Staaten West- und Mitteleuropas brachte die Emanzipation also auch im Osmanischen Reich eine fundamentale Erosion der Rechtsautonomie der jüdischen Gemeinden mit sich. Im Straf-, Zivil- und Handelsrecht galten seit 1856 neue Gesetze. 1850 wurden das französische Handelsrecht und 1858 das französische Strafrecht eingeführt. Da diese nicht mehr auf dem muslimischen Religionsgesetz beruhten, galten sie für alle Untertanen des Reichs. Nach 1856 hatten Nichtmuslime die Wahl, in Fragen des Familienrechts, also Fällen wie Scheidungen, Erbschaften und Familiendisputen, weiterhin eigene Gerichte anzurufen. In allen anderen Fragen des Handels-, Zivil- und Strafrechts existierte die Autono-

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mie der Millet in der Realität nicht mehr. Zwar wurden Gemeindekörperschaften wie das Oberrabbinat in der Dekade nach dem Reform-Ferman von 1856 reorganisiert, aber sie waren nun vornehmlich konfessionelle Organisationen, die die relative rechtliche Autonomie, die sie in den Jahrhunderten vor den Reformen genossen hatten, nun nicht mehr besaßen. Die osmanistische Agenda der Staatsreform war jedoch letztlich ein Mißerfolg. Dazu trugen verschiedene Faktoren bei. Immer wieder kamen westliche Interessen ins Spiel, die jeden Schritt, der eine potentielle Beeinträchtigung westlicher Handlungsfreiheit implizieren konnte, zu verhindern suchten und die den Schutz der Privilegien der christlichen Gruppen im Reich als Vorwand nutzten, um die Wirksamkeit der zentralisierenden Maßnahmen zu untergraben. Traditionalistische muslimische Gruppen widersetzten sich den neumodischen Sitten und standen der wachsenden Gleichstellung der Ungläubigen ablehnend gegenüber. Verschiedene nichtmuslimische Eliten setzten sich in der Hoffnung auf neue Chancen und Alternativen mit aller Kraft für separatistische nationalistische Ziele ein. Und nicht zuletzt blieben die kulturellen Implikationen des Osmanismus vage und mehrdeutig. Es war nicht klar, ob das angestrebte Ideal tatsächlich eine kulturell homogenisierte, osmanisch-türkisch sprechende Bürgerschaft sein sollte. Unerfahren in der Mobilisierung der Gesellschaft, war die reformerische Bürokratie im Aufbau eines einheitlichen osmanischen Bildungssystems von außerordentlicher Trägheit. Erst 1869 wurden säkulare osmanische Volksschulen eingeführt, und auch das geschah nur sehr langsam. Im gesamten Osmanischen Reich besuchten 1895 nur 80 Nichtmuslime Schulen dieses Typs. Als die jungtürkische Bewegung die Türkisierung nach 1908 zu ihrem erklärten Ziel machte, war es bereits zu spät. Trotz der breit gefächerten Versuche, die Kontrolle über die separaten Bildungssysteme der verschiedenen Millets zu erlangen, blieben diese bis zum Ende des Reichs intakt. Wenige nichtmuslimische Schulen vermittelten ausreichende Kenntnisse der türkischen Sprache, und erst recht lehrten nur wenige eine besondere Loyalität zum osmanischen Staat. So blieb das Osmanische Reich bis zu seinem Ende ein Mosaik, ein Flickenteppich heterogener ethnischer und religiöser Gruppierungen, die alle in entgegengesetzte Richtungen strebten und alle ihre eigene Agenda verfolgten. Nicht nur, daß die partikularistischen Identitäten nicht schwächer wurden – das ungleichgewichtige Wachstum der staatlichen Macht, das auf eine ineffektive Nachahmung der westlichen Zentralisierungsmaßnahmen zurükkzuführen war, trug sogar noch zur Verschärfung und Intensivierung von ethnischem Sonderbewußtsein und nationalistischen Gefühlen bei. In diesem multiethnischen und polyglotten Rahmen bremste der Verlust an Schwung, den die der osmanistische Agenda zu verzeichnen hatte, jede wirkliche kulturelle Türkisierung der jüdischspanischen Gemeinschaft. Das kulturelle Feld, in dem sie sich bewegte, war damit weit geöffnet für die massive Einmischung westlicher Juden, vor allem über die Arbeit des 1860 in Paris gegründeten französischen Verbandes der „Alliance Israélite Universelle“, der insbesondere durch Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit Juden in anderen Ländern Hilfe und Schutz zu bieten suchte. Die „Alliance“, die in allen bedeutenden jü-

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dischspanischen Zentren Schulen eröffnete, sollte die jüdische Kultur des Balkans bald dominieren. Seit dem letzten Viertel des 19. Jhs. boten ihre Einrichtungen der breiten Bevölkerung Schulbildung nach westlichem Muster. Im Geist der Französischen Revolution, dem Gedanken der Gleichberechtigung und Emanzipation gleichen Rechten, von Emanzipation und der Überzeugung verhaftet, daß die Transformation des französischen Judentums auf dem Weg in die Moderne Modellcharakter für den Weg aller Juden haben sollte, schuf diese Organisation seit den sechziger Jahren des 19. Jhs. in der sefardischen und östlichen Diaspora ein weit gespanntes Netzwerk von Schulen mit einem im wesentlichen französischen Curriculum. Jüdische Themen wurden ganz im Sinne des Gedankenguts der modernen französisch-jüdischen Kultur gelehrt. Nach anfänglichen Auseinandersetzungen mit den traditionalistischen Kräften ersetzten sie schließlich die althergebrachten Formen jüdischer Bildung und drückten damit der jüdischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches ihren unverkennbaren Stempel auf. Durch die Reform und die Ablösung des traditionellen Bildungssystems wurde die „Alliance“ zu einer wichtigen Kraft der kulturellen Mission Frankreichs. Die französische Sprache wurde ein wichtiges Bildungsgut, das für die Entstehung einer neuen jüdischen Bourgeoisie und ihren sozialen Aufstieg zentral war. Da diese in der Region zunehmend in Kontakt mit den westlichen Wirtschaftsinteressen kam, bewirkte die Arbeit der „Alliance“ eine Reorientierung der lokalen jüdischen Eliten weg von der Region, hin zur westlichen Kultur. In wirtschaftlicher Hinsicht lag das Interesse der jüdischspanischen Juden eindeutig in der Erhaltung des multiethnischen Osmanischen Reichs, das ihnen mit wohlwollender Gleichgültigkeit begegnete. Der immer größere Einfluß des Westens auf die Region, begleitet durch die Arbeit der „Alliance“, führte in kultureller Hinsicht jedoch zu einer gravierenden Absonderung der jüdischen Gemeinschaft von ihrem sozialen Umfeld. Die jüdischspanische Gemeinschaft verhielt sich dem Osmanischen Reich gegenüber zwar bis zu dessen Ende politisch loyal, doch in kultureller Hinsicht waren war sie nun in weiten Teilen mit der Kenntnis des Jüdischspanischen und des Französischen bilingual geworden. Im Unterschied zur westlichen Judenheit kannte die jüdischspanische Gemeinschaft des Osmanischen Reichs weder Assimilation noch Akkulturation. Die osmanischen Juden blieben osmanisch, aber sie wurden nicht türkisch. Dieses Fazit enthält in nuce das Scheitern aller Versuche des osmanischen Staats, die verschiedenen Gemeinschaften unter seiner Herrschaft zu integrieren. Nirgendwo war die Arbeit der „Alliance“ erfolgreicher als in Saloniki. Sie wurde durch eine einflußreiche Gruppe von Juden, die Francos, die aus Italien, überwiegend aus Livorno, stammten und seit dem frühen 18. Jh. nach Saloniki kamen, unterstützt und gefördert. Diese Händler, erst Protegés Frankreichs und später der Toskana, waren ein wichtiges Bindeglied in dem Handelsnetz, das die südlichen und östlichen Küsten des Mittelmeers, vor allem auf dem Weg über Italien, mit dem restlichen Europa verband. Im 19. Jh. gehörten Familien wie die Allatini, Fernandez und Modiano zu den erfolgreichsten Unternehmern Salonikis. Stets auf dem neuesten Stand der Entwicklungen im westlichen Europa, erkannten sie als Mittler und Partner der dortigen jüdischen Wirtschaftsinteressen die Bedeutung

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der wachsenden wirtschaftlichen Präsenz des modernen europäischen Kapitalismus in der osmanischen Levante. Mit der 1838 zwischen England und den Osmanen abgeschlossenen „Kapitulation“ wurden die örtlichen Märkte dem ungehinderten Import industriell produzierter Fertigwaren des sich in rasantem Tempo industrialisierenden Westens geöffnet. In dieser Periode, die nach dem Krimkrieg die zunehmende Verwendung von Dampfschiffen erlebte, nahmen die Hafenstädte im östlichen Mittelmeerraum einen außerordentlichen Aufschwung. Französisch, die Verkehrssprache in Handel und Wirtschaft, wurde immer wichtiger. Bei der Verbreitung der französischen Sprache durch westliche Bildungsarbeit waren die Francos eine treibende Kraft. Einflußreiche Geschäftsleute wie Salomon Fernandez und der Bankier und Industrielle Moise Allatini, die eng mit dem Aufklärer Juda Nehama zusammenarbeiteten, eröffneten in Saloniki sogar noch vor der „Alliance“ neue Schulen. Die „Kupat Chesed Olam-Gesellschaft“, ein allgemeiner Wohlfahrtsverband, der die jüdischen Händler besteuerte, um die Gemeindeeinrichtungen zu reformieren, wurde 1853 unter der Schirmherrschaft von Moise Allatini gegründet. 1856 ließ die Gesellschaft einen jungen Rabbiner von Straßburg nach Saloniki kommen, der die zentrale Bildungseinrichtung der Stadt, die große Talmud-Tora-Schule, erneuern sowie Abendunterricht in Fremdsprachen und Arithmetik erteilen sollte. Dieser Versuch dauerte fünf Jahre, scheiterte aber letztlich am Widerstand der Rabbiner. Der Wandel war damit jedoch eingeleitet. 1862 eröffneten die Francos eine italienische Schule, und um dieselbe Zeit nahm die „Alliance“ Kontakt zu Juda Nehama auf, um ihre Möglichkeiten zur Eröffnung eigener Schulen in der Stadt zu prüfen. Jedoch konnte erst nach der Wahl des Reformanhängers Aaron Gattegno in das Oberrabbinat von Saloniki im Jahr 1874 tatsächlich eine Schule der „Alliance“ entstehen. In der Folge entwickelte sich schnell eine ganze Reihe von Schulen der „Alliance“ und vergleichbarer Lehrinstitute, die von Jungen und Mädchen aller Altersgruppen besucht wurden. 1908 besuchten 2132 Schüler und Schülerinnen Schulen der „Alliance“, 3250 Schüler und Schülerinnen besuchten Privateinrichtungen mit dem Curriculum der „Alliance“, 1300 gingen in ausländische Schulen, und nur 1849 wurden in rabbinischen Lehreinrichtungen unterrichtet. Von den letztgenannten besuchten die meisten die große Talmud-Tora-Schule, die ebenfalls nach westlichem Muster „reformiert“ worden war. Bis 1912 hatte die Mehrheit der wichtigsten jüdischen Händler und Finanziers – insgesamt 400 – ihren Bildungsabschluß an Schulen der „Alliance“ erlangt, ebenso wie 120 Lehrer, 15 Journalisten, 30 Rechtsanwälte, 450 Kunsthandwerker und 4500 Facharbeiter. Die zunehmende kulturelle Westorientierung der jüdischen Gemeinde von Saloniki ging mit ihrem sozialen Aufstieg Hand in Hand. Die jüdische Bevölkerung belief sich im Jahr 1870 auf etwa 40% bis 50% der Gesamtbevölkerung (50 000 von 90 000 und 61439 von 157889 nach dem ersten griechischen Zensus 1913) und bildete damit die größte ethnische Gruppe der Stadt. Sie sollte die Wirtschaft Salonikis gegen Ende des 19. Jhs. dominieren. Saloniki, zentraler Knotenpunkt für Import und Export und mit Mitteleuropa seit 1880 durch die Eisenbahn verbunden, erlebte in dieser Periode einen außergewöhnlichen Wirtschaftsaufschwung und entwickelte sich zur drittgrößten Hafenstadt des Osmanischen

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Reichs. Von 1880 bis 1912 verdoppelte sich der dortige Umschlag von Handelsgütern von einer Million auf zwei Millionen Tonnen. Bis in die siebziger Jahre des 19. Jhs. exportierte die Stadt noch Roh- und Baumwolle aus ihrem unmittelbaren Hinterland, doch entwickelte sich von da an eine industrielle Infrastruktur. Kleinfabriken belieferten die mazedonischen und osmanischen Märkte mit Flanell, Strick-, Woll- und Baumwollprodukten. Auch der Anbau von Tabak wurde zu einem wichtigen Wirtschaftszweig. Das größte Anbaugebiet für Tabak lag im Norden Griechenlands in der Nähe von Kavala. Saloniki wurde Drehscheibe des Tabakhandels wie auch das Zentrum für die Tabak- und Zigarettenproduktion, in der Tausende von jüdischen Arbeitskräften, vor allem junge Frauen, beschäftigt waren. Mit Ausnahme von Bagdad hatten Juden an keinem anderen Ort des Osmanischen Reichs einen so großen Einfluß auf das Wirtschaftsleben einer bedeutenden Stadt wie in Saloniki. Die alte Elite der Francos gelangte zu neuem Einfluß. Insbesondere die Allatini machten sich in internationalen Handels- und Bankgeschäften einen Namen. Lange hatten sie gemeinsam mit der Familie Modiano mit Getreide gehandelt und Mehl produziert, und 1857 hatten sie eine moderne Mühle bauen lassen. Sie stiegen in den Tabakhandel ein, bauten eine moderne Ziegelei und eröffneten zusammen mit ausländischen Partnern die Bank von Saloniki. Das jüdische Unternehmen Capandji, Jehiel und Benussan eröffnete 1911 eine Tuchfabrik, während die Modiano gemeinsam mit den Fernandez die berühmte OlymposDestillerie begründeten. In dieser Zeit gab es in der Stadt 38 große jüdische Unternehmen, von denen sich die meisten auf Import und Export spezialisiert hatten. Außerdem waren in jedem Sektor der Wirtschaft Salonikis Hunderte von kleineren jüdischen Betrieben zu finden, und Tausende von jüdischen Angestellten wurden von einheimischen jüdischen und europäischen Unternehmen beschäftigt. Die industrielle Expansion Salonikis führte zur Ausbildung des einzigen größeren Proletariats der sefardischen Welt, vornehmlich in der Tabakindustrie, aber auch in anderen Bereichen. Zu Beginn des 20. Jhs. zählte es etwa 10 000 Personen. Die neue Klasse der Fabrikarbeiter existierte parallel zu dem alten Typus der Handwerker und zu Gruppen wie jüdischen Trägern, Dockarbeitern und Fischern, die es in großer Zahl in der Stadt gab. Die kleineren jüdischen Gemeinden des osmanischen Balkans wie Monastir und Üsküb in Mazedonien und Kavala, Dedeagac und Dimetoka im Westen Thrakiens, die im Einzugsbereich von Saloniki lagen, profitierten von dem ökonomischen Aufstieg der Stadt und verbesserten ebenfalls ihre Wirtschaftslage. Es ist bezeichnend, daß in den meisten dieser kleineren jüdischen Gemeinden von jeweils etwa 1000 Personen bis zu den Balkankriegen ebenfalls Schulen der „Alliance“ eröffnet wurden. Moderne Bildung war ein ökonomisches Muß geworden. Die ökonomische und sprachliche Westorientierung, die für die Sefarden des osmanischen Balkans in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. kennzeichnend geworden war, führte zu einer umfassenden kulturellen Neuorientierung. Das Französische wurde zur Sprache der Kultur und der Eliten und veränderte auch das Jüdischspanische, in das zunehmend Worte französischen Ursprungs eingingen. Gleichzeitig regte dieser Prozeß paradoxerweise die Entfaltung der modernen jüdischspanischen Kultur an. Während das Französische zur do-

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minanten Bezugssprache wurde, sprach die breite jüdische Bevölkerung im Alltag weiterhin Jüdischspanisch. Es entwickelte sich eine populäre Presse und Literatur, deren Adressat ein jüdisches Massenpublikum war. Die erste jüdischspanische Zeitung von Saloniki, El Lunar, wurde 1865 von Juda Nehama gegründet. Darauf folgte die über lange Jahre erscheinende La Epoka von Saadi Bezalel Halevy, dessen Sohn Sam Levy außerdem die bedeutendste französische Zeitung der Stadt, Le Journal de Salonique, herausgab. In der Folge wurden zahlreiche jüdische Zeitungen, überwiegend in Jüdischspanisch, publiziert. Diese Zeitungen waren wie überall in der Welt der Sefarden ein wichtiges Medium zur Verbreitung neuer Ideen, das die Entfaltung neuer literarischer Genres wie des Romans und der Novelle förderte, die in den Feuilletons ein erstes Publikationsforum fanden. Lied- und Poesieanthologien für das Purim-Fest, die gewöhnlich unter dem Titel Complas de Purim erschienen, waren seit dem 17. Jh. sehr beliebt. Auf der Grundlage der Tradition der Complas setzte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. das Drama durch. Westliche Dramatiker wie Molière und Shakespeare wurden übersetzt und Originalstücke zu biblischen und anderen Themen von jüdischspanischen Autoren wie Abraham Galante, Schabetai Hosef Gaen, Jakim Behar und Abraham Aharon Kapon verfaßt. Autoren wie Isaak Florentin, Alexander ben Giat und Elia Karmona übersetzten und adaptierten neben ihren eigenen Werken Hunderte von europäischen Romanen und Novellen in das Jüdischspanische. Saloniki wurde zu einem der wichtigsten Publikationszentren des Jüdischspanischen und ein Vorreiter der modernen säkularen jüdischspanischen Kultur, die aus der kreativen Dialektik der Verwestlichung entstanden war. Die modernen Ideologien wie Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus hatten in den jüdischen Gemeinden des osmanischen Balkans, bevor dieses Gebiet 1878 großenteils den neuen Nationalstaaten unterstellt wurde, nicht Fuß fassen können. Auch danach standen die jüdischen Gemeinden traditionell jenseits der großen politischen Strömungen, die die gesamte Region im 19.Jh. erfaßten. Unter den Nationalisten, die die Osmanen stürzten, waren keine Juden. Den Interessen der Juden war mit einer multiethnischen und multireligiösen Struktur wie der des Osmanischen Reichs, wo man ihnen schlimmstenfalls mit wohlwollender Gleichgültigkeit begegnete, sogar gedient. In den unter „nationalen“ Gesichtspunkten entstandenen neuen Staaten hingegen sahen sie sich zum ersten Mal mit der geballten Kraft moderner nationalistischer Staaten konfrontiert und damit auch mit der für diese charakteristischen Politik der Homogenisierung und deren strukturellem Spannungsverhältnis zu Minderheiten. In den Gebieten, die nach 1878 unter osmanischer Herrschaft verblieben, insbesondere Thrakien und Saloniki mitsamt dem mazedonischen Hinterland, hielt man sich aus der staatlichen Politik weiterhin heraus. Unter der despotischen Herrschaft von Abdul Hamid II. gab es allerdings auch kaum eine andere Option. Die zunehmend unter westlichem Einfluß stehende jüdische Wirtschaftselite von Saloniki beherrschte die Gemeindeangelegenheiten. Viele wurden, ebenso wie die neu entstehende Schicht der Intellektuellen, bei den Freimaurern aktiv, einer Bewegung, die Kontakte zu Mitgliedern vergleichbarer nichtjüdischer Gruppierungen begünstigte. Etliche der Juden, die Verbindungen zu den Frei-

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maurern hatten, gehörten nach der Revolution von 1908 zu den glühendsten Anhängern der Jungtürken, die dem Reich eine kurze Phase des Liberalismus brachten. Im späteren Parlament von Istanbul wurde beispielsweise Emmanuel Carasso aus Saloniki als jüdischer Abgeordneter bekannt, und der ebenfalls aus Saloniki stammende Anwalt Emmanuel Salem wurde bei der Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen als konstitutioneller Berater der Regierung hinzugezogen. Im Hinblick auf die breite jüdische Bevölkerung vollzog sich die eigentliche Politisierung jedoch auf der Ebene der Gemeinden. Durch die Liberalisierung konnten sich neue politische Ideologien verbreiten, und auch hier wurde Saloniki zum wichtigsten Zentrum. Seit langem existierende Klassengegensätze nährten den Zionismus und den Sozialismus. Die Elite und ein großer Teil der Mittelklasse hielten weiterhin an der Linie der „Alliance“ fest und waren von der Notwendigkeit einer liberalen Transformation nach dem Vorbild ihrer Glaubensbrüder im westlichen Europa überzeugt. Trotzdem öffneten sich nicht nur viele Angehörige der Unter-, sondern auch einige Vertreter der Mittel- und Oberschicht dem Zionismus. Die zionistische Bewegung erstarkte im Osmanischen Reich nach 1908, nachdem Ver treter der „Zionistischen Weltorganisation“ nach Istanbul entsandt worden waren, die auch in jüdischen Zentren wie Saloniki für ihre Ziele zu werben begannen. Das Terrain dafür war schon bereitet, denn religiös-zionistische Ideen von der Rückkehr nach Zion fanden im Gebiet des osmanischen Balkans, seit Jehuda Alkalai sie in der Mitte des 19. Jhs. in Serbien verbreitet hatte, einige Anhänger. Die wachsende Vertrautheit mit der hebräischen Presse verbesserte unter den Rabbinern ebenso wie unter den Journalisten und den Maskilim, den jüdischen Aufklärern, das allgemeine Wissen über den Zionismus. Dieser Trend wurde durch die Gründung der Chewrat Kadima im Jahr 1889, die die Verbreitung der hebräischen Sprache zum Ziel hatte, und durch den bedeutenden Gelehrten und Hebraisten Isaak Epstein, der nach 1908 als Direktor an der Talmud-Tora-Schule lehrte, zusätzlich gestärkt. Der Zionismus hatte sich auch in Bulgarien zur vorherrschenden Ideologie der Juden entwickelt. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jhs. setzte er sich dort in der jüdischen Gemeinschaft schließlich mit voller Kraft durch, was die Schließung der Schulen der „Alliance“ nach sich zog. Die Nähe Salonikis zu Bulgarien und der Einfluß bulgarischer Zionisten in der Stadt sollte die weitere Entwicklung der Bewegung entscheidend bestimmen. Vor den Balkankriegen beherrschten die großen Debatten zwischen der zionistischen Tageszeitung El Avenir, herausgegeben von David Florentin, und La Tribuna Libera auf der einen Seite und den nichtzionistischen Organen auf der anderen Seite weite Teile der Öffentlichkeit. Zahlreiche zionistische Clubs und Verbindungen wie der „Makkabi“, eine 1911 gegründete jüdische Sportvereinigung mit Hauptsitz in Tel Aviv, wurden zu Zentren zionistischer Politisierung, die die Vorherrschaft der nichtzionistischen Gemeindeführung gefährdete. Auf dem Neunten Zionistischen Kongreß von 1909 war Saloniki mit fünf Delegierten vertreten. In den folgenden Jahren wurde die Bewegung wieder vorsichtiger, da sich die Jungtürken ihr gegenüber zunehmend feindseliger verhielten. Zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Balkankriege war der Zionismus jedoch bereits ein fester Bestandteil der politischen Landschaft der Stadt geworden, und dies sollte auch unter griechischer Herrschaft so bleiben.

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Der Sozialismus war in der jüdischen Bevölkerung sogar noch erfolgreicher. 1909 gründete eine Gruppe von Sefarden gemeinsam mit Bulgaren und Mazedoniern „Selanik Sosyalist I˙s¸c¸i Federasyonu“ (Sozialistischer Arbeiterverband von Saloniki). Der Vorsitzende des Verbandes, Abraham Benaroya, stammte aus Saloniki und wurde in Bulgarien zum aktiven Sozialisten. Der Verband wurde im Jahr seiner Gründung von der II. Internationale anerkannt. Zu seinen Mitgliedern gehörten viele Nichtjuden, in der Mehrheit aber Juden, die in der Tabakindustrie und in verschiedenen der im Entstehen begriffenen Industriesektoren beschäftigt waren – Schriftsetzer, Handwerker, Angestellte und Dockarbeiter. Die Organisation umfaßte 7000 bis 8000 Personen und spielte im öffentlichen Leben von Saloniki eine führende Rolle. Ihre Broschüren und Zeitungen wie Jurnal del Lavrador, Solidaridad Ovradera und Avanti, deren Auflage sich 1912 auf über 5000 belief, hatten einen beträchtlichen Einfluß auf die Arbeiterklasse. Elf von zwölf Broschüren, die der Verband veröffentlichte, waren in Jüdischspanisch verfaßt. Auf diese Weise wurden die jüdischen Kreise in Jüdischspanisch über den Sozialismus und seine aktuelle Entwicklung im Westen informiert, während sozialistische Zeitungen und Publikationen, die in mehreren Sprachen gleichzeitig erschienen, das sozialistische Gedankengut in der nichtjüdischen Arbeiterklasse verbreiteten. Die Balkankriege von 1912 bis 1913 bedeuteten das Ende der osmanischen Herrschaft in der Region. Mazedonien und Thrakien wurden zwischen Griechenland und Serbien aufgeteilt. Die kleineren jüdischen Gemeinden der Region und Saloniki, das großartigste Zentrum sefardischen Lebens im Osten, lösten sich aus der osmanischen Sphäre, deren integraler Bestandteil sie seit über 400 Jahren gewesen waren. Die Juden Salonikis betrachteten dies als wahre Katastrophe. Durch die neuen Grenzen wurde die Stadt von dem reichen mazedonischen Hinterland abgeschnitten und ihre Funktion als Hafen für das Osmanische Reich unterbunden. Ein Großteil des Wohlstands der Stadt und der jüdischen Gemeinde beruhte auf diesen Handelswegen. Daß ausgerechnet die Griechen, im Reich seit langem die wirtschaftlichen Hauptkonkurrenten der Juden, als neue Machthaber in die Stadt kamen, konnte von den Juden, die Diskriminierungen befürchteten, nur mit bösen Vorahnungen beobachtet werden. Sämtliche Sprecher der jüdischen Gemeinde von Saloniki, die alle Facetten des breiten politischen Spektrums der Juden repräsentierten, appellierten deshalb an internationale jüdische Organisationen und an die führenden westlichen Mächte, die Stadt unter türkischer Oberherrschaft zu belassen oder sie zumindest zur unabhängigen Hafenstadt zu erklären. Sie hatten jedoch keinen Erfolg. Die Stadt blieb den internationalen Verträgen gemäß nach Kriegsende unter griechischer Herrschaft. Die Juden des osmanischen Balkans hatten im Verlauf des letzten Jahrhunderts, das sie unter osmanischer Herrschaft verbracht hatten, tiefgreifende Umwälzungen erlebt. Die jüdischspanische Welt, in der sie eine wichtige Rolle gespielt hatten, zerfiel mit dem Aufstieg der die osmanische Macht untergrabenden neuen Nationalstaaten. Doch schon der türkische Staat hatte Reformen durchgeführt, die den Rahmen der politischen und sozialen Existenz der Juden veränderten. Die tiefe Durchdringung der osmanischen Wirtschaft durch den Westen hatte neue Herausforderungen und neue Chancen gebracht und eine rasante

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Verwestlichung der jüdischen Gemeinden ausgelöst. Dabei kam ihnen die Hilfe, die sie von der westlichen Judenheit in Form der Schulen der „Alliance Israélite Universelle“ erhielten, sehr zugute. Diese wurde zur Basis einer neuen Aufwärtsentwicklung. Nicht zuletzt hatten diese Wandlungsprozesse die sefardischen Gemeinden des Ostens zu voll entwickelten Teilhabern an den großen politischen und kulturellen Strömungen gemacht, die die jüdische Welt in dieser Periode insgesamt erfaßten. Paradoxerweise erlebte das Zentrum der sefardischen Juden des Balkans, Saloniki, mit der Schwächung der osmanischen Herrschaft ein zweites Goldenes Zeitalter von ebenso großer Bedeutung wie das Goldene Zeitalter des 16. Jhs. Die Industrialisierung, der sich ausweitende Handel und die Westöffnung des Osmanischen Reichs brachten der jüdischen Gemeinde beispiellose Prosperität.

Die Juden in den Nachfolgestaaten des Osmanischen Reichs Ein Großteil der Befürchtungen, die angesichts des Beginns der griechischen Herrschaft aufgekommen waren, sollte sich als berechtigt erweisen, allerdings in einer Art und Weise, die für die Juden nicht vorhersehbar war. Auf dem gesamten Balkan erwiesen sich die neuen Nationalstaaten als wesentlich kompliziertere politische Gebilde, als es das Osmanische Reich je gewesen war. Die Politik des nationalstaatlichen Aufbaus war eindeutig mit nachteiligen Konsequenzen für die Minderheiten verbunden, die die Erosion ihrer religiösen und kulturellen Eigenständigkeit kommen sahen. Von diesem wachsenden Druck der Staaten auf die Minderheiten waren auch die Juden betroffen. Auf dem gesamten Balkan wurde das jüdische Bildungssystem nationalisiert. Der Gebrauch des Jüdischspanischen ging zurück und wurde sukzessive durch die „nationale“ Sprache des Landes verdrängt. Die jüdischen Gemeinden wurden von eifrigen Staatsbürokraten, die sich in ihre Angelegenheiten einmischten, auf das genaueste beobachtet. Obwohl innerhalb der jüdischen Gemeinschaft ein partieller Akkulturationsprozeß einsetzte, blieb diese doch als eigenständige Minderheit bestehen. Es ist bezeichnend, daß sich die Politik der Sefarden auch in der Zwischenkriegszeit weiterhin auf die jüdische Sphäre konzentrierte, deren Hauptelemente der Zionismus und in Bulgarien und Saloniki in einem geringeren Grad die jüdisch-sozialistische Politik waren. Der Übergang von dem multiethnischen, multikulturellen Bezugsrahmen des Osmanischen Reichs zum Nationalstaat erwies sich für die betroffenen jüdischspanischen Gemeinden als traumatisch. Die neuen Machthaber waren sich der Tatsache bewußt, daß die jüdischen Gemeinden eine starke Stütze des alten osmanischen Regimes gewesen waren. Antisemitische Handlungen und Übergriffe überschatteten die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden. Während die Gemeinde von Belgrad von den neuen serbischen Machthabern nicht weiter behelligt wurde, waren in ländlichen Gebieten jüdische Ansiedlungen seit dem Erlaß der antisemitischen Gesetze von 1846 und 1861 verboten. Dies löste eine Wanderungsbewegung aus den kleineren Gemeinden nach Belgrad aus. Erst 1888, als die serbischen Juden

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emanzipiert wurden, setzte man diese Gesetze offiziell wieder außer Kraft. In Bulgarien wurde der Unabhängigkeitskrieg von 1878 von schweren Übergriffen bulgarischer und russischer Soldaten auf Juden begleitet. In den meisten Städten wurden die jüdischen Viertel niedergebrannt, und eine Massenflucht aus den verschiedenen Gemeinden nach Istanbul war die Folge. Nach der Rückkehr der Flüchtlinge 1879 mußte alles neu aufgebaut werden. Der Einmarsch der griechischen Armee in Saloniki war ebenfalls von antisemitischen Vorfällen begleitet. Auch wenn bald wieder Ruhe einkehrte, gingen Tausende von Juden aus Saloniki in den Jahren nach der griechischen Annexion der Stadt in die Türkei und in den Westen. 1917 zerstörte ein Großbrand das jüdische Viertel von Saloniki. Dieser zog langwierige Streitigkeiten mit den Behörden nach sich, die den Brand zum Anlaß nahmen, die wirtschaftliche Stellung der Juden zu schwächen, und für die enteigneten Grundstücke nur sehr geringe Entschädigungen zahlten. Auch durften die Juden zum großen Teil nicht mehr in ihre bisherigen Unterkünfte zurückkehren, was erhebliche soziale und ökonomische Verwerfungen nach sich zog. Nach dem griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch, der auf die Niederlage der Griechen im griechisch-türkischen Krieg (1920–1922) folgte, wurden Tausende von griechischen Flüchtlingen aus Kleinasien in Saloniki angesiedelt. Diese Flüchtlinge wurden zu den Hauptkonkurrenten der Juden und in der Zwischenkriegszeit zu einem Quell des Antisemitismus. Erneut verließen viele Juden die Stadt und emigrierten nach Frankreich, Amerika und Palästina. Die nach dem Unabhängigkeitskrieg (1920–1922) im Jahr 1923 neugegründete Türkei zeigte sich gegen diesen generellen Trend nicht immun. Ihrer multiethnischen Gruppen beraubt, durchlebte die Republik nun in der Ära Atatürks (1919/20–1938/45) eine Phase der Xenophobie. Alle Nichtmuslime einschließlich der Juden wurden 1923 aus sämtlichen öffentlichen Beschäftigungsverhältnissen entlassen. Die Nachfolgestaaten des Osmanischen Reichs gaben sich ausnahmslos Verfassungen nach westlichem Vorbild und handelten sich damit auch alle Probleme der westlichen Nationalstaaten ein. In rechtlicher Hinsicht waren jüdische Bürger jetzt gleichberechtigt, so daß zwischen ihnen und der Mehrheit kein Unterschied mehr bestand. Für eine Rechtsautonomie der jüdischen Gemeinden, die ja bereits unter der osmanischen Herrschaft im Jahr 1856 ausgesetzt worden war, war nun erst recht keinerlei Raum mehr. Dennoch machten sich beim Aufbau von landesweiten Gemeindeorganisationen starke Widerstände bemerkbar. In Bulgarien wurden die örtlichen Synagogen 1880 per Gesetz zu rechtlich anerkannten Körperschaften erklärt. Diese wählten einen Oberrabbiner. Die Juden schufen eine extrem zentralisierte, einem Konsistorium vergleichbare Landesorganisation, die jedoch trotz wiederholter Versuche in den Jahren 1900 und 1920 niemals die offizielle Anerkennung von seiten des Staates erlangen konnte. Ebensowenig konnte sich in Griechenland eine nationale Gemeindestruktur ausbilden, da die entsprechenden Gesetze von 1920 und 1922 die Rechtsform der jüdischen Gemeinden auf Einzelfallbasis regelten. In der türkischen Republik wurde nie ein Gesetz zur Rechtsform der jüdischen Gemeinden verabschiedet. Sowohl die Gemeindeorganisation als auch die Wahl des Oberrabbiners wurden vom Staat auf einer De-facto-Basis sanktioniert. Nur in dem 1918 neu entstandenen Königreich der Ser-

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ben, Kroaten und Slowenen wurde 1929 per Gesetz ein rechtlicher Rahmen für alle jüdische Gemeinden des Landes geschaffen. Es ist zu vermuten, daß in den jungen Nationalstaaten eine rechtlich anerkannte landesweite Gemeindeorganisation der Juden zu starke Erinnerungen an das Millet-System aus der Zeit der osmanischen Herrschaft weckte, das letztlich die separatistischen Nationalismen begünstigt hatten, aus denen die meisten dieser Nationalstaaten entstanden waren. Obwohl sogar in Frankreich, Inbegriff des Nationalstaats schlechthin, ein gut ausgebildetes Konsistorialsystem existierte, war dieses auf dem Balkan und auch in der Türkei offensichtlich zu negativ konnotiert. Es ist in diesem Zusammenhang ein interessanter Umstand, daß gerade Serbien, das sich als erster Staat vom Osmanischen Reich abgelöst und die verschiedenen Transformationen des Millet-Systems im 19.Jh. nicht mitvollzogen hatte, am ehesten bereit war, einen panjugoslawischen jüdischen Gemeindeverband zu akzeptieren. Dieser konnte allerdings aufgrund der nicht nachlassenden Spannungen zwischen den extrem orthodoxen Gemeinden und den Gemeinden anderer Ausrichtung letztlich auch keine Früchte tragen. Die nationalisierende Politik der neuen Staaten kam vor allem im Bildungsbereich zum Tragen. Schon 1860 wurde an der jüdischen Schule von Belgrad Serbokroatisch unterrichtet, und viele jüdische Schüler besuchten staatliche Schulen. Seit 1894 wurde an der jüdischen Schule von Sarajevo, die 1910 wieder aufgelöst wurde, ebenfalls Serbokroatisch unterrichtet. Diese Gemeinden waren insofern ein Sonderfall, als sie nicht unter dem Einfluß der „Alliance“ gestanden hatten, da diese hier zu keinem Zeitpunkt Schulen unterhalten hatte. In dem 1912 annektierten Mazedonien sollten die Schulen der „Alliance“ von Monastir und Üsküb den Machtverlust der Türken nicht lange überleben. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs waren die Schulen bereits nationalisiert, und die serbische hatte die französische Sprache verdrängt. Sowohl in der Türkei als auch in Griechenland, wo es in den jüdischen Gemeinden angesehene Schulen der „Alliance“ gab, griff der Staat mit aller Macht in den Bildungsbereich ein. In der Türkei wurde 1924/25 an allen jüdischen Schulen die französische Unterrichtssprache durch das Türkische ersetzt, und die „Alliance“ wurde offiziell verboten. Ab 1931 war es keinem türkischen Staatsangehörigen mehr erlaubt, eine fremdsprachige Volksschule zu besuchen. In Griechenland vollzog sich dieser Übergang weniger abrupt, aber mit denselben Ergebnissen. Der Griechischunterricht sowie der Unterricht in Geschichte, Geographie und Naturwissenschaften in griechischer Sprache wurden mit einem Gesetz von 1920 Pflicht, wenngleich andere Sprachen in den Schulen erlaubt blieben. 1930 wurde sogar die Vermittlung von griechischen Lehrinhalten an allen ausländischen Volksschulen verboten. Die Schulen der „Alliance“ waren von dieser Regelung nicht betroffen, weil sie als griechische Gemeindeeinrichtungen anerkannt waren. Trotzdem mußte in den frühen dreißiger Jahren das Französische auch hier dem Griechischen weichen. 1935 wurden sie zu rein griechischen Lehrinstituten erklärt. Die Gräzisierung der Bildung in den jüdischen Gemeinden war damit abgeschlossen. In den jüdischen Schulen Bulgariens setzte der Prozeß der Bulgarisierung wesentlich frü-

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her ein. Das Bildungsgesetz von 1891 unterwarf das gesamte jüdische Bildungssystem einer strikten staatlichen Kontrolle. Die bulgarische Sprache wurde in allen jüdischen Schulen zur ersten Unterrichtssprache. In den Lehreinrichtungen der „Alliance“ blieb das Französische nach wie vor eine wichtige Sprache, doch wurde dem Bulgarischen ein zunehmend größerer Stellenwert eingeräumt. Die demokratisch gewählten Schulkomitees der jüdischen Gemeinden, in denen die zionistischen Kräfte immer stärker wurden, verdrängten die „Alliance“ jedoch bald ganz aus dem Bildungssektor Bulgariens. 1913 wurden beinahe alle jüdischen Schulen von Zionisten geleitet und die französische Unterrichtssprache durch die hebräische ersetzt. Die bulgarische Sprache wurde neben Hebräisch zur zweiten Unterrichtssprache. Dennoch gaben noch 1926, fast fünfzig Jahre nach der Erlangung der Unabhängigkeit, 89,43% der jüdischen Einwohner Bulgariens das Jüdischspanische als ihre Muttersprache an. 1934 war ihr Anteil dann auf 57,36 Prozent gesunken. Mit Belgrad als alleiniger Ausnahme blieb das Jüdischspanische bis zum Zweiten Weltkrieg mehrheitlich die Muttersprache aller sefardischen Gemeinden in den Nachfolgestaaten des Osmanischen Reichs. Die nationalisierende Kulturpolitik der Einzelstaaten konnte nur verhältnismäßig langsam umgesetzt werden und zeitigte entsprechend langsam konkrete Resultate. Hieran läßt sich ein zentrales Charakteristikum der sefardischen Gemeinden in den neuen Nationalstaaten aufzeigen: Obwohl sich überall bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs ein gewisser Akkulturationsprozeß vollzogen hatte, kann, mit gewissen Einschränkungen in bezug auf Serbien, bei keinem dieser Länder eine Assimilation oder gar Integration der jüdischspanischen Gemeinde behauptet werden, wenn man von Einzelpersonen absieht. Für diese Entwicklung gab es verschiedene Gründe. An erster Stelle ist die Tatsache zu nennen, daß die neuen nationalistischen Eliten zwar die Zentralisierungspolitik der westlichen Nationalstaaten nachahmten, es dabei aber geflissentlich unterließen, auch die universalistischen und meritokratischen Elemente dieses neuen politischen Systems zu verwirklichen. Der Zugang zu Staatsämtern oder dem Militär blieb den Juden in diesen Ländern praktisch verschlossen. Die politischen Eliten verwirklichten vor allem die unitaristischen, monolithischen und monokulturellen Elemente des westlichen Nationalstaats. So wurde der Staat dieser Region für die Eliten der jeweils dominanten ethnischen und religiösen Gruppierungen zu einem reinen Machtinstrument. Wenn auch nationalistische Mythen Gegenteiliges behaupten, mußte sich der Nationalstaat hier wie überall die „Nation“ erst erschaffen, und in diesem Prozeß erschuf er auch „Minderheiten“ in einer Region, für die solche Kategorien aufgrund ihrer multiethnischen und multireligiösen Tradition als Grundprinzipien politischen Lebens überaus ungeeignet waren. Die durch die Bildung der verschiedenen politischen Einheiten zersplitterte jüdischspanische Gemeinde sah sich mit dem Ende des alten osmanischen Mosaiks konfrontiert, in dem sie einen konstitutiven Bestandteil dargestellt hatte. Sie mußte sich mit einem neuen künstlichen Status abfinden, dem einer religiösen Minderheit. Schon vor der Einführung des Nationalstaats partiell verwestlicht, war sie nun hinlänglich bereit, sich auf Hauptströmungen internationaler jüdischer Ideologien und auf die politischen Konzepte, die die jü-

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dische Welt insgesamt erfaßt hatten, einzulassen. Dabei ist es keineswegs überraschend, daß ihre politischen Aktivitäten sich nach wie vor klar auf den jüdischen Bereich bezogen, während ihre aktive Partizipation am politischen Leben der neuen Staaten weiterhin sehr schwach ausfiel. Es ist auch nicht überraschend, daß sie sich, wo immer sie die Freiheit hierzu besaßen, stets für eine Politik des Partikularismus wie den Zionismus im allgemeinen, den sozialistischen Zionismus und den jüdischen Sozialismus einsetzten. Diese wurden in den meisten jüdischen Gemeinden die vorherrschenden Bewegungen, besonders in Bulgarien, aber auch in Griechenland und Jugoslawien. Die Juden waren in die neuen Strukturen nicht wirklich integriert, sondern wurden in der Praxis als Minderheit ausgeschlossen. Sie sahen sich mit einem Dauerantisemitismus geringen Grades und dem kontinuierlichen Druck des Nationalstaats konfrontiert, während sie von dessen Vorzügen nur in höchst bescheidenem Maße profitierten. Insofern lag es für große Teile der jüdischspanischen Gemeinde nahe, neue Partikularismen aufzugreifen, die in modernisierter Form einer offensichtlich immer noch aktuellen Realität vergangener Zeiten entsprachen. Zwar war die alte Rechtsautonomie der Millet verloren, die jüdische Millet-Identität jedoch hatte die Wirren der Entstehung der modernen Nationalstaaten, die das Osmanische Reich nach dessen Zusammenbruch beerbten, intakt überdauert. Das Ende kam mit dem Zweiten Weltkrieg. 48533 Juden, fast die gesamte jüdische Bevölkerung von Saloniki, wurden 1943 von den Nationalsozialisten deportiert. Die meisten von ihnen wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in den Gaskammern von Auschwitz ermordet. Die kleineren Gemeinden Griechenlands erlitten dasselbe Schicksal. Von 80 000 in Griechenland lebenden Juden wurden insgesamt 62773 deportiert. Die Mehrzahl der Juden aus Belgrad und Sarajevo wurde in örtlichen Lagern getötet. In Jugoslawien zählte die jüdische Bevölkerung vor dem Krieg etwa 82000 Menschen. 62242 von ihnen wurden ebenfalls vernichtet. In den kurz zuvor von Bulgarien besetzten Gebieten Mazedoniens und in einem großen Teil des westlichen Thrakien wurden die jüdischen Gemeinden von den Bulgaren in Massentransporten deportiert und an die Deutschen ausgeliefert, die sie anschließend ermordeten. Dieses Schicksal erlitten die Gemeinden von Bitola (Monastir) und Skopje (Üsküb). Ungefähr 12 000 Juden, die in den von den Bulgaren kontrollierten Gebieten lebten, wurden ermordet. Bulgarien, das mit Deutschland verbündet war, deportierte die Juden zwar in die Provinzen und beschlagnahmte den größten Teil ihres Besitzes, lieferte aber die Juden, die auf dem Territorium des alten Bulgariens lebten, nicht aus. Diese haben den Krieg deshalb überlebt. Aufgrund einer starken inneren Opposition gegen die Deportationen und in der Absicht, das Schicksal der Juden bei Verhandlungen zur Stärkung ihrer eigenen Position zu benutzen, hatte die bulgarische Regierung die Auslieferung so lange hinausgezögert, bis die Entscheidung darüber durch den Einmarsch der sowjetischen Truppen 1944 obsolet geworden war. Die bulgarische Gemeinde jedoch, von den Ereignissen traumatisiert, verließ 1948 in Massen das Land und ging nach Israel. Da die Türkei nicht in den Zweiten Weltkrieg eingetreten war, erlitten die Juden hier nicht das Schicksal ihrer Glaubensgenossen auf dem Balkan, doch sahen sie sich einem verschärften Antisemitismus und einer diskriminierenden Kapitalsteuer ausgesetzt, die auf ihren Besitz erhoben wurde.

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Jüdische Emigration aus der Balkanregion Viele der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf dem Balkan verbliebenen Juden wählten die Emigration. Dieser Abwanderungsprozeß hatte bereits im ersten Jahrzehnt des 20. Jhs. begonnen. Die Sefarden, die das Osmanische Reich im 19. Jh. verließen, um in andere Länder des Vorderen Orients oder Nordafrikas zu gehen, hatten vorrangig wirtschaftliche Motive. Nur wenige gingen in derselben Zeit nach Europa, es sei denn, um dort zu studieren. Die Auflösung des Osmanischen Reichs, die Gründung der Nationalstaaten und die daraus resultierende politische Instabilität, aber auch die prekären Lebensbedingungen trieben die Juden dann dazu, in anderen Ländern Zuflucht zu suchen. Der Prozeß der Verwestlichung eröffnete ihnen neue Horizonte. Die jungtürkische Revolution und die daran anschließende Einführung der Militärdienstpflicht für Nichtmuslime waren Auslöser einer größeren Emigrationswelle: 8000 Tabakarbeiter aus Saloniki gingen nach New York. Hunderte von jungen Leuten wanderten nach Frankreich, Italien, Spanien, Marokko und in die Vereinigten Staaten aus. Der gleiche Trend läßt sich in Mazedonien zwischen 1907 und 1927 beobachten, wo die jüdische Einwohnerzahl der Stadt Monastir (Bitola) von 6000 auf 3000 zurückging. Auch aus großen Städten wie Istanbul, Izmir und anderen ostsefardischen Zentren wanderten zahlreiche Juden ab. Seit 1900 ließen sich Sefarden aus Rhodos in New York und später auch im Süden der Vereinigten Staaten nieder. Einige gingen nach Seattle im Nordwesten der Vereinigten Staaten, wo sie sich neben Juden niederließen, die aus heute zur Türkei gehörenden Gebieten stammten. Eine gewisse Zahl wanderte außerdem nach Lateinamerika aus, während andere sich für Afrika entschieden. In Belgisch-Kongo, Rhodesien und später in Südafrika gründeten sich sefardische Gemeinden. Diese Ausreisewellen gingen von den osmanischen Gebieten aus, während die jüdische Bevölkerung von Bulgarien und Jugoslawien insgesamt stabiler blieb. Außerdem waren regionale Bevölkerungsbewegungen zu beobachten, insbesondere von Bulgarien in die Türkei, die überwiegend auf wirtschaftliche Gründe zurückzuführen waren. In diesem Zusammenhang waren auch die Balkankriege ein wichtiger Faktor. In Saloniki lösten die ökonomischen Bedingungen und die unter der griechischen Herrschaft aufkommenden Spannungen mit den Behörden ebenfalls eine Emigrationswelle aus. Mit der Gründung der türkischen Republik und einer Kette kleinlicher Diskriminierungen von Nichtmuslimen im Gefolge der nationalistischen Politik beschlossen auch hier viele Juden, das Land zu verlassen. Frankreich, Spanien, Belgien, Italien, Kuba, Mexiko und Argentinien waren ihre bevorzugten Zielorte. Schätzungen zufolge lebten 1939 20000 bis 25000 aus dem Balkan und der Türkei stammende Sefarden in Paris. Nach der Befreiung 1944 waren es vermutlich noch 10 000. Auch in Städten wie Marseilles und Lyon existierten jüdischspanische Gemeinden. Der Chronist der Geschichte der Juden von Saloniki, Josef Nehama, hat geschätzt, daß 25000 griechische Juden nach Frankreich gingen, 15 000 bis 20 000 in die Vereinigten Staaten und nach Kanada, 4000 in die Türkei und 10000 nach Lateinamerika, insbesondere nach Argentinien und Mexiko. Diese Zahlen scheinen übertrieben und werden hier nur angeführt, um die Ge-

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samttrends der Migrationsbewegung anzudeuten. Sie vermitteln außerdem einen Eindruck davon, welche Größenordnung dieser Exodus in den Augen eines Zeitzeugen annahm. Von 1899 bis 1924 stieg die Zahl der sefardischen Einwanderer in die Vereinigten Staaten auf 20027. Die meisten von ihnen stammten aus Thrakien und der Ägäis. Auch die Zahl der „levantinischen“ Juden, die im Jahr 1913 in die Vereinigten Staaten einwanderten, wird auf 20 000 geschätzt. Die meisten, die ihr Land verließen, waren Männer, die später ihre Familien nachholten. Bei aller Ungenauigkeit der Ausreisezahlen läßt sich damit belegen, daß die jüdische Einwohnerzahl in einigen der großen Zentren stark zurückging. Einer Quelle zufolge sank die Zahl der Juden in Saloniki von 65000 im Jahr 1928 auf 45000 im Jahr 1940. In der republikanischen Periode der Türkei eröffnete die Emigration nach Palästina bzw. Israel einen Ausweg aus den hier aufkommenden Schwierigkeiten. Als 1909 die großen Emigrationswellen einsetzten, hatten die Zionisten im Osmanischen Reich noch nicht hinreichend Fuß gefaßt, um den Strom der Emigranten nach Palästina zu lenken. In der Folge aber wurden Palästina und Israel genuine Orte der Zuflucht, obwohl viele, die eigentlich dorthin wollten, aufgrund der von der britischen Mandatsregierung betriebenen Politik, Einreisegenehmigungen nur in begrenzter Zahl auszustellen, andere Zielorte wählten. Seit dem Ende der zwanziger Jahre fühlten sich viele türkische Juden in dem neugeschaffenen Nationalstaat im Hinblick auf die eigene Zukunft nicht mehr sicher. Jede kleinste Schwankung in dem fragilen Status quo löste neue Ausreisewellen aus. Obwohl die zionistische Bewegung illegal war und nur wenige Einreisegenehmigungen erteilt wurden, verließen 1943/44 etwa 4000 türkische Juden die Türkei, um nach Palästina zu gehen. Weniger als ein Drittel von ihnen ließ sich in ländlichen Siedlungsgebieten nieder. Damit hatten 5% der 80000 türkischen Juden das Land in einem Zeitraum von weniger als einem Jahr verlassen. Als die Grenzen Israels 1949 geöffnet wurden, setzte aufgrund der Umwälzungen durch den Zweiten Weltkrieg eine massive Emigrationswelle von Juden aus der Türkei ein. Dabei handelte es sich um über 30 000 Menschen, die überwiegend aus den ärmeren Teilen der Gesellschaft und der unteren Mittelklasse kamen, wobei die jüngere Generation überproportional vertreten war. Saloniki erlebte in den dreißiger Jahren eine starke Emigrationswelle, nicht nur in Richtung Europa, sondern auch nach Palästina. Einige Tausend Juden verließen als Touristen illegal das Land. Sehr wenige von ihnen besaßen Einwanderungsgenehmigungen nach Palästina. Wer sich im Besitz dieser Papiere befand, adoptierte Kinder, um ihnen die Miteinreise zu ermöglichen. Junge unverheiratete Männer gingen Scheinehen ein, damit eine gültige Genehmigung zwei Personen zugute kam. Die meisten der aus der unteren Mittelklasse stammenden Einwanderer – Ladenbesitzer, Handwerker, Fischer, Seeleute und Angestellte – ließen sich in Tel Aviv nieder, doch ein Teil ging auch nach Haifa. In Saloniki hatten Juden seit langem Berufe ausgeübt, die mit dem Meer zu tun hatten. 1936 waren Dockarbeiter aus Saloniki an der Eröffnung des Hafens von Tel Aviv maßgeblich beteiligt. Juden aus Saloniki gründeten Reedereien und trugen wesentlich zur Anbindung Palästinas an den Schiffsverkehr bei. Matrosen, Dockarbeiter, Fischer, Spediteure und verschiedene andere Berufsgruppen leisteten ebenfalls einen Beitrag zur ökonomischen Entwicklung des Lan-

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des. 1937 gründeten Juden aus Saloniki ein landwirtschaftliches Kollektiv, das sie nach dem zionistischen Führer und Abgeordneten Mose Kouffinas aus Volos „Zur Mosche“ (Fels des Mose) nannten. Die Zeit von 1932 bis 1938 kann als die wichtigste Einwanderungsphase überhaupt gelten, selbst dann, wenn man sie mit der Immigration nach der Gründung des Staates Israel vergleicht. In Saloniki erlebte die zionistische Bewegung mit dem Weggang ihrer aktivsten Führungspersonen einen Niedergang. Zwischen 1939, als die englische Mandatsregierung Einwanderung nach Palästina durch das „White Paper“ vom Mai dieses Jahres stark eindämmte, und 1945 existierte eine illegale Immigration von Juden aus Saloniki dorthin. Diese umfaßte jedoch nur eine geringe Zahl von Personen. Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühten sich die Zionisten in Griechenland für verwaiste Kinder um Einreisegenehmigungen nach Palästina. Diese sollten mit etwa 200 bis 300 emigrationswilligen Familien ins Land kommen. In dieser Zeit läßt sich allerorten ein starkes Emigrationsbedürfnis nachweisen. 1948/49 entschieden sich etwa 1500 Juden aus Griechenland für die Emigration nach Israel; Hunderte von weiteren Emigranten gingen an andere Zielorte. So gingen schätzungsweise 1200 Juden in die Vereinigten Staaten und 500 nach Lateinamerika und Europa. Die Emigration von Juden aus Jugoslawien nach Palästina blieb wegen des „White Paper“ bis 1941 sehr gering. Obwohl der intensive Nationalismus im Jugoslawien der Zwischenkriegszeit zu einer wesentlichen Stärkung des Zionismus in der Gemeindepolitik geführt hatte, sah nur eine kleinere Pionierbewegung ihr Ziel in Palästina. Emigration nach Palästina stellte keine wirkliche Option dar. Dasselbe galt auch für den größten Teil Westeuropas. In den zwanziger und dreißiger Jahren scheiterte der Versuch der „Zionistischen Vereinigung Jugoslawiens“, eine landwirtschaftliche Siedlung in Palästina zu gründen, obwohl zur Unterstützung emigrationswilliger Einzelpersonen und Gruppen ein Palästinabüro eröffnet wurde. Nur wenige folgten diesem Ruf. Viele emigrierten statt dessen nach Italien, in die Schweiz und die Vereinigten Staaten. In Sarajevo, wo einst die bedeutendste sefardische Gemeinde existiert hatte, blieb nur ein Bruchteil der früheren jüdischen Einwohner zurück. 1946 lebten noch 1413 Juden in der Stadt, in Belgrad waren es 2236. Von 1948 bis 1952 gingen 7578 Juden aus allen Teilen Jugoslawiens nach Israel. Die Gründung des Staates Israel spielte hierbei eine bedeutende Rolle. Bei diesen Zahlen läßt sich zwischen aschkenasischen und sefardischen Juden nicht sinnvoll unterscheiden. In den großen städtischen Zentren des Gebiets des ehemaligen Jugoslawien leben heute noch etwa 5000 Juden. Viele halten Israel für sehr wichtig, obwohl ihre eigene Zukunft im Zeichen einer vollkommenen Assimilation zu stehen scheint. Einen Sonderfall stellt Bulgarien dar. Die massive Emigration, die nach dem Zweiten Weltkrieg von hier aus erfolgte, bleibt singulär, sowohl im Hinblick auf die Sefarden als auch im Hinblick auf die jüdische Welt insgesamt. Trotz eines intensiven, für das Gemeindeleben konstitutionellen Zionismus war die Emigration nach Palästina von 1919 bis 1939 nicht besonders intensiv. Da die jüdische Bevölkerung nicht durch einschneidende Ereignisse zum Verlassen des Landes gezwungen war, gingen jüdisches Leben und Zionismus mit der Institutionalisierung des Zionismus ineinander auf. Von 1939 bis 1945 verließen etwa

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3000 Juden illegal das Land. Da die Lebensbedingungen für Juden während des Zweiten Weltkriegs hier im Vergleich zum restlichen Balkan verhältnismäßig gut waren, hatten die jüdische Gemeinschaft im eigentlichen Bulgarien, ebenso wie die in der Türkei, während des Krieges keine sehr starken Verluste zu verzeichnen. Dies erklärt, warum auch die meisten Einwanderer nach Israel gerade aus diesen beiden Ländern kamen. Die bulgarischen Juden waren durch den Krieg verarmt und demoralisiert. Seit September 1944 wurde die Regierung von der kommunistisch gesteuerten „Vaterländischen Front“ beherrscht. Die Wirtschaft des Landes war zerstört und die Mehrheit der Bevölkerung erwerbslos. Darüber hinaus war der Antisemitismus nicht völlig überwunden. Die Juden fühlten sich nicht sicher und wollten ausreisen. Allein bis September 1945 wurden 12000 Emigrationsanträge an das Palästinabüro gestellt. Zumindest ein Teil der Antragsteller hatte Familie, so daß die reale Zahl der Bewerber beträchtlich höher lag. Illegale Emigration wurde immer häufiger und umfaßte schließlich insgesamt etwa 1000 Personen. Der massive Emigrationsdrang der einheimischen jüdischen Bevölkerung stellte die Gemeindeführung vor ein Dilemma, denn eine Abwanderung in dieser Größenordnung gefährdete die Zukunft der gesamten Gemeinde. Schließlich optierten jedoch auch die Gemeindeleitungen für die Massenemigration. Von 1948 bis 1949 gingen 35 000 bulgarische Juden nach Israel. Das entspricht weitgehend der Zahl der Juden aus der Türkei mit demselben Zielland, allerdings handelte es sich im Fall Bulgariens um die Mehrheit der jüdischen Einwohner des gesamten Landes. Die bulgarischen Einwanderer ließen sich im allgemeinen in städtischen Zentren nieder. Die meisten Sefarden aus der Balkanregion, die die Schoa überlebt haben, leben heute in Israel. Viele Sefarden aus Frankreich und anderen europäischen Ländern sind der Schoa zum Opfer gefallen. In der Balkanregion leben nur noch wenige, während in Amerika weiterhin einige kleine Gemeinden existieren. Von den Juden, die seit Jahrhunderten in der islamischen Welt beheimatet waren, waren die sefardischen Gemeinden der Balkanregion – mit Ausnahme von Bulgarien und der eigentlichen Türkei – die einzigen, die dem deutschen Völkermord an den europäischen Juden zum Opfer gefallen sind. Die Mehrheit der Angehörigen der Gemeinden, die den Krieg überlebt hatten, entschied sich nach dessen Ende zum Verlassen des Landes. Diese Emigrationswellen verebbten auch nach der Massenemigration der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht. Heute existieren in der Region nur noch wenige Überbleibsel jüdischer Gemeinden. In Istanbul gibt es eine Gemeinde von 16000 Personen, während in der gesamten Türkei schätzungsweise 18 000 Juden leben. In Bulgarien leben heute weniger als 4000 Sefarden, ebenso im heutigen Jugoslawien. In Griechenland gibt es etwa 3000 Juden. Die meisten dieser Gemeinden werden durch fortgesetzte Emigration, Überalterung und niedrige Geburtenraten weiter geschwächt. Keine von ihnen läßt sich – mit eventueller Ausnahme Istanbuls – als aktive Gemeinde bezeichnen. In der Retrospektive kann man sagen, daß das Ende der osmanischen Herrschaft den Sefarden kein Glück gebracht hat. Nur dreieinhalb Jahrzehnte nach dem Ende des Osmanischen Reichs ging mit den sefardischen Gemeinden ein Kapitel der jüdischen Geschichte für immer zu Ende. Den sefardischen Balkan gibt es nicht mehr. (Übersetzt von Eva-Maria Ziege)

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Die Iberische Halbinsel Früheste Zeugnisse jüdischen Lebens auf der Iberischen Halbinsel1 Denkbar, aber nicht belegbar ist, daß sich jüdische Kaufleute bereits während des letzten vorchristlichen Jahrtausends im Zuge des Mittelmeerhandels auf der Iberischen Halbinsel aufhielten. Für die Etablierung jüdischer Gemeinden war ihre Zahl jedoch zu gering. Erst seit der römischen Eroberung der Halbinsel im 2. Jh. u. Z. ist eine dauerhafte Präsenz von Juden anzunehmen. Gut möglich ist, daß nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahre 70 Juden auch auf die Iberische Halbinsel kamen, ebenso nach der Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes 135/136. Sichere Zeugnisse in Form von Inschriften besitzen wir erst ab dem 3. Jh. Meist stammen sie aus Küstenstädten am Mittelmeer wie Tarragona, Tortosa, Cartagena und Elche sowie von den Balearen. Auch im Landesinneren, in Mérida, lebten mit ziemlicher Sicherheit bereits damals Juden. In Elche (nahe Alicante) wurden die Reste einer Synagoge aus dem 4. Jh. ausgegraben. Naheliegend ist, daß die jüdische Gemeinde eine längere Zeit der inneren Festigung benötigte, bevor sie zu diesem Bau in der Lage war. Ein noch stärkeres Indiz sind die Beschlüsse der Synode von Elvira (um 306). Sie verbot Ehen zwischen Christen und Juden. Auch gemeinsames Essen wurden untersagt. Die Synode erachtete es sogar als notwendig, die Segnung der Felder von Christen durch Juden zu ächten. Die Verbote zeigen, daß solche Praktiken existierten, womöglich gar nicht selten waren. Dies legt aber eine bereits längere Koexistenz von Juden und Christen nahe.

Unter westgotischer Herrschaft Anfang des 5. Jhs. gelangten die Westgoten auf die Iberische Halbinsel. Am Ende dieses Jahrhunderts lösten sie sich auch offiziell von der römischen Oberherrschaft. Bis auf das suebische Königreich im Nordwesten und ein von Byzanz kontrolliertes Gebiet im Südosten beherrschten sie nun die Halbinsel. Die Westgoten waren arianische Christen, während der größte Teil der einheimischen Bevölkerung katholischen Glaubens war. Die Geschichte der Juden im Westgotenreich kennen wir nur aus der nichtjüdischen Perspektive und hier vorrangig aus Rechtsquellen. Die westgotischen Herrscher übernahmen 1

Erst zu Beginn des 12.Jhs. konstituierte sich Portugal als selbständiges Königreich; bis dahin ist es nicht sinnvoll, zwischen dem späteren spanischen und dem portugiesischen Territorium zu differenzieren.

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die von den christlichen Kaisern Roms erlassenen Bestimmungen über Juden wie z. B. das Verbot des Besitzes christlicher Sklaven, religiös gemischter Ehen, der Ausübung öffentlicher Ämter sowie des Neubaus von Synagogen. Juden unterlagen also Einschränkungen, konnten aber innerhalb dieser Grenzen ihre Religion ausüben. Gegen Ende des 6. Jhs. oder zu Beginn des 7. Jhs. nahm die westgotische Politik gegenüber den Juden eine grundsätzliche Wendung zum Schlechteren, deren genaue Datierung jedoch ebenso umstritten ist wie ihre Motive. Traditionell wird sie mit dem Übertritt von König Rekkared und der westgotischen Führungsschicht zum Katholizismus im Jahr 589 in Verbindung gebracht. Ebenso traditionell ist die Auffassung, daß der Glaubenswechsel ursächlich für die verschärfte Diskriminierung der Juden war. Der israelische Historiker Benzion Netanyahu ist jedoch der Ansicht, daß der Übertritt von Rekkared durch den Wunsch motiviert gewesen sei, die nationale Einheit auf dem Weg der religiösen Einheit zu erreichen. Die arianische Minderheit habe sich dazu der katholischen Mehrheit anpassen müssen, und gleiches hätten er und die meisten seiner Nachfolger auch von den Juden verlangt. Nicht der Religionswechsel an sich, sondern eine geänderte Haltung der Könige zu ihren Völkern sei demnach die Ursache für die nun einsetzende Verschärfung der Judenverfolgung gewesen. Für diese Sichtweise spricht, daß bis zur muslimischen Eroberung der Halbinsel die Initiative zur Verfolgung der Juden von den Königen, nicht von der Kirche ausging. Andererseits ist von Rekkared mit Sicherheit nur die Bekräftigung des Verbots, Christen als Sklaven zu besitzen oder sie zu beschneiden, überliefert. Für eine Wende in der Judenpolitik ist dies nicht viel. Dies hat auch Netanyahu bemerkt und daher den Beginn der harten Verfolgung der Juden auf König Sisebut (612–621) datiert. Bereits im ersten Jahr der Regentschaft verschärfte Sisebut die Bestimmungen gegen Übertritte zum Judentum und gemischte Ehen. 613 bzw. 616 ordnete er die Zwangskonversion oder Ausweisung der Juden an. Netanyahu gibt als Grund hierfür die ausgebliebene Assimilierung der Juden an; Rekkareds Nachfolger hatten den harten Kurs ihnen gegenüber nicht fortgesetzt. Luis García Moreno sieht dagegen in Sisebuts Verfügungen eine Reaktion auf die jüdische Hilfe bei der Eroberung Jerusalems durch die Parther im Jahr 614. Schlecht informiert sind wir nicht nur über die Motive, sondern auch über die Ergebnisse der Politik von Sisebut. Es gibt Vermutungen, daß die Hälfte aller Juden auf der Iberischen Halbinsel konvertierte. Chroniken berichten auch von einer verstärkten Auswanderung nach Gallien. Dies bedeutet, daß es zwar eine große Zahl von Konvertiten gab, daß aber trotz der Androhung der Todesstrafe viele Juden ihrem Glauben treu bleiben konnten. Ungewöhnlich war dies nicht. Wir müssen stets bedenken, daß wir es nicht mit einem modernen, durchorganisierten Staat mit Bürokratie, Polizei und Gewaltmonopol zu tun haben. Was als Gesetz verkündet wurde, konnte sehr oft noch viel weniger in die Realität umgesetzt werden, als dies selbst heute der Fall ist. Dies gilt auch für andere, noch zu erwähnende Rechtsvorschriften, die die Juden betrafen. Immerhin entstand damit erstmals auf der Iberischen Halbinsel eine große Gruppe zum Christentum übergetretener Juden, von „Conversos“: Waren sie nun zu wahrhaftigen Christen geworden? Oder hingen sie heimlich weiter dem Judentum an? Konnte man sie also so-

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fort mit den anderen Christen gleichstellen oder bedurfte es einer Übergangsfrist, in der sie kontrolliert werden mußten? Für die Kirche kam hinzu, daß sie die Anwendung von Zwang bei der Missionierung ablehnte, jedenfalls offiziell. Sie reagierte daher auf Sisebuts Politik, indem sie die Forderung nach Verzicht auf Gewalt bei Bekehrungsversuchen bekräftigte, gleichzeitig jedoch die erfolgten Taufen für gültig und damit für irreversibel erklärte. Letzteres wurde bald relevant, da Sisebuts Nachfolger Swintila die Verfolgungen deutlich abschwächte und sogar die Rückkehr der Geflohenen erlaubte. Damit setzte der Zickzackkurs ein, der die westgotische Politik gegenüber den Juden im 7. Jh. so schwer verständlich macht, aber das Überleben des Judentums auf der Iberischen Halbinsel trotz der zwischenzeitlichen Verfolgungen ermöglichte. Die Ursachen für dieses Hin und Her lassen sich nicht mehr eindeutig feststellen. Manche Autoren machen hierfür den von König zu König unterschiedlich ausgeprägten Glaubenseifer verantwortlich, zumal selten der Sohn dem Vater folgte. Andere verweisen auf einen Konflikt zwischen den zentralistischen und vereinheitlichenden Bemühungen einiger Könige – wie Rekkared und Sisebut – und einer Adelsopposition, die sich immer dann Bahn brechen konnte, wenn sich einer der Adligen durch Rebellion des Throns bemächtigte. Die Juden waren demnach Opfer oder Nutznießer einer Politik, die nicht vorrangig ihnen galt. 632 erneuerte Sisenand das Dekret über die Zwangstaufe. Das Konzil von Toledo im folgenden Jahr hieß die Radikalität der neuerlichen Anordnung nicht gut, setzte aber Maßnahmen zur scharfen Separierung von Conversos und Juden in Kraft; im Kontakt der beiden Gruppen miteinander sah man eine Gefahr für die christliche Glaubenstreue der Konvertiten. Zugleich bedeutete dies aber, Juden prinzipiell den Aufenthalt zu erlauben. Mit dem Liber iudiciorum aus dem Jahr 654 versuchte König Rekkeswind durch das Verbot öffentlicher Äußerungen jüdischen Glaubens einschließlich der Beachtung des Sabbats, der Speisevorschriften und der Beschneidung jüdische Existenz auf der Iberischen Halbinsel unmöglich zu machen. Von Zwangskonversionen nahm er aber Abstand, da die Kirche sie ablehnte. Konvertiten wurde bis in die zweite Generation untersagt, Klagen gegen Christen einzureichen oder gegen sie als Zeugen aufzutreten. 681 überarbeitete König Erwich diese Bestimmungen und faßte sie zusammen. Neu war die Zwangstaufe, dieses Mal ohne die Alternative der Auswanderung. Rückfall in jüdische Gebräuche wurde noch schärfer bestraft, und die Bischöfe wurden erstmals in die Über wachung der Conversos einbezogen. Auch diese Bestimmungen zeigen neben der Radikalität, mit der der Westgotenkönig den jüdischen Glauben ablehnte, daß die bisherigen, ebenfalls drastischen, Maßnahmen nicht dazu geführt hatten, daß alle Juden tatsächlich ihre Religion aufgegeben hatten. Dies galt auch für die Wirkung der neuen Gesetzgebung, wie sehr deutlich ein Grabstein mit hebräischer Inschrift und Menora aus dem Jahr 688 zeigt, der in Narbonne, damals Teil des Westgotenreiches, aufgestellt wurde. Erwichs Nachfolger Egica (687–700) schwächte anfänglich die religiöse Verfolgung der Juden ab und ersetzte sie durch massive ökonomische Diskriminierungen. 694 forderte er jedoch vom 17. Toledanischen Konzil die Zustimmung zur Versklavung aller Juden. Anschließend sollten sie über die ganze Iberische Halbinsel verteilt und ihre Kinder als

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Christen erzogen werden. Was davon in die Tat umgesetzt wurde, wissen wir nicht. Für die Juden war aber auch dieses Ansinnen ein Zeichen dafür, daß sie der Ablösung der Westgotenherrschaft keinen Widerstand entgegensetzen sollten.

Im muslimischen Reich Von 711 bis 714 eroberten muslimische Heere die Iberische Halbinsel. Wenige der Eroberer waren Araber, viele hingegen Berber. Die Juden begrüßten sie als Befreier. Wenn sie wohl auch nicht – wie christliche Legenden später behaupteten – den Eroberern die Tore der Städte öffneten, so wurden sie doch nicht selten beim Weitermarsch der Truppen als Wachmannschaften und Verwalter eingesetzt. Jüdisch-muslimische Kooperation gab es während der Eroberung der Iberischen Halbinsel also durchaus. Wohl nur in Barcelona 852 erfolgte sie aber unmittelbar während der militärischen Auseinandersetzungen. Für das erste Jahrhundert muslimischer Herrschaft gibt es keine schriftlichen Zeugnisse über das jüdische Leben. Wir können jedoch sagen, daß es nach muslimischem Recht Juden wie Christen gestattet war, ihre Religionen weiter auszuüben, wenn sie auch einigen Beschränkungen unterworfen waren. Sie mußten eine Kopfsteuer bezahlen und an ihrer Kleidung erkennbar sein, durften keine Waffen tragen und nicht zu Pferde reiten. Juden (bzw. Christen) durften keine Muslimin heiraten. Regierungsämter waren ihnen verwehrt, neue Synagogen (oder Kirchen) durften nicht errichtet werden. Die jüdischen und christlichen Gemeinden genossen aber ein großes Maß innerer Autonomie einschließlich der Rechtsprechung, solange kein Moslem betroffen war. Für die Juden bedeuteten diese Regelungen eine erhebliche Verbesserung, für die Christen aber eine oft als unerträglich empfundene Zurücksetzung. Zu bedenken ist, daß immer wieder wichtige Teile der eben genannten Vorschriften in der Praxis nicht beachtet wurden und gerade Juden oft de facto größere Freiheiten hatten. Ein weiterer Faktor, der das jüdische Leben auf der Halbinsel belebte, war die deutlich erleichterte Kommunikation mit den babylonischen Religionsschulen, gehörten doch auch sie zum arabischen Herrschaftsbereich. Dies gilt insbesondere für die Zeit der Omajjaden (Kalifat von Córdoba), von der Mitte des 8. Jhs. bis zum Beginn des 11. Jhs. Dies waren gute Voraussetzungen für ein loyales Verhalten der Juden gegenüber den neuen Herren. Auch der stete Zustrom von Juden aus dem östlichen Mittelmeergebiet und Nordafrika auf die Iberische Halbinsel und das Fehlen von jüdischen Klagen über die muslimische Herrschaft in den ersten beiden Jahrhunderten unterstützen diese Einschätzung. Der nachdrücklichste Beleg aber ist, daß ab dem 10. Jh. Juden in Al-Andalus zu so hohen öffentlichen Ämtern aufsteigen konnten wie in kaum einer anderen Gesellschaft. Der wichtigste unter diesen „Politikern“ war Chasdai ibn Schaprut (915–970), der in Córdoba zum Wesir (einem heutigen Minister vergleichbar) des Kalifats aufstieg. Er diente dem muslimischen Herrscher in Verhandlungen mit ausländischen Gesandtschaften, zu denen auch eine von Kaiser Otto I. gehörte, als Dolmetscher und Berater. Mit christlichen Herrschern aus

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dem Norden der Halbinsel handelte er mehrfach Friedensverträge aus. Daneben agierte er in Feldzügen als Militärchef. Seinen Einfluß verwendete er dazu, zugunsten verfolgter Juden in anderen Reichen, z. B. in Italien, zu intervenieren. Schließlich war er auch als Mediziner tätig und übersetzte Dioskurides’ Buch über Arzneimittel ins Arabische. Berühmt ist Ibn Schapruts Brief an den König der Chasaren, durch den er versuchte, Aufschluß über ein jüdisches Königreich im fernen Osten, von dessen Existenz er gehört hatte, zu erhalten. Gefördert durch Ibn Schaprut schrieb Menachem ibn Saruk ein hebräisches Wörterbuch und verfaßte Dunasch ibn Labrat erstmals hebräische Gedichte in arabischer Metrik. Auf den Zerfall des Kalifats zwischen 1009 und 1031 folgte bis Ende des 11. Jhs. die Zeit der „Taifas“, einer Vielzahl muslimischer Königreiche. Einerseits führte dies zu Instabilität und wiederholten Kriegen zwischen den Reichen. Andererseits setzte sich aber die Blüte jüdischer Kultur fort, Juden erreichten in einigen Taifas höchste Staatsämter. Über die Gründe hierfür kann nur spekuliert werden. Eine weitere „Liberalisierung“ in religiöser Hinsicht, Konkurrenz der Höfe um kulturelle Ausstrahlung (vergleichbar dem Italien der Renaissance) und Mangel an qualifiziertem Personal angesichts der Vervielfachung von Staatsämtern mögen dazu gehören. In dieser Zeit gelangten Samuel ben Josef ibn Nagrela (auch: Samuel ha-Nagid) und sein Sohn Jussuf an die Spitze der Verwaltung des von Berbern regierten Königreichs Granada. Samuel (993–1056) wurde 1030 dessen „Ministerpräsident“ und ab 1038 auch – sehr erfolgreicher – militärischer Oberbefehlshaber. Letzteres macht ihn zu einer in der europäisch-jüdischen Geschichte einzigartigen Person. Daneben war er auch berühmt als rabbinischer Gelehrter, Dichter – weit über 1000 Gedichte mit meist weltlichen Themen sind von ihm überliefert – und Naturwissenschaftler. Seiner Integration in das muslimische Machtgefüge zum Trotz verfaßte Samuel ein Traktat über die inneren Widersprüche des Koran, auf den der islamische Gelehrte Ibn Chazm scharf reagierte. Sich selbst hielt Samuel für den David seiner Generation. Seine Stellung im Königreich war so stark, daß sein Sohn nach dem Tod die Ämter übernehmen konnte. Dessen Wirken stand aber unter keinem guten Vorzeichen. 1066 kam es in Granada während eines Volksaufstandes zu einem Massaker an vielen Juden, bei dem auch er getötet wurde. Über die Gründe und näheren Umstände dieses Massakers gibt es – außer Spekulationen aus viel späterer Zeit – keine Informationen. Jedenfalls war es nicht der Beginn einer allgemeinen Verfolgung der Juden. Samuel und Jussuf waren nicht die einzigen Juden an der Spitze der Verwaltung eines muslimischen Königreichs auf der Iberischen Halbinsel: Chasdai ibn Chasdai (1046–1100) erreichte dies im Königreich Saragossa. In vielen Bereichen des täglichen Lebens waren die Juden – soweit es die spärlichen überlieferten Zeugnisse erkennen lassen – von der arabischen Kultur beeinflußt. Wahrscheinlich war ihre Küche kaum von der arabischen zu unterscheiden, und sie kleideten sich wie ihre Umgebung. Ihre Muttersprache war Arabisch. Bemerkenswert ist, daß fast alle wichtigen Werke zur hebräischen Sprache in Judenarabisch (Arabisch mit hebräischen Buchstaben) geschrieben wurden. In Lucena in Andalusien stellten offenbar die Juden die Bevölkerungsmehrheit. Zahlen-

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angaben sind aber weder für diesen Ort noch insgesamt für das muslimische Gebiet möglich. Mit Bestimmtheit wissen wir jedoch, daß Juden in vielen muslimischen Städten lebten. Zwar gab es jüdische Stadtteile – in größeren Städten gleich mehrere –, keinesfalls jedoch wurden Juden gezwungen, in Gettos zu leben. Im muslimischen wie im christlichen Spanien entstanden räumliche Konzentrationen von Juden innerhalb der Ortschaften freiwillig, sowohl wegen des Bestrebens, mit Gleichgesinnten zusammenzuleben, als auch aufgrund bestimmter Erfordernisse bei der Beachtung religiöser Vorschriften. Langfristige Wirkungen hatten die intellektuellen Leistungen, die unter der muslimischen Herrschaft von den Juden der Halbinsel erbracht wurden. Während aus der westgotischen Zeit derartiges nicht bekannt ist, konnten sich die jüdischen Gemeinden – hauptsächlich die von Córdoba und Lucena – nun aufgrund der günstigen Lebenssituation auch in dieser Hinsicht kräftig entwickeln. Besonders ertragreich waren das 10. und das 11. Jh. Nachdem zu Ende des 8. Jhs. Natronai ibn Chabibai den Babylonischen Talmud auf der Halbinsel verbreitet hatte, entstanden – gefördert von Chasdai ibn Schaprut – in der zweiten Hälfte des 10. Jhs. einflußreiche Rabbinerschulen, die sich allmählich von den bisher dominierenden in Babylonien emanzipierten. Responsen wurden nicht mehr dort, sondern auf der Halbinsel selbst eingeholt. Unter arabischem Einfluß entwickelte sich auch die hebräische Dichtkunst zu einer großen Blüte. Viele ihrer Themen übernahm sie von arabischen Vorbildern, bis hin zum Lob schöner Jünglinge. Die Verwandtschaft zum Hebräischen machte es möglich, daß der hohe Stand der arabischen Grammatik auch zu Fortschritten in der traditionellen Sprache der Juden führte. In Córdoba wirkte um 1000 Jehuda Hajjug, der als der Begründer der hebräischen Grammatik gilt; sein Werk setzte – zuerst in Córdoba, dann in Saragossa – Jona ben Ganach (985–1050) fort. Beide erschlossen insbesondere die Systematik der Wurzeln hebräischer Verben. Ein besonderes Merkmal des jüdischen Geisteslebens auf der Halbinsel war die Auseinandersetzung mit der islamischen Theologie und der antiken Philosophie. Hier ist insbesondere Salomo ibn Gabirol (auch: Avicebron, ca. 1021–ca. 1058) zu nennen. Ibn Gabirol verband den Neuplatonismus mit dem jüdischen Glauben, indem er auf dem Vorrang des göttlichen Willens bestand. Er schrieb das nur auf Lateinisch erhaltene Werk Der Lebensquell, das auf die christliche Scholastik einen großen Einfluß ausübte, ohne daß man wußte, es mit einem jüdischen Autoren zu tun zu haben. Neben den philosophischen Werken schrieb Ibn Gabirol auch Gedichte und grammatische Abhandlungen. Bachja ibn Pakuda (ca. 1040–ca. 1110) war neben dem Neuplatonismus auch durch die islamische Mystik geprägt. Auf dieser Basis schuf er in Pflichten des Herzens eine eigene jüdische Mystik voller geistiger Exerzitien. Jehuda ha-Levi (ca. 1075–1141), Arzt, Dichter und Theologe, wuchs im muslimischen Teil der Halbinsel auf, ging aber später in das christliche Toledo. In seinem Hauptwerk, dem Kuzari, demonstrierte er die Überlegenheit des jüdischen Glaubens in Form von Dialogen zwischen einem Rabbiner und dem zum Judentum übergetretenen Chasarenkönig. Die antike Philosophie lehnte er ab. Er war auch der erste Dichter, der Spanisch schrieb, auch wenn dies nur für einen sehr kleinen Teil seiner Werke gilt. Viele seiner Gedichte verfaßte er in hebräischer Sprache.

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Es entstand in dieser Zeit eine eigenständige, von anderen Zentren der jüdischen Diaspora unabhängige iberisch-jüdische Kultur, die ihresgleichen sucht. Ihr Einfluß war so nachhaltig, daß auch Maimonides (1135–1204) zu ihr gezählt wird, obwohl er im Alter von 24 Jahren aufgrund der Judenverfolgung durch die Almohaden-Dynastie nach Nordafrika und dann nach Ägypten hatte fliehen müssen. Umstritten ist, wie sehr von diesen Denkern säkularisierende Tendenzen in die jüdische Gesellschaft wirkten. Während Eliyahu Ashtor dies bejaht, geht Norman Stillman von der Dominanz einer traditionalistischen Religionsauffassung aus und belegt dies mit der scharfen Unterdrückung der Karäer durch Samuel ibn Nagrela. Dürftige Quellen lassen auch hier kein klares Urteil zu. Über die wirtschaftlichen Aktivitäten der Juden unter dem Islam wissen wir nicht viel. Das Wenige weist darauf hin, daß die meisten Juden im Kleinhandel und als selbständige Handwerker aktiv waren. Auch in der Landwirtschaft betätigten sie sich. Juden scheinen die Herstellung von Öl aus Oliven auf die Halbinsel gebracht zu haben. Im Weinbau spielten sie ebenfalls eine wichtige Rolle. Unwahrscheinlich ist, daß die frühere These, Juden hätten damals den internationalen Mittelmeerhandel dominiert, zutrifft. Ebensowenig waren sie am Sklavenhandel beteiligt. Groß scheint der jüdische Anteil unter den Ärzten gewesen zu sein. Die Epoche politischer Aufstiegsmöglichkeiten und kultureller Blüte endete mit der Etablierung der Almoraviden-Dynastie ab 1086. Sie war von muslimischen Herrschern der Iberischen Halbinsel aus Nordafrika gerufen worden, um den Vormarsch der Christen zu stoppen, wandte sich aber bald auch gegen diejenigen, denen sie hatte helfen sollen. Entgegen verbreiteter Ansicht gab es unter ihr keine allgemeine Verfolgung der Juden, aber deren Wirkungsmöglichkeiten wurden gegenüber der vorhergehenden Zeit eingeschränkt. Immerhin kam es in der ersten Hälfte des 12. Jhs. zu einem kurzen Wiederaufblühen jüdischer Kultur. Ein grundlegender Wandel erfolgte erst unter den nachfolgenden Almohaden, die, ebenfalls aus Nordafrika kommend, zwischen 1145 und 1163 ihre Herrschaft im muslimischen Teil der Halbinsel errichteten. Sie setzten massive Verfolgungen von Juden und Christen ins Werk. Beiden Gruppen wurde vorgeschrieben, zum Islam zu konvertieren; Konvertiten wurden bis in die zweite oder dritte Generation diskriminiert. Wer nicht übertrat, wurde systematisch ausgegrenzt, insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht. All dies veranlaßte viele Juden zur Flucht in den christlichen Norden, der somit von den Maßnahmen der Almohaden profitierte; andere gingen nach Nordafrika. Um die Mitte des 13. Jhs. kam der Vormarsch der christlichen Truppen zu einem vorläufigen Ende. Auf dem Boden der Iberischen Halbinsel blieb als muslimisches Territorium nur noch das Königreich von Granada, das bekanntlich bis Anfang 1492 überdauerte. Über seine Geschichte ist insgesamt wenig bekannt und um so weniger über die seiner Juden. Wir wissen kaum mehr, als daß es dort Juden gab, deren Zahl durch Flüchtlinge aus dem christlichen Teil während des 14. und 15. Jhs., z.B. nach den Pogromen des Jahres 1391, anwuchs. Sie waren den weiter oben beschriebenen Vorschriften des muslimischen Rechts unterworfen; das Tragen besonderer Kleidung wurde ihnen mehrfach auferlegt. Nach der Errichtung der Inquisition im christlichen Spanien 1481 flohen auch einige konvertierte

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Juden ins Königreich Granada, die hier zu ihrem alten Glauben zurückkehrten. Die Sozialstruktur der Juden Granadas scheint der der früheren muslimischen Reiche geähnelt zu haben: viele Handwerker, Kleinhändler, einige Landwirte. Juden waren auch am Handel des Königreichs mit Genua und Nordafrika beteiligt.

Das christliche Iberien Bis zum „Goldenen Zeitalter“ In den kleinen christlich gebliebenen Territorien Nordspaniens lebten im 8. und zu Beginn des 9. Jhs. keine Juden. Wie wir gesehen haben, hatten die Juden nach den Erfahrungen im Westgotenreich viele gute Gründe, lieber unter muslimischer Herrschaft zu leben. Erste Nachrichten von jüdischen Gemeinden im christlichen Norden, namentlich in Coimbra und Barcelona, stammen vom Beginn des 10. Jhs., doch legen sie nahe, daß diese bereits seit einigen Jahrzehnten existierten. Genauere Informationen besitzen wir aber erst ab dem 11. Jh. Nun stieg die Zahl der Juden, die in Katalonien, Asturien, León, Kastilien, Navarra, Aragon und Portugal lebten, kontinuierlich an. Die ersten von ihnen kamen wohl von Norden, aus Frankreich. Im 10. Jh. begannen die christlichen Heere ihren Vormarsch nach Süden, und mit dem Fall von Saragossa 1067, Toledo 1085 und Valencia 1095, setzte die christliche Rückeroberung der Iberischen Halbinsel in größerem Maßstab ein. Viele Juden, die in den eroberten Gebieten lebten, entschieden sich, nicht in muslimisches Territorium zu fliehen. Seit der Almoraviden-Invasion Mitte des 11. Jhs. suchten außerdem zunehmend auch Juden aus dem Süden Schutz in den christlichen Reichen. Wie kam es zu dieser – verglichen mit dem Westgotenreich – gänzlich veränderten Situation? Die politischen Wirren und die zunehmende Diskriminierung in den muslimischen Gebieten haben wir bereits kennengelernt. Der christliche Norden war für die Juden jedoch nicht nur das kleinere Übel. Die antijüdischen westgotischen Gesetze waren nur noch auf dem Papier in Kraft. Juden erhielten nun Privilegien, die es attraktiv machten, dort zu leben. Nicht veränderte religiöse Dogmen, sondern politische und ökonomische Gründe bewegten die christlichen Herrscher zu diesem Sinneswandel. Die neu eroberten Gebiete, aus denen viele der bisherigen muslimischen Bewohner geflohen waren, mußten besiedelt werden. Um dies zu fördern, wurden Interessenten Privilegien angeboten. Juden kamen als Landwirte und – noch wichtiger – als Handwerker und Händler. In beiden Bereichen gab es von christlicher Seite aufgrund der Konzentration auf die kriegerischen Auseinandersetzungen zu wenig Aktivitäten. Juden konnten dadurch sogar bis in hohe staatliche Ämter aufsteigen, in viel größerem Ausmaß als in den übrigen christlichen Staaten Europas. Der rechtliche Status der Juden wurde in „Fueros“ (Privilegien) geregelt, die der König Orten oder Regionen gewährte. So wurde das Blutgeld, das bei der Ermordung eines Juden zu zahlen war, im Fuero von Nájera aus der zweiten Hälfte des 11. Jhs. ebenso hoch angesetzt wie das für einen christlichen Adligen. Natürlich sollte dies keine Gleichstellung beider Gruppen bedeuten, sondern den königlichen Schutz für die Juden zeigen. 1090 erließ

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Alfons VI. von Kastilien und León (1065–1109) einen Fuero, der sich allgemein mit der Stellung der Juden befaßte. In einigen Aspekten wurden sie Christen gleichgestellt, so bei Schuldforderungen. Königliche Unterstützung erhielten die Juden bei der Verfolgung der Karäer. Die neu zuwandernden Juden mußten sich in einer Gesellschaft einrichten, die viel ländlicher, ungebildeter, roher war als die muslimische. Im Kastilien des 11. und 12. Jhs., dem Hauptziel der Emigration aus dem islamischen Süden, aber auch in den übrigen Königreichen waren die meisten Juden Landwirte, mit einem Schwerpunkt im Weinbau. Unter den Ärzten, Kaufleuten, Schneidern und Schustern waren Juden ebenfalls zahlreich. Für den König waren sie als Verwaltungsfachleute, Steuereintreiber und Kreditgeber wichtig. Wuchervorwürfe waren noch kein Thema. In den Städten wohnten sie in der Nähe der Burg. Rein jüdische Wohnviertel gab es jedoch nicht. Die jüdischen Gemeinden waren dem König abgabenpflichtig, denn sie gehörten zu seinem Schatz. Ihr Leben sowie ihr bewegliches und unbewegliches Eigentum unterlagen daher dem königlichen Schutz. Konnten im Falle der Ermordung eines Juden die (christlichen) Gemeinden der Umgebung keinen Schuldigen ausfindig machen, mußten sie dem König eine Buße zahlen. Der königliche Schutz bedeutete insbesondere Bewegungsfreiheit, da sie als Eigentum des Königs prinzipiell auch unterwegs geschützt waren. Andererseits waren sie dem guten Willen der Könige, die unter Vorwänden ihr Eigentum beschlagnahmen konnten, völlig ausgeliefert. Von einer rechtlichen und sozialen Gleichstellung mit den Christen kann keine Rede sein. Die Vorstellung, daß der Angehörige einer anderen Religion gleichberechtigt sein könnte, war dem Mittelalter fremd (entsprechend gilt das auch für muslimische Staaten, und in einem jüdischen Staat hätte dieses Prinzip ebenso Anwendung gefunden). Vereinzelt kam es zu Verfolgungen, so in Castrojeriz 1035, Toledo 1108 und León 1230. Aber dies waren Übergriffe, die „von unten“ kamen, von den einfachen Leuten, vom niederen Klerus. Insbesondere die Könige hielten ihre schützenden Hände über die Juden, wußten sie doch um die Vorteile für Staat und Wirtschaft, die dies mit sich brachte. Zu Pogromen kam es meist dann, wenn die königliche Macht geschwächt war, z.B. während eines Thronwechsels. Um so stärker wandten sich die Juden den jeweiligen Königen zu. Dennoch war es nicht immer sicher, daß die Initiatoren der Übergriffe von den Königen verfolgt wurden. Alfons VII. von Kastilien und León z. B. erließ – wenn auch erst Jahre später – nach den Ausschreitungen von Toledo eine Amnestie. Unklar ist, ob er zudem eine Bestimmung erließ, die Juden und Conversos in Toledo von solchen Ämtern ausschloß, die Herrschaft über Christen bedeutet hätten. Vermehrte Spannungen zwischen Christen und Juden waren aber nur die eine Seite der Medaille. Zur selben Zeit existierte in Toledo die sogenannte „Übersetzerschule“, in der unter Beteiligung von Juden antike und islamische Texte aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt wurden. Im 12. Jh. beherbergte Toledo die bedeutendste jüdische Gemeinde im christlichen Spanien. Wichtige jüdische Gemeinden entstanden unter Alfons I. von Aragon (1104–1134) auch im Norden der Halbinsel entlang des Pilgerwegs nach Santiago de Compostela, so in

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Estella, Burgos und León. Den Juden von Saragossa und Tudela wurden die Rechte, die sie unter den Muslimen besessen hatten, bestätigt. Im 12. Jh. lagen die wichtigsten jüdischen Gemeinden an Handelsrouten. Die günstigen Bedingungen für Juden in allen christlichen Königreichen der Halbinsel im 12. Jh. förderten auch die innere kulturelle Entwicklung. Abraham ibn Daud (1110– 1180) schrieb den Sefer ha-Kabbala (Buch der Tradition), eine Schrift gegen die Karäer. Benjamin von Tudela, ein Kaufmann, verfaßte seinen berühmten Reisebericht, in dem er auch Gegenden beschrieb, die er persönlich nie gesehen hatte. Einen ersten Höhepunkt erreichte das jüdische Leben im christlichen Spanien unter Alfons VIII. von Kastilien (1158–1214). An seinem Hof lebten eine Reihe von Juden, so z.B. sein Arzt und sein Verwalter der Pachteinnahmen. Ein anderer Jude finanzierte den Feldzug, der mit dem entscheidenden Sieg über die muslimischen Heere bei Las Navas de Tolosa 1212 endete. In einer Vielzahl von Fueros und Briefen sicherte Alfons VIII. die Rechte der Juden. Vor Gericht wurden sie – im Gegensatz zu den Muslimen – den Christen gleichgestellt. Die jüdischen Gemeinden, die „Aljamas“, waren nicht räumliche, sondern rechtliche Gebilde. Juden in kleinen Orten waren den nächstgrößeren Aljamas zugeordnet. Die Aljama bzw. der an ihrer Spitze befindliche Rat war der Ansprechpartner der christlichen Herrscher. Im 13.Jh. wurden die Aljamas von Oligarchien beherrscht, die gute Beziehungen zum Königshof besaßen. Ihre Mitglieder waren reich gewordene Kaufleute oder Geldverleiher. In einigen Gemeinden wurde festgelegt, daß gegen das Votum bestimmter Familien keine Entscheidung zustande kommen könne. Die von den Oligarchien beherrschten Gemeindeorgane ergänzten sich selber. Die Aljamas finanzierten sich über eigene Steuern, mit denen die Rabbiner bezahlt und Studenten, Witwen und Arme unterstützt wurden. Im Verlauf des 13. Jh. wurden diese Lasten immer größer, weil auch die jüdischen Gemeinden von der allgemeinen Wirtschaftskrise erfaßt wurden. Um so gravierender war, daß die Könige gerade reichen Juden, die ihnen wichtige Dienste geleistet hatten, die Befreiung von diesen Zahlungen gewährten, was die Belastung der übrigen erhöhte. Ähnlich der Entwicklung im christlichen Umfeld gab es gegen diese Gemeindestrukturen zunehmend Proteste von seiten der einfachen Handwerker und Kaufleute. Mit der Zeit nahmen diese sozialen Konflikte auch eine religiöse Natur an. Den Angehörigen der Oligarchie wurde von den niederen Schichten eine Geringschätzung der religiösen Vorschriften vorgeworfen – spiegelbildlich zu den Assimilierungstendenzen unter den reichen Familien. In den Sog dieser Auseinandersetzungen gerieten die Schriften von Maimonides, deren das Individuum stärkende Positionen für die Loslösung von der Tradition verantwortlich gemacht wurden. Zu den Aufgaben der Aljamas gehörte auch die Rechtsprechung. In Kastilien sicherte der König die Ausführung der Urteile zu, während sie in Aragon noch von christlichen Instanzen bestätigt werden mußten. Bis 1380 konnten die jüdischen Richter sogar die Todesstrafe verhängen. Die Könige waren an Ruhe und Ordnung interessiert, weswegen sie eine allseits anerkannte Autorität innerhalb der Aljamas brauchten. Zeitweilig ernannten sie „Oberrab-

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biner“ („rab de la corte“). Diese Art der Amtseinsetzung zeigt, daß sie nicht Sprecher der jüdischen Gemeinden, sondern Vertreter des Königs gegenüber den Juden waren. Seit dem Ende des 13. Jhs. entstanden – ähnlich den Cortes der christlichen Umgebung – Versammlungen von Vertretern der Aljamas. Hier ging es vorrangig um die Verteilung der Steuerlasten. Die Zahl der Juden im christlichen Teil der Iberischen Halbinsel im 13.Jh. ist nur schwer zu schätzen. Möglich ist, daß es 100000 waren, was aber nur eine Größenordnung angeben soll. Im europäischen Vergleich waren es jedenfalls sehr viele. Die meisten waren Bauern, kleine Kaufleute oder Handwerker. Obst- und Gemüseanbau sowie Tuch- und Viehhandel waren eine Spezialität der Juden, ebenso wie wir viele Schlachter, Maurer, Schneider und Schuster unter ihnen finden. Im übrigen aber waren Juden auch in allen anderen Berufen vertreten. Über dieser breiten Basis finden wir „Hofjuden“ – darunter viele Ärzte und Steuerpächter –, die sich immer stärker sozial von den übrigen Juden abgrenzten und die christliche Aristokratie imitierten. Parallel zu solchen „Assimilierungsbestrebungen“ wurden von seiten der christlichen Gesellschaft immer stärkere Abgrenzungsversuche unternommen. Die Wuchervorwürfe häuften sich, und Juden wurde der Besuch öffentlicher Bäder nur noch an bestimmten Tagen erlaubt. Besonders die Bettelorden predigten gegen die Juden und forderten ihre Taufe. Die Könige von Kastilien und Aragon lehnten die Beschlüsse des IV. Laterankonzils (1215) über die Ausgrenzung der Juden ab. Andererseits hielten auch Könige wie Alfons X. von Kastilien und León (1252–1284), der die judenfreundliche Politik seiner Vorgänger fortsetzte, Ritualmordvorwürfe für glaubwürdig. Juden wurden aus Nützlichkeitserwägungen – besonders finanzieller Art – geduldet, ihre Situation war besser als in den meisten anderen europäischen Reichen, aber „normale“ Untertanen waren sie nie. Dies muß bei allen modernen Glorifizierungen der mittelalterlichen „convivencia“ (Zusammenleben) auf der Iberischen Halbinsel bedacht werden. Von den Cortes, den Ständevertretungen der Königreiche, wurde die Position der Könige gegenüber den Juden immer weniger akzeptiert. Sie wollten eine striktere Befolgung der kirchlichen Ausgrenzungsbeschlüsse und forderten auch eine Begrenzung der Zinssätze. Jaime I. von Aragon (1213–1276), der sich mit solchen Forderungen konfrontiert sah, konnte ihnen nicht nachgeben, weil die Finanzierung seiner Feldzüge von jüdischer Seite erfolgte. Die wichtige Rolle, die die Juden für die Staatsfinanzen spielten, bedeutete aber zugleich, daß viele Christen alle Juden als reiche Steuereintreiber ansahen und daher ablehnten. 1268 in Xátiva und 1278 in Gerona kam es in der Karwoche zu Angriffen auf jüdische Wohngegenden. In Kastilien kamen in der zweiten Hälfte des 13. Jh. die Cortes mit ihren Forderungen voran. Christen durften Einladungen von Juden in deren Haus nicht annehmen, Juden die öffentlichen Bäder nicht mit Christen teilen, Christen nicht Sklaven von Juden sein. Jüdische Ärzte konnten weiter Christen behandeln, aber die Medikamente mußten von Christen hergestellt werden. Seit dem Ende des 13. Jhs. gewannen die judenfeindlichen Strömungen allmählich die Oberhand. Besonders die Dominikaner wollten sich immer weniger mit der Existenz von

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jüdischen Gemeinden abfinden. In Aragon organisierten sie große Versammlungen, an denen teilzunehmen sie die Juden zu zwingen versuchten. 1263 fand in Barcelona eine Disputation zwischen Christen und Juden statt. Im Anschluß daran wurden die Juden aufgefordert, alle angeblich Jesus und Maria beleidigenden Passagen aus ihren Büchern zu entfernen. Die Werke von Maimonides sollten verbrannt werden. Zugleich erstarkte auf jüdischer Seite die Mystik und drängte den Einfluß der Ideen von Maimonides zurück. Die Kabbala faßte in Kastilien Fuß, wo auch zwischen 1275 und 1285 ihr Hauptwerk, der Sohar, entstand. Hauptautor war Mose von León. Die Kabbala war nicht nur eine religiöse Strömung, sondern auch Waffe in der Auseinandersetzung der einfachen Juden mit den Reichen, denen Glaubensschwäche vorgehalten wurde. Unter den Kabbalisten entstanden Gruppen von Wanderpredigern, die bewußt in Armut lebten. Durch messianische Hoffnungen beflügelt, wuchs auch die Auswanderung nach Palästina. Um 1280 wurden wegen angeblicher Unterschlagungen des jüdischen obersten Steuerverwalters Kastiliens nicht nur dieser, sondern auch weitere Mitglieder der jüdischen Gemeinden auf Befehl von Alfons X. verhaftet. Der Hauptbeschuldigte wurde hingerichtet, die übrigen Häftlinge erst gegen Zahlung einer sehr hohen Summe seitens der jüdischen Gemeinden freigelassen. Dies erschütterte die spanischen Juden, denn dies zeigte die Unsicherheit, der der Aufstieg von Juden in höchste Ämter unterlag. 1293 beschlossen die Cortes Kastiliens in Valladolid, daß Juden mit Ausnahme ihrer Wohnhäuser keine Immobilien besitzen dürften, und begrenzten den Geldverleih. In die Tat umgesetzt wurden diese Beschlüsse nicht, aber sie waren eine ernste Warnung für die Juden. In Aragon ordnete Peter III. (1276–1285) 1279 an, daß die Juden sich Predigten anhören müßten. Eine Revolte in Barcelona 1283 führte zur Absetzung aller Juden, die Ämter mit Rechtsprechung über Christen innehatten. In Aragon endete damit bereits die Ära jüdischer Präsenz in höchsten öffentlichen Ämtern. Um 1300 nahm in Aragon der Druck auf die Juden, zum Christentum zu konvertieren, zu. Conversos wurde die Gleichstellung mit den „Altchristen“ zugesagt. Als Anfang des 14. Jhs. die Juden aus Frankreich ausgewiesen wurden, nahmen die spanischen Königreiche sie jedoch ohne weiteres auf. In Aragon hatte sich nach dem Tod von Jaime I. bereits gezeigt, daß die Juden in Zeiten geschwächter Königsmacht am stärksten bedrängt wurden. Dies wiederholte sich in der Phase politischer Instabilität, die Kastilien zu Beginn des 14. Jhs. durchlief. Auch hier hatten die Juden keine Verbündeten außer dem Herrscher. Immer mehr wurden sie in den Geldverleih gedrängt. Das Verbot des Immobilienbesitzes wurde insofern umgesetzt, als Neuerwerb von Immobilien nicht mehr möglich war. 1313 schrieben die Cortes von Dueñas den Juden ärmliche Kleidung vor. Aber auch nach der Wiederherstellung einer starken Königsmacht agierten die Könige im 14. Jh. bezüglich der Juden nur defensiv. Zu stark waren die antijüdischen Strömungen, als daß ihnen der Vorwurf des Philojudaismus gleichgültig sein konnte. In Reaktion darauf begannen die Aljamas Kastiliens sich zusammenzuschließen. Besonders der Rabbiner von Toledo, Ascher ben Jechiel, der aus Köln stammte, engagierte sich für die Zusammenarbeit. 1309 mußten die Juden Mallorcas im Zusammenhang mit Ritualmordvorwürfen zur Ab-

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wendung der Sklaverei eine ungeheure Summe zahlen, die erst durch das Eingreifen des Königs von Aragon reduziert wurde. 1320 wurden jüdische Gemeinden in Aragon und Navarra von den Pastorellen, einem selbsternannten Kreuzzug zur Befreiung Granadas, der aus dem Süden Frankreichs kam, angegriffen. In beiden Reichen wurden die Kreuzzügler von königlichen Truppen zurückgeschlagen. In Aragon wuchs die Judenfeindschaft wegen der größeren Nähe zum Rest Europas schneller als in Kastilien. Antijüdisch auftretende Mönchsorden waren in Aragon aktiver, und es stellte sich hier das Problem der Konvertiten, da während der Judenverfolgungen in Frankreich zu Beginn des 14. Jhs. nicht wenige Juden die Taufe gewählt hatten, nach der Emigration in Aragon jedoch zum Judentum zurückkehren wollten. Dies rief die Inquisition auf den Plan. Kastilien war von diesem Problem nicht berührt, weil es von der Grenze zu Frankreich weiter entfernt lag und es dort noch keine Inquisition gab. 1321 kam es zum ersten Übertritt eines prominenten Juden zum Christentum: Der Rabbiner von Burgos, Abner, wählte die Taufe und veröffentlichte unter seinem neuen Namen Alfonso de Valladolid antijüdische Schriften. Noch blieb dies aber ohne direkte Folgen. Alfons XI. von Kastilien, der 1325 volljährig und damit König wurde, stellte die Gesetze zum Schutz der von Juden vergebenen Kredite wieder her, um ihre Wirtschaftskraft zu stärken. In dem kleinen Königreich Navarra im Norden der Halbinsel kam es 1328 während eines Herrscherwechsels auf Initiative eines Franziskanermönchs zu massiven Angriffen auf die Judenviertel. Nachdem der neue König, Philipp III. (1329–1343), seine Herrschaft gefestigt hatte, wurde der Mönch festgenommen, die Städte wegen der Übergriffe zu Strafen verurteilt. In Aragon stärkte Peter IV. (1336–1387), ähnlich wie Alfons XI. in Kastilien, aus ökonomischen Gründen die jüdischen Gemeinden. In den innergemeindlichen Kämpfen zwischen der Oligarchie und den Handwerkern siegten erstere, da sie die Unterstützung des Königs und nun auch der Rabbiner fanden, die in Aragon mittlerweile die Kabbala ablehnten. Der beginnende Aufschwung wurde aber jäh abgebrochen durch die Pestepidemie von 1348. Nicht nur, daß die Juden ebenso wie die übrige Bevölkerung Aragons schwer von der Krankheit getroffen wurden, sie litten auch unter Angriffen aufgrund der verleumderischen Unterstellung, sie hätten die Epidemie durch Gift verursacht. In Barcelona und anderen Städten Kataloniens sowie in der Region Valencia wurden Judenviertel angegriffen. In Kastilien unternahmen die Cortes von Valladolid 1351 einen erneuten Angriff auf die Rechte der Juden. Ihnen wurde untersagt, an Sonntagen und christlichen Feiertagen zu arbeiten, was sie zu zwei Ruhetagen pro Woche verurteilte. Christliche Namen waren ihnen verboten, Juwelen durften sie nicht tragen. Kredite, die Juden gewährt hatten, verfielen nach sechs Jahren. Die Krise des spanischen Judentums in der ersten Hälfte des 14. Jh. zeigte sich auch in einem allmählichen intellektuellen Niedergang. Die Rabbinerschule Kataloniens zog sich auf traditionalistische Positionen zurück und lehnte – wie erwähnt – die Kabbala ab. Strengste Befolgung der Gesetze war ihr Ratschlag, um das Überleben der Juden zu sichern. Die jüdischen Gelehrten Kastiliens hingegen votierten für die Kabbala. Beide Strömungen

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waren sich in der Ablehnung der von Maimonides inspirierten individualistischen Haltungen einig. In der zweiten Jahrhunderthälfte wurden die spanischen Juden Opfer der Auseinandersetzungen zwischen der Aristokratie und dem Königshaus, insbesondere in Kastilien. Während des Bruderkrieges zwischen König Peter I. (1350–1369) und Heinrich II. (1369–1379) galten die Juden als Parteigänger Peters, der in der Propaganda Heinrichs als Sohn eines Juden dargestellt wurde. Heinrichs Truppen griffen besonders die Judenviertel an, aber auch Peters Soldaten ließen diese nicht verschont. Samuel ha-Levi aus Toledo, der unter Peter I. zum einflußreichsten Berater des Königs geworden war und die Synagoge, die wir heute unter ihrem christlichen Namen „del Transito“ (Mariä Himmelfahrt) kennen, er bauen ließ, wurde 1361 gestürzt und hingerichtet. Nachdem Heinrich gesiegt hatte, wollte er von seiner antijüdischen Propaganda nichts mehr wissen und erklärte wie sein Vorgänger, auf jüdische Steuereintreiber nicht verzichten zu können. Die durch den Krieg unterbrochene Rückzahlung von Krediten an die jüdischen Gläubiger mußte trotz Protesten der Cortes wiederaufgenommen werden. Der Haß auf die Juden verbreitete sich vornehmlich in den unteren Bevölkerungsschichten. Er war dort besonders intensiv, wo die wirtschaftliche Entwicklung am weitesten vorangeschritten war, so z. B. in Barcelona, Saragossa und Valencia. Juden wurden als Konkurrenten, als Steuereintreiber oder schlicht wegen des ihnen nachgesagten Reichtums – den die meisten nicht besaßen – angegriffen. Die Argumente, die gegen die Juden vorgebracht wurden, waren aber fast immer religiöser Art. 1391–1492: Mehr Ab als Auf Bevor wir uns den letzten einhundert Jahren jüdischer Präsenz auf der Iberischen Halbinsel widmen, muß auf ein Problem hingewiesen werden, das in der Deutung der jüdischen Geschichte im mittelalterlichen Europa (und darüber hinaus auch für die Neuzeit) immer wieder Anlaß zu Kontroversen gewesen ist. Es geht um die Frage, ob die sukzessiven Verfolgungen und Diskriminierungen der Juden mit innerer Logik auf Ermordung und Vertreibung zusteuerten oder ob es ein Auf und Ab voneinander isolierter Ereignisse war, somit also das langfristige Ergebnis offen war. Die Kritiker der These von der allmählichen, auf einer inneren Logik beruhenden und irreversiblen Verschlechterung der Lage der Juden bezweifeln, daß die in Abständen von teilweise mehreren Jahrzehnten vorkommenden Pogrome und massiven rechtlichen Diskriminierungen angesichts dieses zeitlichen Auseinanderklaffens aufeinander bezogen werden können. Sie betrachten diese Ereignisse vielmehr als situationsbedingt. Einige von ihnen interpretieren sie als ritualisierte Grenzziehungen, die nicht auf die generelle Entfernung der Juden aus der christlichen Gesellschaft abzielten. Die Vertreter dieser Position können für ihre Sichtweise insbesondere das Argument ins Feld führen, daß die Quellenlage mehr als die Rekonstruktion einzelner Ereignisse nicht zulasse. Die Konstruktion großer Linien sei Geschichtsideologie, aber nicht faktengestützte Wissenschaft. Demgegenüber verweisen ihre Kritiker darauf, daß in vielen Fällen, von denen Spanien – was das Mittelalter angeht – unbestritten ein Schlußpunkt ist, eine ganze

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Reihe von Zwischenstationen auszumachen sind, die eine progressive Verschlechterung der Lebensbedingungen der Juden in den europäischen christlichen Gesellschaften belegen. Auch für die spanisch-jüdische Geschichte läßt sich diese Kontroverse nicht klären. Mit unserem kurzen Exkurs sollte nur deutlich gemacht werden, daß gerade bei unserem Thema jegliche „Sinngebung“ oder „Geschichtserzählung“ zwar unvermeidbar bleibt, will man nicht bei einer reinen Ereignischronologie stehenbleiben, sie aber stets von neuem kritisch auf ihre „ideologischen“ Prämissen hinterfragt werden muß. Nun aber zurück zum Gang der Dinge. Heinrichs Wende vom Gegner zum Beschützer der Juden provozierte in wichtigen Teilen der christlichen Gesellschaft scharfe Proteste. Auch der Papst forderte von ihm ein schärferes Vorgehen gegen die Juden. Für das Zusammenleben mit den Christen war noch wichtiger das verstärkte Auftreten von Predigern, die ebenfalls Heinrichs Politik ablehnten. Unter ihnen stach Fernando Martínez aus Sevilla hervor, der die Zerstörung der Synagogen und die Schaffung jüdischer Ghettos forderte. Seinem Auftreten in verschiedenen Städten der Halbinsel folgten stets Übergriffe auf die jüdischen Gemeinden. Die Cortes der Jahre 1377 und 1383 beschlossen in mehreren Punkten die Einschränkung der Rechte von Juden und ihres Schutzes durch Gesetze; so wurden die (christlichen) Gemeinden nicht mehr kollektiv für den Tod eines Juden auf ihrem Gebiet haftbar gemacht. Auch wenn, wie es in der Vergangenheit bereits mehrfach der Fall gewesen war, diese Beschlüsse nur abgeschwächt oder gar nicht in die Praxis umgesetzt wurden, signalisierten sie doch eine deutliche Verschlechterung der Beziehungen der christlichen Mehrheit zur jüdischen Minderheit. König Johann I. von Kastilien und León, Nachfolger von Heinrich II., bezog in dieser Auseinandersetzung nicht klar Stellung. Im Oktober 1390 starb er plötzlich; der Thronfolger war noch minderjährig. In dieses Machtvakuum stieß Martínez hinein, der aufgrund des Todes des Erzbischofs von Sevilla seit Juli des Jahres dieses Amt verwaltete. Er stellte sich an die Spitze eines gewalttätigen „Kreuzzugs“ gegen die Juden, der ihre Stellung auf der Iberischen Halbinsel so schwer erschütterte wie keine andere Maßnahme christlicher Herrscher seit dem Westgotenreich. Zu Beginn des Jahres 1391 kam es in der andalusischen Kapitale zu mehrwöchigen Ausschreitungen gegen die Juden; nach kurzer Beruhigung eskalierten sie am 6. Juni 1391 zu einem Angriff auf das jüdische Viertel, dem ähnliche Aktionen in den umliegenden Orten folgten. Chronisten berichten von bis zu 4000 Toten. Zwar ist diese Zahl wohl übertrieben, aber die Auswirkungen auf die jüdische Gemeinde waren verheerend. Es scheint, daß die Zahl der Übertritte zum Christentum die der Toten übertraf. Entscheidend ist, daß die Angriffe nicht auf Sevilla und Umgebung beschränkt blieben. Monatelang verbreiteten sich auf der Halbinsel, über politische Grenzen hinweg, gewalttätige Übergriffe auf die jüdischen Gemeinden. Teils wurden sie von Mártinez’ Abgesandten, teils lokal initiiert; jedenfalls trafen sie in den meisten Fällen auf die Unterstützung der Bevölkerung. Über Córdoba und das Tal des Guadalquivir in Andalusien breiteten sich die Unruhen auf die zentrale Hochebene aus. Die jüdische Gemeinde von Ciudad Real wurde ausgelöscht, in Madrid traten, wie es scheint, alle Juden zum Christentum über. In Toledo mit seiner jahrhundertelan-

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gen jüdischen Tradition verschwand eines der beiden jüdischen Viertel. In Burgos in Nordspanien konvertierten die wichtigsten Repräsentanten der Gemeinde ebenfalls zum Christentum, andere Juden retteten sich durch die Flucht aufs Land. Nur wenige kehrten später in die Stadt zurück. In keinem Fall wird von jüdischer Gegenwehr berichtet; ebensowenig gab es von seiten der königlichen Autoritäten Kastiliens ein energisches Einschreiten. Auf christlicher Seite forderten auch diejenigen, die die Gewaltanwendung verurteilten, die Konversion der Juden als Lösung des Problems. Wie bereits erwähnt, blieben die Pogrome nicht auf Kastilien begrenzt. Anfang Juli 1391 wurde das jüdische Viertel von Valencia trotz verstärkter Bewachung, die die Stadtverwaltung aufgrund der Nachrichten aus Andalusien angeordnet hatte, angegriffen und zerstört. Im Gefolge traten fast alle jüdischen Gemeinden in der Region zum Christentum über. Von Valencia griffen die Ausschreitungen auf Mallorca über. Auch hier ergriffen die lokalen Autoritäten Vorsichtsmaßnahmen, ohne daß dies die Übergriffe verhindern konnte. Am 2. August wurde das Judenviertel angegriffen und etwa 300 Personen getötet. Viele Überlebende konvertierten. Letzter Schauplatz der Pogrome waren Barcelona und daran anschließend die übrigen Gebiete Kataloniens. Hier hatten die Unruhen, die Anfang August begannen, stärker sozialen Charakter, ohne daß der religiöse Impetus dadurch verlorenging. In der Hauptstadt wurden etwa 400 Juden getötet, und auch hier traten viele zum Christentum über. Die jüdische Gemeinde Barcelonas verschwand gänzlich. Anschließend wurden Girona, Tortosa, Lleida und weitere Städte Kataloniens vom antijüdischen Furor heimgesucht. Nur in Aragon blieben die Judenviertel weitgehend verschont. Innerhalb von nur zwei Monaten wurden so die wichtigsten jüdischen Gemeinden dezimiert, ja teilweise gänzlich ausgelöscht. Neben der Unbarmherzigkeit des Vorgehens der christlichen Angreifer fällt die – verglichen mit Angriffen auf Juden in anderen Teilen Europas – hohe Zahl der Konvertiten auf. Von den Folgen erholte sich das spanische Judentum bis 1492 nicht mehr gänzlich. Die vielen Übertritte zum christlichen Glauben bedeuteten in mehrfacher Hinsicht eine Erschütterung. Die ihrem Glauben treu gebliebenen Juden erschraken angesichts der – aus ihrer Sicht – geringen Standfestigkeit der Gemeinden und fragten sich, welche inneren Ursachen dies haben mochte. Die kleiner gewordene jüdische Minderheit trug nun viel schwerer an den im wesentlichen unveränderten Abgabenforderungen der Könige. Die Konvertiten schienen anfänglich schnell in die christliche Gesellschaft integriert zu werden und stellten damit eine stete Herausforderung an die verbliebenen Juden dar, die sich fragen konnten, ob die von ihnen erbrachten Opfer noch zu rechtfertigen seien. Schließlich – und das erwies sich langfristig als größtes Problem – sahen die meisten christlichen Autoritäten nun in den Juden die Kraft, die die „Neuchristen“, so der nun aufkommende Begriff, immer wieder zum Rückfall in den alten Glauben verführen konnte; der Rückübertritt zum Judentum war aus christlicher Sicht auf keinen Fall tolerierbar, selbst wenn die Taufe nur angesichts der Drohung mit dem Tode, nicht aus freien Stükken, akzeptiert worden war. Sowohl im Königreich Aragon (Katalonien, Valencia, Aragon) als auch in Kastilien und León wurde die Zahl der jüdischen Gemeinden, die es vor 1391 gegeben hatte, nie wieder

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erreicht. Besonders in den großen Städten ging die Zahl der Juden drastisch zurück, während auf dem Lande, wo die Übergriffe viel seltener gewesen waren, die kleinen jüdischen Gemeinden weiter bestanden. Das spanische Judentum erlebte so eine De-Urbanisierung, die sich negativ auf das geistige und ökonomische Niveau auswirkte. Die Lage der Juden in Kastilien verschlechterte sich noch weiter, als der von weiten Teilen der katholischen Kirche nicht anerkannte, aber von den spanischen Königreichen unterstützte Papst Benedikt XIII. sich 1412 mit dem kastilischen Thronfolger, der wiederum die päpstliche Unterstützung im Nachfolgekampf suchte, auf rigorose antijüdische Gesetze verständigte, die 1415 auch in Aragon eingeführt wurden. Sie sahen die Einschließung der Juden in einem gesonderten Viertel innerhalb von acht (!) Tagen vor, Juden mußten sich einen Bart wachsen lassen, durften nur ärmliche Kleidung tragen, keinerlei öffentliche Ämter mehr übernehmen, nicht mehr als Arzt, Apotheker, Steuerpächter, Zimmermann, Schneider, Schuster, Händler und in einer Vielzahl anderer Berufe tätig sein. Wären diese Bestimmungen wortgetreu umgesetzt worden, wäre jüdisches Leben nicht mehr möglich gewesen. Aber obwohl dies – wie bei vielen der von uns referierten Vorschriften – so nicht geschah, bedeuteten die Regelungen einerseits auch in abgeschwächter Form eine gravierende Diskriminierung und waren andererseits eine klare Botschaft, daß Juden künftighin nicht toleriert werden würden. Dem Ziel der vollständigen Unterdrückung des Judentums diente auch die Disputation von Tortosa, die auf Initiative des konvertierten Juden Jehoschua Lorki, nun Geronimo de Santa Fe (Hieronymus vom Heiligen Glauben), 1413 von Papst Benedikt XIII. einberufen wurde. Wie üblich bei solchen Disputationen wurden zwar Repräsentanten beider Seiten, Juden wie Christen, eingeladen, doch war die Diskussion nicht ergebnisoffen. Bereits in der Einladung wurde mitgeteilt, daß die Juden von der Wahrheit des christlichen Glaubens überzeugt werden sollten. Immerhin wurde allen Beteiligten völlige Freiheit zugesichert. Im April 1414 wurde die Disputation abgeschlossen. Während und nach ihr traten zahlreiche Juden zum Christentum über. Warum kam es angesichts des so massiv gewordenen Drucks der christlichen Umwelt nicht zum Ende jüdischen Lebens in Spanien? Die Antwort darauf ist nicht leicht zu geben; die Leidensfähigkeit der jüdischen Gemeinden, aber auch die Diskrepanz zwischen dem Wortlaut der Gesetze und ihrer praktischen Umsetzung mögen dazu beigetragen haben. Nachweisbar jedenfalls ist, daß der Machtverlust und die schließliche Absetzung des Papstes Benedikt XIII. ebenfalls eine wichtige Rolle spielten. Dieser Prozeß begann bereits 1416, und er schloß auch ein, daß die scharfen antijüdischen Gesetze kaum noch Beachtung fanden. War also die Diskriminierung der Juden in dieser Zeit ein der spanischen Gesellschaft von außen (bzw. von oben) aufgezwungener Vorgang, der beim Wegfall dieses Drucks gerne wieder ad acta gelegt wurde? Dem steht entgegen, daß die relative „Toleranz“ (ein aufgrund seiner heutigen anderen Bedeutung eigentlich für das Mittelalter nicht anwendbarer Begriff) der Zeit bis 1391 nicht wieder restauriert wurde. Wenn auch die rigorose Ausgrenzung, wie sie von Benedikt XIII. und seinen Gefolgsleuten propagiert wurde, nicht die überwiegende Meinung traf, waren Juden dennoch nicht gern gesehen.

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Immerhin konnten die jüdischen Gemeinden Spaniens nun zur Reorganisation schreiten. Wenn sich auch die Verluste durch Ermordung und Konversion nicht mehr genau bemessen lassen, läßt sich doch sagen, daß sie erheblich gewesen sein müssen. Ökonomisch erreichten die Gemeinden nicht mehr das Niveau des 14. Jhs. Es dominierten nun die Handwerker und Kleinhändler. Die höchste Stufe in der gesellschaftlichen Leiter erreichten die jüdischen Ärzte an den Königshöfen. Jüdische Großfinanziers gab es in der ersten Hälfte des 15. Jhs. kaum noch; entweder waren sie nach Portugal geflohen oder „Conversos“ hatten dieses Geschäft übernommen. Die meisten Juden lebten nun in Kastilien (und hier oft in Landgemeinden), wo es – im Unterschied zu Aragon – keine Inquisition gab. Die städtischen Gemeinden erreichten nie wieder die alten Mitgliederzahlen. Gemeindegrößen von mehr als 50 Familien waren selten. Der wichtigste Schritt zur Reorganisierung des jüdischen Lebens in Kastilien war die Versammlung von Repräsentanten aller Gemeinden in Valladolid 1432, die mit der Verabschiedung eines verbindlichen Gemeindestatuts endete. Die Finanzierung der Gemeinden sollte über Steuern auf Fleisch, Wein sowie Abgaben für Beschneidungen, Hochzeiten und Beerdigungen erfolgen. Davon sollten auch die Kosten für einen Lehrer bestritten werden. Alle Gemeinden mußten einen eigenen Richter haben. Ziel war die Autonomie der Gemeinden in Rechtsfragen. Kein Jude sollte vor christliche Gerichte gehen, außer wenn es sich um Tribute an christliche Herren handelte. Dabei war klar, daß die Verhängung der Todesstrafe trotz aller Autonomiebestrebungen von königlicher Zustimmung abhing. Umfänglich waren die Vorschriften zur Befolgung der religiösen Gebote. Hier finden wir einen Widerhall früherer Debatten, daß mangelnde religiöse Festigkeit die Strafen der Jahrzehnte seit 1391 über die Juden gebracht habe. Zwischen 1420 und 1470 wurde Kastilien von inneren Kämpfen zwischen Adel und Monarchie zerrissen. Entgegen den Erfahrungen der früheren Zeit führte diese Schwächung der Zentralmacht nicht zu einer Verschlechterung der Lage der Juden. Am Ende dieser Phase gab es sogar wieder einen einflußreichen jüdischen Großfinanzier: Abraham Benveniste, er amtierte von 1432 bis 1454. Als vom König ernannter Großrabbiner konnte er helfen, schrittweise Einschränkungen gegen Juden abzubauen. Auf der anderen Seite wurden die spanischen Juden in den nun aufbrechenden Konflikt zwischen Alt- und Neuchristen hineingezogen. Letztere, also die zum Christentum übergetretenen Juden oder deren Nachkommen, wurden immer häufiger von Altchristen beschuldigt, heimlich zu „judaisieren“. Die Auseinandersetzungen um die Conversos sollen hier nicht weiter thematisiert werden, weil es sich hierbei im Prinzip um einen innerchristlichen Konflikt handelte. Diese Feststellung ist in der Geschichtsschreibung zum Judentum nicht unumstritten. Es gibt auch die Position, daß die Conversos weiterhin als Teil des jüdischen Volkes zu betrachten seien. Diese Sichtweise impliziert, daß an den von altchristlicher Seite vorgebrachten Anwürfen vieles zutraf. Wie groß tatsächlich der Anteil der „Rückfälligen“ unter den Conversos war, läßt sich heute nicht mehr endgültig klären. Der Streit unter Historikern geht insbesondere um die Frage, ob den Dokumenten der Inquisition geglaubt werden könne, die

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voll von Zeugnissen über „judaisierende“ Conversos sind. Spricht aus ihnen die Wahrheit oder sind sie ein Sammelsurium von Verleumdungen und unter der Folter abgelegten Scheingeständnissen? Von der zunehmenden Verfolgung vieler Neuchristen durch die Inquisition und ihrer Diskriminierung durch rechtliche Einschränkungen waren die Juden nicht direkt betroffen. Die Inquisition – dies muß wegen der verbreiteten Fehlinformation betont werden – war eine innerchristliche Einrichtung gegen Ketzer. Juden konnten aber in Gefahr geraten, wenn die Ermittlungen der Inquisition ergaben (oder dies vorgaben), daß ein Jude einen Christen zum „Judaisieren“ verführt hatte (oder dies auch nur beabsichtigte). Dies war strafwürdig. Darüber hinaus gab es einen weiteren Mechanismus, der die Auseinandersetzung um die Conversos für die spanischen Juden bedeutungsvoll machte. Immer häufiger wurde nämlich behauptet, daß die Präsenz von Juden die Gefahr des Rückfalls von Conversos erhöhe. In vielen Fällen lebten die Conversos, wie vor ihrem Übertritt, Seite an Seite mit Juden. Nicht selten war ein Teil der Familie konvertiert, ein anderer nicht. Dem sollte, so wurde zunehmend gefordert, durch die räumliche Segregation abgeholfen werden, sei es durch abgeschlossene Judenviertel, sei es durch Ausweisung der Juden aus ganzen Regionen. Zusammengefaßt wurden die in dieser Debatte verwendeten antijüdischen Argumente in der 1461 vollendeten Schrift Fortalitium fidei, verfaßt von dem Franziskaner Alfonso de Spina. Ihm zufolge waren die Juden Quell allen Übels. Unter anderem verbreitete er die bereits zuvor bekannten Vorwürfe des jüdischen Ritualmords. Vorerst aber scheiterte seine Propagandatätigkeit. König Heinrich IV. von Kastilien und León gewährte den Juden 1462 sogar das Recht auf uneingeschränkten Handel, einschließlich der Kreditvergabe, sofern sie nicht wucherische Zinsen nahmen. Die gegen Heinrich revoltierenden Adeligen vertraten hingegen antijüdische Positionen. Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien, die späteren „Katholischen Könige“, die im Gefolge der Adelsrevolte die Herrschaft übernahmen, distanzierten sich jedoch zunehmend von diesen Forderungen. Wie schon mehrfach in der spanischen Geschichte vertrat auch dieses Mal die Monarchie gegenüber den Juden konziliantere Positionen als der Adel. Dies gilt etwa für die ersten zehn Herrschaftsjahre der Katholischen Könige. 1487 schrieben die spanischen Juden an die jüdische Gemeinde in Rom und hoben hervor, welches Glück sie hätten, unter diesen Königen zu leben. Die Motive der beiden Herrscher dürften ökonomischer Art gewesen sein: Sie suchten ihr Eigentum, zu dem auch die Juden gehörten, zu schützen. Dies war um so wichtiger, als das Land nach den jahrzehntelangen inneren Kämpfen nun wiederaufgebaut werden mußte. Unter diesem Schutz erholten sich die jüdischen Gemeinden, wenn auch nur langsam. Nun gab es wieder einige wenige „Hofjuden“. Abraham Seneor und Isaak Abrabanel sind die bekanntesten unter ihnen. Letzterer war erst 1483 aus Portugal nach Spanien, von wo seine Vorfahren 1391 geflohen waren, gekommen. Seneor war Steuerverwalter des Königshauses. Diese Erfolge dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Juden von großen Teilen der damaligen Bevölkerung gehaßt wurden. War letzteres die Ursache für die – mit Sicht auf die ersten Regierungsjahre der Katholischen Könige – überraschende Wendung hin zur völligen Ausweisung der Juden aus Spa-

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nien im Jahr 1492? Wären Isabella und Ferdinand 1491 gestorben, wäre ihre Judenpolitik als Mischung aus Einschränkungen und Schutz in die Geschichte eingegangen, so wie es für viele ihrer Vorgänger gilt. So aber sind ihre Namen untrennbar verbunden mit einer der größten Tragödien des jüdischen Volkes. In der Geschichtsschreibung sind alle denkbaren Hypothesen zur Erklärung dieser Maßnahme vertreten worden. Bevor wir unsere eigene Sicht darlegen, wollen wir zunächst den Blick auf den Gang der Ereignisse richten. 1476 bekräftigten die Cortes, daß Juden keine aufwendige Kleidung tragen und Kredite nur vergeben durften, wenn der Zins 30% im Jahr nicht überschritt. Die erste Maßnahme wurde in der Praxis kaum beachtet, und Hofjuden wurden durch die Könige explizit von ihr befreit. Die Regelung über die Kredite brachte eher Rechtssicherheit, als daß sie beschränkend wirkte. Gravierender war der Beschluß der Cortes im Jahre 1480, daß innerhalb von zwei Jahren alle Juden in separate Wohnviertel ziehen sollten, um die Kontakte mit Christen einzuschränken. Damit sollte der als schädlich angesehene Einfluß auf die Neuchristen unterbunden werden. In den größeren Städten wurde diese Maßnahme auch tatsächlich weitgehend umgesetzt, während in kleineren Orten davon wenig zu spüren war. 1483 folgte das, was in der Rückschau (aber auch nur dort) als Vorläufer des Ausweisungsedikts gilt. Die Inquisition ordnete die Ausweisung aller Juden aus Andalusien innerhalb von sechs Monaten an, und die Könige bestätigten diese Verfügung. Die Juden mußten jedoch nicht die Iberische Halbinsel verlassen, sondern konnten sich in anderen Teilen des Königreiches Kastilien niederlassen. Tatsächlich wurde diese Maßnahme in die Praxis umgesetzt; die vertriebenen Juden ließen sich hauptsächlich in der Portugal benachbarten Extremadura nieder. Eine Ausweisungsanordnung der Inquisition für Aragon aus dem folgenden Jahr wurde von König Ferdinand jedoch nicht bestätigt. In den folgenden Jahren bis 1492 ging die Zahl der Juden in Kastilien aufgrund von Emigration zurück, obwohl diese verboten war. Als 1490 im dem Ort La Guardia bei Toledo ein kleiner Junge verschwunden war, wurden Conversos und Juden von der Inquisition des Ritualmords beschuldigt. Der Prozeß erregte großes Aufsehen, die Beschuldigten wurden zum Tode verurteilt. Bis heute ist dieser Ritualmordvorwurf der bekannteste der spanischen Geschichte. Um so überraschender ist es, daß der angebliche Ritualmord nicht in der Begründung des Ausweisungsedikts von 1492 erwähnt wird. Dieses wurde in der Endphase des Krieges gegen Granada formuliert, mit dem das letzte muslimische Territorium auf der Iberischen Halbinsel erobert wurde. Am 20. März 1492 legte der Großinquisitor Tomás de Torquemada den Katholischen Königen einen entsprechenden Entwurf vor. Am 31. März wurde der Text von Ferdinand und Isabella unterzeichnet. Den Juden Kastiliens und Aragons, also des allergrößten Teils der Halbinsel, wurden vier Monate eingeräumt, um ihren Besitz zu veräußern und das Land zu verlassen. Die Alternative dazu, sich nämlich taufen zu lassen, wurde seltsamerweise im Edikt nicht erwähnt. Die Entwicklung der nächsten vier Monate zeigt jedoch, daß die Taufe ein mindestens ebenso wichtiges Ziel war wie die Ausweisung, wenn sie nicht sogar die eigentliche Intention darstellte. Wer über die Frist des Edikts hinaus als Jude im Lande blieb, dem drohte die Todesstrafe.

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Zur Begründung der Ausweisung wurde ausgeführt, daß die Präsenz der Juden eine ständige Gefahr für die Glaubenstreue der Neuchristen darstelle. Die Ausweisung aus Andalusien habe dem nicht abhelfen können. Auch wenn nicht alle Juden versuchten, ihre früheren Glaubensgenossen wieder zurückzugewinnen, bleibe doch nur die Lösung einer völligen Vertreibung der Juden. Diese sollte sich aber in geordneten Bahnen vollziehen. Ausdrücklich wurde im Edikt bekräftigt, daß die Juden bis zum Verlassen des Landes unter königlichem Schutz stünden. Die Mitnahme von Gold, Silber oder Waffen wurde zwar untersagt, doch war die von Wechseln erlaubt, so daß ein Vermögenstransfer möglich blieb. Die Spitzen der jüdischen Gemeinden der beiden Königreiche, allen voran Isaak Abravanel, versuchten, die Könige von ihrer Entscheidung abzubringen. Als Hofjuden und Finanziers des Königshauses verfügten sie über Einfluß in einem Maße, das diese Hoffnung nährte; am Ende erwies sie sich jedoch als vergeblich. In der Zeit bis zum Ablauf des Ultimatums entfaltete die christliche Seite eine umfassende Bekehrungstätigkeit. Bekanntester Konvertit wurde Abraham Seneor, der Großrabbiner. Wie viele andere Juden diesem Beispiel folgten, bleibt unklar. Überwiegend wird von Historikern die Position vertreten, daß zwar die Mehrzahl der Juden die Ausweisung dem Übertritt vorzog, daß aber die konvertierende Minderheit recht beträchtlich war. Es mögen bis zu 100 000 Personen gewesen sein, die das Land verließen, vielleicht waren es auch nur 50 000, ohne daß dies eine Änderung in den Proportionen zwischen Ausgewiesenen und Übergetretenen bedeutet. Trotz der Zusicherungen des Edikts mußten die meisten Juden das Land unter schweren Bedingungen verlassen. Insbesondere beim Verkauf des Besitzes kam es zu bitteren Szenen, da die Käufer um den Zwang zur Veräußerung wußten. Ziele der Vertriebenen waren Portugal (kurzfristig das bevorzugte Refugium), Navarra (das seine Juden erst 1497 auswies), Nordafrika, die italienische Halbinsel (auch der Kirchenstaat nahm bereitwillig Juden auf) und das Osmanische Reich. Hier siedelte sich langfristig gesehen die größte Gruppe an und behielt sowohl die Sprache als auch viele Gewohnheiten ihrer Heimat bei. Auf der Flucht waren die Juden häufig Opfer von Räubern, Piraten und anderen Zeitgenossen, die sich an den Schutzlosen bereichern wollten. Manchen Vertriebenen bewegte dieses Schicksal, sich nun doch taufen zu lassen. In diesem Fall, so sah es ein königliches Edikt vor, war nicht nur die Rückkehr gestattet, sondern konnte auch der veräußerte Besitz zum alten Preis zurückgekauft werden. Das Ausweisungsedikt ist eines der berühmtesten Dokumente der europäischen Geschichte. In der spanischen Öffentlichkeit ist es seit dem 19.Jh. bis in die Gegenwart immer wieder Anlaß für Debatten über die Frage gewesen, ob die Vertreibung der Juden eine der (oder sogar die wesentliche) Ursachen für den wirtschaftlichen Niedergang des Landes in der frühen Neuzeit war. Kein Wunder also, daß es zahlreiche Theorien über die Motive der Katholischen Könige gibt. Im Edikt selber werden rein religiöse Begründungen gegeben. Viele Autoren haben dies für einen Vorwand oder – gemäßigter – nur für eine Teilerklärung gehalten. Einer der ältesten und immer noch anzutreffenden Begründungsversuche sieht in der Habsucht der Könige den Grund für das Edikt. Die Monarchie habe im Grunde nur den Besitz der Juden an sich reißen wollen. Nun waren aber – wie gezeigt – die spanischen

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Juden des Jahres 1492 bei weitem nicht mehr so reich wie ihre Vorfahren im 14. Jh. Zudem traten gerade einige der reichsten Juden angesichts der Ausweisungsverfügung zum Christentum über, andere – wie Isaak Abrabanel – erhielten von den Königen die Sondergenehmigung, ihr Vermögen mit sich zu nehmen. Schließlich steht dieser These entgegen, daß die laufenden Einnahmen, die die Könige von den Juden bezogen, sowohl durch eine Massenkonversion als auch durch eine Ausweisung geschmälert werden mußten: Juden hatten höhere Abgaben zu zahlen als Neuchristen, und im Falle einer Emigration gingen der Krone diese Abgaben gänzlich verloren. Eine Variante dieser These sieht nicht die Krone, sondern das städtische Patriziat als die ökonomisch Begünstigten. Hier stellt sich jedoch die Frage, warum die Könige dieser Schicht, auf die ihre Macht sich gerade nicht stützte, einen Vorteil verschaffen sollte. Umgekehrt waren die Städte nicht mächtig genug, der Krone eine solche Maßnahme aufzuzwingen. Sehr verbreitet ist die konträre Erklärung, daß mit der Ausweisung der Feudaladel über die am stärksten kapitalistisch agierende Schicht siegte. Aber gerade einige der Feudalherren klagten über die wirtschaftlichen Nachteile, die die Ausweisung mit sich brachte, und beantragten – vergeblich – Ausnahmen. Der spanische Historiker Américo Castro begründete das Edikt mit dem Haß des Volkes auf die Juden. In der Tat war er in den unteren Schichten verbreitet, aber er war nicht nur eine autonome Basisbewegung, sondern wurde auch von außen, besonders von einfachen Priestern geschürt. Heutzutage dominiert eine Interpretation, die einerseits die religiöse Begründung nicht als Vorwand abtut, sondern sie ernst nimmt. Dafür spricht auch, daß die Initiative von der Inquisition ausging. Ergänzt wird dies aber um einen weiteren Gesichtspunkt: Die Ausweisung war ein wichtiger Schritt zur Schaffung eines homogenen Staates. In diesem homogenen Staat, der häufig mit dem absolutistischen Staat der frühen Neuzeit identifiziert wird, sollte es nur eine Religion und keine (feudalen) Sonderrechte geben. Alle sollten dem Monarchen unterworfen sein. Die Existenz abweichender Bekenntnisse stand dieser Idee ebenso entgegen wie die traditionelle innere Autonomie der jüdischen Gemeinden. Schließlich dürfte es für die Entscheidung zur Ausweisung wichtig gewesen sein, daß die Juden schon seit 1391 ihre starke Position in Wirtschaft und Staatsverwaltung an die Conversos hatten abtreten müssen. Anders als früher konnten die Monarchen 1492 auf die Juden verzichten.

Portugal Als selbständige politische Einheit trat Portugal um 1140 in die Geschichte ein. Jüdische Gemeinden befanden sich in den meisten durch Christen eroberten Städten. Bereits Ende des 12. Jhs. wurde vom portugiesischen König ein Großrabbiner eingesetzt. Hundert Jahre später wurde dieses System weiter verfeinert; die jüdischen Gemeinden wurden vom König in sieben Distrikten zusammengefaßt, an deren Spitze jeweils ein Rabbiner stand. Wie in den spanischen Königreichen findet man in dieser Zeit auch in Portugal Juden in der königlichen Finanzverwaltung, und wie dort stehen die Juden unter dem Schutz der Könige.

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Auch in negativer Hinsicht gibt es Parallelen zur spanischen Entwicklung. Ende des 14. Jhs. verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Juden und Christen. Als 1384 Portugal eine kastilische Invasion abwehrte, plünderte die Bevölkerung Lissabons das Judenviertel. Dennoch blieb dieser Übergriff deutlich hinter den spanischen Pogromen des Jahres zurück. Nicht wenige Juden flohen nach diesen Ereignissen sogar nach Portugal, darunter die Familie Abrabanel. Anders als bei den Nachbarn im Osten stieg in Portugal die Zahl der Juden vom 14. zum 15. Jh. deutlich. Vorschriften zum Tragen spezieller Kleidung, ein Ausgangsverbot während der Nacht und das Verbot der Beschäftigung von Christen, die während der ersten Hälfte des 15.Jh. erlassen wurden, wurden in der zweiten Jahrhunderthälfte wiederaufgehoben. So verwundert es nicht, daß 1492 Portugal das vorrangige Ziel der ausgewiesenen Juden Kastiliens und Aragons war. Der portugiesische König erlaubte aber nur einen achtmonatigen Aufenthalt, für den zuvor eine Abgabe gezahlt werden mußte. Da mangels Schiffsraum nicht alle Flüchtlinge rechtzeitig wieder das Land verlassen konnten, wurden sie als Sklaven verkauft. Der seit 1495 amtierende Nachfolger Johanns II., Manuel I., nahm anfänglich den Juden gegenüber eine freundlichere Haltung ein und hob diese Maßnahmen auf. Als er die Tochter von Ferdinand und Isabella heiraten wollte, konnten die Katholischen Könige aber durchsetzen, daß das spanische Ausweisungsedikt auch auf Portugal ausgedehnt wurde. Im Dezember 1496 erging die Anordnung, bis Oktober 1497 hatten die Juden das Land zu verlassen. Da das Königshaus aber zugleich den wirtschaftlichen Verlust fürchtete, griff es zum Mittel umfangreicher Zwangstaufen. So schuf Portugal sich ein noch gravierenderes Converso-Problem als Spanien, denn viele der Neuchristen hatten gerade erst in Spanien die Auswanderung dem Übertritt zum Christentum vorgezogen. Das Problem wurde zusätzlich dadurch verschärft, daß die Auswanderung von Conversos aus Portugal in der Folgezeit verboten war. Daher war das Phänomen der „Kryptojuden“, die trotz der Taufe heimlich dem jüdischen Glauben treu blieben, in der Folgezeit in Portugal deutlich ausgeprägter als in Spanien.

Das Problem der „Conversos“ nach 1492 Die Iberische Halbinsel war nach 1497 offiziell ein Gebiet ohne Juden. Dennoch endete für die christliche Gesellschaft, vor allem für die Inquisition, die in Portugal aufgrund des Widerstands einflußreicher Neuchristen erst 1535 eingeführt wurde, damit nicht das Problem des „Judaisierens“. Im Gegenteil, es nahm im 16. Jh. im öffentlichen Diskurs einen immer bedeutenderen Platz ein. In beiden Ländern gab es neben Konvertiten, die zweifellos Christen geworden waren, auch solche – in Spanien wohl die Minderheit, im Nachbarland eher die Mehrheit –, die mit der Taufe nur dem äußeren Druck gefolgt waren. Ob die Inquisition wirklich nur tatsächliche Ketzer verfolgte, darf bezweifelt werden. Falsche Anschuldigungen wurden auch im gesellschaftlichen Konkurrenzkampf eingesetzt. In Spanien setzte nach ersten Maßnahmen um die Mitte des 15. Jhs. eine immer massivere Diskriminierung der (Nachfahren von) Neuchristen ein. Ihnen wurde durch Vorschriften

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über die „Reinheit des Blutes“ der Zugang zu zahlreichen Ämtern und Berufen untersagt, in einigen wenigen Gebieten galt ein Niederlassungsverbot. Alle bekannten Vorschriften dieser Art waren jedoch privat- oder kirchenrechtlicher Art, nie galten sie im ganzen Territorium. In der Praxis hing es von Beziehungen und der Möglichkeit zur Bestechung ab, ob sie tatsächlich zur Anwendung kamen. Zweifellos aber hatten sie auf die spanische Gesellschaft eine lähmende Wirkung, allein schon wegen des bürokratischen Aufwands zum Nachweis der altchristlichen Herkunft. Die gesellschaftliche Integration der Neuchristen, deren Gruppenidentität dadurch befördert statt geschwächt wurde, wurde massiv behindert. Die religiöse Identität der despektierlich „Marranen“ genannten Kryptojuden litt je länger, desto stärker unter dem Mangel an schriftlicher Traditionsweitergabe, die nur mündlich und geheim in der Familie erfolgen konnte. Mit der Zeit wich ihre Glaubenspraxis immer stärker von der der orthodoxen jüdischen Religion ab. Ergab sich jedoch die Gelegenheit zur Emigration (z. B. durch internationale Handelsbeziehungen), dann kehrten viele – aber durchaus nicht alle – in die jüdischen Gemeinden zurück. Zwar debattierten die Rabbiner immer wieder, ob diese Personen als originäre Juden anzuerkennen seien, doch fiel in der Regel die Entscheidung zustimmend aus.

Epilog: Juden in Spanien und Portugal im 19. und 20.Jahrhundert Explizit wurde in Spanien das Ausweisungsedikt nie aufgehoben. In der Praxis kam es aber in der ersten Hälfte des 19. Jhs. allmählich außer Anwendung. Juden siedelten sich seither aus zwei Richtungen kommend im Lande an: Der eine Teil kam aus West- und Mitteleuropa und vertrat – vornehmlich in Madrid und Barcelona – ausländische Unternehmen oder gründete ein eigenes Geschäft, der andere Teil kam aus Marokko und ließ sich in Südspanien als Kleinhändler nieder. Nur letztere waren in der Regel sefardischer Herkunft und sprachen noch Judenspanisch. De jure gilt heute das Edikt von 1492 als durch die Verfassung von 1869, die religiöse Freiheit gewährte, aufgehoben. 1900 lebten etwa 2000 Juden in Spanien. In dieser Zeit entstand im Land unter Teilen der bürgerlichen Intelligenz, durchaus weit in konservative Gruppen hinein, eine von dem Arzt und liberalkonservativen Politiker Angel Pulido initiierte philosefardische Bewegung, die sich um die (Wieder-)Annäherung an die sefardischen Juden kümmern wollte. Praktische Resultate zeitigte diese Kampagne kaum, auch wenn König Alfons XIII. sich ihrer annahm, aber sie bewirkte doch, daß die meisten Spanier heute ein positives Bild von den sefardischen Juden haben. Die zionistische Bewegung konnte so recht nicht Fuß fassen. Aus manchen Jahren wird von zahlenden Mitgliedern berichtet, unterbrochen aber immer wieder von nachrichtenlosen Zeiten. Die Militärdiktatur Primo de Riveras 1923–1930 richtete sich nicht gegen Juden. Im Ausland lebenden Sefarden, die bisher unter dem konsularischen Schutz Spaniens gestanden hatten („Schutzgenossen“), wurde 1924 sogar die Möglichkeit zum Erwerb der Staatsangehörigkeit eingeräumt. Im Bürgerkrieg verließen nicht wenige Juden das

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Land, teils aus weltanschaulicher Gegnerschaft zu den aufständischen Militärs, die mit Hitler verbündet waren, teils einfach wegen der chaotischen wirtschaftlichen Zustände. Die Franco-Diktatur war nicht genuin antijüdisch, aber die Betonung des Katholizismus brachte es gerade in den ersten Jahren nach Ende des Bürgerkriegs, als zumal das nationalsozialistische Deutschland militärisch auf dem Vormarsch war, mit sich, daß die offene Ausübung des jüdischen Glaubens praktisch unmöglich war. Flüchtlingen, die das Land nur im Transit passieren wollten, standen die spanischen Grenzen bis Ende 1942, als die deutschen Truppen die Pyrenäengrenze okkupierten, offen, ohne daß nach der Religion gefragt wurde. Mehrere zehntausend Juden konnten sich so retten. Etwa 1150 Juden mit spanischer Staatsangehörigkeit – durchweg frühere Schutzgenossen – wurden entweder aus dem deutschen Machtbereich repatriiert oder überlebten dort unter spanischem Schutz. Die Regierung in Madrid war zu dieser Hilfeleistung erst nach längerem Zögern und sehr widerstrebend bereit, doch obsiegte die Haltung, eigene Staatsbürger nicht dem Tod anheimzugeben. In Ungarn wurden Ende 1944 auf Initiative des dortigen Botschafters, der dabei dem Beispiel anderer Botschafter neutraler Staaten folgte, etwa 3500 Juden, die nichts mit Spanien zu tun hatten, vor der Deportation gerettet. Die Regierung in Madrid unterstützte den Botschafter bei seinem Vorgehen, zumal mit einer Einreise dieser Juden nach Spanien nicht zu rechnen war. Nach 1945 erhielten die spanischen Juden allmählich die staatsbürgerliche Gleichberechtigung auch hinsichtlich der Religionsausübung. In den sechziger Jahren gab es einige staatliche Initiativen wie z.B. die Einrichtung eines Jüdischen Museums in Toledo, die erkennbar auf eine Verbesserung des Ansehens in den westlichen Staaten durch größere Offenheit gegenüber der jüdischen Vergangenheit Spaniens zielten. Nach dem Ende der Diktatur 1975 fielen die letzten juristischen Diskriminierungen für Juden. Die meist als „Versöhnung“ bezeichnete Entwicklung fand ihren Höhepunkt in den Feierlichkeiten des Jahres 1992, bei denen auch der Vertreibung 500 Jahre zuvor gedacht und sie von offizieller Seite bedauert wurde. Mitte der neunziger Jahre lebten maximal 20 000 Juden im Land, hauptsächlich in Madrid, Barcelona und Südspanien. In Portugal liegt diese Zahl bei nur 400. Dies kontrastiert dazu, daß in Portugal ganz offiziell die Ausweisung widerrufen wurde. Bereits 1821 wurde Juden die freie Religionsausübung zugesichert. Die meisten ins Land kommenden Juden stammten aus Marokko oder Gibraltar. Internationales Aufsehen erregte in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts die „Entdeckung“ kryptojüdischer Gemeinden in Nordportugal. Während des Zweiten Weltkriegs gewährte das zwischen ideologischer Nähe zum Nationalsozialismus und einer traditionellen Anlehnung an Großbritannien schwankende Salazar-Regime ähnlich wie Spanien den jüdischen Transitflüchtlingen die Durchreise. Die wenigen portugiesischen Juden im deutschen Machtbereich wurden bereitwilliger repatriiert, als dies die spanische Regierung tat. Nach dem Zweiten Weltkrieg verließen die meisten Juden das Land Richtung Nordund Südamerika. Nach der „Nelkenrevolution“ linker Militärs 1974 wiederholte sich dies aus Angst vor einer kommunistischen Machtübernahme. Jüdische Gemeinden gibt es heute in Lissabon, Porto, Belmonte und an der Algarve.

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Italien Gesellschaft, Wirtschaft, rechtliche Stellung Die Juden im Römischen Reich Die Präsenz von Juden in Italien, und insbesondere in Rom, reicht bis in die Mitte des 2. Jhs. v. u. Z. zurück. Hatten zu dieser Zeit nur einzelne Juden in Rom gelebt, so brachte Pompeius nach seiner Eroberung Jerusalems im Jahr 63 v. u. Z. eine ganze Reihe jüdischer Gefangener mit nach Rom, die jedoch bald darauf freigelassen wurden. Julius Cäsar verlieh ihnen Privilegien, die ihnen die Erfüllung ihrer religiösen Pflichten ermöglichen sollten. Diese wurden in der Folgezeit von zahlreichen römischen Kaisern bestätigt. In vorchristlicher Zeit gab es außerdem mit großer Wahrscheinlichkeit Ansiedlungen von Juden in Neapel, Pompeji, Pozzuoli und in anderen Städten im Süden Italiens. Die bedeutendsten Zeugnisse für jüdisches Leben im antiken Italien gehen jedoch auf die Jahrhunderte nach dem Beginn der christlichen Zeitrechnung zurück. Zu ihnen gehören die jüdischen Katakomben in Rom sowie die Überreste der Synagogen in Ostia (in der Nähe von Rom) und in Bova (Kalabrien). Nach dem römisch-jüdischen Krieg, der im Jahr 70 u.Z. mit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem endete, setzte eine massive Deportation von Juden aus Judäa ein. Die Mehrzahl von ihnen wurde als Gefangene nach Italien, vor allem nach Rom, gebracht. Nach ihrer Freilassung blieben viele von ihnen im Land. Kaiser Vespasian (69–79 u. Z.) wandelte die Abgabe, die die Juden der Diaspora gemäß den von Julius Cäsar verliehenen Privilegien jährlich an den Tempel in Jerusalem entrichten durften, in eine an den römischen Staat zu zahlende Steuer, den „fiscus judaicus“ um. Diese wurde vor allem unter Domitian (81–96 u.Z.) unnachsichtig eingetrieben und erst zweihundert Jahre später wieder abgeschafft. Ansonsten kamen die Juden jedoch durchaus auch in den Genuß der Toleranz, die das römische Imperium der großen Mehrheit der ethnischen und religiösen Gruppen, die in seinen Grenzen lebten, zusicherte. So waren sie in das Edikt Caracallas (211–217 u. Z.), das 212 allen innerhalb des Imperiums lebenden Freien das römische Bürgerrecht zugestand, ausdrücklich eingeschlossen. In diesem toleranten Klima konnten die jüdischen Gemeinden bei der Anwerbung von Proselyten, auch in Konkurrenz zum Christentum, einige Erfolge verzeichnen. Insgesamt läßt sich die Zahl der Juden, die gegen Ende des 1. Jhs. u. Z. in Italien lebten, auf etwa 50 000 schätzen. Etwa die Hälfte davon hatte sich in und um Rom niedergelassen. Obwohl sich über die Verteilung der jüdischen Ansiedlungen außerhalb Roms nur sehr ungenaue Angaben machen lassen, läßt sich doch sagen, daß neben Rom ein zweiter

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Schwerpunkt auf dem südlichen italienischen Festland sowie auf Sizilien lag. Die Juden, die hier lebten, waren zu einem große Teil hellenisiert oder romanisiert. Die Konversion Kaiser Konstantins zum Christentum (313 u. Z.) leitete eine Wende in der Religionspolitik des Imperiums ein. Diese führte, nicht zuletzt auch unter dem Einfluß der Lehren der „Kirchenväter“, zu einer stufenweisen Verschlechterung der Lebensbedingungen der Juden. Gemeinsam mit den „Heiden“ wurden sie nach und nach marginalisiert und diskriminiert. Der 438 veröffentlichte Codex Theodosianus und das unter Kaiser Justinian (527–565) publizierte Corpus iuris civilis, die das ältere Recht systematisierten und ergänzten, schrieben den minderen Rechtsstatus der Juden endgültig fest.1 Diese Entwicklung und die Auflösungserscheinungen, die das von den Germanen bedrängte Weströmische Reich im 5. Jh. zeigte, verursachten eine schwere demographische Krise des Judentums in Italien. Dennoch läßt sich bis ins frühe Mittelalter hinein eine ununterbrochene Präsenz von Juden feststellen, wie z.B. die Verfügungen Papst Gregors I. (590–604), der die Juden in Rom, Terracina, Neapel, Palermo, Ravenna und anderswo gegen Verfolgungen durch die lokalen Bischöfe in Schutz nahm, deutlich machen. Die jüdischen Gemeinden in Süditalien bis zum Ende des Mittelalters Vom Ende des Weströmischen Reiches (476) bis zum Ende des 13. Jhs. lebte der größte Teil der italienischen Juden nach wie vor in Rom, Süditalien, Sizilien und, in geringerer Zahl, in Sardinien. In Mittel- und Norditalien gab es zu dieser Zeit neben einigen wichtigen Handelsknotenpunkten wie Pavia, Venedig und Treviso, an denen die Aktivität jüdischer Kaufleute bezeugt ist, nur wenige Orte, an denen sich eine beständige Präsenz von Juden nachweisen läßt. Diese waren jedoch von großer Wichtigkeit für die Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen und kulturellen Verbindungen zwischen dem Mittelmeerraum und Zentral- sowie Westeuropa. Für das Veneto, das Friaul und die Venezia-Giulia seien hier Aquileia und Verona genannt, für die Emilia-Romagna Ravenna und Ferrara und für die Toskana Luni, Pisa und vor allem Lucca, von wo aus einer offenbar fundierten Überlieferung zufolge in karolingischer Zeit die jüdische Emigration nach Deutschland, insbesondere ins Rheingebiet, ihren Anfang genommen haben soll. Sehr viel reicher, bezogen auf die Bevölkerungszahl, die Siedlungsorte, die kommerziellen und unternehmerischen Aktivitäten, das literarische, medizinische und wissenschaftliche Schaffen sowie die religiöse Kultur, war das jüdische Leben im südlichen Teil der Apenninhalbinsel. Dieser wurde in den ersten Jahrhunderten des Mittelalters von den Byzantinern, den Langobarden und, was Sizilien sowie für kurze Zeit die Gegend um Bari betrifft, den Arabern kontrolliert. Bedeutende jüdische Gemeinden gab es hier außer in Rom vor allem in Terracina, Neapel, Amalfi, Capua, Benevent, Salerno, Oria, Bari, Brindisi, Otranto, Trani, Taranto, Menfi, Matera, Venosa, Reggio Calabria, Palermo, Trapani, Syrakus und Catania. 1 Zur Entwicklung des Judenrechts unter den christlichen Kaisern vgl. auch den Artikel zur Geschichte der Juden auf dem Balkan bis zum 15.Jh. in diesem Band S. 287–291.

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Da die Päpste seit der Zeit Gregors des Großen bis zum Ende des 12. Jhs. eine gewisse Toleranz gegenüber den Juden übten, wirkte sich die wachsende politische Unabhängigkeit des päpstlichen Roms nicht negativ auf die Bedingungen jüdischen Lebens aus. Dies bezeugt auch der Reisebericht Benjamins von Tudela, demzufolge es gegen Ende des 12. Jhs. etwa 1500 Juden in Palermo und noch einmal so viele in Apulien und Kampanien gab. In Sizilien war die Lage der Juden unter der muslimischen Herrschaft (827–1061) besonders günstig. Zu dieser Zeit konnten sich, wie u. a. einige Dokumente der Kairoer Genisa deutlich machen, die kaufmännischen Aktivitäten der sizilianischen Juden im Mittelmeerraum entfalten. Als die Normannen im 11. Jh. das südliche Italien eroberten, begannen die Gestaltungsspielräume und Einflußmöglichkeiten der Juden abzunehmen. Der Stauferkönig Friedrich II. (1212–1250), der das Königreich Sizilien unter seiner Herrschaft zu einem straff organisierten, absolutistischen Staat machte, betrieb eine indifferente Politik gegenüber den Juden. Weder wurden ihre Aktivitäten von ihm behindert noch speziell gefördert. Als Karl von Anjou in den sechziger Jahren des 13. Jhs. große Teile von Italien unter seine Herrschaft brachte, gerieten die dortigen Juden in große Schwierigkeiten, da sie nun einem erheblichen Konversionsdruck ausgesetzt waren. Während das Königreich Neapel bis ins 15. Jh. hinein unter der Herrschaft des Hauses Anjou blieb, wurden Sizilien und Sardinien seit 1282 von einer Nebenlinie des Hauses Aragon regiert. Die hier lebenden Juden erfreuten sich besserer Bedingungen als diejenigen auf dem italienischen Festland. In den sardinischen „giudecche“ (jüdischen Vierteln) von Cagliari, Sassari und Alghero siedelten sich zahlreiche Einwanderer von der Iberischen Halbinsel an. Als im 15.Jh. auch das Königreich Neapel unter die Herrschaft des Hauses Aragon geriet, schienen sich auch für die dortigen Juden gute Perspektiven zu eröffnen. Die Hoffnungen waren allerdings nur von kurzer Dauer. Das nach der Vereinigung von Kastilien und Aragon von den „Katholischen Königen“ Ferdinand und Isabella erlassene Dekret zur Ausweisung der Juden aus Spanien wurde noch 1492 auf Sizilien und Sardinien und 1541 auch auf das Königreich Neapel ausgedehnt. Dies bedeutete das Ende für das Judentum in Süditalien. Die jüdischen Gemeinden in Mittel- und Norditalien seit dem 13.Jahrhundert Im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit blieb Rom das größte und einflußreichste jüdische Zentrum auf der Apenninhalbinsel. Trotz einer zunehmend judenfeindlichen Politik der Päpste – insbesondere ist hier Innozenz III. (1198–1216) zu nennen – wurde der Niedergang des Judentums in Süditalien seit der zweiten Hälfte des 13. Jhs. in gewisser Weise durch eine stufenweise Expansion in Nord- und Mittelitalien kompensiert. Hatte sich zu dieser Zeit die jüdische Bevölkerung Italiens bei einer Gesamtzahl von 10 Mio. Einwohnern auf etwa 40000 Personen belaufen, von denen etwa die Hälfte auf Sizilien, weniger als tausend auf Sardinien, und die restlichen auf Mittel- und Norditalien und Süditalien zum anderen verteilt lebten, so setzte in den letzten Jahrzehnten des 13. Jhs. ein Prozeß ein, der in der nördlichen Hälfte der Apenninhalbinsel einen verstreuten und zersplitterten Siedlungstyp herausbildete, der für das italienische Judentum bis an die Schwelle der heutigen Zeit charakteristisch bleiben sollte.

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Vereinzelte kleine Gruppen von Juden – manchmal auch nur eine einzige Familie –, die vor allem aus Rom, aber auch aus Süditalien und seit der Mitte des 14. Jhs. auch aus Deutschland, Frankreich und Spanien kamen, etablierten sich in Hunderten von Städten und halburbanen Ballungsräumen Mittel- und Norditaliens. Von diesen leiteten sie in der Folgezeit häufig ihre Familiennamen ab: Ascoli, Camerino, D’Ancona, De Cori, Fano, Osimo, Modigliani, Montalcini, Orvieto, Pesaro, Pitigliani, Pontremoli, Prato, Rimini, Senigaglia, Terracini, Viterbo, Volterra u.a. Hintergrund dieses Ansiedlungsprozesses war die Ächtung des Wuchers durch die Kirche, die die Christen, vor allem in Florenz und der Toskana, aber auch im Piemont und in der Emilia, gezwungen hatte, sich aus dem Pfandleihgeschäft zurückzuziehen. Dies veranlaßte die Kommunen und Fürstentümer dazu, sich an die Juden zu wenden. Mit diesen wurden an jedem Ort, an dem sie sich ansiedelten, spezifische Verträge („capitoli“, „condotte“ o.ä.) abgeschlossen, in denen sich die Juden zu bestimmten Diensten, zur autorisierten Verwaltung der den Konsum betreffenden öffentlichen Anleihen sowie zur Zahlung von regelmäßigen Steuern, außerordentlichen Abgaben und Vorschüssen für die Staats- und Gemeindekassen verpflichteten. Im Austausch erhielten sie eine Reihe von Privilegien, vor allem auf wirtschaftlichem und religiösem Gebiet. Dazu gehörte neben dem Monopol für die Pfandleihe unter anderem das Recht, Synagogen und Friedhöfe besitzen zu dürfen, die jüdischen Feste begehen zu können und kein Abzeichen tragen zu müssen. Neben der Tätigkeit der „Bankiers“ darf die der jüdischen Ärzte nicht vergessen werden: Meistens begleiteten diese die Pfandleiher und ergriffen die Gelegenheit, ihre Praxis auch auf die Christen auszudehnen. Gelegentlich erhielten sie von den Kommunen oder den Fürsten jedoch auch persönliche „condotte“ für die medizinische Versorgung der christlichen Bevölkerung. Die typische Siedlungsform der jüdischen Pfandleiher vom 13. bis zur ersten Hälfte des 16. Jhs. stellte das sogenannte „Haus des Juden“ dar, ein Gebäude von recht geräumigen Ausmaßen, in dem die Familien des Inhabers des Pfandleihmonopols und seiner Angestellten lebten und in dem sich sowohl eine Bank als auch eine Synagoge und die übrigen religiösen Einrichtungen befanden. Je nach Gelegenheit und in Abhängigkeit von der Haltung der einzelnen Städte gegenüber den Juden vergrößerte sich mit der Zeit die Vielfalt ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten. Vor allem der Kleinhandel, aber auch der handwerkliche und nicht selten auch der landwirtschaftliche Bereich boten neue Tätigkeitsfelder. Die Folge war, daß jüdische Ansiedlungen größere Verbreitung fanden, so daß im Prinzip die Freiheit der Wohnungswahl in jedem Teil des bewohnten Zentrums gegeben war. Die ersten Territorien, in denen Juden flächendeckend siedelten, waren diejenigen, die direkt oder indirekt der weltlichen Macht der römischen Kirche unterworfen waren. Sie entsprechen den heutigen Regionen Latium, Umbrien und den Marken. Sehr schnell griff dieses Phänomen auf die Toskana und die Romagna über und in der zweiten Hälfte des 14. Jhs. auch auf die Emilia und die Gebiete des Veneto, des Friaul und der Venezia-Giulia bis nach Istrien und Dalmatien. Seit dem 15. Jh. verbreiteten sich jüdische Banken im Piemont, in der Lombardei und in Ligurien, und es fehlte nicht an Versuchen, dieses „Banken-System“ in den Süden der italie-

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nischen Halbinsel (L’Aquila, Campobasso, Neapel, Gaeta, Cosenza, Sulmona, Ortona) zu transferieren. In dieser Gegend jedoch, und insbesondere in Sizilien, widmete sich die jüdische Bevölkerung, die viel ärmer war als im Zentrum und im Norden, weiterhin vor allem bescheidenen handwerklichen Tätigkeiten sowie dem Kleinhandel, und dies nicht nur auf lokaler Ebene. Das relativ tolerante Verhalten, das die Päpste und zahlreiche kirchliche Funktionsträger in der Frührenaissance den Juden gegenüber an den Tag legten, sowie günstige Vereinbarungen mit den lokalen Obrigkeiten trugen dazu bei, daß die italienischen Juden, die sich nördlich von Rom angesiedelt hatten, zwischen der zweiten Hälfte des 14. und dem Beginn des 16. Jhs. eine Blütezeit erlebten. Dabei spielt die Verbreitung der „Bankierstätigkeit“ trotz einiger Fälle zeitweiliger Ausweisung von „Bankiers“ eine besondere Rolle. Ein äußerst lebhaftes Zeugnis für das Ansehen des italienischen Judentums findet sich im Reisetagebuch des David Reubeni, der im Jahre 1525 festhalten konnte: Hier, sowohl in Rom als auch in Italien, waren auch kräftige Juden, fähig, Krieg zu führen, und mutig, deren Herz in jeder Hinsicht wie das Herz eines Löwen war. Die Juden in Jerusalem und Kairo sowie im gesamten ismaelitischen Reich hingegen sind Feiglinge, furchtsam und ängstlich, und sie sind nicht für den Krieg geeignet wie die Juden Italiens. Der Allmächtige – gesegnet sei Er – stärke sie, vermehre sie noch tausendmal und segne sie.2

Dabei vergaß David Reubeni nicht, auch die bedeutende Rolle hervorzuheben, die jüdische Frauen zumindest in den Familien der „Bankiers“ spielten. Es ist wahrscheinlich, daß die verschiedenen jüdischen Gruppen, die in den letzten beiden Jahrhunderten des Mittelalters in den Städten Mittel- und Norditaliens lebten, mit wenigen Ausnahmen nicht in Gemeinden im eigentlichen Sinne, wie sie im Süden der Halbinsel zu finden waren, organisiert waren. Eine dieser Ausnahmen bildet Rom, wo allerdings die sozioökonomischen und ethnischen Konflikte innerhalb der Gemeinde äußerst heftig waren. Obwohl eine Koordination der Aktivitäten der verschiedenen jüdischen Siedlungen eines Territoriums nicht selten wünschenswert war, vor allem dann, wenn es um Steuern und Strafgelder ging, die den Juden als Gesamtheit auferlegt wurden, existierte eine stabile übergemeindliche Organisation innerhalb der einzelnen Herrschaftsbereiche ebensowenig wie eine Organisation auf zwischenstaatlicher Ebene. Nur gelegentlich trafen sich die Rabbiner oder Vertreter der regionalen jüdischen Ansiedlungen zu spontan einberufenen Versammlungen, um sich mit Problemen von allgemeinem Interesse auseinanderzusetzen. Trotz dieses geringen Organisationsgrades besaßen die Juden Mittel- und Norditaliens, die durch vielfältige familiäre und wirtschaftliche Beziehungen eng miteinander verbunden waren, das Bewußtsein einer „italienischen“ Identität, die in ihren spezifischen synagogalen Riten und in der Behauptung jüdisch-italienischer Dialekte zum Ausdruck kam. Die Überlegenheit der „Bankiers“ und die Einordnung nahezu der gesamten jüdischen Bevölkerung Mittel- und Norditaliens in die „condotte“, die von den Inhabern des Pfand2 David Reubeni, Racconto del viaggio, in: Lea Sestieri, David Reubeni. Un ebreo d’Arabia in missione segreta nell’Europa del ’500, Genua 1991, S.115.

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leihmonopols verwaltet wurden, brachten es mit sich, daß die „Bankiers“ beinahe automatisch die Rolle der Repräsentanten der jüdischen Gemeinschaften übernahmen. Dabei wurde diese Rolle, sowohl was ihre Funktion innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, die wirtschaftlich und sozial sehr stark hierarchisch strukturiert war, als auch was ihre Funktion in den Beziehungen zur christlichen Welt betrifft, in politisch-juristischer Hinsicht niemals eindeutig definiert. Gerade die Unbestimmtheit dieser Rolle und die Spielräume, die hierdurch eröffnet wurden, ermöglichte es jedoch, allzu deutliche und harte Gegensätze zwischen der Welt der Juden auf der einen und jener der Christen auf der anderen Seite zu vermeiden. Die Situation relativer Ruhe und Offenheit begünstigte den Fortschritt der jüdischen Kultur – man denke nur an die wunderbaren, mit Miniaturen verzierten Codices, die in dieser Epoche in Italien entstanden sind, und an das immense Erbe jüdischer Fragmente, die zu Recht als die italienische Genisa bekannt geworden sind. Auch wurde der Austausch zwischen jüdischen und christlichen Gelehrten gefördert. Auf wirtschaftlichem Gebiet dauerte die jüdische Vermittlungstätigkeit in Handel und Finanzwesen im gesamten Mittelmeerraum an. Letztere war sowohl für die Aufnahme der Flüchtlinge von der Iberischen Halbinsel – Juden, die 1492 vertrieben wurden, und Conversos, die in den Jahrhunderten davor und danach Spanien und Portugal verließen – als auch für den großen Aufschwung, den der jüdische Handel in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit nehmen sollte, von fundamentaler Bedeutung. Restriktionen seit dem Ende des Mittelalters Die Integration der jüdischen Bevölkerung in die Welt des italienischen Christentums stieß jedoch auf nicht wenige Feindseligkeiten. Die Franziskaner predigten gegen den „jüdischen Wucher“ und suchten diesen durch die Förderung von christlichen Pfandleihhäusern mit caritativem Anspruch (Monti di Pietà) einzuschränken. Auch kam es, befördert durch Schriften katholischer Polemiker, immer wieder zu antisemitischen Übergriffen, von denen der bekannteste durch die Beschuldigung des Ritualmordes an dem Jungen Simon von Trient im Jahr 1475 ausgelöst wurde. Diese Spannungen zwischen Christen und Juden bereiteten den Boden für eine im 16. Jh., zur Zeit der Gegenreformation, einsetzende Politik, die die italienischen Juden schwerwiegenden Beschränkungen unterwarf. Zwar zogen die bereits erwähnten Vertreibungen der Juden im letzten Jahrzehnt des 15. Jhs. und im Laufe des 16. Jhs. aus den Gebieten, die unter spanische Herrschaft gefallen waren (Süditalien, Sizilien und Sardinien sowie das Herzogtum Mailand), keine entsprechenden Maßnahmen im restlichen Italien nach sich, aber dennoch begannen sich die Bedingungen für jüdisches Leben hier merklich zu verschlechtern. Das deutlichste Signal für diese Verschlechterung war die Schaffung von Ghettos, in denen alle Juden einer Stadt konzentriert wurden und die nachts nicht verlassen werden durften. Das erste dieser Ghettos entstand 1516 in Venedig und verlieh allen weiteren Einrichtungen dieser Art den Namen. Am konsequentesten wurde die neue restriktive Judenpolitik von der katholischen Kirche betrieben, die sich im Zeichen der Gegenreformation der Erneuerung des eigenen

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Glaubens und der Verfolgung aller heterodoxer Tendenzen widmete. Das Werk Ignatius von Loyolas, die Einrichtung der römischen Inquisition im Jahr 1542 sowie weitere Maßnahmen gegen Häretiker sind Elemente dieser gegenreformatorischen Anstrengungen. Durch eine Reihe von Bullen – Cum nimis absurdum (1555) von Paul IV., Romanus Pontifex (1566) und Hebraeorum gens (1569) von Pius V. sowie Caeca et obdurata (1593) von Clemens VIII. – leiteten die Päpste einen systematischen Prozeß der Absonderung und Ausgrenzung der Juden ein, der in erster Linie ihre Konversion zum Christentum zum Ziel hatte. Von dieser Politik waren zunächst die Juden des Kirchenstaates betroffen. So wurde den 115 Synagogen des Kirchenstaats zur Deckung der Kosten der „Case die Catecumeni“ (Häuser der Katechumenen), in denen Juden, die konvertieren wollten, mit den Lehren des Christentums vertraut gemacht wurden, besondere Abgaben auferlegt. Der Talmud wurde verboten. Schließlich wurde den Juden der Aufenthalt im Kirchenstaat nur noch in den Ghettos der Städte Rom und Ancona sowie, außerhalb Italiens, in Avignon gestattet. Aufgrund des päpstlichen Drucks, aber auch aus eigenem Willen übernahmen die meisten italienischen Staaten zwischen dem Ende des 16. und der Mitte des 18. Jhs. das im Kirchenstaat betriebene Programm der Ausgrenzung der Juden aus der christlichen Gesellschaft. So wurden die 20 000 bis 25 000 Juden, die auf italienischen Bodem verblieben waren, fast überall in Ghettos angesiedelt, die damit zur typischen jüdischen Siedlungsform auf der Halbinsel wurden. An die Einrichtung dieser Ghettos, die in der Regel unter Überbevölkerung und schlechten hygienischen Bedingungen litten, schlossen sich weitere repressive Maßnahmen an, die darauf ausgerichtet waren, den Juden, die sich hartnäckig weigerten, die Wahrheit des christlichen Glaubens anzuerkennen, das Leben zu erschweren. Zu diesen Maßnahmen gehören u. a. die für alle Juden geltende Vorschrift, ein Abzeichen tragen zu müssen, die Verpflichtung, Missionspredigten anzuhören, das Verbot, Immobilien zu besitzen und bestimmte Berufe auszuüben, sowie Beschränkungen der Freizügigkeit. Diese repressive Politik, die allerdings von Staat zu Staat von unterschiedlicher Strenge war, schuf für die meisten italienischen Juden sehr prekäre hygienische und wirtschaftliche Lebensbedingungen. Häufig waren sie die Objekte öffentlicher Verhöhnung und nicht selten – z.B. zur Zeit des Karnevals – auch die Opfer blutiger Übergriffe. Gleichzeitig waren sie einem massiven Konversionsdruck ausgesetzt, der bis zur Taufe von jüdischen Kindern gegen den Willen der Eltern reichte. Einer in der Forschung zur Geschichte des italienischen Judentums verbreiteten Überzeugung nach haben die geschilderten äußeren Zwänge den Zusammenhalt und damit auch die Widerstandskraft des italienischen Judentums gestärkt, dem es auf religiösem, politisch-administrativem, sozialem, kulturellem, philosophischem, künstlerischem und musikalischem Gebiet gelang, seine Traditionen und Eigenheiten lebendig zu bewahren. Die Ghettos, in denen nun fast immer formelle jüdische Gemeinden mit festen Organisationsstrukturen existierten, förderten den Zusammenschluß von Juden verschiedener Herkunft. Hier trafen Juden aus Rom und anderen italienischen Städten mit Juden aus Kastilien, Portugal, Navarra, der Provence, Savoyen, Deutschland, Sizilien, Nordafrika und der Balkanhalbinsel zusammen. Sie verschmolzen zu einer einzigen und recht klar definierten

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„italienischen“ Gruppe, die den Gebrauch der Bezeichnung „italkim“ zur Unterscheidung der Juden der Appeninhalbinsel von den aschkenasischen und sefardischen Juden rechtfertigt. Für eine korrekte Analyse der Bedingungen, die den Zusammenhalt und die Widerstandskraft des italienischen Judentums ermöglichten, dürfen jedoch die Risse nicht unterbewertet werden, die sich an verschiedenen Stellen im „System der Ghettos“ auftaten und die eine gewinnbringende Beziehung zur Umgebungsgesellschaft gestatteten. Zum einen wurden einige Ghettos erst im 18. Jh. eingerichtet, als andere bereits aufgelöst worden waren. Zum anderen bediente man sich in einigen italienischen Gebieten, u.a. in der Republik Venedig, dem Großherzogtum Toskana, dem Herzogtum Savoyen, dem späteren Königreich Sardinien, dem habsburgischen Triest, dem Kirchenstaat und, für die kurze Zeit von 1740 bis 1746, sogar im Königreich beider Sizilien, der Juden, um den regionalen und internationalen Handel sowie unternehmerische Aktivitäten zu fördern. Zu diesem Zweck ermöglichte man es den Juden, sich relativ frei zu bewegen. So wurden nicht nur viele Zwänge gelockert und die Bildung jüdischer Siedlungen ohne Ghettoisierung gestattet – dies trifft seit dem Ende des 16. Jhs. auf Pisa und Livorno zu –, sondern es kam auch ein verstärkter Austausch mit dem Judentum Europas und des Mittelmeerraums zustande. Letzteres war vor allem den zahlreichen jüdischen Immigranten von der Iberischen Halbinsel zu verdanken, die über weitgespannte Beziehungen verfügten. Trotz der Ghettos und der Zersplitterung in etwa zehn größere Gemeinden (Turin, Ferrara, Mantua, Venedig, Triest, Livorno, Florenz, Ancona und vor allem Rom) sowie in Hunderte von kleinen Siedlungen bildete das italienische Judentum gegen Ende des 18. Jhs., vor allem aufgrund des heiratsbedingten Austausches innerhalb der jüdischen Bevölkerung, einen lebendigen und einheitlichen Komplex, der bestens geeignet war, die Kultur der Aufklärung, die durch die Französische Revolution geweckten Hoffnungen auf Freiheit und Gleichheit sowie die Perspektiven, die die beginnende industrielle Revolution eröffnet hatte, aufzunehmen und umzusetzen. Allerdings spiegelte sich die Tatsache, daß die Juden in den verschiedenen italienischen Staaten und gelegentlich auch die Juden an verschiedenen Orten ein und desselben Staates unter sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen lebten, im Fehlen einer stabilen übergemeindlichen Organisation. Es fehlte natürlich nicht an Gelegenheiten zum Zusammentreffen auf verschiedenen Ebenen, religiösen oder nicht-religiösen, aber es war praktisch unmöglich, einheitliche politische Leitlinien für Gemeinden festzulegen, die, abhängig von der Judenpolitik des jeweiligen Staates, ein sehr unterschiedliches Maß an Autonomie besaßen. Aus diesen Grund trafen die großen Veränderungen am Ende des 18. Jhs. die Juden Italiens im wesentlichen unvorbereitet, so daß sie die Möglichkeiten der „ersten Emanzipation“, wie diese Phase von der italienischen Geschichtsforschung zum Judentum im allgemeinen genannt wird, nicht vollständig nutzen konnten. Der Kampf um die Emanzipation Der Einmarsch französischer Truppen in Italien 1796–1798, die Einsetzung von Regierungen, die das Prinzip der Gleichheit aller Bürger verwirklichten, sowie der darauf folgende

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Fall der Ghettomauern lösten bei den Juden überall Enthusiasmus aus. Sie sahen sich jedoch schon bald mit der Reaktion derjenigen Kräfte – hier ist vor allem die Kirche zu nennen – konfrontiert, die darauf drängten, zur früheren Situation zurückzukehren. Es gab sogar, ein Novum in der Geschichte der Juden in Italien, pogromartige Ausschreitungen wie z. B. die von den Sanfedisten-Gruppen der „Viva Maria“ im Jahre 1799 verübten Übergriffe in Senigallia und in Siena, bei denen 26 Juden getötet wurden. In Anbetracht dieser Angriffe wählten nicht wenige jüdische Gemeinden den Weg der Vorsicht, insbesondere in Gegenden wie der Toskana und der Lombardei, wo die Juden unter der Regierung der Lorena und des Hauses Habsburg zwar nicht unter gleichen Bedingungen wie die Christen lebten, aber doch bereits große Toleranz erzielt hatten, die die Grenzen des Ghettos abzubauen vermochte. Als 1799 nach Siegen der antifranzösischen Koalition die alten Regierungen in Italien wiedereingesetzt worden waren, wurden auch die Emanzipationsgesetze aufgehoben. Neue Perspektiven für die Emanzipation, dieses Mal ohne schwerwiegende negative Reaktionen von seiten der christlichen Bevölkerung, eröffneten sich mit der Rückkehr der napoleonischen Truppen nach Italien im darauffolgenden Jahr. Napoleon setzte in den von ihm kontrollierten Gebieten erneut das bereits im revolutionären Frankreich und im „jakobinischen“ Italien geübte Prinzip um, die Gleichheit der Juden als Staatsbürger anzuerkennen, zugleich aber ihr Recht auf Andersartigkeit einzuschränken. Angesichts der napoleonischen Politik bildeten sich innerhalb des italienischen Judentums zwei Strömungen heraus: Die einen übernahmen die Prinzipien der französischen Politik und wollten ihr Jüdisch-sein auf die Privatsphäre beschränkt wissen, die anderen bestanden darauf, sich auch in der Öffentlichkeit zur mosaischen Tradition zu bekennen. Das Zusammenleben der Angehörigen dieser beiden Richtungen gestaltete sich nicht immer einfach. Weitere Brüche entstanden durch die extremen Unterschiede in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht, die innerhalb des italienischen Judentums existierten. Trotz dieser seit dem Beginn des 19. Jhs. entstandenen Risse innerhalb des italienischen Judentums gab es auch Tendenzen zur Bewahrung seiner Einheit. So waren die Vertreter beider oben beschriebenen religiös-politischen Richtungen daran interessiert, den Gedanken der Einheit des italienischen Judentums zu verteidigen. Auf diese Weise wurden allzu tiefe Brüche umgangen. Langfristig wurde die Mehrzahl der italienischen Juden von dem Prozeß einer fortschreitenden Laisierung erfaßt, der bei einem Teil von ihnen zur vollständigen Entfremdung von den religiösen Vorschriften führte. In organisatorischer Hinsicht wurde die Einheit des italienischen Judentums durch die Initiativen der napoleonischen Regierung zur Harmonisierung der jüdischen Welt befördert. So nahmen an der Notabelnversammlung, die Napoleon 1806, und am Sanhedrin, den er 1807 nach Paris einberief,3 auch Vertreter des italienischen Judentums teil, das auf diese Weise zum ersten Mal einen gemeinsamen organisatorischen und normativen Rahmen erhielt. Der Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft (1814) und die Wiedereinsetzung der früheren italienischen Regierungen versetzte die Juden in die Situation vor der Franzö3

Vgl. hierzu den Artikel zu Frankreich in diesem Band S. 399f.

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sischen Revolution zurück. Wenn auch diese Wiederherstellung des Status quo ante nirgendwo eine dauerhafte Lösung darstellte, hatte sich doch in einer Reihe von Regionen, in denen unter französischer Herrschaft einschneidende Reformen durchgeführt worden waren, die Situation nun wesentlich zum Nachteil der Juden verändert. Hier sind vor allem der Kirchenstaat, Süditalien und die Inseln zu nennen. In der Lombardei und Venezien, die zum Habsburgerreich gehörten, in dem bereits seit dem 18. Jh. Reformen eingeleitet worden waren, befand sich die jüdische Bevölkerung in einer erheblich besseren Situation. Gleiches gilt für die Toskana, wo man den Juden eine eingeschränkte Gleichstellung gewährte, sie allerdings nach wie vor aus dem Militär und dem Staatsdienst ausschloß. Im ganzen läßt sich sagen, daß die Juden Italiens in der ersten Hälfte des 19. Jhs. trotz der massiven rechtlichen Einschränkungen, denen sie in einigen Landesteilen unterlagen, nun doch die stärksten Behinderungen der Zeit der Ghettos überwunden hatten. Sie besaßen nun größere Freiheit zu reisen, ihren Wohnort zu wechseln und Handel zu treiben. Durch die Wirtschaftspolitik der napoleonischen Zeit begünstigt, waren sie immer stärker in unternehmerische Initiativen auf landwirtschaftlichem wie auf industriellem Gebiet einbezogen worden. Vielerorts waren sie berechtigt, die Universitäten zu besuchen und als Ärzte zu arbeiten. Schließlich besaßen auch nicht wenige von ihnen militärische und verwaltungstechnische Erfahrung. Es kann daher kaum verwundern, daß sich in der ersten Hälfte des 19. Jhs., vor allem in den Gruppierungen wie den „Carbonari“ und der „Giovine Italia“, die liberale und nationale Ideen vertraten, die Stimmen mehrten, die eine vollständige Gleichberechtigung der Juden forderten. Bedeutende Politiker wie Giuseppe Mazzini, Carlo Cattaneo, Niccolò Tommaseo und Massimo d’Azeglio setzten sich für ihre Emanzipation ein. Die Juden ihrerseits engagierten sich in großer Zahl in den verschiedenen liberal-nationalen Gruppierungen und nahmen aktiven Anteil an der Bewegung des Risorgimento, die 1848/49 in den revolutionären Aufständen in Mailand, Rom und Venedig mündete. Auch wenn Spuren eines starken Zugehörigkeitsgefühls zur Koine der italienischen Staaten auch in früheren Zeiten bereits feststellbar waren, ist es legitim, das italienische Nationalbewußtsein, das das Judentum der Apenninhalbinsel unbestreitbar für den Rest des 19. Jhs. und das 20. Jh. geprägt hat, auf diese Allianz zwischen den Juden und den Vorreitern des Risorgimento zurückzuführen. Vor und während der Aufstände von 1848 machten einige der italienischen Staaten ihrer jüdischen Bevölkerung Zugeständnisse. So schaffte Papst Pius IX. (1846–1876) die Zwangspredigten für Juden ab und ordnete an, Mauern und Tore der Ghettos einzureißen. In Piemont und Sardinien gewährte König Karl Albert von Savoyen den Juden ebenso wie den Waldensern die vollständige Gleichberechtigung. Dies stellte den Anfang der „zweiten“ und – bis zu den faschistischen Rassengesetzen von 1938 – endgültigen Emanzipation der italienischen Juden dar. Seit 1859 wurde die Emanzipation schrittweise auch auf die Gebiete ausgedehnt, die nach und nach unter die Herrschaft des Königs von Piemont-Sardinien kamen und die 1861 das Königreich Italien bildeten. Das letzte dieser Gebiete war Venezien, das 1866 an das Königreich angegliedert wurde.

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Es erscheint paradox, daß gerade Rom, wo die Juden jahrhundertelang am sichersten gewesen waren, ebenso wie die übrigen Gebiete des Kirchenstaates zunächst vollständig von der jüdischen Emanzipationsbewegung ausgeschlossen blieben. Nachdem die Revolution niedergeschlagen war, wurden 1849 die Ghettos wieder eingerichtet und auch die alten rechtlichen Einschränkungen, die zum Teil aufgehoben worden waren, wieder in Kraft gesetzt. Vor diesem Hintergrund ereignete sich 1858 der „Mortara-Fall“. In Bologna, das zu dieser Zeit noch unter päpstlicher Herrschaft stand, wurde ein sechsjähriger jüdischer Junge, der gegen den Willen der Eltern getauft worden war, mit voller Zustimmung der Kirche der Familie weggenommen und nach Rom gebracht. Erst nach dem Sturm auf Rom im Jahr 1871 erhielten auch die Juden des Kirchenstaates Gleichheit und Freiheit und wurden ihren Glaubensgenossen im Königreich Italien rechtlich gleichgestellt. Von der „zweiten Emanzipation“ bis zum Ersten Weltkrieg Nach dem Abschluß der „zweiten Emanzipation“ gelang einem beträchtlichen Teil der jüdischen Bevölkerung, die zu dieser Zeit etwa 40 000 Personen innerhalb einer Gesamtbevölkerung von 13 Mio. umfaßte, der Aufstieg in allen Bereichen von Verwaltung, Wirtschaft und Politik. Sie besaßen Mandate im Parlament und fanden Eingang in die öffentliche Bürokratie und das Militär. Ihre Beteiligung an finanziellen, industriellen und Handelsaktivitäten und ihre Präsenz im Erziehungswesen – in Grund- und Mittelschulen, vor allem aber auch in den Universitäten – war beträchtlich. Diese Entwicklung wurde begünstigt durch die laizistische Politik des neuen Staates, den diese allerdings immer wieder in Konflikte mit der Kirche brachte. Der Aufstieg von Juden in gesellschaftliche und wirtschaftliche Positionen von einiger Bedeutung fiel zusammen mit dem Aufstieg des Bürgertums in Italien insgesamt, innerhalb dessen sich viele jüdische Familien eine gleichberechtigte soziale Stellung erwerben konnten. Einige jüdische Angehörige des Großbürgertums wurden sogar in den Adelsstand erhoben. Angesichts dieser Erfolge sollte jedoch nicht übersehen werden, daß ein beträchtlicher Teil der jüdischen Bevölkerung in Italien dem Kleinbürgertum oder dem Proletariat angehörten. Darüber hinaus gab es, vor allem in Rom und in Livorno, einen nicht geringen Prozentsatz von Juden, die ganz verelendet waren. Der Aufstieg der italienischen Juden in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vollzog sich nicht ohne Widerstände. Während der letzten drei Jahrzehnte des 19. Jhs. und auch in der Folgezeit übte die antijüdische Propaganda, die aus dem Umfeld der Kirche und vor allem der jesuitischen Zeitschrift Civiltà cattolica kam, einen starken Einfluß aus und behinderte ihre politische Behauptung. Viele Juden vermieden es deshalb, die eigene religiöse „Andersheit“ hervorzuheben und versuchten vielmehr, sich entweder als „Laien“ und sehr früh auch als „Freidenker“, „Radikale“ und „Sozialisten“ oder als Träger einer religiösen Botschaft zu behaupten, die nicht dezidiert jüdisch war und sich im wesentlichen mit der christlichen vereinbaren ließ. So muß festgehalten werden, daß die Wahl zahlreicher Abgeordneter und die Ernennung einiger Senatoren, die aus jüdischen Familien stammten, ja sogar die Ernennung Luigi Luzzattis zum Premierminister (1910/11) sowie, um weitere be-

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deutende Beispiele zu nennen, die Ernennung Ernesto Nathans zum Bürgermeister von Rom (1907–1913) und die des Literaturhistorikers und Senators Alessandro d’Ancona (1906/07) zum Bürgermeister von Pisa neben der symbolischen Bedeutung nur eine beschränkte Tragweite hatten. Bedeutsam ist eine offizielle Erklärung des letzteren, nach der er sich „nach außen hin zu keiner Religion bekannte, obwohl er, wie alle, in einer geboren war“.4 Die Schwierigkeit, die Präsenz der jüdischen Bevölkerung in Italien als einheitliches Phänomen zu beschreiben, spiegelt sich auch in der Tatsache, daß sich der Prozeß der Bildung von Koordinations- und Repräsentationsorganen für das gesamte italienische Judentum über mehrere Jahrzehnte hinzog. Vor der Gründung des italienischen Staates hatte jede Gemeinde ihre eigenen administrativen Strukturen gehabt. Nach den kurzlebigen Zentralisierungsmaßnahmen Napoleons wurde erst wieder in den fünfziger Jahren des 19. Jhs. der Versuch unternommen, eine landesweite Organisationsstruktur aufzubauen. Zur Gründung des „Consorzio delle comunità israelitiche italiane“ (Verband der italienischen jüdischen Gemeinden), in dem die Mitgliedschaft freiwillig war, kam es jedoch erst im Jahr 1911. In der zweiten Hälfte des 19. Jhs. veränderte sich im übrigen die Verteilung der jüdischen Bevölkerung in Italien radikal. Viele kleinere Gemeinden litten unter der Abwanderung ihrer Mitglieder in die größeren städtischen Zentren, was insbesondere auf dem Gebiet der religiösen Erziehung kaum lösbare Probleme schaffte. Nicht wenige Juden, vor allem diejenigen, die im Staatsdienst standen, gingen für mehr oder weniger lange Zeit nach Süditalien oder auf die Inseln, wo seit Jahrhunderten keine Juden gelebt hatten und sämtliche Gemeindeeinrichtungen neu aufgebaut werden mußten. Die südlichste dieser Gemeinden, die erst in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. gegründet wurde, war – und ist immer noch – Neapel. Andeutungen des Risikos einer Erstarrung des italienischen Judentums zeigten sich somit bereits zu Beginn des 20. Jhs. Der beinahe ausnahmslose Enthusiasmus der italienischen Juden für einen Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg, ihr Engagement in der Armee und ihre Unterstützung der italienischen Forderungen nach einer Abtretung Istriens – hier war man vor allem an Triest, dem Sitz einer bedeutenden jüdischen Gemeinde interessiert –, Südtirols und des Trentinos durch Österreich weckten die Illusion einer jüdisch charakterisierten Rückkehr zu den patriotischen Mythen, die ihren Ursprung im „Epos“ des Risorgimento hatten. Der Aufstieg des Faschismus und die Schoa Die politische und ökonomische Krise, in die Italien nach dem Ende des Ersten Weltkriegs geriet, führte zu einer gewaltsamen Zersplitterung der politischen Landschaft und setzte dem liberalen Regierungs- und Verwaltungssystem der Vorkriegszeit, in dem sich die Juden recht gut hatten bewegen können, ein Ende. Die drei bestimmenden Kräfte waren 4 Mauro Moretti, La dimensione ebraica di un maestro pisano. Documenti su Alessandro d’Ancona, in: Luzzati (Hrsg.) 1998, S.258.

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nun die sich zunehmend radikalisierende sozialistische Bewegung, aus der 1921 die Kommunistische Partei Italiens hervorging, die neue katholische Partei der „Popolari“ sowie die faschistische Bewegung unter Benito Mussolini, der 1922 Premierminister wurde. Viel stärker als in früheren Zeiten waren die Juden nun gezwungen, innerhalb dieser politischen Konstellation Stellung zu beziehen. Die individuelle Wahl versetzte sie dabei oft in entgegengesetzte politische Lager. So fanden sich sowohl in der frühen faschistischen Bewegung als auch in der kommunistischen Partei jüdische Mitglieder, so daß eine Vermittlung auf der Basis einer gemeinsamen „jüdischen Identität“ immer schwieriger und schließlich ganz unmöglich wurde. Der Anschluß an ein politisches Lager und der damit einhergehende Lebensstil begründeten den Bruch vieler Juden mit der Gemeinschaftstradition ihrer Vorfahren, der sich allerdings, zumindest wenn man die Entwicklung der Zahl der Mischehen betrachtet, bereits seit einigen Jahrzehnten angedeutet hatte. Die jüdischen Gemeinden und Institutionen reagierten auf diese Situation mit verstärkten Bemühungen, den Prozeß der inneren Laisierung aufzuhalten. Man schaffte, wenn auch mit Vorsicht, Raum für die Verfechter des Zionismus sowie für Initiativen der Hilfeleistung und Gastfreundschaft für die verfolgten Juden – insbesondere Studenten – in den Ländern Osteuropas. Gleichzeitig versuchte man, die Eingriffe der katholischen Kirche in Staat und Gesellschaft, vor allem in den Bereich der Bildung und Erziehung, zu bekämpfen, da diese das Prinzip der Gleichheit aller religiösen Glaubensrichtungen, zu dem sich der Staat allerdings niemals klar bekannt hatte, zunichte zu machen drohten. Im ganzen wählten die jüdischen Institutionen in Italien eine Verteidigungslinie, die in einem europäischen Gesamtklima, das nicht geneigt war, den Juden Raum zuzugestehen, stark von der Sorge geprägt war, daß man durch ein zu scharfes Vorgehen antisemitische Äußerungen provozieren werde. Insbesondere nach 1929, als der Abschluß des Konkordates zwischen der katholischen Kirche und dem italienischen Staat das Judentum endgültig nur noch zu einer „zugelassenen“ Religionsgemeinschaft machte, schien es fast unvermeidlich, sich mit dem Faschismus, der zu diesem Zeitpunkt sein rassistisches und antisemitisches Gesicht noch nicht gezeigt hatte, zu arrangieren. 1930/31 wurde von staatlicher Seite eine neue Organisationsform für die jüdische Gemeinschaft in Italien geschaffen, die auf eine Art „Gleichschaltung“ hinauslief. Alle Juden mußten sich in einer der anerkannten Gemeinden, deren Zahl sich auf 23 gegenüber 87 im Jahr 1840 reduziert hatte, registrieren lassen, was zu einer Reihe von Austritten führte. Als Dachverband wurde die „Unione delle comunità israelitiche italiane“ eingerichtet, die ihren Sitz in Rom hatte und in der die Mitgliedschaft verpflichtend war. Damit standen die jüdischen Gemeinden, wenn sie auch eine gewisse Autonomie im Innern besaßen, nun doch unter einer wachen politischen Kontrolle seitens der Exekutive. Trotz dieses scheinbar herzlichen Einvernehmens zwischen Faschismus und Judentum, das wohl u. a. auch auf die vermittelnde Persönlichkeit König Viktor Emanuels III. zurückzuführen war, machten die deutsche Rassengesetzgebung seit 1933, die Eskalation der internationalen Politik des Faschismus, der Einfall italienischer Truppen in Abessinien 1935 und die Annexion des Landes 1936, der Krieg in Spanien 1936–1939 sowie immer engere Bin-

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dungen an das Dritte Reich sehr schnell die Beziehung zwischen den Juden, die sich sehr bald zur Hilfeleistungen für die aus Deutschland flüchtenden Glaubensgenossen aufgerufen sahen, und dem italienischen Staat schwierig. Die große Mehrheit der italienischen Juden arrangierte sich stillschweigend mit dem faschistischen Regime. Nur eine kleine Gruppe beteiligte sich am antifaschistischen Widerstand oder an zionistischen Gruppierungen, die von Mussolini gemäß den jeweiligen Zielen seiner Außenpolitik abwechselnd unterstützt und behindert wurden. Andere jüdische Gruppierungen – die bekannteste unter ihnen war die „Turiner Gruppe“, die sich um die Zeitschrift La nostra bandiera gesammelt hatte – forderten von den Juden eine vollkommene Unterstützung des italienischen Vaterlandes und seiner faschistischen Regierung. Im Zuge ihrer Angleichungspolitik an den deutschen Verbündeten leiteten die italienischen Faschisten 1938 eine offen antisemitische Politik ein. Unterstützt wurde diese Kehrtwende von Journalisten und Publizisten, die u. a. unter Bezugnahme auf die Situation in den afrikanischen Kolonien, wo ihrer Ansicht nach verderbliche Auswirkungen einer „Vermischung der Rassen“ zu befürchten waren, auf die Implementierung einer rassistischen und antisemitischen Politik nach deutschem Vorbild drängten. So wurde noch 1938 eine Reihe von Gesetzen erlassen, die für alle diejenigen, die nach – sogar strikter als in Deutschland formulierten – rassischen Kriterien als Juden definiert wurden, die Gleichberechtigung in Staat und Gesellschaft aufhoben. Juden wurden aus Militärdienst und Verwaltung ausgeschlossen, durften keine Christen mehr heiraten und keine christlichen Bediensteten mehr beschäftigen. Jüdische Besitz wurde z.T. enteignet. Der Beginn der antisemitischen Politik der faschistischen Regierung markiert eine epochale Wende in der zweitausendjährigen Geschichte der jüdischen Siedlung in Italien. Wenn es auch häufig Verfolgungen aus religiösen Motiven gegeben hatte, so hatten diese doch immer vor der Schwelle der Taufe halt gemacht. Nun wurde mit der stillschweigenden Zustimmung der Kirche und der Krone erstmals nicht mehr auf der Basis der Zugehörigkeit zum mosaischen Glauben, sondern unter Bezugnahme auf die Genealogie und vermeintliche „rassische Markmale“ definiert, wer ein Jude war. Der hierdurch bei den italienischen Juden hervorgerufene „Schock“ war sehr groß. In der allgemeinen Orientierungslosigkeit gingen viele ins Exil, insbesondere nach Amerika oder nach Palästina. Andere versuchten, sich mit Hilfe von gesetzlichen Ausnahmebestimmungen der Verpflichtung, ein Zeichen mit der Aufschrift „jüdischer Rasse“ zu tragen, zu entziehen. Manche ertrugen gar die Diskriminierung als „letzte Prüfung“, der sie sich um der „Größe“ des faschistischen Vaterlandes willen unterziehen mußten. Es fehlte schließlich auch nicht an Fällen von Selbstmord. Die meisten fanden sich mit der Situation ab, wobei sie von den jüdischen Gemeinden unterstützt wurden, die sich z. B. darum bemühten, die Schulbildung für jüdische Schüler, die aus den öffentlichen Schulen ausgeschlossen worden waren, sicherzustellen. Abgesehen von der Vertreibung oder Internierung von ausländischen Juden und von Juden, die nach 1921 die italienische Staatsbürgerschaft erworben hatten, beschränkte sich die antisemitische Politik der italienischen Faschisten auf diskriminierenden Maßnahmen. Bestimmte

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Grundrechte wurden den Juden weiterhin zugestanden, wenn auch mit der mittelfristigen Perspektive, alle Juden aus Italien zu entfernen. Die Diskriminierungen nahmen, insbesondere nach dem Kriegseintritt Italiens im Juni 1940, immer stärker zu, aber es wurde bis zum Fall des faschistischen Regimes am 25. Juli 1943 nie eine Verfolgung bis zum Tod. Dies zeigt sich auch daran, daß in den von Italien besetzten Gebieten in Südfrankreich und auf dem Balkan viele Juden auf der Flucht vor den deutschen Truppen, die bereits mit den Razzien und den Deportationen in die Vernichtungslager begonnen hatten, Zuflucht fanden. Nach dem Waffenstillstand, den der von König Viktor Emanuel III. als neuer Premierminister eingesetzte Marschall Pietro Badoglio am 8. September 1943 mit den Alliierten schloß, zerfiel Italien in zwei Teile: Der Süden war in der Hand der Alliierten, der Norden und die Mitte einschließlich Roms war in der Hand der Deutschen, die dieses Gebiet nach dem Sturz der faschistischen Regierung besetzt hatten und hier in der Folgezeit einen Marionettenstaat unter Mussolinis Führung, die „Soziale Republik Italien“, einsetzten. Da mit der Einsetzung Badoglios als Premierminister die Rassengesetzgebung der vorherigen Regierung nicht aufgehoben worden waren, wurden die Registrierungen von Juden durch Verwaltung und Polizei bis zur Besetzung des jeweiligen Gebietes durch alliierte bzw. deutsche Truppen fortgesetzt. Dies führte dazu, daß die Wehrmacht, die SS und die Schwarzhemden der „Sozialen Republik Italien“ nun einen leichten Zugriff auf die Juden hatten, die in der deutschen Besatzungszone verblieben waren. Etwa ein Fünftel der italienischen Juden wurde deportiert und – überwiegend in Auschwitz – ermordet. Wenn es eine Reihe von Denunzierungen an die Deutschen und an die Faschisten durch italienische Staatsbürger gab, so ist doch die Rettung des größeren Teils der italienischen Juden der tatkräftigen Hilfe von seiten der Bevölkerung, dem Einsatz der lokalen kirchlichen Organisationen – trotz des offiziellen Schweigens aus Rom – sowie dem Engagement der antifaschistischen Bewegungen, die von den Alliierten unterstützt wurden, zu verdanken. Es sei in diesem Zusammenhang jedoch daran erinnert, daß die deutsche Besatzung nicht die ganze Halbinsel betraf und weniger als 20 Monate dauerte. Nach dem Zweiten Weltkrieg Die Erholung des italienischen Judentums nach Ende des Krieges vollzog sich nur langsam und nicht ohne Widersprüche. Die Rassengesetze, Verfolgungen und Deportationen hatten einen großen Teil der jüdischen Bevölkerung unauslöschlich gezeichnet. Viele konnten sich nur mühsam von dem Stempel der Entrechtung befreien, der ihnen vom Faschismus aufgedrückt worden war, und dies nicht nur aus subjektiven, sondern auch aus objektiven Gründen. Der einzige Lichtblick für die Zukunft war die Tatsache, daß das Herrschaftshaus Savoyen, das in den Augen der Juden einen regelrechten Verrat begangen hatte, indem es die Rassengesetze angenommen hatte, in einem Referendum entmachtet worden war. Dabei hatten die Juden mehrheitlich für die Republik votiert. Im Nachkriegsklima, das bald schon von der Problematik des „Kalten Krieges“ geprägt war, zeigten sich die verschiedenen politischen Kräfte nur wenig sensibel gegenüber den Bedürfnissen der dezimierten jüdischen Bevölkerung, die überdies auf nationaler Ebene ohne

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Einfluß war, obwohl viele ihrer Vertreter in der Resistenza mitgewirkt hatten und nun bedeutende politische Positionen besetzten – Umberto Terracini z. B., ein jüdischer Kommunist, war Präsident der verfassunggebenden Versammlung. Der von allen Parteien ausgeübte Druck, auf politischer Ebene einen allzu klaren Bruch mit der Vergangenheit zu vermeiden, führte dazu, daß zahlreiche Angehörige der staatlichen Zivil-, Militär- und Justizverwaltung, ihre während des Faschismus bekleideten Ämter behalten konnten. So kann es kaum verwundern, daß antisemitische Tendenzen auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der staatlichen Administration nicht selten waren. Die Rehabilitierung und Wiedereinstellung von Juden, die aus ihren Arbeitsplätzen in Verwaltung und Wirtschaft entfernt worden waren, verlief ebenso wie die Rückerstattung der beschlagnahmten Güter, schleppend. Den Opfern des faschistischen Staates wurde das Gefühl vermittelt, sie seien „Usurpatoren“. Die Kirche, die sich dem Dialog der Religionen weiterhin eher widersetzte, erreichte mit Unterstützung der dem Katholizismus nahestehenden politischen Kräfte, daß das 1929 vom Faschismus abgeschlossene Konkordat in die neue Verfassung der Republik aufgenommen wurde: Die Situation der potentiellen „Minderwertigkeit“ und Benachteiligung der jüdischen Religionsgemeinschaft wurde damit bestätigt. Ebenso wurde aufgrund des vielleicht verständlichen Zögerns der nach wie vor vorsichtig agierenden Repräsentanten der jüdischen Gemeinschaft die faschistische Gesetzgebung bezüglich der Organisation der jüdischen Gemeinden beibehalten. Die politische Rechte, die dabei war, sich neu zu organisieren, berief sich weiterhin auf rassistisches und antisemitisches Gedankengut. Für die Linke – Sozialisten und Kommunisten –, die fortschrittlichen Katholiken, das laizistische und das liberale Milieu sowie die Sozialdemokraten der Mitte bestand kein Zweifel daran, daß die Juden verteidigt und ihre Leiden anerkannt werden mußten. Diese Überzeugung war jedoch stark mit der traditionellen Forderung verbunden, daß die Juden ihre spezifische Identität weitgehend aufgeben und sich ganz den politischen Perspektiven und Idealen anschließen sollten, die sie mit den übrigen Staatsbürgern verbanden. Diese Forderung wurde im allgemeinen stillschweigend gestellt, in den ersten Jahren der Nachkriegszeit jedoch auch offen zum Ausdruck gebracht, u.a. sogar durch den Philosophen und Politiker Benedetto Croce. Diese Erwartungshaltung ging nicht vollständig ins Leere, und das offene politische und kulturelle Engagement vieler herausragender Persönlichkeiten jüdischer Herkunft, die zu den jüdischen Gemeinden auf Distanz gingen, trug dazu bei, die Isolation des italienischen Judentums zu verschärfen. In dieser Situation war es vor allem die Gründung des Staates Israel, die die jüdische Gemeinschaft zusammenhielt und es ihr ermöglichte, dauerhafte Bindungen aufrechtzuerhalten und sich, trotz der Spaltungen, gemeinsame Ideale zu bewahren. Unmittelbar nach Kriegsende richtete sich die Hauptanstrengung der italienischen Juden auf die Organisation von Hilfsaktionen für die Flüchtlinge, die aus allen Teilen Mittel- und Osteuropas kamen, um nach Palästina zu gehen. Hierin wurden sie von Regierungsseite unterstützt. Unter anderem aufgrund dieser Erfahrung wuchs die Bedeutung der zionistischen Bewegung, und eine Reihe ihrer Mitglieder entschloß sich für die Alija. Diese wurde

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insbesondere von der linksorientierten jüdischen Jugend als der natürlichste Weg angesehen, den in Italien erlebten Widersprüchen zu entgehen. Die Suez-Krise, der Sechstagekrieg von 1967, der Jom-Kippur-Krieg sowie die darauf folgenden Vorfälle in der Geschichte des Staates Israel wirkten als Katalysatoren in dem nicht immer widerspruchsfreien Prozeß der Integration der Juden in das Italien der Nachkriegszeit. Im Vergleich zu den ersten Jahren nach Kriegsende wuchs nun das Bewußtsein eines autonomen und spezifischen Wertes der jüdischen Erfahrung in Italien stark an, so daß man tatsächlich von einer „Rekonstruktion“ jüdischen Lebens sprechen kann. Diese ist allerdings mit einigen Problemen verbunden: Die jüdische Bevölkerung in Italien leidet an demographischem Schwund und Überalterung. Südlich von Rom und auf den Inseln gibt es nach wie vor kaum jüdische Gemeinden. Eine Reihe von kleinen Gemeinden mußte ganz aufgegeben werden. Bei der Integration von jüdischen Immigranten aus arabischen Ländern und aus Osteuropa treten nicht selten Probleme auf. Selbst innerhalb der formellen Anhängerschaft der orthodoxen Tradition erscheint es schwierig, zwischen den verschiedenen religiösen und nichtreligiösen Tendenzen innerhalb des italienischen Judentums zu vermitteln. Dennoch spielt das italienische Judentum heute eindeutig eine aktivere Rolle, als es in der Vergangenheit der Fall war. Dies ist der Entwicklung der allgemeinen politischen und kulturellen Situation des Landes, der veränderten Haltung der katholischen Kirche und nicht zuletzt einem internen Reflexionsprozeß zu verdanken. Das alte Konkordat zwischen dem Staat und der katholischen Kirche ist inzwischen dahingehend modifiziert worden, daß den nichtkatholischen Religionsgemeinschaften größere Handlungsspielräume gegeben wurden. 1987 wurden durch eine Vereinbarung zwischen dem italienischen Staat und den jüdischen Gemeinden die Organisationsstrukturen der jüdischen Gemeinschaft auf Landesebene demokratisiert. Darüber hinaus wurde von staatlicher Seite die Respektierung der jüdischen Feiertage garantiert, und eine staatliche Finanzierung in Aussicht gestellt, die von jüdischer Seite nach einigen Diskussionen angenommen wurde. Wie gezeigt wurde, haben die italienischen Juden trotz der zweitausendjährigen Kontinuität ihrer Präsenz auf der Halbinsel einen langen und verschlungenen Weg hinter sich: vom friedlichen Zusammenleben mit den anderen Ethnien in der römischen Welt bis zu den Verfolgungen im Zeitalter der Christianisierung, von den Monopolen der Bankiers bis zu den Ghettos, von der Toleranz des 17. und 18. Jhs. bis zur napoleonischen Gleichberechtigung, vom Laizismus liberaler Prägung bis zur faschistischen Rassendiskriminierung. Die Aufrechterhaltung der Koexistenz des Rechts auf Andersartigkeit und des Rechts auf Gleichheit, Bedingung für die Verteidigung einer Identität, die keinerlei Verpflichtung und Beschränkung unterworfen ist, stellt heute zweifelsohne ein Ziel dar, das um so wichtiger ist, als die demographische Größenordnung des italienischen Judentums bescheiden ist. (Michele Luzzati)

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Kultur Es fällt nicht leicht, Charakteristika für eine Kultur zu benennen, die sich wie die der italienischen Juden über mehr als zehn Jahrhunderte und in Gebieten, die ganz verschiedenen Einflüssen unterworfen waren, entwickelt hat. Man könnte sogar an der Berechtigung der Bezeichnung „italienisch-jüdische Kultur“ zweifeln, da Italien lange Zeit lediglich eine geographische Bezeichnung und allenfalls eine in den Wünschen und Hoffnungen einiger Denker und Dichter existierende Einheit war. Dennoch gibt es durchaus verbindende Aspekte der kulturellen Entwicklung der Juden in Italien und Elemente, die über die Gegend und den Zeitpunkt ihrer Entstehung hinaus Bedeutung haben und den Historiker so fast gegen seinen Willen dazu veranlassen, Kontinuitäten anzuerkennen. Eine solche Kontinuität betrifft den Bereich der Sprache. Der Gebrauch des Hebräischen Die italienisch-jüdischen Autoren haben in ihren Werken immer die hebräische Sprache gepflegt und dabei nach Eleganz und Klarheit gestrebt. Dies gilt nicht nur für Texte, die sich eindeutig dafür eigneten – z.B. Poesie und Predigten –, sondern auch für juristische, philosophische und kabbalistische Schriften und sogar für Privatbriefe. Man darf die sprachliche Sorgfalt geradezu als eines der Hauptmerkmale der jüdischen Kultur, die sich in Italien entwickelt hat, betrachten, angefangen von der Megillat Achimaaz, einer lebhaften und präzisen Chronik in gereimter Prosa, die im 10.Jh. in Apulien entstanden ist, bis hin zu den 1852 veröffentlichten Wikkuach al chochmat ha-kabbala (Dialoge über die Kabbala) von Samuel David Luzzatto, einem Werk, das die Kabbala philologisch und theoretisch widerlegt und dessen Ausdrucksmöglichkeiten denen des modernen Romans gleichkommen. Mit den Epochen und Gattungen änderten sich natürlich auch die Stile. Eine Konstante stellt der „schibbuz“ dar, die Verwendung mehr oder weniger langer biblischer Zitate im Text, die in wörtlicher oder anderer Bedeutung aufgenommen werden. Sie stellten einen sprachlichen Zwang dar, den die Schriftsteller oft auf kreative Weise zu nutzen wußten, indem sie ihnen völlig neue Verwendungen zuschrieben und neue Stimmungen erzeugten. Der unbestreitbare Meister auf dem Gebiet des Gebrauchs biblischer Ausdrücke in Kontexten, die sich vollständig von dem ursprünglichen unterschieden, war Immanuel Romano (um 1261–nach 1328), dessen Machbarot (Vermischte Schriften), eine Reihe von im allgemeinen komischen Werken in Prosa und Dichtung, fast ausnahmslos aus Sätzen und Ausdrücken aus der Bibel sowie, in geringerem Maße, aus der rabbinischen Literatur bestehen und deren erklärtes Ziel es ist, den Leser durch die literarische Virtuosität und die Kenntnis der Schriften zu verblüffen. Die Verwendung des „schibbuz“ fehlt nie. Eine besondere Blüte erlebte sie jedoch zwischen dem Ende des 16. und der Mitte des 17. Jhs., also während der Zeit des Barocks, als sprachliche Gewandtheit, die beim Leser Erstaunen hervorruft, und Scharfsinn (ital.: acutezza; hebr.: charifut) zu Werten des literarischen Schaffens an sich werden. Einer der bedeutendsten Autoren des 17. Jhs., der Dichter Jakob Francés, wurde, entsprechend dem

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Akrostichon seines Namens, „he-charif“ (der Scharfsinnige) genannt. Zuweilen, z.B. in dem ersten Theaterstück in hebräischer Sprache, Zachut bedichuta de-kidduschin (Die Heiratskomödie) von Jehuda ben Isaak Portaleone (um 1550), erreichte das biblische Hebräisch eine solche vitale Kraft, daß es zum Instrument der gesprochenen Sprache wurde und so den Bemühungen der Maskilim und dem Aufleben des modernen Hebräisch um zweihundert Jahre vorgriff. Im 18. und 19. Jh. erfolgte der Rückgriff auf das biblische Zitat nicht mehr systematisch, die Sprache wurde freier und war weniger eng an vorgefaßten Modellen orientiert: Mose Chajim Luzzatto (1707–1743) schrieb seine Dramen und kabbalistischen Schriften in sehr flüssigem Hebräisch und suchte in seinem rhetorischen und literaturkritischen Text Leschon limmudim (erste Fassung 1724) nach einer Ausdrucksform, frei von traditionellen Modellen. Samuel Romanelli schrieb das Tagebuch seiner Reise nach Marokko, Massa baarab (1792), in einer sehr ausdrucksstarken Prosa. Bereits im Jahr 1573 hatte jedoch Asarja dei Rossi mit seinem berühmten Werk Meor enajim (Das Augenlicht) die Gattung der gelehrten Prosa, das historische und philologische Essay, in das Hebräische eingeführt – ein Werk, das seinesgleichen sucht. In einer Reihe von Essays zu verschiedenen Themen konzentrierte sich Rossi auf schwierige historische oder philologische Fragen, und es gelang ihm auch, Naturvorgänge wie etwa ein Erdbeben, dessen Zeuge er geworden war, zu beschreiben, wobei er zum größten Teil noch eine biblische Sprache verwendete, die jedoch bereits in der Lage war, präzise und mit großem Detailreichtum von einem Ereignis zu berichten, das sowohl in den Bereich der Wissenschaft als auch in den der Chronik gehörte. Samuel David Luzzatto (1800–1865), ein Epigone des literarischen Schaffens in hebräischer Sprache in Italien, verfaßte Schriften zur Philologie, Grammatik und Exegese, und er führte eine rege Korrespondenz in einem lebendigen und modernen Hebräisch, das sehr weit vom biblischen Hebräisch entfernt war. Als jedoch Luzzatto auf Hebräisch schrieb, hatte sein Zielpublikum, d.h. die italienischen Juden, bedingt durch den beschleunigten Assimilationsprozeß das Hebräische zum großen Teil bereits aufgegeben. Das Wiederaufleben des Hebräischen vollzog sich daher in den Ländern Mittel- und Osteuropas. Für das 20. Jh. sind die Artikel von Dante Lattes, die Bibelkommentare von Elia Samuel Artom und die Essays zur Bibelwissenschaft von Mose David Cassuto zu nennen, die entweder direkt in Palästina oder, wenn nicht dort, so doch für eine dort lebende Leserschaft geschrieben wurden. In den letzten Jahrzehnten findet man Autoren italienischen Ursprungs, die nach Israel ausgewandert sind und sich in die Kultur des neuen Landes integriert haben. Die „schibbuz“-Technik kann mit den Zitaten aus der klassischen Literatur verglichen werden, die sich in lateinischen Werken bis zum Ende der Renaissance finden. Eine genaue Untersuchung des literarischen Schaffens als intertextuellem Gewebe, das aus einem bestimmten Corpus schöpft, steht sowohl für die hebräische Literatur an sich als auch für den Vergleich zwischen lateinischer und hebräischer Literatur noch aus. Es läßt sich jedoch feststellen, daß diese von christlichen wie von jüdischen Intellektuellen geübte Praxis in die Krise geriet, sobald die Italiener begannen, auch für das „hohe“ kulturelle Schaffen die Um-

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gangssprache anstelle des Lateinischen zu verwenden. Damit war die Symmetrie im Schaffen jüdischer und nichtjüdischer Autoren aufgehoben. Während die Christen nunmehr in der Sprache schrieben, in der sie sprachen, waren die Juden gezwungen, in der Trennung von geschriebener und gesprochener Sprache zu verharren. Die erste Reaktion von jüdischer Seite auf diese Situation war eine konservative: Man versuchte, alle Ausdrücke, die sich nicht auf den Text der Bibel zurückführen ließen, als „verboten“ zu brandmarken. Der herausragende Vertreter dieser Reaktionsbewegung war Samuel Archivolti mit seinem 1603 in Venedig publizierten Werk Arugat ha-bossem (Der Gewürzgarten). In der Folge hat jedoch das Hebräisch der italienisch-jüdischen Autoren, wie bereits dargestellt, schrittweise das biblische Modell als alleinige Referenz aufgegeben und ist flexibler geworden, wodurch es fähig wurde, die menschliche Erfahrung in ihrer Gesamtheit zum Ausdruck zu bringen. Diese unterschiedliche Entwicklung hatte zur Folge, daß das Hebräische nunmehr auf die Rolle der literarischen Sprache festgelegt worden war, was ihm zwar eine edle Position verschaffte, ihm aber auch jegliche Zukunftsperspektive raubte. So war es nur natürlich, daß im 19.Jh. Lelio Della Torre, ein Intellektueller, der das Hebräische so perfekt beherrschte, daß er „Experimentalgedichte“ schreiben konnte, in denen er die zeitgenössische Gesellschaft beschrieb, die hebräische Sprache als eine tote Sprache betrachtete. Sein Zeitgenosse Isaak Samuel Reggio, Autor eines bedeutenden hebräischen Werks über die Beziehung zwischen jüdischer Religion und Philosophie, Ha-tora we-ha-filosofija (Tora und Philosophie), das 1827 in Wien erschien, sowie einer Reihe langer hebräischer Kommentare zu Werken alter italienisch-jüdischer Autoren, die er selbst herausgab, hatte eine konservative Einstellung zum Hebräischen. Er stellte eine Verarmung dieser Sprache fest, die ihren Höhepunkt in der biblischen Literatur gehabt und seitdem sowohl im Hinblick auf die Quantität der Worte als auch in bezug auf ihre Ausdruckskraft einen schrittweisen Niedergang erlebt habe. Reggio schrieb diese Tatsache dem außergewöhnlichen Charakter des Hebräischen als göttlicher und unkonventioneller Sprache zu, die, anders als alle anderen Sprachen, von Anfang an perfekt gewesen sei, da sie von Gott geschaffen wurde. Diese Sichtweise verstellte jedoch jegliche Zukunftsperspektive. Die Meister der Sprache stellten keinerlei Entwicklungshorizont vor. Die italienischen Juden, die sich im Hebräischen zu Hause fühlten und, zumindest was die kultivierten unter ihnen betrifft, im Lateinischen gewandt waren und die natürlich überdies das Italienische beherrschten, stellen ein interessantes Beispiel von Zwei- bzw. Dreisprachigkeit dar. Es gibt jedoch nur wenige Texte, die in anderen Sprachen als der hebräischen verfaßt wurden. Als Beispiele seien angeführt: die im Volgare der Toskana abgefaßten poetischen Späße Immanuel Romanos, die zu der italienischen Literatur der DanteZeit gehören; die in lateinischer Sprache geschriebenen Werke aristotelischer Prägung von Elija del Medigo; die große Zahl von Theaterstücken von Jehuda ben Isaak Portaleone, die heute beinahe alle verlorengegangen sind; die Dialoghi in materia scenica, eine bedeutende dramaturgische Abhandlung; die lateinischen Dialoge De auro des Arztes Abraham Portaleone (1582), ein nicht genügend beachtetes Werk, das grundsätzlichen Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis nachgeht; das Werk De me-

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dico hebraeo enarratio apologetica von David de Pomis (1588), in dem der Autor versucht, die Distanz zwischen Judentum und Christentum zu reduzieren; die Apologie Discorso circa il stato de gl’hebrei (1638) von Simon (Simcha) Luzzatto, ein Text, der über das Ziel jüdischer Apologetik hinausgeht, um sich wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Themen von allgemeinem Interesse zuzuwenden. Die Dialoghi d’amore von Jehuda Abrabanel (genannt Leone Ebreo), einer der Texte, die während der Renaissance sehr großen Einfluß auf die gebildeten Kreise Europas hatten, sind wahrscheinlich in italienischer Sprache geschrieben worden. Nach dem 17. Jh. wurde die Verwendung des Italienischen für die italienisch-jüdischen Autoren zur Normalität. Später schreiben Samuel David Luzzatto und vor allem der Kabbalist und Philosoph Elijahu Benamozegh (1823–1900) nicht nur in hebräischer und italienischer, sondern auch in französischer Sprache. Philosophie, Theologie und theoretische Reflexion Trotz der breiten Forschungsaktivitäten, die sich dem italienischen Judentum widmen, hat dieses es schwer, sich innerhalb der jüdischen Studien als zentrales Forschungsgebiet durchzusetzen. Zwar wird das italienische Judentum heute wie schon im 19.Jh., zur Zeit der deutschen „Wissenschaft des Judentums“, als ein Modell für ein ausgeglichenes Verhältnis von Autonomie und Integration in die christliche Gesellschaft sowie für eine Harmonie von Religion und weltlicher Kultur angesehen. Dieses Modell bleibt jedoch abstrakt, es kann z. B. unmöglich in die israelische Gesellschaft „importiert“ werden. Es scheint, als wäre es dazu bestimmt, mehr eine Tendenz zu bleiben als eine Realität zu werden, eine Art intellektueller Luxus, der keinen Einfluß auf die gesellschaftliche Wirklichkeit hat. Trotz der ununterbrochenen Kontinuität einer zweitausendjährigen Präsenz von Juden in Italien und ihrem weltweit als besonders hoch angesehenen Grad an literarischer Bildung gibt es keinen großen Klassiker jüdischen Wissens, der italienischen Ursprungs wäre: Die Philosophie hat keinen Maimonides, die Poesie keinen Salomo ibn Gabirol, kein italienisch-jüdischer Rechtsgelehrter hat sich in allen Diaspora-Gemeinden behaupten können, es hat keinen Raschi in den Talmud-Studien und keinen Baal Schem Tow in der Mystik gegeben. Unter den italienischen Autoren gilt allein Mose Chajim Luzzatto, der aus Padua stammende und zunächst nach Amsterdam, dann nach Palästina emigrierte Kabbalist, als absolute Autorität auf seinem Gebiet. Als solche war er vor allem im aschkenasischen Bereich anerkannt. Dabei gerieten jedoch andere Facetten seines Schaffens, wie sein dichterisches Werk und seine Rhetorik-Studien, aus dem Blick. Möglicherweise ist eines der Hauptmotive für das heutige Interesse an der jüdisch-italienischen Kultur in der Tatsache zu suchen, daß diese eine Vermittlerrolle zwischen der jüdischen Kultur der Iberischen Halbinsel, die sehr stark von der arabischen Kultur geprägt war, und der lateinischen und christlichen Kultur Italiens einnahm. In all den genannten kulturellen Bereichen haben sich die italienischen Juden auf originelle Weise engagiert. Man hat zuweilen den Eindruck, als hätten sie interessante intellektuelle Werdegänge erprobt, die dann nicht fortgesetzt worden sind, eventuell aufgrund der geringen Anzahl von Gemeindemitgliedern, die keine wirkliche Tradition zustande kommen ließ. Hillel von Verona etwa

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versuchte, in seinem 1290/91 abgeschlossenen Sefer tagmule ha-nefesch (Spirituelle Entschädigung) eine von den Begriffskategorien Thomas von Aquins inspirierte jüdische Philosophie zu entwerfen, ohne sich jedoch mit dieser neuen Lesart des Aristotelismus durchsetzen zu können. Das anspruchsvolle Werk Mikdasch meat von Mose da Rieti (1388–um 1460), das sich als jüdische Antwort auf die Göttliche Komödie Dantes verstand, ist in Italien mehrfach neu aufgelegt worden, außerhalb Italiens jedoch vollkommen unbekannt. Es ist im Laufe des 17. Jhs. auch in Italien selbst in Vergessenheit geraten. Jehuda ben Jechiel, genannt Messer Leone (2. Hälfte des 15. Jhs.), hat 1475 unter dem Titel Nofet zufim (Honigwabe) eine bedeutende Abhandlung zur jüdischen Rhetorik, veröffentlicht, die versucht, eine Synthese zwischen Quintilian und der Tora herzustellen. Dieses Werk hat jedoch seit seinem Druck in den Anfängen der Druckkunst nie einen wirklichen Erfolg gehabt, ebensowenig wie die Abhandlungen zur ars poetica von Samuel Archivolti zu Beginn des 17. Jhs. und von Immanuel Francés zu Beginn des folgenden Jahrhunderts. Josef ha-Kohen (1496–1575), Autor einer Geschichte der Königreiche Frankreich und Türkei sowie einer Geschichte des Judentums, Emek ha-bacha (Das Tal der Tränen), war einer der ersten jüdischen Historiker der Neuzeit, wenn auch die Historiographie sich bei den Juden erst sehr viel später als literarische Gattung durchsetzen sollte. Die oben bereits erwähnten Essays von Asarja dei Rossi waren nicht nur neuartig im Hinblick auf die vorgestellten Ideen, sondern auch in bezug auf die Form. Sie hatten mit heftigen Widerständen zu kämpfen, und es ist ihnen nie gelungen, eine neue literarische Gattung zu begründen. Das 1612 in Mantua veröffentlichte Werk Schilte ha-Gibborim (Die Schilde der Tapferen) des Arztes Abraham Portaleone, der auch der Autor der Dialoge De auro war, ist eine Art wissenschaftlicher Enzyklopädie, die sich an den Beschreibungen des Tempels von Jerusalem orientiert, der als „theatrum memoriae“ fungiert. Hier sind Religion und Wissenschaft zu sehr ineinander verwoben, um eine breite Leserschaft anzuziehen. Im folgenden seien weitere Beispiele angeführt: Die komplexe philosophisch-theologische Abhandlung Or ammim (Licht der Völker), die Obadja Sforno 1537 veröffentlichte und selbst unter dem Titel Lumen Gentium ins Lateinische übersetzte, propagierte eine leicht vom klassischen Modell des Maimonides distanzierte Rationalität, hatte jedoch kein wirkliches Echo. Die Kritik, die Elija del Medigo und Jehuda Arje da Modena (1571–1648) an der Kabbala übten – letzterer brachte in seinem 1638 veröffentlichten Werk Ari nohem (Ein Löwe brüllt) ernsthafte Vorbehalte gegenüber der Authentizität des Sohar zum Ausdruck –, wird zwar heutzutage als begriffsgeschichtlich und philologisch bedeutend für den unaufhaltsamen Aufstieg der Kabbala angesehen, blieb aber insgesamt eher ein peripheres kulturelles Phänomen. Elijahu Benamozegh, einer der bedeutendsten Philosophen der Neuzeit, hat seinen Platz in den Geschichten der jüdischen Philosophie, die sich hauptsächlich auf den aschkenasischen Bereich konzentrieren, noch nicht gefunden: Er wird als brillanter Apologet oder als ein Apostel des religiösen Universalismus vorgestellt, seine Gedanken zu den

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problematischen Beziehungen zwischen Beständigkeit – auf religiösem und metaphysischem Gebiet – und Fortschritt haben bislang jedoch nicht genügend Beachtung gefunden. Samuel David Luzzatto gilt heute als einer der bedeutendsten Autoren des 19. Jhs. Die fundamentale Bedeutung seiner Beiträge in den Bereichen der Grammatik und Linguistik, der Geschichte der hebräischen Poesie und der hebräischen Gelehrsamkeit im allgemeinen ist unbestritten, und die sich in seiner Person widerspiegelnde Harmonie von Traditionswillen und Liebe zur Wissenschaft wird als exemplarisch angesehen. Die – sicherlich berechtigte – Konzentration auf die Aspekte seines Werks, die der deutschen „Wissenschaft des Judentums“ nahestehen, geht jedoch zuweilen fehl, indem sie seine Zugehörigkeit zu der italienisch-jüdischen Kultur und die an sie gebundenen Problematiken und Ausdrucksformen nicht genügend beleuchtet. Eine eindeutigere Kontinuität herrscht auf dem Gebiet der Kabbala, in dem die italienischen Juden eine besondere Stellung einnehmen. Ihre theoretischen Ausführungen stehen in fast allen Fällen der philosophischen Reflexion nahe, zumindest dialogisieren sie mit der Philosophie. Darüber hinaus streben sie nach begrifflicher Klarheit, die sie als eine Notwendigkeit ansehen. In ihrer Eigenschaft als Vermittlerin einer offenbarten Doktrin wurde die Kabbala immer als über den Schlußfolgerungen stehend betrachtet, zu denen der menschliche Verstand gelangen konnte und die immer nur Teile eines Ganzen oder unvollkommen bleiben mußten. Von einigen bedeutsamen Fällen abgesehen, die wir noch ansprechen werden, versuchte die in Italien herausgebildete Kabbala jedoch weniger, die Philosophie zu widerlegen, als vielmehr, sie zu ergänzen oder aber zu einer Synthese mit ihr zu gelangen. Einem der ersten italienischen Kabbalisten, der zugleich einer der einflußreichsten war, Menachem Recanati (gest. 1290), gelang es bereits in seinem Kommentar zur Tora, die zu seiner Zeit existierenden Quellen der Kabbala unter beachtlichem Aufwand zu sammeln und ihre zuweilen mysteriöse Sprache zu erhellen. Zu Beginn des 15. Jhs. integrierte Mose da Rieti die Kabbala in ein neuplatonisches Modell der Welt, in dem die in die Welt geworfenen Seelen nach der Quelle der Erkenntnis, der sefira chochma, streben, um ihren himmlischen Ursprung wiederzufinden. In der Renaissance stellte die Kabbala eine Alternative zum Aristotelismus dar, dessen Unzulänglichkeit spürbar geworden war. Die jüdische Esoterik erschien nicht nur als eine sichere Tradition, die nicht den Unsicherheiten des menschlichen Verstandes unterworfen ist, sondern auch als allein dem jüdischen Volk vorbehaltenes Erbe. Es ist interessant, festzustellen, daß parallel zu der Legitimierung der Kabbala als wahre, da offenbarte Doktrin durch die angesehensten Rabbiner die Lektüre von Jehuda ha-Levis Kusari dem Studium von Maimonides’ Führer der Verwirrten, der allerdings seine zentrale Stellung nie ganz verlieren wird, an die Seite gestellt wird. Der Kusari, der den Schwerpunkt auf die Offenbarung und die dem jüdischen Volk eigenen prophetischen Fähigkeiten legt, erwies sich als angemessen in einer Epoche des Übergangs, in der sich eine neue Form von Rationalität herausbildete und die mittelalterliche Rationalität aristotelischer Prägung zurückgewiesen wurde. Einer der Hauptkommentare zu diesem Werk ist das 1594 veröffentlichte Werk Kol Jehuda (Die Stimme Jehudas) des Rabbiners von Mantua, Jehuda Moscato.

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Die Kabbala war zugleich auch ein Handlungsinstrument des Menschen in der Welt, das der Magie nahestand und das die dynamischeren Beziehungen zwischen Mensch und Natur, wie sie sich im Laufe des 16. Jhs. zu entwickeln begannen, in Sprache übersetzte. Unter den Interpreten dieser neuen Kultur befanden sich Jochanan Alemanno (um 1434– um 1504) und Nechiel Nissim aus Pisa (um 1493–vor 1572). Beide Autoren drückten die kabbalistische Tradition in einer philosophischen Terminologie aus und bestätigten so den erwähnten Dialog zwischen Kabbala und Philosophie. Dieser Dialog scheint sich im 17. Jh. im Zuge der Verbreitung der lurianischen Kabbala verändert zu haben. In den Werken von Menachem Asarja de Fano (1548–1620), der ein hochgeschätzter Kabbalist und ein wichtiger Vermittler der in Safed entstandenen Lehren nach Westeuropa war, läßt sich kaum noch eine Nähe zu philosophischer Rationalität feststellen. Gleiches gilt auch für Mose Zakuto (um 1620–1697), einen vielfach begabten Intellektuellen, der nicht nur die Geschichte der Kabbala, sondern auch die der Literatur, religiöser wie nichtreligiöser, entscheidend geprägt hat. Josef Ergas (1685–1730) und Mose Chajim Luzzatto lehnten ebenfalls die Methoden der Philosophie ab, empfanden jedoch die Notwendigkeit, Dialoge zu schreiben, in denen die Argumente der Philosophen zum Ausdruck kamen. So entfernten sie sich von der Dogmatik des 17. Jhs., die sich nicht um rationale Erklärungen bemüht hatte. Die Vitalität der Kabbala am Vorabend der Aufklärung, die sich natürlich auch in der italienisch-jüdischen Kultur findet, bleibt jedoch eine noch nicht geklärte historiographische Frage. Im 19. Jh. brachte Elijahu Benamozegh, der letzte italienische Kabbalist, am extremsten die Tendenz der italienischen Kabbalisten, Kabbala und Philosophie zu verbinden, zum Ausdruck, indem er begrifflich und systematisch die Kabbala in Philosophie „übersetzte“, in eine religiöse Philosophie, die er für geeignet hielt, Fortschritt und Tradition in Einklang zu bringen, und deren polemisches Hauptziel das Denken Hegels war. Dichtung und Literatur Die Dichtung nimmt eine Sonderstellung auf dem Gebiet der intellektuellen Tätigkeit der Juden Italiens ein. Nahezu alle Autoren, die mit dem Hebräischen vertraut waren, haben Gedichte geschrieben, und dennoch hat die Dichtung, von einigen Ausnahmen abgesehen, innerhalb der jüdischen Gesellschaft, die dem traditionellem religiösen Studium den Vorzug gab, nie eine selbstverständliche Anerkennung erfahren. Die bedeutendste Ausnahme stellen die Pijjutim-Dichter Amitai und Salomo ha-Babli (9./10.Jh.) dar, von denen der eine in Apulien, der andere in Rom lebte und die sehr reiche und originelle Werke geschaffen haben, in denen sie die Tradition des palästinensischen Pijjut weiterentwickelten. Im Zusammenhang mit dem „schibbuz“ wurde bereits das Werk Immanuel Romanos erwähnt. Es sei hier in Erinnerung gerufen, daß dieser großen Einfluß auf die nachfolgenden Autoren gehabt hat, die aus dem Fundus seiner Machbarot schöpften, obwohl sie wiederholt ihre Vorbehalte gegen ihren zuweilen obszönen Charakter zum Ausdruck brachten. Die Vorstellungskraft Immanuels jedoch und seine Fähigkeit, ausgehend von Bibelfragmenten eine Handlung zu konstruieren, konnten jedoch nicht ohne bedeutende Spuren bleiben. Es

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ist außerdem das Verdienst Immanuels, Neuerungen in die formale Gestaltung der hebräischen Dichtung eingeführt zu haben, indem er eine beachtliche Anzahl von Sonetten schrieb. Die hebräische Literatur war damit nach der italienischen Literatur die erste, die diesen Formentyp kannte. Obwohl es zur Zeit Immanuels eine italienische Dichterschule gab, ist von den dort entstandenen Werken heute fast nichts mehr übriggeblieben. Vermutlich hat die Tatsache, daß die Dichtung keinen festen Platz in den ganz auf das religiöse Studium ausgerichteten Lehrplänen hatte, dazu geführt, daß eine Vielzahl von Manuskripten verlorenging. Dasselbe gilt für den Bereich der Renaissancedichtung. So verfügen wir nur über ein einziges Manuskript mit Gedichten von Josef Zarfati, einem Autor, der auf stilistischem Gebiet sowie im Hinblick auf die poetische Form Neuerungen einführte. Seine Oktaven werden zu Recht zu den gelungensten lyrischen Kompositionen der hebräischen Literatur gezählt. Unter den Autoren der Barockzeit nehmen Mose Zakuto und Jakob Francés aufgrund ihrer perfekten Beherrschung der Sprache, die im Einklang mit dem Zeitgeschmack stand, eine herausragende Stellung ein. Beide – ersterer in seinen Dramen, vor allem in Tofte aruch (Die vorbereitete Hölle), letzterer in seinem umfangreichen und vielfältigen poetischen Werk – gingen über die reine, auf sprachliche und begriffliche Virtuosität ausgerichtete Stilübung hinaus und widmeten sich intensiv den Hauptthemen der zeitgenössischen Kultur: der beängstigenden Vorstellung des Todes und dem Streben nach einem einfachen Leben in einer reinen und idealen Welt. Mose Chajim Luzzatto wird als Begründer der modernen hebräischen Literatur angesehen. In der Tat sind seine Dramen allegorischen Charakters in einem so fließenden Hebräisch abgefaßt, wie es nur wenige vor ihm zu schreiben vermochten. Die italienische hebräische Dichtung ist jedoch immer in dem Sinne „modern“ gewesen, daß sie den Geist jeder Zeit in seinem sprachlichen und kulturellen Kontext getreu wiedergegeben hat. Matatia Nissim Terni (1745–nach 1810), Autor interessanter Theaterstücke, und Efraim Luzzatto (um 1731–1792), dessen Band Elle bene a-neurim (Kinder, geboren in der Jugend) 1768 in London gedruckt wurde, haben einen bedeutenden Einfluß auf die Gelehrten der Haskala gehabt. Zu dieser Zeit übersetzten jüdische Dichter, die deutlich vom europäischen Klassizismus beeinflußt waren, die bedeutendsten italienischen Autoren, wie z. B. Pietro Metastasio, ins Hebräische. Das 19. Jh. ist, wie bereits festgestellt wurde, ein Jahrhundert der Epigonen. Die Juden waren des Hebräischen immer weniger mächtig. Sie schrieben nunmehr fast ausschließlich in italienischer Sprache und gehören damit zur Geschichte der italienischen Literatur. Dieses Phänomen trat im Laufe des 20. Jhs. immer deutlicher hervor, bis es keine jüdischen Autoren mehr gab, die in hebräischer Sprache schrieben. Im Kontext der italienischen Literatur läßt sich jedoch ein spezifisch jüdischer Beitrag ausmachen: Jüdische Autoren setzen sich mit ihrer Herkunft auseinander und fragen sich, welche Bedeutung dieser für die Wahrnehmung der kleinen Dinge des täglichen Lebens und für die Wertesysteme, die unter Umständen leicht von denen der Mehrheit abweichen, zukommt. Die Anzahl solcher Autoren ist beträchtlich. An dieser Stelle seien jedoch nur Primo Levi (1919–1987), einer der

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großen Zeugen des 20. Jhs., und Giorgio Bassani (1916–2000) genannt. Bassani ist als Interpret der Dekadenz der Provinz-Bourgeoisie hervorgetreten. Diese wird aus der Erinnerung betrachtet, einer Erinnerung, die sehr stark durch die Zugehörigkeit zur intellektuellen und materiellen jüdischen Kultur geprägt ist. (Alessandro Guetta)

Italienisch-jüdische Gemeinden in der Spätrenaissance und der Frühen Neuzeit: Eine anthropologische Perspektive Obgleich die Begegnung von historischer und anthropologischer Forschung nicht erst seit gestern stattfindet, ist sie doch recht neu. Seit den sechziger Jahren des 20. Jhs. hat sich der Umfang solcher interdisziplinärer Studien zu verschiedenen Perioden, geographischen Räumen und methodologischen Fragestellungen bedeutend vergrößert. Die Geschichtswissenschaft entdeckte die Relevanz der Anthropologie für ihr eigenes Forschungsgebiet, als sie bemerkte, daß die Instrumentarien, die bei der Erforschung und Beschreibung von zeitgenössischen Gesellschaften und ethnischen Gruppen angewandt werden, sich auch für die Erforschung historischer Gesellschaften eignen. Einen wesentlichen Beitrag zu dieser Erkenntnis hat die französische Geschichtsforschung geleistet, insbesondere die Tradition der Annales, die neue Fragestellungen aufwarf und zu deren Beantwortung auch innovative Methoden benötigte. Neuer noch ist das Interesse, das die Forschung, die sich mit der jüdischen Geschichte und Kultur beschäftigt, der Anthropologie entgegenbringt. Anthropologische Untersuchungen in diesem Bereich beschäftigten sich bis vor kurzem noch fast ausschließlich mit zeitgenössischen jüdischen Gruppen. Inzwischen nimmt jedoch die Zahl historisch-anthropologischer Studien zu. Der zeitliche Rahmen reicht dabei von der biblischen Zeit über das Mittelalter bis in die Neuzeit. Familienleben, Symbole, Beziehungen zwischen Ethnien, Magie, geschriebene und gesprochene Kultur – all diese wohlbekannten Themen anthropologischer Studien sind zu legitimen Objekten der modernen Forschung zur jüdischen Kultur und Geschichte geworden. Ein nicht geringer Teil solcher Studien ist der Geschichte der italienisch-jüdischen Gemeinden während des Mittelalters, der Renaissance und der Frühen Neuzeit gewidmet.5 Dies ist kein Zufall, denn die reiche Fülle an Dokumenten und insbesondere das Ausmaß, in dem Einblick in das Privatleben und sogar in intime Bereiche des Familienlebens genommen werden kann, laden geradezu zu einer anthropologischen Analyse ein. Die Frage, warum jüdische Quellen, die die verschiedensten Aspekte des Privatlebens erhellen, für das Italien der Spätrenaissance und der frühen Neuzeit so zahlreich vorhanden sind – es finden sich z. B. Privatbriefe und andere Schriftstücke, die Einblicke in persönliche Gefühle und sogar in das Sexualleben zulassen –, während sie für andere Diasporagemeinden so spärlich 5

In der Bibliographie am Ende des Artikels sind die wichtigsten dieser Studien genannt.

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vorhanden sind, ist ein zu komplexes Thema, um es an dieser Stelle zu behandeln. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist die Tatsache, daß sich die anthropologische Forschung, die sich mit diesem Material beschäftigt hat, eine Reihe von methodologischen Diskussionsanstößen in bezug auf die Erforschung der jüdischen Geschichte und Kultur liefern konnte, die im folgenden vorgestellt werden sollen. Trennendes und Verbindendes: Die Vielfalt der religiös-kulturellen Traditionen der Juden in Italien Worin besteht der gemeinsame Nenner, der die Bezeichnung „italienische Juden“ rechtfertigt? Der geographische Raum „Italien“ kann bei dem Versuch einer Definition der italienisch-jüdischen Identität nicht als zentrales oder gar alleiniges Kriterium dienen, und dies nicht nur, weil Italien als kulturelle und politische Einheit im 16. und 17. Jh. schlichtweg nicht existiert, sondern vor allem auch, weil die jüdischen Gemeinden auf italienischem Boden ihre Entstehung einer ununterbrochenen Zuwanderung von Juden sehr unterschiedlicher regionaler, religiöser und kultureller Herkunft verdanken. So kamen aschkenasische und französische Juden (vor allem während des 14. und 15. Jhs.), sefardische und orientalische Juden (vor allem während des 16. Jhs.), Juden aus Nordafrika, Sizilien und den unter spanischer Herrschaft stehenden Gebieten in Süditalien. Die unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen in den einzelnen Staaten auf italienischem Boden und die ebenso unterschiedlichen religiösen und kulturellen Traditionen, die die jüdischen Einwanderer mitbrachten, werfen die Frage auf, in welcher Hinsicht sich, wenn überhaupt, von einer italienisch-jüdischen Identität sprechen läßt. Mit anderen Worten: Ist es möglich, den Begriff „italienische Juden“ im gleichen Sinne zu verwenden, wie die „Wissenschaft des Judentums“ von einem babylonischen, aschkenasischen, sefardischen, palästinensischen, provenzalischen oder ägyptischen Judentum gesprochen hat? Diese Frage verweist auf die heftig diskutierte Problematik der Weite des Begriffs „Kultur“. Soll er allein in bezug auf konventionelle Bereiche gelten, wobei in erster Linie die kulturellen, sozialen und politischen Eliten im Blickfeld stehen, oder geht er darüber hinaus und schließt auch Aspekte mit ein, die von einem erheblich größeren Teil der jeweils betrachteten Gruppe geteilt werden (z. B. Nahrungsmittel, Erziehungspraktiken, Handwerk)? Die Antwort fällt nicht eindeutig aus. In jedem Fall sollte jedoch die Analyse der kulturellen Identität einer Gruppe alle Kulturkreise in Betracht ziehen, die diese beeinflußt haben. Im Fall der italienischen Juden und ihrer sehr vielschichtigen und komplexen kulturellen Identität sind in diesem Zusammenhang z. B. das palästinensische Erbe (hebr.: masoret erez Israel), die byzantinische Tradition, die nordafrikanische jüdische und muslimische Tradition und natürlich auch der aschkenasische, französische, provenzalische und sefardische Beitrag zu nennen. Alle diese Gruppen haben die jeweilige lokale Kultur tief geprägt. Eine Gesellschaft, die sich aus Splittergruppen zusammensetzt und in der es keine „autochthonen“ Mehrheiten gibt, reagiert bewußter und sensibler auf die Unterschiede zwischen den Traditionen der einzelnen Gruppen. Man kann die Vielfalt in einer Weise analy-

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sieren, die der modernen Anthropologie nahesteht. Es geht mit anderen Worten nicht darum, fremden Traditionen die Legitimation abzusprechen – zumindest solange diese nicht in offenem Widerspruch zum jüdischen Gesetz und zur jüdischen Tradition stehen –, sondern vielmehr darum, sie in einem kulturellen Kontext zu sehen. Da die zentralen Werte der jüdischen religiösen Tradition in ihrer schriftlich niedergelegten Form von allen anerkannt werden, können die Unterschiede zwischen den verschiedenen Traditionen der einzelnen Gruppen lediglich das Periphere oder Gewohnheitsmäßige (hebr.: minhagim), also den Bereich, der von dem verstorbenen Historiker Jacob Katz mit der Bezeichnung „ritueller Instinkt“ belegt worden ist, betreffen. Dieses Bewußtsein für die Differenzierungen innerhalb der jüdischen Tradition mag ein Grund für das wachsende Interesse an der eigenen Tradition gewesen sein, das sich in der frühen Neuzeit bei einer Reihe von italienischen Juden feststellen läßt. In zeitgenössischen Dokumenten lassen sich Fälle von anthropologischen Analysen – wobei „anthropologisch“ avant la lettre zu verstehen ist – finden, in denen Menschen aus ihrer eigenen Umgebung heraustraten und sich mit den Traditionen anderer jüdischer Gruppen und schließlich auch mit den eigenen kulturellen und religiösen Traditionen auseinandersetzten. Einblick in einen solchen Vorgang bieten die Ende des 15./Anfang des 16. Jhs. entstandenen Schriften des Rabbiners Obadja di Bertinoro, in denen er die Bräuche süditalienischer Juden, denen er auf seiner Reise nach Palästina begegnete, kommentierte. Er traf auf Familientraditionen, die ihn zugleich schockierten und erstaunten und die ihn dazu veranlaßten, sie in seiner Eigenschaft als fremder Reisender zu rechtfertigen. Mündliche und schriftliche Tradition Daß die Analyse mündlicher Überlieferungen für das Verständnis der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kultur von großer Bedeutung ist, ist unbestritten. Dies gilt auch für die italienisch-jüdischen Gemeinden. Obwohl, vor allem in den Städten, für einen Teil der Bevölkerung das Schreiben für ihre geschäftlichen Aktivitäten von Bedeutung war, spielten doch auch für sie Verhandlungen von Angesicht zu Angesicht, Vereinbarungen auf der Basis gemeinsamer Bekanntschaften und ein gutes Gedächtnis eine große Rolle. Die Anthropologie konnte die notwendigen Hilfsmittel für eine vergleichende Studie liefern, die in diesem Fall so wesentlich war. Die mündliche Überlieferung ist im Falle jüdischer Gemeinden in Italien um so bedeutender, als der größere Teil der religiösen Traditionen des jüdischen Lebens in Süditalien und Sizilien, vor allem liturgische und familiäre Bräuche, mündlich überliefert wurden. Dies mag erklären, warum diese Traditionen im 15. und frühen 16. Jh., als die im Mezzogiorno lebenden Juden gezwungen wurden, in nördlichere Gebiete auszuwandern, verlorengingen. Mündliche Überlieferungen sind ihrer Natur nach unbeständiger als schriftliche, und so waren es auch hier, bei dem Aufeinandertreffen der mündlichen Überlieferungen und der von den aschkenasischen und den 1492 aus Spanien vertriebenen sefardischen Juden repräsentierten schriftlichen Traditionen, die mündlichen, die weichen mußten. Der Existenz solcher mündlicher Überlieferungen muß Rechnung getragen werden, wenn es

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darum geht, schriftliche Dokumente zu lesen und für die Analyse einer Kultur auszuwerten, um so mehr, als die starke Beschäftigung mit schriftlichen Überlieferungen dazu verführt, die mündlichen Aspekte einer Kultur zu übersehen oder sie gar zu leugnen. Rituelle Handlungen Die Analyse von rituellen Handlungen stellt einen der wichtigsten Schlüssel für das Verständnis der jüdischen Mentalität im Italien der Frühen Neuzeit dar. Wie wurden die verschiedenen Lebensphasen empfunden und wie spiegelte sich dies in der Gestaltung der entscheidenden Momente im Leben wider? In welcher Beziehung stand die soziale und politische Ordnung zum Privatleben? Wie wurden Tod und Todesfurcht in allgemein bekannten kulturellen Normen, die sich in einer Vielzahl von Beerdigungs- und Trauerriten ausdrücken, kanalisiert? Die Analyse von Riten ist unabdingbar, um Einblicke in diese Zusammenhänge zu erhalten, die in stark formalisierten Dokumenten wie rabbinischen Responsen zu halachischen Fragen oder Gerichtsprotokollen kaum erwähnt werden. Die Analyse von rituellen Handlungen ist im italienisch-jüdischen Kontext von besonderer Bedeutung, da hier die Sensibilität für Riten als spezielles kulturelles Phänomen besonders ausgeprägt war: Die Juden in Italien nahmen nicht nur, wie es in jeder menschlichen Gemeinschaft geschieht, an Riten teil, sondern sie waren sich außerdem bewußt, daß bestimmte rituelle Handlungen sich von anderen unterschieden und so die soziale und auch die persönliche Realität zu verändern vermochten. Dieselben Personen, die die Riten praktizierten, kommentierten sie auch. Dieses Verhalten gleicht dem anthropologischen Zugang, der rituelle Aktivitäten dokumentiert und sich zugleich um eine Analyse derselben bemüht. Ein gutes Beispiel hierfür stellt ein langes und detailliertes Responsum des Rabbiners Mose Provençalo aus dem späten 16. Jh. dar, das die lokalen Hochzeitsbräuche kommentiert. Provençalo war nach einer Bewertung des juristischen Status einer Zeremonie gefragt worden, die die Heiratsvermittlung formalisierte. Anstatt, wie in Responsen üblich, die Debatte auf eine formelle Halacha-Diskussion hin zu lenken, beschrieb er, wie die Szene von den Teilnehmern verstanden und manipuliert wurde. Provençalos eigene Interpretation der Zeremonie war stark von seiner Auffassung bestimmt, daß es sich hierbei um eine rituelle Szene handelte. Diese sehr modern anmutende Interpretation erweiterte das Gebiet des Rituellen, indem sie darunter nicht nur die von dem jüdischen Religionsgesetz vorgeschriebenen religiösen Praktiken (in der religiösen Terminologie „Mizwot“) verstand, sondern auch weitere ritualisierte Verhaltenskomponenten mit einbezieht. Das Verhältnis von Juden und Christen Auch für die Erforschung des Verhältnisses von Juden und Christen in Italien konnte der anthropologische Zugang neue Perspektiven eröffnen. In diesem Zusammenhang ist die Abkehr von der Betonung des theologischen Zwiespalts und der religiösen Polemik und die Einführung der Begriffsopposition „Mehrheitsgesellschaft“ (Christen) versus „Minderheitsgesellschaft“ (Juden) als analytischer Kategorie von Bedeutung. Hierdurch wird das Bild um mehrere Ebenen menschlicher Beziehungen bereichert, und es treten zahlreiche wider-

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streitende Elemente zutage. Neben den religiösen Spannungen und drohenden Stereotypen können so Ähnlichkeiten in den Bereichen des täglichen Lebens (z. B. Kleidung, Nahrung, Erziehung, Freundschaft), der gesellschaftlichen Institutionen (z. B. Lehrpläne) und der kulturellen Themen entdeckt werden. Das Ghetto kann als interessante Fallstudie dienen. Es ist ein klassisches Beispiel des Ausschlusses der Juden aus dem gemeinsamen Leben. Gleichzeitig ist es aber auch möglich, es als städtischen Raum mit seiner eigenen Vielfalt an menschlichen Beziehungen zu untersuchen und es dabei nicht notwendigerweise als ein Zeichen „jüdischer Schwäche“ zu werten. Männer und Frauen In jeder Gesellschaft gibt es immer eine größere Gruppe, deren Stimme kaum gehört wird, die wenig Allgemeinbildung besitzt und nur über geringere Kenntnisse der religiösen und kulturellen Tradition verfügt. Infolgedessen ist der Zugang dieser Gruppe zu den Machtzentren, in denen bedeutende Ereignisse des Gemeindelebens stattfinden und schriftliche Dokumente entstehen, stark eingeschränkt. Dies gilt insbesondere für Frauen, deren kulturelle Traditionen fast ausschließlich mündlich überliefert sind und die daher in den obigen Ausführungen zu mündlichen Traditionen eingeschlossen sind. Da es sich jedoch bei dieser Gruppe um die Hälfte der Bevölkerung handelt, sei sie hier noch einmal gesondert gewähnt. Wie im christlichen so ist auch im jüdischen Bereich die Mehrzahl der Dokumente, die das Leben von Frauen beschreiben, von Männern verfaßt worden. Innerhalb der jüdischen Gemeinden verliefen jedoch starke Trennungslinien zwischen dem Bereich der Männer und dem der Frauen. Es gab einige Orte und Aufgaben, die den Frauen vorbehalten waren und zu denen Männer keinerlei Zugang hatten. Frauen hatten ihren eigenen Lebensrhythmus, ihre eigene Sozialisierung und ihren eigenen Bildungsweg. Die kulturellen Werte dieser weiblichen Welt leiteten ihre Gültigkeit und ihre Legitimität nicht unbedingt von konventionellen jüdischen Quellen ab, die männlicher Prägung waren. Um die weibliche „Subkultur“ – das Wort ist hier im strikt soziologischen Sinn zu verstehen – zu rekonstruieren, ist es daher notwendig, die im wesentlichen mündlichen Traditionen, von denen diese bestimmt war, zu analysieren: Familientraditionen, magische Praktiken, soziale Verhaltensweisen, in die wir allerdings nur gelegentlich Einblick haben. Die mediterrane Kultur Wenn zu Beginn dieses Abschnitts die Frage nach einer kollektiven italienisch-jüdischen Identität gestellt wurde, so fragen wir uns nun nach dem weiteren Umfeld, aus dem sie ihre kulturellen Modelle bezog. Italien war zweifellos der wichtigste geographische Bezugsrahmen für die jüdischen Gemeinden in den einzelnen Staaten auf italienischem Boden, aber neuere anthropologische Forschungen betonen daneben auch Einordnung in einen Kulturraum, der das gesamte Mittelmeer umfaßt. Die Diskussion um diese „mediterrane Kultur“ hält noch an, aber es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß sich die Mittelmeervölker trotz tiefgehender kultureller, religiöser, ethnischer und historischer Unterschiede in eini-

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gen grundlegenden Charakteristiken sehr nahe stehen und einander daher Verständnis entgegenbringen können. Eine klassische Fallstudie betrifft das Thema der „Ehre“, insbesondere der männlichen Ehre, der Familienehre sowie des regionalen Stolzes. In italienisch-jüdischen Gemeinden ist der Kampf um die persönliche Ehre („onore“) und die Angst, in den Zustand der Schande („vergogna“) zu fallen, eines der Hauptregulative für das Gemeinde- und Familienleben gewesen. Ein Tagebuch, das im 17.Jh. im Ghetto von Venedig geschrieben wurde, erzählt sehr detailliert, wie jede Bewegung und jede öffentliche Handlung tiefe Auswirkungen auf die Ehre haben konnte. Die Ehre zu verlieren, bedeutete soziale Ausgrenzung. Erwägungen, die die männliche Ehre betrafen, wetteiferten mit den halachischen Vorschriften um die Vorherrschaft bei der Reglementierung des Familienlebens und sogar des Sexualverhaltens. Magie Ein wichtiger Aspekt in dem Ringen um Kultur waren der französischen Historiographie zufolge „populäre“ Glaubensinhalte, Ängste und Vorstellungen, ohne deren Kenntnis sich historische Erscheinungen kaum wirklichkeitsnah nachvollziehen lassen. Der Stellung der Magie in der mittelalterlichen jüdischen Kultur ist jedoch bisher keine angemessene Aufmerksamkeit zuteil geworden. Unter „Magie“ ist in diesem Zusammenhang nicht ein Wissensgebiet zu verstehen, wie es in der Buch- und Gelehrtentradition zu finden ist, sondern Praktiken, die von einem Großteil der Bevölkerung angewandt wurden, um sich vor Gefahren und dämonischen Einflüssen zu schützen. Wie weit verbreitet der magische Glaube in den italienischen Gemeinden war, ist der Autobiographie des Rabbiners Jehuda Arje Modena zu entnehmen. Obwohl dieser sich offen gegen die Anwendung von Magie ausgesprochen hatte und sich insbesondere gegen magische Praktiken von nichtjüdischen Frauen wandte, ist sein gesamtes Tagebuch durchsetzt mit magischem Glauben. Die Wechselfälle seines Lebens werden auf kosmische Einflüsse, insbesondere der astral-magischen Mächte, und nicht auf menschliches Handeln zurückgeführt. Ein anderes paramagisches Phänomen ist die Zunahme an Fällen von „Besessenheit“ und an Exorzismen in den italienisch-jüdischen Gemeinden des 17. Jhs. Besessenheit wurde neu definiert als ein Ereignis, bei dem kollektive Botschaften und eine kulturelle Bedeutung übermittelt wurden. Es ist keineswegs ein Zufall, daß die meisten „Besessenen“ Frauen und die Exorzisten Männer waren. Die anthropologische Forschung konnte einen wesentlichen Beitrag zur Analyse dieses Phänomens leisten. Es scheint, daß solche Häufungen von Fällen von „Besessenheit“ vor allem in Zeiten sozialer Angst und eines Mangels an Sicherheit sowie in Zeiten historischen Wandels auftreten. Alltagsgeschichte Die Dokumentierung des täglichen Lebens („Alltagsgeschichte“) ist inspiriert durch die Tradition der europäischen Ethnographie. Der Versuch, die materielle Umgebung zu rekonstruieren, in der die jüdische Gemeinde in Italien lebte, ist von wesentlicher Bedeutung. Ohne notwendigerweise marxistische Ideen zu bemühen, kann festgestellt werden, daß Le-

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bensbedingungen, Ernährungsgewohnheiten, Kleidungstraditionen und die Beziehung zur Umwelt eine tiefe Bedeutung für das jüdische Leben hatten. Sie trugen zur Entstehung einer kulturellen Identität bei, die sich deutlich von der des nichtjüdischen Milieus abhob. Die materiellen Lebensbedingungen in den Ghettos im 17. Jh. sollten mit anderen Vierteln des urbanen Raums verglichen werden. Dies würde unsere Kenntnis von der Organisation gemeinsamen Lebens erweitern und uns Aufschluß über die führenden sozialen Institutionen und die treibenden Kräfte geben. Gleichzeitig würde ein solcher Vergleich das Ausmaß der Anpassung der Juden an und ihrer Abtrennung von der übrigen städtischen Lebenswelt erkennbar machen. Beispiel einer anthropologischen Analyse: Hochzeitsrituale Die großen Momente des Lebens bieten einen tiefen Einblick in das jüdische Leben: Sie heben die sozialen Regeln zugleich auf und stellen sie vor, da sie Mitgliedern der Gemeinde neue und umfassendere soziale Rollen übertragen. Solche Momente sind die Geburt eines Menschen, seine Aufnahme in die Gemeinde, sein Heranwachsen, eine neue Arbeit, Heirat, sein Ausscheiden aus der Gemeinde und sein Tod. Eine Fallstudie mag den Beitrag der Anthropologie zur Erhellung der sozialen und kulturellen Geschichte des italienischen Judentums der Renaissancezeit verdeutlichen: das Hochzeitsritual. Ausgangspunkt der Betrachtung ist die erstaunliche Fülle von Dokumenten, die die verschiedenen Phasen dieses Rituals beschreiben. Es gibt kaum ein anderes Ereignis des Privatlebens in den italienischen Gemeinden, das zur Entstehung so vieler Dokumente verschiedener literarischer Gattungen geführt hat. Was war es, das die Hochzeit zu einem so bedeutenden Ereignis machte? Es scheint, daß die Gründung einer neuen Familie das Interesse der Gemeinschaft weckte und ein zu bedeutendes Ereignis war, als daß es allein den beteiligten Personen und ihren Familien vorbehalten bleiben konnte. So bezog das Hochzeitsritual verschiedene soziale Kreise mit ein, es dauerte lange, verlangte eine beträchtliche finanzielle und kulturelle Anstrengung und stellte zentrale Themen vor, die für den reibungslosen Ablauf des Lebens des neuen Paares notwendig waren. Die verschiedenen Phasen des Rituals hoben Bereiche des täglichen Lebens hervor, die normalerweise kaum dokumentiert sind, wie etwa die Verwaltung von Besitz, Ehre, Familienstruktur, Sexualität und den Umgang mit dem Körper. Die grundsätzliche Frage, die sich hierbei aus anthropologischer Sicht stellt, ist die, auf welche Weise ein Ritual aus zwei freien, ungebundenen Menschen ein verheiratetes Paar macht, mit allen rechtlichen und sozialen Folgen. In diesem Zusammenhang sind u. a. folgende Einzelfragen zu beantworten: Wann beginnt das Ritual und wann endet es? Wer sind die Hauptakteure, wer die sekundären Akteure? Gibt es einen entscheidenden Moment während der Hochzeit? Diese Fragen machen deutlich, daß die Hochzeit nicht allein das ist, was sich den halachischen Vorschriften entnehmen läßt. Die vom Religionsgesetz vorgeschriebenen Zeremonien Chuppa und Kidduschin sind zwar das Rückgrat des Rituals, gleichzeitig jedoch nur zwei Komponenten unter vielen. Dieser Befund verweist auf die Frage, welche Rolle die Halacha in der sozialen Realität

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spielte, in der zwischen dem schriftlich tradierten heiligen Gesetz und dem „gewöhnlichen Volk“, das nach diesem Gesetz leben sollte, zahlreiche kulturelle Vermittlungsinstanzen standen. Hier kann die Anthropologie zahlreiche Verständnishilfen anbieten, indem sie auf andere Gesellschaften verweist, in denen mündliche Überlieferungen von zentraler Bedeutung sind und in denen als „ewig“ bezeichnete Traditionen („so sprach Gott“, „so geschieht es von Anfang an“) in spezifischen Kontexten immer wieder auftreten. Angesichts dieser Überlegungen erscheint es im ganzen besser zu sein, nicht von einer einzigen, festgelegten Form des Hochzeitsrituals zu sprechen, sondern einen Spielraum anzunehmen, innerhalb dessen es verschiedene Möglichkeiten für die Gestaltung von Hochzeitsritualen gab. Im Zusammenhang mit der Interpretation dieser Rituale muß die zentrale Bedeutung von Macht und Einfluß näher beleuchtet werden. Das zentrale Moment ist die ständige Präsenz der ganzen Gemeinde. Diese nimmt zunächst passiv Anteil: Die Gemeindemitglieder, die Nachbarn und in der Synagoge Betenden kennen sich im Familienleben im allgemeinen und in den Hochzeitsvorbereitungen im besonderen aus und bringen diese Kompetenz durch ihre bloße Anwesenheit in die Zeremonie ein. Diese passive Anteilnahme kann jedoch auch durch eine aktive Einflußnahme, z. B. den Versuch, den jungen Leuten normative Regeln aufzuerlegen, ergänzt werden. Wir können an Hochzeitsritualen einige soziale Mechanismen beobachten, die typisch für vormoderne Gesellschaften sind, in denen offizielle Gerichtshöfe nur die letzte und am wenigsten geschätzte Möglichkeit darstellen, um Spannungen innerhalb der Gemeinde zu beseitigen. Üblicher ist es vielmehr, soziale Abhängigkeiten, wie etwa die zwischen Geschäftsinhabern und Kunden, oder auch persönliche Beziehungen in Anspruch zu nehmen, um zu Kompromissen zu gelangen. Eine der sozialen Institutionen, die im Zusammenhang mit Hochzeitsritualen eine große Rolle spielen, ist der Begriff der Ehre. Die Reaktion der Gemeinde auf die Geschehnisse und die damit verbundenen Auswirkungen auf die familiäre und persönliche Ehre wird während der gesamten Zeremonie keinen Moment aus den Augen verloren. Die Gemeinde verkörpert jedoch nicht nur die Tradition und das Religionsgesetz, sondern sie stellt auch eine – im Weberschen Sinne verstandene – Legitimationsquelle für die Hochzeit dar. Sobald sie das Paar akzeptiert hat, sei es in expliziter oder impliziter Weise, wird dieses bereits als verheiratet angesehen. Hier geraten die juristische und die anthropologisch orientierte Definition einer Hochzeit in Konflikt: Nach ersterer stellt die Hochzeit ein punktuelles Ereignis dar, und es läßt sich eindeutig sagen, ob ein Mann und eine Frau verheiratet sind oder nicht. Nach letzterer hingegen vollzieht sich die Hochzeit in einem längeren Prozeß mit vielen Phasen, die die Gewinnung der Zustimmung der Gemeinde einschließen. Wenn es dann genügend Anzeichen dafür gibt, daß beide Seiten ihre Heiratsabsicht bestätigen, kann die Zeremonie vollzogen werden. Ein zentrales Anzeichen für die Heiratsabsicht ist der gegenseitige Besitztransfer. Die reichhaltige Literatur zu diesem Thema zeigt, welch eine bedeutende Rolle der Besitz und der symbolische Besitztransfer Form von Schenkungen und Geschenken beim Zustandekommen einer Ehe spielten. In den italienisch-jüdischen Gemeinden der Frühen Neuzeit

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wurde jede wichtige Phase von dem Austeilen von Geschenken an die Öffentlichkeit begleitet, und es bestand der Brauch, vor der Hochzeit mehrere Geschenke auszutauschen. Angesichts der Besitzterminologie, mit der der Talmud die Hochzeit beschreibt – der Ehemann „kauft“ seine Frau –, war dies unter halachischen Gesichtspunkten höchst problematisch und wurde in rabbinischen Responsen mehrfach scharf verurteilt, allerdings erfolglos. Fruchtbar ist schließlich auch ein Vergleich von jüdischen und nichtjüdischen Hochzeitsritualen. In einer städtischen Gesellschaft, in der Menschen mit verschiedenem sozialem, ökonomischem und religiösem Hintergrund dicht zusammenleben und ständig miteinander in Kontakt stehen, wird die Art und Weise, in der der Nachbar seine Hochzeit feiert, genau wahrgenommen. So läßt sich an den Hochzeitsritualen die gegenseitige kulturelle Beeinflussung von Christentum und Judentum, die sich im täglichen Leben vollzog, untersuchen. Einige der wesentlichen kulturell geprägten Vorstellungen vom Hochzeitsritual sind in beiden Gruppen gleich, wenn sie auch nicht mit den jüdischen Familientraditionen außerhalb Italiens harmonieren. Der freie Wille wird als das konstitutive Element der Hochzeit betrachtet – in der kanonischen Terminologie: „Consensus facit matrimonium“. Eine weitere Gemeinsamkeit ist der Brauch, das Hochzeitsritual hauptsächlich im Privatbereich der Familie, außerhalb der Synagoge und ohne die Beteiligung eines Rabbiners abzuhalten. Abschließend sei auf die Vielfalt und den Reichtum der in den italienischen Archiven vorhandenen Quellen zur Geschichte des Judentums, vor allem des 16. und 17. Jhs., verwiesen. Sie ermöglichen es der heutigen Forschung, auch den privaten Lebensbereichen sehr nahe zu kommen und damit sichtbar zu machen, wie die Menschen ihre damalige Gegenwart erlebt haben. Eine derartige historische Untersuchung kommt einer anthropologischen Studie sehr nahe. In dieser Perspektive gewinnt die Geschichte der italienischen Juden an „Normalität“, verstanden im Sinne einer allen Menschen gemeinsamen hautnahen Erfahrung des Alltagslebens. Diese Perspektive soll jedoch nie die Einzigartigkeit jüdischen Lebens und jüdischer Kultur im Vergleich zu anderen jüdischen Diaspora-Existenzen oder zu den christlichen Gesellschaften aus den Augen verlieren. (Roni Weinstein) (Übers. von Judith Goertz)

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Westeuropa und Nordeuropa

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Esther Benbassa

Frankreich Von den Anfängen bis zu den Vertreibungen Die ersten Juden, die sich in Gallien niederließen, waren römische Bürger oder standen zumindest unter dem Schutz Roms. Schriftliche Quellen belegen die Existenz von Juden in dieser Region seit dem 4. Jh. Die Ansiedlung der Juden entlang einer Achse, die sich vom Rhônetal über das Saônetal bis zum Rhein erstreckt, vollzog sich entlang dem Weg der römischen Legionen, denen die Juden, die nach besseren Lebensbedingungen und günstigeren wirtschaftlichen Möglichkeiten strebten, als Soldaten, Lieferanten oder Händler folgten. Von den Galliern wurden die Juden als Römer betrachtet, und in der Tat besaßen sie bestimmte Rechte und Privilegien, die sich aus ihrer römischen Staatsbürgerschaft, die Caracalla ihnen 212 durch die constitutio Antoniniana gewährt hatte, ergaben. Im ganzen gestalteten sich die Beziehungen zwischen den Juden und ihrem gesellschaftlichen Umfeld zu dieser Zeit relativ harmonisch. Im 5. Jh. eroberte ein germanischer Stamm, die Franken, Gallien. Unter ihrer Herrschaft gab es keine scharfe Abgrenzung zwischen den Juden und den übrigen Bevölkerungsgruppen, die erst seit kurzer Zeit einem dogmatisch noch wenig gefestigten Christentum anhingen. Unter dem zunehmenden Druck der Kirche verschlechterte sich die Stellung der Juden im Frankenreich zwar, doch auch wenn sie nun stärker bedroht waren, war ihre Situation dennoch deutlich besser als die der Juden im westgotischen Spanien. Zu den ersten karolingischen Königen pflegten die Juden gute Beziehungen. Aufgrund ihrer Mehrsprachigkeit und ihrer weitreichenden Beziehungen zu den jüdischen Gemeinden der Diaspora waren sie in der Lage, die für das junge Reich unentbehrlichen Außenbeziehungen zu gewährleisten. Darüber hinaus erfüllten sie als Kaufleute, die im Fernhandel tätig waren, auch eine wichtige wirtschaftliche Funktion. Der Nutzen, den die karolingischen Herrscher aus ihnen zogen, erklärt die bevorzugte Behandlung, die sie genossen. Wie zur Zeit der Merowinger profitierten sie weiter vom römischen Recht. Sie wurden nicht als „Fremde“ betrachtet, sondern mit gewissen Einschränkungen als „Freie“. Trotz einiger Zwangstaufen und Vertreibungen war die fränkische Zeit für die Juden im großen und ganzen eine Zeit der Ruhe und Sicherheit. Die 843 beginnende Auflösung des karolingischen Reiches führte in weniger als einem Jahrhundert zur Entstehung eines Feudalsystems in Nordfrankreich, in Flandern und in den westlichen Provinzen. Dieses war gekennzeichnet durch den Niedergang der Zentralmacht und den Aufstieg bedeutender territorialer Fürstentümer, deren Herrscher – Marquis, Grafen und Herzöge – sich weigerten, sich dem König zu unterwerfen. Einige Provinzen spalteten sich sogar ganz ab. Die ersten Kapetingerkönige waren schwach und besaßen

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nur wenige Ländereien, die sich aus ihren persönlichen Gütern (Paris, Etampes, Orléans und Melun) und karolingischem Erbgut in den Aisne- und Oise-Tälern (Compiègne und Reims) zusammensetzten. Sie waren daher gegenüber den großen Lehnsherren fast machtlos. Angesichts dieser politischen Rahmenbedingungen wurde die Geschichte der Juden stark von der Situation in den jeweiligen Regionen und Lehnsherrschaften bestimmt. Die Juden waren nun Untertanen ihrer Herren, ohne daß dies Leibeigenschaft bedeutete. Die lokalen Herrscher, gleichgültig, ob es sich um Kleriker oder Laien handelte, waren in erster Linie an den Einkünften interessiert, die die Juden ihnen bringen konnten. Die Juden waren weit zerstreut. Unter den günstigen Bedingungen des 11. und 12. Jhs. erlebten die jüdischen Gemeinden nördlich der Loire einen kulturellen und geistigen Aufschwung. Dies gilt insbesondere für die Champagne, eine Region, die nicht unmittelbar unter königlicher Herrschaft stand. Dies ist ein Beleg dafür, daß die Lebens- und Arbeitsbedingungen unter der Lehnsherrschaft für die Entwicklung der jüdischen Gemeinden günstig waren. In dem recht kleinen Gebiet, das unmittelbar unter der Herrschaft des Königs stand, gestaltete sich die Situation der Juden weniger günstig. 1182 verfügte Philipp II. August eine Ausweisung aller Juden, um so Zugriff auf ihr gesamtes Vermögen zu erhalten und dadurch die Staatsfinanzen zu sanieren und die Unterstützung des Volkes zu gewinnen. 1198 gestattete er ihnen aus wirtschaftlichen Gründen die Rückkehr. Dies geschah auf dem Weg von Einzelverträgen mit den Lehnsherren, die die vertriebenen Juden aufgenommen hatten: Diese verpflichteten sich, die Rückkehr der Juden zu ermöglichen und diejenigen, die in Zukunft die Krondomäne verließen und sich in ihrem Herrschaftsbereich ansiedelten, dem König auszuliefern. In der Folgezeit bekräftigte Ludwig der Heilige die wachsende Autorität des Königtums gegenüber den immer schwächer werdenden Lehnsherren durch eine Gesetzgebung, die für die Juden des gesamten Königreiches galt. Hier läßt sich das Bemühen erkennen, die Juden, die finanziellen Gewinn versprachen und nach Belieben mit Sonderabgaben belegt werden konnten, zu „Juden des Königs“ zu machen. Mit diesem Bemühen setzte Ludwig der Heilige sich schließlich durch. 1234 erließ er seinen Untertanen ein Drittel der bei Juden gemachten Schulden, und 1254 verhängte er ein generelles Verbot der Zinsnahme bei Darlehensgeschäften. Diese Regelung, die zahlreichen Juden den Lebensunterhalt entzog, wurde allerdings in der Folgezeit aus wirtschaftlichen Gründen nicht allzu streng durchgesetzt und auch in der Krondomäne häufig umgangen. Darüber hinaus zielte Ludwig durch eine ganze Reihe von gesetzlichen Regelungen auf eine soziale Ausgrenzung der Juden ab. So folgte er 1269 dem Beschluß des IV. Laterankonzils (1215), daß alle Juden ein Kennzeichen zu tragen hätten, und verordnete die Kennzeichnungspflicht für alle Juden in seinem Herrschaftsbereich. Trotz solcher Maßnahmen war die Ausgrenzung der Juden aus der christlichen Gesellschaft doch niemals eine vollständige. Gleichzeitig versuchte Ludwig der Heilige, das religiöse Leben der Juden einzuschränken. So setzte der seinen christlichen Überzeugungen treue König unter Rückgriff auf die Staatskasse eine gewaltige Bekehrungskampagne ins Werk, der sich die inzwischen verarmte jüdi-

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sche Gemeinde nur schwer entziehen konnte. Auf Veranlassung Papst Gregors IX. hin ließ Ludwig außerdem in einer als Schauprozeß gedachten Disputation, die 1240 begann, den Talmud als das Christentum beleidigende Schrift verurteilen. Am 6. Juni 1242 (oder 1244) wurden vierundzwanzig Fuhren talmudischer Manuskripte auf dem Grève-Platz verbrannt. Die Talmudverbrennung hatte weitreichende Folgen: Innerhalb weniger Jahre wurde die jüdische Gelehrsamkeit in Frankreich fast vollständig vernichtet, und auf christlicher Seite wurden die negativen Vorurteile gegenüber jüdischem Wissen und jüdischer Gelehrsamkeit noch verstärkt. Gegen Ende des 13. Jhs. war die Situation für die französischen Juden fast ausweglos geworden: Das Verbot des Darlehens- und Pfandgeschäfts nahm ihnen die wirtschaftliche Basis, und unter Philipp IV. dem Schönen (1285–1314) nahm auch die ausbeuterische Fiskalpolitik immer rücksichtslosere Formen an. Durch die Talmudverbrennungen war das jüdische religiöse Leben stark behindert und eingeschränkt worden, und auf christlicher Seite hatte vor allem die Agitation der Dominikaner zu einer starken Stigmatisierung und Dämonisierung der Juden geführt. 1306 verfügte Philipp IV. die Ausweisung der Juden, von denen er keine großen Steuereinkünfte mehr zu erwarten hatte, und beschlagnahmte ihr Vermögen. Diese Vertreibung war im Europa dieser Zeit kein Einzelfall, wie sich an der Ausweisung der Juden aus England im Jahr 1290 ablesen läßt. Da das französische Königreich seit dem Ende des 12. Jhs. deutlich angewachsen war, betraf die Ausweisung von 1306 eine erheblich größere Anzahl von Juden als die von 1182 – fast 50 000 Personen. Der Nachfolger Philipps des Schönen, Ludwig X. der Zänker (1314–1316), eröffnet ihnen, wie sein Ahn Philipp II. August, im Jahre 1315 die Möglichkeit der Rückkehr. Diese wurde jedoch nun erstmals nur vorläufig gestattet, und das Aufenthaltsrecht wurde auf zwölf Jahre befristet. Gleichzeitig verschärften sich die Gegensätze zwischen Juden und Christen, die bislang vor allem religiöser Natur gewesen waren, nun auch auf nichtreligiösem Gebiet. Die Ursache hierfür war die Spezialisierung der Juden – vor allem derjenigen in Nordfrankreich – auf den Geldverleih gegen Zinsen zu einer Zeit, in der das Verbot der Zinsnahme unter der christlichen Bevölkerung immer konsequenter durchgesetzt wurde. Diese Entwicklung führte dazu, daß die jüdischen Gemeinden, vor allem in Zeiten von Hungersnöten und wirtschaftlichen Krisen, zur Zielscheibe der Angriffe derjenigen gesellschaftlichen Gruppen wurden, aus denen ihre Kundschaft bestand, und so mehr und mehr dem Haß der christlichen Bevölkerung ausgesetzt waren. Von der Kirche herabgesetzt und ausgegrenzt, erwiesen sich die jüdischen Gemeinden als verwundbar. Trotzdem brachen die Beziehungen zwischen Christen und Juden nicht vollständig ab, sondern sie bestanden weiter, vor allem auf der Ebene des beruflichen Lebens. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß auch zu dieser Zeit in den überwiegend von Juden bewohnten Vierteln, den „juiveries“, immer noch Christen angesiedelt waren. Aufgrund einer durch mehrere Mißernten verursachten Hungersnot zogen nordfranzösische Bauern 1320 in großer Zahl nach Süden, in der Hoffnung, dort bessere Lebensbedingungen vorzufinden. Diesem „Zug der Pastorellen“ schlossen sich bald weitere Massen an,

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darunter auch zahlreiche Dominikanermönche. In der entstehenden Kreuzzugsstimmung kam es zu zahlreichen blutigen Ausschreitungen gegen Juden. In diesem Zusammenhang tauchte, zunächst in Südfrankreich, später auch in der Tourain und im Berry, erstmals das Gerücht auf, die Juden hätten die Brunnen vergiftet, um auf diese Weise alle Christen zu ermorden. Die vermeintlichen Brunnenvergifter wurden festgenommen, vor Gericht gestellt, verurteilt und hingerichtet. Ihre Güter wurden beschlagnahmt. König Philipp V. (1317– 1322) zog Nutzen aus den Ausschreitungen und erlegte den Juden zusätzlich eine schwere Geldstrafe auf. Er erließ sogar einen neuen Ausweisungsbefehl, der jedoch zunächst offenbar nicht in die Tat umgesetzt wurde. Die Unsicherheit der Lage schuf für die Juden so ungünstige Lebensbedingungen, daß es bis 1359 keine Spur einer organisierten jüdischen Gemeinde mehr gibt. Während der großen Epidemie von 1348/49, die unter dem Namen „Große Pest“ oder „Schwarzer Tod“ bekannt geworden ist, wurden in zahlreichen französischen Ortschaften erneut die Juden beschuldigt, die Brunnen vergiftet und so die Seuche verbreitet zu haben. Den anschließenden Pogromen und Hinrichtungen fielen in der Provence und in Savoyen ganze Gemeinden zum Opfer. Im Elsaß verbrannte man Juden auf dem Scheiterhaufen. Aus finanziellen Gründen widerrief der Regent Herzog Karl von Normandie, der spätere König Karl V. der Weise (1364–1380), den von Philipp V. erlassenen Ausweisungsbefehl und gestattete den Juden für einen Zeitraum von zwanzig Jahren den Aufenthalt in Frankreich, sofern sie bereit waren, bei ihrer Ansiedlung ein Niederlassungsgeld zu bezahlen. Dieses Angebot bewegte jedoch nur wenige Juden zur Rückkehr nach Frankreich. Anläßlich seiner Inthronisierung im Jahr 1364 verlängerte Karl V. die gesetzte Frist um sechs Jahre, 1374 dann gegen Zahlung einer beträchtlichen Summe Geldes um weitere zehn Jahre. Gleichzeitig gewährte er den Juden eine Reihe von Privilegien, die den Schutz ihres Gemeindelebens sicherstellen sollten. Nach dem Tod Karls V. im Jahr 1380 verlängerte sein Nachfolger Karl VI. (1380–1422) das Aufenthaltsrecht noch einmal bis 1401. Unter dem Druck der judenfeindlichen Bevölkerung in den Städten ordnete er jedoch bereits 1394, vor Ablauf der Frist, die Ausweisung aller Juden aus Frankreich an. Diese Maßnahme traf eine durch die vorhergehenden Ereignisse bereits stark dezimierte jüdische Gemeinde. Nach dem Anschluß der Provence an Frankreich im Jahr 1481 wurde 1498 auch hier die Vertreibung der Juden verfügt. 1500 und 1501 wurde diese Anordnung wiederholt, bis auch die letzten der einst blühenden jüdischen Gemeinden in der Provence zerstört waren. Die mittelalterliche Geschichte der Juden in Frankreich beschränkt sich jedoch nicht auf eine Reihe von Vertreibungen. Von einer einheitlichen Geschichte der Juden in Frankreich kann ohnehin keine Rede sein. Vielmehr handelt es sich um eine je nach Region und Regime variierenden Geschichte. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang der Unterschied zwischen dem Norden und dem Süden, der seit dem 13. Jh. immer deutlicher hervortrat. Die großen Vertreibungen aus dem Königreich im 14. Jh. verstärkten diese regionale Teilung noch. So lassen sich zu dieser Zeit zwei deutlich voneinander abgehobene jüdische Gruppen unterscheiden: die Juden nordfranzösischer Sprache („langue d’oïl“), die

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im Zentrum und im Norden des Knigreiches lebten, und die Juden südfranzösischer Sprache („langue d’oc“), die sich in den unabhängigen Südprovinzen des Königreiches angesiedelt hatten. Im 13. Jh. umfaßte die jüdische Bevölkerung Frankreichs weniger als 50 000 Personen. Obwohl es nach wie vor auch Landgemeinden gab, wurde doch zu dieser Zeit die Tendenz zur Verstädterung immer stärker. Das jüdische Leben war nach den in ganz Europa geltenden Maßstäben organisiert. Während die Juden in der ersten Hälfte des Mittelalters oft noch die gleichen Berufe ausgeübt hatten wie ihre christlichen Nachbarn, waren sie später auf eine begrenzte Anzahl von Aktivitäten beschränkt. Hierzu zählte in erster Linie der Geldverleih gegen Zinsen, der von den französischen Königen, je nach Wirtschaftslage, mehrfach neu reglementiert wurde. Darüber hinaus spielten die Juden auch im medizinischen Bereich eine wichtige Rolle. Insbesondere im Süden und im Südosten gab es zahlreiche jüdische Ärzte. Ihre Talente kamen nicht nur jüdischen, sondern auch christlichen Patienten zugute. Einige von ihnen dienten sogar als offizielle Stadtärzte. Im Süden konnte sich die Vielfalt der beruflichen Aktivitäten von Juden länger halten als im Norden. Gegen Ende des 13. Jhs. übten sie hier immer noch die verschiedensten Tätigkeiten aus. Mehrfache Angriffe auf die Juden, die immer drückender werdenden Steuern, wirtschaftliche Krisen und Epidemien ließen die blühenden Gemeinden des Südens schließlich jedoch genauso verarmen wie die des Nordens. Ebenso wie die wirtschaftliche verlief auch die kulturelle Entwicklung der jüdischen Gemeinden im Norden und im Süden uneinheitlich. Während sich der kulturelle Aufschwung, den das Judentum in Frankreich seit dem 9. Jh. nahm, zunächst überwiegend im Norden vollzog, verlagerte sich das Zentrum der religiösen und wissenschaftlichen Aktivitäten ein Jahrhundert nach Paris und in den Süden.

Die regionale Geschichte der Juden nach den Vertreibungen Avignon und das Comtat Venaissin Die aufeinanderfolgenden Vertreibungen zunächst aus dem Königreich, dann aus den Gebieten, die später unter die Herrschaft der französischen Krone kamen, machte den Juden den Aufenthalt in Frankreich praktisch unmöglich. Im 16. Jh. waren sie in geringer Anzahl nur noch in einigen wenigen Regionen – vor allem im Süden und im Osten – zu finden, in denen, meist aus wirtschaftlichen Gründen, besondere Gesetze und Bedingungen galten. Seit zu Beginn des 16. Jhs. auch die jüdischen Gemeinden der Provence zerstört worden waren, konzentrierte sich die Präsenz von Juden auf französischem Boden auf die päpstlichen Besitzungen Comtat Venaissin, das 1274 endgültig dem Heiligen Stuhl übergeben wurde, und Avignon, das 1348 zum Kirchenstaat kam. Wie es im Süden üblich war, galten die Juden hier als „Bürger“. So verhandelten sie ihre Angelegenheiten vor den christlichen Gerichten und schlossen ihre Verträge bei christlichen Notaren ab. Dies verhindert aller-

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dings die Absonderung der Juden nicht: Nach dem Laterankonzil von 1215 schrieben ihnen die lokalen Herrscher, die päpstliche Vasallen waren, das Tragen eines Abzeichens vor. Engere Beziehungen zwischen Christen und Juden waren spätestens seit dem 12. Jh. verboten. Es gab vorwiegend von Juden bewohnte Straßen, die jedoch noch keine abgeschlossenen Bereiche darstellten. In ihrem beruflichen Leben unterschieden sich die Juden zu dieser Zeit nicht wesentlich von ihren christlichen Nachbarn, obwohl sie im Handel überdurchschnittlich vertreten waren. Im Vergleich zu der Lage der Juden in Nordfrankreich scheinen sich die Beziehungen zwischen Juden und Christen im Comtat Venaissin während des 14. und beginnenden 15. Jhs. im ganzen relativ harmonisch, wenn auch nicht immer ganz gewaltlos, gestaltet zu haben. Erst im weiteren Verlauf des 15. Jhs. löste der wirtschaftliche Niedergang der Markgrafschaft Volksaufstände aus, die sich auch gegen die Juden richteten. Dies führte zu einer fortschreitenden Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen. Die Zahl der Juden in den päpstlichen Besitzungen betrug wahrscheinlich niemals mehr als 2500 oder 3000. In der zweiten Hälfte des 15. Jhs. wurde den in den Städten lebenden Juden jeweils ein bestimmtes Viertel zugewiesen, das mit dem provenzalischen Ausdruck „carriero“ (Straße) bezeichnet wurde. Um die Sicherheit der Juden zu gewährleisten und um eine effektivere Abtrennung der Juden von den Christen zu erreichen, wurden diese Straßen später an beiden Enden durch Tore abgeschlossen – ein Vorgeschmack auf das zukünftige Ghetto. In den Dörfern hingegen lebten die Juden nach wie vor zerstreut unter den Christen. 1624 wurde die Abgrenzung zwischen Christen und Juden verschärft, indem man den Juden nun nur noch in vier Städten den Aufenthalt gestattete: Avignon, Carpentras, Cavaillon und L’Isle-sur-Sorge. Die Viertel, in denen die Angehörigen dieser vier jüdischen Gemeinden (arba kehilot) lebten, wurden auf Französisch als „Les quatre carrières“ oder auf Hebräisch als „messilot“ bezeichnet. Das Bild, das die Juden in den päpstlichen Besitzungen in der zweiten Hälfte des 17. Jhs. boten, entsprach den Wünschen des Herrschers: Es ist das Bild einer armen, heruntergekommenen, ghettoisierten und abseits des gesellschaftlichen Umfeldes lebenden Gruppe. Zu dieser Zeit lebten in Carpentras zwischen 700 und 800 Juden, in Avignon und L’Isle-surSorgue 200 oder 300 Juden und in Cavaillon etwa 100 Juden. Im Verlauf des 18. Jhs. verbesserte sich ihre Lage aufgrund des günstigeren wirtschaftlichen Kontextes. Innerhalb weniger Jahre kamen viele von ihnen zu Reichtum und begannen, die jüdischen Viertel zu verlassen. Um 1788/89 hatten die „carrières“ schon zwischen einem Fünftel und einem Viertel ihrer Einwohner verloren. Diese Tendenz verschärfte sich während der Revolution. Auch außerhalb der päpstlichen Besitzungen lebten im Süden Frankreichs in der frühen Neuzeit noch vereinzelte jüdische Gruppen. Die Aufenthaltsverbote für die Provence hatten die jüdische Präsenz dort nicht vollkommen vernichtet. Gegen Ende des Ancien Régime nahm diese Präsenz, vor allem aufgrund einer Zuwanderung von Juden aus den päpstlichen Besitzungen, zu. In Marseille, Nizza, Arles, Aix und sogar in Lyon bildeten diese Juden, meist Kaufleute und Handwerker, bescheidene Gemeinden, die höchstens einige hundert Seelen umfaßten.

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„Neuchristen“ oder Juden: Spanier und Portugiesen in Frankreich Im Juni 1472 und im Februar 1474 erließ Ludwig XI. zwei Anordnungen, um die Immigration in die verarmte und durch den Hundertjährigen Krieg entvölkerte Stadt Bordeaux zu fördern. Mit Ausnahme der Engländer, die diese Stadt von 1152 bis 1293 und von 1303 bis 1453 besetzt hatten, war es allen Ausländern gestattet, sich in Bordeaux niederzulassen. Sie wurden außerdem von dem für Ausländer geltenden Heimfallrecht befreit, das vorsah, daß ihre Güter nach ihrem Tod an den französischen Staat fielen. Darüber hinaus durften sie ihre Waren frei verkaufen, ohne zuvor eine Einbürgerung beantragen zu müssen. Daraufhin ließen sich spanische und portugiesische Kaufleute, die von der Dynamik des Handelsverkehrs zwischen der Iberischen Halbinsel und Bordeaux profitierten, aus kommerziellen Gründen in der Stadt nieder. Unter ihnen befanden sich auch sogenannte Conversos oder „Neuchristen“, die oder deren Vorfahren in Spanien und Portugal seit dem Ende des 14. Jhs. z. T. unter Zwang, z. T. aber auch mehr oder weniger freiwillig vom Judentum zum Christentum übergetreten waren.1 Auch diese „Neuchristen“ kamen ursprünglich in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen nach Bordeaux. Der Wunsch, zum Judentum zurückzukehren, spielte demgegenüber eine eher untergeordnete Rolle. In den folgenden Jahrhunderten nahm allerdings aufgrund der Verfolgungen, denen die Conversos auf der Iberischen Halbinsel ausgesetzt waren, die Zahl der „Neuchristen“, die sich in Bordeaux und anderen Küstenstädten Südwestfrankreichs ansiedelten und dort im geheimen den jüdischen Glauben praktizierten, beständig zu. Diese Flüchtlinge von der Iberischen Halbinsel wurden in ihren französischen Zielorten lange einfach als „portugiesische Kaufleute“ bezeichnet. Neben Bordeaux war zunächst Saint-Jean-de-Luz der Ort, an dem sich die meisten von ihnen ansiedelten. Im 17.Jh. wurde jedoch Saint-Esprit-lès-Bayonne, ein an der Grenze zu Spanien gelegener Vorort von Bayonne, zum wichtigsten Zielort für „Neuchristen“ von der Iberischen Halbinsel, die sich wieder dem Judentum zuwenden wollten. Auch im Hinterland bildeten sich kleine Ansiedlungen von Conversos, sowohl in Labastide-Clairence und Bidache in den Pyrenäen als auch in Dax und Peyrehorade im Departement Landes. Einige „Neuchristen“ begaben sich auch nach Biarritz, Marseille, Lyon, Nantes, Rouen und in die französischen Kolonien in Übersee, insbesondere nach Martinique. Von Rouen aus etablierte sich schließlich auch eine kleine Gemeinde „portugiesischer Kaufleute“ in Paris. Trotz des Gerüchtes, daß es sich bei den Zuwanderern von der Iberischen Halbinsel zumindest zum Teil um Krypto-Juden handele, erteilte Heinrich II. (1547–1559) den „Kaufleuten und anderen Portugiesen, die Neuchristen genannt werden“, 1550 Privilegien, in denen ihnen Schutz, Bewegungs- und Handelsfreiheit sowie der freie Erwerb von Immobilien garantiert wurde. Der Beweggrund für diese Handlungsweise waren, wie so häufig, wenn um die Tolerierung von Juden ging, wirtschaftliche Nutzerwägungen. Die Wahrnehmung der „Neuchristen“ durch die Herrscher und Behörden zwischen 1550 und der Revolution, wie sie aus Schutzbriefen, Privilegien und anderen offiziellen Doku1

Vgl. hierzu den Artikel zur Iberischen Halbinsel in diesem Band S. 338–341.

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menten hervorgeht, war widersprüchlich. Obwohl diese zunächst nicht als Juden, sondern ausdrücklich als „Neuchristen“ toleriert wurden und zahlreiche Behörden diese Bezeichnung auch noch bis zur Revolution verwendeten, gibt es doch einige offizielle Dokumente, z. B. die Privilegien von 1723 und 1776, in denen diese Personengruppe bereits als „Juden“ bezeichnet wird. Ebenso widersprüchlich wie die Wahrnehmung der portugiesischen Kaufleute durch die Obrigkeiten war der Umgang mit ihnen. Zu Beginn des 17. Jhs. fehlte es, vor allem von seiten der einheimischen Kaufleute, nicht an Initiativen, sie zu vertreiben. Der Stadtrat von Bordeaux widersetzte sich solchen Versuchen jedoch. Um den Schutz der „Neuchristen“ besser zu gewährleisten, gestattete er ihnen sogar, gegen Zahlung eines bestimmten Betrages das Bürgerrecht von Bordeaux zu erwerben. Letztlich befanden sich die „Neuchristen“ in einer privilegierten Position, da man aufgrund der Tatsache, daß sie nach außen hin keine Neigung zum Judentum erkennen ließen, sondern wie gute Katholiken lebten, nach katholischem Ritus heirateten, ihre Kinder taufen und sich selbst christlich beerdigen ließen, kaum gegen sie vorgehen konnte. Im Laufe der Zeit setzte sich jedoch sowohl in der Öffentlichkeit als auch bei den Obrigkeiten das Bewußtsein durch, daß es sich bei den portugiesischen Kaufleuten um Juden handelte. Die bereits genannten Privilegien von 1776 erwähnen die Bezeichnung „Neuchristen“ bereits nicht mehr. So stellen die „Neuchristen“ von der Iberischen Halbinsel nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa ein einmaliges Modell dar: Sie waren Juden, die durch kaum eine Rechtsminderung belastet waren. Sie waren im Besitz fast aller bürgerlichen Rechte, einschließlich des Rechtes, Grundbesitz zu erwerben, sowie der Freiheit, sich ihre Wohnviertel aussuchen zu können und keinerlei Kennzeichen tragen zu müssen. Im 18. Jh. lebten in Bordeaux zwischen 1500 und 2000 Juden, die ursprünglich von der Iberischen Halbinsel stammten. Sie machten ca. 2% der Gesamtbevölkerung aus. In SaintEsprit-lès-Bayonne stellten sie mit 3500 Personen zeitweise sogar die Bevölkerungsmehrheit dar. Bis zur Revolution ging ihre Zahl jedoch auf 2500 zurück. Die Mitglieder der „portugiesischen Nation“, wie sie sich selbst bezeichneten, verfügten zum großen Teil über ein ausreichendes Einkommen. Es gab jedoch auch ein bedeutende Anzahl von Armen, die vor allem mit den letzten Immigrationswellen ins Land gekommen waren. Was das religiöse Leben der „portugiesischen Nation“ angeht, so läßt sich sagen, daß Zeichen einer tiefen Religiosität und Spiritualität kaum festzustellen sind. Die lange Trennung der „Neuchristen“ vom normativen Judentum mag die Tatsache erklären, daß sie und ihre Nachkommen ein mit dem Rationalismus der Aufklärung übereinstimmendes Judentum praktiziert haben, das den Talmud und den Midrasch ablehnte und sich eher auf die Bibel stützte. Vor diesem gesellschaftlichen, politischen und religiösen Hintergrund kann es kaum verwundern, daß die Angehörigen der „portugiesischen Nation“ die ersten Kandidaten für die Emanzipation der Juden in Frankreich waren.

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Das Bistum Metz und das Herzogtum Lothringen In der zweiten Hälfte des 16. Jhs., zur gleichen Zeit, als sich die von der Iberischen Halbinsel geflohenen „Neuchristen“ im Südwesten Frankreichs niederließen, siedelten nach einer Abwesenheit von mehr als drei Jahrhunderten auch in Metz wieder Juden, wobei es sich allerdings um sehr geringe Zahlen handelte. Diese Rückkehr fällt mit dem Abschluß des Vertrages von Chambord zwischen König Heinrich II. und den protestantischen Reichsfürsten im Jahr 1552 zusammen, der dem französischen König gegen die Zahlung von Subsidien zur Finanzierung des protestantischen Bündnisses die Herrschaft über die Bistümer Toul, Verdun und Metz, die allerdings erst 1648 endgültig an Frankreich angeschlossen wurden, garantierte. Nach dem Abschluß des Vertrages wurde in Metz eine Garnison eingerichtet, in der sich ständig zwischen 1000 und 4000 Soldaten aufhielten. Da die Religionskriege die Administration und die Finanzen des Staates in Unordnung brachten, stellten die Versorgung und die Bezahlung dieser Garnison ein ernsthaftes Problem dar. So konnten die Juden hier wieder einmal von Nutzen sein. Anläßlich ihrer jeweiligen Besuche in der Stadt in den Jahren 1603, 1632 und 1657 bestätigen die Könige Heinrich IV., Ludwig XIII. und Ludwig XIV. die Privilegien der Juden von Metz. 1717 gab es hier 480 jüdische Familien, ca. 1900 Menschen, innerhalb einer Gesamtbevölkerung von 26 517 Seelen. Die Zunahme der jüdischen Bevölkerung seit dem 16. Jh., die in diesen Zahlen deutlich wird, ist vor allem auf Zuwanderung zurückzuführen. Eine ähnliche Zuwanderung von Juden läßt sich im Herzogtum Lothringen während dessen Besatzung durch französische Truppen von 1633 bis 1661 und von 1670 bis 1697 beobachten. 1721 wurde eine Liste von 73 Familien veröffentlicht, denen ein offizielles Aufenthaltsrecht im Herzogtum zugestanden wurde. Alle anderen wurden ausgewiesen. 1733 lebten 180 jüdische Familien im Herzogtum Lothringen. Nach dem Anschluß von Lothringen an Frankreich im Jahr 1766 bestätigte Ludwig XV. die Privilegien der Juden des Herzogtums. Ebenso wie überall anderswo in Europa, war den Juden auch in Lothringen die Ausübung bestimmter Berufe verboten. Entsprechend dem Zweck, zu dem man ihre Ansiedlung ursprünglich gestattet hatte, betätigten sich die Juden von Metz insbesondere als Armeelieferanten. Sie versorgten die Garnison mit Pferden und Fleisch und spielten auch im Getreidehandel eine bedeutende Rolle. Darüber hinaus waren sie im Geldhandel tätig. Zu Beginn des 18. Jhs. gewährten sie dem Staat und vor allem der Armee beträchtliche Kredite. Unmittelbar vor der Revolution gab es insgesamt 5000 Juden in Lothringen. Sie lebten in großen Gemeinden wie Metz, Nancy und Thionville sowie in den umliegenden Städtchen. Das Elsaß Während der Pest von 1348/49 wurden zahlreiche elsässische Juden ermordet oder vertrieben. Die großen Gemeinden lösten sich auf, und die jüdische Bevölkerung im Elsaß nahm erheblich ab. Seit dem Ende des 14. Jhs. bildeten sich diese Gemeinden zwar z.T. neu, aber die Vertreibungen aus den Städten im 15. Jh. beendeten wie in weiten Teilen des römisch-deutschen Reiches auch hier die Zeit des urbanen Judentums. Die elsässischen Juden lebten nun über die zahlreichen Lehnsherrschaften verstreut. Ihr Schicksal und ihre Lebens-

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bedingungen hingen vom Belieben des jeweiligen Herrn und der Größe der einzelnen jüdischen Gemeinden ab. Im 16. Jh. lebten meistens nur zwei oder drei jüdische Familien am selben Ort. Die Gesamtzahl der jüdischen Familien im Elsaß betrug zu dieser Zeit maximal zwischen 100 und 115. Gegen Ende des 16. Jhs. ging diese Zahl aufgrund von erneuten Vertreibungen sogar noch einmal zurück. Mit dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) erlebte das Elsaß einen deutlichen Zuwachs der jüdischen Bevölkerung, die erneut von ihrer wirtschaftlichen Nützlichkeit profitierte: Die Juden betätigten sich insbesondere als Armeelieferanten, vor allem für die Kavallerie und die Artillerie, und stellten darüber hinaus für die Obrigkeiten, deren Kassen infolge des Krieges leer waren, eine zusätzliche Einnahmequelle dar. Aus diesem Grund ließ man sie fast ohne jede Einschränkung einwandern. Nach dem Dreißigjährigen Krieg mußte das Reich seine Besitzungen im Elsaß an die französische Krone abtreten. Unter Ludwig XIV. (1643–1715) wurde dann das Elsaß ganz an Frankreich angeschlossen. Das Aufenthaltsrechts der Juden im königlichen Elsaß wurde durch ein Privileg von 1657 und ein Edikt von 1674 offiziell anerkannt. Zu Beginn des 18. Jhs. lebten im Elsaß zwischen 1269 und 1348 jüdische Familien, etwa 6500 bis 6800 Personen. Für die letzten Jahrzehnte des 18. Jhs. läßt sich die Gesamtzahl der elsässischen Juden, legal ebenso wie illegal ansässige, auf 22 500 schätzen. Unmittelbar vor der Revolution waren es etwa 25 000 Personen. Da ihnen die Städte verschlossen waren, lebten sie auf dem Land verstreut. Ghettos oder ghettoartige Wohnbezirke, wie sie anderswo in Europa seit dem 16.Jh. entstanden, gab es hier daher nicht. Die ersten Juden, die sich im Elsaß niederließen, stammten aus dem Bereich des mittelalterlichen Aschkenas. Insofern ist das elsässische Judentum ein Bestandteil des in der Rheinschiene konzentrierten Judentums des deutschen Kulturraums. Durch die Vermischung mit den aus Frankreich vertriebenen Juden, die später hinzukamen, entwickelte sich das elsässische Judentum zu einem sehr spezifischen Gebilde. Spätere Zuwanderer aus dem Rheinland und aus Mitteldeutschland sowie aus Osteuropa hielten die Verbindungen des elsässischen Judentums mit ihren Herkunftsländern aufrecht. Das Landleben übte einen starken Einfluß auf die Kultur der jüdischen Gemeinden dieser Region aus, was besonders an den hier gepflegten Heirats- und Todesritualen deutlich wird. Durch ihre Berufe standen die elsässischen Juden in ununterbrochenem und vergleichsweise engem Kontakt mit ihrer nichtjüdischen Umgebung. So zogen Hausierer und Viehhändler z. B. die ganze Woche hindurch über die Dörfer. Sie kamen erst kurz vor dem Sabbatbeginn nach Hause und brachen unmittelbar nach seinem Ende wieder auf. Auch als Altkleider- oder Schrotthändler sowie als Trödler kamen die Juden in engen Kontakt mit der Landbevölkerung. Geldverleih gegen Zinsen – ein heikles Problem in der Geschichte der Juden dieser Region – wurde mit Blick auf eine bäuerliche Kundschaft praktiziert. Paris Im Vergleich zu den bedeutenden Ansiedlungen von Juden, die nach der Vertreibung aus dem französischen Königreich im Südwesten und im Osten des Landes neu entstanden,

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blieb die Pariser jüdische Gemeinde in der frühen Neuzeit immer sehr klein. Grundsätzlich war Juden der Aufenthalt in der Stadt bis 1789 verboten. Dennoch lebten hier kurz vor der Revolution etwa 500 bis 600 Juden. Angesichts einer Gesamtbevölkerung von 800 000 Seelen, waren sie mit einer so kleinen Zahl allerdings fast unsichtbar. Zählt man die in den oben genannten Regionen lebenden Juden zusammen, so läßt sich sagen, daß trotz des Ausweisungsedikts von 1394, das 1615 von Ludwig XIII. noch einmal bestätigt wurde, unmittelbar vor der Revolution etwa 40000 Juden, die sich in verschiedene „Nationen“ gliederten, auf französischem Boden lebten.

Von der Revolution bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Revolution und Emanzipation Wie nahm der Nichtjude im vorrevolutionären Frankreich den Juden wahr? Diese Wahrnehmung war genausowenig homogen wie die jüdische Bevölkerung selbst, die, wie oben gezeigt, sowohl in sozialer als auch in kultureller Hinsicht starke Unterschiede aufwies. Die christliche Wahrnehmung der jüdischen Bevölkerung hing also stark von der jeweiligen Region, der Anzahl der dort lebenden Juden sowie ihrer gesellschaftlichen Sichtbarkeit ab. Häufig genug basierte sie noch nicht einmal auf tatsächlichen Erfahrungen, sondern auf aus Vorurteilen abgeleiteten Mythen. Der nicht streng religiöse und in sein christliches Umfeld vergleichsweise gut integrierte Jude aus Bordeaux, der sogar eine Galionsfigur des einheimischen Bürgertums sein konnte, der orthodoxe elsässische Jude, der auf dem Land ansässig war, und der in den „carrières“ lebende Jude in den päpstlichen Besitzungen, der auf sein Ghetto beschränkt war – sie alle wurden von ihrer christlichen Umgebung nicht nur unterschiedlich wahrgenommen, sondern auch der Umgang mit ihnen war sehr uneinheitlich. Die Verhaltensformen reichten von Akzeptanz über Gleichgültigkeit und Ignoranz bis zu offener Ablehnung. Auch die jüdischen Gruppierungen selbst beurteilten einander höchst unterschiedlich. Die im Osten lebenden Juden mißbilligen die religiöse „Lauheit“ ihrer Glaubensbrüder aus dem Südwesten. Jene, überzeugt von ihrem eigenen aristokratischen Status, den sie aus der Abstammung von den besten Familien des Stammes Juda herleiteten, hielten umgekehrt ihre eigene Kultur für höher entwickelt und betrachteten die Juden deutscher oder polnischer Herkunft als zurückgeblieben. Diese Verschiedenartigkeit der auf französischem Boden lebenden Juden und die Inhomogenität des Judenbildes, die sich hieraus ergab, spiegelt sich in den seit der Aufklärung von Philosophen und Reformern geführten Debatten über die Frage, in welcher Form die Juden in Staat und Gesellschaft zu integrieren seien. Auch von Regierungsseite wandte man sich dieser Frage zu, nicht weil die Obrigkeiten des immer noch tief im Christentum verwurzelten Staates per se daran interessiert gewesen wären, die diskriminierenden Gesetze gegen die Juden aufzuheben, sondern weil sie im Rahmen ihrer Bemühungen um die Schaffung eines modernen zentralisierten Staates mit einer effizienten Verwaltung darauf hinwir-

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ken mußten, daß die durch das alte Privilegienrecht geschaffenen Sondergruppen innerhalb des Staates aufgelöst und für alle Bürger ein einheitliches Recht geschaffen wurde. Schließlich machte auch der soziale und wirtschaftliche Umbruch des ausgehenden 18. Jhs. eine Reform der Bedingungen, unter denen die Juden lebten, unausweichlich. Die Proklamierung der verfassunggebenden Nationalversammlung am 5. Juli 1789 und der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 symbolisieren den Zusammenbruch des Ancien Régime. Am 4. August wurden alle Privilegien und Feudalrechte aufgehoben, und am 27. August wurde die von der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 inspirierte Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verabschiedet. Aufgrund dieser Erklärung forderten die portugiesischen Juden im Januar 1790 die französische Staatsbürgerschaft, die ihnen, so ihre Argumentation, aufgrund der Länge ihres Aufenthalts in Frankreich, aufgrund ihrer jahrhundertealten Privilegien sowie ihrer ebenfalls seit langem bestehenden Integration in die französische Gesellschaft zustünden. Diese Forderung löste eine heftige Debatte aus, in der die Antragsteller von Bischof Talleyrand mit großem Engagement unterstützt wurden. Schließlich gab man der Forderung nach: Am 28. Januar 1790 wurde mit 374 gegen 224 Stimmen das folgende Dekret verabschiedet: Die Nationalversammlung ordnet an, daß alle Juden, die in Frankreich unter der Bezeichnung portugiesische, spanische oder avignonesische bekannt sind, weiterhin im Besitz der Rechte sein sollen, die ihnen bisher die königlichen Privilegien gewährleistet haben, und daß ihnen daher, soweit sie den hierfür von der Versammlung festgesetzten Bedingungen genügen, auch der Genuß aller Rechte volljähriger Bürger zukommen soll.2

Bei den hier erwähnten „Juden aus Avignon“ handelte es sich in Wirklichkeit um die in Bordeaux lebenden Juden nichtiberischer Herkunft, die von ihrem nicht immer konfliktfreien Zusammenleben mit den Sefardim insofern profitiert hatten, als es ihnen bereits 1754 gelungen war, als eigenständige „Nation“ anerkannt zu werden. Ungelöst blieb zunächst das Problem der Juden in den päpstlichen Besitzungen sowie der im Osten des Landes lebenden Aschkenasim. Da die päpstlichen Besitzungen in den sozialen und kulturellen Kontext Frankreichs integriert waren, konnte die dortige Bevölkerung von den politischen Ereignissen des Jahres 1789 nicht unberührt bleiben. Bereits 1790 stimmten die „Patrioten“ von Avignon für einen Anschluß an Frankreich und erkannten damit die Gültigkeit aller Beschlüsse der Pariser Nationalversammlung einschließlich des oben zitierten Emanzipationsedikts an. Die Revolutionsführer im übrigen Comtat stimmten zwar der französischen Verfassung und den Prinzipien der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zu, zogen es jedoch vor, unter päpstlicher Herrschaft zu bleiben. So änderte sich an der Lage der Juden im Comtat zunächst nichts. Erst als die Nationalversammlung am 14. September 1791 offiziell den Anschluß des Comtats einschließlich Avignons an Frankreich verkündete, kamen alle Juden in den ehemaligen päpstlichen Besitzungen in den Genuß der Staatsbürgerrechte. Am 27. September 1791 schließlich faßte die Nationalversammlung fast einstimmig einen Beschluß, der alle Juden Frankreichs zu Staatsbürgern 2

Zitiert nach: Schwarzfuß 1989, S. 136.

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machte, vorausgesetzt, daß sie auf ihren Sonderstatus als autonome religiöse Gemeinschaft verzichten. Die antireligiöse Politik der jakobinischen Diktatur (1793/94), die sich in erster Linie gegen widerspenstige Priester richtete, blieb nicht ohne Auswirkungen auf die jüdischen Gemeinden. Ab September 1793 wurden Kirchen und Synagogen geschlossen und in „Tempel der Vernunft“, politische Klubs oder öffentliche Kaufhäuser umgewandelt. Sowohl die Einhaltung der Sonntagsruhe als auch die des Sabbats wurde verboten. Der Religionsunterricht wurde eingestellt, Rabbiner aus ihrem Amt entlassen und Kultgegenstände konfisziert. Es wurden jedoch heimlich weiterhin jüdische Gottesdienste in Privathäusern abgehalten. Prominente jüdische Persönlichkeiten wurden wegen ihrer tatsächlichen oder mutmaßlichen politischen Sympathien und Aktivitäten an den Pranger gestellt. Einige Juden wurden aufgrund ihrer Beziehungen zu den Girondisten oder anderen oppositionellen Gruppen auf der Guillotine hingerichtet. Im Elsaß beschuldigte man sie der Kollaboration mit konterrevolutionären Emigranten. Der Sturz Robespierres am 9. Thermidor (Juli 1794) und die Wiedereinführung der Religionsfreiheit setzen diesen Übergriffen ein Ende. Die jüdischen Gemeinden hatten jedoch schwer gelitten. Sie waren nun desorganisiert und verarmt. Unter Napoleon Die Herrschaft Napoleons, der mit dem Staatsstreich vom 18. Brumaire (9. November 1799) an die Macht kam, bedeutete für die Rechtsstellung der Juden einen Rückschritt. In Beziehung auf die Organisation des Kultus stellte sie jedoch einen Schritt nach vorn dar. Mit Dekret vom 30. Mai 1806 wurde eine Versammlung jüdischer Notabeln nach Paris einberufen, die sich aus den rechtschaffensten und fortschrittlichsten religiösen und weltlichen Würdenträgern der Gemeinden zusammensetzen sollte. Das Ziel, das die Regierung mit diesem Vorhaben verfolgte, war es, sich zunächst über die Lage der Juden zu informieren, um dann mit der Unterdrückung des Wuchers und der Neuorganisation des Kultus Maßnahmen zur „Régénération“ der Juden – im deutschsprachigen Bereich als „bürgerliche Verbesserung“ der Juden bezeichnet – zu ergreifen. Obwohl dieser Plan auf jüdischer Seite großes Mißfallen und Unruhe auslöste, trat die aus ursprünglich 95 Notabeln bestehende Versammlung am 26. Juli 1806 in Paris zusammen. Die Delegierten hatten zwölf Fragen zu beantworten, mittels deren festgestellt werden sollte, ob die jüdischen Gesetze mit den Bestimmungen des bürgerlichen Rechtes vereinbar waren und inwieweit sich die Juden loyal zum Kaiserreich verhielten. Diese Fragen betrafen die Polygamie, die Scheidung, die Mischehe und Brüderlichkeit zwischen Juden und Christen, den Patriotismus der Juden, die Ernennung, Autorität und Macht der Rabbiner, die durch das jüdische Gesetz verbotenen Berufe sowie den Wucher. Diese heiklen Fragen waren sorgfältig ausgewählt worden, und sie wurden mit wenig Wohlwollen gestellt. Nachdem die Notabeln ihre Aufgabe erfüllt und ihre Antworten an Napoleon übermittelt hatten, löste dieser die Versammlung jedoch nicht auf, sondern forderte die Delegierten auf, einen Großen Sanhedrin zu bilden. Damit unternahm er den Versuch, eine politisch-reli-

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giöse Institution des antiken Israel, die seit vierzehn Jahrhunderten verschwunden war, wiederzubeleben. Der neue Sanhedrin hatte wie der alte einundsiebzig Mitglieder, von denen zwei Drittel Rabbiner waren, um seinen Beschlüssen Gewicht zu geben. Der Sanhedrin hatte die Aufgabe, die von der Notabelnversammlung gegebenen Antworten in eine religiöse Form zu fassen. Die Institution des Sanhedrin ermöglichte es Napoleon, die Illusion einer Autonomie der Juden aufrechtzuerhalten: Die von ihm gewollten Gesetze konnten, indem sie als Beschlüsse des Sanhedrin dargestellt wurden, als Maßnahmen gelten, die den Wünschen der Juden selbst entsprachen. Diese „Wünsche“ waren jedoch lediglich das vorhersehbare Resultat einer Befragen, bei der für die Juden ungeheuer viel auf dem Spiel stand. Im Februar 1807 trat der Große Sanhedrin unter dem Vorsitz des elsässischen Rabbiners David Sintzheim (1745–1812) zusammen. Die Antworten der Notabelnversammlung und die des Sanhedrins waren nur im Ton unterschiedlich: Während die Versammlung Stellungnahmen abgegeben hatte, erließ der Sanhedrin Anordnungen. Die von ihm getroffenen Entscheidungen wurden so dargeboten, als wären sie unmittelbar aus dem jüdischen Gesetz abgeleitet worden und nicht das Ergebnis einer wie auch immer gearteten Unterwürfigkeit. Einen Monat nach der ersten Sitzung wurde der Sanhedrin aufgelöst. Danach wurde eine Notabelnversammlung damit beauftragt, die Reformprojekte zu beurteilen. Über die Frage der Reorganisation des Kultus kam es zu einer Übereinkunft, nicht aber über die Fragen des Wuchers und der Mischehe, bei denen der Kaiser unbedingt seine Position durchsetzen wollte. Am 6. April 1807 wurde auch diese Notabelnversammlung aufgelöst. Am 17. März 1808 erließ Napoleon schließlich drei Dekrete, die die jüdischen Angelegenheiten betrafen. Zwei von ihnen regelten die Umsetzung der im Dezember 1806 getroffenen Vereinbarung über die Reorganisation des Kultus. Es wurden ein zentrales Konsistorium sowie in jedem Departement, in dem mindestens 2000 Juden lebten, jeweils ein regionales Konsistorium geschaffen, die die zuvor autonomen Gemeinden ersetzten. Diese Konsistorien bestanden aus Laien und Rabbinern, die von den jüdischen Notabeln vorgeschlagen und vom Staat eingesetzt werden sollten. Damit war die religiöse Eigenständigkeit der jüdischen Gemeinschaft offiziell anerkannt. Das neue System vereinigte zum ersten Mal alle Juden Frankreichs in einer einzigen und zentralisierten Organisation, wie sie die durch die Emanzipation und deren Konsequenzen destabilisierten Gemeinden tatsächlich benötigten. Darüber hinaus konnte dieses System dem Staat dabei helfen, ein bestimmtes Maß an Ordnung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft aufrechtzuerhalten. Im wesentlichen entsprachen diese Regelungen denjenigen, die auch für die anderen Religionen galten. Das dritte Dekret, das später als das „Infame Dekret“ bezeichnet werden sollte, war anderer Natur: Es übernahm einige der diskriminierenden Maßnahmen des Ancien Régime und schuf so ein System der rechtlichen Ungleichheit zum Nachteil der Juden. Dieses Dekret blieb zehn Jahre lang gültig. Einem weiteren Dekret vom 20. Juli 1808 zufolge mußten die Juden ihre Familien- und Vornamen beim Standesamt registrieren lassen. Ziel dieser Vorschrift war es, die Juden dazu zu zwingen, festgelegte Namen zu tragen. Es wurde ihnen verboten, ihre Familiennamen der Bibel zu entlehnen oder sich nach Ortsnamen zu benennen.

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Noch 1808 wurde das in den Dekreten vom März des Jahres angeordnete Konsistorium gegründet, und zwar nach dem Vorbild der administrativen Organisation der Protestanten, wie sie nach der Anerkennung des Katholizismus als Staatsreligion eingerichtet worden war. Anfang 1809 wurden auch die sieben französischen Departement-Konsistorien gegründet. Hinzu kamen noch die rheinischen und italienischen Konsistorien, deren Zahl in Abhängigkeit vom Stand der napoleonischen Eroberungen variierte. Nach der Eroberung Algeriens im Jahr 1830 führte Frankreich ein solches konsistoriales System auch hier ein. Im Laufe der Zeit nahm die hierarchisch gegliederte und zentralisierte Organisation feste Gestalt an und wurde schließlich zu einem integralen Bestandteil des französischen Judentums. Zu den ursprünglichen Aufgaben der Konsistorien gehörten nicht nur die Verwaltung und die Aufrechterhaltung der Ordnung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, sondern auch die „Régénération“ der Juden durch Erziehung, die Steigerung ihrer Produktivität durch die Ausbildung in „nützlichen“ Berufen sowie ihre „moralische“ und soziale Verbesserung. Die Konsistorien hatten demnach sowohl religiöse als auch säkulare Funktionen. Die 1905 vollzogene Trennung von Kirche und Staat erschütterte das auf einem brüchig gewordenen Konsens beruhende Monopol der Konsistorien. Es wurden nun Kultusgemeinschaften gegründet, die sich in der „Union des associations cultuelles israélites de France et d’Algerie“ zusammenschlossen. Die Brechung des Monopols der Konsistorien ließ die institutionellen Aktivitäten vielseitiger werden und im Bereich des französischen Judentums einen religiösen Pluralismus entstehen. Die Säkularisierung des Staates trug dazu bei, daß immer mehr Juden aus den Konsistorien austraten. So waren im Jahre 1907 nur 5,5% der Pariser Juden auch Mitglieder des Konsistoriums von Paris. Nur Elsaß-Lothringen, das Frankreich 1871 an Deutschland abtreten mußte und das erst nach dem Ersten Weltkrieg wieder französisch wurde, war zunächst von diesen Umwälzungen nicht betroffen. Dort wurde das religiöse Leben der Gemeinden nach wie vor durch die Konsistorien verwaltet und vom Staat, der die Rabbiner entlohnte, finanziert. Der Eintritt in die französische Gesellschaft Die Integration und der gesellschaftliche Aufstieg der französischen Juden war trotz aller emanzipatorischer Gesetze kein geradliniger Prozeß. Mit seinem durch das „Infame Dekret“ verordneten Sonderrecht für Juden stellte das Erste Kaiserreich (1804–1814) in dieser Hinsicht einen Stillstand dar. Während der Restauration (1814–1830) wurde das bis 1818 gültige „Infame Dekret“ nicht verlängert, so daß nun die letzten rechtlichen Einschränkungen für Juden aufgehoben waren. Unter der Julimonarchie (1830–1848) wurde am 8. Februar 1831 ein Gesetz erlassen, nach dem die Rabbiner fortan vom Staat entlohnt werden sollten. Dies bedeutete einen beträchtlichen Fortschritt in der Anerkennung des jüdischen religiösen Lebens. Dank der Bemühungen des späteren Justizministers Adolphe Crémieux (1796–1880) wurde 1846 das Gerichtsverfahren „more judaico“, nach dem Juden vor Gericht nach einem antiquierten Zeremoniell den Eid auf die Bibel abzulegen hatten, abgeschafft. Die Zweite Republik (1848–1851) und vor allem das Zweite Kaiserreich (1852– 1870) waren für die Juden sehr günstige Zeiten. Die gesellschaftliche Integration begann

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nun, Realität zu werden, allerdings nicht für alle Teile der jüdischen Bevölkerung gleichermaßen. Das Tempo der Integration hing stark davon ab, welcher regionalen Gruppierung und welcher sozialen Schicht der einzelne jeweils angehörte. Hinzu kamen in großen Städten wie Paris die Unterschiede zwischen alteingesessenen und neu hinzugekommenen Juden. In Paris hatte die Emanzipation eine rasche Zunahme der jüdischen Bevölkerung zur Folge. Von ca. 500 bis 600 Personen im Jahr 1789 stieg die Zahl der Pariser Juden auf 2733 oder 2908 im Jahr 1808. Die günstigen Bedingungen, die die dynamische Hauptstadt den Juden bot, ihre Kompetenzen und Interessen zur Geltung zu bringen und sich in die christliche Gesellschaft zu integrieren, zog diese in immer größeren Zahlen an. Zwischen 1808 und 1830 erlebte die Stadt fast eine Verdreifachung ihrer jüdischen Bevölkerung auf 8684 Personen, und zwischen 1851 und 1891 vervierfachte sich die Zahl der Pariser Juden auf 40 000. Die jüdische Bevölkerung von Paris nahm damit im selben Ausmaß zu, wie die von Elsaß und Lothringen abnahm. Dies ist darauf zurückzuführen, daß in den achtziger Jahren des 19. Jhs. zahlreiche Juden aus dem an Deutschland angeschlossenen Elsaß-Lothringen nach Paris emigrierten. Gegen Ende des 19. Jhs. lebten etwa 67% der französischen Juden in der Hauptstadt, wobei die jüdische Bevölkerung 2% der Pariser Gesamtbevölkerung ausmachte. In Paris entstand ein neues jüdisches Bürgertum, dessen Glanz darüber hinwegtäuschte, daß es nur eine Minderheit innerhalb der jüdischen Bevölkerung dieser Stadt darstellte. So wurde dieses Bürgertum allmählich zur Zielscheibe der Antisemiten, die behaupteten, alle Juden seien reich. Entgegen diesen Behauptungen lebte jedoch in der ersten Hälfte des 19. Jhs. und sogar darüber hinaus immer noch mehr als ein Fünftel der Pariser Juden – etwa 2000 Personen – in tiefer Armut. Diese Armen waren auf die Hilfe des jüdischen Wohlfahrtskomitees und der Bezirkswohlfahrtsämter angewiesen. In den siebziger Jahren des 19. Jhs. gehörte bereits ein bedeutender Teil der jüdischen Bevölkerung der bürgerlichen Mittelschicht an. Die massive Einwanderung von Juden aus Osteuropa in den achtziger Jahren führte dann zur Entstehung eines jüdischen Proletariats in der Hauptstadt, das fast ausschließlich aus Immigranten bestand. Bildung wurde schnell zum Hauptfaktor des Aufstiegs der Juden in der französischen Gesellschaft. Ihr Erfolg beschränkte sich nicht auf den Eintritt emanzipierter Juden der zweiten Generation in die freien Berufe, sondern sie profilierten sich auch in der Kunst, der Literatur, der Presse und der Wissenschaft, an der Universität, in den Staatsorganen und im politischen Leben der Republik. In diesen Bereichen waren sie bald überproportional vertreten. Im ganzen läßt sich sagen, daß sich die Integration der Juden in die französische Gesellschaft trotz mancher Schwierigkeiten doch relativ rasch und harmonisch vollzog. Allerdings war dieser Prozeß begleitet von einem Niedergang des religiösen Lebens. Mit zunehmender Entfernung von der religiösen Praxis mußten die Juden der Nachemanzipationszeit die Erfahrung eines säkularisierten Judentums machen. Andererseits war es einem Juden in einer Gesellschaft, in der eine sehr klare Trennung zwischen öffentlichem und privatem Bereich herrschte, durchaus möglich, ein guter französischer Bürger zu sein, ohne seiner Herkunft

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und der jüdischen Tradition abschwören zu müssen. Angesichts der gegenüber der voremanzipatorischen Zeit veränderten äußeren Bedingungen mußte die jüdische Identität jedoch eine neue Gestalt annehmen und neue Ausdrucksmittel finden. Obwohl die französischen Juden sich durchaus mit Juden aus anderen Ländern solidarisierten, indem sie z.B. Immigranten aufnahmen und sich um sie kümmerten, waren sie sich doch sehr stark ihrer eigenen Geschichte bewußt und fühlten sich verpflichtet, im französischen Kontext ihre historische Verantwortung zu übernehmen. Sie identifizierten ihre eigenen Interessen mit denen der Republik, der sie für ihre Emanzipation Dankbarkeit und Anerkennung zollten. Dieses Bündnis zwischen den Juden und der Republik wurde bald zur Normalität. So vollzog sich im Selbstverständnis des französischen Judentums ein Wandel vom „französischen Juden“ zum „israelitischen Franzosen“, d. h. dem Angehörigen einer konfessionell verstandenen Religionsgemeinschaft, der sich vollständig mit dem französischen Staat identifizierte. Dabei wurde augenscheinlich das Konzept des „jüdischen Volkes“, d.h. einer kollektiven Kultur und Identität, die über die Grenzen des Glaubens und der religiösen Praxis hinausging, zugunsten eines schrankenlosen Patriotismus, der während des Ersten Weltkrieges seinen Höhepunkt erreichen sollte, aufgegeben. In der „Union sacrée“, die alle französischen Bürger während des Ersten Weltkriegs gegen den Feind zusammenschloß, wurden die Juden, ihren Mitbürgern gleich, zu Franzosen und kämpften als solche mit Leib und Leben für die Befreiung Elsaß-Lothringens und der vom deutschen Kaiserreich, das als Bastion des Antisemitismus wahrgenommen wurde, unterdrückten Völker. Von den insgesamt 190000 französischen Juden, einschließlich derjenigen, die in Algerien lebten, wurden 31 500 im Krieg eingesetzt. Hinzu kamen 8500 Freiwillige aus den Reihen der jüdischen Immigranten, die sich erst seit mehr oder weniger kurzer Zeit in Frankreich aufhielten. Insgesamt kamen 7500 Juden während des Krieges auf französischer Seite ums Leben. Im ganzen läßt sich jedoch in bezug auf das französische Judentum des 19. und beginnenden 20. Jhs. nicht in derselben Weise von einer einheitlichen jüdischen Identität reden, wie dies im Hinblick auf spätere Zeiten möglich ist. Vielmehr waren die Beziehungen des einzelnen zum Judentum komplex und vielfältig und variierten je nachdem, ob es sich um Männer oder Frauen, um Einwanderer oder Einheimische, um Migranten innerhalb Frankreichs oder um Zuwanderer aus dem Ausland handelte. Zwar hatten die Juden sich in die Mehrheitsgesellschaft integriert und sich an diese akkulturiert, aber dennoch hatten die meisten ihre religiösen und kulturellen Eigenheiten nicht ganz aufgegeben. Dies stand allerdings im Gegensatz zu den ursprünglichen Wünschen der Emanzipationsbefürworter, die aufgrund ihrer universalistischen Konzeption der Gesellschaft die vollständige Assimilation, d. h. die restlose Auflösung des jüdischen Partikularismus, als Conditio sine qua non für die vollkommene Annahme der französischen Staatsbürgerrechte betrachteten. Besonders problematisch waren diese Assimilationsansprüche in bezug auf Juden, die neu nach Frankreich eingewandert waren und aus traditionelleren Gesellschaften stammten. Die Neueinwanderer brauchten eine gewisse Zeit, um sich die Werte des französischen Judentums anzueignen. In aller Regel paßten sich jedoch die Angehörigen der zweiten, be-

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reits auf französischem Boden geborenen Generation, den das französische Judentum kennzeichnenden Normen an. Die Ermordung des Zaren Alexander II. im Jahr 1881 und die darauf folgenden Pogrome, die einschränkenden Maßnahmen in Rumänien, das Pogrom von Kisˇinev (heute: Chis¸inau) im Jahr 1903 und die Niederschlagung der russischen Revolution von 1905 riefen enorme Auswanderungswellen hervor. Die große Mehrheit der 3,5 Mio. Juden, die zwischen 1880 und 1925 Zentral- und Osteuropa verließen, ging zwar nach Übersee – 2,65 Mio. in die USA, 150 000 nach Argentinien und 112 000 nach Kanada – aber eine nicht unbeträchtliche Zahl ließ sich auch in England (210 000) und Frankreich (100 000) nieder. Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg gab es in Paris zwischen 30 000 und 40 000 jüdische Immigranten. 17,1% von ihnen kamen aus Osteuropa. Insgesamt machten die Einwanderer 45% der jüdischen Bevölkerung der Hauptstadt aus, was einen gewaltigen Umbruch in der Zusammensetzung des Pariser Judentums bedeutete. Angesichts des sich in den achtziger Jahren verschärfenden Antisemitismus betrachteten die französischen Juden, die um die Errungenschaften der Emanzipation fürchteten, die Einwanderung der Ostjuden mit Sorge. Sie fürchteten, daß die starke Präsenz jüdischer Immigranten, deren Sitten sie für vollständig überholt hielten und die der Öffentlichkeit das Bild des ausgegrenzten Juden der Voremanzipationszeit boten, antisemitische Reaktionen hervorrufen könnten, unter denen dann alle zu leiden hätten. Hinzu kam, daß sich gerade zu dieser Zeit in Frankreich eine Welle der Xenophobie breitmachte, eine Reaktion auf die Wirtschaftskrise, den Anstieg der Arbeitslosigkeit, die allgemeine Unsicherheit und die Angst vor der Modernisierung, die das Bedürfnis weckten, für alle Fehlentwicklungen und Schwierigkeiten einen Sündenbock zu finden. Schließlich ist auch noch auf einen sozialen Aspekt hinzuweisen: Die Immigranten, bei denen es sich meist um Arbeiter und Handwerker handelte, konfrontierten die Öffentlichkeit mit der Existenz eines jüdischen Proletariats, und das zu einer Zeit, in der in der nichtjüdischen Presse sehr häufig vom „jüdischen Handel“, den „jüdischen Banken“ und dem „jüdischen Finanzwesen“ die Rede war. Die einheimischen Juden bemühten sich, die Migrantenströme osteuropäischer Juden in andere Länder zu lenken. Zu denjenigen, die sich dennoch in Frankreich niederließen, hatten sie kaum Kontakte. Die sprachlichen, kulturellen und sozialen Schranken zwischen ihnen und den Jiddisch sprechenden, an den traditionellen religiösen Gepflogenheiten festhaltenden, meist armen Zuwanderern, die ihrerseits die einheimischen Juden für wenig jüdisch hielten, schienen zunächst unüberwindlich zu sein. Gleichzeitig bemühten sich die französischen Juden, etwas wohlwollend-herablassend, den Neuankömmlingen die von ihnen so sehr geschätzte Kultur ihres Heimatlandes zu vermitteln. Die Ostjuden sollten ebenfalls zu Franzosen israelitischer Konfession werden. Der Unterricht in den Schulen des Konsistoriums wie in den weltlichen Schulen trug stark zur Erreichung dieses Ziels bei. Die Entstehung des politischen Antisemitismus Die Dritte Republik (1870–1914) erlebte seit 1879 als Reaktion auf die entschlossene laizistische Politik der neuen Regierung ein starkes Anwachsen des Antisemitismus. Immer

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wieder taucht nun das Thema der „jüdischen Verschwörung“, kaum zu trennen von seinem Zwillingsthema, der Theorie des „Freimauererkomplotts“, in der Öffentlichkeit als Erklärung für sämtliche Fehlentwicklungen sozialer und politischer Art auf. Die Assoziation von Juden und Freimaurern, die sich hierdurch ergab, sollte sich als überaus zählebig erweisen. Die Juden wurden als Urheber der Revolution und des Antiklerikalismus, als Verfolger des Klerus und als Totengräber der christlichen Religion und Zivilisation betrachtet. Ein Beispiel für die antisemitische Propaganda dieser Jahre stellen die öffentlichen Reaktionen auf den Zusammenbruch der „Union générale“, einer 1878 von Paul-Eugène Bontoux gegründeten katholischen Bank, im Jahr 1882 dar. Da Bontoux ein Angestellter der Rothschilds gewesen war, wurde diesen die Schuld an dem Bankrott zugewiesen, obwohl der Bankgründer selbst wegen Betrugs gerichtlich verurteilt wurde. Vor allem von der Rechten und von der katholischen Presse wurden die Juden scharf angegriffen. Auf den Bankrott der „Union générale“ folgte 1892/93 der Panama-Skandal, eine Korruptionsaffäre, die zum Ruin von Tausenden von Kleinsparern führte und in die auch eine Reihe von jüdischen Geschäftsleuten verwickelt waren. Ein gewaltiges antisemitisches Fieber brach aus. Antirepublikanismus und Antisemitismus verschmolzen nun unauflöslich miteinander. Die Ideologie des politischen Antisemitismus, der ein Erklärungsmuster für alle Krisen und jegliche Art von Unzufriedenheit bieten sollte, kristallisiert sich in dem Hauptwerk von Edouard-Adolphe Drumont (1844–1917), La France juive, das 1886, also zwischen dem Zusammenbruch der „Union générale“ und dem Panama-Skandal, erschien und innerhalb kürzester Zeit mehr als hundert Auflagen erlebte. Dieses Buch stellte alle Bereiche der französischen Politik und Gesellschaft als von Juden „unterwandert“ dar und nutzte so den Antisemitismus, um die verstreuten Gegner der Republik, Katholiken wie Arbeiter, zusammenzuschmieden und zum Kampf gegen den als kapitalistisch, „verjudet“ und natürlich antikatholisch dargestellten Staat zu mobilisieren. Die Dreyfus-Affäre Vor dem geschilderten Hintergrund entwickelte sich die Dreyfus-Affäre: Der jüdische Offizier Alfred Dreyfus wurde 1894 vor einem Militärgericht der Spionage für Deutschland beschuldigt und aufgrund gefälschter Dokumente zu lebenslanger Verbannung verurteilt. Die Angelegenheit nahm eine dramatische Wendung, als der Justizirrtum entdeckt wurde. Die Armeeführung versuchte, ihn zu vertuschen, um das Prestige des Militärs als Stütze des Vaterlandes intakt zu halten. Dieses Vorgehen spaltete Frankreich quer durch alle Parteien und Gruppen in zwei Lager: Die „Dreyfusards“ forderten im Namen von Recht und Gerechtigkeit die vollständige Rehabilitierung des Opfers. Die bekannteste Stellungnahme aus diesem Lager ist der offene Brief Emile Zolas an den französischen Staatspräsidenten, der den Titel J’accuse trug und den Antisemitismus der französischen Militärführung anprangerte. Die „Anti-Dreyfusards“ lehnten unter Verweis auf die Staatsräson und die nationalen Interessen jede Revision des Prozesses ab. Am 8. August 1899 beginnt in Rennes der zweite Prozeß gegen Dreyfus, der nun in offenem Rechtsbruch wegen „geheimer Verbindungen mit dem Feind“, allerdings mit „mildern-

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den Umständen“, zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde. Am 19. September begnadigte ihn der neu gewählte Staatspräsident Emile Loubet. Diese Begnadigung führte jedoch nicht, wie erhofft, zur Beendigung der Kontroverse. Dreyfus forderte weiterhin seine Rehabilitation. Erst am 12. Juli 1906 wurde er jedoch tatsächlich freigesprochen, rehabilitiert und wieder in die Armee aufgenommen. Die französischen Juden übten während der gesamten Dreyfus-Affäre eine auffällige Zurückhaltung. Diese mag vielleicht nicht so stark gewesen sein, wie es gemeinhin dargestellt wird, aber sicher ist, daß die Franzosen israelitischer Konfession das Risiko nicht eingehen wollten, daß aufgrund einer offenen Parteinahme für einen der Ihren ihre Loyalität und Vaterlandsliebe in Zweifel gezogen werden könnten. Auch wollten sie lieber die Augen davor verschließen, wie breit die antisemitischen Strömungen in Frankreich zu diesem Zeitpunkt waren und eine wie bedeutende Rolle diese bei der Verurteilung des Offiziers gespielt hatten. So wurde, wenn sich auch nach und nach immer mehr jüdische Bürger und Intellektuelle aus unterschiedlichen Gründen für Dreyfus einsetzten, doch die jüdische Herkunft des Angeklagten lange tabuisiert. Die Zeit vor der Ersten Weltkrieg Die auf die Dreyfus-Affäre folgenden Jahre, zwischen 1906 und der großen Wirtschaftskrise von 1929, waren für die Juden eine Art Atempause. Nicht wenige von ihnen hatten das Gefühl, „wie Gott in Frankreich zu leben“, wie es ein jiddisches Sprichwort sagt. Das nun wieder einigermaßen tolerante Klima erwies sich als günstig für die Integration der jüdischen Zuwanderer aus Osteuropa. Diese reagierten auf die ablehnende Haltung der einheimischen Juden, indem sie eigene Organisationen gründeten, die auf ihre Bedürfnisse abgestimmt waren und die Wünsche, die die französisch-jüdischen und französischen Einrichtungen in dieser Hinsicht offen ließen, befriedigten. Sie gründeten eigene Zeitschriften, kulturelle Institutionen wie das jiddisches Theater im Jahr 1907, Hilfsorganisationen in Zusammenarbeit mit den „Landsmannschaften“ (d. h. Vereinigungen von Juden, die aus derselben Region stammten), philanthropische Gesellschaften wie das „Israelitische Asyl zu Paris“, pädagogische Einrichtungen und Betstuben, eine eigene nichtkonsistoriale Synagoge, eigene Restaurants und koschere Fleischereien. 1913 wurde die „Fédération des sociétés juives de Paris“ gegründet, ein Dachverband, in dem sich 22 Einwanderervereine zusammenschlossen. Die Gründung dieses Verbandes macht den Willen der Immigranten deutlich, von den einheimischen Juden unabhängig zu sein und sich selbst zu verwalten. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg gründeten die jüdischen Einwanderer sogar ihre eigene Gewerkschaft. In Paris entstanden nun auch jüdische Viertel wie der Pletzl („kleiner Platz“) im Marais. Seit 1909 wanderten verstärkt auch französischsprachige sefardische Juden aus der Levante3 in Frankreich ein, um die im Osmanischen Reich eingeführte Militärdienstpflicht zu 3 Vgl. hierzu die Darstellung der Aktivitäten der „Alliance Israélite Universelle“ im Artikel über die Balkanländer in diesem Band S. 309–313.

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umgehen und den Balkankriegen der Jahre 1912/13 zu entkommen. 1911 belief sich ihre Zahl im Departement Seine auf 4568 Personen. Die levantinischen oder „orientalischen“ Juden, wie sie gewöhnlich genannt wurden, siedelten sich in Paris vor allem im 11. Arrondissement an. Sie waren nicht so zahlreich wie die Juden aus Zentral- und Osteuropa. Um weiterhin den sefardischen Ritus zu pflegen, gründeten auch sie ihre eigenen Synagogen und Vereine. Da sie bereits mit der französischen Sprache vertraut waren, vollzog sich ihre Integration schnell, und sie waren bald als ausländische Gruppe nicht mehr erkennbar. Seit dem Beginn des 20. Jhs. ließen sich zahlreiche jüdische Künstler, Maler und Bildhauer in Paris nieder. Diese partizipierten nun an den wichtigen künstlerischen Strömungen, die die Hauptstadt belebten, und trugen dadurch zu dem hohen Ansehen der Ecole de Paris bei. Der Zionismus Von Anfang an fiel es dem Zionismus schwer, in Frankreich Fuß zu fassen. Von den Ideen der Revolution erfüllt, stolz auf ihre Emanzipation, bestrebt, das Bild einer vollständig integrierten Gruppe zu bilden, und patriotisch gesinnt, konnten die französischen Juden, vor allem auch vor dem Hintergrund des zunehmenden Antisemitismus in ihrem Land, die 1897 in Basel gegründete zionistische Bewegung nur mit Skepsis, wenn nicht sogar mit Sorge betrachten. Diese war auf die Dauer geeignet, die universalistischen Prinzipien und den Patriotismus, deren Verfechter die französischen Juden waren, in Frage zu stellen. So kann es nicht verwundern, daß das französische Judentum den Zionismus im Grunde ablehnte, auch wenn diese Ablehnung nicht in allen seinen Schichten gleichermaßen kategorisch vorgebracht wurde.

Vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Zwischen 1906 und 1939 wanderten etwa 175000 bis 200000 Juden nach Frankreich ein. Sie stellten 15% aller Zuwanderer aus dem Ausland dar. Da Frankreich aufgrund der Bevölkerungsverluste, die es im Ersten Weltkrieg erlitten hatte, dringend neue Arbeitskräfte benötigte, löste diese Einwanderungswelle unmittelbar nach Kriegsende noch nicht dieselben fremdenfeindlichen Reaktionen aus, die später in den dreißiger Jahren zu beobachten waren. Zwischen 1920 und 1930 ließen sich in Paris ca. 70 000 zentral- bzw. osteuropäische Juden nieder. Zusammen mit den 20 000 Ostjuden, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg hier gelebt hatten, stellten sie drei Fünftel der insgesamt 150 000 Juden, die in der Hauptstadt lebten, damals eine der größten jüdischen Gemeinden der Welt. Aus dem ehemaligen Osmanischen Reich und aus Nordafrika kamen zu dieser Zeit etwa 15000 Juden nach Paris. Damit waren die Einwanderer innerhalb der jüdischen Gemeinschaft gegenüber den Einheimischen deutlich in der Überzahl. Im Unterschied zu der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ließen sich die Immigranten nun nicht mehr ausschließlich in Paris nieder, sondern siedelten sich auch in anderen Großstädten an. Etwa 50 000 Juden profitieren von dem Gesetz

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von 1927, das Erleichterungen bei der Einbürgerung schuf, und erhielten zwischen 1927 und 1940 die französische Staatsbürgerschaft. Die Rückkehr des Antisemitismus Die Jahre zwischen dem Ende der Dreyfus-Affäre und dem Ende des Ersten Weltkriegs waren eine Zeit vergleichsweise geringer Spannungen zwischen Juden und Nichtjuden in Frankreich. Die Rehabilitierung von Dreyfus hatte das Vertrauen der Juden in die Republik gestärkt, und die „Union sacrée“ während des Ersten Weltkriegs hatte den Antisemitismus in den Hintergrund gedrängt. Bald nach Kriegsende erwachte dieser jedoch zu neuem Leben. Die Verbreitung der Protokolle der Weisen von Zion in den USA (1919) und Europa, die in den zwanziger Jahren auch Frankreich erreichte, war Wasser auf die Mühlen der Antisemiten. Als 1933 der Nationalsozialismus in Deutschland triumphierte, kam zu den durch die Weltwirtschaftskrise von 1929 hervorgerufenen ökonomischen Schwierigkeiten eine politische Krise hinzu. Dies löste in Frankreich die größte antisemitische Welle aus, die das Land je gesehen hatte. Zielscheibe dieses von starken xenophoben Tendenzen gekennzeichneten Antisemitismus waren zunächst die ausländischen Juden, obwohl diese 1940 weniger als 0,4% der französischen Bevölkerung ausmachten. Die Gleichsetzung der französischen Juden mit diesen Zuwanderern ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Angeheizt wurde der französische Antisemitismus, für den der Nationalsozialismus in Deutschland Pate stand, in den dreißiger Jahren durch eine Serie von Ereignissen unterschiedlicher Art und Wichtigkeit: die Stavisky-Affäre (1933/34), ein nach dem Verantwortlichen, einem Juden russischer Herkunft, benannter Finanzskandal, der den Vorwand für den Aufruhr vom 6. Februar 1934 lieferte; der antisemitische Aktionismus antiliberaler Gruppierungen wie der anläßlich der Dreyfus-Affäre gegründeten „Action française“, der breite Unterstützung im Volk fand, die Veröffentlichung der französischen Übersetzung von Hitlers Mein Kampf 1934; der Sieg der Volksfront und die Bildung der Regierung Léon Blums 1936; schließlich die Ermordung des Sekretärs der deutschen Botschaft, Ernst vom Rath, im November 1938 durch einen kurz zuvor illegal aus Deutschland eingewanderten polnischen Juden. Angesichts des aufbrandenden Antisemitismus stellten sich die Mehrheit des fortschrittlichen und des gemäßigten Lagers sowie zahlreiche Christen an die Seite der Juden, um den Rassismus zu bekämpfen. Ein wichtiges Instrument dieses Kampfes war die sozialdemokratische, katholische und jüdische Presse. Darüber hinaus gingen Solidaritätsinitiativen von unterschiedlichen Kreisen aus, die sich für die Frage sensibilisiert hatten und in unterschiedlichen Organisationen wie z. B. der „Ligue des droits de l’homme“, dem „Comité Matteotti“ und dem „Secours rouge communiste“ zusammengeschlossen waren. Auf jüdischer Seite führte der erneute Ausbruch von Xenophobie und Antisemitismus zu einer Neubewertung des Zionismus. Einerseits verschärften offizielle jüdische Institutionen wie das Zentralkonsistorium und die „Alliance israélite universelle“ ihren Kampf gegen den Zionismus in dem Maße, in dem er sich von einer Utopie ohne Zukunft zu einer realen Alternative zu der immer stärker gefährdeten Existenz der Juden in Europa wurde. Anderer-

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seits stieß die Bewegung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Frankreichs insgesamt nun auf größere Zustimmung. Sogar unter denjenigen, die sich selbst als französische Bürger israelitischer Konfession definierten und gefürchtet hatten, ihre Unterstützung des Zionismus könne als Verrat am eigenen Land ausgelegt werden, gab es nun eine Reihe von Sympathisanten. Vor allem die jüdische Jugend, deren Bedürfnis nach einem jüdischen Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl zunahm, als die Situation der Juden in den dreißiger Jahren immer kritischer wurde, war von bestimmten Elementen der zionistischen Ideologie tief geprägt. Insgesamt war der Zionismus jedoch weit davon entfernt, eine Massenbewegung unter den französischen Juden zu werden. Die Zahl seiner konsequenten Anhänger blieb, Einheimische und Immigranten zusammengenommen, unter 10000. Die unterschiedlichen Vorstellungen, die sich die einzelnen Gruppierungen innerhalb des französischen Judentums von ihrer jüdischen Identität machten, bestimmten auch ihre Strategien gegenüber der Gefahr des Nationalsozialismus in den dreißiger Jahren. Ihre Vielfalt und die Auseinandersetzungen, von denen sie begleitet waren, belegen einmal mehr die Heterogenität der jüdischen Gemeinschaft in Frankreich. Letztlich führte jedoch die Untätigkeit und der Patriotismus der konsistorialen Kreise, die von den Juden selbst mißbilligt wurden, ebenso in eine Sackgasse wie der Aktivismus der Einwanderer und Jugendorganisationen. Die heterogene und tief gespaltene jüdische Gemeinschaft befand sich daher bei Kriegsbeginn in einem Zustand der Lähmung und äußerster Hoffnungslosigkeit – die diesmal von allen geteilt wurde. Der Zweite Weltkrieg 1939 gab es schätzungsweise 300000 Juden in Frankreich. Ein Jahr später hatte sich diese Zahl aufgrund der durch den Krieg ausgelösten Migrationsbewegungen um 10% erhöht. Etwa 90 000 von ihnen waren Einheimische – Elsässer, Lothringer, „Portugiesen“ und Einwohner des Comtat Venaissin –, die übrigen waren mit den verschiedenen Einwanderungswellen ins Land gekommen. Bei einer Gesamtbevölkerung von 43 Mio. betrug der jüdische Bevölkerungsanteil 0,8%. Nach der Kriegserklärung Frankreichs und Großbritanniens an Deutschland am 3. September 1939 verhielten sich die französischen Juden genauso patriotisch wie bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Im Januar 1940 gehörten etwa 60 000 Juden der französischen Armee an. Dies waren 20% der jüdischen Bevölkerung, wobei der Mobilisierungsgrad in der Gesamtbevölkerung nur bei 15% lag. Die Mobilisierung erfaßte alle Kreise der jüdischen Gemeinschaft. Zahlreiche ausländische Juden meldeten sich freiwillig, und trotz der bürokratischen Hindernisse, die man ihnen in den Weg legte – 20% der gestellten Anträge wurden abgelehnt –, gehörten 16 000 von ihnen während der gesamten Dauer des Konflikts der Armee an. Viele Freiwillige hofften, durch ihr Engagement die französische Staatsbürgerschaft erhalten zu können. Die französischen Verluste während der Kämpfe waren beträchtlich. Nach der Niederlage von 1940 gerieten jüdische Soldaten und Offiziere ebenso wie ihre nichtjüdischen Mitkämpfer in deutsche Gefangenschaft. Zwischen 10 000 und 15 000 Juden verbrachten den Rest des Krieges in den Gefangenenlagern. Andere ausländische Juden fanden sich in den

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von Frankreich eingerichteten Internierungslagern oder in den „Groupements de travailleurs étrangers“ (GTE) wieder. Am 11. Juni 1940 verließ die französische Regierung Paris. Der Großrabbiner sowie die wichtigsten Repräsentanten des Zentralkonsistoriums und der Immigrantenorganisationen folgten ihrem Beispiel. Da dem Konsistorium die Niederlassung in Vichy nicht gestattet wurde, zog es sich nach Lyon zurück, wo sich bereits die „Fédération des societés juives de France“ befand. Die wichtigsten jüdischen Hilfsorganisationen ließen sich in Marseille nieder. Nach der Invasion der deutschen Armee im Mai und Juni 1940 unterzeichnete die Regierung Marschall Pétains am 22. Juni 1940 den Waffenstillstand. Frankreich wurde in eine nördlich der Loire liegende deutsche Besatzungszone, die die Regionen am Ärmelkanal und am Atlantik umfaßte, und in eine südlich der Loire liegende Zone, die das „Freie Frankreich“ bildete, geteilt. Die am 10. Juli 1940 in Vichy tagende Nationalversammlung übertrug Marschall Pétain die volle Regierungsgewalt und autorisierte ihn, eine neue Verfassung zu erarbeiten. Dies bedeutete das Ende der Dritten Republik. Die Teilbesetzung Frankreichs veränderte auch die geographische Verteilung der jüdischen Bevölkerung auf französischem Boden. Da viele Juden aus der besetzten Zone flohen, befand sich bald die Hälfte der französischen Juden in der südlichen Zone. In den Süden begaben sich vor allem alteingesessene französische Juden, die dort Bekannte oder Verwandte hatten, bei denen sie unterkommen konnten, und die vor allem über ausreichende Mittel verfügten, um ihren Lebensunterhalt an ihrem neuen Aufenthaltsort zu finanzieren. Ein Drittel derer, die in den Süden gingen, kehrte früher oder später nach Paris zurück. Bald wurde es jedoch immer schwieriger, den Aufenthaltsort zu wechseln. Im ganzen fühlten sich die Juden im nicht besetzten Süden weniger bedroht. Daher riß der Zustrom von jüdischen Flüchtlingen nicht ab, während die antisemitische Presse ihre Hetze fortsetzte, antisemitische Schmierereien zunahmen und Schaufenster jüdischer Geschäfte eingeschlagen wurden. Die ersten diskriminierenden Maßnahmen gegen Juden von Regierungsseite wurden in der Besatzungszone von den deutschen Behörden eingeleitet. Danach übertrafen sich die französische Regierung in Vichy und die deutsche Besatzungsmacht mit immer neuen Einfällen, wie der Schraubstock, der an die Juden, gleich ob sie französischer oder ausländischer Herkunft waren und ob sie im Norden oder im Süden lebten, enger zu spannen sei. Am 27. September 1940 erließ die deutsche Besatzungsmacht zunächst eine Verordnung, die definierte, wer ein Jude sei. Dabei wurden religiöse Kriterien einbezogen: Als Jude galt, wer „der jüdischen Religion angehörte“ und mehr als zwei jüdische Großeltern hatte. Gleichzeitig wurde den aus der Besatzungszone geflohenen Juden die Rückkehr verboten. Diejenigen, die sich nicht dort befanden und der Definition entsprachen, mußten sich bis zum 20. Oktober beim Unterpräfekten (sous-préfet) ihres Wohnorts registrieren lassen. Daraufhin ließen sich insgesamt 149 734 Juden der Pariser Region registrieren, davon 86 664 Franzosen und 65 070 Ausländer. In ihre Ausweise wurde nun der Vermerk „Jude“ bzw. „Jüdin“ eingetragen. Ebenso wurden 7737 jüdische Unternehmen und 3456 jüdische

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Gesellschaften in der Besatzungszone erfaßt. Nur wenige entzogen sich dieser Verpflichtung. Bis Ende Oktober mußten Juden außerdem ein Schild mit der Aufschrift „Jüdisches Geschäft“ an ihren Schaufenstern anbringen. Eine Woche nach der deutschen Verordnung, am 3. Oktober 1940, erließ die Vichy-Regierung auf eigene Initiative und ohne daß von deutscher Seite Druck ausgeübt worden wäre, ihrerseits ein statut de juifs, das am 18. Oktober im Amtsblatt publiziert wurde. Dieses Gesetz definierte den Status der Juden nach rassischen Kriterien: Als jüdisch galt, wer drei jüdische Großeltern oder, wenn auch der Ehepartner jüdisch war, zwei jüdische Großeltern hatte. Durch dieses Gesetz wurden Juden aus dem öffentlichen Dienst, der Presse, dem Kino, dem Theater und dem Rundfunk vertrieben. Es kam in beiden Zonen Frankreichs, in den Kolonien, in Tunesien und Marokko, die seit 1881 bzw. 1912 französische Protektorate waren, den Mandatsgebieten und in Algerien zur Anwendung. Ein Gesetz vom 7. Oktober, das am 8. Oktober im Amtsblatt veröffentlicht wurde, setzte das Crémieux-Dekret vom 24. Oktober 1870 außer Kraft, was die kollektive Ausbürgerung der Juden im unbesetzten Algerien zur Folge hatte. Bereits am 22. Juli 1940 hatte die Vichy-Regierung eine Kommission eingerichtet, die mit der Revision aller nach dem 10. August 1927 vorgenommenen Einbürgerungen beauftragt war. Wer nach diesem Datum die französische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, verlor sie wieder. In Algerien beschränkte seit Ende 1940 ein Numerus clausus die Quote der jüdischen Studenten an den Universitäten des Landes auf 3%. Ähnliche Einschränkungen wurden für die Grund- und Oberschulen verfügt. Auch in Tunesien (14%) und in Marokko (10%) wurde ein Numerus clausus eingeführt. Seit dem Schuljahrsanfang 1941 galt ein solcher auch im französischen Mutterland. Fortan war die Quote der jüdischen Studenten an den Universitäten auf 3% beschränkt. Am 2. Juni 1941 erließ die Vichy-Regierung schließlich ein zweites statut, das von Xavier Vallat, einem notorischen Antisemiten, der nun das Generalkommissariat für jüdische Fragen leitete, initiiert worden war. In diesem statut wurde nun bei der Definition, wer Jude sei, das religiöse mit dem rassischen Kriterium verbunden. Als Jude galt, wer „der jüdischen Religion angehörte“ oder am 25. Juni 1940 angehört hatte und mindestens zwei jüdische Großeltern hatte. Dieses Gesetz beschränkte den Zugang der Juden zu den freien Berufen sowie zu industriellen und kaufmännischen Tätigkeiten. Ebenso wurde eine Registrierung der Juden im Mutterland und in den Kolonien angeordnet, die dieses Mal am Tag der Bekanntmachung des Gesetzes stattfinden sollte. Insgesamt erließ die Vichy-Regierung allein zwischen dem 8. Oktober 1940 und dem 16. September 26 Gesetze, 24 Dekrete und 6 Verfügungen, die die Juden betrafen und diese zu Bürgern zweiter Klasse machten. Dabei ging die Vichy-Regierung den Deutschen mit gutem Beispiel voran. Diese erließen umgekehrt eigene Verordnungen, die dann wiederum von der Vichy-Regierung übernommen und bis November 1942 in der freien Zone angewandt wurden. In beiden Zonen wurde eifrig der als „Arisierung“ titulierte Raub jüdischen Eigentums betrieben. Ein deutscher Erlaß vom 29. Mai 1942 zwang die Juden der Be-

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satzungszone, einen gelben Stern tragen, während sich die Vichy-Regierung sträubte, ihn auch in der freien Zone einzuführen. Nur wenige Juden entzogen sich dieser Maßnahme. Innerhalb von zwei Jahren waren die französischen Juden damit zu Parias geworden. Sie waren ihrer Lebensgrundlagen beraubt und mußten versuchen, sich in dem Wust der sie betreffenden Gesetze zurechtzufinden. Dabei lebten sie in der ständigen Angst, gegen die eine oder die andere Verordnung zu verstoßen. Deportation und Vernichtung Am 20. Januar 1942 fand in Berlin die Wannseekonferenz statt, auf der der von den Nationalsozialisten als „Endlösung“ bezeichnete systematische Massenmord an den Juden geplant wurde. Die Ergebnisse dieser Konferenz bekamen die Juden in Frankreich mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung zu spüren: Nachdem bereits 1941 drei Razzien durchgeführt worden waren, bei denen u. a. polnische, tschechische und österreichische Juden verhaftet worden waren, trat, obwohl die Todesmaschinerie im Osten bereits in vollem Gange war, zwischen Dezember 1941 und Juli 1942 zunächst eine Pause ein, da die Deutschen nicht über genügend Züge für die Deportationen verfügten. Auf einer Konferenz in Berlin am 11. Juni 1942 wurde jedoch beschlossen, daß Frankreich 100 000 Juden beiderlei Geschlechts im Alter zwischen 16 und 40 Jahren mit einem Anteil von 10% Arbeitsunfähigen ausliefern sollte. Die Deportationen – drei Transporte pro Woche – sollten als Einziehung zur Zwangsarbeit firmieren. Vier Tage nach dieser Versammlung reduzierte jedoch Theodor Dannecker, der Leiter der Gestapo-Abteilung für jüdische Angelegenheiten in Frankreich, seine Ansprüche: Nun sollten nur noch 39000 Juden innerhalb von drei Monaten deportiert werden. Um die Razzien gleichzeitig in der Besatzungszone und in der freien Zone durchführen zu können, waren die Deutschen auf die Kollaboration der französischen Polizei angewiesen. Frankreich gab den deutschen Forderungen unter der Bedingung nach, daß die französischen Juden verschont blieben. Um dies durchzusetzen, schlug der Ministerpräsident Pierre Laval vor, ausländische Kinder unter 16 Jahren zu deportieren. Am 16. und 17. Juli 1942 wurden 4500 Polizisten damit beauftragt, 27361 staatenlose Juden festzunehmen: Die jüngsten waren 2 Jahre alt, die ältesten Frauen 55, die Männer bis zu 60 Jahre alt. Indiskretionen von Polizeikommissaren sowie Flugblätter und Gerüchte, die von jüdischen Organisationen verbreitet wurden, warnten vor der bevorstehenden Deportation. Da die Männer aufgrund dieser Warnungen ihre Wohnungen großenteils am Abend vor der Razzia verlassen hatten, wurden in erster Linie Frauen und Kinder verhaftet. Die endgültige Bilanz belief sich auf 13 152 festgenommene Juden, also weit weniger als geplant. Ledige und kinderlose Paare wurden nach Drancy, Familien in das Vélodrome d’hiver gebracht. Diese Sammelstelle hat sich dem Gedächtnis eingeprägt und der als „Rafle du Vel’ d’Hiv’“ bekannt gewordenen Razzia ihren Namen gegeben. Die 8160 im Vélodrome zusammengepferchten Männer, Frauen und Kinder lebten in bitterster Not, bis sie am 19. und 22. Juli in die Lager des Departement Loiret transportiert wurden. Die herzzerreißenden Szenen, die sich dabei abspielten, verfehlten auf die einhei-

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mische Bevölkerung, die dabei Zeuge wurde, nicht ihre Wirkung. Razzien fanden in Bordeaux und anderen Großstädten der südlichen Zone statt. Dabei wurden 11 500 Menschen festgenommen, von denen 9000 zunächst in das Lager von Rivesaltes, dann nach Drancy gebracht. Damit übertraf die Vichy-Regierung sogar die deutschen Forderungen, die eine Zahl von 10 000 aus der nicht besetzten Zone auszuliefernden Juden festgesetzt hatten. Im Juli und August fanden auch in Paris wieder Razzien statt. Nachdem die Alliierten in Nordafrika gelandet waren, besetzten die deutschen Truppen auch das südliche Frankreich mit Ausnahme der östlich der Rhône gelegenen Departements und hoben den Status dieses Gebiets als „freie Zone“ auf. Von da an blieben weder die französischen noch die staatenlosen oder ausländischen Juden verschont. Die Jagd auf die Juden ging nun systematisch vor sich. Die größte Razzia in der ehemaligen freien Zone begann am 22. Januar 1943 in Marseille und wurde bis zum 27. Januar fortgesetzt. Weitere Razzien folgten. In der italienischen Besatzungszone im Süden waren die Juden bis zu der Besetzung durch die Deutschen im September 1943 weniger bedroht. In der Nacht vom 8. auf den 9. September begannen auch dort Razzien, die vom 10. September an einen größeren Umfang annahmen. Zwischen dem 10. und 14. werden 1819 Juden, davon 1100 allein in Nizza, verhaftet und nach Drancy gebracht. So wurden allein 1942 42 655 Juden aus Frankreich in die nationalsozialistischen Lager deportiert. Im darauffolgenden Jahr waren es 17 041 und 1944 16 025. Von den Deportierten waren 6012 jünger als 12 Jahre, 13 104 zwischen 13 und 29 und 8687 über 60 Jahre alt. Ungefähr 24 000 waren französische, 26 300 polnische, 7000 deutsche, 4500 russische, 3300 rumänische und 2500 österreichische Juden. Insgesamt handelte es sich um 75 721 Deportierte. Nur 2500 von ihnen überlebten die Gaskammern und die Krematorien. Nachdem der letzte Deportationszug am 17. August 1944 gefahren war, waren 23% der Juden Frankreichs deportiert worden. Damit waren sie vergleichsweise weniger von den Deportationen betroffen als die Juden in anderen europäischen Ländern – in Deutschland waren es z.B. 66%, in Belgien 55% und in Ungarn 50%. Obwohl die Vichy-Regierung nach der Willfährigkeit der ersten Jahre sich seit 1943 den deutschen Forderungen gegenüber zunehmend zögerlich verhielt, war es dennoch bestimmt nicht ihr Verdienst, durch den der Mehrheit der Juden Frankreichs das Leben gerettet wurde. Ausschlaggebend war vielmehr eine Reihe von anderen Faktoren. So hatten die Einführung des gelben Sterns und dann die Verhaftungen und Deportationen dazu geführt, daß die anfangs gleichgültige und apathische Bevölkerung sich von der Politik des Vichy-Regimes abzuwenden und diese zum Teil zu sabotieren begann. Die Kirchen und die Résistance verurteilten die antijüdischen Maßnahmen der Deutschen und der Vichy-Regierung und schufen so ein Klima, in dem Solidaritätsinitiativen entstehen und jüdische wie nichtjüdische Hilforganisationen operieren konnten. Darüber hinaus entstand durch die italienische Besetzung des östlichen Rhôneufers ein Zufluchtsgebiet innerhalb Frankreichs, in dem Juden zumindest für eine gewisse Zeit geschützt waren. Einigen Juden gelang es auch, die französisch-spanische Grenze zu überqueren. Seit 1940 hatten sich zahlreiche französische ebenso wie ausländische Juden den ver-

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schiedenen Gruppierungen der Résistance angeschlossen – jüdischen und nichtjüdischen, in Frankreich und in London. Von unterschiedlichen ideologischen Standpunkten aus operierten sie bewaffnet und unbewaffnet in ineinandergreifenden Netzwerken und den Partisanengruppen, den „maquis“. Auch diese Tätigkeit in der Résistance trug dazu bei, daß die Juden Frankreichs der Vernichtung zu einem größeren Teil entgehen konnten als die Juden anderer europäischer Länder.

Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart Ende 1944 war Frankreich beinahe vollständig von der deutschen Besatzung befreit. Das französische Judentum war durch die Deportationen und Todesfälle in Internierungslagern, bei Kämpfen und Erschießungen um mehr als ein Drittel reduziert wurden. Bei Kriegsende lebten nur noch etwa 180 000 bis 200 000 Juden im Land. Die Überlebenden hatten mehrheitlich nicht den Wunsch, nach Amerika oder Palästina auszuwandern. Sie nahmen an, daß nach dem Ende der deutschen Besatzung der Zustand der Vorkriegszeit wiederhergestellt und sie ihre arisierten Vermögen und Wohnungen zurückerhalten würden. Dies war jedoch nicht der Fall. Alles – Arbeit, Wohnungen, finanzielle Mittel für den beruflichen Start – mußte neu beschafft werden. Die jüdischen Kinder, die in nichtjüdischen Haushalten untergebracht waren, mußten zurückgeholt, die Überlebenden gesammelt und wirtschaftlich und sozial integriert werden. Dabei fiel den jüdischen Organisationen eine entscheidende Rolle zu. Ihre Arbeit litt jedoch nicht nur an internen Meinungsverschiedenheiten, die sich in der Zeit der Illegalität eher noch verschärft hatten, sondern auch daran, daß sie ihre Führungskräfte verloren hatten und es an geistigen Autoritäten fehlte. Außerdem waren die meisten Kultstätten beschädigt oder sogar völlig zerstört worden. Nicht selten waren, vor allem auf dem Land, ganze Gemeinden verschwunden. Die überlebenden Deportierten kehrten traumatisiert zurück. Zeitzeugenberichte begannen zu erscheinen, aber die mit Worten nicht faßbare Erfahrung konnte nicht in vollem Umfang übermittelt werden. So herrschte zunächst Schweigen. Einige versuchten, sich dadurch zu reintegrieren, daß sie ihre jüdische Herkunft, derentwegen sie so gelitten hatten, verheimlichten. Sie änderten ihre Familiennamen oder behielten ihre Untergrundnamen bei. Andere konvertierten zum Christentum, um sich ganz an die Umgebungsgesellschaft zu assimilieren. Die Anzahl der Misch- und Zivilehen stieg ebenfalls deutlich an. Dies muß auch vor dem Hintergrund der Tatsache gesehen werden, daß viele die religiöse Praxis bereits vor dem Ausbruch des Krieges aufgegeben hatten. Für viele Immigranten, die in der Résistance gekämpft hatten, war die Integration in das revolutionäre Frankreich unauflöslich mit dieser Erfahrung verbunden, und sie leiteten aus ihrem Engagement das volle Recht auf die französische Staatsbürgerschaft ab. Andere schlossen sich dem Mehrheitsdiskurs an und wollten bei ihrem Neubeginn in dem Frankreich, das sie so geliebt hatten, an alte Muster anknüpfen. Bei aller Vielfalt der Reaktionen blieb das Gefühl der Verbundenheit mit Frankreich im allgemeinen ungebrochen. Gleich-

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zeitig erlebte das traditionelle Judentum eine Erneuerung, die vor allem von der Jugend getragen wurde. Man rief zur Vertiefung der Kenntnis des Judentums auf und gründete Begegnungsstätten, die diesem Ziel dienen sollten. Der Zionismus wurde nun vom jüdischen Establishment nicht mehr bekämpft, zumal die nichtjüdische Bevölkerung ihn aufgrund des Leides, das man den Juden während des Krieges zugefügt hatte, jetzt mit viel Sympathie betrachtete. Unter den Juden selbst herrschte ein fast vollständiger Konsens über die Notwendigkeit der Gründung eines jüdischen Staates in Palästina, wobei allerdings manche der Auffassung waren, daß dieser nur einen Zufluchtsort für Flüchtlinge aus Mittel- und Osteuropa darstellen sollte. Im Laufe der Zeit wurde der 1948 gegründete Staat Israel zu einem wesentlichen Bestandteil der jüdischen Identität in Frankreich. Der Sechstagekrieg von 1967 stärkte die Solidarität der Juden mit dem jungen Staat, den man von einem neuen Genozid bedroht glaubte. Auch unter den Nichtjuden ließ dieser Krieg die Sympathien für den Staat Israel wachsen. Gleichzeitig weckten jedoch die Äußerungen Charles de Gaulles über die Militanz des Staates Israel und das jüdische Volk, das „selbstbewußt und herrisch“ sei, Ängste vor einer neuen antisemitischen Verleumdungskampagne. Die extreme Linke verurteilte den Staat Israel und stellte sich auf die Seite der Palästinenser. Unter ihnen befanden sich auch eine ganze Reihe von jüdischen Intellektuellen und Studenten, die aus ihrer Stellung als Minderheit, ihrer Konfrontation mit Unterdrückung und Ungerechtigkeit, der Erfahrung des Faschismus und dem Grauen der Schoa ein starkes Engagement für Unterdrückte, gleich welcher Ethnie oder Religion, und für den Bau einer gerechteren Gesellschaftsordnung ableiteten. An den Ereignissen des Mai 1968 waren sie überproportional beteiligt. Insgesamt läßt sich sagen, daß der Sechstagekrieg, einschließlich der verletzenden Äußerungen de Gaulles, für das französische Judentum eine Wende darstellte. Er zwang sie, Stellung zu beziehen und ihre jüdische Identität neu zu formulieren. In der Folgezeit wurde es selbstverständlicher, sich offen als Jude und auch zu seiner Bindung an Israel zu bekennen. Unmittelbar nach der Befreiung wurde eine Reihe von Kollaborateuren der Rassenverfolgung verurteilt. Viele von ihnen wurden jedoch nicht vor Gericht gestellt. Während unmittelbar nach Kriegsende der Antisemitismus in der Öffentlichkeit unterdrückt war, kam er, nachdem die Befreiung einige Zeit zurücklag, in der Presse wieder zum Vorschein. Verschiedene Organisationen wie die „Ligue internationale contre l’antisémitisme“ und der „Mouvement national contre le racisme et l’antisémitisme et pour la paix“ setzten sich für die Bekämpfung dieses Übels ein. Wohlmeinende Männer wie der Historiker Jules Isaac (1877–1963) bemühen sich mit Hilfe der 1948 gegründeten „Amitié judéo-chrétienne“ um eine Annäherung zwischen Juden und Christen. Dieses Unterfangen erwies sich jedoch als schwierig. Die Finaly-Affäre der Jahre 1948–1953 machte deutlich, daß der christlich begründete Judenhaß noch nicht verschwunden war: Zwei jüdische Kinder aus Grenoble waren nach der Deportation ihrer Eltern einer Katholikin anvertraut worden. Nach dem Krieg weigerte sich die Frau, die Kinder ihren Verwandten zurückzugeben mit der Begründung, daß diese nun Katholiken ge-

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worden seien. Mehrere Prozesse und öffentliche Stellungnahmen, u. a. auch von seiten der Kirche, sorgten dafür, daß die Affäre jahrelang im Licht der Öffentlichkeit stand. Schließlich wurden die Kinder an ihre Familie zurückgegeben, nicht zuletzt ein Verdienst des Konsistoriums und des Großrabbinats. Die Finaly-Affäre riß in der jüdischen Bevölkerung kaum geheilte Wunden wieder auf. Der im Umkreis der „Union de défense des commerçants et artisants“, die 1956 ein beträchtliches Wahlergebnis erzielte, entstehende rechtsextreme Populismus, die Suezkrise von 1956/57 und die Entwicklung in den sechziger Jahren in Algerien brachten wiederum eine Mischung aus Xenophobie, Antisemitismus und Antizionismus zum Vorschein, die unter den in dieser Beziehung übersensibilisierten Juden große Unruhe auslöste. Die Einwanderung der nordafrikanischen Juden Die Unabhängigkeit Tunesiens und Marokkos im Jahr 1956, die Suezkrise im selben Jahr, der sich seit 1961 abzeichnende Sieg der „Front de libération nationale“ (FLN) in Algerien und schließlich die Unabhängigkeit dieses Landes im Jahr 1962 riefen eine massenhafte Auswanderung von Juden aus Nordafrika hervor. So ließen sich zwischen 1956 und 1967 ungefähr 235 000 nordafrikanische Juden in Frankreich nieder. Diese Immigration führte zur Bildung zahlreicher neuer Gemeinden und zu Veränderungen bei der Zusammensetzung und der räumlichen Verteilung der alten Gemeinden. Die Einwanderer ließen sich in ganz Frankreich nieder, vor allem aber in der Pariser Region und im Süden. So änderte sich in Paris das Erscheinungsbild der traditionellen jüdischen Viertel. Die nordafrikanischen Juden belebten die alten jüdischen Immigrantenviertel wie Belleville oder das Marais neu. Sie ergriffen Berufe, z. B. in der Konfektionsindustrie, die schon in der Vergangenheit von aschkenasischen Zuwanderern ausgeübt worden waren. „Sentier“, ein Viertel am rechten Seineufer, ist in dieser Hinsicht beispielhaft. Nacheinander ließen sich hier Juden aus dem Osmanischen Reich, aus Osteuropa und aus Nordafrika nieder, um in dieser typisch jüdischen Branche zu arbeiten. Die Einwanderung aus Nordafrika veränderte das Profil der jüdischen Bevölkerung Frankreichs von Grund auf. Das einheimische Judentum war zunächst von Zuwanderern aus Osteuropa überflutet worden, und nun erlebten die osteuropäischen Juden Gleiches durch die nordafrikanischen Immigranten. Diese drängten in die Institutionen der jüdischen Gemeinden und vermittelten der jüdischen Gemeinschaft eine neue Dynamik und neue Werte: eine tiefere Religiosität und ein Verständnis vom Judentum, das weit über die Grenzen der Privatsphäre hinausging, alle Ebenen des sozialen Lebens einbezog und sich somit stark von der konfessionalisierten und integrierten religiösen Praxis der Einheimischen unterschied. 1981 wurde mit René Samuel Sirat erstmals ein sefardischer Jude zum Großrabbiner von Frankreich gewählt; sein Nachfolger, Joseph Sitruk, der noch im Amt ist, ist ebenfalls sefardischer Herkunft. Die Neuankömmlinge belebten das durch den Krieg dezimierte, überalterte französische Judentum, indem sie ein nach außen immer deutlicher in Erscheinung tretendes jüdisches Leben schufen. Sie paßten sich rasch der Lebensweise des Mutterlandes an, wobei die große

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Mehrheit gleichzeitig an einer Reihe von alten Gewohnheiten, vor allem was die Ernährung anging, festhielt. Bei der jüngeren Generation ist ein Schwinden des Interesses an der religiösen Praxis und Tradition festzustellen, das mit einer sozioökonomischen Integration einhergeht. Die Integration der Juden aus Nordafrika unterschied sich deutlich von der der aschkenasischen Immigranten. Der ausschlaggebende Faktor war hierbei ihre geographische und kulturelle Nähe zu Frankreich. Sie beherrschten die französische Sprache, und die überwiegende Mehrheit von ihnen hatte bereits vor ihrer Auswanderung aus Nordafrika die französische Staatsangehörigkeit besessen. Ihre Integration war in jeder Hinsicht bemerkenswert. Unter ihrem Einfluß brach das offizielle französische Judentum nun mit seiner bisherigen Politik der Zurückhaltung und Unauffälligkeit. Mit Dutzenden von koscheren Restaurants, Imbissen, Fleischereien und Lebensmittelgeschäften trat es nun als politisches und religiöses Kollektiv in Erscheinung. Merkmale dieser neuen religiösen Gemeinschaft waren die bedingungslose Unterstützung des Staates Israel sowie eine religiöse Radikalisierung an ihren Rändern. Porträt eines Judentums auf dem Weg Mit einer Zahl von 535000 Personen, 1,1% der Gesamtbevölkerung, war die jüdische Gemeinschaft in Frankreich zu Beginn der achtziger Jahre die zweitgrößte Europas – nach der der Sowjetunion, die bekanntlich immer mehr Mitglieder verliert, und die drittgrößte der Welt. Dies ist im wesentlichen auf die Einwanderung der nordafrikanischen Juden zurückzuführen. In Paris stellten die Juden 5,7% der Gesamtbevölkerung dar. Die zweitwichtigste Region war und ist bis heute das Gebiet Midi–Provence–Côte d’Azur. Danach kommt das Elsaß mit der Stadt Straßburg, in der etwa 12000 Juden leben. 50% der französischen Juden sind Sefardim, 34% Aschkenasim und 16% nach eigener Aussage „weder das eine noch das andere“. Letztere stammen meisten aus sefardisch-aschkenasischen Mischehen. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sind die französischen Juden im Bildungsbürgertum überproportional und in der Arbeiterklasse unterdurchschnittlich vertreten. Sie sind mehrheitlich der Mittelschicht zuzuordnen, mit einem hohen Anteil an Angestellten, Kleinhandwerkern und Kleinhändlern, die dem einfachen Volk näherstehen. 30,5% der jüdischen Berufstätigen waren Ende der achtziger Jahre in Handwerk, Handel und Industrie beschäftigt, 38,5% waren höhere Beamte oder Freiberufler, 29,9% mittlere Beamte oder Angestellte und weniger als 2% Arbeiter oder in der Landwirtschaft Beschäftigte. Am Ende der achtziger Jahre konstruierten sich die französischen Juden ein „Judentum à la carte“, wobei sich die Mehrheit von ihnen außerhalb des Raumes, den die Gemeinde vorgab, d.h. außerhalb der Synagoge, des Gemeindezentrums, des Studienkreises und der jüdischen kulturellen oder politischen Vereinigung, bewegte. 48% nahmen nicht am organisierten jüdischen Leben teil, außer einmal im Jahr: die berühmten „Jom-Kippur-Juden“. Der vom Gemeindeleben beschriebene Raum hatte also keinen wirklichen Einfluß mehr auf die Werte und Normen dieser Judenschaft, die in ihrer Zusammensetzung äußerst heterogen war.

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Die wesentlichen identitätstiftenden Referenzen dieses sich ständig weiterentwickelnden Judentums sind die ständig revidierte, korrigierte und umgestaltete religiöse Tradition, der Staat Israel, der Gegenstand leidenschaftlicher Debatten ist, ohne daß eine massive Auswanderung dorthin erfolgt wäre (3000 Ausreisen in den fünfziger Jahren, 13 000 in den sechziger und 20 000 in den siebziger Jahren), der episodisch auftretende Antisemitismus (Anwachsen der antisemitischen und rassistischen Drohungen seit 1989, während Gewalttaten selten vorkommen), die revisionistischen Thesen, die die Existenz der Gaskammern unter Hitler ableugnen, die gelegentliche Taktlosigkeit der französischen Behörden, das durch solche Aggressionen hervorgerufene Solidaritätsgefühl und schließlich die Erinnerung an die Schoa. Was die Einstellung gegenüber der Religion angeht, so definierte Ende der siebziger Jahre ein Drittel der jüdischen Bevölkerung seine Identität über die religiösen Aspekte des Judentums, ein weiteres Drittel erklärte, agnostisch zu sein, und das letzte Drittel fühlte sich mit der Gemeinde sowie den historischen Überlieferungen und Familientraditionen verbunden. 63% der jüdischen Bevölkerung hielten es für sehr wichtig, ihren Kinder eine jüdische Erziehung zu geben. 1986 gab es 88 jüdische Schulen in Frankreich, gegenüber vier vor 1945. Obwohl das Gemeindeleben nicht im Mittelpunkt des jüdischen Lebens steht, ist die jüdische Erziehung paradoxerweise sehr dynamisch. Studienkreise für Erwachsene, ein wachsendes universitäres Lehrangebot, jüdische Studentenvereinigungen, Sprachkurse, Zeitungen und Rundfunksender sowie künstlerische, wissenschaftliche und philosophische Literatur tragen dazu bei, jüdisches Wissen und zu vermitteln, und helfen bei der jüdischen Identitätsfindung. Seit 1967 wird in Frankreich von einem „jüdischen Revival“ gesprochen. Dieses ist nicht einfach religiös, obwohl die sehr aktiven orthodoxen Randgruppen besonders auffallen und den Eindruck vermitteln, als würden sie innerhalb der jüdischen Gemeinschaft dominieren. Vielmehr spiegelt, auf der anderen Seite des Spektrums, die gleichzeitige Zunahme laizistischer Strömungen unter den Juden und die Entstehung von Organisationen, die für ein Judentum ohne Rabbiner und ohne Religion eintreten, die Vielfalt der Wege, die bei der Rükkkehr zum Judentum eingeschlagen werden. Zwischen den Extremen entfalten sich unterschiedliche Möglichkeiten, jüdisch zu sein. Sie bezeugen den Pluralismus und Vielseitigkeit eines im Werden begriffenen französischen Judentums, das im Einklang mit seinem Umfeld steht und sich mit seinen vielfältigen Fragestellungen beschäftigt. (Übersetzt von Marc Talabardon)

Renate G. Fuks-Mansfeld

Die Niederlande Die Republik der Vereinigten Niederlande (1579–1795) Die Obrigkeit und die Juden Der Länderkomplex der Niederlande, den die Burgunder-Herzöge und ihre Nachfolger, die Habsburger, während des 14. und 15. Jhs. unter ihre Herrschaft brachten, bildete keine natürliche Einheit. Als 1543 die Grafschaft Geldern als letztes Gebiet erobert wurde, waren die siebzehn niederländischen Provinzen zwar unter einem Herrscher, Kaiser Karl V., vereint, aber sprachlich, wirtschaftlich und kulturell waren sie sehr verschieden. Flandern und Brabant mit der großen Handelsstadt Antwerpen gehörten zu den wirtschaftlich am weitesten entwickelten Gebieten Europas. An zweiter Stelle folgten Holland und Seeland mit bedeutendem Handel, Fischerei und Gewerbe. Die östlichen Provinzen waren vorwiegend agrarisch und besaßen nur kleine Handelszentren. Dies galt auch für die südlichen Provinzen, die französischsprachig und stark auf Frankreich orientiert waren. Die Herrschaft über dieses heterogene Gebilde fiel 1555 zusammen mit Spanien und dessen Besitzungen in Übersee an Karls Sohn Philipp II. Das Bestreben des spanischen Statthalters in den Niederlanden, die Zentralmacht auf Kosten der Provinzen zu stärken, wirtschaftliche Schwierigkeiten und schließlich der von spanischer Seite unternommene Versuch, den in Flandern, Brabant, Holland, Friesland und Seeland erstarkenden Calvinismus zu unterdrücken, führte 1567 schließlich zu einem offenen Aufstand der niederländischen Provinzen, der in dem Statthalter Wilhelm von NassauOranien seinen Anführer fand. 1579 gründeten die sieben nördlichen Provinzen die Union von Utrecht. Zwei Jahre später sagten sie sich von Spanien los und gründeten die Republik der Vereinigten Niederlande. Diese bestand bis 1795, als sie von der französischen Revolutionsarmee aufgelöst wurde. Die niederländische Republik hatte von Anfang an eine Sonderstellung in Europa inne: In einer Zeit, in der in anderen Staaten die monarchische Zentralmacht wuchs, war hier ein föderalistischer Staatenbund entstanden, der sich auf eine Mischung aus einem spätmittelalterlichen Privilegiensystem und einer neuzeitlichen Rechtsordnung stützte. In einer Zeit, in der sich die Staatsmacht anderswo auf eine einzige Religion stützte, die keine anderen Religionen neben sich duldete, lebten in den Niederlanden ansonsten tief verfeindete Religionen und Konfessionen friedlich nebeneinander, ohne die Staatsmacht zu beeinträchtigen. Obwohl die Reformierte Kirche die einzige offiziell anerkannte Konfession war, entwickelte sie sich nicht zu einer Staatskirche im vollen Sinne. Zwar waren alle Ämter und Regierungsfunktionen den Mitgliedern dieser Kirche vorbehalten, aber in ihrem Schatten konnten viele andere protestantische Strömungen, die katholische Kirche und auch die jüdische Religion unbehelligt existieren.

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Die Staatsgewalt in der niederländischen Republik blieb zwischen dem Statthalter, den Provinzial- und den Generalstaaten aufgeteilt. In letzteren dominierte Holland als reichste und bevölkerungsstärkste Provinz. Im ganzen waren es vor allem die städtischen Magistrate, die die Politik der Provinzial- und Generalstaaten bestimmten, in geringerem Umfang die Vertreter des Adels und die Großbauern. Die einzelnen Provinzen genossen eine relativ große Autonomie, und die Städte besaßen ebenfalls ihre eigenen Regierungs- und Justizinstitutionen. Diese Aufteilung der Macht gab gelegentlich Anlaß zu politischen Streitigkeiten, bewahrte das Land jedoch auch vor einer zu großen Machtkonzentration in der Hand einer der führenden Gruppen. Grundsätzlich blieb dieses System bis 1795 in Kraft. In der zweiten Hälfte des 18. Jhs. konnte der Statthalter seine Machtposition jedoch bedeutend ausbauen, so daß sie nun der eines Fürsten zu gleichen begann. Zur Zeit der Gründung der Republik lebten in den Niederlanden offiziell keine Juden, wenn auch gelegentlich einmal ein jüdischer Kaufmann auf einem Jahrmarkt auftauchte oder ein jüdischer Arzt oder Pfandleiher sich zeitweilig in der einen oder anderen Stadt aufhielt. Im 14. Jh. hatten sich sehr kleine jüdische Gemeinden im Osten des Landes, an der Grenze zu Deutschland, gebildet, die jedoch während der Verfolgungen zur Zeit der großen Pestepidemie von 1349/50 vernichtet wurden. Nach der Eroberung Antwerpens durch spanische Truppen im Jahr 1585 und der Sperrung der Flußmündung der Schelde durch die Vereinigten Niederlande im Jahr 1595, die den Seehandel von Antwerpen aus nahezu unmöglich machte, flohen zahlreiche Kaufleute aus der Stadt. Viele von ihnen begaben sich ebenso wie Scharen von Calvinisten aus anderen Teilen der südlichen Niederlande nach Amsterdam, das innerhalb weniger Jahre die Position Antwerpens im internationalen Handelsverkehr übernahm und sich anschickte, zu einer Metropole des Welthandels zu werden. Die aufstrebende Stadt zog daneben auch Protestanten aus England an, die sich nicht der anglikanischen Kirche anschließen wollten und daher in ihrem Heimatland verfolgt wurden. Schließlich existierte seit 1602 auch eine kleine, aber rasch wachsende jüdische Gemeinde in Amsterdam. Sie bestand aus portugiesischen und spanischen „Neuchristen“, die zum Glauben ihrer Väter zurückkehren wollten und von einem jüdischen Lehrer aus Emden, Uri Halevi, und seiner Familie betreut wurden. In religionspolitischen Angelegenheiten mußten die vier Bürgermeister und der Stadtrat in Amsterdam mit seinen vielen religiösen und nationalen Minderheiten sehr behutsam verfahren. Obwohl die Katholiken seit 1578 politisch ausgeschaltet waren und laut den Bestimmungen der Union von Utrecht ihre Religion nicht in der Öffentlichkeit praktizieren durften, war ihre Zahl und ihr wirtschaftlicher Einfluß in Amsterdam immer noch sehr groß. In dieser Situation wiesen die städtischen Obrigkeiten, wie es auch alle Provinzregierungen taten, jede politische Einmischung von seiten der Reformierten Kirche immer energisch zurück. Obwohl die reformierten Geistlichen sich häufig mit Beschwerden über das Verhalten der zahlreichen religiösen Minderheiten an die Obrigkeiten wandten, schenkten diese ihnen nur in Ausnahmefällen Gehör. Um so strenger traten die städtischen Obrig keiten jedoch auf, wenn eine der tolerierten Gruppierungen die festgesetzten Regeln zu übertreten drohte.

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In Übereinstimmung mit dieser moderaten Politik ließen die Amsterdamer Obrigkeiten die jüdische Minderheit anfänglich ruhig gewähren, weigerten sich jedoch, ihr offiziell Zugeständnisse zu machen. So erteilten sie keine Erlaubnis zur Errichtung einer öffentlichen Synagoge, gingen aber auch nicht gegen die in privaten Wohnhäusern stattfindenden jüdischen Gottesdienste vor. Ebensowenig wurde die Anlage eines jüdischen Friedhofs innerhalb der Stadtgrenzen gestattet, aber man ließ es zu, daß die jüdische Gemeinde 1614 ein Grundstück außerhalb der Stadt für diesen Zweck ankaufte. Auch gegen die Juden brachten die Vertreter der Reformierten Kirche wiederholt Beschwerden vor: Sexuelle Beziehungen zwischen Christen und Juden seien keine Seltenheit, und es sei sogar schon vorgekommen, daß holländische Protestanten öffentlich zum Judentum übergetreten seien. Dies könne nicht toleriert werden. 1615 wurden diese Beschwerden so massiv, daß die Amsterdamer Obrigkeiten sie nicht länger überhören konnten. Die Bürgermeister wandten sich daher an die Staaten von Holland und baten diese um ein Judenreglement, das für die gesamte Provinz Holland gültig sein sollte. Noch im selben Jahr wurden Hugo Grotius und Adriaan Pauw, beide bedeutende Juristen und Politiker, mit der Abfassung von entsprechenden Entwürfen beauftragt. Aufgrund von innenpolitischen und religiösen Spannungen wurden die fertigen Entwürfe in den Staaten von Holland jedoch erst 1619 diskutiert. Der Amsterdamer Magistrat konnte so lange nicht warten und erließ daher 1616 eine eigene vorläufige Judenordnung, die die wichtigsten Punkte des Zusammenlebens von Juden und Christen in der Stadt regeln sollte. So wurde den Juden strengstens untersagt, sexuelle Beziehungen zu christlichen Frauen zu unterhalten. Darüber hinaus sollten sie sich weder schriftlich noch mündlich in abfälliger Weise über den christlichen Glauben äußern. Bei Zuwiderhandlung drohten Geldstrafen oder sogar die Verbannung aus der Stadt. Gleichzeitig wurde den Juden eine Eidesformel vorgeschrieben, die sie zu leisten hatten, wenn sie vor dem städtischen Gericht als Zeugen oder als Angeklagte auftraten. Da die Staaten von Holland sich auch 1619 nicht auf ein allgemeines Judenreglement einigen konnten, blieb die eigentlich als Provisorium gedachte Amsterdamer Judenordnung bis auf weiteres in Geltung und war lange Zeit die einzige Judenordnung, die es überhaupt in der Republik gab. Sie diente anderen Städten, die später Juden in ihren Mauern zuließen, als Vorbild. Daß es nicht zu einem offiziellen Judenreglement für die Provinz Holland kam, hatte innenpolitische Gründe. Als die Staaten von Holland sich 1619 endlich mit den Entwürfen von Grotius und Pauw befaßten, hatte die politische Lage im Land sich vollkommen geändert. In den Auseinandersetzungen zwischen Remonstranten und Kontraremonstranten hatten 1618 die Kontraremonstranten und damit auch die Partei des Statthalters Moritz von Nassau den Sieg davongetragen. Hugo Grotius saß als politischer Häftling gefangen. Sein Entwurf konnte daher nicht angenommen werden, aber auch der seines politischen Widersachers Pauw wurde aus Gründen, die nichts mit der Sache selbst zu tun hatten, abgelehnt. Die Staaten von Holland überließen es schließlich den einzelnen Städten in der Provinz selbst, darüber zu entscheiden, ob sie Juden aufnehmen wollten und wenn ja, zu welchen Bedingungen. Die einzige Auflage, die sie machten, bestand darin, daß die Juden

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nicht gezwungen werden durften, ein Abzeichen zu tragen, da das öffentliche Tragen von religiösen Abzeichen generell verboten war, ein Verbot, das eigentlich für katholische Würdenträger und Klosterangehörige bestimmt war. 1632 wurde das Amsterdamer Judenreglement ergänzt durch Regelungen zum beruflichen Leben. Juden wurden aus fast allen Gewerben ausgeschlossen, die in Zünften organisiert waren, und es war ihnen auch nicht gestattet, Einzelhandel zu betreiben. Obwohl die sefardische Gemeinde mehrfach versuchte, hier von den städtischen Obrigkeiten Ausnahmeregelungen zu erhalten, blieben die Amsterdamer Bestimmungen doch für alle Juden gültig. Die wenigen niederländischen Städte, die im späten 17. und im 18.Jh. beschlossen, Juden aufzunehmen, übernahmen das Amsterdamer Reglement, oft unter Hinzufügung von Beschränkungen bezüglich der Zahl der aufzunehmenden Juden. Waren die Juden einmal zugelassen, konnten sie überall im Land Häuser und Grundstücke erwerben und genossen denselben rechtlichen Schutz ihrer Person und ihres Besitzes wie alle anderen Einwohner. Nirgendwo gab es vorgeschriebene Wohngebiete oder Sondersteuern für Juden, wenn sie auch in einigen Städten ihre Wehrpflicht in der städtischen Bürgerwehr durch Geldzahlungen ablösen mußten. Vor den niederländischen Gerichten waren die Juden ihren nichtjüdischen Mitbürgern gleichgestellt. Die Amsterdamer Obrigkeiten haben darüber hinaus auch in Zeiten massenhafter jüdischer Immigration aus Ost- und Mitteleuropa niemals eine Beschränkung der Zahl der Juden verlangt. Zu den niederländischen Statthaltern hatten die in der Republik ansässigen Juden von Anfang an ein besonderes Verhältnis. Schon Wilhelm von Oranien, der erste Statthalter, wurde von jüdischen Kaufleuten aus Köln und Conversos aus Antwerpen finanziert, als er den Aufstand gegen den spanischen König plante. Auch seine Nachfolger besaßen zum großen Teil jüdische Finanziers und Berater. 1642 demonstrierte der Statthalter Friedrich Heinrich sein Wohlwollen gegenüber den Juden öffentlich, indem er während eines offiziellen Besuchs in Amsterdam gemeinsam mit seinem Sohn und der englischen Königin Henriette Maria in Begleitung der Bürgermeister und anderer städtischer Würdenträger der Synagoge der sefardischen Gemeinde einen Besuch abstattete. Dieses Ereignis erregte großes Aufsehen und trug sehr zur Akzeptanz der Juden in der christlichen Gesellschaft bei. Auch die nachfolgenden Statthalter besuchten regelmäßig die Synagogen, wenn sie sich in Amsterdam aufhielten. Die jüdische Gemeinde war daher dem Haus Oranien sehr zugetan, auch zu Zeiten, als die Statthalter in der Republik wenig Einfluß hatten. Diese guten Beziehungen zu den Statthaltern und generell zu den niederländischen Obrigkeiten spiegelten sich auch in Gebeten für das Wohl des Landes und seiner Herrscher, die nachweislich seit 1630 in der Synagoge vorgetragen und bei besonderen Gelegenheiten auch publiziert wurden. Später wurden solche Gebete auch in anderen europäischen Ländern üblich. 1657 befaßten sich die Staaten von Holland und die Generalstaaten noch einmal mit ihren jüdischen Einwohnern. Mit dem Westfälischen Frieden von 1648, mit dem auch der spanisch-niederländische Krieg beendet worden war und Spanien die Unabhängigkeit der Vereinigten Niederlande anerkannt hatte, war das spanische Handelsembargo gegen die Re-

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publik aufgehoben worden. Der Handelsverkehr zwischen den Niederlanden und dem spanischen Weltreich nahm stark zu. Da die Amsterdamer sefardischen Juden sich intensiv in diesem Handelszweig betätigten, kam es gelegentlich vor, daß sie in Spanien oder einer der spanischen Kolonien gefangengenommen und als „Judaisierer“ der Inquisition zur Bestrafung übergeben wurden. Beschwerden von seiten der Generalstaaten über dieses Verfahren wurden von spanischer Seite mit dem Hinweis ignoriert, daß Juden und vor allem den Nachkommen der spanischen „Neuchristen“ der Aufenthalt verboten sei. Dies gelte auch, wenn es sich um Schiffbrüchige handelte. Um ihren Interventionen bei der spanischen Regierung größeren Nachdruck zu verleihen, faßten die Generalstaaten 1657 einen formellen Beschluß, daß in den Niederlanden ansässige Juden Untertanen der Generalstaaten seien und daher im Ausland denselben Schutz genießen sollten wie alle anderen Einwohner der Niederlande auch. Dieser für den Schutz der Juden im Ausland und ihr Verhältnis zur niederländischen Republik so wichtige Beschluß hatte für die rechtliche Stellung der Juden im Land selbst keine Folgen. Hier galten bis 1795 weiterhin die lokalen Judenordnungen. Aufbau und Entwicklung der jüdischen Gemeinden in Amsterdam Die jüdische Bevölkerung von Amsterdam 1610–1795

Jahr

Sefardim

Aschkenasim

Gesamtzahl

% der Gesamtbevölkerung

1610 1630 1650 1675 1700 1725 1750 1795

350 900 1400 2300 3000 3000 2800 3000

10 60 1000 1900 3500 9000 14000 22000

360 960 2400 4200 6500 12000 16800 25000

0,4 0,75 1,4 2,0 3,0 6,0 8,5 10,5

Die kleine sefardische Gemeinde, die sich 1602 gebildet hatte, wuchs rasch heran. Als 1605 das Ausreiseverbot für „Neuchristen“ in Portugal für ein Jahr aufgehoben wurde, zogen einige Hundert von ihnen nach Amsterdam. Viele konnten sich an das neue Land und Klima nicht gewöhnen und reisten weiter, aber dennoch vergrößerte sich die Gemeinde so, daß das Haus des aschkenasischen Lehrers Uri Halevi für den Gottesdienst bald zu klein wurde. Jakob Tirado, ein wohlhabender Kaufmann, stellte daraufhin seine viel größere Wohnung zur Verfügung, und die erste Gemeinde nannte sich ihm zu Ehren Bet Jakob (Haus Jakobs). Erst 1609 kam ein sefardischer Rabbiner nach Amsterdam, Josef Pardo aus Venedig. Im selben Jahr wurde der Zwölfjährige Waffenstillstand zwischen den Niederlanden und Spanien geschlossen, der nun auch eine größere Zahl spanischer Conversos nach Amsterdam

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brachte. Für den Rabbiner Pardo stellte es eine große Herausforderung dar, die vielen Zuwanderer, die in aller Regel nur sehr rudimentäre Kenntnisse der jüdischen Religion besaßen, an das Judentum heranzuführen. Daß es hierbei zu Spannungen kam, war fast unvermeidlich. Möglicherweise hing es mit solchen Meinungsverschiedenheiten zusammen, daß sich 1612 eine zweite Gemeinde mit dem Namen Newe Schalom (Hort des Friedens) bildete. Diese ließ ein spanisches Gebetbuch ohne die hebräischen Originaltexte drucken, woraus zu schließen ist, daß die Gemeinde ihre Gottesdienste in spanischer Sprache abhielt. Manche Neuankömmlinge schlossen sich jedoch zunächst keiner der beiden Gemeinden an und konzentrierten zunächst ihre gesamte Kraft darauf, sich in ihrer neuen Heimat eine Existenz aufzubauen. Da sie auch nicht an den katholischen oder protestantischen Gottesdiensten teilnahmen, lebten sie oft jahrelang in einem religiösen Niemandsland, bis sie sich doch entschlossen, einer der jüdischen Gemeinden beizutreten. Nur die Kinder, die in jungen Jahren nach Amsterdam gekommen oder dort geboren waren, konnten von klein auf im Judentum erzogen werden. Die Schulen der Amsterdamer sefardischen Gemeinde waren von Anfang an sehr gut organisiert, so daß die Kinder eine gründliche jüdische und weltliche Erziehung genossen. Das Amsterdamer Judenreglement von 1616 gestand den Juden stillschweigend Selbstverwaltung und Autonomie in innerjüdischen Angelegenheiten zu, wie dies im Mittelalter überall üblich gewesen war. Die Vorsteher der beiden Gemeinden, iberische Großkaufleute, verstanden ihr Amt im Sinne eines politischen Mandats. Wenig vertraut mit herkömmlichen jüdischen Gewohnheiten, betrachteten sie den Gemeinderabbiner als einen von ihnen bezahlten Untergebenen, von dem sie sich – z. B. was ihren „unjüdischen“ Lebenswandel anging – nur ungern kritisieren ließen. So kam es 1618 zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen dem Rabbiner der Gemeinde Bet Jakob und einem der Gemeindevorsteher. Der Streit endete in einer Spaltung und der Bildung einer dritten Gemeinde, Bet Israel. Obwohl die beiden streitenden Parteien ihre Meinungsverschiedenheiten nach jüdischer Tradition auch auswärtigen Rabbinern zur Entscheidung vorlegten, wandten sie sich doch zunächst an die städtische Gerichtsbarkeit in Amsterdam. Drei von diesem Gericht ernannte christliche Schlichter beendeten schließlich den Streit und verteilten den Besitz der Gemeinde. Damit war ein Präzedenzfall geschaffen. Streitigkeiten zwischen Juden sowie zwischen Gemeinden und ihren Mitgliedern wurden fortan vor dem Amsterdamer Stadtgericht oder vor dem Gerichtshof der Provinz Holland entschieden und nicht von den örtlichen oder auswärtigen Rabbinern. Gelegentlich zogen die holländischen Gerichte Theologieprofessoren der niederländischen Universitäten zu Rate, wenn Widersprüche zwischen dem niederländischen und dem halachischen Recht auftraten. Dies war besonders oft in Ehe- und Erbschaftsangelegenheiten der Fall. So war z. B. die bei den Sefardim häufig vorkommende Ehe zwischen Onkel und Nichte nach niederländischem Recht ebenso verboten wie die schon in der Hebräischen Bibel (Dt. 25, 5) vorgeschriebene Leviratsehe, d. h. die Ehe einer kinderlosen Witwe mit einem Bruder ihres verstorbenen Mannes. 1710 bemühten sich die sefardische und die aschkenasische Gemeinde von Amsterdam gemeinsam, von der holländischen Provinz-

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regierung einen allgemeinen Dispens vom holländischen Eherecht zu erhalten, hatten jedoch keinen Erfolg. 1639 vereinigten sich die drei sefardischen Gemeinden zur Einheitsgemeinde Talmud Tora. Bei dieser Gelegenheit schloß man auch die aschkenasischen Juden, die bis dahin als Gäste in den drei Gemeinden geduldet waren, aus. Ihre Zahl hatte seit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges so zugenommen, daß die alte Regelung nicht länger praktikabel erschien. Die aus Deutschland, Böhmen und Mähren stammenden Juden kauften nun mit Hilfe der sefardischen Gemeinde einen eigenen Friedhof in Muiderberg, außerhalb von Amsterdam, und richteten 1648 eine kleine Synagoge ein. Die sogenannten Chmel’nickij-Pogrome in der Ukraine und Polen (1648) und der schwedisch-polnische Krieg (1654–1660) führten zu einem Zustrom von jüdischen Flüchtlingen aus Polen nach Amsterdam. Obwohl die meisten von ihnen ihres Besitzes beraubt waren, waren sie den Amsterdamer Aschkenasim doch in ihrer Bildung und ihren kaufmännischen Erfahrungen weit überlegen. Die polnischen Zuwanderer brachten viel Unruhe in die Amsterdamer aschkenasische Gemeinde. 1660 gründeten sie daher ihre eigene Gemeinde, deren Auflösung jedoch der Amsterdamer Magistrat 1673 auf ein Gesuch der „deutschen“ Gemeinde hin veranlaßte. Die deutsche Gemeinde hatte 1671 eine große Synagoge erbaut und konnte und wollte die Unterstützung der polnischen Juden daher um so weniger entbehren. 1675 wurde gegenüber der aschkenasischen Synagoge die noch stattlichere Synagoge der sefardischen Gemeinde eingeweiht. Die jüdischen Gotteshäuser wurden häufig von jüdischen und nichtjüdischen Besuchern bestaunt, und sie gehören bis heute zu den touristischen Attraktionen von Amsterdam. Im letzten Viertel des 17. Jhs. erreichte die sefardische Gemeinde den Höhepunkt ihrer Macht und ihres Einflusses. Ihre Vorsteher standen in Verbindung mit der gesamten jüdischen Diaspora. Während des 18. Jhs. nahm die Zahl ihrer Mitglieder ab. Die aschkenasische Gemeinde hingegen wuchs beständig, bis die Zahl der Juden in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. ungefähr 10% der Amsterdamer Gesamtbevölkerung erreichte. Dieser Bevölkerungsanteil blieb bis zum Zweiten Weltkrieg konstant. Im 18.Jh. wurde Amsterdam in demographischer Hinsicht zu einer der Metropolen des europäischen Judentums. Mit ihren rund 20 000 jüdischen Einwohnern war sie Städten wie Prag (etwa 10 000), Berlin (4000), Wien (3000) und Frankfurt am Main (2000) weit überlegen. Wirtschaftliche Tätigkeiten Zahlreiche Historiker haben sich mit dem niederländischen „Wirtschaftswunder“ des 17. Jhs. befaßt. Die kleine Republik beherrschte mit ihrer Handelsflotte einen großen Teil der Ozeane und erwarb im 17.Jh. ein ausgedehntes Kolonialreich in Ostasien, Afrika und in der Karibik. Max Weber und sein Schüler Richard Henry Tawney führten den schnellen wirtschaftlichen Aufschwung der Republik auf den Geist des Protestantismus zurück. Werner Sombart hielt die Juden und insbesondere die 1492 aus Spanien vertriebenen Juden für die eigentlichen Väter des Frühkapitalismus des 16. und 17. Jhs. In unseren Tagen hat Jona-

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than Israel die Geschichte der Juden in West-, Mittel- und Osteuropa zwischen 1550 und 1750 unter dem Gesichtspunkt des Merkantilismus beschrieben, und auch er betont nachdrücklich die wirtschaftliche Bedeutung der Amsterdamer Sefardim. Aus den Quellen der niederländischen Wirtschaftsgeschichte geht jedoch klar hervor, daß der Anteil der Juden stark überbewertet worden ist. Wenn auch die ersten portugiesischen Kaufleute in Amsterdam wichtige Anregungen für die Entwicklung des niederländischen Handels gegeben haben, so war ihr Anteil doch insgesamt eher bescheiden. Nur im Handel mit Spanien und Portugal, deren Besitzungen in Übersee und später auch den niederländischen Kolonien in Nord-Brasilien (1654 aufgegeben), Surinam und auf den karibischen Inseln spielten sie eine wichtige Rolle. Die Überbetonung des Anteils der sefardischen Juden am niederländischen Seehandel hat dazu geführt, daß anderen wichtigen wirtschaftlichen Tätigkeiten der Amsterdamer Juden nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wurde. So haben die jüdischen Buchdrucker von Amsterdam einen neuen bedeutsamen Wirtschaftszweig ins Leben gerufen. Von der Gründung der ersten hebräischen Druckerei in Amsterdam im Jahre 1627 bis ins 18. Jh. hinein wurden hier Bibeln, Gebetbücher, rabbinische Literatur und Unterhaltungsliteratur für die sefardische und aschkenasische Welt gedruckt. Ab l640 beteiligten sich auch holländische Buchhändler und Kaufleute an den regen Bücherexporten nach Polen. Neben den gut ausgebildeten sefardischen und aschkenasischen Druckern und Setzern wurden in allen größeren jüdischen Druckereien auch nichtjüdische Mitarbeiter beschäftigt. Gemäß der im Vertragstext der Union von Utrecht, dem niederländischen „Grundgesetz“, garantierten Gewissensfreiheit gab es in den Niederlanden keine offizielle Zensur. Daher war es in Amsterdam möglich, den Text des Babylonischen Talmuds erstmals vollständig herauszugeben. Dieser wurde von Emanuel Benveniste zwischen 1644 und 1647 in einer Auflage von 3000 Exemplaren gedruckt. Bis weit ins 18. Jh. hinein beherrschten die Amsterdamer Verleger und Drucker den Buchmarkt der jüdischen Diaspora. Zwischen 1627 und 1795 erschienen mehr als 4000 Publikationen unterschiedlichster Art, die bis in die entferntesten Orte der jüdischen Welt versandt wurden. In allen Wirtschaftsbereichen, die nicht in Zünften organisiert waren, waren Juden beteiligt: in der Tabakverarbeitung und im Tabakhandel, im Handel mit Gold, Edelsteinen und Schmuck, in der Diamantenindustrie, im Kredit- und Börsengeschäft, im Handel mit Zucker und Südfrüchten sowie im Straßen- und Markthandel. Zur Zeit des Statthalters Wilhelm III. hatten jüdische Armeelieferanten ein Netzwerk von Zulieferern organisiert, das bis ins polnische Königreich reichte. Während des 18. Jhs. ließen sich Juden auch außerhalb von Amsterdam nieder. Den Haag wurde zum Wohnort von wohlhabenden jüdischen Bankiers und Pensionären. In Rotterdam siedelten sich Aschkenasim an. In den Provinzen Gelderland, Overijssel, Drente, Friesland und Groningen entstanden verschiedene kleine aschkenasische Gemeinden. Die Juden hier betätigten sich hauptsächlich im Kleinhandel. In dieser Funktion hielten sie den Kontakt zwischen Bauern und Kleinstadt aufrecht, indem sie von den Bauern Vieh und Lebensmittel kauften und diese wiederum mit Gütern versorgten. Auf Wochen- und Jahr-

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märkten waren stets Juden anwesend, die z.T. nur für die Zeit des Marktes eine Aufenthaltsgenehmigung bekamen. Trotz ihrer regen wirtschaftlichen Tätigkeiten blieben die Juden im ganzen aufgrund der ihnen gesteckten Grenzen immer an der Peripherie des wirtschaftlichen Lebens. Zwar konnten sie in Zeiten des Aufschwungs bis zu einem gewissen Grad von der allgemeinen Wohlfahrt profitieren, doch waren sie von Phasen der Rezession in besonderem Maß betroffen. Auf den Ergebnissen der periodischen Steuererhebungen basierende Untersuchungen zum Vermögen der Amsterdamer Kaufleute zeigen, daß nur eine kleine Zahl der sefardischen Juden zur Schicht der Reichen gehörten, dabei die Spitzengruppe jedoch nicht erreichten. Die Prunksucht der wohlhabenden Sefardim ließ sie vielfach reicher erscheinen, als sie es in Wirklichkeit waren, zumal die meist deutlich reicheren einheimischen Kaufleute sich nach außen bescheiden gaben. Während des 18. Jhs. wuchs auch unter den Aschkenasim die Zahl der Wohhabenden, doch lag das Vermögen der Juden im Schnitt weiterhin unter dem der nichtjüdischen Bevölkerung. Im Laufe des 18. Jhs. verlor die Niederländische Republik ihre wirtschaftliche Vormachtstellung in Europa. Während der Wirtschaftskrisen von 1763 und 1771/72 verloren zahlreiche jüdischen Börsenhändler ihr gesamtes Vermögen. Hier wird vor allem die negative Seite der holländischen Judenpolitik deutlich: Die Juden waren völlig sich selbst überlassen und konnten sich wegen der Ausschließung aus fast allen Gewerbezweigen keine neuen Erwerbsmöglichkeiten schaffen. Die jüdischen Armenkassen leerten sich zusehends, und die Zahl der Unterhaltsbedürftigen wuchs stetig. So mußten 1795, als die Republik von den französischen Revolutionstruppen überrannt wurde, mehr als 70% der Aschkenasim und gut 40% der Sefardim in Amsterdam von der Armenkasse unterstützt werden. Innere Unruhe Die ersten Amsterdamer Sefardim hatten als dritte Generation nach der Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal und dem Verbot der Praktizierung der jüdischen Religion auf der Iberischen Halbinsel nur noch sehr rudimentäre Kenntnisse des Judentums. So mußten sie die Grundregeln der jüdischen Lebensweise neu erlernen, was ihnen trotz guten Willens häufig sehr schwer fiel. Erst in den letzten Dezennien des 17. Jhs. stabilisierte sich die sefardische Gemeinde, die vielfach von inneren religiösen Krisen erschüttert worden war. Die Rabbiner hatten es dabei besonders schwer. Sie mußten ihre Gemeinde neu an das Judentum heranführen, wobei sie in Rücksichtnahme auf die „neuen Juden“ nur allmählich vorgehen konnten. Von dieser Tätigkeit ganz in Anspruch genommen, beschränkte sich ihre wissenschaftliche Tätigkeit meist auf das Verfassen von Lehrbüchern in spanischer und portugiesischer Sprache. In diesen wurden die Fragen behandelt, die von Conversos, die zum Judentum zurückkehren wollten, gestellt werden, weshalb diese Lehrbücher häufig Religionsdisputationen mit dem Christentum gleichen. Sie wurden wegen ihres polemischen Inhalts nicht gedruckt und nur in zahlreichen Handschriften verbreitet. Eine der Erbschaften aus der Zeit ihres Lebens als Katholiken war die Sorge der zum Judentum zurückgekehrten Conversos um ihr ewiges Seelenheil. Diese machte sie besonders

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empfänglich für messianische Erlösungstheorien, die eigentlich im offiziellen Judentum keinen Platz hatten. Immer wieder entstanden Krisen in der Gemeinde, wenn angesehene Mitglieder sich nicht dem jüdischen Gesetz und Brauch fügen wollten oder ungewollt wieder in ihre christlichen Bräuchen und Denkweisen verfielen. Es gab viele Heterodoxe in der Gemeinde, die ihre Meinungen nicht verbargen und die von dem Gemeindevorstand – nicht von den Rabbinern – mit Entfernung aus der Synagoge und Geldbußen bestraft wurden. Zwischen 1623 und 1795 wurden 66 Mitglieder mit dem „cherem“, dem Bann, belegt. Die bekanntesten und einflußreichsten Kritiker des rabbinischen Judentums in der Amsterdamer Gemeinde waren Uriel da Costa (1585–1640) und Baruch Spinoza (1632– 1677). Da Costa entstammte einer portugiesischen Converso-Familie und hatte eine jesuitische Erziehung genossen. Nach seiner Rückkehr zum Judentum in Amsterdam stellte er fest, daß das rabbinische Judentum nicht seinen Vorstellungen, die er in erster Linie aus seiner in Portugal erworbenen Kenntnis der Hebräischen Bibel abgeleitet hatte, entsprach. In zwei Traktaten versuchte er, die göttliche Herkunft des rabbinischen Gesetzes zu widerlegen, und propagierte eine entsprechende Reform des Judentums. Hierfür wurde er 1624 in Amsterdam mit dem Bann belegt, 1633 nach einem Widerruf wieder in die Gemeinde aufgenommen, bald darauf aber wieder gebannt. 1640 wurde die Exkommunikation nach erfolgter Buße erneut aufgehoben, aber die Entwürdigung, die die Gemeindeleitung ihm dabei zumutete, konnte er schließlich nicht ertragen und nahm sich das Leben. Der junge Baruch Spinoza, später besser als Benedictus Spinoza bekannt, wurde in Amsterdam geboren und nach jüdischer Tradition erzogen. Doch ebenso wie da Costa zog er die göttliche Legitimation des rabbinischen Judentums in Zweifel, wobei er sogar noch weiter ging und im Gegensatz zu da Costa auch die göttliche Offenbarung des mosaischen Gesetzes anzweifelte. Nachdem ihn die Amsterdamer sefardische Gemeinde mit dem Bann belegt hatte, begann sein eigentliches philosophisches Schaffen. Dabei ist anzumerken, daß die Amsterdamer Stadtregierung der Gemeindeleitung, die Spinoza aus der Stadt verwies, nach diesem Fall eine solches Vorgehen untersagte, da die Verbannung aus dem Stadtgebiet den Gerichten der Stadt Amsterdam und der Provinz Holland vorbehalten war. Die dritte große religiöse Krise erlebte die Amsterdamer Gemeinde im Jahr 1666, als Berichte in der Stadt eintrafen, daß der Messias in der Person des Sabbatai Zwi aus Smyrna erschienen sei. Die messianische Begeisterung unter dem Amsterdamer Juden, vor allem unter den Sefardim war groß. Viele ließen ihre Arbeit im Stich, planten den Verkauf ihrer Habe und bereiteten sich darauf vor, ins Heilige Land zu fahren. Ebenso groß wie zunächst die Freude war, war dann auch die Enttäuschung, als der Sturz Sabbatai Zwis und sein Übertritt zum Islam bekannt wurden. Offiziell wurde bald jede Nennung des falschen Messias untersagt, aber dennoch hofften viele weiterhin auf seine Rückkehr. Amsterdam wurde ein wichtiges Zentrum der heimlichen Anhänger Sabbatai Zwis. Dies brachte noch jahrzehntelang Unruhe in die Amsterdamer Gemeinden, wobei die aschkenasische Gemeinde hiervon stärker betroffen war. Die lag nicht zuletzt an den polnischen Juden, unter denen der Messianismus weiter verbreitet war und die sich, nachdem sie zunächst eine eigene Ge-

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meinde gebildet hatten, 1673 auf Druck des Magistrats wieder mit der deutschen Gemeinde zusammenschließen mußten. Amsterdam, Stadt und Mutter in Israel Die beiden jüdischen Gemeinden in Amsterdam bestanden aus einer sehr kleinen reichen Oberschicht, aus deren Reihen die Gemeindevorsteher gewählt wurden, zahlreichen weniger Begüterten und einer Masse von armen Leuten, die der zeitweiligen oder ständigen Unterstützung durch die Armenkasse bedurften. Die sefardische Gemeinde hatte von Beginn an versucht, arme Glaubensbrüder aus Italien, dem Balkan oder Nordafrika sofort zurückzuschicken, um ihnen nicht die Gelegenheit zu geben, in Amsterdam Fuß zu fassen. Für jemanden, der sich bereit erklärte, Amsterdam zu verlassen und nicht wieder zurückzukehren, war man bereit, ein hohes Reisegeld zu zahlen. Im 18. Jh. fanden viele arme Sefardim in der niederländischen Kolonie Surinam und auf den karibischen Inseln ein neues Zuhause. Es entstanden hier große jüdische Gemeinden, die rege Kontakte mit der Mutterstadt unterhielten. Trotz der Auswanderung vieler ärmerer Gemeindemitglieder in die Kolonien wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. die Zahl der Unterstützungsbedürftigen in der Amsterdamer sefardischen Gemeinde immer größer. Daneben besaß die Gemeinde auch zahlreiche soziale Pflichten im Ausland: Sie unterstützte eine feste Zahl von Sefardim im Heiligen Land und kaufte regelmäßig jüdische Gefangene frei, die in die Hände von Piraten oder in den Türkenkriegen in die Hände der osmanischen Truppen gefallen waren. Amsterdam war lange Zeit die Hauptstadt der sefardischen Diaspora, wo alle Fäden zusammenliefen. Noch größeren Belastungen war die aschkenasische Gemeinde ausgesetzt. Der Zustrom von Juden aus Mittel- und Osteuropa hielt bis Ende des 18. Jhs. an, und trotz des wachsenden Wohlstandes der aschkenasischen Kaufleute und Bankiers wurde die Armenkasse immer leerer und die Zahl der Armen ständig größer. Für Unterstützung von Juden im Ausland hatte die Gemeinde kaum etwas übrig. Dennoch gelang es den Vorstehern der aschkenasischen Gemeinde z. B. 1744, mit Hilfe der Amsterdamer Bürgermeister, der Staaten von Holland und schließlich der Generalstaaten erfolgreich gegen die geplante Ausweisung der Juden aus Böhmen und Mähren durch Maria Theresia zu intervenieren.1 Jüdische und nichtjüdische Besucher von Amsterdam haben häufig ihrem Staunen über das freie jüdische Leben in der Stadt Ausdruck verliehen. Die Amsterdamer Bevölkerung besuchte gerne den jüdischen Sonntagsmarkt, und viele typisch jüdische Gerichte sind Amsterdamer Spezialitäten geworden. Nichtjuden feierten den Karneval mit, der jedes Jahr am Purimfest im jüdischen Viertel veranstaltet wurde. Das als „Jerusalem des Westens“ bestaunte Amsterdam wurde jedoch nie eine bedeutende Stätte jüdischer Gelehrsamkeit. Zwar wurden hier gelehrte Werke der gesamten jüdischen Diaspora gedruckt, aber geschrieben und gelesen wurden sie anderswo. Dies mag 1 Vgl. hierzu auch den Artikel zu Österreich, Böhmen und Mähren (1648–1918) in diesem Band S. 105.

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nicht zuletzt daran gelegen haben, daß die meisten sefardischen Großkaufleute der jüdischen Gelehrsamkeit keine allzu große Bedeutung beimaßen. Sie ließen ihre Söhne in der Regel nicht als Rabbiner ausbilden und vermählten ihre Töchter nicht mit jüdischen Gelehrten, wie es in der jüdischen Diaspora im allgemeinen üblich war. In den Gemeindeschulen wurden vor allem die begabten Kinder ärmerer Gemeindemitglieder auf Kosten der Gemeinde ausgebildet. Viele von ihnen gingen in die von Amsterdam aus gegründeten sefardischen Gemeinden in den Kolonien. Die aschkenasische Gemeinde war zwar bemüht, bedeutende jüdische Gelehrte aus Deutschland und Polen in die Stadt zu holen, konnte diese jedoch häufig nicht halten, da der Vorstand versuchte, sie nach dem Vorbild der sefardischen Gemeindeleitung zu dominieren. Statt sich mit der Tradition jüdischer Gelehrsamkeit in hebräischer Sprache zu beschäftigen, zogen es die Amsterdamer Juden in der Regel vor, jiddische, spanische, portugiesische und holländische Bücher und Zeitschriften zu lesen. In den Schulen beider Gemeinden wurde der religiöse Unterricht nicht vernachlässigt, doch auch das weltliche Kurrikulum hatte hier seinen Platz. So stammen die ersten hebräischen Sprachlehren in Spanisch und Jiddisch für jüdische Schüler ebenso aus Amsterdam wie ein Lehrbuch für Rechnen und Geographie. Seit 1680 wurde ein Teil der niederländischen Literatur ins Jiddische übersetzt, es erschienen jiddische Zeitungen, und es entstanden ein spanisches und ein jiddisches Theater, die ein Repertoire für ein jüdisches Publikum aufführten. Bereits am Ende des 17. Jhs. sprachen die Sefardim meist Holländisch, behielten jedoch verschiedene portugiesische Ausdrücke bei. Die Aschkenasim sprachen West-Jiddisch, das stark von der holländischen Sprache beeinflußt wurde und am Ende des 18. Jhs. ein ganz eigenes Idiom geworden war, das von Ostjuden nicht mehr verstanden werden konnte. Das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden Die niederländische Reformierte Kirche hat nie offiziell Stellung gegen das Judentum bezogen. Im 17. Jh. war sie hauptsächlich an der Bekehrung der Katholiken im Lande interessiert und im 18. Jh. an der Erhaltung ihrer Rechte im Staat. Auch wurde sie, wenn sie strengere Maßnahmen gegen die Juden forderte, z. B. die Überwachung der hebräischen Druckereien oder die verpflichtende Anwesenheit bei Bekehrungspredigten, nicht von den Obrigkeiten unterstützt. Nur wenige setzten sich begeistert für die Bekehrung der Juden ein und hatten als Außenseiter zumeist wenig Erfolg. Der niederländische Protestantismus fand seine Inspiration im Alten Testament. Auch die niederländischen Übersetzungen der Jüdischen Altertümer und des Jüdischen Krieges von Flavius Josephus waren eine beliebte Lektüre und in fast jedem reformierten Haushalt zu finden. Des Hebräischen kundige Professoren an den Theologischen Fakultäten der Universitäten von Leiden, Franeker und Utrecht publizierten viele wichtige rabbinischen Texte mit lateinischer Übersetzung. Das bedeutendste Werk unter diesen war die Ausgabe der gesamten Mischna mit lateinischem Kommentar und Übersetzung (1698–1702) durch Wilhelm Surenhuys. 1740 erschien hiervon sogar eine Übersetzung ins Holländische. Schon dieses Interesse für die Hebräische Bibel, die hebräische Sprache und die jüdische Geschich-

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te und Tradition hielten den Widerstand gegen die Anwesenheit von Juden in der Republik gering. 1706 publizierte einer der nach der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) aus Frankreich in die Niederlande geflohenen Hugenotten, der Pastor und Jurist Jacques Basnage, in Rotterdam seine Geschichte des jüdischen Volkes. Der Verfasser stützte sich dabei auf eine Vielzahl jüdischer Quellen, um den leidvollen Weg des jüdischen Volkes im Exil zu schildern und seinen Glaubensbrüdern die Treue der Juden zu ihrem Glauben als Vorbild zu empfehlen. Das Werk des Basnage hatte großen Erfolg und erschien in vielen Neudrucken und Übersetzungen. Sein Aufruf zur religiösen Toleranz stellt, zusammen mit den Werken von Pierre Bayle, den Beginn der Aufklärung des 18. Jhs. in den Niederlanden dar. Basnages Geschichte des jüdischen Volkes wurde 1743 in jiddischer Bearbeitung von Menachem Man ben Salomo Halevi, einem Amsterdamer Lehrer und Korrektor, herausgegeben und machte das jüdische Publikum erstmalig mit seiner eigenen Geschichte vertraut. Das Buch Scheeris jisroel blieb bis ans Ende des 19. Jhs. die einzige Geschichte des jüdischen Volkes in der Diaspora, die den Juden im östlichen Europa zur Verfügung stand. Neben den Hugenotten haben sich auch die holländischen Aufklärer mit den Juden befaßt. Seit den dreißiger Jahren des 18. Jhs. setzten sich verschiedene holländische Autoren in aufklärerischen Zeitschriften für die politische Emanzipation der religiösen Gruppen außerhalb der niederländischen Reformierten Kirche und somit auch der Juden ein. In den sechziger und siebziger Jahren ergriffen Juden selbst das Wort. So befürwortete Nathan Levy 1764 in der Zeitschrift De Denker die Aufhebung aller wirtschaftlichen Restriktionen, die er als die Ursache der großen Armut und des kulturellen Rückstands der Juden sah. Viel radikaler war ein anonymer sefardischer Autor, der 1770 in der Zeitschrift De Koopman (Der Kaufmann) einen interessanten Plan für die Emanzipation der niederländischen Juden unterbreitete. Er berief sich auf das Gesetz von 1657, das die Juden in bezug auf den Schutz im Ausland den übrigen Bürgern gleichstellte. Dies sollte nun auch im Hinblick auf den Umgang mit den Juden im Land selbst Anwendung finden. Als Voraussetzung für diese bürgerliche Gleichstellung betrachtete er, daß die Juden ihre nationale und religiöse Eigenständigkeit aufgaben und sich an ihre nichtjüdischen Mitbürger anglichen. Unter diesem Gesichtspunkt sollte der Sabbat abgeschafft werden und der Sonntag als allgemeiner Ruhetag gelten. Sefardim und Aschkenasim sollten sich in einer Gemeinde vereinigen und die jüdischen Speiseregeln aufgeben, die seiner Ansicht nach den Verkehr mit den Nichtjuden erschwerten. Dieses Programm, das der Redakteur der Zeitschrift mit zahlreichen zustimmenden Fußnoten versehen hatte, gab die Befindlichkeit und die Ansichten eines Teils der aschkenasischen wie der sefardischen Oberschicht wieder. Die Angehörigen dieser Oberschicht waren bereits assimiliert. Sie sprachen Niederländisch, hatten Jura oder Medizin an niederländischen Universitäten studiert und nahmen am kulturellen Leben teil. Die große Mehrheit der niederländischen Juden unter Führung ihrer Rabbiner und Lehrer war jedoch weiterhin in der traditionellen Lebenswelt verwurzelt und nicht bereit, ihre Eigenständigkeit aufzugeben.

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Im Verlauf des 18. Jhs. wurde eine kleine intellektuelle Elite unter den niederländischen Juden von den Ideen der französischen und holländischen Aufklärung beeinflußt. Für die Werke Moses Mendelssohns bestand hingegen kaum Interesse. Nur ein einziger Anhänger Mendelssohns, Naftali Hertz (Hartog) Ulman, der aus Mainz stammte und ein Schüler des deutschen Philosophen Christian von Wolff war, verfaßte einige philosophische Werke in Holländisch und Hebräisch, die aber nur wenig Erfolg hatten.

Die revolutionäre Zwischenzeit (1795–1813) Die im Verlauf des 18. Jhs. gemachten Vorschläge für die Emanzipation der niederländischen Juden wurden zur Zeit der Republik der Vereinigten Niederlande nicht mehr verwirklicht. 1795 eroberten die französischen Revolutionstruppen das Land, das nun zur Batavischen Republik erklärt wurde. Die neu gewählte Nationalversammlung verlieh den Juden nach langen Beratungen und unter massivem Druck des französischen Gesandten 1796 die Bürgerrechte. In der Folgezeit wurde auch der letzte Anschein der Unabhängigkeit der Niederlande von Frankreich beseitigt. 1806 wurde Napoleons Bruder Louis Bonaparte zum König von Holland erklärt, und 1810 wurden die Niederlande in das französische Kaiserreich eingegliedert. Damit galten in bezug auf die Juden und die jüdischen Gemeinden hier nun ebenfalls die in Frankreich erlassenen Bestimmungen. Für die Juden stellte die „Franzosenzeit“ eine schwierige Zeit dar. Der wirtschaftliche Niedergang, den die Niederlande bereits in den Jahrzehnten vor der französischen Besetzung erlebt hatten, beschleunigte sich drastisch. Der Außenhandel, die Schiffahrt und die gesamte wirtschaftliche Infrastruktur verfielen zusehends. Von den Auswirkungen der wirtschaftlichen Krise war die jüdische Bevölkerung besonders stark betroffen. So verarmten vor allem die Amsterdamer Juden immer stärker, obwohl viele Mitglieder der dortigen Gemeinden – 1809 etwa ein Zehntel – nach der Aufhebung der Niederlassungsbeschränkungen die Gelegenheit genutzt hatten, sich auf dem Land anzusiedeln, wo sie auf ein besseres Auskommen hofften. Darüber hinaus spürten die jüdischen Gemeinden die negativen Auswirkungen einer Emanzipation, die sie in dieser Form nicht gewollt hatten. Durch die Einführung des französischen Konsistorialsystems in den Niederlanden wurden die traditionellen jüdischen Eliten entmachtet. In den Konsistorien setzten nun jüngere, von den politischen Idealen der Französischen Revolution geprägte Leute eine Reorganisation der jüdischen Gemeinden durch. Diese beinhaltete u. a. eine Vereinheitlichung der Armenfürsorge und des Unterrichtswesens. Die alten Gemeindeleitungen und die Rabbiner waren nicht in der Lage, sich gegen die neuen Maßnahmen zur Wehr zu setzen. So waren sie u.a. dazu gezwungen, junge jüdische Männer zur freiwilligen Meldung in der französischen Armee aufzurufen. Nur den Vorstehern der sefardischen Gemeinden von Amsterdam und Den Haag gelang es, die Selbständigkeit ihrer Gemeinden zu bewahren. Sie mußten jedoch versprechen, alle Anordnungen des Konsistoriums in den eigenen Reihen durchzuführen.

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Als nach dem Aufstand gegen die französische Herrschaft im Herbst 1813 Prinz Wilhelm, der Sohn des letzten Statthalters Wilhelm V., als König Wilhelm I. die Regierung der Niederlande übernahm, wurde das Konsistorium aufgelöst.

Zu Hause im eigenen Land (1813–1940) Demographische Entwicklung der Juden in den Niederlanden

Jahr

Niederlande

1830 1849 1869 1889 1920 1930 1941

46397 55412 64478 92524 109293

Amsterdam (absolut und % der Gesamtbevölkerung)

Sefardim in Amsterdam und Den Haag

29952 (11,31%) 54479 (13,35%) 68758 (10,06%)

3214 3618 5070 5930 5194

140001*

* Davon 14381 Flüchtlinge aus Deutschland.

Bis 1890 war die Bevölkerungszunahme der Juden bedeutend größer als die der gesamten niederländischen Bevölkerung, danach war die Entwicklung rückläufig. Zwischen 1933 und 1940 machte sich der Zustrom von jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland bemerkbar. Die ungefähr 5000 Ostjuden, die sich nach 1919 in den Niederlanden ansiedelten, wurden nicht in die Statistik aufgenommen, da sie sich teils illegal hier aufhielten, teils die polnische Nationalität besaßen und sich im allgemeinen keiner jüdischen Gemeinde angeschlossen hatten. Politische Hintergründe Auf dem Wiener Kongreß von 1815 wurden die Niederlande, Belgien und Luxemburg unter der Herrschaft Wilhelms I. von Oranien zusammengeschlossen. Eine wirkliche politische Vereinigung der drei Länder schlug jedoch fehl, da die wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Unterschiede sich als zu groß erwiesen. 1830 mußte Belgien in die Unabhängigkeit entlassen werden und 1867 auch Luxemburg. Die Niederlande blieben von nun an ein kleines Land, das zwar ein großes Kolonialreich besaß, in der internationalen Politik jedoch keine Rolle mehr spielte. Im Revolutionsjahr 1848 wurde ohne Blutvergießen die konstitutionelle Monarchie in den Niederlanden eingeführt, die sich allmählich in eine parlamentarische Demokratie verwandelte. Seit 1848 konnten sich auch die Juden aktiv an der Landespolitik beteiligen. Zunächst waren es wegen des Zensuswahlrechts nur die Vermögenden, aber im Laufe der Zeit wurde der Zensus verringert, bis 1917 das allgemeine Wahlrecht für Männer und 1922 für

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Frauen eingeführt wurde. Seit l848 bildeten sich die für die niederländische Innenpolitik so charakteristischen protestantischen und katholischen Parteien, die bis ins 20.Jh. die innenpolitische Landschaft beherrschten. Die Juden fanden ihren Platz in der liberalen und später den sozialistischen Parteien, in denen sie eine aktive Rolle spielten. Die Niederlande vermochten im Ersten Weltkrieg ihre Neutralität zu wahren, weil die deutsche Armee kein Durchmarschsrecht verlangte. Es gab zwar viel Sympathie für die belgischen Flüchtlingen, die massenweise ins Land gekommen waren, aber im allgemeinem fühlten sich die Niederländer und auch die niederländischen Juden nicht von den Auseinandersetzungen betroffen. Im Vergleich mit den schrecklichen Verwüstungen, von denen der größte Teil Europas betroffen war, kamen die Niederlande in diesem Krieg sehr glimpflich davon. Mühsame Integration Wie alle Herrscher aus dem Haus Oranien war König Wilhelm I. den Juden wohlgesonnen. Als er im Herbst des Jahres 1813 die Regierung der Niederlande übernahm, bestätigte er die den Juden zuvor verliehenen Bürgerrechte. Zusammen mit der Leitung des ehemaligen Konsistoriums veranlaßte er bereits 1814 neue Reformen, die auf eine bessere Integration der Juden in die nichtjüdische Gesellschaft abzielten: Eine Verbesserung des Schulunterrichts sollte jüdischen Kindern den Zugang zum wirtschaftlichen und kulturellen Leben erleichtern. Das Jiddische, an dem die holländischen Juden hingen, das jedoch als eines der größten Hindernisse für ihre Integration in die nichtjüdische Gesellschaft betrachtet wurde, wurde im Unterricht und in der Synagoge verboten. Die Gemeinden wurden nach Provinzen eingeteilt, an deren Spitze ein Oberrabbiner stand. Dieser war verantwortlich für die Durchführung der neuen Verordnungen, die vom Kultusministerium streng überwacht wurden. Da sämtliche Energien der niederländischen Obrigkeiten und der jüdischen Gemeindeleitungen auf diese Integrationsmaßnahmen gerichtet waren, gab es für eine Reform des jüdischen Kultus kaum Interesse. Das Judentum war eine offiziell anerkannte Religion, deren Gottesdienstformen keiner Veränderung bedurften, um akzeptiert zu werden. So konnte die deutsche Reformbewegung keinen Einfluß innerhalb der niederländisch-jüdischen Gemeinschaft gewinnen. Die Juden traten mit einem großen wirtschaftlichen und kulturellen Rückstand in die niederländische Gesellschaft ein. Ihre kulturelle Integration vollzog sich innerhalb einer Generation, aber es dauerte deutlich länger, bis der wirtschaftliche Rückstand aufgeholt werden konnte. Anfänglich war es vielen Juden kaum möglich, sich öffentlich zu äußern, da sie die holländische Sprache nicht oder nicht genügend beherrschten und das Jiddische nicht mehr gedruckt werden durfte. Als 1849 die ersten jüdischen Wochenzeitungen in holländischer Sprache zu erscheinen begannen, war dies ein Zeichen dafür, daß sich unter den niederländischen Juden stillschweigend ein tiefgreifender kultureller Wandel vollzogen hatte. Die niederländisch-jüdischen Wochenzeitungen stellen ein Spiegelbild der jüdischen Gemeinschaft dar. Die große Armut und die Sorge um den Verlust von Kenntnissen der

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jüdischen Tradition in der jungen Generation waren während des 19. Jhs. die wichtigsten Themen. Da die vom Staat und den jüdischen Gemeinden finanzierten Schulen das vollständige niederländische Schulprogramm zu lehren hatten, verblieb immer weniger Zeit für die Vermittlung jüdischer Kenntnisse. Auch der wirtschaftliche Aufstieg gefährdete das herkömmliche jüdische Leben. Alle staatlichen und lokalen Ämter standen den Juden nun offen, ihre Ausübung bedeutete jedoch häufig, daß der Sabbat und die jüdischen Feiertage nicht eingehalten werden konnten. Gleiches gilt für jüdische Geschäftsinhaber auf dem Land, die sich eine Schließung am Samstag, dem besten Geschäftstag, nicht leisten konnten. Die größten Gewinner der Akkulturation waren anfänglich die jüdischen Frauen und Mädchen, die vor der Emanzipation nie offiziellen Unterricht gehabt hatten. Der niederländische Volksunterricht war traditionell koedukativ, und die jüdischen Schulen des 19. Jhs. übernahmen dieses Prinzip. Der wirtschaftliche Aufstieg war schwieriger und vollzog sich auch später. Im Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern blieben die Niederlande lange rückständig. Der Industrialisierungsprozeß setzte erst in den siebziger Jahren des 19. Jhs. richtig ein. Dann verbesserte sich jedoch die wirtschaftliche Lage, und auch die Juden fanden neue Erwerbsmöglichkeiten, vor allem in der Diamantenindustrie. Auch fanden Juden ihren Platz im kulturellen und wissenschaftlichen Leben des Landes. Vor allem in den medizinischen Fächern und in der Jurisprudenz waren sie stark vertreten. Der Aufstieg der niederländischen Juden und ihre Integration in die nichtjüdische Gesellschaft verlief vergleichsweise unauffällig, so daß sich nur geringer öffentlicher Widerstand bemerkbar machte. Hinzu kam, daß die niederländische Gesellschaft in verschiedene Lebenswelten aufgeteilt war, die kaum miteinander in Berührung kamen. Die niederländischen Protestanten und Katholiken waren so mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, daß sie für die Juden kaum Interesse aufbrachten. Dies gilt besonders für die Katholiken, die um ihre eigene Gleichberechtigung ringen mußten. Diese wurde ihnen offiziell erst 1853 zugestanden. Da das Sozialwesen in den Niederlanden ganz von den Kirchen getragen wurde, waren die Juden unabhängig von ihrer finanziellen Situation gezwungen, ihre eigenen Krankenhäuser, Waisenhäuser und andere Einrichtungen zu organisieren. Die reiche und vollkommen assimilierte Oberschicht der jüdischen Gemeinschaft hat sich nie ihren sozialen Pflichten entzogen. Dank ihren Bemühungen und Spenden konnten viele und oft sehr fortschrittliche jüdische Einrichtungen entstehen. Die Außenwelt klopft an die Tür Trotz seiner ganz auf den niederländischen Kontext ausgerichteten Orientierung war das niederländische Judentum während des 19. Jhs. mehrfach mit Problemen der jüdischen Welt außerhalb der Niederlande konfrontiert, so z. B. im Fall des Jungen Edgardo Mortara aus Bologna, der 1858 ohne Wissen seiner Eltern getauft und dann gegen ihren Willen den päpstlichen Behörden übergeben worden war.2 Die Vorsteher der jüdischen Gemeinde setz2

Vgl. hierzu auch den Artikel zu Italien in diesem Band S. 360.

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ten sich bei der niederländischen Regierung für eine Intervention beim Papst ein, die allerdings genauso erfolglos blieb wie die Proteste anderer Regierungen. Ein geplanter Handelsvertrag zwischen der Schweiz und den Niederlanden war 1867 Anlaß für die niederländischen Juden, die mittelalterlichen Lebensbedingungen der Juden in der Schweiz anzuprangern. So wandte sich der ehemalige Justizminister Michael Henri Godefroi, jüdischer Abgeordneter der liberalen Partei, im niederländischen Parlament mit großem Erfolg gegen die Ratifizierung des Vertrags. Während der Pogrome in Rußland nach dem Attentat auf Zar Alexander II. im Jahre 18813 legte der niederländische Botschafter auf Bitten der niederländischen Juden mehrfach Protest ein. Als am Ende des 19. Jhs. die ersten jüdischen Flüchtlinge aus Rußland in die Niederlande kamen, wurde eine Organisation zum schnellstmöglichen Weitertransport der Flüchtlinge in die Vereinigten Staaten gegründet. Man war zwar generell zur Hilfe bereit, doch waren fremde Juden im eigenen Land unerwünscht, insbesondere die osteuropäischen Juden mit ihrer traditionellen jüdischen Kleidung und der jiddischen Sprache, die in starkem Kontrast zum assimilierten Judentum der Niederlande standen. Kalt und abwehrend wurden nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs auch die belgischen Juden empfangen, die nach dem Einfall der deutschen Truppen in die Niederlande geflüchtet waren. Unter ihnen befanden sich viele Ostjuden, die sich vergebens um eine Annäherung an die niederländische zionistische Bewegung, die 1899 gegründet worden war, hier jedoch nie viele Anhänger gefunden hatte, und an die jüdischen Sozialisten bemühten. So kehrten die jüdischen Flüchtlinge aus Belgien nach 1918 wieder in ihre Heimat zurück. Erst als 1933 die nationalsozialistische Partei unter Führung Adolf Hitlers in Deutschland an die Macht kam und die ersten politischen Flüchtlinge, darunter auch zahlreiche Juden, ins Land kamen, änderte sich allmählich die selbstzufriedene und fremdenfeindliche Haltung der niederländischen Juden. Unter dem Einfluß der jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland gewann der 1931 gegründete Verband der liberal-religiösen Juden in den Niederlanden an Einfluß, doch verfügte er bis zum Jahr 1940 über nicht mehr als tausend Mitglieder. Die Mehrheit der in sozialer Hinsicht vollständig assimilierten niederländischen Juden verblieb in orthodoxen Gemeinden. Stark traditionell gebunden, hielt man fest an Beschneidung, jüdischer Trauung und Bestattung, obwohl der Zahl der gemischten Ehen nach 1914 stetig zunahm. Als die Wirtschaftskrise nach 1933 in den Niederlanden immer verheerendere Auswirkungen zeigte und der politische Druck von seiten der nationalsozialistischen Regierung in Deutschland zunahm, versuchte die niederländische Regierung den Strom der deutsch-jüdischen Flüchtlinge einzudämmen. Die „Nationaal Socialistische Beweging“ (NSB) zählte eine wachsende Anhängerschaft, und erstmals in der niederländischen Geschichte wurden in nationalsozialistischen Zeitungen und von NSB-Politikern antisemitische Kampagnen ins Werk gesetzt. Gegen den Faschismus gerichtete Maßnahmen von Sozialdemokraten und 3 Vgl. hierzu den Artikel zu Rußland, Weißrußland, der Ukraine und dem Baltikum in diesem Band S. 190f.

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Kommunisten wurde oft als „Beleidigung eines befreundeten Staates“ (Deutschland) von den Behörden verboten. Dennoch wurde Amsterdam bereits ab 1933 eines der wichtigsten Zentren der deutschen Exilliteratur. Zwei Verlagshäuser, Allert de Lange und Querido, verlegten die wichtigsten Werke der in Deutschland verbotenen Autoren.

Besatzung und Schoa (1940–1945) In der Nacht des 10. Mai 1940 fiel die deutsche Armee in die Niederlande ein. Die technisch dürftig ausgestattete Armee konnte den Eindringlingen nur fünf Tage lang Widerstand leisten und mußte am 15. Mai vor der Übermacht der deutschen Truppen kapitulieren. Die Königin Wilhelmina und die Regierung waren zu diesem Zeitpunkt bereits nach London geflohen. Am 25. Mai 1940 wurde eine deutsche Zivilverwaltung eingerichtet, das Reichskommissariat für die besetzten niederländischen Gebiete unter Reichskommissar Dr. Arthur Seyß-Inquart, der die nationalsozialistischen Grundsätze mit viel größerer Radikalität durchsetzen konnte, als das unter einer Militärverwaltung, wie z. B. in Belgien, möglich gewesen wäre. Das Ziel des Reichskommissariats, die Niederlande als eine Provinz ins Deutsche Reich einzugliedern, scheiterte am wachsenden Widerstand des niederländischen Volkes. Die Zivilverwaltung ermöglichte die sofortige Konfiszierung der Bestände jüdischer, marxistischer und sonstiger als feindlich erachteter Institutionen und Bibliotheken. 1940 wurden das Internationale Institut für Sozialgeschichte, das 1935 zur Errettung der von den Nazis bedrohten Sammlungen in Deutschland gegründet worden war, das Archiv und die Bibliothek der internationalen Frauenbewegung, die Bibliotheken der Freimaurer und des Spinoza-Vereins samt den Bibliotheken der aschkenasischen und sefardischen Seminare in Amsterdam und der jüdischen Abteilung der Amsterdamer Universitätsbibliothek unter die Aufsicht der Beamten des Einsatzstabs des Reichsleiters Rosenberg gestellt und dann nach Deutschland abtransportiert. Die systematische Ausschließung der Juden aus dem öffentlichen Leben nahm im November 1940 mit der Entlassung aller jüdischen Beamten aus dem öffentlichen Dienst seinen Anfang. Im August 1941 war die Registrierung sämtlicher niederländischen Bürger abgeschlossen, wobei die Juden einen mit „J“ gekennzeichneten Ausweis erhielten. Von den 160 820 registrierten Personen jüdischer Abstammung waren nach der Definition der Nationalsozialisten 14 549 „Halbjuden“ und 2519 „Vierteljuden“. Trotz der vielen öffentlichen Proteste gegen den Ausschluß vollzog sich dieser Prozeß unter Mitarbeit der vorzüglichen holländischen Administration reibungslos. Im Februar 1941 war bei einer Schlägerei von holländischen Nazis, die im Amsterdamer Judenviertel unter Schutz der deutschen Besatzungsmacht randalierten, ein Nazi getötet worden. Dies bildeten den Anlaß für eine erste Razzia im jüdischen Viertel. 425 junge jüdische Männer wurden von der Sicherheitspolizei verhaftet und ins Konzentrationslager Mauthausen geschickt, wo sie alle umkamen. Kurz danach wurde auf Befehl der deutschen Behörden in Amsterdam ein „Judenrat“ ins Leben gerufen, der mit seinen zweitausend Be-

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amten, wie überall in den von Deutschland besetzten Gebieten, freiwillig oder unfreiwillig ein Werkzeug der nationalsozialistischen Politik wurde. In der Annahme, Schlimmeres verhüten zu können, organisierte der Judenrat die Durchführung der deutschen Maßnahmen, durch die innerhalb eines Jahres die jüdische Bevölkerung im ganzen Land aus dem öffentlichen Leben verdrängt, ihr Besitz beschlagnahmt, die Juden aus den Provinzen ins Ghetto Amsterdam getrieben und schließlich die Massendeportationen nach Polen ins Werk gesetzt wurden. Das Lager Westerbork, wo vor dem Krieg 750 deutsche Juden einquartiert waren, wurde als Durchgangslager genutzt, von wo aus die Züge nach Osten abfuhren. Die meisten niederländischen Juden hatte keine Wahl, als sie zur Deportation aufgerufen wurden. Unterzutauchen war schwierig und gefährlich. Nur etwa 24000 Juden konnten ein Versteck finden. Etwa ein Drittel von ihnen wurde entdeckt. Zwischen 1942 und dem Herbst 1944 wurden 107 000 Juden aus den Niederlanden nach Auschwitz, Birkenau, Bergen-Belsen und in andere Konzentrationslager deportiert. Nur 5500 von ihnen kehrten nach dem Krieg zurück. Der niederländische Widerstand, an dem sich verhältnismäßig viele Juden beteiligten, organisierte Hilfe für die versteckten Juden. Dabei entzogen sich immer mehr junge Niederländer der Zwangsarbeit in Deutschland. Die Kirchen ebenso wie die Linksparteien prangerten in der illegalen Presse die Verfolgung der Juden an. Mehr als 50 000 Niederländer verloren ihr Leben im Konzentrationslager und etliche Tausend wurden öffentlich hingerichtet. Nach der Befreiung Belgiens Anfang September 1944 sollte die britische Luftlandung bei Arnheim auch die Niederlande vom deutschen Joch befreien. Die Operation scheiterte jedoch, und der Herbst und Winter des letzten Kriegsjahres brachte das Land dem Abgrund nahe. Wohl wurde der Süden des Landes allmählich befreit, aber in den übrigen Gebieten herrschten Terror und Hunger. Am 5. Mai 1945 setzte die Kapitulation der deutschen Streitkräfte der Schreckenszeit ein Ende.

Rückblick und Wiederaufbau (1945–1990) Nach dem Abzug der deutschen Besatzungsmacht kam das öffentliche Leben in den Niederlanden nur langsam wieder in Gang. Die jüdischen Heimkehrer aus den Lagern und die aus ihren Verstecken aufgetauchten Juden fanden ein chaotisches Land vor, fast ohne Transportmittel und mit einer völlig zerstörten Infrastruktur. Sie hatten die Schoa überlebt, doch ansonsten alles verloren: Familie, Arbeit, Wohnung und Besitz. Die Unterstützung von seiten des Staates und der jüdischen Hilfsorganisationen war nur spärlich, und die ersten Jahre der Neuorientierung waren in vielerlei Hinsicht traumatisch. Anfänglich hofften die Überlebenden noch, daß ihre Angehörigen doch noch zurückkehren würden. Bald mußte diese Hoffnung jedoch aufgegeben werden, und die täglichen Sorgen traten nun in den Vordergrund. Die niederländischen Juden der Nachkriegszeit fanden ihre alte, vertraute

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Welt nicht mehr vor. Ihr Verhältnis zum Staat und zu ihrer nichtjüdischen Umgebung hatte sich vollkommen geändert. Als Juden waren sie aus der niederländischen Gesellschaft ausgestoßen und ermordet worden, und der kleine Rest der Überlebenden war sich jetzt seiner Zugehörigkeit zum Weltjudentum stärker bewußt als je zuvor. Die bitteren Kriegserfahrungen wurden verstärkt durch die lieblose und bürokratische Haltung der Behörden. Besonders schmerzhaft war die Kontroverse über die Betreuung der 2041 jüdischen Waisenkinder. Die jüdische Gemeinschaft forderte die Herausgabe aller Kinder, um ihnen eine jüdische Erziehung geben zu können. Die niederländischen Behörden wollten jedoch die Kinder, die sich gut bei ihren protestantischen oder katholischen Pflegeeltern eingelebt hatten, nicht erneut aus ihrer Welt herausreißen. Erst 1949 wurde die Frage nach langem Tauziehen gelöst. 358 Kinder wurden schließlich ihren Pflegeeltern zugewiesen. Die schweren Geburtswehen des jüdischen Staates, der zunehmende Terror der britischen Mandatsregierung gegen den Strom von „Displaced Persons“, die in kaum seetüchtigen Schiffen Palästina zu erreichen suchten, wurden von den niederländischen Juden aufmerksam verfolgt. Viele von ihnen wollten nicht mehr in Europa leben. Zwischen 1948 und 1953 verließen 4492 jüdische Emigranten das Land. 1500 siedelten sich in Israel an, die übrigen in den Vereinigten Staaten. Genaue demographische Angaben über die niederländischen Juden gibt es nach 1953 nicht mehr, denn selbst wenn sie einer jüdischen Gemeinde oder Organisation angehörten, waren sie nicht länger zu einer Registrierung bereit. Die traumatischen Erfahrungen der Kriegszeit sind bis heute nicht vergessen. Für die Gegenwart sind daher nur ungefähre Zahlen zu nennen: Die orthodoxe Gemeinde, vereint in der niederländisch-israelitischen Kultusgemeinde (NIK), hat ungefähr 3000 Mitglieder, der Verband liberaler Juden (LJG) ungefähr 2500. Die 25 000 nicht religiös organisierten Juden sind Mitglieder vieler kultureller und politischer Vereine. Die ungefähr 10 000 Israelis, die in den Niederlanden leben, sind abseits des niederländisch-jüdischen Lebens geblieben. Sie haben häufig nichtjüdische Ehepartner und fühlen sich in der niederländisch-jüdischen Atmosphäre nicht zu Hause. Erst allmählich haben sich die Juden wieder in die niederländischen Gesellschaft integriert. Ihre wirtschaftliche Lage ist gegenwärtig bedeutend besser als vor dem Zweiten Weltkrieg, sie gehören meist der Oberschicht an und spielen eine bedeutende Rolle im politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Leben. Die alten Wunden sind vernarbt, und die niederländischen Juden stehen in reger und offener Verbindung mit der jüdischen Welt in Europa, Israel und den Vereinigten Staaten. Sie sind wachsam, kritisch und streitbar geworden, auch dem Staat gegenüber. In der niederländischen Gesellschaft ist im Laufe der Zeit ein wachsendes Verständnis für das Schicksal der Juden spürbar geworden. Die Gründung des Staates Israel ist von der niederländischen Regierung und den protestantischen Kirchen mit großer Zustimmung begrüßt worden, und Israel genießt besondere politische Unterstützung. Entgegen allen pessimistischen Vorhersagen über den Untergang des niederländischen Judentums, die in der Nachkriegszeit häufig geäußert wurden, existiert zu Beginn des 21. Jhs. eine kleine, aber vielschichtige und lebendige jüdische Gemeinschaft in den Niederlanden.

Jean-Philippe Schreiber

Belgien Das Mittelalter In Belgien liegen die Anfänge der Geschichte der Juden wahrscheinlich nicht vor dem 13. Jh. Seit dieser Zeit waren sie in Flandern und in Brabant ansässig. Vorher kamen Juden nur in Ausnahmefällen und für eine begrenzte Zeit dorthin, etwa auf der Flucht vor Verfolgungen in anderen Ländern oder als Händler auf der Durchreise. Zu der Zeit, als Juden begannen, sich auf dem Gebiet des heutigen Belgiens niederzulassen, hatte sich im westlichen Europa des Mittelalters bereits ein einschneidender Wandel in den jüdisch-christlichen Beziehungen vollzogen. Hatte es bis zum 11. Jh. noch eine einigermaßen friedliche Koexistenz von Juden und Christen gegeben, so hatten die Kreuzzüge und die anschließenden Verfolgungen sowie das kirchliche Judenrecht die Juden inzwischen zu einer ausgegrenzten und stigmatisierten Minderheit gemacht. Da es in den Niederlanden aus der Zeit vor den Kreuzzügen keine Tradition jüdisch-christlichen Miteinanders gab, lernte die christliche Bevölkerung die Juden hier von vornherein und ausschließlich als diskriminierte Randgruppe kennen. Die Juden, die im 13.Jh. in die Niederlande kamen, stammten aus drei Regionen: Die ersten kamen aus den Gemeinden entlang der Rheinschiene, vor allem aus den nahe an den Niederlanden gelegenen Städten wie Trier und Köln, aus denen sie seit dem Ende des 12. Jhs. aufgrund des Drucks der Zünfte und lokaler Verfolgungen abzuwandern begannen. Die meisten Emigranten begaben sich nach Osteuropa, ein Teil aber auch nach Westen, unter anderem in das Herzogtum Brabant. Nach der Vertreibung der Juden aus England im Jahr 1290 gelangte eine kleine Anzahl von ihnen ebenfalls nach Brabant. Die von den französischen Königen im Verlauf des 14. Jhs. verfügten Vertreibungen brachten schließlich eine Reihe von Juden aus Frankreich in das Gebiet des heutigen Belgien. Im Hennegau wurden sie gastlich aufgenommen. Die Mehrzahl der Juden, die sich im 13. Jh. in Brabant ansiedelte, kam aus oder über Köln dorthin und ließ sich in der Nähe der Handelsstraße Köln–Brügge nieder. Ihre Ankunft fiel in eine Zeit wirtschaftlicher Expansion, in der Waren und Geld verstärkt zirkulierten und der Kreditbedarf entsprechend stieg. Bereits um 1200 lebten mehrere jüdische Familien in Leuven (Löwen) zwischen Maas und Schelde. In Tirlemont wurde auch ein auf das Jahr 1255 datierter Grabstein mit hebräischer Inschrift gefunden. Einen weiteren Hinweis auf die Existenz von Juden im Herzogtum Brabant bietet das Testament Herzog Heinrichs III. (1248–1261) sowie ein Briefwechsel zwischen seiner Witwe und Thomas von Aquin (1225–1274). Heinrich III. hatte in seinem Testament verfügt, daß die Juden und die Cahorsins, die christlichen Geldverleiher, aus Brabant ausgewiesen werden sollten,

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wenn sie weiterhin Wucher trieben. Die Witwe hielt sich nicht an diese Verfügung, sondern erbat sich von Thomas von Aquin einen Rat darüber, auf welche Weise ein christlicher Staat mit den Juden und deren Vermögen umgehen solle.1 Straßen- und Stadtteilbenennungen belegen die Präsenz von Juden in Brüssel um 1260 und in Antwerpen für das Jahr 1292. Schließlich gibt es auch verschiedene Hinweise auf eine Präsenz von Juden im Hennegau, wo ihnen Graf Wilhelm im frühen 14.Jh. seinen Schutz gewährte. Die Juden waren in den südlichen Niederlanden im wesentlichen als Pfandleiher tätig. Dies brachte sie in Widerspruch zu der christlichen Bevölkerung, die die Juden häufig auf grausamste Weise verunglimpfte und schmähte, um sich so ihrer Gläubiger zu entledigen. Darüber hinaus standen die lombardischen Bankiers im Darlehensgeschäft zu den Juden in einem ähnlichen Konkurrenzverhältnis wie die Zünfte im Handel. 1350 führte die Ansiedlung von Lombarden in Antwerpen sogar zur Zerstreuung der dortigen jüdischen Gemeinde. Der aggressive Antijudaismus der Kirche fachte die allgemeine Judenfeindschaft weiter an. Nur die weltlichen Herrscher kamen den Juden, wenn es ihren wirtschaftlichen Eigeninteressen diente, gelegentlich zu Hilfe. Gegen Bezahlung gewährten sie ihnen sicheres Geleit, Niederlassungsrechte und die – allerdings rein formale – Garantie bestimmter Privilegien. Gegenüber anderen Fremden, z. B. den englischen Händlern, denen man im 14. Jh. in Brabant großzügige Privilegien verlieh, blieben die Juden immer benachteiligt. Für sie war die Konversion zum Christentum der einzig mögliche Weg zur Integration in die städtische Gesellschaft. Im Verlauf des 14. Jhs. wurden die Juden in den Niederlanden Opfer einer Serie gewaltsamer Ausschreitungen, die schließlich das Ende des mittelalterlichen Judentums in dieser Region bedeuteten. Bereits 1309 führte die Organisation eines Kreuzzugs, an dem sich vor allem einfache Leute beteiligten, zu einer Eskalation der Gewalt. So starben z. B. in Schloß Born in der Nähe von Maastricht zahlreiche Juden, die dort Schutz gesucht hatten. Die durch vorgebliche Brunnenvergiftung ausgelösten Verfolgungen der Pestzeit 1348/49 zerstörten dann fast alle jüdischen Gemeinden in der Region. Aus dem Hennegau waren die Juden nach 1349 fast vollständig verschwunden, und in Luxemburg blieb ebenfalls nur eine kleine Zahl zurück. Im Herzogtum Brabant sollten die wenigen Überlebenden der Gemetzel während der Pest schließlich 1370 wegen einer angeblichen Hostienschändung auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Von da an lebten bis zum Ende des Mittelalter wahrscheinlich nur noch einige Dutzend jüdischer Familien in den Niederlanden. In Brüssel hielt sich bis ins 18.Jh. hinein vermutlich kein einziger Jude mehr auf.

1 In den Aussagen des Thomas von Aquin zum rechtlichen Status der Juden vgl. auch den Beitrag zum Heiligen Römischen Reich in diesem Band S. 23.

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Vom Kryptojudentum zur Toleranz Bis zum Ende des 15. Jhs. siedelten sich keine Juden mehr in den südlichen Niederlanden an. Seit dieser Zeit begannen jedoch spanische und vor allem portugiesische Conversos oder „Neuchristen“, die auf der Iberischen Halbinsel z. T. unter Zwang, z. T. mehr oder weniger freiwillig zum Christentum übergetreten waren,2 sich als Kaufleute, die mit Edelsteinen, Gewürzen und Wein handelten, in Antwerpen niederzulassen. Sie lebten nach außen hin als gläubige Katholiken, aber nicht wenige von ihnen praktizierten insgeheim die jüdische Religion. Ihre Anwesenheit stützte sich auf eine Urkunde des burgundischen Herzogs Philipp des Kühnen, mit der er 1386 portugiesischen Händlern den Aufenthalt in Flandern gestattet hatte, auf ein entsprechendes Privileg der Stadt Antwerpen aus dem Jahr 1480 sowie auf zwei für die Ansiedlung von „Neuchristen“ günstige Edikte Kaiser Karls V. (1500– 1558), der neben dem Römischen Reich und Spanien auch über die Spanischen Niederlande herrschte, ein Gebiet, das etwa die heutigen Benelux-Staaten umfaßt und dessen zersplitterte Herrschaftsbereiche er erstmals zu einem geschlossenen Territorium zusammengefaßt hatte. Die Politik der relativen Toleranz gegenüber den Conversos, die in den 1527 und 1536 erlassenen Ansiedlungsedikten Karls V. zum Ausdruck kam, hatte nicht zuletzt wirtschaftliche Gründe. Die portugiesischen Conversos trugen in substantieller Weise zur Entwicklung des Antwerpener Handels bei und konnten diese starke Stellung durch die großzügige Politik ihnen gegenüber sogar noch ausbauen. Bald schon wurde jedoch öffentlich der Verdacht geäußert, daß sich unter den portugiesischen Kaufleuten auch Kryptojuden befänden, und das Klima der Toleranz wich in den dreißiger Jahren einer Phase der genauen Beobachtung, die in den vierziger Jahren dann in Unterdrückung umschlug. Karl V. verfügte eine Reihe von Maßnahmen gegen „Judaisierer“. Bekannt geworden ist der Fall des bedeutenden portugiesischen Kaufmanns Diogo Mendes, der nach einer Denunziation zusammen mit anderen Händlern verhaftet wurde. Man beschuldigte sie, mit den Juden von Thessaloniki in Kontakt zu stehen, den Gewürzhandel monopolisiert zu haben und zu „judaisieren“. Die Kritik der Antwerpener Kaufleute an diesem Vorgehen und eine Intervention des portugiesischen Königs hatten die baldige Freilassung der Verhafteten zur Folge. Das Beispiel zeigt, welch bedeutende finanzielle Interessen hier auf dem Spiel standen und in welchem Maße die Prosperität Antwerpens auf dem Handelsgeschick der Conversos beruhte. Die wirtschaftliche Unentbehrlichkeit der portugiesischen Kaufleute hinderte Zollbeamten und Mitglieder des Klerus jedoch nicht daran, die an der Mündung der Schelde ankommenden „Neuchristen“ genau zu beobachten, sie gelegentlich zurückzuschicken oder ein Lösegeld für sie zu verlangen. Einige Conversos trugen dem Kaiser Beschwerden über die schlechte Behandlung vor, konnten ihn jedoch nicht zum Eingreifen veranlassen. Da die Verfügungen über des Verbot des „Judaisierens“ kaum beachtet wurden, entzog Karl V. den 2

Vgl. den Beitrag zur Iberischen Halbinsel in diesem Band S. 338–341.

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„Neuchristen“ 1549 schließlich das Privileg, das ihnen die Ansiedlung in den Niederlanden gestattet hatte. Alle „Neuchristen“, die sich innerhalb der letzten sechs Jahren hier niedergelassen hatten, sollten das Land binnen eines Monats verlassen. Damit war einem großen Teil der in Antwerpen lebenden portugiesischen Kaufleute das Aufenthaltsrecht entzogen. Die städtischen Obrigkeiten widersetzten sich jedoch dem Edikt, weil sie die Stadt nicht in den wirtschaftlichen Ruin treiben wollten. Viele Conversos scheinen jedenfalls an den Ufern der Schelde geblieben zu sein. Eine große Zahl von ihnen verließ jedoch tatsächlich das Land. Da Antwerpen bereits seit den zwanziger Jahren des 16. Jhs. eine Drehscheibe für die Reiseroute von Conversos von der Iberischen Halbinsel in das Osmanische Reich oder nach Italien war, gingen die meisten von ihnen nach Venedig, Thessaloniki und Konstantinopel, von wo aus sie die wirtschaftlichen und kulturellen Verbindungen zu der Antwerpener Converso-Gemeinde aufrechterhielten. Erst der niederländische Aufstand gegen die spanische Herrschaft, der in den sechziger Jahren des 16. Jhs. begann, sollte die große Zeit der Antwerpener Converso-Gemeinde beenden. Nachdem die Eroberung der Stadt durch spanische Truppen im Jahr 1585 die Lage der dortigen Conversos prekär gemacht hatte und die Schließung der Schelde im Jahr 1595 den Fernhandel von Antwerpen aus vollends unmöglich machte, verließen zahlreiche Conversos endgültig die Stadt. Sie gingen z. T. nach Amsterdam, aber auch nach Bordeaux, Hamburg und London. Für die Wirtschaft Antwerpens war ihr Weggang ein schwerer Verlust, da der Wohlstand der Stadt gerade auf den ausländischen Händlern beruht hatte. Während 1572 etwa tausend Angehörige der „portugiesischen Nation“ in Antwerpen lebten, waren es im 17.Jh. nur noch wenige Dutzend. Wenn es auch zu dieser Zeit keine jüdischen Gemeindestrukturen gab, scheinen doch die zwischen 1584 und 1604 in den Vereinigten Niederlanden gedruckten Gebetbücher für in Antwerpen lebende Kryptojuden bestimmt gewesen zu sein. Diese waren meist Mitglieder großer sefardischer Handelshäuser, die u. a. mit Zucker, Gewürzen und anderen aus den Kolonien kommenden Waren wie Rohdiamanten, Silber und Perlen handelten und Angehörige in verschiedenen Gemeinden der sefardischen Diaspora besaßen. Je nach Ort traten sie als Katholiken, Protestanten oder Juden auf. Bis 1640 gaben viele Amsterdamer Juden auf Reisen nach Antwerpen vor, Katholiken zu sein. Nach dem Westfälischen Frieden (1648) begannen mehr und mehr Juden aus den Vereinigten Niederlanden, das Einreiseverbot in die Spanischen Niederlande nicht mehr zu beachten. Obwohl solche Verstöße aus ökonomischen Gründen bis zu einem gewissen Grad toleriert wurden, wurden alle Versuche holländischer Juden, sich auf Dauer in der Stadt niederzulassen – solche sind für die Jahre 1647, 1656 und 1672 belegt –, unter dem Druck der katholischen Kirche strikt abgelehnt. Im ganzen ist festzuhalten, daß sich die jüdischchristlichen Beziehungen in den durch das streng katholische Spanien regierten südlichen Niederlanden im 17. Jh. nicht weiterentwickelten. Im Vergleich zum 14. Jh. waren sie letztlich sogar regressiv, während in den Nachbarstaaten die Christen dem religiösen Anderssein der Juden allmählich mit größerer Toleranz begegneten. Erst gegen Ende des 17. Jhs. waren die in Antwerpen lebenden Krypto-Juden nicht mehr

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zur vollständigen Geheimhaltung ihrer Religion gezwungen. So machten sich die Obrig keiten nun nicht mehr die Mühe, die unterirdischen Gebetsräume der Juden zu schließen. Wahrscheinlich zog es nun auch immer mehr jüdische Kaufleute angesichts der überragenden Bedeutung Antwerpens für den Fernhandel in die Stadt. Zugleich wurde Antwerpen zum Zufluchtsort für Juden aus Amsterdam, die vor dem Krieg in den nördlichen Niederlanden flohen. Man wurde ihnen gegenüber zunehmend toleranter, zumal diese Juden, die seit fast einem Jahrhundert in einer Welt der Gewissensfreiheit und der relativen religiösen Toleranz gelebt hatten, sich nicht länger zu verstecken suchten.

Die Österreichischen Niederlande (1713–1794) Im Frieden von Utrecht (1713), der den Spanischen Erbfolgekrieg beendete, wurden die südlichen Niederlande den österreichischen Habsburgern zugesprochen. Für die dortigen Juden bedeutete dies, daß sie von nun an – wie in allen Teilen der Habsburgermonarchie – toleriert wurden. Abgesehen von der Verpflichtung, sowohl an die Zentralregierung als auch an die jeweiligen städtischen Obrigkeiten bestimmte Sondersteuern und sonstige Abgaben zu zahlen, unterlagen sie im 18.Jh. nur wenigen rechtlichen Beschränkungen. Neben ihrer wirtschaftlichen Prosperität und der Bedeutung des Antwerpener Hafens waren die südlichen Niederlande vor allem deshalb für Juden interessant, weil sie eine Brücke zwischen mehreren Regionen mit bedeutenden jüdischen Gemeinden bildeten: den Vereinigten Provinzen, dem Rheinland, der Pfalz und Lothringen. Außer wenigen in Antwerpen lebenden Juden existierte zu Beginn des 18. Jhs. auch in Brüssel eine jüdische Gemeinde, die einen Rabbiner aus Krakau hatte. 1756 verfügte der Generalstatthalter Karl von Lothringen, daß Juden, die sich in den Österreichischen Niederlanden ansiedeln wollten, eine dem Wiener „Toleranzgeld“ vergleichbare Kopfsteuer von 300 Gulden zu zahlen hatten. Diese Maßnahme, die dazu gedacht war, ärmeren Juden die Niederlassung zu verwehren, stellte also einerseits eine Form der Ausschließung dar. Andererseits trug sie paradoxerweise dazu bei, jenseits der bloßen Duldung die Legalität des Aufenthalts von Juden in den südlichen Niederlanden herauszustellen und bildete insofern eine Form der Einschließung. Da die Städte jedoch wenig Anstalten machten, der Vorschrift nachzukommen, wurde sie, auch auf Verlangen der Regierung der Vereinigten Niederlande, 1758 wieder abgeschafft. Voraussetzung für die Integration jüdischer Kaufleute in das städtische Wirtschaftsleben war der Zugang zum Bürgerrecht, das die freie Ausübung jedes Gewerbes ermöglichte und damit die Beschränkung auf bestimmte Berufsfelder aufhob. Der Erwerb des Bürgerrechts war jedoch grundsätzlich an das katholische Bekenntnis gebunden. Der erste bekannte Fall, in dem einem Antwerpener Juden dennoch das Bürgerrecht zugestanden wurde, stammt aus dem Jahr 1715. In der Folgezeit entschieden nicht mehr die städtischen Obrigkeiten, sondern die Zentralregierung über die Verleihung des Bürgerrechts. Von nun an wurden, in der Regel gegen den Willen der städtischen Obrigkeiten, mehr Gesuche von Juden in dieser

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Richtung bewilligt. Dabei wurde z. B. durch das Verbot des Kleinhandels darauf geachtet, daß der betreffende Bewerber den in der Stadt ansässigen Händlern und Handwerkern keine Konkurrenz machte. Von der Partizipation in der städtischen Politik blieben Juden, die das Bürgerrecht erhielten, ganz ausgeschlossen. Auch in Ostende, das während des englisch-niederländischen Krieges ein wichtiges Bindeglied zwischen Amsterdam und London darstellte, lebten zu dieser Zeit viele jüdische Kaufleute aus Holland und England. 1781 erhielt hier ebenfalls ein Jude das Bürgerrecht. Mehrere ähnliche Gesuche anderer Juden beschieden die lokalen Obrigkeiten jedoch abschlägig. Als die Angelegenheit vor den Conseil de Flandre, das Landesgericht, gebracht wurde, reagierte dieser dagegen im Geist der Toleranz und des aufklärerischen Gedankenguts, auf deren Basis man zur selben Zeit in Frankreich und anderswo die Gleichstellung der Juden voranzutreiben suchte. So wurde auch hier der Gegensatz zwischen der antijüdischen Haltung der städtischen Obrigkeiten und dem relativen Wohlwollen der Zentralregierung deutlich. Letztere setzte sich bei allen Einzelentscheidungen durch. 1785 wurde schließlich per Dekret festgelegt, daß bestimmte Juden mit Zustimmung der Regierung das Bürgerrecht erwerben konnten. Da die Zünfte sich jedoch weigerten, Juden aufzunehmen, blieben diese, wenn sie sich nicht illegal in einem Gewerbe betätigen wollten, nach wie vor auf den nicht durch das Zunftwesen reglementierten Großhandel angewiesen, der allerdings einen hohen Kapitaleinsatz erforderte. Nach einer Erhebung aus dem Jahr 1756 lebten in den Österreichischen Niederlanden zu dieser Zeit nur 76 Juden. Diese Zählung war jedoch unvollständig, weil lediglich Juden mit festem Wohnsitz, nicht aber Kaufleute, die sich nur zeitweise dort aufhielten, oder Hausierer berücksichtigt worden waren. 1786 wurde die Zahl der Juden in Brüssel auf 100 geschätzt. Darunter befand sich, entgegen den Intentionen des Dekrets von 1756, eine große Zahl von Armen, Vagabunden und Flüchtlingen aus den Nachbarstaaten. Aufgrund der Umwälzungen der achtziger Jahre, angefangen mit der Ausdehnung des 1781 für Österreich erlassenen Toleranzpatents auf die Niederlande, strömten zahlreiche weitere Juden, vor allem aus Deutschland, ins Land. Das Toleranzpatent des römisch-deutschen Kaisers Joseph II. von 1781 hatte den christlichen Minderheiten gegolten. Die einheimischen Juden wurden darin nicht einmal erwähnt, was wohl an ihrer verschwindend geringen Zahl in den südlichen Niederlanden lag. De facto konnten sie von der Garantie bürgerlicher Toleranz für Protestanten und GriechischOrthodoxe sowie von den verschiedenen Hofdekreten und Verordnungen aus den Jahren 1781 bis 1789 profitieren, ohne daß sich ihr rechtlicher Status allerdings wirklich änderte. Juden besaßen realiter nur wenige Rechte und waren nach wie vor keine gleichberechtigten Bürger, weshalb sie dem Fremdenrecht unterlagen. Gleichwohl waren die Verordnungen Josephs II. ein Schritt in Richtung politischer Emanzipation.

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Die „Franzosenzeit“ (1794–1815) Nach der Eroberung Belgiens durch französische Truppen kamen die ehemaligen Österreichischen Niederlande unter französische Herrschaft. 1795 wurden sie zusammen mit dem Fürstbistum Lüttich und dem Herzogtum Bouillon Teil der Republik Frankreich und übernahmen sowohl die französische Verfassung als auch das französische Verwaltungssystem. Jüdische Männer erhielten nun die vollen Bürgerrechte, die sie in Frankreich bereits 1790 beziehungsweise 1791 erlangt hatten. Damit war die Zeit der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen „Tolerierung“ vorbei. Bis 1815 unterlagen die belgischen Juden nun den Bestimmungen der napoleonischen Politik.3 Innerhalb des von Napoleon geschaffenen Konsistorialsystems wurden die Juden in den neun belgischen Départements den rheinischen Konsistorien von Krefeld und Trier angeschlossen. Nach einer Zählung der jüdischen Bevölkerung von 1808 betrug die Zahl der Juden in den belgischen Departéments zu dieser Zeit insgesamt nur 852. Die größte Gemeinde existierte mit 215 Personen in Maastricht, der Hauptstadt des Départements Meuse Inférieure, das insgesamt 490 Juden zählte. In den Jahren 1808 bis 1810 erlebten die belgischen Départements einen wachsenden Zustrom jüdischer Hausierer, die allerdings nicht selten nur vorübergehend im Land blieben. Dieser Zustrom stand wohl im Zusammenhang mit den Bewegungen der napoleonischen Truppen und der Zuwanderung von holländischen Juden nach der Einverleibung des Königreichs Holland in das französische Kaiserreich im Jahr 1810. Obwohl man sie zu vertreiben drohte, schlossen sich jüdische Immigranten vor allem aus Holland den belgischen Gemeinden an. Dies gilt speziell für das Jahr 1815, in dem die starke Präsenz ausländischer Truppen dem überregionalen Warentausch zugute kam. Um vom Wohlwollen der Staatsmacht und der über diese vermittelten symbolischen Autorität zu profitieren, sahen die Konsistorien ihre Hauptaufgabe in der Beförderung der Ideen der „Régénération“ der Juden. Entgegen dem Geist der Emanzipation von 1791 ging die napoleonische Politik wieder dazu über, Juden sozial-religiös zu definieren und den Gemeinden eine kollektive Verantwortung für ihre Mitglieder aufzuerlegen. Folglich mußten die Konsistorien auf solche Gemeindemitglieder Druck ausüben, die die ohnehin prekäre Achtung der gesamten Gemeinde zu gefährden und latente Vorurteile gegenüber Juden zu aktivieren drohten. Das napoleonische System schwächte die Solidarität in den Gemeinden, indem die jüdischen Oberschichten ihre Achtbarkeit und ihren Einfluß auf Kosten der Ärmsten unter den Neuzuwanderern etablierten. In der Entsolidarisierung der Gemeinden liegen zweifellos die Anfänge der gesellschaftlichen Spaltung der Juden zu Beginn des 19. Jhs. und des Aufstiegs einer jüdischen Mittelschicht in Belgien.

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Zu Napoleons Judenpolitik vgl. den Beitrag zu Frankreich in diesem Band S. 399–401.

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Unter der holländischen Krone (1815–1830) Die fünfzehn Jahre, in der die belgischen Provinzen der holländischen Krone unterstanden, hatten auf den neuen Entwurf jüdischen Daseins und die Beziehungen der Juden zur Mehrheitsgesellschaft zweifellos eine positive Wirkung. Diese Zeit ist vor allem im Hinblick auf drei Aspekte von Interesse: Sie sollte der jüdischen Gemeindeelite in diesen wenigen Jahren eines außerordentlichen Wirtschaftswachstums eine beachtliche soziale Mobilität ermöglichen. Aus dieser Elite sollten in der Folge einige der nach 1831 bedeutenden Gemeindeführer hervorgehen. Und schließlich sollte die jüdische Bevölkerung seit 1815 infolge von Zuwanderung substantiell anwachsen, vor allem durch Zuwanderung aus den nördlichen Niederlanden. Hatten 1816 noch insgesamt 1159 Juden im Raum von Maastricht und Brüssel gelebt, so waren es unmittelbar vor der Erlangung der belgischen Unabhängigkeit im Jahr 1830 bereits 3000 bis 3500 Juden. Im Vergleich zur Gesamtzahl der Juden im Königreich der Vereinigten Niederlande, die für das Jahr 1826 auf rund 43000 Personen geschätzt wird, war diese Zahl allerdings immer noch sehr gering. Unter der holländischen Herrschaft wurde das französische System der Organisation der jüdischen Kultusgemeinschaft abgeschafft. Damit sollte sichergestellt werden, daß alle Konfessionen den gleichen Schutz und die gleiche Unterstützung erhielten. Doch genossen die jüdischen Gemeinden zwar den Schutz des Staates, finanzielle Unterstützung aber erhielten sie nur in verschwindend geringem Maß. Im zukünftigen Belgien gab es nur eine einzige Ausnahme, die 1823 eingeweihte israelitische Volksschule von Brüssel, die kostenlose Schulbildung für Kinder aus armen jüdischen Familien anbot. Sie wurde von Hartog Somerhausen gegründet, einem belgischen Vertreter der Maskilim, und existierte bis 1879. Der in der „Franzosenzeit“ eingeleitete Trend zur Entsolidarisierung in den traditionellen jüdischen Gemeinden setzte sich unter der holländischen Krone fort. Das nun geschaffene System festigte und erweiterte sowohl die gemeindliche Organisation als auch den Geist der „Régénération“ der napoleonischen Zeit. Es schuf jedoch keine Unterscheidung zwischen der Wahrnehmung von Juden als Kollektiv und der Beschränkung der jüdischen Religion auf die Privatsphäre, wie sie die Emanzipation voraussetzte. So kann es kaum überraschen, daß sich in der religiösen Binnenwelt der Juden nach der Erlangung der belgischen Unabhängigkeit verschiedene Elemente wiederfinden, die auf den französischen und holländischen Modellen beruhen. Diese wurden nun jedoch von jüdischen Gemeindeexponenten selbst verwirklicht und nicht mehr wie bisher von einer politischen Macht erzwungen.

Die Unabhängigkeit (1830) Die Ausrufung des Königreichs Belgien führte zu einer deutlich veränderten Position der Juden in Staat und Gesellschaft. Die in der belgischen Verfassung verankerte, beinahe vollständige Trennung von Kirche und Staat begründete die Freiheit der Konfessionen ohne staatliche Bestimmung religiöser Organisation. Gleichzeitig machte sie der Erfassung der

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jüdischen Bevölkerung in sozial-religiösen Kategorien ein Ende und verwies die Ausdrucksformen der jüdischen Identität in die Privatsphäre. Rechtlich war für den Staat nur noch der jüdische Gottesdienst relevant. Dieser wurde durch ein im Jahr 1832 gegründetes zentrales Konsistorium verwaltet, das dank der einflußreichen gesellschaftlichen Position einiger seiner Mitglieder und des Zentralismus für das politische und religiöse Leben der Juden in Belgien im gesamten 19.Jh. beherrschend wurde. Zwei Migrationstrends bestimmten die Entwicklung der jüdischen Gemeinden Belgiens im 19. Jh. Der erste dieser beiden Trends setzte 1815 mit den kontinuierlich, vornehmlich aus Deutschland, Frankreich und den nördlichen Niederlanden in das Land strömenden Juden ein, eine Einwanderungsbewegung, die bis 1914 anhielt und die von den großen politischen Ereignissen – den Revolutionen von 1848/49 und dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 – und insbesondere von den Zyklen der ökonomischen Entwicklung bestimmt wurde. Die Führungsschicht der jüdischen Gemeinden rekrutierte sich im wesentlichen aus den sozialen Eliten unter diesen Einwanderern. Der zweite Migrationstrend, der sich schon in den sechziger Jahren abzeichnete, sich aber erst in den achtziger Jahren voll durchsetzte, brachte bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs Tausende von jüdischen Einwanderern aus Rußland und Österreich-Ungarn sowie in geringerer Zahl aus dem Osmanischen Reich nach Belgien. Diese Neuankömmlinge, der jüdischen Tradition meist eng verbunden und orthodox, sollten den Charakter des belgischen Judentums, das sich in diesem Stadium unter der Führung seiner stark von der Aufklärung beeinflußten Gemeindeexponenten der Mehrheitsgesellschaft bereits weit geöffnet hatte, nachhaltig prägen. Von den internen Veränderungen, die sich hierdurch ergaben, waren vor allem die drei großen jüdischen Gemeinden Belgiens – Brüssel, Antwerpen und Lüttich – betroffen, in kleinerem Maßstab aber auch die Gemeinde von Gent. Die einzige Gemeinde, die bis 1914 keinen größeren Wandel erfuhr, war die von Arlon, deren Angehörige in erster Linie aus Lothringen stammten.

Die Bipolarisierung zwischen Brüssel und Antwerpen Während des gesamten 19. Jhs. blieb Brüssel für das belgische Judentum die bedeutendste Stadt. Durch die Zuwanderung aus dem Osten wuchs die jüdische Einwohnerschaft Antwerpens jedoch beträchtlich, so daß man zu Beginn des 20. Jhs. hier schließlich die größte jüdische Einwohnerschaft Belgiens zählte. Zu dieser Zeit lebten im gesamten Land etwa 17 000 Juden und Jüdinnen. Abgesehen von diesen beiden städtischen Zentren hatte bis nach dem Ersten Weltkrieg mit Ausnahme Lüttichs, wo gegen Ende des 19. Jhs. über 1000 jüdische Einwohner lebten, keine Gemeinde mehr als einige hundert Mitglieder. Die Geburtenraten der belgischen Gemeinden lagen zu niedrig, um ein Wachstum zu befördern. Dieses beruhte ausschließlich auf der Zuwanderung von Juden aus Osteuropa. Seit der Mitte des 19. Jhs. hatte sich die räumliche Struktur der Zentren des belgischen Judentums dauerhaft ausgebildet. Sie hat sich auch bis heute kaum verändert. Die jüdische Bevöl-

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kerung lebte ausschließlich in Städten, in den Gemeinden von Brüssel, Antwerpen, Gent, Lüttich und Arlon, die vom Staat mit der Gewährung der Unabhängigkeit anerkannt worden waren, sowie in den Gemeinden von Namur, Ostende und Charleroi, die 1874, 1904 bzw. 1928 anerkannt wurden. Die jüdische Gemeinde in Brüssel erfuhr in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. einen starken Wandel in demographischer, soziologischer und räumlicher Hinsicht. Nach anfänglicher Konzentration auf bestimmte Stadtteile verteilte sie sich fast über die gesamte Stadt und die im Zuge der Stadtentwicklung entstehenden Vororte. Die jüdischen Einwohner der Umgebung des Gare du Midi (Südbahnhof) waren vornehmlich aus Holland stammende Hausierer. Die anderen jüdischen Einwanderer waren eher in handwerklichen Zweigen der Konsumindustrie und der verarbeitenden Industrie tätig. Sie stellten Kopfbedeckungen her und arbeiteten als Schneider oder Kürschner, bildeten also ein Reservoir verhältnismäßig qualifizierter Arbeitskräfte, die sich mit einem sehr geringen Startkapital eine Existenz schufen. In Antwerpen konzentrierte sich die jüdische Bevölkerung dagegen jahrzehntelang um den Bahnhof. Diese wuchs von 5000 Personen im Jahr 1893 auf 20 000 Personen im Jahr 1914. Der Zuwachs muß zwischen 1892 und 1902 ungefähr 60% betragen haben und stieg von 1902 bis 1910 auf 100%. Dieses starke Wachstum stand aller Wahrscheinlichkeit im Zusammenhang mit dem Russisch-Japanischen Krieg von 1904/1905. Viele Juden, die sich eigentlich von Antwerpen aus nach Nordamerika oder Großbritannien einschiffen wollten, blieben letztlich in der Stadt, weil sie die Passage nicht bezahlen konnten. Nachdem die Größe der Antwerpener jüdischen Gemeinde die der Brüsseler Gemeinde im ersten Jahrzehnt des 20. Jhs. überstiegen hatte, konzentrierten sich sämtliche Aktivitäten jüdischer Vereinigungen, die durch die Immigranten und die Wiederbelebung der jüdischen Kultur neue Impulse erhielten, auf Antwerpen. Der Zionismus faßte in Antwerpen schnell Fuß und wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg zu einer sehr einflußreichen Kraft. Auf politischer Ebene spaltete sich die Orthodoxie 1912 in Zionisten und Anhänger der streng-religiösen „Agudat Israel“. Jugendbünde wurden gegründet, vor allem von seiten der Zionisten. Zu den kleinen Exilgruppierungen der russischen und deutschen Sozialdemokraten und Sozialisten zählten auch jüdische Mitstreiter. Die jüdische Presse erlebte eine wahre Blütezeit. Zeitschriften wie die Ha-Tikwa, das Sprachrohr der Zionistischen Vereinigung Belgiens, wurden von einem internationalen Publikum gelesen. Auf diese Weise verdrängte Antwerpen Brüssel im Lauf weniger Jahre als Zentrum jüdischen Lebens in Belgien und entfaltete eine außerordentliche religiöse, politische und kulturelle Bedeutung. Juden waren bereits seit dem 16. Jh. für die Antwerpener Diamantenindustrie von Bedeutung gewesen. Die Entdeckung der ersten Diamantenvorkommen in Südafrika 1866 und 1867 führte zu einer Überflutung des Marktes mit Steinen, wodurch sich in Amsterdam und Antwerpen der Ausbau und die Modernisierung der Werkstätten deutlich beschleunigten. Die Diamantenschneider und -schleifer akkumulierten in entsprechendem Maße Kapital und wurden selbst Hersteller und Händler. Beide Städte wurden damit für jüdische Immigranten aus Osteuropa immer attraktiver. Vor allem diese Zuwanderung von billigen Arbeitskräften aus dem Osten hat die Entwicklung dieses Wirtschaftszweigs seit

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1880 vorangetrieben und Antwerpen schließlich zum bedeutendsten Diamantenzentrum der Welt gemacht. Ein weiteres Tätigkeitsfeld belgischer Juden war der Handel mit Pferden und Vieh, den vor allem Juden aus Arlon und Umgebung trieben. Sie stammten ursprünglich zu einem großen Teil aus dem Elsaß und aus Lothringen, wo der jüdische Vieh- und Pferdehandel Tradition hatte. Zudem verhielt Belgien sich in politischer wie ökonomischer Hinsicht verhältnismäßig großzügig und wurde durch die frühe Industrialisierung zu einem wichtigen Zentrum der Finanzwelt. Das Land konnte auf die ökonomische Initiative seiner jüdischen Einwohner bauen, die zu Begründern von Unternehmen im Industrie-, Handels- und Bankwesen wurden. Genannt seien die Familien Oppenheim und Errera, die zu den Gründern der Banque de Bruxelles gehörten, die Bischoffsheims, die die Bank gleichen Namens und die Banque de Paris et de Pays-Bas aufbauten, die Familien Cahen, Cassel, Philippson und nicht zuletzt die Familie Lambert, die für König Leopold I. und Leopold II. Berater und Vertreter der französischen Rothschild-Bank in Belgien stellte. Die von der Französischen Revolution ausgehende Idee der Emanzipation, die in der belgischen Verfassung festgeschrieben war, förderte die Integration der Juden in die belgische Nation. Insofern war die aus der französischen Aufklärung stammende Idee der „Régénération“ des Judentums in Belgien ein Erfolg, obwohl sich punktuell immer wieder christlichantijüdische oder antisemitische Feindschaft von seiten rassistischer und sozialistischer Kräfte manifestierte und obwohl zu keinem Zeitpunkt ein Klima wirklicher Sympathie für die Juden herrschte. Auch in Belgien gab es „Dreyfusards“ und „Anti-Dreyfusards“.4 Gerade die junge sozialistische Bewegung war häufig ausgesprochen antijüdisch. Die katholische Kirche, die in Belgien eine beherrschende Stellung einnahm, perpetuierte den christlichen Antijudaismus. In ökonomischer Beziehung schließlich waren die blühende Entwicklung der jüdischen Kreditinstitute einerseits und der massenhafte Zustrom von mittellosen jüdischen Einwanderern andererseits für unterschiedliche nichtjüdische Gruppen ein Anlaß, soziale Abstiegsängste auf die Juden als Gruppe zu projizieren.

Die Zwischenkriegszeit Nach dem Ersten Weltkrieg veranlaßten die wirtschaftliche Lage und der gesteigerte Antisemitismus in Polen viele Juden, in den Westen auszuwandern. Die Verschärfung der Quotenregelungen der USA nach 1918 zwang vor allem polnische, rumänische und ungarische Migranten, in westeuropäische Länder zu gehen, darunter auch nach Belgien, das sich in einer Phase der Prosperität befand. Darüber hinaus zog der gute Ruf der belgischen Universitäten viele jüdische Studenten aus Osteuropa an, die in Polen und Rumänien mit dem antijüdischen Numerus clausus diskriminiert wurden. Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus setzte schließlich eine letzte Einwanderungswelle ein: Mehr als 25 000 deutsche 4

Zur Dreyfus-Affäre vgl. den Artikel über Frankreich in diesem Band S. 405f.

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und österreichische Juden fanden, hauptsächlich nach 1938, vorübergehend oder auf Dauer Zuflucht in Belgien. Die Zahl der Juden in Belgien stieg daher von 40000 im Jahr 1914 über 50 000 bis 55 000 Anfang der dreißiger Jahre auf 70 000 unmittelbar vor der belgischen Kapitulation und der Unterstellung des Landes unter die deutsche Militärverwaltung im Mai 1940. Diesen einschneidenden Veränderungen entsprach ein tiefgreifender Wandel innerhalb des belgischen Judentums. Die Neuzuwanderer schufen sich in Belgien Lebensbedingungen, die ihnen aus ihren Herkunftsorten vertraut waren. In Städten wie Antwerpen, Brüssel, Lüttich und Charleroi lebten sie in eigenen Wohnvierteln in der Nähe der Bahnhöfe. Ihre Berufsstruktur blieb traditionell, je nach Ankunftsperiode: Den ersten Zuwanderern gelang es überwiegend, kleine handwerkliche Familienbetriebe und -unternehmen aufzubauen. Die späteren Einwanderer, die oft vorübergehend in Fabriken, im Bergbau, in Werften oder in der Metallverarbeitung gearbeitet hatten, wurden durch die Rezession häufig in die traditionellen jüdischen Erwerbszweige zurückgedrängt, vor allem die Heimarbeit als Gelegenheitsschneider. Die Juden konzentrierten sich in Klein- und Einzelhandel, in der Bekleidungs- (Schneider, Kürschner, Strumpfhersteller, Handschuhmacher) und der Diamantenindustrie, der Herstellung von Luxuslederartikeln sowie unter Hausierern und reisenden Kaufleuten. Neben ihren sozioökonomischen Traditionen, ihren räumlichen und sozialen Organisationsstrukturen ihrer Kultur und ihrer Denkweise brachten die jüdischen Immigranten auch ihre intensiven politischen Aktivitäten in ihr neues Heimatland mit. Während das Judentum des 19. Jhs. nur in den unter dem Konsistorium stehenden religiösen Gemeinden organisiert waren, bildeten die Neuzuwanderer als De-facto-Gemeinschaft ein Mosaik aus heterogenen Organisationen und Vereinigungen philanthropischer, sportlicher, religiöser, kultureller, gewerkschaftlicher, beruflicher und vor allem politischer Ausrichtung – von den Zionisten mit einem breiten Spektrum von rechts bis links bis zu den Marxisten, die sich in „Bundisten“, Zionisten-Sozialisten und Kommunisten aufspalteten. In der Vitalität der jüdischen Presse der Zwischenkriegszeit ist diese Politisierung und die Bedeutung der miteinander eng vernetzten Vereinigungen besonders evident. Über 100 jüdische Periodika sind zwischen 1930 und 1940 in Belgien erschienen, unter anderem sechs jüdische Tageszeitungen in jiddischer Sprache. Die geschilderten Aktivitäten der jüdischen Immigranten und die Fülle der von ihnen gebildeten Vereinigungen machen jedoch auch deutlich, daß diese Gemeinschaft im wesentlichen auf sich selbst bezogen lebte, was durch den wachsenden Antisemitismus noch verstärkt worden sein dürfte. Insofern stellen sie auch ein klares Indiz für die mangelnde Eingliederung der Einwanderer in die belgische Gesellschaft dar. Insgesamt läßt sich sagen, daß der Prozeß der Integration der Juden in die belgische Gesellschaft durch die Einwanderungswelle im letzten Viertel des 19. Jhs., die den Charakter der Gemeinden nachhaltig veränderte und die mit dem Aufkommen des modernen Antisemitismus seit den siebziger Jahren koinzidierte, sowie die Einwanderungswelle in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jhs., die mit der katastrophalsten Eskalation des Antisemitismus in der Geschichte

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der jüdischen Diaspora zusammentraf, signifikant abgebremst wurde. Durch diese Einwanderungswellen wandelte sich die Stellung der jüdischen Gemeinschaft innerhalb der belgischen Gesellschaft grundlegend, was umgekehrt zu einer veränderten Wahrnehmung der Juden durch die Mehrheitsgesellschaft führte.

Schoa und Neubeginn Der Machtantritt Hitlers im Deutschen Reich 1933 traf die jüdische Gemeinschaft Belgiens in einer Phase tiefgreifenden sozialen Umbruchs. Durch ihre Heterogenität gelangte sie trotz der existentiellen Bedrohung durch die Nazis nicht zu einer gemeinsamen und konsequenten Abwehrhaltung. Nach der belgischen Kapitulation am 28. Mai 1940 stand das Land bis zu seiner Befreiung im September 1944 unter deutscher Militärverwaltung. Ein Teil der Juden, die sich zu Beginn der Besetzung in Belgien aufgehalten hatten, floh vor den deutschen Truppen, viele nach Frankreich, wo sie zum Teil schließlich doch wieder dem Zugriff der Nationalsozialisten ausgesetzt waren. In Belgien selbst folgte auf die Diskriminierung, Ausgrenzung und wirtschaftliche Unterdrückung der dort verbliebenen oder dorthin zurückbeorderten Juden seit dem Juli 1942 schließlich die Deportationen in die Vernichtungslager. Von den über 25 000 Opfern, die bis Ende Juli 1944 deportiert wurden, kehrten nach dem Krieg nur etwa 1200 zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Situation der Juden in Belgien erneut sehr stark durch Migration geprägt. Tausende von jüdischen Flüchtlingen aus Mittel- und Osteuropa kamen bis in die fünfziger Jahre hinein ins Land und hielten sich hier eine Zeitlang auf, während sie auf eine Einreisegenehmigung für die USA oder Israel warteten. In den sechziger Jahren nahmen dann sowohl Immigration als auch Emigration deutlich ab, und die jüdische Gemeinschaft in Belgien stabilisierte sich. Heute leben etwa 30 000 Juden in Belgien, die meisten in Brüssel und Antwerpen. Kleinere Gemeinden existieren in Charleroi, Ostende, Gent, Lüttich, Arlon und Knokke.

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Großbritannien und Irland Jüdisches Leben in Großbritannien bis 1290 Wahrscheinlich gab es bereits im römischen Britannien Juden, aber vor der normannischen Eroberung im Jahr 1066, nach der Wilhelm I. („der Eroberer“) König wurde, ist von einer permanenten jüdischen Ansiedlung nichts bekannt. Wilhelm I. brachte in seinem Gefolge auch jüdische Händler mit nach Britannien, die für die nächsten 220 Jahre als offizielle Steuerpächter der Herrscher und als Geldverleiher agierten. Da den Christen der Geldverleih gegen Zinsen verboten war, überließen die normannischen Könige diese Tätigkeit gern den verachteten Juden. Etwa fünfzig Jahre nach der normannischen Eroberung hatte sich bereits eine bedeutende jüdische Gemeinschaft in Großbritannien entwickelt. London war das Zentrum des jüdischen Lebens in England, weitere bedeutende Gemeinden gab es in York, Oxford, Cambridge und Lincoln. Darüber hinaus gab es in zahlreichen weiteren Städten jüdische Viertel, die sogenannten „Jewries“. Insgesamt existierten im mittelalterlichen England etwa 120 jüdische Gemeinden. Sie waren recht wohlhabend und bekannt für ihre massiven Steinhäuser. Juden stellten im mittelalterlichen England etwa ein halbes bis ein Prozent der Bevölkerung. Im Jahr 1290 betrug ihre Gesamtzahl nach modernen Schätzungen etwa 16000 Personen. Waren die Beziehungen zwischen den Juden und der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft anfangs noch recht gut, so begannen sie sich seit der Mitte des 12. Jhs. stetig zu verschlechtern. So hatte England einige der schlimmsten Ausbrüche antijüdischer Gewalt im mittelalterlichen Europa zu verzeichnen. Die erste bekannte Ritualmordanschuldigung überhaupt trug sich 1144 in Norwich zu, wo die jüdische Gemeinde beschuldigt wurde, den Jungen William entführt und ermordet zu haben, um sein Blut für ihre religiösen Praktiken zu verwenden. Noch bekannter ist die Ritualmordbeschuldigung, die 1255 in Lincoln erhoben wurde, da das angebliche Opfer, der Junge Hugo, später heiliggesprochen wurde. Im Jahr 1190 entlud sich der durch die Vorbereitungen für den Dritten Kreuzzug geschürte Judenhaß in einem Massaker an 150 Juden in York, die in Clifford’s Tower, einer Burg in der Umgebung, brutal ermordet wurden. Auch die Beziehungen zwischen den Juden und den englischen Königen aus dem Hause Plantagenet verschlechterten sich ununterbrochen. Da die Herrscher die Juden und ihre Habe als dem Fiscus zugehörig betrachteten, zögerten sie nicht, ihnen hohe Sondersteuern und sonstige Lasten aufzuerlegen, sobald sie Geld benötigten. Um die Mittel für diese Abgaben aufzubringen, waren die jüdischen Geldverleiher gezwungen, immer höhere Zinssätze von der christlichen Bevölkerung zu verlangen. So gerieten die jüdischen Gemeinden in England auf die Dauer in eine ausweglose Lage: Von ihrer christlichen Umgebung gehaßt

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und durch die Ausbeutungspolitik der Herrscher verarmt, stellte ihre Anwesenheit für die Könige schließlich keinen Nutzen mehr dar. Eduard I. (1272–1307) zog aus dieser Situation die Konsequenzen: Nachdem er durch sein 1275 erlassenes Statute of the Jewry, das den Geldverleih gegen Zinsen verbot, den englischen Juden bereits die Lebensgrundlage genommen hatte, wies er sie 1290 ganz aus seinem Königreich aus. Es war dies das erste Mal in der Geschichte, daß eine jüdische Gemeinschaft en bloc aus einem europäischen Land vertrieben wurde. Den Platz der Juden als Geldverleiher und Steuerpächter nahmen in der Folgezeit christliche Bankiers aus der Lombardei ein, woran noch die „Lombard Street“ im Londoner Bankenviertel erinnert. Gleichzeitig hatte sich auch eine neue merkantile Gesellschaftsschicht herausgebildet, die das Verschwinden ihrer jüdischen Konkurrenten ebenfalls begrüßte. Das tragische Schicksal der Juden im mittelalterlichen England zeigt deutlich, daß es zu dieser Zeit trotz aller positiven Entwicklungen in späteren Jahrhunderten, keine Kultur der Toleranz in England gegeben hat. Im Gegenteil, England war eine der intolerantesten und judenfeindlichsten Gesellschaften Europas. Dies spiegelte sich auch in der negativen Darstellung der Juden in der englischen Literatur. Das bekannteste Beispiel hierfür ist sicherlich Geoffrey Chaucers Prioress’s Tale aus den Canterbury Tales, die um 1390, also ein Jahrhundert nach der Vertreibung der Juden aus England entstanden sind.

Von der Ausweisung zur Wiederzulassung (1290–1656) In der langen Zeit von 1290 bis 1656 konnten Juden sich nicht legal in England aufhalten. Im 16. und 17. Jh. lebten jedoch mehrfach kleine Gruppen von spanischen und portugiesischen Conversos1 in London, die im geheimen den jüdischen Glauben praktizierten. Zu dieser Gruppe gehörte auch Rodrigo Lopez (1525–1594), der Leibarzt Elisabeths I. Dieser zog sich durch seine ungeschickten außenpolitischen Aktivitäten – er unterstützte zunächst den portugiesischen Thronprätendenten Don Antonio und versuchte dann, entgegen dem Willen der englischen Kriegspartei einen Friedensschluß zwischen Spanien und England zustande zu bringen – den Unmut einflußreicher Hofkreise zu und wurde schließlich 1594 aufgrund der – völlig haltlosen – Anklage, er habe im Auftrag des spanischen Königs Elisabeth I. vergiften wollen, nach einem einseitigen Prozeß hingerichtet. Der Vorfall erregte die Gemüter in England noch lange und wurde mehrfach in der Literatur und in Theaterstücken bearbeitet. Die bekannteste Darstellung eines Juden in der Literatur der elisabethanischen Zeit und vielleicht der englischen Literatur überhaupt ist jedoch die des Shylock in Shakespeares Kaufmann von Venedig (um 1596). Obwohl Shylock unzweifelhaft aus einer judenfeindlichen Perspektive gezeichnet ist, hat die neuere Literaturwissenschaft doch hervorgehoben, daß der Charakter Shylocks eine Mehrdimensionalität besitzt und Shakespeares Darstellung ein Element des Mitleids enthält, das in früheren 1

Vgl. hierzu den Beitrag zur Iberischen Halbinsel in diesem Band S. 338–348.

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literarischen Darstellungen von Juden nicht zu finden ist. So ist es durchaus denkbar, daß der Kaufmann von Venedig als subtile und kunstvolle Abwertung der Christen gedacht war, deren Charakter als ebenso schlecht, wenn nicht schlechter als der der Juden dargestellt wird. Es kann zudem kein Zweifel daran bestehen, daß Shakespeares Stück die Juden in einem freundlicheren Licht erscheinen läßt als das annährend gleichzeitige Stück Der Jude von Malta (um 1590) von Christopher Marlowe, der seine Titelperson eindimensional böse darstellt. Während des langen Zeitraums, in dem Juden sich offiziell nicht in England aufhalten durften, vollzogen sich eine Reihe von fundamentalen Veränderungen in der britischen Gesellschaft, die schließlich ein Klima schufen, das für die Juden, nachdem sie wieder zugelassen worden waren, günstiger war als irgendwo sonst in Europa. In diesem Zusammenhang ist zunächst die Hinwendung Englands zum Protestantismus seit dem frühen 16. Jh. zu nennen: Die religiösen Auseinandersetzungen des 16. Jhs., der Bürgerkrieg des 17. Jhs. und schließlich die Glorreiche Revolution von 1689 führten zur festen Etablierung der Anglikanischen Kirche in England und der Presbyterianischen Kirche in Schottland. Die Reformation verwarf Bilder, Symbole und zahlreiche Dogmen des Katholizismus, darunter auch solche, von denen für Juden Gefahren ausgehen konnten, wie z.B. die Transsubstantiationslehre oder die starke Kreuzesfrömmigkeit. Am „linken Rand der Reformation“ entstanden darüber hinaus zahlreiche nonkonformistische Gruppierungen wie z. B. Baptisten und Quäker, die die Hebräische Bibel und die hebräische Sprache hoch schätzten und sich aufgrund ihres Glaubens, als „Auserwählte“ in einem besonderen Bund mit Gott zu stehen, stark mit dem biblischen Judentum als dem Volk des „Alten Bundes“ identifizierten. Dies weckte bei ihnen durchaus auch Sympathien für das zeitgenössische Judentum. Aus der Glorreichen Revolution von 1689 ging schließlich zwar die Anglikanische Kirche als Staatskirche hervor, doch wurde religiösen Gruppierungen außerhalb dieser Kirche – mit Ausnahme der Katholiken – ein Maß an Toleranz entgegengebracht, wie es in kaum einem anderen europäischen Land der Fall war. Zweitens begann zu dieser Zeit der Aufstieg Englands zur Nation des kapitalistischen Liberalismus par exellence. Eine Wirtschaftspolitik, die sich mit minimalen staatlichen Eingriffen begnügte, ein starker Schutz des Privateigentums, die Abschaffung von Monopolen und Handelsbarrieren sowie eine Aristokratie, die keine auf Standesdünkeln beruhende Abneigung gegen Handel und Geschäftsleben hegte und gleichzeitig offen war für soziale Aufsteiger, trieben diese Entwicklung rasch voran. Im 17.Jh. etablierte sich Großbritannien mit seinem Welthandelshafen London als wichtigste Handelsmacht, im 18. Jh. war es das erste Land, in dem die Industrialisierung Einzug hielt. Nach modernen Schätzungen besaß Großbritannien im 18.Jh. das höchste Pro-Kopf-Einkommen der Welt. Drittens erlebte Großbritannien relativ früh die Ablösung des Absolutismus durch die Herrschaft des Parlaments und die Suprematie des Rechts. Gegen Ende des 17. Jhs. waren die Inhalte der Bill of Rights von 1689, die u. a. die Rechte des Parlaments garantierte, und der Habeascorpusakte von 1679, die individuelle Freiheit und Schutz vor willkürlichen Verhaftungen gewährte, eine unabhängige Justiz, frei gewählte Parlamente, der Gedanke der

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Legitimität einer politischen Opposition und zumindest die Anfänge einer intellektuellen Freiheit im modernen Sinn fest etabliert. England hatte keine stehende Armee im eigenen Land und kannte auch keine Wehrpflicht. Es ist wichtig, festzuhalten, daß sich diese bedeutenden Veränderungen ohne eine Beteiligung der Juden ereigneten. Auch nach ihrer Wiederzulassung im Jahr 1656 gab es bis ins 19. Jh. hinein keine politische, religiöse oder wirtschaftliche Debatte, in der sich mehr als eine Randbemerkung zu den Juden fand oder an der Juden teilgenommen hätten. Die Juden wurden weder als Teil des Problems noch als Teil der Lösung betrachtet. Religiöser Haß, soweit er in Großbritannien existierte, richtete sich nach den Erfahrungen der Reformation, den britischen Rivalitäten mit Spanien und Frankreich sowie angesichts der Irlandfrage vor allem gegen die Katholiken, denen erst 1829 die vollen Staatsbürgerrechte einschließlich der Zulassung zum Parlament und zu den Staatsämtern gewährt wurden. Schließlich sind noch einige kulturelle und soziale Faktoren zu nennen, die das friedliche Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in England begünstigten. Der philosophische Idealismus, der von Autoren des 20. Jhs., vor allem von Karl Popper in seinem Werk The Open Society and Its Enemies (1945), häufig als Brutstätte totalitärer Systeme betrachtet worden ist, besaß in England im Gegensatz zu Kontinentaleuropa keine Tradition. Hier hatte vielmehr der Empirismus tiefe Wurzeln geschlagen, der mit seiner Betonung der Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Überprüfung jeder Theorie für totalitäre Ideologien weniger anfällig war und ethnischen oder religiösen Minderheiten zumindest nicht von Anfang an feindlich gegenüberstand. Darüber hinaus wurde in Großbritannien – wie in der gesamten englischsprachigen Welt – seit dem 18.Jh. der Liberalismus zur dominanten Ideologie. Dieser verdankte seinen Aufstieg nicht zuletzt der Tatsache, daß Großbritannien seit dem 17.Jh. nie wieder eine Revolution erlebte, keine Invasionen erlitt und – mit Ausnahme des Verlustes der amerikanischen Kolonien 1775–1783 – auch nie einen Krieg verlor. Sogar den Ersten Weltkrieg, der in den Ländern Mittel- und Osteuropas zu einem radikalen Bruch mit den Traditionen der Vergangenheit führte, überstand es unbeschadet. Diese Stabilität hatte zur Folge, daß in Großbritannien niemals größere Bevölkerungsgruppen existierten, die aus einem langanhaltenden Gefühl der Benachteiligung und Unzufriedenheit heraus geneigt waren, sich zur Durchsetzung ihrer Forderungen extremistischen Gruppierungen anzuschließen. So war Großbritannien fast das einzige europäische Land, das nach dem Ersten Weltkrieg keinen Aufstieg von bedeutenden faschistischen oder marxistischen Parteien erlebte und in dem der politische Antisemitismus nie mehr als eine periphere Bedeutung besaß.

Die Etablierung der Juden im modernen England (1656–1789) Die Wiederzulassung der Juden in Großbritannien ist mit dem Namen Oliver Cromwells verbunden, der nach der Hinrichtung Karls I. im Jahr 1649 eine kurzlebige puritanische Republik etablierte, die bereits 1660 wieder durch die Restauration der Monarchie zu Fall

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gebracht wurde. Die genauen Umstände der Wiederzulassung der Juden, die sich in den Jahren 1655/56 vollzog, sind bis heute Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen. Sicher ist, daß ein wesentlicher Anstoß von dem Amsterdamer Rabbi Menasse ben Israel (1604– 1657) ausging, der in einer Petition an Cromwell 1655 ausführlich erläuterte, welchen wirtschaftlichen Nutzen England aus der Zulassung von Juden ziehen werde. Im Hintergrund seiner Ausführungen standen auch chiliastische Endzeithoffnungen, die England eine besondere Rolle bei der für die nahe Zukunft erwarteten Rückkehr der Juden in ihr eigenes Land, mit der das messianische Zeitalter anbrechen sollte, zuwies. Solche Gedankengänge stießen vor allem bei den englischen Puritanern auf großes Interesse und Zustimmung. Cromwell, der eine Wiederzulassung der Juden in England aus wirtschaftlichen Gründen befürwortete, berief zur Beratung über Menasse ben Israels Petition eine Konferenz nach Whitehall ein, die im November und Dezember 1655 tagte. Als auf der Konferenz zwar festgestellt wurde, daß es keine rechtlichen Hindernisse für eine Zulassung von Juden in England gebe, ansonsten aber allerlei Bedenken geäußert wurden und sich abzeichnete, daß die Versammlung, wenn überhaupt, nur für eine Tolerierung unter extrem einschränkenden Bedingungen stimmen werde, löste Cromwell die Konferenz auf, bevor sie einen formellen Beschluß fassen konnte. Kurze Zeit später richteten die Mitglieder der bereits in London ansässigen Converso-Gemeinde, die durch die Debatte mehr ins Rampenlicht geraten war, als ihr lieb war, eine Petition an Cromwell, in der sie um die schriftliche Genehmigung bat, jüdische Gottesdienste in ihren Privathäusern abhalten zu dürfen. Eine solche schriftliche Erlaubnis wurde mit großer Wahrscheinlichkeit nie erteilt, aber Cromwell muß der Gemeinde dennoch entsprechende mündliche Zusagen gemacht haben, denn noch 1656 erwarb die Gemeinde ein Grundstück für einen Friedhof und richtete eine kleine Synagoge, die erste auf englischem Boden seit dem 13.Jh., in Creechchurch Lane ein. Die Opposition gegen die Tolerierung von Juden in England, die vor allem unter den nichtjüdischen Kaufleuten groß war, war damit jedoch nicht verschwunden. Als mit der Restauration der Monarchie Karl II. 1660 auf den Thron gelangte, meldeten sich die Tolerierungsgegner noch einmal zu Wort und verlangten die Ausweisung der Juden. Diesem Gesuch wurde jedoch nicht stattgegeben. Karl II. hatte während seines Exil auf dem Kontinent viel Hilfe von jüdischen Finanziers erhalten und neigte, ebenso wie Cromwell, den Juden gegenüber zu Toleranz. Während der folgenden fünfzig Jahre konsolidierte sich die Position der Juden in Großbritannien zusehends. Aus fast allen Auseinandersetzungen zwischen den Juden, die um die Legalisierung ihres Aufenthalts in Großbritannien kämpften, und den politischen, religiösen und wirtschaftlichen Kräften, die sich dem widersetzten, gingen die Juden als Sieger hervor. So erreichten sie es, daß 1664 und 1673/74 Anklagen, die aufgrund der Abhaltung jüdischer Gottesdienste gegen sie erhoben wurden, niedergeschlagen werden konnten. 1685 gelang es ihnen nach einer ähnlichen Anklage, Jakob II. dazu zu bewegen, ihnen die Feier jüdischer Gottesdienste schriftlich zu gestatten und damit ihre Anwesenheit als Juden in England endgültig und offiziell zu legalisieren.

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Auch gegen rechtliche Einschränkungen konnte sich die jüdische Gemeinde erfolgreich zur Wehr setzen. 1679 schlugen der Bischof von London und Sir Peter Pett, ein führender Jurist, vor, ein Ghetto einzurichten. Hierin wurden sie auch von dem Lord Privy Seal, einem der höchsten Staatsbeamten, unterstützt. Karl II. ignorierte diesen Vorschlag jedoch, und er verschwand in der Folgezeit gänzlich von der Tagesordnung. 1689 wurde im Unterhaus ein Gesetzesentwurf vorgelegt, nach dem der jüdischen Gemeinde eine Sonderabgabe von £ 100 000 auferlegt werden sollte. Die Opposition gegen diesen Plan war jedoch so groß, daß der Entwurf schließlich zurückgezogen wurde. Von 1689 bis 1691 waren jüdische Kaufleute allerdings zur Zahlung einer Kopfsteuer von £ 20 verpflichtet, die damit doppelt hoch lag wie der Betrag, der anderen ausländischen Kaufleuten abverlangt wurde. Dies scheint jedoch das letzte Mal in der englischen Geschichte gewesen zu sein, daß Juden gesetzlichen Benachteiligungen unterworfen waren, die für keine andere Gruppe galten. Auch in ihrem religiösen Leben war die jüdische Gemeinschaft spätestens seit der bereits erwähnten Urkunde Jakobs II. von 1685 nahezu unangefochten. 1698 wurde zwar im Oberhaus der Versuch unternommen, einen ursprünglich gegen christliche Häretiker gerichteten Gesetzesentwurf, der jeden, der die Trinität Gottes leugnete, mit schweren Strafen bedrohte, so abzuwandeln, daß er auch auf Juden anwendbar gewesen wäre, aber das Unterhaus lehnte diese Veränderung mit 140 zu 78 Stimmen ab. Tatsächlich kann man sagen, daß Juden zu dieser Zeit nicht nur gesetzlich toleriert wurden, sondern daß in gewisser Weise sogar auf ihre religiösen Bedürfnisse Rücksicht genommen wurde. Bereits 1667 hatte der Court of King’s Bench, eines der höchsten Gerichte im Lande, entschieden, daß Juden als Zeugen vor Gericht zugelassen seien und sie, wenn sie einen Eid ablegen müßten, auf das Alte Testament anstelle des Neuen Testaments schwören dürften. 1677 wurde eine Gerichtsverhandlung von London nach Middlesex verschoben, weil alle Gerichtstermine in London auf einen Samstag fielen und ein jüdischer Zeuge an diesem Tag nicht erscheinen konnte. 1684 befand ein englisches Gericht – ausgerechnet unter Richter Jeffreys, dem berüchtigten „Galgenrichter“ Jakobs II. –, daß die noch von dem englischen Juristen Sir Edward Coke (1552–1634) vertretene Auffassung, nach der Juden vor dem Gesetz als ewige Feinde „regis et religionis“ (der Krone und der [etablierten] Religion) zu betrachten seien, sich nicht mit dem englischen Recht vereinbaren lasse und Juden daher wie alle anderen Bürger das Recht hätten, als Kläger vor Gericht aufzutreten. Das vielleicht erstaunlichste frühe Beispiel wachsender rechtlicher Sensibilität gegenüber den Juden war die Gerichtsentscheidung im Fall „Rex vs. Osborne“ aus dem Jahr 1732. Die Herausgeber einer Zeitung, die portugiesische Juden eines Ritualmordes an einer christlichen Frau und ihrem Kind beschuldigt hatten, wurden wegen Volksverhetzung verurteilt, da man es für wahrscheinlich hielt, daß ein solcher Zeitungsartikel zu Tumulten und Unruhen unter der Bevölkerung führen und diese mit einem Geist der allgemeinen Barbarei gegen eine ganze Gruppe von Menschen erfüllen würde, als ob diese eines Verbrechens schuldig sei, das kaum durchführbar und völlig unglaubwürdig ist.

So erstaunlich es auch scheinen mag, wurden doch bereits im frühen 18. Jh. solche kollektiven Diffamierungen von Juden nach englischem Recht als illegal betrachtet.

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Die weitgehende Rechtsgleichheit, die die Juden in England bereits sehr früh genossen, hatte auch bedeutende Auswirkungen auf die Form der jüdischen Gemeinden, die sich in England entwickelte. Im Gegensatz zu Kontinentaleuropa wurde die jüdische Gemeinschaft in England von staatlicher Seite nicht als eigenständige Körperschaft mit einer gewissen rechtlichen Autonomie betrachtet. Die „Kehilla“, die die Verantwortung für das jüdische Schulwesen, die Wohlfahrt, Beerdigungen usw. trug und ihren Angehörigen für diese Zwecke Abgaben auferlegen konnte, wurde hier von staatlichen Stellen niemals sanktioniert. So blieben die jüdischen Gemeinden freiwillige Zusammenschlüsse, die keinen besonderen rechtlichen Status besaßen und deren Angehörige ihr gegenüber keine rechtlich durchsetzbare Verpflichtung hatten. Wie bemerkenswert „modern“ dieser Zustand war, kann nicht deutlich genug betont werden. Trotz der rechtlichen Gleichstellung in vielen Bereichen litten die Juden in England noch bis zur Mitte des 19. Jhs. an einer Reihe von rechtlichen Benachteiligungen. Es war ihnen nicht möglich, ein Parlamentsmandat zu erwerben oder ein anderes öffentliches Amt auszuüben, von den beiden alten Universitäten, Oxford und Cambridge, blieben sie ausgeschlossen und einige Berufe, z. B. im juristischen Bereich, standen ihnen ebenfalls nicht offen. Der Ausschluß aus diesen Positionen beruhte darauf, daß ihre Inhaber bei Amtsantritt einen Eid zu leisten hatten, der in der einen oder anderen Form die Wahrheit des anglikanischen Bekenntnisses bekräftigte und gelegentlich mit der Formel „upon the true faith of a Christian“ endete oder mit dem Empfang der Kommunion nach anglikanischem Ritus verbunden war. In jedem Fall mußte es einem Juden unmöglich sein, einen solchen Eid zu leisten, obwohl dieser sich gar nicht in erster Linie gegen Juden richtete, sondern dazu gedacht war, Nichtanglikaner, vor allem Katholiken, aber auch protestantische Nonkonformisten, aus den entsprechenden Ämtern fernzuhalten. Obwohl diese Einschränkungen im stärker säkularisierten Schottland mit seinem eigenständigen Bildungs- und Rechtssystem z. T. nicht galten, führten sie doch dazu, daß Juden bis zur Mitte des 19. Jhs. ganz aus dem Parlament ausgeschlossen blieben. Ebensowenig konnten sie „Freemen of the City of London“ werden, was die Voraussetzung für die Aufnahme in eine der Gilden und für die Zulassung als Einzelhändler war. Sicher gab es im Großbritannien dieser Zeit auch weiterhin Quellen der Judenfeindschaft. Eine dieser Quellen war die Anglikanische Kirche, die sich selbst als eine der geistigen Grundlagen der englischen Gesellschaft betrachtete. Beinahe das gesamte englische „Establishment“, die königliche Familie, der Adel und fast alle Parlamentsmitglieder, gehörte der Anglikanischen Kirche an. Oxford und Cambridge waren dieser eng verbunden, und noch bis zur Mitte des 19. Jhs. trat die Mehrzahl der Absolventen der beiden Universitäten ein geistliches Amt an. Die Anglikanische Kirche war kaum willens, diesen Status in Staat und Gesellschaft aufzugeben oder ihn mit anderen Konfessionen zu teilen. Viele Anglikaner begründeten den Ausschluß von Juden aus dem Parlament und anderen öffentlichen Ämtern mit dem Argument, Großbritannien sei ausdrücklich und von Rechts wegen eine protestantische Nation und könne daher niemanden zu hohen Ämtern zulassen, der vom anglikanischen Bekenntnis abweiche. Dies müsse erst recht für diejenigen gelten, die noch

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nicht einmal Christen seien. Generell richtete sich das Bemühen der Anglikanischen Kirche, Nichtanglikaner aus allen wichtigen Positionen in Staat und Gesellschaft fernzuhalten, also nicht speziell gegen die Juden. Dennoch gab es, vor allem in der Zeit der Debatte um die Zulassung von Juden zum Parlament, auch eine Komponente spezifischer theologisch begründeter Judenfeindschaft in der anglikanischen Opposition gegen die Aufhebung der staatsbürgerlichen Benachteiligung der Juden. Einige anglikanische Wortführer betrachteten die Juden als eine fremde, sich nach außen abschirmende „Nation innerhalb der Nation“, die sich niemals freiwillig in die englische Gesellschaft integrieren werde, sondern ihr Ziel in der Rückkehr nach Palästina sehe. Solche Ansichten fanden jedoch kaum ein öffentliches Echo, und eine Verachtung der Juden, wie sie auf dem Kontinent an der Tagesordnung war, war in England kaum zu finden. Während die Gegner der Emanzipation der Juden häufig aus den Kreisen der „High Church“ kamen, die den Anglikanismus als essentielle Komponente der englischen nationalen Identität und die Anglikanische Kirche als integralen Bestandteil der englischen Verfassung betrachteten, wirkten Angehörige der „Low Church“, „evangelisch“ ausgerichtete Anglikaner, häufig an der vordersten Front bei missionarischen Aktivitäten mit. Sie befürworteten nicht selten die Beseitigung der noch bestehenden staatsbürgerlichen Benachteiligungen der Juden und betrachteten Judenverfolgungen in anderen Teilen der Welt mit Aufmerksamkeit und Mitgefühl. Viele von ihnen, wenn auch nicht alle, sahen die Emanzipation der Juden jedoch langfristig als den ersten Schritt zu ihrer Massenkonversion zum Protestantismus an. Einige dieser „evangelischen“ Anglikaner waren zugleich Proto-Zionisten, indem sie die Rückkehr der Juden nach Palästina als Vorbedingung für die Wiederkunft Christi betrachteten. So waren die meisten „Evangelischen“ nicht judenfeindlich eingestellt, sondern ihre Haltung war von einer merkwürdigen Mischung aus Philosemitismus und Bekehrungsbestrebungen geprägt. Solche Haltungen fanden sich das gesamte 19. Jh. hindurch in Gruppen wie der 1809 in London gegründeten „Society for Promoting Christianity Amongst the Jews“. Eine weitere, eher unerwartete Quelle der Judenfeindschaft waren die Stadt London, vor allem ihre bürgerlichen und körperschaftlichen Eliten, die sich in den Gilden konzentrierten, sowie die zunftmäßig organisierten Eliten anderer britischer Städte. Bis zum zweiten Viertel des 19. Jhs. waren diese Gruppen den Juden gegenüber oft besonders feindlich gesonnen und sprachen sich gegen die Abschaffung der bestehenden Einschränkungen aus. Ein großer Teil dieser Feindseligkeit war eindeutig wirtschaftlich motiviert, da die Juden als potentielle Konkurrenten betrachtet wurden. So verwehrte man Juden die Aufnahme in die Levant Company und die Russia Company, beides für die Zeit typische, königlich privilegierte Handelskompanien. Die bekannteste dieser Kompanien, die East India Company, ließ Juden dagegen zu. Auch durften Juden nicht mehr als 12 der 24 Makler am Royal Exchange, der Londoner Warenbörse stellen, während sie zum Stock Exchange ohne Beschränkungen zugelassen wurden. Alle diese Benachteiligungen wurden jedoch im zweiten Viertel des 19. Jhs. aufgehoben. Eine dritte Quelle der Judenfeindschaft im Großbritannien des 18. Jhs. war eine politi-

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sche Richtung, die sich als „radikaler Populismus“ beschreiben läßt und die sich von Henry St. John (Viscount of Bolingbroke, 1679–1751) und der den Tories zuzurechnenden „Country Party“ des frühen 18. Jhs. über William Cobbett (1772–1835) bis hin zu den radikalen „Chartisten“ der Mitte des 19. Jhs. verfolgen läßt. Die Anhänger dieser Richtung konstruierten eine Verschwörung zwischen der britischen Aristokratie und den Londoner Finanzmagnaten, deren Ziel der Ruin der „rechtschaffenen“ Gutsbesitzer und Bauern auf dem Lande sei. Dies geschehe, so glaubten sie, hauptsächlich durch Währungsmanipulation. Als besonders deutlich sichtbare Erscheinung in der Londoner Finanzwelt wurden Juden oft zur Zielscheibe besonders vehementer verbaler Attacken. In der Aufregung um die „Jew Bill“ von 1753, das wohl bekannteste die Juden betreffende politische Ereignis, das sich im Großbritannien des 18. Jhs. abspielte, liefen mehrere dieser judenfeindlichen Strömungen zusammen: Das von dem Duke of Newcastle, einem WhigAristokraten, angeführte Kabinett hatte vorgeschlagen, die sehr strikten Bestimmungen hinsichtlich der Einbürgerung von im Ausland geborenen Juden zu liberalisieren. Bis dahin war ihnen dieser Weg zur britischen Staatsbürgerschaft versperrt gewesen, denn ein antiquiertes Gesetz verlangte von den Bewerbern, daß diese die Kommunion empfingen und den Oath of Allegiance schworen. Im Ausland geborene Juden konnten durch ein Patent des Herrschers oder durch einen speziellen Parlamentsbeschluß eingebürgert werden, wodurch sie jedoch nicht in den Genuß der vollen Bürgerrechte kamen. Die Gesetzesvorlage von 1753, die ausschließlich Juden betraf, ermöglichte die reguläre Einbürgerung von Juden ohne den Empfang der Kommunion. Sie wurde im Mai 1753 verabschiedet. An diesem Punkt kam es jedoch zu einer starken Agitation gegen das Gesetz, die sechs Monate andauerte und letztlich zu seiner Aufhebung im Dezember 1753 führte. Die Bewegung ging von der Tory-Opposition aus und wurde von konservativen Führungskreisen der Anglikanischen Kirche sowie von Londoner Beamten unterstützt. Die meisten Historiker sind sich mit Jacob Katz darin einig, daß „der entrüstete Aufschrei gegen die Naturalization Bill nicht spontan war“ und zudem in der breiten Bevölkerung nur geringe Resonanz fand. Die antijüdische Kampagne verschwand Ende 1753. Seitdem hat es bis heute keine weiteren antijüdischen politischen Kampagnen in Großbritannien gegeben. Auch ist es interessant, daß andere Fälle von Massenagitation zu dieser Zeit erheblich gewalttätiger und ernster waren. So war London während der antikatholischen Gordon-Krawalle im Juni 1780 drei Tage lang in der Hand katholikenfeindlicher Barrikadenkämpfer, und Brandstiftungen und Plünderungen hielten eine ganze Woche an. Im Gegensatz zu der Agitation gegen die „Jew Bill“ fanden die antikatholischen Krawalle, die durch eine Initiative des Parlaments zur Stärkung der Rechte der Katholiken entstanden waren, durchaus breite Zustimmung in der Bevölkerung. Während des 18. Jhs. entstand eine kleine, aber nicht unbedeutende jüdische Gemeinde in Großbritannien. Die jüdische Bevölkerung wird auf etwa 800 Personen im Jahr 1690 geschätzt, stieg bis 1734 auf 6000 Personen an und betrug zur Zeit der „Jew Bill“ etwa 8000. Bis zur Mitte der neunziger Jahre des 18. Jhs. stieg die Zahl der Juden sehr schnell auf 20000 bis 25000 Personen an. Dennoch machten sie 1801 immer noch weniger als 0,25% der bri-

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tischen Gesamtbevölkerung von 10,6 Mio. aus. London verzeichnete damals wie heute die größte Anzahl jüdischer Einwohner mit 15 000 bis 20 000 Personen um 1795. Juden machten damit etwa 2% der Londoner Gesamtbevölkerung aus, die 1801 bei 959000 lag und bildeten damit hier vielleicht eine hinreichend große Minorität, um als eigenständige Gruppe wahrgenommen zu werden. Die meisten Londoner Juden lebten im Osten des Innenstadtbereichs und in angrenzenden Stadtteilen wie Whitechapel. Außerhalb Londons wurden die ersten jüdischen Gemeinden zu Beginn des 18. Jhs. gegründet. Diese befanden sich grundsätzlich in zwei verschiedenen Kategorien von Städten, in Küstenstädten wie Portsmouth und Plymouth und in den größeren Städten des Nordens wie Birmingham und Manchester. In London stand einer kleinen Anzahl sehr reicher jüdischer Familien die große Mehrheit von ärmeren Straßenhändlern, Hausierern und bestenfalls kleinen Kaufleuten gegenüber. Hier gab es zwar eine etwas größere jüdische Mittelklasse von kleineren Kaufleuten und Finanziers, aber kaum Mitglieder der freien Berufe. An der Spitze der sozialen Pyramide hatte sich spätestens am Ende des 18. Jhs. eine kleine Elite überaus reicher Kaufleute und Finanziers wie die Francos, Mocattas und da Costas herausgebildet. Zu den bekanntesten unter ihnen gehörten Sir Salomo de Medina (gest. 1730), der Armeelieferant König Wilhelms III., und Sampson Gideon (1699–1762), ein Finanzier mehrerer aufeinanderfolgender Regierungen, dessen Sohn nach seinem Übertritt zum anglikanischen Glauben als Lord Eardley in den Adelsstand erhoben wurde. In den Provinzstädten waren die meisten Juden kleinere Geldverleiher, die sich in den Küstenstädten auf Kredite für Seeleute spezialisierten. Überall waren Juden jedoch als Trödler und Hausierer ein vertrauter Anblick. Einige wenige Juden des 18. Jhs. erreichten einen größeren Bekanntheitsgrad. Der in der nichtjüdischen Bevölkerung Englands vielleicht bekannteste Jude war, erstaunlich genug, Daniel Mendoza (1764–1836), der als einer der größten Boxer seiner Zeit und Sportheld in ganz England gefeiert wurde. Die ersten Juden, die sich im 17. Jh. in England niederließen, waren Sefardim, meist aus Amsterdam, aber auch von der Iberischen Halbinsel, den Kanaren und aus Lateinamerika. Seit dem frühen 18. Jh. begannen jedoch die aschkenasischen Juden, die Sefardim zahlenmäßig zu überholen. Bevis Marks, die Hauptsynagoge der Sefardim, wurde 1701 eingeweiht. Die erste aschkenasische Synagoge wurde 1690 am Duke’s Place in der Innenstadt eröffnet. Sie wurde später als „Great Synagogue“ bezeichnet. 1706 folgte die Hambro, so genannt nach den zahlreichen aus Hamburg stammenden Mitgliedern, sowie 1761 die „New Synagogue“. Das englische Judentum zeichnete sich durch bestimmte Charakteristika aus. Besonders hervorstechend ist das Fehlen einer „Schtetl-Kultur“. Um die Mitte des 18. Jhs. waren die meisten Juden der Mittelklasse hinsichtlich ihrer Kleidung und ihres Lebensstils bereits voll akkulturiert. Es gab außerdem keine Jeschiwot in England. Das englische Judentum war fast gänzlich von den religiösen und intellektuellen Entwicklungen des Judentums in Zentralund Osteuropa abgeschnitten. Sowohl der Chassidismus als auch die Haskala gingen beinahe unbemerkt an ihm vorüber. Das englische Judentum war hauptsächlich auf die

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Ansiedlungen jüdischer Kaufleute, die im gesamten britischen Imperium entstanden, konzentriert und richtete sein Augenmerk von allem auf Amerika und die Niederlande. Das bedeutendste Ereignis des 18. Jhs. im Bereich der Religionsorganisation war die Entstehung der Position des „Chief Rabbi of Great Britain“. Dieser Titel wurde 1764 dem Rabbiner der Londoner Great Synagogue verliehen. Dieser war bereits eine bemerkenswert „moderne“ Persönlichkeit, der nichts von der charismatischen Autorität der führenden osteuropäischen Rabbiner besaß. Seit der Mitte des 18. Jhs. trugen die Chasanim der Great Synagogue „kirchliche“ Gewänder, so daß sie nun äußerlich von einem Vikar der Anglikanischen Kirche nicht mehr zu unterscheiden waren. Das englische Judentum entwickelte zu dieser Zeit bereits eine moderate Orthodoxie, die zwar das Reformjudentum mied, sich jedoch deutlich von der strengen Orthodoxie Osteuropas unterschied.

Emanzipation und Akkulturation (1789–1918) Zwischen 1789 und 1918 erreichte Großbritannien, nach der industriellen Revolution der sogenannte „workshop of the world“, den Höhepunkt seiner Macht. Das britische Empire war das größte Reich der Welt und umfaßte ein Viertel der Weltbevölkerung. Die jüdische Bevölkerung Großbritanniens wuchs in dieser Zeit rasch, vor allem während der großen Immigrationswelle, die durch die Pogrome in Rußland in den Jahren 1881–1884 ausgelöst wurde. Dennoch blieb Großbritannien bis zum Ersten Weltkrieg lediglich ein mittelgroßes jüdisches Bevölkerungszentrum. Auch war es für die meisten jüdischen Angelegenheiten weiterhin unbedeutend. Es gab jedoch eine Ausnahme: Großbritannien, besonders Manchester, entwickelte sich zu einem der bedeutendsten Zentren der zionistischen Bewegung, und gegen Ende der hier betrachteten Zeitspanne, im Jahr 1917, wurde Großbritannien die herrschende Macht in Palästina, die dem jüdischen Volk in der Balfour Declaration eine „nationale Heimstatt“ in Palästina versprach. Der gesamte Zeitraum von 1789 bis 1918 läßt sich in drei Phasen einteilen: In der ersten Phase, von 1789 bis etwa 1825, veränderten sich die Lebensumstände der Juden in Großbritannien kaum. Während der zweiten Phase, von 1825 bis 1890, wurde der Prozeß der Emanzipation abgeschlossen und eine erfolgreiche jüdische Gemeinde, die kaum mit Antisemitismus zu kämpfen hatte, profitierte von dem Höhepunkt des viktorianischen Liberalismus. In der letzten Periode, von 1890 bis 1918, wuchs die jüdische Bevölkerung durch massive Immigration aus Osteuropa stark an. Zum Teil als Reaktion auf diese Zuwanderung nahm gleichzeitig der Antisemitismus zu. Im Vergleich mit den Entwicklungen im übrigen Europa waren seine Ausbrüche jedoch sehr milde. Im Gegensatz zu den Juden in den übrigen Ländern Europas hatten die Französische Revolution und die napoleonischen Kriege auf die Juden in Großbritannien keine direkten Auswirkungen. Indirekte Auswirkungen lassen sich jedoch feststellen. Englands Krieg und schließlicher Sieg gegen Frankreich machte London für das Jahrhundert nach der Schlacht von Waterloo (1815) unangefochten zum wichtigsten Finanzzentrum der Welt. Während

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das englische Judentum in der industriellen Revolution kaum eine Rolle spielte – unter den Fabrikbesitzern und „Industriekapitänen“ Großbritanniens gab es so gut wie keine Juden –, stellten sie unter den Finanzmagnaten der „City“, vor allem im Bereich der Handelsbanken und des Wertpapierhandels, einen überproportionalen Anteil. So entstand eine erkennbare jüdische Elite in der „City“, die aus kleinen, häufig eng miteinander verbundenen Gruppen von überaus reichen Familien bestand, unter ihnen die Montefiores, Goldsmids, Cohens, Samuels, Sterns und natürlich die Rothschilds. Im zweiten Viertel des 19. Jhs. hatte sich so ein dauerhaftes Muster entwickelt, nach dem der beinahe vollständigen Nichtbeteiligung am industriellen Bereich die sehr sichtbaren und erfolgreichen geschäftlichen Aktivitäten in der „City“ und – in geringerem Umfang – in anderen Handelszentren gegenüberstand. Dieses Muster spiegelt die geläufige Teilung der britischen Wirtschaft nach 1760 zwischen seinem Finanz- und Handelszentrum London und seinem industriellen Herzstück im Norden und in den keltischen Gebieten mit Städten wie Manchester, Leeds, Bradford, Birmingham und Glasgow. Obwohl es in allen diesen Städten durchaus nicht unbedeutende jüdische Gemeinden gab, blieb London doch unangefochten das bei weitem bedeutendste wirtschaftliche Zentrum des jüdischen Lebens in Großbritannien. Innerhalb des britischen Finanz- und Handelssektors gab es jedoch auch Bereiche, in denen Juden kaum vertreten waren. Hierzu gehören z. B. die Girobanken sowie, vor dem 20. Jh., auch der großflächige Einzelhandel und der Versicherungsbereich. Die Bereiche der Herstellung, in denen Juden aktiv waren, beschränkten sich auf wenige Branchen, wie etwa auf die Herstellung von Konfektionskleidung, in der Einzel- und Handarbeit eher die Regel waren als industrielle Fertigung. Der wahrscheinlich wohlhabendste britische Jude des frühen 19. Jhs. war Nathan Mayer Rothschild (1777–1836), der gegen Ende seines Lebens wahrscheinlich der reichste Geschäftsmann in England war. Sein Gesamtvermögen belief sich schätzungsweise auf £ 5 Mio. Nathan Rothschild war der Gründer der englischen Filiale der weltbekannten Handelsbank. Er kam 1788 nach England und begann seine Karriere als Textilkaufmann in Manchester, bevor er nach London zog. Die immer wieder erzählte Geschichte, daß Rothschild als erster in England durch eine Brieftaube von Wellingtons Sieg bei Waterloo benachrichtigt wurde, ist inzwischen legendär. Mindestens zehn weitere Mitglieder der Familie Rothschild hinterließen im Verlauf des nächsten Jahrhunderts bei ihrem Tod Vermögenswerte in Höhe von mindestens £ 1 Mio. Die Rothschilds blieben fast während des gesamten 19. Jhs. die reichste Handelsfamilie in Großbritannien und wurden beinahe als eine Art Königsfamilie angesehen. Zumindest verkehrten sie, offenbar von gleich zu gleich, mit Fürsten und Königen. Die hohe Sichtbarkeit und der Ruhm der Rothschilds und vielleicht eines Dutzends anderer jüdischer Familien sollte den Historiker jedoch nicht zu der Schlußfolgerung verleiten, daß die englischen Juden die britische Vermögensstruktur „dominiert“ oder darin auch nur eine überproportionale Rolle gespielt hätten. Ein solcher Fehlschluß müßte umgehend revidiert werden, wenn die britische Wirtschaft im ganzen analysiert wird. Der Verfasser dieses Beitrags hat umfangreiche Forschungen zu den Vermögenswerten in Großbri-

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tannien und anderswo durchgeführt. Einige der Ergebnisse sollen hier kurz vorgestellt werden. Unter den 7392 Personen, die in dem Zeitraum zwischen 1809 und 1899 bei ihrem Tod Vermögenswerte von mehr als £ 100 000 hinterließen, befanden sich nur 177 Juden, was einem Anteil von 2,4% entspricht. Unter den 199 Personen am obersten Ende der Vermögensskala, die in dem Zeitraum zwischen 1809 und 1939 Vermögenswerte von mehr als £ 1 Mio. hinterließen, befanden sich 28 Juden (14,1%), die fast ausschließlich den großen „City“-Familien wie den Rothschilds, Goldsmids und Sterns angehörten. Unter den 579 Personen, die zwischen 1809 und 1939 Vermögenswerte von mindestens £ 500 000 Pfund, waren 38 Juden (6,6%). Damit war der jüdische Anteil an der Vermögensstruktur in Großbritannien wesentlich geringer als im Deutschland des späten 19. Jhs. So befanden sich unter den 29 Familien, die in Deutschland zwischen 1908 und 1911 ein Gesamtvermögen von über 50 Mio. Mark (£ 2 Mio.) besaßen, laut W. E. Mosse, neun Familien jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft, was einem prozentualen Anteil von 31% entspricht. Auch in den Vermögenseliten der meisten zentral- und osteuropäischen Ländern waren Juden stark überrepräsentiert. Dies war sicher in sich selbst eine Quelle des Antisemitismus, besonders wenn man den im Vergleich zu Großbritannien geringeren Lebensstandard in diesen Ländern bedenkt. Neben dem relativ kleinen Anteil, den Juden innerhalb der britischen Vermögenselite ausmachten, war auch die Beschaffenheit des jüdischen Anteils an der Vermögensstruktur ein Faktor, der geeignet war, antisemitische Strömungen in Großbritannien geringer zu halten als auf dem Kontinent. Obwohl es auch eine finanzielle „Unterwelt“ von kleinen Kredithaien und Pfandleihern unter den englischen Juden gab, war die jüdische finanzielle Elite, wie bereits bemerkt, hauptsächlich als Handelsbankiers, d.h., genauer gesagt, als Vermittler großer Anleihen für den britischen Staat und ausländische Regierungen tätig. Ebensowenig wie andere Handelsbanken vergaben sie Kredite an Einzelpersonen oder kleine Unternehmen. Dies minimierte Anfeindungen wegen angeblicher Ausbeutung der „kleinen Leute“ durch Kreditwucher ebenso wie die Erregung öffentlichen Unwillens, wenn Zwangsversteigerungen von Bauernhöfen und Häusern anstanden. In der Tat waren die sonst so häufigen Beschuldigungen, daß Juden sich auf Kosten der Nichtjuden bereicherten, in Großbritannien fast nicht existent. Neben diesen wirtschaftlich-sozialen Gründen für den im Vergleich zu Kontinentaleuropa sehr geringen Antisemitismus in Großbritannien sind auch das deutlich positivere Bild, das zu dieser Zeit im englischen kulturellen Bereich von ihnen gezeichnet wurde, sowie die Verbesserung der privaten Beziehung zwischen Juden und Christen vor allem der obersten Gesellschaftsschichten zu nennen. Richard Cumberlands Theaterstück The Jew von 1794 ist oft als das erste Werk bezeichnet worden, das Juden in einem ausdrücklich positiven Licht erscheinen läßt. Wie ein Autor des frühen 19. Jhs. bezeugt, war es überall auf den Britischen Inseln beliebt. Thomas Dibdens The Jew and the Doctor von 1798 war ein weiteres frühes philosemitisches Bühnenstück. Die Novelle Harrington von Maria Edgeworth (1817) und mehr noch der Roman Ivanhoe von Sir Walter Scott (1819) waren der Beginn einer Welle von Erzählliteratur, in der Juden in einem positiven Licht erschienen.

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Für die Verbesserung der Beziehungen zwischen Juden und Christen spielten die Freimauerer, die sich unter englischen Juden und Nichtjuden der Ober- und Mittelschicht einer wachsenden Beliebtheit erfreuten, eine nicht unwichtige Rolle. Bereits in den zwanziger Jahren des 19. Jhs. gab es mehrere hundert jüdische Freimaurer in England, während Katholiken der Beitritt von kirchlicher Seite untersagt wurde. Generell läßt sich sagen, daß sich abgesehen von Personen wie dem bereits erwähnten Cobbett, der außerhalb des britischen „Establishments“ stand und es bekämpfte, keine wachsenden oder überhaupt in irgendeiner Weise bedeutenden Quellen des Antisemitismus im Großbritannien der Jahre 1789–1825 erkennen lassen. In der Zeit von 1825 bis 1890 vollzog sich die politische Emanzipation der britischen Juden, und der Liberalismus triumphierte. Der Erlaß von gesetzlichen Bestimmungen, die den Juden die volle politische und gesellschaftliche Partizipation ermöglichten, erfolgte nach und nach zwischen 1825 und den siebziger Jahren des 19. Jhs. Die Emanzipation konnte nicht in einem einzigen Gesetzesakt erfolgen, da die rechtlichen Einschränkungen, denen die Juden unterlagen, ausnahmslos darauf beruhten, daß sie die beim Antritt eines Amtes oder bei der Übernahme einer bestimmten Position geforderten Eide aus Gewissensgründen nicht leisten konnten. 1830 wurden Juden zunächst als „Freemen of the City of London“ und zu den städtischen Gilden zugelassen. Bereits 1835 übte David Salomons das Amt des Sheriffs of London, das in etwa dem eines stellvertretenden Bürgermeisters vergleichbar ist, aus. 1845 wurden schließlich alle Hindernisse beseitigt, die Juden aus politischen Ämtern im kommunalen Bereich ferngehalten hatten. 1855 wurde Salomons zum Lord Mayor of London ernannt. Bis 1914 gelangte noch etwa ein halbes Dutzend weiterer Juden in diese Position. Auch in anderen großen Städten übernahmen Juden am Ende des 19. Jhs. das Amt des Lord Mayors. Nachdem Juden bereits 1770 als „Solicitors“, d. h. als Anwälte im Bereich des bürgerlichen Rechts, die nicht vor Gericht auftreten können, zugelassen worden waren, konnten sie seit 1833 auch „Barristers“, d. h. Anwälte, die das Recht haben, vor Gericht zu erscheinen, werden. Der University Test Act von 1871 eröffnete ihnen den Zugang zu den Universitäten Oxford und Cambridge. Bis dahin hatten Juden und andere Nichtanglikaner nur an einer schottischen Universität oder an dem 1836 gegründete säkularen University College in London einen regulären Abschluß erwerben können. In Cambridge konnten sie zwar die Vorlesungen besuchen und auch Examina ablegen, wurden jedoch nicht formell graduiert. Der erste Jude, der an einer der beiden traditionellen Universitäten Professor wurde, war James Joseph Sylvester, der 1883 den Savilian-Lehrstuhl für Geometrie in Oxford erhielt. Der wohl bekannteste Schritt in Richtung der Emanzipation der englischen Juden war ihre Zulassung zum Parlament, also die Möglichkeit, ins Unterhaus gewählt zu werden. Vor 1828 mußten alle gewählten Mitglieder des Unterhauses den Eid auf die 39 Glaubensartikel der Anglikanischen Kirche ablegen. 1828 wurden mehrere Gesetze aufgehoben, die protestantische Nonkonformisten aus dem Parlament ausschlossen. Um die Unruhen in Irland zu besänftigen, wurden im folgenden Jahr mit der Ersetzung der 39 Artikel durch den Eid

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„upon the true faith of a Christian“ auch Katholiken zum Parlament zugelassen. Diese Maßnahme war nicht spezifisch auf den Ausschluß von Juden gerichtet, obwohl einige Unterhausmitglieder der Tories bei ihrem Eintreten für den neuen Wortlaut darauf hinwiesen, daß Großbritannien eine explizit christliche Gesellschaft sei und dies auch bleiben solle. In den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jhs. drängten ein großer Teil der jüdischen Gemeinschaft und zahlreiche Liberale auf eine Änderung der Eidesformel in „so help me God“. Diese Änderung des Wortlauts stellte schließlich das eigentliche Herzstück der Emanzipation der Juden in Großbritannien dar. Erstaunlicherweise war ein nicht geringer Teil der Juden gegen eine Emanzipation. Dies gilt besonders für die Mitglieder der sefardischen Gemeinde, von denen viele der Meinung waren, daß die Juden bereits den angemessenen Grad an politischer Partizipation erreicht hätten. Die Frage der Emanzipation der Juden wurde in den frühen dreißiger Jahren oft und vehement im Parlament debattiert, was schließlich den Anlaß für die berühmte Rede des Whig-Abgeordneten und Historikers Thomas Babington Macaulay gab, mit der er sich für die Rechte der Juden einsetzte. Wirklich aktuell wurde die Frage der Emanzipation der Juden jedoch erst 1847, als Lionel de Rothschild (1808–1879) für die City of London ins Unterhaus gewählt wurde. Dieses erließ ein Sondergesetz, um Rothschild die Annahme seines Mandats zu ermöglichen, aber das von den Tories dominierte Oberhaus verweigerte dem von den Whigs dominierten Unterhaus – auch Rothschild selbst war ein Whig – die notwendige Zustimmung. Gleiches geschah in den Jahren 1849 und 1852. Nach Rothschilds erneuter Wiederwahl 1857 erklärten sich die Lords zu einem Kompromiß bereit und stimmten zu, daß jedes Haus seinen eigenen Eid formulieren könne. Damit war der Weg für Rothschild geebnet, der als erster praktizierender Jude 1858 seinen Sitz im Unterhaus einnahm. Dieses Ereignis wird meist als der entscheidende Moment der Emanzipation der Juden in Großbritannien gewertet. Lionel de Rothschild ergriff während seiner gesamten parlamentarischen Karriere im Unterhaus niemals das Wort. Zwischen 1858 und 1880 erhielten bei den allgemeinen Wahlen in der Regel fünf bis sechs Juden einen Sitz im Unterhaus. Der erste Jude, der ein Regierungsamt erhielt, war Baron Henry de Worms. Er wurde 1885 in der Regierung der Konservativen Juniorminister. Im selben Jahr wurde Lionel de Rothschilds Sohn Nathaniel (1840–1915) in den Adelsstand erhoben und erhielt damit als erster Jude einen Sitz im Oberhaus. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, daß Personen jüdischer Herkunft, die den Eid zu schwören bereit waren, bereits vor der Emanzipation einen Sitz im Unterhaus einnehmen konnten. So hatte Benjamin Disraeli bereits 1852 und 1858 das Amt des Chancellor of the Exchequer, die zweitwichtigste Position in der Regierung, inne. Das Leben und die politische und soziale Stellung von Benjamin Disraeli (1804–1881) sind so bedeutend, daß sie hier nicht unerwähnt bleiben können. Disraeli war im Alter von zwölf Jahren getauft worden, als sein Vater, der bekannte Schriftsteller Isaac d’Israeli, aus Protest gegen die sefardische Gemeinde, der er angehörte, zum Anglikanismus übertrat. Obwohl Benjamin Disraeli zu einem praktizierenden Anglikaner wurde, war er sich seiner jüdischen Wurzeln doch stets bewußt und entwickelte eine Theorie sui generis bezüglich

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der Juden als natürlicher historischer Elite mit einer Affinität zur britischen Aristokratie. Disraeli wurde in der britischen Öffentlichkeit immer als Jude betrachtet. Als Schriftsteller ohne Vermögen und Beziehungen gelang es Disraeli 1846 dennoch, eine der führenden Gestalten der Tories zu werden. Trotz mancher Anfeindungen wurde Disraeli wegen seiner rednerischen Brillanz, wie bereits erwähnt, 1852, 1858 und auch zwischen 1866 und 1868 mit dem Amt des Chancellor of the Exchequer betraut. 1868 und von 1874 bis 1880 war er schließlich Premierminister. Es war wohl die erstaunlichste Tour de Force in der britischen Politik des 19. Jhs. Die bemerkenswertesten außenpolitischen Ereignisse seiner Regierungszeit waren der Ankauf des Suezkanals für Großbritannien und Disraelis Triumph auf dem Berliner Kongreß im Jahr 1878. Innenpolitisch wird Disraeli die Formulierung des sogenannten „One Nation Conservatism“, der die Ideologie der Tories für das nächste Jahrhundert prägen sollte. 1876 wurde Disraeli zum Earl of Beaconsfield erhoben. Gegen Ende des 19. Jhs. war Disraeli zu einer Ikone der konservativen Partei geworden, eine Tatsache, die nicht unwesentlich dazu beigetragen haben dürfte, dem Antisemitismus der Rechten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Interessanterweise hatte Disraeli keinen gleichwertigen Gegenpart unter den britischen Linken, ganz im Gegensatz zu der Situation in vielen anderen europäischen Ländern. Bis zur Mitte des 19. Jhs. entstanden auch das offizielle Vertretungsgremium der jüdischen Gemeinschaft in Großbritannien, das in ähnlicher Form bis heute existiert. Die Wurzeln dieses Gremiums, das den Titel „Board of Deputies of British Jews“ trägt, reichen bis in das Jahr 1760 zurück. Erst zwischen 1828 und 1836 wurde es jedoch eine wirkliche Interessenvertretung, die die Ansichten der jüdischen Gemeinschaft gegenüber den staatlichen Stellen vertrat. Das „Board of Deputies“, dessen Name sich an eine ähnliche Organisation, die 1732 von protestantischen Nonkonformisten gegründet wurde, anlehnte, setzte sich aus den Delegierten der orthodoxen Gemeinden zusammen. Delegierte nichtorthodoxer Gemeinden wurden in den achtziger Jahren des 19. Jhs. zugelassen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde es auch jüdischen Organisationen gestattet, Delegierte zu entsenden. 1836/37 erhielt das „Board of Deputies“ im Zusammenhang mit dem „Marriage and Registration Act“ eine halboffizielle Anerkennung von seiten des Parlaments. Juden und Quäker wurden durch dieses Gesetz der Verpflichtung enthoben, Ehen in einer anglikanischen Kirche zu schließen. Das „Board of Deputies“ wurde ermächtigt, sogenannte „marriage secretaries“ zu empfehlen, vor denen eine staatlich anerkannte Ehe zwischen Juden zu schließen war. Diese offizielle Delegierung einer wichtigen rechtlichen Funktionen an eine private, freiwillige Organisationen ist in der englischen Rechtsgeschichte praktisch einzigartig und überaus bemerkenswert. Während des größten Teils des hier behandelten Zeitraums war der Vorsitzende des „Board of Deputies“ und die wichtigste Persönlichkeit des britischen Judentums überhaupt Sir Moses Montefiore (1784–1885), der wie Disraeli aus einer italienisch-sefardischen Familie stammte, sich als Aktienmakler ein großes Vermögen erworben hatte und mit den Rothschilds durch Heirat verbunden war. Als unangefochtener Sprecher des englischen Ju-

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dentums, der kein Rabbiner war, kann Montefiore als die erste „moderne“ Führungsgestalt einer bedeutenden jüdischen Gemeinschaft bezeichnet werden. Montefiore setzte sich stark für verfolgte Juden in anderen Ländern ein und intervenierte für diese, häufig mit Erfolg, bei verschiedenen europäischen Herrschern. Er erkannte als einer der ersten die Rolle, die einflußreiche Juden in liberalen Gesellschaften spielen konnten, um ihren verfolgten Glaubensbrüdern in anderen Ländern beizustehen. Dieses Konzept der internationalen Rolle führender jüdischer Persönlichkeiten ist bis heute aktuell. Montefiore war außerdem ein bedeutender Proto-Zionist, der zahlreiche englische Juden für den Zionismus gewinnen konnte, als die Herzlsche Bewegung in den neunziger Jahren des 19. Jhs. an Bedeutung gewann. Auch Nichtjuden schätzten Montefiore, und sein hundertster Geburtstag wurde in weiten Kreisen gefeiert. Montefiore war der erste Jude, dem die erbliche Baronetswürde verliehen wurde. 1840 wurde mit der West End Synagogue von wohlhabenden, akkulturierten, überwiegend sefardischen Familien die erste Reformsynagoge in London gegründet. Diese Einrichtung einer nichtorthodoxen Synagoge wurde von Montefiore strikt abgelehnt, und er tat alles, um die Ausbreitung der Reformbewegung zu verhindern. 1870 schlossen sich viele der gemäßigt orthodoxen Gemeinden zur „United Synagogue“ zusammen. Bereits 1855 war das Jews’ College als Ausbildungsstätte für britische orthodoxe Rabbiner gegründet worden. Eine wöchentlich erscheinende Zeitung der jüdischen Gemeinde in englischer Sprache, der Jewish Chronicle, war 1841 ins Leben gerufen worden und entwickelte sich zu einer der führenden jüdischen Zeitungen der Welt. Als Gegenstand der Literatur erschienen Juden auch in der viktorianischen Zeit nur sehr selten. Das bekannteste Beispiel ist Fagin, der Anführer einer Diebesbande in Charles Dickens’ Roman Oliver Twist (1838). Gegen die sehr negative Darstellung dieses Charakters erhob sich solcher Protest von Juden wie von Nichtjuden, daß Dickens schließlich mit dem positiven Porträt eines Juden in der Gestalt des Mr. Rhia in Our Mutual Friend (1865) Wiedergutmachung leistet. Eine antisemitische Tradition bildete sich in der englischen Literatur niemals heraus, und es ist bemerkenswert, daß es eine ganze Reihe wohlbekannter habgieriger Personen in der viktorianischen Literatur gibt – z. B. Scrooge, Gradgrind und Silas Marner –, die eben keine Juden sind. Romane wie Daniel Deronda von George Eliot und die sehr populären Novellen von Disraeli zeigen sogar, daß es durchaus eine Art von philosemitischer Tendez in der englischen Literatur gab. Normalerweise wurden Juden und jüdische Themen in ihr jedoch einfach ignoriert. Im 19. Jh. begannen Juden auch im intellektuellen und kulturellen Leben Großbritanniens Spuren zu hinterlassen, obgleich diese im Vergleich zum übrigen Europas eher vereinzelt und bescheiden waren. Zu nennen sind z. B. der Nationalökonom David Ricardo (1772–1823), der in Deutschland geborene, allerdings getaufte Rabbinerenkel Karl Marx (1818–1883), der jedoch seit 1849 in England lebte und viele seiner Theorien mit Beispielen aus dem britischen Kontext belegte, sowie der Wirtschaftswissenschaftler Nassau Senior (1790–1864). Auch Ricardo und Nassau Senior konvertierten im Laufe ihres Lebens zum Protestantismus. Der aus Kassel stammende Baron Paul Julius Reuter (1816–1899), geboren

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als Israel Beer Josaphat, Sohn eines Rabbiners, lebte seit 1851 in London und gründete die erste und bedeutendste Nachrichtenagentur der Welt. Gegen Ende der viktorianischen Zeit hatte die jüdische Gemeinschaft das Ziel erreicht, vom britischen „Establishment“ als legitime nichtkonformistische Religionsgemeinschaft, wie etwa die Methodisten oder die Quäker, anerkannt zu werden. Diese Errungenschaft geriet jedoch in den Jahrzehnten nach 1890 in Gefahr. Die Gewitterwolken, die nun bis 1918 das Leben der englischen Juden verdunkelten, wurden durch mehrere Faktoren verursacht. Die russischen Pogrome der Jahre 1881–1884 brachten eine große Gruppe osteuropäischer Juden nach Großbritannien. Diese sprachen Jiddisch, waren oft arm, trugen ungewohnte Kleidung und wurden häufig mit der politischen Linken assoziiert. Gleichzeitig erreichten in dieser Zeit Sozialdarwinismus, Rassismus, Imperialismus und Militarismus einen ersten Höhepunkt, was in ganz Europa mit einem Anwachsen des Antisemitismus verbunden war. Obwohl sich diese Strömungen in Großbritannien, zumindest in ihren Extremen, nicht so stark bemerkbar machten wie anderswo, blieb das Land dennoch von diesen Entwicklungen nicht unberührt. Die Massenimmigration von Juden nach den Pogromen in Rußland ließ die jüdische Bevölkerung in Großbritannien sprunghaft ansteigen. Hatten hier 1880 noch etwa 60 000 Juden gelebt, so war ihre Zahl 1914 auf etwa 265000 angewachsen. Schätzungsweise 120000 von ihnen lebten außerhalb Londons. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs hatte die Zahl der Juden in England die in Frankreich (100000), in den Niederlanden (106000) und in Rumänien in den Grenzen von 1914 (239 000) überschritten. Nach den großen jüdischen Gemeinschaften in Rußland (6,9 Mio.), Österreich-Ungarn (2,3 Mio.), den USA (3,3 Mio.), Deutschland (615 000) und dem Osmanischen Reich einschließlich Palästinas (337 000) besaß Großbritannien damit die sechstgrößte jüdische Gemeinschaft der Welt. Im britischen Empire lebten 1914 insgesamt 473000, davon 76000 Juden in Kanada, 47000 in Südafrika, 37 000 in Ägypten, 21 000 in Indien und 17 000 in Australien. Der Chief Rabbi und das „Board of Deputies“ in London wurden von den Juden des „weißen“ Empires als oberste Autoritäten für das Judentum des gesamten britischen Weltreiches betrachtet. So läßt sich sagen, daß das englische Judentum bereits 1914 ein bedeutendes Element innerhalb des Weltjudentums darstellte, das bislang vermutlich eher zu niedrig bewertet wurde.2 Viele der osteuropäischen Juden, die seit den achtziger Jahren des 19. Jhs. nach Großbritannien kamen, hatten wohl ursprünglich die Absicht, nach Amerika auszuwandern. Der Historiker Lloyd Gartner hat behauptet, daß nicht weniger als 400 000 bis 500 000 Juden vor ihrer weiteren Migration, meist nach Amerika, mindestens zwei Jahre in England verbrachten. Etwa 55% von ihnen waren erwachsene Männer, die später ihre Ehefrauen oder Verlobten aus der Alten Welt nachholten. 63% der Emigranten waren zwischen 21 und 40 Jahre alt, und 37% der Auswanderer waren so arm, daß sie weniger als 10 Schillinge (10 Mark) mit sich führten. Die große Masse dieser Neuankömmlinge ließ sich in Whitechapel und Umgebung im Londoner East End nieder. In diesem sehr armen Bezirk hatten bereits zuvor zahlreiche 2

Alle Zahlen aus: American Jewish Year Book 5679, Philadelphia 1918, S. 339–341.

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Juden gelebt, aber nun wurde er praktisch zu einem Synonym jüdischen Immigrantendaseins. In allen Straßen hörte man Jiddisch und andere osteuropäische Sprachen, sogar Ladenschilder waren häufig in Jiddisch geschrieben. Obwohl das „Fremde“, das sich hier so offen präsentierte, eine sehr deutliche xenophobe und antijüdische Reaktion hervorrief, war diese doch nicht so stark, wie man vermuten könnte. Hierfür gab es mehrere Gründe: der in Großbritannien vorherrschende Liberalismus, das geradezu auffallende Fehlen von Trunkenheit und Gewaltverbrechen unter den Neuankömmlingen und vor allem die Tatsache, daß die 100 000 bis 130 000 osteuropäischen Juden im East End letztlich nur einen kleinen Teil der wuchernden Slums von London ausmachten, das 1901 bereits eine Gesamtbevölkerung von 6,5 Mio. zählte. Die Zahl der jüdischen Immigranten wurde von der der „Cockneys“, der angelsächsischen Arbeiterklasse im East End, und der der irischen Katholiken weit übertroffen. Die meisten jüdischen Zuwanderer arbeiteten in der Bekleidungsindustrie, wobei sie sich nicht selten vom angestellten Arbeiter über den selbständigen Meister bis hin zum kleinen Kleiderfabrikanten hinaufarbeiteten. Im ganzen herrschte jedoch große Armut, und das Leben in den Ausbeuterbetrieben und Slumbehausungen des East End war hart und freudlos. Obwohl die Anzahl derjenigen, denen innerhalb weniger Dekaden der soziale Aufstieg gelang, im Vergleich zu anderen verarmten Gruppen sehr groß war, lag sie dennoch wahrscheinlich niedriger als unter den jüdischen Immigranten in New York, so daß unter den Juden des East End bis zum Zweiten Weltkrieg und sogar darüber hinaus ein größeres jüdisches Proletariat bestehenblieb, als dies unter den jüdischen Einwanderern in Amerika der Fall war. Die Zuwanderer brachten eine ganze Reihe von jüdischen Ideologien, vom Zionismus bis zum Marxismus, mit nach Großbritannien, die hier zuvor beinahe unbekannt waren. Ebenso entstand eine ansehnliche jiddische Presse und ein jiddisches Theater. Obwohl die Neuankömmlinge eine konsequenter orthodox geprägte Form des Gottesdienstes praktizierten, als dies bislang in Großbritannien üblich gewesen war, gab es nur wenige unter ihnen, die tatsächlich streng orthodox waren, und die Immigranten etablierten weder Jeschiwot noch ein umfassendes jüdisches Bildungssystem. Die jüdische Elite, die im Londoner West End, vor allem in Bayswater und Marylebone, lebte und zu dieser Zeit so wohlhabend und einflußreich war wie noch nie, legte den Immigranten gegenüber eine höchst ambivalente Haltung an den Tag. Sie baute ein beachtliches Netzwerk an Bildungs- und Sozialeinrichtungen auf, um die Lebensumstände der Einwanderer zu verbessern. In der modernen Forschung ist umstritten, inwieweit dies von seiten der jüdischen Elite, die möglicherweise ihren Status durch die Neuankömmlinge bedroht sah, als eine Form der sozialen Kontrolle gedacht war. Plausibel ist sicher die Ansicht, daß die Zuwanderung der osteuropäischen Juden auch innerhalb der Elite zu Spaltungen führte, da ein Teil der wohlhabenden und akkulturierten Juden die – zumindest nach den Maßstäben der alteingesessenen Londoner Juden – traditionelle orthodoxe Religiosität und die „Jiddischkeit“ der Einwanderer nicht als Bedrohung empfand, sondern sich vielmehr von ihr angezogen fühlte. Ein bedeutendes Beispiel für eine solche Haltung war Samuel Mon-

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tagu, der spätere Lord Swaythling, ein millionenschwerer Bankier und Abgeordneter der Liberalen, der ein glühender Verfechter des orthodoxen Judentums war und zu den Mitbegründern der „Federation of Synagogues“ gehörte, einem Verband, der außerhalb der „United Synagogue“ stand und unter den Juden des East End zahlreiche Anhänger hatte. Insgesamt ist hervorzuheben, daß es von seiten der jüdischen Elite keine oder kaum offene Anfeindungen gegen die Neuankömmlinge gab, wie dies so oft in Deutschland der Fall war. Die jüdische Elite in Großbritannien war sich ihrer sozialen Stellung sehr viel sicherer als die in Deutschland und betrachtete die Einwanderer nicht zwangsläufig als eine Gefahr für ihre Position in der Gesellschaft. Zudem war das East End für alle wohlhabenden Londoner Bürger eine Terra incognita. Zeitungskommentatoren bemerkten häufig, daß ein Besuch in diesem Viertel, nur ein oder zwei Meilen von der „City“ entfernt, einer Safari nach Zentralafrika gleichkomme. So nahmen nur wenige wohlhabende oder adelige Londoner die jüdische Bevölkerung im East End überhaupt wahr. Die Immigranten trugen auch zu einer Belebung des jüdischen Lebens außerhalb von London bei. So zählte Manchester, das 1851 eine jüdische Bevölkerung von 2000 Personen bei einer Gesamtbevölkerung von 340 000 Personen gehabt hatte, 1914 bereits 30 000 jüdischen Einwohner bei einer Gesamtzahl von 714000 Einwohnern. Die jüdische Bevölkerung in Leeds stieg von 100 Personen im Jahre 1851 auf 25000 Personen im Jahr 1914. Liverpool hatte in diesem Jahr 7500 jüdische Einwohner, Birmingham 5000. Die jüdische Bevölkerung in Schottland stieg von 220 im Jahr 1851 auf 6500 im Jahr 1914. Im Regelfall ließen sich die jüdischen Einwanderer in den industriellen Zentren nieder, wo sie, wie in London, hauptsächlich in der Textilindustrie tätig waren, jedoch sehr viel schneller zu selbständigen Unternehmern aufstiegen. Die beiden bekanntesten jüdischen Unternehmen dieser Zeit wurden von Immigranten gegründet, die sich außerhalb von London niedergelassen hatten. Die eng miteinander verbundenen Familien Marks und Sieff in Leeds, die auch gute Kontakte nach Manchester besaßen, gründeten das Bekleidungshaus Marks and Spencer, und Montague Burton, der Gründer der bekannten Kette von Herrenausstattern, etablierte sein Unternehmen ebenfalls in Leeds. Manchester wurde zudem in dieser Zeit eines der bedeutendsten Zentren der Zionistischen Bewegung in der gesamten Diaspora. Hierzu trugen auch die Präsenz von Chaim Weizmann, der zu dieser Zeit Dozent für Chemie an der Universität von Manchester war, sowie die bereits erwähnten Familien Marks und Sieff bei, die die Bewegung maßgeblich finanziell unterstützten. Oberflächlich betrachtet, erlebte Großbritannien zwischen 1890 und 1918 im Vergleich zu der Mitte der viktorianischen Zeit ein Anwachsen judenfeindlicher Tendenzen. Antisemitische Ideologien, die auf dem Kontinent im Schwange waren, in Großbritannien jedoch bislang unbekannt gewesen waren, fanden nun Eingang in die englische Gesellschaft, z.B. durch die Werke der konservativen katholischen Autoren Hilaire Belloc und G. K. Chesterton. Juden wurden in mindestens einem Roman – der Hypnotiseur Svengali in George du Mauriers Trilby (1894) –, vor allem aber in Kriminalromanen und anderer Populärliteratur der Zeit oft als zwielichtige Personen dargestellt. Während des Burenkrieges (1899–1902), in dem Großbritannien die beiden südafrikanischen Burenrepubliken erober-

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te, erlebten weite Teilen Großbritanniens einen sogenannten „Reiche-Juden-Antisemitismus“, der die jüdischen millionenschweren „Randlords“ für den Ausbruch des Krieges verantwortlich machte. 1911 kam es im Süden von Wales zu antijüdischen Ausschreitungen. Dies war wahrscheinlich der einzige Fall antijüdischer Krawalle in Großbritannien zwischen 1753 und 1946. Auch der sogenannte „Marconi-Skandal“, bei dem es um Insidergeschäfte einiger Mitglieder der liberalen Regierung mit Aktien des Unternehmens Marconi’s Wireless Telegraph Company ging, hatte eine starke antisemitische Komponente, da mehrere der betroffenen Minister Juden waren. Im ganzen betrachtet, haben alle diese Fälle jedoch keine große Bedeutung. Ihre Auswirkungen wurden bisher meist übertrieben dargestellt und außerhalb des politischen und sozialen Gesamtkontextes betrachtet. Die öffentliche Meinung, wie sie in der Presse und von anderen Meinungsmachern ausgedrückt wurde, stellte sich, wenn es um die Verfolgung von Juden ging, immer eindeutig auf die Seite der Juden. So stand die englische Öffentlichkeit während der Dreyfus-Affäre in den neunziger Jahren des 19. Jhs. ganz überwiegend auf der Seite des jüdischen Offiziers.3 Dasselbe war auch bei dem russischen Ritualmordprozeß gegen Mendel Beilis in den Jahren 1911–1913 der Fall, als in Großbritannien sogar eine Petition aufgesetzt wurde, die von nahezu allen bedeutenden Persönlichkeiten des politischen und kulturellen Lebens, einschließlich der Führung der konservativen Partei, unterschrieben wurde. Neuere Forschungen zu den Ausschreitungen im Süden von Wales im Jahr 1911 haben zudem ein ambivalenteres Bild der Ereignisse ergeben, als man es vorher angenommen hatte, und obwohl Zeitungen und Zeitschriften der extremen Rechten die jüdische Komponente des „Marconi-Skandals“ stark betonten, lehnten die Tories es explizit ab, dies zu tun. Eine tiefere Analyse macht darüber hinaus deutlich, daß im Großbritannien des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jhs. die meisten Komponenten des „Neuen Antisemitismus“, der sich zu dieser Zeit in den meisten europäischen Ländern und sogar in den USA breitmachte, vollständig fehlen. So wurden Juden bei der Aufnahme in Privatschulen, dem Zutritt zu Klubs und dem Austieg in die Offiziersränge der Armee nicht benachteiligt. Privatschulen wie Harrow, Cheltenham und Clifton gründeten sogar, um jüdische Schüler zu gewinnen, spezielle jüdische Wohnheime, die es den jüdischen Schülern ermöglichen sollten, trotz der anglikanischen Prägung der Schulen ihre Religion frei auszuüben. 1909 wurde mit Herbert Samuel der erste praktizierende Jude ins britische Kabinett berufen. Insgesamt läßt sich sagen, daß die antisemitischen Strömungen in Großbritannien nach 1890 verschwommen und ambivalent waren. Einen politischen Antisemitismus im eigentlichen Sinne, der die Präsenz von Juden und ihren angeblichen Einfluß in den Mittelpunkt der Debatte stellte, gab es im Gegensatz zu Deutschland, Österreich, Frankreich und Rußland in Großbritannien nicht. Ähnliches gilt, so scheint es, für den rassisch motivierten Antisemitismus. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß der rechte Flügel des britischen politischen Spektrums noch nicht einmal entfernt antisemitische Tendenzen auf3

Zur Dreyfus-Affäre vgl. auch den Artikel zu Frankreich in diesem Band S. 405f.

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wies, sondern sich mit ganz anderen Themen beschäftigte, vor allem der Irlandfrage und der Frage der Errichtung eines Schutzzollsystems für das gesamte britische Imperium. Die meisten Belege für eine Zunahme des Antisemitismus seit 1890 beziehen sich auf ein einziges zentrales Ereignis, die Verabschiedung des „Aliens Act“ 1905. Hatte es in der Vergangenheit keinerlei Einwanderungsbeschränkungen in England gegeben, so führte die Massenimmigration von osteuropäischen Juden dazu, daß nun erstmals Forderungen nach solchen Beschränkungen erhoben wurden. In diesem Zusammenhang wurden die Juden von den Gegnern einer unbeschränkten Einwanderung beschuldigt, auf unlautere Weise von dieser zu profitieren, indem sie die Prostitution förderten, überhöhte Mieten nahmen und sich wirtschaftliche Vorteile durch Sonntagsarbeit sicherten. Eine königliche Kommission, an der auch Lord Rothschild beteiligt war, empfahl Einwanderungsbeschränkungen und die Ausweisung von „unerwünschten“ Einwanderern wie Prostituierten und Kriminellen. 1905 wurde schließlich der berühmte „Aliens Act“ – „alien“ ist der in der englischen Rechtssprache verwendete Begriff für alle Personen, die nicht Bürger Großbritanniens oder des Empires sind – verabschiedet. Dieser ermächtigte die Behörden, Personen, die nicht für ihren eigenen Unterhalt aufkommen konnten, sowie Kriminellen und anderen „unerwünschten“ Einwanderergruppen die Einreise zu verweigern. Es wurde jedoch kein Quotensystem, wie es seit 1921 in den USA existierte, eingeführt, und jüdische ebenso wie nichtjüdische Einwanderer, die in der Lage waren, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, konnten nach wie vor ohne Beschränkungen einwandern. Zwischen 1905 und 1914 ging die jüdische Immigration nach Großbritannien um etwa ein Drittel zurück, wobei nicht klar ist, ob der „Aliens Act“ hierfür direkt oder gar allein verantwortlich ist. Auch wurde das Gesetz gegenüber anderen europäischen Gruppen, vor allem gegenüber Franzosen, erheblich schärfer angewandt als gegenüber Juden. Die liberale Regierung, die Ende des Jahres 1905 ins Amt kam, hob den „Aliens Act“ nicht auf, sondern sorgte dafür, daß er weiterhin durchgesetzt wurde. Es ist schwer vorstellbar, daß irgendeine Regierung unter modernen Umständen einer uneingeschränkten Einwanderung nach Großbritannien zustimmen könnte. Obwohl Antisemitismus, besonders aus den Reihen der alteingesessenen Bewohner des Londoner East End, beim Erlaß des „Aliens Act“ durchaus eine Rolle spielte, zeigt sich doch die Ambiguität, die judenfeindlichen Haltungen in der britischen Gesellschaft häufig innewohnte, wenn man einen Blick auf die beteiligten Personen wirft: Der Premierminister Arthur Balfour, dessen Regierung das Gesetz erließ, war sein Leben lang ein Philosemit und der spätere Verfasser der Balfour Declaration, und der Abgeordnete der Rechten, der sich am meisten für den „Aliens Act“ engagierte, Sir William Evans-Gordon, war ein enger Freund und Förderer von Chaim Weizmann, der Evans-Gordon in seiner Autobiographie Trial and Error (1949) hoch lobte. Evans-Gordon hatte 1902 die jüdischen Gemeinden des zaristischen Rußlands besucht und sehr bewegend über ihre Unterdrückung berichtet. In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg verbreiterte sich mit der Etablierung des noch „links“ des Reformjudentums anzusiedelnden Liberalen Judentums durch Lilian Montagu, Claude G. Montefiore u.a. die religiöse Basis der britischen Juden. Auf der ande-

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ren Seite des religiösen Spektrums wurden zwischen 1909 und 1912 die ersten strengorthodoxen Synagogen gegründet, deren Einfluß jedoch sehr gering blieb. Der Zionismus hatte sich bereits vor Herzl in Großbritannien etabliert und fand sowohl von seiten der wohlhabenden jüdischen Elite als auch von seiten einflußreicher Nichtjuden, vor allem aus den Reihen der Nonkonformisten, erstaunlich viel Unterstützung. 1903 machte der Kolonialsekretär Joseph Chamberlain Theodor Herzl das berühmte Angebot, Uganda als neues Heimatland für das jüdische Volk zur Verfügung zu stellen, was bekanntermaßen in der frühen zionistischen Bewegung sehr geteilte Reaktionen hervorrief. Nach 1911 wurde der seit 1905 ständig in Manchester lebende Chaim Weizmann (1874–1952) zum führenden Kopf der internationalen zionistischen Bewegung, die also nun von englischem Boden aus gesteuert wurde. Die englische „Zionist Federation“ hatte 1902 etwa 7000 Mitglieder. Diese Zahl fiel jedoch bis 1914 auf 4000. Der Erste Weltkrieg hatte für das englische Judentum in vielerlei Hinsicht nicht die gleichen nachteiligen, ja sogar katastrophalen Auswirkungen, die er auf die Juden in vielen anderen Teilen Europas hatte. Etwa 41 500 jüdische Soldaten dienten in den britischen Streitkräften und weitere 8500 in den Armeen des Empires. Schätzungsweise 2300 Juden fielen auf britischer Seite während des Krieges – die Gesamtzahl der britischen Gefallenen lag bei 923 000. Im ganzen wirkte sich der Krieg für das englische Judentum in Richtung auf eine Akkulturation und Legitimation aus. Dies gilt vor allem für die Juden des East End, die Seite an Seite mit Nichtjuden kämpften und auf diese Weise häufig erstmals in engeren Kontakt mit ihnen traten. Siebzehn jüdische Feldgeistliche dienten in den britischen Armeen. Sir John Monash, vermutlich der erste jüdische General seit römischen Zeiten, wurde während des Krieges Oberkommandierender der australischen Armeen. Nach dem Krieg wurden, ein Novum in der Geschichte, viele britische Kriegerdenkmäler nicht mehr als anglikanische Gedenkstätten, sondern ohne Referenz auf eine bestimmte Religion oder Konfession eingerichtet. Hier ist von allem das Ehrenmal in Whitehall zu nennen, das das Zentrum aller britischen Kriegsgedenkfeiern darstellte. Der Chief Rabbi nahm an den jährlich stattfindenden Gedenkveranstaltungen immer in offizieller Funktion teil. Von einem weit verbreiteten Antisemitismus während des Ersten Weltkriegs zu sprechen, ist kaum möglich. Allerdings wurden Juden – ebenso wie Nichtjuden – mit Verbindungen nach Deutschland häufig aus dem öffentlichen Leben verdrängt, woraufhin viele von ihnen ihren Namen änderten. Nicht gering war außerdem der Haß auf Juden russischer Herkunft im militärdienstfähigen Alter, die nicht eingezogen werden konnten und sich weigerten, freiwillig für den Zaren zu kämpfen. Dieser Haß äußerte sich gelegentlich, vor allem 1917, auch in gewaltsamen Ausschreitungen gegen russisch-jüdische Gemeinden. Die bolschewistische Revolution von 1917, an der zahlreiche Juden beteiligt waren, rief ein gerütteltes Maß an Antisemitismus aus dem rechten politischen Flügel hervor, der noch etwa fünf Jahre über das Ende des Krieges hinaus anhielt. Schließlich hatte der Erste Weltkrieg auch noch eine Konsequenz, die Großbritannien und das jüdische Volk enger aneinander band: die britische Erwerbung Palästinas im Jahr 1917 und die Verkündung der Balfour Declaration, die Palästina zur „nationalen Heimstatt“

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des jüdischen Volkes erklärte, im November des selben Jahres. Diese von dem Außenminister Arthur Balfour unterschriebene Erklärung war in der Form eines Schreibens an Lord Rothschild abgefaßt, der allgemein als Führer der jüdischen Gemeinschaft in Großbritannien betrachtet wurde, obwohl er kein offizielles Amt innehatte. Über die Gründe für die Entstehung der Balfour Declaration ist viel diskutiert wurden. Genannt werden u. a. die Dankesschuld der englischen Regierung gegenüber Weizmann für seine chemikalischen Entdeckungen während des Krieges, die Anteilnahme, die zahlreiche nichtjüdische Philosemiten und Protozionisten wie z.B. der Premierminister David Lloyd George für Juden hegten, sowie die Notwendigkeit, die Unterstützung von Juden in Übersee zu gewinnen. Viele akkulturierte britische Juden lehnten die Balfour Declaration entschieden ab. Es ist dennoch nur schwer vorstellbar, daß irgendeine andere Nation außer Großbritannien ein solches Dokument verfaßt oder auch nur ernsthaft in Erwägung gezogen hätte, Palästina eher den Juden als den Christen zu geben.

Vom Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (1918–1945) In den ersten fünf Jahren nach 1918 läßt sich ein sehr viel deutlicherer Anstieg des Antisemitismus feststellen als vor dem Krieg. Die Protokolle der Weisen von Zion, die notorische antisemitische Fälschung des zaristischen Rußland, wurde 1919 ins Englische übersetzt und in der rechten Presse weit verbreitet. In Artikeln und Büchern wurde über die „verborgene jüdische Hand“, die angeblich eine internationale Verschwörung anzettelte, gehetzt. Gruppen, die offen einen rassistischen Antisemitismus propagierten, tauchten nun erstmals in Großbritannien auf. Tagebücher und Briefe aus den Jahren 1917–1923 enthalten vermutlich mehr antisemitische Bemerkungen, als es zu irgendeiner anderen Zeit der Fall war. Neben der Theorie von den jüdischen Wurzeln der bolschewistischen Revolution und anderer Unruhen der Nachkriegszeit war es vor allem die Antipathie der rechten Konservativen gegen die Koalitionsregierung von Lloyd George (1916–1922), die diese antisemitische Welle verursachte. Die Koalitionsregierung hatte vier jüdische Kabinettsmitglieder (Rufus Isaacs, Lord Reading; Herbert Samuel; Sir Alfred Mond und Edwin Montagu), was den Rechten zu viel erschien. Montagu, der die britische Politik in Indien kritisierte, wurde von den Tories besonders abgelehnt. Als die Regierung Lloyd George im Oktober 1922 stürzte und von einer rein konservativen Regierung abgelöst wurde, verschwand die antisemitische Stimmung jedoch rasch wieder und tauchte auch in den dunklen Tagen der dreißiger Jahre nicht wieder auf. Daß es in Großbritannien nach der Rückkehr der „Normalität“ weniger Antisemitismus gab als in anderen Ländern, hat mehrere Gründe: Großbritannien hatte den Krieg gewonnen. Im Gegensatz zu Deutschland und den meisten Ländern Mittel- und Osteuropas waren die britischen Institutionen intakt geblieben, und das britische Empire war größer als je zuvor. Die britische Mittelklasse war durch den Krieg nicht verarmt, sondern erlebte vielmehr in der Zwischenkriegszeit trotz verbreiteter Arbeitslosigkeit in den industriellen

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Gebieten Nordenglands vor allem in und um London eine fortgesetzte Prosperität. Die Monarchie war und blieb ein allgemein anerkanntes Symbol der nationalen Einheit. Hinzu kommt, daß im Großbritannien der Zwischenkriegszeit fast immer gemäßigte Konservative an der Regierung waren, die die Bedeutung einer nationalen, klassenübergreifenden Einheit betonten, ohne dabei auf antisemitische oder xenophobe Argumentationsmuster zurückzugreifen. Die ebenso moderate Labour-Partei ersetzte die Liberale Partei als die anerkannte Partei links der politischen Mitte. Auch nach 1918 setzte sich das Wachstum der jüdischen Bevölkerung in Großbritannien fort, wenn auch in geringerem Ausmaß als vor dem Ersten Weltkrieg. 1933 lebten etwa 300 000 in Großbritannien bei einer Gesamtbevölkerung von 46,5 Mio. Da aufgrund der hohen Arbeitslosenzahlen in den Industriegebieten 1919/20 mehrere Gesetze erlassen wurden, die die Masseneinwanderung nach Großbritannien nahezu vollständig stoppten, hört das englische Judentum bis zum Eintreffen der Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Deutschland zunächst auf, durch Immigration zu wachsen. Dennoch besaß London 1930 212000 jüdische Einwohner, mehr als Berlin oder Wien, ein Faktum, das bislang noch nicht hinreichend zur Kenntnis genommen wurde. Zwischen den Weltkriegen gelang einer beachtlichen Zahl von Juden aus dem East End der soziale Aufstieg. Dies läßt sich vor allem an der Veränderung ihrer Wohnorte ablesen. In den dreißiger Jahren waren die meisten Londoner Juden in die neueren und wohlhabenderen Vororte im Norden und Nordwesten Londons umgezogen, meist in Reihenhaussiedlungen, die so charakteristisch für das London des 20. Jhs. sind. Die jüdische Bevölkerung des East End fiel von 125 000 kurz vor dem Ersten Weltkrieg auf 85 000 im Jahr 1929 und sank bis 1939 noch weiter. Viele der im East End verbliebenen Juden lebten nun auch hier nicht mehr in Armut. Die jüdische Bevölkerung in bürgerlichen Küstenstädten wie Brighton nahm stark zu, und Juden siedelten auch in anderen Städten in Wohngebieten der Mittelklasse an. Ende der dreißiger Jahre besuchten etwa 6% aller britischen Juden zwischen 18 und 21 Jahren eine Universität, im Vergleich zu lediglich 2% der gleichen Altersgruppe innerhalb der britischen Gesamtbevölkerung. Der Erste Weltkrieg hatte außerdem zu einer Schwächung der wirtschaftlichen Stellung der alten englisch-jüdischen Elite, den Rothschilds, Montefiores, Samuels, Sterns u.a., sowie der Handelsbanken und anderer finanzieller Institutionen, auf die sich ihr Reichtum gründete, geführt. Wesentliche Gründe hierfür waren die durch den Krieg beschleunigten fundamentalen weltwirtschaftlichen Veränderungen, vor allem die Schwächung der Position der „City“ und des kosmopolitischen Freihandels des 19. Jhs. Neue wohlhabende jüdische Männer und Familien, wie die Sieffs, Sir Charles Clore und Sir Isaac Wolfson, nahmen ihren Platz ein, doch das englische Judentum war fortan von geringerer Bedeutung für den Finanzsektor der britischen Wirtschaft als vor 1914. Die Zwischenkriegszeit sah auch einen Zuwachs der Popularität der „United Synagogue“ unter den Immigranten und den Kindern der Immigranten, die zahlreiche neue Synagogen im Norden Londons errichteten. Die „United Synagoge“ stellte mit ihrer konservativen und sehr patriotischen Ausstrahlung einen wichtigen Faktor für die weitere Akkulturation der

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Immigranten dar. Sie repräsentierte die Hauptrichtung des damaligen englischen Judentums, und sie hatte nur wenige Rivalen: Der organisierte Zionismus verlor seit dem Ende der zwanziger bis zum Ende der dreißiger Jahre an Popularität. Am anderen Ende des Spektrums gewann der jüdische Kommunismus seit der Mitte der dreißiger Jahre unter den Juden des East End zunehmend an Boden. Wie anderswo in der jüdischen Welt wurde der Kommunismus mit seiner historischen Eschatologie und seiner Propagierung eines „Gelobten Landes“, d. h. der Sowjetunion, auch in Großbritannien zu einer populären säkularen Alternative zum Judentum. In den dreißiger Jahren schien der Kommunismus einen gangbaren Lösungsweg für die beiden Übel des Faschismus und der Massenarbeitslosigkeit darzustellen. Als jedoch in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre der stalinistische Antisemitismus in Großbritannien bekannt wurde, verlor der jüdische Kommunismus, wie beinahe überall, an Zugkraft. Die zentrale Rolle, die die konservativ-patriotische „United Synagogue“ spielte, und die sehr späte Entwicklung einer populären jüdischen Linken verweisen gleichfalls auf mehrere Charakteristika, die die britischen Juden von den meisten anderen jüdischen Gemeinden unterschieden. Im englischen Judentum gab es keine alternativen Randgruppen oder kulturellen Radikalen und Erneuerer, die von der Konservativen gefürchtet und verachtet wurden. Nur auf einige britische Juden würde eine solche Beschreibung zutreffen, z. B. auf den berühmten in Amerika geborenen Bildhauer Jacob Epstein (1880–1959). Vor den sechziger Jahren war die britische Boheme ohnehin kleiner als die der meisten westlichen Gesellschaften, und ironischerweise wurde eine ganze Reihe der britischen kulturellen Erneuerer, wie z.B. der große aus Amerika stammende Dichter T. S. Eliot (1888–1965), häufig des Antisemitismus bezichtigt. Weiterhin standen britische Juden kaum in Verbindung mit der politischen Linken dieser Zeit. In den beiden ersten Labour-Regierungen (1924 und 1929–1931) gab es keine jüdischen Kabinettsmitglieder und mit Emanuel Shinwell (1884–1986) nur einen einzigen jüdischen Juniorminister. Unter den politischen Theoretikern der Linken fanden sich zwar einige Juden, z. B. der einflußreiche Professor Harold Laski (1893–1950) und der Publizist und Gründer des „Left Book Club“ Sir Victor Gollancz (1893–1967), aber rechte Politiker hätten nur unter großen Schwierigkeiten behaupten können, daß die britische Linke von Juden „kontrolliert“ sei oder daß linksorientierte Juden eine Gefahr für die politischen Institutionen Großbritanniens darstellten. Es gab hier keine fundamentale kulturelle oder politische Kluft zwischen den Verfechtern der Moderne und der Reaktion, was wiederum dazu beitrug, den Einfluß, den antisemitische Ideologien, die zu dieser Zeit anderswo erstarkten, hatten, gering zu halten. Der Aufstieg des nationalsozialistischen Deutschland und die von Hitler entfesselte Schoa stellten das britische Judentum vor die größte Herausforderung seiner Geschichte. Dieses komplexe und sehr kontroverse Thema läßt sich am besten anhand einer Reihe von Unterthemen erfassen: das Verhalten Großbritanniens gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland und dem deutschen Antisemitismus, das Verhalten des englischen Judentums bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 sowie die Kriegszeit selbst.

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Die öffentliche Meinung in Großbritannien, auf der Linken wie auf der Rechten, war in allererster Linie darauf bedacht, einen neuen Krieg zu vermeiden, da die Zahl der britischen Opfer des Ersten Weltkriegs, die alles bisher Dagewesene weit in den Schatten stellte, noch gut im Gedächtnis war und man fürchtete, daß ein weiterer Krieg ähnlich viele Opfer fordern werde. So reagierte Großbritannien, wie allgemein bekannt, ebenso wie Frankreich mit einer Politik des „Appeasement“ auf das deutsche Expansionsstreben. Nach der Besetzung der „Rest-Tschechoslowakei“ im März 1939 begann man jedoch langsam von dieser Politik abzurücken, und nachdem deutsche Truppen im September 1939 in Polen eingefallen waren, erklärten Großbritannien und Frankreich Deutschland den Krieg. Es läßt sich kaum bezweifeln, daß die öffentliche Meinung in Großbritannien den frühen nationalsozialistischen Antisemitismus, von dem die britische Presse und die Wochenschauen berichteten, überwiegend strikt ablehnte. Dennoch wurden vor dem Novemberpogrom 1938 vergleichsweise wenige jüdische Flüchtlinge aus Deutschland in Großbritannien aufgenommen. Dies lag zum Teil an weiterhin existierenden Widerständen gegen jegliche Art von Immigration, zum Teil aber auch daran, daß es vor 1938 noch nicht ohne weiteres ersichtlich war, daß viele deutsche Juden auswandern wollten. 1933 bot das britische „Board of Deputies“ an, die Kosten für alle jüdischen Flüchtlinge zu übernehmen, die nach Großbritannien auswandern wollten und sammelte für diesen Zweck bis 1939 mehr als £ 2 Mio. Nichtjüdische Wohlfahrtsorganisationen, besonders der „Lord Baldwin Fund for Refugees“, der 1937 von dem früheren Premierminister Stanley Baldwin gegründet wurde, sammelten ebenfalls bedeutende Summen. Nach dem Novemberpogrom von 1938 wurde die britische Flüchtlingspolitik zunehmend liberaler. Die Gesamtzahl der jüdischen Flüchtlinge, die aus Deutschland nach Großbritannien kamen, wird auf etwa 55 000 bis 75 000 geschätzt. Weitere 53 000 bis 60 000 Juden emigrierten in das britische Mandatsgebiet Palästina und 30 000 in andere Teile des Commonwealth. Großbritannien nahm mehr österreichische Juden auf als jedes andere Land. Man sollte nicht vergessen, daß 1941, als die Nationalsozialisten jede weitere jüdische Emigration aus dem Deutschen Reich verboten, nur noch 130 000 bis 140 000 der 500 000 Juden, die 1933 in Deutschland gelebt hatten, hier zurückgeblieben waren. Die meisten hatten sich in Sicherheit bringen können. Obwohl Großbritannien ebensowenig wie irgendein anderes Land jüdische Flüchtlinge in unbegrenzter Zahl zuließ, stellte die Aufnahme von 350 000 deutschen Juden und zwei Dritteln der österreichischen Juden durch andere Länder doch das erfolgreichste Flüchtlingsprogramm, das die Geschichte je gesehen hatte. Niemand konnte in den dreißiger Jahren das Schicksal der in Deutschland verbliebenen Juden vorhersehen. Ebensowenig konnte irgend jemand vorhersehen, daß Hitler den größten Teil Kontinentaleuropas erobern und einen in der modernen Geschichte noch nie dagewesenen Völkermord verüben würde. Großbritanniens Rolle hinsichtlich der Aufnahme von Juden aus dem Reich in den dreißiger Jahren kann sicherlich an vielen Punkten zu Recht kritisiert werden. Dennoch war die britische Politik gegenüber den jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland, gemessen an dem damaligen Wissensstand und angesichts des wirtschaftlichen und politischen Drucks gegen jegliche Art von Immigration, bemerkenswert großzügig.

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Wie gegen die antisemitische Politik der Nationalsozialisten richtete sich die öffentliche Meinung in Großbritannien mehrheitlich auch gegen antisemitische oder faschistische Gruppierungen im eigenen Land. Großbritannien war in der Tat das europäische Land, in dem der Faschismus in den dreißiger Jahren am wenigsten Fuß fassen konnte. Die bedeutendste faschistische Gruppierung in Großbritannien war die von Sir Oswald Mosley (1896–1980) im Jahr 1932 gegründete „British Union of Fascists“ (BUF). Mosley war bis 1933 nie als Antisemit in Erscheinung getreten, ließ sich aber dann, nach einem Besuch bei Hitler, für den Antisemitismus nationalsozialistischer Prägung gewinnen. Viele seiner Kampfgenossen nach 1933, die sich aus den Slums des East End rekrutierten, waren offene Antisemiten und nicht selten auch gewalttätige Schläger. Das britische „Establishment“ reagierte entsetzt auf Mosley und seine BUF, vor allem als die Gruppe 1934 zunehmend gewalttätig wurde. So war es Mosley trotz seines früheren Ministerpostens zwischen 1934 und 1968 verboten, in der BBC, der damals einzigen Radioanstalt im Land, zu sprechen. Die BUF fand kaum Unterstützung bei den Wählern, die in der überwältigenden Mehrheit der Mitte-rechts-Regierung treu blieben. Das wohl bekannteste Ereignis, in das die BUF verwickelt war, war die sogenannte „Schlacht auf der Cable Street“ im Londoner East End, zu der es im Oktober 1936 kam, als Juden, Linke und Gewerkschaftsmitglieder einen Marsch der BUF durch das East End stoppten. Dieser Vorfall wurde in linken und jüdischen Kreisen legendär. Dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges folgte bald eine beinahe flächendeckende Hegemonie der Nationalsozialisten in Europa. Nach der deutschen Eroberung Polens, der Beneluxstaaten, Norwegens und Frankreichs kämpfte Großbritannien bis zum Einmarsch der deutschen Truppen in die Sowjetunion in Europa ganz allein gegen das Deutsche Reich. Auch nachdem die Vereinigten Staaten im Dezember 1941 in den Krieg eingetreten waren, erschien es bis Ende 1942, ja sogar bis 1943 immer noch möglich, daß Deutschland den Krieg gewinnen würde. Dies ist zu bedenken, wenn man sich mit der Reaktion Großbritanniens auf den deutschen Völkermord an den europäischen Juden beschäftigt. Großbritannien hatte keine realistische Möglichkeit, den Juden im besetzten Europa zu Hilfe zu kommen, ohne diese Gebiete Kilometer für Kilometer zurückzuerobern. Letztlich konnten die Juden, die in die Gewalt des nationalsozialistischen Deutschland geraten waren, nur durch einen Sieg über Hitler gerettet werden. Einige Aspekte der britischen Politik gegenüber den Juden während des Krieges sind scharf kritisiert worden: 1940 ließ die britische Regierung, die sich von einer deutschen Invasion bedroht sah, zahlreiche deutschstämmige Juden – und auch Nichtjuden – als potentielles Sicherheitsrisiko verhaften und internieren. Mehrere Tausend von ihnen wurden nach Kanada und Australien deportiert. Auch ließen die Briten nur wenige jüdische Flüchtlingen in ihr Mandatsgebiet Palästina einreisen. So hinderte sie z.B. 1942 das rumänische Schiff Struma, das jüdische Flüchtlinge an Bord hatte, daran, vom Schwarzen Meer nach Palästina zu segeln. Die Struma wurde kurz darauf, wahrscheinlich von einem russischen U-Boot, versenkt, wobei Hunderte ihr Leben verloren. Im Juni 1944 ließ die britische Militärführung das Konzentrationslager Auschwitz nicht bombardieren, obwohl sie mehrfach darum ersucht worden war. Die briti-

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schen Behörden begründeten diese Maßnahme mit dem Hinweis, daß es für die Flugzeuge unmöglich sei, tagsüber Angriffe im südlichen Polen zu fliegen, eine Entschuldigung, die mit großer Sicherheit berechtigt war. Noch bedeutender war die Tatsache, daß Großbritannien die Rettung der Juden nie zu einem ausdrücklichen Ziel seiner Kriegsführung machte. Diese Kritikpunkte sind sicherlich nicht unberechtigt, aber gleichzeitig kann nur wiederholt werden, daß es rückblickend schwer zu sagen ist, was Großbritannien angesichts der nationalsozialistischen Entschlossenheit zur Vernichtung der Juden und seiner eigenen militärischen Schwäche noch für die Rettung der Juden hätte tun können. An dieser Stelle muß kurz auf die britische Verwaltung des Mandatsgebietes Palästina nach 1917 eingegangen werden. Während der zwanziger Jahre hatte der Jischuw ein friedliches Wachstum erlebt, wobei sich zu dieser Zeit bereits viele der für den späteren Staat Israel charakteristischen Institutionen herausbildeten. Die führenden Kreise des britischen Judentums sympathisierten im allgemeinen mit dem von ihnen so genannten „konstruktiven Zionismus“, d. h. dem Wachstum einer lebensfähigen jüdischen Gemeinschaft in Palästina. Die meisten von ihnen standen jedoch dem politischen Zionismus, vor allem was die Forderung nach der Etablierung eines unabhängigen Staates Israel anging, ablehnend gegenüber. Nach 1933 erlaubte die britische Regierung zunächst Zehntausenden von jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland und anderen europäischen Ländern, sich in Palästina niederzulassen. Unter dem Eindruck der 1936 beginnenden „arabischen Revolte“ bemühte sich Großbritannien, das den arabischen Nationalismus als eine Gefahr für seine Position im Mittleren Osten betrachtete, diesen zu besänftigen, und begann zu diesem Zweck, die Einwanderung von Juden nach Palästina zu beschränken. Diese Politik manifestierte sich besonders deutlich in dem nach dem Kolonialminister Malcom MacDonald benannten MacDonald White Paper vom Mai 1939, das eine Obergrenze von 75 000 jüdischen Immigranten nach Palästina für die nächsten fünf Jahre festlegte, und für die Folgezeit einen Stop der Immigration vorsah. Dies erregte in der zionistischen Bewegung einen massiven Unwillen gegen die britische Regierung und trug außerdem wesentlich zur Auslösung der Welle der von Zionisten begangenen antibritischen Terrorakte, die der Jischuw bis 1948 erlebte, bei. Ebenso war das MacDonald White Paper wahrscheinlich der zentrale Faktor, der die jüdische Diaspora, besonders in den Vereinigten Staaten, schließlich zu einer Unterstützung der zionistischen Bewegung veranlaßte und – selbstverständlich vor dem Hintergrund der Erfahrung der Schoa – die Biltmore Declaration vom Mai 1942 provozierte, in der die Hauptströmung der zionistischen Bewegung erstmals eindeutig einen unabhängigen jüdischen Staat in Palästina forderte.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (1945–1990) Das britische Judentum war die größte jüdische Gemeinde Europas, die nicht direkt von der Schoa betroffen war. Obwohl es keine genauen Statistiken gibt, läßt sich sagen, daß etwa 5000 britische Juden während des Krieges umkamen, 1500 im Militär und 3500 durch die

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deutschen Luftangriffe, wobei die letztere Zahl durchaus zu niedrig angesetzt sein kann. Etwa 62 000 britische Juden dienten in der britischen Armee, weitere Zehntausende in den Armeen des Commonwealth. Durch die Flüchtlingsströme und natürlichen Zuwachs stieg die jüdische Bevölkerung Großbritanniens auf etwa 360 000 bis 370 000 Personen im Jahr 1939 und schließlich auf 380 000 bis 385 000 Personen um die Mitte der fünfziger Jahre an. Dies stellte den Höhepunkt ihrer demographischen Entwicklung dar. Höhere Schätzungen für die fünfziger Jahre wie die häufig genannte Zahl von 450 000 Personen sind mit großer Sicherheit übertrieben. Die urbanisierte und großenteils der Mittelschicht angehörende jüdische Gemeinde der Nachkriegszeit hatte wahrscheinlich nur ein geringes natürliches Wachstum zu verzeichnen, und es gab auch keinen nennenswerten Zuwachs durch Immigration – etwa 3000 Überlebende des Holocaust ließen sich nach dem Krieg in Großbritannien nieder. Gleichzeitig gab es eine stetige Emigration britischer Juden nach Übersee, nach Israel und in andere Teile der englischsprachigen Welt, meist aus beruflichen Gründen. Seit den fünfziger Jahren nahm die jüdische Bevölkerung sowohl in London als auch in der Provinz ab. So verringerte sich, um einen besonders extremen Fall zu nennen, die Zahl der Juden in Leeds zwischen den fünfziger und den achtziger Jahren von 29 000 auf 14 000. London, wo 1955 289 000 Juden gelebt hatten, zählte 1985 nur noch 219 000 Juden. Dennoch war die jüdische Gemeinschaft Großbritanniens 1990 nach der Sowjetunion (1,8 Mio.) und Frankreich (ca. 600000) die drittgrößte Europas. Die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren für die englischen Juden erstaunlich schwierig. Dies war vor allen Dingen auf die Palästina-Frage zurückzuführen. Die Weigerung der britischen Regierung, Überlebenden der Schoa und anderen Juden in großer Zahl die Niederlassung in Palästina zu erlauben, führte in den Jahren 1945–1948 zu einer zionistischen Revolte gegen die Mandatsregierung. Vor allem zwei Vorfälle erregten in diesem Zusammenhang die englische Öffentlichkeit: die Sprengung des King David Hotels in Jerusalem im Juli 1946 und die Entführung und Hinrichtung zweier britischer Unteroffiziere in Palästina im Juli 1947. Besonders das letztere Ereignis löste eine Welle antisemitischer Krawalle in ganz Großbritannien aus, zu der es in der britischen Geschichte keine Parallele gibt. Obwohl sich die Wogen bald wieder glätteten, blieb doch ein bitterer Nachgeschmack zurück. Die fünfziger Jahre waren jedoch eine Zeit des Friedens und der Prosperität für die englischen Juden. Nach der Zerstörung großer Teile des East End durch die deutschen Bombenangriffe während des Zweiten Weltkriegs hörte dieses seit den fünfziger Jahren auf, eine jüdische Enklave zu sein. Die Londoner Juden lebten nun meist im Norden der Stadt, vor allem in der Gegend um Golders Green im Londoner Nordwesten. Ein erkennbar strikt orthodoxes Viertel entstand in Stamford Hill. Zu Beginn der sechziger Jahre gehörten die meisten Juden dem Mittelstand an, obwohl es auch weiterhin eine jüdische Arbeiterklasse gab. Die Ankunft zahlreicher bedeutender jüdischer Intellektueller als Flüchtlinge aus Mitteleuropa hob die englisch-jüdische Gemeinschaft auf eine kulturelles Niveau, das sie nie zuvor besessen hatte. So waren in den dreißiger Jahren nicht weniger als sechs ehemalige oder zukünftige Nobelpreisträger nach Großbritannien eingewandert. Intellektuelle wie

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Ludwig Wittgenstein, Sir Karl Popper, Sir Louis Namier, Sir Ernst Gombrich, Karl Mannheim, Melanie Klein und Sir Isaiah Berlin gehörten zu den geehrtesten und einflußreichsten Persönlichkeiten im Großbritannien des 20. Jhs. Wie in anderen europäischen Ländern empfanden auch in Großbritannien die Juden eine immer stärkere Nähe zu Israel. Zur Zeit des Sechstagekriegs waren fast alle britischen Juden in der einen oder anderen Weise Zionisten. 1956 unternahmen Großbritannien und Frankreich gemeinsam den unüberlegten militärischen Vorstoß zur Durchsetzung ihrer Rechte am Suezkanal, während israelische Truppen auf die Sinai-Halbinsel vorrückten. Dies war das erste Mal, daß Großbritannien und Israel als Verbündete auftraten. Während Israel erfolgreich den Sinai annektierte, ist das britische Scheitern während der Suezkrise oft als Wendepunkt in der Politik Großbritanniens und Anfang vom Ende seines Status als Großmacht angesehen worden. 1967 führte die Bedrohung Israels durch die arabische Welt, die stark genug schien, den Staat Israel zu zerstören – eine zweite Schoa –, zu einer allgemeinen Unterstützung Israels durch die Juden der Diaspora sowie auch durch Nichtjuden, die sich in großer Zahl bereit erklärten, für den jüdischen Staat zu kämpfen. Nach 1967 wandte sich, während die meisten Juden Israel weiterhin leidenschaftlich unterstützten, die linksorientierte öffentliche Meinung scharf gegen Israel und den Zionismus, die als Unterdrücker der Palästinenser betrachtet wurden. Vertreter eines extrem linken Antizionismus verlangten sogar häufig die Zerstörung Israels und die Errichtung eines „säkularen demokratischen Staates“ in Palästina. Oft nahm die Rhetorik dieses linken Antizionismus nach 1967 eine solche Schärfe an, daß sie kaum noch von rechtem Antisemitismus, der im Großbritannien der sechziger Jahre durch solche Gruppierungen wie die „National Front“ ebenfalls zunahm, zu unterscheiden war. In den siebziger Jahren hatten der wirtschaftliche Aufstieg der englisch-jüdischen Gemeinschaft, die nun in einem beträchtlichen Wohlstand lebte, sowie die Feindseligkeit der extremen Linken gegenüber Israel dazu geführt, daß sich ein großer Teil der jüdischen Gemeinde nun eher den Konservativen zuordnete. Statistische Untersuchungen unter Londoner Juden aus den Jahren 1974–1997 zeigen, daß die Konservativen bei Wahlen regelmäßig die Mehrheit der jüdischen Wähler für sich gewinnen konnten, während nur eine kleine Minderheit Labour wählte. So wählten bei den Parlamentswahlen von 1992 63% der untersuchten jüdischen Wähler die Konservativen, nur 18% Labour und weitere 18% die Liberalen Demokraten. Selbst 1997, als der Stimmenanteil der Konservativen landesweit auf 31% fiel, votierte immer noch die Hälfte der Londoner Juden für die Konservativen. Zwischen 1945 und 1990 saßen zwölf Juden in verschiedenen britischen Kabinetten, sechs davon in Labour-Regierungen und sechs in Regierungen der Konservativen. Zwischen 1958, als erstmals Peerages auf Lebenszeit vergeben wurden, und 1989 wurden 10% aller auf Lebenszeit verliehenen Peerages an Juden vergeben, eine erstaunliche Zahl. Unter diesen befanden sich Politiker, Geschäftsleute, Akademiker und führende Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde.

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Auf dem Weg ins 21.Jahrhundert Die meisten Beobachter der zeitgenössischen jüdischen Szene in Großbritannien haben die tiefe Spaltung der jüdischen Gemeinschaft, die zahlreiche Anzeichen des Verfalls zeigt, betont. In demographischer Hinsicht hat die jüdische Bevölkerung wahrscheinlich weiter abgenommen. Doch ebenso wie die Zahlen aus den fünfziger Jahren häufig zu hoch angegeben wurden, könnten die Schätzungen für die Gegenwart zu niedrig liegen. Nach Angaben des „Board of Deputies“, die auf den Zahlen von Eheschließungen, Begräbnissen usw. beruhen, lebten 1985 308 000 Juden in Großbritannien und 1995 285 000, davon 205 000 im Raum London und den Home Counties, 26 000 im Raum Manchester und 10 000 in Leeds. Eine Telefonumfrage unter englischen Juden, die von dem Londoner Institute of Jewish Policy Research durchgeführt wurde, ermittelte jedoch einen jüdischen Bevölkerungsstand von 370 000 Personen, worunter sich nicht wenige befanden, die nicht mit einer Gemeinde verbunden waren, sich aber dennoch als Juden betrachteten. Ein so katastrophaler Rückgang der jüdischen Bevölkerung, wie ihn das „Board of Deputies“ gesehen hat, ließe sich auch kaum erklären, so daß die vom Institute of Jewish Policy Research ermittelte Zahl wahrscheinlich die glaubhaftere ist. Dennoch geben die Statistiken in Großbritannien wie auch in der übrigen Diaspora genügend Anlaß zur Sorge. Der Anteil der Mischehen soll in Großbritannien bei 40% liegen, obwohl dies statistisch nicht endgültig nachgewiesen werden konnte. In diesem Zusammenhang ist auf einige Aspekte der heutigen Situation der Juden in Großbritannien hinzuweisen, die die Sorge um einen Verfall der jüdischen Gemeinschaft genährt haben. Seit den achtziger Jahren haben die Quellen des säkularen Zusammenhalts unter den Juden abgenommen oder sind sogar ganz verschwunden. Der Kampf um eine Verbesserung der Situation der sowjetischen Juden, in dem die jüdische Gemeinschaft in Großbritannien eine wichtige Rolle spielte, endete mit der Auflösung der Sowjetunion. Der weitverbreitete Wille zur Unterstützung des belagerten Israels hat sich nicht nur aufgrund des zunehmenden Unmuts über eine Reihe von unpopulären israelischen Regierungen, sondern auch aufgrund der Friedensaussichten im Mittleren Osten abgeschwächt. Die Existenz Israels scheint nicht länger in Frage zu stehen. So bleibt offenbar nur die Schoa und das Gedenken an sie als Band zurück, das alle Juden zusammenhält, ein Band allerdings, das weitgehend negativ und rückwärtsgewandt ist. Auch muß sich die religiöse Mitte der jüdischen Gemeinschaft in Großbritannien zunehmend der Herausforderung von Gruppierungen am rechten und linken Rand des religiösen Spektrums stellen, die vor allem die Rolle des Chief Rabbi und der „United Synagogue“ betreffen. Diese Herausforderung begann in den sechziger Jahren mit der Geburt der Masorti-Bewegung, die das Äquivalent des konservativen Judentums in den USA darstellt, und verschärfte sich mit der wachsenden Zahl streng orthodoxer Juden in Großbritannien und dem zunehmenden Ärger der reformierten und liberalen Juden über die abfällige Behandlungen, die sie von seiten der Orthodoxie erfahren. Auch innerhalb der „United Synagogue“ erfährt die moderate Orthodoxie, die hier gepflegt wird, zunehmend Kritik aufgrund ihrer Haltung in bestimmten Fragen wie z.B. der der Rolle der Frau.

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Natürlich sind nicht alle Entwicklungen der letzten Jahre negativ. So hat es z. B. einen starken Anstieg in der Anzahl der Schüler an jüdischen Tagesschulen in Großbritannien von 12 800 im Jahr 1991 auf 17 750 im Jahr 1996 gegeben. Wie auch anderswo ist in Großbritannien das allgemeine Interesse an jüdischer Geschichte und jüdischen Themen gewachsen, was sich in einer ganzen Lawine von neuen Monographien, Zeitschriften, Konferenzen und Studienprogrammen zeigt. Die Schoa ist nun an allen britischen Schulen Unterrichtsgegenstand und gehört sicherlich zu den bekanntesten und am meisten verinnerlichten Geschehnissen der modernen Geschichte.

Irland Im Vergleich zu Großbritannien gibt es zu Irland nur wenig zu sagen, obwohl die jüdische Präsenz in Irland einige interessante Fragen aufwirft. Das Irland der Neuzeit war zunächst Teil des Vereinigten Königreichs, bis es 1922 in einen selbständigen und überwiegend katholischen Staat im Süden, der 1937 den Namen „Eire“ erhielt, und den zum großen Teil protestantischen Norden, der im Vereinigten Königreich verblieb, geteilt wurde. Der Kampf der katholischen irischen Nationalisten für Selbstbestimmung und Unabhängigkeit war zwischen etwa 1850 und 1922 wohl die wichtigste politische Frage Großbritanniens. Südirland war eine sehr stark katholisch geprägte bäuerliche Gesellschaft, die von der Reformation und der industriellen Revolution unberührt blieb. Man könnte daher annehmen, daß hier durchaus Elemente des Antijudaismus, wie es ihn in den katholischen Ländern Kontinentaleuropas gab, erhalten blieben. Andererseits war die jüdische Gemeinschaft in Irland immer sehr klein – sie stieg nie über 5000 Personen bei einer Gesamtbevölkerung von 2,8 Mio. – und spielte daher nur eine marginale Rolle in der modernen irischen Geschichte. Obwohl es seit etwa 1661 kleine jüdische Kaufmannskolonien in Dublin und anderen irischen Städten gab, verschwand die jüdische Bevölkerung Irlands bis zum Ende des 19. Jhs. fast völlig. Im 18. Jh., als Irland ein eigenes, rein protestantisches Parlament hatte, wurde die Einbürgerung von Juden ausdrücklich untersagt, eine Regelung, die erst 1816 aufgehoben wurde. Nach den Pogromen in Rußland verzeichnete die jüdische Gemeinschaft in Irland einen gewissen, im ganzen aber recht unbedeutenden Anstieg. Die meisten Juden lebten in Dublin als Geldverleiher und Kleinhändler. Die katholische öffentliche Meinung hegte nie große Sympathien für Juden. In Limerick kam es 1884, in Cork 1894 und am schlimmsten wiederum in Limerick 1904 zu antisemitischen Krawallen. Letztere wurden durch die Predigten eines katholischen Pfarrers ausgelöst, der zu einem Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen hatte. Andererseits sympathisierte die republikanische Bewegung in Irland durchaus mit den Juden, die 1937 in der irischen Verfassung als religiöse Minderheit anerkannt wurden. In dem berühmten Roman Ulysses von James Joyce (1922) spielen zwei Dubliner

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Juden, Leopold Bloom und seine Frau Molly Bloom, zentrale Rollen. Sie zählen heute zu den bekanntesten Charakteren der englischen Literatur des 20. Jhs. Irlands Umgang mit den jüdischen Flüchtlingen aus dem nationalsozialistischen Deutschland war nicht besser oder schlechter als der anderer Staaten. Das Ereignis, das die jüdisch-irischen Beziehungen am stärksten belasten sollte, war die Eintragung des irischen Premierministers Eamon de Valera in das Kondolenzbuch, das die deutsche Botschaft in Irland nach Hitlers Tod 1945 auslegte. Diese Unterschrift De Valeras, der häufig auf seine teilweise jüdische Herkunft über seinen aus Lateinamerika stammenden Vater hingewiesen hat, war jedoch wohl hauptsächlich dadurch motiviert, daß er Großbritannien, das er als seinen Hauptfeind betrachtete, zu beleidigen suchte. Über die Nachkriegszeit gibt es nur wenig zu berichten. Die Beziehungen zwischen Irland und Israel waren lediglich normal, haben sich aber in den letzten Jahren verbessert. Robert Briscoe, ein führender irischer Jude, hatte mehrfach das Amt des Lord Mayor von Dublin inne. Gegenwärtig gibt es nur noch etwa 3000 Juden in Irland. Die neueste irischjüdische Geschichte weist jedoch einige Kuriositäten auf. So kann die Position des Chief Rabbi von Irland durchaus als Sprungbrett für das Amt des Chief Rabbi in Großbritannien angesehen werden: Sowohl Isaac Herzog, der Vater des israelischen Präsidenten Chaim Herzog, als auch Immanuel Jakobovits hatten vor ihrer Zeit als Chief Rabbi in Großbritannien dieses Amt in Irland inne. (Übersetzt von Lars C. Völcker)

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Skandinavien Dänemark Einladung nach Dänemark Die ersten jüdischen Siedlungen auf dänischem Gebiet entstanden in Altona und Ottensen im Kreis Schaumburg. Der Gründer dieser jüdischen Siedlungen war, laut einer Grabinschrift auf dem dortigen Friedhof, ein gewisser Samuel ben Jehuda. König Christian IV. (1588–1648) lud dann Angehörige der „portugiesischen Nation“, d.h. sefardische Juden, die zu dieser Zeit bereits in Amsterdam und Hamburg ansässig waren, nach Dänemark ein, um die stark angeschlagene Staatswirtschaft wiederaufzurichten. Die fortdauernden Kriege gegen Schweden und die extravaganten Bauprojekte des Königs hatten die Staatskassen in solchem Maße geleert, daß die Bevölkerung spaßeshalber die Initialen des königlichen Mottos „Regna firmat pietas“ als „Riget fattes penge“ (Dem Land mangelt es an Geld) umdeutete. Einer der imperialen Träume König Christians IV. war die Gründung einer Stadt auf seinem Territorium, die der wichtigsten Hansestadt, Hamburg, mit Hilfe einer merkantilistischen Wirtschaftspolitik und der Einführung des Freihandels den Rang streitig machen konnte. Um diesen Plan umzusetzen, ernannte er 1619 den aus einer Converso-Familie stammenden Juden Albert Dionis (Denis) alias Samuel Jachja zum Münzmeister in der neugegründeten Stadt Glückstadt. Dieser war der erste dänische Schutzjude. In der Folgezeit siedelten sich einige sefardische Familien in Glückstadt an. Als jedoch deutlich wurde, daß sich, wie es ein zeitgenössischer Scherz sagt, in Glückstadt weder Glück noch Stadt finden ließ und die Siedlung zunehmend herunterkam, begaben sich die meisten sefardischen Unternehmer nach Hamburg zurück. So wurden die sefardischen und aschkenasischen Gemeinden Altona, Hamburg und Wandsbek zusammen mit den jüdischen Siedlungen im Kreis Schaumburg die Orte, von denen die jüdische Migration nach Dänemark, Norwegen und Schweden ausgehen sollte. Nachdem Christian IV., der im Vergleich zu anderen Herrschern seiner Zeit eine durchaus liberale Einstellung gegenüber den Juden an den Tag legte, 1648 gestorben war, leitete sein Sohn und Nachfolger Friedrich III., eine weniger schillernde Gestalt, die in viel höherem Maße von Vorurteilen geprägt war, einen strengeren Kurs gegenüber den Juden ein, die Kopenhagen ohne Erlaubnis betraten. Aufgrund des eskalierenden Konflikts mit Schweden bedurfte Friedrich III. jedoch immer mehr der finanziellen Unterstützung durch die wohlhabenden sefardischen Juden. Er hob daher die Beschränkungen 1657 wieder auf und gestattete den Juden Bewegungs- und Handelsfreiheit in seinem Reich. Diese Schaukelpolitik ermöglichte schließlich das Vordringen von Juden ins dänische Kerngebiet, besonders in ländliche Kleinstädte von Nakskov im Südosten des Archipels

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(1667) bis nach Ribe im westlichen Jütland. 1682 wurde in Fredericia in Jütland als erster dänischer Stadt durch ein Sonderprivileg die freie Religionsausübung gestattet. 1719 wurde hier auch die erste Synagoge in Dänemark errichtet. Der Dänische Gesetzeskodex (Danske Lov) von 1683 Bis zum Ende des 17. Jhs. erschwerten die dänischen Gesetze weiterhin die Immigration von Juden ins dänische Kernland, aber die Einschränkungen waren pragmatischer Natur und wurden nicht konsequent angewandt. Der von Christian V. publizierte Danske Lov verbot Juden bei Strafe von 1000 Rigsdalers das Betreten des Landes ohne besondere königliche Erlaubnis. Die Folge dieses Gesetzes war eine Beschränkung der Duldung von jüdischen Hausierern (Sjakkerjøder), die meist aschkenasischen Ursprungs waren. Andererseits wurden zahlreiche Ausnahmen von diesem Gesetz gemacht, vor allem für sefardische Juden, deren Kredite für die königliche Kasse von so großer Bedeutung waren. Neuere auf jiddische Briefe gestützte Forschungen haben gezeigt, das mindestens fünfzehn aschkenasische Juden aus den Fürstentümern Schleswig und Holstein eine bedeutende Rolle im Aufbau der Handelsbeziehungen zu Kopenhagen spielten, obwohl sie keine offiziellen Schutzbriefe besaßen. Paradoxerweise waren es zwei aschkenasische Juden, die 1684 als erste eine offizielle jüdische Gemeinde in Kopenhagen gründeten. Es waren der Hofjuwelier Israel David und sein Geschäftspartner Mëir Goldschmidt. Mit diesem Datum beginnt die eigentliche Geschichte des dänischen Judentums. Der neugegründeten Gemeinde wurde die Abhaltung von drei Gottesdiensten am Tag in ihren Wohnungen zugestanden, jedoch mit der Auflage, daß die Fenster geschlossen blieben, um keinen Anstoß in der Öffentlichkeit zu erregen, und daß in den Gottesdiensten nicht gepredigt wurde. Das 18.Jahrhundert: Mission und Antijudaismus Gegen Ende des 17. Jhs. begann das Handelskollegium, in bezug auf die Erteilung von Privilegien an Juden und auf den Umgang mit Handelsmonopolen eine liberalere Einstellung an den Tag zu legen. 1680 wurden in mehreren Orten Tabakmanufakturen von Juden gegründet. Und 1712 erhielt ein prominenter Jude die Erlaubnis zur Gründung einer Calico-Druckerei und einer Textilproduktion. Doch noch immer mußten Juden strenge Auflagen erfüllen, wenn sie in der Hauptstadt und den Kernlanden Dänemarks siedeln wollten. Die Furcht war anscheinend noch groß, daß die jüdische Bevölkerung zu schnell wachsen und den christlichen Manufakturen und Händlern eine gefährliche Konkurrenz werden würde. Um 1725 wurden bestimmte Regeln für den Erwerb von Schutzbriefen erlassen. Weiterhin mußten Juden, die eine Manufaktur oder ein Geschäft gründen wollten, sich persönlich an den Stadtrat wenden, dort das Bürgerrecht beantragen und ein Mindestvermögen von 1000 Rigsdalern, den Bau eines Hauses oder die Errichtung einer Textilfabrik nachweisen. Der Zugang zu Gilden und Zünften blieb Juden weiterhin versperrt, und keinem Juden war es erlaubt, christliche Dienstboten unterhalb einer gewissen Altersgrenze – 50 Jahre für

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Frauen, 30 Jahre für Männer – zu beschäftigen. Diese letzte Einschränkung wurde jedoch 1734 aufgehoben. Im ganzen waren die Einschränkungen für Juden in Dänemark erheblich weniger streng als in Preußen und anderen deutschen Staaten. Sie mußten keine besonders gekennzeichnete Kleidung tragen und waren nicht auf Ghettos beschränkt. Außerdem mußten sie keine kollektiven Strafen für angebliche kriminelle Handlungen einzelner Juden fürchten, noch unterlagen sie Beschränkungen hinsichtlich der Heirat mit Christen. Im Verlauf des 18. Jhs. setzte eine Zuwanderung von Juden aus den Fürstentümern Schleswig und Holstein ein. Sie gründeten Siedlungen in den ländlichen Kleinstädten Fredericia, Randers, Ålborg in Jütland, Odense auf der Insel Fünen (Fyn), Kalundborg, Ringsted und schließlich auch in Kopenhagen auf der Insel Seeland. Mit dieser Immigration begannen sich die jüdischen Gemeinden im dänischen Kernland zu konsolidieren. Gottesdienste wurden nun nicht mehr in Privatwohnungen, sondern in Synagogen abgehalten. 1687 wurde Abraham Salomon, der aus Mähren stammte, zum ersten Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Kopenhagen ernannt. Mit der wachsenden Anzahl an jüdischen Gemeinden mehrten sich auch Zeichen von Antijudaismus. Als die Kopenhagener Innenstadt 1728 durch einen Brand zerstört wurde, wurde wahllos eine Gruppe von Juden für das Unglück verantwortlich gemacht. Die judenfeindliche Einstellung der Bevölkerung spiegelt sich auch in einer polizeilichen Regelung, die es verbot, Juden auf offener Straße zu beleidigen. Gleichzeitig verschärfte die Kirche ihre Bekehrungsbemühungen. So wurden Juden in Kopenhagen dazu verpflichtet, donnerstags und samstags, die Kirche des königlichen Waisenhauses zu besuchen. In Einzelfällen wurden jüdische Kinder entführt, um sie im christlichen Glauben zu erziehen. Neuere Funde aus dem Archiv des Pietismuszentrums in Halle zeigen außerdem, daß pietistische Missionare aus Halle uneingeladen nach Dänemark kamen, um christliches Propagandamaterial in jiddischer Sprache zu verteilen, das sich vor allem an Frauen richtete. Die dänische Krone zeigte sich solchen Aktivitäten zu dieser Zeit recht gewogen, da sowohl Friedrich IV. (1699–1730) als auch sein Nachfolger Christian VI. (1730–1746) glühende Verfechter der pietistischen Bewegung waren. Die Zeit der Aufklärung und des Wohlstandes Die zweite Hälfte des 18. Jhs. war eine Zeit des kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts. Die jüdische Bevölkerung erreichte einen gewissen Grad an Akzeptanz in der dänischen Gesellschaft, und die dynamische Entwicklung der jüdischen Unternehmen und Manufakturen trug erheblich zum Wachstum der dänischen Wirtschaft bei. Diese profitierte außerdem von der opportunistischen Außenpolitik des Landes, das Kriege und internationale Krisen geschickt auszunutzen wußte, um größeren Gewinn aus Export und Fernhandel zu ziehen. Die von Moses Mendelssohn und den deutschen Maskilim propagierten Forderungen nach Gleichberechtigung der Juden in der christlichen Gesellschaft sowie ihr Kampf für eine säkulare Erziehung und eine kulturelle Aufklärung innerhalb der jüdischen Gemein-

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schaft fielen bei den dänischen Juden auf fruchtbaren Boden. Auch einige Christen äußerten sich in ähnlicher Richtung. So analysierte der einflußreiche dänisch-norwegische Theaterautor und Philosoph Ludvig Holberg in seiner 1742 erschienenen bedeutenden Studie Den jødiske Historie das Schicksal des jüdischen Volkes und pries seine religiösen und historischen Errungenschaften. Aus seinen Betrachtungen schloß er, man solle den Juden freien Zugang nach Dänemark erteilen. Diese Ausführungen befanden sich durchaus in Übereinstimmung mit den Ideen der Aufklärung, die sich zu dieser Zeit in ganz Europa verbreiteten und die auch von Friedrich V. energisch unterstützt wurden. Aufgrund der günstigen wirtschaftlichen Bedingungen wuchs die jüdische Bevölkerung Kopenhagens bis 1787 auf etwa 1200 Personen bei einer Gesamtbevölkerung von 90 000 Einwohnern an. Etwa 70 der insgesamt ungefähr 250 jüdischen Familien konnten als wohlhabend angesehen werden, weitere hundert gehörten der Mittelklasse an, während die übrigen ihren Lebensunterhalt durch den Betrieb kleiner Läden, Hausieren, Betteln und Stehlen bestritten. Interne Entwicklungen Innerhalb der jüdischen Gemeinde kam es gegen Ende des 18. Jhs. zu einem erbitterten Konflikt zwischen den Anhängern des traditionellen rabbinischen Judentums und den Anhängern der von Moses Mendelssohn inspirierten Reformbewegung. Einer der Streitpunkte war dabei die Stellung der Juden im Staat und die Eingriffe des Staates in das jüdische religiöse und kulturelle Lebens. Der Konflikt erlebte einen ersten Höhepunkt, als Anhänger der Reformbewegung, zum großen Teil jüngere wohlhabende Juden, sich 1787 bei der Regierung über ihre Situation beschwerten. 1791 kam man zu einem Kompromiß: Es wurden Reformen eingeleitet, in deren Rahmen den Juden u. a. der Zugang zu den Zünften geöffnet wurde. 1795 wurde eine Regierungskommission eingerichtet, die Vorschläge für Reformen innerhalb der jüdischen Gemeinden und Maßnahmen zur Gleichstellung der Juden mit der christlichen Bevölkerung erarbeiten sollte. Gemäß ihren Empfehlungen wurde z.B. 1805 eine Schule für bedürftige jüdische Jungen, später auch eine für Mädchen eingerichtet, in der die dänische Sprache neben der jiddischen gleichberechtigt verwendet wurde. Bis 1810 erhielten alle Juden, die mindestens drei Jahre lang in Dänemark lebten, eine permanente Aufenthaltserlaubnis. Auf Drängen des Kronprinzen Friedrich, des späteren Königs Friedrich VI. (1808–1839), der sich an der napoleonischen Judenpolitik orientierte, wurden Initiativen für eine weitere Emanzipation der Juden ergriffen. 1813 wurde ihnen per Gesetz die dänische Staatsbürgerschaft gewährt, und im darauffolgenden Jahr wurden Statuten für die Kopenhagener jüdische Gemeinde bewilligt. Diese Regierungsanordnungen hatten eine schwere Krise innerhalb der jüdischen Gemeinde zur Folge, da die Traditionalisten der Ansicht waren, die Juden hätten zu viele ihrer Selbstbestimmungsrechte geopfert. Sie betrachteten die staatliche Intervention als unangemessene Einmischung in rein interne Gemeindeangelegenheiten. Die dänische Bevölkerung war hingegen der Ansicht, Friedrich VI. habe sich mit seiner

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Emanzipationspolitik den Juden gegenüber zu großzügig verhalten, und nannte ihn den „Judenkönig“. Seine liberale Politik basierte jedoch zweifellos auf einem Interessenausgleich beider Seiten und erwuchs zu gleichen Teilen aus moralisch-politischen Erwägungen wie aus wirtschaftlichen Interessen. Auch mußten die Juden noch eine ganze Generation lang auf ihre volle Gleichberechtigung warten, denn sie konnten nach wie vor weder in den Kopenhagener Stadtrat noch in die Länderversammlung gewählt werden. Reform – Antisemitismus – Assimilation In der Zeit der Restauration nach dem Wiener Kongreß 1815 verloren die Juden in vielen Ländern Europas ihre bereits gewonnen geglaubten Freiheitsrechte wieder. Dänemark erlebte 1813 eine wirtschaftliche Katastrophe, die den Staat an den Rand des Bankrotts brachte. Jüdische Firmen waren ebenfalls betroffen. Manche brachen zusammen, andere überstanden die Krise. Der Finanzier und Berater des Hofes David Amsel Mayer wurde für die Katastrophe verantwortlich gemacht. Als Apologie zu seinen Gunsten schrieb der bekannte Geschäftsmann, Wirtschaftswissenschaftler und Schriftsteller Mendel Levin Nathanson, der sich in den zurückliegenden Jahren stark für die Emanzipation der Juden und innerjüdische Reformen eingesetzt hatte, eine hoch angesehene Studie zu den Gründen und den Auswirkungen der Krise. In der Folgezeit erwachten jedoch die vorher latenten antisemitischen Tendenzen zu neuem Leben. Die sogenannten „Hep-Hep-Unruhen“, die sich in Deutschland von Süden nach Norden ausgebreitet hatten, erreichten Hamburg und Altona und im September 1819 auch verschiedene dänische Städte wie Kopenhagen, Odense, Vordingborg und Elsinore. In Kopenhagen wurde der Ausnahmezustand ausgerufen, da der König einen Aufstand fürchtete. Die Judenhaß, der sich in den Übergriffen manifestierte, führte zu einer Welle von „freiwilligen“ Übertritten zum Christentum, z. T. aus Angst, z. T. aber auch, um sich von einer als Last empfundenen religiösen und kulturellen Vergangenheit zu lösen. Auch Nathanson ließ seine Kinder taufen. In literarischer, identitätsbezogener und existentieller Form fand die Apostasie unter den führenden jüdischen Persönlichkeiten ihre Antithese in dem Autor Mëir Aaron Goldschmidt, einem Nachkommen der Familie der Glückel von Hameln. In seinem eindrucksvollen Roman En Jøde „entscheidet“ der Held am Ende, Jude zu sein, und lehnt die christliche Gesellschaft, die ihn nicht als gleichberechtigtes Mitglied akzeptieren will, ab. Direkter und provokativer drückte Goldschmidt seine Meinung auf einer politischen Versammlung der dänischen Nationalbewegung aus: „Ich bin ein Jude. Was mache ich unter Euch?“ Die wohlmeinende, aber eher naive dänische Einstellung manifestierte sich in der Antwort: „Nein, nein, du bist bei uns willkommen!“ Die Frage, wie sich die dänische und die jüdische Identität zueinander verhielten, tauchte gegen Ende des Jahrhunderts in anderen Formen erneut auf. Auf der Suche nach einem Rabbiner, der die zahlreichen kleinen dänisch-jüdischen Gemeinden – allein in Kopenhagen gab es zwölf verschiedene Gottesdienstgemeinschaften – zu einer vereinten Gemeinde zusammenschließen konnte, fiel die Wahl schließlich auf den

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jungen Abraham Alexander Wolff aus Darmstadt, dessen Kandidatur hauptsächlich von der Reformbewegung unter Nathanson unterstützt wurde, die hoffte, daß dieser ihren religiösen Ansatz übernehmen würde. Als Wolff in Kopenhagen eintraf, wurde gerade die Entscheidung zum Bau einer zentralen Synagoge getroffen. Der Bau wurde im orientalischen Stil durch den deutschen Architekten Hetsch ausgeführt und 1830 eingeweiht. Wolffs konservative, in erster Linie auf dem Altonaer Minhag beruhende Liturgie, die in Dänemark bis zu seinem Tode im Jahr 1890 vorherrschte, befriedigte weder die traditionellen Gruppen noch die Anhänger der Reformbewegung. Eine kleine orthodoxe Gruppe lehnte den Kompromiß sogar gänzlich ab und gründete eine eigene Gemeinde. Auch das Judentum in den Provinzen veränderte während des 19. Jhs. seinen Charakter. Nach dem deutschen Sieg über Dänemark im Jahr 1864 entfremdete sich die jüdische Altonaer Gemeinde zusehends von den dänischen Gemeinden. Der jüdische Siedlungsschwerpunkt in Jütland verschob sich von Fredericia nach Randers, und es setzte eine Migrationswelle von der Provinz nach Kopenhagen ein. Viele jüdische Familien assimilierten sich an ihre Umgebung, so daß zu Beginn des 20. Jhs. das ländliche Judentum in Dänemark fast verschwunden war. Assimilation und mangelnde Zuwanderung ließen auch die jüdische Gemeinde in Kopenhagen stagnieren. Dennoch konnte die jüdische Gemeinschaft in Dänemark um die Mitte des 19. Jhs. auf ein Jahrhundert voller bemerkenswerter Leistungen zurückblicken, z. B. auf die Beseitigung von sozialen Barrieren und die Ausnutzung neuer wirtschaftlicher Möglichkeiten zum Wohle der Juden, aber auch der gesamten Gesellschaft. Diese Errungenschaften wurden mit der Verfassung (Grundloven) von 1848 gekrönt, in der allen religiösen und ethnischen Minderheiten in Dänemark das volle Bürgerrecht eingeräumt wurde. Die Modernisierung Dänemarks und die beiden Weltkriege Einen wichtigen Meilenstein in der Geschichte des dänischen Judentums stellt der Beginn der als „Det moderne gennembrud“ (Der moderne Durchbruch) bekannt gewordenen kulturellen Bewegung dar. Eine junge Generation jüdischer Intellektueller fühlte sich zu einem Radikalismus hingezogen, wie er durch den bekannten Literaturkritiker Georg Brandes verkörpert wurde. Aktuelle literarische und politische Themen wurden hier in einem rein säkularen Rahmen diskutiert. Brandes selbst bekannte sich nach und nach immer stärker zu seinem eigenen jüdischen Hintergrund und kam im Alter zu der Überzeugung, daß der Zionismus das einzige effektive Mittel zur Bekämpfung des allgegenwärtigen Antisemitismus sei. Die furchtbaren Pogrome in Osteuropa nach 1881 haben zu diesem Sinneswandel sicherlich entscheidend beigetragen. Eine Rolle dabei mag auch der Einfluß von David Simonsen gespielt haben, der Wolff 1891 als Oberrabbiner ablöste. Simonsen war nicht nur ein bedeutender Judaist, der sich der deutschen „Wissenschaft des Judentums“ verpflichtet fühlte, sondern er engagierte sich auch tatkräftig für die Opfer der Pogrome in Osteuropa. Durch seine weitverzweigten Kontakte organisierte er materielle Hilfe für die Emigration und setzte sich in Dänemark unermüdlich für die Integration der jüdischen Flüchtlinge aus Osteuropa ein.

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In den akademischen Kreisen Dänemarks war der Antisemitismus weit verbreitet. So wurde Juden an der Universität Kopenhagen bis 1849 das Promotionsrecht ebenso verweigert wie Dozentenstellen. Zum Verwaltungsrat hatten sie erst seit 1872 Zugang. Als 1872 der Lehrstuhl für Ästhetik frei wurde, wurde Georg Brandes, der qualifizierteste Bewerber, als zu kontrovers erachtet und mußte bis zur Regierungsumbildung von 1902 auf eine Professur warten. Dennoch ist die Liste der jüdischen Gelehrten, die zum wissenschaftlichen Leben Dänemarks beitrugen, lang. Genannt seien hier der herausragende Chirurg und Anatom L. L. Jacobsen, der Bakteriologe C. J. Salomonsen, der Mitbegründer des Kinderkrankenhauses von Kopenhagen H. Hirschsprung sowie die weltbekannten Atomforscher Niels und Harald Bohr. Die Brüder von Georg Brandes, Ernst und Edvard, taten sich in den Wirtschaftswissenschaften bzw. in Journalismus und der Politik hervor. Zahlreiche bedeutende jüdische Journalisten schrieben für die bekannten Tageszeitungen Berlingske Tidende und Politiken, letztere eine Gründung von Edvard Brandes, der auch von 1901 bis 1904 ihr Chefredakteur war. Zwischen 1900 und 1917 ließen sich etwa 4000 Juden aus Osteuropa in Dänemark nieder. Diese jiddischsprechenden Immigranten stellten eine bedeutende Bereicherung für die im Schwinden begriffene dänische „Schtetl“-Kultur dar. Vom Vorstand der jüdischen Gemeinde, der überwiegend aus wohlhabenden und weitgehend assimilierten Juden bestand, wurden sie jedoch nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Ebensowenig wurden sie von den dänischen Autoritäten willkommen geheißen, die in den Immigranten – in einige Fällen zu Recht – revolutionäre Sozialisten vermuteten. Auch fürchtete die Regierung, die jüdischen Flüchtlinge finanziell unterstützen zu müssen. Schließlich schloß die dänische Regierung die Grenzen für weitere Immigranten und öffnete sie erste wieder in den dreißiger Jahren. Die jüdischen Immigranten aus Osteuropa siedelten sich überwiegend in den ärmeren Stadtteilen von Kopenhagen an und bildeten hier, ebenso wie in New York oder London, ein jiddischsprechendes Milieu, das wenig Kontakt mit seinen christlichen Nachbarn oder der etablierten jüdischen Gemeinde pflegte. Gleichzeitig ist die Geschichte der Integration dieser Immigranten auch eine Erfolgsgeschichte, denn der überwiegenden Mehrheit von ihnen gelang es innerhalb einer Generation, sich und ihren Kindern ein besseres Leben aufzubauen. Die Machtübernahme Hitlers 1933 und die aggressive Expansionspolitik des „Dritten Reiches“ vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs brachte etwa 4500 jüdische Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei nach Dänemark. Viele von ihnen reisten jedoch in andere Länder weiter. Einigen verweigerten die dänischen Grenzbeamten die Einreise. Sie wurden schließlich in die deutschen Konzentrationslager deportiert. Der Zweite Weltkrieg und die Rettung der dänischen Juden Dänemark wurde am 9. April 1940 von deutschen Truppen besetzt. In der Folgezeit setzte sich die dänische Regierung gegen die Besatzer erfolgreich mit der Ansicht durch, daß es

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ein „jüdisches Problem“ in Dänemark nicht gebe. Als die dänische Regierung jedoch 1943 aus Protest gegen die fortwährenden deutschen Übergriffe zurücktrat, waren die dänischen Juden schutzlos, und von deutscher Seite wurde eine groß angelegte Aktion gegen sie für den 1. und 2. Oktober vorbereitet. Zwei dänische Politiker und die schwedische Regierung wurden jedoch rechtzeitig gewarnt und konnten in einer gemeinsamen Anstrengung die überwiegende Mehrheit der dänischen Juden von der Ostküste Seelands in kleinen Fischerboten nach Schweden in Sicherheit zu bringen. Dennoch gelang es den Nationalsozialisten mit der Hilfe dänischer Kollaborateure 475 Juden zu verhaften und nach Theresienstadt zu deportieren. 424 von ihnen kehrten nach dem Krieg in den sogenannten „weißen Bussen“ Folke Bernadottes nach Dänemark zurück. Die Rettung der dänischen Juden war in jeder Hinsicht ein Ausnahmeereignis. Wegen ihres spontanen Charakters existiert nur wenig dokumentarisches Material, das die Strategie der Retter und die heroische Aktion selbst beleuchten könnte. Der Historiker Jørgen Hæstrup hat in seiner Geschichte der deutschen Besatzungszeit in Dänemark geurteilt, daß die Rettung der Juden nach dem Rücktritt der Regierung 1943 von dem dänischen Volk offenbar als „nationale Pflicht“ und „kollektive Verantwortung“ empfunden wurde. In den siebziger Jahren erlebte Dänemark den letzten großen Zuwanderungsstrom von Juden: Etwa 3000 Immigranten kamen aus Polen, von wo sie aufgrund des dort neu aufflammenden Antisemitismus geflohen waren, eine weitaus kleinere Zahl während und nach dem Sechstagekrieg aus Israel. Heute zählt Dänemark etwa 6000 jüdische Staatsbürger, von denen etwa 2500 registrierte Mitglieder der Gemeinde (Det Mosaiske Troessamfund) in Kopenhagen sind. Ein Teil der jüdischen Jugendlichen wählte nach dem Zweiten Weltkrieg den Weg der Alija und bauten sich ein neues Leben in Erez Israel auf. Andere haben sich dafür entschieden, in Dänemark zu bleiben, bemühen sich jedoch, sich der schleichenden Assimilation zu widersetzen, und versuchen, die jüdische Identität durch Gemeindearbeit und Debatten in den Medien und jüdischen Periodika wie Alef, Rambam, Jødisk Orientering und Udsyn aktiv zu stärken und zu fördern.

Norwegen Von 1390 bis 1814 gehörte Norwegen zum dänischen Königreich. Abgesehen von einer Bitte um Ausstellung eines Geleitbriefs, die zwei Juden in den sechziger Jahren des 17. Jhs. an den dänischen König richteten, und der Erwähnung eines jüdischen Faktoren der in Hamburg ansässigen sefardischen Familie Teixeira in Trondheim im Jahr 1690 ist über jüdische Ansiedlungen in Norwegen während des 17. und 18. Jhs. praktisch nichts bekannt. Verfassungsmäßige Einschränkungen Nach dem Frieden von Kiel im Jahr 1814 mußte Dänemark Norwegen an Schweden abtreten. Dies hinderte Norwegen jedoch nicht daran, am 17. Mai 1814 eine eigene Verfassung in Eidsvoll (Eidsvollforfatningen) zu erlassen. Diese im ganzen liberale Verfassung ermöglichte jedoch keine Einwanderung von Juden nach Norwegen. Das Niederlassungsverbot

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für Juden, das sowohl wirtschaftliche als auch religiöse Gründe hatte, wurde bis 1851 aufrechterhalten. Danach begann jedoch eine stetige Einwanderung von Juden nach Norwegen, zuerst aus Dänemark, Schleswig, Holstein und Deutschland, dann in geringerem Maße auch aus Litauen, Polen und Rußland. 1892 wurde eine jüdische Gemeinde in der Stadt Christiana gegründet, und weitere jüdische Gemeinden entstanden in Trondheim (1905) und in Oslo, wo 1920 eine zentrale Synagoge errichtet wurde. Wie die dänischen Gemeinden folgten auch die Gemeinden in Trondheim und Oslo einem „orthodoxen“ Ritus, der vielleicht besser als „konservativ“ bezeichnet werden sollte. Um die Jahrhundertwende lebten 642 Juden in Norwegen, eine Zahl, die bis 1920 auf 1457 angewachsen war. Als Norwegen 1940 von deutschen Truppen besetzt wurde, registrierte man 1800 Juden, davon etwa 300 Flüchtlinge aus Mitteleuropa. Antisemitismus Antisemitische Strömungen, die in der christlichen Gesellschaft Norwegens, nicht zuletzt in den kirchlichen Parteien, um die Mitte des 19. Jhs. aufgetaucht waren, erwachten während des Ersten Weltkriegs zu neuem Leben und eskalierten in den dreißiger Jahren, parallel zum Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland. Die Gründe für diese antisemitischen Strömungen waren die Furcht vor einer „jüdischen Dominanz“ im wirtschaftlichen Bereich, religiöse Vorurteile, die – vor allem während des Ersten Weltkriegs große – Angst, vom Bolschewismus überrannt zu werden, sowie eine umfangreiche rassistische Propaganda in den dreißiger Jahren. Seit 1933 versorgte die deutsche Vertretung in Oslo die entsprechende Stellen in Berlin mit allen ihr zur Verfügung stehenden Informationen bezüglich der Zahl, des Aufenthaltsortes und der Berufe der norwegischen Juden. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Norwegen bereits eine etablierte nationalistische Partei, die „Nasjonal Samling“ unter der Führung von Viskun Quisling, der begonnen hatte, eine antisemitische Politik zu propagieren. Nach der Niederlage Norwegens gegen die deutschen Truppen, die das Land am 9. April 1940 überfallen hatten, flohen König Håkon VII. und die rechtmäßige Regierung nach London. 1942 wurde Quisling von Reichskommissar Josef Terboven an die Spitze einer „Nationalen Regierung“ gestellt, wobei jedoch die Mehrheit der Regierungsmitglieder zurücktrat, als dieser begann, eine von Deutschland vorgegebene Politik zu betreiben. Das Quisling-Regime und die Schoa Quisling führte die antijüdischen Bestimmungen der Eidsvoll-Verfassung wieder ein, was jedoch unter den gegebenen Umständen keine praktischen Auswirkungen hatte. Darüber hinaus wurden – unter dem Protest einiger norwegischer Bischöfe – Ehen zwischen Juden und Christen verboten, und schließlich wurden Juden gezwungen, in ihren Ausweispapieren ein „J“ (Jøde) eintragen zu lassen. Im Verlauf des Jahres 1942 wurden zahlreiche jüdische Widerstandskämpfer verhaftet und in einem Konzentrationslager bei Grini inhaftiert. Während der am 26. November 1942 einsetzenden Deportationen wurden insgesamt 758

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norwegische Juden in die Vernichtungslager gebracht, von denen 25 überlebten. 925 entgingen der Deportation durch die Flucht nach Schweden. Prozentual verlor Norwegen eine erheblich größere Zahl seiner jüdischen Bürger durch die Schoa, was auf die eifrige Kollaboration der Quisling-Regierung vor Beginn der Deportationen zurückzuführen war. Juden im Norwegen der Nachkriegszeit Nach der Rückkehr der norwegischen Juden, die die Schoa überlebt hatten, wurden sofort die Synagogen wiederhergestellt und neu eingeweiht. Norwegen nahm etwa 550 jüdische „Displaced Persons“ (DPs) auf, von denen einige nach Israel emigrierten. Heute zählt die jüdische Gemeinschaft etwa 1400 Mitglieder. Während die norwegischen Juden in früheren Zeiten vor allem in Handel und Gewerbe tätig waren, läßt sich nun ein Schwerpunkt im akademischen Bereich – Ärzte, Juristen, Ingenieure – sowie im öffentlichen Dienst feststellen. In Trondheim und Oslo hat sich ein intensives Gemeindeleben etabliert. Es sind neue Initiativen im Rahmen der Bene Akiba und anderer Jugendorganisationen entstanden. Von Zeit zu Zeit gibt es antisemitische Vorfälle, vor allem in Verbindung mit den politischen Turbulenzen im Mittleren Osten. 1999 verabschiedete das norwegische Parlament als erstes in den skandinavischen Staaten ein Gesetz, das den Überlebenden des Krieges und den jüdischen Gemeinden in Trondheim und Oslo eine Entschädigungssumme von 450 Mio. Kronen zusicherte.

Schweden Die erste Erwähnung eines Juden in Schweden stammt aus dem Jahr 1557, als König Gustav Vasa einen jüdischen Arzt, der allerdings nur vorübergehend hier ansässig war, zum Hofarzt ernannte. Königin Christina (1644–1654) setzte diese Praxis fort und unterhielt Kontakte zu namhaften Juden in Amsterdam und Hamburg, zu denen auch die bereits erwähnte Familie Teixeira gehörte. Die eigentliche Ansiedlung von Juden in Schweden begann jedoch erst im 18.Jh., als ein jüdischer Graveur namens Aaron Isaak aus Mecklenburg von König Gustav III. (1771–1792) die Erlaubnis erhielt, zehn jüdische Männer, die für einen Gottesdienst notwendige Zahl, um sich zu sammeln. Ebenso wurde die Einrichtung eines Friedhofs und die Ernennung eines Rabbiners gestattet. Die Abhaltung eines Gottesdienstes und die Einweihung des Friedhofs markieren die Gründung der ersten jüdischen Gemeinde Schwedens am 10. Juli 1776. Beeinflußt von der Aufklärung und den emanzipatorischen Tendenzen in Amerika und Europa sowie aus den Erwägungen einer merkantilistischen Wirtschaftspolitik heraus, stellten die schwedischen Herrscher Schutzbriefe für Juden aus und erteilten ihnen Privilegien zur Errichtung von Handelsfirmen und Manufakturen. Die kleine Küstenstadt Marstrand wurde eine Art Freihafen, wo Ausländer unbeschränkte Handelsrechte und religiöse Freiheiten genossen. Die dortige jüdische Gemeinde sollte die Vorläuferin der Göteborger Gemeinde werden.

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Wie die dänischen Herrscher des 18. Jhs. war auch der aufgeklärt absolutistische König Gustav III. ein ernsthafter Verfechter von religiösen Freiheiten und Handelsrechten für ethnische Minderheiten einschließlich der Juden. Auf seine Initiative hin gestand ihnen das schwedische Parlament, der „Riksdag“, in der Sitzungsperiode 1778/79 das Recht der unbeschränkten Niederlassung in Schweden zu. Die liberale Haltung des Königs erntete jedoch einigen Widerspruch von seiten der im „Kommerskollegiums“ versammelten Vertreter der Kaufmannschaft sowie den Gilden. 1782 erreichten sie den Erlaß einer Judenordnung (Judereglement), die die unternehmerischen Tätigkeiten der Juden für das folgende halbe Jahrhundert auf die Stadt Stockholm, Göteborg, Norrköping und Karlskrona beschränkte. Darüber hinaus wurden Juden verpflichtet, sich von dem jeweiligen Stadtrat einen Schutzbrief ausstellen zu lassen und nachzuweisen, daß sie ein Startkapital von mindestens 2000 Riksdalers besaßen. Trotz der Beschränkungen, die den Juden im wirtschaftlichen Bereich auferlegt waren, wurden sie für die Finanzkrisen, unter denen Schweden zu Beginn des 19. Jhs. zu leiden hatte, verantwortlich gemacht. Neue Maßnahmen gegen die Immigration von Juden wurden 1805/06 als Folge der politischen Spannungen zwischen König Gustav IV. Adolf und Napoleon ergriffen. Diese wurden jedoch nach 1809, durchaus auch auf Anraten führender Bankiers und Kaufleute, wiederaufgehoben, und das königliche Emanzipationsedikt von 1838 beseitigte alle rechtlichen Benachteiligungen von Juden mit Ausnahme des Verbots, Grundeigentum zu besitzen, sowie des Ausschlusses von Wahlen und öffentlichen Ämtern, die nach wie vor nur Lutheranern zugänglich waren. 1870 erhielten die schwedischen Juden schließlich die vollen Staatsbürgerrechte. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern einschließlich Dänemarks und Norwegens wurden diese Rechte in Schweden sorgfältig gewahrt, nachdem sie erst einmal eingeführt worden waren. Ebenso lebendig wie in Dänemark und Norwegen waren in Schweden die Debatten zwischen Reformanhängern und Orthodoxen über die rechte Form des Gottesdienstes. In den neu errichteten Synagogen in Göteborg und Stockholm wurde 1855 bzw. 1869 der reformierte Ritus eingeführt: Gebete und Psalmen wurden nun auf Schwedisch vorgetragen, und Predigt, Chor und Orgelmusik wurden feste Bestandteile des Schabbat-Gottesdienstes. Immigration aus Osteuropa Die Pogrome in Osteuropa brachten eine große Zahl von jüdischen Einwanderern nach Schweden, die die dortige jüdische Bevölkerung um 2200 Personen auf 3000 Personen anwachsen ließ. Neue Gemeinden wurden in Malmö (1871), Kalmar (1888), Oskarshamn (1889), Växsjö (1901), Halmstad (1902), Sundsvall (1903) und Karlstad (1919) gegründet. Wie in Dänemark verursachte die beträchtliche soziale Kluft zwischen den etablierten schwedischen Juden und dem jüdischen Proletariat aus Osteuropa ein nicht geringes Maß an Spannungen zwischen den Alteingesessenen und den Neuzuwanderern. Viele Nachkommen der Flüchtlinge aus Osteuropa sollten jedoch prominente Persönlichkeiten der schwedischen Gesellschaft werden. Andere erwarben sich Ruhm in Kunst und Wissenschaft.

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Der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit in Schweden Der Antisemitismus entwickelte sich in Schweden anders als in Dänemark und Norwegen. Zu Beginn des 20. Jhs. erhielt er Auftrieb durch die pangermanischen und antisemitischen Ideen, die H. S. Chamberlain in seinem Werk Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts verbreitete. Die antisemitische Gruppierung „Svenska antisemitiska föreningen“ existierte von 1923 bis 1931, obwohl sie immer nur relativ wenige Mitglieder besaß. Während der dreißiger Jahre kam eine große Zahl von Flüchtlingen, vor allem aus Österreich und Deutschland, nach Schweden. Im Gegensatz zu Dänemark erließ Schweden 1938 ein Gesetz, nach dem Immigranten bei Betreten des Landes nachweisen mußten, daß sie für ihren eigenen Lebensunterhalt aufkommen konnten. Später stellte sich heraus, daß Schweden, zusammen mit der Schweiz, die deutsche Polizei aufforderte, in die Pässe von Juden ein „J“ zu stempeln, um diese von anderen deutschen Flüchtlingen unterscheiden zu können. Diese Maßnahmen wurden 1941 abgeschafft, allerdings zu spät, um noch irgendwelche Auswirkungen zu haben. Im weiteren Verlauf des Krieges wurde Schweden jedoch ein sicherer Zufluchtsort für Flüchtlinge aus Dänemark und Norwegen. 1942 nahm Schweden 925 norwegische Juden auf, die über die Grenze geflohen waren, und im Oktober 1943, während der Razzien der Nationalsozialisten in Dänemark, überquerten etwa 7500 dänische Juden den Øresund in Richtung Schweden, von wo aus sie nach dem Krieg wieder in ihre Heimat zurückkehrten. Die schwedische Einwanderungspolitik ist in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg sehr kontrovers diskutiert worden. Es ist jedoch unübersehbar, daß an entscheidenden Punkten Regierungsinitiativen zur Rettung von Juden unternommen wurden, so z. B. durch die diplomatischen Bemühungen von Raoul Wallenberg, die Aufnahme der dänischen Juden 1943 und die Aktion der „weißen Busse“, durch die die Insassen des Konzentrationslagers Theresienstadt zurück nach Skandinavien gebracht wurden. Der schwedische Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. hat sich in anderer Form und in unterschiedlichen Medien ausgedrückt, z. B. im „Radio Islam“, einem lokalen Radiosender in Stockholm, der antisemitische Stellungnahmen und Interviews sendete, die starke Ähnlichkeit mit der nationalsozialistischen Propaganda hatte, wie sie sich in Hitlers Mein Kampf und Streichers Stürmer fand. Der Leiter des Senders, Ahmed Rami, wurde vor Gericht gestellt und verurteilt, der Sender selbst geschlossen – nur um in neuem Gewand wiederaufzutauchen. Gewaltsamer Antisemitismus kam außerdem in der Schändung jüdischer Grabsteine und in Straßenkrawallen zum Ausdruck. Eine subtilere Form hat Eingang in die schwedische akademische Welt gefunden. Schweden unterscheidet sich heute von anderen skandinavischen Ländern dadurch, daß es entschlossene Maßnahmen gegen Neofaschismus und Antisemitismus ergreift. Dies geschieht z. B. durch die Verteilung einer Broschüre an schwedische Schüler, Familien mit Kindern im Grundschulalter und andere interessierte Bürger, in denen die Greuel des Antisemitismus und der Schoa dargestellt werden. Zugleich bemüht man sich, das vielgestaltige Muster ethnischer Gruppen im heutigen Schweden besser zu erfassen, um legislative Maßnahmen für mehr Gleichberechtigung ergreifen zu können.

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Heute ist Schweden das skandinavische Land mit dem größten jüdischen Bevölkerungsanteil. Dieser belief sich 1995 auf etwa 18 000 Personen, von denen etwa die Hälfte mit der Gemeinde in Stockholm verbunden sind, während die andere Hälfte zu den Gemeinden in Göteborg, Malmö und anderen kleineren Gemeinden gehört.

Finnland Die ersten Juden, die sich nachweislich in Finnland niedergelassen haben, waren Isaak Zebulon, dem 1672 die Bürgerrechte zugestanden wurden, und Mayer Levin, der ein Privileg für die Gründung einer Druckerei in Turku (Åbo) an der Westküste erhielt. Auch ist belegt, daß sich in dem von Schweden und Rußland dominierten Finnland in regelmäßigen Abständen einzelne Juden, Hausierer, Handwerker und Arbeiter, niederließen. Die staatliche Politik gegenüber jüdischen Einwanderern war weitgehend von der Gesetzgebung der schwedischen (bis 1809) und russischen (bis 1917) Oberherren abhängig. So machte das schwedische Gesetz von 1806, das die Einwanderung von Juden nach Schweden verbot, für Juden auch die Niederlassung in Finnland unmöglich, es sei denn, sie waren vorher zum Christentum konvertiert. Das Zentrum jüdischer Ansiedlung in Finnland war Helsinki (Helsingfors). Die Mehrheit der Juden, die sich hier niederließen, waren ehemalige Soldaten der russischen Armee, ihre Familienangehörigen und Nachkommen, sowie andere Juden aus dem Russischen Reich. Nach Polizeiunterlagen im Staatsarchiv in Helsinki stammten alle Juden, die 1898 in Helsinki registriert waren, aus dem Zarenreich. Die Mehrheit der Juden, die in diesem Jahr in Finnland lebten, war jedoch bereits hier geboren. Sie betätigten sich vor allem im Kleider- und Obsthandel auf Märkten in Stadtteilen wie Narinken und Kampen, wo 1906 schließlich die zentrale Synagoge errichtet wurde. Bürgerrechte und die rechtliche Stellung der Juden Bis 1917 konnten sich nur einzelne Juden, die eine spezielle Genehmigung besaßen, in Orten wie Helsinki, Turku und anderen Städten niederlassen. Andere Juden erhielten eine Aufenthaltsgenehmigung für sechs Monate unter der Voraussetzung, daß sie die Gesetze achteten und keinen illegalen Handel trieben. Diese Restriktionen führten zu einer Abnahme der jüdischen Bevölkerung, die sich zu Beginn des 20. Jhs. auf etwa 1000 Personen belief. Ein generelles Gesetz, das Juden die Ansiedlung in Finnland unter den gleichen rechtlichen Bedingungen erlaubte, wie sie für die übrige Bevölkerung galten, wurde erst 1918 erlassen. Aufgrund einer starken Einwanderung von Juden infolge der Russischen Revolution stieg die Zahl der Juden in Finnland in den zwanziger Jahren auf 2000. Die jüdischen Immigranten sprachen entweder Jiddisch oder Russisch, übernahmen später die schwedische und dann erst die finnische Sprache.

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Der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit Im Vergleich mit anderen skandinavischen Ländern war die Lage der Juden in Finnland aufgrund der besonderen politischen Position des Landes während des Zweiten Weltkriegs besonders problematisch. Von den etwa 500 jüdischen Flüchtlingen, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Finnland kamen, wanderten 350 nach Schweden und in die USA weiter. Jüdische Immigranten, die aus Deutschland oder von Deutschland besetzten Ländern nach Finnland kamen, wurden in Arbeitslagern in Tavastland und Lappland interniert. Als das nationalsozialistische Deutschland auf dem Höhepunkt seiner Macht stand, wurden einige von ihnen an die deutschen Behörden ausgeliefert. Nur einer der Ausgelieferten überlebte. Die finnischen Juden dienten in der finnischen Armee und besaßen, während diese an der Seite Deutschlands gegen die Sowjetunion kämpfte, als Teil ihrer Ausrüstung in der Nyland Brigade auch eine Feldsynagoge. 1981 gründeten jüdische Veteranen in Helsinki einen eigenen Verein, dem 84 Personen, 10% der dortigen jüdischen Gemeinde, beitraten. Von den vier nennenswerten jüdischen Gemeinden in Finnland – Helsinki, Viborg, Åbo und Tammerfors – wurde die von Viborg während des Zweiten Weltkriegs aufgelöst und die von Tammerfors 1981, als die Zahl der männlichen Mitglieder unter die für einen Minjan notwendige Zahl von zehn fiel, annulliert. Die Gemeinden von Helsinki und Åbo wuchsen dagegen auf 1500 Personen leicht an, wobei der Zuwachs auf Konversionen und auf eine Zuwanderung russischer Juden zurückzuführen ist. Wie in den anderen skandinavischen Ländern haben Juden auch in Finnland in vielfältiger Weise zum kulturellen, wissenschaftlichen und künstlerischen Leben beigetragen. Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft gibt es dynamische Bemühungen, ein jüdisches kulturelles Leben und eine jüdische Identität aufrechtzuerhalten, vor allem durch Vereine und Gruppierungen, die Organisationen wie WIZO, Maccabi, Magbit, Chewra Kaddischa u. a. angeschlossen sind. Herausforderungen stellen – auch dies in Übereinstimmung mit den anderen skandinavischen Ländern – eine wachsende Säkularisierung, Mischehen und Assimilation dar. Es besteht Hoffnung, daß die andauernde Debatte zwischen Anhängern des Reformjudentums und der Orthodoxie über Ritus, Gemeindeleben, die Auslegung und Anwendung der Halacha im täglichen Leben sowie die Frage, ob Kindern aus nichthalachischen Ehen Zugang zur jüdischen Gemeinde gewährt werden sollte, zu konstruktiven Wegen findet, jüdische Religion und Kultur zu erhalten und das drängende Problem der totalen Assimilation, mit dem sich alle jüdischen Gemeinschaften Skandinaviens über kurz oder lang auseinandersetzen müssen, zu bewältigen. (Übersetzt von Lars C. Völcker und Hiltrud Wallenborn)

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Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa Band 2 Religion, Kultur, Alltag 3. Auflage

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Inhaltsverzeichnis Binnenstruktur Sergio DellaPergola Demographische Entwicklung der europäischen Juden vom 12. bis zum 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Muster und Determinanten demographischen Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die aktuelle Lage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Joachim Schlör Jüdische Siedlungsformen: Überlegungen zu ihrer Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gebote und Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzen und Zwischenräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgrenzungen und Rückzugsgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schtetl-Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf dem Weg in die großen Städte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Großstadt-Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Uri Kaufmann Sozial- und Wirtschaftsstruktur der jüdischen Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die jüdischen Hoffaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine neue Gruppe: Die Conversos aus Portugal und Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Juden in Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungen im Königreich Polen-Litauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Migrationen im 18.Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorläufer der Akkulturation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rußland/Polen nach 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Migration osteuropäischer Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stefan Schreiner Rechtsstellung und Strukturen jüdischer Gemeinden im europäischen Kontext . . . . . Der äußere Rahmen jüdischer Diasporaexistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die jüdische Gemeinde und ihre Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übergemeindliche Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

François Guesnet Juden aus dem östlichen Europa in Mittel- und Westeuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Motivationen und Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die osteuropäische jüdische Migration als Teil der allgemeinen europäischen Migragration und ihre Spezifika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konjunkturen der Ansiedlung in Mittel- und Westeuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Initiativen und Organisationen der Emigrationshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Alte“ und „neue“ Jischuwim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stereotypenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Charlotte Elisheva Fonrobert Frauen im Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frauen und Torastudium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialgeschichtliche Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frauen und jüdisches Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlußbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Martha Keil Die Familie im Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung von Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Partnerwahl und Verlobung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mitgift (Nedunja) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eheschließung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einschränkungen des Heiratsverhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Familien- und Haushaltsgrößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beziehungen zwischen den Geschlechtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beziehung zwischen Eltern und Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Scheidung und Verwitwung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erbrecht (Dine Nachalot) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neueste Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Religion Susanne Galley Halachische Traditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermeneutik – Die Kunst der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Halacha heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zwi Werblowsky Messiaserwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rabbinische Passivität – messianische Aktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maimonidische Messiaslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Messianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabbatai Zwi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Post-Messianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl E. Grözinger Jüdische Mystik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Grundformen jüdischer Mystik und die Weisen ihrer sprachlichen Mitteilung . Das körperlich-personalisierte Welt- und Gottesbild des antiken rabbinischen Judentums und seine Mystik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die onomatologisch-linguistische Theologie als mystische Beschreibungssprache . . Das philosophische Gottes- und Weltbild und die theosophische Kabbala . . . . . . . . Das psychologische System der lurianischen Kabbala des 16./17. Jahrhunderts . . . . Der osteuropäische Chassidismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Brämer Reform und Orthodoxie im europäischen Judentum der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung von Orthodoxie und Reformbewegung in Deutschland . . . . . . . . . . . . Die „Neu-Orthodoxie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konservative Strömungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Protagonisten der Reformbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungen im übrigen Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überregionale religiöse Vereinigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kulturelle Entwicklung Willi Jasper Vom Mythos zum Text: Zu Begriff und Geschichte der jüdischen Literatur . . . . . . . . . Biblische Dichtung und Kanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Mittelalter und die jiddische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Osteuropa und die Emigration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haskala und Zionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die neue hebräische Literatur und Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Moderne und die Suche nach einer deutsch-jüdischen Identität . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Hannelore Künzl (1940–2000) Jüdische Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buchmalerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buchillustration seit dem 16.Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunstgewerbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Toraschmuck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Objekte des Privathaushaltes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grabkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die jüdischen Maler und Graphiker des 19. und 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . .

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Hannelore Künzl (1940–2000) Jüdische Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Die Synagogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Die Mikwen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Peter E. Gradenwitz Jüdische Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mittelalterliche Pijutim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlehnung an nicht-jüdische Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chassidische Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Synagogalmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musik – ein jüdisches Volksgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Gesellschaft für jüdische Volksmusik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachfolgegenerationen der „Gesellschaft für jüdische Volksmusik“ . . . . . . . . . . . . . .

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Christoph Daxelmüller Jüdische Volkskunde – jüdische Volkskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundstrukturen jüdischer Volkskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ordnung des jüdischen Lebens: Minhagim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Assimilation und Lebensstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Geistige Entwicklung Paul Mendes-Flohr Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Christoph Schulte Jüdische Aufklärung („Haskala“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Nachgeholte, beschleunigte Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Beginn und Ziel der Haskala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

Inhaltsverzeichnis

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Minoritäten-Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Doppelte Aufklärung: Binnendiskurs und Außendiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachige und multikulturelle Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bürgerliche Verbesserung der Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufklärung der Religion, nicht von der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Haskala in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Claudia Prestel Jüdisches Schulwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Schulen der deutschen Neo-Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Schulsystem in Osteuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mädchenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christoph Schulte Die Wissenschaft des Judentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Programm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wissenschaftsgebiete und Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rabbinerseminare und „jüdische Theologie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zionismus und Hebräische Universität Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Europa nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Johannes Valentin Schwarz Jüdische Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Anfänge des jüdischen Pressewesens in Europa (17.–18.Jh.) . . . . . . . . . . . . . . . . Grundzüge der sprachlichen Differenzierung der jüdischen Presse in Europa . . . . . Die typologische und organisatorische Differenzierung des europäisch-jüdischen Pressewesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die europäisch-jüdische Presse im Zeitalter der Emanzipation (1780–1918) . . . . . . Die europäisch-jüdische Presse im Zeitalter der Weltkriege (1914/18–1945) . . . . . . Kontinuität und Neubeginn der jüdischen Presse in Europa nach 1945 . . . . . . . . . . .

285 285 286 288 290 293 294

Die Juden und die christliche Gesellschaft Dietmar Willoweit Die rechtliche Stellung der Juden im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Rechtsstatus der Juden unter christlichen Kaisern und Königen . . . . . . . . . . . . . Die Juden im Kirchenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regelungen des spätmittelalterlichen Judenrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kriminalisierung und Ausweisung der Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

299 299 303 304 306

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Inhaltsverzeichnis

Hiltrud Wallenborn Zwischen Ausweisung und Aufklärung: Juden in der christlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Humanismus, Reformation und Gegenreformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der „christlichen Obrigkeit“ zum säkularen Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Judenordnungen, Schutzjuden und „Betteljuden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Deborah Hertz Konversion in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwangstaufen im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Missionsbestrebungen von Kovertiten und Pietisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konversionsmotive in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

322 322 327 330

Ulrich Wyrwa Die Emanzipation der Juden in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inner- und außerjüdische Diskussion über die Gleichberechtigung . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Ausgrenzung und religiöser Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emanzipation. Eine Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Weg zur rechtlichen Gleichstellung aller Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emanzipationsentwicklung in Europa und darüber hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

336 336 339 342 344 351

Elke-Vera Kotowski Wege der Akkulturation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akkulturation versus Assimilation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bedingtheit von Emanzipation und Akkulturation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jüdisch-christliche Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Innerjüdische Debatte um Nation und Konfession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Illusion einer deutsch-jüdischen Symbiose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Westjüdische Parvenüs und ostjüdische Paria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

353 354 355 358 359 360 362

Judenfeindschaft Winfried Frey Antijudaismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Abgrenzung des Christentums vom Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antijüdische Schlüsseltexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Duldung und Vertreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nichtreligiöse Elemente des Antijudaismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

367 369 372 374 376 377

Inhaltsverzeichnis

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Erika Weinzierl Moderner Antisemitismus von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus . . . . . . . Reaktionen auf die Emanzipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Epoche des Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Antisemitismus in Mitteleuropa 1871–1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

379 379 381 381 387

Henry Friedlaender Schoa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von 1933 bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1935: Die Nürnberger Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verschärfung der Rassenpolitik seit 1937 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Jahr 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die jüdische Gemeinschaft seit 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbereitung des Massenmords . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ghettoisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vernichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Aktion Reinhard und der jüdische Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auschwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1945, das Jahr der Befreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

388 388 390 392 393 395 397 398 399 404 405 407

Werner Bergmann Antisemitismus in Europa nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Nachkriegsjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ruhigen Jahre: 1953–1967 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wende mit dem Sechs-Tage-Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die achtziger Jahre: Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Jahr 1989 und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

409 409 414 416 419 421

Nationalismus, Kosmopolitismus, Internationalismus Jonathan Frankel Die Juden und der Nationalstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Frühen Neuzeit bis zur Französischen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Beginn des Ersten und Ende des Zweiten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seit der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

427 428 431 435 438

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Inhaltsverzeichnis

Reiner Bernstein Die zionistische Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vorläufer des politischen Zionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theodor Herzls Programm und seine Kontrahenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entdeckung der arabischen Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die zionistische Bewegung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf dem Weg zur „Balfour Declaration“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschlußbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jost Hermand Juden und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die jüdische Minderheit und die Demokratisierung der Gesamtgesellschaft im 18.Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Emanzipationsbestrebungen der Juden und die Achtundvierziger Revolution . . Das Hineinwachsen der Juden in demokratische Staatsformen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Erste Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Juden bis zur Zerstörung der Weimarer Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

439 440 442 445 447 448 449

450 450 451 453 456 457

Enzo Traverso Die Juden, der Sozialismus und die Arbeiterbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 Der Bund, der Poale Zion und die jüdische Arbeiterbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 Die jüdischen Intellektuellen und der Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465

Anhang Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Personenregister für Band 1 und 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Nachbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509

Binnenstruktur

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Sergio DellaPergola

Die demographische Entwicklung der europäischen Juden vom 12. bis zum 20.Jahrhundert Historischer Überblick Die demographische Entwicklung der europäischen Juden vom Ende des 12. bis zum Ende des 20. Jhs. läßt sich unter der Überschrift „Aufstieg, Höhepunkt und Niedergang des europäischen Judentums“ in drei Perioden einteilen. Tabelle 1 zeigt die ungefähre Schätzung des Gesamtumfangs der jüdischen Bevölkerung in dieser 800jährigen Zeitspanne für Europa und die Welt. Tabelle 1: Jüdische Bevölkerungszahlen, geschätzt nach den wichtigsten Regionen (1170–1998) Zahl (in Tausend)

Prozent Gesamtzahl Osteuropa für Europa und Balkan im Verhältnis im Verhältnis zur Weltzur Weltgesamtzahl gesamtzahl

Jahr

Gesamtzahl weltweit

Gesamtzahl Europa

Westund Mitteleuropa

Osteuropa und Balkan

1170 1300 1490 1600 1700

1 200 1 200 1 300 1 100 1 100

150 450 600 400 719

103 385 510 200 146

47 65 90 200 573

13 38 46 36 65

32 14 15 50 80

1800 1825 1860 1880 1900 1939

2 500 3 281 5 300 7 663 10 600 16 500

2 020 2 730 4 668 6 771 8 766 9 500

333 458 597 1 044 1 176 1 350

1 687 2 272 4 071 5 727 7 590 8 150

81 83 88 88 83 58

84 83 87 85 87 86

1945 1970 1990 1998

11 000 12 633 12 871 13 100

3 800 3 093 2 157 1 605

944 1 119 1 038 1 038

2 856 1 974 1 119 567

35 24 17 12

75 64 52 35

12. bis 17.Jahrhundert Im Mittelalter stieg die Zahl der Juden in Europa und damit ihr Anteil an der Gesamtzahl der Juden der Welt, deren Siedlungsschwerpunkt zuvor südlich und östlich des Mittelmee-

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res lag, stark an. Etwa von 1170 bis Ende des 15.Jhs. wuchs die Zahl der Juden in Westeuropa stetig, trotz der ständigen Instabilität der jüdischen Existenz durch immer neue Massenvertreibungen, die ohnehin hohe geographische Mobilität, die segregierte Wohnlage in den Städten, den Druck zur Konversion und die gegen Juden gerichtete Gewalt. Diese Belastungen spiegeln die untergeordnete Rechtsstellung der jüdischen Gemeinden und ihre kontinuierliche Abhängigkeit von wirtschaftlichen und politischen Zugeständnissen der Herrschenden in den europäischen Staaten vor der Emanzipation wider, die diese ihnen nach eigenem Ermessen gewährten. Durch den gewaltigen Exodus der Juden aus Spanien und Portugal vom Ende des 15. bis in die erste Hälfte des 16.Jhs. und die Konversion von vielen, die ihr Heimatland nicht verlassen wollten, ging die Zahl der Juden in Europa insgesamt stark zurück, obwohl sich ein großer Teil der Emigranten aus der Iberischen Halbinsel in anderen Teilen des Kontinents niederließ. Die jüdischen Einwohner Osteuropas gelangten im europäischen bzw. Weltjudentum erst im Lauf des Spätmittelalters zu Bedeutung. Um 1700 betrug ihr Anteil an der gesamten jüdischen Einwohnerschaft Europas von schätzungsweise über 700 000 vermutlich etwa 80 %. Vom 18.Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg Im Lauf des 18. und 19.Jhs. entwickelte sich das Judentum in Osteuropa zum bedeutendsten demographischen und kulturellen Zentrum des Judentums überhaupt. Man schätzt, daß die Gesamtzahl der europäischen Juden von zwei Millionen im Jahr 1800 auf 9,5 Millionen im Jahr 1939 stieg. Allein die europäischen Juden stellten etwa 80 bis 90 % der jüdischen Weltgesamtbevölkerung, von denen zudem über 80 % im östlichen Teil des Kontinents lebten. Seit den achtziger Jahren des 19. Jhs. wuchs das Judentum in Nordamerika und anderen Gemeinschaften in Übersee durch den massiven Zustrom von Migranten, vornehmlich aus Osteuropa, wo es immer wieder zu Pogromen kam. Der Zustrom der aus Osteuropa Flüchtenden stärkte auch die zu jener Zeit verschwindend kleine jüdische Gemeinde in Israel. Trotz der massiven Emigration vermehrte sich die osteuropäische Judenheit durch das kontinuierliche natürliche Bevölkerungswachstum bis 1939 auf die historisch beispiellose Höchstzahl von 8,1 Millionen und blieb für die Juden auf der ganzen Welt in demographischer Hinsicht von überragender Bedeutung. 1939 bis 2000 Die beiden letzten Drittel des 20. Jhs. waren für die europäischen Juden in absoluten wie relativen Zahlen eine Periode dramatischen demographischen Rückgangs. In der Schoa wurden etwa zwei Drittel der jüdischen Einwohner des Kontinents vernichtet. Die großen jüdischen Gemeinden in Mittel- und Osteuropa (zum Teil mit Ausnahme der Russischen Föderation), auf dem Balkan und in unterschiedlichen Graden in den westlichen Ländern wurden zerstört. Nach dem Krieg emigrierte ein Großteil der Überlebenden nach Israel und Amerika.

Demographische Entwicklung der europ. Juden

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Durch die substantielle Immigration aus Nordafrika erfuhren die Juden Frankreichs und andere jüdische Gemeinden Westeuropas in den fünfziger und sechziger Jahren eine vorübergehende Stärkung. Die abnehmende Identifikation mit dem Judentum und die Überalterung der Gemeinden führten mit der Zeit jedoch erneut zum Rückgang des europäischen Anteils an der jüdischen Weltgesamtbevölkerung. Wieder wurde die Abwanderung zu einem bestimmenden Faktor für den Rückgang der jüdischen Einwohnerschaft auf dem europäischen Kontinent. Während einer kurzen Phase in den frühen siebziger Jahren und wesentlich ausgeprägter seit dem Ende der achtziger Jahre ist die Zahl der Juden in Osteuropa und auf dem Kontinent durch den Exodus der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion (heute Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, GUS) dramatisch gesunken. Die Kumulation dieser verschiedenen Trends hat den Anteil der jüdischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung Europas zur Jahrtausendwende auf einen Stand sinken lassen, der so niedrig ist, daß man schon auf das Hochmittelalter zurückgehen muß, um eine vergleichbar geringe Zahl zu finden – zwischen zehn und 15 % der auf 13 Millionen geschätzten jüdischen Weltgesamtbevölkerung. Nach fast 400 Jahren lebt die Mehrheit der europäischen Juden heute wieder in den westlichen Teilen des Kontinents.

Muster und Determinanten demographischen Wandels Frühe demographische Veränderungen Demographische Veränderungen der jüdischen Einwohnerschaft Europas haben auf die Zahl, die geographische Verteilung und die Charakteristika des Judentums auf der gesamten Welt großen Einfluß gehabt. Auf dem Höhepunkt ihres Wachstums von 1800 bis 1900 vervielfachte sich die Zahl der europäischen Juden um den beispiellosen Faktor von 4,4, während die europäische Gesamtbevölkerung nur um das 2,2fache von 195 auf 422 Millionen wuchs. In derselben Zeitspanne ist der Rest der Weltjudenheit um das 3,8fache gewachsen, die übrige Weltgesamtbevölkerung lediglich um den mäßigen Faktor von 1,6. Das sehr unterschiedliche Tempo des demographischen Wandels in den jüdischen Gemeinden in Ost- und Westeuropa ist auf kulturelle, sozioökonomische und rechtliche Faktoren zurückzuführen. In Osteuropa setzten die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse später als im Westen ein. Dadurch konnten sich traditionelle jüdische Lebensweisen dauerhafter und nachhaltiger auf die demographische und kulturelle Reproduktion auswirken. Ehen wurden häufiger und von jüngeren Partnern geschlossen. Die Geburtenraten waren höher und Endogamie sowie Großfamilien häufiger. Bis zu einem gewissen Grad spiegelten diese ost- und westjüdischen demographischen Spezifika Strukturen der sie jeweils umgebenden Mehrheitsgesellschaften wider. Juden haben jedoch sowohl in Ost- als auch in Westeuropa generell dazu tendiert, parallele demographische Entwicklungen in den nichtjüdischen Majoritäten zu antizipieren. Zentraler Faktor für das jüdische Bevölkerungswachstum war der Zusammenhang von Gesundheit und Sterblichkeitsrate. Im Rahmen eines generellen demographischen Über-

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gangsprozesses sanken die jüdischen Sterblichkeitsraten früher und schneller, sowohl durch die relative Minderung der Säuglingssterblichkeit als auch durch andere Faktoren. In den frühen Phasen des Wandels wirkten sich die traditionellen jüdischen Normen positiv auf die allgemeine Gesundheit aus; in späteren Phasen liegt die Erklärung primär in mit der spezifischen Sozialstruktur der Juden verbundenen Charakteristika. Eine Antizipation allgemeiner Veränderungsprozesse vollzog sich in der Folge wiederum im Hinblick auf die moderne Geburtenkontrolle und die damit einhergehende Senkung der Geburtenrate. Binnenmigration und zwischenstaatliche Migration Die Liberalisierung hinsichtlich der Stellung der Juden in der Gesamtbevölkerung, die mit den Reformen des späten 18. Jhs. einsetzte, löste in der Verteilung der jüdischen Bevölkerung einen tiefgreifenden Umwälzungsprozess aus. Es setzte eine Massenbewegung aus kleinen halbbäuerlichen Gemeinschaften, in denen Juden häufig die Mehrheit oder zumindest eine bedeutende Minderheit gebildet hatten, in größere urbane Zentren sowie von an der Peripherie gelegenen Provinzen in die Metropolen ein. Außerdem setzte im Rahmen desselben Trends eine internationale Migrationsbewegung großen Maßstabs ein, die die wachsende Abhängigkeit der Juden von ihrer Umgebung reflektierte. Diese Bevölkerungsbewegungen bestanden vor allem aus Juden, die von Osteuropa in andere Länder und oft andere Kontinente zogen. Man schätzt ihre Zahl für den Zeitraum von 1880–1918 auf 2,3 Mio., von 1919–1948 auf 1,4 Mio., von 1948–1968 auf über 600000 und von 1969–1996 auf nahezu 1,4 Mio. (in der letztgenannten Zahl sind zum Teil auch nicht-jüdische Mitglieder jüdischer Haushalte enthalten). Die Gesamtzahl von 5,7 Millionen Migranten betrug zwischen 1880 und 1996 über 70 % der internationalen Migration von Juden weltweit. Durch ein ganzes Bündel von politischen und sozioökonomischen Ursachen dieser Bevölkerungsbewegungen – besonders die Pauperisierung und der zunehmende Antisemitismus bzw. die Furcht vor einer Eskalation der Judenfeindschaft – war die Emigration in hohem Grade endgültig und die Auswanderer kehrten nur verhältnismäßig selten wieder in ihre Herkunftsländer zurück. Die Bevölkerungsstruktur der Migranten wies dementsprechende Spezifika auf, vor allem einen überdurchschnittlich hohen Anteil von Kindern, alten und erwerbslosen Erwachsenen. Die späteren Stufen der demographischen Transformation Der bedeutendste Einzelfaktor für die Bevölkerungsentwicklung der europäischen Juden im 20. Jh. sind die direkten Verluste an Menschenleben, die Opfer des nationalsozialistischen Völkermords von 1941–1945. Der geographisch unterschiedlichen Streuung der jüdischen Einwohner auf die einzelnen Regionen Europas entsprechen regionale Unterschiede im Völkermord. Doch auch die verzögerten demographischen Folgen der Schoa waren einschneidend. In der Zeit der Verfolgung und Vernichtung der Juden nicht vollzogene oder verzögerte Ehen und Geburten haben das unter normalen Bedingungen zu erwartende Tempo des Bevölkerungswachstums gelähmt und strukturelle Verzerrungen verursacht, die die demographischen Trends der Folgejahre schwer beeinträchtigt haben. Man

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schätzt den während der letzten fünf Jahrzehnte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eingetretenen Verlust (oder vielmehr das Ausbleiben des zu erwartenden Wachstums) auf zwischen sechs bis 12 Millionen Juden, zusätzlich zu den fast sechs Millionen direkten Todesopfern der Schoa. In dieser fünfzigjährigen Zeitspanne ist die demographische Entwicklung der jüdischen Bevölkerungen in den meisten europäischen Ländern, trotz nach wie vor bestehender kultureller, sozioökonomischer und politischer Unterschiede zwischen den europäischen Gesellschaften, außerordentlich homogen verlaufen. Die europäische Judenheit weist aufgrund mehrerer demographischer Prozesse ein außerordentlich einheitliches Profil auf. Dazu gehören der in allen Ländern überaus hohe Grad an Urbanisierung und die Konzentration einer großen Mehrheit von Juden auf einige wenige Metropolen, die wachsende suburbane Verstädterung und die verstreute Wohnlage, der generell hohe Bildungsgrad und der Grad der akademischen Bildung der Mehrheit junger Erwachsener, die berufliche Spezialisierung weg von den traditionellen Erwerbszweigen in Handel und Handwerk hin zu Tätigkeiten in Management und Verwaltung, in den freien Berufen und der wissenschaftlichen Forschung. Diesen Veränderungen entsprechen relativ einheitliche gesellschaftliche Normen, Vorlieben und generelles Konsumverhalten großer Teile der jüdischen Bevölkerung. Ihr Profil ist also das einer gut ausgebildeten, vorwiegend mittelständischen und ökonomisch abgesicherten Gruppe homolog zur generellen Säkularisierung in den europäischen Gesellschaften. Gleichzeitig sind große Teile der jüngeren Generation sehr bestrebt, der jüdischen Gruppenidentität und der Bindung an die Gemeinde neuen Sinn zu verleihen. Angesichts des immer homogeneren sozialen Hintergrunds der europäisch-jüdischen Gemeinschaften zeichnen sich überall gleiche demographische Trends ab, am deutlichsten in den Familienstrukturen. Dazu gehören immer spätere Eheschließungen, immer mehr auf Dauer unverheiratete junge Erwachsene, eine höhere Scheidungsrate, ein wachsender Anteil von sogenannten „Mischehen“ (Ehe zwischen Juden und Nicht-Juden), eine niedrige Fruchtbarkeitsrate und die Tatsache, daß sich nur ein kleiner Teil des Nachwuchses aus „Mischehen“ mit den jüdischen Gemeinden identifiziert. Die Kumulation dieser disparaten Faktoren hat die jüdischen Haushalte einschneidend verändert. Die in früheren Zeiten typische konventionell-monogame jüdische Kleinfamilie wird durch eine Reihe von Alternativen ersetzt, vor allem durch das Single-Dasein, die Bildung von Paaren unterschiedlichen Glaubens und von Haushalten mit alleinerziehenden Eltern. Die heutige Negativbilanz der jüdischen Geburten- und Todesrate bedeutet zusammen mit der raschen Überalterung eine Schwächung der demographischen Basis der meisten, wenn nicht aller jüdischen Gemeinden in West- und Osteuropa. Juden in Europa Trends in der Bevölkerungsentwicklung der Juden finden nicht in einem Vakuum statt. Deshalb sollte man die europäischen Staaten und ihre jüdischen Einwohner als Teilsysteme innerhalb eines weltumspannenden politischen und sozioökonomischen Systems von Nationalstaaten betrachten, dessen einzelne Teile den dort ansässigen Juden neben ihren ande-

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ren und vermutlich bedeutenderen Eigenschaften jeweils eine sehr unterschiedliche Lebensqualität bieten. Historisch gesehen hat das globale Spiel der Kräfte Juden wie andere Gruppen im allgemeinen von der geringer entwickelten und weniger stabilen Peripherie in das Zentrum gezogen, also in die ökonomisch höher entwickelten und stabileren Länder. Politische und rechtliche Einschränkungen haben die europäischen Juden indes lange daran gehindert, sich frei an den begehrtesten Orten niederzulassen, die auf der Skala ihrer Beliebtheit je nach politischen und sozioökonomischen Konjunkturen im kontinentalen und globalen System schwanken. Deshalb stimmte die geographische Verteilung der europäischen Juden lange nicht mit den allgemeinen Trends der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung überein. Daß gerade in Osteuropa so viele Juden heimisch wurden lag beispielsweise im wesentlichen daran, daß sie sich in den entwickelteren westeuropäischen Ländern nicht ansiedeln durften. Nach der Emanzipation wanderten die Juden nach und nach an Orte, die ihren besonderen sozioökonomischen Bedürfnissen und Spezialisierungen angemessener waren. Im modernen und zeitgenössischen Kontext standen Demokratisierung, Modernisierung und Wohlstand im allgemeinen in einer positiven Korrelation zu einer Politik, die für autonome und lebendige jüdische Gemeinschaften förderlich war. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zogen die politischen Freiheiten und der rasch steigende Lebensstandard in den westlichen Ländern jüdische Einwanderer aus Osteuropa und dem Nahen Osten wie ein Magnet an. Historisch gesehen verlagerte sich das Zentrum jüdischen Lebens in Westeuropa bis 1933 von der Iberischen Halbinsel auf die deutschen Gebiete. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lebte der größte Teil der jüdischen Einwohnerschaft Europas bis in die frühen sechziger Jahre in Großbritannien. Erst nach der Entkolonialisierung Nordafrikas und der anschließenden massiven Zuwanderung erlangte in der Folge Frankreich diesen Platz. Die Öffnung der Grenzen für jüdische Immigranten aus Osteuropa und das Ende des Kalten Kriegs haben die Korrelation zwischen einer größeren jüdischen Einwohnerdichte und den tatsächlichen sozioökonomischen Chancen von Juden in den europäischen Ländern (sowie den Vereinigten Staaten, Israel und anderen Ländern) sehr verbessert. Ein Ergebnis dieser Umverteilung, das eindeutig auf die internationale Wirtschaftskraft Deutschlands zurückzuführen ist, ist seit 1990 der Aufbau einer bedeutenden jüdischen Gemeinde in der Bundesrepublik Deutschland, wo nach der Schoa bis 1989 in Westdeutschland nur eine verschwindend kleine jüdische Gemeinschaft existiert hatte und in Ostdeutschland eine noch winzigere Schar von einigen Hundert lebten. Wenn man die Verteilung der jüdischen Bevölkerung Europas hinsichtlich ihrer Verteilung auf die einzelnen Regionen genauer analysiert, zeigt sich die Korrelation zwischen der Anzahl jüdischer Einwohner oder ihrem relativen Anteil an der Gesamtbevölkerung und den zentralen Indikatoren der regionalen Wirtschaftsentwicklung sogar noch deutlicher. Eine Analyse aus den frühen neunziger Jahren zu den damaligen Wirtschaftregionen der Europäischen Union ergab, daß im Hinblick auf den Lebensstandard 59 % der jüdischen Gesamteinwohnerschaft im oberen Fünftel der wohlhabenderen Regionen lebten (im Ver-

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gleich zu 22% der Gesamtbevölkerung), während lediglich ein Prozent der jüdischen Bevölkerung im unteren Fünftel der ärmeren Regionen ansässig war (im Vergleich zu 14% der Gesamtbevölkerung). Die für Juden attraktivsten Orte waren im allgemeinen die großen europäischen Hauptstädte, vor allem die urbanen Ballungsräume um Paris, London und (bis zum Untergang der Sowjetunion) Moskau. Sie verfügten über enge, staatliche Grenzen überschreitende Verbindungen, hohe Einkommen in stark ausdifferenzierten Ökonomien und waren besonders in komplexen Tätigkeitsfeldern im tertiären und produzierenden Sektor sowie in Kultur- und Forschungseinrichtungen beschäftigt.

Die aktuelle Lage Definitionen und Haupttrends Die Analyse der Bevölkerungsentwicklung des heutigen Judentums wird wegen fehlender aktueller und verläßlicher Daten immer schwieriger. Ein zentrales Problem der Quantifizierung ist die immer verschwommenere Definition der jüdischen Gruppeneigenschaft. Gruppen wie die Juden, deren Existenz auf kollektiven Zuschreibungen beruht, sind Wandlungsprozessen durch interkonfessionelle Eheschließungen und andere, freiwillig gewählte Neuidentifikationen besonders stark unterworfen. Sozialwissenschaftlich betrachtet müssen deshalb dringend adäquate Kriterien für eine Gruppendefinition entwickelt werden, die ihrem Charakter nach selbstredend nur forschungspragmatisch und nicht etwa normativ sein kann. Man hat hierfür den Begriff einer jüdischen „Kernbevölkerung“ oder einer „Bevölkerung mit jüdischem Selbstverständnis“ vorgeschlagen. Diese soll alle Personen umfassen, die sich selbst auf Nachfrage als „jüdisch“ bezeichnen oder von anderen Angehörigen ihres Haushalts als „Jude“ oder „Jüdin“ bezeichnet werden. Das ist ein bewußt breiter und pragmatischer Ansatz, der subjektive Einstellungen berücksichtigt. Er überschneidet sich großenteils mit der halachischen Definition oder anderen normativen Definitionen, ohne ganz mit ihnen identisch zu sein. Zur erweiterten jüdischen Bevölkerung gehören dann die jüdische Kernbevölkerung sowie alle Personen jüdischer Herkunft, die sich zum Zeitpunkt der Befragung einer anderen Gruppe zugehörig fühlen sowie sämtliche nicht-jüdische Angehörige (Ehepartner, Kinder, etc.) dieser Haushalte. Israels Rückkehr-Gesetz bildet die Grundlage für ein konkretes rechtliches Rahmenwerk zur Aufnahme von Neueinwanderern, das für alle heutigen Juden, ihre Kinder, Enkel und Ehepartner gilt. Nach dem Rückkehr-Gesetz gilt jede Person als jüdisch, die eine jüdische Mutter hat oder zum Judentum übergetreten ist (ob orthodox, konservativ oder Reformjudentum). Um 1960 entschied der Oberste Gerichtshof Israels, daß ethnische Juden, die zu einer anderen Religion konvertiert sind, dieses Recht verwirkt haben. Die Vereinigten Staaten von Amerika oder die Bundesrepublik Deutschland haben vergleichbare Kriterien für die jüdische Immigration entwickelt. Die tatsächliche Gesamtzahl einer Bevölkerung nach dem Rückkehr-Gesetz ist allerdings ziemlich schwer zu ermitteln. Alle im folgenden ge-

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nannten Zahlen beziehen sich auf das Konzept der jüdischen Kernbevölkerung bzw. einer Bevölkerung mit jüdischem Selbstverständnis. Zum Ende des Jahres 1998 lebten etwa 1,6 Millionen Juden in Europa. 65% waren in Westeuropa und 37% in Osteuropa sowie auf dem Balkan einschließlich der asiatischen Teile der Russischen Föderation und der Türkei ansässig. Tabelle 2 liefert eine Synopsis der Verteilung der jüdischen Bevölkerung in Europa, in der nach Zuverlässigkeit der für die jeweiligen Länder aktuell verfügbaren Daten unterschieden wird. Die Europäische Union In der Europäischen Union (EU) mit ihren fünfzehn Mitgliedsstaaten leben schätzungsweise 1022000 jüdische Einwohner (im Vergleich zu 842000 im Jahr 1945 und 1103000 im Jahr 1970). Seit der Auflösung der Sowjetunion leben die meisten Juden nach den Vereinigten Staaten und Israel in Frankreich. Nachdem in den fünfziger und sechziger Jahren mehr als 250 000 Juden aus dem Maghreb nach Frankreich kamen, schätzte man ihre Zahl dort bei einer großen Volkszählung der siebziger Jahre auf 530 000. In den folgenden Jahren ließen sowohl die Binnenentwicklung als auch die Auswanderung von Juden aus Frankreich kaum auf veränderte reale Zahlen schließen. Ein Teil der Juden aus Nordafrika ging weiterhin in der französisch-jüdischen Gemeinde auf, deren Durchschnittsalter niedriger als in anderen europäischen Ländern lag. Ende 1998 wurde die jüdische Bevölkerungszahl angesichts der Emigration nach Israel (die sich von 1980 bis 1998 auf beinahe 20 000 Personen belief), der hohen Rate interkonfessioneller Ehen (die schon für die späten siebziger Jahre auf etwa 50% aller Eheschließungen geschätzt wurde) und der beginnenden Überalterung etwas niedriger geschätzt. Man geht von 522 000 Personen aus, von denen etwa 310 000 im Großraum Paris leben. In Großbritannien hat sich die jüdische Bevölkerung deutlich verkleinert. Aufgrund aktueller Daten zur jüdischen Geburten- und Sterberate hat eine Analyse des Board of Deputies for British Jews für 1995 eine neue Schätzung von 285 000 ergeben, von denen etwa 200 000 im Großraum London leben. Man ging außerdem von einem jährlichen Bevölkerungsrückgang von etwa 2500 pro Jahr aus. In früheren Untersuchungen war die jüdische Bevölkerung für die späten fünfziger Jahre auf annähernd 400 000, für 1977 auf 336 000 und für 1986 auf 308 000 geschätzt worden. Eine Erhebung unter britischen Juden von 1995 ließ auf einen signifikanten Anstieg von interkonfessionellen Ehen schließen (38% von allen verheirateten Männern und 50% der jüdischen Männer im Alter von unter 30 Jahren), also auf assimilationsbedingte Verluste. Von 1980 bis 1998 sind über 12 000 Juden nach Israel emigriert. Unter der Prämisse der Fortsetzung dieser bisher stabilen Trends belief sich die Schätzung von 1998 auf 277 500 Juden in Großbritannien, womit es im internationalen Vergleich an sechster Stelle steht. 1990 wurde die Vereinigung der beiden deutschen Staaten vollzogen. Die Volkszählung in der früheren Bundesrepublik Deutschland von 1987 hatte 32319 jüdische Einwohner ergeben. Schätzungen des sehr geringen Anteils jüdischer Einwohner in der Deutschen Demo-

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Tabelle 2: Verteilung der jüdischen und der Gesamtbevölkerung in Europa (Ende 1998) Gesamtzahl der Bevölkerung

Jüdische Bevölkerung

Jüdische Einwohner je 1000 Einwohnern

Europa insgesamt

793 318 000

1 604 900

2.0

Österreich Belgien Dänemark Finnland Frankreichb Deutschland Griechenland Irland Italien Luxemburg Niederlande Portugal Spanien Schweden Großbritannien EU insgesamt

8 140 000 10 141 000 5 270 000 5 154 000 58 716 000 82 133 000 10 600 000 3 681 000 57 369 000 422 000 15 678 000 9 869 000 39 628 000 8 875 000 58 877 000 374 553 000

9 000 31 700 6 400 1 100 522 000 85 000 4 500 1 100 29 700 600 26 500 300 12 000 15 000 277 500 1 022 400

1.1 3.1 1.2 0.2 8.9 1.0 0.4 0.3 0.5 1.4 1.7 0.0 0.3 1.7 4.7 2.7

C C C A C B B B B B C C D C B

Gibraltar Norwegen Schweiz andere restl.Westeuropa insgesamt

25 000 4 419 000 7 299 000 833 000 12 576 000

600 1 200 18 000 100 19 900

24.0 0.3 2.5 0.1 1.6

B B A D

Weißrußland Estland Lettland Litauen Moldawien Rußlandc Ukraine Europäische GUS-Staaten

10 315 000 1 429 000 2 424 000 3 694 000 4 378 000 147 434 000 50 861 000 220 505 000

17 000 2 200 8 800 4 600 5 700 310 000 115 000 463 300

1.6 1.5 3.6 1.2 1.3 2.1 2.3 2.1

C B B B C B C

Bosnien-Herzegowina 3 675 000 Bulgarien 8 336 000 Kroatien 4 481 000 Tschechische Republik 10 282 000 Ungarn 10 116 000 Mazedonien 1 999 000 Polen 38 718 000 Rumänien 22 474 000 Slowakische Republik 5 377 000 Slowenien 1 993 000 Türkeic 64 479 000 Jugoslawiend 10 635 000 Andere osteuropäische Staaten und Balkane 185 684 000

300 2 800 1 300 2 600 52 500 100 3 500 11 800 3 500 100 19 000 1 800

0.1 0.3 0.3 0.3 5.2 0.0 0.1 0.5 0.6 0.1 0.3 0.2

C B C B D C D B D C C C

99 300

0.5

Land

a

Einstufung nach Zuverlässigkeit der Datena

Qualität der Daten wie folgt: A – sehr zuverlässige und aktuelle Angaben; B – nicht ganz so aktuelle und zuverlässige Quellen; C – Teilinformation oder indirekte Information; D – schwach belegt. b Einschl. Monaco. c Einschl. asiatischer Regionen. d Serbien und Montenegro. e Einschl. Albanien.

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kratischen Republik schwankten zwischen 500 und 2000. Den verfügbaren Quellen zufolge ließen sich zwischen 1989 und 1998 etwa 110 000 jüdische Einwanderer (einschließlich nicht-jüdischer Familienmitglieder) aus der GUS in Deutschland nieder. Heute schätzt man die Zahl der im vereinten Deutschland lebenden Juden auf 85 000. Diese Zahl beruht auf der Annahme, daß zwischen dem Zeitpunkt der Einwanderung und der Meldung bei der Zentralen Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland zeitliche Verzögerungen liegen können, daß einige jüdische Zuwanderer sich dauerhaft von den jüdischen Gemeinden lösen und daß für die Mehrzahl der Neuankömmlinge ausreichend Anreize vorhanden sind, sich den jüdischen Gemeinden anzuschließen. Das Wachstumspotential der jüdischen Bevölkerungsgruppe in Deutschland ist nach wie vor beträchtlich. Zudem sollte sich die vergleichsweise jugendliche Altersstruktur der Einwanderer auf das lange herrschende Defizit im Verhältnis von Geburten- und Sterberate positiv auswirken. In Belgien, Italien und den Niederlanden lebten 1998 jeweils ungefähr 30 000 jüdische Einwohner. In Belgien blieb die auf 31700 Personen geschätzte jüdische Bevölkerung durch den verhältnismäßig starken Anteil von orthodoxen Juden recht stabil. In Italien wurde 1987 die automatische Zugehörigkeit zu den jüdischen Gemeinden abgeschafft und auf freiwillige Basis gestellt. Obwohl die meisten Juden den jüdischen Gemeinden danach wieder beigetreten sind, hat der weniger strikte rechtliche Rahmen den Rückgang ihrer Zahl auf unter 30 000 befördert. Eine jüngere Studie zu den Niederlanden hat ergeben, daß die Zahl jüdischer Einwohner israelischer Herkunft tendenziell steigt, was den demographischen Rückgang unter den alteingesessenen Juden ausgeglichen haben dürfte. Die Gesamtzahl der jüdischen Einwohner der Niederlande wird auf 26500 geschätzt. In anderen Mitgliedsstaaten der EU wie Griechenland und Irland leben kleinere und immer kleiner werdende jüdische Bevölkerungen. Schweden und Spanien, deren jüdische Einwohnerzahlen auf Grundlage der Mitgliedszahlen in den jüdischen Gemeinden der Großstädte sehr vorsichtig auf 15000 bzw. 12000 beziffert worden sind, könnten hier eventuell Ausnahmen darstellen. Die ständige jüdische Einwohnerzahl Österreichs ist auf 9000 geschätzt worden. Während dort zwischen Geburten- und Todesrate lange eine Negativbilanz zu verzeichnen war, die mit starker Überalterung und häufigen interkonfessionellen Eheschließungen zusammenhing, hat die Einwanderung aus der GUS diese inneren Verluste wohl ausgeglichen. Die kleinen jüdischen Bevölkerungen in den skandinavischen Ländern waren quantitativ gesehen insgesamt verhältnismäßig stabil. Andere westeuropäische Staaten Wenige Staaten Westeuropas sind der EU nicht beigetreten. 1998 belief sich die Zahl ihrer jüdischen Einwohner insgesamt auf 19 900 bzw. 1,6 von tausend Einwohnern der Gesamtbevölkerung des jeweiligen Landes. Auf der Grundlage der Volkszählung von 1990 und unter Berücksichtigung nicht gemeldeter Juden schätzt man die jüdische Einwohnerzahl in der Schweiz auf 18000.

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Ehemalige Sowjetunion (europäischer Teil) Seit 1989 hat sich die demographische Lage der osteuropäischen Juden durch den dramatischen politischen Wandel in der Region nachhaltig verändert. Die ökonomische Krise, die 1991 in die Auflösung der Sowjetunion mündete, löste eine Welle jüdischer Emigration aus. Sie hatte 1990 bereits ihren Höhepunkt erreicht und setzte sich während der neunziger Jahre auf wesentlich niedrigerem Niveau fort. War die Massenemigration eine offensichtliche Ursache für die sinkende Zahl jüdischer Einwohner, so war die Bevölkerungsentwicklung der Juden in den Ländern der GUS jedoch bereits seit Jahren wegen anderer Gründe wie einer sehr niedrigen Geburtenrate, häufiger Exogamie und starker Überalterung rückläufig. Infolgedessen hat sich die Größe der jüdischen Bevölkerung schnell verringert. Alle Angaben zur Zahl der Juden in der GUS beruhen auf amtlichen Unterlagen der Sowjetunion. In ihnen und auch später werden die Juden als „natsionalnost“ behandelt, als Gruppe ethnisch-nationaler Herkunft. In einem gesellschaftlichen Kontext, der seit der Oktoberrevolution geringen oder gar keinen Raum für Religionen ließ, kann das ethnische Definitionskriterium durchaus als umfassend und überzeugend akzeptiert werden. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, daß die Zahlen etwas niedriger lagen, doch läßt sich diese Annahme nicht ohne weiteres quantifizieren und sollte in keinem Fall überbewertet werden. Die totalitären Herrschaftsstrukturen haben sich auf Eigenzuordnungen bei Volkszählungen ganz unterschiedlich ausgewirkt. Einerseits bedingten sie eine gewisse Präferenz für nicht-jüdische Nationalitäten, vor allem bei „Mischehen“, andererseits blieb die Zugehörigkeit zur jüdischen Gruppe durch die obligatorische Registrierung der ethnischen Herkunft in amtlichen Papieren wie Pässen zwangsweise erhalten. Die amtlichen Bevölkerungszahlen zeigen eine rückläufige Tendenz: 2 267 800 im Jahr 1959, 2 150 700 im Jahr 1970, 1 810 900 im Jahr 1979 und 1 480 000 im Jahr 1989. Diese Zahlen waren insgesamt konsistent, im Hinblick auf die Quellen, aber auch auf die bekannten Muster der Emigration und die Binnenentwicklung der jüdischen Bevölkerung. Seit der Volkszählung im Januar 1989 bis zum Ende des Jahres 1998 war die jüdische Emigration der bestimmende Faktor für alle folgenden demographischen Veränderungen. Insgesamt haben 1 235 000 Personen die GUS verlassen, offiziell 882 000 Juden und 353 000 nicht-jüdische Familienangehörige. Davon gingen die meisten – 770 000 – nach Israel, 290 000 in die Vereinigten Staaten, 110 000 nach Deutschland und 65 000 in andere Länder. Eine systematische Analyse der vorher unzugänglichen Daten zur Demographie der Juden und bevölkerungspolitischen Trends im Gebiet der GUS bestätigte die Annahme einer ausgesprochen niedrigen Geburtenrate (1,3 Kinder oder weniger je jüdischer Frau), die Häufigkeit von Exogamie (1988 gingen fast 70% der jüdischen Ehepartner in Rußland und 1996 annähernd 80% in der Ukraine und in Lettland eine Ehe mit einem Nicht-Juden ein), die eindeutige Bevorzugung der nicht-jüdischen Nationalität für Kinder aus sogenannten „Mischehen“, Überalterung (1994 machten Kinder im Alter von unter 15 Jahren in der Russischen Föderation 6% der jüdischen Gesamtbevölkerung aus, im Vergleich zu 32% im Alter von 65 Jahren und mehr) und eine eindeutig negative Bilanz im Verhältnis der

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Sterbe- zur Geburtenrate. Diese Trends waren in den slawischen Republiken ganz besonders deutlich, in denen ein großer Anteil der jüdischen Gesamtbevölkerung lebt. Von 1993 bis 1994 kamen in der russischen Bevölkerungsentwicklung 2,8 jüdische Geburten auf 30,0 Todesfälle je 1000 jüdische Einwohner. In der Ukraine beliefen sich die Zahlen auf 4,2 und 35,9 je 1000 jüdischen Einwohnern, in Weißrußland auf 5,2 und 32,6 je 1000 jüdischen Einwohnern, in Lettland auf 3,1 und 24,5 je 1000 jüdischen Einwohnern und in Moldawien auf 5,9 und 34,6 je 1000 jüdischen Einwohnern. Diese Zahlen ergeben jährliche Verluste von mehreren Tausend. Die Überalterung in den Herkunftsländern wurde durch das niedrige Durchschnittsalter der jüdischen Emigranten zudem noch deutlich verstärkt. Aufgrund dieser Trends wurde die Schätzung der jüdischen Kernbevölkerung oder der Bevölkerung mit jüdischem Selbstverständnis in der GUS (einschließlich der asiatischen Teile) von der korrigierten Volkszählungszahl von 1 480 000 zum Beginn des Jahres 1989 zum Ende des Jahres 1998 auf 500 000 reduziert. Davon lebten 463 300 in den sieben europäischen Republiken der GUS (im Vergleich zu den Schätzungen für 1945 mit 1 989 000 Einwohnern und 1970 mit 1757000 Einwohnern) bzw. 2,1 je 1000 Einwohner der Gesamtbevölkerung. Unterschiede im Tempo der Bevölkerungsveränderungen in den einzelnen Republiken spiegeln die veränderte Neigung zur Emigration, die unterschiedlichen Assimilationsraten und den natürlichen Bevölkerungsrückgang wider. Der größte Teil der jüdischen Bevölkerung im europäischen Teil der GUS lebte nach wie vor in der Russischen Föderation. Die dort Ende 1998 ansässigen 310 000 Juden, von denen 120 000 in Moskau wohnten – im Vergleich zu den auf Volkszählungen beruhenden Schätzungen von 551 000 Ende 1988 und 410000 Ende 1993 –, stellten die fünftgrößte jüdische Gemeinschaft der Welt dar. Der jüdische Bevölkerungsrückgang in Rußland ist durch die Zuwanderung aus anderen Republiken der GUS leicht ausgeglichen worden. Schätzungen der jüdischen Bevölkerungszahl in der Ukraine beliefen sich für 1998 auf 115 000. Hier war in den letzten Jahren eine Emigration großen Ausmaßes zu verzeichnen, und hier lebt gegenwärtig auch die achtgrößte jüdische Gemeinde der Welt (487 300 im Jahr 1988). 17 000 Juden leben in Weißrußland (112 000 im Jahr 1988), 5700 in Moldawien (65 800 im Jahr 1988) und insgesamt 15 600 in den drei baltischen Staaten Lettland, Litauen und Estland (39900 im Jahr 1988). Die jeweiligen Zahlen für die erweiterte jüdische Bevölkerung – einschließlich aller heutigen Juden sowie anderer Nachkommen von jüdischen Eltern und nicht-jüdischen Haushaltsmitglieder – liegen wesentlich höher, da hier wie im Gebiet der GUS die Quote der „Mischehen“ lange sehr hoch war. 1994 lebten 409 000 russische Juden mit 311 000 nichtjüdischen Haushaltsmitgliedern zusammen, woraus sich eine erweiterte jüdische Bevölkerung von 720 000 ergibt. Der umfassende Charakter des israelischen Rückkehr-Gesetzes (s. o. S. 21) umspannt praktisch das Maximum des Pools potentieller Emigranten, der sich selbst als jüdisch versteht sowie der engeren nicht-jüdischen Angehörigen. Die Zahl derjenigen, die sich von Volkszählung zu Volkszählung selbst als jüdisch bezeichnen, ist zumindest bis 1994 wie die Zahl der Personen jüdischer Herkunft, die sich nicht als jüdisch bezeichnet, relativ stabil geblieben. Die jüngste politische Entwicklung und insbesondere der gegenwärtige Emigrationsschub haben im Vergleich zu früheren Volkszählungen aber ver-

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mutlich die Bereitschaft erhöht, sich als jüdisch zu bezeichnen. Demographisch gesehen bedeuten diese Rückkehrer einen Nettozuwachs für die jüdische Kernbevölkerung in der GUS sowie für das europäische und das Weltjudentum. Andere osteuropäische Staaten und der Balkan Für diesen geographischen Raum wurde die jüdische Gesamteinwohnerzahl 1998 auf 99 300 geschätzt (im Vergleich zu 859 000 im Jahr 1945 und 212 000 im Jahr 1970) bzw. 0,5 Personen je 1000 Einwohner der Gesamtbevölkerung. Die Juden in Ungarn und Rumänien und die kleinen Überbleibsel jüdischer Bevölkerungen in Polen, Bulgarien, der Tschechischen Republik und der Slowakei sowie im ehemaligen Jugoslawien sollen stark überaltert und Ehen zwischen Juden und Nicht-Juden häufig sein. In diesen Ländern haben die jüngsten politischen Veränderungen die Autonomie der organisierten jüdischen Gemeinden und ihrer gemeldeten Mitglieder gestärkt. Einige Juden oder Personen jüdischer Herkunft haben sich wieder zum Judentum bekannt, nachdem sie ihre Identität lange geheimgehalten haben. Doch während in dieser Region die Kluft zwischen der jüdischen Kernbevölkerung und der erweiterten jüdischen Bevölkerung generell groß ist, herrscht allgemein ein rückläufiger demographischer Trend. Die Zahl der ungarischen Juden ist von der GUS abgesehen die höchste in Osteuropa. Sie ist allerdings in keiner Weise zufriedenstellend belegt, da die letzte offizielle Volkszählung 1948 durchgeführt wurde. Die in örtlichen jüdischen Organisationen gemeldeten Mitglieder sind auf etwa 25 000 geschätzt worden, im Gegensatz zu den wesentlich höheren Zahlen, die immer wieder kursieren. Unsere Schätzung der jüdischen Kernbevölkerung für das Jahr 1998 beläuft sich auf 52 500, was nach den verfügbaren demographischen Indikatoren den rückläufigen Trend der Bevölkerungsentwicklung in Ungarn widerspiegelt. Eine Volkszählung für Rumänien von 1992 ergab 9107 Juden. Anhand detaillierter jüdischer Gemeindeaufzeichnungen der Federatia Comunitatilor Evreiesi wurde für 1998 die Zahl von 12 000 geschätzt. Der tschechischen Volkszählung von 1991 zufolge lebten hier 1292 Juden, während sich die Mitgliedschaft nach Angaben der Federation of Jewish Communities von 1998 auf 2600 belief. Die jüdische Kernbevölkerung sowohl in der Slowakei als auch in Polen ist vorsichtig auf 3500 beziffert worden. In Bulgarien erfaßte die Volkszählung von 1992 3461 Juden, während unsere Schätzung – unter Einbeziehung der Emigration – bei 2800 liegt. Die fortwährende Krise im ehemaligen Jugoslawien hat den Rückgang der jüdischen Bevölkerung in diesem Gebiet weiter verschärft. Die durch Emigration immer kleiner werdende jüdische Kernbevölkerung der fünf Nachfolgestaaten wurde Ende 1998 auf insgesamt ungefähr 3600 geschätzt. Von diesen lebten etwa 2000 in Jugoslawien (Serbien und Montenegro) und 1300 in Kroatien. Die jüdischen Einwohner der Türkei, wo die Sterberate die Geburtenrate seit Jahren deutlich übersteigt, wurden auf ca. 19 000 geschätzt. Aussichten für die jüdische Bevölkerungsentwicklung der Zukunft Aus der jüdischen Geschichte Linien in die Zukunft abzuleiten war nie eine leichte Aufgabe und im heutigen europäischen Kontext rascher, aber eher fließender politischer und

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kultureller Wandlungsprozesse ist sie um so schwerer. Wenn man von einer Fortsetzung der jüngsten soziodemographischen Trends ausgeht, kann man für die ersten Jahrzehnte des 21.Jhs. jedoch ein demographisches Profil der europäischen Juden entwerfen. Berücksichtigt man lediglich die Dynamik des Binnenwandels, ohne die internationale Migration einzubeziehen, könnte die Zahl der europäischen Juden bis zum Jahr 2020 schätzungsweise 1,4 Millionen betragen – knapp 10% der für diesen Zeitraum prognostizierten jüdischen Weltbevölkerung, und zwar etwa 930 000 in Westeuropa und etwa 400 000 im europäischen Teil der GUS und in anderen osteuropäischen Ländern. Setzt sich der Trend zu internationaler Migration auf dem Niveau der späten neunziger Jahre fort, würde sich die Gesamtzahl der Juden auf dem Kontinent bis 2020 auf unter 1,1 Millionen verringern. Westeuropa wäre mit ungefähr einer Million jüdischer Einwohner nach Israel und Nordamerika nach wie vor die Region mit der drittgrößten jüdischen Einwohnerschaft. Die Judenheit Osteuropas wäre jedoch fast vollständig verschwunden. Zentral für den jüdischen Bevölkerungsrückgang nicht nur im Herkunftsgebiet, sondern in ganz Europa ist die andauernde Migration aus der GUS. Die eigentliche Ursache der erwarteten demographischen Erosion liegt jedoch in dem rückläufigen demographischen Trend durch zunehmende Assimilation und die niedrige jüdische Geburtenrate. Das daraus entstehende Problem der zunehmenden Überalterung der jüdischen Bevölkerung bedeutet, daß ihre Gemeinden in Zukunft mehr für die Versorgung ihrer älteren Mitglieder tun müssen. Die Analyse der aktuellen demographischen Situation ergab Ende des 20.Jhs. eine ernsthafte Gefährdung der Kontinuität und Qualität jüdischen Gemeindelebens in Europa. Trotz des Bevölkerungsrückgangs sind die Juden jedoch in intellektueller und ökonomischer Beziehung eine wichtige Bereicherung für die nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaften. Ihre diesbezügliche Bedeutung könnte zumindest partiell den aktuellen rückläufigen demographischen Schub abmildern, insbesondere wenn es gelingt, eine Vision einer erweiterten kontinentalen Gemeinde zu entfalten, in der man den traditionellen jüdischen Partikularismus überwindet. Aus historischen Gründen ist die Integration der Juden in Europa im Vergleich zur politischen Integration des Kontinents nur langsam vorangeschritten. Das Bewußtsein gemeinsamer Interessen und die Vorteile gegenseitiger Unterstützung könnten jedoch zum Aufbau einer europäisch-jüdischen Identität beitragen, die die eigentliche Voraussetzung für eine demographische Zukunft der Juden bildet. (Übersetzt von Eva-Maria Ziege)

Joachim Schlör

Jüdische Siedlungsformen: Überlegungen zu ihrer Bedeutung Die Erforschung jüdischer Siedlungsformen – sowohl in einer historischen Rekonstruktion wie in einer Analyse ihrer Darstellung in Literatur und Kunst – erscheint als geeigneter Ansatz, eine Brücke zwischen zwei sonst häufig voneinander getrennten Arbeitsbereichen in den Jüdischen Studien zu schlagen: Siedlungsformen reflektieren sowohl den inneren Diskurs über Fragen der Spiritualität, des Denkens und Glaubens wie Themen der äußeren Narrative, also der Beziehungen von Juden und jüdischen Gemeinden zur nicht-jüdischen Welt. Das Untersuchungsgebiet kann nur in einer systematischen und interdisziplinären Kooperation vieler Fächer erschlossen werden. Historische Debatten über Formen der Siedlung, der Niederlassung, des Wohnens, des Verhaltens im Raum, Diskussionen über die Grenzen zwischen „privaten“ und „öffentlichen“ Räumen und Konstrukten von „Ghetto“, „Judenviertel“, „Judengasse“ oder „Schtetl“ enthalten Information sowohl über das Innen der Gesetze und ihrer (Nicht-)Einhaltung wie über das Außen (und das Aussehen) der Orte.

Gebote und Situationen Helmut Veitshans formulierte in seiner Darstellung der „Judensiedlungen in mittelalterlichen Städten Südwestdeutschlands“ eine wichtige Annäherung: „Lassen sich aus den jüdischen Niederlassungen innerhalb der Städte Rückschlüsse ziehen auf die Bedeutung und Funktion der Juden im städtischen Leben, mit anderen Worten, ist die jüdische Ansiedlung Ausdruck der rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Stellung der Juden innerhalb eines städtischen Gemeinwesens?“1 Schon die Fragestellung deutet an, daß die Analyse einer Siedlungsform – in der Stadt oder auf dem Land, freiwillig gewählt oder zwangsweise zugewiesen, in enger Nachbarschaft oder weit verstreut, geschützt oder gefährdet – mehr berichten kann als nur hard facts wie Bevölkerungsdichte, Berufsstruktur oder Geschichten von Ansiedlung, Vertreibung und Neuansiedlung. Lassen sich aber auch, so könnte man Veitshans paraphrasieren und fortschreiben, aus den „jüdischen Niederlassungen“, wo immer, Rückschlüsse ziehen auf die innere Verfaßtheit einer Gemeinde, auf ihr Selbstverständnis, auf ihr Verhältnis zum Ort des Aufenthalts einerseits und zum – oft weit entfernt gelegenen – Ort Jerusalem, Zion, Erez Israel – andererseits? 1

Helmut Veitshans, Kartographische Darstellung der Judensiedlungen der schwäbischen Reichsstädte und der württembergischen Landstädte im Mittelalter. Arbeiten zum historischen Atlas von Südwestdeutschland, Stuttgart 1970, S. 1.

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Joachim Schlör

Ganz offensichtlich ist diese Frage eher da (oder dann) zu beantworten, wenn und wo eine jüdische Gemeinde ihre Siedlungsform selbst wählt, wenn und wo sie nicht ihre innere Freiheit zu einer selbstbestimmten Existenz den Launen eines lokalen Fürsten oder einer feindlich gesonnenen Nachbarschaft erst abringen muß. Aber selbst dann, und dort, bietet das Spannungsfeld von innerer Verfassung und äußeren Bedingungen genügend Ansatzpunkte für die Forschung: Die Vielfalt jüdischer Lebensformen, die aus solchen Auseinandersetzungen zwischen einem inneren, von innen bestimmten Streben nach einem Leben im Einklang mit den Geboten und den äußeren Gegebenheiten herkommt, in denen sie sich entwickeln sollte, kennzeichnet das Forschungsgebiet als Mosaik der Unterschiedlichkeit. Diese Lebensformen, Formen der Siedlung und Wohnung darunter, sind mehr als die bloße alltägliche Rückseite einer prinzipiell universellen, kaum veränderbaren, einer gegebenen Größe namens Religion; gerade in ihrer Vielfalt haben die alltäglichen Erfahrungen eines Lebens unter verschiedenen äußeren Umständen zu den Wandlungsprozessen von Religion und Gesetz beigetragen. Und ebenso sind die Ausprägungen jüdischen Lebens in öffentlichen Räumen immer wieder durch die Suche nach der je angemessenen Bewahrung der Gesetze mit bestimmt worden. Bestimmte Elemente gemeindlichen Lebens, das zeigt höchst anschaulich die von allen lokalen Besonderheiten absehende Ausstellung des Diaspora-Museums in Tel Aviv, sind vorausgesetzt; das gilt nicht nur für die Einrichtungen: Friedhof, Synagoge, Lehrhaus, Rabbinerwohnung, Gericht, Ritualbad, Metzgerei und Bäckerei, sondern auch für die Entfernungen zwischen ihnen. Es gibt kaum ein Thema, bei dem diese Interdependenz so deutlich sichtbar wird wie das des Eruw, der Sabbatgrenze. Zugleich ist der Umgang mit diesem Thema ein wesentliches Zeugnis für die lange, von Ungleichzeitigkeiten geprägte Periode des Übergangs in die Moderne. Sammy Gronemann läßt seinen 1920 entstandenen Roman Tohuwabohu mit einer Situation beginnen, die das illustriert: Der Talmud-Schüler Jossel Schlenker trifft, bei einem Spaziergang am Sabbat, das Mädchen Chane: mit einem Buch in der Hand „auf dem äußersten Boulevard auf der letzten Bank“.2 Sie, Chane, hat, „jedenfalls aus Fahrlässigkeit“, ein „heiliges Gebot“ verletzt, sie hat etwas über die Sabbatgrenze hinaus getragen und sitzt mit diesem Gegenstand auf einer Bank. Schlenker stellt sie zur Rede, sie verteidigt sich klug und gibt ihm bald ihr Buch zu lesen – Goethes Faust, dessen Lektüre ihn erschüttern und in der Konsequenz aus seinem Schtetl hinausführen wird, in die große Stadt Berlin und (wahrscheinlich) von dort in das Land Israel. Gronemann etabliert mit der Eingangsszene seines Romans einen „jüdischen Ort“. Für den Talmudschüler bricht die geordnete Welt zusammen, die ihm – am Sabbat – eine geschlossene innere Welt ist. Die Gesetze, die den Platz der jüdischen Gemeinde an einem beliebigen Ort – „Borytschew“ heißt er hier und soll für ein westliches Publikum das Bild des Schtetl evozieren – anders definieren, als es etwa die weltliche Herrschaft von Borytschew haben will, geben dem Raum, den er erlebt, andere Grenzen, ein anderes Aussehen, als dem Städtchen, das seine nicht-jüdischen Nachbarn bewoh2 Sammy Gronemann, Tohuwabohu, mit einem Nachwort von Joachim Schlör: Tohuwabohu. Einige Klärungen und viel mehr Fragen, Leipzig 2000, S. 10.

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nen. Was die anderen tun, interessiert ihn nicht. Erst als das Mädchen Chane, die sich doch auch an die Vorschriften halten müßte, sich lachend verweigert (und als ihr nichts Böses widerfährt und er schon keine guten Argumente mehr finden kann), wird ihm offenbar, daß man diesen einen Raum auf sehr unterschiedliche Weise wahrnehmen und nutzen kann. Die unterschiedliche Wahrnehmung und Nutzung von Räumen ist kein bloß literarisches Thema. Ihre Erforschung im Rahmen einer europäisch-jüdischen Geschichte erfordert sowohl die Kenntnis der überlieferten Gebote und Verbote, wie sie im Talmud und in den späteren grundlegenden Werken wie dem Schulchan Aruch von Josef Karo verbindlich gemacht wurden, wie eine Untersuchung der praktischen Lebensverhältnisse einer jüdischen Gemeinschaft am gegebenen Ort; auf der religionswissenschaftlichen Ebene etwa am Beispiel der Minhagim ha-makom, auf der historischen und soziologischen Ebene aber auch mit den Archivalien aus Katasterämtern und Polizeistatistiken. Im Zusammenstoß der unterschiedlichen – aber immer auch räumlich definierten – Koordinatensysteme, so könnte man vielleicht thesenhaft sagen, im räumlich zu beschreibenden Verhältnis jüdischer und staatlicher/lokaler Gesetze und Vorschriften finden wir den „Ort“ der jüdischen Geschichte in Europa. Das wird am Beispiel des Eruw besonders deutlich. Ein räumlich umschriebener Ort, der über die ganze Woche hinweg für Juden und Christen nicht nur das gleiche Aussehen, sondern auch weitgehend die gleiche Funktion hat, verändert sich am Sabbat für die Juden aufgrund der Religionsgesetze, während er für die Christen unverändert bleibt. Mit dem Abriß von Stadtmauern, die (wie Flußläufe oder andere natürliche und von Menschen gemachte Begrenzungen) in den Eruw integriert waren, stellt sich für die jüdischen Gemeinden die Frage, ob die Sabbatgrenze wiederhergestellt werden soll oder nicht. Das raumbildende Element des Eruw wird zum Prüfstein für die Zukunft der Gemeinde und ihre religiöse Entwicklung. Von Wohnungen, Häusern, Nachbarschaften, Straßen oder Stadtvierteln zu reden ohne den Rückgriff auf die religionsgeschichtlich überlieferte Bedeutung von Räumen, wäre (oder ist) ebenso hinfällig wie der Versuch, Judentum ortlos zu beschreiben. Die Vermischungen, von denen das Talmud-Traktat Eruwim handelt, äußern sich topographisch. Die Schwierigkeiten des „im praktischen Leben stehenden Juden“, zugleich die Gesetze zu befolgen und ihrer praktischen Anwendbarkeit „Herr zu werden“, kennzeichnen die Situation jüdischer Gemeinden (und einzelner Menschen) durch die Jahrhunderte. Im Lauf der Zeit, im Prozeß der Öffnung, wird diese Situation drängender; aber sie ist von allem Beginn an gegeben. Auseinandersetzungen über Abschaffung oder Neudefinition des Eruw sind uns vor allem aus der Zeit der beginnenden Modernisierung bekannt – als zeichenhafte Ankündigung für den Weg, den eine Gemeinde einschlagen will.

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Grenzen und Zwischenräume Diese Debatten sind aus dem Blickwinkel der Stadtforschung oder der Raumplanung allein nicht zu erfassen; im Rahmen der Religionswissenschaft sind „Topographien jüdischer Erfahrungen“ häufig nur nebenher behandelt worden.3 Die jüdische Religion sieht ihren eigenen Anfang mit einem Ortswechsel begründet. Gott schickt Abraham aus seinem Vaterhaus und Geburtsland, in ein Land, das er ihm zeigen werde (Gen 12). Im verheißenen Land angekommen, läßt die Bibel Abraham längs und quer durch das Land ziehen, um daselbst Altäre für seinen Gott zu errichten – an Orten, die zuvor den kanaanäischen Gottheiten vorbehalten waren, auch seine Nachkommen werden ihm darin folgen. Die Abrahamiten schaffen sich ihren Ort in der neuen Geographie mit einem Netz von Heiligtümern für ihren Gott. Damit wird das Land zum Land Israel.

Von allem Anfang an, heißt das, ist der jüdischen Religion das Merkmal der Ortsveränderung eingeschrieben. Außerhalb des Landes entstanden, auf das sich alle Hoffnungen richten, enthält die mit dem Begriff des Landes Israel so eng verbundene Gesetzesreligion von vornherein ein Moment der Ortlosigkeit und der Suche. Auch als Jerusalem zur „alleinigen Inhaberin der göttlichen Würde“ heranwächst und „das einzige Heiligtum des Gottes Israels“ bildet, „Gottes Wohnort, der Götterberg, oder der Ort, an dem er seinen Namen wohnen läßt“, bleibt dieses Moment erhalten, bleibt die Erinnerung wirksam. Im Babylonischen Exil wird Jerusalem zum „Zukunfts- und Hoffnungsort“ derer, die zurückkehren wollen, derer, die zurückkehren – und ebenso derer, die im Exil bleiben. Ihnen entfernte sich Jerusalem und wurde von da aus zum Bild der unerreichbaren – oder nur in einer messianischen Zukunftserwartung erreichbaren – Himmelsstadt: „Geographisch der selbe Fleck Erde“, so Karl-Erich Grözinger, „doch immer wieder ein anderer, ein neuer Ort, ein veränderter Topos jüdischer Erfahrung.“ In der europäischen Diaspora erhielten viele Orte den Beinamen eines Jerusalem: in Frankfurt a. M., in Wilna, an den Wohnsitzen chassidischer Wunderrabbiner, als Metapher für Orte jüdischer Gelehrsamkeit – „Jerusalem in Europa, gelöst von der Geographie, was es recht eigentlich schon immer war“. Damit ist der Kern dessen getroffen, was hier behandelt werden soll. „Gelöst von der Geographie“ erscheint dem Historiker als merkwürdige Zuschreibung im Rahmen eines Textes über Siedlungsformen – da soll es doch so konkret wie möglich zugehen. Aber genau an diesem Festhalten am Bild des scheinbar Konkreten kranken die historischen Darstellungen solcher Wohnorte zumeist. Sie waren konkret, freilich. Aber sie waren zugleich schwebend, imaginär, „wirklich“ nur in ihrer Beziehung zum weit entfernten und eben in dieser Entfernung so präsenten Jerusalem. Ha-makom (zugleich einer der Namen Gottes4) ist in einem ganz tiefen Sinn 3 Die folgenden Überlegungen verdanke ich Karl-Erich Grözinger, der sie für ein Graduiertenkolleg „Ort und Orte im Judentum“ in den Jüdischen Studien an der Universität Potsdam formulierte; ich danke ihm sehr herzlich für die Möglichkeit, einige Gedanken daraus hier einzubauen. 4 Dazu Grözinger: Das Wort Makom, der „Ort“, kommt alleine im babylonischen Talmud nicht weniger als 3 585mal vor, nimmt man den Jerusalemer Talmud und die Midraschim hinzu, so sind es in

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das Symbol für den Zusammenhang von Ortsbindung und Ortlosigkeit, von Exil und Heimat. Die historische Forschung kann nicht bloß am „konkreten“ Ort ansetzen, wenn dieser Ort zugleich Elemente von Ortlosigkeit enthält. Sie muß sich – wie die Demographie und „Bevölkerungswissenschaft“, wie die Kultursoziologie – vielmehr im Bereich der Grenzen und Übergangszonen zwischen den beiden Koordinatensystemen ihren Beobachtungspunkt suchen. Studien über Siedlungsformen im Mittelalter und der Frühen Neuzeit sind in den letzten Jahren vor allem aus dem Trierer Sonderforschungsbereich „Zwischen Maas und Rhein: Beziehungen, Begegnungen und Konflikte in einem europäischen Kernraum von der Spätantike bis zum 19. Jh.“ und dort wiederum in dem von Alfred Haverkamp geleiteten Projekt „Zur Geschichte der Juden im hohen und späten Mittelalter in der Landschaft zwischen Rhein und Maas und angrenzenden Gebieten“ hervorgegangen. Franz-Josef Ziwes eröffnete die neue Reihe von „Forschungen zur Geschichte der Juden“ mit seiner grundlegenden Arbeit „Studien zur Geschichte der Juden im mittleren Rheingebiet während des hohen und späten Mittelalters“.5 In seiner Einleitung beschreibt Ziwes, unter Berufung auf Ludwig Feuchtwanger und andere, ein sehr prinzipielles Problem: Jüdische Geschichte läßt sich nicht einfach parallel zur allgemeinen Geschichte periodisieren; andere Ordnungskriterien sind nötig, wenn das Innere der jüdischen Geschichte angemessen vor dem Hintergrund der allgemeinen Geschichte – nun ja, „verortet“ werden soll. Die Entstehung der Germania Judaica als einem „alphabetischen Verzeichnis aller Ortschaften des deutschen Reiches, an denen von den ältesten Zeiten bis zu den Wiener Verträgen jüdische Ansiedlungen bestanden haben“,6 begonnen 1903, kann als eine praktische Antwort auf diese Herausforderung angesehen werden: Statt im allgemein verbindlichen Ordnungssystem jeweils nach den „Spuren“ jüdischer Präsenz zu suchen und so die Darstellung der jüdischen Geschichte ohne Bezug auf die ihr eigenen, oft „amorphen“ Raum- und Zeitgrenzen, ohne die „jüdischen Zusammenhänge“ zu instrumentalisieren, sollte sozusagen der Standort der Forschung – sehr modern, wenn man so will – dort sein, wo die Gruppe, die man untersuchen wollte, in ihrer historischen Zeit sich jeweils befand. Die Art des Zugangs, rechts- und verfassungsgeschichtlich, oder mit dem Blick auf das Thema der Verfolgung und Vertreibung, oder von innen her, mit einem Schwerpunkt auf Fragen der Erziehung und der Verfaßtheit dieser antiken jüdischen Literatur schon 12295 Belege. Orte werden nach ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten benannt, z. B. als Ort des Meisters, an dem der Schüler nicht lehren darf, als Ort bestimmter Bräuche; Frankfurt am Main figuriert bis heute in jüdischen Gebetbüchern als Ort bestimmter liturgischer Regeln, ebenso Prag usw. Der Minhag ha-Makom, der Brauch des Ortes, darf nicht einmal von einem Rabbiner verändert werden, er ist heilig, Erbe der Väter dieses Ortes (Breuer). Die Apotheose des Ortes im buchstäblichen Sinne geschieht da, wo das Wort Ha-Makom als Gottesname gebraucht wird, weil nicht die Welt sein Ort, sondern Er der Ort der Welt ist (BerR 68; PesR 21). 5 Franz-Josef Ziwes, Studien zur Geschichte der Juden im mittleren Rheingebiet während des hohen und späten Mittelalters. Forschungen zur Geschichte der Juden. Schriftenreihe der Gesellschaft zur Erforschung der Geschichte der Juden e.V., hrsg. von Helmut Castritius, Alfred Haverkamp, Franz Irsigler, Stefi Jersch-Wenzel. Abteilung A: Abhandlungen, Band 1, Hannover 1995. 6 Germania Judaica I, S. IX.

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einer bestimmten Gemeinde, berichtet viel über den Standort einer „Wissenschaft des Judentums“. „Die Absicht dieser Studien ist“, so eröffnet Alexander Pinthus seine Arbeit über Die Judensiedlungen der deutschen Städte, „zu zeigen, welchen Verlauf unter wechselnden soziologischen Voraussetzungen die Entwicklung eines Wohnquartiers und damit des Stadtganzen nehmen kann, wie die Lebensbedingungen der Bewohner die Gestaltung ihres Siedlungsraumes im Plan und Aufbau und seine Einfügung in den Gesamtplan der Stadt bestimmen.“7 Auch Heinrich Gottfried Gengler beschreibt in seinen Deutschen Stadtrechtsalterthümern „die Juden-Wohnplätze“ als integralen Bestandteil der deutschen Städte des Mittelalters, neben den Mauern, den Toren, den Straßen und den Märkten.8 Wer Wesen und Funktionen einer Stadt verstehen will, kann nicht darauf verzichten, die Lage der „Juden-Viertel“ oder „Juden-Gassen“ innerhalb der Städte und die innere Organisation dieser „Wohnplätze“ mit zu erforschen. Gengler unterscheidet das Judenviertel in einem allseitig genau abgegrenzten, bald weiteren bald engeren, immer jedoch an Ausdehnung eine gewöhnliche Straße übersteigenden Stadt-Bezirke, worin die aufgenommenen und dadurch ‘wanhaftig, sesshaft und sedelhaft’ gewordenen jüdischen Familien / a. ausschließlich ihren dauernden Wohnsitz nehmen durften, so daß ihnen in allen übrigen Stadttheilen, von einzelnen zeitweiligen Ausnahmen abgesehen, die häusliche Niederlassung verboten war, und dabei zugleich / b. eine geschlossene politische Körperschaft – ‘universitas Judeorum, gemeynde van den iuden, gemeynde der ioitschaf, gemeine iuetscheit, Juden und Judischhait’ – mit vollkommen selbständiger theilweise theokratischer Verfassung, unter allgemeinem ‘koninges vrede’ und besonderer ‘beschirmenisse und huede’ des Stadtherrn und Rathes bildeten“, von der „Juden-Gasse, ‘platea s. vicus Judeorum, Jodengasse’, [die] dagegen eine gewöhnliche Stadtstraße gewesen [ist], deren Bewohnerschaft jedoch ausschließlich oder vorwiegend israelitische Familien ausmachten. Auch hier müssen wir aber nach den spärlichen Fingerzeigen der Quellen wieder ausscheiden /a. die Juden-Gasse als ZwangsWohnstätte, wenn nämlich die Juden in keiner anderen Straße sich niederlassen durften; sie war zuweilen schon daran erkennbar, daß man sie an das äußerste Ende oder in eine sonst wenig aufgesuchte Gegend der Stadt verlegt und auch wohl an den Zugängen mit verschließbaren Pforten versehen hatte […]; und / b. die Juden-Gasse als Wahl-Ansiedlungsstätte, indem das Prävalieren des israelitischen Elements innerhalb derselben nur darin seinen Grund hatte, daß die Juden überhaupt der zerstreuten Niederlassung an verschiedenen Punkten der Stadt das gesellschaftliche Zusammenleben in gemeinsamen Wohnbezirken stets vorzogen.9

Die lokalen Verhältnisse waren, wie konnte es anders sein, höchst unterschiedlich. Eindeutig stellt sich etwa in Nürnberg die Entstehung eines eigenen Juden-Bezirkes „als die Frucht jüngerer Ereignisse und Erfahrungen, insbesondere einer mit allen Gräueln und Schrecken durchgekosteten Verfolgung und Vertreibung der jüdischen Bewohner“ dar; in Köln finden wir andererseits selbst das Rathaus (‚domus civicum‘) der Stadt mitten im Juden-Bezirk (‚inter Judeos‘) gelegen. Private Wohnhäuser und Gewerbebauten, dazu die Synagoge, ein Schlachthaus, ein Gemeinde- oder Spielhaus, eine Kranken- und Altenpflege7 Alexander Pinthus, Die Judensiedlungen der deutschen Städte. Eine stadtbiologische Studie. Diss. TH Hannover 1929/1931, S. 7. 8 Deutsche Stadtrechts-Alterthümer, von Heinrich Gottfried Gengler, Erlangen 1882, S. 97–120. 9 Ebd., S. 101f.

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Anstalt, ein eigenes „hie und da mit einer Herberge verbundenes und einem Wirthe als phleger übertragenes“ Badhaus – das ist die Grundstruktur, zu der, als durchaus wesentlicher Bestandteil, noch die Mauern, Tore oder Gräben kommen, die das Judenviertel von der übrigen Stadt abtrennten: ob streng und tatsächlich oder nur symbolisch (durch Stricke oder Eisendrähte), das hing von den äußeren Umständen ab, vom jeweiligen Zustand des „Verhältnisses“. Die Willkür lag auf der äußeren Seite, die Öffnung oder Schließung bestimmen konnte. Franz-Josef Ziwes führt als dritten, „vermittelnden“ Untersuchungsbereich das Thema der „horizontalen Mobilität der Juden“ ein. Im Migrationsverhalten der Juden, das – so Ziwes – den christlichen Zeitgenossen „als Verkörperung dauernden Unterwegsseins“ erscheinen mochte, bilden sich, auch wenn die Quellenlage für das Mittelalter hier dürftig ist, sowohl religiös-kulturelle wie ökonomische Motive jüdischer Existenz an einem Ort, oder eben: zwischen Orten, ab. Die Suche nach den Motiven für Mobilität berührt wiederum den Zwischenraum, der von objektiven Faktoren wie Herrschaftswechsel, Zuwanderung von außerhalb, Vertreibungen und Verfolgungen ebenso geprägt ist wie von subjektiven Impulsen wie der Suche nach einem besseren Leben. Viele jüdische Viertel lagen, wie in Frankfurt, in den oder am Rande der Stadtzentren. Die Siedlungsverlegungen innerhalb der Städte, die nicht immer vom Zentrum an die Peripherie führen mußten, waren aber keineswegs erste Schritte auf dem Weg ins Ghetto, wie Alfred Haverkamp bereits in einem Beitrag über Lebensbedingungen der Juden im späten Mittelalter ausführte. Auch in Judenvierteln, die durch Mauern, öfter aber durch Seile von den Nachbarvierteln abgegrenzt waren, war die ‘cohabitatio’, das nachbarschaftliche Nebeneinander von Christen und Juden, keine Seltenheit. Die Beschlüsse des vierten Laterankonzils oder auch des Basler Konzils von 1434, die auf einer räumlichen Trennung von Christen und Juden innerhalb der Städte bestanden, ließen sich offenbar nur schwer durchsetzen.10

Für die Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit hat Michael Toch (Jerusalem) die Siedlungsstruktur der Juden Mitteleuropas nachgezeichnet.11 Toch diskutiert die These, „daß die Juden insgesamt und auch topographisch an die Peripherie gedrängt wurden“, und kommt zu dem Schluß, daß es wohl auf der einen Seite „klare Fälle von obrigkeitlichen Umsiedlungsaktionen aus den zentral und günstig gelegenen Siedlungsarealen in peripher und verkehrsmäßig ungünstig gelegene Viertel“ gab; allerdings lassen sich ebenso viele, wenn nicht mehr Fälle nachweisen, in denen Gemeinden bei einer Wiederansiedlung „an ihrem alten, günstigen Areal“ angesiedelt wurden: „Die große Mehrheit der überlieferten Fälle weist auf eine eindeutig zentrale und verkehrsgünstige Lage der Judensiedlungen nach 1350 hin, eine Lage, wie sie etwa durch Nähe zum Hauptmarkt und zu den großen Durch10 Alfred Haverkamp, Lebensbedingungen der Juden im spätmittelalterlichen Deutschland, in: Zerbrochene Geschichte. Leben und Selbstverständnis der Juden in Deutschland, hrsg. v. Dirk Blasius u. Dan Diner, Frankfurt am Main 1991, S. 11–31. 11 Michael Toch, Siedlungsstruktur der Juden Mitteleuropas im Wandel vom Mittelalter zur Neuzeit, in: Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters, hrsg. v. Alfred Haverkamp u. Franz-Josef Ziwes (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 13), Berlin 1992, S. 29–40.

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gangsstraßen, in kleineren Orten auch zur Burg definiert wird.“12 Für den Übergang zur Frühen Neuzeit konstatiert Toch eine Tendenz „zur kleineren Stadt als jüdischem Siedlungsort“ und richtet die Aufmerksamkeit zugleich auf die erhebliche Bedeutung dörflicher Siedlungen, die in einem „Gürtel“ massiert sind, der vom Elsaß über die Pfalz, Baden, Württemberg und Hessen nach Franken reicht. Parallel zur mittelalterlichen Siedlungsgeschichte in Deutschland muß die Geschichte der „Judería“ in den Städten der Iberischen Halbinsel geschrieben werden. Sie steht in zwei Zusammenhängen; einerseits finden wir Zeugnisse über das Leben der Juden unter muslimischer Herrschaft, ab 711 u.Z. und, im Zuge der Reconquista, vor allem im Süden Spaniens, in Andalusien. Die Synagogen und ihre Umgebung in Córdoba und Sevilla stehen beispielhaft für „das Gesellschaftsmodell der großen jüdischen Gemeinden von Al-Andalus“: eigenständig, aber nicht isoliert; stark arabisiert im Sprachverhalten; relativ wohlhabend und interessiert an Wissenschaft und Bildung. Andererseits kennen wir Zeugnisse jüdischer Gemeinden unter christlicher Herrschaft in Spanien. Dafür können Barcelona, Girona oder auch Toledo als Beispiele genannt werden. Trotz der offensichtlichen Unterschiede gilt: „Alle mittelalterlichen jüdischen Gemeinden Spaniens waren autonom und voneinander unabhängig.“13 Mit dem Begriff der Aljama bezeichnet man „die juridische Körperschaft, die die Juden eines Ortes zusammenfaßte und ihr Leben bestimmte. Auch die Regeln und Statuten, die gemeindeintern als Zivil- und Strafgesetzbuch dienten, wurden von ihr ausgearbeitet.“ Die Aljama regelte also das innere jüdische Leben, kümmerte sich um den Unterhalt der Rabbiner und Synagogendiener; sie erhob Steuern für die Finanzierung von Wohlfahrtseinrichtungen. Geführt von einem Ältestenrat aus den wohlhabenden und einflußreichen Familien, war die einzelne Aljama berechtigt, ihre eigenen Vorschriften auszuarbeiten. Ansätze zu einer Konföderation gab es vor allem im 14. Jh. im Königreich Kastilien. José Luis Lacave schreibt: „Egal, ob es Gesetze gab, die den Juden verboten, sich in einem beliebigen Teil der Stadt anzusiedeln, zeigte sich eine Tendenz zur Konzentration auf eigene Viertel, die je nach Stadt sehr verschieden sein konnten. Die großen Judenviertel waren meist sehr geräumig – außer in Barcelona, wo die Gemeinde (auch ,Call‘ genannt) immer mit Platzproblemen zu kämpfen hatte. Die kleineren bestanden dagegen nur aus einer einzigen Straße. Normalerweise lag das Judenviertel im Herzen der Stadt, in einer ,sicheren‘ Zone, neben der Stadtmauer oder den Befestigungsanlagen. In einigen Städten, wie z. B. Tudela oder Soria, lebten die Juden sogar innerhalb der Burg. Abgesehen von den großen Judenstädten bestand das Judenviertel üblicherweise aus einer Hauptstraße (,calle mayor de la judería‘ und ,plaza mayor de la judería‘), um die herum sich eine Reihe kleiner und größerer Gassen gruppierte, die teilweise Sackgassen waren. Im 15.Jh. wurden die Juden allerdings in vielen Städten gezwungen, ihre Viertel zu verlassen und sich in anderen anzusiedeln, die da12

Ebd., S. 32. José Luis Lacave, Die Juden in Spanien bis 1492, in: Spharadim-Spaniolen, Die Juden in Spanien bis 1492. Die sephardische Diaspora, hrsg. v. Felicitas Heimann-Jelinek u. Kurt Schubert (= Studia Judaica Austriaca, Bd. XIII), Eisenstadt 1992, S. 7–21; hier S. 19. 13

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mals am Stadtrand lagen.“14 Seit 1992, 500 Jahre nach dem Vertreibungsedikt der katholischen Könige, wurde in Spanien (und teilweise auch in Portugal) die Recherche über die Geschichte der „juderías“ stark intensiviert. Die beste Zusammenstellung, einschließlich topographischer Karten, stammt von José Luis Lacave und erschien 1992 unter dem Titel Juderías y Sinagogas Espanolas in Madrid. Der regionale Aufbau der Studie erlaubt einen Einblick in die Vielfalt jüdischer Siedlungsformen auf der Iberischen Halbinsel. Die Chronologie zeigt uns eine Geschichte in Bewegung, die als prinzipielles, sozusagen fortlaufendes Element das Bild einer Gemeinschaft in Kontakt mit ihrer Umwelt enthält. Besonders unter der muslimischen Herrschaft erlaubte sich die Gemeinde selbst „eine Offenheit für Umweltkontakte“ und eine „volle jüdische Teilnahme“ an der weiteren Kultur und Zivilisation, während die Isolierung von der christlichen Umwelt in den „wiedereroberten“ Städten weit stärker ausgeprägt war.15

Abgrenzungen und Rückzugsgebiete Die Einrichtung eines Ghettos in Venedig – geschildert bei Gallimani16 – wird als historisches Ereignis wie auch als literarisches Zeugnis zum Prototyp einer bestimmten Form der Wahrnehmung: Das geschieht, wenn eine weltliche oder christliche Macht die Juden in ihrem Herrschaftsbereich dazu zwingt, in einem eng begrenzten, genau definierten Bereich Wohnort zu nehmen, ausgesondert und an den Rand gestellt. Über fast drei Jahrhunderte hatte das Prinzip von Anziehen und Abstoßen, von zeitweiliger Zulassung und spontaner Zurückweisung die Lebenssituation der Juden in Venedig bestimmt, und tatsächlich „pendelten“ (Gallimani) die Kaufleute schon im 15. Jh., je nach Beschlußlage, zwischen dem Festland und der Inselrepublik hin und her. Der Beschluß des Senats vom 29. März 1516 stellt eine neue Qualität her: „Die Juden müssen alle gemeinsam in dem Komplex von Häusern wohnen, die sich im Ghetto bei San Girolamo befinden, und damit sie nicht die ganze Nacht umhergehen, seien an jener Seite des Ghetto Vecchio, wo es eine kleine Brücke gibt, und gleichermaßen an der anderen Seite der Brücke zwei Tore errichtet, das heißt je eines für die beiden genannten Orte. Jenes Tor muß morgens beim Klang der Marangona-Glocke geöffnet und abends um 24 Uhr durch vier christliche Wachen zugesperrt werden, die dafür von den Juden angestellt und bezahlt werden zu dem Preis, der Unserem Kollegium angemessen erscheint.“17 Der Begriff des Ghetto hat heute eine uneingeschränkt negative Bedeutung. Was in Venedig seinen Namen erhielt, gilt als Inbegriff der Zurückweisung jüdischen Lebens hinter verschlossene Mauern, der Verweigerung des Kontakts zwischen Christen und Juden. Zumal 14

Ebd., S. 19f. Johann Maier, Hebräische Dichtung in Spanien, S. 53. 16 Ricardo Gallimani, Die Kaufleute von Venedig. Die Geschichte der Juden in der Löwenrepublik, München 1990. 17 Ebd., S. 67. 15

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der Begriff durch die Ghettos der nationalsozialistischen Okkupation in Polen den Beiklang einer Vorstufe zum Vernichtungslager hat. Manès Sperber macht allerdings darauf aufmerksam, daß diese eindimensionale Betrachtungsweise der Ambivalenz des Lebens im Ghetto nicht gerecht wird. Die Dialektik von „innen“ und „außen“ ist auch schon im Venedig des 16. Jhs. vielfältiger, als es den Anschein hat. Nicht nur hilft das Dekret der Abschließung, von innen her gesehen, das Gebot des Zusammenbleibens zu erfüllen; die Dialektik von Trennung und Selbstfindung reicht tiefer: „Um eine auf entmenschende Erniedrigung abzielende Unterdrückung zu überstehen, ohne in sich selbst entwürdigt zu werden, muß man täglich aufs neue ‘das Recht auf Achtung vor sich selbst’ und vor den Eigenen erringen.“ Gerade daraus, aus dieser zwangsweise, und täglich, auferlegten Übung, schöpften die Bewohner der Ghettos die Kraft für zwei Existenzen: eine im Blick der regelmäßig feindlichen Umwelt, die andere unter den Eigenen, hinter den Mauern. Die Umwelt legte den einzelnen den Zwang auf – etwa durch den gelben Fleck, den roten Hut, durch Berufsverbot und österliche Pogrome –, den Zwang, sich selbst zu demütigen, sich so zu verhalten, daß es dem Feindbild entsprach. So wurde „Mimikry das Gesetz jüdischen Verhaltens“. Daß solche Mimikry ein Moment von Freiheit enthalte, ist eine provozierende These. Der einzelne verlor in den Augen der anderen seine Persönlichkeit, wurde nur noch als Angehöriger der verachteten Gruppe angesehen. Nach „außen“ hin wirkte die Mimikry zur Bestätigung der Vorurteile, nach „innen“ aber, so schreibt Manès Sperber, war die Wirkung eine ganz andere: „Auf engstem Raum zusammengedrängt, gewöhnlich in unmittelbarer Nähe stinkender Abwässer und abscheulicher Misthaufen, in Gäßchen, in die kein Sonnenstrahl drang, lebte, betete und arbeitete man unter dem erkauften Schutz kleiner oder größerer Machthaber. In der Judengasse ,repersonalisierten‘ sich die Ausgestoßenen.“18 Zwischen Depersonalisierung draußen und Repersonalisierung drinnen, im Innern und Schutz des Ghettos, ergab sich eine Zweiteilung der Persönlichkeit analog der Zweiteilung des äußeren Raums und deren Gesetzen folgend. „Mitten in ihrem mit Ketten abgesperrten Viertel, dessen Wächter ihnen nächtens den Zutritt zur Stadt verwehrten, innerhalb ihrer vier Wände waren die Bewohner des Ghettos keineswegs unglücklich, Juden zu sein. Je schwerer man ihnen das Leben machte, um so inniger glaubten sie an ihre Auserwähltheit und das nahe Kommen des Messias. Überdies waren draußen in der ungerechten Welt die Armen noch ärmer als sie.“19 Das Ghetto von Venedig bestand bis zum Einmarsch der napoleonischen Truppen. Am 19. Messidor 1797 wurde ein Dokument der Provisorischen Munizipalität veröffentlicht: „Damit sichtbar wird, daß es keine Trennung zwischen ihnen und den anderen Bürgern der Stadt (mehr) gibt, sollen sofort jene Tore entfernt werden, die in der Vergangenheit den Bezirk des Ghettos einschlossen.“20 Das ist das Echo der Trennung, in ihrer Aufhebung noch spürbar. Venedig war zum Modell geworden: für die Erfahrung der christlichen Mehrheits18 Manès Sperber, „Bis ans Ende aller Tage?“, in: Churban oder die unfaßbare Gewißheit. Essays, München 1983, S. 7–29; hier S. 17. 19 Ebd., S. 18. 20 Gallimani, Die Kaufleute von Venedig, S. 387.

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gesellschaft, daß es möglich (und unbestraft) war, die Juden abzuschließen; aber auch für die Erfahrung der Juden, daß es möglich war, der erzwungenen Abschließung eine innere Kreativität abzutrotzen, die sich gleichfalls dem Ghetto „verdankt“. Diese zwiespältige Erfahrung hat das Gefühl, „im Ghetto“ zu leben, auch in Zeiten weitergereicht, als offiziell die Mauern gefallen, die Tore geöffnet waren. Das ist, räumlich definiert: nämlich als Öffnung hin zur Außenwelt, symbolisch für den Beginn der Periode von Emanzipation, Akkulturation und zunehmender Integration zu lesen. Während aber in den westlichen Ländern, zumal in Deutschland, der langsame Aufstieg in das Bürgertum beginnt, eine Entwicklung, die den Zug vom Land in die Städte zugleich voraussetzt und zur Folge hat, während etwa das Landjudentum Württembergs21 in das „neue Jerusalem“ Stuttgart zieht, vollzieht sich, kaum wahrgenommen von diesem neu sich formierenden westeuropäischen Bürgertum, im Osten Europas eine andere und zugleich parallele Entwicklung.

Schtetl-Bilder In keiner anderen Region Europas war die innere kulturelle Autonomie jüdischer Gemeinden so ausgeprägt wie in Polen. Die „kehilla“, die Gemeinde, verfügte im sogenannten „Goldenen Zeitalter der Juden in Polen“, nach 1348 und – mit regionalen Unterschieden und gelegentlichen Einschränkungen – bis zum Zerstörungssturm des Bogdan Chmel’nickij 1648 in einem Maße über sich selbst, über die innere Verwaltung und Gerichtsbarkeit, wie es anderswo nicht zu finden war. Während die Situation in den größeren Städten, Warschau und Krakau zumal, sich von der im Westen Europas nicht grundsätzlich unterschied – für Warschau wird 1430 von einer „Judengasse“ berichtet, nach der Vertreibung 1483 erhielt die Stadt das privilegium de non tolerandis judaeis; in Krakau wurden die Juden 1494 aus der Stadt verdrängt und im benachbarten Kazimierz angesiedelt, wo sich ihre „geschlossene Siedlung“ bis heute erhalten hat –, liegt ein wesentlicher Unterschied bei den Siedlungsformen im ländlichen Bereich. Zentraler für die Wahrnehmungsgeschichte jüdischer Lebensformen im Osten Europas, in Polen, in Galizien, in Podolien ist das Bild der kleinen Stadt, des „Städtels“ oder „Schtetls“. Im Osten Europas, so Manès Sperber, bildete nicht das Ghetto, sondern das Städtel die typische ostjüdische Gemeinde, deren Einwohner sich keineswegs als eine ausgestoßene, abgesonderte Minderheit betrachteten. Sie bewahrten ja die absolute Mehrheit in ihrem Wohnort und formten ihre Lebensweise nach ihrem eigenen Gutdünken und stets in unfehlbarer Treue zu ihrem Glauben und dessen Geboten,

sie erfuhren daraus ein Gefühl der kulturellen Überlegenheit. Die Literatur des Schtetl spiegelt denn auch weniger das Erlebnis der Erniedrigung, sondern die „ungewöhnliche geistige, aber auch physische Vitalität und Intensität ihres Wesens“. 21 Endlich ist im Jahr 1999 die lang erwartete Neuauflage von Utz Jeggle, Judendörfer in Württemberg, mit einem Vorwort von Monika Richarz (Erstveröffentlichung 1967) wieder erschienen.

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Das Leben im Schtetl wurde von dem aus Polen stammenden amerikanischen Forscher Mark Zborowski, in Zusammenarbeit mit Elisabeth Herzog, in einer bis heute unerreichten ethnologischen (im US-Terminus: anthropologischen) Studie, Life is with People,22 geschildert. Den Ausgangspunkt bilden hier, neben einer historischen Hinführung, „The Road to the Shtetl“, und einem Ausblick, „As the Shtetl sees the World“, die religiös bestimmten Lebensabschnitte und Zugehörigkeitsformen. Auch diese bilden sich im Raum ab. Wenn das Diaspora-Museum also die Organisation einer traditionellen Gemeinde mit einem symbolischen Modell präsentiert, so steht dahinter die Idee einer universell gültigen inneren Struktur aus Elementen, die sich von Ort zu Ort nur in Äußerlichkeiten, aber nicht prinzipiell, unterscheiden. Die Erforschung von Siedlungsformen steht dazu nicht im Widerspruch; sie beschäftigt sich nur mit den lokalen Ausprägungen des gültigen Musters. Die Frage nach dem Standort von Synagoge, Mikwe, Schule und den anderen Einrichtungen und nach dem Verhältnis dieser Standorte zum Ordnungsmuster des gesamten Ortes ist von großer Bedeutung für das Leben der Gemeinde. Bauliche Vorschriften und Einschränkungen, räumliche Situierungen (abseits, in Höfen oder an der Straße), Größenverhältnisse etwa zwischen Synagoge und Kirche, Entfernungen und Maßstäbe, gewählte oder zugewiesene Nachbarschaften geben Aufschluß über das Verhältnis von innerer und äußerer Verfassung. Dabei macht gerade die berühmte Studie von Zborowski/Herzog deutlich, wie stark idealisiert das Bild des Schtetls – oder, vergleichbar, auch das der „Gasse“ in den kleineren Städten von Böhmen und Mähren – selbst in der wissenschaftlichen Literatur ist. Noch die Bilder der Verbindung zwischen dem Schtetl und dem Land Israel drücken sich in ortsgebundenen Vorstellungen aus. Manès Sperber beschreibt die Sehnsucht der Chassidim von Zablotow, an dem Tag, wenn der Messias kommt, auf einem Band aus Zigarettenpapier von Galizien nach Israel hinüberzuwandern. Die Wiener Literaturwissenschaftlerin Viktoria Lunzer-Talos hat in einer überzeugenden historischen Rekonstruktion des Ortes Zablotow – zu dessen Reichtümern eben eine Fabrik für Zigarettenpapier zählte – die materielle Basis geliefert, aufgrund deren die Existenz der „Luftmenschen“ und ihr Bild von der Welt nachvollziehbar werden. Sie mußte zugleich die von Manès Sperber entworfenen Bilder korrigieren: Zu seiner Jugend hatte der Ort nicht 90%, sondern nur 50% jüdische Einwohner; die Industrialisierung war schon viel weiter fortgeschritten, und neben den chassidischen „Luftmenschen“ hatten sich längst sozialistische, bundistische, zionistische Gruppierungen herausgebildet. Das „Schtetl“ verstädterte, oder aber es erlebte eine Abwanderung vor allem der Jugend in die größeren Städte. Eine Etappe auf diesem Weg der Urbanisierung sei noch erwähnt. Der Kleinstadt wird ein eigener Charakter zugesprochen, auch von denen, die sich um größere Objektivität bemühen: „Bis kurz vor der zweiten Hälfte des verflossenen Jahrhunderts konzentrierte sich das Leben der östlichen Judenheit fast ausschließlich in der Kleinstadt, die im Unterschiede von der Kleinstadt unserer Zeit, deren Charakter unter dem nachhaltigen Einfluß der groß22 Mark Zborowski und Elisabeth Herzog, Life is with People. The Culture of the Shtetl, Introduction by Margaret Mead, New York 1962 (dt. Ausgabe: Das Schtetl, München 1992).

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städtischen Zentren mehr und mehr verblaßt, und die in den Strudel der industriellen Tätigkeit immer unaufhaltsamer hineingezogen wird, ihre patriarchalische Lebensweise und ihr eigentümliches Gepräge unversehrt bewahren konnte. In weit größerem Maße als die Provinzstädte der nicht-jüdischen Umwelt stellte die jüdische Kleinstadt eine Welt für sich dar, die in wirtschaftlicher Beziehung allerdings sehr viel zu wünschen übrig ließ und dem modernen Kommis-Voyageur mit seinem stark entwickelten Gefühl für alles Große in räumlichem Sinne ganz gewiß nichts Interessantes zu bieten hätte, die aber in ihrer charaktervollen Eigenart auf jede sinnige und nachdenkliche Natur einen starken Reiz ausüben mußte.“23 Deutlicher wurde selten formuliert: daß der „Reiz“ des Betrachteten einzig im Auge des Betrachters liegt. Die Auflösung wird von Seligmann so beschrieben: Aber die Kleinstadt konnte nicht ewig in dem Bannkreis ihrer traditionellen Anschauungen verharren und ihre Selbständigkeit aufrecht erhalten, denn endlich nahte der Zeitpunkt, wo sie in intime Berührung mit den großstädtischen Zentren gelangte. Der Kleinstädter konnte nicht länger in seinen vier Wänden verbleiben, er sah sich genötigt, in die große Stadt zu gehen, wo ihm verlockende Aussichten auf Verdienst winkten, und wenn er auch in seinem Heimatort sitzen blieb, so war es schon nicht mehr der Kleinstädter von gestern, denn er stand bereits unter dem mächtigen Einfluß der aus der großen Stadt importierten Vorstellungen und Gedanken, die seine früheren Anschauungen zersetzten.

Es gelang aber, fährt Seligmann fort, der Großstadt nicht, die Kleinstadt ganz zu verschlingen. […] Der Kleinstädter der neueren Formation hat bereits die Wirkungen des großstädtischen Lebens und der modernen Denkweise in dieser oder jener Form zu spüren bekommen, er hat schon meistens die großstädtische Kultur gerochen, und die intensive Arbeit der jüdischen aufklärerischen und revolutionären Intelligenz ist an ihm nicht spurlos vorübergegangen, denn sie hat in seinem Geiste Fermente geworfen, die ihn aufwühlten und in einen Zustand nervöser Spannung brachten.24

Das ist im Grunde nur die Beschreibung einer sehr allgemeinen Entwicklung und nicht spezifisch für das Judentum. Aber gerade das gelingt dem Diskurs über die jüdische Kultur – und darin auch: einem antisemitischen Diskurs, der dankbar aufgreift, was ihm serviert wird: Diese Entwicklung zur modernen Gesellschaft, als deren Signum die große Stadt erscheint, die Zerstörende, die Zersetzung wird als eine spezifisch jüdische gezeichnet. Die Juden gelten zumindest als ihre Vorreiter, als die am besten darauf Vorbereiteten.

Auf dem Weg in die großen Städte Noch in den großen Städten der Moderne können die Ghettos, die keine wirklichen Ghettos mehr sind, wenigstens für die erste Generation von Einwanderern, für die Phase der Orientierung, ihre überlieferte Schutzfunktion aufrechterhalten. Die Welt „draußen“ ist näher, lauter, aufdringlicher als zuvor. Vor allem ist sie, mehr und mehr, Schritt für Schritt: 23

Raphael Seligmann, Die jüdische Kleinstadt und die jiddische Literatur, in: Süddeutsche Monatshefte. Kriegshefte, Februar 1916, S. 802–12; hier S. 805, 807. 24 Ebd.

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zugänglich. In diesem Moment begegnen sich zwei literarische Tendenzen. Jüdische Autoren beginnen damit, die Welt „außerhalb“ – jiddisch viel schöner: ‘arum’ – zu beobachten und zu beschreiben, und von „draußen“ kommen Journalisten, Sozialreporter und Schriftsteller, um die ihnen eigenartig erscheinende Atmosphäre der Gasse, des Schtetl und dessen, was sie für ein „Ghetto“ halten, zu schildern. In diesem Moment setzt das nostalgische Interesse ein, das mit dem Ersten Weltkrieg einen Höhepunkt erlebt, als etwa Soldaten des deutschen Heeres, und die Juden unter ihnen, wie Hermann Struck oder Sammy Gronemann, sich unversehens und unvorbereitet mit einer traditionellen Form jüdischen Lebens konfrontiert sahen, die sie für die „echte“ nahmen, die sie der „verfälschten“ westlichen gegenüberhielten: Denn aus dem strengen, verzichtenden und vorwärtsgewandten Antlitz des Juden, des Zeugen von der Ohnmacht der Zeit und von der Unzerstörbarkeit der vom Willen erkorenen nationalen Substanz, hatte sie die schwammige, zerfließende und nivellierte Fratze des Händlers einer nordischen Levante gemacht, bestimmt dazu, im Brei einer ewigen ‘Jetztzeit’ aller Großstädte zu verschwinden. […] Die Jugend ging erst heimlich, dann offen, erst zögernd, dann trotzig, frech und schließlich in mitleidiger Selbstverständlichkeit den Weg nach Europa, welches der Name einer genußvollen, arbeitenden und jedenfalls modernen Großstadt ist, den lockenden, rosenbestandenen, lichten Weg des Untergangs im Mischmasch.25

Das ist die frühzionistische Version vom breiten und vom schmalen Weg, und nicht nur im Judentum ist dieses Bild gerade bei denen beliebt, die selbst am breiten Weg sitzen. Diese rückwärts gerichteten Texte entstehen zu einer Zeit, als die umfassenden Prozesse der Urbanisierung die jüdische Minderheit in ganz Europa längst erfaßt hatten. Der Statistiker Jakob Lestschinsky, auf den sich auch Arthur Ruppin in seiner Soziologie der Juden beruft, feiert in einem Text von 1929 geradezu die städtische „Eigenart“ der Juden – und die moderne Gesellschaft, die „dem“ Städter endlich seinen angemessenen Platz zuweist: Die Revolution in Technik und Industrie, die im Verlaufe des neunzehnten Jahrhunderts das Antlitz der ganzen Welt von Grund aus veränderte, neue Verkehrsmittel in großer Fülle schuf, Verbindungen zwischen den entferntesten Gegenden der Welt herstellte, das Zentrum des wirtschaftlichen Lebens vom flachen Lande in die Stadt verlegte und die städtischen Klassen zu Hauptträgern der menschlichen Geschichte machte – diese Revolution bewirkte gleichzeitig die Ausbreitung der Juden über die ganze Welt, ihre Urbanisierung und ihre Konzentration in kompakten Massen.

In diesem Zusammenhang heißt es dann: Diese Urbanisierungsrevolution bewirkte die Erhöhung des Einflusses der ältesten und ohnehin schon am stärksten urbanisierten Nation Europas, eröffnete weitestgehende Möglichkeiten für die im Judentum aufgespeicherten finanziellen und kommerziellen Potenzen und Erfahrungen und schuf ein mächtig ausgedehntes Betätigungsfeld für die jüdische Beweglichkeit und geistige Regsamkeit. Nach Hunderten von Jahren, in denen es das an Irrungen und Drangsalen reiche Leben ‘eines fremden städtischen Volkes’ mitten unter agrarischen ländlichen Volksstämmen, eines wandernden Vermittlervolkes mitten unter bodenständigen, wenig beweglichen, an die Scholle gefesselten und aus ihr ihren Lebensunterhalt schöpfenden bäuerlichen Völkern geführt hatte, ‘fand sich schließlich das jüdische 25 Arnold Zweig, Das ostjüdische Antlitz. Zu zweiundfünfzig Zeichnungen von Hermann Struck [1920], Wiesbaden 1988, S. 14.

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Volk im neunzehnten Jahrhundert in der modernen Stadt wie in seinem eigenen Element’, in seinem eigenen Aktionskreis zurecht.“26

Erst in den großen Städten stellte sich, so der Statistiker, ein Gefühl nicht nur der wachsenden Gleichberechtigung, sondern selbst der „Heimatlichkeit“ ein; die Berufe, die Juden ausübten, die „verachteten Erwerbsquellen und Beschäftigungen“, wurden nunmehr wertvoll; das umgebende Leben, sagt Lestschinsky, wurde „verjüdischt“: beweglich, regsam, anpassungsfähig, wandelbar, fließend und strömend. Auf dem Hintergrund des erstarrten statischen, agrarisch-bäuerlichen Lebens machte die dynamische Figur des handeltreibenden Juden einen absonderlichen Eindruck, der aufreizend und beunruhigend wirken mußte. In dem modernen, brausenden Getriebe der Stadt dagegen ist diese dynamische Figur eine harmonische Erscheinung, und alles ringsum ist bestrebt, ihr ähnlich zu werden, sie einzuholen und zu überholen.

Aufgrund seiner statistischen Arbeiten kommt Lestschinsky dann zu einem Schluß, den auch Arthur Ruppin fast wortgleich in einen Text über das Stadtjudentum übernehmen sollte; so stellen die Juden das großstädtischste und konzentrierteste Volk dar: sie haben sich zu großen kompakten Gemeinden in den größten Städten der Welt, in den Nervenknoten des wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Lebens der Jetztzeit zusammengeschlossen27.

Das Stichwort „Nervenknoten“ schlägt eine Brücke zu den Überlegungen Georg Simmels zum großstädtischen Geistesleben und seinen Herausforderungen für die sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit des modernen Menschen.28 Jüdisches Leben in Deutschland war bis zur Mitte des 19. Jhs. ein Leben in Dörfern und kleinen Städten, „die deutsche Judenheit saß vor einem Jahrhundert“, so faßt es Felix Theilhaber mit hörbarem Bedauern über die danach eingetretene Entwicklung zusammen, „in einer Unzahl kleiner, aber in sich geschlossener Judengemeinden des Elsaß, in Unterfranken, im Schwabenländchen und am gesegneten Rhein“. In Berlin wohnten zu Anfang des 19. Jhs. 3000 Juden, es konnte sich in dieser Beziehung mit Kempen oder Lissa messen, Kleinstädten im Osten, von deren Zustrom Richtung Westen „frische jüdische Impulse“ nach Deutschland kamen. Die Kleinstadt, in der die jüdische Bevölkerung dominierte, war – nach Theilhaber – für die Juden von dreierlei Bedeutung: Sie bot eine gleichmäßige soziale Verteilung auf verschiedene Berufe, die Nähe der Natur und das einfache Leben brachten hygienisch bessere Verhältnisse als das aufreibende Milieu der Großstadt; „vom ,jüdischen‘ Gesichtspunkt“ entfaltete sich in den kleineren Städten ein ausgesprochenes jüdisches Leben. Hier wurden die Sabbate gehalten, die Feste bildeten den Kulminationspunkt des Jahres, die Lebenshaltung war eine selbstverständlich rituelle. Taufen und „Mischehen“ 26 Jakob Lestschinsky, Die Umsiedlung und Umschichtung des jüdischen Volkes im Laufe des letzten Jahrhunderts, in: Weltwirtschaftliches Archiv, 30. Band (1929 II. Hbbd.), S. 123–156; hier S. 124. 27 Ebd., S. 147. 28 Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, in: Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung. Jahrbuch der Gehe-Stiftung zu Dresden, Band IX, Dresden 1903, S. 185–206.

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waren ebensolche Unmöglichkeiten, wie sie in der Großstadt Selbstverständlichkeiten geworden sind. Das ist ein Bild der Gesundheit, der Normalität, dem nun das Bild großstädtischer Krankheit und Abweichung gegenübergestellt werden kann. „Der Einfluß der körperlichen Arbeit, das Leben in der kleinen Stadt und auf dem Dorfe brachte sie in persönlichen Konnex mit der Mutter Erde.“ Sie waren in vielen handwerklichen Berufen vertreten und waren selbst in der Landwirtschaft tätig, besonders nachdem ihnen der Ankauf von Land gestattet wurde. Aber die preußische Politik vertrieb die Juden vom Land. „Ebenso bedeutsam ist die Verstädtichung [!], die Überführung der Dorf- und Kleinstadtjuden in die Großstädte.“ Von 1895 bis 1920 ging der Anteil von Juden in Preußen, die in Städten unter 20 000 Einwohnern lebten, von 42,2% auf ca. 18% zurück, dagegen stieg der Anteil derjenigen, die in den Großstädten lebten, von 43,2% auf ca. 72%. Und: „Das Tempo, in dem sich dieser Umzug vollzieht, ist Expreßzugsgeschwindigkeit.“ Bei den Juden entstand, anders als bei der Gesamtbevölkerung, „eine Auflösung der Dorfgemeinden und der Landstädte“. Auch für die Bevölkerung existiert das Großstadtproblem. Gleichwohl verfügt Deutschland über eine bedeutende sich gleich bleibende Landbevölkerung, die ihren Geburtenüberschuß auf kleine und Großstädte verteilt. Immerhin nehmen im Reich kleinere und größere Orte an Bevölkerung zu. Das jüdische Problem kann aber in ihren Tendenzen soziologisch in die Worte gekleidet werden, daß es sich um eine völlige Entvölkerung des Landes und um eine Volkswanderung in wenige Haupstädte, insbesondere Berlin, handelt.

Die Statistik erhält bald ihre Interpretation, bei Theilhaber endet sie in einem Satz: „In der Großstadt verschwindet der Jude.“29

Großstadt-Bilder Das Bild der Übereinstimmung, der Deckungsgleichheit von städtischem und jüdischem Leben, von Stadtkultur und jüdischer Kultur wird häufig von denen entworfen, die die großen Städte ebenso hassen wie die Juden. Es ist ein Bild, das nur mit sehr viel Distanz und Vorsicht zu betrachten ist – ganz falsch aber ist es nicht. Es berührt, wenigstens, einen Rand der Wahrheit jüdischer Erfahrungen. Das Leben an einem Ort, das Verhältnis zu diesem Ort, das Verhältnis des „Judenviertels“, des Ghettos zur Gesamtstadt – das sind immer wiederkehrende Themen auch in der jüdischen Literatur. Die Mahnung von Hilde Spiel, den vielbeschworenen „Beitrag“ der Juden zur städtischen, etwa zur Wiener Kultur nicht künstlich herauszulösen aus dem Gesamtzusammenhang, der „Stadt“ heißt, bedarf so zumindest der Ergänzung: Die Geschichte Wiens läßt sich eben auch nicht ohne Bezug auf die jüdische Geschichte der Stadt schreiben. Es handelt sich um die Geschichte einer Beziehung, einer widerspruchsvollen, konfliktreichen, einer keinesfalls harmonischen, aber immer wieder fruchtbaren Beziehung zwischen der Stadt und „ihren“ Juden, ohne die sie 29 Felix A. Theilhaber, Der Untergang der deutschen Juden. Eine volkswirtschaftliche Studie, Berlin 1921, S. 56–72.

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weniger Stadt wäre, ohne die sie anders wäre, ärmer. Vielmehr, der Konjunktiv, mit dessen Hilfe eine abstrakte These sich formulieren läßt, verbirgt ja schreckliche Realität, vielmehr ist die Stadt Wien, ist die Stadt Berlin ärmer geworden, weniger Wien, weniger Berlin, weniger Stadt durch Vertreibung und Mord. Die Beschreibung und Untersuchung der jüdischen Wohngebiete in den großen Städten ist damit natürlich, ebenso wie die Auseinandersetzung mit dem Schtetl vor dem Hintergrund einer osteuropäisch-jüdisch geprägten Umwelt oder die Schilderung der Judenviertel im Mittelalter, von großer Aussagemöglichkeit im Rahmen moderner Jüdischer Studien. Aber sie ist zugleich noch stärker von Zuschreibungen und Überlagerungen geprägt. Historisches Kartenmaterial und die Analyse von raumaufteilenden Erlassen und Gesetzen erlaubt eine Rekonstruktion der Verteilung im gesamten städtischen Gebiet, die auf den Stadtplänen ablesbare Öffnung früher abgegrenzter Räume ins gesamte Stadtgebiet läßt Rückschlüsse auf das Verhältnis der Mehrheitskultur zur jüdischen Minderheit zu, einzelne herausragende Bauten – Synagogen, Gemeindezentren, aber auch private Residenzen oder Banken und Warenhäuser – berichten von einem wachsenden Selbstbewußtsein der Gemeinde. Stadt- und Geländepläne zeigen bevorzugte und benachteiligte städtische Lagen, sie zeigen Wohn- oder Industriegebiete am Wasser, an Hängen oder in Tälern, sie zeigen die Lage einzelner Viertel in ihrer Beziehung zum Machtzentrum, sie weisen die Situierung von Märkten, Haupt- und Durchgangstraßen, von Altstädten und religiösen oder bürgerlichen Zentren auf. In diesem allgemeinen Koordinatensystem der Stadt finden sich auch die jüdischen Viertel wieder – isoliert oder integriert, am Rande oder im Zentrum, in der Nähe anderer Minderheitenwohngebiete oder in der Nähe des Hafens. Auf der Grundlage solcher Daten und auf der Grundlage statistischer Erhebungen über berufliche Schichtung und andere demographische Eckpunkte läßt sich dann auch nach Raumnutzungen und Raumverhalten im jeweiligen städtischen Zusammenhang fragen. Dafür sind, neben den Stadtplänen, natürlich Texte nötig: Reisebeschreibungen, Stadtführer, Stadtgeschichten, Einwohnerstatistiken, Memoiren und Erinnerungen, literarische Texte. Philippe Tretiack hat mit seiner Studie Ville Mémoire/Peuple du Livre. Judéicité, nach einem historischen Rückblick auf die Ära des Ghettos, „la ville comme espace de circulation“ nachgezeichnet.30 Agnès Vince widmete den Städten Prag, Wien und Paris ihre Untersuchung Makom als essai sur la forme urbaine des quartiers juifs.31 Hier stehen die Dimensionen des Innen und Außen und die Beziehung zwischen einem von den religiösen Gesetzen geprägten Leben und den „lokalen“ Gesetzen im Mittelpunkt. In ihrer Studie The Jews of Vienna, in der das Interesse hauptsächlich dem Thema „Assimilation“ gilt, versucht Marsha Rozenblit, die Geschichte der Wiener Juden zwischen 1867 und 1914 auch als Test für die großstadtkritische Haltung Arthur Ruppins zu lesen, der die dort herrschende soziale Interaktion und die Möglichkeit 30 Philippe Tretiack, „Ville Mémoire/Peuple du Livre. Judéicité“. Reflexion juives sur la question urbaine, Paris, unveröff. Mémoire 1980. 31 Agnès Vince, „Makom“. Essai sur la forme urbaine des quartiers juifs. Prague – Venise – Paris, Manuskript, Université de Paris 6, 1985.

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eines ökonomischen Aufstiegs als Faktoren der Auflösung jüdischer Identität ansah. Die Ergebnisse von Rozenblits Studie zeigen, daß Ruppins Schreckbild vom Verschwinden des Judentums in den großen Städten ebensowenig haltbar sei32 wie die soziologischen Spekulationen der Chicago School: „The Jews of Vienna continued to exist as a selfconsciously distinct group on the urban scene“ – die Diagnose erinnert stark an die zuvor bereits am Beispiel des mittelalterlichen Judenviertels, des venezianischen Ghettos oder des Schtetls Zablotow vorgenommenen Relativierungen. Auch die städtische Umgebung erleichterte tatsächlich Prozesse der Akkulturation, aber die Folge dieser Prozesse hieß nicht Assimilation und Auflösung, sondern „a situation in which Jews could redefine themselves as a group within European society“. Eine veränderte, neue Identität – eine städtische, mit dem Leben in der Stadt und unter städtischen Bedingungen verbundene Identität – entwickelte sich, nicht einheitlich, nicht „typisch“, aber doch deutlich erkennbar, in einer Transformation der Wiener Juden, die nur im Zusammenhang mit der Transformation der Stadt verständlich wird (und, gleichzeitig, ein wesentlicher Bestandteil dieser städtischen Transformation war!). Mit dem Entstehen der zionistischen Bewegung werden auch neue Konzepte jüdischer Siedlungsformen entworfen – ihre Darstellung würde die Grenzen dieser Betrachtung im Rahmen der europäisch-jüdischen Geschichte überschreiten. Letzten Endes sind auch sie als zeitgenössische Beispiele des zuvor schon in den verschiedensten Formen erprobten Balanceakts von „innen“ und „außen“ einer ortsgebundenen und zugleich von Orten gelösten Beziehungsgeschichte. Eine weitergehende Auseinandersetzung mit der Debatte über die jüdischen Siedlungsformen muß sich mit Themen beschäftigen, die in den Jüdischen Studien bisher noch kaum, sehr intensiv aber im Bereich der Kulturwissenschaft und der Europäischen Ethnologie behandelt wurden: Hierher gehören Stichworte wie „Revitalisierung“ – im Sinne der Neubelebung jüdischer Kultur in Europa, die im Moment ihrer Entstehung von Elementen der „Folklorisierung“ (Schtetl-Bilder), der „Romantisierung“, ja einer regelrechten „Invention of Tradition“ begleitet wird. Bezeichnend dafür ist die Debatte über die Wiedererrichtung eines Eruw, einer Sabbatgrenze, in den nördlichen Bezirken von London: „Londons orthodoxe Juden“, so berichtete die Zeitung Aufbau, freuen sich: Ein Regierungsbeschluß macht ihnen das Leben etwas leichter. Die Einrichtung eines ‘Eruw’, eines symbolisch abgegrenzten Stadtgebietes, erfüllt langjährige Wünsche der jüdisch-ortho32 Vielleicht schätzt Rozenblit Ruppins Haltung allerdings zu kritisch ein; in seiner Soziologie der Juden (Erster Band, S. 101–129: Verteilung der Juden auf Stadt und Land) schreibt er: „Die Urbanisierung und die Metropolisierung der Juden tragen zur Entjudung der Juden bei und befördern ihre Assimilation an die nichtjüdische Umgebung. Das Tempo dieses Prozesses ist um so schneller, je dünner die Juden unter der Gesamtbevölkerung der Stadt vertreten sind. Es ist deshalb von Wichtigkeit festzustellen, wie stark ihre Agglomeration in den Städten ist, d.h. ihre absolute Zahl und ihre relative Dichtigkeit unter der Bevölkerung jeder Stadt. Die Agglomeration wird um so stärker sein, je mehr die Juden sich nicht auf alle, sondern nur auf einzelne Städte verteilen“ (S. 118), und an anderer Stelle: „Die retardierende Wirkung der starken Agglomeration der Juden auf ihre Assimilation wird noch dadurch verstärkt, daß die Juden in manchen Städten in bestimmten Stadtteilen fast ganz unter sich wohnen“ (S. 123).

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doxen Bevölkerung in der britischen Hauptstadt. Den meisten Bewohnern des betreffenden Gebietes – jüdischen wie nicht-jüdischen – ist der Plan allerdings ein Ärgernis. Getto-Ängste und schlichte Sorge ums Stadtbild vereinen die Proteststimmen gegen die bevorstehende Abgrenzung.

Zwei Welten stehen voreinander, zwei Arten von Weltverständnis – und Weltverständnis ist: Raumverständnis, Ortsbewußtsein. Die Scheidelinie verläuft nicht zwischen „jüdisch“ und „nicht-jüdisch“, wie es einst gewesen sein mag, sondern zwischen modern/weltlich/mehrheitlich hier und traditionell/religiös/minoritär da. Der Ausgangspunkt und zugleich der Austragungsort des Konflikts ist die Stadt, ist der öffentliche Raum, ist das Verständnis von Begriffen wie „öffentlich“ und „privat“, festgemacht an einem konkreten Ort. Solche Auseinandersetzungen lassen sich übrigens auch in Tel Aviv feststellen – auf der einen Seite ist eine Stadt mit ihren (einst gemachten, nunmehr als gewachsen angesehenen) Gesetzen, da ist eine Minderheitskultur mit ihren eigenen (etwas älteren) Gesetzen – daß sie sich gegenüberstehen, ist überraschenderweise, bei genauem Hinsehen, keine neue Erfahrung. Im Blick auf die Räume jüdischer Geschichte in Europa offenbart sich uns das Phänomen ihrer Gebundenheit in die Zeit.

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Sozial- und Wirtschaftsstruktur der jüdischen Gemeinden Obwohl 1648 das Ende des 30jährigen Krieges und die Verfolgungen des Kosakenanführers Bogdan Chmel’neckij einen Einschnitt für das Leben der Juden im Deutschen Reich und in Königreich Polen-Litauen bedeutete, waren Veränderungen der Sozialstruktur der Juden schon vorher eingeleitet worden. Bis 1519 waren die Juden aus fast allen Städten des Deutschen Reiches vertrieben worden, nur in Frankfurt a. M., der Reichsburg Friedberg in der Wetterau, in Worms und Prag durften sie kontinuierlich als kaiserliche Schutzjuden verbleiben. Im 16.Jh. wurde somit das ländliche Judentum im Deutschen Reich zur prägenden Erscheinung. Im Landhandel verschafften sich die jüdischen Kaufleute ein Auskommen. Sie betätigten sich im Produktehandel, der je nach Region eine unterschiedliche Spezialisierung aufwies (Getreide, Wein, Hopfen, im 17. Jh. zunehmend Tabak etc.). Auch und gerade im Rindvieh- und Pferdehandel eroberten sie sich regional unterschiedlich bedeutsame Marktanteile. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung entwickelten sich dauerhafte Geschäftsgemeinschaften zwischen jüdischen Händlern und Bauern. Letztere profitierten von der Milch- und Zugleistung des Tiers sowie von dessen Dünger und hatten es zu füttern. Der Händler teilte den Gewinn mit dem Bauern. Der Pferdehandel wurde in Zeiten von Kriegen sehr wichtig. Weiter versorgten die jüdischen Hausierer in Konkurrenz zu den christlichen die ländliche Bevölkerung mit Produkten für die Kleidererzeugung, Galanteriewaren u. ä. Viele Juden ohne Kapital verdienten ein kärgliches Auskommen durch Prämien als Vermittler auf Märkten, sog. Schmuser oder Sasserer (hebr. Sarsur: Zwischenhändler). Die langen Wanderungen mit den Warenkörben brauchten im Gegensatz zur landläufigen Meinung vom „unproduktiven“ Juden viel physische Kraft, wie auch die Selbstversorgung mit koscheren Nahrungsmitteln für diese jüdischen Wanderhändler nicht einfach war. Noch schlechter gestellt waren die Ortsarmen und die Betteljuden. Letztere bildeten besonders im 18. Jh. ein großes soziales Problem für die jüdischen Gemeinden. In den armen jüdischen Landgemeinden Süddeutschlands und des Elsaß half man durch das System der Naturalversorgung (Essensgutscheine, sogenannte Bletten). Einige verarmte Juden fielen durch das soziale Netz und betätigten sich als Gauner, die von den Landjägern besonders hart verfolgt wurden.

Die jüdischen Hoffaktoren Aus der großen Masse der Hausierer und kleinen Händler ragten einzelne erfolgreiche Großkaufleute heraus, die durch lukrative Geschäfte mit Fürsten (Versorgung der Armee mit Pferden, Futter, Uniformen, Luxusprodukte für den Hof) ein hohes Einkommen erzielten. Eine Besitz- und Geistesaristokratie führte in den jüdischen Gemeinden und den im

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16. und 17.Jh. entstehenden Landjudenschaften ein oft strenges patrizisch anmutendes Regiment. Naftali Herz Cerfbeer stammte aus dem kleinen Medelsheim und stieg zwischen 1750/80 zum führenden Repräsentanten der aschkenasischen Juden in Frankreich auf. Sein Erfolg ging auf die Belieferung der französischen Armee zurück, die durch ein weitgespanntes Netz von Zulieferern auch aus West- und Süddeutschland gestützt wurde. Er brach 1767 das alte Privileg de non tolerandis judaeis der ehemaligen Reichsstadt Straßburg, drängte den französischen König zur Abschaffung des Leibzolls für Juden und ließ über Moses Mendelssohn ein mémoire durch Christian Wilhelm von Dohm verfassen, in dem eine Verbesserung der Rechtslage der französischen Juden gefordert wurde. An einigen städtischen Orten bildeten sich um Familien von jüdischen Hoffaktoren wieder die ersten Kerne städtischer Ansiedlung im 17. und 18. Jh. An anderen Orten wurden jüdische Kapitalbesitzer allgemein zum Aufbau neuer Residenzstädte beigezogen. Beispiel für eine bedeutende und erfolgreiche Beteiligung daran war Mannheim (nach 1689 ff.). Eine große Debatte entwickelte sich in den 1780er Jahren über die Produktivierung der Juden. In der bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit galt der durch jüdische Kaufleute betriebene Kleinhandel – und nur dieser – als schädlich. Dohm favorisierte eine Umschichtung zum Handwerk, andere gingen vom Physiokratismus aus und befürworteten die landwirtschaftliche Tätigkeit der Juden. Gegen Nothändler wurden Heiratserschwernisse in einigen deutschen Staaten erlassen, und Beamte versuchten Tabellen über den Erfolg der Umschichtung zu führen.

Eine neue Gruppe: Die Conversos aus Portugal und Spanien Die Sozialstruktur der Juden veränderte sich aber auch durch die Ansiedlung der Nachkommen zwangsgetaufter Juden (conversos) aus Portugal um 1600 in Amsterdam und Hamburg, in Südwestfrankreich (Bordeaux, Bayonne, Biarritz), in Livorno (Toskana, nach 1550) sowie anderen Städten Norditaliens (Venedig) und nach 1656 in London. Bis dahin hatten sie als Teil des städtischen christlichen Bürgertums in Portugal gelebt, flüchteten aber vor der nach 1580 effizienter werdenden Inquisition. Ihre gesellschaftliche Ausgangsposition war somit eine ganz andere als die der Juden Mitteleuropas. Diese Conversos kehrten nicht ohne Mühe zum rabbinischen Judentum zurück und betätigten sich im interkontinentalen Großhandel. Von Amsterdam war der Kolonialwarenimport aus Indien und Mittelamerika besonders wichtig, London war stärker nach Asien ausgerichtet. Die sefardischen Großkaufleute verfügten aber trotz ihrer Verfolgung auf der Iberischen Halbinsel über Handelsverbindungen nach Spanien und Portugal. Einige sefardische Unternehmer betätigten sich in der Zuckerproduktion und hielten zu diesem Zweck Sklaven auf Plantagen in Surinam. Die Beziehungen zwischen sefardischen und aschkenasischen Juden waren oft gespannt. Gemischte Heiraten galten noch bis ins 19. Jh. hinein als Mesalliancen. Allerdings sollten die aschkenasischen Juden in Amsterdam, Hamburg und London die sefardischen Kaufleutefamilien im 18.Jh. schon bald an Zahl übertreffen.

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Juden in Italien Etwas für sich lebten die Juden Italiens. Bis 1540 waren sie aus der südlichen Hälfte der Halbinsel und großen Teilen des Kirchenstaates vertrieben worden. Das aufgeheizte Klima der Gegenreformation führt zur Einsperrung der Juden in Ghettos mit Ausnahme von Livorno und Pisa. In Italien waren die jüdischen Bankiers die führenden Familien, die eine condotta (vergleichbar mit dem Schutzbrief des Deutschen Reiches) mit dem Fürsten unterzeichneten und für die Eintreibung der Abgaben hafteten. Die Juden im Piemont waren eher ländlich geprägt. Große Gemeinden existierten in Mantua, Ferrara, Livorno und Venedig. Von Venedig aus beteiligten sich Juden prominent im Exporthandel in den Balkan über Split und Dubrovnik. Sie knüpften auch Verbindungen zu den sefardischen Juden im südlichen Balkan, nach Saloniki und Istanbul. Hier hielt sich die landsmannschaftliche Trennung der aus Süditalien und Spanien vertriebenen Juden noch lange. Bis ins 20. Jh. sprachen die Juden Istanbuls das Juden-Spanisch (Ladino). Nach dem 16.Jh. ist ein wirtschaftlicher Niedergang der jüdischen Händler zu konstatieren, da die christlichen Konkurrenten (armenische und griechische Kaufleute) immer bedeutender wurden.

Entwicklungen im Königreich Polen-Litauen Demographischer Schwerpunkt der europäischen Juden war aber die Gruppe im Königreich Polen-Litauen. Hier hatte sich im Spätmittelalter das Arenda-System entwickelt. Der Adel verpachtete Landgüter zusammen mit Mühlen, Gasthäusern und Brennereirechten oft an jüdische Unternehmer. Aus der Mitte dieser Pächter rekrutierte sich die jüdische Oberschicht. Mangels eines strengen Zunftregiments besonders im Osten des Königreichs Polen fanden viele Juden ein Auskommen im (Klein-)Handwerk. Die schwache Position des polnischen Königs ließ keine Generalvertreibung zu, wie sie sich Ende des 15. Jhs. in Spanien, Portugal und kleineren deutschen Staaten (Württemberg) zugetragen hatte. Polnische Fürsten besaßen in Städten Grundstücke, auf denen Juden oft gegen den Willen christlicher Stadträte angesiedelt wurden. Um 1648 waren die polnischen Juden deshalb deutlich städtischer geprägt, als ihre Glaubensgenossen im Deutschen Reich. In Polen war es möglich, nach 1580 eine Vier-Länder-Synode (hebr. Waad arba Arazot) einzurichten, in der die städtische jüdische Oberschicht der vier größten Stadtgemeinden das Sagen hatte. Eine parallele „Landesjudenschaft“ existierte auch für den litauischen Teil des polnischen Königreiches. Juden waren prominent unter den Exportgroßhändlern vertreten: Aus Polen wurden Getreide, Pelze, Bernstein und (Bau-)Holz ausgeführt und aus dem Westen Tuch, Luxusprodukte, Gewürze und Juwelen eingeführt. Ein wichtiger europäischer Treffpunkt war die Messe zu Leipzig. Die Bedeutung der Juden im polnischen Exporthandel läßt sich nur erahnen: 1815 waren 90% der an der Messe anwesenden polnischen Händler Juden. Doch auch hier muß betont werden, daß die Mehrheit der polnischen Juden als einfache Hausierer und Kleinhandwerker ein kärgliches Einkommen erzielten. Das oft harte Eintreiben der

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von der christlichen Obrigkeit verlangten Abgaben bei den armen Juden erzeugten Ressentiments gegen die Oberschicht in den jüdischen Gemeinden. In diesem sozialgeschichtlichen Zusammenhang ist auch die Ausbreitung des Chassidismus als Bewegung der armen Juden zwischen 1750 und 1800 zu verstehen.

Migrationen im 18.Jahrhundert In Ostmitteleuropa zeichneten sich drei Wanderungsbewegungen im 18.Jh. ab: Das jüdische Ansiedlungsgebiet erweiterte sich Richtung Osten (Lublin, Podolien, Wolhynien). Von Mähren wanderten viele Juden ins nordwestliche, nach 1772 von Galizien ins nordöstliche Ungarn ein. Vertreibungen gab es im 17. und 18. Jh. nur wenige: 1670 wurden die Juden Wiens vertrieben und ließen sich in den Sieben Gemeinden des Burgenlandes unter dem Schutz der Fürsten Esterházy, in Fürth, anderen süddeutschen Orten und Berlin nieder. Eine Vertreibung der böhmischen Juden durch Kaiserin Maria Theresia 1744–47 konnte rückgängig gemacht werden. Deutsche Juden wanderten im 18. Jh. nach England und den Niederlanden aus und schlugen sich als Hausierer in der Provinz durch. Sie sollten an Zahl bald die sefardischen Kaufleutefamilien in den Hafenstädten übertreffen. Die Auswanderung von Juden in die USA im 18.Jh. war unbedeutend.

Vorläufer der Akkulturation Im 18.Jh. verschafften sich einige Juden über das Medizinstudium eine akademische Bildung. So waren um 1780 oft jüdische Ärzte Träger der Aufklärungsbewegung innerhalb des Judentums. Als akkulturierte Persönlichkeiten dienten sie als Vermittler zwischen christlicher Obrigkeit und jüdischer Gemeinde, so etwa der Arzt Benedikt Jeiteles in Prag (1762– 1813). Die wenigen städtischen Juden in Deutschland waren schon im 18. Jh. – lange vor ihrer rechtlichen Gleichstellung – an das entstehende Bildungsbürgertum akkulturiert, wie etwa die Statuten der Gemeinde Altona zeigen, die Juden 1745 den Besuch des Theaters erlaubten, oder die unbeachtet gebliebenen Predigten des Mannheimer Rabbiners Michael Scheuer (um 1800) gegen das Perückentragen oder gemeinsames Spazieren. Rabbiner eiferten gegen das Weintrinken von Juden mit Christen am Sabbat und beklagten die Vernachlässigung des Religionsunterrichts bei Mädchen, die in den Hoffaktorenfamilien im 18. Jh. schon in Französisch und Musik unterrichtet wurden. Die Französische Revolution und die 1791 erklärte Gleichstellung ohne Vorbedingungen schuf für die Juden neue Betätigungsmöglichkeiten. Zwar verfügte Napoleon 1808 eine Patentierung für handeltreibende Juden, die auf zehn Jahre befristet war, doch änderte dies nichts an ihrer staatsbürgerlichen Stellung. In den deutschen annektierten Gebieten galt von 1807–1814 die französische Gleichstellung, ebenso im neuen Königreich „Westphalen“

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(1808–1814). Preußen sah sich veranlaßt 1812 für vier Provinzen ebenfalls eine Verbesserung der Rechtsstellung auf kommunaler Ebene einzuführen, allerdings blieben den Juden die Anstellung im Staatsdienst noch jahrzehntelang verwehrt. Ein großes Hindernis für den sozialen Aufstieg sollte die Verweigerung der Freizügigkeit für die ländlichen Juden Süddeutschlands und Hessens bilden, die bis in die 1860er Jahre anhielt. Trotzdem begannen sich schon im Vormärz eine allmähliche Akademisierung und ein vermehrter Eintritt in die freien Berufe abzuzeichnen. Aus diesen Schichten rekrutierten sich nach 1848 allmählich neue Eliten der Gemeindeführung. Ein wichtiger Faktor der Akkulturation war die Ausbreitung des jüdischen Volksschulwesens zwischen 1820 und 1850. Oft waren die jüdischen Schulabsolventen gerade auf dem Lande „akkulturierter“ als ihre christlichen bäuerlichen Altersgenossen, die nur eine rudimentäre Schulbildung erhalten hatten und das Hochdeutsche vermutlich weniger beherrschten als die Kinder der jüdischen Handelsleute. Schon in den 1840er Jahren nahm die politische Elite wahr, daß die „Produktivierung“ der Juden der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland entgegenlief. Auch für Frankreich läßt sich belegen, daß trotz Gleichstellung im Jahr 1791 die angesehensten Positionen für Juden bis in die 1860er Jahre selten zugänglich waren. Danach allerdings war der höhere Staatsdienst in Frankreich und Italien für Juden offener als im konservativen Preußen. So waren hier 1907 nur 0,3% aller in Armee und Flotte beschäftigten Personen Juden, deutlich weniger als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung (um 1%). Höheren Offiziersrang hatten nur 16 Militärärzte, während zur selben Zeit in Frankreich einige Juden als Generäle dienten. In Italien erreichte 1910 die Gruppe der Beamten und der in den freien Berufen Tätigen 23%.

Rußland/Polen nach 1800 Im russisch besetzten Polen entwickelte sich aus den Armeelieferanten um 1800 allmählich eine Unternehmerschicht. Auf Basis von individuellen Privilegien betätigten sich jüdische Industrielle im Textilbereich, dem Gerberei- und Brennereienwesen. Jüdische Privatbanken fanden Unterstützung bei jüdischen Privatbanken im Westen und finanzierten diese Unternehmungen, wie auch Kapital von Christen durch Juden gewinnbringend angelegt wurde. Diese Unternehmer beteiligten sich an der Ausbeutung von Erdölquellen in Baku, Goldminen in Sibirien, an der Fischerei auf der Wolga und dem Amur sowie an der industriellen Lebensmittelproduktion. In der Wollverarbeitung in Wolhynien stellten die Juden um 1828/32 über neunzig Prozent der nichtadeligen Unternehmer, in Podolien betrug ihr Anteil immerhin 32%. 1808 wurde eine Ausbildungsstätte für jüdische Weber in Krementchug aufgebaut. Jüdische Unternehmer verbreiteten erfolgreich das Prinzip der freien Arbeit im Textilbereich im Gegensatz zu den Fabriken Adeliger, die Leibeigene beschäftigten. Besonders wichtig war das neue Industriezentrum in £ódz. Ein Drittel der Textilfirmen war vor 1914 in jüdischem Besitz. Der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung betrug hier 32%. Auch in die Alkohol- und Zuckerproduktion konnten jüdische Un-

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ternehmer einsteigen. Ein Drittel der Zuckerfabriken in der Ukraine gehörte um die Mitte des 19. Jhs. jüdischen Unternehmern. Diese erzeugten aber 52% des raffinierten Zuckers insgesamt, waren im Durchschnitt somit deutlich größer. Für den Absatz sorgten hunderte jüdischer Hausierer, wie auch von etwas wohlhabenderen Handelsleuten Läden bei Eisenbahnstationen eingerichtet wurden: Jüdische Unternehmer suchten mehr den Kunden auf – eine Erfahrung aus dem Hausierhandel – als ihre adelige oder stadtbürgerlich-christliche Konkurrenz, die sich auf ihre Ladengeschäfte beschränkte. Auch im russischen Schiffahrtswesen betätigten sich nach 1850 jüdische Unternehmer erfolgreich. Diese neue Unternehmerelite spielte erst nach einer deutlichen Phasenverschiebung eine Rolle in den jüdischen Gemeinden. Ihre Aktivitäten halfen vielen verarmten jüdischen Handwerkern in der Zeit der Wirtschaftskrisen und Hochindustrialisierung, die ihre Arbeit unrentabel machten, ein Auskommen als Lohnarbeiter einer Fabrik zu finden. Für den Bereich der polnisch-russischen Textilindustrie blieben aber bis Ende des 19. Jhs. die kleinen Betriebe typisch. Trotzdem blieb der Handel die wichtigste Erwerbsquelle der polnischen Juden: 1921 waren 62,6% aller Juden in diesem Bereich tätig. Nach 1860 fielen allmählich die Restriktionen für Juden hinsichtlich ihrer Zuwanderung in Großstädte. In Warschau wohnten 1813 nur 8000 Juden, 1914 waren es schon 337 000, d.h. 38% der Gesamtbevölkerung. Dies war die größte jüdische Gemeinschaft Europas. An der Gesamtbevölkerung Polens betrug der Anteil der Juden 1921 10,4%. Im russischen Landesproduktehandel brachen jüdische Kaufleute an vielen Orten das regionale Monopol der Großbauern-Händler (Kulaken). Vor diesem Hintergrund sind die Pogromwellen gegen Juden in Rußland um 1881/83 und 1903–05 bis zu einem gewissen Grad zu erklären. Die freie unternehmerische Tätigkeit fand in Rußland mit Entstehung der Sowjetunion ein rasches Ende, wobei Ausbauprojekte von Transportwegen, die auf jüdische Unternehmer zurückgingen im Rahmen der NEP (Neue Ökonomische Politik) in den 1920er Jahren durch den Staat verwirklicht wurden. Das Verbot des privaten Handels hatte große Auswirkungen auf die jüdische Berufsstruktur. Ein Teil der ehemals selbständigen Kaufleute wurde von den öffentlichen Institutionen angestellt. In der Ukraine waren 17% aller staatlichen Angestellten Juden, ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung betrug aber nur rund 5,4%. Die in den Großstädten konzentrierten Juden fanden eine Anstellung in Ingenieurs- und freien Berufen.

In Deutschland In Deutschland förderte die endlich mögliche Urbanisierung den soziale Aufstieg. Einigen Kaufleuten gelang der Einstieg in die Produktion. Dies lag besonders in der Textilbranche nahe, dem traditionellen Betätigungsfeld. Die Konfektionsindustrie in Deutschland verdankte viel der unternehmerischen Initiative von Juden (Familien Gerson und Mannheimer, Berlin). Ein Kenner der Branche schätzte 1926, daß über die Hälfte der Textilgeschäfte in Deutschland jüdischen Besitzern gehörten. 1930 waren 54 von 79 Großhandlungen in Berlin in jüdischem Besitz. Vom Textilhandel lag eine Ausweitung des Geschäfts zum

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Warenhaushandel nahe. Nach französischem und amerikanischem nichtjüdischen Vorbild schufen jüdische Kaufleute in Deutschland große Kaufhausketten (Familie Tietz: Hertie, Karstadt, Schocken, Wertheim etc.). In der deutschen Schwerindustrie waren dagegen wenig Juden vertreten, prominenter waren sie im Eisenbahnbau, auch international (Moritz von Hirsch), und dem Eisenhandel. 1860 waren in Berlin von 157 Banken 106 in jüdischem Besitz, wobei diese Zahl nichts über das jeweilige Umsatzvolumen aussagt. Im Bereich des ländlichen Produktehandels hatten sich bis zur Jahrhundertwende große ImportExport-Firmen etabliert. Die Zahl der selbständigen Vieh- und Getreidehändler nahm deshalb ab. Sie verschwanden aber in Deutschland bis zur zwangsweisen „Arisierung“ 1936/38 nicht. Die Bauernorganisationen kämpften in dieser Branche um einen größeren Anteil am Handelsvolumen und wurden durch die Regierung unterstützt. Auffälliges Merkmal der Sozialstruktur der deutschen Juden blieb bis 1933 ihre Ausrichtung auf Handelsberufe und auf die Selbständigkeit, aber auch ihre Konzentration in den Großstädten. 1910 wohnten 59% aller deutschen Juden in Städten mit mehr als 100 000 Einwohnern, für die Nichtjuden betrug der Anteil lediglich 24,4%, also weniger als die Hälfte. In Ungarn waren im Gegensatz zu Deutschland weniger Industriebranchen durch die christliche Konkurrenz besetzt. So waren Juden unternehmerisch mehr in der Schwerindustrie tätig. Im stark ländlich geprägten Ungarn hatten sie einen großen Anteil an der städtischen gebildeten Mittelschicht. In Budapest erreichte 1910 ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung 23%. 45% aller Juden wohnten in der Hauptstadt. Nach erreichter sozialer Mobilität wandten sich viele Juden den freien Berufen zu. Vor 1914 sollen über 55% aller Händler in Ungarn jüdisch gewesen sein, 49% der Mediziner und 45% der Juristen.

Methodische Probleme Der Wirtschaftshistoriker Abraham Barkai sieht in der sektoriellen Konzentration der Juden auf den Handel eine gruppenspezifische Anomalie, die gegen den Trend der Zeit gerichtet wäre. In der Tat waren 1933 in Deutschland 61,3% aller jüdischen Erwerbstätigen im Bereich Handel und Verkehr tätig, im Gegensatz zu 18,4% bei der Gesamtbevölkerung. Ihre hohe proportionale Präsenz in den freien Berufen muß vor dem Hintergrund der vorher erreichten sozialen Mobilität interpretiert werden. Es macht wenig Sinn, Anteile an Immatrikulationen oder freien Berufen einer nach 1880 urbanen und bürgerlichen Gruppe mit der immer noch stark landwirtschaftlich und kleinstädtisch geprägten Gesamtbevölkerung zu vergleichen (in Preußen betrug der Anteil der landwirtschaftlich Erwerbstätigen 1925 immer noch 29,5%). Leider hinkt hier die Forschung hinterher, denn es ist methodologisch schwer, einen sozioökonomischen Vergleichswert der christlichen Bevölkerung (städtische Mittelschicht) zu isolieren. Etwa in der Handelsstadt Hamburg waren zwar 53% aller Juden als Selbständige im Handel tätig, aber auch 23,5% der Christen. Die christliche Mittelschicht wird statistisch nicht separat ausgewiesen. Erst dann ließe sich als weiterer

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Faktor das Ausmaß systemischer Benachteiligung (Nichtzulassung im Staatsdienst de facto bis 1918) nachweisen.

Migration osteuropäischer Juden In Westeuropa kamen nach 1881 unterschiedlich große Gruppen osteuropäischer Juden in die größeren Städte und bildeten dort oft eine Unterschicht, die es vorzog in speziellen Vierteln zu wohnen (Paris: Marais, jidd. Pletzl, London: East End, Berlin: Scheunenviertel, Wien: Leopoldsstadt etc.). Beispielsweise stieg 1869 in Paris die Zahl der Juden von 30 000 auf 150 000 im Jahre 1939 (in dieser Zahl sind allerdings auch Zuwanderer aus dem deutsch besetzten Elsaß-Lothringen und nach 1933 deutsche Emigranten einbegriffen). Umgangssprache in der ersten Generation der osteuropäischen Juden blieb das Jiddische. Sie brachten ihre handwerkliche Berufstradition mit, die unter westeuropäischen Juden fast ganz unbekannt war. Viele waren als Hausierer tätig, ein Bereich, den die westeuropäischen Juden zu dieser Zeit längst verlassen hatten. Ein Teil dieser Zuwanderer war religiös traditionalistisch eingestellt und zeigte dies durch die jüdische Tracht, was in den Augen vieler Christen und akkulturierte Juden Anstoß erregte. Ein anderer Teil der Zuwanderer glich sich unmittelbar nach ihrer Ankunft im Westen den dortigen Gepflogenheiten sehr schnell an, was jedoch kaum wahrgenommen wurde. Von dieser Gruppe deutlich abgehoben werden müssen die intellektuell bedeutenden osteuropäisch-jüdischen Studentenkolonien in Deutschland, der Schweiz und Frankreich. Diese osteuropäisch-jüdischen Studenten kamen in ihrer Mehrheit nicht endgültig in den Westen und beteiligten sich nach 1917 am Neuaufbau der osteuropäischen Staaten und am neuen jüdischen Gemeinwesen im britisch verwalteten Palästina. Sie nahmen dabei viele Elemente deutscher Kultur mit sich. In der Schweiz nutzten die osteuropäisch-jüdischen Frauen das Studium, was ihre schweizerischen christlichen Altersgenossinnen noch kaum zu tun wagten. Eine Rückwirkung auf Europa hatte die Massenauswanderung von über zwei Millionen Juden aus Osteuropa nach Amerika, insbesondere in die USA (bis 1924). Dort entstand ein großes neues jüdisches Zentrum, das in den 1920er Jahren schon wirtschaftlich potenter war und deutsch-jüdischen Institutionen zur Zeit der Hyperinflation (1923) beistehen konnte. Das die Sozial- und Wirtschaftsstruktur der Juden durch die nationalsozialistische Verfolgung total verändert wurde, braucht hier nicht näher ausgeführt zu werden. Tatsache bleibt, daß sich große Kreise der Bevölkerung in Deutschland und den besetzten Gebieten an jüdischem Besitz vergriffen und besonders die osteuropäischen Juden bis heute praktisch keine Ersatzleistungen für die erlittene Verfolgung erhielten.

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Nach 1945 Durch die Schoa war aus dem ehemaligen Zentrum eine heterogene ÜberlebendenGruppe geworden, die numerisch an dritter Stelle nach den Juden in den USA und Israel rangierte. Jenseits des eisernen Vorhangs herrschte eine unterschiedlich starke Unterdrückung. Stalin verfolgte nach 1945 die letzten Reste jiddischer Kultur. Aus Polen und Ungarn setzten sich nach 1946/48 und 1956, aus der damaligen CˇSR 1953 und 1968 viele überlebende Juden ab, aus Bulgarien und Rumänien wanderte der größere Teil der jüdischen Gemeinschaft nach Israel aus. Die schlechten wirtschaftlichen Lebensbedingungen und die Furcht vor Judenfeindschaft motivierte viele russische Juden seit den 1970er Jahren zur Auswanderung nach Israel und den USA. Nach 1990 kamen an die 50 000 Juden und ihre nichtjüdischen Ehepartner als „Kontingentflüchtlinge“ nach Deutschland. Diese haben große Mühe, sich beruflich und sozial in der Bundesrepublik zurechtzufinden, wie auch die Infrastruktur der jüdischen Gemeinden durch die Verdreifachung der Mitgliederzahl überfordert ist. Sie trafen auf die ehemaligen polnisch-jüdischen Displaced persons, die in der Bundesrepublik verblieben waren, und die kleine Gruppe der ehemaligen deutschen Juden sowie andere kleinere Landsmannschaften. Die polnischen Juden hatten von den Alliierten nach 1945 oft Konzessionen zum Betrieb von Gaststätten und Bars erhalten. Einige arbeiteten sich vom Detailhandel zum Immobiliengeschäft empor. Erst ihre Kinder genossen eine geregelte Ausbildung. Zur Zeit ersetzt diese Nachkriegsgeneration allmählich die „Gründerväter“ in den Vorständen der Gemeinden. Ein weiteres Zuwanderungsland war in den 1960er Jahren Frankreich, wohin die frankophonen westlich akkulturierten algerischen Juden auswanderten. Sie verfügten seit 1870 über das französische Staatsbürgerrecht (Decret Crémieux). Hinzu kamen arabophone traditionalistische marokkanische Juden. In Frankreich überlebten drei Viertel der Juden die Schoa. Trotzdem ist heute die jüdische Gemeinschaft stark von diesen nordafrikanischen Zuwanderern geprägt. Die maghrebinischen Juden erobern zur Zeit die Machtpositionen in den Gemeinden und wichtigen Organisationen. In Italien erholten sich die Gemeinden bis zu einem gewissen Grad von der Verfolgung. Hier wurde während der Schoa etwa ein Sechstel ermordet. Juden aus Libyen und Ägypten wanderten in die Großstädte wie Mailand ein. In Spanien hielt sich in einigen Großstädten eine nicht sehr zahlreiche jüdische Gemeinschaft. Dasselbe gilt für Belgien und die skandinavischen Länder. In England nahm die Zahl der Juden dagegen infolge demographischer Veränderungen (Überalterung, wenig Zuwanderung) deutlich ab. Typisch für Westeuropa war der Rückgang der Textilproduktion, die meist nach Südostasien verlagert wurde. Mit dieser Umschichtung und der Durchsetzung von Konzernen verschwand die prominente jüdische Beteiligung in Textilhandel und -produktion bis auf wenige Reste. Neue Branchen wie die Informatik entstanden, wie auch höhere Verwaltungsstellen für Juden zugänglich wurden, wo dies vorher nicht der Fall gewesen war. Eine Berufs- und Lebensgemeinschaft bilden die orthodoxen Juden Antwerpens osteuropäischer Herkunft, die stark in der Diamantenverarbeitung und im Edelsteinhandel vertreten sind.

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In England erstarkte die liberal-religiöse Bewegung, wie sie auch in Frankreich heute wichtiger ist als vor 1939. In der Bundesrepublik begannen sich nach 1991 ebenfalls kleine Gruppen zu formieren, die eine gleichwertige Stellung der Frau in der jüdischen Religion fordern. Neben dieser Bewegung zu religiösem Pluralismus ist auch eine Zunahme des Fundamentalismus zu verzeichnen, besonders deutlich etwa im Lager der sozial schwachen arabophonen maghrebinisch-jüdischen Zuwanderer in Frankreich. Neues jüdisches Leben regt sich seit 1989 vor allem in Budapest (an die 80 000 Juden) und der GUS (Moskau, St. Petersburg, Kiew, Odessa), während in den anderen osteuropäischen Ländern die jüdische Bevölkerung sehr gering ist. Die vielfältigen amerikanischen Hilfsorganisationen unterstützen in Osteuropa eine religiöse Vielfalt jüdischen Lebens, wie sie in der Form vor 1939 nicht existiert hatte. Allerdings ist hier der Wanderungsverlust nach Israel und den USA der letzten dreißig Jahren enorm. Ob die europäischen Juden wirklich einmal die dritte Säule nach den Gemeinschaften in den USA und Israel spielen können, wie dies die Beraterin des Europarats Diana Pinto öfters fordert, ist deshalb nicht abzusehen.

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Rechtsstellung und Strukturen jüdischer Gemeinden im europäischen Kontext Seit der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer (im Jahr 70 u. Z.) und dem damit einhergehenden Verlust der Eigenstaatlichkeit spielte sich die jüdische Geschichte wesentlich in der Diaspora (Galut) ab, bis sie mit der Gründung des Staates Israel (1948) wieder zu jener Zweipoligkeit – hier Erez Israel, dort die Galut – zurückfand, wie sie paradigmatisch bereits zwischen der Zerstörung des Ersten und des Zweiten Tempels bestanden und sich danach im Wettstreit zwischen den „Gelehrten des Westens“ (Maarbae) und „denen des Ostens“ (Medin-hae) in gleichsam vergeistigter Form bis in die nach-talmudische Zeit durchgehalten hat, bevor sich die Zentren der jüdischen Geschichte für Jahrhunderte endgültig in die Diaspora – von Babylon über Nordafrika nach Spanien, von dort über Westeuropa nach Mittel- und Osteuropa und schließlich über den Atlantik nach Nord- und Südamerika – verlagert hatten. Für Jahrhunderte sollte damit die Diaspora zum „Normalfall“ jüdischer Existenz werden. An der Gestaltung der hier interessierenden rechtlichen Verhältnisse, unter denen die Juden in ihrer Diasporageschichte lebten, als Einzelpersonen wie als Gemeinden, als Einzelgemeinden wie in ihrer Gesamtheit, hatten dementsprechend stets äußere und innere Faktoren gleichermaßen ihren Anteil. Die äußeren Bedingungen für das Leben der Juden und jüdischen Gemeinden setzte im wesentlichen die die Juden und jüdischen Gemeinden betreffende Gesetzgebung des jeweiligen Exillandes; die rechtlichen Verhältnisse innerhalb der Gemeinden hingegen bestimmten, soweit sie nicht schon durch diese externe Gesetzgebung unmittelbar vorgegeben wurden, die Erfordernisse der Halacha, wie sie in Talmud und Codices überliefert und in den entsprechenden Kommentaren ausgelegt worden ist. Ihren rechtlich verbindlichen Ausdruck hat diese Sachlage in dem von Mar Samuel im 3. Jh. formulierten Prinzip Dina de-Malchuta Dina („das Gesetz der Regierung ist Gesetz“; bBB 54b-55a; bBQ 113a; bGit 10b; bNed 28a-b) gefunden, dessen Konsequenzen eine auf R. Chanina mit Bezug auf HL 2,7 zurückgeführte aggadische Überlieferung beschreibt, die von drei Eiden erzählt, die Gott Israel und die Völker für das Leben in der Diaspora schwören läßt (bKet 111a). Während das Prinzip Dina de-Malchuta Dina bestimmt, daß das jeweils geltende staatliche Recht eines Exillandes für die dort lebenden Juden geltendes Recht, also verbindlich ist, benennt die aggadische Überlieferung von den drei Eiden drei wesentliche „Bedingungen“ für das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in der Diaspora, mit denen zugleich eine Art Galutverfassung umrissen wird: Danach sollen die Juden schwören, (1) „daß sie nicht wie eine Mauer ins Land der Väter hinaufziehen“, also nicht die Wiederherstellung eines jüdischen Staates aus eigener Kraft versuchen, und (2) „daß sie nicht gegen die Völker der Welt rebellieren“, sich also den Staaten gegenüber, in denen sie

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leben, loyal verhalten. Die Völker der Welt ihrerseits sollen schwören, (3) „daß sie Israel nicht über Gebühr versklaven“, also die unter ihnen lebenden Juden nicht ohne Maß unterdrücken. Während Mar Samuels Prinzip jüdischerseits durch die Jahrhunderte als Grundbedingung der Diasporaexistenz akzeptiert worden ist, ist die Diasporageschichte bekanntlich weithin völlig anders verlaufen, als es die „drei Eide“ nahelegen.

Der äußere Rahmen jüdischer Diasporaexistenz Externe Gesetzgebung wie Halacha waren ihrer Natur nach stets variable Größen. Lassen sich aus der Rückschau auch einige gleichsam zeit- und ortsunabhängige Konstanten in der externen Gesetzgebung ebenso wie in der Halacha erkennen, waren sie dennoch beide im Lauf der Zeit vielfachen zeit- wie ortsbedingten Wandlungen unterworfen: Wie die Halacha ihrem Wesen nach dem steten Wandel von Tradition und Neuschöpfung unterliegt – und damit auch die Gestaltung der innergemeindlichen Rechtsverhältnisse, so nahm auch die externe Gesetzgebung in steter Abhängigkeit von den jeweiligen, von Land zu Land, mitunter auch von Region zu Region und sogar von Stadt zu Stadt verschiedenen Macht- und Herrschaftsverhältnissen ganz unterschiedliche Formen an. In den Ländern des christlichen Europa erwies sich die externe Gesetzgebung zudem nicht selten als das Ergebnis aktueller Auseinandersetzung zwischen weltlicher Macht und kirchlicher Obrigkeit. Im islamischen Spanien bildeten den rechtlichen Rahmen jüdischer Existenz die im Laufe der Zeit durchaus verschieden ausgelegten Bestimmungen der Dimma („Schutzbürgerschaft“). Gleiches gilt zeitversetzt für die jüdischen Gemeinden unter osmanischer Herrschaft, hier auf dem Balkan, wo nicht wenige vormals spanische Juden nach 1492 Zuflucht gefunden hatten. Nur ist hier das Millet-System an die Stelle der Dimma getreten, das bis ins 20. Jh. hinein seine Gültigkeit behalten hat. Demgegenüber war im christlichen Europa von der ausgehenden Antike über das Mittelalter bis in die frühe Neuzeit das römische Recht maßgebend, wie es im Codex Theodosianus (439) und dem ihn erweiternden Codex Justinianus (534) zusammengefaßt und später durch entsprechende landesherrliche und/oder kirchliche Gesetzgebung, Synodal- und Konzilsbeschlüsse immer wieder ergänzt und aktualisiert worden ist. Abmilderung der oft einschneidenden Beschränkungen jüdischer Existenz gerade durch die kirchliche Gesetzgebung brachte seit der erstmals im Karolingerreich bezeugten Praxis immer wieder die Vergabe königlicher Privilegien zugunsten einzelner Juden (zumeist Kaufleute), einzelner jüdischer Familien oder auch ganzer Gemeinden, eine Praxis, die mit den sogenannten „Judenschutzbriefen“ Karls des Großen und seiner Nachfolger begonnen und in der Privilegvergabepraxis der folgenden Jahrhunderte ihre Fortsetzung gefunden hat. Die im rechristianisierten Spanien verliehenen fueros („Privilegien“), die den rechtlichen Status der Juden und jüdischen Gemeinden einzelner Städten, Regionen oder – wie der Libro de los fueros de Castilla – Länder regelten, bezeugen dies ebenso wie später die privilegia/przywileje (General- und Spezialprivilegien) aus Polen-Litauen. Je auf ihre Weise

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dokumentieren alle diese Privilegien zugleich aber auch, daß die Existenz der Juden im christlichen Europa anders als in der islamischen Welt im allgemeinen nicht durch öffentliches Recht gesichert, sondern – und dies bis weit in die Neuzeit, bis in die Zeit der bürgerlichen Gleichstellung hinein – letztlich von landesherrlicher Protektion abhing, die durch entsprechende Gegenleistungen seitens der Juden, Steuern und Abgaben also, erworben werden mußte. Dabei konnten das Maß an Protektion ebenso wie der Umfang der zu erbringenden Gegenleistungen sehr unterschiedlich sein. Den Höhepunkt solcher landesherrlich gewährten Protektion bildet zweifellos das 1236 (erweitert 1244) von Kaiser Friedrich II. gewährte Privileg, das die Juden in seinem Herrschaftsbereich zu „Knechten der kaiserlichen Kammer“ (Artikel I: Judaeos servos camerae nostrae sub nostra et imperiali protectione recipimus) erklärte, sie unmittelbarem kaiserlichen Schutz unterstellte und damit jedweder lokalen und/oder regionalen – einschließlich der kirchlichen – Jurisdiktion entzog, indem er sie praktisch zum Eigentum des Kaisers bzw. des kaiserlichen Fiskus machte, der wiederum nach weitgehend eigenem Gutdünken mit ihnen verfahren konnte. Nachdem dieses Privileg auch die östlichen Nachbarländer des Heiligen Römischen Reiches übernommen hatten – 1251 hatte es Béla IV. von Ungarn, 1254 Ottokar II. von Böhmen und 1264 Boles aw V. Poboz˙ny von Polen („Statut von Kalisz“) in jeweils modifizierter Form für die Juden in ihrem Herrschaftsbereich eingeführt; ähnliche Privilegien erhielten wenig später auch die Juden Schlesiens –, sollte es für Generationen von Juden, insbesondere in Ungarn und mehr noch in Polen und Litauen, in dem es seit 1514 in Geltung war, von grundlegender Bedeutung sein. In Polen-Litauen, wo seit dem 15. Jh. die Mehrheit der Juden Europas lebte, bildete das „Statut von Kalisz“ in seinen Bestätigungen durch Kasimir III. (1334), Kasimir IV. (1453) und Sigismund I. (1507) sowie der Neufassung durch Johann Kasimir (1655/6) bis ans Ende des 18. Jhs. Grundlage und Rahmen der gesamten staatlichen Judengesetzgebung. Dabei setzten diese sogenannten Generalprivilegien die allgemeinen Normen der Gesetzgebung; allfällige Einzelheiten regelten die Einzelgemeinden, zuweilen auch einzelnen Familien oder Personen verliehenen Spezialprivilegien. Gegenüber den Verhältnissen im Heiligen Römischen Reich, nach denen die Juden unabhängig von ihrem Wohnort servi camerae imperialis, also der Protektion des Kaisers unterstellt und allein ihm gegenüber steuerpflichtig waren, galt in Polen-Litauen, infolge der grundsätzlichen Zweiteilung des Landes in Kronland einerseits und Privatland andererseits, das Territorialprinzip, und entsprechend unterschied man seit der Verfassung von 1539 zwischen „Kronjuden“ und „Privatjuden“: Juden, die auf Kronland (in Kronstädten oder -dörfern) lebten, unterstanden der Jurisdiktion des Königs und hatten ihm Steuern zu zahlen. Juden, die auf Privatland (in Privatstädten oder -dörfern) lebten, waren Untertanen des jeweiligen Landesherrn, unterstanden seiner Jurisdiktion und hatten ihm Steuern zu zahlen, dafür aber Anspruch auf dessen Protektion: „Wer von ihnen (scil. den Juden) Steuern eintreibt, muß ihnen auch Hilfe gewähren“, hatte Sigismund I. 1539 verfügt. Wie zuvor in Spanien, Frankreich und Deutschland, bestand mit diesem Privilegsystem

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seit dem 13./14. Jh. für die mittel- und osteuropäischen Juden gleichsam ein einheitlicher Rahmen staatlicher Gesetzgebung, der – allen kirchlichen Protesten zum Trotz – bis ins 18. Jh. beibehalten wurde. Erst die Aufteilung Polen-Litauens unter Preußen, Rußland und Österreich-Ungarn in den Jahren 1722, 1793 und 1795 brachte eine völlige Neuordnung der politisch-sozialen und rechtlichen Verhältnisse in Mittel- und Osteuropa und damit zugleich auch eine neue Judengesetzgebung, die sich zum einen an den Ideen der Französischen Revolution und Aufklärung orientierte und den Bedürfnissen gesellschaftlicher Modernisierung und damit verbundener „bürgerlicher Verbesserung“ der Juden Rechnung zu tragen vorgab, zum anderen aber immer neuen Formen der Beschränkung jüdischer Existenz Vorschub leistete. Als besonders restriktiv und nachgerade judenfeindlich sollte sich dabei vor allem die Judengesetzgebung im zaristischen Rußland erweisen. Innerhalb des durch die externe Gesetzgebung gesetzten Rahmens lebten die Juden jedoch in autonomen Gemeinden. Gemeindeautonomie bedeutete, daß sie das Recht hatten, ihr Leben als Individuen wie als Gemeinschaft sowie alle ihre inneren Angelegenheiten gemäß ihrer Tradition, d. h. den Erfordernissen der Halacha entsprechend zu regeln. Diese Autonomie war aber zunächst auf die Autonomie der Einzelgemeinde beschränkt, in Spanien nicht anders als in Nordfrankreich und Deutschland und später in Mittel- und Osteuropa. Mit Blick auf Spanien hatte Salomo ben Abraham Adret (Raschba; 1235–1320) diesen Grundsatz auf die Formel gebracht: „Eine jede Gemeinde hat innerhalb ihrer Grenzen dieselben Vollmachten, die einst die Geonim gegenüber der Gesamtheit Israel hatten“, mit der Folge, daß „die Mehrheit in einer jeden Gemeinde für den einzelnen das ist, was das Sanhedrin für die Gesamtheit Israels war“;1 und was für Spanien galt, trifft mutatis mutandis auch auf die anderen Gemeinden der europäischen Diaspora zu. Bereits in Spanien begannen sich zugleich auch Strukturen einer übergemeindlichen Selbstverwaltung herauszubilden, die ihre volle Entfaltung jedoch erst in Polen-Litauen (16.–18.Jh.) erreichten, wo die jüdische Autonomie in der langen Diasporageschichte zugleich ihre höchste Blüte erlebte. Für die Autonomie der Einzelgemeinde belegt dies die erhaltene Krakauer Judengemeindeordnung von 1595, für die übergemeindliche Selbstverwaltung der gleichfalls im 16.Jh. entstandene Waad Arba Arasot Polens einerseits und der seit 1623 selbständige Waad Medı¯nat Lı¯ta¯ andererseits, worauf unten noch zurückzukommen ist. Dabei ist interessant, daß die aschkenasisch-polnischen Gemeinden des 16., 17. und 18. Jhs. im Durchschnitt wesentlich größer als ihre Vorläuferinnen in Frankreich und/oder Deutschland waren, in ihrer Organisation, wie Jakob Katz gezeigt hat, deutliche Anleihen von den Traditionen der mittelalterlichen sefardischen Gemeinden genommen haben, deren Regelungen in mehr als einer Hinsicht zum Vorbild für die (Neu-)Strukturierung der Gemeinden in Polen-Litauen wurde. Die – seitens der nichtjüdischen Umwelt respektierte – Autonomie der Einzelgemeinde führte allerdings dazu, daß seit der ausgehenden Antike bereits die jüdischen Gemeinden 1 Zit. nach A. Neuman, The Jews in Spain. Their social, political, and cultural life during the Middle Ages, 2 Bde., Philadelphia 21948, Bd. I, S. 48.

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immer wieder als imperia in imperio beschrieben wurden. Wenn dieser Begriff auch hier noch nicht jenen negativen Beiklang hatte, den er im 19.Jh. erhalten sollte, sorgte die Autonomie doch in jedem Falle dafür, daß die jüdischen Gemeinden eine von der nicht-jüdischen Umgebung verschiedene Gesellschaft, ein Gemeinwesen (politeuma) mit eigener Verfassung und Verwaltung, bildeten. In Polen und Litauen sollte die Gemeindeautonomie später sogar zu einer gleichsam räumlichen Trennung von Juden und Nichtjuden führen: Wie nichtjüdische Gemeinden hier seit dem 14. Jh. ein Privilegium de non tolerandis Judaeis erwerben konnten, das ihnen gestattete, keine Juden aufnehmen zu müssen, so konnten später – im Gegenzug – jüdische Gemeinden ein Privilegium de non tolerandis christianis erhalten, z. B. die Gemeinde von Kazimierz bei Krakau (1568), die Gemeinde von Poznan/Posen (1633) sowie alle Gemeinden in Litauen (1645).

Die jüdische Gemeinde und ihre Institutionen Den Kern der jüdischen Autonomie bildete die Einzelgemeinde (kehilla; arab. al-g˘umla bzw. al-g˘ ama¯ ‘a; davon span. aljama; lat. communitas oder civitas Judaeorum), als deren spezifische Bezeichnung der Begriff Kahal diente, aus dem im Laufe der Zeit der Inbegriff und terminus technicus für die Gemeindeverwaltung wurde. Entwickelt hat sich die jüdische Gemeindeorganisation aus der Munizipalverfassung (politeuma) der griechisch-römischen Diaspora. Dies konnte auch gar nicht anders sein. Aus ihr sind schließlich die jüdischen Gemeinden in Westeuropa hervorgegangen; und da jüdische Gemeinden, wie Elijahu Ashtor meinte, allenthalben sehr konservativ sind, haben sie diese Verfassung auch dann noch beibehalten, als sie in der sie umgebenden Gesellschaft längst obsolet und abgeschafft worden war. So sind die in der Antike ausgebildeten Formen des Kahals über die Jahrhunderte im wesentlichen konstant geblieben. Organisation, Leitung und Verwaltung der Gemeinde richteten sich dabei grundsätzlich nach den Vorgaben und Erfordernissen der überlieferten Halacha. Ebenso resultierten die Gemeindeinstitutionen aus den ihr dort zugewiesenen Aufgaben, die sie zu erfüllen hatten. In der Praxis jedoch orientierten sie sich zugleich immer auch an den entsprechenden Verhältnissen der sie umgebenden Gesellschaft. Jedenfalls sind deren Einflüsse oft deutlich erkennbar, in der Organisation der Gemeinden, ihren Institutionen und ihrer Verwaltung ebenso wie in der sie beschreibenden Terminologie, die regional durchaus sehr verschieden sein konnte. Während kleine Gemeinden alle Gemeindeangelegenheiten durch die Vollversammlung ihrer Mitglieder regelten, lagen in größeren Gemeinden und sogenannten Großgemeinden Leitung und Verwaltung in der Hand angesehener und allgemein respektierter Personen, die grundsätzlich auf Zeit in ihre Ämter gewählt wurden. Die Leitung der Gemeinde bestand aus einem Gremium ehrenamtlich Tätiger, einem Kreis besoldeter Beamter als Exekutive und einem Rabbinatsgericht, die die drei Säulen des Kahal und damit die tragenden Institutionen der Autonomie bildeten. Zu den Hauptaufgaben, für deren Erfüllung der Kahal zu sorgen hatten, zählten (1) die

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Wahrung des Rechtsfriedens innerhalb der Gemeinde und damit die Kontrolle der religiösen und gesellschaftlichen Disziplin ihrer Mitglieder und ggf. die Ahndung bei Verstoß gegen die geltende Ordnung; (2) die Festsetzung und Eintreibung sowohl der an die nichtjüdische Obrigkeit (Fiskus) abzuführenden als auch der zugunsten der Gemeinde einzubehaltenden Steuern, (3) die Verwaltung der Gemeindefinanzen und die Kontrolle ihrer Ausgaben, (4) die ordnungsgemäße Besetzung der zur Administration der Gemeinde, für den Kultus und den Schulunterricht notwendigen bezahlten Ämter, und (5) die Beaufsichtigung und Erhaltung der gemeindeeigenen öffentlichen Gebäude (Synagoge, Lehrhaus, Schule, Mikwe etc.) und Plätze (Markt) sowie des Friedhofs. An der Spitze eines Kahals (Waad ha-kehilla) standen: (1) die Ältesten (hebr. Zekedim oder Parnasim; in Polen später Raschim; arab. sˇuyu¯h; lat. primores; seniores), deren Zahl sich je nach Gemeinde zwischen drei und fünf bewegte, (2) die seit der talmudischen Zeit bekannten sieben (nach der Halacha waren Entscheidungen von sieben Ältesten verbindlich) boni viri (Towim bzw. Schiwa towe ha ir; probi homines urbis), (3) die Räte (Joasim), die je nach Ort und Zeit Berurim oder Niwcharim („Gewählte“), Mukdamim („Vorgesetzte“) oder auch Neemanim („Vertrauensleute“) heißen konnten, ein Gremium von drei bis zwölf oder vierzehn Personen bildeten und mit den einzelnen Bereichen der Gemeindeverwaltung, von der Sozialkasse (Gabbaim) und den Finanzen bis zur Marktaufsicht (Memunim) betraut waren, und (4) die Richter (Dajanim). Gelegentlich kamen dazu noch (5) Steuerschätzer (Schammaim; censores), die die Mitglieder einer Gemeinde steuerlich veranlagten, und (6) Wahlmänner (Kescherim), die je nach Wahlordnung für die Besetzung der Ehrenämter sorgten. So unterschiedlich ihre Titulatur, so unterschiedlich sind auch ihre Aufgaben bzw. Funktionen und Verantwortlichkeiten der Kahal-Mitglieder. Im allgemeinen richteten sich die Zusammensetzung des Kahals und die genaue Festlegung der Aufgaben und Zuständigkeiten seiner Mitglieder nach den Gegebenheiten der jeweiligen nichtjüdischen Umwelt: In Spanien entspricht z. B. der Ältestenrat dem kastilischen concejo, die Administration den regidores. Die Mukdamin haben ihr Gegenüber in den adelantados bzw. adenantades und die ne’ema¯ nı¯m in den secretarios der spanischen Quellen etc. Wie in der spanischen Umwelt konnten auch in den aljamas die einmal gewählten Mitglieder der Führungsgremien ihre Stellvertreter und Nachfolger selber ernennen etc. Ähnliches gilt für Polen-Litauen, wo der Kahal im wesentlichen seine Entsprechung im Magistrat des Magdeburger Stadtrechtes hatte. Die Ältesten (Parnasim; Raschim) oder Senioren, die hier – wie seit dem Mittelalter in Nordfrankreich und Deutschland – episcopi Judaeorum („Judenbischöfe“) und seit dem 18. Jh. „Judenbürgermeister“ oder „Judenmeister“ hießen, hatten ihr Gegenüber in den „Ratsherren“. Die boni viri entsprachen den „Beisitzern“ (assessores) der Stadtverwaltung und die Räte dem „Rat der Vierzig“ (quadragintavirat) etc. Die Autonomie der Gemeinde schloß ihre Jurisdiktion sowohl in zivil- als auch strafrechtlichen Angelegenheiten ein. Ihre Regelung einschließlich der Verhängung und Vollstreckung von Strafen oblag dem jüdischen Gerichtshof (Bet Din), dessen Zusammensetzung sich im Laufe der Zeit ändern und von Land zu Land verschieden sein konnte. In der

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Regel bestand ein jüdisches Gericht aus drei Richtern (Dajanim), einem Vorsitzenden (Av Bet Din) und zwei ehrenamtlichen Beisitzern, die den Titel Rabbiner trugen. Die Entscheidungen und Urteile der Richter wurden im allgemeinen von den Ältesten „gegengezeichnet“. Kleinere Gemeinden hatten nur einen Richter. Die verhängten Strafen, sofern sie sich nicht unmittelbar aus dem talmudischen Recht ergaben, richteten sich gewöhnlich nach dem in der Umwelt geltenden Strafsystem, im islamischen Spanien nach dem muslimischen Strafsystem, angefangen von körperlicher Züchtigung über Gefängnisstrafen bis hin zur Todesstrafe, die im rechristianisierten Kastilien noch bis ins 13./14. Jh. verhängt und vollstreckt werden konnte. In Polen-Litauen wurden zwar auch strafrechtliche Fälle vom Bet Din untersucht; der Vollzug der verhängten Strafen oblag jedoch der Staatsgewalt. Alle Funktionen im Kahal waren Wahlfunktionen und auf ein Jahr begrenzt. In PolenLitauen wechselte das Amt des Seniors sogar von Monat zu Monat (parnas ha-Chodesch bzw. senior mensis). Die Wahl der entsprechenden Personen erfolgte auf der Grundlage von Wahlordnungen, die von Ort zu Ort differieren konnten. Die Kahal-Mitglieder wurden jedoch nicht direkt von der Gemeinde gewählt, sondern diese wählte zunächst ein Kollegium von Wahlmännern, das aus sich heraus ein kleineres Wahlmännergremium wählte, das dann am Ende die entsprechenden Gemeindevertreter zu wählen hatte. Da die Gemeindevertreter in Polen-Litauen die Gemeinden gegenüber dem König zu vertreten hatten, hatten sie nach ihrer Wahl einen Treueid auf den König und die Rzeczpospolita zu leisten. Vertreter von Gemeinden in Privatstädten oder auf Privatländern waren nicht dem König und der Rzeczpospolita zum Treueid, sondern gegenüber dem Landesherrn verpflichtet. Während seiner Amtszeit fungiert der Senior als Oberbürgermeister der Judenstadt bzw. des jüdischen Viertels einer Stadt, hat die Oberaufsicht über die Rechtspflegeinstitutionen einer Gemeinde, ist verantwortlich für das Budget der Gemeinde und muß gegebenenfalls Kredite aufnehmen und Schulden der Gemeinde begleichen. Auf seine mündliche oder schriftliche Vorladung hin hat sich jedes Gemeindemitglied bei ihm einzustellen. Diese weitgehenden Vollmachten führten im Lauf der Zeit dazu, daß sich mehr und mehr eine Oligarchie herausbildete und die Gemeindeältesten sich zu Autokraten entwickelten, deren Amtsführung seit dem ausgehenden 18.Jh. immer öfter als „Gemeindetyrannei“ beschrieben worden ist. Zu den Instrumenten der Führung der Gemeinde zählten vor allem zum einen die Takkanot, auf Mehrheitsbeschluß oder aber auf anerkannter Autorität eines einzelnen basierende, sei es für eine bestimmte Zeit, sei es im Sinne eines Statutes auf Dauer gültige „Anordnungen“, der sich alle Gemeindemitglieder zu beugen hatten, und zum anderen der in mehreren Graden überlieferte „Bann“ (Cherem), der als Mittel zur Regelung der Teilhabe an der Gemeinde diente. Neben den ehrenamtlichen Gemeindevertretern hatte der Kahal eine Reihe bezahlter Beamter, deren Zahl indessen nicht zuletzt von den finanziellen Mitteln und Möglichkeiten einer Gemeinde abhing. An der Spitze der Beamtenschaft stand (1) der durch einen Vertrag mit der Gemeinde zumeist auf sechs Jahre angestellte Gemeinderabbiner (Rav), der zwar infolge seiner Aufgaben – als Vorsitzender des Gerichts verfügte er über den Cherem, war zuständig für das Zivilstandswesen, hatte die oberste Schulaufsicht und alle Gemeinderats-

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beschlüsse zu unterzeichnen – eine hohe Stellung in der Gemeinde hatte, aber dennoch der Diener seiner Gemeinde und den Ältesten untergeordnet war. Seine Aufgaben- und damit Machtfülle ließ ihn jedoch gelegentlich in Konflikt mit den Ältesten geraten, zumal sich die Aufgabenbereiche beider zuweilen überschnitten. Dem Rabbiner zur Seite stand (2) ein Prediger (Darschan), der am Sabbat die Schrift auszulegen hatte und zugleich einer der drei Richter der Gemeinde war. Der (3) dritte Beamte war der Leiter der Jeschiwa (Rosch Jeschiwa), sofern eine Gemeinde sich eine eigene Jeschiwa leisten konnte. Weiter gehörten zu den Beamten (4) der Schreiber (Sofer; Safra mata; notarius Judaeorum), (5) der Schuldiener (Schammasch; scholae magister bzw. minister), womit später alle niedrigen Beamten des Kahals bezeichnet wurden, und, sofern es sich eine Gemeinde leisten konnte, (6) ein Arzt, Apotheker und anderes medizinisches Personal. Die „Schuldiener“ bilden die eigentliche Exekutive einer Gemeinde. In dem Maße, in dem ihre Aufgaben wuchsen, nahm auch der Kreis der Beamten zu. Sie waren verantwortlich für die Unterhaltung der Synagoge, Pflege des Friedhofes, Verwaltung der verschiedenen Gemeindekassen, für die Organisation des jüdischen Gerichtes etc. Im Gericht war der Schuldiener zugleich zuständig für die Bestellung der Zeugen der Anklage ebenso wie der Verteidigung etc. Von besonderer Bedeutung war unter den Beamten der Schreiber, der neben Hebräisch (und später Jiddisch) die Sprachen der Umwelt (je nach Land und Zeit Arabisch, Lateinisch, Kastilisch, Französisch, Deutsch, Polnisch etc.) in Wort und Schrift beherrschen mußte, denn er war zuständig für die Kommunikation zwischen der „Judenstadt“ und der nichtjüdischen Umgebung. Ein solcher Schreiber mußte nicht unbedingt ein Jude sein; in Polen-Litauen war es häufig ein christlicher Adliger, der einen jüdischen notarius zur Seite hatte. Dieser jüdische notarius, der von Amts wegen allenthalben mit der nichtjüdischen Umwelt zu tun hatte, war gleichsam der „Prototyp“ des späteren „Fürsprechers der Juden“ (Schtadlan; syndicus).

Übergemeindliche Selbstverwaltung Obschon Autonomie wesentlich Autonomie der Einzelgemeinde bedeutete, gab es doch immer wieder auch Bemühungen um Ausweitung der Autonomie über die Einzelgemeinde hinaus, die sich zunächst darin zeigten, daß einzelne Vertreter jüdischer Gemeinden über ihre unmittelbare Gemeinde hinaus Anerkennung genossen, gleichsam übergemeindliche Autorität besaßen und von der jeweiligen Regierung als „übergemeindliche“ Sprecher akzeptiert wurden. Solche akzeptierten „übergemeindlichen“ Sprecher, die ursprünglich Nasi im islamischen Spanien Nagid und im rechristianisierten Kastilien, Aragon und Navarra rav de la corte, im aschkenasischen Raum zunächst wieder Nasi bzw. supremus magister Judaeorum, senior generalis, „Hochmeister aller Juden“ oder auch „Regierer der Judenheit“2 und später dann allgemein schtadlan („Unterhändler, Fürsprecher“) genannt wurden, hat2

So der Titel von Josel(man) von Rosheim (1480–1554).

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ten oft zugleich wichtige Positionen in Staat und Gesellschaft inne, in Spanien nicht anders als in Deutschland und später in Polen-Litauen. Ihre Position und Funktion wurde in dem Maße wichtiger, in dem die Autonomie der jüdischen Gemeinden nicht auf die lokale Ebene beschränkt blieb, sondern sich auf übergemeindlicher, d. h. auf regionaler und schließlich auch auf Landesebene durchsetzte. Übergemeindliche Strukturen entstanden zum einen durch Zusammenschluß mehrerer Gemeinden oder aber dadurch, daß kleinere Gemeinden sich der Jurisdiktion größerer Gemeinden unterstellten. Die auf diese Weise entstandenen übergemeindlichen Jurisdiktionsbezirke auf regionaler Ebene hießen Galil („Provinz“) und auf Landesebene Medina („Staat“), ihre Organisation entsprechend Waad ha-Galil („Rat der Provinz“; poln. sejmik z˙ydowski) und Massav oder Waad ha-Medina („Vertretung oder Rat des Staates“). Eine Medina konnte aus zwei oder mehr Gelilim bestehen. In ihrer Struktur glichen Galil und Medina den Einzelgemeinden, verfügten weithin über die gleichen Positionen und Institutionen und hatten ähnliche Aufgaben. An ihrer Spitze standen von den Gemeinden gewählte Parnasim, deren Oberhaupt den Titel Rosch ha-Galil bzw. Rosch ha-Medina trug, sowie ein Rabbiner, der die oberste halachische Autorität verkörperte. Im Falle eines Zusammenschlusses mehrerer Gemeinden nannte er sich Rav ha-Galil bzw. ha-Medina und wurde von den Gemeinden gewählt (so beispielsweise in Polen); im Falle der Unterstellung kleinerer Gemeinden unter die Jurisdiktion einer größeren Gemeinde war die oberste halachische Autorität der Av Bet Din der Gemeinde, deren Jurisdiktion sich die anderen unterstellt hatten (so in Litauen). Im Unterschied zu den Einzelgemeinden hatten die übergemeindlichen Jurisdiktionsbezirke jedoch eine wesentlich schwächer ausgebildete Exekutive, weswegen sie hinsichtlich der Durchführung ihrer Angelegenheiten auf die Einzelgemeinden nachgerade angewiesen waren. Ihren Höhepunkt erreichte die übergemeindliche Autonomie in Polen-Litauen mit der Entstehung einer Institution, die selbst Heinrich Graetz nicht umhin kam, eine „einzigartige Erscheinung in der jüdischen Diasporageschichte zu nennen. Gemeint ist der Waad Arba Arazot (congressus generalis judaicus; poln. sejm z˙ydowski), der „Rat der Vier (polnischen) Länder“ Kleinpolen, Großpolen, Podolien und Wolhynien und sein litauisches Pendant, der Waad ha-Kehillot ha-Raschijot bi-Medinat Lita, der „Rat der Großgemeinden im Staat Litauen“ bzw. abgekürzt Waad Medinat Lita, der sich 1623 vom Waad Arba Arazot getrennt hatte. Wenn auch die genauen Umstände ebenso wie die Zeit der Entstehung des Vierländerrates bis heute im dunkeln liegen – bislang jedenfalls ist kein Dokument gefunden worden, das dessen Entstehung erklären würde –, so reichen seine Anfänge doch sicher bis in die Mitte des 16. Jhs. zurück. Anfangs trat der Vierländerrat einmal jährlich für einen Monat in Lublin während der dortigen Frühjahrsmesse zusammen; später tagte er zweimal jährlich, einmal in Lublin zur Zeit der Frühjahrsmesse und einmal im Herbst im weiter südöstlich gelegenen Jarosław zeitgleich mit der dortigen Herbstmesse. Die Zahl der Mitglieder des Vierländerrates betrug zunächst einen Abgeordneten pro Großgemeinde, dazu kamen sechs Rabbiner; später wurde die Zahl der Abgeordneten pro Großgemeinde auf zwei erhöht. Ins-

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gesamt hatte der Vierländerrat 30 Mitglieder. Zwischen den Sitzungen vertrat die Interessen des Vierländerrates ein Gremium von Ältesten (Zekedim oder Parnasim; senioratus), zu denen der Sprecher, der Generalsyndikus (Schtadlan; syndicus generalis) und der Sekretär (Neeman; secretarius) gehörten. Während die Staatsgewalt als einzig legitime Aufgabe des Vierländerrates die Festsetzung und Eintreibung der von den jüdischen Gemeinden an den königlichen Fiskus zu leistenden Steuern betrachtete, hatte er de facto jedoch weitreichendere Kompetenzen, und zwar nach außen ebenso wie nach innen. Neben der Festsetzung und Eintreibung der Steuern hatte er nach außen vor allem die Vertretung der jüdischen Gemeinden und Wahrung insbesondere ihrer wirtschaftlichen Interessen gegenüber der nichtjüdischen Umwelt und ihrer Obrigkeit inne. Eine besondere Rolle spielte dabei der Schtadlan, der ranghöchste Beamte der polnisch-litauischen Judenschaft, der auf Vorschlag der jüdischen Gemeinden vom König ernannt wurde, an allen Sitzungen des Vierländerrates teilzunehmen und dem König alle Angelegenheiten, die dessen Zustimmung erforderten, vorzulegen die Pflicht hatte. Als Vertreter der gesamten Judenschaft war der Schtadlan zugleich eine Art jüdischer Gesandter am königlichen Hofe. Nach innen hatte sich der Vierländerrat mit allen administrativen und sozialen Problemen in und zwischen den Gemeinden zu befassen, vor allem hatte er das Gerichts- und Schulwesen zu organisieren und für den Rechtsfrieden zwischen den Großgemeinden und den sich ihrer Jurisdiktion unterstellenden kleineren Gemeinden zu sorgen. Ihm oblag auch die Finanzverwaltung und die Verteilung der innerhalb der Gemeinden verbleibenden Steuern auf die einzelnen Regionen und Gemeinden. Das Landesgericht (Dajane ha-Arasot), das aus den angesehensten Rabbinern und je zwei Abgeordneten aus Poznan/Posen, Kraków/Krakau und Lwów/Lemberg bestand und zeitgleich mit dem Vierländerrat tagte, diente zugleich als höchste Appellationsinstanz der jüdischen Gemeinden. Als vermittelnde Instanzen zwischen den Einzelgemeinden und dem Vierländerrat figurierten die Waade ha-Gelilot, die sich, wie Simon Dubnow einmal formulierte, zum Vierländerrat verhielten „wie die Kantonsräte der Schweiz zum Bundesrat in Bern“. In seiner Autorität freilich glich der Vierländerrat dem antiken Sanhedrin (jüdischer Gerichtshof). Indessen untergrub der wirtschaftliche Verfall der jüdischen Gemeinden in Polen-Litauen im 18. Jh. und ihre Überschuldung die übergemeindliche Autonomie zusehends und schränkte die Tätigkeit des Vierländerrates immer mehr ein, bis er am Ende geradezu wirkungslos geworden war. Als ihn der polnische Sejm 1764 per Beschluß schließlich auflöste, regte sich nicht einmal mehr Widerstand seitens der jüdischen Gemeinden gegen diesen Eingriff in ihre Autonomie, die über Jahrhunderte funktioniert hatte. Fortan war allein der zu immer größerer Selbstherrlichkeit neigende Kahal die letzte noch verbliebene Säule der jüdischen Autonomie, bis die Administration im zaristischen Rußland 1844 auch noch diesen Rest der einst blühenden jüdischen Selbstverwaltung abschaffte. Während sie damit zumindest in ihrem Herrschafts- und Zuständigkeitsbereich die Juden und jüdischen Gemeinden in ihrer Existenz fortan wieder ganz von staatlichem Wohlwollen und entsprechender Gesetzgebung abhängig machte, veränderte sich auch in

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den westeuropäischen Ländern die Situation der jüdischen Gemeinden erheblich, zum einen durch die im Zuge der Französischen Revolution ausgelösten gesellschaftlichen Transformationsprozesse und zum anderen unter dem Einfluß beginnender Emanzipations- und Assimilationsbestrebungen. Bedeuteten doch beide gleichermaßen ein Ende der traditionellen Gemeindeautonomie und leisteten der Entstehung neuer Formen der Organisation jüdischer Gemeinden ebenso wie einer Veränderung hinsichtlich ihrer rechtlichen Stellung Vorschub. Dies zu beschreiben, wäre jedoch bereits ein neues Thema.

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Juden aus dem östlichen Europa in Mittel- und Westeuropa Über 80% der heute auf der Welt lebenden Judenheiten haben ihre Wurzeln in der osteuropäischen Judenheit. In einem säkularen Prozeß, dessen Anfänge in der ersten Hälfte des 19. Jhs. liegen, verschob sich der Siedlungsschwerpunkt der Juden von Ost- und Ostmitteleuropa nach Nordamerika, wobei der Mord an den europäischen Juden in der Zeit der deutschen Besatzung Europas während des Zweiten Weltkriegs der radikalste Einschnitt bedeutet. Durch den Völkermord an den europäischen Juden sowie durch Flucht und Abwanderung verlor der alte Kontinent in der Mitte des 20. Jhs. seine frühere Bedeutung als Schwerpunkt jüdischen Lebens, während Israel zur zweitgrößten Niederlassung in der Welt aufstieg. Der Wunsch vieler osteuropäischer Juden und Jüdinnen, die eigene Existenz und die der Familie unter materiell günstigeren und politisch-sozial weniger bedrückten Verhältnissen zu gestalten, als dies in den Regionen kompakter jüdischer Siedlung in Rußland, Polen, Rumänien und Galizien (einer damaligen Provinz Österreich-Ungarns) der Fall war, stand am Beginn der Wanderungsströme des 19. Jhs.

Motivationen und Voraussetzungen Es gab im 19. und 20. Jh. für Juden und Jüdinnen des östlichen Europa viele Gründe, ihren angestammten Wohnsitz zu verlassen und sich andernorts neu anzusiedeln. Wirtschaftliche Stagnation, diskriminierende Ausschließung aus bestimmten Berufszweigen und dem gesellschaftlichen Leben, herabwürdigende Rechtsstellung und die Bedrohung von Gut und Leben durch antisemitisch motivierte Gewalt sind hier zu nennen. Die historische Forschung geht davon aus, daß Überbevölkerung mit den hiervon abgeleiteten Phänomenen der Überbesetzung in bestimmten Berufszweigen und der harten Konkurrenz um bestehende Ressourcen als die zentrale Ursache für eine definitive Abwanderung zu betrachten ist. Seit Mitte des 19. Jhs. entwickelte sich Nordamerika zu einem häufig mythisch überhöhten Ziel dieser Minderheit. Eine der ersten jüdischen Gruppenwanderungen jenes Jahrhunderts war die Auswanderung der Juden aus der ehemals polnischen Provinz Posen und aus den ländlichen Siedlungsbereichen in Baden, Bayern und Hessen nach England und in die Vereinigten Staaten. Zwei Voraussetzungen mußten erfüllt sein, daß auch Juden und Jüdinnen aus Ostmittel- und Osteuropa den Weg (meist) in Richtung Westen antraten: zunächst ein Grundwissen über den Weg und das Ziel und die hiermit verbundenen Kosten, sodann die Verkehrswege selbst, um dieses Unterfangen auch umzusetzen. Der Bau von Eisenbahnlinien in Preußen, Rußland und Österreich war von ähnlicher Bedeutung für das Anwach-

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sen der Wanderungsströme wie die Einrichtung regelmäßig verkehrender Schiffahrtslinien zwischen Ost- und Nordseehäfen einerseits und New York andererseits. Erst der Massentransport ermöglichte eine Reduzierung der Reisekosten auf ein Maß, das es auch geringer begüterten Auswanderungswilligen erlaubte, ihren Wunsch in die Tat umzusetzen. Die jüdischen Emigranten aus den Regionen des östlichen Europa zeichneten sich im Vergleich zur nicht-jüdischen Auswanderung dadurch aus, daß sie im Durchschnitt älter, ein wenig bessergestellt waren und ihre Auswanderung von vornherein auf Dauer angelegt war, was sich insbesondere an einem weniger deutlichen Übergewicht der Migranten gegenüber den Migrantinnen ablesen läßt. Im Vergleich zu den auswandernden Nichtjuden sprang zudem ein hoher Anteil ausgebildeter Handwerker und Facharbeiter, zumeist aus den Branchen des Bekleidungshandwerks, ins Auge. Zeitgenössische Beobachter vertraten die Auffassung, daß höher qualifizierte Handwerker dazu tendierten, ihr Glück in Frankreich oder England zu versuchen, während die minder qualifizierten Emigranten in die Neue Welt strebten. Ihre handwerklichen Fertigkeiten sollte die Beschäftigungsstruktur der ersten und zweiten Generation jüdischer Einwanderer sowohl in Mittel- und Westeuropa wie auch in den Vereinigten Staaten prägen. Der Broterwerb in halbselbständiger Heimarbeit und in kleinen und mittleren Handwerksbetrieben, das sogenannte sweating-system, das sich durch extrem lange Tagesarbeitszeiten und schlechte Arbeitsbedingungen auszeichnete, war typisch für diese Immigration in Paris, London und Manchester, weniger jedoch in Berlin. Hier entstand ein vergleichbarer Typus des „Unternehmensproletariats“ nicht in der Bekleidungs-, sondern in der Zigarettenindustrie. Diese absorbierte aber nur etwa den zehnten Teil der zugewanderten Juden und Jüdinnen, die sich fast ausschließlich im Handel betätigten. Die meisten, aber nicht alle, die der sozialen Bedrückung oder dem materiellen Elend in Ostmittel- oder Osteuropa zu entkommen wünschten, zog es nach Amerika. Sie waren Teil einer säkularen Wanderungsbewegung, in deren Verlauf etwa zwanzig Millionen Menschen aus der „Alten“ in die „Neue“ Welt übersiedelten. Gemessen am Umfang der Bevölkerungszahlen in den Herkunftsländern, lag nur der Anteil der nach Nordamerika auswandernden Iren höher als der der europäischen Juden. Viele strebten jedoch in die europäischen Länder, in die großen Metropolen Mittel- und Westeuropas. Bis 1925 verließen etwa 3,5 Mio. Juden Osteuropa, etwa zwei Drittel von ihnen aus dem Russischen Reich. Und viele, die sich auf den Weg zum anderen Ufer des Atlantik machten, blieben unterwegs stecken: in Deutschland, in Frankreich und insbesondere in England. Im Verhältnis zu der Millionenwanderung über den Atlantik – 2,65 Mio. jüdische Migranten landeten in den USA, 100 000 in Kanada – blieb ihre Zahl verhältnismäßig gering. Etwas über 200 000 Juden und Jüdinnen aus dem östlichen Europa siedelten sich in England an, etwa 100 000 in Frankreich. Diese Wanderungsbewegung war jedoch groß genug, um das Bild der mittel- und westeuropäischen Judenheiten nachhaltig zu verändern. Das Deutsche Reich stellte insofern einen Sonderfall dar, als es selbst über Territorien der früheren polnischen Adelsrepublik verfügte, deren jüdische Bevölkerung sich zwar in kurzer Frist prussifiziert hatte, dessenungeachtet aber über starke familiäre und kulturelle Verbindungen in die weiter östlich gele-

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genen polnischen Territorien verfügte. Die Immigration in das Deutsche Reich stellte für viele jüdische Migranten aus dem östlichen Europa deshalb eine hohe Attraktivität dar, da das Deutsche als lingua franca Ostmitteleuropas in vielen Herkunftsregionen der Wanderungsbewegung gesprochen wurde. Die Kenntnis der deutschen Sprache erleichterte deutlich die Eingliederung und Erwerbstätigkeit im Gegensatz zu den übrigen westeuropäischen Staaten. Wie gezeigt worden ist, verfügten die Immigranten aus Galizien, Rumänien und auch aus Zentralpolen und Rußland über genaue Kenntnisse der deutschen Hochkultur. In der historischen Betrachtung solcher Wanderungsbewegungen ist der eventuelle unternehmerische Impetus der Migrierenden ebenso zu berücksichtigen wie die Lebensbedingungen am Ausgangsort der Migration, das Verhältnis der pull- und push-Faktoren abzuwägen. Der Wille zum sozialen Aufstieg, der die jüdischen Einwanderer in der Neuen Welt wie in den mittel- und westeuropäischen Metropolen auszeichnete, war in einem Jahrhundert des technologischen Umbruchs besonders aussichtsreich. In stärkerem Maße als andere Wanderungsgruppen wußten die galizischen, russischen und rumänischen Juden um die zentrale Bedeutung einer guten Ausbildung. Gerade die erste Immigrationsgeneration – und dies ist ein gemeinsames Merkmal der osteuropäisch-jüdischen Immigration in Mittelund Westeuropa – nahm für eine gute Ausbildung ihres Nachwuchses außerordentliche Opfer auf sich. „Der jüdische Arbeiter legt sich jedes Opfer auf, um seinen Kindern eine möglichst hohe Bildung zu verschaffen; die Schüler stehen nach der Aussage des Schulinspektors hinter den eingeborenen englischen in körperlicher Bildung kaum zurück und sind ihnen geistig durchschnittlich überlegen“, hieß es in einem Bericht über das East End um 1900, den stark durch die osteuropäisch-jüdische Immigration geprägte Londoner Bezirk. Hierbei handelt es sich jedoch, das sollte festgehalten werden, nicht um eine Neuorientierung dieser Immigranten: Auch in den Ländern des östlichen Europas legten jüdische Eltern zumindest auf eine Grundbildung ihrer Kinder traditionell großen Wert. Georg Halpern hielt 1910 für London die Beobachtung fest, daß schon „die zweite Generation wirtschaftlich keine besondere Gruppe innerhalb der Gesamtbevölkerung bildet, sie fühlt sich in ihrer Berufstätigkeit schon ganz englisch“ und ruft schon nach „Beschränkung der Einwanderung der fremden Paupers aus dem östlichen Europa“.1 Diese Sicht bestätigt eine allgemeine Beobachtung Shulamit Volkovs, daß der soziale Aufstieg in einer sich rapide modernisierenden Gesellschaft (den sie am Beispiel der deutschen Juden verfolgte) eng mit der bestmöglichen Erziehung und Bildung für die Kinder verbunden wurde. Das hieraus resultierende Vorwärtskommen führte wohl zu Akkulturation, hatte diese aber nicht in erster Linie als Ziel. Andere jüdische Migrationskohorten wiesen eine vergleichbare Orientierung auf: So erlaubten es Sprachkompetenz und Kenntnis des russischen Marktes den seit den sechziger Jahren des 19. Jhs. in das Königreich Polen einwandernden Juden aus den 1

Georg Halpern, Die jüdischen Arbeiter in London, Stuttgart/Berlin 1903, S. 42 f.; Klara Eschelbacher, Die ostjüdische Einwanderungsbewegung, in: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden 16 (1920), 1, S. 12.

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nordwestlichen Gouvernements des Russischen Reiches, schnell wirtschaftliche Schlüsselpositionen zu erringen, ohne sich um eine Nähe zur autochthonen jüdischen oder nichtjüdischen Bevölkerung zu bemühen, in der sie jedoch nach spätestens zwei Generationen vollständig aufgegangen waren.

Die osteuropäische jüdische Migration als Teil der allgemeinen europäischen Migrationen und ihre Spezifika Ist die (Binnen- und internationale) Verstädterung ein Grundzug der Bevölkerungsbewegungen Europas im 19. Jh., so kann man für die Judenheiten der einzelnen Länder von einer ausgesprochenen Metropolisierung sprechen, also von einer Konzentration in der Kapitale oder zumindest den wichtigsten städtischen Zentren eines gegebenen Landes. Für Deutschland war dies Berlin, in England London und Manchester, in Frankreich Paris, in Österreich Wien, in Russisch-Polen Warschau und Łódz. Diese Metropolisierung war besonders akzentuiert in den westlichen Staaten Europas. So lebte etwa jeder dritte deutsche Jude nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin, während in Warschau nur jeder zehnte polnische Jude wohnte. Gleiches wie für die Verstädterung gilt für die Auswanderung aus strukturschwachen Regionen. Die preußische Provinz Posen, agrarisch geprägt und ökonomische Peripherie Preußens und des Deutschen Reiches, verlor im Verlauf des 19. Jhs. gleichermaßen nichtjüdische wie jüdische Einwohner und Einwohnerinnen. Juden und Jüdinnen standen jedoch am Anfang dieser Auswanderung, die so umfangreich wurde, daß viele auch traditionsreiche jüdische Gemeinden der Provinz in ihrer Existenz bedroht waren. Die jüdische Bevölkerung in der Provinz ging von 81 250 Personen im Jahr 1846 (6% der 1,3 Mio. Personen umfassenden Gesamtbevölkerung) auf nur noch 26 500 (1,3%) im Jahr 1910 zurück. Ähnliches läßt sich für die Motivation der Auswanderung sagen: Wie für die nicht-jüdischen Wanderungsbewegungen im Europa des 19. und frühen 20. Jhs. gilt auch für die jüdischen Migrationen das Primat der wirtschaftlichen Motivation. Signifikantes Beispiel ist hierfür die Entwicklung wirtschaftlicher Peripherien in Ostmittel- und Osteuropa, die, wie Galizien, Posen oder die weißrussischen und litauischen Gouvernements des russischen Ansiedlungsrayons, eine deutlich negative Wanderungsbilanz aufwiesen, während wirtschaftlich dynamische Regionen wie die industrialisierten Zentren im Königreich Polen oder einige südrussische Gouvernements einen deutlichen Wanderungsüberschuß aufwiesen. Die Rückwanderung jüdischer Migranten aus Nordamerika und aus Mittel- und Westeuropa nach ihren Herkunftsregionen erschloß die Forschung bislang nur unvollständig. Diese schwerwiegende Entscheidung wurde getroffen, wenn die finanziellen Ressourcen für die Auswanderung aufgebraucht waren, ohne daß eine Lebensperspektive aufgebaut worden wäre, die die Entbehrungen und die Trennung von Angehörigen und der vertrauten

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Umgebung rechtfertigte. Sie kam demnach häufiger bei Migranten vor, die den Weg ohne Angehörige auf sich genommen hatten oder diese am Zielort der Migration verloren. Der Umfang der Rückwanderung ist höher als vielfach angenommen – etwa jeder fünfte oder sechste jüdische Immigrant aus Osteuropa kehrte den Vereinigten Staaten nach kurzem Aufenthalt wieder den Rücken, wobei die Rückkehrbereitschaft nach Galizien höher lag als jene in das Russische Reich. Derzeit fehlen für die Immigration nach Mittel- oder Westeuropa noch entsprechende Studien. Aufgrund des wesentlich geringeren Aufwandes der Rückwanderung kann aber zumindest von einer ähnlich hohen Rate ausgegangen werden. In diesem Zusammenhang muß die zwangsweise Zurücksendung jüdischer Migranten berücksichtigt werden, von der bei der versuchten Einwanderung nach England Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jhs. jährlich viele hundert Personen betroffen waren. Wesentlich vereinfacht stellte sich das Auswanderungsvorhaben dar, wenn einzelne Familienangehörige oder Verwandte sich bereits an den Zielorten dieser Migration niedergelassen hatten. Diese konnten den Nachkommenden eine erste, wenn auch notdürftige Unterkunft bieten und den Einstieg in das Erwerbsleben erleichtern. Solche familiären und landsmannschaftlichen Verbindungen stellten die wesentliche Grundlage für die Entstehung einer Reihe von osteuropäisch-jüdisch geprägter Viertel dar. Diese bildeten sich nicht, wie in einzelnen Regionen und Städten des östlichen Europas, aufgrund von gesetzlichen Beschränkungen, sondern als naheliegender Lebenszusammenhang, der eine hohe Attraktivität bedeutete. So besaß beispielsweise das Wohnen in der Nähe einer Synagoge wegen der Sabbatgebote für streng religiöse Juden hohe Bedeutung. Siedlungszusammenhänge dieser Art, die in Berlin einige Straßenzüge umfaßten (das sogenannte Scheunenviertel), prägten in Wien (in der Leopoldsstadt), in Paris (das „Pletzl“ im Marais) und in London (das East End) große Stadtviertel dieser Metropolen. Signifikanter aber als der rein topographische Zusammenhalt der zugewanderten Juden und Jüdinnen war die Vielzahl von Berufs-, Geselligkeits- und Hilfsorganisationen, die nach dem Vorbild der Chewres, der jüdischen Bruderschaften der osteuropäisch-jüdischen Lebenswelt, entstanden. Unerreichbar war ihre Anzahl in New York, wo man kurz nach dem Ersten Weltkrieg über 2 400 solcher Gesellschaften zählte. Zur gleichen Zeit existierten in Paris etwa 160 Landsmannschaften und andere osteuropäisch-jüdisch geprägte Vereinigungen. Geringer war ihre Zahl in England, nicht zuletzt aufgrund der intensiven Integrationsbemühungen durch die bereits ansässigen jüdischen Gemeinden. Diese hatten selbst erst seit wenigen Jahrzehnten durch die deutsch-jüdische Einwanderung vom Beginn des 19. Jhs. zahlenmäßig an Bedeutung gewonnen, was sie nicht nur nicht davon abhielt, sondern darin noch bestärkte, sich um ihre zuwandernden osteuropäischen Glaubensgenossen mit besonderer Aufmerksamkeit zu widmen, ohne hierbei vor massivem Druck auf die Zuwandernden zurückzuschrecken.

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Konjunkturen der Ansiedlung in Mittel- und Westeuropa Große Bedeutung für die Konjunkturen der jüdischen Auswanderung aus Osteuropa und die Verschiebung von jüdischen Siedlungsschwerpunkten besaß die Gesetzgebung sowohl der Herkunfts- als auch der Zielregionen. Ausweisungsbefehle oder Ansiedlungsverbote, wie sie das zaristische Rußland über das gesamte 19. Jh. hindurch – etwa für den ländlichen Raum, die unmittelbaren Grenzregionen, wie auch für die zentralen Gouvernements des Reiches – erließ, konnten Tausende von Familien ihrer Heimstatt berauben und so einen Teil von ihnen zur Auswanderung motivieren. Gleiches gilt für den rechtlichen Gleichstellungs- und Emanzipationsprozeß des 19. Jhs. Als 1862 die weitgehende, jedoch nicht vollständige Gleichstellung der Juden im Königreich Polen erlassen wurde, fielen alle Ansiedlungsbeschränkungen, die bis dato existiert hatten. Dies führte einerseits zu einer massiven Binnenmigration aus Dörfern und Kleinstädten in jene Städte, die bis dahin über ein Privileg „de non tolerandis Judaeis“ (also das Recht, keine Juden aufnehmen zu müssen) verfügt hatten, andererseits zu einer starken Einwanderung von Juden aus dem Russischen Reich. Ähnlich wirkte die schrittweise Emanzipation der Juden in Österreich-Ungarn zwischen 1848 und 1867. Die Aufhebung der Zuzugsbeschränkungen in das nördliche Ungarn, in die Bukowina und vor allem nach Wien brachte eine starke Zuwanderung von Juden und Jüdinnen mit sich, die vor allem aus dem wirtschaftlich stagnierenden Galizien sowie aus Böhmen und Mähren herstammte. Erwerbsmöglichkeiten fanden diese Migranten in der Bukowina und in Ungarn insbesondere im Handel. Dominierte auch in Wien zur Mitte des 19. Jahrhunderts der Handel, führte die hohe vertikale soziale Mobilität hier zu einem ungewöhnlich breiten Eintritt in die Verwaltungsberufe. Die höchsten Zuwachsraten jüdischer Immigration erlebte Wien in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jhs. Über zwei Drittel der zwischen 1870 und 1910 in Wien heiratenden jüdischen Männer stammten aus Ungarn, Galizien, Böhmen, Mähren sowie vereinzelt auch aus Rußland und Rumänien. Die jüdische Zuwanderung nach Wien zeichnete sich von Beginn an durch einen hohen Anteil migrierender Familien aus und übertraf in ihren Zuwachsraten die nicht-jüdische Zuwanderung um ein vielfaches. Von etwa 6000 Personen 1857 wuchs die jüdische Bevölkerung der österreichisch-ungarischen Hauptstadt im Verlauf von fünfzig Jahren auf 175 000 im Jahr 1910. Hinzu kamen im Verlauf des Ersten Weltkriegs noch einmal 35 000 jüdische Flüchtlinge aus Galizien. Insgesamt betrug die jüdische Immigration aus Ungarn, Galizien, Böhmen und Mähren nach Wien somit etwa 150 000 Personen. Eine zahlenmäßig bedeutende jüdische Immigration aus dem östlichen Europa in das Deutsche Reich setzte um 1870, und somit deutlich später als in Österreich-Ungarn, ein. Stärker russisch- als polnisch-jüdisch geprägt, zog es sie vor allem nach Preußen, wo sich fast alle der etwa 16 000 Juden und Jüdinnen aus dem östlichen Europa (bis auf etwa 1000 Personen) angesiedelt hatten. Ihre Zahl stieg auch weniger stark an und lag um die Jahrhundertwende bei 40 000 Personen. Im ganzen Deutschen Reich wanderten bis 1910 etwa 70 000 jüdische Zuwanderer aus dem östlichen Europa zu, die meisten von ihnen nach

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Preußen, Sachsen und Bayern. Der weitaus größte Teil der nach Bayern Einwandernden, deren Gesamtzahl sich 1900 auf etwa 7000 Personen belief, stammte aus Galizien und etwa jeder zehnte aus dem Russischen Reich. Einen grundsätzlich ähnlichen Verlauf wie in Österreich und Deutschland hatte die Zuwanderung von Juden und Jüdinnen aus dem östlichen Europa nach England und Frankreich, wenn sie auch eine gewisse Phasenverschiebung aufwies. Die Immigration nach England, die sich auf London und Manchester konzentrierte, setzte etwa 1870 ein. Die Diskussionen in der englischen Öffentlichkeit um die konzentrierte Ansiedlung im East End, wo um die Jahrhundertwende etwa 100 000 Juden und Jüdinnen lebten, führten zur Verabschiedung des Aliens Act 1905, der eine weitere osteuropäisch-jüdische Zuwanderung weitestgehend unterband. In Frankreich hingegen setzte die Zuwanderung etwa zehn Jahre später ein und erreichte bis nach dem Ersten Weltkrieg nicht die Ausmaße der Zuwanderung in die vorgenannten Länder. Bis zum Ersten Weltkrieg hatten sich etwa 35 000 Juden und Jüdinnen aus dem östlichen Europa fast ausschließlich in Paris niedergelassen. Eine liberale Einwanderungspolitik, die erwähnte Abschließung Englands und die radikale Reduzierung der Einwanderungsraten in die Vereinigten Staaten 1924 erhöhten die Attraktivität von Frankreich als Zuwanderungsland in der Zeit zwischen den Weltkriegen, die somit – später als in den anderen Ländern Mittel- und Westeuropas – die höchste osteuropäischjüdische Zuwanderung mit sich brachte. Von den 175 000 Juden und Jüdinnen, die 1939 in Frankreich lebten, stammten 50 000 aus Polen, 15 000 aus Rußland und je etwa 10 000 aus Ungarn und Rumänien, die sich zu etwa 90% in Paris niederließen.

Initiativen und Organisationen der Emigrationshilfe Die Abwanderung von Juden und Jüdinnen aus dem östlichen Europa setzte zwar bereits in der Mitte des 19. Jhs. in Galizien und Großpolen ein und nahm seit den siebziger Jahren einen größeren Umfang an. In das öffentliche – jüdische wie nicht-jüdische – Bewußtsein Europas rückte diese Massenbewegung jedoch erst aufgrund der kurzzeitigen Fluchtbewegung aus dem Russischen Reich nach den Pogromen in Südrußland 1881 und 1882. Parallel zu einem Prozeß der Selbstbesinnung, der Politisierung und der Radikalisierung unter den russischen Juden und Jüdinnen erschienen Umsiedlungsprojekte jeglicher Art als Ausweg aus der Hoffnungslosigkeit der Situation. Im Zarenreich griff zudem ein Emigrationsfieber um sich, das Gerüchte über großzügigste finanzielle Unterstützung bei der Auswanderung, die die wohlhabendsten Juden Mittel- und Westeuropas angeblich zur Verfügung stellten, und über Eingliederungshilfen der jüdischen Gemeinden in den Zielregionen begünstigte. Eine substantielle Emigration war zu diesem Zeitpunkt jedoch nur in die Vereinigten Staaten möglich: Die jüdischen Verantwortungsträger in Österreich (in Gestalt der Israelitischen Allianz zu Wien), im Deutschen Reich (Deutsches Central-Comité für die russischjüdischen Flüchtlinge, Berlin), in Frankreich (Alliance Israélite Universelle, Zentralkonsistorium) und England (London Mansion House Fund, Board of Deputies, Anglo-Jewish

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Association) bemühten sich 1881/82 erfolgreich um eine Verhinderung der Aufnahme aus Rußland Fliehender. Auf einer Konferenz von Vertretern jüdischer Hilfsorganisationen erklärte die „Wiener Allianz“, daß „wir die Zumutung, den Bodensatz der russisch-jüdischen Flüchtlinge bei uns zu behalten oder dieselben in unsagbares Elend nach Rußland zu jagen, nachdrücklich und entschieden ablehnen“.2 Die Vertreter fast aller Gemeinden zogen letztlich jedoch die zweite Variante vor: Von den über 14000 jüdischen Flüchtlingen, die sich 1881 an der russisch-österreichischen Grenze in Brody drängten, wurden lediglich 150 Familien in Paris und 60 in Amsterdam aufgenommen, alle anderen wurden nach Rußland zurückgeschickt. Die sehr beträchtlichen Geldsummen, die europaweit gesammelt worden waren (allein zwei Komitees in Paris sammelten 2,5 Mio. Francs), sollten vor allem in die Organisation der Transmigration in die Vereinigten Staaten fließen. Hier spielte die Hebrew Immigrant Aid Society (HIAS) die entscheidende Rolle in Empfang und Versorgung der immigrierenden Juden und Jüdinnen. Die mit Abstand ehrgeizigste individuelle Rückführungsinitiative ergriff 1892 der in London ansässige, durch den Bau von Eisenbahnen zu großem Vermögen gekommene Baron Moritz von Hirsch, der mit einer umfänglichen Stiftung die Übersiedlung der russischen Juden nach Argentinien durchführen wollte. Aus dieser Stiftung ging die Jewish Colonization Association hervor, die für die russische Judenheit weniger durch ihre Emigrationshilfe als durch die Finanzierung jüdischer Kredit- und Bildungsinstitutionen in Rußland um die Jahrhundertwende von Bedeutung war. Schlugen die Versuche einer zentralen Koordinierung von Hilfsmaßnahmen innerhalb Europas weitgehend fehl, so gelang die Durchführung der Auswanderung aufgrund individueller wie auch lokaler Initiative. Als Beispiel sei lediglich der Memeler Rabbiner Rülf genannt, der im Laufe der Jahre viele tausend aus Rußland stammende Juden und Jüdinnen an der preußisch-russischen Grenze mit organisatorischer und materieller Hilfe zur Weiterwanderung ausstattete, und hierfür in Rußland unter dem Namen „Dr. Hülf“ bekannt war. Weitere Hilfe wurde zunächst an den Durchgangsstationen organisiert – im Falle Deutschlands etwa in Berlin und Hamburg –, die für die jüdischen Migranten im Vergleich mit anderen Gruppen verhältnismäßig am besten funktionierte.

„Alte“ und „neue“ Jischuwim Die massive und in sich heterogene Zuwanderung von Juden und Jüdinnen aus verschiedenen Regionen des östlichen Europa führte bei den jüdischen Gemeinden in den Zielstädten zu einem ganzen Komplex an Reaktionen, die ein hohes Maß an Gleichförmigkeit aufweisen. Für die mittel- und westeuropäischen Metropolen gilt, daß die Hilfe für die Migranten zunächst nicht als Eingliederungs-, sondern vorzugsweise als Weiterwande2 Zitiert nach Zosa Szajkowski, The European Attitude to Eastern European Jewish Immigration (1881–1893), in: Publications of the American Jewish Historical Society 41 (1951), S. 127–160.

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rungshilfe verstanden und gemeint war. Zu stark waren etwa bei den Verantwortungsträgern der jüdischen Gemeinden in Deutschland die Befürchtungen, eine deklarierte Eingliederungspolitik für die „russischen Juden“ könnte der aufstrebenden antisemitischen Bewegung Argumente liefern. Die trotz zahlenmäßiger Bedeutung weitestgehend aus den Gemeindevertretungen ferngehaltenen zugewanderten Juden und Jüdinnen entwickelten, wie bereits erwähnt, eine komplexe, den hergebrachten Mustern sozialer Organisation entsprechende Struktur religiöser, geselliger, karitativer und politischer Vereinigungen. Sie brachten eine den eigenen Bedürfnissen entsprechende Presse hervor, gründeten Theater und Verlage und vereinten sich vielfach zur Vertretung ihrer spezifischen Interessen gegenüber den offiziellen Gemeinden, die sich etwa durch Ausschluß vom gemeindlichen Wahlrecht vor Einflußnahme der Neuankömmlinge zu schützen suchten. Die Dauer der Zuwanderung prägte Gestalt und Identität dieses neuen „Jischuw“ in hohem Maße. Der beispielsweise in Deutschland üblichen Sammelbezeichnung „Ostjuden“ stand eine überaus heterogene, in sich keinesfalls geschlossen agierende oder sich selbst als einheitlich begreifende Schicht von Zuwanderern der unterschiedlichen Herkunftsregionen und Zuwanderungsphasen entgegen. Ein vergleichbarer Grad von Fremdheit zwischen der vorgefundenen jüdischen wie nicht-jüdischen Kultur und der eigenen, „osteuropäisch-jüdischen“ Kultur schuf zwischen den Zuwanderern unterschiedlicher Herkunft noch keine Gemeinschaft. Die Konflikte zwischen alten und neuen „Jischuwim“ kannten unterschiedliche Verläufe. In Frankreich und England behielten die alten, teilweise sefardisch geprägten Gemeindeeliten weitgehend die Kontrolle über die gesamtstaatlichen jüdischen Belange, blieben somit in ihrer leitenden Funktion bis in das 20. Jh. unangefochten. In Deutschland spielte hingegen die Rückbesinnung auf eine „wirklich“ jüdische Kultur, für die die osteuropäischjüdische Lebensweise als authentisches Beispiel wahrgenommen wurde, eine außerordentlich große Rolle. Die Migrantenkultur erfuhr somit zumindest in Teilen der aufnehmenden jüdischen Kultur eine Anerkennung und entwickelte – neben anderen Faktoren, wie etwa dem Antisemitismus – eine dissimilatorische Wirkung, die sie in Frankreich und England nicht hatte. Hier gedieh zwar gleichfalls eine „authentische“ osteuropäisch-jüdische Kultur, die aber in ihrem Verhältnis zur Kultur des „alten Jischuw“ marginalisiert blieb.

Stereotypenbildung Die einzigartige jüdische Lebenswelt, die sich in den ursprünglich polnischen historischen Regionen Großpolen, Kleinpolen, Wolhynien, Ruthenien und Litauen entwickelt hatte, war durch eine machtvolle Gemeinde, eine vitale religiöse Praxis, die markante kulturelle Scheidung von der umgebenden Gesellschaft sowie das Bewußtsein eines privilegierten Standes gekennzeichnet. Diese Lebenswelt bildete den Hintergrund für eine folgenreiche Stereotypenbildung vom „polnischen Juden“ (juif polonais, polish Jew) in Mittelund Westeuropa, die sich schon in der frühen Neuzeit, etwa in den Memoiren Glückel von Hamelns, nachweisen läßt. Dieses Stereotyp verzerrte die Charakteristika der polnischen

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Judenheit in aller Regel ins Negative. Aufgrund der Migration Hunderttausender Juden und Jüdinnen aus dem östlichen Europa, die sich im wesentlichen im Laufe einer Generation abspielte, ist die Begriffsbildung vom „Ostjuden“ in der deutschen Sprache nachvollziehbar, sie entsprach jedoch, wie schon erwähnt, keiner einheitlichen Zuwanderungsgruppe. In der Ausprägung des negativen Stereotyps unterschieden sich jüdische und nicht-jüdische Deutsche nicht wesentlich. Überdeckten sich jedoch in der nicht-jüdischen Ablehnung der Zuwanderung aus dem östlichen Europa Stereotyp und judenfeindliche Einstellungen, entsprach die Vehemenz, mit der Teile der etablierten deutschen Judenheit auf sie reagierte, im Grunde dem Gefühl der Bedrohung der eigenen Position. Rechtlicher Gleichstellung und materiellem Aufstieg zum Trotz war die Politisierung des deutschen Judenhasses unübersehbar, die in Schule, Militär, Berufsleben und Akademie seit den siebziger Jahren des 19. Jhs. stattfand. Die Ablehnung der jüdischen Zuwanderung aus dem östlichen Europa hatte zunächst mit der Furcht vor Statusverlust angesichts der eigenen, als prekär wahrgenommenen Position zu tun. Die gewissermaßen unterirdische Wirkungsweise der migrationsbezogenen Stereotypenbildung und ihre Verknüpfung mit antisemitischen Ideologien läßt sich mit einem überdeutlichen Beispiel belegen. Als Joseph Goebbels am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast vom deutschen Volk die Bereitschaft zum „totalen Krieg“ forderte, lautete eines der Spruchbänder, die zur Einstimmung des Publikums von den Tribünen hingen: „Die Juden sind unser Unglück.“ Geprägt wurde diese Wendung jedoch über 60 Jahre zuvor, in einem Feuilleton von Heinrich von Treitschke von 1879. Der Historiker hatte vor dem zunehmenden jüdischen Einfluß auf die deutsche Kultur gewarnt. Diese Gefahr ging seines Erachtens von der (jüdischen) „Schar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge“ aus, die „aus der unerschöpflichen polnischen Wiege Jahr für Jahr über die Ostgrenze hineindringen“. „Deren Kinder und Kindeskinder“, so die Vision Treitschkes, „sollen dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen.“ Die heftige Debatte, die er hiermit auslöste, wurde als Berliner Antisemitismusstreit bekannt und belegt die enge Verflechtung zwischen der Wahrnehmung migratorischer Prozesse und der Entwicklung extremer politischer Szenarien und Konzepte, deren Fernwirkung von außerordentlicher Tragweite sein können.3

3

Der Berliner Antisemitismusstreit, hrsg. von Walter Boehlich, Frankfurt a. M. 1965.

Charlotte Elisheva Fonrobert

Frauen im Judentum Soweit man allgemein über die Rolle der Frau im Judentum sprechen kann, orientiert sich dies an geschichtlichen und kulturellen Vorgaben des talmudischen oder rabbinischen Judentums des 1. bis 6. Jhs. u. Z. Das rabbinische Judentum schuf bestimmte Bedingungen geschlechtsspezifischer kultureller Einstellungen, die das Leben jüdischer Frauen in Europa bis in die Neuzeit bestimmten. Obwohl diese Haltungen gegenüber Frauen historisch bedingt und im Leben der spätantiken talmudischen Welt zu verorten sind, blieben sie zum Teil bis in die Neuzeit bestehen, da sie in die gesetzlichen Diskussionen der rabbinischen Literatur eingegliedert und in den mittelalterlichen Gesetzbüchern kanonisiert wurden. Soweit die jüdische Kultur insgesamt in der Spannung zwischen Tradition und Innovation, zwischen gesetzlicher Grundlage und Beziehung zur kulturellen Umwelt steht, trifft dies auch auf die Rolle der Frau zu. Die talmudischen Vorbedingungen müssen als Grundlage der historischen Entwicklung besonders im europäischen aschkenasischen Judentum diskutiert werden. Das rabbinische Judentum privilegiert vor allem das Torastudium als wichtigste religiöse Disziplin. Nachdem die Redaktion des babylonischen Talmuds abgeschlossen war, wurde sein Studium bis in die Gegenwart zur Grundlage der jüdischen Gelehrtenwelt. Neben der Gelehrtenwelt und ihren verschiedenen Institutionen, vornehmlich den Jeschiwot, gilt aber auch die Familie dem rabbinischen Judentum als zentrale Institution. Das biblische Gebot „Seid fruchtbar und mehret Euch“ (Gen, 1,28) wird im rabbinischen Judentum als das erste biblische Gebot verstanden. Für die Rabbinen gilt dieses Gebot selbst dem leidenschaftlichsten Tora-Gelehrten, der sich daher nicht von seiner Verantwortung, Kinder zu zeugen, zurückziehen kann. Ferner spielt sich ein Großteil des rituellen Lebens im Bereich des Hauses und der Familie ab, angefangen mit dem jüdischen Wochen- und Jahreszyklus über die Ritualisierung der Mahlzeiten bis zu der des Sexuallebens. Man kann daher nicht generell über die Rolle der Frau im Judentum sprechen, denn sie ist in Gelehrtenwelt und Familienleben verschieden. Während sie von jener bis in die Neuzeit im großen und ganzen ausgeschlossen blieb, war ihre Stellung in dieser außerordentlich privilegiert. In der religiösen Alltagspraxis hatte die Frau eine wichtige Funktion, wie zum Beispiel in der Aufrechterhaltung der Kaschrut des Hauses. Die folgenden Ausführungen sind daher in zwei Teile unterteilt. Zunächst wird die Rolle der Frau im Hinblick auf Torastudium und jüdische Gelehrtenwelt und anschließend in der generellen rituellen jüdischen Praxis erörtert.

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Frauen und Torastudium Die wohl revolutionärste Innovation des talmudischen Judentums der Rabbinen gegenüber dem biblischen Judentum ist die zentrale Position des Bet ha-Midrasch oder Lehrhauses. Im späteren biblischen Judentum stellte vor allem der Tempel in Jerusalem mit seiner priesterlichen Elite die zentrale religiöse Institution dar. Mit der Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahre 70 u.Z. verloren die Juden zunächst die kultische Grundlage ihrer kollektiven Existenz. Die Schriftgelehrten, die die Katastrophe der beiden jüdischen Kriege der palästinischen Juden mit den Römern überlebten und sich als neue Elite innerhalb der jüdischen Gemeinden auch in der babylonischen Diaspora rekonstituieren konnten, betrachteten das Studium der Tora und ihrer Gesetze als das neue Zentrum eines Judentums ohne Tempel. Zunächst konstituierten die rabbinischen Schriftgelehrten sich als Gruppen von Gelehrten mit einem Schüler- oder Anhängerkreis. Von diesen kleineren Studienkreisen gab es mehrere in den ersten zwei Jahrhunderten, in denen die Gesetzestraditionen und biblischen Interpretationen gesammelt wurden. Diese wurden schließlich am Ende des 2. Jhs. in der Mischna des Rabbi Jehuda ha-Nassi (2. Jh. bis Anfang 3. Jh.) und seines Kreises zusammengestellt und für das rabbinische Torastudium kanonisiert. Die Mischna ist das erste schriftliche Zeugnis des rabbinischen Judentums und bildet zusammen mit den biblischen Gesetzestraditionen die gesetzliche Grundlage für die nachfolgenden Jahrhunderte, zunächst vor allem für die talmudischen Diskussionen in den palästinischen und babylonischen Lehrhäusern. Im letzten Drittel des 1. Jhs. u. Z. wurde dann vor allem der babylonische Talmud zum zentralen Text für das Studium in den rabbinischen Lehrhäusern. Obwohl die Zusammenstellung der Mischna sich uns als kollektiver Prozeß darstellt, der sich allerdings in seinen Einzelheiten nicht genau rekonstruieren läßt, blieb die Kollektivität der rabbinischen Gelehrten exklusiv: Soweit die Gelehrten und ihre Schüler aus der Mischna und späteren rabbinischen Literatur namentlich bekannt sind, handelt es sich fast ausschließlich um Männer, mit der Ausnahme von Beruria, die als Ehefrau des Rabbi Meir in die Geschichte einging. Ob Frauen historisch tatsächlich von Anfang an vom Studium der Tora ausgeschlossen waren und die Mischna tatsächlich nur eine selektive Perspektive bietet, läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Tatsache bleibt, daß in der Mischna nur gelehrte Männer zitiert werden. Das ist kein Zufall, sondern wird in den gesetzlichen Diskussionen explizit. Schon die Mischna versucht, die individuellen biblischen Gebote nach generellen abstrakten Prinzipien zu kategorisieren. Dabei ist „gender“, das soziale Geschlecht im Unterschied zu „sex“, dem biologischen Geschlecht, eine Hauptkategorie. In der Rhetorik der Mischna sind Frauen von den Geboten freigestellt, zu welchen Eltern hinsichtlich ihrer Kinder verpflichtet sind. Umgekehrt aber sind Frauen und Männer in gleicher Weise zu all den Geboten verpflichtet, welche Kindern hinsichtlich ihrer Eltern auferlegt werden. Weiterhin sind Frauen im Gegensatz zu Männern von allen zeitgebundenen Geboten freigestellt, wohingegen Frauen und Männer gleichermaßen sowohl alle biblischen Verbote als auch Gebote, die

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nicht zeitgebunden sind, beachten müssen. Die Mischna selbst bietet keine konkreten Beispiele zur Illustration dieser abstrakten Kategorien an, was der babylonische Talmud nachholt. Unter die erste Kategorie fällt hier das Beispiel der elterlichen Verpflichtung im biblischen Gesetz, die Kinder Tora zu lehren (Deut 11,19). In der talmudischen Interpretation des biblischen Gebots trifft diese Verpflichtung nur auf Väter als Lehrende und Söhne als Lernende zu. Frauen werden durch rabbinische Interpretationsmethoden explizit vom biblischen Gebot ausgeschlossen. In späteren, oft apologetischen Interpretationen wird diese Freistellung damit erklärt, daß Frauen so ihren häuslichen Verpflichtungen nachgehen können. Andererseits trifft aber sowohl auf Söhne als auch Töchter das Gebot zu, die Eltern zu ehren und zu respektieren. Außerdem sind Frauen von zeitgebundenen Geboten wie dem täglichen Gebet freigestellt, aber nicht von Geboten, die von der Zeit unabhängig sind, wie der Almosengabe. Betont werden muß aber, daß für Frauen in jedem Fall kein „Ver“bot besteht, sondern daß ihnen nur, im Gegensatz zu Männern, nicht „ge“boten ist, Tora zu studieren. Die Freistellung hat allerdings auch andere Konsequenzen, so, daß Frauen, da sie nicht in das Gebot, dreimal täglich zu beten, eingeschlossen sind, auch nicht im erforderlichen Quorum (Minjan) von zehn Personen für das öffentliche Gebet gezählt werden können. Im rabbinischen Judentum werden Gebote nicht als Last, sondern als religiöses Privileg verstanden. Was jedoch speziell das Torastudium betrifft, finden wir eine weitere Tendenz, die schon in der Mischna ihren Anfang nimmt und in späteren halachischen Diskussionen kursiert. Die Mischna verzeichnet eine bekannte Auseinandersetzung zwischen zwei Rabbinen, die die Basis für spätere halachische Begründungen für den Ausschluß von Frauen vom Torastudium und den Jeschiwot bildet. Diese Auseinandersetzung ist in den spezifischen Kontext der theoretischen Diskussionen um die Sota (Ehebruch) integriert, wonach die verheiratete Frau, die des Ehebruchs verdächtigt wird, sich nach biblischem Gesetz unter bestimmten Bedingungen dem Tempelritual des Bitterwassers, dem göttlichen Richtspruch, unterziehen muß: Falls sie [die verdächtigte Frau] Verdienst erworben hat, wird ihr Verdienst ihre [göttliche] Bestrafung [i.e., gleichzeitig den Beweis ihrer Schuld] hinauszögern … Ben Asai sagte: ,Ein Mann ist verpflichtet, seine Tochter Tora zu lehren, so daß sie, falls sie [das Bitterwasser] trinken muß, weiß, daß der Verdienst ihre Strafe verzögert.‘ Rabbi Elieser hingegen sagt: ,Wenn jemand seine Tochter Tora lehrt, ist es so, als ob er sie Frivolität lehrt‘ (mSot 3,4).

In der Mischna selbst ist die Auseinandersetzung in ihren unmittelbaren Kontext eingebunden, obwohl es sich bei beiden Aussagen scheinbar um allgemeine Aussagen handelt. Der generelle rabbinisch-theologische Grundgedanke ist, daß gute Taten und insbesondere ein ausgedehntes Torastudium die göttliche Bestrafung für eventuelle Fehltritte abwenden können. Das trifft auch auf die des Ehebruchs verdächtige Frau zu, die das Bitterwasser trinken muß. Ben Asai, ein Rabbiner des frühen 2. Jhs., vertritt in diesem Zusammenhang die Meinung, daß ein Vater seine Tochter Tora lehren soll. Seine Begründung ist zweideutig: Entweder meint er, daß sie so um die Gefahren und Konsequenzen bei sexuellen Verstößen weiß oder daß sie wegen des Verdienstes ihres Torastudiums gegen die negativen Folgen des

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Bitterwassers gefeit sein wird. Der palästinische und der babylonische Talmud bieten verschiedene Interpretationen von Ben Asais Meinung. Ersterer erklärt, daß der Verdienst, der die göttliche Strafe verzögert, generell das Torastudium der Frau sei, und ein Vater, der seine Tochter beschützen möchte, sie Tora lehren soll. In der Diskussion über den Begriff des „Verdienstes“ im babylonischen Talmud hingegen wird einerseits die Meinung vertreten, daß „Verdienst“ hier nur reguläre gute Taten bedeutet und gerade nicht Torastudium. Als andere Möglichkeit wird aber eingeräumt, daß die Mischna hier zwar Torastudium meint, aber für Frauen nur „indirektes“ Studium: „Ravina sagte: … durch den Verdienst, ihre Söhne zum Tora- und Mischna-Lernen zu bringen und des Warten auf ihren Mann vom Lehrhaus nach Hause zu kommen [ist die Frau geschützt].“1 Daher läßt der babylonische Talmud schon eine Tendenz erkennen, die Möglichkeit des Torastudiums von Frauen nicht einmal als Interpretationsmöglichkeit zuzulassen. Auf der anderen Seite formuliert Rabbi Elieser ebenso zweideutig, daß Väter ihren Töchtern mit Tora gleichzeitig Frivolität beibringen. Der hebräische Begriff für Frivolität ist hier unklar und kann auch mit Lüsternheit oder Obszönität übersetzt werden. In jedem Fall ist er negativ besetzt und sexuell konnotiert. Eine neuere Deutung von Rabbi Eliesers weitaus bekannterer, weil kanonisierter Aussage ist, daß er um die Integrität des Bitterwasserrituals besorgt sei: Wenn die Frau durch Torastudium Verdienst erworben hat und dadurch vielleicht tatsächlich die göttliche Strafe abwendet, falls sie sich diesem je unterziehen muß, würde das Ritual in seiner Funktion als Beweis der Treue oder Untreue der verdächtigten Ehefrau unwirksam. Demnach würde eine Frau, die Tora studiert, im Wissen um ihren Schutz vor göttlicher Strafe freier in ihrem Umgang mit Männer. Dennoch stellt nicht einmal Rabbi Eliesers Lehrsatz ein direktes Verbot dar, sondern nur eine Warnung. Zudem war die gesamte Diskussion um das Bitterwasserritual schon zur Zeit von Ben Asai und Rabbi Elieser, also nach der Tempelzerstörung, eine durchaus theoretische Diskussion, und es ist unklar, ob das Ritual überhaupt je ausgeführt wurde. Die grundsätzliche Diskussion um Frauen und Torastudium löst sich später aus diesem Kontext. Zur mittelalterlichen Entwicklung dieser talmudischen halachischen Vorbedingungen sei hierzu Maimonides’ (1135–1204) Kodifizierung in seinem opus magnum angeführt, der Mischne Tora (1180), einem der frühen religionsgesetzlichen Codices, die die oft langen theoretischen talmudischen Diskussionen auf ihre praktischen halachischen Gesetzgebungen reduzieren. Der Halachist Maimonides faßt die talmudischen Diskussionen zum Thema Frauen und Torastudium in folgender Weise zusammen: Eine Frau, die Tora studiert, erwirbt Verdienst, aber [dieser Verdienst] ist nicht dem des Mannes [welcher Tora studiert] gleichwertig, weil das Gebot [des Torastudiums, Deut 11,19] nicht ihr gilt. Denn jeder, der etwas tut, was ihm nicht geboten ist zu tun, erwirbt seinen Verdienst um diese Tat nicht im gleichen Masse, wie derjenige, dem diese Tat geboten ist, sondern weniger. Und obwohl sie [durch das Torastudium] Verdienst erwirbt, befehlten die Gelehrten, daß ein Mensch seine Tochter nicht Tora lehren solle, weil der Intellekt der meisten Frauen nicht darauf ausgerichtet ist [Tora bzw. Talmud] zu 1 Für eine ausgedehnte Diskussion, siehe Daniel Boyarin, Carnal Israel: Reading Sex in Talmudic Culture, Berkeley 1993, S. 170–181.

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studieren. Vielmehr verdrehen sie die Worte der Tora in Worte der Eitelkeit wegen der Armut ihres Intellekts. Die Gelehrten sagten [daher]: Wenn jemand seine Tochter Tora lehrt, ist es so, als ob er sie Frivolität lehrt (Maimonides, Mishne Tora, Hilchot Talmud Tora 1,13).

Maimonides abstrahiert also vom spezifischen Kontext der Mischna, läßt aber Ben Asais Standpunkt aus und kodifiziert somit die Rabbi Eliesers als Meinung der Gelehrten schlechthin. Damit verleiht er dessen Meinung ein Gewicht, das diese in der Mischna nicht hat. Zweitens erweitert Maimonides die Diskussion der Mischna, indem er Gründe für die Meinung der Gelehrten bzw. Rabbi Eliesers hinzufügt, daß nämlich Frauen oder zumindest die meisten Frauen nicht die intellektuellen Fähigkeiten zum Studium von Tora und Talmud besäßen. Ihnen wird prinzipiell intellektuelle Armut zugeschrieben – eine Ansicht, die der talmudischen Diskussion noch fremd war. Dies mag auf Aristoteles zurückgehen, dessen Philosophie Maimonides mit biblisch-rabbinischer Theologie zu vereinen suchte, da Aristoteles Frauen bekanntlich eine essentielle Denkunfähigkeit zuschrieb. Maimonides’ Ansicht ging jedenfalls in den klassischen jüdischen Gesetzesdiskurs ein und findet sich in späteren Gesetzeswerken wie dem Schulchan Aruch wieder. Mose ben Israel Isserles (um 1525–1572), der aschkenasische Kommentator des Schulchan Aruch, schrieb: „Wie dem auch sei, eine Frau ist verpflichtet, die praktischen Gebote, zu welchen wir verpflichtet sind, einzuhalten.“ Außerdem unterscheidet Maimonides zwischen mündlicher und schriftlicher Tora. Die oben erläuterte Meinung trifft nur auf die mündliche Tora zu, vornehmlich auf das Talmudstudium, wogegen das Bibelstudium für Frauen zwar prinzipiell nicht empfehlenswert ist, aber „falls er [ein Vater] sie [seine Tochter] die schriftliche Tora lehrt, ist er nicht wie jemand, der sie Frivolität lehrt“. Diese wichtige Unterscheidung erklärt also das Studium der schriftlichen Tora zu einem separaten Fall. Der halachische Trend, Frauen vom Torastudium auszuschließen, der in Maimonides seinen Höhepunkt findet und sich bis zum Schulchan Aruch fortsetzt, wird erst in der Neuzeit, zum Teil in Reaktion auf die Frauenbewegung seit dem ausgehenden 19.Jh., umgekehrt. Aus diesen gesetzlichen Grundlagen in der rabbinischen Literatur folgt die lange Tradition der jüdischen Gelehrtenwelt von Männern. Im osteuropäischen Judentum des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jhs. gestaltete sich das Tora-Studium immer noch in der Form, daß die jungen Männer zu den großen talmudischen Akademien, den Jeschiwot in Wilna, Wolozhin, Prag und anderen Städten, zogen und dort monatelang lernten, während die Frauen zu Hause blieben, manchmal im Kreis der Großfamilie, wo sie nicht nur die Haushaltung zu führen hatten, sondern auch die Geschäfte, um die Familie zu ernähren. Bevor wir uns den sozialgeschichtlichen Konsequenzen der Halacha zuwenden, soll hier jedoch noch kurz der Fall der Beruria erwähnt werden, da die Beruria-Geschichten auch im europäischen Judentum einen Nachklang fanden. Beruria, deren Name vielleicht von dem lateinischen Namen Valeria herzuleiten ist, wäre historisch in die Mitte des 2. Jhs. einzuordnen. In den talmudischen Geschichten, die alle aus wesentlich späterer Zeit stammen, erscheint sie als die Frau des Rabbi Mëir, dessen Schülerkreis wesentlich zur Zusammenstellung der Mischna beitrug. Sie ist eine der wenigen namentlich genannten Frauen im Talmud und die einzige Frauenfigur, die als Gelehrte,

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als Lernende und Lehrende, erscheint. So zitiert der Talmud einen Rabbiner des 3. Jhs., der behauptet, Beruria habe „dreihundert (halachische) Traditionen von dreihundert (verschiedenen) Gelehrten an einem Tag gelernt“2. Sie wird auch als Person dargestellt, die Lehrentscheidungen trifft und deren Meinung zumindest in einem Fall vor der eines anderen Rabbiners Vorzug findet. In den verschiedenen Geschichten wird sie außerdem als treue und fromme Ehefrau geschildert. Gerade wegen Berurias exzeptioneller Gelehrsamkeit steht die Geschichte ihres Todes im Vordergrund des rabbinisch-literarischen Gedächtnisses. Der Talmud selbst erzählt nichts von ihrem Ende außer der kryptischen Bemerkung, daß Rabbi Mëir wegen des „Vorfalls“ mit Beruria von Palästina nach Babylonien flüchtete. Die angebliche Geschichte wird erst von dem bedeutenden Bibel- und Talmud-Kommentator Raschi (Salomo ben Isaak, 1040– 1107) erzählt: […] denn einmal machte sich Beruria über den Ausspruch der Gelehrten lustig, daß Frauen leichtfertig seien.3 Darauf sagte Rabbi Mëir [ihr Mann] zu ihr: „Auf dein Leben! Am Ende wirst du mit den Gelehrten übereinstimmen.“ Und er befahl einem seiner Schüler, sie in sexuelle Versuchung zu bringen. Der Schüler bedrängte sie viele Tage, bis sie sich schließlich verführen ließ. Als sie [den Komplott] erfuhr, erhängte sie sich und Rabbi Mëir lief fort wegen der Schande.4

Raschi nennt keine Quelle für diese Geschichte, die auf keinen der bekannten rabbinischen Texte zurückgeführt werden kann. Tatsächlich wäre sie sogar außerordentlich atypisch für die frühere rabbinische Literatur, denn Rabbi Mëir wird in der talmudischen Literatur insgesamt als weiser und einfühlsamer Mensch dargestellt. Sie muß daher in erster Linie als Produkt mittelalterlicher jüdischer Kultur verstanden werden. Ob sie als Variation des folkloristischen Motivs gelesen wird, nach dem selbst die beste Frau zu Schande kommen kann, als Ausdruck der mittelalterlichen rabbinischen Unfähigkeit, mit dem Konzept der gelehrten Frau umzugehen, oder als Veranschaulichung von Rabbi Eliesers Lehrsatz, wer seine Tochter Tora lehre, lehre sie Lüsternheit – die Conclusio ist jedenfalls, daß die einzige talmudisch gelehrte Frau ein schreckliches Ende ereilte. Letztlich ist diese berühmte Geschichte eine narrative Veranschaulichung der oben ausgeführten halachischen Grundlage.

Sozialgeschichtliche Konsequenzen Die geschichtlichen Konsequenzen der ideologischen und halachischen Einstellungen zum Thema Torastudium und Frauen waren dann tatsächlich, daß die Jeschiwot weitgehend exklusiv männliche Institutionen blieben. Die mittelalterliche jüdische Kultur strukturierte sich zum großen Teil um das Studium der mündlichen Tora und vor allem des Talmuds in den verschiedenen Lehrhäusern, die sich im aschkenasischen Judentum etablier2

bPes 62b. Lüstern oder leicht verführbar. 4 bAvZ 18b. 3

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ten. Ein großer Teil der literarischen Produktion ging aus den talmudischen Akademien hervor. In der gesamten mittelalterlichen halachischen Literatur finden wir kaum oder gar keine Texte von Frauen. Die erste jüdische Frauenliteratur kam folglich auch aus einem extra-halachischen Kontext in Form der berühmten Memoiren der Hamburger Kauffrau Glückel von Hameln (1646–1724), die erst Anfang des 20. Jhs. veröffentlicht wurden. Da in der Neuzeit der Rabbiner zum Teil auch als halachischer Gelehrter verstanden wird, finden sich bis zum 20. Jh. auch keine ordinierten Rabbinerinnen. Als erste jüdische Frau wurde Regina Jonas, die 1944 in Auschwitz ermordet wurde, im Jahr 1935 im nationalsozialistischen Deutschland zur Rabbinerin ordiniert. Selbst in den osteuropäischen chassidischen Gruppen des 18. und 19.Jhs. erhielt sich die Struktur, in der die jungen Männer und Knaben sich um Zaddikim, ihre chassidischen Lehrer, scharten, während die Frauen Geschäft, Haus und Kinder versorgen – obwohl sich die chassidische Bewegung am Anfang selbst gegen die elitäre Struktur des Talmud-Gelehrtentums gewandt hatte. Auch hier gab es aber einen Ausnahmefall parallel zu dem von Beruria, nämlich Hanna Rachel, die sogenannte Jungfrau von Ludmir, die ihre Verlobung löste und sich dreimal täglich dem Gebet und dem Studium widmete. Obwohl sie sogar einige Schüler um sich scharte, die sie hinter einem Vorhang sitzend unterrichtete, wurde sie letztlich zur Heirat überredet. Damit verlor sie anscheinend ihre Position als Lehrerin. So hat es immer wieder Frauen gegeben, die gegen ihren Ausschluß aus den Lehranstalten oder vom Tora- und Talmudstudium insgesamt protestiert oder versucht haben, Teil der gelehrten Welt des Torastudiums zu werden. Davon sind nur wenige schriftliche Zeugnisse wie z. B. die Frauengebete überliefert, die unter anderem Sara Rebecca Rachel Lea, die Tochter von Jukl Horowitz, im 19. Jh. niederschrieb und in denen sie über die marginale Rolle von Frauen klagt. Ein anderes indirektes Zeugnis ist in Baruch Epsteins Mekor Boruch (1928) erhalten geblieben, seinen Memoiren über seine Kindheit in Litauen Ende des 19. Jhs. Darin berichtet er von seiner Tante Reina Batja, die mit der größten talmudischen und jüdisch-religiösen Autorität seiner Generation in Litauen verheiratet war, Rabbi Naftali Zvi Berlin. Der fromme Neffe berichtet von Gesprächen mit seiner Tante, die sich bitter über das beklagt, was sie als das rabbinische „Verbot“, Talmud zu studieren, kennt. Die Gespräche beweisen, daß Reina Batja durchaus talmudisch gebildet ist, denn sie zitiert die verschiedensten Quellen. Im Laufe der schriftlich festgehaltenen Diskussion kommt es schließlich zu dem folgenden Austausch: In Fortführung der Diskussion und mit der Absicht, ihren Protest zu stärken, zählte sie die Namen von vielen gebildeten Frauen auf: Beruria, die Frau Rabbi Mëirs, Jalta, die Frau von Rav Nachman und der Tochter des Rabbi Chanina ben Teradion, die Mutter des Zemach [ein wichtiges frühmodernes halachisches Werk], und die Schwester des Rabbi Jesaja Berlin Pik, und sie endete mit der Frage: ,Und hatten unsere Rabbinen ein Problem damit, daß diese Frauen Tora studierten?‘… Ich erinnere mich, daß, als sie [Reina Batja] den Namen Beruria, der Frau Rabbi Mëirs, erwähnte, ich erklärte, daß die Rabbinen entdeckten, daß sie eine Übeltat beging, daß sie sich über die Aussage der Rabbinen lustig machte, daß Frauen leichtfertig seien. Am Ende war sie der Leichtfertigkeit selber schuldig geworden, wie wir von Raschi lernen. Daraufhin antwortete meine Tante mir: ,Diese Geschichte kenne ich tatsächlich, aber erklärten unsere Gelehrten etwa alle Männer für schuldig wegen der Sünde eines Man-

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nes, nämlich Achers, welcher den wahren Weg [der Tora] verließ? Außerdem hat sich Beruria nicht mit Verachtung und Niederträchtigkeit lustig gemacht. Sie dachte nur, daß unsere Gelehrten den Intellekt der Frauen nicht richtig verstanden.‘5

Diese Unterhaltung ist vielleicht insofern exemplarisch, als der Neffe die traditionelle Erzählung von Berurias Tod tradiert, während Reina Batja diese aus weiblicher Perspektive kritisiert. Sie erkennt die symbolische Bedeutung der Figur Berurias und argumentiert gegen die Ungerechtigkeit der Behandlung von Frauen in einer Männerwelt, in der jede Frau stellvertretend für alle Frauen betrachtet wird, während Männer stets als Individuen behandelt werden und in ihrem eigenen Namen handeln. Wenig später vertiefen sich unsere Kenntnisse über Kindheitserfahrungen von Frauen, die den traditionell religiösen Kulturkontext verlassen haben, weil sie keine formelle jüdische Erziehung genossen haben und einer säkularen Erziehung oft stärker ausgesetzt waren als ihre Brüder. Dadurch konnten sie sich oft leichter in die nicht-jüdische Welt einordnen, obwohl die Erziehung der Mädchen vom finanziellen Status der Eltern abhängig war. Diese Tendenz wurde zuweilen durch die Verantwortung der Frau, Geld zu verdienen, verstärkt. So beobachtet die Historikerin Susan Glenn, daß „die meisten Ehen in Osteuropa Frauen die Rolle als Ernährerin einräumten und Frauen dadurch einen gewissen Grad von Familienautorität, Verständnis des Marktes und einen gewissen Weltsinn besaßen“6. Die Historikerin Paula Hyman hat die Memoiren von Frauen wie Puah Rakowski in Rußland und Ita Kalischer am Anfang des 20. Jhs. analysiert, die sich von ihren orthodoxen Familien abgewendet hatten und in ihren Erinnerungen ihre Kindheitserfahrungen im osteuropäischen Kulturkontext reflektierten.7 So schreibt Puah Rakowski: Unser Volk hat [für die traditionelle Ablehnung von Torastudium für Frauen] bitter zahlen müssen. Wenn unsere Großväter und Väter als geistliche Oberhäupter sich umbesonnen hätten, so daß das Torastudium keinen Geschlechterunterschied gekannt hätte, so daß jüdische Töchter genauso wie die Söhne in Tora und unseren kulturellen und moralischen Lehren erzogen worden wären, wer weiß, wie viele Tausende von jüdischen Müttern vor der Assimilation bewahrt worden wären […] und somit auch die jüdischen Söhne, welche wir wegen ihrer [mangelnden jüdischen] Erziehung verloren haben, die sie von ihren assimilierten Müttern erhalten haben?8

Rakowski transportiert hier in gewisser Weise das Klischee, daß Frauen und vor allem Mütter am Verlust jüdischer Identität in der Moderne die Schuld trügen, ein Argument, das bis heute bei männlichen Kritikern auftaucht. Sie jedoch gibt der jüdischen Tradition an sich die Schuld, die die jüdischen Frauen im Stich gelassen habe. Ein wichtiger kultureller Unterschied zwischen der ost- und der westeuropäischen jüdischen Kultur soll hier kurz skizziert werden. Das sogenannte „Embourgeoisement“, die Akkulturation und soziale Integration der westeuropäischen Juden in die Bourgeoisie als 5

Zitiert in Boyarin, Unheroic Conduct, S. 17 Susan Glenn, Daughters of the Shtetl, S. 14. 7 S. Paula Hyman, Gender and Assimilation in Modern Jewish History: The Roles and Representation of Women, Seattle 1995, S. 58–64. 8 Zitiert in ebd., S. 57–58. 6

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Kulturprogramm der Befürworter der Assimilation der Juden in Europa, ist ein allgemein bekanntes Phänomen. Westeuropäischen Juden gelang es schneller, in die Mittelklasse integriert zu werden. In westeuropäischen Ländern wurde die Funktion von Frauen, als nichterwerbstätige mütterliche Hüterinnen des häuslichen Herdes und des Judentums zu wirken, die der modernen Zuschreibung der Geschlechterrollen in Europa korrespondierte, ein wesentlicher Aspekt des Assimilationsprozesses. Im osteuropäischen Kontext hingegen entwickelte sich ein ganz anderes Ideal, das Ideal der tatkräftigen und erwerbstätigen Frau. Das ist unter anderem auf den Umstand zurückgeführt worden, daß der Unterschied zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre in Westeuropa wesentlich ausgeprägter war als in Osteuropa. Die Geschichte der Transformation von Anna O., der hysterischen Patientin Sigmund Freuds in Wien, zu Bertha Pappenheim (1859–1936), der Gründerin der jüdischen Frauenbewegung in Deutschland, ist vielleicht im Kontext dieses Gegensatzes zu verstehen. Pappenheim stammte aus einer osteuropäischen Familie, in der ein anderes Frauenbild den jüdischen Alltag bestimmte als das der Dame im Wien des 19. Jhs. Ihre Hysterie kann als Erkrankung an diesem Widerspruch und dem Versuch diesem Ideal zu entsprechen, gesehen werden. Am Ende konnte sie sich dem von Freud konstruierten Krankheitsbild entziehen und wurde als Gründerin des Jüdischen Frauenbundes in Deutschland zu einer sozialpolitisch bedeutenden Figur. Pappenheim widmete ihr Engagement ganz der Sozialarbeit, vor allem der Erziehung von osteuropäischen Mädchen und versuchte besonders die osteuropäischen Rabbiner von einem Mehr an Bildung für Mädchen zu überzeugen. Insgesamt blieben die Tora-gelehrten Frauen bis zur zweiten Hälfte des 20. Jhs. die Ausnahme. Erst seit Beginn der jüdisch-feministischen Bewegung am Ende der sechziger Jahre in den USA, später auch Europa und Israel, begann sich langsam auch die halachisch dominierte Welt zu verändern. Seit 1972 ordiniert das Reformjudentum in Amerika Frauen, und seit 1985 werden Frauen am konservativen Jewish Theological Seminary of America als Rabbinerinnen ordiniert. Neuerdings gibt es sogar Stimmen in der orthodoxen – zumindest in der modern-orthodoxen – Welt, Frauen eventuell als Rabbinerinnen zu ordinieren. In Israel und den Vereinigten Staaten gibt es immer mehr außerakademische Institutionen, die Frauen das Talmudstudium ermöglichen, wie z. B. Drischa in New York und Nischmat und Matan Tora in Jerusalem.

Frauen und jüdisches Leben Die rabbinische Halacha stellt Frauen von der Verpflichtung der zeitgebundenen Gebote frei. Diese Freistellung hat Konsequenzen, vor allem für das traditionelle Gemeindeleben in der Synagoge, wo Männer zwei- bzw. dreimal täglich zum Gebet gehen, und auch hinsichtlich der Gebetsregalia wie Zizit und Tefillin, die traditionell ausschließlich von Männern getragen werden. Da es sich aber nicht um ein „Ver“bot für Frauen handelt, hat es immer wieder Frauen gegeben, die sich dem Zyklus des Gebetsleben gewidmet haben. Traditionell sind aber insbesondere drei Gebote als Frauengebote bekannt, nämlich

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Nidda, Challa und das Kerzenanzünden am Freitagabend zum Beginn des Sabbats. Schon die Mischna kennt sie als Dreiergruppe, die sich in der halachischen Literatur wiederfindet. Sehr viele der Frauengebete, die speziell im 19.Jh. als neues literarisches Genre auftauchen, knüpfen an diese drei Gebote an. Bei Challa handelt es sich um das Gebot, vom Brotteig einen Teil, der ehemals dem Tempel zustand, beiseite zu legen und zu verbrennen. Man kann hier aber vielleicht auch generalisieren und die Perspektive auf die Kaschrut insgesamt erweitern. Die Wichtigkeit der koscheren Essenszubereitung im traditionellen Judentum gab der Frau eine wichtige Funktion im jüdischen Leben. Bei Nidda handelt es sich um die biblisch verankerte Ritualisierung des Sexuallebens von Ehepaaren. Die Menstruation unterbricht das Sexualleben, bis die Frau sieben Tage nach Ende der Blutungen das Ritualbad, die Mikwe, besucht hat. In vielen mittelalterlichen Gemeinden stellte die Mikwe die zentrale Institution der Gemeinde dar, denn ohne diese war ein halachisches Familienleben unmöglich. Der Besuch der Mikwe, potentiell eine monatliche Aktivität, ist somit ein wichtiger Bestandteil des rituellen Lebens traditioneller jüdischer Ehefrauen. Mit wenigen Ausnahmen existiert kaum Literatur von Frauen selbst über ihre Erfahrungen mit dem Ritualbad. Das ändert sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. mit dem Dissens von Frauen verschiedener jüdischer Affiliationen. In der Polemik gegen die Mikwe wird diese als Symbol einer oppressiven Haltung gegenüber Frauenkörpern betrachtet, während apologetische Positionen sie als Symbol nicht nur für ein gesundes Eheleben, sondern auch als wichtige Institution für das religiöse Leben der Frau werten, da diese ihren Körper in der Ritualisierung bestätigt fände. Hier soll nicht für eine dieser konträren Positionen plädiert werden. Wichtig ist, daß jüdische Frauen im Rahmen des Familienlebens eine aktive und zentrale Rolle in der jüdischen Kultur hatten und daß dieser Bereich eine Grundlage für ein starke jüdische Identifikation sein konnte.

Schlußbemerkung Traditionell ist die Rolle der Frau im Judentum durch die Spannung zwischen der Abwesenheit von Frauen in den Jeschiwot und somit ihrer Unsichtbarkeit in der halachischen Literatur und der Toraliteratur insgesamt und zwischen ihrer Bedeutung für das jüdische Alltagsleben gekennzeichnet. Diese Spannung ist in verschiedenen Epochen der jüdischen Geschichte und in verschiedenen geographischen und sozialen Kontexten von Frauen verschieden erlebt worden. Viele Frauen, vor allem in der Moderne, haben die Geschlechterdifferenzierung im traditionellen Judentum, die aus der strikten Geschlechterrollenverteilung in den jüdischen Gesetzestraditionen hervorging, als Unterdrückung empfunden. Deshalb haben einige wie Puah Rakowski den traditionellen Kontext verlassen und sich etwa dem Zionismus zugewandt. Andere wie Bertha Pappenheim haben innerhalb des traditionellen Kontextes für verbesserte Bildung für Mädchen gekämpft. Wieder andere Frauen haben die Geschlechterdifferenzierung gerade als starke Identifikationschance für Frauen erfahren.

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Frauen haben im Kontext der Familie und des Hauses eine wichtige Funktion, die wegen der Bedeutung des Familienlebens für die jüdische Kultur auch anerkannt wird. Die gegenwärtigen Diskussionen um die Rolle der Frau in der jüdischen Kultur in Israel, Amerika und Europa bleibt von dieser Spannung geprägt. Seit sich neuerdings mehr und mehr Frauen dem Talmudstudium widmen, wird die Zukunft zeigen, was das für die jüdischen Gesetzestraditionen bedeutet.

Martha Keil

Die Familie im Judentum Einleitung Die Erforschung der Familie im Judentum ist, abgesehen von den Biographien einzelner, meist prominenter jüdischer Familien, als Forschungsobjekt ein verhältnismäßig junges Feld. In den Standardwerken der sozialhistorischen Familienforschung blieb sie bis auf die Periode des Altertums weitgehend unbeachtet. Erst jüngere sozialgeschichtliche Arbeiten zur jüdischen Geschichte bezogen diesen Aspekt vor allem auf der Grundlage von lebensgeschichtlichen Erinnerungen ein. Besonders der Frauen- und Genderforschung sind für dieses Thema entscheidende Impulse zu verdanken. Einige kulturanthropologische Arbeiten aus den USA haben das Thema Familie für verschiedene Epochen jüdischer Geschichte aufgegriffen und jüngere europäische Untersuchungen haben sich mit dem Zusammenhang zwischen den Strukturen von jüdischen Gemeinden und jüdischen Familien beschäftigt. Dieser Beitrag kann nur eine allgemeine Einführung in das jüdische Familienrecht geben. Dabei ist seit dem ausgehenden Mittelalter auch die unterschiedliche Adaptierung von jüdischem Recht und Minhag (Brauch und Gewohnheitsrecht) in traditionellen und wenig bis völlig akkulturierten Familien zu beachten.

Bedeutung von Familie Zweck jeder Ehe ist analog zur Schöpfung die Fortpflanzung (Gen 1, 28; Mischna Jeb. VI, 6). Ehelosigkeit war im Judentum zu allen Zeiten verpönt. Ein unverheirateter Mann galt bis weit in die Neuzeit als Gefahr für die Tugend der Frauen, ein Gemeinde- und Lehreramt stand ihm nicht zu. Unverheiratete Frauen führten eine Marginalexistenz, meist im Haus von Verwandten. Die grundsätzlich positive Einstellung des Judentums zur Welt schließt eine positive Einstellung zur Sexualität ein. Die Ehe als Anheiligung (Kidduschin) verlangt von observanten Paaren zwölf Tage im Monat Enthaltsamkeit während der Nidda (Unreinheit während der Menstruation und den sieben darauf folgenden Tagen). Der eheliche Verkehr kann auch ohne Zeugungsabsicht zur Freude des Paares stattfinden. In diesem Fall und wenn eine Schwangerschaft Gefahr für die Mutter bedeuten würde, ist nach Meinung vieler Rabbiner des Mittelalters Verhütung erlaubt. Die Bedeutung der Familie für die jüdische Gesellschaft schlägt sich in den zahlreichen Bestimmungen und Modifikationen des Familienrechts nieder. Seine Kodifizierung begann im Jahr 200 unserer Zeitrechnung mit der Mischna, es folgten talmudische und nach-

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talmudische Auslegungen. Die wichtigsten stammen von Maimonides (1135–1204, Mischne Tora) und Josef Karo (1488–1575, Schulchan Aruch). Das Verbot, außerhalb des Glaubens zu heiraten, die Leviratsehe (Eheschließung der Witwe eines kinderlosen Mannes mit dessen Bruder) sowie Ehen innerhalb der Familie – erlaubte Heirat zwischen Onkel und Nichte – stärkten die Familie und deren Besitz. Seit der Einführung der Monogamie wird im aschkenasischen Raum die Leviratsehe nicht mehr als verpflichtend angesehen, da sie aber biblisches Gesetz ist, kann sie nicht abgeschafft werden. Der volljährige Schwager muß statt dessen vor einem rabbinischen Gericht die Chaliza-Zeremonie (symbolisches Ausziehen eines Schuhs zur Entlassung aus der Ehe nach Deut 25,9) durchführen. Für Juden aus islamischen Ländern ist das Levirat nach wie vor verpflichtend. Die Frau kann sich aber freikaufen, indem sie ihrem Schwager die Hälfte des Besitzes ihres Mannes übergibt. Wenn der Schwager die Chaliza verweigert und damit die Wiederverheiratung der Witwe unmöglich macht, muß er für deren Unterhalt sorgen. Die Verwandtschaft war – und ist in manchen jüdischen und nicht-jüdischen Gesellschaften heute noch – die Basis für den Status einer Person, auf den sich Heiratsmöglichkeiten und Ansehen durch Gemeindeämter gründeten. Im Hoch- und Spätmittelalter stellten einige wenige, untereinander verschwägerte Familien die geistige Elite und die Vorsteher der wichtigen Gemeinden. In der Neuzeit versorgten ebenfalls wenige Familien als Hofjuden die Herrscherfamilien. Die Familie als Ort der Geborgenheit übernimmt nach wie vor soziale Aufgaben wie Kinderpflege, Kranken- und Altenversorgung, Armenunterstützung und Aufnahme armer Verwandter in den Haushalt. Beistandspflicht besteht in hierarchischer Ordnung gegenüber den Eltern, den Kindern, den Geschwistern und Halbgeschwistern, der Verwandtschaft allgemein, den Armen des Ortes und des Heiligen Landes und schließlich allen Armen. Zu allen Zeiten prägten die Einstellungen der nicht-jüdischen Mehrheitskultur die jüdische Minderheit. Aufklärung und Emanzipation wirkten vor allem auf die Rolle der Frauen. Der Wandel, den die bürgerliche Kultur ab Mitte des 19. Jhs. in die Familie brachte, bedeutete auch für jüdische Familien große Veränderungen. 1871 betrug die jüdische Bevölkerung 1,25% der Bevölkerung Deutschlands, davon gehörten 60% der Mittelschicht bzw. der oberen Mittelschicht, also dem Bildungsbürgertum an. Den idealtypischen Bildungsbürger kennzeichnete der Glaube an die Macht von Kultur und Humanität, Bildung und Charakterbildung. „Bürgerliche Familie“ bedeutete die Verbindung von Bildung und Familie, verschaffte Respektabilität und sozialen Aufstieg. Dazu gehörte ein vorbildliches Familienleben, das hauptsächlich zu Lasten der Frauen ging. Bereits einige Jahrzehnte vor den nicht-jüdischen Deutschen beschränkten jüdisch akkulturierte Paare aus wirtschaftlichen Gründen und durch späte Eheschließungen die Zahl der Kinder auf durchschnittlich zwei. Dadurch waren die Frauen für ihre Repräsentationspflichten freigestellt und die finanziellen Mittel reichten für eine gute Ausbildung der Kinder aus. Im Konkurrenzdruck der Industrialisierung leistete die Frau neben der Reproduktionsarbeit vor allem „emotionale Hausarbeit“: Das Haus sollte eine „konfliktfreie Zone“ sein und den männlichen, in außerhäusliche Erwerbsprozesse eingebundenen Fami-

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lienmitgliedern einen Zufluchtsort vor der feindlichen Außenwelt bieten, die nicht selten antisemitisch war. Der Mann trug die finanzielle und gesetzliche Verantwortung für die Familie. Die abhängige Frau mußte den Spagat leisten, das Familienleben nach außen sichtbar bürgerlich, nach innen aber jüdisch zu gestalten.

Partnerwahl und Verlobung Aufgrund der Geschlechtertrennung waren arrangierte Ehen üblich und sind es in traditionellen Gruppen noch heute. Bereits im Mittelalter wirkten professionelle Heiratsvermittler (Schadchen), oft Rabbiner oder Lehrer, die mit gelehrten potentiellen Schwiegersöhnen Kontakt hatten. Die Frau wurde nach dem Charakter ihrer Brüder ausgewählt, nach denen auch ihre Kinder geraten würden. Neuzeitlich-romantische Erwartungen an persönliches Glück waren in diesem Konzept nicht vorgesehen, und die Ehe bestand hauptsächlich aus genau festgelegten gegenseitigen Pflichten. Nach talmudischer Auffassung dürfen Rechtsunfähige (Minderjährige, Geisteskranke und Taubstumme) keine Ehe schließen, desgleichen Alkoholiker. Krankheiten oder andere Auffälligkeiten in der Familie müssen vor der Verlobung mitgeteilt werden, sonst gelten sie als Grund, von der Heirat zurücktreten zu können. Das Heiratsalter lag im Mittelalter und in der frühen Neuzeit bei Knaben zwischen 15 und 16 Jahren, bei Mädchen zwischen 13 und 14 Jahren. Eine frühe Eheschließung galt als bestes Rezept gegen das Ausgeliefertsein an die sexuellen Triebe. Bis in die Neuzeit galt ein fünfundzwanzigjähriger unverheirateter Mann als suspekt. Im 19.Jh. konnten vor allem auf dem Land lebende Juden aus ökonomischen Gründen oft erst mit 30 Jahren – Frauen mit 25 bis 28 Jahren – oder später eine Familie gründen. Bei der Verlobung (Schiduchin oder Tenaim) werden die Vereinbarungen über Mitgift, Eheverschreibung (Ketubba, die Summe, die die Frau im Fall von Scheidung oder Verwitwung erhält), Geschenke, Ort und Zeit der Hochzeit und Schadenersatz bei Brechen der Vereinbarungen getroffen.

Mitgift (Nedunja) Als Ausgleich für die fehlende Erbfähigkeit der Töchter legte die Mischna (Ket. VI, 5) eine Mitgift von mindestens 50 Sus für die Braut fest. Richtwert ist ein Zehntel des väterlichen Vermögens, das bei reichen Familien beträchtlich überstiegen werden kann. Nach der Verordnung von Rabbi Jakob ben Mëir, genannt Rabbenu Tam (um 1100–1170, Troyes), muß daher die Mitgift an den Vater oder seine Erben zurückgegeben werden, wenn die Frau innerhalb eines Jahres kinderlos stirbt. In Deutschland bestand der lokale Rechtsbrauch (Minhag), daß auch die Eltern des Bräutigams eine Mitgift gaben, um ihrem Sohn einige Jahre des Studiums zu ermöglichen und dem Paar eine wirtschaftliche Starthilfe zu geben. Auf diese Weise übten die Eltern länger Einfluß auf ihre noch jugendlichen Kinder aus, und der Sohn konnte in den Familienbetrieb hineinwachsen.

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Auch in den traditionellen Familien der osteuropäischen Gemeinden verwendete man die Mitgift während der ersten Ehejahre für das Studium des Mannes. Für arme Mädchen übernahmen im Mittelalter die Zedaka (Wohltätigkeitskasse) der Gemeinde, später Vereine oder private Gönner die Mitgift.

Eheschließung Das zweiteilige Verlöbnis – Antrauung und Hochzeit (Erussin mit Kidduschin und Nissuin) – findet seit dem Mittelalter in einer Zeremonie statt: Mit der Übergabe eines Ringes und der Trauformel „erwirbt“ der Bräutigam die Braut mit deren Einverständnis und „heiligt“ sie sich an. Es folgt die Verlesung des Ehevertrags (Ketubba), bezeugt und unterschrieben von Bräutigam und Zeugen im Beisein des Rabbiners und eines Minjan. Danach spricht der Rabbiner die sieben Segenssprüche zur Vermählung. Der Trauungsbaldachin (Chuppa) und das nachfolgende Alleinsein des Paares (Jichud) symbolisieren den Vollzug der Ehe im Brautgemach. Verschiedene Rituale wie das Zertreten eines Glases oder das gemeinsame Essen einer Hühnersuppe sollen Unheil abwehren und dem Brautpaar Segen und Fruchtbarkeit bringen. Viele europäische Hochzeitsbräuche bildeten sich unter dem Einfluß der christlichen Umgebung heraus. Orthodoxe Rabbiner erkennen ausschließlich die Ehe – und auch die Scheidung – nach jüdischem Ritus an, auch wenn diese nach dem lex loci celebrationis (nach dem Gesetz des Landes, in dem die Ehe geschlossen wird) oder dem lex domicilii (nach dem Gesetz des Heimatlandes) nicht anerkannt werden; rein standesamtlich geschlossene Ehen gelten jüdisch-rechtlich nicht.

Einschränkungen des Heiratsverhaltens Neben kultischen Einschränkungen vor allem für Priester wirkte der soziale Status – geringes Ansehen der Familie und Armut – innerjüdisch einschränkend auf das freie Heiratsverhalten. Auch der Witwenstand, insbesondere mit Kindern, schmälerte die Aussicht auf einen Heiratspartner. Nach dem Tod eines Ehepartners darf die Frau erst nach 90 Tagen – um bei Schwangerschaft die Vaterschaft festzustellen –, der Mann erst nach Ablauf der drei Jahresfeste wieder heiraten. Durch den öffentlichen Charakter der Eheschließungen hatte die jüdische Gemeinde die Kontrolle über diese und dadurch über die Niederlassung von neuen Mitgliedern. Zuweilen arbeitete sie damit der christlichen Obrigkeit in die Hände. In manchen Gemeinden hing die Niederlassung vom Schutzherrn ab; diese zu erwirken konnte eine Bedingung im Verlobungsvertrag sein. Auch das Mindestheiratsalter konnte vom Schutzherrn vorgeschrieben werden. Die habsburgischen Familiantengesetze von 1726 f. für Böhmen, Mähren und Schlesien erteilten nur dem ältesten Sohn die Heiratserlaubnis. Die jüngeren Söhne mußten auswandern, und eine Familie, die ausschließlich Töchter hatte, wurde als „extinkt“ betrachtet. In Galizien erschwerten Religionsprüfungen und Heiratstaxen die legale Eheschlie-

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ßung. Kinder aus rein rituell geschlossenen Ehen galten als illegal und erhielten den Familiennamen der Mutter. Der Name des Vaters wurde mit der Erläuterung „false“ hinzugefügt. Diese Einschränkungen galten bis 1848 bzw. 1867. Vor allem Dienstboten mußten phasenweise, manche sogar auf Dauer, auf eine eigene Familie verzichten; sie gehörten rechtlich der Familie des Arbeitgebers an. Auch konnte nicht jeder Verheiratete mit seiner Familie in einem gemeinsamen Haushalt wohnen. Bedienstete und Talmudstudenten, aber auch Fern- und Wanderhändler, andere Geschäftsreisende sowie Fahrende lebten oft monate- und jahrelang getrennt von ihren Frauen und Kindern. Das jüdische Eherecht sieht für solche Fälle Maßnahmen zur Versorgung der Familie und ein Einspruchsrecht der Frau vor.

Familien- und Haushaltsgrößen Das Zusammenleben der Kernfamilie – Eltern und Kinder – in einem gemeinsamen Haushalt ohne weitere verwandte oder nichtverwandte Mitbewohner ist eine Entwicklung der letzten 60 Jahre. Vom Mittelalter bis zum Zweiten Weltkrieg bestand ein Haushalt aus der Kernfamilie, selten aus einem Großelternteil, meist unterstützungsbedürftigen Verwandten, Dienstboten und in Rabbinerhaushalten aus Talmudschülern. Der Begriff der Familie muß daher weiter gefaßt als Haushalt oder Hausgemeinschaft verstanden werden. Angaben zu Familiengrößen im Mittelalter sind spärlich. Kenneth R. Stow errechnete für das deutsche Hochmittelalter die erstaunlich niedrige Zahl von 1,7 Kindern, und stützte sich dabei allerdings nur auf Märtyrerlisten des 11. bis 13.Jhs., die vor dem Pogrom verstorbene, auswärts wohnende oder überlebende Kinder unerwähnt lassen. Die Untersuchung von M. Toch zeigte anhand von Listen ausstehender Darlehen Ende des 15. Jhs. in Nürnberg nach ökonomischem Status gestreute Haushaltsgrößen auf: 1489 bestanden von 15 Haushalten sieben aus zwei bis drei männlichen Personen über 12 Jahren, sechs aus fünf bis sechs und die zwei Spitzenfamilien aus acht bzw. elf Personen. Inklusive Frauen und kleinen Kindern ergeben sich Haushaltsdichten von mindestens vier bis 44 Personen. In einem Viertel der Haushalte lebten Dienstboten, in den meisten auch illegale Mitbewohner. Geschäftsurkunden aus dem österreichischen Raum, in denen die Erben mitgenannt sind, ergaben eine Zahl von zwei bis sieben Kindern, die das Heiratsalter erreichten. Hofjuden der Oberschicht im mitteleuropäischen Raum zwischen 1650 und 1820 führten Haushalte als Firmenbetriebe und konnten neben ihrer ansehnlichen Kinderzahl – sechs bis zehn waren keine Seltenheit – bis zu 60 Personen unter ihrem Schutz beherbergen. Bei Juden wie auch bei Christen beinhaltete das Zusammenleben mit Dienstboten und jugendlichen Verwandten Konfliktstoff. Im christlichen Milieu resultierte daraus eine relativ hohe Zahl von unehelichen Kindern. Auch in jüdischen Haushalten kamen unerlaubte Beziehungen zwischen Haushaltsangehörigen und der Mißbrauch von Abhängigkeitsverhältnissen vor, allerdings verschweigt die innerjüdische Zensur solche Vorkommnisse weitgehend. Rabbiner klagten immer wieder über das respektlose Benehmen ihrer Zöglinge.

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Beziehungen zwischen den Geschlechtern In den traditionell geschlossenen Ehen spielten Anziehung oder gar Liebe keine Rolle; die Erwartung an persönliches Glück und ihr Potential etwaiger Enttäuschung war dementsprechend gering. Allerdings gelang durch die relativ genauen Verhaltensregeln des jüdischen Rechts und der Moral vielleicht öfter ein harmonisches Zusammenleben als in vergleichbaren nicht-jüdischen Beziehungen. Auffallend sind die äußerst positiven Beschreibungen des jüdischen Familienlebens durch christliche, ansonsten Juden keineswegs wohlgesonnene Beobachter wie Berthold von Regensburg im 13.Jh., der in seinen Predigten die Ehrerbietung der Juden gegenüber ihren Eltern und ihre Zucht und Mäßigung in der Ehe rühmte. Das Familienleben basiert auf der Idee des Hausfriedens (Schelom Bait). Der Mann ist wie ein König in seinem Haus, er muß darin Frieden halten (Awot de Rabbi Nathan 28, 3). Man darf sogar lügen oder Tatsachen verschweigen, um die Situation in der Familie zu beruhigen, so wie Gott der Sara die befohlene Opferung des Isaak verschwiegen hat (bBM 87a). Zum Hausfrieden tragen die Feste bei: Das Kerzenanzünden am Schabbat soll eine warme und heimelige Atmosphäre schaffen, dies ist die wichtigste Aufgabe der Frauen. Die Schabbatkerzen sind daher wichtiger als die Chanukkalichter (bSchabb. 23b). Friede in den Familien trägt zum reibungslosen Zusammenleben in der Gemeinde bei, die daher Interesse an der Beilegung von Erbstreitigkeiten und anderen Familienzwisten hat. Die Zusammensetzung der rabbinischen Gerichtshöfe spielt dabei eine tragende Rolle. Aus dieser Tradition des Schelom Bait und in Auseinandersetzung mit der christlichen Umwelt bestand schon vor dem gesamteuropäischen Verbot der Polygamie durch den bedeutenden Rabbiner Gerschom ben Jehuda (um 960–1028 oder 1040, Mainz) die grundsätzliche Tendenz zur Monogamie. Nur in Ausnahmefällen kann ein rabbinisches Gericht die Bigamie erlauben – wenn die erste Frau zugestimmt hat, die Betreffenden durch ihre Herkunft beispielsweise als Jemeniten an Polygamie gewohnt sind oder die Frau wegen Geisteskrankheit den Scheidebrief (Get) nicht entgegennehmen kann. Trotzdem herrscht bei der ehelichen Treue – nach wie vor – Doppelmoral: Der Ehebruch der Frau ist absoluter Scheidungsgrund, während der Ehebruch des Mannes nicht gesetzlich bestraft wird, moralisch allerdings nicht wünschenswert ist. Außereheliche Beziehungen des Mannes können dann zum Scheidungsgrund werden, wenn sie zur Vernachlässigung der Ehefrau führen. Die Verpflichtung des Mannes zur Treue kann in den Ehevertrag aufgenommen werden. Die Verantwortung für eine harmonische Beziehung tragen beide Partner; beispielsweise kann jeder von ihnen gegen ein Zusammenleben mit der Schwiegermutter Einspruch erheben. Männer sollen die Ratschläge ihrer Frauen beachten, vor allem in der Kindererziehung und im Haushalt (bBM 59a). Wenn seine Eltern an ihr ungerechtfertigterweise etwas auszusetzen haben, soll er ihnen nicht zustimmen. In diesem Fall gilt sogar das Gebot, Vater und Mutter zu ehren, als aufgehoben. Gegen Mißhandlung der Frau traten bereits mittelalterliche Rabbiner im aschkenasischen Raum vehement ein, denn „ein Mann muß seine

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Frau mehr als sich selbst ehren“. Aschkenasische Ehefrauen hatten größere Bewegungsfreiheit als diejenigen in islamischen Ländern und durften uneingeschränkt ihre Eltern besuchen. Beide Partner müssen ihre ehelichen Pflichten erfüllen, eine dauerhafte Verweigerung kann auf Wunsch beider Seiten zur Scheidung führen. Der Mann soll aber mit seiner Frau immer liebevoll umgehen, denn ehelicher Verkehr im Streit oder durch Zwang ist Sünde und die dabei gezeugten Kinder würden – so die rabbinische Lehre – mißraten.

Beziehung zwischen Eltern und Kindern Kinder wurden traditionell als göttliche Belohnung für Verdienste, Kinderlosigkeit oder Tod der Kinder als Bestrafung für Sünden angesehen. Die Patria potestas (die väterliche Gewalt) ist daher gottgegeben. In biblischer Zeit durfte der Vater seine Kinder richten, verpfänden, verheiraten und verkaufen. Diese Machtfülle wurde von den rabbinischen Gesetzen eingeschränkt: Er konnte nur mehr die Tochter verheiraten und ihre Eide annullieren (Mischna Ket. IV, 4, bKid. 41a), sie durfte diese Heirat aber nach Erlangen der Großjährigkeit verweigern (Mischna Kid. II, 1 bKid. 41a). Wie für die Beziehungen zwischen Mann und Frau fehlt bis ins 19. Jh. die Quellenbasis (Briefe, biographische Literatur) zur Analyse der Beziehungen zwischen Kindern und Eltern. Die ethische Literatur des Mittelalters, vor allem der Sefer Chassidim, berichtet aber vom liebevollen Umgang vor allem des Vaters mit den Söhnen – oder stellt diesen zumindest als Ideal dar. Im Vergleich zur christlichen Umwelt scheint in jüdischen Familien die körperliche und erzieherische Vernachlässigung von Kindern kaum vorgekommen zu sein. Historiker führen dies auf die gesetzmäßige Verankerung der Sorgepflicht für die Kinder zurück, die im Christentum erst mit der Reformation einsetzte. Die Trauer beim Tod eines Kindes war auch in Zeiten hoher Kindersterblichkeit groß und die Umgebung wurde angehalten, ihre Kinder nicht im Beisein trauernder Eltern zu herzen. Die Trauer war um so größer, je älter das Kind war, denn „die elterliche Liebe wächst mit dem Verstand des Kindes“. Daher, so Maimonides, erfolge die Beschneidung bereits am 8. Tag, denn später sei der Vater nicht mehr imstande, seinem Kind Schmerzen zuzufügen. Kinder werden in die meisten Feste eingebunden, an jedem Sabbat gesegnet und in die Synagoge mitgenommen. Sie nehmen somit schon in jungen Jahren aktiv am religiösen Familien- und Gemeindeleben teil. Bereits vor den Erkenntnissen der modernen Pädagogik hatten jüdische Eltern anscheinend, gestützt auf die talmudische und moralethische Literatur, großes Gefühl und Verständnis für die Bedürfnisse ihrer Kinder, wenn sie auch von ihrem Züchtigungsrecht Gebrauch machten und die Söhne zu strengem Unterricht anhielten. Abgesehen von erbbesitzlichen Erwägungen tragen Kinder, vor allem Söhne, die jüdische Religion und Gelehrsamkeit in die zukünftigen Generationen. Der Vater hat die Pflicht, dem Sohn sowohl eine wirtschaftliche als auch eine religiöse Ausbildung zu geben. Die Ver-

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mittlung von Bildung an die Tochter wird von der Mutter erwartet, der Vater ist für Unterhalt und Mitgift zuständig. Die Pflicht zur materiellen Versorgung der Kinder gilt nur für den Vater, ursprünglich bis zum sechsten Lebensjahr, später wurde sie bis zur Pubertät hinaufgesetzt. Ab dann besteht sie nur moralisch, nicht gesetzlich (bKet. 49b, 65b). Für Waisenkinder oder Kinder ungebildeter Väter wurden bereits in talmudischer Zeit öffentliche Schulen eingerichtet (bBaba batra 21a). Laut Talmud benötigt ein Kind unter sechs Jahren seine Mutter, bei einer Scheidung erhält diese das Sorgerecht und der Vater muß für den Unterhalt aufkommen (bKet. 65b). Ältere Söhne werden meist dem Vater, die Töchter der Mutter zugesprochen. Seit dem Mittelalter wenden die rabbinischen Richter diese Gesetze nach bestem Interesse des Kindes an. Auffallenderweise erwähnen die zahlreichen Responsen zu Scheidungsfragen das Schicksal der Kinder nicht. Der erste mit kindgerechten Ritualen vermittelte Unterricht eines jüdischen Knaben mit etwa fünf Jahren bedeutete also sowohl den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenwerden als auch von der Mutter zum Vater. Die strenge Trennung zwischen männlicher und weiblicher Welt – unterbrochen von Festen und heimlichen Zusammenkünften – bestand also etwa seit dem sechsten Lebensjahr bis zur Eheschließung, in manchen Bereichen für das gesamte Leben. Meistens blieben die Töchter bis zur Hochzeit in der Obhut der Mutter (bKet. 102b) und hatten nur am Rande Anteil an der weltlichen und religiösen Bildung. Im Mittelalter und in den traditionellen Gemeinden Osteuropas lebte das Paar oft noch einige Jahre bei den Eltern, oder der junge Ehemann ging zum Studium an die Jeschiwa einer anderen Stadt und seine Frau blieb bei den Eltern. Im bürgerlichen Zeitalter fiel die religiöse Erziehung der Kinder weitgehend der Mutter zu. Sie prägte die religiöse Bindung der Kinder viel mehr als der Vater, auch wenn dieser noch versuchte, ein traditionelles Leben zu führen. Der Haushalt und das Familienleben sollten ein Bollwerk gegen die durch wirtschaftliche Zwänge erfolgte Aufgabe der jüdischen Bräuche sein. Vor allem Landjuden hatten verklärte Erinnerungen an Schabbat und Feiertage, wenn Mütter und Großmütter kochten und feierliche Festessen für die ganze Familie gestalteten. Die Feiertage hatten die Funktion der Familienzusammenführung und der Identitätsbewahrung. Die stufenweise Akkulturation und schließlich zuweilen Assimilation war aber von Generation zu Generation, zuerst bei den Männern und schließlich auch bei den Frauen, an vielen kleinen Schritten nachzuvollziehen. Kinder aus Unterschichtenfamilien wurden oft bereits mit zehn Jahren „in den Dienst“ gegeben. Arme Mädchen konnten in manchen Gemeinden wie in Krakau im 16. und Padua und Verona im 17. Jh. erst nach einer mehrjährigen Dienstmädchentätigkeit bei der jüdischen Gemeinde um Unterstützung für ihre Mitgift nachsuchen.

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Scheidung und Verwitwung Die jüdische Eheschließung ist ein einseitiger Erwerb der Frau durch den Mann (Mischna Kid. I, 1). Deshalb kann die Scheidung nur von diesem vollzogen werden, wenn auch die Frau bei gewissen Fehlverhalten des Mannes eine solche durch ein rabbinisches Gericht erzwingen kann. Allerdings verbot Rabbiner Gerschom ben Jehuda um 1020 die Scheidung gegen den Willen der Frau und reagierte damit auf bereits vorhandene Tendenzen gegen die Zwangsscheidung. Die Ehefrau muß den Scheidebrief unter Beisein von Zeugen freiwillig entgegennehmen. Wenn eine Frau wegen Geisteskrankheit nicht ihr Einverständnis geben kann, darf ihr Mann mit der Erlaubnis von hundert Rabbinern eine zweite Ehe eingehen. Da sich ein hoher Prozentsatz der mittelalterlichen Rechtsgutachten mit Scheidungsfragen beschäftigt, ist man versucht, eine hohe Scheidungsrate anzunehmen. Problematisch war aber vor allem die formalrechtlich einwandfreie Schreibung des Get und die Durchführung der Scheidung, da ansonsten Kinder aus der nachfolgenden Ehe den Status von Bastarden (Mamserim) erhalten konnten. Zeitweise lagen die Scheidungsraten überdurchschnittlich hoch, so daß etwa Ende des 15. Jhs. Rabbi Seeligmann Oppenheim ha-Levi Bing einen eindringlichen Appell gegen allzu leichte Scheidungen an seine Amtskollegen richtete. Ob die frühen Eheschließungen und daher die Unreife der Ehepartner oder eher wirtschaftliche Zwänge und die drohenden Vertreibungen als Scheidungsgründe ausschlaggebend waren, entzieht sich unserer Kenntnis. Allgemein wären die Auswirkungen der wirtschaftlichen und rechtlichen Situation von jüdischen Gemeinden auf Eheschließung und -scheidung zu untersuchen. Es ist möglich, eine Scheidung unter einer Bedingung auszusprechen, z. B. nachdem der vereinbarte Termin der Rückkehr des Mannes überschritten ist. Der Get kann auch durch Stellvertreter überbracht werden, wenn sich die Partner nicht bei Gericht sehen können oder wollen. Der Status einer geschiedenen Frau war, vor allem bei ihrem Verschulden und dem daraus resultierenden Verlust ihrer Ketubba, sehr schlecht. Ihr bot sich kaum eine Chance auf Wiederverheiratung oder unabhängige Geschäftsführung. Sie konnte nur bei Verwandten und/oder als Dienstbotin unterkommen. Im Fall einer schuldlosen Scheidung oder Verwitwung wird der Frau die im Ehevertrag vereinbarte Summe ausbezahlt, die ihr eine gewisse wirtschaftliche Basis sichert. Die Umrechnung in die aktuelle Währung der in der Mischna festgelegten Ketubba von 200 bzw. 100 Sus für eine Jungfrau bzw. Witwe oder Geschiedene ist ein Minhag. Die Summen sind hoch angesetzt, um dem Ehemann die Scheidung möglichst zu erschweren. Aufgrund der daraus resultierenden finanziellen Probleme wurden Rabbiner eher gebeten, Ehen zu erlauben, die eigentlich eine Scheidung verlangt hätten, z. B. nach zehn Jahren Kinderlosigkeit. Wirtschaftliche und soziale Aspekte hielten viele Ehen bis zur Emanzipation der Frau auch bei Unverträglichkeit oder Nichterfüllung des biologischen Zwecks aufrecht. Bei Verwitwung konnte sich das Problem ergeben, daß die Ketubbazahlung das Vermögen des Verstorbenen erschöpfte und die Waisen unterversorgt zurückblieben. Daher wurde der Betrag nicht in voller Höhe ausbezahlt und die Frau erhielt statt dessen die Verfügungs-

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gewalt über einen Teil oder das ganze Familienvermögen. Zusätzlich verfaßten die Ehepartner Abmachungen, die im Fall der Scheidung oder Verwitwung die Abfindungssumme in eine Relation zur von der Braut eingebrachten Mitgift stellten. Auch darin griffen die Rabbiner des Mittelalters einen christlichen Rechtsbrauch auf, nämlich das Heiratsgabensystem, in dem der Mann seiner Frau eine „Widerlegung“ oder „Morgengabe“ im Wert ihres Heiratsguts zusicherte. Witwenbetriebe waren aufgrund dieser finanziellen Basis keine Seltenheit. Im Spätmittelalter lagen die Darlehen von Frauen zwar um etwa ein Drittel unter dem Durchschnitt der Männer, manche Witwen zählten jedoch zu den führenden Geldleihern. Solche Frauen verzichteten meist wegen ihrer ökonomischen und rechtlichen Vorteile auf eine Wiederverheiratung.

Erbrecht (Dine Nachalot) Das biblische Erbrecht ist ein Stammesrecht, der Grundbesitz sollte durch die männliche Erblinie im Besitz des Stammes bleiben. Die Töchter waren daher – es sei denn, es gab keine Söhne – vom Erbrecht ausgeschlossen. Erst im 13.Jh. wurden sie den Söhnen gleichgestellt. Mittelalterliche Grundbücher und jüdische Besitzverzeichnisse zeigen, daß Töchter auch gemeinsam mit ihren Brüdern Häuser und Hausteile erben konnten. Im Gegensatz zum römischen Recht geht das Vermögen beim Tod des Erblassers automatisch auf die Erben über, und zwar in erster Linie auf die Nachkommen, in zweiter auf die väterlichen und in dritter auf die großväterlichen Erben. Eine Möglichkeit, den Kindern, vor allem den weiblichen, außerhalb des Erbgangs Vermögenswerte zukommen zu lassen, bestand in der Mitgift und einer großzügigen Ausstattung an Haushaltswäsche, Schmuck und Ritualgegenständen. Auch der Sitz in der Synagoge war bereits im Mittelalter vererbbarer Familienbesitz. Laut der Mischna erhält der erstgeborene Sohn einen doppelten Erbanteil (Baba batra VIII, 2), wobei ein Kaiserschnitt nicht als Geburt gilt, ohne daß das erste Kind deshalb ein Erstgeburtsrecht hätte. Schenkungen am Totenbett (Schechiw meRa) werden als rechtsgültig anerkannt und können die gesetzliche Erbfolge ändern.

Neueste Entwicklungen Obwohl gerade die jüdische Familie Gegenstand einer besonderen Mythenbildung von Geborgenheit, Schutz und Beständigkeit ist, ist die nichttraditionelle jüdische Familie heutzutage von den gleichen Gesellschaftsentwicklungen betroffen wie die nicht-jüdische: längere Lebenserwartung mit den daraus folgenden Problemen der Altenfürsorge, Zusammenleben ohne Trauung, späte Familiengründung nach der Berufsausbildung der Frau, sinkende Geburts- und hohe Scheidungsraten, also „die Normalisierung der Brüchigkeit“, wie Beck-Gernsheim es nennt.

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Neben der Erfahrung von Minderheitenstatus und Antisemitismus hat im 20. Jahrhundert vor allem die Schoa die davon betroffenen Familien geprägt. Eine ständig anwachsende psychologische und soziologische Forschung beschäftigt sich mit den Auswirkungen des Völkermords nicht nur auf die direkt betroffenen Überlebenden, sondern auch auf die nachfolgenden Generationen. Die Kommunikation in jüdischen Familien kann erschwert sein, die Erfahrung von Verlust und Trauer kann die Kinder und die Beziehung der Mitglieder zueinander auf vielfältige Weise belasten. Besonders betroffen sind Nachkommen, die den Eltern ermordete Kinder oder Verwandte ersetzen sollten. Sozialtherapeutische Einrichtungen tragen nun auch in Europa diesen Erkenntnissen Rechnung. Jüngste Forschungen beschäftigen sich mit den Auswirkungen von Täter- und Nutznießerschaft auf die nachfolgenden nicht-jüdischen Generationen.

Religion

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Susanne Galley

Halachische Traditionen Das Wort Halacha (Plural Halachot), abgeleitet vom hebräischen Verb halach („gehen“), begegnet in der Hebräischen Bibel nicht, wohl aber das, worauf es der Sache selbst ankommt: das „Gehen vor J’“ (halach bzw. hithalech lifne J’). Und schon dieser biblische Begriff des „Gehens vor Gott“ zeigt eine große Bandbreite von Bedeutungen; er dient aber vor allem der Bezeichnung ethisch und kultisch untadeligen Lebens „vor Gott“ in ungeteilter Hingabe an seine Gebote (Gen 17,1; 1 Kön 2,3; 8,23). Insofern, als daß das althebräische „Gehen“ – man vergleiche etwa dem deutschen „Wandel“/„Lebenswandel“ – auch die umfassende Bedeutung „Leben“ beinhaltet, bezeichnet halach lifne J’ also ein glückliches, erfülltes Leben angesichts Gottes (1 Kön 2,3). Die unmittelbare Verbindung zwischen den Mizwot, den Geboten Gottes, wie sie in der Tora aufgeschrieben sind, und dem daraus resultierenden konkreten „Wandel“ bezeichnet die Aufgabe, die der Halacha im Gefüge der jüdischen Theologie zukommt. Dementsprechend umfassend präsentiert sich auch die Verwendung des Terminus im rabbinischen Sprachgebrauch. Halacha kann die einzelne Rechtssatzung ebenso bezeichnen wie das gesamte Korpus dieser, aber auch die Methode und den Prozeß, Satzung festzustellen. Halacha ist nicht unmittelbar biblischer Text und auch nicht bloße Interpretation. Ein Element der Tradition ist ihr eigen: je höher ihr Alter verbürgt ist, desto weniger anfechtbar erscheint sie. Einer der für das Verständnis der Halacha wesentlichsten Punkte ist ihr Charakter als Mündliche Tora. Halacha ist Offenbarung Gottes an Mose, unabhängig davon, wann und von wem sie formuliert, diskutiert oder kodifiziert ist. Sie existiert damit gleichberechtigt neben der „Schriftlichen Tora“ (in der Form der ersten fünf Bücher der Bibel), wodurch die Offenbarung einen interessanten Doppelcharakter erhält: sie ist gleichzeitig abgeschlossen in der Form eines Kanons und offen für jede diskursive Fortsetzung. Rabbi Nechemja sagt: Und der Vorzug [jitron] des Landes in allem ist jenes (Prediger 5,8). Dinge, die du als Zusätze [mijutrin] in der Tora ansiehst, wie z. B. die […] Halachot über Fremde und Sklaven – auch sie sind Mosche am Sinai gegeben. Und wie die Halachot zu Schaufäden, Gebetsriemen, Mesusot: in der Tora sind sie enthalten, wie geschrieben steht (Dtn 9, 10): ,Und J’ gab mir die zwei steinernen Tafeln, beschrieben mit dem Finger Elohims und auf ihnen entsprechend aller Worte‘ […] ,Alle‘. ,Entsprechend aller Worte‘ sind die Worte des Gebots: das Gebot, Bibel, Mischna, Halacha, Talmud, Tossafot und Aggadot. Und sogar das, was ein erfahrener Schüler zukünftig vor seinem Meister sagen wird, all dies wurde gegeben [als] Halacha le-Mosche mi-Sinai. (QohR 5,8)

Die Zweizahl der dem Mose am Sinai überlieferten Tafeln und das prononcierte „Alle“ des biblischen Textes dienen den Rabbinen, den Gelehrten der Mischna, des Talmuds und des Midrasch, als Belege für die Doppelheit der Offenbarung. Nur als Schriftliche und

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Mündliche Tora ist die Halacha vollständig; sie begleitet das jüdische Volk vom Sinai her durch dessen ganze Geschichte, durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und an jeden denkbaren Ort, da man sie studiert.

Hermeneutik – Die Kunst der Auslegung Halacha, wie sie in ihrer klassischen Form Schriftlicher und Mündlicher Tora von den rabbinischen Theologen formuliert worden ist, erfordert sehr unterschiedliche Zugänge. Die Schriftliche Tora (oder Tora sche-bichtaw) umfaßt, halachisch gesprochen, die Gesamtheit der 613 Gebote und Verbote. Sie ist damit gleichzeitig Welt- und Naturordnung, der einmal und für alle Zeiten geoffenbarte Plan und Wille Gottes. Die Mündliche Tora (oder Tora beàl-pe) setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen bzw. wird auf verschiedenen Wegen gewonnen. Ein Zugang zu ihr besteht in der Deduktion von Halachot aus der Schriftlichen Tora durch die Anwendung bestimmter hermeneutischer Regeln nach dem in der Mischna (Av 5, 29) aufgestellten Grundsatz: „Kehre sie um und um, denn Alles ist in ihr!“ Explizite Anwendung findet diese Methode in den halachischen Midraschim (den Mechiltot zu Ex, der Sifrá zu Lev sowie den Sifré zu Num und Dtn). Sie begegnet aber auch in Mischna und Talmud sowie in den haggadischen Midraschim. Dabei wird ein methodischer Unterschied zwischen halachischer und haggadischer Hermeneutik vorausgesetzt; erstere unterliegt nämlich deutlich strengeren Normen. Andere Rechtssatzungen werden erst nachträglich mit einer biblischen Begründung (Asmachta) versehen; sie sind wie „Berge, an einem Haar hängend“: „Das Lösen der Gelübde hängt in der Luft und sie haben nichts, auf das sie sich stützen können. Die Halachot des Sabbat, der Feste und der Veruntreuungen – siehe, sie sind wie Berge, an einem Haar hängend, denn sie sind wenig Bibel und viele Halachot“ (Hag 1,8). Weitere Möglichkeiten, Mündliche Tora abzuleiten, präsentieren sich als von der Schriftlichen Tora weitgehend unabhängig. Besonders in Mischna und Talmud begegnen zahlreiche Halachot, die „in der Luft hängen“, sie werden von den Rabbinen mittels Tradition, Autorität oder Logik begründet. Alte, zumeist weithin anerkannte Satzungen werden mitunter kurz und bündig als „Halacha le-Mosche mi-Sinai“ gedeutet; so beispielsweise die 18 Defekte, die zur Unreinheit des Viehs führen (bHul 42a), oder die Art und Weise, das Schaddai der Gebetsriemen zu formen (bShab 62a). In anderen Fällen erfährt eine fragliche Halacha eine autoritative Begründung, die in der Geschichte des rabbinischen Lehrhauses und der Gelehrtenhierarchie begründet ist. So erhalten Mehrheitsentscheidungen in der Regel prinzipiellen Vorrang vor Einzelmeinungen. Das Ansehen bestimmter Rabbinen überträgt sich vielfach auf die von ihnen vertretenen Lehrmeinungen. Doch Autorität allein – sei es aufgrund von hohem Alter oder Wissen – genügt nicht. Immer wieder wird intensiv über die logischen Regeln nachgedacht, denen das Ableiten von Halacha gehorchen muß. Innere Kohärenz wird von der gesamten Offen-

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barung, sei sie schriftlich oder „mündlich“, verlangt und dient gleichzeitig als Mittel zur Deduktion von Rechtssatzungen. Lediglich logisch deduzierte Vorschriften stehen jedoch in geringerem Ansehen als biblische oder aus der Schrift hermeneutisch abgeleitete. Der Talmud unterscheidet zwischen Halachot „de-oraita“ (aus der Tora) einerseits sowie den Festsetzungen andererseits, die sich nur auf gelehrte Werturteile „de-Rabbanan“ (rabbinische Lehrmeinungen) berufen können. Die konzeptionelle Unterscheidung zwischen „de-oraita“ und „de-Rabbanan“ ist das vielleicht wichtigste Prinzip der Rabbinen, einen Ausgleich zwischen den zahlreichen Konfliktfällen zu schaffen, die sich aus der gleichzeitigen Anwendung unterschiedlicher hermeneutischer Methoden ergeben bzw. die sich aufgrund bestimmter sozialer, kultureller oder pragmatischer Gegebenheiten notwendig machen. Der Grundentscheidung der Konzeption „de-oraita/de-Rabbanan“, in der Regel biblisch fundierte Sachverhalte höher zu gewichten und somit strenger zur beurteilen als Fälle „de-Rabbanan“, werden einige Prinzipien an die Seite gestellt, die das genaue Gegenteil – nämlich die höhere Würdigung rabbinischer Festlegungen – zum Ziel haben. Nur diesem äußerst komplexen System des Ausgleichs zwischen den Gegensätzen ist es zu verdanken, daß die Halacha als Prozeß der Rechtsfindung von der Antike bis zur Gegenwart ihre Flexibilität und Aktualität bewahren konnte. Noch weniger Ansehen als die bisher genannten Quellen Mündlicher Tora besitzt der Hinweis auf den allgemeinen Brauch (Minhag), der nur in den Fällen zur Begründung einer Halacha herangezogen werden soll, da auf anderen Wegen keine Klarheit über ein bestimmtes Problem zu erreichen ist. Auch wenn in Begründung und Deduktion von Halacha ein außerordentlich kompliziertes System von abgestuften Wertigkeiten und Gültigkeiten entwickelt worden ist, darf an der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller 613 Mizwot, zu deren Realisierung dieses System entwickelt worden ist, kein Zweifel aufkommen.

Geschichte Von den Anfängen bis zu den Tannaim Die Anfänge der rabbinischen Halacha liegen weitgehend im dunkeln. Die Gründe für ihre Entstehung jedoch ergeben sich unmittelbar aus dem Charakter der Hebräischen Bibel als der ihr zugrunde liegenden Norm. Die Bibel enthält mehrere Rechtssammlungen – unter ihnen das sogenannte „Bundesbuch“ (Ex 21,1–23,19) und das „Deuteronomische Gesetz“ (Dtn 12–25). In diesen Codices finden sich etliche, einander widersprechende Halachot – man denke nur an die Pessach-Ordnung Ex 12 und ihr „Pendant“ in Dtn 16! Darüber hinaus gibt die Bibel aber auch da, wo sie keine widerstreitenden Traditionen bietet, Anlaß zur Frage: Daß die Tefillin anzulegen sind, wird aus Dtn 6,8 klar – wie dies zu geschehen hat, nicht. Daß ein Scheidebrief ausgestellt werden kann, legt Dtn 24, 1–4 eindeutig fest – wie dieser auszusehen hat, wird mit keiner Silbe erwähnt. Die ersten Ansätze, allzu

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globale Aussagen aufzuhellen, finden sich bereits in der Hebräischen Bibel selbst als sogenannter „innerbiblischer Midrasch“ (vgl. Jeremia 17, 21 zum Verbot der Arbeit am Sabbat). Aber auch die erste sozusagen technische Schilderung eines solchen Auslegungsvorgangs wird bereits in der Bibel geboten (Nehemia 8, 1–8). Die biblische Geschichtsschreibung zielt darauf ab, daß das Babylonische Exil allen, die es erleiden mußten, die desaströsen Folgen der Mißachtung der Tora verdeutlicht hatte. So entstand das dringende Bedürfnis, die Gesetze und Gebote Gottes breiteren Schichten des Volkes zur Kenntnis zu geben – und eben zu erklären. Deren öffentliche Verlesung, darin stimmt die biblische mit der rabbinischen „Historiographie“ überein, markiert den Beginn des Midrasch als Prozeß der Auslegung der Tora zum Zwecke ihrer Befolgung. In den berühmten Anfangsworten des Mischna-Traktats Avot liest sich die Geschichte folgendermaßen: Mosche empfing Tora vom Sinai und überlieferte sie dem Jehoschuà, Jehoschuà aber den Ältesten und Älteste den Propheten und Propheten überlieferten sie den Männern der großen Versammlung [knesset ha-gadol]. Diese sprachen drei Worte: Seid gründlich im Gericht, laßt viele Schüler erstehen und macht einen Zaun für die Tora! (Av 1,1)

Tatsächlich beginnt, der Mischna zufolge, erst mit den „Männern der Großen Versammlung“ eine eigenständige „Schul“-Tradition mit allem, was dazugehört: dem Ausbilden von Schülern, eigenständigem Lehren und: dem Zaun um die Tora als dem grundsätzlichen Anliegen jedweder Halacha. Die schlechte Quellenlage jener Zeit nach der Rückkehr aus dem Exil und der Wiedererrichtung des Tempels (um 538 v. u. Z.) bringt es mit sich, daß sich über diese frühe Etappe der Entwicklung der Halacha wenig Erhellendes sagen läßt. Zahlreiche Schriften aus der Epoche des Zweiten Tempels (515 v. u. Z. bis zum 1. Jh. u. Z.) verdeutlichen, daß es zu jener Zeit eine Vielzahl konkurrierender Halachot gegeben haben muß. Zu den bekanntesten Beispielen halachischen Interpretierens biblischer Texte gehört das Jubiläenbuch (um 200 bis 140 v.u.Z.). Es beschäftigt sich mit zahlreichen gesetzlichen Themen, darunter – besonders auffällig – mit Kalenderfragen. So wird ein Solarkalender eingeführt, der es ermöglicht, die Feste nicht nur in immer derselben Jahreszeit abzuhalten, sondern auch den Sabbat als Festtag zu vermeiden. Die einzelnen Setzungen des Buches begründen sich unmittelbar als Offenbarung: ein „Engel des Angesichts“ habe sie Mose diktiert (vgl. Jub 2,1). Im Unterschied zur rabbinischen Halacha aber ist das Jubiläenbuch in die Nacherzählung biblischer Texte gekleidet; halachische Festlegungen werden nicht als Diskurs zwischen Gelehrten hervorgehoben, sondern sind auch ihrer literarischen Form nach „Offenbarung“. Anders die qumranische Halacha. Zwar orientiert auch sie sich eindeutig an biblischem Stil und kann in die Form einer Rede Gottes an Mose gefaßt sein (so die „Tempelrolle“ 11Q Temp). Im Unterschied zum Jubiläenbuch präsentiert sie sich jedoch nicht als Erzählung, sondern als ein Regelwerk (vgl. die „Damaskusschrift“ CD, oder 4Q MMT). Mit den genannten Modellen halachischer Traditionen jener Epoche haben wir allerdings nur zwei aus einer viel breiteren Palette verschiedener „judaisms“ herausgegriffen. Zu erwähnen wären weiterhin die Halacha Philos und seiner Gemeinde, jene der durch die

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Elephantine-Papyri repräsentierte Gruppe und nicht zuletzt die verschiedenen Halachot der judenchristlichen Jesusbewegung, die zur Zeit des Zweiten Tempels miteinander konkurrierten. Die Zerstörung Jerusalems und des Heiligtums im Jahre 70 vernichtete nicht nur das Zentrum jüdischer Religiosität, sondern durch die Ermordung ihrer Trägergruppen auch zahlreiche Formen von Tora-Interpretation. Neben den sich in der kleinen judäischen Stadt Javne neu formierenden Pharisäern, aus denen sich die rabbinische Bewegung entwickeln sollte, überlebten nur Teile der Jesusbewegung, deren Lehre jedoch bald als mit dem Judentum unvereinbar erkannt werden sollte. Kehren wir zur Darstellung der Abot zurück und mit ihr zur pharisäisch-rabbinischen Halacha. Diese erwähnt nach den „Männern der großen Versammlung“ die fünf „Paare“ (sugot) als Lehrer der Mizwot. Jene zehn Gelehrten, von Antigonos aus Socho bis auf die berühmten Antipoden Hillel und Schammai (1. Jh. v. u. Z.) haben in der rabbinischen Halacha nur wenige Spuren hinterlassen. Dies hat eine heftige Kontroverse darüber ausgelöst, welcher Anteil an der rabbinischen Literatur überhaupt auf die Epoche vor der Tempelzerstörung zurückzuführen ist, sowie darüber, ob die Midrasch- oder die Mischna-Methode, Halacha mit oder ohne ausdrücklichen Bezug auf die Tora abzuleiten, die ursprünglichere ist. Die Quellenlage erlaubt es nicht, die pharisäische Halacha vor 70 u. Z. detailliert zu beschreiben. Das Nebeneinander verschiedener Methoden in anderen Halachot (vgl. z.B. Qumran) läßt es auch nicht geraten scheinen, Midrasch oder Mischna als die originäre Interpretationsweise zu favorisieren. Die tannaitische Periode: bis zum Abschluß der Mischna (1. Jh. v.u.Z. bis ca. 220 u.Z.) Die zahlreichen Debatten zwischen den Schülern Hillels und Schammais (Bet Hillel bzw. Schammai) wurden auch von den rabbinischen Quellen als Beginn einer neuen Epoche gewertet. Die Zerstörung des Tempels und die Bedrohung wesentlicher Werte des pharisäischen Judentums durch die Gnostiker und das entstehende Christentum (den Minim, „Sektierern“, der Mischna und des Talmuds) erforderten dringlich die Schaffung eines allgemein verbindlichen halachischen Systems. Beides, Verbindlichkeit wie Einheitlichkeit, realisierten die „Tannaim“, die ersten Generationen rabbinischer Lehrer bis zum Abschluß der Mischna, mittels ihres Konzepts der „Mündlichen Tora“. Die Usurpation der Hebräischen Bibel durch das entstehende Christentum veranlaßte nämlich die Rabbinen, die Mündlichkeit der von ihnen nun systematisch entwickelten Halacha drastisch einzuschärfen: wer etwas davon aufschriebe, sei wie jemand, der Tora verbrenne … (bTem 14b). Die tannaitische Halacha, wie sie die Mischna repräsentiert, entspricht diesen Anforderungen, der Mündlichkeit, sowie dem Bedürfnis nach Einheitlichkeit und Ordnung in unnachahmlicher Weise. Ihre hochgradig formalisierte Sprache ist wie geschaffen zum Auswendiglernen, die immer wiederkehrenden kargen Rechtssätze sind bis zur Unverständlichkeit auf das absolut Notwendige reduziert. Insofern trägt die Mischna schon den Keim diskursiver Entfaltung in sich, der sich in den kommenden Generationen der Amoraim, der Schöpfer des Talmud, Bahn brechen sollte.

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Zu den überragenden Gestalten der tannaitischen Periode gehört neben Rabbi Akiba, der als Anhänger und Förderer Simon bar Kochbas von den Römern gefoltert und ermordet worden ist, auch Rabbi Jehuda ha-Nassi, der „Fürst“ (gestorben um 217), der aufgrund seiner überragenden Bedeutung schlechthin „Rabbi“ genannt wurde. Auf seine Initiative hin erhielt die „Mündliche Tora“ der Tannaim schließlich in Gestalt der Mischna doch eine schriftliche Form; die Lehrtraditionen (Mischnajot) der verschiedenen tannaitischen Lehrhäuser wurden auf der Basis der Mischna Akibas vereinheitlicht. Die zahlreichen Katastrophen der beiden ersten Jahrhunderte unserer Zeit, die akute Gefährdung jüdischen Lebens und Lehrens in Palästina dürften diese Änderung der Strategie veranlaßt haben, zumal die Abgrenzung der frühen Kirche vom Judentum inzwischen von beiden Seiten auch institutionell vollzogen war. Die Gefahr erneuter Usurpation von Traditionen bestand nicht mehr. Die Amoraim: bis zur Vollendung des Babylonischen Talmuds (220 bis ins 6.Jh.) Die Mischna des Rabbi Jehuda ha-Nassi setzte sich schnell durch und wurde zu einem autoritativen Text. Einheitlichkeit und Verbindlichkeit der „Mündlichen Tora“ waren erreicht; das rabbinische Judentum hatte sich konstituiert. Die nächsten Gelehrtengenerationen Palästinas und zunehmend der babylonischen Diaspora waren nun damit beschäftigt, das in der Mischna versammelte Material diskursiv aufzuarbeiten. Im Ergebnis dieser, wiederum Jahrhunderte währenden Arbeit, entstanden zwei Talmudim: der Jerusalemer Talmud (Jeruschalmi), der die palästinischen Halachot aufnahm, sowie der Babylonische Talmud (Bavli) als Kompendium babylonischer Halachot. Hatte die Mischna sich noch darauf beschränken müssen die, auf welchem Wege auch immer, entwickelten Rechtssätze zu statuieren, durfte nun nach den Gründen für deren Entstehung gefragt werden, biblische Belegtexte konnten ergänzt und die Stichhaltigkeit der Entscheidungen argumentativ erprobt werden. Dabei wurde jenes gewaltige System einander ausgleichender hermeneutischer Prinzipien entwickelt, von dem eingangs die Rede war. Die zunehmende Verlagerung des Zentrums jüdischen Lebens von Palästina nach Babylon, das jüngere Entstehungsdatum wie auch der größere Umfang des Bavli verhalfen diesem gegenüber seinem palästinischen Pendant zum Durchbruch; er wurde zu dem Talmud. Herausragende Rabbinen der amoräischen Periode Palästinas waren Jochanan bar Nappacha (gestorben um 279), der als Herausgeber des Jerualemer Talmud gilt, und sein Disputationspartner Simon ben Lakisch (um 200–275). Die rabbinische Lehre in Babylon wurde besonders von Abba Aricha, „dem Langen“, geprägt. Er wurde seiner Bedeutung wegen einfach „Raw“ genannt. Um das Jahr 219 begründete er die berühmte Akademie von Sura, die er bis zu seinem Tod (247) leitete. Einem zweiten Diskussionspaar, Abaje (280– 339) und Raba bar Josef bar Chama (oder einfach „Raba“, gestorben 352), verdankt sich ein großer Teil talmudischen Materials, welches vermutlich während der Amtszeit Rabbi Aschis (371–427) gesammelt und ediert wurde. Die Periode der Kompilation von Halacha kam mit diesem gewaltigen Werk, daß wie kein zweites jahrhundertelang jüdische Kultur und Bildung prägen sollte, an ihr Ende. Aber: „Rabbi Berakhja sagte im Namen Rabbi Jehudas: Kein einziger Tag vergeht, an dem

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der Heilige, gelobt sei Er, nicht eine neue Halacha im himmlischen Gerichtshof lehrt“ (BerR 64, 1). Responsen, Kommentare und Codices: die nachtalmudische Halacha Was konnte auf das „Meer des Talmud“ folgen? Welches Bedürfnis nach Darstellung und diskursiver Aufbereitung von Halacha hätte ein Kompendium wie der Talmud unbefriedigt sein lassen? Es sind im wesentlichen drei Formen von halachischer Literatur, die der talmudischen Ära folgen: Responsen (Teschuwot), die Kommentare (Tossafot) sowie die großen Codices. Alle drei ergeben sich mit unbedingter Notwendigkeit aus dem Bedürfnis, den „Ozean des Talmud“ schiffbar zu machen. Responsen, schriftliche Gutachten von talmudischen Autoritäten auf Anfragen zu aktuellen Problemen des Gemeindelebens, entsprechen dem Erfordernis, halachisches Recht auf Präzedentien oder neu entstandene Fragestellungen hin schöpferisch anzuwenden. Sie sind die älteste Form nachtalmudischer halachischer Literatur. Die Kommentare zum Talmud hingegen, deren Blütezeit im 12. bis 14. Jh. liegt, entsprechen (gegenüber den eher „praktisch“ orientierten Responsen und Codices) dem Bedürfnis nach theoretischer Aufarbeitung des halachischen Korpus. Diese Zweiteilung der Auseinandersetzung mit der Rechtssprechung ist jedem juristischen System eigen (Normenkontrolle und -anwendung) und dementsprechend auch dem halachischen Recht immanent. Die Notwendigkeit der Erstellung von Codices ergibt sich unmittelbar aus dem Charakter des Talmud: im Unterschied zu vielen anderen Gesetzbüchern intendiert er keine systematische Darbietung des Rechts. Sich in den ausführlichen Diskussionen zurechtzufinden, die an den unterschiedlichsten Stellen begegnenden Ausführungen zu ein und demselben Thema zusammenzuschauen, erfordert ein hohes Spezialwissen und einen enormen Zeitaufwand, beides steht in praxi nicht immer zur Verfügung. Die eigentliche Zeit der Responsen begann in der gaonäischen Epoche, zwischen islamischer Eroberung (7. Jh.) und dem Ersten Kreuzzug (11.Jh.). Im Gefolge der arabischen Eroberungen kamen die jüdischen Gemeinden des Mittelmeerraumes zu neuer Blüte, und somit wuchs das Interesse an talmudischer Weisung aus dem fernen Babylon. Zu den bekanntesten Verfassern von Teschuwot gehört neben R’ Scherira Gaón (ca. 906–1006) dessen Sohn R’ Chai (939–1038) sowie R’ Saàdja Gaón (882–942). Bald begann man, Sammlungen von Responsen – gegliedert nach Thema, Traktat oder Autor – zu erstellen. Mit dem Niedergang des Kalifats nahm der Einfluß Babylons als Herzstück jüdischer Geistigkeit rapide ab; in Spanien, Südfrankreich und dem Rheinland bildeten sich neue Zentren, die zunächst selbständige Führungsstrukturen (Naggidim und Schtadlanim), dann auch zunehmend eine autonome Gerichtsbarkeit – und mit ihr eigene Responsen – ausprägten. Das wichtigste Kennzeichen jener Etappe besteht dementsprechend in der beginnenden Differenzierung der Halachot, seien sie spanischen (sefardischen), nordafrikanischen oder französisch-rheinländischen (aschkenasischen) Ursprungs. Dies geschah vor allem entlang der muslimischen bzw. christlichen Einflußsphären. Ein wesentliches Merkmal der rabbini-

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schen Halacha, das der Einheitlichkeit, wurde zugunsten der kulturellen Vielfalt und der Autonomie der Einzelgemeinde aufgegeben. Zu den wichtigsten Responsen-Autoren der spanischen Diaspora gehören Salomo ben Abraham Adret (gen. Raschba, ca. 1235–1310) und Ascher ben Jechiel (genannt Rosch oder Ascheri, ca. 1250–1237) sowie Mose ben Maimon (genannt Maimonides, 1135–1204). Die Blüte aschkenasischer Responsen ist mit den Namen Raschis (1040–1105) sowie seiner Enkel Samuel ben Mëir (des Raschbam, ca. 1080/85–1174) und Jakob ben Mëir (des Rabbenu Tam, 1100–1171) verbunden. Einen tiefen Einschnitt in das Leben der Gemeinden Europas – und somit auch in die Gestaltung der Halacha – bedeuteten die schweren Verfolgungen im 14. und 15. Jh., kulminierend in der Vertreibung der spanischen Juden im Jahre 1492. Die Zentren jüdischen Lebens wanderten ostwärts. Die Responsen lassen ein deutliches Interesse einer strafferen kommunalen Führung sowie an der Stärkung der Autorität der rabbinischen Gelehrten als deren Häuptern erkennen, die den durch Verfolgung und finanziellen Druck gebeutelten Gemeinden Halt geben sollten. Die Autoren dieser Ära, man bezeichnet sie als Acharonim, hinterließen ein gewaltiges Korpus von mehreren hunderttausend Entscheidungen. Zu den bedeutendsten Verfassern gehören für den italienischen Raum Meïr ben Isaak Katzenellenbogen (1473–1565; ein Schüler Jakob Pollacks), Menachem Asarja de Fano (1548– 1620) sowie Jehuda Arje da Modena (1571–1648); in Polen Jakob Pollack (1460/70–nach 1522), die erste halachische Autorität Polens, sowie dessen Schüler Schalom Schachna ben Josef von Lublin (gestorben 1558). Der berühmte Mose ben Israel Isserles von Krakau (der Rema, 1525/30–1572), Schüler Schalom Schachnas und Autor der Mappa, verfaßte auch zahlreiche Teschuvot. Für den deutschen Raum wäre auf Joél Sirkes (1561–1640, nach seinem Hauptwerk Bejt Chadasch, ,Ba”ch‘ genannt) und dessen Schüler Menachem Mendel Krochmal (1600–1661) zu verweisen. Bedeutende Dezisoren (Interpretatoren der Gesetze) waren ferner Zwi Hirsch b. Jakob Aschkenasi (1650–1661, der Chacham Zwi), sein Sohn Jakob ben Zwi Emden (1697–1776) sowie Ezechiel Landau von Prag (1713–1793). Eine zweite, wesentliche literarische Aktivität der nachtalmudischen Ära war die Systematisierung und Vereinheitlichung talmudischen Rechts. Dieser wahrhaft titanischen Aufgabe widmeten sich bereits im 9. Jh. die Halachot Gedolot. Diese ordneten das talmudische Recht erstmalig nach sachlichen Gesichtspunkten. Auf die Darlegung des übergreifenden Prinzips bzw. der Grundentscheidung folgt eine Übersicht der an verschiedenen Stellen des Talmud begegnenden Einzelhalachot. Die Einleitung der Halachot Gedolot bietet darüber hinaus erstmalig den Versuch einer konkreten Zuordnung der 613 Mizwot. Umfangreicher und reflektierter noch ist der Sefer ha-Halachot (auch: Hechalot Rabbati) des Isaak Alfasi (1013–1103, genannt Rif), der wesentlich freier mit dem halachischen Material verfährt, als es die Halachot Gedolot tat. Alfasi bezieht sich bei seinem Werk nicht nur auf beide Talmudim, sondern auch auf die gaonäischen Teschuwot, ihm gelingt somit etwas wie das halachische Resumée einer ganzen Epoche. Das Meisterwerk jener Gattung halachischer Codices jedoch ist unbestreitbar der Mischne Tora (nach dem Zahlenwert der 14 (j–d) Bücher des Werks auch: Jad ha-Chasakah) des Maimonides. Über den Zweck seines Werkes schreibt er selbst:

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In dieser Zeit, da viele Nöte aufeinanderfolgen und die Stunde alle bedrängt, ging die Weisheit unserer Weisen zugrunde und die Einsicht unserer Einsichtigen ward verborgen. Daher sind die Kommentare und die Halachot, auch die Responsen, welche die Geonim verfaßten und die sie zu erklären sich mühten, schwer geworden in unseren Tagen […] Deshalb habe ich, Mosche ben Maimun, der Sefarde, mich aufgemacht, auf den Fels, gelobt sei Er, vertrauend, […] all die klärenden Dinge von all diesen Autoren zu verbinden: in der Angelegenheit von Verboten und Erlaubt, Rein und Unrein – mit dem Rest der Regeln der Tora. Sie alle sind in klarer Sprache und kurz [dargestellt], damit die gesamte Mündliche Tora geordnet sei für alle und keine Problemfälle oder Zerteilung [bliebe]. (Mischneh Tora, Einleitung)

Über die unmittelbare Darstellung des Rechts hinaus bietet das erste Buch des Mischne (Sefer ha-Mada genannt) so etwas wie die philosophische Grundlegung der gesamten Unternehmung und reicht damit weit über ein „nur“ halachisches Programm hinaus. Dies tut übrigens auch das letzte, vierzehnte Buch (Sefer Schoftim) mit einer klaren Zurückweisung christlicher und islamischer Ansprüche auf göttliche Offenbarung. Ein gewisses Problem des maimonidischen Kodex liegt in seiner Bevorzugung sefardischer Tradition gegenüber der französisch-aschkenasischen. Diesem Umstand abzuhelfen, schufen Ascher ben Jechiel und sein Sohn Jakob (1270–1340) je einen halachischen Kodex, von denen insbesondere derjenige Jakobs (Arbaa Turim) weite Anerkennung fand. Sein Buch bot, in vier Abteilungen (turim) gegliedert, alle praxisrelevanten Halachot und Minhagot, wie sie im aschkenasischen Raum üblich waren. Ein weiteres „Kodex-Paar“ dieser Art entstand im 16.Jh. Aus einem Kommentar über die Turim entwickelte Josef Karo (1488–1575) den berühmten Schulchan Aruch (den „Bereiteten Tisch“, Venedig 1565). Mit diesem schuf er eine Art Synthese der Vorgängerwerke des Alfassi, Maimonides und Ascher ben Jechiel. Doch auch hier zeigte sich eine deutliche Dominanz sefardischer Halacha (für den aus Spanien stammenden Karo sicher nicht verwunderlich), so daß sich Mose ben Israel Isserles genötigt sah, dem Schulchan aschkenasische Gutachten und Minhagim beizufügen. Respektvoll und doch in feiner Ironie betitelt er sein Werk Mappa („Tischtuch“; es erschien erstmals in der Krakauer Edition des Schulchan 1569–1571). Mit der Verbreitung des Schulchan Aruch in ganz Europa kam die Entwicklung der Halacha an einen neuerlichen Wendepunkt (man unterteilt von ihm aus gesehen die Dezisoren in Rischonim und Acharonim), der sich u. a. darin äußerte, daß der Schulchan seinerseits in der Folgezeit zum Gegenstand der Kommentare wurde: er hatte quasi kanonischen Status erreicht. Die theoretischen Reflexionen über die Halacha, in die jüdische Geistesgeschichte als Tossafot eingegangen, gehen letztlich auf das Werk R’ Salomo ben Isaaks (Raschi) zurück, dessen Kommentar zum Talmud seit der ersten Druckausgabe so gut wie jeder TalmudEdition beigefügt wird. Der Kommentar, als Hilfe und Anleitung für Studierende gedacht, wurde allgemein zur Grundlage talmudischer Studien. Beginnend mit den Nachkommen Raschis (Isaak ben Nathan sowie dessen Enkeln Samuel ben Mëir und Jakob Rabbenu Tam) entwickelte sich eine besondere Methodologie der Auseinandersetzung mit dem Talmud, bei der die unterschiedlichen Versionen und Handschriften des Talmud, verschiedene Lehr- und Lernmethoden mit dem Kommentar Raschis in einen kritischen Dialog

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gebracht wurden, um die vielfältigen Bedeutungsnuancen des Bavli auszuloten. Zunächst als handschriftliche Randglossen zum Talmud (Tossafot bedeutet „Hinzufügungen“) während des Unterrichts notiert, wurden sie zunächst innerhalb der Jeschiwot tradiert, bevor sie Eingang in Sammlungen fanden. Zu den bedeutendsten Kollektionen gehören die Tossafot von Sens („französische Tossafot“) und Touques. Letztere finden sich in der Regel den gedruckten Talmud-Ausgaben beigegeben. Der Begriff Tossafot qualifiziert dementsprechend gleichermaßen eine Gruppe von Schriften wie auch eine Methode des Studiums. Beides übte einen außerordentlichen Einfluß auf die europäisch-jüdische Geistesgeschichte aus. So erlebte die diskursive, abwägende, um höchstmögliche Akkuratesse bemühte Beschäftigung mit der Tradition eine methodologische Neufassung; die Talmudseite wurde durch Raschis Kommentar (perusch) und die Tossafot zur „Gapat“ (Gemara-Perusch-Tossafot) komplettiert. Pro und Kontra Talmud: Aufklärung und Orthodoxie Die weitreichendste Erschütterung des altehrwürdigen Gebäudes Halacha ab dem 17.Jh. wurde paradoxerweise durch den Versuch begründet, die jahrhundertelange Ausgrenzung der europäischen Juden zu beenden oder doch zumindest abzumildern. Die im Gefolge der christlichen und jüdischen Aufklärung auf die Tagesordnung gesetzte „Emanzipation“ der Juden führte sowohl innerhalb des Judentums selbst als auch hinsichtlich der christlichen Attitüde bezüglich der Halacha zu tiefgreifenden Veränderungen. Dabei barg insbesondere der ganzheitliche Anspruch der Halacha, sämtliche Lebensbereiche zu umgreifen und zu regeln, erhebliches Konfliktpotential. Wenden wir uns zunächst letzterem zu: Es waren vor allem zwei Faktoren, welche christlicherseits die Halacha in das Zentrum der Auseinandersetzung um die Emanzipation der Juden rückten. Die Kirche (und mit ihr die christliche Bevölkerung) hatte ein tiefes Mißtrauen gegen den Talmud aufgebaut, der im allgemeinen als Ursache der Andersartigkeit der Juden angesehen wurde. Attacken gegen das Judentum richteten sich zumeist auch gegen den Talmud, der bezeichnenderweise immer dann besonders in Frage gestellt wurde, wenn die Kirche ihrerseits mit abweichenden Strömungen zu kämpfen hatte. Zum weiteren mußten die Bestrebungen, die Juden in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren, auch eine Eingliederung der Juden in das bürgerliche Rechtssystem beinhalten, was de facto eine Beschränkung der Kompetenz der Halacha bedeutete. Die zahlreichen, daraus resultierenden Kontroversen zeigen mit aller Deutlichkeit, wie sich beide Impulse, Mißtrauen und Integrationsbestrebungen, gegenseitig ergänzten und z.T. potenzierten. Zunächst erzwang die Ausdehnung des bürgerlichen Rechts eine Binnendifferenzierung innerhalb der Halacha zwischen Zivilrecht auf der einen und Zeremonialrecht auf der anderen Seite. Vor allem ersteres sah sich in seiner Gültigkeit durch den Staat in Frage gestellt. Somit ergab sich auch von juristischen Erwägungen her ein gewisser Zwang zur „Konfessionalisierung“, zur Anpassung des Judentums an die christlichen Vorstellungen von Religion. Im Gefolge dieser ersten rechtlichen Unterscheidungen konnte es nicht ausbleiben, daß auch die Halacha als solche einer neuen Bewertung unterzogen wurde; weitere Binnendiffe-

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renzierungen (etwa zwischen den nach Meinung mancher Aufklärer obsoleten „Zeremonial-“ und den aufrechtzuerhaltenden „Moralgesetzen“) taten sich auf. Dies jedoch berührt bereits die sich wandelnde jüdische Sicht auf die Halacha, an der sich – sieht man von den Karäern und wenigen charismatischen Strömungen des Judentums einmal ab – die Geister erstmals grundsätzlich scheiden sollten. Während die erste Generation der jüdischen Aufklärer (Moses Mendelssohn, 1729–1786; Naftali Herz Wessely, 1725–1805) die Dignität der Halacha nicht in Frage stellten, übernahmen folgende Generationen (vor allem Naftali Herz Homberg, 1749–1841) weitgehend die christlichen Verdikte gegen den Talmud. Er galt als verantwortlich für den vermeintlichen Obskurantismus und die angebliche Rückständigkeit und Lebensferne der jüdischen Massen. Der Widerstand regte sich prompt. In Osteuropa, wo die Haskala nur Teile der Bevölkerung erfaßte, wurde die Gegenposition, die Orthodoxie, von großen talmudischen Gelehrten wie Ezechiel Landau oder dem Gaon von Wilna (1720– 1797) repräsentiert. Für sie war die Halacha in ihrer jahrhundertelang tradierten Form absolut bindend. Spielräume für Neuerungen ergaben sich nur innerhalb der hermeneutischen Möglichkeiten des halachischen Systems selbst. Der orthodoxe Halachist sah sich nicht als Gesetzgeber, sondern als Interpret der Gesetze. Vor diesem Hintergrund ergab sich im Falle eines Konfliktes mit staatlichen Gesetzen (z. B. der Anordnung einer dreitägigen Leichenschau) oder neuartiger Phänomene (wie z.B. dem elektrischen Strom) nur die Wahl zwischen einem präventiven Verbot oder der analogen Anwendung als ähnlich erkannter Vorschriften. In Westeuropa, wo sich die Haskala in die Tiefen der jüdischen Gemeinschaft hinein ausbreitete, entwickelten sich mit dem „Reformjudentum“ und der konservativen „Neo-Orthodoxie“ zwei miteinander konkurrierende Strömungen. Nachdem die ersten Reforminitiativen sich zunächst auf liturgische Änderungen (Predigt, Orgel) beschränkt hatten, wurde schnell deutlich, daß sich solcherlei Bemühungen nicht auf rein praktische Fragen begrenzen ließen. Im Schoß des deutschen Reformjudentums entwickelten sich zwei bedeutende theoretische Positionen, die sich – wie könnte es anders sein – wesentlich an ihrem Verhältnis zur talmudischen Überlieferung schieden. Für Abraham Geiger (1810– 1874) präsentierte sich die jüdische Geschichte als Abfolge organischer Veränderungen. Die Halacha habe die Möglichkeit zu Reform und Veränderung schon immer in sich geschlossen, weshalb die gegenwärtige Reformbewegung sich keinesfalls außerhalb der Tradition gestellt hätte. Zeremonien und Liturgien betrachtete er nur insofern als gültig, als daß sie unwandelbare Grundnormen des Judentums (den Monotheismus und die moralischen Gesetze) tatsächlich zum Ausdruck brächten. Im Gegensatz zu Geiger hielt Samuel Holdheim (1806–1847) einen revolutionären Prozeß der Veränderung für angezeigt. Die Halacha betrachtete er nur bezüglich ihrer ethischen und religiösen Gebote als bindend; politisch-nationale Vorschriften und mit ihnen verbundene Zeremonien (wie z. B. die Ehegesetze) seien für deutsche Juden, die nach den Gesetzen ihres Heimatlandes leben müßten, nicht relevant. Auch wenn die großen jüdischen Gemeinden Deutschlands nach und nach Reformliturgien übernahmen, die radikale Position Holdheims setzte sich nicht durch. Abraham Geiger wurde zur wichtigsten Bezugsgröße innerhalb des Reformjudentums Deutschlands und darüber hinaus.

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Doch auch gegen ihn formierten sich Widerstände. Bei aller Anerkennung der Erfolge von Emanzipation und Integration der Juden in die bürgerliche Gesellschaft, die Halacha sollte in ihrer Substanz nicht zur Disposition gestellt werden. Das konservative Judentum (oder die Neo-Orthodoxie) versuchte sich an einer Symbiose zwischen den kulturellen Errungenschaften der Aufklärung (Bildung, Emanzipation, Patriotismus) und der unantastbaren Größe der jüdischen Tradition, und berief sich dabei auf Moses Mendelssohn und Naftali Herz Wessely. Im Unterschied zur Orthodoxie konzentrierte man sich jedoch auf die praktischen Konsequenzen der Halacha: das Prinzip des Studiums der „Tora um ihrer selbst willen“ als lebensgestaltende Größe, das ständige „Lernen“ der Männer in den Jeschiwot wurde von den deutschen Neo-Orthodoxen abgelehnt. Die wichtigsten Führungspersönlichkeiten der Konservativen waren Samson Raphael Hirsch (1808–1888) sowie Esriel Hildesheimer (1820–1899).

Halacha heute Der Streit um die Halacha dauert an. Nur hat er sich von Europa in die alten und neuen Zentren des Judentums, nach Israel und in die USA, verlagert, in denen sich säkulare, „progressive“, konservative und orthodoxe Juden gegenüberstehen. Der Diskurs aber ist produktiver geworden. Für manchen modernen Juden ist die Halacha eine „Anleitung für einen jüdischen Lebensstil geworden“, der „die geistige Suche nach Spiritualität und moralischer Rechtschaffenheit“ ergänzt (Walter Homolka). Mindestens die konservativen Juden werden sich diesem Interesse säkularer und progressiver Gruppen nicht dauerhaft entziehen wollen. Die fast zweitausendjährige Geschichte der Halacha hat gezeigt, daß dieses jüdische Rechtssystem in einzigartiger Weise imstande war, sich den wechselnden Erfordernissen seiner jeweiligen Gegenwart anzupassen. Die sensible Balance einander entgegengesetzter hermeneutischer Prinzipien, ebenso wie der Wille ihrer Interpretatoren, die Mündliche Tora in einer ungebrochenen Traditionskette zu bewahren, dürften die Besonderheit dieses Rechtssystems wesentlich mitgeprägt haben. Nicht anders als seit 2000 Jahren erfordert die sich wandelnde Gesellschaft neue Halachot – neues Nachdenken über die Stellung der Frau, die Verbesserung der Lage der aus „unerlaubten“ Beziehungen hervorgegangenen Kinder, den Umgang mit arabischen Staatsbürgern Israels und den Palästinensern – der Aufgaben sind viele und der systemimmanenten Möglichkeiten, Halacha aktuell und sensibel zu gestalten, auch. Die Bedeutung der Ableitung von Halacha für das Judentum ist seit fast 2000 Jahren dieselbe: „Seit dem Tag, da das Heiligtum zerstört ist, ist dem Heiligen, gelobt sei Er, in seiner Welt nichts zu eigen als vier Ellen Halacha“ (bBer 8a).

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Messiaserwartungen Der zeitliche sowie räumliche Rahmen dieser Übersicht enthebt uns der Notwendigkeit auf die biblische und postbiblische Entstehungsgeschichte und Entwicklung des unter dem Stichwort „Messianismus“ bekannten Phänomens einzugehen. Die Wandlung einer ursprünglich durchaus unmessianischen Religion zu einer von Zukunftshoffnung bzw. Zukunftsgewißheit geprägten Existenz sowie die Mannigfaltigkeit ihrer Artikulationen dürfen hier als bekannt vorausgesetzt werden. Das Spektrum reicht von der Erwartung einer gesegneten und glücklichen Zukunft, nationaler Restauration unter einem davidischen König und Wiederherstellung des Tempels und eines (imaginierten) goldenen Zeitalters („erneuere unsere Tage wie zuvor“, Lam 5,21) zur sogenannten „apokalyptischen“, d. h. visionär geoffenbarten Schau eines völlig neuen Zeitalters – ob Reich Gottes oder „neuer Himmel und neue Erde wie kein Auge sie je gesehen“ (Jes 64,3) –, oft nach katastrophaler Zerstörung der vorangegangenen Ordnung. Zukunftszeit (acharit) kann zu eschatologischer „Endzeit“ werden. Eschatologisch-messianische Hoffnung auf Erlösung verdichtete sich zur Erwartung der Person eines Erlösers (wie auch das Neue Testament schon für die Endzeit des zweiten Tempels belegt). Doch ist eine messianische Ordnung auch ohne persönliche Erlöserfigur denkbar, wie z. B. schon die Eschatologie der Qumrangemeinde zeigt, deren zwei Gesalbte, der eine königlich, der andere priesterlich, eben keine „Erlöser“ sind, sondern Symbole einer erlösten Ordnung. In den Jahrhunderten nach dem Mißlingen des ersten Aufstands gegen Rom, der mit der Zerstörung des Tempels endete (1. Jh.), und des erneuten Versuchs unter Bar Kochba (2. Jh.), dessen Ausgang vielleicht noch katastrophaler war, wurde Exilsexistenz sozusagen zur selbstverständlichen, theoretisch vorübergehenden, de facto aber konstanten Norm. Noch im Jahr 1593 konnte der venezianische Renaissancerabbi Jehuda Arje da Modena dieses permanente Provisorium mit den Worten beschreiben: „Wie gut war unser Leben in der Vergangenheit, welches Elend erleiden wir jetzt [seit der Zerstörung des Tempels], doch Glück und Segen werden [mit dem Messias] eines Tages zurückkehren.“

Rabbinische Passivität – messianische Aktivität Die rabbinischen Führer des Volks hatten gelernt, wie gefährlich messianischer Aktivismus sein konnte. Er war daher auch immer verdächtig. Seinen theologischen Niederschlag fand dieser „Passivismus“ in der homiletischen Auslegung der dreifach wiederholten Beschwörung Israels durch Gott (Hohelied 2,7; 3,5; 8,4), das „Ende“ nicht voreilig oder gar gewaltsam herbeiführen zu wollen (daher auch die anfängliche Ablehnung des Zionismus durch die Orthodoxie als sündhaft-menschliche, nota bene gottlos säkulare Anmaßung

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einer Gott vorbehaltenen Heilsinitiative). Trotz Diasporaexistenz mit ihren unvermeidlichen kulturellen – auch sprachlichen – Verschiedenheiten blieb die Einheit des Judentums nicht nur gewahrt durch Erinnerung, bleibend gültige heilige bzw. autoritative Schriften und Gesetzesobservanz, Gemeinsamkeit der Erfahrung von Demütigung, Unterdrückung und Verfolgung, sondern auch durch die Gemeinsamkeit der Gewißheit einer zukünftigen, wenn auch immer wieder verzögerten, triumphalen Erlösung, verbunden mit göttlicher Rache an den Peinigern. Das Faktum der Unterdrückung und die Erwartung der Erlösung gehören zusammen. Es war die tagtägliche Wirklichkeit von akuter oder jedenfalls potentieller Verfolgung, bestenfalls „nur“ Verachtung und Demütigung, welche die Messiaserwartung wachhielt, und es war die Messiaserwartung welche der unterdrückten Minderheit in einer feindseligen Welt die Kraft zum Durchhalten gab. Die theologisch legitimierte Passivität hatte, wie schon angedeutet, ihren sehr realen Hintergrund. Machtlosigkeit war das Hauptmerkmal der Diasporaexistenz. Selbst wenn ein Wille gewesen wäre, fehlte jede Infrastruktur für möglichen Widerstand, abgesehen vom geistigen. Unsicherheit war das Merkmal jüdischer Existenz, und diese kennzeichnete sich auch darin, daß die jüdische Minderheit nie vor dem aufgebrachten – häufig durch die Kirche aufgestachelten – Pöbel geschützt war, und dies galt auch für die angesehenen Elitejuden. Der jüdische Wesir eines spanischen Kalifen, der Finanzminister christlicher Könige (Don Isaac Abrabanel) und der reichste und einflußreichste Hofjude wußten, daß sie am nächsten Tag geköpft, gehängt oder vertrieben werden könnten. Trotz der passiven Haltung, die durch abwarten und hoffen gekennzeichnet war, gab es durchaus auch verschiedene Arten des Aktivismus. Da war die kabbalistisch-magische Form, welche nebst strenger Askese und intensiver Meditation auch Beschwörungsformeln kannte. Die Israel unterdrückenden Völker waren ja nur die irdische Manifestation der Dämonenherrschaft, die es zu brechen galt. Die Warnung vor den Gefahren dieser Methode fand ihren Ausdruck in der Legende des Rabbi Josef della Reina, der den dämonischen Mächten, die er zu besiegen gedachte, zum Opfer fiel. Da das Exil durch Sünde verursacht wurde, sollte sein Ende auch durch intensive Bußübungen herbeigeführt oder wenigstens beschleunigt werden können. Das Jahr der messianischen Aktivität in Italien des Ascher Lemmlein sowie die frohe Botschaft des Advents des Messias Sabbatai Zwi waren von an Massenhysterie grenzenden Bußpraktiken begleitet. Ein Fall von „praktischem“ Aktivismus ist uns aus dem 16. Jh., noch vor dem Entstehen der Lurianischen Kabbala, bekannt. Dies ist das Auftauchen des mysteriösen David haReubeni in Italien (1523), welches besonders unter den Marranen in Portugal, nach seiner Ankunft dort (1525) – in seinen Händen ein Empfehlungsschreiben des Papstes Clemens VII. an den König Johann III. – messianische Begeisterung weckte, obwohl er keine messianische Rolle vorgab. Schwindler oder Phantast? Jedenfalls war er „nur“ der Bruder und militärische Befehlshaber des über die zehn Stämme regierenden Königs. Sein Ziel war anscheinend, durch ein Bündnis zwischen der christlichen Welt und den mächtigen Armeen der zehn Stämme für einen Krieg gegen den Islam, die Juden von Verfolgungsopfern zu Alliierten zu machen. Es bleibe dahingestellt, was man von einem Plan zu halten hat, der

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während des Tobens der Inquisition und unter der Regierung des fanatisch katholischen Kaisers Karl V., einen Krieg gegen die Türkei, welche die vertriebenen Juden so gastlich aufnahm, vorschlägt. Doch sein Erscheinen in Lissabon zündete in der Seele des Diego Pirez, einem jungen Höfling aus einer Marranenfamilie, dem eine glänzende Hofkarriere bevorstand, einen Funken, der zu lodernder Flamme wurde. Salomo Molcho (wie er sich später nannte) beschnitt sich selbst und mußte, wie auch sein Mentor ha-Reubeni, aus Portugal fliehen. Wegen seines Charisma und seiner Visionen wurde er in Kabbalistenkreisen sehr geschätzt und seine prophetischen Gaben weckten überall Bewunderung. Die Überschwemmung Roms durch den Tiber 1530 und das Erdbeben in Lissabon 1531 hatte er genau vorausgesagt. Die Eroberung und Plünderung Roms 1527 galt ihm als apokalyptisches Zeichen, und er scheint tatsächlich an eine messianische Berufung geglaubt zu haben. Obwohl sein Messianismus eher mystisch-kabbalistischer Art war, gelang es ha-Reubeni, ihn zur Unterstützung seiner Pläne zu bewegen und ihn zum Reichstag in Regensburg (1532) zu begleiten, wo er diese dem Kaiser unterbreiten wollte. Auf Befehl Karls V. wurde Molcho festgenommen und in Mantua von der Inquisition verbrannt. Von seiner magischen Kraft war man jedoch dermaßen überzeugt, daß sein Mund geknebelt wurde, um zu vermeiden, daß er sich durch kabbalistische Formeln vom Scheiterhaufen befreien würde. Der Führer der deutschen Judenschaft, Josel von Rosheim, bekundet in seinem Tagebuch Verehrung für den heiligen Märtyrer, doch verheimlicht er nicht seine Kritik an Molchos abwegigen Ideen. Die Legende des della Reina und der historische Molcho wurden zu Symbolen des von der rabbinischen Tradition abgelehnten aktivistischen Messianismus. Menasse ben Israels Bemühungen um die Wiederzulassung der Juden in England waren keine messianische Aktivität stricto sensu, obwohl ganz deutlich messianisch motiviert. Die feindselige Wirklichkeit, die der mittelalterliche Jude kannte (und das jüdische Mittelalter endet in der Aufklärungsepoche), war religiös, und zwar spezifisch christlich geprägt und motiviert. Der Islam in seiner arabischen Form war im Hochmittelalter als innereuropäischer (z. B. Spanien, Sizilien), sozialer und politischer Faktor auf dem Rückzug. Im 16. Jh. trat er in seiner ottomanischen Form wieder in das europäische Blickfeld, doch war seine Präsenz faktisch nur für die Juden in der Türkei und auf dem Balkan relevant. Das besagt natürlich nicht, daß europäische Messiasvorstellungen nicht von außereuropäischen Entwürfen beeinflußt waren. Maimonides, dessen Familie, wie viele andere, wegen des Almohaden-Fanatismus aus Spanien nach Nordafrika flüchtete und der auch trotz seiner hohen Stellung als Leibarzt des Vizekönig in Ägypten wohl wußte, was der Dhimmi-Status unter islamischer Herrschaft bedeutete, konnte nur wenige Jahrzehnte nach dem Massaker ganzer jüdischer Gemeinden durch die Kreuzfahrer und vielleicht aus Unkenntnis der Ereignisse, schreiben „niemand hat uns soviel angetan wie die Ishmaeliten“. Seine eher nüchterne Lehre (im Gesetzeskodex sowie in der „Epistel an Jemen“) vom Messias und dem messianischen Zeitalter hat auch auf das europäische Judentum gewirkt, wenn auch nicht so massiv wie die fieberhaft messianische Mystik der galiläischen Kabbalisten im 16. Jh. oder der ebenfalls vom Ottomanischen Reich (Erez-Israel, Ägypten, Türkei) ausgehende sabbatianische Taumel.

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Maimonidische Messiaslehre Die von Maimonides formulierten 13 Grundprinzipien des Judentums sind – in die Form eines Credo umgewandelt – in manche Gebetbücher eingegangen, darunter auch das Bekenntnis „Ich glaube mit vollkommenem Glauben an das Kommen des Messias […] und auch wenn er sich verzögert, so harre ich jeden Tag auf sein Kommen“. Verdammenswert ist die zur Ungeduld gewordene Erwartung, welche das Datum des messianischen Advents zu errechnen oder anderswie vorauszusagen vermeint – und zur Zeit des Maimonides gab es bereits eine beachtliche Tradition solcher meistens auf Gematria (Zahlenmystik) basierender Kalkulationen. Ausführlicher und recht unapokalyptisch geht Maimonides in seinem Gesetzeskodex (Abschnitt „Könige und ihre Kriege“ Kap. 11 und 12) auf diese Erwartung ein: „Denke nicht, daß der Messias Wunder und Zeichen wirken wird […], die Toten erwecken und ähnliches“, oder daß sich der normale Lauf der Dinge ändern würde. Die Tora und ihre Gesetze sind ewiglich gültig, und wenn ein König ersteht, der wie sein Ahnherr David diese fleißig studiert und erfüllt, ihre Einhaltung erzwingt und siegreich die Kriege Gottes führt, dann ist er wahrscheinlich der Messias. Wenn er die Zerstreuten einsammelt und den Tempel wieder erbaut, dann ist er es gewiß. Prophetische Verheißungen (Jes.11) wie das friedliche Zusammenleben von Wolf und Lamm und so manches mehr sind parabelhafte Bildsprache. Über diese Metaphorik zu grübeln oder gar zu streiten ist müßig. Wenn schon biblische Aussagen nicht wörtlich zu nehmen sind, dann können die zu stattlicher Anzahl angewachsenen apokalyptischen Midrasch-Texte erst recht ignoriert werden. Ziel des messianischen Regimes ist die Möglichkeit ungestörter Hingabe des Menschen an seinen eigentlichen Zweck: das Erlangen von Weisheit und Gotteserkenntnis. Unsere Zusammenfassung der maimonidischen Messiaslehre ist auch Gelegenheit, auf entscheidende Unterschiedlichkeiten in der Auffassung hinzuweisen. Wie Maimonides mit dem Dogma der Wiederauferstehung der Toten fertig wurde, ist nicht unser jetziges Anliegen. Jedenfalls wird historischer Messianismus als Erwartung einer radikalen Veränderung in der geschichtlichen Situation ausdrücklich von jeder apokalyptischen Eschatologie im Sinne von totaler historischer Diskontinuität unterschieden. Maimonides ist auch traditionalistisch genug, um das messianische Zeitalter nicht ohne persönlichen Messias beschreiben zu können. Die Utopie des Maimonides ist eine Philosophenrepublik, doch unter einem mit eiserner Faust regierenden davidischen König. Es ist dies ein der Mystik nahestehendes Ideal der vita contemplativa, welches aber nur in einer zukünftigen historischen Staatlichkeit völlig realisierbar ist. Eine elitäre Utopie also, die wohl nie eine messianische Massenbewegung entfachen würde und die weit entfernt ist von den kollektiven und individuellen Anliegen der sogenannten „Volksreligion“, welche andere Prioritäten hätte als die vita contemplativa, auf deren Zusammenhang mit Messianismus wir aber dennoch zurückkommen werden. Das europäische Hochmittelalter ist die Zeit, in der Judenhaß und Verfolgung, Vertreibungen (z. B. England 1290, Frankreich 1306), Massaker (z. B. 1096–99 vom Rheinland bis Prag,

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Saloniki und Jerusalem) und Verbrennungen, oft unter Beschuldigung von Ritualmord und Hostienschändung (z.B. Norwich 1144, Blois 1171, Wien 1421) eine ganz neue Virulenz annahmen und diese bis an die Neuzeit weitergab, wenn auch mit verändertem und später säkularisiertem Charakter, der jedoch wiederum ursächlich dem Christentum zuzuschreiben ist. Der Bürgermeister von Zwolle (Nordholland) notiert in der Stadtchronik 1349, daß prorsus amor Dei („aus Liebe zu Gott“) alle Juden in der Stadt ermordet wurden. Mit anderen Worten, die erfahrene Wirklichkeit war solcher Art, daß Befreiung aus ihr nur durch übernatürliche Intervention und in völliger eschatologischer Diskontinuität mit dem „normalen“ Geschichtsablauf denkbar war. Erst mit dem Aufkommen neuzeitlichen Fortschrittsglaubens änderte sich diese Selbstverständlichkeit. Die ersehnte Erlösung konnte jetzt als historisch unausbleibliche Erfüllung eines kontinuierlichen Entwicklungsprozesses gedacht werden und das messianische Zeitalter bedurfte keiner persönlichen Erlöserfigur.

Messianismus Eine ganz besondere Note erhielt die konfliktuelle Situation des Juden in einer sich als christlich (also wörtlich „messianisch“) definierenden Umwelt durch den Glauben letzterer an Jesus als den schon gekommenen, doch von den Juden verworfenen und selbst getöteten Christus. Messiaserwartung war daher auch Erwartung der offenkundigen Bestätigung jüdischer Existenz und jüdischen Glaubens. Unser Thema ist Messiaserwartung und nicht messianische Bewegungen, die man in Geschichtsbüchern und Enzyklopädien aufgelistet finden kann. Doch das Verhältnis beider verdient kurze Betrachtung, denn erstere ist zweifellos Vorbedingung, wenn auch kein genügender Grund für letztere. Unter welchen Umständen wird messianische Erwartung zu messianischer Erfüllung, „potentieller“ Messianismus zu messianischer Agitation oder gar zum fieberhaften messianischen Ausbruch? Aus welchen Schichten kommen die Anhänger? Ist der Träger der Botschaft ein Künder, Vorläufer, oder der (Pseudo-)Messias selbst? Da ein jeder Messias per definitionem mit Versagen und Enttäuschung endet, ist die eigentliche Frage nicht sein Entstehen, sondern wann und wie die Bewegung wieder erlischt und/oder wie die Enttäuschung, die man als messianischen Katzenjammer bezeichnen könnte, verarbeitet oder in ganz seltenen Fällen sogar ins Positive gewendet wird. All diese Fragen erfordern für jeden einzelnen Fall genauere Forschung. Der historische Befund zeigt aber deutlich, daß kein unmittelbarer Zusammenhang besteht zwischen spezifischen katastrophalen Ereignissen und messianischen Bewegungen. Die Massaker und das Massenmar tyrium ganzer Gemeinden im Rheinland während des ersten Kreuzzugs zeitigten keine messianische Gärung. Nach Gershom Scholem ist die in ihrem tiefsten Wesen messianisch strukturierte Lurianische Kabbala, welche im 16. Jh. von Safed in Galiläa aus die jüdische Theologie und Frömmigkeit eroberte, vor dem Hintergrund des Traumas der Vertreibung aus Spanien (1492) zu deuten und fungierte ihrerseits als die theoretische Unterlage für den rasenden, zeitlich begrenzten, doch folgenschweren Erfolg des „Mystischen Messias“ Sabba-

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tai Zwi. Die Verbindung dieses Ausbruchs (1665–66) mit den fürchterlichen Massakern (1648) in der Ukraine und Polen unter dem Kosakenhetman Chmel’nickij ist eine völlig verfehlte, wenn auch auf den ersten Blick verführerische post hoc ergo propter hoc-Erklärung. Das soeben über die neue Lurianische Kabbala Gesagte bedarf einer kurzen Erläuterung. Mystik (was immer darunter gemeint sein mag) und prophetisch-geschichtliche, zukunftsorientierte Religiosität werden oft und nicht zu Unrecht – wenigstens „idealtypisch“ – als gegensätzlich dargestellt. Mystische Religion sucht Erfüllung jenseits von Raum und Zeit, im Überzeitlichen, im „ewigen Jetzt“, das jenseits alles Werdens, Entstehens und Vergehens und jenseits aller „Davors“ und „Danachs“ ist. An Zeitlichkeit, historischen Abläufen bzw. historischer Erfüllung, von Erlösung der Welt (im Gegensatz zu Erlösung von der Welt) ganz zu schweigen, ist ihr wenig gelegen. Tatsache ist, daß auch in der Geschichte des Judentums bei spirituellen Autoren die messianische Spannung nachläßt, je mehr das mystische Ziel im Vordergrund steht. In der großen und einflußreichen Anleitung zum spirituellen Leben des Bachja ibn Pakuda (Spanien, 11.Jh.) und der darin enthaltenen, etwas gekünstelt anmutenden Liste der Objekte des hoffnungsvollen Gottvertrauens, wird der Messias, die messianische Hoffnung und das messianische Zeitalter kein einziges Mal erwähnt! Da die zeitgenössische Forschung sich recht monopolistisch des Terminus Kabbala als synonym mit jüdischer Mystik bemächtigt hat, wird Bachja, der in gutem Sufistil von dem auf höchster Stufe Gottliebenden sagen kann, daß er „ohne Augen sieht, ohne Ohren hört, ohne Sinneswahrnehmung spürt und ohne Vernunftschlüsse versteht“, als Philosoph, Moralist oder Pietist bezeichnet. Der Titel Mystiker wird den gnostizierenden Theosophen, deren Anliegen die Beziehungen der Sefirot sind, vorbehalten. Jedenfalls hat ein späterer aschkenasischer Autor, der im allgemeinen Bachja sehr genau folgt, sich aber hier der gesamtjüdischen Tradition anschließen wollte, die letzte Nummer in Bachjas Liste gestrichen und durch die Erwartung des Messias ersetzt. In den Texten der Merkaba-Himmelsreisenden ist keinerlei messianische Spannung zu spüren. Ebensowenig (mit einigen Ausnahmen) in der frühen Kabbala. Im 16.Jh. wird messianische Spannung zunehmend spürbar, man vernahm erst in der Lehre Isaac Lurias, daß die Kabbala zu einer ausgesprochen „messianischen Mystik“ wurde. Doch nicht die Person des erwarteten Erlösers stand jetzt im Zentrum (dieses Theologumenon wurde erst mit Sabbatai Zwi wieder eingeführt), sondern ein historisch-kosmischer Prozeß (Tikkun), mit dessen Erfüllung die gefallene Schöpfung, konkret repräsentiert in Israels Schicksal, und die zum salvator salvandus gewordene Gottheit zur Erlösung finden.

Sabbatai Zwi Der schon genannte Isaac Luria wie wohl auch die Familie des Sabbatai Zwi waren aschkenasischer Abstammung, doch lebten sie in einem sefardischen Milieu. Messianische Erwartung war allen Juden gemeinsam, doch akuter Messianismus sowie das Auftreten von entsprechenden Kündern und Agitatoren waren kein aschkenasisches Phänomen. In der

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sefardischen Welt hingegen gab es deren viele. Die aschkenasischen Pietisten und „Propheten“ hatten keine dem Abraham Abulafia oder dem „Propheten von Avila“ (beide Ende des 13. Jhs.) vergleichbare Figur. Ein gewisser Mose (Botarel?) von Burgos (ca. 1400) soll sogar die Bewunderung des Chasdai Crescas hervorgerufen haben. Der scheinbar aus Böhmen oder Mähren stammende Ascher Lemmlein, obwohl hauptsächlich in Deutschland aktiv, begann seine messianische Karriere (ca. 1500) in Norditalien. Mit dem Auftreten Sabbatai Zwis änderte sich das Bild völlig. Die von ihm bzw. seinem Propheten Nathan von Gaza entfachte Bewegung ist selbst in der abwechslungsreichen jüdischen Geschichte einmalig. Alle vorangehenden messianischen Bewegungen waren begrenzter und lokaler Art und ließen nach ihrem Erlöschen keinerlei Spuren zurück. Doch diesmal verbreitete sich die frohe Botschaft wie ein Lauffeuer, und innerhalb eines Jahres wurde Sabbatai als „unser Herr und königliche Majestät“ verehrt, von Holland bis Persien, von Polen bis Marokko, von Hamburg bis Jemen, von den vermögenden sefardischen Handelsherren in Amsterdam bis zum ärmsten Proletariat. Glückel von Hameln erzählt in ihren Memoiren, wie auch ihre Familie Hab und Gut verschleuderte, um in Erwartung des messianischen Rufs sozusagen auf gepackten Koffern zu sitzen. War dieses Phänomen einzigartig in der jüdischen Geschichte, so war es dessen Fortsetzung noch mehr. Denn als das messianische Treiben den ottomanischen Behörden zu bunt wurde und der Rabbi Sabbatai vor eine schicksalhafte Wahl gestellt wurde, zog er das Überleben als Mehemet Effendi mit Turban auf dem Kopf dem Martyrium vor. Der Messias nicht als Gekreuzigter, sondern als Apostat, nicht dem Tode, sondern der Sünde ausgeliefert! Vom Enthusiasmus zog man sich beschämt und unter dem Hohngelächter der nicht-jüdischen Umwelt in die gewohnte Exilswirklichkeit zurück, und sowohl akuter Messianismus als auch die Kabbala waren (mit einigen Ausnahmen) für längere Zeit diskreditiert. Doch für viele war das innere Erlebnis zu mächtig: Eine neue Welt war aufgebrochen, und was die Majorität, die nur mit den Augen des Fleisches sehen konnte, als „Urteil der Geschichte“ und historisches Dementi betrachtete, war für die Augen des Geistes ein Mysterium (ähnlich der theologia crucis), welches nur mit Hilfe einer kabbalistischen Theologie des Paradoxes geglaubt und erfaßt werden konnte. Viele dieser Konventikel und Träger einer notwendigerweise „häretischen“ messianischen Mystik fanden dann doch, unter Vertuschung ihrer z. T. auch antinomistischen Vergangenheit, zum Judentum zurück. Andere blieben standhaft im Glauben und waren noch im 18.Jh. in Polen aktiv. Eine Gruppe in der Türkei (hauptsächlich in Saloniki, zu jener Zeit zum Osmanischen Reich gehörend) trat in Nachfolge des Messias auch „äußerlich“ zum Islam über und scheint noch bis ins 20.Jh. bestanden zu haben. Wieviel der in Osteuropa entstehende Chassidismus dem aufwühlenden sabbatianischen Erlebnis verdankt, ist noch Gegenstand der Diskussion, doch ist jedenfalls der These Scholems beizupflichten, daß der Chassidismus, um eine an das Volk und nicht an eine Elite gerichtete mystisch orientierte Erweckungsbewegung zu sein, das messianische Element zwar nicht aufgab (was im Judentum unmöglich war), doch „neutralisierte“, um den Gefahren dieses Dynamits zu entgehen. Ein von Sabbatai Zwi gebranntes Kind fürchtet

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das Feuer. Erst gegen Ende des 20. Jhs. hat eine chassidische Gruppe (CHABAD/Lubavitch) das messianische Element wieder akut belebt und ihren (inzwischen verstorbenen) Rabbi als messianischen König proklamiert. Die Geschichte der post-sabbatianischen Häresie gehört nicht zu unserem eigentlichen Thema. Sie wurde erwähnt als Beispiel von jüdischen Gruppen, für die es kein Zurück mehr gab: Die Brücken zur alten Welt waren verbrannt. Die messianischen Heilsvorstellungen alten Stils waren zwar nicht verwirklicht, doch sie ließen sich in eine neue Terminologie übersetzen. Eine neue Welt zeichnete sich am Horizont ab, und die Erben der sabbatianischen Erneuerung samt ihres Antinomismus konnten sich leicht dem das „Zeremonialgesetz“ verwerfende Haskala-Judentum anschließen.

Post-Messianismus Die sogenannte „bürgerliche Verbesserung“ der Juden als erster Schritt zu völliger Gleichheit wurde zu einer real denkbaren Möglichkeit. War dies nicht ein bedeutender Teil des messianischen Programms? Und wenn Exil und Diaspora nicht länger Exil und Diaspora waren, war der dafür zu zahlende Preis, nämlich der Abschied von anderen Elementen des traditionellen Programms wie z. B. die Rückkehr nach Zion und der Wiederaufbau des Tempels, nicht letzten Endes ein Gewinn? Liberaler und humanistischer Fortschritt wurde selten expressis verbis messianisch definiert, doch funktionell spielte er eine messianische Rolle und Abstriche von der Tradition waren unvermeidlich. Gab es einen goldenen Mittelweg zwischen dem streng gesetzestreuen Moses Mendelssohn und seinen getauften Nachkommen? Marx und Engels bezeichneten in ihrem kommunistischen Manifest die präsozialistischen Utopien von Saint-Simon, Fournier und Robert Owen spöttisch als christlichen Millenarismus und Duodezimo-Ausgaben des „Neuen Jerusalem“. Marx und Engels waren ihrerseits Ziel eines noch ironischeren Vergleichs des englischen Philosophen Ber trand Russell, für den die kommunistische Utopie es dem Augustinus nachmachte, nur daß letzterer den jüdischen Millenarismus auf den christlichen Kopf gestellt hatte. Jetzt wird aus dem göttlichen Walten materialistische Dialektik, die Auserwählten sind das Proletariat, die Partei übernimmt die Rolle der Kirche und die Revolution ist die eschatologische Parusie. Kant war sich des chiliastischen Charakters seines „Ewigen Frieden“ durchaus bewußt. Aus jüdischer Sicht stellte sich die Frage, ob Napoleon, welcher – trotz auch antijüdischer Gesetzgebung – in allen eroberten Gebieten Diskriminierung und Ghettomauern abschaffte, als messianisches oder satanisches Werkzeug zu werten war. Schon vor der Französischen Revolution war die orthodoxe Führung sich einig, daß passives Warten im Ghetto jeder Gleichberechtigung (bzw. dem dafür zu zahlenden Preis) vorzuziehen war. Es hieß: „Lieber Maria Theresa als Joseph II.!“ Wie Messianismus jetzt von fortschrittlichen Aufklärungsenthusiasten interpretiert werden konnte, soll ein Beispiel illustrieren, welches gerade darum instruktiv ist, weil es nicht aus den Heimatländern der Aufklärung (deistisches England, Frankreich, Deutschland) kommt, sondern aus dem superkonservativen, obwohl oft als

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supertolerant dargestellten Holland. Im März 1795, dem „ersten Jahr der Batavischen Freiheit“, nach der Eroberung der „Vereinigten Provinzen“ durch französische Truppen und daher auch das „erste Jahr der jüdischen Erlösung“ (sic!), appellierte ein mit dem Pseudonym Judaeus Batavus zeichnender Enthusiast an seine Glaubensgenossen: „Der Messias, auf den ihr jahrhundertelang gewartet habt, ist gekommen. Er wird euch nicht nach Jerusalem, dem traditionellen Ziel Eurer Sehnsucht, zurückbringen, [denn] Jerusalem ist [jetzt] hier, in Amsterdam.“ Auch diese Begeisterung sollte sich bald als verfrüht herausstellen. Dennoch mußte die neuzeitliche jüdische Messiaserwartung, selbst die ultra-orthodoxe, sich an eine völlig neue, von drei kritischen Faktoren wesentlich bestimmte Situation anpassen. Der erste Faktor war die schon erwähnte Aufklärung. Gerade der universalistische Rationalismus lieferte den Gegnern der Judenemanzipation, wie z. B. Michaelis (1782) contra Dohm, ein schlagendes Argument: Das Beibehalten einer messianischen Erwartung, die sich nicht als Verwirklichung der Aufklärungsideale definiert, sondern als Hoffnung auf eine Rückkehr nach Zion, bewies, daß die Juden jedes Land als Exil und sich selbst noch immer als anders betrachteten und daher für Gleichberechtigung im corpus politicum nicht in Frage kamen. Das einzige Gegenargument, das der judentumsfeindliche, doch judenfreundliche Abbé Grégoire ins Feld führen konnte war, daß mit völliger Gleichberechtigung die (partikularistische) messianische Glut nachlassen und schließlich verschwinden würde. Für David Friedländer in seinem Schreiben an Propst Teller (1799) war dieses Verschwinden schon ein fait accompli. Theologische Brisanz erhielt diese Problematik im Reformjudentum. Sollte man eine jede messianische Erwähnung aus der Liturgie streichen? Die Rabbinerversammlung in Frankfurt (1845) beschloß, das messianische Vokabular beizubehalten, doch gründlich universalisiert: Kein Wiederaufbau des Tempels, keine Rückkehr nach Zion und bestimmt kein jüdisches Staatswesen. Die messianische Idee besagte universelle Wahrheit und Gerechtigkeit, also Ideale, die mit jedem aufgeklärten Patriotismus vereinbar waren. Das fortschrittsfreudige und optimistische 19. Jh. hatte nicht genug Phantasie, um sich die Greuel des zwanzigsten vorzustellen. Und Preßburg (jetzt Bratislava, Hauptstadt der Slowakei) war unter der Pax Habsburga nicht das russische Kischinew des Pogromjahrs 1903. Auch der in Preßburg amtierende Oberrabiner Moses Sofer, unbestrittene rabbinische Autorität und Führer des konservativsten Flügels der Orthodoxie im Kampf gegen Reform und Neuerung jeglicher Art, mußte in seinem Sendschreiben von 1819 zugeben, daß unter der Allergnädigsten k.u.k.-Herrschaft Messiaserwartung nicht mehr Rettung vor Scheiterhaufen bedeutete und daß die immer noch gültigen Begriffe „Zerstreuung“, „Exil“ und „Erlösung“ jetzt etwas anders gepredigt werden müßten. Gegen Ende des Jhs. trat eine neue und gefährliche Alternative auf die Bühne. Dieser am nachhaltigsten wirkende dritte Krisenfaktor war der gottlose Zionismus, dem sich, horribile dictu, wenn auch mit etwas Verspätung, selbst einige orthodoxe Kreise mit religiöser Rechtfertigung anschlossen (von vereinzelten rabbinischen „Vorläufern“ dürfen wir hier absehen). Keine messianische Bewegung also, sondern nüchterne säkulare Analyse des „Judenproblems“, gemeint ist der unausrottbare Antisemitismus, und der Vorschlag einer

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realistischen – wie unrealistisch sie anfangs auch ausgesehen haben möge – Lösung. Zu Beginn wurde der Zionismus von der Orthodoxie wie vom Reformjudentum mit seltener Einmütigkeit, wenn auch aus verschiedenen Gründen, bekämpft. Für die Reform war ein jüdischer Nationalstaat in Palästina unvereinbar mit echtem messianischen Judentum. Für die Orthodoxen war er ein ketzerischer Verrat am messianischen Glauben. Die Ablehnung seitens der vereinigten „Protestrabbiner“ (wie Herzl sie nannte) war so heftig und einflußreich, daß der erste Zionistenkongreß (1897) von München nach Basel verlegt werden mußte. Unser Thema ist nicht die Geschichte des Zionismus, sondern das einmalige Phänomen der Messianisierung einer anfänglich und ihrer Intention nach unmessianischen Initiative. Hier ist nicht der Ort, um auf die komplizierte, teils semantische und teils sachliche, Frage der möglichen Bedeutung(en) des Begriffs „säkularisierter Messianismus“ einzugehen oder zu untersuchen, inwieweit der Zionismus solch ein säkularisierter Messianismus ist, wenn auch in der Terminologie gängiger europäischer Nationalismen oder anderer Ideologien formuliert. Ber Borochovs radikaler Marxismus und A. D. Gordons Abhängigkeit von Tolstoj sind bekannte osteuropäische Beispiele. Doch kein noch so säkulärer Zionismus kann sich von dem der jüdischen Geschichte inhärenten religiösen Erbe freimachen, selbst sprachlich nicht. Wenn Ben-Gurion dem Parlament den Entwurf zum „Law of Return“ vorlegt (3. Juli 1950), dann steht ihm nur eine messianisch aufgeladene Terminologie zur Verfügung: Wiedereinsammlung der Exile und der Zerstreuten Israels. Für unser jetziges Anliegen genügt die Feststellung, daß ohne die ererbten, z. T. unterschwelligen, messianischen Anliegen die Lösungsvorschläge bourgeois-liberaler mitteleuropäischer Intellektueller wie auch die Ideale osteuropäischer Sozialisten wohl nie den nötigen und den Zionismus fundierenden Resonanzboden gefunden hätten. Bevor wir uns den Messiaserwartungen der Orthodoxie, also den offiziellen Hütern des traditionellen Glaubens, zuwenden, muß noch ein Wort über das Reformjudentum gesagt werden. Auch die amerikanische Reform gehört indirekt zu unserem Thema, denn sie wurde ja von deutschen Einwanderern gegründet. Die „Pittsburgh Erklärung“ (1885) spiegelt noch die deutsche Reform wider, auch in ihrer Aussage über die messianische Hoffnung. Die „Columbus Erklärung“ (1937) hingegen kennt schon die Verpflichtung „vielen unserer Brüder“ beim Aufbau nicht nur eines Zufluchthafens, sondern eines Zentrums jüdischer Kultur und geistigen Lebens in Palästina behilflich zu sein. Doch „unser messianisches Ziel“ ist das Gottesreich universeller Brüderlichkeit, Gerechtigkeit und Friede auf Erden. Am Anfang des 20. Jhs. wurde der Streit Reformjudentum/Zionismus nochmals auf hoher Ebene in der Polemik zwischen Hermann Cohen und Martin Buber (1916) ausgetragen. Für den großen Marburger Neo-Kantianer, der sich in seinen späten Jahren ausdrücklich als jüdischer Religionsphilosoph betrachtete, war Messianismus der Höhepunkt der prophetischen Botschaft, welche gerade in ihrem Universalismus den Gedanken eines jüdischen Nationalstaats ausschloß und darum den Zionismus so verwerflich machte. Dabei bejahte Cohen die Idee des Nationalstaats nachdrücklich. Es war ihm Identifikation mit den

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Nationalstaaten, daß das Judentum, als universalistische religiöse Nationalität (also eben nicht „Nation“), seinen messianischen Auftrag erfüllen mußte. Es geht hier also nicht so sehr um Messiaserwartung als um messianische Hoffnung im Sinne eines messianischen Auftrags, den es zu erfüllen galt. Bubers Position war bis zu einem gewissen Punkt nicht unähnlich, nur daß dieser Auftrag eben nicht in einem mit jedem Nationalstaat vereinbaren Pseudo-Universalismus zu realisieren sei, sondern in nationaler Bewährung, und genau dies ist – für Buber – der Zionismus. Einer dieser Versuche solcher Verwirklichung utopischer Bewährung war z.B. der zionistische Kibbuz. Hier sollte auch der Name von Franz Rosenzweig (1886–1929) genannt werden, Cohens Schüler, der aber dann seine eigenen Wege ging und bis zu seinem frühen Tod auch Mitarbeiter Bubers war. Das Schlüsselwort seines Judentums findet sich schon im Titel seines Hauptwerks, eines der großen Dokumente jüdischen Denkens, Der Stern der Erlösung. Doch diese Erlösung kommt von Gott. Sie ist nicht in der Geschichte, geschweige denn von der Geschichte zu erwarten. Doch Rosenzweig unterschied die stärkeren von den besseren Juden. Messiasglaube wäre nur ein hohles Wort, wenn es nicht Juden gäbe, sie sind vielleicht die besseren, welche sich in diesem Glauben immer wieder einem „falschen“ Messias hingeben. Die Stärkeren können der Illusion widerstehen und Falschem die Kraft zum geduldigen Ausharren und zur spes contra spem entgegensetzen. Bei einer so zukunftsorientierten Thematik wie Messiaserwartung läßt sich schwer bei der Schoa haltmachen. Diese wurde nicht zum Ende des Messianismus, sondern wenn überhaupt in messianischer Perspektive gesehen, zur apokalyptischen Katastrophe, die der Erlösung vorausgeht. Es wird gesagt, daß viele Opfer unter dem Singen des Bekenntnisses „Ich glaube mit vollkommenem Glauben an das Kommen des Messias“ in die Gaskammern gingen. Daß der „Erfolg“ des zionistischen Unternehmens, und erst recht die Gründung des Staates Israel, in messianischer Perspektive gesehen werden konnte, erübrigt sich zu betonen. Dies gilt ganz besonders für einen Teil des religiösen Judentums. Denn die Orthodoxie hat sich in drei Lager gespalten. Eine erzkonservative Minorität verwirft den ketzerischen zionistischen Staat noch vehementer als seine arabischen Gegner. Eine zweite Gruppe akzeptiert ihn, kollaboriert sogar parlamentarisch oder in Regierungskoalitionen, wo und wann es den eigenen Interessen nützlich erscheint, doch unter Wahrung geistiger Distanz. Eine dritte Gruppe interpretiert den Staat messianisch. Und das Unerfüllte? Dafür gibt es, was wir „Fahrplantheologie“ nennen könnten: Wer den göttlichen Fahrplan richtig interpretiert und die Zeichen der Zeit lesen kann, weiß, daß das messianische Heil nicht mit einem großen Knall kommt, sondern stufen- und etappenweise. Schon im 19. Jh., wie bereits angedeutet, gab es Rabbiner, die (zwar ohne viel Widerhall zu finden) durch Einwanderung in das Heilige Land, landwirtschaftlichen Wiederaufbau usw. erst eine „natürliche“ Vorbereitung für das spektakuläre Eingreifen Gottes forderten. Im 20. Jh. wurde diese Vorbereitungsthese auf kabbalistisch-dialektische Weise von Rabbi Kook (1865–1935, nach 1921 erster aschkenasischer Oberrabbiner von Palästina) vertieft, in einer Dialektik, die selbst dem anti-religiösen Säkularismus eine messianische Rolle zuwies. Sein Chauvinismus, doch ohne seine Geistigkeit, wurde von Kooks Schülern und Nachfolgern geerbt.

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Mit der Staatsgründung und erst recht nach dem Sechstagekrieg wurde messianischer Glaube zum religiös-politischen Mythos. Und über die Gefahren politischer Mythologie brauchen wir uns hier nicht auszulassen. Die „Fahrplantheologie“ fand ihren liturgischen Ausdruck in dem vom israelischen Oberrabbinat vorgeschriebenen Gebet für den Staat, der als „Beginn des Sprießens unserer Erlösung“ bezeichnet wird, eine Formel, die selbst vielen Nüchternen als durchaus legitim, anderen hingegen als erschreckender Ausdruck theologischer Primitivität erscheint. Was geschieht, wenn Erwartungen, welche jahrhundertelang nur „messianisch“ vorstellbar waren, sich, wenn auch nur teilweise, sehr bruchstückhaft und völlig anders als Generationen hindurch gedacht, erfüllt sehen und wenn gerade deshalb das Unerfüllte, vielleicht Unerfüllbare, noch aufdringlicher und noch bedrückender spürbar wird? Der „garstige Graben“ (wie Gotthold Ephraim Lessing sagen würde) zwischen einer Gegenwart, welche angeblich Beginn des Sprießens der Erlösung ist, und der „vollkommenen Erlösung“ (ebenfalls ein traditioneller theologischer Terminus), welche weiterhin Utopie bleibt, wird immer weiter und tiefer. Es ist eine vom Judentum völlig unvorgesehene Variation auf das Thema der berühmten Festinger-Studie When Prophecy Fails – nämlich, wenn Verheißung schmerzlich ungenügend erfüllt, de facto unerfüllt, ist. Es ist also nicht die Schoa, sondern der oft nur implizit als Antwort auf die Schoa gesehene Staat Israel, der die aktuelle Krise des Messianismus darstellt. Denn nur wenn der Zionismus sich radikal entmessianisiert, kann Messiaserwartung eine historische, weil transhistorische, Realität bleiben.

Karl E. Grözinger

Jüdische Mystik Von den zahlreichen bekannten Definitionen des Begriffs Mystik hat der Religionshistoriker W. R. Inge besonders die der Mystik als „Bestreben des menschlichen Denkens, das göttliche Wesen oder die letzte Realität der Dinge zu erfassen und den Segen der realen Vereinigung mit dem Höchsten zu genießen“1 hervorgehoben. Gershom Scholem hingegen beruft sich in seinem Standardwerk Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen (1957) auf R. Jones und Thomas von Aquin. Jones schrieb: „Ich werde das Wort Mystik für die Art von Religion gebrauchen, die auf einer unmittelbar wahrgenommenen Beziehung zu Gott beruht, auf einem direkten und fast greifbaren Erlebnis göttlicher Gegenwart“, und Thomas definierte Mystik als „cognitio dei experimentalis“2. Eine nähere Bestimmung jüdischer Mystik muß vor allem vor dem Hintergrund erfolgen, daß die im Judentum nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 u.Z. herrschend gewordene rabbinische Deutung des Judentums unmittelbare Kontakte zwischen Gott und Mensch auf die biblische Zeit beschränkte, auf die Offenbarung am Sinai und die Visionen der Propheten etwa im Tempel zu Jerusalem. Die Rabbinen verwiesen ihre Glaubensgenossen auf die Tora. Toralektüre und Toraauslegung, d.h. die sogenannte Mündliche Tora, sollten fortan die einzig legitime Offenbarungsquelle und das Gebet der Ort der Gottesbegegnung des Menschen sein. Alle künftige jüdische Mystik im eingangs definierten Sinn mußte sich fortan mit diesem Schriftprinzip auseinandersetzen, es integrieren oder sich ihm widersetzen. Dies geschah bereits zur Zeit des antiken rabbinischen Judentums. Schon zur Zeit von Mischna und Talmud (1.–7.Jh. u. Z.) wurden jene Grundkategorien geprägt, welche die gesamte spätere jüdische Mystik begleiten sollten. Unter diesem Einfluß ist die mittelalterliche Kabbala im 12./13. Jh. in der Provence und Spanien entstanden. Zur selben Zeit entstand im Rheinund Donaugebiet der aschkenasische Chassidismus, wohingegen die frühneuzeitliche Kabbala im 16./17. Jh. ihren Anfang im palästinischen Safed nahm, schnell auf Europa übergriff, um dann im Osteuropa des 18. Jhs mit dem Chassidismus wieder einen europäischen mystischen Impuls zu erfahren. Zwischen diesen Innovationsschüben gab es eine kontinuierliche Reihe individueller Mystiker, die von diesen großen Umwälzungen zehrten oder ihre eigenen Wege gingen.

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W. R. Inge, Mysticism in Religion, London 1969, S. 31. G. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a.M. 1967, S. 4.

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Die Grundformen jüdischer Mystik und die Weisen ihrer sprachlichen Mitteilung Die verwirrende Vielfalt unterschiedlicher mystischer Phänomene in der langen jüdischen Religionsgeschichte läßt sich letztlich auf drei typologische Grundformen reduzieren, die trotz unterschiedlicher Weltdeutungen in fast allen Phasen wiederkehren. Sie unterscheiden sich in ihrer Vermittlung zwischen Gottheit und Mensch, den beiden fundamentalen Polen einer jeden Mystik: 1. Beim weltflüchtigen ekstatisch unitiven Typ verläßt der Mensch seinen irdischen Raum, um mit dem Ziel einer unio mystica in die Nähe oder Verbindung zur Gottheit zu gelangen. 2. Beim zweiten Typus, der Visitationsmystik, bleibt der Mensch an seinem irdischen Ort, während die Gottheit den Menschen in seinem irdischen Raum besucht. 3. Beim dritten Typus schließlich, der sakramental-theurgischen Überbrückungsmystik, bleiben beide, Gott und Mensch, an ihrem angestammten Ort. Die Distanz wird durch sakramental-theurgisches Handeln des Menschen überbrückt. Die große Vielfalt jüdisch-mystischer Erscheinungsformen kommt im wesentlichen dadurch zustande, daß jede der drei mystischen Grundformen mit Hilfe unterschiedlicher Theologien, Kosmologien und Menschenbilder beschrieben wird. Die folgende Darstellung muß darum zunächst in der gebotenen Kürze das von den Mystikern vertretene Weltbild vorstellen, Gotteslehre, Kosmologie und Menschenbild, mit deren Hilfe sie ihre mystischen Erlebnisse und Aktivitäten beschreiben. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich die drei mystischen Grundtypen auffinden.

Das körperlich-personalistische Welt- und Gottesbild des antiken rabbinischen Judentums und seine Mystik Die antike rabbinische Literatur zeichnet wie die Bibel die Gottheit in personhaften Kategorien, als König, der im siebten Himmel thront, umgeben von einem ihn preisenden und ihm dienenden Hofstaat. Der Mensch wird entsprechend als ein Wesen aus Fleisch und Blut gezeichnet, das der Erde zugehört. Diese in räumlichen und personalistischen Kategorien beschriebene Theologie und Anthropologie hat die drei Grundtypen mystischer Aktivitäten wie folgt beschrieben. Der visitationsmystische Grundtypus hat sich dem rabbinischen Schriftprinzip gebeugt und das mystische Erlebnis an das Torastudium gebunden. Dem räumlichen Denken dieses Weltbildes entsprechend geschieht die himmlische Visitation des Mystikers so, daß Engel und die himmlischen Elemente, zuweilen auch die Gottheit selbst, sicht- und hörbar zu dem Mystiker auf die Erde herabsteigen, wie dies einst am Sinai geschehen war. Im Talmud wird darum von einigen Rabbinen berichtet: „Sie setzten sich und befassten sich mit den Worten der Tora […], da fiel Feuer vom Himmel und loderte um sie […] Da

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freuten sich die Worte der Tora wie bei ihrer Offenbarung am Sinai und das Feuer umzingelte sie, wie es vom Sinai züngelte […]“.3 Besonders eng gehörte diese sinaimystische Visitation zum Studium von Maase Bereschit, „Dem Schöpfungswerk“ (Gen 1), und Maase Merkava, „Dem Werk des Thronwagens“ (Ez 1). Dieser Visitationstypus gemäß der körperlich-räumlichen Beschreibungssprache bleibt während der gesamten jüdischen Religionsgeschichte erhalten, bis herab zum osteuropäischen Chassidismus des 18./19. Jhs., in dem die sinaitischen Phänomene bei Gesang, Tanz und Gebet geschildert werden. Die antike jüdische Theologie konnte den weltflüchtig unitiven Typus der Vereinigung von Gott und Mensch nur in räumlichen und körperlichen Kategorien beschreiben. Dies geschieht in der sogenannten Hechalotmystik (1.–5. Jh. u. Z.) als Beschreibung einer Himmelsreise des Mystikers, bei welcher er durch die sieben Himmel und die himmlischen Hallen (Hechalot) bis vor den Thron Gottes schreitet. Dort sind Vision, Audition und Beteiligung an der himmlischen Liturgie die Klimax der unio mystica. Der Auf- und Abstieg wie der mystische Akt vor dem Gottesthron wird durch Singen himmlischer Gesänge und Vorweisen von Siegeln mit Gottesnamen bewerkstelligt, die den Mystiker der Himmelswelt angleichen und seinen Leib transfigurieren. Der ekstatische Himmelsaufstieg, in der mittelalterlichen Mystik in philosophischen unkörperlichen Kategorien dargestellt, hat in seiner räumlichen Form durch den Begründer des osteuropäischen Chassidismus im 18. Jh. eine Neubelebung erfahren. Auch die spanische Kabbala des 13. Jhs. wie die lurianische Kabbala des 16./17. Jhs. kennt diese Himmelshallen, vor allem als Ziel nächtlicher Himmelsaufstiege der Seelen, um dort die ihnen zugehörige Toradeutung zu erfahren. Die frühen Hechalottexte kennen schließlich eine Form der theurgischen Überbrückungsmystik, die magischen Charakter hat. Bei ihr werden unter mehrtägigem Fasten, Beten und Beschwören der himmlischen Mächte überirdische Güter auf den Menschen herabgeleitet, die mühelose Kenntnis der Tora und ihrer Mysterien sowie die „Vergöttlichung“ des irdischen Lebens. Eine zentrale Rolle für diese theurgische Form der Überbrückung zwischen der himmlischen und der irdischen Welt spielen, wie bei der Himmelsreise, die Gottesnamen. Sie sind Machtträger, die der Beschwörung der himmlischen Mächte dienen und dem Menschen himmlische Einsichten verleihen.

Die onomatologisch-linguistische Theologie als mystische Beschreibungssprache Die frühjüdische Lehre von den Gottesnamen, die wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutsamkeit für die gesamte spätere jüdische Mystik hier ausführlicher dargestellt werden muß, ist in der Hechalotliteratur zu fassen. Sie ist, abgesehen von Philo von Alexandrien, innerhalb der frühjüdischen Tradition der erste Versuch einer Überwindung des personalisti3

jHagiga 77a; vgl. auch Apostelgesch. 2.

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schen Gottesbegriffes. In dieser Lehre von den Gottesnamen, einer theologischen Onomatologie, wird die Gottheit nicht länger als menschlich gestaltete Person gesehen, sondern als Wort, als Laut, d. h. als kraftgeladener sprachlicher Klang. Gott wird identisch mit seinem Namen: „Er ist sein Name und sein Name ist Er.“ Namen im Sinne dieser Texte sind keine semantischen Bedeutungsträger, sondern vom Menschen unabhängige Machtträger, mit denen Gott die Welt erschaffen hat. Ein „Name“ kann schon aus einem hebräischen Buchstaben oder aus einer „willkürlichen“ Reihe solcher bestehen. Neue Gottesnamen werden durch Reihungen und Umstellungen erzeugt und damit neue machttragende Namen. Dies war auch die Art und Weise, wie die Gottheit die Welt erschaffen hatte. Die späteren Kabbalisten werden diese onomatologische SchöpferWelt-Dynamik dann mit den platonischen Emanationsvorstellungen weiter interpretieren und identifizieren. Eine weitergehende theoretische Grundlegung im Geiste des mittelalterlichen Denkens erhielt diese Namenmystik erst durch die aschkenasischen Chassidim. Eleasar ben Jehuda von Worms (1165–ca. 1230), einer der fruchtbarsten Autoren der mystisch-asketischen Volksbewegung an Rhein und Donau während des 12./13. Jhs., hat die antike onomatologische Theologie um eine analoge Anthropologie ergänzt und so den Menschen als ein onomatologisches Ebenbild Gottes gedeutet, das im Wege der imitatio dei seinem Schöpfer ähnlich werden konnte. Der Mensch ist nach dieser Lehre befähigt, mittels der hebräischen Sprache Werke zu vollbringen wie einst der Schöpfergott. Die bis in die Prager Legende um den Hohen Rabbi Löw nachwirkende Lehre schreibt darum dem Menschen die Fähigkeit zu, mit Hilfe der hebräischen Buchstaben und Gottesnamen einen toten Lehmkloß, hebräisch Golem, zu beleben und in diesem höchsten Akt der imitatio dei seine Gottebenbildlichkeit zu erreichen. Die mittelalterlichen Kabbalisten ab dem beginnenden 13. Jh. verwendeten neben ihrer noch zu beschreibenden Lehre von den Zehn Sefirot an hervorragender Stelle die Onomatologie zur Beschreibung der göttlichen Welt und der vom Mystiker erstrebten unio mystica, die mit dem Begriff Dewekut, „Anhaftung“, benannt wird. Dabei gilt die Tora als die Offenbarung der Gottesnamen schlechthin. Ihr gesamter Text ist nichts als ein einziger, reich gegliederter Gottesname, aus dessen Studium der Mensch Einsicht in Struktur und „Innenleben“ der Gottheit erlangen kann. Die richtige Erkenntnis der Gottesnamen in der Tora und deren Funktionen in der göttlichen und außergöttlichen Welt ist nun die Grundlage für die eigentlich mystischen Aktivitäten, die sowohl theurgische wie unitive Seiten haben. Die theurgische Buchstabenmystik der mittelalterlichen Kabbalisten sieht in den Gottesnamen im Sinne der altjüdischen Onomatologie die eigentlichen göttlichen Machtträger, die der Mystiker bei seinem Torastudium aktivieren möchte: „Wahrheit und Bundestradition ist, daß derjenige, der seine Wünsche in Sachen der Gottesnamen erreichen will, sich mit ganzer Macht um die Tora mühen muß, um die Bedeutung, Kawwana, eines jeden Namens der Heiligen Namen, der Tora zu erfassen […].“4 „Alle Seine heiligen Namen, die in 4

Josef Gikatilla, Schaare Ora, Warschau 1883 (Neudruck Jerusalem 1960), S. 2.

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der Tora genannt werden, sind im Tetragrammaton enthalten, […] es ist der Stamm […] und sie die Äste und Wurzeln, Schätze und Schatzkammern. Und jeder hat eine andere Wirkung als der andere.“5 Der Mensch muß sich daher in seinem auf die Theurgie ausgerichteten Studium und Gebet auf die für seine Wünsche zuständigen Gottesnamen ausrichten, um den unmittelbaren Segensfluß aus der Gottheit auszulösen. Der unitive Aspekt dieser onomatologischen Mystik wird als Dewekut beschrieben, als Haften an den Gottesnamen. Besonders klar formuliert dies der der Soharkabbala verpflichtete Elijahu de Vidas (Safed 16.Jh.) in seinem Werk Reschit Hochma: „Das ist die Stufe der Gerechten, Zaddikim, die am Namen JHWH haften (davak), […] denn dank ihres Haftens am Namen JHWH, der die Quelle des Lebens ist, geben sie Lebenskraft sogar an das Fleisch weiter.“6 Ähnlich Josef Gikatilla (Kastilien 1248–1325): „Darum muß sich jeder Mensch mit all seiner Macht bemühen, sich zu heften und zu hangen an dem Namen JHWH.“7 Ihren Höhepunkt fand die onomatologische Deutung des unitiven Aktes beim Begründer des osteuropäischen Chassidismus, Israel Ben Elieser, dem Baal Schem Tow (Akronym: Bescht) (1700–1760). Für ihn ist die gesamte Schöpfung, die sich aus dem entfalteten hebräischen Alphabet entwickelte, ein einziger von Gott bei der Schöpfung gesprochener Text, in dem die Gottheit selbst anwesend ist. Darum kann und soll die Dewekut überall in dieser Welt erlangt werden, in besonderem Maße allerdings an den Buchstaben des hebräischen Textes von Tora und Gebet. Der Bescht fordert darum seine Anhänger auf, beim Beten nicht auf den Sinn der Worte zu achten, sondern sich an die in den Buchstaben gegenwärtige Gottheit zu heften: „Das Wort, das man [bei Tora und Gebet] spricht soll leuchten, denn in jedem Buchstaben sind Welten und Seelen und Gottheit […] Und der Mensch muß seine Seele in all diese Stufen hineingeben, dann einen sich alle Welten in eins […].“8

Das philosophische Gottes- und Weltbild und die theosophische Kabbala Das Mittelalter brachte dem Judentum unter dem Einfluß der griechisch-arabischen Philosophie ein völlig neues Gottes-, Welt- und Menschenbild, das tiefgreifenden Einfluß auf die Sprache der Darstellung des mystischen Erlebens hatte. Die Gottheit wurde nun nicht mehr in personalistisch-körperlichen und räumlichen Kategorien vorgestellt. Gott ist kein Körper, er steht über Raum und Zeit. Gott wird nach aristotelischer Diktion zur prima causa, zur Ursache aller Ursachen oder nach platonischer Diktion zum absolut Einen. Dieser Gott ist unerkennbar, unansprechbar, ohne Relation zur irdisch-körperlichen Welt, jenseits jeglicher menschlicher Erkenntnis und Erfahrung. Sein Verhältnis zur Welt ist das von 5

Ebd., S. 7. Elijahu de Vidas, Reschit Hochma, Ahava X, S. 87c. 7 Josef Gikatilla, Schaare Ora, S. 31. 8 Sefer ha-Bescht, I, S. 119, § 15. 6

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Ursache und Wirkung (aristotelisch) oder das der Sonne zu ihrem Licht, d. h. des Emanators zum Emanierten (platonisch). Beide Philosophenschulen rangen mit dem Problem der möglichen Beziehung des Unendlichen zum Endlichen bzw. des absolut Einen zur totalen Vielfalt. Die für die Philosophen typische Lösung ist die Überbrückung dieser Kluft mittels einer Reihe von intelligiblen Mittelstufen zwischen den beiden Extremen, aristotelisch gesprochen mittels zehn separater Intelligenzen, neoplatonisch mittels Weltintellekt und Weltseele. Wesentlich ist nun auch die Neudefinition des menschlichen Wesens entweder als Intellekt oder als Seele, die beide göttlicher oder himmlischer Herkunft sind. Dank dieser intelligiblen Wesenheit des Menschen ist ihm ein Kontakt zur göttlichen Welt oder gar zur Gottheit selbst möglich, sei es zu dem engelgleichen aristotelischen Aktiven Intellekt oder der neoplatonischen Weltseele und dem ihr vorgeordneten Intellekt. Die Rückkehr des göttlichen Teiles im Menschen zu seinem Ursprung wird auch bei Philosophen wie Moses Maimonides (1135–1204) oder Salomo ibn Gabirol (1020/21–1057/58) in durchaus mystischen Tönen beschrieben, als Einswerdung und damit als Auflösung des Individuums in der jeweiligen intelligiblen Mittelsubstanz. Der Weg dahin führt, sei es noch während des irdischen Lebens oder nach dem Tode, über eine Abkehr von der körperlichen Welt und eine Hinwendung zur intelligiblen Welt mittels der Wissenschaft und Erkenntnis. Diese neuen philosophischen Auffassungen wurden nun auch von den mittelalterlichen Mystikern bei ihren Beschreibungen des mystischen Erlebens herangezogen. Abraham Abulafia (ca. 1240–1291), der in verschiedenen Mittelmeerländern lebte, übernimmt im wesentlichen das von Maimonides vertretene aristotelische Weltbild, nach welchem die zehnte Zwischeninstanz, der Aktive Intellekt, eine auch für den Mystiker entscheidende Stellung einnimmt. Er ist entweder das Ziel der unio mystica oder vermittelt eine solche mit der Gottheit selbst: „[…] dadurch, daß die Seele den menschlichen Intellekt ergreift, der aus dem separaten Aktiven Intellekt emaniert ist, erreicht sie die Vereinigung mit ihrem Gott.“9 Im Weg, dieses Ziel zu erreichen, unterscheidet sich Abulafia jedoch grundlegend von den Philosophen. Für ihn ist dies nicht die wissenschaftliche Forschung, sondern die Rezitation und Permutation der Gottesnamen, Atemtechnik und Gestik. Die seit dem Anfang des 13. Jhs. in der Provence und im Norden Spaniens auftretenden Kabbalisten, unter ihnen auch der mutmaßliche Verfasser des Sohar, Mose von León (1240– 1305), haben den philosophischen Grundgedanken der absoluten ontologischen Distanz von Gottheit und Geschöpfen übernommen und zu ihrer Überbrückung gleichfalls intelligible Mittelinstanzen angenommen. Zwischen die unendliche, unerkennbare Gottheit, das En Sof („Endloses“), und die sensible Welt traten bei ihnen schon im ersten kabbalistischen Buch, dem Sefer ha-Bahir (Provence um 1200), gleichfalls zehn Substanzen, die alsbald mit den aristotelischen und neoplatonischen verglichen und unter dem Einfluß des vorkabbalistischen Sefer Jezira als Zehn Sefirot kanonisch wurden. Die kabbalistischen zehn Sefirot sind allerdings nicht Teil der von der Gottheit ver9

Or ha-Sekhel, zit. nach M. Idel, Studies in Ecstatic Kabbalah, Albany 1988, S. 13.

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ursachten Welt, sondern zunächst die Offenbarungsgestalt der verborgenen Gottheit selbst, als göttliche Zehnfaltigkeit, mit welcher der Mensch kommunizieren kann. Wichtig für das kabbalistische Gottesbild ist, daß es die biblische Rede vom Menschen als Ebenbild Gottes konsequent auf die zehn Sefirot bezieht, die selbst Adam Kadmon (Urmensch) genannt werden. In ihm gibt es wie im irdischen Abbild männliche und weibliche Kategorien, deren jeweilige geschlechtlich gedachte Vereinigung (Jichud) den Segen für die Welt gebiert, eingeschlossen die Seelen der Menschen. Die streng monotheistisch gedeutete Zehnfaltigkeit ist darum zugleich Quelle von Gut und Böse. Dieser offenbare Gott, Schöpfer und Erhalter der Welt, hat seine offenbarte Struktur zugleich als Grundmuster des Seins auf alle vier Weltstufen übertragen. Das neue kabbalistische Welt- und Gottesbild wurde nun von den kabbalistischen Mystikern wiederum zur Beschreibung aller drei Grundtypen mystischer Kontaktaufnahme zur göttlichen Welt herangezogen. In dem vielleicht zu Unrecht Mose ben Nachman (Nachmanides) (Gerona, 1194–1270) zugeschriebenen Iggeret ha-Kodesch wird das visitationsmystische Modell als Folge eines zuvor erfolgten unitiven Aktes (s. u.) dargestellt. Nachdem das Denken des Mystikers, so sagt der Verfasser in aristotelischer Diktion, bis zu seiner göttlichen Quelle emporgestiegen ist und sich mit diesem vereint hatte, geschieht folgendes: „[…] wenn das Denken des Menschen von oben nach unten zurückkehrt, […] fließt jenes obere Licht nach unten, […] dann ist die Schechina (die göttliche Gegenwart) unten, dann fließt das helle Licht und breitet sich an jenem Orte aus, an dem der Denker sitzt.“10 Demgegenüber deutet Jesaja Horowitz (ca. 1565–1630, Prag, Krakau, Frankfurt a.M., Palästina) in seinen Schne Luchot ha-Brit die visitationsmystische Gegenwart des Sinai (s. o.) mit Hilfe der Sefirot und den aus ihnen geborenen menschlichen Seelen. Eine mythologisch-personalistische Variante bietet der Sohar selbst. Danach kommt die Schechina, die zehnte Sefira als Mutter Israels und zugleich Geliebte des göttlichen Königs (Sefira VI) morgens herab in die Synagoge, um sich dort mit dem ersten anwesenden Beter zu paaren, so auch mit dem Gelehrten, der während der Woche über seinen Studien von seiner irdisch fleischlichen Frau getrennt ist.11 Verbreitet war seit etwa dem 16. Jh. die Visitation durch einen sogenannten Maggid, einen himmlischen „Künder“, der aus dem Mund des Mystikers sprechen kann, wie auch die nächtlichen Traumanfragen im Himmel. Die Kabbalisten des Geronenser Kreises, u.a. Asriel, Esra und Mose ben Nachman (Anfang 13. Jh.), stützten sich in ihrer Beschreibung des sefirotischen Systems auf die aristotelische und neoplatonische Philosophie, was auch die Terminologie ihrer Beschreibung des unitiven Aktes prägte. So sagt z. B. das Iggeret ha-Kodesch: „Das Denken des Menschen kommt aus der rationalen Seele, welche selbst aus den Oberen [d. h. der Sefira Hochma (Weisheit)] fließt. Und darum hat das Denken Macht, sich auszubreiten und bis an den Ort seiner Herkunft aufzusteigen, und dann haftet es am oberen Mysterium, aus dem es geflossen ist. Und so werden das Denken und das obere Mysterium eins.“12 Und 10

Kitve ha-Ramban, ed. Schewel, Jerusalem 1963/4, II, S. 333. Vgl. K. E. Grözinger, Kafka und die Kabbala, Frankfurt a.M. 1994, S. 86–87. 12 Iggeret ha-Kodesch, II, S. 333. 11

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Asriel: Es ist das Ziel „sein Denken an die Weisheit (Sefira II) zu heften, daß sie und es eine Einheit sind“13. Demgegenüber ist Asriels Genosse Esra aus Gerona (gest. 1238/45) in seiner Beschreibungssprache mehr der platonischen Tradition verpflichtet: „Der Gerechte läßt seine unbefleckte und reine Seele hinaufsteigen, bis sie die obere heilige Seele erreicht, und sie vereint sich mit ihr.“14 Unbedingte Voraussetzung für diesen mystischen Aufschwung ist das Ablegen aller irdischen Dinglichkeit bis hin zum mystischen „Tod im Kuß“. Jene Kabbalisten, welche bevorzugt in mythologischen Kategorien denken, begreifen die unio mystica als ein Haften der menschlichen Seele oder der Gebetsmeditation, Kawwana, an den verschiedenen Sefirot; so Josef Gikatilla in seinem Schaare Ora. Eine andere Version ist die, daß während des Gebets die drei menschlichen Seelen je an ihrer Ursprungssefira haften. Die am weitesten verbreitete mystische Betätigung zur Überbrückung der Kluft zwischen Mensch und Gott bei den Kabbalisten gehört dem Typus der sakramentalen Theurgie an. Der Kabbalist ist der Überzeugung, daß der Mensch durch das von der Meditation begleitete Erfüllen der Gebote, durch Gebet, Liturgie und Studium der Tora die Distanz zur Gottheit überwinden und auf sie Einfluß nehmen kann. Auch für die Beschreibung der theurgischen Mystik greift der Kabbalist zu seinem sefirotischen Gottesbild. Der älteste kabbalistische Text, der um 1200 in der Provence aufgetauchte Sefer ha-Bahir, benennt das Grundmotiv allen sakramental verstandenen Tuns der Kabbalisten. In einer etymologischen Deutung des hebräischen Wortes für „Opfer“ (Korban), sagt der Bahir: „Warum heißt das Opfer Korban? Weil es die heiligen Mächte zusammenführt.“15 Gemeint ist, daß die zehn Gotteskräfte, die Sefirot, mit ihren sich widerstreitenden Polen „Gericht“ und „Liebe“, „männlich“ und „weiblich“ etc. sich zu einer wahren und heilspendenden Einheit (Jichud) verbinden. Häufig wird im Sohar dieser Jichud mittels einer gewagten sexuellen Symbolik beschrieben, so insbesondere als Meditation zum täglichen Einheitsbekenntnis, dem Schma-Jisrael. Der voranschreitende liturgische Text wird dabei als Choreographie für eine in der Gottheit sich vollziehende bräutliche Paarung verstanden, die sich über mehrere Akte hinzieht: „[…] dann schmückt sich die Matronita (X), um in den Traubaldachin zu ihrem Gatten (VI) zu treten. All die oberen Glieder vereinen sich dann in einem Verlangen und in einer Lust, um eins zu werden, ohne Trennung.“16 Auch die altjüdische Onomatologie wird zur Beschreibung des theurgischen Jichud herangezogen. Danach werden die vier Buchstaben des Tetragrammaton, JHWH, welche die Sefirot im ganzen repräsentieren, meditativ zum vereinten Gottesnamen zusammengeführt.

13

Asriel, Perusch ha-Aggadot, Tishby, S. 20. Nach M. Idel, Kabbalah, S. 42, 290. 15 Sefer ha-Bahir § 109. 16 Sohar II, 133b–134a. 14

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Das psychologische System der lurianischen Kabbala des 16./17. Jahrhunderts Die nach ihrem Begründer Isaak Luria (1535–72, Ägypten u. Safed) benannte Kabbala, die sich sogleich nach Europa ausbreitete, hat mit ihrer adamitischen Makro-Psychologie der mystischen Beschreibungssprache und Technik völlig neue Möglichkeiten eröffnet. Isaak Luria und sein Schüler Chajim Vital entwarfen eine die sefirotisch emanatistische spanische Kabbala aufnehmende, sonst aber völlig neue Kosmologie und Anthropologie. Der von der spanischen Kabbala entwickelten Lehre der Emanation der Welt aus der offenbarten Gottheit stellte die lurianische Lehre die Stufen des Zimzum, Selbstkontraktion Gottes, die unvollkommene Emanation (Azilut), mit folgender Schewira (Bruch der Gefäße), voran. Ihnen folgte dann erst die wiederherstellende Emanation des Tikkun (Wiederherstellung), deren endgültige Erfüllung allerdings noch aussteht. Diese dramatischen Schritte bestimmen das Dasein der gesamten Welt. Nach diesen Lehren mußte die Gottheit, um der Welt Raum zu schaffen, sich zunächst ein wenig aus ihrer Allfülle (En Sof) zurückziehen. Der dadurch entstandene Hohlraum konnte jedoch die nun beginnende, zur Welt sich konfigurierende Fülle der Emanation nicht ertragen, weshalb diese ersten Strukturen zusammenbrachen (Schewira). Bei diesem kosmischen Bruch ist allerdings ein Teil des Gotteslichtes in die Tiefe des Hohlraumes gefallen, woraus sich eine widergöttliche Welt des Bösen, der Schalen, konfigurieren konnte, welche fortan gegen die Gottheit um die Herrschaft in der Welt stritt. Erst eine retardierte und reduzierte neuerliche Emanation aus dem En Sof konnte den Bruch heilen in einer Welt des Tikkun, der Wiederherstellung. Der Tikkun sollte vom Ersten Menschen, dem Adam ha-Rischon, im Auftrag Gottes vollendet werden, was aber im Desaster des Sündenfalls mißlang. Er brachte ein erneutes Absinken des Kosmos und vor allem das Zerbrechen der Makroseele des Ersten Menschen in unzählige Seelenfunken in 613 Seelenfamilien, die nunmehr im Zuge der Seelenwanderung eingeleibt, geläutert und schließlich in die Adamseele restituiert werden müssen. Ist diese Kollektivbemühung der Israeliten und Proselyten gelungen, haben sie den Tikkun der Welt gemeinsam erarbeitet, dessen Abschluß schließlich vom wiederhergestellten Adam vollzogen werden kann. Diese kollektive messianische Kooperation der Seelen ist nun das Feld der Vereinung des Menschen mit der jenseitigen Welt, d.h. mit den Seelen der Verstorbenen. Die neue anthropologisch-psychologische Basis der lurianischen Kabbala erlaubte zunächst für das überkommene sinaimystische Phänomen (s. o.) eine neue Erklärung. Die sinaimystischen Erzählungen aus dem Schülerkreis Isaak Lurias zeichnen sich dadurch aus, daß die im Torastudium versammelten Schüler stets an Orten sitzen, an welchen einst die großen Gelehrten mit verwandten Seelenfunken saßen, um so das sinaitische Geschehen mittels einer Konjunktion der Seelen von Lebenden und Toten herbeizuführen. Noch deutlicher wird der Vorgang der Visitation bei der als Ibbur („Anschwängerung“) beschriebenen Einwohnung der Seelen von Verstorbenen in einem lebenden Menschen, dem dadurch Erleuchtung und mystische Qualitäten von der besuchenden Seele mitgeteilt werden. Der unitive mystische Akt wird z. B. in Lurias bzw. Vitals Sefer ha-Jichudim beschrieben. Dort wird die Anweisung gegeben, der Mystiker solle sich auf das Grab eines verstorbenen

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Meisters legen, wodurch dessen Seele im Grabe aktiviert wird und sich mit der Seele des auf dem Grabe ausgestreckten Mystikers verbindet: „[…] und vollziehe eine Jichud-Formel […], dann breitet sich seine [des Verstorbenen] Seele vorübergehend in dessen Knochen aus und er verkündet dir Geheimnisse der Weisheit und es ist sogar möglich, daß er sich dir anhaftet und dir für immer anschwängert, um dir zu nützen und dir in der Tora und beim Gebotsdienst zu helfen, sofern dieser Zaddik aus deiner Seelenfamilie ist, denn dann nähert er sich und haftet an dir über die Maßen.“ Zu Beginn des Kapitels nennt Vital diesen Vorgang „Haften/Vereinen von Geist und Geist“17.

Der osteuropäische Chassidismus Die jüngste Phase der jüdischen Mystik, der ab der Mitte des 18. Jhs. entstandene osteuropäische Chassidismus, hat die Vielzahl der oben dargestellten Beschreibungsweisen der vorausgegangenen Mystiker weitgehend übernommen. Allerdings zeichnet sich der Chassidismus im Vergleich zu den älteren Phasen der jüdischen Mystik durch ein gesteigertes Interesse am individuellen mystischen Erleben aus, so daß Scholem sie in seinem berühmten Aufsatz zur Dewekut als Zentrum und Anfang des Chassidismus sah. Dieser neue mystische Impetus hat darum auch zwei wirklich neue Beschreibungsweisen oder gar Modi des mystischen Aktes geschaffen, die mit den Namen der beiden wichtigsten Schüler des Gründers Israel Ben Elieser Baal Schem Tow, nämlich Dow Ber von Mie.dzyrzecz (gen. Maggid) (gest. 1772) und Jakob Josef aus Polnaa (gest. 1782), verbunden sind. Während der Bescht selbst, wie oben schon vermerkt, den unitiven Typus in Gestalt der Himmelsreise wie in dem der Onomatologie bevorzugte, kreierte Dow Ber eine unitive Nichtungsmystik, wohingegen Jakob Josef eine kommunale Gemeinschaftsmystik schuf. Abweichend von der schon beschriebenen Alphabetmystik des Baal Schem Tow hat der Nachfolger des Bescht, Dow Ber, eine absolut weltabgewandte Nichtungsmystik konzipiert. Gemäß seiner lurianische Topoi umdeutenden Kosmologie hat Gott die Welt erschaffen, um mit seinem Volk Israel kommunizieren zu können. Dies war aber nur möglich, wenn er sich seiner allumfassenden Größe begab und sich bis zum Nichts selbst einschränkte (Zimzum). Dort im göttlichen Nichts herrscht die absolute Einheit. Diese Einheit des Nichts ist in einer Art felix culpa in die Vielheit der Individuen zerbrochen (Schewira), aus der alleine die Schöpfung entstehen konnte. Das Nichts ist also die Schöpferkraft, aus der die Vielheit gebrochen wurde, das Nichts ist aber zugleich die hinter der Vielheit stehende alles zusammenhaltende Einheit und damit das Medium der Gottesgegenwart in der Schöpfung. Das mystische Streben des Menschen muß darum auf dieses göttliche Nichts ausgerichtet sein. Dazu bedarf es einer kontemplativen Nichtung der Welt und des eigenen Selbst. Paradigmatisch ist dafür die kleine Anekdote von jenem Schüler des Maggid, der auf die Frage seines Freundes, wer denn draußen an die Tür poche, antwortete: „Ich!“ Damit zeigte 17

Sefer Schaar ha-Jichudim, Krakau 1783, c.4, S. 4c.5b.

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der Schüler, daß er noch nicht die mystische Stufe des Nichts erreicht hatte, denn „Wer ist es, der »Ich« sagen kann, außer dem Heiligen, gesegnet sei Er!“18. Erst wenn der Mensch alles Weltliche genichtet hat und er selbst in das Nichts eingetreten ist, wird er im göttlichen Nichts eine Einheit mit diesem. Nach Jakob Josefs Auffassung ist die gesamte Schöpfung von einer grundlegenden Bipolarität geprägt. Alles in dieser Welt ist in Gegensatzpaaren angelegt, in die Gegensätze von Materie und Form, von Leib und Seele, von Gelehrten und einfachem Volk etc. Diese Bipolarität ist gottgewollt und entspricht dem göttlichen Urbild, das gleichermaßen polig strukturiert ist – z. B. als Liebe und Strenge. Nur, in der Gottheit sind diese Gegensätze nicht im Widerstreit, sondern zur Einheit miteinander verbunden, derart, daß etwa die Liebe über die Strenge herrscht. Und so war es eigentlich auch für die Welt gedacht. Auch in der Welt sollen die Pole sich einander unterordnen, die Materie unter die Form und das einfache Volk unter die Gelehrten etc. Wichtig für die mystische Konzeption des Jakob Josef ist nun die Vorstellung, daß die chassidische Gemeinde dem Menschen gleicht, der aus Leib und Seele besteht, wobei nur die Seele das Subjekt der unio mystica sein kann, während der Körper, der die Seele beherbergt und für ihr Wohlergehen sorgt, aus dieser Verbindung allenfalls einen abgeleiteten Segen empfängt. Die Seele der Gemeinde ist natürlich der Zaddik oder Rebbe, der vom Gemeindekörper getragen und von den weltlichen Bürden entlastet wird. Ist er nun, mit Unterstützung seines Gemeindeleibes, in der Dewekut mit der Gottheit, so wirkt sich dieser Segen auch auf die Gemeinde aus. Haftet der Chassid darum am Rebben, so haftet er durch ihn vermittelt auch an Gott. Die Unterstützung der Gemeinde für den Zaddik ist zunächst materieller Natur, dann aber auch für die Dewekut des Rebben auxiliär, indem die Gemeinde den Aufschwung des Rebben durch Alkohol, Tabak und Tanzen unterstützen kann.

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Mifalot ha-Zaddikim, ed. G. Nigal, Sippurim Hasidim, Tel Aviv 1990, S. 114f.

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Reform und Orthodoxie im europäischen Judentum der Neuzeit Bereits die traditionelle jüdische Gesellschaft der frühen Neuzeit war weit entfernt von monolithischen Grundmustern, doch bleibt bemerkenswert, welch grundlegender pluralisierender Wandel mit dem Eintritt der Juden in die bürgerliche Gesellschaft einherging. Neben das normative Judentum – oder auch an dessen Stelle – trat ein breites Spektrum religiöser Strömungen, die den Konsens über Wesen und Inhalt der jüdischen Religion aufbrachen. Deren Ursprünge sind vor allem in Deutschland zu finden. Die neue Vielfalt gründete auf tiefgreifenden Umwälzungen innerhalb der jüdischen Minderheitengesellschaft, die wiederum mit den Veränderungen in den allgemeinen sozialen, politischen und kulturellen Verhältnissen der christlichen Mehrheitsgesellschaft einhergingen. Erste Anzeichen eines Umbruchs, welcher der jahrhundertelangen Statik ein Ende setzte, machten sich bereits im Verlaufe des 18. Jhs. bemerkbar. Die prinzipielle Verbindlichkeit jüdischer Religion als alltagsprägendes Normen- und Wertesystem stand fürs erste noch nicht zur Erörterung, doch begann das Niveau religiöser Bildung allmählich nachzulassen, während die persönliche religiöse Gesetzestreue hier und dort bereits weniger rigorose Formen annahm. Seit die allgemeine deutsche Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. auch eine kleine intellektuelle Elite innerhalb der jüdischen Gemeinschaft gewann, entstand eine säkulare jüdische Sphäre, deren Grenzen sich ständig erweiterten und die auch kritisch über die jüdische Religion nachzudenken begann. Als Träger einer neuen (reformorientierten) Auffassung des Judentums wollten die Radikalen unter den Maskilim dem Religionsgesetz nur mehr eine symbolische Funktion zugewiesen wissen, zumal der legalistische Schwerpunkt des Judentums auch zeitgenössischen Vorstellungen der menschlichen Autonomie widersprach. Obwohl aber jüdische Denker bereits den Anfang machten und konkrete Überlegungen anstellten, auf welche Weise das Judentum zu reorganisieren sei, blieben praktische Konsequenzen für das Leben der Gemeinschaft vorerst noch aus. Nur zögerlich wandten sich die Juden neuen Denk- und Orientierungsmustern zu. Die große Mehrheit unter ihnen, zumal abseits der (städtischen) Zentren der Aufklärung, fühlte sich der Tradition noch eng verbunden und begegnete den rationalistischen Trends mit Ablehnung. Diese Tatsache erschwerte vorderhand eine Modernisierung von innen heraus. Zu gleicher Zeit wuchs auch der Druck der christlichen Umwelt, die beabsichtigte, Juden und Judentum in das sich wandelnde gesellschaftliche Gefüge einzupassen. Die staatliche Gesetzgebung begann, den Grundsatz der Selbstverwaltung innerhalb der jüdischen Gemeinde auszuhöhlen, indem sie etwa den Rabbinern das Privileg der Zivilgerichtsbarkeit aberkannte und ihnen das Recht des Bannes entzog. Auf diese Weise kamen den Gemeinden wichtige Instrumente der sozialen Kontrolle und Disziplinierung abhanden, die sie

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zuvor auch angewandt hatten, um deviantem religiösen Verhalten der Mitglieder zu begegnen. Zudem verknüpften die Regierungen Ansätze zu einer graduellen Emanzipation mit Assimilationsforderungen, die zuweilen auch Aspekte gelebter Religiosität in und außerhalb der Synagoge aufgriffen. Die allerersten konkreten Modernisierungsvorstöße auf dem Gebiet des Kultuslebens gingen freilich nicht von der Obrigkeit aus, die aber die notwendigen politischen Rahmenbedingungen schaffen konnte.

Entwicklung von Orthodoxie und Reformbewegung in Deutschland Erste, wenn auch kurzlebige Reformen fanden in dem von Napoleon besetzten Holland statt sowie in Westfalen, wo Israel Jacobson (1768–1828) seit 1808 dem „Konsistorium der Israeliten“ vorsaß. Unter Jacobsons Leitung entwickelte das neugegründete Gremium weitreichende Ideen zur religiösen Neugestaltung, die vor allem in Schule und Gotteshaus praktisch umgesetzt wurden. Mit dem Zerfall des französischen Satrapenkönigreichs im Jahr 1813 erwies sich freilich, daß die Reformen ihrer Zeit weit voraus waren. Vom Druck einer oktroy ierten jüdischen Kirchenbehörde befreit, kehrte die jüdische Bevölkerung binnen kurzem zu den überlieferten Formen des Gebets zurück. Auch in Berlin, wo Jacobson seine modernisierenden Maßnahmen als privates Anliegen fortsetzte, formierte sich bald der Widerstand, der dem Wunsch des Beharrens entsprang. In Jacobsons Haus fand sich zunächst ein Kreis früh verbürgerlichter Reformwilliger zusammen, die den Konflikt von traditioneller religiöser Praxis und kultureller Integration durch eine veränderte Gestaltung des Gottesdienstes zu lösen hofften. Ohne die notwendige Rückendeckung des Monarchen stand die Einrichtung allerdings schon von Beginn an in Frage. Das konservative Königshaus befürchtete die Bildung jüdischer Sekten und sprach 1823 endgültig ein Verbot der Gottesdienste aus. Angesichts der politischen Restauration waren auch dem religiösen Fortschritt keine Möglichkeiten zur Entfaltung gegeben. Errungenschaften von Dauer machten die frühen Reformen nur in Hamburg, wo sich 1817 der Israelitische Tempelverein als private Assoziation neben der Gemeinde zusammenschloß. Anders als in Preußen, wo die Entscheidung der Staatsgewalt, den Juden den Weg der religiösen Erneuerung zu verbauen, auch dem lautstarken Protest der jüdischen Orthodoxie stattgab, wahrte der Hamburger Senat bei den innerjüdischen Auseinandersetzungen eine wohlwollende Neutralität, die es der Religionsreform erstmals ermöglichte, Wurzeln zu schlagen. Der Fortschrittswille des Tempels war komplexer Ausdruck veränderter und sich verändernder religiöser Gefühle, die nach passenden Ausdrucksformen verlangten. Als Forum dieser neuen Frömmigkeit, der vor allem Angehörige der wohlhabenden Mittelschicht zuneigten, rückte der gemeinschaftliche Gottesdienst ganz in den Vordergrund. Das 1819 publizierte Gebetbuch des Tempels, die erste umfassende Veröffentlichung einer jüdischen Reformliturgie überhaupt, ließ bereits erkennen, daß mit den bürgerlichen Lebensformen auch eine Abkehr von religiösen Zukunftserwartungen einherging, sofern diese mit eschatologischen Erwartungen einer messianischen Endzeit und einer phy-

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sischen Rückkehr der verstreuten Juden ins Heilige Land verknüpft waren. Von der Formulierung einer echten Reformideologie war der Verein allerdings noch weit entfernt. Die liturgischen Veränderungen zielten kaum auf eine konsistente theologische Ortsbestimmung ab, sondern beabsichtigten vor allem, dem Wunsch nach strenger Ordnung und Disziplin sowie dem Schönheitssinn der Gegenwart Rechnung zu tragen. In der Tat trafen Neuerungen wie Chorgesang und Instrumentalmusik den Zeitgeschmack, der aber konservativen Kritikern als illegitimes Bewertungskriterium galt. Besonders das Orgelspiel orientierte sich nicht an einer genuin jüdischen Überlieferung, sondern weckte deutliche Assoziationen an christliche Vorbilder der Gottesdienstgestaltung. Solche Nachahmungen provozierten den heftigsten Einspruch der traditionellen Mehrheit, die sich auch der Unterstützung namhafter jüdischer Gelehrter im In- und Ausland zu versichern wußte. Auf geringeren Widerstand trafen die allsabbatlichen deutschen Predigten, die sich immerhin auf das Vorbild einer jüdischen Homiletik berufen konnten, die freilich jetzt ebenfalls nach protestantischen Modellen entworfen waren und vor allem dem Zwecke der Erbauung dienten. Mit den seltenen talmudischen Vorträgen der Rabbiner hatten die modernen Kanzelvorträge nur noch wenig gemeinsam. Obwohl die Reform mit der Begründung des Tempelvereins einen wichtigen Erfolg errang, blieb sie doch von einer echten Bewegung noch weit entfernt, weil sie anfänglich weder den notwendigen Zulauf besaß noch auf dem Bewußtsein einer gemeinsamen Sache aufbaute. Außerhalb Hamburgs begrenzte sich die Wirkung der Reformer meist auf das Gebiet der Erziehung, zumal in Preußen, wo die meisten deutschen Juden lebten, während der 1820er Jahre keine Aussicht bestand, die synagogale Reorganisation voranzutreiben. Zuweilen waren es aber Pädagogen, die sich in den jüdischen Reformschulen nicht nur neuen Unterrichtsmethoden und -inhalten öffneten, sondern die auch neuen Formen des Gottesdienstes den Pfad ebneten, indem sie beispielsweise zu sonntäglichen Andachten mit Predigt und Chorgesang in die Schulräume luden. Auch die Konfirmation, die als Übergangsritus neben oder an die Stelle der traditionellen Bar-Mitzwa-Feiern trat, entstammte ursprünglich der Initiative progressiver jüdischer Erzieher. Erst seit den dreißiger Jahren des 19. Jhs. begann sich die religiöse Reform in einer wachsenden Zahl von großen und mittleren Gemeinden einen Weg zu bahnen. Inzwischen hatte nicht nur die Akkulturation Fortschritte gemacht, sondern auch eine neue Rabbinergeneration wuchs heran, deren Vertreter an den Universitäten die europäische Bildungswelt verinnerlichten und sich progressiven Veränderungen aufgeschlossen zeigten. Angesichts zunehmender Entfremdung gegenüber dem Glauben, die ebenso in der christlichen Mehrheitsgesellschaft festzustellen war, gelangten sie zu der Erkenntnis, daß bloße kosmetische Eingriffe in den Kultus ihrer Gemeinden nicht genügten, um einen echten Ausgleich der Religion mit einer säkularisierten Gegenwart zu schaffen. Bemüht darum, die Position des Judentums neu zu bestimmen, zollten sie auch den zeitgenössischen Denkschulen Tribut, deren Leitgedanken sie aber aus Sicht der eigenen Konfession reinterpretierten, um die mitunter antijüdische Stoßrichtung umzukehren. Eher als theoretische Religionsphilosophen denn als praktische Theologen profilierten

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sich die Rabbiner Salomon Formstecher (1808–89) und Samuel Hirsch (1815–89) sowie der Arzt Salomon Ludwig Steinheim (1789–1866). Alle drei unternahmen den Versuch, der europäischen Philosophie, die das Judentum häufig nicht als vollwertige Religion oder aber als ein überholtes Phänomen der Menschheitsentwicklung betrachtete, Grundrisse jüdischer Religionsanschauung entgegenzustellen, in denen sie der eigenen Konfession eine universale Mission zuwiesen, die ihren Fortbestand in Gegenwart und Zukunft zu rechtfertigen half. Auf die Geschichte der Reform freilich nahmen diese systematischen Entwürfe nur begrenzten Einfluß. Im Alltag der Gemeinde, die nach konkreten Handlungsanleitungen fragte, konnten sich die metaphysischen Spekulationen nicht unmittelbar bewähren. Neben der Philosophie war es vor allem die Geschichte, der eine wichtige Rolle bei der Neubestimmung des Judentums zukam. In einer Epoche, in der eine historisierende Weltsicht die Geisteswissenschaften beherrschte, betrieben auch jüdische Intellektuelle eine methodisch fundierte, kritische Forschung, um sich einer objektiven Anschauung der eigenen Religion zu nähern. Als neue Disziplin entstand die „Wissenschaft des Judentums“, die sich einer voraussetzungslosen Erforschung jüdischer Religion widmete, wobei allerdings anzumerken ist, daß sie ihr Ziel strenger Objektivität doch zuweilen verfehlte, zumal ihre Analyse jüdischer Religion auf unterschiedlichen theologischen Prämissen fußte, so auch hinsichtlich einer Grenzziehung zwischen suprahistorischer Offenbarung und geschichtlicher Tradition. Zahlreiche, jedoch bei weitem nicht alle Rabbiner der neuen Generation neigten zu einer historisierenden Betrachtung des Judentums, mit deren Hilfe sie ihr Plädoyer für religionsgesetzliche Modifikationen in und außerhalb des Kultus untermauerten. Aber sogar jene Theologen, die sich der jüdischen Wissenschaft mit Hingabe widmeten, gelangten zu keinem Konsens in der Reformfrage. Analog zu den Veränderungsprozessen in den christlichen Konfessionen begannen sich verschiedene Strömungen zu kristallisieren, deren Vordenker den Versuch machten, den eher diffusen Richtungen eine konkrete, auf einem ideologischen Fundament ruhende Gestalt zu geben.

Die „Neu-Orthodoxie“ Trotz der fortschreitenden Trends zur Verweltlichung ist davon auszugehen, daß noch bis zur Jahrhundertmitte die Mehrheit der deutschen Juden ihren Alltag streng nach dem Religionsgesetz ausrichtete. Bereits zu Beginn des 19. Jh. setzte sich der Begriff „Orthodoxie“ durch. Orthodoxie kennzeichnete die Anhängerschaft der alten Formen und die vehemente Abgrenzung von den Reformern. Indes konnten und wollten sich wachsende Teile der „Rechtgläubigen“ den gesellschaftlichen Veränderungen nicht entziehen. Besonders in den mitgliederstarken Gemeinden der urbanen Zentren überwanden sie ihre ursprünglichen Vorbehalte gegen die Emanzipation und begannen, die neuen Gelegenheiten der Partizipation zu nutzen, ohne aber von ihrem religiösen Lebensmodell abzuweichen. Als einflußreichster Sprecher und Vordenker dieser häufig als „Neu-Orthodoxie“ gekennzeichneten

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Position machte sich vor allem der aus Hamburg gebürtige Samson Raphael Hirsch (1808–88) einen Namen. Rabbiner Hirsch verhalf dem traditionellen Judentum zu neuem Selbstbewußtsein, indem er – erstmals in seinen 1836 veröffentlichten 19 Briefen über Judentum – die Synthese von weltlicher Bildung und religiösem Studium nicht nur als Option der Lebensgestaltung schilderte, sondern dem modernen Juden geradezu als Pflicht auferlegte. Ohne sich die historisierenden Anschauungen seiner Zeit zu eigen zu machen, hielt Hirsch streng am Gedanken der Einheit von mündlicher und schriftlicher Lehre als Belege der sinaitischen Offenbarung fest. Diese blieben, außerhalb der Geschichte stehend, einer relativierenden Kritik entzogen. Von seinen liberaleren Kollegen übernahm Hirsch eine Anzahl ästhetisierender und disziplinierender Veränderungen im Gottesdienst, doch vertrat er im Gegensatz zu jenen den Standpunkt, die Juden müßten auch in der Zukunft ihr ganzes Wirken auf die Erfüllung des Religionsgesetzes als Ausdruck des göttlichen Willens ausrichten. Darin integrierte er den Gedanken vom „Mensch-Jisroel“, dem die harmonische Verbindung des allgemein Menschlichen mit dem spezifisch Jüdischen zukomme. Diese universalistisch ausgerichtete Bestimmung ließ die Gegenwart nicht als Bedrohung überlieferter Lebensformen erscheinen, sondern stellte vielmehr die neuen Möglichkeiten der religiösen Entfaltung in den Vordergrund. In solchen Gemeinden freilich, die sich nach und nach neuen Kultusformen öffneten und dem überlieferten Normensystem nicht die notwendige Aufmerksamkeit zuwandten, stellten sich der Orthodoxie unüberwindliche Hindernisse entgegen. Hirsch, seit 1851 religiöses Oberhaupt der orthodoxen „Israelitischen Religionsgesellschaft“ in Frankfurt a. M., sprach deshalb der Gründung separater Gemeinden das Wort, die ihren Mitgliedern, abgesondert von den nichtorthodoxen Glaubensgenossen, eine ungehinderte Verwirklichung des zweiseitig ausgerichteten Lebensideals ermöglichte.

Konservative Strömungen Als Vertreter einer gemäßigten Reformvariante profilierte sich der in Prag geborene Zacharias Frankel (1801–75), der sein religiöses Weltbild eines „positiv-historischen“ Judentums in den 1840er Jahren der Öffentlichkeit vorstellte, als er das Oberrabbinat in Dresden bekleidete. Frankels Ideen legten das Fundament zu einer konservativen Strömung, die sich als Mittelpartei zwischen gesetzestreuem und eigentlichem Reformjudentum verstand und um der Einheit willen die sich verschärfenden Gegensätze zu überbrücken suchte. Rabbiner Frankel bewahrte, ähnlich wie Hirsch es tat, die Vorstellung des Judentums als einer „Religion der Tat“, in der die Ge- und Verbote nicht ganz unabhängig vom Glauben standen, ihnen als konstitutives Element jedoch auch ein Selbstzweck zugesprochen wurde. Während Frankel die schriftliche Tora als heiliges Dokument göttlicher Offenbarung dem Zugriff kritischer Forschung entzog, betrachtete er die mündliche Tradition als Produkt und Spiegel historischer Entwicklung. Zwar wollte er den Auslegungstexten als Dokumenten kollektiver Frömmigkeit eine besondere Autorität zuerkannt wissen, doch suchte er sie als menschliche Produkte in ihrer Zeit und ihrem besonderen gesellschaftlichen Kontext zu

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verstehen. Indem aber Frankel die religiöse Gegenwart wesentlich als in der Vergangenheit Gewordenes interpretierte, gelang ihm der Nachweis, daß eine begrenzte und organische Entwicklung der religionsgesetzlichen Praxis auch in der Gegenwart möglich sei, sie aber aus dem dialektischen Zusammenwirken der Rabbiner und Theologen mit der jüdischen Gesamtheit resultieren müsse. Die gleichzeitige Orientierung an objektiven und subjektiven Kriterien erschwerte freilich eine vollkommen konsistente Position. Auch aus diesem Grund traf Frankels Mittelweg auf die scheinbar einträchtige Ablehnungsfront von Reformern und Orthodoxen, deren weniger komplizierte Glaubenswirklichkeit leichter einzuordnen blieb.

Protagonisten der Reformbewegung Wesentlich eindeutigere Aussagen im Sinne religiöser Neuerungen machte die Reform Geigerscher Prägung. Abraham Geiger (1810–74), der aus Frankfurt a. M. stammte und in den größten jüdischen Gemeinden Deutschlands als Rabbiner amtierte, gilt vielfach als eigentlicher Vater der Reformbewegung, dessen Grundmotive einer jüdischen Theologie auch über die Grenzen Deutschlands hinaus den größten Einfluß übten. Auf das Leitbild der Propheten verweisend, an deren Gottesfürchtigkeit er sich orientierte, glaubte Geiger, das Judentum aus einem vermeintlichen Zustand der Stagnation zu befreien. Geiger suchte einer verinnerlichten Religiosität Ausdruck zu verleihen, die der Befolgung der halachischen Vorschriften nicht mehr als einen sekundären Platz einräumte. Weit vor der Gesetzestreue stand der Glaube an Gott und das universalistische Ziel einer ethischen Selbstvervollkommnung, die Geiger als den eigentlichen Kern des Judeseins ausdeutete. Die Gegenwart begrüßte er optimistisch als den Anbruch eines neuen Zeitalters: Dem kritischen Verstand schrieb er die Aufgabe zu, die angeblich starre Gesetzlichkeit der Vergangenheit zu überwinden, um die unveränderliche Idee der jüdischen Religion angemessen zur Geltung zu bringen. Geigers Forschungen auf dem Gebiet der Literatur standen ganz im Dienste dieses Anliegens. Als Wissenschaftler richtete er seinen Blick auch auf die hebräische Bibel, die er wie das Schriftgut der mündlichen Tradition nicht als heilige Texte unmittelbar göttlichen Ursprungs, sondern als das Ergebnis eines historischen Entstehungsprozesses relativierte. Zwar schrieb er den Rabbinern die Aufgabe zu, das Reformprogramm zur Durchführung zu bringen, um den religiösen Wahrheiten einen zeitgemäßen Ausdruck zu verleihen, doch zögerte er selbst, in der Praxis des Gemeindealltags allzu radikale Konsequenzen aus den Ergebnissen seiner Forschungen zu ziehen. Ein vermittelndes Verfahren betrachtete er als den notwendigen Preis, den der Zusammenhalt der Gemeinde erforderte. Als Speerspitze einer noch weitaus radikaleren Avantgarde verstand sich Samuel Holdheim (1806–60) aus Kempen (Posen), der als Rabbiner der kleinen Berliner Reformgemeinde das geeignete Umfeld Gleichgesinnter fand, dessen Einfluß in Deutschland jedoch begrenzt blieb. In seinem Buch Über die Autonomie der Rabbinen fand Holdheim 1843 erstmals zu einer neuen Deutung des Judentums, in die er historische Ereignisse zwar zu integrieren wußte, die aber im Grunde ahistorisch blieb, weil sich ihr Autor weitgehend einer

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Reinterpretation der autoritativen Quellen der Tradition widmete, jedoch weit davon entfernt blieb, Geschichte im Sinne einer Entwicklung zu rekonstruieren. Hierin ähnelte er Hirsch, der freilich einer entgegengesetzten Zielsetzung folgte, weil es diesem um den Nachweis der Unveränderlichkeit, Holdheim aber um den Vollzug eines Zeitenbruchs zu tun war. Holdheim ging davon aus, daß die Juden seit langer Zeit aufgehört hatten, in nationaler Hinsicht eine Einheit zu bilden. Am jüdischen Gesetz bemängelte er, daß dieses zu Unrecht ewige religiöse und zeitgebundene staatliche Gesetzgebung zu einer Einheit zusammenfasse, die es nunmehr zügig aufzulösen gelte. Die Berechtigung und Pflicht, die nicht länger verbindlichen politischen Bestandteile des jüdischen Normensystems auszusondern, ließ freilich einer alltagsbestimmenden Religiosität wenig Raum, zumal Holdheim dem modernen Staat weitestgehende zivilgerichtliche Kompetenzen einräumte, die auch das Ehe- und Familienrecht mit einschlossen. Am Ende bewahrte Holdheim wenig mehr als ein nicht näher bestimmtes Moralgesetz, das allerdings nicht beanspruchte, von der bürgerlichen Ethik unterscheidbar zu sein. Die Ideen Hirschs, Frankels, Geigers und Holdheims trafen auf unterschiedliche Resonanz, die von den allgemeinen Bedingungen, aber auch von lokalen Faktoren und persönlichen Entscheidungen abhing. Nicht allen deutschen Juden genügten die Entwürfe, die ihre religiösen Führer zur Bewältigung der religiösen Sinnkrise vorlegten. An der Peripherie der jüdischen Gemeinschaft bildeten sich während der 1840er Jahre kleine oppositionelle Gruppen intellektueller Laien, die theologischen Argumentationen insgesamt eine Absage erteilten. An deren Stelle rückten sie die Forderung nach wirklich grundlegender Erneuerung, die sie auf der Basis demokratischer Entscheidungsprozesse zu initiieren hofften. Indes blieb ihr Einfluß marginal, da es ihnen selten gelang, ihr negatives Bild von der jüdischen Religion in konstruktives Handeln münden zu lassen. Meist reihten sie sich in die wachsende Zahl der Indifferenten ein, deren Interesse an der Religion ganz und gar erlahmte und die am Gemeindeleben nicht länger Anteil nahmen. Wenngleich jene, die ihr Heil in den Armen der Kirche suchten und den Schritt zum Taufbecken taten, immer eine kleine Minderheit blieben, entfremdeten sich doch große Teile der Religion ihrer Vorväter. Auch die neuen Entwürfe des Judentums als sinnvermittelndes Handlungssystem halfen ihnen nicht, praktische Formen der Frömmigkeit in den eigenen Alltag zu übernehmen. Ebenfalls in den 40er Jahren begannen sich die meist jungen Doktorrabbiner der Aufgabe zuzuwenden, ihre bislang regional begrenzte Reformtätigkeit zu koordinieren. Mit Ausnahme der orthodoxen Vertreter, die den Anhängern des Fortschritts jedes Recht absprachen, die Tradition einer kritischen Prüfung zu unterziehen, trafen jüdische Theologen unterschiedlicher Couleur zu den Rabbinerkonferenzen zusammen, die zwischen 1844 und 1846 in Braunschweig, Frankfurt a. M. und Breslau stattfanden. Diese Versammlungen bezeichneten wichtige Ereignisse auf dem Weg der Reform zu einer echten Bewegung. Es mißlang jedoch der Versuch, die Rabbinerkonferenz als dauernde Einrichtungen zu etablieren. Die ausführlichen Debatten, die etwa Aspekte des Ehe- und Scheidungsrechts, Fragen der Sabbatheiligung, die Bedeutung der hebräischen Sprache im Gottesdienst sowie andere Inhalte des Kultus zum Thema hatten, veranlaßten das traditionstreue Rabbinat zu einer

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gemeinsamen Protestinitiative, die den Verlauf der Verhandlungen nicht wesentlich beeinflussen konnte, die aber Zeugnis für das kämpferische Selbstbewußtsein der Orthodoxie ablegte. Die Hoffnung der progressiven jüdischen Geistlichen, über ein einheitliches Zukunftsprogramm zur Einigung zu kommen, erwies sich ohnehin als Illusion. Daß Zacharias Frankel aus der Frankfurter Konferenz von 1845 ausschied und sich endgültig von den Reformbestrebungen seiner Kollegen lossagte, bezeichnete nur den aufsehenerregenden Höhepunkt einer Entwicklung, die sich bereits in den vorausgegangenen Jahren abzuzeichnen begonnen hatte. Auch als die Reformer 1868 ihre Bemühungen zu gemeinsamen Beschlüssen erneuerten, blieb der langfristige Erfolg aus. Nach den Synoden von 1869 und 1871, die in Leipzig und Augsburg abgehalten wurden, fanden keine weiteren Zusammenkünfte statt. Die Reform, die ein halbes Jahrhundert zuvor als vermeintliche Revolution ausgerufen worden war, hatte sich inzwischen zu einem normalen Phänomen des Alltags entwickelt. Die Anhänger des religiösen Fortschritts verstanden sich mittlerweile als „Liberale“, während die Bezeichnung als Reformer nur mehr den Mitgliedern der Berliner Reformgemeinde vorbehalten blieb, die mit sonntäglich stattfindenden Gottesdiensten – weitgehend in deutscher Sprache – einen radikalen Sonderweg beschritten hatte. Die in der 2. Jahrhunderthälfte rasant steigende Zahl von sogenannten Orgelsynagogen sowie die wachsende Vielfalt reformierter Gebetbücher veranschaulichte, daß die Liberalen zwar nicht zur Einheit fanden, ihren Siegeszug in den Gemeinden jedoch fortsetzten. An solchen Orten, an denen dem innerjüdischen Pluralismus nicht durch Rücksichtnahme auf die Orthodoxie Rechnung getragen wurde, geriet diese zunehmend ins Hintertreffen, weil sie die Kontrolle über die religiösen Einrichtungen verlor. Zwar nutzte die traditionstreue Minderheit vereinzelt die Möglichkeit separater Assoziationsformen, um das religiöse Gemeindeleben nach den strengen Maßstäben des Religionsgesetzes zu organisieren, doch blieb es den Juden lange Zeit verwehrt, die Kultusgemeinden ihres Heimatortes zu verlassen, so daß jene, die sich getrennt von der Gemeinde zusammenfanden, das Opfer doppelter Besteuerung tragen mußten. Erst das heftig umstrittene „Austrittsgesetz“, für das sich insbesondere Samson Raphael Hirsch stark machte, bereitete dem Parochialzwang in Preußen ein Ende. Seit 1876 war es „jedem Juden gestattet, ohne Austritt aus der jüdischen Religionsgemeinschaft wegen religiöser Bedenken aus derjenigen jüdischen Synagogengemeinde auszutreten, welcher er auf Grund eines Gesetzes, eines Gewohnheitsrechts oder einer Verwaltungsvorschrift angehört[e]“. Sogar innerhalb des gesetzestreuen Judentums löste das Gesetz geteilte Reaktionen aus: Neben der militanten „Austrittsorthodoxie“ formierte sich eine weitere, gemäßigtere Fraktion, die auch zukünftig für einen Verbleib in den Großgemeinden votierte, solange diese die notwendigen Zugeständnisse machte. Damit blieb am Ende auch die Orthodoxie nicht von Tendenzen der Spaltung frei.

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Entwicklungen im übrigen Europa In keinem der europäischen Nachbarländer entwickelte das Judentum ein Spektrum religiöser Richtungen von vergleichbarer Breite. Modernisierende Maßnahmen in Schule und Synagoge bedurften nicht nur intellektueller Vordenker, sondern auch der Zustimmung einer ausreichend großen Gruppe. Innerhalb der deutschen Judenheit wuchs die Zahl derer, die einen Ausgleich zwischen religiöser Lehre und bürgerlichem Leben wünschten und bereit waren, Teile der Tradition preiszugeben, die nicht mehr in ihrem vollen Umfang als heiliges und unantastbares Erbe angesehen wurde. Der freie Zugang zu den öffentlichen Bildungseinrichtungen sowie der lediglich halbemanzipierte Status als konfessionelle Minderheit verstärkten noch den Wunsch nach Veränderung. Zudem wirkte die allgemeine intellektuelle Atmosphäre besonders in den protestantischen Ländern als Stimulus der jüdischen Reform. Gleichwohl fanden auch anderswo pluralisierende Strukturveränderungen statt, die sich freilich nicht gänzlich unabhängig von den Entwicklungen in den deutschjüdischen Kultusgemeinden vollzogen. Deutschland, in der Mitte Europas gelegen, entwickelte sich zum Zentrum des modernen religiösen Judentums, das auch in den angrenzenden Staaten Einfluß ausübte. Allerdings waren die europäischen Gemeinden weit davon entfernt, das deutsche Modell lediglich zu kopieren, das ihrer spezifischen gesellschaftlichen Realität gar nicht ohne weiteres entsprach. In Österreich beschränkte sich die religiöse Modernisierung anfangs auf die Hauptstadt. Obwohl auch hier die politischen Behörden einer Neuordnung des jüdischen Kultus mit großer Skepsis begegneten, gelang es Prediger Isaak Noah Mannheimer (1793–1865) seit 1821 mit dem sogenannten „Wiener Minhag“ einen moderaten Weg der Reform zu beschreiten, der dann auch anderen Gemeinden des Habsburgerimperiums ein Beispiel gab. Mannheimer kam den Wünschen der akkulturierten Schichten nach ansprechenden Gottesdienstformen nach, ohne den Zusammenhalt einer Gemeinde zu gefährden, in der Migranten aus dem Osten einen bedeutenden Anteil der Mitglieder stellten. Kompromisse verhinderten auch im letzten Jahrhundertdrittel eine Abspaltung der Orthodoxie, die freilich ihr gemeinschaftliches Gebet in eigenen Betlokalen zu organisieren wußte. Auch in Prag, einst Zentrum einer gemäßigten jüdischen Aufklärung, blieb die jüdische Gemeinde von einem Schisma verschont. Obwohl sich in dem 1832 gegründeten „Verein zur Verbesserung des israelitischen Kultus“ auch radikale Modernisierungsideen Ausdruck zu verschaffen suchten, gelang es, die neue Assoziation in den organisatorischen Rahmen der Gesamtgemeinde einzubinden. Von einer Reformbewegung war in der Metropole ebensowenig zu sprechen wie in den umliegenden Gemeinden Böhmens und Mährens, von denen sich eine langsam steigende Zahl von der Orthodoxie abwandte, um dem Prager oder dem Wiener Fortschrittsmodell nachzustreben. Während das galizische Judentum zwar eine kleine Schar gelehrter Kritiker seiner Tradition hervorbrachte, sich insgesamt jedoch den intellektuellen Herausforderungen der europäischen Kultur verschloß, gewannen die „Neologen“ in den ungarischen Gemeinden besonders seit der zweiten Jahrhunderthälfte an Einfluß. Abgesehen von Rabbiner Leopold

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Löw (1811–75) in Szeged mangelte es den Reformern jedoch an Führungspersönlichkeiten. Zugleich gelang es den Anhängern der Tradition vielerorts, Ansehen und Stärke zu bewahren. Daß ein Teil der toratreuen Rabbiner – insbesondere die Anhänger des Chassidismus – auch von der kulturellen und politischen Integration nichts wissen wollte und selbst solchen Modifikationen eine Absage erteilte, die bereits die Zustimmung der deutschen Neo-Orthodoxie gefunden hatten, verschärfte die Konfrontation der Parteien. 1868 scheiterte das Bemühen, die magyarischen Judengemeinden unter einem gemeinsamen organisatorischen Dach zusammenzufassen. Vertreten durch den „Schomre-Hadath-Verein“, erkämpfte sich das streng gesetzestreue Judentum das Recht, seine Gemeinden in einer eigenen Körperschaft zusammenzufassen. Damit war zu gleicher Zeit der Parochialzwang und das Prinzip der „Einheitsgemeinde“ aufgehoben. Während sich das Judentum in Deutschland und Ungarn über die religiösen Fragen entzweite, fanden in den übrigen Ländern Europas keine vergleichbaren Entwicklungen statt. In Rußland blieb die Reform – nicht zuletzt aufgrund der politischen Situation – lange Zeit ein Randphänomen. Die italienischen Juden waren sich einig darüber, daß eine Beteiligung an der allgemeinen Kultur keine Beeinträchtigung der Religion mit sich führen müsse. Da sie ihre Gottesdienste auf ansprechende Weise zu gestalten wußten, schienen der großen Mehrheit weitergehende Reformen überflüssig. In Frankreich und England war die Situation wiederum eine andere. Napoleon hatte den französischen Juden 1808 ein Konsistorium aufgezwungen, dessen zentralistischer Aufbau deutliche Ähnlichkeiten zur strengen Kirchenhierarchie des Katholizismus aufwies. Das Konsistorium blieb zwar im Laufe der Zeit religiösen Verbesserungen nicht gänzlich abgeneigt, suchte diese jedoch zentral zu erörtern und einheitlich zur Durchführung zu bringen. Aufgrund ihrer Autorität, der sich auch das Rabbinat fügen mußte, gelang es der jüdischen Kirchenbehörde, eine unabhängige Reform lange Zeit zu verhindern. Radikale Ideen, wie sie Olry Terquem (1782–1862) seit den 1820er Jahren vertrat, fanden kaum positive Resonanz, während zugleich eine religiöse Entfremdung voranschritt. Obwohl das französische Judentum die Reformdiskussionen im benachbarten Deutschland zum Teil mit Aufmerksamkeit verfolgte, beherrschte der Einheitsgrundsatz das Denken und förderte eine Orthodoxie, die sich eher in den gemeinschaftlichen Institutionen als in der persönlichen religiösen Gesetzestreue manifestierte. Erst am Ende des 19. Jhs. formierte sich ein kleiner Kreis von Pariser Juden, dessen Mitglieder bereit waren, sich abseits der herkömmlichen Strukturen einer Erneuerung der Kultusformen zu widmen. Eigene Gottesdienste veranstaltete die 1900 gegründete „Union Libérale Israélite“ seit 1907, zwei Jahre nachdem Frankreich die Trennung von Staat und Kirche vollzogen hatte. Attraktiv erschien diese liberale Vereinigung den wenigsten. Weitgehend isoliert, gelang es ihr auch in den folgenden Jahrzehnten nicht, größere Zahlen von Mitgliedern an sich zu binden. In England nahm der Weg der Kultusmodernisierung ebenfalls einen eigenen Verlauf, in dem die aus Deutschland importierten Ideen nur begrenzt zum Tragen kamen. Wie in Frankreich beschränkten sich die Reformerfolge jahrzehntelang auf lokale Initiativen, obwohl sich die einheimischen Juden – ähnlich wie ihre christlichen Mitbürger – früh von

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überkommenen Formen individueller Frömmigkeit entfernten und sich vielfach einer ausgesprochenen Bibelgläubigkeit zuwandten. Als in den 1840er Jahren Sefarden gemeinsam mit Aschkenasim die „West London Synagogue of British Jews“ begründeten, stand die neue Reformeinrichtung von Anfang an abseits des konservativen Establishments und mußte sich des Widerstands erwehren, den das Oberrabbinat gemeinsam mit dem „Board of Deputies of British Jews“ aufbot. Gleichzeitig gelang es nicht, jene Kreise an der Peripherie des religiösen Judentums anzusprechen, denen die Umgestaltung meist nicht weit genug ging. Neue Impulse empfing die Reform erst zu Beginn des 20. Jhs., als Claude G. Montefiore (1858–1938) zum Präsidenten der neugegründeten „Jewish Religious Union“ (seit 1909: „Jewish Religious Union for the Advancement of Liberal Judaism“) gewählt wurde. Freilich blieb auch dieser Vereinigung ein großer Zulauf versagt. Der Gottesdienst, der deutliche Erinnerungen an zeitgenössische amerikanische Reformvarianten weckte, nahm lediglich eine kleine Minorität für sich ein, während die große Mehrheit der Londoner Juden zumindest in formaler Hinsicht dem in der „United Synagogue“ assoziierten orthodoxen Judentum die Treue hielt. Angesichts der stabilen kollektiven Strukturen gelang es nicht, liberalen Kultusformen auf breiter Front zur Anerkennung zu verhelfen.

Überregionale religiöse Vereinigungen Das liberale Judentum im deutschsprachigen Raum suchte seine Vorherrschaft auch durch eine Anzahl von überregionalen Einrichtungen und Vereinigungen zu festigen. Um das 19./20. Jh. zählte sich nur mehr deutlich weniger als ein Viertel der deutschen Juden zu den Anhängern des gesetzestreuen Judentums, das seinen weiteren Niedergang allerdings abzuwenden wußte. Um die eigenen Interessen in angemessener Form nach außen vertreten zu können, machte es sich auch die Orthodoxie zur Aufgabe, ein dichtes Organisationsnetz zu spannen. Rabbiner- und Lehrerseminare, Berufsvereinigungen, Gemeindeverbände, Vereine und Presseorgane widmeten sich ihren zum Teil säkularen Aufgaben aus einem „konfessionellen“ Blickwinkel. Dazu traten Assoziationen wie die „Freie Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums“ (1885) oder die „Vereinigung für das liberale Judentum“ (1908), die sich ausdrücklich religiösen Zwecken zuwandten und ihren Mitgliedern das Gefühl vermittelten, einer gemeinsamen Sache zu dienen. Auch auf internationaler Ebene suchten die religiösen Strömungen des modernen Judentums, ihre Kräfte in Allianzen zu bündeln. Die Orthodoxie Deutschlands, Ungarns, Polens und Litauens verband sich 1912 in der „Agudat Israel“, während der Erste Weltkrieg eine Assoziation der europäischen Liberalen zunächst verhinderte. Erst 1926 erfolgte in London die Gründung der „World Union for Progressive Judaism“, die neben kleineren Landsmannschaften vor allem die englischen und die deutschen Liberalen sowie das amerikanische Reformjudentum unter einem gemeinsamen Dach vereinte. Während sich der religiöse Liberalismus anschickte, als internationale Bewegung und damit als universales Charakteristikum des modernen Judentums Konturen zu gewinnen,

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entfalteten die politischen Ereignisse schon bald eine fatale Wirkungsmacht, durch die alle bisherigen Errungenschaften in Frage gestellt wurden. Der nationalsozialistische Völkermord an den europäischen Juden markierte eine Zäsur, durch die auch das geschilderte Gefüge von Personen, Ideen und Institutionen aus den Fugen geriet. In zahlreichen jüdischen Gemeinschaften waren deshalb die Entwicklungen zu religiöser Vielfalt unterbrochen, wenn sie nicht gar völlig untergingen. Auch und vor allem in den wiederbegründeten Gemeinden in Deutschland hat seit 1945 eine echte Wiederbelebung liberaler und konservativer Traditionen bislang kaum stattgefunden. Ob die orthodoxe „Einheitsgemeinde“ der wachsenden Unzufriedenheit der letzten Jahre Rechnung tragen und in der Zukunft auch abweichenden Mustern kollektiver Frömmigkeit Raum zur Entfaltung geben wird, bleibt abzuwarten. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben zwar Reform und Liberalismus in England einen bemerkenswerten Aufschwung genommen, doch leben die Ideen Hirschs, Frankels, Geigers und Holdheims vor allem in den Synagogenkongregationen auf der anderen Seite des Atlantiks fort. In den USA, nicht in Europa, hat der jüdisch-religiöse Pluralismus ein Zuhause gefunden.

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Kulturelle Entwicklung

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Willi Jasper

Vom Mythos zum Text: Zu Begriff und Geschichte der jüdischen Literatur Die Bedeutung der „jüdischen Literatur“ muß nicht besonders hervorgehoben werden. Diese Literatur ist nicht nur eine weithin noch nicht genutzte Quelle der jüdischen wie der allgemeinen Zeit-, Kultur- und Geistesgeschichte, sondern hat auch einen unbestreitbaren Stellenwert innerhalb der Weltliteratur – und hier wieder ganz besonders in der deutschsprachigen Literatur – errungen. „Jüdische Literatur“ umfaßt einen Zeitraum von etwa drei Jahrtausenden, ist in einer Vielzahl von Sprachen geschrieben und Ausdruck sämtlicher literarischer Gattungen, angefangen von der religiösen oder profanen Dichtung über die verschiedenen Formen der Gesetzgebung oder Geschichtsschreibung bis hin zum modernen Roman. Gerade wegen dieser Vielfalt bedarf es einer Begriffserklärung. Der Begriff „Literatur“ wird hier bewußt sehr weit gefaßt: nicht nur Werke der sogenannten „schönen Literatur“, Dichtung, Novelle, Roman usw. gehören hierher, sondern auch juridische Texte (etwa die Responsensammlungen), grammatikalische Traktate, Geschichtsschreibung und religiöses Schrifttum in all seinen Ausprägungen. Entsprechend weit wird in der Regel auch das Umfeld dessen abgesteckt, was wir im Zusammenhang mit Literatur als „jüdisch“ bezeichnen. „Prinzipiell gehört hierher alles, was Juden in einer ‘ihrer’ Sprachen (Hebräisch, Aramäisch, Jiddisch, Spaniolisch usw.) geschrieben haben, ebenso aber auch alle Werke, die Juden in anderen Sprachen über jüdische Themen verfaßt haben, bzw. auch literarische Werke, die sich aus der jüdischen Herkunft ihrer Verfasser besser begreifen lassen, auch wenn das Thema nicht ausschließlich jüdisch ist“ (Günter Stemberger). Problematisch ist bei dieser Abgrenzung allerdings, Anfang und Ende des Zeitraums zu bestimmen. Die Bibel stammt bekanntlich zum Teil aus einer Zeit, in der man eher von „israelitischer“ Literatur sprechen müßte – denn nach allgemeiner Sprachregelung beginnt ja das „Judentum“ erst mit dem babylonischen Exil im 6. Jh. vor unserer Zeitrechnung. Dennoch besitzt die Bibel für unsere Betrachtung eine zentrale Bedeutung, da sie zur Grundlage fast allen literarischen Schaffens des Judentums geworden ist, ohne die bestimmte literarische Traditionen unverständlich wären. Komplizierter ist die Einordnung dessen, was wir in der Moderne als jüdische Literatur bezeichnen dürfen. Daß nicht jeder von einem Juden geschriebene Roman als „jüdisch“ etikettiert werden kann, belegt allein die Tatsache, daß mancher der Herkunft nach jüdische Dichter und Schriftsteller (das gilt vor allem für das 19.Jh.) sich selbst nicht als Jude definiert hat. Ein sinnvolles Auswahlkriterium ist hier wohl nur die jüdische Thematik sowie die jüdische Tradition, aus der heraus ein Werk verständlich wird. Eine exakte und widerspruchslose Abgrenzung scheint also nicht möglich.

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Eine Frage wäre, ob man irgendeine untergründige nicht-sprachliche Struktur entdecken könnte, die solchen Dichtern verschiedener sprachlicher und sogenannter nationaler Herkunft gemeinsam wäre. Der Literaturwissenschaftler Gershon Shaked stellt entsprechende Fragen nach der Identitätsbestimmung jüdischer Autoren für den Bereich der westlichen Moderne. So fragt Shaked in seiner Schrift Die Macht der Identität: Hat die Tatsache, daß die kulturelle Tradition dieser Dichter aus zwei Quellen stammt, aus dem jüdischen Erbe mit einer besonderen Sozialgeschichte und aus der westlichen literarischen Tradition, irgendeinen wesentlichen Einfluß auf die literarischen Werke gehabt? Ist ihre soziale und manchmal auch kulturelle Randposition in ihrer jeweiligen nationalen Umgebung, die Macht ihrer jüdischen Identität also ein wesentliches Element ihrer Kreativität? Sind die sozialen Ängste einer verfolgten Minderheit beispielsweise ein wichtiges Thema ihrer Arbeiten?

Shaked greift mit der Identitätsproblematik sicherlich ein entscheidendes Kriterium für die Analyse jüdischer und speziell deutsch-jüdischer Literatur auf. Insbesondere das von ihm bevorzugte Verfahren, in den Werken jüdischer Autoren nach semiotischen Strukturen zu fahnden, die die Macht der jüdischen Identität jenseits nationalsprachlicher Besonderheiten belegen, scheint sich als fruchtbar erwiesen zu haben.

Biblische Dichtung und Kanon Tradierung und Veränderung jüdischer Identitäten sind nicht nur religiöse, soziale oder politische Vorgänge – sondern auch ein medialer Prozeß, in dem der Mythos textualisiert wird. Das kollektive Gedächtnis des jüdischen Volkes hat sich durch Überlieferung in der Bibel und anderen Texten schriftlich niedergeschlagen. „Das jüdische Volk ist ein Volk des Gedächtnisses, das sich nicht auf die Erinnerung an die Shoah oder an die großen Leiden Israels beschränkt, sondern die Gesamtheit der wirklichen oder vorgestellten Ereignisse umfaßt, denen wir unser gegenwärtiges Denken verdanken“ (Marc-Alain Ouaknin). Auch wenn das Erscheinungsbild jüdischer Gemeinschaften unterschiedlich ist, es eine zentrale Dogmeninstanz nicht gibt, so haben doch die religiösen Schriften, Tora und Talmud, über Jahrtausende den jüdischen Zusammenhalt in der Diaspora bewahren können. Marc-Alain Ouaknin hat ein graphisches Schema entworfen, das den medialen Entwicklungsprozeß vom Mythos zum Text dokumentiert. In der narrativen Dimension der Bibel (Haggada) wie in jeder Erzählung, die zum Seder am Abend vor Pessach vorgelesen wird, zeigt sich eine grundlegende Verknüpfung von Mythos und Ritus. Für die Entwicklung der medialen Komponente in der Textmoderne erwies sich allerdings das biblische Bilderverbot als Schwierigkeit, Text und Ikonographie in ein angemessenes Verhältnis zu bringen. Ein Mangel der zahlreichen Bildbände zur „Kulturgeschichte“ des Judentums liegt darin, daß sie sich nur auf der ästhetischen Ebene dem kollektiven Gedächtnis nähern. Die in Israel von allem Anfang an heimische Dichtkunst ist nicht auf einzelne Schriften der Bibel beschränkt, sondern in fast allen ihren Werken bezeugt. Mit dem Abschluß des Pentateuchs – der fünf Bücher Mose – lag allerdings zum erstenmal ein Dokument vor, das

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von allen Jahwe-Gläubigen als fixierte Offenbarung des Gotteswillens anerkannt wurde und von da an die Basis für alle weiteren religiös-gesetzlichen Traditionen darstellte. Die geschichtsdeutenden Schriften, die Psalmen-Sammlungen und die gesammelten prophetischen Überlieferungen unterlagen demgegenüber von Anfang an unterschiedlicher Wer tung. Der Psalter, die Klagelieder und das Hohelied sind ausschließlich poetische Werke. Wie sind all diese nach Herkunft und Gattung so verschiedenen Schriften ein Buch geworden? Und wie hat dieses die religiöse Bedeutung erlangt, die es zum „Buch der Bücher“ macht? Die Bibel ist das Ergebnis eines langen Sammel- und Auswahlprozesses, dessen Stufen nur noch undeutlich zu erkennen sind. Nur ein Bruchteil des Gesetzesmaterials hat den Weg in den Pentateuch gefunden. Die biblische Geschichtsüberlieferung verweist selbst immer wieder auf Quellenschriften, die wir nur noch dem Titel nach kennen; ähnlich ist es bei Prophetenworten und Weisheitsschriften gewesen. Was nicht in die Bibel aufgenommen wurde, ist meist verlorengegangen, hat zum Teil jedoch im nachbiblischen Schrifttum der Juden überlebt, ist in den Pseudepigraphen und auch in rabbinischen Texten erhalten (in diesen besonders gesetzliche Traditionen). Eine Ursache für die Selektion ist natürlich der Zwang zur Interpretation. Es liegt in der Natur der Sache, daß ein Text Deutungen nach sich zieht. Sofern Traditionen im Lauf der Zeit neuen Verhältnissen angepaßt werden müssen und als Mittel zur Darstellung neuer Anliegen benutzt werden, wird die Deutung manchmal sogar wichtiger als die Textgrundlage selbst. Das heißt, die Grenzen zwischen Text und Deutung beginnen zu verschwimmen. Ein nicht geringer Teil des heutigen biblischen Schrifttums hat so seine Gestalt bekommen. Das geschah unter anderem auch infolge des Umstandes, daß man nicht, wie zum Beispiel in Babylonien, auf lange haltbare Tontafeln schrieb, sondern auf Lederrollen, die nach einiger Zeit wegen der Abnutzung durch neue ersetzt werden mußten. Die Deutung wurde im Verlauf der Zeit, mit dem technischen Wandel der Verhältnisse, immer wichtiger. Denn allein sie ermöglichte die Adaptierung und Aktualisierung der Tradition, die Überbrückung der stets drohenden Kluft zwischen den überlieferten Normen und den Anforderungen der Zeit. Geschichtlich kann man einige Fixpunkte im Werden der Bibel festhalten. Der Pentateuch muß schon im 4. Jh. das offizielle religiöse Buch des Judentums gewesen sein: die Samaritaner, die sich damals von ihm trennten, haben ihn als Erbe mitgenommen. Im 1. Jh. u.Z. ist der Kanon (griech. kanon „Richtschnur, Norm“, hier die Sammlung der als religiöse Norm geltenden Schriften) der Bibel im Prinzip abgeschlossen, auch wenn die Reihenfolge der einzelnen Schriften noch nicht fest ist, wie die abweichende Anordnung in der griechischen Bibelübersetzung bezeugt. Nach verbreiteter Auffassung hat die „Synode von Jabne“, die zwischen 90 und 100 u. Z. datiert wird, den hebräischen Kanon in Abwehr vor allem des Christentums abgeschlossen. Doch ist die antichristliche Tendenz der Periode von Jabne, was den Kanon betrifft, nicht nachzuweisen; auch sind einzelne Schriften auch später noch umstritten gewesen. Die Motive der Auswahl kann man nur vermuten. Daß eine Auswahl erwünscht war, ergibt sich schon aus den hohen Herstellungskosten von Schriftrollen sowie aus der wechselvollen Geschichte des Judentums, das auf Flucht und Wanderung nur das Wesentliche mitnehmen

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konnte. Was in die Sammlung aufgenommen wurde, hing wesentlich von der religiösen Wertung einer Schrift ab, womit politische Tendenzen verknüpft waren: die Einheit Israels war ja vor allem durch die gemeinsame Religion begründet. Daher wurden Texte nicht aufgenommen, die eine abweichende Auffassung des Religionsgesetzes vertraten. Was dem Selektionsprozeß standhielt, galt als göttliche Offenbarung und wurde durch diesen religiösen Anspruch zur unveränderlichen Norm, zur Grundverfassung des Judentums, die nicht mehr geändert werden durfte, sondern nur noch durch Deutung adaptiert werden konnte. Dies war eine der wesentlichen Aufgaben der folgenden Generationen. Die Spannungen mußten durchgehalten werden, wenn die Religion und ihre Texte lebendig und lebensnah bleiben sollten.

Das Mittelalter und die jiddische Literatur Als Anfang des jüdischen Mittelalters wird in der Regel der Zeitraum der arabischen Expansion im 7. Jh. angegeben. Das Ende dieser Epoche wird regional unterschiedlich datiert. Selbst wenn die italienische Renaissance oder die Philosophie eines Spinoza auch für das jüdische Geistesleben bereits einen Umschwung bedeuteten, endete das jüdische Mittelalter eigentlich erst im 18.Jh. mit Moses Mendelssohn und seiner Schule. Kennzeichnend für das Mittelalter war, daß nach dem Ende der klassischen Ära der mündlichen Überlieferung eine enorme Zunahme der literarischen Produktion einsetzte. Aus der Buchreligion wurde eine Religion der Bücher. Die biblischen Schriften oder Schriftrollen galten zwar weiterhin als kostbarster Besitz, aber darüber hinaus entwickelte sich in relativ breiten Schichten der jüdischen Bevölkerung ein existentielles Verhältnis zum Buch und der Gelehrsamkeit heraus. Wesentlich Anstöße für die literarische Produktivität ergaben sich aus den neuen Beziehungen zur Umwelt. Konfrontationen mit der entwickelten Theologie der beiden monotheistischen Tochterreligionen (Christentum und Islam) erforderten eine systematische Überprüfung und Sichtung der bisherigen religiösen Vorstellungswelt sowie angemessene Darstellungen für Disputationen und zur Festigung des jüdischen Selbstbewußtseins ganz allgemein. Der überwiegende Teil des mittelalterlichen jüdischen Schrifttums ist Auslegung oder interpretierende Anwendung der Tradition, und zwar nicht nur auf dem Gebiet der gesetzlichen Überlieferungen, sondern auch darüber hinaus. So leitete zum Beispiel Moses Maimonides (1135–1204) sein theologisch-philosophisches Hauptwerk More Newuchim (Führer der Unschlüssigen) mit einem großen Abschnitt über das richtige Verständnis der biblischen Aussagen über Gott ein. Auch das Buch Sohar (Lichtglanz), das Hauptwerk der Kabbala, wurde als Interpretation der Tora vorgestellt. Zu Zeiten indes, in denen die politische und soziale Lage der Juden und ihr Verhältnis zur Umwelt eine Teilnahme an der Kultur der Umwelt erleichterte, erweiterte sich der Horizont der literarischen Produktion nach den arabischen Vorbildern auf profane Gattungen. Während sich eine solche Öffnung vor allem in Südfrankreich und Italien durchsetzte, konzentrierte sich das literarische Schaffen der aschkenasischen Juden weiterhin auf das als existentiell wesentlich Erachtete: die Pflege und Ausarbeitung der Tradition. Lediglich im volkstümlichen Bereich – und hier erst mit

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dem Ende des Mittelalters im literarischen Sinn – entstanden auch unterhaltende Werke teils als Nachbildungen auf der Grundlage biblischer Stoffe (z. B. das Schmuelbuch), teils in Anlehnung an die europäischen Hauptliteraturen in Genren wie den Ritterromanzen. Geschrieben waren diese volkstümlichen Bücher meist in der jüdisch-deutschen Umgangssprache. In der Entwicklung der jiddischen Literatur sind zwei Epochen zu unterscheiden. Zum einen die ältere Phase vom 11. und 12. bis zum Ende des 18. Jhs., die von volkstümlicher, religiöser Literatur geprägt wurde, und zum anderen die moderne, die bis heut andauert. Jiddisch (oder „Judendeutsch“) geht als Umgangssprache des aschkenasischen Judentums bis ins 10.Jh. zurück. Seine sprachliche Eigenständigkeit erklärt sich anfangs aus der Mobilität des Judentums, in dessen Deutsch sich die verschiedenen städtischen Dialekte des Altund Mittelhochdeutschen mit zahlreichen nichtdeutschen Elementen in Wortschatz und Satzbau mischten. Neben dem deutschen Vokabular, das stets mehr als die Hälfte des Wortschatzes umfaßte, gehörten von Anfang an aus Frankreich mitgebrachte romanische Wörter zum Jiddischen, wozu noch der umfangreichere Einfluß des Hebräischen und Aramäischen kam. Die Wanderung des jiddischsprachigen Judentums nach Osten hat dann in einer nicht deutschsprachigen Umgebung zu einer weiteren Eigenentwicklung des Jiddischen geführt, das viele slawische Einflüsse aufnahm, die Weiterentwicklung des Deutschen hingegen nur beschränkt mitmachte. Ähnliches gilt von den aschkenasischen Gemeinden Norditaliens (Venedig, Cremona usw.). In deutschsprachigen Gebieten wich die jiddische Literatur- und Umgangssprache seit dem 18. Jh. dem Deutschen; das Ostjiddische Polens, der Ukraine, Ungarns usw. erlebte hingegen im 19. Jh. seine Blütezeit. Ab dem 19. Jh. verbreiteten jiddische Auswanderer auch in den USA und in Palästina ihre Sprache, bevor die Judenverfolgungen der NS-Zeit die Zahl der Jiddisch sprechenden Ostjuden dezimierten. Die antijüdische Politik der Sowjetunion, die Assimilation der amerikanischen Juden und die Vorherrschaft des Hebräischen in Israel haben nach dem Zweiten Weltkrieg das Jiddische noch weiter zurückgedrängt, so daß heute seine Existenz als lebende Sprache gefährdet erscheint. Die Literatursprache der gebildeten Juden blieb zwar stets das Hebräische; doch wurde schon bald eine jiddische Literatur für die des Hebräischen unkundigen ungebildeten Schichten, vor allem die Frauen, notwendig, die in vielen jiddischen Schriften explizit als Leser- und Käuferschicht genannt werden. Am Anfang der jiddischen Literatur steht verständlicherweise die Beschäftigung mit der Bibel. Ab dem 12. Jh. finden wir in hebräischen Bibelhandschriften jiddische Glossen, die einzelne Wörter oder Sätze wiedergeben. Hebräisch-jiddische Glossare erschienen auch als selbständige Werke, so die im 15. Jh. verfaßte Merkebet ha-Mischne des R. Anschel, eine Art Bibellexikon und Konkordanz, die als erstes jiddisches Buch gedruckt wurde (Krakau 1534). Daneben waren gereimte Bibelerzählungen beliebt. Die älteste längere jiddische Handschrift (1382, aus der Kairoer Geniza, jetzt in Cambridge) enthält u.a. gereimte Erzählungen über Abraham, Josef und Mose; schon früh wird die Opferung Isaaks und das Buch Ester in Versform nacherzählt und ab dem 15. Jh. entstehen lange biblische Epen. Das berühmteste dieser Art ist das schon erwähnte Schmuelbuch, ein Heldenepos um die Person

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Davids, das sich auf die Bücher Samuel und den Beginn der Königsbücher, vor allem jedoch auf die Midraschliteratur stützt. Offenbar wurde es auch vorgesungen. Das Melochimbuch (Buch der Könige) setzt seine Erzählung bis zum Jahre 70 unserer Zeitrechnung fort. Beide Werke wurden im 16. Jh. in Augsburg veröffentlicht, sind jedoch eindeutig älter. Ab dem 16. Jh. kommt auch eine Prosaliteratur zu biblischen Themen auf, die die deutschen Rittersagen über Dietrich von Bern, Hildebrand u. a. aus dem jüdischen Heim verdrängen soll. Frühe Beispiele dieser Art sind die Wiedergabe des Hohenlieds durch Isaak Sulkes (1575) und Di lange Megile (zu Ester) von Leib bar Moses Melir (1589), die beide den biblischen Text mit Midrasch-Material erweitern und so gewissermaßen Predigten für den Hausgebrauch schaffen. Autoren wie der Verfasser des Sefer ha-Maggid (Das Buch des Predigers) wollten die Leser bis zu einem gewissen Grad von Predigern und Bibelerklärern unabhängig machen. Von Anfang an werden auch Gebete ins Jiddische übersetzt, so daß vielleicht nicht zufällig der älteste erhaltene jiddische Vers in einem Gebetbuch steht, dem Wormser Machsor von 1272; 1544 erschien das erste jiddische Gebetbuch im Druck. Erzählungen in Jiddisch erschienen schon bald nicht nur als Verschönerung biblischer und ethischer Werke, sondern auch in eigenen Sammlungen. Seit dem 14.Jh. wurden deutsche Erzählungen, oft aus mündlicher Überlieferung, dem jüdischen Publikum in jiddischer Umschrift (Jiddisch wird mit dem hebräischen Alphabet geschrieben) dargeboten, nachdem christliche Bezüge und judenfeindliche Ausdrücke entfernt wurden. Der früheste erhaltene Text ist der Dukus Horant der Cambridger Handschrift (1382), ein dem Hildesagenkreis angehöriges Heldenepos; verbreitet waren auch Sagen über Dietrich von Bern, das Hildebrandslied, Tristan und Isolde und die Artus-Sage. Die Beispielerzählungen der religiösen Literatur werden durch Fabelsammlungen ergänzt; die älteste jiddische Fabel findet sich wieder in der Cambridger Handschrift. Sehr verbreitet war das Kuhbuch des Abraham ben Mattatia (16. Jh.), der die Fabeln der hebräischen Sammlungen Mischle Schualim und Meschal ha-Kadmoni frei nachdichtete. Obwohl das Kuhbuch wie alle Fabelsammlungen aus den Erzählungen sittliche Belehrungen zieht, war sein Grundton doch vielen zu freizügig, so daß Jakob von Meseritsch es mit dem Maase Buch (um 1580) zu verdrängen suchte, in dem er über 250 Erzählungen, zum Großteil aus Talmud und Midrasch, sammelte und ergänzende nicht-jüdische Erzählungen der jüdischen Umwelt anpaßte. Die Poesie wurde inzwischen vor allem in der Liturgie weiter gepflegt. Es entstanden zahlreiche jiddische Lieder für Feste und Sabbate. Als Verfasserin solcher Gedichte wurde im 16.Jh. Rebekka bat Mëir Tiktiner bekannt; Jakob Teplitz verfaßte um 1600 das viel nachgeahmte Teiten-Lid (Totenlied) sowie ein Toire-Lid (Tora-Lied). Verbreitet war auch die Gattung des Getlich Lid (Loblied auf Gott), wovon jenes von Schlome Singer aus Prag (um 1600) das bekannteste ist. Auch lebten epische Gedichte zu biblischen Themen weiter. Die profane Dichtung war vor allem durch Liebesgedichte und die Lieder des Badchan, des Hochzeitsunterhalters, vertreten. Hier sind auch die geschichtlichen Lieder zu erwähnen, in denen Bänkelsänger Nachrichten verbreiteten und die geschichtlichen Ereignisse kommentierten. Das erste erhaltene Beispiel dieser Gattung ist die Megiles Winz des Elchanan Heln, die die Leiden der Juden von Frankfurt während der von Vinzenz Fettmilch angestifteten

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Unruhen (1612–1616) schildert. Aus dem 17. und 18.Jh. sind etwa vierzig solche Lieder erhalten, darunter mehrere über das Auftreten des falschen Messias Sabbatai Zwi. Diese Texte befassen sich fast ausschließlich mit Unglücksfällen, die die Juden betrafen, Blutbeschuldigungen, Vertreibungen, Massaker, und wenden sich polemisch gegen christliche Lieder, die dieselben Ereignisse aus anderer Sicht beschreiben. In Osteuropa konnte sich diese Gattung des geschichtlichen Liedes bis zum Zweiten Weltkrieg halten. Erst spät ist es in der jiddischen Literatur zu Dramen gekommen. Ein jüdisches Theater wurde ja erst mit der Lösung des Theaters aus einem rein christlichen Kontext in der Zeit des Humanismus und der Reformation möglich. Seit dem 17. Jh. entstehen nach dem Vorbild der Fastnachtsspiele Purim-Spiele, die vor allem das zu Purim gelesene Ester-Buch komödienhaft verarbeiten. Die früheste Handschrift eines solchen Achaschwerosch-Spiels, wie diese Komödien nach einer ihrer Hauptfiguren hießen, stammt aus dem Jahr 1697. Die aus dem deutschen Lustspiel übernommene Figur des Hans Wurst wird meist, um nicht zu viele Schauspieler zu brauchen, mit dem Juden Mordechai gleichgesetzt. Es gibt grobe, derb-obszöne Fassungen dieses Spiels, andere wieder sind ernster gehalten und stark von Targum und Midrasch zu Ester beeinflußt. Diese Theatertradition lebte in Osteuropa bis zum Zweiten Weltkrieg fort.

Osteuropa und die Emigration In Osteuropa entwickelte sich die jiddische Literatur ständig weiter und wurde zu einem wichtigen Ausdrucksmittel für alle künstlerischen und intellektuellen Aspekte des jüdischen Lebens – das heißt, die volkstümliche Literatur verwandelte sich in ein modernes literarisches Medium. Vor allem das 19.Jh. brachte den Aufstieg eines neuen jiddischen Zentrums, in dem sich Jiddisch zur hochstehenden Literatursprache entwickeln sollte. Für den Aufstieg des Jiddischen in Osteuropa sind die Haskala und der Chassidismus gleichermaßen verantwortlich. Während der Chassidismus die Religion wieder zu ihren Tiefen zurückführen wollte, bemühte sich die Haskala um die Überwindung der alleinigen Vorherrschaft der Religion durch die Betonung von Vernunft und Bildung. Beide Bewegungen bevorzugten die hebräische Sprache, mußten sich jedoch, um ihr Zielpublikum zu erreichen, in der Sprache des Volkes ausdrücken. So verbreiteten die Chassidim ihre Vorstellungen in zahlreichen jiddischen Flugblättern und Pamphleten. Die 1815 erschienenen Schiwche ha-Bescht (Lobpreis des Baal Schem Tow), zur Propaganda geeignete Erzählungen über den frühen Führer der Bewegung, erlebten drei jiddische Fassungen. Aus demselben Kreis stammen die Erzählungen des R. Nachman von Bracław, die noch im jiddischen Symbolismus des ausgehenden 19. Jhs. nachwirkten. Die Haskala mit Moses Mendelssohn als ihrem Ahnherrn betrachtete ursprünglich Jiddisch als minderwertigen Jargon, der der Verbesserung der jüdischen Lebensumstände hinderlich sei und daher überwunden werden müsse. Doch war die Erziehung des Volkes nur in diesem Jargon möglich; so trug die Haskala letztlich nicht zu seiner Überwindung, sondern zu seiner Ausgestaltung und Pflege bei.

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Nur auf dem Hintergrund dieser frühen Bemühungen ist der Aufstieg des berühmten Dreigestirns der jiddischen Literatur verständlich: Mendele Mojcher Sforim, Isaak Leib Perez und Schalom Alechem. Mendele Mojcher Sforim (Mendele der Buchhändler), Pseudonym für Schalom Jakob Abramowitsch (1835–1917), hat in seiner ersten Periode, überzeugt von den Ideen der Haskala, zahlreiche hebräische Werke populärwissenschaftlicher Art geschrieben, um damit das jüdische Volk zu erziehen. Um ein breiteres Publikum zu erreichen, wandte er sich später dem „Jargon“ zu, den er allmählich als eigenständiges künstlerisches Ausdrucksmittel schätzen lernte. 1864 veröffentlichte Mendele in der Zeitschrift Kol Mewasser seine erste jiddische Erzählung: Dos kleine Menschele. Auf realistische Weise zeigen seine Werke eine Lebensform, die im Begriff war, sich aufzulösen. Es gelang ihm, der jiddischen Literatur eine Wende zu geben, eine Erneuerung zu ermöglichen und ihr den Weg zur Integration in die moderne Literatur zu ebnen. Populäre, doch nicht triviale Literatur verfassten an der Wende zum 20.Jh. die beiden anderen berühmten Autoren: Schalom Alechem und Isaak Leib Perez. Alechem (1859–1916) schuf in seinen Romanen, Erzählungen und Theaterstücken vielerlei Charaktere, oftmals „kleine Leute“, die sich mit ihrem zugleich komischen und traurigen Alltag auseinandersetzen müssen – wie etwa der populären Gestalt des Milchmanns Tewje, dessen Geschichten zur Vorlage des Erfolgsmusicals „Anatevka“ wurden. Isaak Leib Perez, der Herausgeber der „Jiddischen Bibliothek“, schrieb Gedichte, Theaterstücke und Erzählungen in hebräischer und jiddischer Sprache. Er kann als Begründer der neochassidischen Strömung der jiddischen und hebräischen Literatur gelten. Das jiddische Drama, dessen Vorläufer die Purim-Spiele sind, wird erst sehr spät selbständig. Ettinger, Aksenfeld, Mendele u. a. schrieben zwar Dramen, die jedoch Lesestücke waren, da eine jiddische Bühne fehlte. Erst Abraham Goldfaden (1840–1908) versuchte, durch den Erfolg seiner Gedichtabende in Gasthäusern ermutigt, ab 1876 zuerst in Rumänien und dann auch in Rußland improvisierte Theateraufführungen. Seine zusammengewürfelte Truppe, in der als große Neuerung auch Frauen mitspielten, hatte großen Erfolg. 1883 wurde jedoch die Aufführung jiddischer Stücke in Rußland verboten, die meisten Schauspieler wanderten nach Westeuropa und Amerika aus, wohin ihnen auch Goldfaden folgte. Erwähnt werden muß hier auch die „Ghettoliteratur“, die seit etwa 1900 gegen den Widerstand jüdischer Autoren und Literaturwissenschaftler (z. B. K. E. Franzos) als Genredefinition eingeführt wurde. Unter Ghetto wird allerdings nicht nur die literarische Erfassung traditioneller jüdischer Lebensformen im osteuropäischen Ghetto verstanden. Autoren wie Leopold Kompert und Salomon Kohn (1825–1905) zum Beispiel betonten die großen Unterschiede jüdischen Lebens in östlicher oder westlicher Umgebung und die guten Wechselbeziehungen zwischen Juden und Tschechen (Alte und neue Erzählungen aus dem böhmischen Ghetto, 1896). Unter den tschechischen Autoren ist Vojtech Rakousz (1862–1935) zu erwähnen (Die Vojkovizer und Umgebung). Jakob Kaufmanns Erzählung „Der böhmische Dorfjude“ (1841), die wahrscheinlich die erste Ghettogeschichte ist, betont die enge Verbindung zwischen Juden- und allgemeiner Menschheitsemanzipation. Karl

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Emil Franzos (1848–1904) forderte demgegenüber rasche Assimilation an die deutsche Kultur. Israel Zangwill (1864–1926), im Gegensatz zu Franzos ein Anhänger des Zionismus, wurde mit seinen zahlreichen Erzählungen und Dramen auch in Deutschland berühmt (The Children of the Ghetto, 1892/93). Die Frage der Zielgruppe der Ghettoliteratur wurde bereits 1894 von Franzos gestellt: Schreibt ein Autor für ein vorwiegend christliches Publikum, so kann er viel weniger detailreich und nur mit ausführlichen Kommentaren jüdisches Leben zeichnen. Andererseits benötigte auch das jüdische Publikum bei zunehmender Ferne zur Tradition Erläuterungen. Nach 1945 entstand mit zunehmender „Schtetl“Nostalgie so etwas wie eine Pseudo-Ghettoliteraur. Ein wesentlicher Einschnitt in der Geschichte der jiddischen Literatur ist die „Czernowitzer Konferenz“ von 1908, die die bekanntesten jiddischen Schriftsteller vereinte, um über die Rolle der jiddischen Sprache zu diskutieren. Die Resolution, Jiddisch sei eine nationale Sprache der Juden, erregte zwar den Widerspruch der Hebraisten, die den „Jargon“ verachteten, förderte jedoch das Ansehen der jiddischen Sprache, für die einheitlichere Normen von Grammatik und Rechtschreibung angestrebt wurden, und mündete in die praktische Konsequenz, große Werke der Weltliteratur auch dem jiddischen Leser zugänglich zu machen. Erst nach dem Tod von Mendele, Perez und Schalom Alechem wurde ein Neubeginn durch Jüngere möglich. Die Sowjetunion schien von der Oktoberrevolution an der jiddischen Kultur eine neue Blüte zu verheißen, wurden doch anfangs die jiddische Schule, Literatur und Presse offiziell gefördert und hatten ja auch die jiddischen Dichter die Revolution mit vorbereitet. Viele anfangs ausgewanderte Dichter kehrten Mitte der zwanziger Jahre wieder nach Rußland zurück. Doch schon im Jahr 1948 fand die kurze Blütezeit mit der Einkerkerung der bekannteren jiddischen Dichter und der Hinrichtung von dreißig von ihnen im August 1952 ihr vorzeitiges Ende. Vor allem die Gemeinden in Galizien und der Bukowina waren bis zu ihrer Vernichtung durch den Holocaust wichtige Zentren der jiddischen Literatur und Kultur, für die Autorennamen wie Itzig Manger oder Josef Perl stehen. Auch der spätere Nobelpreisträger für Literatur Isaac B. Singer wurde in Polen geboren. Er kann als herausragendes Beispiel jener Emigranten gelten, die in den großen jüdischen Gemeinden der USA die jiddische Sprache in Alltag und Literatur lebendig hielten. Die USA, schon seit der Masseneinwanderung osteuropäischer Juden seit etwa 1880 immer mehr auch die Heimat jiddischer Schriftsteller, wurden nach dem Ersten und noch mehr nach dem Zweiten Weltkrieg zum wichtigsten Zentrum der jiddischen Literatur, deren Vertreter fast alle in Osteuropa zu schreiben begonnen hatten. Das gilt auch und gerade für Schalom Asch (1880–1957), der seit 1906 abwechselnd in Palästina, in den USA und England lebte. Asch und Singer haben der jiddischen Literatur in den USA und auch im deutschen Sprachraum viele neue Interessenten zugeführt. Doch ist es bezeichnend, daß viele Werke von I. B. Singer zuerst in Englisch erscheinen, bevor sie in Jiddisch in Buchform (und nicht nur in Fortsetzungen in Zeitschriften) veröffentlicht werden. Das Jiddisch lesende Publikum in den USA nimmt immer mehr ab und es erwächst auch keine neue jiddische Schriftstellergeneration, um die Ablöse der aus Osteuropa gekommenen Dichter anzutreten. Diesem Umstand wird offensichtlich auch Rechnung getragen durch die Einführung der Klas-

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sifikation „Postklassik“ für die späte jiddische Literatur. Als „postklassische jiddische Autoren“ werden vor allem Hersh David Nomberg (1876–1927), Abraham Reisen (1876–1953), Schalom Asch oder David Bergelson (1884–1952) genannt. In den Werken dieser Autoren findet sich zum einen die Verquickung westeuropäischer literarischer Erzählformen, die keine Vorbilder in der jiddischen Literatur hatten, mit jüdischen Stoffen und Motiven, zum anderen eine Synthese von allgemein-menschlicher (auch psychologischer) und jüdischnationaler, auch religiöser Thematik. In Israel, wo seit dem 16. Jh. Jiddisch von aschkenasischen Gruppen verwendet wurde, entstand eine größere jiddische Sprach- und Literaturgemeinschaft erst in der Zeit des Ersten Weltkriegs. Doch hat die erfolgreiche Bemühung um eine Wiederbelebung der hebräischen Sprache dem Jiddischen kaum Raum gelassen. Praktisch sind es nur Einwanderer aus Osteuropa, die die jiddische Literatur pflegen und deren Werk dann in hebräischer Übersetzung einem größeren Publikum zugänglich gemacht wird, da auch die Zahl der jiddischen Leser immer mehr zurückgeht. Zwar gibt es seit 1949 in Israel eine jiddische Literaturzeitschrift (Di goldne Zeit); auch führt die jüdische Auswanderung aus der UdSSR neue jiddische Schriftsteller nach Israel, doch dürfte das den Niedergang des Jiddischen nur verzögern, nicht mehr verhindern können.

Haskala und Zionismus Die Haskala hatte ihre Wurzeln sowohl in der allgemeinen europäischen Aufklärung als auch im jüdischen Rationalismus des Mittelalters. Die in der Renaissance einsetzende Öffnung des Judentums für kritisches Denken, das auch vor geheiligten Traditionen nicht stehenblieb, und die radikale Ausprägung dieses fragenden Geistes bei Uriel da Costa und Spinoza fielen im Deutschland des 18. Jhs. und später in Osteuropa auf fruchtbaren Boden. Das unter den Einflüssen der deutschen Umgebung schon seit langem offenere, da ihnen stärker ausgesetzte und nur wenig durch das Ghetto abgeschirmte Judentum erlebte unter dem Einfluß der Aufklärung eine starke Welle der Assimilation. Soweit unter den Juden selbst ein Interesse an „Aufklärung“ und an der Änderung des Rechtsstatus vorhanden war, beschränkte es sich auf jene schmale Schicht, die bereits geschäftlich und gesellschaftlich in engeren Beziehungen zur Umwelt stand. Eine neue Situation ergab sich seit Mitte des 18. Jhs. in Berlin. In adligen und vornehmen bürgerlichen Kreisen Preußens hatte die Aufklärung über das politisch-merkantilistische Interesse hinaus den Boden für eine optimistische Beurteilung der Möglichkeit der „Verbesserung“ der Juden vorbereitet. Unter den Berliner „Schutzjuden“ war außerdem der Assimilationsprozeß bereits verhältnismäßig weit gediehen und sogar die Bereitschaft und das Bedürfnis nach einer umfassenderen und grundsätzlichen Neuorientierung vorhanden. Dazu gehörte auch die Bemühung – neben der Beherrschung der eigenen traditionellen Literatursprache (des Hebräischen) –, sich vollständig die Literatursprache der deutschen Umwelt anzueignen. Der hervorragendste frühe Vertreter der Haskala war Moses Mendelssohn (1729–1786).

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Aus einfachen Verhältnissen stammend, genoß er in seiner Heimat Dessau eine traditionelle Ausbildung, die er, 1743 nach Berlin gekommen, durch das Studium profaner Fächer ergänzte. Seit 1750 Hauslehrer bei einem Seidenfabrikanten, wurde er später dessen Geschäftspartner. 1754 wurde er mit G. E. Lessing bekannt und war mit ihm zeit seines Lebens befreundet. Aus dieser Periode stammen seine ersten philosophischen Schriften, Briefe zu Problemen der Ästhetik. Seine Abhandlung über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften wurde 1763 von der Preußischen Akademie einer Schrift Kants vorgezogen und preisgekrönt. Sein Phädon oder Über die Unsterblichkeit der Seele in drey Gesprächen (1767), ein vor allem wegen des deutschen Stils gerühmtes Werk, machte ihn weit bekannt. Ein weiteres zentrales Thema seiner Philosophie war die Vernünftigkeit des Glaubens an die Existenz Gottes, die er mit einer Abwandlung des ontologischen Gottesbeweises in den Morgenstunden (1785) aufzuzeigen versuchte. Doch interessiert hier die Philosophie Mendelssohns – die nichts spezifisch Jüdisches in sich hat und kaum originell ist – weniger als die Beurteilung der jüdischen Religion in seinem Buch Jerusalem, seine Bibelübersetzung sowie die Bemühung um die hebräische Sprache in seinen Beiträgen zu hebräischen Zeitschriften. 1769 widmete der eifernde evangelische Theologe Johann Kaspar Lavater Mendelssohn seine deutsche Übersetzung eines Buches von C. Bonnet und forderte ihn öffentlich heraus, dessen Thesen zu widerlegen oder zum Christentum überzutreten. Im Schreiben an den Herrn Diaconus Lavater zu Zürich (1770) lehnt Mendelssohn eine Diskussion der Tora ab, die ja nur die Juden verpflichte, und will sich auch nicht in eine Erörterung der Mehrheitsreligion Preußens einlassen. Die öffentliche Kontroverse zog sich länger hin und machte Mendelssohn nervenkrank, ließ ihn jedoch auch deutlich seine Aufgabe im deutschen Judentum erkennen, zu dessen Führer er durch seinen Ruhm bestimmt war. 1781 veranlaßte er den Christen Chr. W. von Dohm zur Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. 1781, im Jahr des Toleranzedikts Josephs II., stellte er noch seine eigene Meinung zur Frage der jüdischen Emanzipation in der Vorrede zur deutschen Ausgabe von Menasse ben Israels Vindiciae Judaeorum dar. Hier lehnte er gegen Dohm die gerichtliche Autonomie der jüdischen Gemeinde und den rabbinischen Bann ab. Eine anonyme Schrift, als deren Verfasser man fälschlich den zum Christentum übergetretenen Wiener Juden Joseph von Sonnenfels vermutete (in Wirklichkeit war es A. F. Cranz), wandte dagegen ein, die mosaische Religion habe ein zwingendes Recht als Grundlage. Darauf antwortete Mendelssohn in seiner Schrift Jerusalem oder Über religiöse Macht und Judentum (1783). Die Schrift steht unter dem deutlichen Einfluß Spinozas und seines Traktates, mit dem sie die Verbindung der Religionstheorie mit einer Theorie des Judentums und der Begründung der Glaubensfreiheit gemeinsam hat, auch wenn beide Schriften zu verschiedenen Ergebnissen kommen. Nach beiden ist das Judentum keine geoffenbarte Religion, sondern eine geoffenbarte Gesetzgebung, während die religiöse Wahrheit als Voraussetzung des Glücks allen durch die Vernunft erreichbar ist. Eine Unterstützung der Vernunft durch die Offenbarung, wie Maimonides sie vertreten hatte, ist nicht notwendig und daher auch nicht sinnvoll, auch wenn viele de facto diese Wahrheiten nicht erkennen. Nicht die Religion unterscheidet den Juden von seiner Umgebung, sondern das Gesetz, das nicht nur politisch ist, wie Spinoza vertrat, auch nicht

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nur auf diesseitige Belohnung zielt, sondern als religiöses Gesetz zum ewigen Glück der Seele führen soll. Daher ist dieses Gesetz auch nicht auf eine bestimmte Periode der jüdischen Geschichte begrenzt, sondern gilt ewig. Was das Verhältnis der Religion zum Staat betrifft, so hat der Staat mit Taten zu tun und darf daher Zwang anwenden; die Religion hingegen richtet sich an den Verstand und muß daher zu überzeugen suchen, frei von jedem Zwang. Nach Spinoza wird die äußere Religionsausübung vom Staat geregelt, der auch Zwang ausüben darf. Die von der Bibel bezeugte Tatsache, daß im staatlich organisierten Judentum, in Jerusalem, es sehr wohl religiösen Zwang gegeben hat, ist nach Mendelssohn damit zu erklären, daß Gott der König Israels war und somit staatliches und religiöses Recht zusammenfielen. Das war jedoch geschichtlich einmalig und kann nicht als Basis für eine staatliche Verfolgung des Irrglaubens verstanden werden. Bedeutend und wichtig in diesem Zusammenhang war die deutsche Bibelübersetzung von Mendelssohn, mit der er die Kultur seiner Glaubensgenossen fördern wollte. 1783 erschien seine deutsche Übersetzung der Psalmen, an der er seit 1770 gearbeitet hatte, 1780– 83 der Pentateuch, 1788 das Hohelied. Dieses von anderen später vollendete Werk war die erste jüdische Übersetzung der Bibel ins Deutsche. Sie verband die eigentliche Übersetzung, deren Text in hebräischen Buchstaben gesetzt war, mit einem hebräischen Kommentar, dem Biur, der zum Großteil von Mitarbeitern Mendelssohns stammte und völlig der traditionellen Auslegung folgte, von Mendelssohn selbst jedoch durch ästhetische Erwägungen zur Poesie der Bibel und Ähnliches ergänzt wurde. Wie revolutionär das Unternehmen war, ist aus dem scharfen Widerstand beispielsweise der Rabbiner von Altona, Prag und Fürth zu ersehen. Sie erkannten sehr wohl die eigentliche Absicht Mendelssohns, auf dem Weg der Bibelübersetzung eine bessere Kenntnis der deutschen Sprache zu vermitteln und vom verachteten Judendeutsch wegzuführen, zugleich jedoch auch das Studium der Bibel zu fördern, was zu Lasten der traditionellen rabbinischen Ausbildung gehen würde. Sie sahen darin einen ersten Schritt auf dem Weg zur Assimilation. Neben der Verdrängung des Jiddischen erstrebte die Haskala auch die Renaissance des biblischen Hebräisch. Auch dazu leistete Mendelssohn seinen Beitrag. 1758 gab er eine hebräische Zeitschrift heraus, Kohelet Musar (Der Sittenprediger), von der nur zwei Nummern erschienen, in denen Mendelssohn anonym zu Fragen der Sittlichkeit und der Religion schrieb, aber auch dem aschkenasischen Judentum damals völlig fremde Natur betrachtungen darbot und vor allem für eine Wiederbelebung des biblischen Hebräisch eintrat. Ebenso arbeitete er später an der seit 1783 erscheinenden Zeitschrift Ha-Meassef (Der Sammler) mit, dem wichtigsten Organ der Haskala-Schriftsteller. Mendelssohn ist bis zum Schluß seinem Judentum treugeblieben. Als in Deutschland die kulturelle und nationale Assimilation als Folge der Aufklärung und der ersten Emanzipationsmaßnahmen Formen annahm, die einerseits zu einer Übertrittsbewegung zum Christentum führten und andererseits sich die ersten Auswüchse eines modernen Antisemitismus zeigten, suchten gebildete Juden das jüdische Selbstbewußtsein durch den Nachweis wissenschaftlicher und historisch-weltanschaulicher Leistungen zu erneuern, ohne die positiven Errungenschaften der Aufklärungszeit zu opfern. Sie versuchten

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auch die Methoden der entwickelten deutschen historischen und philologischen Wissenschaften für eine jüdische Wissenschaft zu übernehmen. Nach einem programmatischen Aufsatz von Leopold Zunz konstituierte sich 1819 in Berlin ein „Verein für Cultur und Wissenschaft des Judentums“, der wenig später die „Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums“ herausgab. Dabei ging es also nicht nur um Forschung und Publikation, nicht nur um die Wissenschaft „vom“ Judentum, sondern um die Wissenschaft „des“ Judentums. Der Ausgangspunkt war eine ganz bestimmte weltanschauliche Sicht mit entsprechender innerjüdischer Zielrichtung, die sich nicht speziell auf die Rabbinerausbildung bezog. In Osteuropa hatte die Haskala in den fünfziger bis neunziger Jahren des 19. Jhs. ihre Blütezeit und schuf die Grundlage für ein kulturelles – noch nicht politisches – jüdisches Nationalbewußtsein. Während äußerlich die politischen Strukturen des Zionismus in hohem Maße durch die Institutionen geprägt wurden, die in der Folge des ersten ZionistenKongresses in Basel (1897) entstanden waren – inspiriert durch Theodor Herzls programmatische Schrift Der Judenstaat (1896) und zuvor schon durch Moses Hess’ Rom und Jerusalem (1862) –, sind die inneren Motive zum Entstehen einer „zionistischen Literatur“ weitaus komplexer. Der wachsende Antisemitismus in Rußland veranlaßte zum Beispiel Leon Pinsker (1821–1891), Arzt und Schriftsteller in Odessa, anstelle der bisher von ihm vertretenen Assimilation eine neue Lösung der „Judenfrage“ zu suchen. In seiner 1882 veröffentlichten Schrift Autoemanzipation geht Pinsker von einer Analyse des Antisemitismus aus: dieser beruhe auf der Angst der Völker vor dem unverständlichen Phänomen, daß ein Volk nicht sterbe, obwohl es kein Land besitze. Diese Angst erzeuge Haß. Die einzige Lösung sei ein jüdischer Staat. Wie Pinsker und Moses Hess (1812–1875) stand auch Theodor Herzl (1860–1904) der jüdischen Religion ziemlich fern. Unter dem Einfluß der Dreyfus-Affäre beschäftigte sich der Wiener Journalist und Bühnenautor mit der Lage des Judentums und verfaßte 1895/96 ohne Kenntnis der Pinsker-Publikation seine berühmte Schrift Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der jüdischen Frage. Diese Lösung könne nicht die Assimilation sein – weil der Antisemitismus ebenso wie der Überlebenswille des jüdischen Volkes dagegenstehe. Die Juden seien eine Nation: daher gebe es nur eine politische Lösung, an der alle Kulturvölker mitwirken müßten. Im weiteren Kampf für seine Idee schrieb Herzl 1900 den Zukunftsroman Altneuland, der als Bericht aus dem Jahre 1920 die schon vollzogene Ansiedlung in Palästina und den erfolgreichen Aufbau des Landes schildert. Ein weiterer Vertreter der zionistischen Literatur ist Max Nordau (1849–1923), dessen frühe Sensibilität gegenüber antisemitischen Strömungen sich anhand der fragmentarisch erhaltenen Korrespondenz mit Berthold Auerbach nachweisen läßt. Wie Auerbach war Nordau als Kulturkritiker vorrangig daran interessiert, eine positive Rezeption beim gebildeten deutschen Publikum zu bewirken. Seine von Identitätswechseln und -brüchen bestimmte Biographie ermöglicht einen spannenden Einblick in den allgemeinen „jüdischen Selbstbestimmungsdiskurs der Moderne“ (Andreas Kilcher). Eine ganz andere Richtung verkörperte das Werk von Achad Haam (Ascher Ginzberg, 1856–1927), der sein literarisches Werk zwar in den Dienst der nationaljüdischen Bewe-

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gung stellte, aber im Sinn eines humanistisch-jüdisch ausgerichteten Kulturzionismus. Seine scharfe Kritik am festgefahrenen Traditionalismus und seine literaturkritischen Aussagen haben zahlreiche Kontroversen ausgelöst.

Die neue hebräische Literatur und Israel Die Entwicklung der hebräischen Literatur in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg war vor allem eine Leistung des osteuropäischen Judentums. Ein vorläufiges Ende dieser Entwicklung bedeutete die russische Revolution, da Hebräisch als „konterrevolutionäre“ Sprache galt. Die Wiedergeburt der hebräischen Sprache als Literatursprache ist der Einwanderung osteuropäischer Juden nach Palästina zu verdanken. 1909 begann dort zum Beispiel das literarische Wirken von Josef Chajim Brenner (1881–1921). Von der traditionellen Religion, von Zionismus und Sozialismus enttäuscht, wurde er zum sozial engagierten Schriftsteller, der sich jedoch auch in Palästina nicht in ideologische Abhängigkeit begab. Seine Helden stammten meist aus dem Arbeitermilieu und werden als gescheiterte und entwurzelte Existenzen geschildert. Später traten neben die negativen Helden auch positive Nebenfiguren, so in seinem Kibbuz-Roman Schichul we-Chischalon (Verlust und Scheitern, 1920). Als Romanautor gilt Brenner als Hauptvertreter der psychologischen Schule in der hebräischen Literatur. Nach der dritten Alija (1919–1923) kam auch der berühmteste hebräische Dichter der Moderne, Chajim Nachman Bialik (1873–1934), nach Tel Aviv. Als prototypischer Autor, der aus einer chassidischen Familie Galiziens stammte und im frühen 20.Jh. nach Palästina einwanderte, wäre hier vor allem auch Samuel (Schmuel) Josef Agnon (1888–1970) zu nennen. Sein Thema war das Ostjudentum, das er bewußt in der Erzählüberlieferungstradition gestaltete, die seit den Midraschim der talmudischen Zeit die Jahrhunderte durchzog. Nach dem Untergang des traditionellen Ostjudentums – das heißt nach 1945 – erhielt sein Werk auch im historischen Sinn eine monumentale Bedeutung, was sicherlich für die Verleihung des Nobelpreises für Literatur im Jahre 1966 maßgeblich war. Die Fixierung auf das osteuropäische Judentum war von der zahlenmäßigen Bedeutung und vom historischen Schicksal her begreiflich, aber es gab auch andere jüdische Gruppen, wie das sefardische und arabischsprachige Judentum, die ausdrucksstarke Sprecher in der Literatur fanden: Jehuda Burla (1886–1969) zum Beispiel, der selbst aus einer alten sefardischen Familie Jerusalems stammte, schilderte vorwiegend Lebensschicksale des sefardisch-orientalischen Judentums in der Übergangszeit von der Tradition zur Moderne. Allerdings vermied Burla eine sprachlich-stilistische Sonderentwicklung, sondern folgte im wesentlichen westlichen Mustern. Und er blieb vor allem Erzähler, fühlte sich weniger zum Pädagogen oder Sozialreformer berufen. Das immer wiederkehrende Thema des 1898 geborenen Chajim Hazaz war dem Schicksal der jemenitischen Juden gewidmet, die bis zur Einwanderung weitgehend in sozialer und kultureller Isolation gelebt hatten und in Palästina nahezu unvermittelt mit der Moderne konfrontiert wurden. Die Autoren, die in den Jahren um die Staatsgründung Israels zu schreiben begannen,

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wurden meist schon im Land geboren. Hebräisch war von Anfang an ihre Muttersprache und die Verbindung zur europäischen Literaturtradition nur schwach entwickelt. Als Vorbilder wirkten kaum noch russische, deutsche oder französische – sondern vorwiegend englische und amerikanische Dichter. Erst in den sechziger Jahren kamen auch Franz Kafka und die französischen Existentialisten hinzu. Oft wird von Literaturkritikern konstatiert, daß die hebräische Literatur zu einer Regionalliteratur geworden sei, die kaum noch „jüdische Literatur“ im traditionellen Sinn sei. Als Beispiel für eine solche Verengung der Perspektive wird meist das Werk von Samech Yishar genannt. Bei ihm und anderen Autoren tritt der Raum an die Stelle der Geschichte, die palästinische Landschaft, in der diese Schriftsteller aufgewachsen sind. Autoren wie Moshe Shamir oder Aharon Megged gelten als Repräsentanten einer der aktuellen israelischen Wirklichkeit von Krieg und Kibbuz gewidmeten Thematik. Eine Wende in der israelischen Literatur bedeutete das Werk von Aharon Appelfeld, der selbst die Konzentrationslager erlebt hatte und sich in seinen Romanen mit der in der Regel vermiedenen Thematik der NS-Zeit beschäftigte. Bekannt wurde vor allem sein Band Aschan (Der Rauch, 1962). Eine andere Dimension besitzen in der internationalen Bewertung die Werke von Abraham B. Jehoschua (geboren 1936) und Amos Oz (geboren 1939). Abraham B. Jehoschua schreibt nicht über Krieg und Kibbuz, sondern skizziert eine an Kafka und in bestimmten Aspekten an Agnon erinnernde zeit- und raumlose Innenwelt voller Symbolkraft, in der oft der Todestrieb ein Hauptmotiv ist, so in Mot haSaken (Der Tod des Alten, 1962) oder im Erzählband Mul ha-Jearot (Gegenüber den Wäldern, 1968). Der bekannteste israelische Schriftsteller der Gegenwart ist der 1939 in Jerusalem geborene Amos Oz. 1966 schickte ihn der Kibbuz Hulda zum Studium der Literatur und Philosophie an die Hebräische Universität. Er kehrte als Lehrer in den Kibbuz zurück und studierte später in Oxford. Seine zum Teil preisgekrönten Romane und Erzählungen schildern das Familienleben mit seinen täglichen Problemen, gleichsam als Querschnitt der israelischen Gesellschaft; sie entlarven das System von Ordnung und Sittenstrenge, wie es von der offiziellen Ideologie des Establishments definiert wird, als brüchige Fassade. Als Journalist ist Amos Oz bekannt wegen seiner sehr entschiedenen Position des Ausgleichs im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Seine Romane Mein Michael (1968), Black Box (1987) oder Der dritte Zustand (1992) wurden Bestseller und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Bekannte Erzählbände sind: Dort, wo die Schakale heulen, Der Hügel des schlechten Rates, Dem Tod entgegen sowie Die Hügel des Libanon (1995).

Die Moderne und die Suche nach einer deutsch-jüdischen Identität Inzwischen scheint es zu einem Allgemeinplatz geworden zu sein, daß die Entstehung der „modernen Judenfrage“ am sinnvollsten mit der Aufklärung in Verbindung zu bringen sei. In diesem Zusammenhang zu analysieren wären dann auch Phänomene wie Emanzipation, Assimilation, Akkulturation und Antisemitismus. Moderne Denkprozesse, die sich zurückführen lassen bis zum Vernunftanspruch der Aufklärung, versuchten vorrangig kon-

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sistente Identitäten herzustellen. Emanzipation wurde nicht als Pluralismus gedacht, sondern als Homogenität. Die Selbstauflösung jüdischer Identität wurde im 19. Jh. somit zur Vorbedingung für die Integration in die deutsche Gesellschaft. Nur wenige Jahrzehnte später wurde die Vernichtung der Juden selbst verlangt – und durchgesetzt. Wer war und ist also vor diesem Hintergrund in Deutschland als „jüdischer“ Schriftsteller, Künstler oder Wissenschaftler zu bezeichnen? Englisch oder französisch schreibende Autoren jüdischer Herkunft haben und hatten es aus verschiedenen Gründen leichter sich zu definieren als deutsch schreibende. „Amerikanisch-jüdische“ Autoren, so Gershon Shaked, müßten sich nicht so angestrengt definieren wie „deutsch-jüdische“. Deutlich wird das Problem zum Beispiel an der Frage, ob Heinrich Heine ein jüdischer Schriftsteller war. Wer die Frage positiv beantwortet, muß das begründen. Von Heines Selbstverständnis und von seinem Werk her gesehen wäre es – trotz bestehender unübersehbarer Bezüge zum Judentum – schwierig, und die meisten Nichtdeutschen würden ihn wohl uneingeschränkt als einen deutschen Dichter definieren. Doch es bleibt eine gewisse Unsicherheit, weil man weiß, daß Heine trotz seiner Taufe von vielen Deutschen nicht oder nur unter Vorbehalten als Deutscher akzeptiert worden wäre und daß er gegen Ende seines Lebens sich mit großer Intensität zu seinem Judentum bekannte. Obwohl er Deutschland – wie Ludwig Börne – aus politischen Gründen und nicht als verfolgter Jude verließ, hat die Emigration doch seine jüdische Identität gestärkt. Es waren also nicht allein Heines eigene Haltung und sein Werk, die Anlaß geben, ihn unter dem Aspekt des „jüdischen Schriftstellers“ zu betrachten, als vielmehr die Haltung und Wertung in der Umwelt, d. h. jene antisemitische Tendenz, die „Deutschtum“ und „Judentum“ aus pseudo-religiösen und rassistischen Gründen für grundsätzlich unvereinbar hielt. Noch deutlicher als Heine zeigt das Beispiel Franz Kafka, daß ein Autor nicht mit seinem „ganzen“ Werk der jüdischen Literatur im anfangs definierten Sinn angehören muß, um als „jüdischer“ Autor klassifiziert zu werden. Daß ein Bewußtsein der Zugehörigkeit zum Judentum literarisch manifest werden muß, ist allerdings auch nur in einem weiten Sinn zu verstehen. Neben der Beschäftigung mit Ereignissen der jüdischen Geschichte, wie sie etwa bei Heine oder auch Joseph Roth der Fall ist, schließt der Begriff „jüdische Thematik“ auch Darstellungen von Erfahrungen ein, die Juden gemacht haben oder machen mußten – so in Autobiographien zum Beispiel von Jakob Wassermann (Mein Weg als Deutscher und Jude), in Max Brods Streitbares Lebens oder Robert Neumanns Ein leichtes Leben. Er schlage vor, schrieb Friedrich Nietzsche im März 1887 an seinen Freund Franz Overbeck, „ein sorgfältiges Verzeichnis der deutschen Gelehrten, Künstler, Schriftsteller, Schauspieler, Virtuosen von ganz- oder halbjüdischer Abkunft herzustellen: das gäbe einen guten Beitrag zur Geschichte der deutschen Kultur“. Wenn der Kulturhistoriker Siegmund Kaznelson dieses Zitat seinem 1933 konzipierten Sammelwerk Juden im deutschen Kulturbereich als Motto voranstellte, war das ein verständlicher Versuch, am Vorabend der Katastrophe jene prekäre Idee einer „deutsch-jüdischen Symbiose“ als Apologie und Wahrung der jüdischen Ehre zu retten. Wenn dieses Zitat 60 Jahre später wiederaufgriffen wurde und ebenfalls an den Anfang einer Bilanz unter dem Motto „Juden in der deutschen Literatur“ plaziert wurde, mußte das Mißverständnisse und Kritik auslösen. Eine „deutsch-jüdische

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Literaturgeschichte“ darf nicht in den Verdacht kommen, die deutsch-jüdischen Schriftsteller noch einmal zu isolieren, sie zu verklären oder zweitrangige Autoren besser machen, als sie sind. Eine sinnvolle Periodisierung sollte nicht mit dem Mittelalter beginnen, sondern erst mit der Aufklärung. In der Tat erscheint es einleuchtend, wenn man auf dem Historisierungsversuch einer „deutsch-jüdischen Literatur“ beharrt, den ersten Schnitt und Wendepunkt der kulturellen Beziehungen zwischen Deutschen und Juden mit dem Werk von Moses Mendelssohn zu datieren. Europäische Aufklärung und jüdische Haskala begegneten sich vor allem in der literarischen Öffentlichkeit des 18. Jhs. Dennoch wäre der Versuch, die deutschsprachige Literatur jüdischer Autoren von der Aufklärung bis zur Gegenwart linear zu beschreiben, ein problematisches Unterfangen. Und eine „deutsch-jüdische Literaturgeschichte“ in einem strikt wissenschaftlichen Sinn gibt es bis heute nicht. Die deutschsprachige Literatur jüdischer Autoren wurde meist ohne systematischen Zusammenhang entweder im Rahmen der allgemeinen deutschen Literaturgeschichte behandelt oder in Einzeluntersuchungen wie zuerst von Ludwig Geiger beschrieben. Sein 1910 gestarteter Versuch, die „passive“ wie die „aktive Beteiligung“ der Juden „an der deutschen Literatur“ darzustellen, sollte vor allem zeigen, „in welcher Weise durch Juden die deutsche Literatur beeinflußt worden ist“ – etwa von Moses Mendelssohn, Ludwig Börne, Berthold Auerbach oder Karl Emil Franzos. Auch in neueren literaturwissenschaftlichen Untersuchungen steht der „Beitrag“ jüdischer Autoren zur deutschen Literatur oder deren „Anteil“ an ihr im Mittelpunkt – nicht selten sogar unter ausdrücklicher Berufung auf Geiger, ohne daß allerdings die theoretische und historische Begrenztheit seines Verfahrens und ihre ideologischen Voraussetzungen genügend reflektiert würden. Ein methodischer Neuansatz ist zweifellos der Versuch, den „jüdischen Diskurs“ in der deutschen Literatur des 20. Jhs. als eine Art Binnengespräch zu untersuchen und neu zu „vernetzen“. In diesem Diskurs werden drei Schwerpunkte wahrgenommen: die Krise der Assimilation, das Exil und der Holocaust. An diese Diskursbeschreibung anknüpfend hat jetzt auch ein „Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur“ (Andreas Kilcher) unterstrichen, daß es „unhistorisch“ wäre, den „Begriff“ der deutsch-jüdischen Literatur „auf die völkische Germanistik und die Nürnberger Gesetze zu reduzieren“. Eine umfangreiche Einleitung bemüht sich um eine begriffsgeschichtliche Klärung und Zusammenfassung dessen, was seit dem letzten Drittel des 19. Jhs. unter „deutsch-jüdischer Literatur“ verstanden oder auch mißverstanden wurde und wird. Gegenüber der traditionellen Ausgrenzung werden vor allem zwei Argumente angeführt. Zum einen seien „deutsche“ und „jüdische“ Literatur keine dichotomen Begriffe – die Zugehörigkeit zur einen müsse die zur anderen Literatur nicht ausschließen. Zum anderen solle sich die Frage, was das „Jüdische“ an der deutsch-jüdischen Literatur sei, nicht an einer abstrakten Klassifikation orientieren, sondern dem Selbstverständnis jüdischer Autoren folgen. Die Verschiedenartigkeit der jüdischen Literatur in deutscher Sprache, die von Heinrich Heine über Franz Kafka und Rose Ausländer oder Paul Celan bis Rafael Seligman reicht, verlangt Differenzierungen fast von Fall zu Fall. Fazit und Legitimation: Vor dem Hintergrund der kontroversen historischen Interpretationen – neben der völkischen, der kulturzionistischen und assimilatorischen wird auch die „elegische“ genannt – sei das

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einzige Medium einer angemessenen „Perspektive auf die deutsch-jüdische Literatur“ das Lexikon, genauer – „die lexikographische Fragmentierung eines literaturgeschichtlichen Zusammenhangs in einzelne Profile kultureller Schreiborte“. Schon der Redakteur der Allgemeinen Zeitung des Judentums, Gustav Karpeles, machte 1886 in seiner Darstellung für gebildete Leser auf die Sonderstellung der jüdischen Literatur im Hinblick auf ihre weit zu fassende Definition aufmerksam. Bedingung einer deutschsprachigen Dichtung aus jüdischem Geist ist nach Karpeles das fruchtbare Miteinander von Halacha und Haggada in Gestalt einerseits der „Wissenschaft des Judentums“ und andererseits der modernen Zionsklage als einer „weiten Provinz“ im Reiche der Weltschmerzpoesie. Gelegentlich werden auch aufgrund einer zu engen Begrifflichkeit Ludwig Börne – der sich selbst phantasievoll als „Zeitschriftsteller“ bezeichnete, auf den Beruf des „Journalisten“ reduziert– oder Klaus Mann – der sicherlich nicht damit einverstanden gewesen wäre – das Adelsprädikat „jüdischer Schriftsteller“ zuerkannt. Gerade wenn das primäre Interesse den subjektiven Standortbestimmungen der Autoren gilt – und keiner Chronologie folgt –, dürfen die politischen, sozialen und literarischen Rahmenbedingungen, die sie hemmten, begünstigten oder provozierten, in einer Gesamtdarstellung nicht fehlen. Nur so sind die Identitätskonflikte der Autoren zu begreifen und darzustellen. Eine Betrachtung jüdischer Literatur in deutscher Sprache muß immer auch eine Kritik dieser Kultur sein.

Hannelore Künzl (1940–2000)

Jüdische Kunst Jüdische Kunst in Europa – den Kontinent als Ganzes betrachtet – entwickelte sich seit dem Mittelalter. Denn in Antike und Spätantike haben Juden, vom geographischen Raum Palästina ausgehend, lediglich die Mittelmeerländer in Richtung Italien/Südfrankreich bzw. Nordafrika besiedelt und dort ihre Kunstzeugnisse hinterlassen. Im frühen Mittelalter ändert sich dies. Juden lassen sich nun auf der Iberischen Halbinsel, in Frankreich und England und in den Regionen nördlich der Alpen nieder. Es entsteht eine jüdische Kunst, die nicht mehr auf die Mittelmeerländer beschränkt ist, sondern sich in ganz Europa (mit Ausnahme der wesentlich später besiedelten skandinavischen Länder) entfalten kann, wenn auch durch die Ausweisung der Juden aus England im späten 13. Jh. und aus Frankreich im späten 14. Jh. die Anzahl der erhaltenen Kunstwerke in diesen Ländern gering ist. Auch auf künstlerischer Ebene bricht mit dem Mittelalter eine neue Ära an, da die große, mehrere Jahrhunderte währende Kluft zwischen den Zeugnissen aus der Spätantike und denen im Mittelalter zu einem Abriß antiker Traditionen und zu einem Neubeginn führte. Die Schwerpunkte innerhalb der jüdischen Kunst wechseln von Epoche zu Epoche. Während im Mittelalter jüdische Kunst sich nur in Architektur und Buchmalerei äußert und kunstgewerbliche Gegenstände zunächst in sehr geringem Maße erhalten sind, entwickelt sich das Kunstgewerbe vor allem seit dem 16. Jh. Dies trifft auch auf die Illustrationen in Druckwerken zu. Daß freischaffende jüdische Künstler in der Malerei und Graphik ihre individuellen Werke schufen, ist ein neuzeitliches Phänomen, das erst im 19. Jh. auftritt. So hat sich bis in die Neuzeit ein weites Spektrum jüdischer Kunst entwickelt, und das in allen Kunstgattungen mit Ausnahme der Plastik, da diese Form der Darstellung gemäß der religiösen Gesetze verboten ist. Erst seit dem späten 19. Jh. wurde diese Kunstform vor dem Hintergrund von Emanzipation und Assimilation betrieben.

Buchmalerei Jüdische Buchmalerei, d. h. Malerei in hebräischen Handschriften, existiert in Europa vom 13. bis 15. Jh. Sie ist aus Spanien, Portugal, Frankreich, Belgien, Deutschland und Italien bekannt. Sie findet sich in Bibeln, Gebetbüchern, Haggadot, Gesetzescodices, auch in wissenschaftlichen Werken zu Medizin und Astronomie. Torarollen wurden und werden nicht bemalt, denn diese beinhalten ausschließlich den heiligen Text und verzichten ausnahmslos auf Verzierungen. Auch die übrigen Schriften, die in der Synagoge verlesen werden, verzichten weitgehend auf reiche Illustrationen – um den Beter nicht abzulenken – im Gegensatz zu solchen, die im Privathaushalt Verwendung fanden.

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Grundsätzlich unterscheidet man zwischen der sefardischen Tradition in Spanien, Portugal und Teilen Südfrankreichs und der aschkenasischen Tradition in Nordfrankreich und Deutschland. In Italien ist eine Art Mischkultur entstanden, da sich hier zu den ursprünglich italienischen Juden aschkenasische Einwanderer aus Deutschland und Frankreich und sefardische aus Spanien – nach der endgültigen Ausweisung 1492 – gesellten. Die Unterschiede zwischen der aschkenasischen und sefardischen Auffassung von der künstlerischen Gestaltung der Manuskripte zeigen sich vor allem in den Bibeln und den Haggadot. Aschkenasische Bibeln, vornehmlich aus Deutschland erhalten, sind reich bebildert. Sie besitzen Bibelillustrationen, symbolische Darstellungen und neutrale Ranken mit eingestreuten Blumen und Tieren, die vor allem die Textkolumnen umgeben. Die Bibelillustrationen beziehen sich auf markante biblische Gestalten und Ereignisse wie Moses und die Gesetzgebung, die drei Erzväter, so besonders das Isaak-Opfer oder Jakobs Traum, die wichtigsten frühen Könige wie David mit der Harfe oder das salomonische Urteil. Dagegen sind Illustrationen zu Prophetenbüchern wie zur Vision Daniels oder Ezechiels eher selten. Die Symbole und symbolischen Darstellungen sind vorrangig auf die messianische Erwartung ausgerichtet, so z. B. durch die drei mythischen Tiere Leviathan, Behemot und Ziz, durch andere Tiersymbole oder die brennende Menora. Die spanischen Bibeln dagegen besitzen grundsätzlich keine figürlichen Szenen, statt dessen sogenannte Teppich-Seiten mit stilisierten, symmetrisch angelegten Ranken, deren Kunstform der spanisch-islamischen Kunst entnommen ist – während sich im übrigen diese Buchkunst dem Stil der christlichen Buchmalerei anpaßt –, sowie Darstellungen der Tempelgeräte, die auf mehrere Seiten verteilt sind, wobei der Menora im Laufe der Zeit eine besonders wichtige Bedeutung zukommt, da man ihr eine ganzseitige Miniatur widmete. Im Verlauf des 14. Jhs. hat man den üblichen Tempelgeräten noch das Motiv eines gespaltenen Hügels mit einem Olivenbaum hinzugefügt, als Hinweis auf die Bedeutung des Jerusalemer Ölbergs zu Beginn der messianischen Zeit (nach Sacharia 14,4), oder eine fiktive Tempelfassade als Hinweis auf den dritten Tempel in messianischer Zeit. Das heißt, daß die Hoffnung auf die Ankunft des Messias und die Erlösung in messianischer Zeit hier durch andere Motive ausgedrückt wird als im aschkenasischen Raum. Diese Darstellungen in den spanischen Bibeln besitzen daher einen starken Symbolcharakter, während die im aschkenasischen Raum beliebten erzählerischen Elemente fehlen. Da andere spanische Manuskripte wie Gebetbücher, Haggadot oder Gesetzeswerke sehr reich an Bildszenen sind, ist ihr Fehlen in den Bibeln nicht einfach mit einem generellen Bilderverbot abzutun, sondern mit einem speziellen, in einer Anpassung an die islamische Welt. Da die Bibeln die Tora enthalten, hat man sie ebenso strikt behandelt wie die Muslime den Koran, der auch nie bebildert ist. Unterschiede zwischen den beiden großen Traditionsbereichen zeigen sich auch in den Haggadot. Die Haggada, die am Sederabend zu Pessach gelesen wird, erinnert an die Sklaverei im biblischen Ägypten und die Errettung daraus. Infolgedessen bezieht sich das Bildprogramm auf die biblischen Ereignisse, besonders auf Moses und Aaron vor dem Pharao, die zehn Plagen und den Auszug, aber auch auf die nachbiblische Zeit, auf die Weisen von

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Bne Brak, die dies kommentierten, und auf zeitgenössische Themen wie das Backen der Mazzot oder die Darstellung der Sedertafel im Familienkreis. Alle Themen werden sowohl im aschkenasischen wie auch im sefardischen Raum angesprochen. Der Unterschied besteht jedoch darin, daß die meisten spanischen Haggadot die biblischen Themen zu einem Bilderzyklus zusammenfassen und dem eigentlichen Text voransetzen, während die biblischen Szenen in den aschkenasischen Handschriften vereinzelt in den Text eingestreut werden. So können die spanischen Haggadot – im Gegensatz zu den dortigen Bibeln – einen reichen Beitrag zur Illustration biblischer Themen leisten. Der Stil der jüdischen Buchmalerei ist gotisch, erkennbar vor allem an den schlanken und geschwungenen Figürchen, den gotischen Architekturelementen wie Fialen oder Dreipaß und an dem neutralen Hintergrund ohne räumliche Tiefe. In Italien ändert sich das Bild im 15.Jh. mit dem Aufkommen der Renaissance, in der die Perspektive entwickelt wird und sich eine frühe Landschaftsmalerei entfaltet. Nun wird der bis dahin neutrale Hintergrund mit Rauten oder Rankenmusterungen aufgelöst und bildet einen natürlichen Bezug zur Bildszene im Innenraum oder in der Landschaft. Auch die Themen ändern sich. Zu den im 13. und 14.Jh. üblichen religiösen Motiven gesellen sich zunehmend profane hinzu, wie z. B. Miniaturen zum Schiffshandel, aber auch Illustrationen zur Heilkunde. Dies erklärt sich aus der zunehmenden Bedeutung des Individuums, des Bürgers im Verhältnis zu den Kirchenautoritäten und in den sich entwickelnden Wissenschaften der Renaissance. Die jüdischen Manuskripte und ihre Malereien folgen diesen Neuerungen in Stil und Thematik – und dies gilt auch für die späten Handschriften aus Portugal, die nach der Vertreibung von der Iberischen Halbinsel (1492) unter italienischem Einfluß entstanden sind. Die Künstler der Handschriften waren zum größten Teil jüdisch, dies wird aus dem im Kolophon angegebenen hebräischen Namen deutlich, es kommen jedoch auch christliche Buchmaler vor. Zuweilen waren Schreiber auch als Maler tätig, wie z. B. Joel ben Schimon, der im frühen 15. Jh. im Rheinland geboren wurde und dann nach Italien ging. Manuskripte ohne Kolophon lassen in der Regel auch auf jüdische Maler schließen, da die Richtung der Bewegung innerhalb der Bildszenen gemäß der hebräischen Schrift von rechts nach links verläuft, ebenso die Anordnung mehrerer Bildszenen hintereinander, und da die jüdischen Maler im Gegensatz zu ihren christlichen Kollegen nicht die Buchstabeninitiale bevorzugten, sondern die Wortinitiale, um das hebräische Wort nicht auseinanderzureißen. Im späten 15. Jh. nimmt die Anzahl der bemalten Handschriften ab, da sie nun durch Drucke und andere Illustrationsformen ersetzt werden.

Buchillustration seit dem 16.Jahrhundert Nach der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg in der Mitte des 15. Jhs. wurden recht bald auch hebräische Druckereien eröffnet, so noch in Spanien und Portugal sowie in Italien, nach 1492 in Istanbul, da die Juden der Iberischen Halbinsel ihre Druckkunst dort-

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hin mitnahmen. Hebräische Druckereien nördlich der Alpen wurden erst im frühen 16. Jh. eingerichtet, so zunächst in Basel, Prag und später in Polen und Deutschland. Die frühen Inkunabeln des späten 15. Jhs. besitzen noch keine Illustrationen im Sinne von Bildszenen, d. h., man hat die Situation der Handschriften mit reicher Bildausstattung nicht einfach auf die der Drucke übertragen können, da nun graphische, reproduzierbare Verfahren entwickelt werden mußten. Diese Inkunabeln besitzen lediglich künstlerisch gestaltete Rahmen mit neutralem Dekor, da die Rahmen nicht textbezogen verwendet wurden, sondern zahlreiche Blätter eines Druckes und auch verschiedener Texte zierten. Diese Rahmen wurden auch unter den jüdischen und christlichen Druckern ausgetauscht. Daneben gab es verzierte Wortinitialen als Textüberschriften. Erst im frühen 16. Jh. entwickelte sich das Titelblatt. Nun begann man auch wieder, den Text mit Bildszenen zu illustrieren, zunächst als Holzschnitte, seit dem 17.Jh. dann als Kupferstiche und Radierungen. Von den Mittelmeerländern war es vor allem Italien, wo die berühmten Soncino-Drucke entstanden und sich zahlreiche hebräische Druckereien niederließen, so beispielsweise in Venedig und Rom. Im 17. Jh. war der hebräische Buchdruck in ganz Europa verbreitet und erlangte in Amsterdam seinen künstlerischen Höhepunkt, wo zahlreiche illustrierte Haggadot erschienen. Das 18. Jh. brachte in Deutschland und in den angrenzenden deutschsprachigen Ländern wie Österreich ein interessantes Phänomen hervor, nämlich das Wiederaufblühen der Handschrift mit Malerei, mit einem festen Bildzyklus, der in diesen Handschriften immer wiederkehrte. Handgeschrieben und bemalt waren auch einige Kalenderblätter und Segenssprüche sowie die Ketubbot, die Heiratsverträge. Während aus dem Mittelalter nur eine einzige bemalte Ketubba (aus Krems) erhalten ist, existiert seit dem 16. Jh., besonders aber seit dem 17. Jh. eine Fülle von reich bemalten Heiratsverträgen, von denen die schönsten aus Italien stammen. Schließlich seien die Estherrollen erwähnt. Sie enthalten den Text des Buches Esther, der in Kolumnen auf Pergamentrollen geschrieben ist. Diese Kolumnen werden durch Ranken, Säulen oder Standfiguren voneinander getrennt und am oberen und unteren Bildrand durch Bildszenen zur Esthergeschichte angereichert. Dieser Dekor kann gemalt sein oder auch gedruckt, indem man kolumnenweise den Pergamentstreifen einheitlich bedruckte. Zuweilen waren sie auch handkoloriert. Die Buchillustration und die Illustrierung von Einzelblättern und Estherrollen erreichte im 18. Jh. ihren Höhepunkt, während das 19. Jh. sich vorrangig auf die alten Vorlagen stützte und kaum Neues hinzuerfand. Diese Situation ändert sich um 1900 mit Ephraim Moses Lilien (1874–1925), der ab 1900 mehrere Bücher zu jüdischen Themen illustrierte, darunter eine dreibändige Bibelausgabe. Mit Lilien tritt eine Wiederbelebung des jüdischen Buchdrucks, des alten Rahmenwerkes, der Bibelillustration und der Symbolik ein. Nach ihm ist vor allem Hermann Struck (1876–1944) zu nennen, der neue technische Verfahren auf dem Gebiet der Radierung entwickelte und zahlreiche Darstellungen des osteuropäischen Judentums als Buchillustrationen hinterließ, ferner Jakob Steinhardt (1887–1968), der in den zwanziger Jahren eine illustrierte Haggada schuf und im übrigen durch seine Holzschnitte bekannt wurde, darüber hinaus Arthur Szyk (1894–1951), der eine illustrierte Haggada und das Estherbuch herausgab. In neuerer Zeit

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wurde die Buchillustration belebt durch die Haggada von Arik Brauer (geb. 1929) und die reichen Bibelillustrationen von Marc Chagall (1887–1985). So ist, angefangen mit E. M. Lilien, im 20.Jh. wieder ein Höhepunkt jüdischer Buchillustration durch jüdische Künstler zu beobachten.

Kunstgewerbe Jüdisches Kunstgewerbe wird in der Synagoge und im Privathaushalt verwendet. Das Kunstgewerbe in der Synagoge besteht neben Leuchtern vorrangig aus dem Toraschmuck. Dem Material nach sind es Textilien (Toravorhang und Toramantel) und Metallarbeiten (Tora-Krone, -Schild, -Zeiger und Rimmonim [Toraaufsätze]). Die für den Privathaushalt hergestellten Objekte lassen sich in zwei Gruppen unterteilen, in solche, die ständig benutzt werden, wie die Mesusot am Türpfosten, sowie alle Geräte zum Sabbat: Kiddusch- und Hawdala-Becher, Bessomimbüchsen, Challe-Platten und -Decken, und in solche, die innerhalb des Jahreszyklus nur zu bestimmten Festtagen verwendet werden. Hierzu gehören der Sederteller zu Pessach, Chanukkaleuchter, zu Purim Estherrollen und Purim-Teller sowie Etrog-Dosen zu Sukkot. Aus dem Mittelalter sind kunstgewerbliche Gegenstände kaum erhalten. Aus Miniaturen in der Buchmalerei wissen wir, daß Toravorhänge und -mäntel benutzt wurden, doch stammen die frühesten Textilien aus dem 16. Jh. Aus der Gruppe der Metallarbeiten existiert nur ein Paar silberner Rimmonim aus Sizilien (ca. 15. Jh.), und aus dem Bereich des Privathaushaltes kennen wir nur einige wenige mittelalterliche Chanukkaleuchter. Der Grund für den geringen Bestand an mittelalterlichen Stücken mag im Material liegen. Denn Textilien sind wegen ihrer Brüchigkeit nur begrenzt haltbar, und kostbares Metall wie der Toraschmuck aus Silber wurde häufig eingeschmolzen, vor allem im Zusammenhang mit Plünderungen der Synagogen, während der Wert der kleinen Chanukkaleuchter aus Bronze oder Messing eher gering war und sie auch wegen ihrer geringen Größe in Zeiten der Gefahr leichter zu transportieren waren. So setzt die Fülle jüdischen Kunstgewerbes in Renaissance und Barock ein. Im 17. und 18. Jh. erreicht es seinen Höhepunkt, sowohl statistisch betrachtet als auch zahlenmäßig, an reicher Symbolik und kostbarer Ausführung.

Der Toraschmuck Während rundgearbeitete Stücke wie Toramäntel, -kronen und Rimmonim zwar recht prachtvoll gestaltet, aber in der Regel nur in geringem Maße mit Symbolen verknüpft wurden, entwickelt sich eine reiche Symbolik vor allem auf den zweidimensional gearbeiteten Stücken wie Toravorhängen und Toraschildern. Im aschkenasischen Raum kommt im 16.Jh. das Motiv der zwei Säulen auf, abgeleitet von den beiden Säulen Jachin und Boas vor der Vorhalle des salomonischen Tempels, die nun die Fläche der Objekte seitlich begrenzten. Im 17. und 18. Jh. erreicht dieser Typus der Säulenvorhänge seinen Höhepunkt und wird oft kombiniert mit einem Löwenpaar als Wächter der Tora, symbolisiert durch die

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Krone der Tora und/oder die Gesetzestafeln. Aufgestickte Inschriften nennen den Stifter, das Jahr und zuweilen auch die Stickerin. Im 18.Jh. wird die Symbolik noch durch die Darstellung weiterer Tempelgeräte ergänzt, die einen Querbehang (Kapporet) zieren. Die Motive der zwei Säulen und des Löwenpaares mit Torasymbolik bestimmten auch die aschkenasischen Toraschilder, meist aus Silber, die in Polen noch durch zwei Standfiguren in Relief ergänzt wurden: Moses mit den Gesetzestafeln und Aaron als Hohepriester, zwei Gestalten, die auch auf Titelblättern besonders von Haggadot üblich waren. Mit ihnen wird der Bezug zur Gesetzgebung, zur Tora und ebenso zum ehemaligen Tempel und seinem Kult hergestellt. Die Jad, der Torazeiger, ist wegen ihrer langgestreckten Form nur allgemein verziert und muß aus formalen Gründen auf Symbole verzichten. Die Form der Torakronen variiert und paßt sich der jeweiligen landesüblichen Kronenform an. Nur in Italien existieren Sonderformen. So hat sich beispielsweise hier der Typus des Säulenvorhanges nicht durchgesetzt. Statt dessen kommen Vorhänge mit großen Landschaftsmotiven auf; darunter ist die Verbindung der Stadt Jerusalem (mit dem Tempel) und einem Gebirge dahinter (Berg Sinai und Gesetzgebung) besonders beliebt. So findet sich auch hier die Verbindung von Tora bzw. Gesetzgebung mit dem Tempel und seinem Kult, wenn auch mit anderen künstlerischen Mitteln als im aschkenasischen Raum. Auch die italienischen Torakronen folgen einem anderen Typus. Im Gegensatz zu den aschkenasischen, die in der Regel oben geschlossen und relativ hoch gearbeitet sind, sind die italienischen geöffnet und wie ein breiter Reif oder ein Diadem gebildet und besitzen im Innern einen Metallsteg mit zwei Löchern, durch die man zusätzlich die beiden Rimmonim auf die Holzstäbe der Torarolle aufsetzen kann. Das heißt, in Italien werden Krone und sehr hoch gearbeitete Rimmonim recht häufig miteinander verbunden, während man sich im aschkenasischen Raum für die Krone oder die Rimmonim entschied. Auch hier sind die Rimmonim recht hoch gestreckt. In Polen ist ihnen noch ein Zwischenglied mit aufsteigenden Löwen eingefügt, die den oberen Kronenteil tragen. Einige sehr kostbare Stücke sind teilvergoldet und mit Halbedelsteinen oder Edelsteinen besetzt.

Die Objekte des Privathaushaltes Die Mesusot sind häufig aus Silber gearbeitet und besitzen wegen ihrer geringen Größe nur wenig Dekor. Die Kiddusch- und Hawdala-Becher entstanden in unterschiedlichen Typen und Formen, als schlichte Becher oder als Pokale mit Fuß, und besitzen oft eingravierte hebräische Inschriften, die ihrem Verwendungszweck entsprechen. Becher aus geschliffenem Glas stammen vorrangig aus Böhmen. Bessomimbüchsen haben im 17. und 18. Jh. des öfteren die Form von kleinen Türmchen angenommen. Im 19. Jh. erweitert sich dieses Spektrum durch viele andere formale Lösungen, wobei die polnischen Stücke oft als kostbare Tafelaufsätze in der Form silberner Pflanzen- und Blumengebinde mit Vögeln gearbeitet sind. Die im Privathaushalt verwendeten Estherrollen besitzen einen künstlerisch gestalteten Text und ein kunstvoll verziertes Gehäuse aus Holz oder auch aus Silber.

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Besonders wichtig waren die Sederteller, die in Italien aus farbiger Fayence, im aschkenasischen Raum aus Silber oder Zinn gefertigt wurden. Sie besitzen oft die Bezeichnungen für die rituellen Speisen zu Pessach oder Illustrationen, die sich auf dieses Fest beziehen. Im 19. Jh. kommen silberne Tafelaufsätze mit den Fächern für die drei Mazzot und Schüsselchen auf der oberen Platte für die jeweiligen rituellen Speisen auf. Zu Pessach gibt es auch einen eigenen Becher, den sogenannten Elias-Becher, gemäß der Vorstellung, daß der Prophet Elias als Vorbote des Messias an diesem Abend kommen werde. Im Vergleich zu Pessach sind die Objekte zu Purim (Teller und Rasseln) und zu Sukkot (Etrog-Dosen) weniger aufwendig. Anders steht es mit den Chanukkaleuchtern, die sich in zwei Formen entwickelt haben, dem Banktypus mit acht übereinander angeordneten Lichtquellen und verzierter Rückplatte und dem Standleuchter, der formal von der Menora abgeleitet ist. Der Typus der Menora, des siebenarmigen Leuchters mit jeweils drei seitlichen Armen und einer mittleren Lichtquelle wird erweitert und erhält nun jeweils vier Leuchterarme, während die Mitte für den Schamasch („Diener“) vorbehalten ist, mit dem man die anderen acht Lichter anzündet. Die künstlerische Gestaltung der Chanukkaleuchter ist sehr unterschiedlich, sowohl bezüglich des Materials als auch hinsichtlich der künstlerischen Ausstattung. Dabei sind vor allem die Rückplatten des Banktypus reich verziert und nehmen auch Symbole auf sowie kleine Figürchen aus der Makkabäergeschichte. Das Formengut des traditionellen Kunstgewerbes hat sich bis ins frühe 20. Jh. hinein erhalten. Große Neuerungen treten erst nach dem 2. Weltkrieg auf, so in den USA und in Israel. Dort entsteht ein modernes Kunstgewerbe und vor allem ein reicher Toraschmuck, der formal völlig neue Lösungen anbietet, inhaltlich aber in seiner Symbolik an die alten Traditionen anknüpft.

Grabkunst Seit dem Mittelalter ist im aschkenasischen Raum der senkrecht aufgestellte Grabstein üblich. Die frühesten erhaltenen Stücke stammen aus dem 11.Jh. (z.B. in Worms), sind undekoriert und besitzen eine hebräische Inschrift mit Angaben zur Person des Verstorbenen. Die frühen Grabsteine sind sehr schlicht und schließen oben entweder horizontal oder mit einem Bogen ab. Da der hebräische Text meist vertieft ist, besitzen sie einen Rahmen, der in der Gotik zuweilen die Form eines Dreipasses übernahm. Dekor im Sinne von neutralen Ranken oder jüdischen Symbolen tritt erst im 16. Jh. auf und ist seit dem 17. Jh. üblich. In der Barock-Zeit werden die Steine auch von seitlichen, vorstehenden Säulen eingefasst. In Prag hat sich im17. Jh. eine Sonderform entwickelt: die Tumba, ein hausähnlicher Grabaufbau mit Satteldach und hohen senkrechten Steinen an den Schmalseiten. Aus Bologna sind hohe, monumentale Steine aus weißem Marmor mit Renaissance-Dekorationen aus dem 16. Jh. erhalten, während üblicherweise die Grabsteine aus den lokalen Steinsorten gearbeitet sind, meist aus Sandstein. Im 17. und 18.Jh. erreicht die Symbolik auf den Steinen – vergleichbar der Situation im

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Kunstgewerbe – ihren Höhepunkt. Es gibt jüdisch-religiöse Symbole wie die Priesterhände für einen Kohen („Priester“) oder die Levitenkanne für einen Levi (Tempeldiener), aber auch allgemeine Todessymbole wie die Sanduhr und solche, die sich auf die Person des Toten beziehen, wie z. B. Symbole für seinen Beruf oder seinen Namen, so eine Maus für Maisel, ein Fisch für Karpeles (Karpfen), ein Hirsch für den Familiennamen Hirsch, ein Löwe für die Vornamen Jehuda oder Ariel oder entsprechende Familiennamen. Wie im Toraschmuck so nimmt auch hier das Löwenpaar die Funktion der Wächter der Tora ein. Die osteuropäischen Steine aus Polen, Rumänien oder der Ukraine sind besonders reich verziert; ihre Oberfläche ähnelt einer teppichartigen Musterung. Die Motivik ist hier reicher als in Mitteleuropa. Beliebt sind der geöffnete Toraschrein oder Bücher für einen Gelehrten, Leuchter für eine Frau (da sie am Sabbat die Lichter anzündet) oder der Pelikan als Zeichen für die fürsorgliche Mutter. Im Verlauf des 19. Jh. ist eine Öffnung zur christlichen Umwelt zu beobachten. Die Inschriften werden zweisprachig (hebräisch und Landessprache); die Formen gleichen sich denen auf christlichen Friedhöfen an, und nicht selten wird der Grabstein durch dreidimensionale Objekte ersetzt, zunächst durch den Obelisken oder den abgeschnittenen Baum, später dann durch monumentalere Grabaufbauten oder gar Grabhäuser, eine Tendenz, die bis ins 20. Jh. anhält. Dagegen wird in dieser Zeit die Verwendung jüdischer Symbole seltener. Moderne Grabsteine nach 1945 sind in der Regel sehr schlicht. Eine gewisse Ausnahmerolle spielt Italien, da hier aschkenasische Grabsteine mit sefardischen Grabanlagen zusammentreffen. Die Sefardim, die besonders eindrucksvolle Friedhöfe in Puderkeck (nahe Amsterdam), Hamburg-Altona und auf dem Lido bei Venedig hinterlassen haben, entwickelten eine von der aschkenasischen abweichende Grabkultur. Denn sie verwenden seit dem 17. Jh. recht monumentale Grabaufbauten und die liegende Grabplatte. Schon im 17.Jh. sind die Inschriften zweisprachig (spanisch/portugiesisch und hebräisch) – für den aschkenasischen Raum zu dieser Zeit ganz undenkbar –, und die Grabplatten besitzen figürliche Szenen zu biblischen Themen als Reliefs, meist in bezug auf den (biblischen) Namen des Verstorbenen und in weißem Marmor gearbeitet. Solche Reliefs – in Aschkenas völlig verpönt – waren sehr beliebt und erklären sich aus der Tatsache, daß die Sefardim meist als Marranen, also als zwangsgetaufte Juden ankamen, die als Christen gelebt hatten und somit von der christlichen Welt und ihrem Kunstverständnis beeinflußt waren. Im 19.Jh. ist eine Tendenz zu beobachten, die der im aschkenasischen Raum völlig zuwiderläuft. Denn anstelle einer Anpassung an die christliche Umwelt tritt hier das Gegenteil auf. Je länger sich die Sefardim von ihrer zeitweise christlichen Vergangenheit entfernen, desto stärker ist das Verlangen, christliche Einflüsse zu überwinden und eine jüdische Grabkunst ohne figürliche Szenen zu schaffen. Denn das Bilderverbot betraf zwar nicht die Buchmalerei und die spätere Buchillustration, wurde aber für den Synagogenraum und die Grabkunst strikter ausgelegt. So werden die sefardischen Grabplatten seit dem frühen 19. Jh. sehr schlicht. Bezüglich des Steinmaterials hat man nun schwarzen Marmor oder Granit bevorzugt, eine Tendenz, die sich auch in der aschkenasischen Grabkunst wiederfin-

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det, da der Sandstein im 19. und 20. Jh. auch durch andere aufwendigere Materialien wie Marmor abgelöst wurde.

Die jüdischen Maler und Graphiker des 19. und 20.Jahrhunderts Während bis zur Barock-Zeit der jüdische Künstler mit seinen Illustrationen hebräischer Texte eine ausschließlich jüdisch-religiöse Kunst für ein jüdisches Publikum schuf, tritt im 17.Jh. in Amsterdam – wenn auch zunächst noch recht zaghaft – das Rabbiner-Portrait auf. Im 18.Jh. wird diese Portrait-Kunst vor allem unter sefardischen Malern in London beliebt, im späteren 18. Jh. dann in Berlin, wo Portraits als Radierungen entstanden. Es sind Portraits von Rabbinern und anderen Gelehrten der Berliner Gemeinde, die vor dem Hintergrund der Haskala und der beginnenden Emanzipation entstanden, die allmählich auch zur Öffnung der Kunstakademien für Juden führte, und damit zu einem neuen Berufsbild. Es tritt nun der jüdische Künstler als freischaffender, für ein allgemeines Publikum arbeitender Künstler auf. Etwa um die Mitte des 19. Jhs. ist diese Öffnung nach außen vollzogen. In mehreren europäischen Ländern arbeiten jüdische Maler, die nun auch das jüdische Alltagsleben einer breiten Öffentlichkeit vorstellen. In Deutschland ist es Moritz Daniel Oppenheim (1799–1882), in Hanau geboren und später in Frankfurt a.M. wohnhaft, der mit seinem 1865 herausgegebenen Album Bilder aus dem altjüdischen Familienleben bekannt wurde. Er schafft Gemälde und Stiche zu den jüdischen Feiertagen, wie sie in der Synagoge und im privaten Bereich begangen werden. In Skandinavien ist es Jeskel Salomon, der 1821 in Dänemark geboren wurde und später in Stockholm arbeitete und sich vor allem Genrebildern zum jüdischen Leben widmete. In England bearbeitete Salomon Alexander Hart (1806–1897) jüdische Themen. In Polen trat Aleksander Lesser (1814–1884) als erster jüdischer Maler auf, der allerdings nur als Historienmaler bekannt wurde und noch keine Genre-Bilder zu jüdischen Themen schuf. Erst Maurycy Gottlieb (1856–1879) widmete sich diesem Gebiet. Er gilt als der Wegbereiter des jüdischen Genrebildes in Polen und hat trotz seines kurzen Lebens ein beachtliches Œuvre geschaffen, das die nachfolgenden jüdisch-polnischen Künstler in ihrer Themenwahl beeinflußte, so z.B. Szynmon und Jozef Buchbinder, Zygmunt Nadel oder Maurycy Trebacz. Während diese erste Generation osteuropäischer Künstler nach Auslandsaufenthalten in ihr jeweiliges Heimatland zurückkehrte, ist etwa um 1900 eine neue Tendenz zu beobachten. Die jüdischen Künstler begeben sich in die großen westlichen Kunstzentren mit Akademien, so nach Paris, München oder Wien, und bleiben anschließend in Mittel- oder Westeuropa, wohl um den zahlreichen Pogromen in Polen und Rußland zu entgehen und weil sie sich hier am ehesten als freischaffende Künstler behaupten konnten. Zu dieser Generation gehören u. a. der in Rußland geborene Jehudo Epstein (1870– 1946), der sich in Wien niederließ, oder Samuel Hirszenberg, der 1865 in Łódz geboren

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wurde und sich später als Lehrer für Malerei an der 1906 gegründeten Bezalel-Schule in Jerusalem betätigte. Hirszenberg (1865–1907), Leonid Pasternak (1862–1945) und Wilhelm Wachtel (1872– 1942) gehörten zu den Künstlern, die die Pogrome in Osteuropa in ihren Bildern thematisierten, wie beispielsweise auch Ephraim Moses Lilien, der sich in erster Linie als Buchillustrator betätigte. Dagegen widmeten sich Arthur Markowitz (1872–1934) und Lunar Krestin (1868–1938) jüdischen Milieuschilderungen. Isidor Kaufmann (1853–1921), in Arad geboren, arbeitete vorrangig in Wien und hinterließ ein reiches Werk zu jüdischen Themen bzw. zum osteuropäischen Milieu, darunter zahlreiche eindrucksvolle Portraits. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs bildete sich in Paris die sogenannte Ecole de Paris, eine Gruppe jüdischer Künstler, die mit Ausnahme von Amedeo Modigliani aus Livorno alle aus Osteuropa kamen. Es waren Jules Pascin, Moise Kisling, Eugène Zak, Pinchas Krémegne, Chaim Soutine und einige andere. Zeitweise gehörte auch Marc Chagall (1887–1985) dazu. Er war der einzige dieser Gruppe, der jüdische Themen bearbeitete, während sich alle übrigen neutralen Themen zuwandten wie schon zuvor auch Camille Pissarro (1830–1903). Während sich die erste Generation wie Oppenheim, Gottlieb usw. zum Ziel gesetzt hatte, einem breiten Publikum jüdisch-religiöse Bräuche, Feiertage, Einblicke in Synagogen zu vermitteln, war die Pariser Gruppe so assimiliert, daß ihre zumindest offizielle Zugehörigkeit zum Judentum sich in ihren Werken nicht niederschlug, so daß hier die berechtigte Frage nach den Grenzen der jüdischen Kunst zu stellen ist. Solche Tendenzen gab es auch in Deutschland. Max Liebermann (1847–1935) schuf zwar ein gewaltiges und viel beachtetes Œuvre, doch jüdische Themen behandelte er fast nicht, obwohl er mit Josef Israels (1824–1911) befreundet war, der in Holland das jüdische Genrebild populär machte und nachfolgenden holländischen Künstlern wie B. Laguna, E. Frankfort oder J. Oevermann den Weg ebnete. Neben Liebermann ist auch Lesser Ury (1861–1931) zu nennen, der ebenfalls in Berlin arbeitete und mit Ausnahme einiger weniger Historienbilder biblischen Inhalts vorrangig Gemälde zum Berliner Milieu schuf. So ist in der Zeit etwa ab 1900 bezüglich der behandelten Sujets eine Teilung zu beobachten. Während die einen sich völlig assimilieren, jüdische Themen aufgeben und in den verschiedenen Dunstströmungen der europäischen Länder aufgehen, nehmen andere ganz bewußt jüdische Themen auf. Zu ihnen gehört der schon im Zusammenhang mit der Buchillustration genannte Ephraim Moses Lilien (1874–1925), der – vom Zionismus beeindruckt – eine Art jüdische nationale Kunst schaffen wollte, wie auch Hermann Struck, der vor allem als Buchillustrator osteuropäischer Themen auftrat. Jakob Steinhardt (1887–1968) gehörte zu der Künstlergruppe, die – wie auch Hermann Struck – Nazi-Deutschland verließ und sich im damaligen Palästina ansiedelte. Steinhardts graphisches Werk setzt schon vor dem Ersten Weltkrieg ein. Neben neutralen Themen schuf er vor allem Bibelillustrationen, die er später als Holzschnitte faßte und die sein Spätwerk in Israel bestimmten. Daneben existieren von ihm Milieu-Schilderungen der Juden in Jerusalem.

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Auch Jankel Adler (1895–1949) mußte Deutschland verlassen und rettete sich nach Frankreich und England, während Felix Nussbaum (1904–1944) nach einer Odyssee durch mehrere europäische Länder schließlich nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht wurde. Nussbaum schuf eindrucksvolle Bilder zu Verfolgung und Lagerleben. Marc Chagall, der zeitweise der 1917 in Rußland gegründeten Gruppe der sogenannten russischen Avantgarde angehörte, die wie Issachar Ryback, Boris Aronson, Nathan Altmann und El Lissitzky auf die Wurzeln russisch-jüdischer Volkskunst zurückgingen, schuf ein reiches Œuvre, dessen Spätwerk von biblischen Themen in Gemäldezyklen, in zahlreichen Graphiken und Glasfenstern bestimmt war. Arik Brauer, geboren 1929 in Wien, gehört zu der Wiener Gruppe des phantastischen Realismus und ist einer der bedeutendsten jüdischen Künstler der Nachkriegszeit. Von seinen Arbeiten sind seine illustrierte Haggada, sein Zyklus zur Vernichtung des jüdischen Volkes mit Themen von der Antike bis ins 20. Jh., ferner seine Illustrationen chassidischer Erzählungen sowie seine Gemälde biblischen Inhalts besonders hervorzuheben.

Hannelore Künzl (1940–2000)

Jüdische Architektur Das jüdische Gemeindezentrum mit Synagoge, Mikwe, Verwaltungs-, Schul- und Aufenthaltsräumen in einem einzigen Bau, so wie es heute z. B. in Frankfurt a. M. oder in Mannheim existiert, ist eine neuzeitliche Erscheinungsform, die sich, von einigen früheren Ausnahmen abgesehen, vorrangig seit dem 19.Jh. herausbildete. Im Mittelalter besaß man ebenfalls alle diese Einrichtungen, doch waren sie in verschiedenen Häusern untergebracht, die im Zentrum des Judenviertels standen. So hat z. B. die Ausgrabung in Köln eine Synagoge, eine Mikwe, ein Badehaus (zur allgemeinen Körperreinigung), eine Bäckerei und eine Herberge hervorgebracht. Während sich Badestuben, Herbergen und Bäckereien nicht von vergleichbaren Institutionen der christlichen Umwelt unterschieden, so folgen doch zwei Bauten einer eigenen jüdischen Tradition, nämlich die Mikwe und die Synagoge, die wohl auch als Versammlungs- oder Schulraum genutzt werden konnte, wenn weitere Räumlichkeiten nicht zur Verfügung standen.

Die Synagogen Das Mittelalter Wie in der Buchmalerei so zeigt sich auch im Synagogenbau ein Unterschied zwischen der aschkenasischen Tradition in Mittel- und Westeuropa und der sefardischen auf der Iberischen Halbinsel. Spanische Synagogen aus der Welt vor ca. 1200 sind nicht mehr erhalten, da die im 11. und 12. Jh. von Nordafrika anstürmenden Almohaden und Almohaviden die frühen Synagogen, vor allem in Andalusien, zerstörten. Durch die Vertreibung der Juden aus Spanien existieren auch von den späteren Synagogen nur noch sehr wenige, da sie nach 1492 zerstört oder umgestaltet wurden. Immerhin aber reicht ihre Zahl aus, zumindest zwei verschiedene Grundtypen zu erkennen: das mehrschiffige Langhaus und der Saalbau. Der frühe um 1200 in Toledo errichtete Bau besitzt fünf Schiffe, die Synagogen in Segovia, Sevilla oder Cáceres dagegen sind dreischiffig. Sie stammen aus dem 13. Jh., während die beiden Synagogen in Córdoba (1315) und Toledo (um 1360) als einschiffige Saalbauten mit Frauenräumen über dem südlichen Eingangstrakt angelegt sind. Die Struktur der mehrschiffigen Bauten geht auf die der christlichen Basilika zurück, doch sind die Hufeisenbögen der spanisch-islamischen Kunst entnommen. Dies betrifft auch die Stukkaturen der Mudéjar-Kunst in den Bauten des 14. Jhs. mit geometrischen und vegetabilischen Musterungen, mit Textumrahmungen der Ornamentfelder oder horizontalen Textstreifen, wobei in den Synagogen der arabische Text durch den

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hebräischen ersetzt ist. Die enge Verbindung zur islamischen Kunst findet sich auch in Städten, die schon recht früh von den Christen zurückerobert wurden, so in Toledo (1085). Doch die Ornamentik in beiden Synagogen (um 1200 und 1360) ist islamisch beeinflußt. Aus Portugal ist bisher nur eine Synagoge bekannt. Sie steht in Tomar, stammt wahrscheinlich aus dem 15.Jh. und besitzt vier zu einem Quadrat in den Innenraum eingestellte Säulen, die wohl eine zentrierte Bima umgaben. In Spanien dagegen gab es zwei verschiedene Bima-Stellungen, in der Raummitte und an der Westwand. Aus Italien sind mittelalterliche Bauten nicht erhalten, da die Ereignisse im 16.Jh. – Ausweisung aus dem Königreich Neapel und den Städten des Vatikanstaates mit Ausnahme von Rom und Ancona, Ghetto-Bildung, die zur Aufgabe aller Bauten außerhalb des neuen Wohnbezirkes führte – mit Umsiedlung von Süden nach Norden und Umstrukturierung der neuen Wohnbereiche eine Pflege der älteren Bauten nicht mehr ermöglichten. Wegen der Ausweisung der Juden aus England im späten 13. Jh. und aus dem französischen Königreich im späten 14. Jh. sind auch aus diesen Ländern keine mittelalterlichen Synagogen erhalten. Nur in Rouen wurde ein stützenloser Saalbau entdeckt, der wegen seiner hebräischen Graffiti als Synagoge identifiziert wird, was allerdings umstritten ist. Im Gegensatz dazu präsentiert sich die Situation in Mittel- und Osteuropa wesentlich besser. Dort entstanden zwei Bautypen: der Saalbau und der zweischiffige Raum. Diese Typenbildung ist nicht regional bedingt oder auf eine historische Entwicklung zurückzuführen, denn beide Typen existieren in allen Regionen und zu allen Zeiten nebeneinander. Der schlichtere Saalbau mit flacher Decke oder Gewölbe ist aus Rufach (Elsaß), Miltenberg, Erfurt, Marburg, Speyer, Bamberg, Eger und Sopron (Ungarn) bekannt, ferner aus Maribor (Slowenien) und Posen (heute Poznan/Polen). Der zweischiffige Bau ist aufwendiger und in der Regel auch größer. Zu ihm gehört die recht frühe Synagoge in Worms (1174/75) mit zwei Säulen in der Mittelachse. Wie im aschkenasischen Raum bis zum frühen 19. Jh. üblich, stand die Bima grundsätzlich in der Raummitte zwischen den beiden Säulen, ein Konzept, das sich für die Synagoge gut eignete, da die zentrale Bedeutung der Toravorlesung innerhalb des Gottesdienstes mit dem Zentrum des Raumes verbunden wurde, um das sich die Sitzgelegenheiten herumgruppierten, während Kirchenräume auf den Altar hin konzipiert sind und die beiden Säulen in der Mittelachse die Sicht behindert hätten. Daher wurden nur wenige Kirchen nach diesem Schema errichtet, das aber in der Profanarchitektur eine große Rolle spielte. Auch der Außenbau der Synagoge orientiert sich am Profanbau, wie die Altneuschul in Prag eindrucksvoll zeigt (Synagogen als Kirchenimitationen treten erst in der 2. Hälfte des 19.Jhs. auf). Nach Worms wurde das System des zweischiffigen Synagogenraumes in Regensburg (13. Jh.) übernommen und dann in Prag (um 1300). Waren die sechs Gewölbejoche in Worms noch als romanische Kreuzgratgewölbe gebildet, so zeigen die späteren Bauten ein gotisches Rippengewölbe. Die Anbauten wurden erst später ergänzt. In Worms wurde 1212/13 an die Nordwand ein ebenerdiger Frauenraum angebaut. In Prag ist die südliche Vorhalle noch mittelalterlich, während die Frauenräume im Westen und Norden wesent-

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lich später, im 17. und 18. Jh., entstanden. Auch in den zweischiffigen Synagogen in Köln und Wien waren die Frauen, zumindest seit dem 13. Jh., in eigenen Anbauten untergebracht. Die letzte Synagoge dieses zweischiffigen Typus, der in nachmittelalterlicher Zeit keine Verwendung mehr fand, steht in Kazimierz (heute Stadtteil von Krakau). Nach einem Prager Pogrom am Ende des 14. Jhs. wanderten viele Juden nach Kazimierz aus, wo sie dann im Verlauf des 15. Jhs. diese Synagoge errichteten, nach dem Schema, das sie aus Prag kannten. Sämtliche mittelalterliche Synagogen beider Typen besaßen eine zentrale Bima-Stellung und einen Toraschrein an der Ostwand, der zuweilen mit einer nach außen vortretenden Nische verbunden war. Ebenfalls typenunabhängig ist das System der ebenerdigen Frauenräume, Emporen traten hier erst später auf. Das 16. bis 18.Jahrhundert Im 16.Jh. verlagern sich die großen jüdischen Zentren von Mitteleuropa nach Osten und Süden. Dies ist bedingt durch die Ausweisung der Juden aus vielen deutschen Städten am Ende des Mittelalters. Dies führte zur Abwanderung in kleine Landgemeinden, wo sich Juden ansiedeln durften und wo es erst im 18. Jh. zur Errichtung kleiner Landsynagogen kam, und zur Auswanderung in andere Länder, vor allem im Osten, wo sich die Gemeinden durch den Zuzug der deutschen Juden stark vergrößerten und im 16. Jh. eine große kulturelle Blütezeit erlebten. Dies geschah in Prag und in Polen. In Prag entstand um die Mitte des 16.Jhs. die Pinkas-Synagoge, die nach 1600 umgestaltet wurde und im Süden eine Frauenempore erhielt. Der einschiffige Bau verbindet noch spätgotische Elemente mit den neueren der Renaissance. Die Hohe Synagoge, 1568 zusammen mit dem jüdischen Rathaus in Prag errichtet, war ebenfalls ein Saalbau, der später einen Frauenraum oberhalb des Südtraktes erhielt. Die Maisel-Synagoge aus der Zeit um 1600 wurde nach ihrer Zerstörung während des Stadtbrandes 1689 wiedererrichtet und erhielt Emporen an drei Seiten. Die Fassade wurde im späten 19. Jh. erneuert. Ebenfalls aus dieser Periode stammt die Klaus-Synagoge am Friedhof. Sie stammt aus dem 17.Jh. und ist ebenfalls als Saalbau errichtet, mit einer Frauenempore oberhalb des nördlichen Anbaues. Auffallend in diesen Synagogen sind die recht hohen, barocken Aronot-Kodesch (ToraSchreine), auch in den beiden Bauten des 18. Jhs., der sogenannten Großenhof-Synagoge und der Zigeuner-Synagoge, die um 1900 abgerissen wurde. Auch in Polen entstanden zunächst Saalbauten, oft mit einer Frauenempore im Westen. Hierzu gehört die sogenannte Remo-Synagoge in Kazimierz (Krakau), die früheste Renaissance-Synagoge in Polen, die sogenannte Hohe Synagoge, ebenfalls in Kazimierz, und die Synagoge des Isaak Nachmanowitz in Lwów (Lemberg) von 1582. Ähnlich wie in Prag hat sich auch in Kazimierz ein bedeutendes jüdisches Zentrum entwickelt, das im 16. und 17. Jh. noch drei weitere Synagogenbauten erhielt: die Kuppa- und die Popper-Synagoge, ferner die Isaak-Synagoge von 1640. Diese Bauten besaßen in der Regel im Westen Frauenemporen oberhalb des Eingangstraktes. Andere hatten – wie im Mittelalter – ebenerdige Anbauten für die Frauen im Nor-

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den und Süden, wie z.B. die Synagoge in Zamosc und die in Szczebreszyn, wo neben diesen seitlichen Anbauten noch Frauenemporen im Westen existierten. Im 16. Jh. wurde ein neuer Typus entwickelt, nämlich der Raum mit vier Mittelstützen, die die zentrale Bima auf einer Plattform umstehen. Der Bima-Aufbau war direkt mit dem Gewölbe verbunden und daher im Raum unverrückbar. Der früheste Bau dieses Schemas entstand 1567 in Lublin, dem viele andere seit der 2. Hälfte des 16. Jhs. folgen sollten. Der berühmteste war wohl die Synagoge in der Vorstadt von Lwów von 1632. Recht häufig wurde dieses Innenraum-Schema mit einer den Außenbau betreffenden Sonderform verbunden. Denn es entstanden die sogenannten Festungsbauten, die aus einem Schutzbedürfnis der jüdischen Bevölkerung gegenüber den Kosakenhorden errichtet wurden, die in der 1. Hälfte des 17. Jhs. die Städte und Dörfer überfielen. Diese Festungssynagogen wurden sehr massiv gebaut, besaßen eine oben aufruhende Attika, von der nicht selten zur Verteidigung heruntergeschossen wurde, und zuweilen auch einen Aussichtsturm. Die bekanntesten Festungssynagogen errichtete man in Zólkiew, Lutzk und Pinsk sowie u.a. in Tarnopol. Neben den Steinbauten in den Städten entstanden in den polnischen Dörfern oder Landstädtchen Holzsynagogen – Holz war preiswert und recht üblich –, die im Innern völlig bemalt waren. Der schlichtere Typus besaß im Westen eine Vorhalle mit einer Frauenempore im Obergeschoss, der reichere ebenerdige Anbauten für die Frauen im Norden und Süden und zuweilen noch zusätzlich eine Frauenempore im Westen. Die Ecken dieser breit angelegten Bauten waren oft mit Pavillons verstärkt. Da aus der Zeit vor dem großen Kosakenaufstand 1648, in dem viele Holzbauten zerstört wurden, beide Typen bekannt sind, müssen sie sich zuvor gebildet haben, evtl. schon im späteren 16. Jh. Für die Malereien in den Holzsynagogen sind zwei Bauten recht gut dokumentiert. Es sind die Synagogen in Chodorow (17. Jh.) und Gwozdiecz (frühes 18. Jh.). Die Malereien waren reich an Schriftfeldern mit hebräischen Texten, an Rankenwerk mit eingestreuten Blumen und Tieren und an Symbolik, in denen sich vor allem eine Messias-Hoffnung ausdrückt. Der aus Polen stammende jüdische Maler Elieser Sussmann hat diesen Typus mit nach Süddeutschland gebracht. Hier entstanden in der ersten Hälfte des 18. Jhs. vier bemalte Holzsynagogen nach polnischem Schema, was an sich in dieser Region unüblich war. Denn nach der Niederlassung der Juden in Landgemeinden seit dem 16. Jh. hatten sich hier erst im 18.Jh. kleine Landsynagogen entwickelt, da die Ärmlichkeit der Verhältnisse im 16. und 17. Jh. nur einfache Beträume zuließ. Diese einfachen Landsynagogen besaßen im Westen den Eingangstrakt mit einer Frauenempore im Obergeschoß. Sie waren sehr schlicht, besaßen aber in ihrem Innern schöne aus Holz geschnitzte Aronot-Kodesch und Bimot. Die Synagoge in Ansbach, 1744–46 von Leopold Retti errichtet, nimmt eine Zwischenstellung zwischen den Landsynagogen und den größeren Stadtsynagogen ein, folgt aber dem gleichen Schema mit westlicher Empore und besitzt ein barockes holzgeschnitztes Inventar. Im Verlauf des 18. Jhs. entwickelt sich die deutsche Großstadt-Synagoge erst zögerlich. Neubauten entstehen in Frankfurt a.M., Berlin und Halberstadt. Der Bau in Frankfurt von 1711 zeigt noch kein einheitliches Bauschema und wirkt mit den mehrgeschossigen

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Frauenräumen im Norden und der Wochentagssynagoge im Süden noch recht altertümlich. Dagegen ist die Synagoge in Berlin, 1714 von Michael Kommeter errichtet, schon als repräsentativer Bau im Stil eines barocken Stadtpalais angelegt, aber auch hier mit einer Frauenempore im Westen. Diese wenigen Großstadtbauten des 18. Jhs. blieben Einzelerscheinungen; denn die große Entwicklungsphase der deutschen Großstadtsynagoge setzt erst um 1800 ein. In Italien entstanden durch die schon angeführten historischen Ereignisse zahlreiche Neubauten in Städten Oberitaliens und der Toskana, ferner in Rom und Ancona. Mit Ausnahme der Synagoge zu Livorno waren alle Saalbauten, in der Regel im Obergeschoß eines mehrstöckigen Hauses, als langgestreckte Räume konzipiert. Sie folgen einem Zweipolschema mit dem Toraschrein an der östlichen und der Bima an der westlichen Schmalseite. Nur in Padua sind diese Objekte in der Mittelachse der Langseiten untergebracht. Das Ghetto in größeren Städten besaß mehrere Synagogen, gemäß den unterschiedlichen Riten der Gemeinden. Die von Frankreich und Deutschland eingewanderten Aschkenasim setzten ihre Bima auch weiterhin in die Raummitte (z. B. in Carmagnola, Casale Monferrato und Siena), während die eingewanderten Sefardim, die Levantiner und die italienischen Juden den Zweipoltypus verwendeten, aber getrennte Synagogen besaßen. So kam es, daß im Verlauf des 16. Jhs. in Rom und Venedig jeweils fünf Synagogen entstanden, in Padua drei, in anderen Städten wie Pesaro oder Ancona jeweils zwei für die italienischen Juden und die Sefardim. Kleinere Orte im Veneto wie Conegliano Veneto oder Vittorio Veneto besaßen nur eine Synagoge, da sich die Zuwanderer hier nicht niederließen. Besonders prachtvoll und inzwischen gut restauriert sind die Synagogen Venedigs, die im 16. Jh. entstanden und von denen die meisten in der Barock-Zeit umgestaltet wurden, z. T. mit einer nach außen vortretenden Bima-Nische und oval angelegten Frauenemporen. In den meisten italienischen Synagogen waren jedoch die Frauen über den Eingangstrakten untergebracht. In Synagogen des 18. Jhs. waren Frauenemporen oftmals in den Raum eingehängt und verliefen an drei Seiten entlang. Die Synagoge in Livorno aus dem späten 18. Jh. folgt einem ganz anderen Typus, denn der große, im Zweiten Weltkrieg zerstörte Bau war fast quadratisch und besaß Säulenstellungen an drei Seiten, die doppelgeschossige Emporen trugen. Die Synagoge gehörte zu einer sefardischen Gemeinde. Die Bima war hier nicht wie in anderen sefardischen Synagogen Italiens direkt mit der Westwand verbunden, sondern wegen der Säulenreihe nur nach Westen verschoben. Dieses Konzept erinnert an sefardische Synagogen in Amsterdam und London. Die Gemeinde in Livorno war nicht mittelalterlich, sondern bildete sich erst im späten 16. Jh., als die Medici Livorno zu einer Handelsstadt ausbilden wollten und hierzu Juden zur Ansiedlung aufforderten und ihnen besondere Rechte versprachen. So hatte Livorno auch nie ein Ghetto. Die sefardischen Juden Livornos betrieben Handel, vor allem mit Westeuropa und hatten Kontakt zu den sefardischen Gemeinden in Amsterdam und London. Die portugiesische Synagoge in Amsterdam wurde 1671–75 von Elias Bouman als ein

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dreischiffiger Bau errichtet, dessen Frauenemporen auf kleineren, zusätzlich in die Seitenschiffe eingestellten Säulenreihen standen. Der Eingang ist im Westen, und die Bima ist nach Westen verschoben. Diese Synagoge galt als Prototyp weiterer sefardischer Synagogen in Übersee und London. Hier hatte sich nach der Ausweisung der Juden im späten 13. Jh. nun am Ende des 17. Jhs. eine neue jüdische Gemeinde gebildet. Es waren zunächst Sefardim, die aus Amsterdam kamen und von dort ihr Synagogenkonzept mitbrachten. Die neue Synagoge von 1711 ist kleiner als der Amsterdamer Bau. Sie verzichtet auf die zusätzlichen Säulenstellungen für die Emporen, besitzt eine weitere Säulenreihe im Westen und dürfte daher als Vorbild für die Synagoge in Livorno gedient haben. In Amsterdam errichteten die Aschkenasim ihre Synagoge 1670–71. Es war ebenfalls ein dreischiffiger Bau, jedoch mit zentraler Bimastellung. Dieser Bau wurde bis ins 18. Jh. zu einem Komplex mit insgesamt vier Synagogen erweitert. Weitere größere aschkenasische Synagogen in den Niederlanden entstanden im 18.Jh. in Rotterdam und Den Haag. In England wanderten die Aschkenasim etwas später ein. Sie errichteten aber auch bereits im 18.Jh. ihre erste große Synagoge. Es war ein dreischiffiger Bau mit Frauenemporen in den Seitenschiffen und zentraler Bimastellung. Die Synagogen in den Niederlanden und in London waren schon recht monumental und meist auch auf Außenwirkung angelegt. Sie sind Ausdruck einer Gesellschaft, in der Juden relativ freizügig leben konnten. Anders war die Situation in Südostfrankreich. Nach der Vertreibung der Juden aus dem französischen Königreich 1394 und der späteren Annektierung der Provence konnten sich Juden nur noch in wenigen kleinen Landesteilen ansiedeln. Hierzu gehörte das Comtat Venaissin, das damals zu den Papststaaten gehörte. Hier entstanden im 18. Jh. Synagogen in Carpentras und in Cavaillon, beide wie in Italien im Obergeschoß eines älteren Gebäudes. Obwohl sie einen eigenen Ritus besaßen, näherte sich ihr Raumkonzept dem italienischer Synagogen mit Zweipol-Anordnung. Auch in Cavaillon und Carpentras waren die Synagogen Saalbauten und besaßen im Westen eine zierliche Bima auf einer von Säulen gehaltenen Tribüne, zu der seitliche Aufgänge führten. Die Räume sind klein und intim und von außen kaum als Synagogen erkennbar. Sie sind daher mit den kleineren Ghettosynagogen in Italien vergleichbar. Die europäischen Synagogen des 16. bis 18. Jhs. haben alle lokale Eigenheiten entwickelt und sind als Bauten geschaffen, die für das jeweilige Land charakteristisch, untereinander aber nicht zu vergleichen sind. Dies ändert sich im 19. Jh., als im Zusammenhang mit der Stilfrage Bautypen entstanden, die sich in allen europäischen Ländern wiederfinden und auf landestypische Merkmale verzichten. Das 19. und 20.Jahrhundert Nach der im 18. Jh. einsetzenden Aufklärungsbewegung und nach den napoleonischen Gesetzen, die die Juden als gleichberechtigte Bürger im Staat deklarierten, setzte nun auch in den übrigen europäischen Ländern ein Prozeß der Emanzipation ein, der im Verlauf des 19. Jhs. zur Gleichberechtigung der Juden führte. In Deutschland hatte dies eine Rückwanderung der Juden vom Land in die Städte zur Folge, wo die jüdischen Gemeinden nun

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sprunghaft anwuchsen und daher auch eine große, geräumige Synagoge benötigten. So entstand hier nach den ersten Ansätzen im 18. Jh. der neue Typus der Großstadtsynagoge. Gleichzeitig war das 19. Jh. geprägt von der Stilfrage. Etwa zwischen 1800 und 1830 baute man im damals üblichen klassizistischen Stil, dem man des öfteren Elemente aus der altägyptischen Architektur beimischte, in einem bewußten Rückgriff auf die zeitgenössischen Rekonstruktionen des Jerusalemer Tempels, den man sich damals von ägyptischer Architektur beeinflußt vorstellte. Somit wollte man eine Verbindung der Synagoge zum Tempel herstellen. Man verband den klassizistischen Bau mit einer ägyptischen Zweipylonen-Fassade (Karlsruhe) oder verwendete Obelisken im Innenraum (Budapest), während die spätere Synagoge in Kopenhagen altägyptische Elemente am Außenbau und im Innern zeigt. Die Bauten waren in der Regel dreischiffige Langhäuser mit Emporen in den Seitenschiffen – nur die Wiener Synagoge von 1826 war als ovaler Raum konzipiert. Nachdem einige Synagogen wie die in Düsseldorf und Karlsruhe noch im Hintergelände verschwanden und von der Straße her nicht sichtbar waren, zeigt sich bald der Wille, das neue Selbstwertgefühl und Selbstbewußtsein auch nach außen hin zu demonstrieren. So entstand die monumentale, auch auf Außenwirkung angelegte Synagoge. Aber auch innerjüdische Probleme traten auf, die auf die Raumstruktur der Synagogen Einfluß hatten. Die Reformbewegung, die 1810 in Seesen ihre erste Reformsynagoge errichtet hatte, befürwortete eine Annäherung an Kirchenräume. Die Bima, bisher oft als Kleinarchitektur errichtet, verschwand aus der Raummitte und wurde zu einem Lesepult reduziert, das man im Osten vor den Toraschrein stellte. Die Bänke wurden in Richtung Osten aufgestellt; man führte eine Kanzel für die Predigt und ebenso eine Orgeltribüne ein. So erhielt die Synagoge wie die Kirche eine Richtung (nach Osten) und ein kirchenähnliches Mobiliar. Die Gemeinden mußten sich nun zwischen der althergebrachten orthodoxen Lösung und dem neuen Konzept der Reformer entscheiden, was in größeren Städten zum Bau mehrerer Synagogen unterschiedlicher religiöser Richtungen führte. Trotz der Annäherung an Kirchenbauschemata im Innern wurde aber zunächst der Synagogenbau als Kirchenimitation vermieden. Nach ca. 1830/40 rückte die Stilfrage in den Vordergrund, als man sich in Europa nach dem auslaufenden Klassizismus auf mittelalterliche Stile besann. Da die Neogotik zu sehr mit der Vorstellung vom gotischen Kirchenbau verknüpft war, wählte man recht häufig den neoromanischen Stil für die dreischiffigen Langhäuser, so in Kassel 1839. Daneben wurde, zunächst in Deutschland, der neoislamische Stil beliebt, da dieser kein Kirchenstil war und sich zur Entfaltung monumentaler Pracht gut eignete. Während in Dresden (1840) der Außenbau noch im neoromanischen, das Innere aber bereits im neoislamischen Stil gestaltet wurde, setzte sich nach 1850 der neoislamische Stil auch für den Außenbau durch. Es entstanden Langhäuser mit und ohne Zweiturmfassade, zuweilen mit einer von der Front her sichtbaren Kuppel, und Zentralbauten mit Kuppel über der Baumitte auf dem Grundriß eines griechischen Kreuzes, ein byzantinisches Bauschema im islamischen Gewand (so in Köln oder Wiesbaden). Die Stilfrage beherrschte auch die anderen europäischen Länder. Während man in

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Frankreich den neoislamischen Stil eher ablehnte, bevorzugte man hier die Neoromanik, die die Synagogen in Paris, Lyon, Nancy und anderen Städten beherrschte. In anderen Ländern dagegen wurde der neoislamische Stil in der 2. Hälfte des 19.Jhs. gerne übernommen, so in Italien (Turin, Vercelli, Florenz), in Österreich-Ungarn (Wien, Budapest u. a.), in der Schweiz (St. Gallen, Zürich, Basel) wie auch in Antwerpen. Im späteren 19. Jh. kam es zu einem Konkurrenzkampf zwischen den Stilen, jedoch unabhängig von der Konfession der Architekten. Inzwischen war nämlich besonders jüdischen Architekten der Bau von Synagogen übertragen worden. Diese propagierten gleichermaßen den neoislamischen Stil (Adolf Wolff) wie auch den neoromanischen (Edwin Oppler) oder den neogotischen (Max Fleischer in Wien). Mit Oppler und Fleischer setzten sich die mittelalterlichen Stile schließlich durch, deren Synagogen allerdings als Kirchenimitationen entstanden, so auch die Bauten von Cremer und Wolffenstein, die vorrangig in Berlin bauten. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg kommt eine neue Tendenz auf, nämlich die Abkehr von den historistischen Stilen, die das 19.Jh. beherrscht hatten und noch immer Großstadtsynagogen in Berlin, Rom oder Triest prägten, zugunsten des neuen Jugendstils. So errichtete Hector Guimard in Paris eine reine Jugendstil-Synagoge. Der Architekt Edmund Körner ging in Essen (1911–1913) noch einen Schritt weiter und verband den neuen Stil mit einer reichen jüdischen Symbolik, aus der völlig richtigen Erkenntnis heraus, daß es keinen eigenen jüdischen Stil gab, der den Bau zu einer Synagoge machen könnte, sondern daß dies nur über den Weg einer jüdischen Symbolik geschehen konnte. Zwischen den beiden Weltkriegen entstanden nicht viele Neubauten, weil in den meisten Städten der Bedarf an Synagogen gedeckt war. Neubauten entstanden nur in neuen Stadtbezirken (z.B. in Amsterdam), oder sie ersetzten ältere Bauten, die nicht mehr als zeitgemäß empfunden wurden (Genua). Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden Neubauten vor allem in den Ländern, die von den Zerstörungen durch die Nationalsozialisten betroffen waren. In Italien hatten die Faschisten und die deutschen Okkupanten die Synagogen nicht zerstört, so daß die alten Synagogen nach Renovierung der Innenräume weiter benutzt werden konnten. Nur in Livorno, wo die alte Synagoge einem Bombenangriff zum Opfer gefallen war, entstand 1962 ein Neubau. Ähnlich war es in Frankreich, Belgien und Holland, wo die alten Bauten zum größten Teil erhalten blieben. Neubauten entstanden in Rotterdam und Straßburg, hier hatten die Nazis den alten Bau zerstört. Und natürlich errichtete man Neubauten entsprechend dem Bedarf in neuen Stadtvierteln. Anders war es in Deutschland. Nur sehr wenige alte Synagogen konnten der völligen Vernichtung entgehen und modernisiert wieder als Gemeinde-Synagogen fungieren, so in Frankfurt a. M. und in Köln. In der Regel aber erhielten die Städte Neubauten, die in den fünfziger und sechziger Jahren vorrangig von den Architekten Hermann Guttmann, Helmut Goldschmidt und Karl Gerle errichtet wurden. Diese frühen Nachkriegsbauten sind relativ schlicht und können sich mit zeitgenössischen Synagogen z. B. in den USA nicht messen. Die kleine Synagoge in Essen, von Knoblauch und Heise 1959 konzipiert, ist als überkuppelter Rundbau errichtet, der im Innern an ein

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Zelt denken läßt, in Erinnerung an das biblische Stiftszelt, während sich die neueren Bauten in Mannheim (1987) und Darmstadt (1988) am Plan das Jerusalemer Tempels mit einem Hauptbau innerhalb eines umbauten Hofes orientieren. Dagegen nahmen die Neubauten in Heidelberg und Aachen von Alfred Jacoby die Rundform wieder auf. Die modernen Synagogen sind mit einem Gemeindezentrum verbunden, das Synagoge, Verwaltungsräume, Schulzimmer, Küche, Restaurant, Gemeindesaal und zuweilen auch eine eigene Mikwe in sich vereint.

Die Mikwen Die Mikwe (hebr. mikwa, Pl. mikwaot) ist ein rituelles Tauchbad mit natürlichem, lebendigem Wasser, das dazu dient, rituell unrein gewordene Menschen und Dinge wieder in den Zustand ritueller Reinheit zu versetzen. Dies betrifft Frauen (z. B. nach der Menstruation oder der Geburt eines Kindes), Männer (z.B. nach einem Samenfluß) und Geräte (Geschirr bestimmten Materials). Das Untertauchen kann in ein natürliches Wasser wie eine Quelle, ein Meer oder einen See erfolgen oder – ist dies nicht vorhanden – in ein Mikwe-Becken, wobei die Beschaffenheit von Wasser und Becken sowie die verschiedenen Fälle der Unreinheit im MischnaTraktat Mikwaot behandelt sind. Grundsätzlich gilt, daß der Wasserstand in der Mikwe das dreimalige völlige Untertauchen (nach vorheriger Körperreinigung) ermöglichen muß. Die Mikwe ist eine für eine religiöse Gemeinde unverzichtbare Anlage. Mittelalter Im Mittelalter sind die Mikwen zunächst als einzelne Bauwerke entstanden. Es sind tiefe, bis zum Grundwasser hinabreichende Schächte, die nicht mit einer Synagoge oder einem Privathaus überbaut sind. Daher ist ihre Entdeckung – falls sie nicht wie die monumentalen Anlagen im Rheinland seit längerem bekannt sind – schwierig und eher zufällig. Obwohl historische Dokumente zahlreiche Mikwen an verschiedenen Orten erwähnen, hat man 1964 in Spanien erst eine Anlage entdeckt, die mit Sicherheit als Mikwe identifiziert werden kann. Es ist die Mikwe in Besalú, in einem überwölbten Keller mit Treppenanlage und Wasserbecken. Frühe Mikwen in Frankreich sind aus Rouen (nahe eines als Synagoge identifizierbaren Gebäudes) und in Montpellier bekannt, während die Mikwe in Carpentras zu einem spätmittelalterlichen Typus (15. Jh.) gehört, der mit einem Gebäude überbaut ist, in dem sich die Synagoge und andere Gemeindeeinrichtungen befanden und in dem im 18.Jh. eine neue Synagoge eingerichtet wurde. In Italien hat man bisher keine mittelalterliche Mikwe entdeckt. Diese wenigen Beispiele aus Frankreich und Spanien sind an Zahl zu gering, um einen bestimmten Typus erkennen zu lassen. Anders ist die Situation in Deutschland, wo es monumentale Mikwen-Anlagen gibt, die – mit Ausnahme der in den fünfziger Jahren gefundenen Mikwe in Köln – sämtlich schon seit langer Zeit bekannt sind. Hier haben sich zwei verschiedene Typen entwickelt,

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deren Unterschiede nicht im tiefen Badeschacht liegen, der über das Bodenniveau herausragte und im unteren Teil durch Stufenanlagen den Wasserstand ausgleichen kann, sondern im Zugang. Der eine Typus besitzt eine schräg durch das Erdreich verlaufende Treppenanlage, die mit einer Tonne überwölbt ist und zunächst in einen Vorraum führt und von dort über eine ringförmige Treppe in den eigentlichen Badeschacht. Hierzu gehören die Mikwen in Speyer (frühes 12. Jh.) und in Worms (1185/86). Beide sind recht monumental und besitzen romanische Säulchen mit Würfelkapitellen in den Ecken des Vorraumes sowie romanische Fenster zwischen Vorraum und Badeschacht. Die Mikwe in Offenburg (Ende 13. oder frühes 14. Jh.) verzichtet auf den Vorraum, hier führt die Treppenanlage direkt zum Mikwe-Becken. In dem anderen Typus ist die Treppenanlage in den Schacht verlegt. Hierzu gehört die Mikwe in Friedberg (1260), wo die Treppe entlang der Innenwände des quadratischen Baues an den Ecken durch Säulchen mit Blattkapitellen führt. In Andernach (ca. spätes 13. Jh.) ist dieses System leicht abgewandelt, und in Köln (ca. 12. Jh.) werden beide Typen miteinander verbunden, indem die Treppenanlage zunächst außerhalb des Badeschachtes verläuft und dann in ihn hineinführt. Hierbei ist die Wand zwischen Treppenanlage und Badeschacht – wie auch in Montpellier – durch Fenster geöffnet. Romanische Säulen finden sich im Vorraum. Neben diesen eigenständigen Monumentalanlagen existieren schlichtere Kellermikwen in Privathäusern, so z. B. in Limburg a. d. Lahn, ein Typus, der vor allem im späteren Mittelalter verwendet wurde, so z. B. in Frankfurt a. M. und Rothenburg o. d. T. (beide 15. Jh.) oder in Würzburg und Straßburg. Es scheint, daß die architektonisch bedeutsamen Monumentalanlagen in großen, reichen Gemeinden entstanden, während man in kleineren Gemeinden auf den Typus der schlichten Kellermikwe zurückgriff, die auch die Zeit des ausgehenden Mittelalters bestimmte, als die Blütezeit jüdischer Gemeinden im mittelalterlichen Deutschland längst überschritten war. Diese Kellermikwen gehörten meist zu einem jüdischen Privathaus. Das 16. bis 18.Jahrhundert Wie im Mittelalter so waren auch die Mikwen dieser Periode ausnahmslos GrundwasserMikwen. Monumentale Anlagen wie im Mittelalter fehlen. Statt dessen gab es schlichtere Kellermikwen, entweder in Verbindung mit einem Privathaus oder einer Synagoge. Da das 16. und 17. Jh. in Deutschland keine nennenswerten Synagogenbauten her vorgebracht haben, wird hier der Typus der einfachen Kellermikwe unterhalb von Privathäusern verwendet, so z. B. in Erlangen-Bruck (16. Jh.), Pretzfeld (um 1600), Fürth (ca. 17. Jh.) oder Dreieich-Sprendlingen (ca. 18. Jh.), ferner in Kirrweiler und im Elsaß, in Hoenheim und Marmoutier (beide 18.Jh.). Die Mikwen in Verbindung mit einem Synagogengebäude existieren folglich in den neuen Zentren jüdischen Lebens, so in Prag unterhalb der Pinkas-Synagoge (16.Jh.) oder in Kazimierz, wo auch ein eigenes Mikwenhaus errichtet wurde. In Amsterdam gehört die Mikwe zum aschkenasischen Synagogenkomplex des 17. bzw. 18. Jhs. Die Verbindung von

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Synagoge und Mikwe findet sich in Deutschland erst im 18.Jh. im Zusammenhang mit dem neuen Aufblühen von Synagogenarchitektur, so in kleineren Synagogen wie in Veitshöchheim oder Harburg an der Wörnitz, wie auch in größeren Komplexen wie in Köln-Deutz oder Gröbzig und unterhalb der runden Synagoge in Wörlitz. Das 19. und 20.Jahrhundert Während man im frühen 19. Jh. den Typus der Keller- bzw. Grundwassermikwe noch beibehielt, kündigt sich um 1820–30 eine Neuerung an. Während von der Antike an die Anlage einer Mikwe ausschließlich eine innerjüdische Angelegenheit war, greifen nun die deutschen Behörden ein und bemängeln, daß die alten Tauchbäder nicht beheizbar und mangels Abfluss auch nicht zu reinigen waren. Die neuen staatlichen Auflagen mußten nun auf das religiöse Gesetz abgestimmt werden. In der Regel wurde das natürliche Wasser von unten in einen Heizkessel gepumpt und von dort über ein Rohr in das Becken geleitet, oder aber man verband das natürliche Wasser mit dem erhitzten in einem erlaubten Mischverhältnis. Dies hatte zur Folge, daß tiefe Badeschächte überflüssig wurden und die Mikwenräume zum Umkleiden, für den Heizkessel und das eigentliche Becken auf ebener Erde angelegt und sehr häufig mit einer Synagoge oder einem größeren Komplex mit Schul- und Wohnräumen verbunden wurden. Neben diesem gängigen Typus in kleineren und größeren Synagogen gab es das freistehende Mikwen-Häuschen, vor allem im 19.Jh. Im 20.Jh. verband man die Mikwe in der Regel mit dem Komplex der Großstadt-Synagoge, so z. B. in Essen, Frankfurt oder Augsburg, und diese Situation findet sich auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich die Tendenz zu einem Gemeindezentrum in einem einzigen Gebäude durchsetzte. Die Mikwenforschung hat sich bisher vorrangig auf Deutschland konzentriert, Untersuchungen zu Tauchbädern in anderen europäischen Ländern sind lückenhaft bzw. noch gar nicht vorgenommen worden.

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Jüdische Musik „Jüdische Musik“ – was ist das? Woran ist jüdische Musik erkennbar? „Jüdische Musik ist Musik, die von Juden für Juden als Juden gemacht wird“, hörten wir Curt Sachs, den klassischen Altmeister der Musikwissenschaft, bei einem Kongreß in Paris im Jahre 1957 formulieren: Seine Definition wurde seither von Wissenschaftlern weithin angenommen, sie sei die „brauchbarste Beschreibung jüdischer Musik“, schreibt Batya Bayer (Jerusalem) in der Encyclopedia Judaica. Jedoch gibt es viele Beispiele nicht-jüdischer Musik, die „von Juden für Juden als Juden“ verfaßt wurde, und ebenso viele Werke jüdischer Musik, die von nicht-jüdischen Komponisten geschrieben worden sind. Salomon de Rossi „Ebreo“ (ca. 1570–1630), der erste bedeutende jüdische Komponist der abendländischen Musikgeschichte, Hofmusiker des Herzogs von Mantua, schrieb hebräische Psalmen für die Synagoge in einem von ihm entwickelten fortschrittlichen italienischen Madrigalstil. Einhundert Jahre nach ihm schuf der venezianische Patriziersohn Benedetto Marcello (1686–1739) Psalmen, in denen er jüdische synagogale Weisen verwendete. Am 9. April 1826 wurde der „Wiener Stadttempel“, die Synagoge in der Seitenstettengasse mit einer Festkantate eröffnet, die „feierlich und rührend“ war – so ein Chronist der Zeit – „wie die Psalm-Worte selbst“. Er notierte: „Die Harfen-Akkorde, die dazwischen ertönten Klänge, gleichsam aus dem fernen Lande Israels, und aus den Tagen seines Königs David herüber gekommen, waren von unbeschreiblicher Wirkung.“ Der Komponist der Festkantate war der aus Böhmen stammende Wiener Kirchenmusiker Joseph Drechsler (1782– 1852). Er wurde 1844 Domkapellmeister zu St. Stephan in Wien. Die Honoratioren der israelitischen Gemeinde Wien hatten Joseph Drechsler beauftragt, die Musik zu dem feierlichen Einweihungs-Gottesdienst zu komponieren; vorerst hatten sie mit Ludwig van Beethoven Kontakt aufgenommen und ihn gebeten, eine Kantate nach den hebräischen Psalmund Gebet-Texten zu verfassen. Es ist unklar, warum sich die Verhandlungen mit Beethoven schließlich zerschlagen haben. Bekannt aber ist, daß sich Beethoven intensiv mit der „Musik der alten Juden“ beschäftigt hat und sich „Werke über hebräische Musik“ besorgen ließ. Er wollte „Chöre in den alten Tonarten“ schreiben. Die Folgen dieser Studien sind in Beethovens späten Streichquartetten nicht zu überhören. Die fünf letzten Streichquartette – op. 132, op. 130, op. 131, op. 133, op. 135 (in der Reihenfolge ihrer Entstehung) – verbindet ein Vier-Noten-Motiv mit den für den Beginn der aschkenasischen Kol-Nidre-Melodie charakteristischen Tonschritten. Das Motiv liegt allen fünf Werken zugrunde und erinnert in der Adagio-Einleitung zum Finaleinsatz des cis-Moll-Quartetts op. 131 eindringlich an die Kol-Nidre-Melodieformel. Unter dem Einfluß „jüdischer Musik“ sind diese Quartette entstanden – im Gegensatz etwa zu Franz Schuberts hebräischem Psalm, den er für den

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Wiener Stadttempel schrieb, einem echten Schubert-Chorstück auf hebräischen Text, dessen Musik wenig von „jüdischem Charakter“ anhaftet. „Jüdische Musik“, die nicht „von Juden für Juden als Juden“ komponiert wurde, sind die „Ouvertüre über hebräische Themen“ von Sergej Prokofjew (1919, 1943), elf jüdische Volkslieder von Dimitri Schostakowitsch (1955), Maurice Ravels „Melodies hébraïques“ (1914), Max Bruchs romantisch-jüdisches „Kol Nidre“ für Violoncello und Orchester (1881), ein Streichquartett des deutschen Komponisten Karl Amadeus Hartmann (l905– 1963), das er 1933 in der Nazizeit als „Widerstandsmusik“ auf jüdische volkstümliche Themen komponierte – und später „jüdisches Quartett“ betitelt –, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Solche Werke sind eher als „jüdische Musik“ zu verstehen als etwa ein „Capriccio italien“ eines russischen Komponisten als „italienische Musik“ oder eine „Symphonie espagnole“ – sogar eines Franzosen spanischer Herkunft – als „spanische Musik“ zu erkennen wäre. Dagegen ist Felix Mendelssohn Bartholdys biblisches Oratorium „Elias“ ebensowenig ein Werk „jüdischer Musik“ wie die „David“-Oper des französisch-provenzalischen jüdischen Komponisten Darius Milhaud; auch Arnold Schönbergs „Moses und Aron“ fällt trotz all der tiefen jüdischen Gedankenwelt, die in dieser großen Oper zum Ausdruck kommt, nicht in die Rubrik einer „jüdischen Musik“ – eher gehören Schönbergs „Kol Nidre“, der Finalchor in „Ein Überlebender aus Warschau“ und der Psalm „MiMa’amakim“ hierher. Dann gibt es Musik, die „von Juden als Juden“ aber nicht nur „für Juden“, sondern für die Welt geschrieben wurde; verwiesen sei auf Werke von Ernest Bloch und Leonard Bernstein als Beispiele weltbedeutender Kompositionen. Schwer ist es also, Musik als jüdische Musik zu beschreiben, treffsichere Erkennungszeichen, Maßstäbe, Charakteristika anzusetzen. Als wesentliche Grundlagen für eine jüdische Musik können gelten: eine jüdische oder hebräische musikalische Thematik, religiös verwurzeltes oder jüdisches Nationalgefühl sowie der Versuch, Stimmung und Atmosphäre biblischer Szenen oder eine Charakterisierung biblischer Gestalten musikalisch darzustellen, und schließlich eine authentisch-traditionelle oder auf echte Traditionen gegründete synagogale Gebetsmusik. Zu gewissen Perioden jüdischer Kulturgeschichte hat es Musik gegeben, die manchen dieser Maßstäbe entspricht, und es ist interessant zu beobachten, wie nicht nur die nicht-jüdische Umgebung und nicht-jüdische Komponisten auf Musik reagierten, die sie als jüdische Musik verstanden, sondern wie andererseits fremde Einflüsse auf jüdische Musik einwirkten.

Mittelalterliche Pijutim Frühe Epochen der europäischen Musikgeschichte waren aufs engste mit dem Morgenland verbunden; in Spanien gibt es Zeugnisse jüdischer Musikübung und jüdischer Musik, die unter dem Zeichen der gegenseitigen Beeinflussung der drei Zivilisationen blühten, die unter arabischer Herrschaft friedlich miteinander leben konnten – die christliche, arabischislamische und jüdische. Die hebräischen poetischen Gesänge, die Pijutim, wurden zum

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Teil nach arabischen Metren und Melodien gesungen, die den nahöstlich-hebräischen im Grunde nicht ungleich waren. Daß arabisch beeinflußte Musik in die Synagoge eindrang, läßt sich aus den Schriften hebräischer Gelehrter und Lehrer entnehmen. Im 11. Jh. u. Z. empörten sich Chai (Chija) ben Scherira, Isaak Alfasi und Jehuda von Barcelona darüber, daß arabische Dichtung und Musik im jüdischen Gottesdienst einen zu breiten Platz einnähmen. Man liest andrerseits, daß synagogale Gesänge bei den Christen außerordentlich beliebt waren. Gegen Ende des 12. Jhs. verbot Erzbischof Odo den christlichen Priestern und Studierenden, sich in jüdischer Lehre und jüdischem Singen unterweisen zu lassen, während Jehuda ha-Chassid um dieselbe Zeit den Juden verbot, christliche Gesänge zu übernehmen. Melodien von Troubadours und Trouvères sind in zahlreichen alten Handschriften zu finden. Von den Minnesängern sind nur wenige Melodien erhalten und hebräische Pijutim aus frühen Jahrhunderten sind nicht überliefert. Erst zu Beginn des 12. Jhs. ist das Fragment eines hebräischen Pijut datiert – mit der Aufzeichnung einer Melodie und dem Namen des Autors des Liedtextes. Er war ein normannischer Edelmann aus Oppido in Apulien und hieß ursprünglich Jean Drocos oder Dreux. Im Jahre 1102 trat er zum Judentum über und nannte sich seither „Obadja ha-Ger“ (ha-Ger = „der Fremde“). Er ließ sich in Bagdad nieder und unternahm Reisen im Nahen Osten. Seine Melodie, die als Prototypus eines Pijut gelten kann, ist die älteste aufgezeichnete hebräische Sangweise; sie trägt Züge traditionellen gregorianischen Gesanges und ist gefärbt von nahöstlichem melodischem Singen. Man mag sich vorstellen, daß die jüdischen Gesänge auf der Iberischen Halbinsel ähnlichen Charakter aufgewiesen haben. Die in ihren Texten erhaltenen Verse und Versepen jener Zeit wurden meist von Sängern (joculatores) zur Begleitung der Fidel vorgetragen, wenn sie nicht der Dichter selbst vortrug. Unter den Dichtern, Musikern und Joglaren der Iberischen Welt ist eine ansehnliche Zahl jüdischer Sänger und Musiker namentlich bekannt. Sie wurden von den christlichen und muslimischen Autoritäten geschätzt. Jüdische Musiker traten bei staatlichen und religiösen Festen und bei volkstümlichen Anlässen auf, gemeinsam mit muslimischen und christlichen Sängern – bisweilen sogar Sängerinnen. Die Inquisition zerstörte das harmonische Zusammenleben der verschiedenen Religionen und Kulturen. Die Juden, die der mörderischen Inquisition entrinnen konnten, siedelten sich in vielen Ländern von neuem an und brachten ihre Musik, ihre Lieder und Singweisen in neue, fremde Umgebungen. Das sefardische, in Spanien entwickelte Liedgut blieb in Südfrankreich, in west- und osteuropäischen Ländern, auch in den Niederlanden erhalten. Es erreichte viele Gebiete der Ost-Mittelmeerwelt, Nordafrika, sogar überseeische Länder.

Anlehnung an nicht-jüdische Musik In den europäischen Ländern, die Juden aufnahmen, waren die Bedingungen eines gemeinsamen Lebens von christlicher bzw. muslimischer Mehrheitsgesellschaft und jüdischen Minderheit, wie es Spanien vor der Vertreibung 1492 geboten hatte, nicht mehr gegeben

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und eine jüdische Musik konnte nur gedeihen, wo Juden unter sich, meist von ihrer Umwelt abgeschlossen, lebten. Am gesellschaftlichen und kulturellen Leben der christlichen Bevölkerung, die die Juden – allzuoft nur ungern – in ihrer Mitte oder am Rande ihrer Städte und Dörfer duldete, hatten letztere keinen Anteil, denn das geistige Zentrum war dort die Kirche. Und auch Kunst und Musik waren der Kirche dienstbar. In der frühen Epoche der europäischen Musik erreichte die Kirchenmusik ihre erste große Blüte in einer Synthese traditioneller liturgischer, größtenteils ursprünglich nahöstlicher Weisen, volkstümlichpoetischer Einflüsse sowie einer neuentwickelten abendländischen Mentalität und eigenständiger kompositorisch begabter Musiker. Außerhalb der Kirche fand die Kunst der Trobadors und Joglares ihre Fortsetzung in höfischer Musik. An allen diesen Entwicklungen konnten Juden nicht teilhaben, doch zeugen viele erhaltene Erlasse und Verbote kirchlicher und jüdischer Autoritäten davon, daß es trotz aller Beschränkungen Kontakte gegeben hat. Könige und Bischöfe verboten den Christen, gemeinsam mit den Juden ihren Sabbat zu feiern und mit ihnen ihre Lieder zu singen. Ein Studium hebräischer Schriften brandmarkten sie als Zeitverschwendung. Gleichzeitig untersagten die Rabbinen den Juden, christliche Lieder zu singen oder sie gar zu übernehmen. Die Verbote beweisen nur, daß es gegenseitige Beeinflussung gegeben hat. Die Geschichte der mittel- und westeuropäischen Synagogenmusik zeigt, daß christliche und volkstümliche Lieder der Umwelt in die Synagoge Eingang gefunden haben, womit sich die aschkenasische Musik in zunehmendem Maße von der sefardischen Tradition und liturgischen Musik entfernte. Auch in das jüdische Heim zogen außerjüdische Gesänge ein und mit der aus mittelhochdeutschen, slawischen und hebräischen Elementen hervorgehenden jiddischen Sprache entstand auch ein jiddisches Volkslied. Die „jüdische Musik“ der Zeit ist mit mittelalterlich-deutschen Gesängen sowie Vorbildern der Troubadour- und Minnesänger-Literatur durchsetzt. Aus der Frühzeit dieser Art „jüdischer Musik“ sind noch keine Instrumentalstücke bekannt; erst seit dem 16. und 17. Jh. wurde in jüdischen Kreisen das Instrumentalspiel professionell gepflegt. Aus Frankfurt am Main und Prag ist das Bestehen jüdischer Musikergilden belegt. Jüdische Musiker, wandernde Sänger und Instrumentalisten – Nachfahren der Joglares – wurden weithin beliebt. Die „Badchanim“, „Lezim“, „Klesmer“ wurden zum Aufspielen bei öffentlichen Volksbelustigungen und Festen eingeladen und der Stil ihrer der nicht-jüdischen Welt merkwürdig klingenden „Judentänze“ nachgeahmt – in Handschriften, die in französischen und deutschen Bibliotheken erhalten sind, kann man erkennen, wie „jüdische Musik“ für die Ohren nicht-jüdischer Musiker damals geklungen hat. Jüdische Spielleute, Musikanten, fahrende Sänger, Musikergilden gab es nachweislich in westeuropäischen Ländern. Das jiddische Lied entstand vor allem in den osteuropäischen Siedlungsgebieten der Juden. Im jiddischen Volkslied spiegeln sich die Lebensbedingungen der Juden, ihre Sorgen und ihr Denken wider, es fehlt ihm jedoch beispielsweise der Bezug zur freien, schönen Natur, wie sie etwa das deutsche Volkslied besingt. Das weltliche jiddische Lied wurde von Handwerksburschen, Fuhrleuten, Schneidern und Schneiderinnen sowie von Dienstmägden gesungen. Viele ihrer Lieder handeln von der Arbeit und den eige-

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nen Leiden. Liebeslieder drücken meist die unerfüllte Sehnsucht der Liebenden aus, aus den religiösen und sozialen Schranken auszubrechen. Und auch die Sehnsucht nach einem fernen, freien Land ist immer wieder Thema.

Chassidische Musik Eine besondere jüdische Eigenart nahm das chassidische Lied an. Der Chassidismus, der seine geistigen Wurzeln aus der mystisch-sinnlichen Welt der Kabbala, ihrer zum Teil orientalisch-beeinflußten gefühlsbetonten Lehre, bezogen hat, schuf sich eigene Lieder und Weisen. Der eigentliche Begründer des aus der Ukraine stammenden Chassidismus, Israel ben Elieser, genannt Baal Schem Tow (1700–1760), wies dem Singen und Musizieren an den „Höfen“ der Bewegung größte Bedeutung zu. Am Hofe eines chassidischen Lehrers spielte Musik eine wichtige Rolle. Der emotionale Charakter des Chassidismus, oft an Sentimentalität grenzend, schuf ein stark gefühlsbetontes Volkslied, das im Laufe der Zeit auf die Gesänge der Vorbeter, der Chasanim, in der Synagoge einwirkte. Die „exotisch“ anmutenden Farben der chassidischen Musik, ihre Melodien und belebten Tanzweisen haben viele jüdische und nicht-jüdische Komponisten zu ernsten Werken inspiriert, unter ihnen Ernest Bloch und Leonard Bernstein. Die Chassidim florierten zu einer Zeit, als das westliche Judentum gerade begann, sich Eintritt in die allgemeine Kultur zu verschaffen und der erzwungenen Isolierung ein Ende zu bereiten, die das jüdische Leben so lange charakterisiert hatte. Und so trat dort (echte) jüdische Musik bei jüdischen Musikern in den Hintergrund. Diese begannen an der allgemeinen europäischen Musikgeschichte mitzuwirken.

Synagogalmusik Während die europäische Musik ihre Höhenflüge nahm – mit den ernsten Kompositionen der Niederländer, den gemessen-lyrischen Werken der Engländer, der charmant-lyrischen, auch heiteren Stilart der Franzosen, dem tiefgründigen romantischen Wesen der deutschen Musik, der stürmischen emotionellen Dramatik der Italiener, der heiter wirkenden, oft dabei tiefe Untergründe erkennen lassenden österreichischen Sinfonik mit den gewaltigen Höhepunkten der Musik Anton Bruckners und Gustav Mahlers, der monumentalen Sinfonik Rußlands –, entwickelte sich jüdische Musik in drei ihrer eigenen Sphären eigenständig weiter: der synagogalen Liturgie, dem jiddischen Volkslied und schließlich einer folkloristisch-national-jüdisch geprägten Kompositionsweise. Als im Jahrhundert der Emanzipation und Assimilation weite Kreise von Juden die traditionellen Gebräuche und Riten ablegten und am aktiven Gottesdienst und Gemeindeleben kaum mehr Anteil nahmen, d.h. sich meist nur noch an den höchsten jüdischen Feiertagen in der Synagoge versammelten, vernahmen sie dort hebräische Gebetsmelodien und Gesän-

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ge, die stark an die Melodien der sie umgebenden nicht-jüdischen Welt angelehnt waren. Der Kantor in der Synagoge und der Leiter der Chormusik paßten sich dabei in der Bearbeitung der überkommenen Gesänge oft weitgehend dem allgemeinen Zeitgeschmack an, ließen aber dabei die traditionellen archaischen liturgischen Grundlagen unangetastet. Selbst wo die Synagogalmusik der aschkenasischen Welt in ihrer Harmonik an den romantischen Oratorienstil Felix Mendelssohn Bartholdys anklingt, in ihrer vokalen Virtuosität italienischen Operngesang nachahmt, blieb sie soweit „jüdisch“, daß sie für Musiker und Nicht-Musiker, Juden und Nicht-Juden, „fremdartig“ klingt – so hat sie beispielsweise der Komponist Franz Liszt nach einem Besuch der Wiener Synagoge beschrieben. Die beiden kulturellen Sphären, in denen die europäischen Juden lebten, die westliche und die östliche, sind in der Bearbeitung und Weiterbildung der synagogalen Gesänge verschiedene Wege gegangen. Als Osteuropa unter den Einfluß der aschkenasisch-jüdischen Zivilisation geriet, führten die Chasanim aschkenasische Gesänge in die Synagoge ein, behielten dabei aber in ihrem Gesang die melodische und rhythmische Freiheit bei, die ihre eigene traditionelle – aus dem Nahen Osten stammende – Praxis gekennzeichnet hatte. In der östlichen Sphäre herrschte weiterhin der Geist der Improvisation. Die improvisatorischen Fähigkeiten der Vorsänger schufen eine besondere Art von Koloratur, in der brillante Virtuosität und überschwenglicher Ausdruck vereint sind. In Mittel- und Westeuropa entwickelten die Kantoren dagegen ihren Gesang unter dem Einfluß der musikalischen Kultur, die sie umgab. Im Osten verachteten die jüdischen Autoritäten und die Chasanim die Reformversuche und assimilatorischen Tendenzen des westlichen Judentums, denn man sah in ihnen die Zerstörung traditioneller jüdischer Werte. In den osteuropäischen Synagogen galt der Chasan als eine der angesehensten Persönlichkeiten in seiner Gemeinde. Der ausdrucksvolle Charakter seines Gesangs war den Frommen Erbauung und Erhebung und rührte die Betenden zu Tränen. In vielen anderen Ländern, urteilt eine osteuropäische Quelle, boten die Chasanim „weder Melodie noch Empfindung“; es wurde dagegen berichtet, daß das „In Memoriam“-Gebet „El Mole Rachamim“ in die Synagoge stürmende Tataren derart gerührt habe, daß sie dreitausend versammelte Juden unbehelligt ließen und abzogen. Die traditionellen Kräfte blieben in den osteuropäischen Gemeinden auch weiterbestehen, als gegen Ende des 19. Jhs. die Musik großer westeuropäischen Komponisten im Osten in zunehmendem Maße bekannt – und beliebt – wurde und gleichzeitig die musikalische Kultur slawischer Komponisten an Bedeutung gewann und einen hohen Stand erreichte. Die Chasanim des Ostens spürten den Einfluß großer Meister der slawischen Musik wie die Entwicklung der klassisch und romantisch orientierten Kompositionen aus den westlichen Synagogen. Einige der Chasanim und Komponisten, deren Musik eine Synthese östlicher und westlicher jüdischer Musik schuf, verließen ihre östliche Heimat und siedelten sich in anderen Ländern an, beispielsweise in England und Amerika, und beeinflußten die dort ansässigen Komponisten der Synagogenmusik durch ihren musikalischen Stil.

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Musik – ein jüdisches Volksgut Die traditionellen Wurzeln der jüdischen liturgischen Musik erwiesen sich als so stark, daß sie eine jüdische Renaissancebewegung inspirieren konnten, als in den Staaten Osteuropas zunehmend die Neigung zum volksgebundenen Nationalismus spürbar wurde. Als eine jüdische Kunstmusik entstand, waren die deutlichsten Charakteristika ihre Anleihen an die liturgischen Gesänge der osteuropäischen Synagoge. Ein kleiner jüdischer Staat, der sich auf polnischem Boden im 16. Jh. gebildet hatte, der Messianismus im 17. und der Chassidismus im 18. Jh. hatten den Juden ein neues Nationalgefühl gegeben. Sie fühlten sich über ihre Zusammengehörigkeit als Religionsgemeinschaft hinaus auch als Söhne einer Nation. Im 19. Jh. erwachte in fast allen Ländern ein starkes Nationalgefühl. Im westlichen Europa ergriff es viele assimilierte Juden, die zu glühenden Patrioten des Landes wurden, in dem sie lebten. Im Osten, in dem die kleineren und großen Nationen eine nationale Erneuerung in Kultur und Kunst zu pflegen begannen, kam dies der parallelen jüdisch-nationalen Bewegung zugute. So wie die Dichter und Komponisten der osteuropäischen Länder nationale Legenden und Folklore neu belebten, begannen jüdische Künstler, ihre nationalen Schätze zu pflegen; während sich in ihrer Umwelt die nationale Idee in politischer Macht und innerer Einheit ausdrückte, gaben die Juden ihrem Sehnen nach einem eigenen Heimatland und kulturellen Zentrum Ausdruck. In allen nationalen Bewegungen des 19. Jhs. spielte die Pflege der Sprache und der Folklore eine wichtige Rolle und auch die Juden erkannten, wie stark eine Gemeinschaft durch eine gemeinsame Sprache und gemeinsames Volksgut geprägt wird. Dichter und Schriftsteller rissen das Hebräische aus seiner Beschränkung als reine Gebetssprache heraus und machten das Hebräische als Sprache von Gedichten und Romanen neu lebensfähig, und damit traten auch Lieder in hebräischer Sprache neben das jiddische Lied. Es entstand eine „jüdisch-nationale Schule“ auf dem Gebiete der Musik.

„Gesellschaft für jüdische Volksmusik“ Der erste Impuls zum Schaffen einer jüdischen Kunstmusik ging von bedeutenden russischen Komponisten aus. Nikolai Rimsky-Korsakow (1844–1908) und Milij Alekseevicˇ Balakirev (1837–1910), Mitschöpfer der russisch-nationalen Schule der Musik, beeinflußten den jungen jüdischen Komponisten Joel Engel (1862–1927, übersiedelte 1924 nach Tel Aviv), der begann, jüdisches musikalisches Volksgut zu sammeln. Die ersten Früchte seiner Forschungen stellte er in einem Vortrag vor, den er auf Einladung der staatlichen Ethnographischen Gesellschaft vor russischen Fachgelehrten und Musikern hielt. Im Jahr 1900 veröffentlichte er seine Sammlungen, die bei der jüdischen wie nicht-jüdischen Musikwelt auf großes Interesse stießen. Bereits 1894 hatte Joel Engel im russisch-jüdischen Salon Professor Zachraevs die PurimOper „Esther“ vorgestellt. Wie diese, führte er fortan Beispiele aus seinen Sammlungen vor und propagierte seine Ideen einer jüdischen Volksmusik. Die ihm am schönsten und

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charakteristischsten scheinenden Lieder seiner Sammlungen bearbeitete er zu eigenständigen Kompositionen. In ganz Rußland hielt er Vorträge und organisierte musikalische Vorführungen. Er erwarb sich damit viele Freunde und Helfer, die ihn fortan unterstützten. Aus diesem Kreis gründete sich 1908 in St. Petersburg die „Gesellschaft für Jüdische Volksmusik“, deren federführende Mitglieder Ephraim Schkliar, Michael Gnessin, Schlomoh Rosowsky und Lazare Saminsky waren. Während der zehnjährigen Aktivität, die durch die Revolution in Rußland jäh unterbrochen wurde, sammelten die Mitglieder der Gesellschaft Tausende von jüdischen Gesängen in allen russischen Ländern, auch in Litauen, Polen und Galizien, und veröffentlichten eine große Anzahl von Volkslied-Bearbeitungen und folkloristisch beeinflußten Kompositionen. Zweigstellen der Gesellschaft entstanden in den Großstädten Rußlands, so auch in Moskau, wo sie von David Schorr geleitet wurde. Der Kreis der Schriftsteller und Musiker, die die Bestrebungen der Gesellschaft tatkräftig unterstützten, wuchs ständig. 1912, im fünften Jahr ihres Bestehens, zählte sie 389 Mitglieder, die aktiv in der Gesellschaft arbeiteten und sich, soweit sie Komponisten waren, zu jüdischfolkloristischen Kompositionen anregen ließen; unter ihnen waren Joseph Achron, Moses Mildner, die Brüder Gregory, Alexander Krein, der Pianist Leo Nesviski-Abileah, der Ingenieur und begeisterte Musikamateur Israel Okun sowie der Sammler N. Kisselhoff. Sie und viele andere trugen dazu bei, Sinn und Ziele der Gesellschaft in der breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen und sie für eine charakteristisch jüdische Musik zu gewinnen. Die wissenschaftliche Erforschung der jüdischen Folklore erhielt einen besonderen Antrieb durch die Expeditionen, die der Baron Ginsburg durchführte. Joel Engel bearbeitete viele der auf diesen Expeditionen aufgezeichneten Melodien und ließ sie in Konzerten vortragen, wobei er selbst oder ein Mitarbeiter der Expeditionen Erklärungen und Erläuterungen gab. Die von Saul Ginsburg und Pessach Marek herausgegebene Sammlung jüdischer Volkslieder aus Rußland wurde zum klassischen Quellenwerk und zu einer Fundgrube für Forscher und Komponisten; es folgten ihr immer wieder neue Veröffentlichungen derselben Art. Die Bemühungen der russischen Sammler fanden Fortsetzung in den Arbeiten Abraham Zvi Idelsohns, der in den osteuropäischen Ländern und im Orient alte hebräische und mittelalterliche jüdische Melodien aufzeichnete und erforschte. Als erster Schöpfer einer „vergleichenden Musikwissenschaft“ auf jüdischer Basis hat er Forschern und Musikern Werkzeuge in die Hand gegeben, die zur Erkenntnis der grundlegenden Verwandtschaft der alten Jerusalemer Tempelmusik und frühen christlichen Musik führen. Die Tätigkeit der russischen „Gesellschaft für jüdische Volksmusik“ wurde mit großem Interesse in allen europäischen Ländern und in Amerika verfolgt. Auch jüdische Siedlungen in Palästina nahmen Kontakt mit der Gesellschaft auf. Einige russische Mitglieder der Gesellschaft gingen in andere europäische Länder, nach Übersee und Palästina, unter ihnen David Schorr, Schlomoh Rosowsky, Abileah und Joel Engel. Saminsky und Achron setzten ihre Tätigkeit in den Vereinigten Staaten fort, während Gnessin und die Brüder Krein nach der Revolution in Rußland blieben. Die kompositorischen Wege dieser jüdischern Musiker unterschieden sich in ihren Zielen. Sicher ist es, daß sie eine breite Öffentlichkeit erreichen wollten – und auch tatsächlich

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erreichten –, so daß die anfangs zitierte These, daß „jüdische Musik“ Musik sei, die „von Juden für Juden als Juden gemacht wird“, insofern für diese Komponisten nicht mehr zutrifft, da sie nicht nur „für Juden“, für jüdische Interessierte und jüdische Hörer, entstanden ist. Joel Engel, der älteste der Musiker des russischen Kreises, ging in seinen Kompositionen ganz vom Boden der Folklore aus. Neben seinen Klavierbearbeitungen jüdischer Volkslieder hat Engel seine lyrischen Lieder auf Gedichte von Bialik, Cˇ ernichovskij, Perez und anderen hebräischen Dichtern vertont; sein bekanntestes Werk ist die Bühnenmusik zu Anskis dramatischer Legende „Der Dybbuk“, die vom hebräischen Theater „Habimah“ auf den Reisen durch ganz Europa und Amerika aufgeführt wurde. Die Liedkompositionen Joel Engels mit ihren so verschiedenen Grundelementen wie das jüdische Volkslied, Melodien russischen Ursprungs, aschkenasischen und auch altdeutschen Weisen haben auf kommende Generationen von Komponisten großen Einfluß ausgeübt. Als Joel Engel 1924 nach etwa zweijährigem Aufenthalt in Berlin nach Palästina kam, entstand eine Synthese all der ursprünglichen Stilelemente in seiner Musik und der nahöstlichen Folklore.

Nachfolgegenerationen der „Gesellschaft für jüdische Volksmusik“ Für Joel Engel blieb die kleine musikalische Form sein Leben lang charakteristisch. Die jüngeren Komponisten seines Kreises begannen bald, das jüdische Volkslied und den hebräisch-liturgischen Gesang für großangelegte musikalische Werke zu verwenden und darüber hinaus selbsterfundene Melodien den jüdischen nachzubilden. Dabei suchte die Mehrzahl der Komponisten des russisch-jüdischen Kreises Anschluß an die neue musikalische Entwicklung in Westeuropa zu gewinnen. Eine neue musikalische Schreibweise schufen – jeder in seiner eigenen Art – Michael Gnessin, Alexander Krein, Moses Mildner, Lazare Saminsky (fast alle Jahrgang 1883) und Joseph Achron, der wohl bedeutendste unter ihnen (1886 in Litauen geboren, seit 1925 in Los Angeles, dort 1943 gestorben). In seiner letzten Schaffensperiode war Achron von der Musik Arnold Schönbergs beeinflußt, dessen Wirken und Lehre er in den letzten sieben Jahren seines Lebens in seiner Wahlheimat erleben konnte. Eine ganze Reihe von Musikern, die nicht zu den jüdischen Kreisen gehörten, interessierte sich für die Kompositionen der Gruppe jüdischer Musiker in Rußland und trug viel zur Verbreitung dieser neuentstehenden jüdischen Musik bei. Im Jahre 1928 organisierte sich ein Kammermusik-Ensemble, das aus einem Streichquartett (Jacob Mistechkin, Gregory Pesrodney, Nilcolas Moldavan, Josef Cherniavsky), dem Klarinettisten Simon Bellison und dem Pianisten Leon Berditschewsky bestand. Es bereiste europäische Länder, Amerika, China, Japan, Sibirien und schließlich Palästina mit Programmen jüdischer Musik. Musikverleger wurden auf dieses neue Material aufmerksam und veröffentlichten alsbald Bearbeitungen jüdischer Volkslieder und Werke jüdischer Musikkomponisten aus Ost- und Westeuropa, wodurch die neue „national-jüdische Musik“ bekannt wurde.

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Ein bedeutender und interessanter Komponist der jüngeren Generation russisch-jüdischer Komponisten war Alexander Weprik (1899–1952), der zeitweilig Kompositionsschüler bei Leosˇ Janácˇ cek gewesen war. Unter seinen Werken ragen drei Klaviersonaten (1922– 1928) hervor; er schrieb die Oper „Toktogul“ über kirgisische Motive (1940) und Werke für Chor und Orchester, darunter „Lieder des Ghetto“ (1927) und eine Rhapsodie für Bratsche und Klavier (1928). In Westeuropa wurden die Ideen der russischen jüdisch-nationalen Schule von einigen Musikern aufgegriffen und weiterpropagiert und das Studium jüdischer Volksmusik weiterentwickelt. Hier sind für die Jahre zwischen den beiden Weltkriegen vor allem Léon Algazi in Paris, Joachim Stutschewsky in Wien (seit 1938 in Tel Aviv), Alice Jacob-Loewensohn in Berlin (seit 1938 in Jerusalem), Marko Rothmüller in Jugoslawien (später in der Schweiz) und die vorwiegend auf dem Gebiete der Volksliedbearbeitung interessierten Komponisten Janot S. Roskin und Arno Nadel führend. Die in Rußland begonnene Renaissance eines jüdischen Nationalbewußtseins und das Entstehen einer national-jüdischen Musik gewannen historische Bedeutung, allerdings sind die Ausstrahlungen dieser Stil- und Ausdruckswelt in den mittel- und westeuropäischen Ländern in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. nur noch gelegentlich anzutreffen. In Rußland, der Geburtsstätte der national-jüdischen musikalischen Bewegung, haben jüdisch-folkloristische Bestrebungen ihren Platz in der allgemeinen sowjetischen und postsowjetischen Förderung national-folkloristischer Musik gefunden. Die Nachfolge der russisch-national-jüdischen Schule treten stilgeschichtlich amerikanische Komponisten an, die sich vornehmlich dem Schaffen jüdischer Musik gewidmet haben wie vor allem Abraham Wolfe Binder, Jacob Weinberg, Julius Chajes, Herbert Fromm, Gerschon Ephros, Max Helfman, Isadore Freed, Harry Coopersmith, Reuben Kosakoff, Rabbi Israel Goldfarb, Hugo Adler, Zavel Zilberts. Für die assimilierten jüdischen Komponisten Westeuropas klingt das jüdische Volksgut so seltsam und fremdartig wie für Nicht-Juden. Die „exotische“ Anziehungskraft der jüdischen Folklore sprach sie etwa so an wie griechische, chinesische, japanische Melodien oder gar die damals so genannte „Negermusik“. „Jüdische Musik“ westlicher Komponisten ist weniger dem Synagogengesang oder dem jüdischen Volkslied verpflichtet als die jüdische Musik Osteuropas. Sie wirkt asketischer, weniger leidenschaftlich als die Kompositionen osteuropäischer Musiker. Und das gilt auch für die Musik von Komponisten, die aus mitteleuropäischen Ländern nach Israel übersiedelten. So verbleibt zum Abschluß der Versuch einer Antwort auf die Frage, die über den geographischen Rahmen dieses europäischen Handbuchs hinausreicht – aber doch vielleicht nicht so sehr hinausreicht: Gibt es eine „jüdische Musik“ im neuen jüdischen Land, in Israel? In Israel können wir drei verschiedene Arten der Musik unterscheiden. Die hebräische Musik hat biblische Themen und liturgische Traditionen, während die israelische Musik in den verschiedensten Stilen und Ausdrucksweisen Gedanken israelischer Komponisten widerspiegelt und dabei auch außerisraelische Modernismen und Avantgardismen einbe-

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zieht – und eben ähnlich in allen Ländern der Welt entstehen könnte. Daneben existiert schließlich die jüdische Musik, in der vor allem ältere, aber auch jüngere Musiker aus der Gesellschaft für Jüdische Volksmusik, die in Israel eine neue Heimat gefunden haben, sowie in Israel geborene Komponisten an die Erbschaft jüdischer Musik erinnern wollen, an jüdisches Martyrium, jüdisches Schicksal, Holocaust und jüdische Renaissance.

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Jüdische Volkskunde – jüdische Volkskultur Die Volkskunde beschäftigt sich als akademische Disziplin mit dem Alltag, den Lebensstrategien, Ritualen und populären Glaubensformen vornehmlich unterer und mittlerer Sozialschichten, aber auch mit dem Wechselspiel zwischen Volks- und Elitenkultur. Die jüdische Volkskunde wurde 1898 von dem jungen Rabbiner an der „Neuen DammthorSynagoge“, Dr. Max (Meir) Grunwald (1871–1953) in Hamburg unter Mitwirkung etwa des Zionisten Gustav Tuch (1834–1909) und der Henry-Jones-Loge U.O.B.B. (Unabhängiger Orden B’nai Brith) als „Gesellschaft für jüdische Volkskunde“ zusammen mit einem „Museum für jüdische Volkskunde“ gegründet. Der Verein gab unter der Federführung Grunwalds seit 1898 regelmäßig die „Mitteilungen (der Gesellschaft) für jüdische Volkskunde“1 – von 1923 bis 1925 unter dem Titel „Jahrbuch für jüdische Volkskunde“ – heraus. Neben den seit 1931 in Wilna, ab 1940 in New York herausgegebenen „Jiwobletern“ („YivoBleter“) stellte insbesondere diese Publikationsreihe umfassendes Material zur populären Kultur der Juden in West- wie in Osteuropa zur Verfügung. Der Versuch, die „Gesellschaft für jüdische Volkskunde“ in den Verband der deutschen Vereine für Volkskunde zu integrieren, scheiterte wahrscheinlich am mangelnden Interesse der nicht-jüdischen Volkskunde in Deutschland. Zudem blieben im antisemitischen Klima vor 1933 auch Versuche, die jüdische Volkskunde als Universitätsdisziplin in Deutschland zu etablieren, erfolglos. Diese Aussichtslosigkeit veranlaßte Grunwald, sich vor seiner Emigration nach Palästina 1938 in einem Memorandum für die Einrichtung eines Lehrstuhles für jüdische Volkskunde an der Hebrew University in Jerusalem einzusetzen. Vereinzelte Ansätze einer wissenschaftlichen Analyse populärer jüdischer Kultur finden sich bereits vor 1898, so beispielsweise bei Abraham M. Tendlau (1802–1878). Schriften des 17. und 18. Jhs., die sich mit dem religiösen Leben der Juden auseinandersetzen und vielfältiges Quellenmaterial auch zur historischen Volkskultur enthalten, verfolgten hingegen andere Absichten. Sie wurden entweder von Taufjuden wie Paul Christian Kirchner und Carl Anton oder von Vertretern der Judenmission wie Johann Christoph Georg Bodenschatz, Johann Buxtorf und Johann Jakob Schudt verfaßt und versuchten, mit der Darstellung der religiösen Kultur in tolerant-gemäßigter Form wie Bodenschatz und Schudt, jedoch auch in radikal-antijüdischer Weise wie Johann Andreas Eisenmenger die Juden von ihren „Irrtümern“ zu überzeugen und sie zur Konversion zum Christentum zu bewegen.

1 Der Titel der Zeitschrift variiert zwischen „Mitteilungen der Gesellschaft für jüdische Volkskunde“, „Mitteilungen zur jüdischen Volkskunde“ und „Mitteilungen für jüdische Volkskunde“.

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Grundstrukturen jüdischer Volkskultur Grunwalds Vorstellung von einer jüdischen Volkskunde umfaßte ursprünglich ein globales Konzept, das die populäre Kultur west- und osteuropäischer Juden ebenso einbezog wie die Geschichte der Juden in Nordafrika, in den vorderasiatischen Ländern, in Indien und China. Zudem rief er zu Forschungen über jüdische Gruppen wie die Falascha in Äthiopien und die Karäer auf. Der Begriff „Volkskultur“ wiederum erstreckt sich auf alle Bereiche des täglichen Lebens, auf die Strategien der Lebens- und Alltagsgestaltung, populäre Überzeugungen von der Welt und dem Jenseits, den Umgang mit den Dingen und schließlich auf die geistige Kultur, wie sie ihren Ausdruck etwa in Erzählungen oder Liedern findet. Die Lebensformen sind jedoch einem steten Wandel und der Suche nach immer neuen Sinngebungen unterworfen, da die Prozesse von Beharrung und Veränderung von konkreten räumlichen und zeitlichen Bedingungen abhängen. So schließt die Zugehörigkeit zur traditionalistisch-orthodoxen Gruppe im Jerusalemer Stadtteil Mea Shearim die Benutzung des Mobiltelefons im Alltag nicht aus. In Europa bildeten sich die Gruppen der aschkenasischen und der sefardischen Juden heraus, die sich nicht nur sprachlich und sozial, sondern auch in ihren religiösen Bräuchen unterschieden. Die bis 1492 in Spanien (‘al-’andalus) lebenden Sefardim waren gezwungen, mit der Vertreibung durch die Reconquista ihre arabisch geprägte Kultur zu verändern und sich neuen Lebensräumen in Nordafrika, im nördlichen Palästina (z.B. in Safed), vor allem aber in Oberitalien, den Niederlanden, in Deutschland (Altona) und von dort ausgehend in Dänemark, ferner in Griechenland und in der Türkei anzupassen. In Amsterdam etwa verstand sich die sefardische Gemeinde nicht nur als jüdische Elite, sondern in ihrem äußeren Habitus und Lebensstil auch als Spiegelbild des höfischen Lebensideals. Ihre Religiosität hingegen war infolge der Erfahrungen durch die Vertreibungen von der Iberischen Halbinsel eher konservativ geprägt. Gerade die populäre Kultur macht die Grundbedingungen jüdischen Lebens vom Mittelalter bis in die Moderne sichtbar. Während die religiöse Identität eine die Zeiten überdauernde Klammer jüdischer Existenz bildete und wesentlich zum Überleben in einer judenfeindlich denkenden Gesellschaft beitrug, unterlag das Alltagsleben einem steten Wandel durch Anpassung und Neuinterpretation verbindlicher Grundwerte und Normen. Max Grunwald dachte für seine Zeit revolutionär. In einem in schwedischer Sprache publizierten Artikel betrachtete er den Einfluß der nicht-jüdischen Umwelt auf das jüdische Leben als einen von drei konstitutiven Bausteinen jüdischen Volks- und Alltagslebens. Dieser These pflichtete auch der Kulturhistoriker und Wiener Rabbiner Moritz Güdemann (1835–1918) bei. Grunwald selbst betonte die grundlegende Idee dieser kulturellen Symbiose in seinem Memorandum für die Einrichtung eines Lehrstuhles für jüdische Volkskunde an der Hebrew University in Jerusalem: „Selbst in den Zeiten des Ghettos fand zwischen den Juden und der Umwelt ein reger Tauschverkehr volkskundlichen Gutes statt.“2 2 Jewish National and University Library Jerusalem, Nachlaß Dr. Max Grunwald 4° 1182/XX, S. 3 (maschinenschriftliches Manuskript).

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Durch die Alphabetisierung aber unterschieden sich die Juden maßgeblich von ihrer Umwelt. Die Lesefähigkeit als Voraussetzung für Bildung ergab sich nicht nur aus religiösen, sondern auch aus beruflichen Voraussetzungen: Die von Juden besetzten Berufsfelder als Geldhändler und Finanziers, in die sie durch das IV. Laterankonzil von 1215 gedrängt worden waren, ferner als Händler und Kaufleute, erforderten nicht nur die Fähigkeit des Lesens, Schreibens und Rechnens, sondern auch die Kenntnis von Fremdsprachen, die sie für ihre im Mittelalter bis nach Zentral- und Vorderasien reichenden Handelsgeschäfte benötigten. Man kann davon ausgehen, daß zumindest die jüdische Oberschicht im Mittelalter neben dem Hebräischen die jeweilige Landessprache wie Deutsch oder Französisch und die für die Berufsausübung als Fernhändler erforderlichen Sprachen wie das Arabische beherrschte. Ebenso sind immer wieder ausgezeichnete Kenntnisse des Lateinischen bezeugt, wenn jüdische Gelehrte in den öffentlichen, ihnen aufgezwungenen Disput mit christlichen Theologen traten. So berichtete Arnold von Vohburg, Mönch des Regensburger Klosters St. Emmeram, in seinem um 1035 niedergeschriebenen Mirakelbuch „De miraculis S. Emmerami“ von einer Disputation von Juden und Christen in Regensburg. 1608 geriet der offenkundig des Italienischen nicht mächtige englische Bildungsreisende Thomas Coryate während seines Besuches im venezianischen Ghetto mit einem Rabbiner in eine Debatte über die christliche und jüdische Religion, die durch die hervorragenden Lateinkenntnisse des jüdischen Gelehrten ermöglicht wurde. Benjamin von Tudela, über den wir nicht viel mehr wissen als das, was in seinem Itinerarium steht und was die Überlieferung berichtet, nämlich daß er kurz nach der Rückkehr von seiner Reise nach Vorderasien in Kastilien im Jahre 1173 gestorben sein soll, benutzte das in seiner Heimat als Amtssprache geläufige Kastilisch in seinem in Hebräisch verfaßten Reisebericht nur ein einziges Mal, bezeichnenderweise für einen Begriff aus der Kaufmannssprache. Der Anteil arabischer Begriffe hingegen ist hoch, was darauf verweist, daß er, der in einem längst wieder christlich gewordenen Teil Spaniens aufwuchs, diese Sprache beherrschte, um im Orient Handel treiben zu können. Der bedeutende, in Prag wirkende Gelehrte Isaak ben Mose aus Wien (etwa 1180–1250), Autor des berühmten halachischen Werkes Or sarua (Gesätes Licht), machte häufig von der „Sprache Kanaans“ Gebrauch und meinte damit das Tschechische, um schwierige Stellen der rabbinischen Literatur besser erklären zu können. Die Mehrsprachigkeit, die auch für die Analyse der populären jüdischen Kultur von Bedeutung sein wird, prädestinierte die Juden im Mittelalter wie in der Frühen Neuzeit zu Übersetzern hebräischer und arabischer Schriften. So übertrug der jüdische Humanist und Grammatiker Elia Levita (1468/69–1549) für den späteren Kardinal und Ordensoberen Egidio da Viterbo unter anderem kabbalistische Schriften und trug damit wie viele seiner Glaubensgenossen zum Wissens- und Kulturtransfer bei. Unter dem Eindruck der Schoa wurde die jüdische Geschichte in Europa häufig auf eine Kette von Pogromen, Verfolgungen, Vertreibungen, Diskriminierungen und Ausschreitungen gegen Leib und Leben der Juden reduziert. Tatsächlich aber lassen sich zwischen Phasen der Unterdrückung auch mehrere Generationen andauernde Perioden des Friedens nachweisen, in denen zahlreiche jüdische Gemeinden eine geistige, kulturelle und wirtschaft-

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liche Hochblüte erlebten. Stellvertretend hierfür seien einige, keinesfalls repräsentative Zahlen aus Regensburg aufgeführt: Am 23. Mai 1096 bedrohten Kreuzfahrer die Regensburger Juden. Sie wurden zwangsgetauft, konnten jedoch bereits 1097 dank eines Privilegs Heinrichs IV. wieder zu ihrem alten Glauben zurückkehren. 1137 fanden erneut Zwangstaufen statt – von den Ausschreitungen der Kreuzzüge blieben die Regensburger Juden allerdings weitgehend verschont, ähnlich 1147 vom Zweiten Kreuzzug, ebenso 1298 von den Pogromen der Rindfleisch- und 1336 der Armledererhebung, auch 1338, als nach dem Pogrom in Deggendorf die Juden in vielen niederbayerischen Gemeinden ermordet und aus ihnen vertrieben wurden. Die Geschichte der Juden in Regensburg stellt sich im Vergleich zu Entwikklungen in anderen bayerischen Gemeinden als privilegiert dar, weswegen Michael Wolffsohn für diese Stadt von einem „Koexistenzmuster“ gesprochen hat. Als Gesetzmäßigkeit jüdischen Lebens in Europa läßt sich festhalten, daß die Juden in Phasen, in denen die kirchliche Judenfeindschaft nicht nur überwog, sondern auch das Handeln des Staates bestimmte und legitimierte – etwa bei der sich im Spätmittelalter abzeichnenden Vertreibung der Juden aus den Städten, die zur Entstehung des Landjudentums führte –, zum Spielball der Machtpolitik wurden. Wo sich jedoch die kirchliche Judenpolitik nicht gegen staatliche Interessen durchzusetzen vermochte, wo man wie in Venedig oder in Amsterdam merkantilistisch dachte und in den Juden nicht nur wichtige Steuerund Einnahmequellen, sondern auch Personen mit herausragendem ökonomischem Know-how und globalen Handelsbeziehungen sah, lassen sich über längere Zeiträume hinweg soziale Konsolidierung, Wohlstand und kulturelle Kreativität beobachten. Als im Frühsommer des Jahres 1471 der Kanzler des Bischofs von Basel anläßlich der Vorbereitung des Christentages in Regensburg weilte, schrieb er in seinem Bericht an das Kapitel zu Basel: „Item mein herr von Basel ist am nechsten by der Judengassen enmitten in der Statt zu herberg, und wir können nit zum hus uslugen, wir müssen die Juden sechen und hören singen, sie hand ein gross gassen mit viel kostlicher hüsern allein in […].“3 In „köstlichen“, also wohlgebauten Häusern lebten keine bettelarmen Juden, und daß sie auf der Straße sangen, deutet nicht unbedingt auf Klagelieder hin.

Die Ordnung des jüdischen Lebens: Minhagim Religion und Alltag, Frömmigkeit und profane Lebenswelten durchdringen sich gegenseitig, doch in manchen Bereichen schließen sich Religiosität und säkulare Lebensauffassung aus. Die Lebenssituation in der Diaspora (Galut) bedingt die stete Anpassung an Zeit und Raum. Nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 unserer Zeitordnung durch Titus zerbrach die historische und räumliche Einheit des Judentums. Die Religionsgesetze und 3

Raphael Straus, Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte der Juden in Regensburg 1453–1738. Mit einem Geleitwort von Friedrich Baethgen (Quellen und Erörterungen zur Bayerischen Geschichte, N.F. Bd. XVIII). München 1960, S. 33, Nr. 120.

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die religiöse Regelung des Lebens aber waren zeitlich auf den antiken, räumlich auf den mediterran-vorderasiatischen Kulturraum bezogen. Nun mußten sie in den neuen Lebensräumen in Ost und West, in Spanien und Frankreich ebenso wie in Nordafrika und China bewahrt, oder besser: jeweils neu begründet und sinnangepaßt werden. Dies betraf das Nahrungsverhalten (Kaschrut), aber auch die Feier der Feste. Wenn an Sukkot (Laubhüttenfest) im Spätherbst im trockenen Orient um Regen für die Landwirtschaft im folgenden Kalenderjahr gebetet wird, dann besitzt dies seinen einsichtigen Sinn. Wie aber müssen dänische Juden empfinden, die an Sukkot im Herbst mit seinen für Skandinavien typischen Regengüssen um Wasser für die Feldfrüchte bitten? Da an diesem Fest das „Kol mewasser“ gebetet wird, reagierten sie mit Humor und schufen in der Umdeutung ihr traditionelles Festessen für diesen Anlaß: In Kopenhagen wurde an Sukkot in Wasser gekochter Kohl gereicht, auf dänisch mit Rückgriff auf das Deutsche „kål med wasser“ (Kohl mit Wasser). Mag dies den sich aus dem konkreten geographischen bzw. klimatischen Raum ergebenden Anpassungsdruck dokumentieren, so zeigt ein weiteres Beispiel aus dem Bereich des Nahrungs- und Genußverhaltens die sich mit dem Wandel von Zeit und Moden verbindenden Veränderungsprozesse. Im letzten Drittel des 19. Jhs. kam im Bürgertum die Sitte auf, nach einem (festlichen) Essen Kaffee und zu diesem selbstverständlich Milch oder Sahne zu servieren. Einer observanten jüdischen Familie war jedoch der Genuß von Milchprodukten direkt nach einer „fleischigen“ Mahlzeit untersagt. Man ersetzte daher die Sahne durch geschlagenes Eiweiß; dem äußeren Schein und der Kaschrut war Genüge getan. Die Eigenart jüdischer Volkskultur aber ergibt sich auch aus dem Leben in „zwei Zeiten“, in zwei Kalendersystemen, dem mobilen jüdischen Kalender und dem christlichen Kalender. Ersterer vertrat das religiöse, letzterer das säkulare Leben. Daß das Purimfest bereits im Mittelalter Brauchformen der christlichen Umwelt übernahm, daß die frühen Purimspiele in Verbindung zu den Fastnachtsspielen etwa eines Hans Sachs stehen, daß die christliche Symbolfigur des Narren zum grafischen Markenzeichen für Purim in den „Minhagim“Büchern (z.B. Venedig 1593; Amsterdam 1707) geriet, daß in der frühen Neuzeit christliche Theologen Purim als „bacchanalia Judaeorum“ nicht etwa deswegen bezeichneten, weil die Juden an diesem Tag mehr trinken sollten als gewöhnlich, sondern weil „bacchanalia“ der Fachausdruck für Fastnacht in einer lateinisch kommunizierenden Gelehrtenwelt war, beruht auf zwei Ursachen, nämlich dem freudigen Charakter des Festes als Erinnerung an die Errettung der Juden aus größter Not, was zu einer Reihe lokaler Purimfeste in Europa wie etwa in Narbonne (21. Adar) führte, und der zeitlichen Nähe zur christlichen Fastnacht. Doch der sich von Jahr zu Jahr verschiebende jüdische Kalender konnte es mit sich bringen, daß die ausgelassenen und lärmenden Purimumzüge, das „Hamanklopfen“, die Übergabe der Synagogenschlüssel an einen Narrenrat und die Aufführung durchwegs lustiger, bisweilen auch derber Purimspiele in die christliche Fastenzeit oder gar in die Karwoche fielen, in der alle Lustbarkeiten streng verboten waren. Dies führte dann zu Konflikten mit der Umwelt und insbesondere mit den Ortsgeistlichen. So klagte 1694 der Pfarrer von Schnaittach die Judenschaft an, weil sie bei einer am Freitag gehaltenen Hochzeit „sich sehr impertinent mit denen Spilleuthen vnd andern gewohnlich Freudenzeichen zwecks Be-

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schimpffung der Catholischen Religion vnd zwar sogar in der Charwoche solle verhalten haben“. Auf diese Anklage hin erfolgte 1696/97 das Verbot des „offentlichen Dantz“ und ein grundsätzliches Spielverbot an Freitagen und Samstagen: Man habe zu den „heiligen Zeiten […] allen Unfug abzustellen“.4 Auch Chanukka fällt im Winter in die Nähe eines christlichen Festes, nämlich Weihnachten, dessen moderne Gestalt erst im 19. Jh. entstand. Man hat den Ersatz des ChanukkaLeuchters durch den Weihnachtsbaum in jüdischen Familien stets als endgültiges Zeichen der Assimilationsprozesse im 19. und frühen 20.Jh. betrachtet, und der „Schlemiel“ formulierte 1904 (Nr. 1) unter dem Titel „Darwinistisches“ in einer zionistischen Karikatur gegen die Assimilation: „Wie sich der Chanukkaleuchter des Ziegenfellhändlers Cohn in Pinne zum Christbaum des Kommerzienrates Conrad in der Tiergartenstraße (Berlin W.) entwickelte“. Gezeigt wurde eine Chanukkija, die nach und nach ihre Lichterarme nach unten hängen läßt, wobei Tannennadeln zu wachsen beginnen. Der Besitz eines Kalenders für die Bewältigung der beiden, der christlichen und jüdischen Zeiten ist damit Voraussetzung und zugleich Symbol für die jüdische Volkskultur. Die Zeit der Händler und die Zeit des religiösen Lebens bedurfte dieses Hilfsmittels, ob es sich nun um das „Sefer ha-Ewronot“ des Juda ben Samuel Mehler aus Fulda von 1649 handelt, das Kalenderregeln und eine Liste der Jahrmärkte zusammenstellte, oder um jene jüdische Kalenderliteratur, die einen Großteil der Funde in der Genisa von Veitshöchheim bei Würzburg ausmachte. Die Assimilation setzte nicht im letzten Drittel des 18. Jhs. mit der Haskala ein, sondern bildete eine der Grundbedingungen jüdischen Lebens in Europa. Schon im Mittelalter waren die Juden von der Kultur und den Moden ihrer Umwelt fasziniert, wie nicht zuletzt ein Fund zeigt, der Restauratoren 1996 in der Zürcher Altstadt (Brunngasse 8) gelang. Dort fand man in die Zeit um 1330 datierbare Fresken, die Wappen hochadeliger Geschlechter und Bildszenen aus der Dichtung des Lyrikers Neidhart von Reuenthal zeigen. Unter den Wappen der Grafen von Luxemburg und des Erzbischofs von Mainz befinden sich beispielsweise Erklärungen in hebräischer Kursive. Die jüdischen Auftraggeber kennen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit. In der Entstehungszeit um 1330/40, also vor den schweren Judenverfolgungen in Zürich von 1349, lebten im Anwesen eine „Frau Minne“ und ihre beiden Söhne „Gumprecht“ und „Moses“, der wahrscheinlich mit Moses ben Menachem identisch ist. Dieser hatte in den vierziger Jahren Jahren des 13. Jhs. die Synagoge der Gemeinde in der Froschaugasse 4 gekauft und – umgeben von Fresken mit Darstellungen von Musikanten, tanzenden Männern und Frauen im höfischen Stil, einem Bogenschützen und den Wappen der politischen Machthaber – den „Züricher Semak“ verfaßt, einen innerhalb der rabbinischen Literatur durchaus wichtigen Talmudkommentar. Standen derartige Anpassungsprozesse jedoch im Widerspruch zur religiösen Identität, führten sie zu Rechtsentscheiden und Responsen namhafter Gelehrter und zu den „Minha4 Walter Salmen, „denn die Fiedel macht das Fest“. Jüdische Musikanten und Tänzer vom 13. bis 20.Jh. Innsbruck 1991, S. 98.

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gim“-Büchern der frühen Neuzeit. Minhag, wörtlich „Brauch“, bezieht sich auf die Gestaltung sowohl der Feste und Feiertage als auch des Alltags. Indem er Rituale begründet und normiert, signalisiert er zugleich die Möglichkeit der Veränderung durch Wahrnehmung des Fremden, das nicht immer gleichbedeutend mit dem Christlichen sein muß, sondern auch mit den in anderen jüdischen Gemeinden üblichen Bräuchen. Der Minhag wirft die Frage nach der Übereinstimmung von Verhaltensweisen mit der jüdischen Tradition generell und mit den lokalen Sitten und Bräuchen speziell auf. Da er ohne die sich stets vollziehenden Akkulturationsprozesse überflüssig wäre, gerät er zur sensiblen historischen Quelle für die sich schnell wandelnden Lebensstile, Moden und sittlichen Normen. So hatten liberale Mitglieder der Jüdischen Gemeinde in Mainz im Herbst 1857 damit begonnen, Blumen auf Gräber zu pflanzen, die von orthodoxen Juden wiederholt herausgerissen wurden. Da nach einer Anzeige die Staatsanwaltschaft mit der Klärung überfordert war, bat man Leopold Löw zu entscheiden, ob die Sitte, Blumenschmuck auf Gräbern anzubringen, mit der jüdischen Identität vereinbar oder ob sie christlichen Ursprungs sei. Die Antworten fielen häufig je nach der Reformfreudigkeit oder der Traditionalität des Rabbiners aus. Löw als reformorientierter Gelehrter befürwortete den Brauch als bedeutsam für die Trauerhilfe. Andererseits ergaben sich aus der Binnenmobilität Reibungspunkte, wenn Juden aus anderen Orten mit eigenem Brauch zuzogen. Schließlich aber konnte sich das lokale Brauchverhalten aus individueller Steuerung ergeben. So berichtet Bruno Stern aus dem württembergischen Niederstetten, daß man im Ort beim Chomezbattel, der Reinigung des Hauses von allem Gesäuerten vor Pessach, den Fürther Minhag befolgt habe. Die gesamte Familie sei von Zimmer zu Zimmer gezogen, eines der Kinder mit der Laterne vorneweg, obwohl „wir damals schon überall im Haus elektrisches Licht hatten“; die „Mutter hatte eine Tüte mit Brotstückchen in der Hand, Vater eine Tüte, in welcher sich der Aphikomen vom letzten Jahr befand, und einen Federwisch“. In jedem Zimmer streute man die Brotreste aus und kehrte sie wieder in die Tüte, vollzog somit eine symbolische Reinigung. Doch mit dem neuen Lehrer, einem Vertreter der Frankfurter Neuorthodoxie, sei alles anders geworden, da dieser auf einem äußerst sorgfältigen Hausputz vor Pessach bestanden habe. Aber auch die demographische Struktur des Lebensraumes, des Dorfes oder der Stadt, beeinflußte die Minhagim und bestimmte über den Grad der Anpassung. Prachtvolle Leichenwagen prägten die christlichen Bestattungen, während beim jüdischen Leichenbegängnis meist die Mitglieder der „Heiligen Bruderschaft“ (Chewra Kaddischa) den Sarg zur Grabstätte trugen. Als nun die Juden ebenfalls begannen, ihre Verstorbenen in Leichenwagen zu befördern, war dies orthodoxen Rabbinern ein Dorn im Auge. Immerhin wußte Hirsch Chajes (1805–1855), Großvater des späteren Wiener Oberrabbiners Zwi Perez Chajes (1876–1927), zu differenzieren: Leichenwagen besäßen in Städten mit überwiegend christlicher Bevölkerung und vor allem dort, wo der Leichenzug durch christliche Stadtviertel führe, ihren Sinn, da etwa das Tragen des Sarges durch die Trauergäste als Abweichung von der herrschenden Sitte mißbilligt werden könnte. In polnischen Gemeinden mit vornehmlich jüdischen Einwohnern sei dies allerdings nicht zu befürchten, weswegen

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man die alten Bräuche beibehalten solle. Der Minhag beugte sich folglich den äußeren Verhältnissen dort, wo es der Schutz der Gruppe erforderlich machte. Gerade Handlungen im Umfeld des Todes bewahren ein relativ starres, auch von Säkularisierungsprozessen weitgehend unberührtes Traditionsmuster. So trafen die kollektiven Scheintodängste des 18. Jhs. den Nerv der Juden. Bis dahin hatten sie die Beerdigung ihrer Toten alter Gewohnheit entsprechend sofort nach Eintritt des Todes eingeleitet. Nun aber sollten auch sie, staatlichen Anordnungen entsprechend, ihre Verstorbenen zur Vermeidung des Scheintodes drei Tage unbegraben liegen lassen, wie es etwa die Verordnung Herzog Friedrichs für Mecklenburg-Schwerin vom 30. April 1772 vorschrieb. Dies brachte die observanten Juden (nicht nur) Schwerins in Aufruhr, da das Gebot fundamental gegen ihr Selbstverständnis und überkommenen Brauch verstieß. Briefverkehr, Klagen und Einsprüche dieser Zeit füllen die Archive, und auch der Vordenker einer Annäherung der Juden an Staat und Gesellschaft des späten 18. Jhs., Moses Mendelssohn (1729–1786), wurde eingeschaltet. Die Juden hatten sich stets auf die Auffassung gestützt, daß die frühe Beerdigung aus religiösen Gründen erfolgen müsse. Mendelssohn hingegen gelang es, diese Rechtfertigung als irrtümlich nachzuweisen und so jüdischen Brauch den staatlichen Anforderungen anzupassen. Ähnliche Probleme sollten in der Folgezeit auch die Einführung der Feuer bestattung betreffen. Denn der Friedhof ist, so Werner J. Cahnman, ein zentraler geistiger, ein Stück Heimat repräsentierender Bezugspunkt für die Juden, nahezu undenkbar daher die Beisetzung außerhalb dieses Bezirks. Doch wie der Minhag die Halacha übersteigt, so vermag der Zeitgeist den Minhag außer Kraft zu setzen. Das Leben der Juden ist eingebettet in Bräuche und Rituale, die das Leben von der Geburt bis zum Tod, das Jahr von einem Fest zum anderen begleiten. Manche Bräuche scheinen regional beschränkt geblieben zu sein, z. B. das „Holekreisch“ bei der Namensgebung des Kindes auf den süddeutschen, schweizerischen und elsässischen Raum. Manche Bräuche sind alten Ursprungs, andere jung wie die zur Aufbewahrung von Gewürzen dienende Besomim-Büchse, die man zur Hawdala-Zeremonie, der „Verabschiedung“ des Sabbat am Samstagabend, neben der geflochtenen Kerze und einem Becher Wein benötigt. Der Brauch, Gewürze in einem speziellen Behältnis, der Besomimbüchse, aufzubewahren, geht auf den 1175 gestorbenen Rabbiner Efraim ben Isaak zurück, der dem rabbinischen Gericht (Bet-Din) in Regensburg angehört hatte.

Assimilation und Lebensstil Die Minhagim vermitteln zwischen religiöser Identität und profaner Umwelt, zwischen Raum und Zeit. Der aufgeklärte, sich für antike Autoren begeisternde Heinrich Graetz (1817–1891) war in seiner Jugend nur durch massiven Druck seines Vaters dazu zu bewegen, an der Zeremonie des „Kappores-Schwingens“ am Abend vor Jom Kippur im elterlichen Haus teilzunehmen, bei der ein Mann einen lebenden Hahn, eine Frau eine Henne

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mehrmals über dem Kopf schwang und in einem kurzen Gebet die Sündenschuld auf das Tier zu übertragen bat. Man hat den Rückzug der Religiosität hinter die schützenden Mauern von Synagoge und Wohnung, der Konfession nach innen zugunsten des gesellschaftlichen Lebens als Staatsbürger jüdischen („mosaischen“) Glaubens nach außen, als Folge der Assimilation des 19.Jhs. bezeichnet. In Dänemark griff das erstmals 1912 und bis heute mit großem Erfolg aufgeführte Theaterstück „Indenfor murene“ (Innerhalb der Mauern) Henri Nathansens (1868–1944) diese Problematik auf: Als Jude fühlte man sich in der privaten Sphäre des Sabbat, der Synagoge und des privaten Heims, wo man über die sich anbahnende Ehe eines Familienmitgliedes mit einem Nicht-Juden diskutierte, als Däne jedoch im Berufs- und Gesellschaftsleben. Doch die Lebensbedingungen und -perspektiven zwangen die Juden in Europa bereits vor dem 19.Jh. zu sozialer und kultureller Offenheit. Sie waren mehrsprachig, hochgebildet und mobil, weswegen bereits die Karolinger sie als Diplomaten, Agenten und Fernhändler beschäftigten. Der Zwang zu ständigen Kontakten mit der Umwelt ergab sich nicht nur aus der Situation als Minderheit, sondern auch durch die Berufsstruktur als Handelsspezialisten, die zwischen Ost und West, Nord und Süd vermittelten. Daran konnten letztendlich weder die fatalen Bestimmungen des IV. Laterankonzils von 1215 noch die spätmittelalterlichen Vertreibungen aus der Mehrzahl der Städte etwas ändern. Auch das Landjudentum, häufig in Sichtweite der nahegelegenen Städte, blieb mobil, dachte und handelte städtisch, und Dörfer und Kleinstädte entwickelten sich seit der frühen Neuzeit zu Zentren jüdischer Gelehrsamkeit. Das 1516 eingerichtete Ghetto von Venedig wirkte zwar insofern ideologiebildend, als man es später mit der Vorstellung einer nach außen hin durch Zwang abgeschlossenen jüdischen Welt verband, während die Juden Venedigs es keinesfalls als Zeichen des Ausgegrenztseins, der Isolation oder der Insulation, sondern als vorübergehendes Provisorium empfanden. Vielmehr entwickelte sich dort eine geistige und materielle Kultur, die das Viertel zum verbindlichen touristischen Besichtigungsprogrammpunkt für die Bildungsreisenden des 17. Jhs. machte, wie etwa die Venedig- und Rheinfahrt des Engländers Thomas Coryate von 1608 zeigt. Im venezianischen Ghetto schufen die Juden als gebildete und zugleich lebenslustige Menschen eine blühende Vergnügungskultur, an der sich die Venezianer trotz erfolgloser Einschränkungsversuche beteiligten: Man ging anläßlich von Konzerten, Theateraufführungen und Festen dorthin und besuchte die jüdischen Tanzund Musikschulen. Vor allem aber traf man sich zum gemeinsamen Glücksspiel. Christen ließen ihre Kinder von jüdischen Lehrern unterrichten, Humanisten suchten jüdische Gelehrte auf, um sich von diesen hebräische, arabische und griechische Schriften übersetzen zu lassen. Das Ghetto entwickelte sich zum Dienstleistungszentrum für Bildung und Freizeit, in dem Wohlhabenheit und Lebensstil offen zur Schau getragen wurden. So berichtete der an Überheblichkeit und antijüdischen Ausfällen nicht sparende Engländer Coryate mit Begeisterung über die prachtvollen Festtagskleider der Frauen in einer der Ghetto-Synagogen: Sie stünden jeder englischen Adligen gut an und die Frauen besäßen eigene Zofen. Schon Jahrhunderte zuvor hatte das in mehreren Versionen vorliegende, unter anderem der herausragenden Gestalt der mittelalterlichen Chasside Aschkenas, der Bewegung der

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mittelalterlichen Pietisten, Rabbiner J(eh)uda ben Samuel ben Kalonymos ha-Chassid von Regensburg (um 1140/50–1217) zugeschriebene „Sefer Chassidim“ („Buch der Frommen“), das mystische Theologie und eine sozialrevolutionäre Ethik mit zahllosen illustrierenden Beispielgeschichten verbindet und nach Gershom Scholem „eines der bedeutendsten und denkwürdigsten Produkte der jüdischen Literatur“ darstellt, assimilatorische Tendenzen innerhalb des mittelalterlichen Judentums beobachtet. Das Werk sei zwar für diejenigen verfaßt worden, „die Gott fürchten und seinen Namen lieben“ (§ 27),5 allerdings hätten die Juden die Sitten ihrer nicht-jüdischen Nachbarn übernommen und vor allem deren Unsitten (§ 1106). Doch das „Sefer Chassidim“ ist selbst ein Spiegel der Offenheit jüdischer Kultur. In den Handschriften mischt sich ein nicht allzu geschliffenes Hebräisch mit deutschen Begriffen und französischen Sätzen, sogar bei Segensformeln und der Umschreibung des unaussprechlichen Namens Gottes: Man solle ihm stets die Benediktion „soit beneit et soit louez“ hinzufügen und ihn am besten gar nicht nennen, sondern mit „notre Sire“ umschreiben (§ 3–4), wie man grundsätzlich nur in derjenigen Sprache beten solle, die man verstünde (§ 588). Man solle keine christlichen geistlichen Schriften lesen und religiöse Werke nicht zusammen mit Romanzen, also weltlicher Unterhaltungsliteratur aufbewahren (§ 142). Deren Lektüre untersagt das „Sefer Chassidim“ jedoch nicht. Jüdische Frauen, denen die Vergewaltigung durch Christen droht, sei es erlaubt, „Nonnenkleidung an[zu]legen, daß ihre Tracht sie vor Angriffen schütze. Befürchtet sie Vergewaltigung von jüdischen Wüstlingen, darf sie christliche Tracht anlegen und sagen, sie sei eine Christin und werde sie anzeigen“ (§ 702). Die Juden gäben viel Geld für Luxus statt für die Armen aus, so für die Züchtung buntfarbiger Vögel in prächtigen Vogelhäusern (§ 1037). In höchst aufschlußreicher Weise regelt eine Reihe von Paragraphen den Umgang der „Frommen“ mit den Christen: Man solle keine (christlichen) Kirchengesänge ins Hebräische übersetzen und sie in der Synagoge vortragen (§ 428 und 238), Kinder in der Wiege nicht mit christlichen Melodien in den Schlaf singen (§ 238) und Christen keine Synagogenmelodien für deren kirchlichen Gebrauch lehren (§ 429 und 238). Einbände von Meß- und Gebetbüchern seien weder für Briefe und Schuldscheine noch zum Einbinden jüdischer Bücher zu verwenden (§ 429 und 238). Das „Sefer Chassidim“ erwähnte ähnlich wie die Schulverfassung „Hoke ha-Tora“ aus dem 13. Jh. „Pergamentblätter“, auf denen „Romanzen geschrieben sind“. Diese aber waren bei den Juden äußerst beliebt. Aus dem Jahre 1279 stammt eine hebräische Schrift mit dem Titel „Sefer hischschamed ha-Tabla ha-Agola shel ha-Melech artus“ (Das Buch über den Verfall der Tafelrunde des Königs Artus), die Übersetzung einer italienischen, ihrerseits auf einer altfranzösischen Version beruhenden Vorlage des Artusstoffes. Sie enthält die Geschichte von Sir Lancelot, von König Artus sowie von der ganz und gar nicht-jüdischen Suche nach dem Heiligen Gral, für die der Schreiber auf das „Libro di la Kesta del Sangraal“ 5

Das „Sefer Chassidim“ liegt in zwei maßgeblichen Versionen vor: einer um 1300 entstandenen Pergamenthandschrift (Parma, Bibliotheca Palatina, Ms. Heb. Parm. 3280 [de Rossi num. 1133] und der Editio princeps Bologna 1538 (Kobenhavn, Det Kongelige Bibliotek, Judaistisk Afdeling).

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hinweist. Im Vorwort rechtfertigte der unbekannte Bearbeiter die Adaption nicht-jüdischer Erzählinhalte mit dem Hinweis, daß z. B. der Rabbiner Jochanan ben Sakkai profanes Erzählgut wie die „Fuchsfabeln“ (Mischle Schualim) als entspannende Lektüre nach dem Torastudium und als moralisierende Erbauung ausdrücklich empfohlen habe. Der hebräische Artusroman stellt keinen Einzelfall dar. Der Jude Sampson Pine übertrug den französischen Parzival-Text ins Deutsche, aus der Genisa von Kairo stammt eine auf den 9. November 1382 datierte Handschrift, die unter anderem das Fragment des „Dukus Horant“, einer jüdisch-deutschen Bearbeitung des Gudrunliedes, enthält. Kaum ein Ritterepos, kaum ein Volksbuch, das nicht im Mittelalter wie vor allem in der Frühen Neuzeit seine jüdisch-deutsche Bearbeitung erfahren und den Weg zu jüdischen Lesern gefunden hätte. Unser Wissen um diese populäre Literatur ist in jüngster Zeit vor allem durch aufsehenerregende Genisa-Funde wesentlich erweitert worden. So enthielt die Genisa in der Synagoge von Veitshöchheim ein jüdisch-deutsches Exemplar von „Kinig Artis hof“ (Fürth 1781), einer Artuserzählung, von der mehrere Versionen bekannt sind, so die des Josel (von) Witzenhausen, der auch die Tora ins Jüdisch-Deutsche übersetzt hatte. Doch nicht nur Ritter-, sondern auch Liebes- und Abenteuerromane standen neben Gebetbüchern und religiöser Literatur im jüdischen Bücherregal, so etwa „Di’ beshtendige libshaft fun Floris un’ Plankefler“ (z.B. Homburg 1724; Die beständige Liebe von Floris und Plankefler), der „Hertsog Er(i)nst“, der „Kayser Oktafianus“ oder die „Spanishe haydn oder tsigayners“ (erste Hälfte 18.Jh.), eine jüdisch-deutsche Übertragung von Cervantes’ Novelle „La gitanilla“, die 1613 erschienen und 1637 ins Niederländische übersetzt worden war. Lesen aber bedeutete mehr als nur Bildung und unterhaltsam-erbaulichen Zeitvertreib, es repräsentierte auch den Lebensstil. Die Erzählungen von König Artus, den Rittern und dem Verfall der Tafelrunde waren unter Juden derart geläufig, daß „vor zweihundert Jahren jeder Jude seinen Namen kannte, und wenn man eine Person von gewissem Lebensstil beschreiben wollte, dann sagte man: Sein Haus erinnert dich an König Artus’ Hof“. Diese Feststellung machte Max Weinreich 1928 in seinen „Bilder fun der yidisher literatur geshikhte“.6 Schon Moritz Güdemann hatte gemutmaßt, daß im Mittelalter mehr Juden die Erzählungen über König Artus und über Wieland den Schmied lasen als Deutsche sie hörten. Jüdische Volkskultur bewahrt sich dort, wo sie den Regeln, Ansprüchen und Bedingungen einer nicht-jüdischen Umwelt unterworfen ist, die religiöse Eigenart, wo sie diese mit dem kulturellen Repertoire der Zeit und der Gesamtgesellschaft ummantelt und den Dingen und Handlungen einen jüdischen Sinn verleiht. Dies betrifft die Formenwelt jüdischer Gebrauchskunst und die jüdisch-deutsche Bearbeitung deutscher, französischer oder italienischer Lesestoffe. Diese erforderte nicht die Übertragung ins jüdische Milieu, wohl aber die Neutralisierung, wenn christliche Moral und christliches Selbstverständnis allzu stark in der Vorlage hervortraten. Die europäischen Juden handelten und dachten jüdisch im Repertoire der sie umgebenden Kultur und der häufig schnellebigen modischen Entwicklungen. 6

Max Weinreich, Bilder fun der yidisher literatur geshikhte. Vilna 1928, S. 64.

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Die aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit erhaltenen Bildquellen belegen eindeutig, daß sich die Juden in der Kleidermode nicht von ihren Nachbarn unterschieden und im Italien der Renaissance die dort übliche Tracht trugen oder der spanischen und später der französischen Hofmode folgten. Wären sie – mit Ausnahme der Gebetskleidung – mit ihren Kleidungsstilen eigene Wege gegangen, hätte es der – periodischen – Kennzeichnung durch das Judenzeichen, meist den gelben Ring, nicht bedurft. Gerade die jüdischen „Trionfi“ weisen auf den virtuosen Umgang mit Lebens- und Modestilen hin. So veranstalteten die Prager Juden am 24. April 1741 unter der Leitung ihres Primators Simon Wolf Frankel anläßlich der Geburt des Erzherzogs von Österreich, des späteren Kaisers Joseph II., im Prager Judenviertel einen Festzug. Ihre Trachten entlehnten sie dem 15. und 16. Jh. Der Zug begann mit jüdischen Postbriefträgern, Herolden und Läufern, es folgten zu Pferd der Primator Frankel in altspanischem Kostüm, ein Brautpaar in Rokokokleidung, berittene Garden und Trompeter, Narren, Herkulesse mit Keulen in den Händen, Gnome sowie Bacchus auf einem geschmückten, von Bacchantinnen gezogenen Wagen. Den Schluß des Festzugs bildete die Darstellung einer Bauernhochzeit. Insbesondere die Takkanot (Gemeinde- und Luxusordnungen) und die Pinkasim (Gemeindebücher) erlauben uns heute einen Blick in den Alltag und in die Feste, in Wünsche und die Sehnsucht, auf dem geistigen und modischen Stand der Zeit zu sein. Als in Nürnberg Regentücher aus schwerem Stoff in Mode kamen, wurden sie umgehend von Jüdinnen aus dem benachbarten Fürth übernommen. Darüber aber entbrannte in der Fürther Gemeinde ein Streit: Eine Partei sah in dem Textil „eine Last“ und wollte das Tragen am Sabbat verboten wissen, die andere definierte es als Mantel und gestattete die Benutzung am Feiertag. Da man sich nicht einigen konnte, „kleidete“ man „ein Bild“ und sandte es an einen Rabbiner in Polen mit der Bitte um ein Urteil. „Dieses fiel dahin aus, die Regentücher wären zu tragen verbotten […].“7 Daß man eine Figur mit dem Regentuch bekleidete, erscheint auf den ersten Blick als eine eher kuriose Nebensächlichkeit. Tatsächlich bedienten sich die Couturiers seit dem 17.Jh. für ihre gehobene Klientel eines Mannequins, das sie bekleideten und zu ihren Kunden bringen ließen, damit man sich die neueste Mode zu Hause auswählen könne. Französische Hofschneider versandten ihre aufwendigen Kreationen auf Puppen aufgezogen an den Adel überall in Europa. Es gehörte zum guten Ton, sich nicht selbst zum Schneider zu begeben. Die Fürther Juden handelten folglich – aus konkretem, religionsgesetzlich bedingtem Anlaß – ganz im Stil der Zeit, ohne zu wissen, daß sich aus diesen Objekten die uns heute vertraute und allgegenwärtige Schaufensterpuppe entwickeln sollte. Religiöses Selbstverständnis muß das Handeln in nicht-jüdischen Konventionen und Normen nicht ausschließen. 7 Das Tekunos Büchlein der Fürther Juden. d. i. Der Aeltesten und Vorstehere der Jüdischen Gemeinde daselbst, ertheilte Instructiones, Wie sich ihre Bürgere bey ihren freywilligen und gebottenen Mahlzeiten, Gürtelgeben, Hochzeitmahlen, Schenkwein, Brautgeschenken, Kleydung und andern Vorfallenheiten verhalten sollen. In: Andreas Würfel, Historische Nachricht von der Judengemeinde in der Hofmark Fürth unterhalb Nürnberg, Der II. Theil. Frankfurt a. M./Prag 1754, S. 107–170, hier S. 156.

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In den Takkanot und Pinkassim spiegelt sich das sich wandelnde Leben zwischen religiöser Bindung und kultureller Offenheit, Neugierde und ständigem Anpassungsdruck. So hatte man sich mit dem seit dem 17. Jh. zunehmend beliebter werdenden Tabakkonsum oder dem Auffrisieren der Haare an Sabbat vor dem Synagogenbesuch auseinanderzusetzen. Die Wandsbeker Statuten von 1687 schrieben beispielsweise vor, daß sich niemand am Sabbat und an den Feiertagen das Haar von Nicht-Juden richten lassen dürfe, erlaubten jedoch das Tragen von Perücken. Aus der barocken Festkultur übernahmen die Juden das Feuerwerk, um offenkundig sogar im geschlossenen Raum der Synagoge Raketen abzuschießen. In einem Neubeschluß vom 26. Siwan 458 (5. Juni 1698), 1726 noch einmal ausdrücklich wiederholt, untersagten die Gemeindeordnungen von Altona, an Simchat Tora Feuerwerk in der Synagoge abzubrennen: „daß bei Strafe 10 Rhthlr. sich keiner unterstehen darf, am betr. Festtage in der Synagoge mit Pulver zu schiessen oder Raketen aufzuwerfen, auch allen Schlagens und Werfens bey unvermeidlicher Strafe von 4 Rhthlr. sich zu enthalten, daher ein jeder Angesessener bey der Gemeyne verpflichtet sein soll, seine Kinder und Hausknechte zu verwarnen, daß sie nicht hiewieder handeln“.8 Juden nahmen wie selbstverständlich am Vergnügungsleben teil und frequentierten nicht-jüdische Wirtshäuser, Kegelböden, Komödien, Fechtschulen, Opernhäuser oder „Puppenbuden“, wo die beliebten, häufig derben Hanswurst-Stücke aufgeführt wurden, die manches mit den Purimspielen gemeinsam haben. Deren Besuch verboten die Altonaer Gemeindeordnungen zumindest am Sabbat und an den Feiertagen. Und so waren beispielsweise auch nur dann die seit dem Mittelalter beliebten Würfel- und Kartenspiele erlaubt. Die Juden wußten wie ihre christlichen Nachbarn zu feiern und sich zu freuen. Sie gestalteten ihre Feste nach den gesellschaftlichen Konventionen der Zeit, ohne jedoch den jüdischen Kern zu verändern. Die 1646/47 in Hamburg geborene, 1719 in Metz gestorbene Glückel von Hameln berichtete in ihren Memoiren über die Hochzeit ihrer Tochter Zipora (Zippor) in Cleve. Die Hochzeit war prachtvoll, doch begleitet von einem rätselhaften, ja makaber erscheinenden Brauch: „Wie nun die Vornehmen von den Konfekten und Früchten gegessen und auch wohl von den Weinen getrunken hatten, hat man den Tisch abdecken lassen und hinausgetan. Dann sind verkleidete Leute hineingekommen und haben sich gar schön präsentiert und allerhand Possen gemacht, die zur Ergötzlichkeit gedient haben. Zuletzt haben die Verkleideten einen Totentanz aufgeführt, der sehr rar gewesen ist.“9 Jüdische, bei Hochzeiten und anderen Familienfesten aufgeführte Totentänze sind in Spanien bereits seit der Wende vom 14. zum 15.Jh. bekannt. Man schreibt die „Danza de la muerte“ dem Juglar Rabbi Santob (Schem Tov) de Carrión (14. Jh.) zu, der auch als Verfasser eines moralischen Ratgebers für Pedro von Kastilien (1334–1369) gilt. Doch mit der 8 Grunwald, in: IV. Trachten und Sitten. Aus den Gemeindeverordnungen der Dreigemeinden Hamburg–Altona–Wandsbek vom Jahre 1726. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Jüdische Volkskunde 2. Jg., Heft 1 [Heft 3] (1899), S. 29–33. 9 Ebd., S. 120–121.

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Darstellung des Todes als Skelett und den Totentänzen, die nach der Pestepidemie von 1349 entstanden und die auf Marktplätzen und Friedhöfen szenisch inszeniert wurden, verbindet man zuvorderst christliche Vorstellungen von der Gleichheit aller Stände zwischen Papst und Bauern im Angesicht von Tod und Jüngstem Gericht. Wie aber hat man sich Totentänze bei jüdischen Hochzeiten vorzustellen und woher stammt dieser Brauch? Vielleicht bediente er sich des formalen Mantels der christlichen Totentänze, um eine jüdische, letztendlich sogar zutiefst menschliche Sinngebung auszudrücken: Noch im Augenblick der höchsten Freude solle man der Endlichkeit des irdischen Lebens und der Zerstörung des Tempels gedenken, symbolisch umgesetzt im Glas, das man nach der Trauungszeremonie mit dem Fuß oder am Chuppastein der Synagoge zerbrach.

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Geistige Entwicklung

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Religionsphilosophie Der besondere Charakter der jüdischen Philosophie, ihrer Fragestellungen und ihres Vokabulars ist historisch bedingt. Anders als andere philosophische Traditionen wie die des antiken Griechenlands oder des alten Indiens ist sie keine spontane Äußerung der reinen Vernunft und somit dem Judentum immanent, sondern von außen durch den Kontakt mit Zivilisationen angestoßen worden, die das spekulative Denken pflegten. Die jüdische Philosophie ist ein Phänomen der Diaspora, als jüdische Denker unter dem Einfluß der hellenistischen Kultur die biblische Vorstellung von einem transzendenten personalen Gott zunehmend mit deren stoisch-platonischen Gedanken von zeitlosem Sein und metaphysischen Wahrheiten in Einklang zu bringen versuchten. Das erste Kapitel in der jüdischen Philosophie ist die Philosophie des Philo von Alexandria (um 30 v. u. Z.–40 u. Z.). Philo, der in griechischer Sprache schrieb, bewies mit seiner allegorischen Methode die Vereinbarkeit biblischer und philosophischer Lehren. Sein umfangreiches Werk ist im jüdischen Denken wirkungsgeschichtlich jedoch nicht bedeutsam geworden. Es ist nur den christlichen Kirchenvätern zu danken, daß seine Schriften für die Nachwelt bewahrt wurden. Die von Philo begründete hermeneutische Vorgehensweise, die auf der Trias Gott–Logos–Welt beruhte, gelangte mit dem Neuplatonismus des griechischen Philosophen Plotin (205–270) zur Reife, der später die mittelalterliche islamische und jüdische Philosophie inspirierte. Nach Philo und dem Untergang der hellenistischen Zivilisation ruhte die jüdische Philosophie über neun Jahrhunderte. Erst unter dem Einfluß der islamischen Zivilisation, die auf die klassische hellenistische Gelehrsamkeit und Philosophie zurückgriff, begannen Juden den biblischen Glauben erneut vor dem Forum der Vernunft zu verteidigen, namentlich der ägyptische Gaon der babylonischen rabbinischen Akademie von Sura, Saadja ben Josef (882–942). In einer vollkommen eigenständigen Verbindung von platonischer, aristotelischer, stoischer und neuplatonischer Philosophie bewies er die grundlegende Vereinbarkeit der Lehren der göttlichen Offenbarung und der Schöpfung aus dem Nichts mit der Vernunft. Die Schriften von Saadja lösten geradezu einen philosophischen Schub aus, der sich im 11.Jh. von Babylonien nach Spanien verlagerte, wo die mittelalterliche jüdische Philosophie ihre höchste Blüte und letztlich ihren Niedergang erfuhr. Die Blütezeit der jüdischen Philosophie auf der unter maurischer Herrschaft stehenden Iberischen Halbinsel währte fast 500 Jahre, bis sie mit der Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahr 1492 ein gewaltsames Ende fand. Obwohl die jüdischen Philosophen von konkurrierenden philosophischen Schulen vom Neuplatonismus bis zum Aristotelismus geprägt waren, nicht zuletzt auch durch den intensiven Einfluß der spekulativen Traditionen des islamischen Denkens, fanden sie ihre eigene Stimme. Die überragende Frage blieb die nach „Glauben und Vernunft“ oder der Versuch, „Offenbarung“ und „Vernunft“ als zwei

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verschiedene, aber in ihrem Wesen homologe Quellen der Wahrheit in Einklang zu bringen. Ihre Prämisse einer Parität zwischen Glauben und Vernunft sollte die moderne Philosophie später verwerfen. Seit Descartes (1596–1650) galt das lumen naturale der menschlichen Vernunft rational wie religiös als letzte Wahrheitsinstanz. Die damit einhergehende Abwertung des Offenbarungsgedankens wurde auch für das jüdische religiöse Denken zum Problem, Offenbarung und die damit verbundenen biblischen Begriffe von Wunder und Schöpfung wurden immer schwerer vermittelbar. Die Tendenz des jüdischen religiösen Denkens, den Offenbarungsgedanken preiszugeben, der immerhin im Zentrum des theistischen Glaubens steht, veranlaßte den modernen jüdischen Religionsphilosophen Franz Rosenzweig (1886–1929) zu dem spöttischen Oxymoron von der „atheistischen Theologie“ seit der Aufklärung. Daß der metaphysische Anspruch des biblischen Glaubens aufgegeben oder abgeschwächt wurde, war – wie Rosenzweig bereitwillig einräumte – indes ein allgemeines Zeitphänomen. Das moderne jüdische Denken befand sich aber trotzdem in einer besonders paradoxen Lage. Während der Eintritt der Juden in die moderne Welt ihre wachsende Säkularisierung bewies, beschäftigten sie sich mit theologischen Fragen. Parallel zu ihrem Streben nach Integration in die Kultur und Politik der modernen Welt wurde es für Juden immer wichtiger, sich als Gemeinde neu zu verstehen wie auch ihre Werte und ihr religiöses Erbe neu zu definieren. Jüdische religiöse Denker begannen die Prämissen des Judentums im Licht der modernen säkularen Erfahrung neu zu formulieren. Soweit sich das moderne jüdische Denken mit modernen Konzeptionen von Wahrheit und Bedeutung befaßt hat, entspricht es im Grunde dem allgemeinen modernen religiösen Denken. Andererseits ist die jüdische Erfahrung im modernen Europa durch Besonderheiten gekennzeichnet, die die Agenda und die Fokussierungen modernen jüdischen Denkens beeinflußt haben. Deshalb sollte man sich vor Augen halten, daß die Juden erst während ihres langen Kampfes um politische Emanzipation im Europa des 18. und 19. Jhs. mit der modernen Welt konfrontiert waren. Diese war nicht nur ein Prozeß der rechtlichen Gleichstellung, sondern Auslöser einer intensiven und weitgefächerten europäischen Debatte über die Eignung des Judentums zur Partizipation an der modernen Gesellschaft. Im Lauf der rund zweihundertjährigen Debatte wurden Juden für die Wahrnehmung des Judentums aus der Perspektive der europäisch-christlichen Mehrheitskultur, milde gesagt, außerordentlich sensibilisiert. Insofern liegt es nahe, daß dem modernen jüdischen Denken oft ein apologetisches Motiv zugrunde lag. Zu dieser defensiven Haltung trug nicht zuletzt der Aufstieg des modernen politischen und rassistischen Antisemitismus bei, der sich zum Entsetzen vieler keineswegs auf den sogenannten „Radau-Antisemitismus“ reduzieren ließ, sondern dezidiert eine Sache von Intellektuellen war. Die trotz beharrlichen Widerstandes erreichte Integration der Juden in den modernen Nationalstaat führte sowohl in kultureller als auch in organisatorischer Beziehung zu einem tiefgreifenden Wandel jüdischen Daseins. Die Juden waren nicht mehr wie im Mittelalter der Herrschaft der Rabbinen und der Tora unterworfen. Indem sie sich die politische Identität und die Kultur der „nicht-jüdischen“ säkularen Mehrheitsgesellschaften aneigneten, begannen sie einen bedeutenden Teil ihrer

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eigenen Kultur zu verlieren, vor allem ihre Kenntnis des Hebräischen und der heiligen Texte der jüdischen Tradition. Darüber hinaus hatte der Bund Israels mit Gott als dessen auserwähltes Volk, das im Exil fromm auf seine Rückkehr in das Gelobte Land wartet, für viele Juden an Selbstverständlichkeit und Eindeutigkeit verloren. Das moderne jüdische Denken in Europa mußte somit nicht nur Nicht-Juden und den ihrer Tradition entfremdeten Juden das Judentum erklären, sondern auch eine Reihe von Grundbegriffen neu reflektieren, die die Juden als Volk definieren: „Bund“, „Auserwählung“, „Exil“ (Diaspora), den „Messias“ und das Versprechen der „Erlösung“ des jüdischen Volks sowie generell die Bedeutung der jüdischen Gemeinde, ihrer Geschichte und ihres Schicksals. Mit der Schoa und der Gründung des Staates Israel wurden diese Fragen seit den vierziger Jahren des 20. Jhs. zu den Schlüsselfragen schlechthin. Während die mittelalterliche jüdische Philosophie mit verhältnismäßig eingegrenzten Fragen nach der Vereinbarkeit von Glauben und Vernunft befaßt war, hat das moderne jüdische Denken einen weiter gesteckten und vielgestaltigeren Blick auf die komplexen Dilemmata der Juden in der modernen Welt entfaltet. Für seinen häufig leidvollen Duktus ist bezeichnend, daß seine Anfänge auf einen Außenseiter zurückgehen, dessen Bande zur jüdischen Gemeinde und zum jüdischen Glauben unwiederbringlich zerrissen waren – Baruch (Benedict) Spinoza (1632–1673). Spinoza, ein unbeirrbarer Abweichler, wurde im Jahr 1656 aus der jüdischen Gemeinde seiner Heimatstadt Amsterdam ausgeschlossen. Er blieb nicht nur überzeugter Ketzer, sondern auch dem Judentum als Religion gegenüber vollkommen gleichgültig. Als Philosoph beschäftigte er sich weder mit jüdischen Themen noch fühlte er sich dem Jüdischen verpflichtet. Nicht nur das, bei der einzigen Gelegenheit, bei der er das Judentum ausführlich behandelte – in seinem Tractatus theologico-politicus von 1670 –, entwarf er ein strenges und sogar abfälliges Bild von der Religion seiner Vorväter. Selbstredend hatte Spinoza von den mittelalterlichen jüdischen Philosophen profitiert, die er in seiner Jugend genauestens studiert hatte, doch waren dies allgemeine Fragen der Philosophie beispielsweise von Maimonides und Chasdai Crescas, und nicht spezifisch jüdische Themen. Dennoch ist Spinoza für das moderne jüdische Denken von überragender Bedeutung geblieben. Man erklärt dieses Paradox meist damit, daß Spinoza zu keiner der anderen großen Religionen konvertiert ist, bis zum Beginn der Moderne ein geradezu undenkbarer Akt. Er kann deshalb als der erste moderne säkulare Jude betrachtet werden, in der jüdischen Vorstellungswelt verkörpert er geradezu den modernen Juden schlechthin. Er verkörpert eine vielschichtige Symbolfigur, die absolut gegensätzliche Reaktionen wachruft. Für traditionelle Juden, die die Moderne als schwere Bedrohung des jüdischen Daseins sehen, ist Spinoza Inbegriff einer eindeutig negativen Entwicklung. Andererseits haben säkularisierte und akkulturierte Juden, die sich der bedeutenden Stellung Spinozas im intellektuellen Pantheon der modernen Kultur sehr bewußt sind, in ihm eine Bestätigung ihrer eigenen Partizipation an der modernen säkularen Gesellschaft gefunden. Wieder andere haben in ihrem Streben nach Integration in das moderne Europa seine Rolle als eines der ersten Boten liberaler und demokratischer Ideale herausgestellt, worin sie die jüdische Zugehörigkeit zum europäi-

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schen Gemeinwesen einwandfrei und unangreifbar legitimiert sahen. Jüdische Denker der verschiedensten, ja gegensätzlichen Richtungen vom Reformjudentum bis zum sozialistischen Zionismus haben sich auf Spinoza berufen, insbesondere weil dieser das Judentum als Religion zwar verworfen hat, sich aber hartnäckig weigerte, Christ zu werden. Der erste Regierungschef des neugegründeten Staates Israel, David Ben-Gurion, erklärte diesen Akt sogar einmal zu einem Akt jüdischen Stolzes und jüdischer Ehre. Auch wenn es vielleicht in die Irre führt, Spinozas Integrität als Treue zum Jüdischen auszulegen, seine Entscheidung gegen das Christentum hat eine ganz besondere Bedeutung für moderne Juden, die ihre säkulare Lebensweise in einem jüdischen Kontext definieren. Obwohl Spinoza aus der jüdischen Gemeinde ausgestoßen wurde, ist sein Stellenwert für das moderne jüdische Denken bedeutend. Dennoch liegt seine eigentliche Bedeutung für die Judenheit in der Philosophie, denn er war der erste, der für das Judentum als Glauben und als Lebensweise die zentrale Frage der Moderne in Worte faßte: Können Juden die modernen Konzeptionen der Wahrheit und der Wahrheitsfindung übernehmen und trotzdem dem Judentum als einer göttlichen Offenbarungsreligion treu bleiben? Mit dieser Frage hatte er sich in seinem Tractatus theologico-politicus beschäftigt, wo er zu dem Schluß gelangte, daß das Judentum letztlich keine authentische Religion sei. Spinoza war nach seiner Analyse der biblischen Ursprünge des Judentums überzeugt, daß es mitsamt seiner rituellen und zeremoniellen Regeln im Grunde nur ein rechtliches Konstrukt mit der Funktion war, die politische Stabilität des israelitischen Staates zur Zeit seiner Entstehung zu gewährleisten. Als Form staatlicher Disziplinierung fehle es der Religion Israels an wirklicher Spiritualität und, schlimmer noch, an wirklichem Willen zu universaler Sittlichkeit. Darüber hinaus sei das Judentum der nachbiblischen Zeit von dem politischen Reich losgelöst, dem es hatte dienen sollen, ein Anachronismus also, ein spirituell und intellektuell sinnentleertes Phänomen. Da die verbindliche Macht des Judentums in seinem ursprünglichen Kontext auf der Zwangsherrschaft des Staats beruhte, sei das stolze Festhalten der Juden der Diaspora an der Religion ihrer Vorväter mit deren belastenden Religionsgesetzen psychologisch als Ausdruck eines unverbesserlichen atavistischen Patriotismus zu erklären. Die Schärfe dieser Kritik am Judentum als geistig verdorrtem Anachronismus wurde durch Spinozas Kritik der Offenbarung noch verstärkt. Die biblische Vorstellung von einer göttlichen Offenbarung des Wissens beruhte Spinoza zufolge auf der erkenntnistheoretisch ungenauen Kategorie der „Vorstellung“ im Unterschied zu der der „Vernunft“. Mit diesem Argument hatte Spinoza, wie Hermann Cohen (1842–1919) feststellte, „die Religion als solche [das heißt, alle theistischen Religionen und nicht nur das Judentum] außerhalb des Reichs der Wahrheit angesiedelt“. In dieser Frage wurde er für christliche wie jüdische Denker zur Herausforderung. Während er die Existenz Gottes affirmierte, schwor er dem jüdisch-christlichen Gott als transzendentem personalem Gott mit autonomem Willen und autonomer Zielsetzung als einer traurigen Illusion ab. Spinoza war auch der erste, der Bibelkritik systematisch betrieb. Damit hatte dieser Ikonoklast des 16. Jhs. all die Fragen umrissen, die in der modernen Welt für religiöse Menschen insgesamt und für die Juden im besonderen zentral werden sollten. Um eine Formulierung von Leo Strauss (1899–1973),

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einem der einfühlsamsten Leser Spinozas im 20. Jh. und einem bedeutenden jüdischen Denker, aufzugreifen, konnten der traditionelle jüdische Glaube und die jüdische Glaubenspraxis nur dann mit intellektueller Integrität aufrechterhalten werden, „wenn Spinoza sich in jeder Beziehung geirrt hatte“. Der erste Jude, der sich dem stellte, war Moses Mendelssohn (1729–1786). Wie viele seiner Nachfolger tat er dies sowohl direkt im Hinblick auf Spinoza als auch indirekt im Hinblick auf die Kultur der Aufklärung, die Spinozas Kritik der Offenbarungsreligion und des Judentums absorbiert und noch verstärkt hatte. Von der deutschen Aufklärung als der „deutsche Sokrates“ gewürdigt, ist Mendelssohn mit der Bejahung des Judentums für die moderne Judenheit philosophisch und symbolisch ebenfalls von größter Bedeutung. Im Gegensatz zu Spinoza verkörpert er die Möglichkeit, die Bindung an das Judentum als Religion durch die aktive Teilhabe an der modernen säkularen Kultur nicht notwendig zu negieren. Der Talmudschüler Moses, Sohn des Toraschreibers Mendel, begann seine Laufbahn mit einer Reihe von Essays und Monographien zu einem breitgefächerten Spektrum von philosophischen Themen – Ästhetik, Logik, Psychologie und Metaphysik. Mit diesen Schriften stellte er sich in die Schule des philosophischen Rationalismus von G.W. Leibniz (1646– 1716) und Christian Wolff (1679–1707). Für diese war die Vernunft die universale und in sich eigenständige Quelle des Wissens, also auch die Quelle der metaphysischen Wahrheiten der Religion, das heißt des Wissens um Gott. Wahrheit und Tugend seien dem rationalen Geist ohne jede transzendente Einwirkung erschließbar. Folglich lag nicht im Dogma oder den geoffenbarten Wahrheiten die Essenz der Religion, sondern in den vernünftigen Wahrheiten der natürlichen Religion und in dem in ihnen gründenden universalen Sittengesetz. Für metaphysisches Wissen, Tugend und ewige Glückseligkeit war die Offenbarung nicht erforderlich. Dieser säkulare Fokus war allen Schriften Mendelssohns zur Metaphysik, Ästhetik, Psychologie und Erkenntnistheorie gemeinsam. Insofern war er kein jüdischer Philosoph, ja seine Schriften beruhten implizit auf der Annahme, daß sein Judentum für sein philosophisches Werk bedeutungslos war. Um so größer war sein Befremden, als ihn andere Philosophen der Aufklärung öffentlich zur Verteidigung seines Judentums herausforderten. Ihnen schien es als krasser Widerspruch, sich gleichzeitig der Aufklärung und dem Judentum als Offenbarungsreligion verpflichtet fühlen zu können. Obwohl Mendelssohn eine öffentliche Debatte darüber lange zu vermeiden suchte, mußte er schließlich nachgeben. 1783, drei Jahre vor seinem Tod, veröffentlichte er in deutscher Sprache seine erste und einzige Abhandlung zum Judentum: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Schon der Titel signalisiert, daß er sich der von Spinoza formulierten Kritik des politischen und des Gesetzescharakters des Judentums stellen mußte. Mendelssohn stellte selbstverständlich nicht in Abrede, daß die Tora im politischen Leben des biblischen Israel der Religion eine Rolle einräumte. Durch sein Festhalten am jüdischen Glauben mußte er im Gegensatz zu Spinoza auch daran festhalten, daß diese Rolle mit wahrem religiösem Glauben vereinbar war. Da er andererseits von dem Prinzip der Trennung von Staat und Kirche überzeugt war, mußte er wiederum im Gegensatz zu Spinoza nachweisen, daß sich die Bedeutung und das Wesen des Judentums keineswegs in

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dieser Rolle erschöpften. Mendelssohn widmete den ersten Abschnitt von Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum einer philosophischen Erörterung der Beziehung von Religion und Staat, in der er auf das Judentum praktisch gar nicht einging. Im Hinblick auf Religion allgemein vertrat er den Standpunkt, daß Nichtanerkennung der geistlichen Macht nicht heißen muß, daß die Religion in gar keiner Beziehung zum Staat stehen sollte. Er verwarf also die damals unter deutschen Liberalen verbreitete Ansicht des englischen Philosophen John Locke (1632–1704) von der radikalen Trennung des Zeitlichen und des Ewigen. Ein solcher Standpunkt mußte nach Mendelssohn dazu verleiten, die irdischen sittlichen Pflichten zugunsten der Ziele des geistigen Lebens zu vernachlässigen. Ihm zufolge aber mußte das Geistige auf das politische Gemeinwesen einwirken, denn einzig in dessen Macht – also der Macht der Religion – liege es, die Haltungen und Gesinnungen wachzurufen, die in allen zwischenmenschlichen Bereichen zur ethischen Lebensführung anhielten. Ja, der Religion schrieb er hier sogar eine ganz besonders bedeutende sittliche und erzieherische Aufgabe zu. Die Betonung der gesellschaftlichen Verantwortung religiöser Männer und Frauen sollte bis zum heutigen Tag ein ausgeprägtes Motiv modernen jüdischen Denkens bleiben (siehe Buber, Heschel und Lévinas). Als Aufgabe sollte ihr aber ledig lich die der Überzeugung und der Gewissensbildung zufallen. Im Gegensatz dazu hat der mit der Aufgabe der Regulierung der sozialen Beziehungen betraute Staat das legitime Recht auf Zwangsmittel, um Wohl und Friedlichkeit dieser Beziehungen aufrechtzuerhalten, allerdings nur im formalen Sinn der Achtung der Gesetze. Das innere Geistesleben und das Gewissen können und sollen der Staat und seine Zwangsinstitute nicht beeinflussen. Weder Staat noch Kirche – d. h. Religion in ihrer institutionalisierten Gestalt – sollten das Individuum zu bestimmten Ansichten und Glaubenshaltungen zu zwingen versuchen. Die Gewissens- und Glaubensfreiheit war für Mendelssohn absolut und hatte für jede Person zu gelten, sei sie christlich, jüdisch, muslimisch, Ketzer oder Dissident. Nachdem Mendelssohn im ersten Abschnitt seiner Abhandlung eine seiner Ansicht nach angemessene allgemeintheoretische Perspektive entwickelt hatte, wandte er sich im zweiten Abschnitt von Jerusalem den spezifischen Fragen zu, die seine Kritiker im Hinblick auf das Judentum aufgeworfen hatten. Gleich zu Beginn räumte er ein, daß religiöses und weltliches Gesetz im biblischen Staat Israel eins gewesen seien. Dennoch war es seiner Ansicht nach falsch, diesen als Theokratie zu betrachten. Obwohl ein Vergehen gegen das Gesetz Gottes als politisches Vergehen geahndet wurde, wurden solche Akte vom Staat nicht als Häresien oder Akte der Ungläubigkeit, sondern einfach als Fehlverhalten bestraft. Der mosaische Staat wollte weder Meinungs- noch Glaubensfragen per Gesetz reglementieren, weil implizit davon ausgegangen wurde, daß die Beziehung des Individuums zu Gott und zur Wahrheit nicht vom Gesetz diktiert werden kann. Da letztere Gegenstand der Tora ist, ist der Bund Israels mit Gott durch die Zerstörung des Tempels und den Verlust der staatlichen Souveränität der Juden in seinem tiefsten Sinne nicht berührt worden. Demzufolge ist das Festhalten an der Tora und ihren Gesetzen keineswegs ein Anachronismus und widerspricht im Zeitalter der Aufklärung auch nicht der Verpflichtung der Juden auf die Vernunft und eine liberale politische Ethik.

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Mendelssohn nutzte die Gelegenheit auch zur Erörterung einer besonders schwierigen Frage seiner Aufklärungsbrüder, nämlich ob sein philosophischer Rationalismus nicht letztlich hieß, daß er weder Jude noch Christ, sondern „Naturalist“ sei. Mehr als ein Zeitgenosse Mendelssohns hielt seine Lehre – daß die ewigen metaphysischen Wahrheiten allen Anhängern der Vernunft gleichermaßen zugänglich seien – für unvereinbar mit seinem Bekenntnis zum Judentum, das immerhin den Anspruch auf einen privilegierten Zugang zum geoffenbarten Wort Gottes erhebt. In seiner Replik hielt Mendelssohn als frommer Jude daran fest, die Offenbarung als Enthüllung göttlicher Wahrheiten zu verwerfen, denn diese Offenbarungskonzeption sei eine Beleidigung der Vernunft. Doch stelle der philosophische Rationalismus für das Judentum kein besonderes Problem dar, weil es, wie er in seinem berühmten Diktum sagte, „keine Offenbarungsreligion, sondern ein Offenbarungsgesetz“ sei. Im Gegensatz zum Christentum beruhe das Judentum nicht auf „Doktrinen, Heilswahrheiten oder universell gültigen Vernunftsätzen“, sondern auf „Gesetzen, Geboten, der Unterweisung im Willen Gottes“. Mendelssohn sah damit den Sinn dieser Gebote – als symbolisch festgeschriebene ewige Wahrheiten – darin, daß sie den Juden diese Wahrheiten stets und ständig vor Augen hielten und damit verhinderten, daß sie falschen Ideen anheimfielen. Hierin liege die umfassende Bedeutung der Erwählung Israels. Paradoxerweise hatte Mendelssohn das Judentum damit auf eine Körperschaft von feierlichen Gesetzen reduziert, während er es gleichzeitig zu einer universalen Vernunftreligion erweitert hatte. Dieser Versuch sollte für zahlreiche spätere Ansätze modernen jüdischen Denkens kennzeichnend bleiben: Im Unterschied zur mittelalterlichen jüdischen Philosophie versuchte man nicht mehr, Offenbarung und Vernunft als zwei verschiedene, aber einander homologe Wahrheiten miteinander in Einklang zu bringen, sondern die Bedeutung des Judentums für die allgemeine menschliche Vernunft und Kultur zu beweisen. Mit dem Gedanken der „Sendung“ Israels hatte Mendelssohn einen weiteren Leitgedanken des modernen jüdischen Denkens antizipiert, gewissermaßen eine universalistische Rechtfertigung des überlieferten jüdischen Partikularismus. Mendelssohns Definition des Judentums war keineswegs unproblematisch. Mit der These, das besondere Wesen des Judentums liege in seinem Charakter als „geoffenbartes Gesetz“, setzte er es einem Vorwurf aus, den als erster sein Zeitgenosse Immanuel Kant formulierte, daß nämlich das Judentum eine inhärent „heteronome“ Gesetzesreligion sei, die ihren Ausdruck vornehmlich im religiösen Ritual und der Zeremonie finde. Da Kant die Bildung moralischer Autonomie als echte Religion erachtete, galten ihm Ritual und Zeremonie als „falscher Dienst an Gott“. Entsprechend nannte er das Judentum eine „PseudoReligion“. Kants Verurteilung des Judentums, die sich vor allem auf seine Lektüre von Mendelssohn (und von Spinoza) stützte, ist von vielen modernen Denkern wiederholt worden, insbesondere wenn sie die Vorstellung des Philosophen von aufgeklärter Kultur und Religion teilten. Mendelssohns Definition des Judentums war aber auch nur für einen Teil der Juden befriedigend. Traditionelle Juden warfen ihm vor, den einzigartigen Kern des Glaubens der Juden mißachtet zu haben, während liberale Juden (nicht nur wegen der Kritik Kants) seine einseitige Betonung des Gesetzescharakters störte. Und dennoch ist Moses

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Mendelssohns Schrift Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum bis heute einzigartiges Dokument vom Denken eines Juden, der die Vollständigkeit seines Judentums zu bewahren suchte und zugleich aktiver Teil der modernen Kultur war. Mehr noch als Spinoza wurde Mendelssohn mit seiner unbeirrbaren, aber würdevollen Verteidigung des Rechts des Judentums auf Teilhabe an der modernen Welt zum Inbegriff jüdischer Modernität. Juden der unterschiedlichsten theologischen Richtungen sollten Mendelssohn später im Versuch, Judentum und Moderne zu vereinbaren, als ihren geistigen Vater beanspruchen. Seine geistigen Erben standen vor allem vor dem Problem, für die Juden und das Judentum einen Ort in der modernen Welt zu finden. Sie mußten deshalb philosophisch wie theologisch die Relevanz des Judentums für die Entwicklung einer universalen Kultur erklären. Zentral für diesen Diskurs des 19. Jhs. wurden Kant, Hegel und Schelling. Weil der philosophische Idealismus Schellings und Hegels geistige Wahrheiten als etwas betrachtete, das sich in und durch die Geschichte entwickelt und reift, lieferte er insbesondere dem sich im 19. Jh. zuerst in Deutschland herausbildenden liberalen Judentum und Reformjudentum die geistigen Grundlagen zur Rechtfertigung der von ihnen angestrebten Veränderungen in Kultus und Lehre. Damit das Judentum den ihm anvertrauten geistigen Wahrheiten gerecht werden könne, mußte man es nach Ansicht der Reformer mit dem stetigen historischen Wandel in Einklang bringen. Die Reformer beriefen sich auf Schelling und Hegel, wonach die historische Entfaltung der Vernunftwahrheiten und der sich in der Geschichte entfaltende Geist unausweichlich zu einer ständig voranschreitenden Einung der menschlichen Kultur und Vernunft führen. In dieser Konzeption sahen sie ihren Ruf nach Teilhabe der Juden an der allgemeinen Kultur bestätigt. Ihre Bejahung der universalen Kultur warf wiederum Fragen im Hinblick auf die Kontinuität der jüdischen Identität und somit des Partikularismus auf, woran Reformer wie Liberale offensichtlich festhielten. Die Reformrabbiner Salomon Formstecher (1808–1889) und Samuel Hirsch (1851–1889) haben in ihren jüdischen Geschichtsphilosophien in je unverwechselbarer Weise den Standpunkt vertreten, daß der jüdische Partikularismus in dialektischer Weise der universalen metaphysischen Aufgabe diene, die Grundwahrheiten zu bewahren, die durch säkulare Verirrungen und Ambitionen verschüttet werden könnten. Im Denken Hirschs und Formstechers findet man eine für das moderne jüdische Denken bezeichnende Spannung wieder. Das Judentum sahen sie sowohl in als auch jenseits der Geschichte. Einerseits haben sie die Veränderungen im religiösen Leben der Juden befürwortet, die sie für die Integration in die moderne Welt für notwendig hielten, indem sie den historisch wandelbaren Charakter ihrer Religion betonten. Andererseits sahen sie das Judentum oder zumindest dessen religiösen Kern jenseits der Geschichte. Nicht nur die Reformer ließen sich damit auf einen regelrechten Drahtseilakt zwischen Geschichte und Metageschichte ein. Der italienische Religionsphilosoph Samuel David Luzzatto (1800–1865), ein strikter Vertreter des traditionellen Judentums, der zu den Vorläufern der modernen jüdischen Studien und eines kritischen historischen Ansatzes im Studium der religiösen Lehren Israels gehört, lehnte die Herangehensweise seiner Kollegen ab, „das alte Israel so zu studieren wie andere Gelehrte das alte Ägypten, Assyrien, Babylonien und Persien“. Der historische Relativismus im kritischen

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Studium der heiligen Quellen des Judentums könne nur vermieden werden, wenn dieses Studium „im Glauben wurzele“ – einer existentiellen Verpflichtung, „die Tora und die Propheten als Wort Gottes zu verstehen und [zu begreifen], wie der Geist Gottes, das Erbe unserer Nation, im Kampf mit dem menschlichen Geiste lag“. Ein älterer Zeitgenosse von Luzzatto und traditioneller Jude, Rabbiner Nachman Krochmal (1785–1840), der in Galizien, einem politisch und kulturell besonders rückständigen Teil des habsburgischen Reiches lebte, sah die Herausforderung der jüdischen Tradition durch die historische Gelehrsamkeit als weitaus grundsätzlicheres Problem und schrieb eine für sein Verständnis angemessene Verteidigung. Seine monumentale hebräische Abhandlung, die 1851 posthum veröffentlicht wurde, trug den Titel More Newuche ha-Seman (Führer der Verirrten der Zeit). Der Titel war eine Anspielung auf die berühmte Schrift des Maimonides, More Newuchim (Führer der Unschlüssigen) von 1190. Wie der bedeutende Denker des mittelalterlichen Spaniens wollte Krochmal den Suchenden seiner Zeit geistige Führung bieten. Krochmal beginnt mit der Beobachtung, daß die jüdische Jugend angesichts der neuen kritischen Gelehrsamkeit zutiefst verwirrt sei, weil diese Zweifel an der traditionellen Sicht der jüdischen Geschichte säe und insbesondere den ontologischen Stellenwert der heiligen Texte, deren Komposition und Autorität in Zweifel ziehe. Krochmal betonte als frommer Jude, daß der Jugend mit obskurantistischen Antworten nicht gedient sei. Vielmehr könne ein solches Dogma angesichts der Ergebnisse der Gelehrsamkeit diese Entfremdung nur noch vertiefen. Glaube müsse, wie schon Maimonides zu seiner Zeit gesagt hatte, im Bund mit der Vernunft stehen. Für die heutige Zeit bedeute das, den Glauben durch ein angemessenes philosophisches Verständnis der Geschichte zu stützen. Krochmal war rückhaltlos dafür, sich die Ergebnisse der kritischen Forschung zu eigen zu machen – die „wissenschaftliche“ Bewertung von Quellen, die Entdeckung von unbekannten und vergessenen Quellen, die Berücksichtigung des historischen Charakters von Wissen. Dies mußte seiner Ansicht nach die Bejahung der Tora als Wort Gottes nicht untergraben. Um die Autorität des Judentums und seiner Quellen zu wahren, Einsichten und Bewertungen der Historiker aber einzubeziehen, entwickelte Krochmal ein ausgefeiltes metaphysisches Konzept von der jüdischen und der Weltgeschichte. Mit großzügigen Gedankenanleihen bei Hegel und Vico (und offenkundig auch bei Fichte) wollte er zeigen, daß die Juden dem Lauf der „Weltgeschichte“ in der Diaspora gefolgt und alle „historischen Kulturen“ auf ihrem jeweiligen Höhepunkt berührt und deren „Wahrheiten“ absorbiert hätten. Die Tora, die Israel auf den Einen Gott als Prinzip der universalen Einheit verpflichtet, mache sie zum Träger des umfassenden „geeinten“ Wissens der sich entwickelnden Wahrheit der Geschichte. Somit sind die Juden nach Krochmal, obwohl sie den historischen Prozeß durchlaufen haben und von ihm offensichtlich auch verändert worden sind, letztlich ein metahistorisches oder vielmehr transhistorisches ewiges Volk. Krochmals Exposition lag die Prämisse zugrunde, daß fromme Juden, die „die Tora lieben“, „fremde Wahrheiten“ nicht fürchten müssen. Er war sich natürlich der Tatsache bewußt, daß eine derartige Offenheit für Weisheiten der nicht-jüdischen Welt Juden nicht nur

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solchen Denkweisen aussetzte, die die Fundamente ihres Glaubens in Frage stellten, sondern daß sie diese auch mit möglichen Kritiken am Judentum konfrontierte. Dessen Glaube sollte aber durch eine beherzte Auseinandersetzung mit solchen negativen Standpunkten „gereinigt“ werden, vor allem wenn sie von klugen Vertretern der modernen Vernunft vorgetragen wurden. Infolgedessen mußte Krochmal wie fast alle Vertreter des jüdischen religiösen Denkens im 19. Jh. auf Kants Konzeption der ethischen Frömmigkeit als der höchsten Form wahren Gottesdienstes und seine damit einhergehende Ablehnung des Judentums als einer mißratenen Form der Gottesverehrung eingehen. Selbst die Denker, deren Hauptanliegen die Entwicklung eines ethischen Rationalismus war, erklärten das Judentum zu einer Religion, die in ihrem Grunde eine Religion des sittlichen Empfindens sei. Samson Raphael Hirsch (1808–1888), der Begründer der jüdischen Neo-Orthodoxie, die das „toratreue“ Judentum an die moderne Welt anpassen wollte, entfaltete eine elaborierte Auslegung der Mizwot oder der sogenannten Gesetze der Tora, indem er zeigte, wie jedes von ihnen, selbst wenn es oberflächlich ganz und gar auf den Ritus bezogen schien, in seiner je eigenen Weise die Bildung des „moralischen Bewußtseins“ fördere. Der wohl ehrgeizigste und systematischste Versuch, die Vereinbarkeit des Judentums mit Kants Konzeption der Sittlichkeit und Religion nachzuweisen, stammt von Moritz Lazarus (1824–1903). Lazarus, der als Honorarprofessor der Philosophie an der Universität Berlin lehrte und eine bekannte Leitfigur des liberalen Judentums war, nannte sein zweibändiges Werk Ethik des Judentums (1898–1911). Bei der Entfaltung seiner These griff er auf die Grundsätze der Völkerpsychologie zurück, einer Disziplin, die er überhaupt erst mitbegründet hatte und die das vergleichende psychologische Studium von Völkern oder von dem betrieb, was man heute als „ethnische Gruppe“ bezeichnen würde. Dementsprechend sollte Wahrheit nicht in apriorischen Abstraktionen gesucht werden, sondern in einer empirischen psychologischen Untersuchung nicht nur des Bewußtseins des einzelnen, sondern ganzer Gesellschaften und Völker. Der Philosoph qua Psychologe sollte die Menschheit aus historischer und vergleichender kultureller Perspektive untersuchen und die konstitutiven Elemente ihrer Kultur, Gebräuche und Entwicklungstendenzen beschreiben. Was das „psychologische“ Studium des Judentums betraf, so zog Lazarus die klassischen literarischen Quellen des Judentums als empirische Grundlage heran, da sie die Gesinnungen, Willensrichtungen und Lebensweise der Juden in seinen Augen am besten widerspiegelten. Mit seiner beharrlichen Überzeugung, das Judentum könne nur auf dieser Basis angemessen dargestellt werden, ging er von den spekulativen Konstruktionen Formstechers und Samuel Hirschs aus. Er führte die Kantischen Kategorien nicht als spekulative Vorannahmen, sondern als heuristische Prinzipien ein, um die „empirische“ Struktur des Judentums, d. h. des jüdischen Volks, und die objektive Einheitlichkeit seines „ethischen Kosmos“ offenzulegen. Eine solche Untersuchung sollte laut Lazarus den Nachweis erbringen – wie er es nicht zuletzt in seiner Schrift Ethik des Judentums selbst getan hatte –, daß das Judentum im Grunde ein System einer autonomen Ethik ist. Als religiöses System ist es jedoch von der rein rationalen Ethik insofern zu unterscheiden, als es den einzelnen auf die Unterwerfung

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unter Gott als Schöpfer sittlicher Regeln verpflichtet. Diese theonome Bestätigung Gottes als Quell der Moral scheint jedoch in Widerspruch zu der sittlichen Autonomie zu stehen, die Lazarus als letzte Essenz des Judentums herausgefiltert hatte – eine Scheinantinomie, die er in dem Postulat auflöste, daß das Sittengesetz, wenn auch göttlichen Ursprungs, eine unabhängige objektive Wahrheit konstituiere, der selbst Gott unterworfen sei. Indem die Ethik auf das Fundament eines Glaubens an Gott gestellt wird, verleiht das Judentum dem sittlichen Handeln den Charakter von Pflicht und Verpflichtung, den Lazarus in der philosophischen Ethik Kants vermißte. Zudem sei die vom Judentum hervorgebrachte ethische Frömmigkeit am besten als „Heiligkeit“ zu kennzeichnen, eine Qualität des Lebens, die weder eine numinose noch eine transzendente Realität bezeichne, sondern vielmehr die unerschütterliche Überzeugung, daß ein sittliches Dasein der eigentliche Sinn und Zweck des Lebens ist. Zu Lazarus’ schwerer Enttäuschung wurde seine Ethik des Judentums von dem Philosophen Hermann Cohen (1842–1918), dem Begründer der Marburger Schule des Neukantianismus, einer tiefgreifenden Kritik unterzogen. Cohen bemängelte an Lazarus, daß er die Quellen der ethischen Lehren des Judentums in die jüdische „Volksseele“ verlegt habe. Für Cohen untergrub ein derart in Psychologie und Geschichte gründender Begriff die Zuverlässigkeit und Genauigkeit, die von einem wirklichen ethischen System zu leisten sei. Was jüdische Ethik interessant, ja faszinierend machte, war nach Cohen die sie kennzeichnende Abhängigkeit von der Idee des universalen Einen Gottes als nicht bloß intuitivem Gebilde der jüdischen Volksseele, sondern als rational zu verteidigende Konzeption. Cohens Kritik war für Lazarus nicht nur wegen dessen bedeutender Stellung als Gelehrter besonders bitter. Wie Lazarus war Cohen vor allem in seinen späteren Jahren ein Vertreter des liberalen Judentums und wie dieser vertrat er die Überzeugung von der grundsätzlichen Wesensverwandtschaft des Judentums mit Kants ethischem Idealismus. In einer eher ungewöhnlichen Interpretation der Lehren Kants verstand Cohen Ethik nicht nur als an das Individuum gerichtet, sondern in ihrem weitesten Sinne als an die Gesellschaft gerichteten Aufruf, die Zukunft im Sinne eines rational bestimmten, apriorischen ethischen Sollens zu gestalten. In seinen früheren Schriften während der sogenannten Marburger Periode von 1873 bis 1912 hatte Cohen diese Aufgabe als regulatives Ideal formuliert, das in der Annäherung an dieses in immer neue Ferne rückt, so daß sie stets aufs Neue definiert wird. Die daraus resultierende Ewigkeit (oder der „asymptotische“ Charakter) dieser Aufgabe erforderte nach Cohen, auch die materielle Welt ewig zu denken, eine Vorannahme, die die Naturwissenschaften nicht bestätigen konnten. An diesem Punkt postulierte er die Konzeption Gottes, des ewigen Einen Gottes der hebräischen Bibel, als „Garanten“ der immerwährenden ewigen Existenz der Welt, der somit die Erkennbarkeit und die rational zwingende Qualität der Sittlichkeit sicherstellt, sei sie auch eine ewige asymptotische Aufgabe. Cohen war davon überzeugt, daß diese Konzeption der Ethik durch den biblischen Monotheismus vorweggenommen worden war, insbesondere in der Brechung durch den Blick der Propheten einer messianischen Zukunft – in der sich Gottes Einzigartigkeit in der sittlichen Einheit der Menschheit manifestieren werde – als göttliche Verheißung und sittliche Verant-

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wortung und Aufgabe der Menschen. Für den Cohen der Marburger Periode war Gott somit ein Begriff, ein Postulat des ethischen Idealismus. Insofern erhielten die Religion im allgemeinen und das Judentum im besonderen kraft ihres Strebens nach Verwirklichung der Sittlichkeit ihre Würde und ihren Sinn. Als Konstrukt der Vernunft, dessen Aufgabe es ist, die Menschheit zu ihrer sittlichen Vervollkommnung zu führen, war Gott für Cohen somit kein personaler Gott mit einer unabhängigen Existenz und Beziehung zum Menschen. Folglich betrachtete er die Religion nicht als eigene geistige Realität, sondern lediglich als historische Voraussetzung der Ethik. Seine Konzeption von Gott und Religion sollte jedoch in der zweiten Periode seiner intellektuellen Entwicklung, nachdem er 1912 emeritiert worden und nach Berlin gezogen war, eine weitreichende Neubewertung erfahren. Jetzt stellte er fest, daß die Ethik sich nicht an das Individuum als solches, sondern als Vertreter der rationalen Humanität richtet – nicht an das oft zutiefst gequälte Wesen, das auf sich selbst gestellt ist. Wie der Cohen der Berliner Jahre sie begriff, wandte sich Religion im Unterschied zur Ethik existentiell an das Individuum als solches, und zwar insbesondere mit dem Begriff der Sünde, die er als schmerzvolle Einsicht des einzelnen in seine moralische Fehlbarkeit definierte. Dieses Sündenbewußtsein und das damit einhergehende Gefühl der Schuld birgt laut Cohen die Gefahr, daß das Individuum an seinem eigenen sittlichen Wert verzweifelt und deshalb jede weitere sittliche Anstrengung aufgibt. Die mit der Sünde verbundene Selbstentfremdung verlangt, so Cohen, den Begriff des nachsichtigen Gottes, der es durch den Akt der Vergebung wieder auf dieses Mühen zurücklenkt. Religion ist damit in erster Linie eine Reihe von Bußhandlungen, von Riten und Gebeten, die im Glauben an einen gnädigen, vergebenden Gott Gewissensnot und Reue zum Ausdruck bringen. Diese Versöhnung zwischen Gott und dem Menschen verlangt für Cohen wiederum, daß Gott nicht als Begriff, sondern als Sein konzipiert wird, das in Beziehung zu der endlichen, sich ewig wandelnden Welt des Werdens tritt, von der das Individuum ein Teil ist. So sind Sein und Werden trotz des fundamentalen ontologischen Unterschieds zwischen beiden durch das aufeinander bezogen, was Cohen „Korrelation“ nennt. Gott und Mensch stehen in Korrelation zueinander, wenn das Individuum im Wissen um Gottes Gnade, seine Liebe und seine Fürsorge sich aufs neue der Aufgabe hingibt, den göttlichen Eigenschaften nachzueifern. Cohen sprach von Korrelation als einer gemeinsamen Heiligkeit, in der Gott und Mensch zusammen am Werk der Schöpfung arbeiten. Hermann Cohen hat diese Gedanken besonders prononciert in seinem 1919 posthum veröffentlichten Werk Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums entwickelt. In dieser Schrift, die sein bedeutendstes Werk darstellt, erläuterte er seine neue Konzeption von Religion an einer selektiven Exegese der Quellen des klassischen Judentums – Bibel, Midrasch, Liturgie und der mittelalterlichen jüdischen Philosophie. Diese traditionellen Ausdrucksformen jüdischer Frömmigkeit waren seiner Ansicht nach besonders geeignet, die vornehmste Konzeption von Religion zu exemplifizieren. Das Bild vom Judentum als einem Glauben von tiefster persönlicher Sinnhaftigkeit erschien vielen Beobachtern – mit ihrer Betonung der dialogischen Beziehung des Judentum

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zu einem lebendigen personalen Gott – als Vorwegnahme der existentialistischen Wende der jüdischen Theologie im 20. Jh. Cohen sprach jedoch nach wie vor von einer „Religion der Vernunft“; sein Gott blieb der rationale Gott der Ethik. Und obwohl er nun in Widerspruch zu Kant dem Gebet und dem Ritual innere Würde zuerkannte, betrachtete er Religion nicht als vollkommen eigenständige Realität mit einem eigenen ontologischen und erkenntnistheoretischen Status. Ohne gänzlich in der Ethik aufzugehen, bleibt die „Religion der Vernunft“ bei Cohen letzten Endes der Ethik untergeordnet. Religion und besonders das Judentum werden als Instrument zur Förderung des sittlichen Bewußtseins gedacht, d. h. der sittlichen Vernunft und der Verpflichtung. Sie machen es leichter, das „Reich Gottes“ zu verwirklichen. Obwohl Cohen einige der wichtigsten Punkte des religiösen Existentialismus des 20. Jhs. umrissen hat, macht ihn seine Moraltheologie insgesamt doch eher zu einem Denker des vorangegangenen Jahrhunderts. Für Cohen stand die sittliche Vernunft im Mittelpunkt der Religion und so überrascht seine Formulierung in der Religion der Vernunft nicht, daß „Offenbarung die Schöpfung der Vernunft“ ist. Diese Identifikation von Vernunft und Offenbarung war für den philosophischen Idealismus des 19. Jhs. charakteristisch. Der Ausgangspunkt der philosophischen Existentialisten des 20. Jhs. lag hingegen darin, Offenbarung als metarationale Kategorie zu begreifen, die auf die freie Selbstenthüllung Gottes gegenüber den Menschen in ihrer endlichen Existenz verweist. In dieser Hinsicht ist nicht Hermann Cohen, sondern der Laiengelehrte Salomon Ludwig Steinheim (1789–1866) die Übergangsgestalt des jüdischen Denkens vom 19. zum 20.Jh. Steinheim war der erste wirklich jüdische Theologe der modernen Zeit. Wie Hans-Joachim Schoeps bemerkt, ist er jedoch hundert Jahre zu spät und hundert Jahre zu früh gewesen. Deutet man das jüdische Denken von Mendelssohn bis Steinheim als kontinuierlichen Versuch, das Judentum als die Religion der Vernunft schlechthin zu interpretieren, dann ist Steinheim für das 19.Jh. wahrlich einzigartig. Steinheim bejahte die Offenbarung und den lebendigen Gott Israels als Postulate der Vernunft, als logische Deduktionen, in denen sich die Vernunft der ihr gesetzten Grenzen bewußt ist. Damit erinnert er stark an den jüdischen Theologen Franz Rosenzweig (1886– 1929), der wie vielleicht kein anderer von Gott berauscht war. Obwohl Rosenzweig die Schriften Steinheims nicht gekannt zu haben scheint, gelangte auch er zu dem, was er „Offenbarungsglauben“ nannte, dem Glauben an die Offenbarung als einer historischen und existentiellen Möglichkeit, nachdem er zu dem Schluß gelangt war, daß die Vernunft nicht alle existentiellen Fragen des Menschen zu beantworten vermag. Rosenzweig war ein hochgradig assimilierter Jude. Sein Weg in die Religion führte ihn anfänglich fast zur christlichen Taufe. Als er sich schließlich zur Abkehr von der Konversion durchrang, war dies von dem Willen begleitet, das Judentum tiefer zu erkunden, oder genauer: die traditionellen jüdischen religiösen Praktiken und Texte als den Rahmen, in dem er seinen Offenbarungsglauben verwirklichen konnte. Rosenzweig entwickelte sein Verständnis von Offenbarung als Anrede Gottes auf der Basis einer radikalen Kritik des philosophischen Idealismus, der nach universalen, „zeit-

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losen“, abstrakten Wahrheiten sucht. Im Gegensatz zum Prinzip der Schlußfolgerung der Philosophen geschieht Offenbarung in der Zeit, sie ist ein Ereignis, in dem Gott in eine Beziehung zum vergänglichen Individuum tritt. Phänomenologisch konstituiert diese Beziehung das, was der biblischen Tradition nach als Liebe gefeiert wird: die göttliche Ansprache des DU an das zeitlich bedingte ICH des Einzelmenschen. Gott ruft den Einzelmenschen in seiner endlichen Existenz bei seinem Namen, der ihn existentiell von allen anderen Individuen unterscheidet. In der Offenbarung ist die nicht notwendige Existenz des Einzelmenschen, festgehalten durch den Namen, den er bei der Geburt erhalten hat, somit in der göttlichen Liebe bestätigt und mit dem Hauch der Ewigkeit gesegnet. Durch seine Bejahung der Offenbarung konnte Rosenzweig im Unterschied zu vielen anderen assimilierten deutschen Juden seiner Generation das Judentum als einen theozentrischen Glauben von bleibender existentieller Aussagekraft sehen. Seine grundlegenden Gedanken zum Thema Glauben und Judentum entwickelte er in seinem Hauptwerk Der Stern der Erlösung, das er in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs niederschrieb und bald danach veröffentlichte (1921). In dieser glänzenden Schrift konzentrierte er sich auf das Gebetbuch und den liturgischen Kalender als „Herzstück“ des uralten Glaubens Israels. Später sollte er zunehmend Elemente des traditionellen Judentums in sein Werk und Leben zu integrieren suchen, von dem Gebot, eine koschere Küche zu führen, bis zum Studium der Tora. Seine Herangehensweise an die Mizwot, die kultischen Gebote, war jedoch ausgesprochen eigenwillig. Im Gegensatz zur jüdischen Orthodoxie konnte er sie nicht aufgrund der Autorität der Rabbiner akzeptieren, denn ein auf Autorität beruhender Glaube sei kein Glaube (Autoritätsglaube = Unglaube). Seine Herangehensweise an „das Gesetz“, wie er in seinem heute unter dem Titel Die Bauleute berühmten Brief an Martin Buber schrieb, sollte vielmehr jeden Juden ganz persönlich zur Beschäftigung mit den heiligen und existentiellen Möglichkeiten der Mizwot anhalten, um herauszufinden, welche der göttlich bestimmten Handlungen er oder sie zu erfüllen sich berufen fühlt. Wie er Buber mit Bezug auf einen rabbinischen Kommentar Jesajas 54:13 erläuterte, sollten die Juden sich nicht nur als Gottes gehorsame „Kinder“ (baneich) betrachten, sondern auch als seine „Bauleute“ (boneich): Jede Generation habe die Chance, ja die Pflicht, das Gesetz für sich neu zu schaffen. Das Denken Rosenzweigs wird zu Recht mit dem des ebenso eigenständigen Philosophen und religiösen Denkers Martin Buber (1878–1965) in Verbindung gebracht. Doch wenn sie auch viele theologische Prämissen und kulturelle Anliegen miteinander teilten, so unterschieden sich die Freunde doch in grundlegenden Fragen. Beide dachten die Offenbarung als Dialog zwischen Mensch und Gott und beide betrachteten die Aufwertung der in dieser Weise begriffenen Offenbarung als Basis für die Erneuerung des Judentums als religiösen Glauben. Doch während Rosenzweig sich die Erneuerung gebunden an ein Leben mit Gebet und Ritual vorstellte, wollte Buber eine radikale Form des religiösen Anarchismus vorantreiben, in der für die Synagoge und die Mizwot wenig Raum blieben. Vor allem aber war Buber Zionist und deshalb entschieden gegen Rosenzweigs Position, daß die spirituelle Berufung der Juden ihr Abseitsstehen von der Geschichte und von den Alltagsgeschäften und Ambitionen des Nationalstaats erfordere.

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Buber zufolge ruft Gott, das ewige DU, den Einzelmenschen in verschiedensten und fließenden Lebenserfahrungen an, die scheinbar vergänglichen oder bedeutenden und einschneidenden Charakter haben können und die eine dialogische Antwort verlangen. In dieser Antwort bestätigt man das DU oder die einzigartige Präsenz des anderen. Im Ansprechen des DU (und die reale Rede ist dabei nebensächlich) findet das Selbst oder Ich sich in seinem eigenen Sein bestätigt. In ihrer vollkommenen Form ist die dialogische Beziehung gegenseitig. Als Antwort auf die sich ständig erneuernde Anwesenheit des anderen muß auch der Dialog stetig erneuert werden. Die ICH-DU-Antwort, so Buber, erfordert also Spontaneität und kann nicht durch festgeschriebene Ausdrucksformen, Gesten und Handlungen erzeugt werden. Daraus folgt für Buber auch, daß Gottes Anruf als gebrochener Anruf, d. h. geoffenbart durch die anrufende Anwesenheit des immanenten DU ebenfalls solche Spontaneität erfordert. Der einzige authentische Dienst an Gott liege in solchen spontanen Antworten auf das Ewige DU, das das menschliche Wesen durch den proteischen Strom des Lebens anruft. Obwohl er Gebet und Ritual nicht vollkommen die Möglichkeit der spontanen und somit authentischen Beziehung zu Gott absprach, hat Buber sie gewiß nicht als paradigmatische Formen der devotio betrachtet. Diese Konzeption der göttlichen Offenbarung steht offensichtlich in fundamentalem Widerspruch zur klassischen jüdischen Offenbarungslehre – der Übergabe der Tora an das Volk Israel auf dem Berg Sinai – als einem historischen Ereignis von paradoxerweiser ewiger Gültigkeit. Mehr noch, Bubers bewußte Distanz zum liturgischen Gebet und den Mizwot als den richtigen Formen der Religiosität widerspricht nicht nur den traditionellen, sondern allen Formen institutionalisierten jüdischen Lebens. Buber war sich seiner Sonderstellung im jüdischen religiösen Denken durchaus bewußt. Er selbst betonte, daß er kein Theologe in formalem Sinne sei. Weder wollte er geoffenbarte Sätze über Gott noch die geoffenbarten Schriften und die Lehre verteidigen. Statt dessen wollte er einfach auf den Dialog sowohl als existentielle Basis der Beziehung des einzelnen zu Gott als auch als metaethisches Prinzip hinweisen, das die Antworten des einzelnen auf den göttlichen Anruf im Gewebe des Alltagsdaseins bestimmen sollte. Seiner Lehre nach bildete dieses Prinzip das Herzstück aller großen spirituellen Traditionen, insbesondere aber des Judentums. Der Begriff des Dialogs kann somit eine Lesweise der hebräischen Bibel und anderer prägender religiöser Texte der jüdischen Tradition wie denen der Chassidim sein. An Bubers religiösem Anarchismus und seiner radikalen politischen Einstellung (zu der ihn sein religiöser Humanismus oft trieb) nahmen viele Juden Anstoß, die traditionellen Formen der Religionsausübung und konventionelleren politischen Einstellungen verpflichtet waren. Für andere aber ist seine Philosophie des Dialogs offenkundig ein Quell der Inspiration geworden, besonders wenn sie nach Formen suchten, jüdische Spiritualität und jüdisches Engagement jenseits der Synagogen zum Ausdruck zu bringen. Darüber hinaus hat seine Konzeption des Dialogs als einer Lesweise heiliger Texte (durch die man die göttliche Stimme in ihnen erkennen kann, ohne diese unbedingt unkritisch zu übernehmen) auf die zeitgenössischen jüdischen Studien und die Hermeneutik schulebildende Wirkung gehabt.

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Buber und Rosenzweig wurden die führenden Denker im jüdischen religiösen Denken des 20. Jhs. Im Unterschied zu den konfessionellen Etikettierungen und apologetischen Tendenzen des vorhergehenden Jhs. prägte das jüdische Denken nun existentielle Tiefe und der Wille, traditionelle Formen jüdischer Frömmigkeit und Spiritualität für moderne Menschen wiederzuentdecken, die – vor allem angesichts der Komplexität der Moderne – für das eigene persönliche Dasein zentral schienen. Durch dieses Wiederauftauchen des Judentums als intellektuell und spirituell fordernde religiöse Kultur konnten sich die Juden im Deutschland der dreißiger Jahre während der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten, die sie nicht nur ihrer Bürgerrechte, sondern ihrer Selbstachtung berauben wollte, ihren Stolz bewahren und „spirituellen Widerstand“ leisten. Diese Würde des deutschen Judentums in seinen „letzten und besten Stunden“ verkörpert besonders der Rabbiner Leo Baeck (1874– 1956). Baeck hatte ebenfalls eine theologische Position entwickelt, die von der Stärke des jüdischen Glaubens Zeugnis ablegen sollte. Die Religion Israels konstituierte sich ihm zufolge in einer Dialektik von „Gebot und Geheimnis“ – die unverbrüchliche Sittlichkeit der Juden ist von der numinosen Erfahrung eines lebendigen gerechten Gottes nicht loszulösen. Diese Erfahrung gibt den Juden Kraft und nährt ihr Vertrauen in die Welt und den letztlichen Sieg des Guten. Baecks Glaube war keineswegs naiv. Er war sich des von der Menschheit entfesselten Bösen qualvoll bewußt, doch konnte man es seiner Ansicht nach überwinden, wenn man der Verzweiflung – durch die Bejahung menschlichen Anstands und die prophetische Vision einer Welt des Mitgefühls und der Gerechtigkeit – widersteht. In der Zeit der Schoa wurde dies zur Vision von Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit. Die Vernichtung des europäischen Judentums bedeutete auch das Ende seiner vielschichtigen und lebhaften Geistestraditionen, die zum Teil in Nordamerika und in Israel fortgeführt wurden. Besonders in den Vereinigen Staaten fanden die überlebenden Vertreter dieser Denktraditionen ein günstiges Umfeld. Die einflußreichsten von ihnen waren zwei Juden aus Osteuropa, die in den dreißiger Jahren zusammen an der Universität von Berlin studiert hatten, Abraham Joshua Heschel (1907–1973) und Joseph Dov Soloveitschik (1903–1993). Der in Polen geborene Heschel, der 1940 in die USA emigrierte und in der Tradition der großen chassidischen Lehrer stand, entwickelte eine lyrische Theologie, die von seiner Glaubenserfahrung als religiöser Jude zeugte, der an die Tradition der „halachischen Heiligkeit“ und des „prophetischen Bewußtseins“ gebunden war. Die chassidische Spiritualität spiegelte nach seiner wie der Ansicht Bubers (mit dem er in Deutschland eng zusammengearbeitet hatte) die innersten Wahrheiten des jüdischen Glaubens wider. In Verbindung mit westlicher Gelehrsamkeit sollte sie eine zeitgemäße Konzeption der Frömmigkeit für moderne Juden sein. Angesichts der Abstumpfung der Glaubensfähigkeit der westlichen Menschheit durch die technische Zivilisation der bürgerlichen Welt wollte er den sensus numinis wiedererwecken – das a priori auftretende Gefühl des Staunens und der Ehrfurcht angesichts des Geheimnisses des Lebens –, indem er seinen Lesern die chassidisch-kabbalistische Lehre vermittelte, daß die Realität stets die göttliche Präsenz in sich trägt. Das stete Geheimnis des Daseins, das selbst die pragmatischste Zivilisation nie ganz und gar auszulöschen vermag und dessen der Mensch oft ganz ungewollt gewahr wird, ist somit nach

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Heschel ein Zeichen für die unaussprechliche, aber offensichtlich wundersame Wirklichkeit Gottes. Wenn Gott als schicksalhafter Quell der Existenz bejaht wird, führt dies über das Absurde hinaus zur „Gewißheit des Sinns“. Die Sprache Heschels zeugt vom Einfluß des Existentialismus, vor allem dem Kierkegaards. Der dänische Religionsphilosoph des 19. Jhs. scheint Heschel auch das Vokabular zur Konzeptualisierung der existentiellen Logik der Halacha als Schaffung einer inneren „heiligen“ Wirklichkeit geliefert zu haben, die das Bewußtsein der Göttlichen Präsenz erhöht. Als System von konkreten und sogar alltäglichen Handlungen ritualisiert die Halacha die prophetische Lehre, daß Glaube letztlich ein „Handlungssprung“ sei – man antwortet auf Gottes Präsenz, indem man sein Werk zum eigenen macht. Die Bündnisbeziehung zwischen Gott und Israel impliziert die Chance auf eine vertrauliche Partnerschaft zwischen Mensch und Gott: Die Sünden des Menschen erzürnen und betrüben Gott, und indem man ihn fürchtet und liebt, entsteht der Wille, ihm durch die Teilhabe an seinem Werk Freude zu bereiten, um die Schöpfung mit Gerechtigkeit und Mitgefühl zu vervollkommnen. Trotz seiner Überzeugung, daß das „prophetische Bewußtsein“ das Herzstück des traditionellen Judentums war, wurde Heschel nach seiner Auswanderung in die USA weniger von Anhängern der Halacha als vielmehr von den Juden rezipiert, die nach einer Auslegung des Judentums suchten, die ihr Engagement für die großen humanitären Fragen ihrer Zeit bestätigte. Heschels Botschaft von der prophetischen Fürsorge und der Verantwortung wurde deshalb von einer Generation amerikanischer Juden der sechziger und siebziger Jahre dahingehend verstanden, sich in der Bürgerrechtsbewegung und der Anti-VietnamBewegung zu engagieren. Joseph Dov Soloveitschik, der aus einer Familie bedeutender litauischer Talmudgelehrter stammte, emigrierte 1932 in die USA, nachdem er kurz zuvor in Berlin mit einer Doktorarbeit über Hermann Cohen promoviert worden war. In einer originellen Verknüpfung neukantianischer und existentialistischer Lehren entwickelte er eine dialektische Sicht auf die Beziehung zwischen der technischen Zivilisation (die, um sich der Sprache Kants zu bedienen, der Erscheinungswelt zuzuordnen ist) und dem Leben des Verstandes und des Geistes, die im Reich des Numinosen angesiedelt sind. Durch die Halacha kann der Jude beide achten. Nach Soloveitschik verhält sich ein Leben nach der Halacha nicht notwendig antagonistisch zu den ethischen und kognitiven Fragen der technischen Zivilisation. Indem letztere die Qualität des Lebens verbessert, mehrt sie sogar die Ehre Gottes als ihres Schöpfers. Folglich wirkt man durch mit Verantwortung und Kreativität betriebenen wissenschaftlichen Fortschritt und dessen praktische Umsetzung am Schöpfungswerk mit. Die Halacha fördert durch die Bindung des Individuums an die Gemeinde zudem die Kultivierung der sozialen und kommunikativen Persönlichkeit, deren die technische Zivilisation bedarf. Andererseits akzeptiert die Halacha das existentielle Alleinsein des Individuums und überwindet die daraus entstehende Isolation und Angst durch die „erlösende“ Liebe Gottes und Seiner Tora. Die durch die Tora zusammengeschweißte Kongregation der Juden ist eine „Bündnisgemeinde“, die die existentielle Einsamkeit jedes ihrer Mitglieder respektiert, die in der sakralen Objektivierung durch die Halacha zu Gott und jedem anderen Mitglied in

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einer gemeinsamen Bündnisbeziehung stehen. Wie Heschel fand Soloveitschik in den USA ein aufmerksames Publikum, vor allem unter in Amerika sozialisierten orthodoxen Juden, die zwar modern lebten, aber angesichts der immer schwierigeren Stellung religiöser Menschen in einer pragmatischen und dezidiert säkularen Welt nach Orientierungshilfen suchten. Statt der üblichen Lehre von der orthodoxen Abgeschlossenheit nahm Soloveitschik die pragmatischen Prämissen der modernen Zivilisation an, während er in dieser Zivilisation immanent die Integrität des „halachischen Menschen“ qua homo religiosus verteidigte. Der langsame, aber eindrucksvolle Prozeß des Wiederaufbaus der europäischen Juden nach der Schoa hat auch in Europa eine Erneuerung religiösen jüdischen Denkens gebracht, vor allem in Frankreich, wo der aus Litauen stammende Philosoph Emmanuel Lévinas (1905–1995) nach dem Zweiten Weltkrieg zu überragender Bedeutung gelangt ist. Lévinas folgt der metaphysischen Phänomenologie, die er in seiner Kritik an Husserls und Heideggers Konzept des Anderen entwickelt hat, um die religiöse Bedeutung des Judentums zu beleuchten. Im Zusammenhang mit dem Denken Lévinas’ bedarf der Begriff des „Religiösen“ jedoch gewisser Einschränkungen. Er versteht das Judentum vor allem als Kultur, die durch eine distinkte ethische Vernunft gekennzeichnet ist. Somit bezeichnet „das Judentum eine Kultur, die entweder die Folge oder die Grundlage der Religion ist“. Durch diese Perspektive können sowohl ausgesprochen säkulare als auch religiöse Juden Lévinas’ Gedanken aufgreifen, um an das spirituelle Erbe Israels in kritischer reflektierter Weise wieder anzuknüpfen. In Methode und Anliegen erinnert der Ausgangspunkt Lévinas’ stark an Rosenzweigs Stern der Erlösung, was er selbst auch bereitwillig eingeräumt hat. Lévinas zufolge ist der Westen, der in der griechischen philosophischen Tradition steht, auf ein essentialistisches Seinskonzept fixiert, wonach sich alles Kontingente dessen beherrschender Vorstellung von notwendigen, gesetzmäßigen Wahrheiten zu unterwerfen habe. Dieses philosophische Vorurteil kann sich nur behaupten, wenn es die subjektive Wirklichkeit des Anderen berührt, die jenseits des Denkens und somit per definitionem transzendent ist. Die irreduzible Andersheit – Lévinas spricht statt dessen von „Alterität“ – des Anderen zwingt, auf diesen zuzugehen, indem man für ihn oder sie moralische Verantwortung übernimmt. Diese moralische Erfahrung des Anderen ist nach Lévinas, der damit gegen die griechische Philosophie argumentiert, das einzige „Wissen“ vom Anderen, das wir haben. Diese Einsicht liegt ihm zufolge der westlichen humanistischen Tradition implizit zugrunde. Sie ist jedoch durch die anti-humanistischen Tendenzen der zeitgenössischen westlichen Kultur auf das schwerste untergraben worden, verschleiert als Freiheit oder vielmehr als pervertierter Freiheitsgedanke von schamlosem Egoismus. Lévinas setzt die der Verantwortung für den Anderen beraubte Freiheit in einen Gegensatz zu dem jüdisch-biblischen Begriff der „schwierigen Freiheit“ (dies ist auch der Titel einer seiner bedeutendsten Textsammlungen zum Judentum). Der Jude erlangt die Transzendenz und damit die Freiheit paradoxerweise durch ein Leben nach dem Gesetz Gottes, das von ihm ethische und gesellschaftliche Verantwortung für den Anderen verlangt. Das biblische Individuum, so Lévinas in versteckter Anspielung auf Heidegger, „entdeckt“ seine Mitmenschen, bevor es „Land-

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schaften entdeckt“. Als Hüter des biblischen Humanismus beweist das Judentum der Welt, daß Freiheit Verantwortung und Verpflichtung für Andere bedeutet. Für die dialogische Ethik Lévinas’ ist eine Konzeption des Selbst axiomatisch, die das in der westlichen Kultur und vor allem in deren bürgerlichen Denkrichtungen herrschende Verständnis vom Selbst radikal herausfordert. Das Selbst wird nicht in der Durchsetzung seiner Individualität gestärkt, sondern in der ethisch verantwortlichen Beziehung zum Anderen. Analog dazu muß das Judentum mehr als eine Identität sein, mehr als die trotzige Behauptung der eigenen Identität als Jude angesichts von Assimilation und Schoa. Das Judentum ist eine Lebensweise, bestimmt von der Grammatik eines spezifischen religiös-ethischen Diskurses, die vom Anderen Zeugnis ablegt. Der die jüdische Lebensweise definierende Diskurs ist seinem Charakter nach offen und dialogisch. Im Verständnis von Lévinas ist das Judentum eine „Religion für Erwachsene“. Das soll heißen, es ist Gegenstand stetiger Debatten, Erörterungen, kritischer Bewertungen, Interpretationen und Kommentare, in denen abweichende Meinungen respektiert und ermutigt werden. Diese Konzeption des Judentums als einer dynamischen Pluralität von Stimmen, die nur in ihrem Engagement für die spirituelle Berufung Israels in der Welt im Einklang sind, ist Inbegriff des geistigen Erbes des modernen religiösen jüdischen Denkens zum Beginn des neuen Jahrtausends. (Übersetzt von Eva Maria Ziege)

Christoph Schulte

Jüdische Aufklärung („Haskala“) Der hebräische Begriff „Haskala“ für die jüdische Aufklärung bezeichnet, parallel zum deutschen Begriff der „Aufklärung“, zugleich eine Aufklärungsbewegung, deren Anhänger, deren Tätigkeit, deren Diskurse und deren Zeitalter. Der Reichtum des Begriffs Haskala macht den Vergleich der jüdischen Aufklärungsbewegung mit anderen europäischen Aufklärungsbewegungen und die Bestimmung des Verhältnisses der Haskala zur europäischen Aufklärung zu einem schwierigen Unterfangen. Das beginnt beim Begriff selbst, denn „Haskala“ ist im Gegensatz zu „Aufklärung“ im 18.Jh. kein neues Wort. „Haskala“ war schon im antiken Midrasch und bei den jüdischen Philosophen des Mittelalters ein geläufiger Begriff für Vernünftigkeit und Einsicht. Er stammt vom hebräischen Substantiv „Sechel“, das Vernunft oder Verstand bedeutet. In der antiken Bedeutung war Haskala den in der rabbinischen Traditionsliteratur meist gut bewanderten jüdischen Aufklärern des 18. Jhs. geläufig. Als Terminus technicus für Aufklärung haben ihn die jüdischen Aufklärer des 18. Jhs. jedoch noch nicht selbst gebraucht. Hingegen läßt sich der eng verwandte Begriff „Maskilim“ als programmatische Selbstbezeichnung der jüdischen Aufklärer und ihres Publikums erstmals 1783 nachweisen. Diese Selbstbezeichnung findet sich mehrfach in der in Königsberg gedruckten programmatischen hebräischen Schrift Nachal haBesor. Sie verrät als Selbstbezeichnung die bereits gefestigte Existenz einer Gruppe von Maskilim, und sie zeugt von deren Selbstverständnis als jüdische Aufklärer, die sich mit dem Anliegen der Aufklärung an andere Juden wenden und sie von ihren Zielen zu überzeugen versuchen.

Nachgeholte, beschleunigte Aufklärung Während zeitgleich die Mitglieder der berühmten „Berliner Mittwochsgesellschaft“, in der alles vertreten war, was in der Berliner Aufklärung Rang und Namen hatte, reflektierten, was Aufklärung sei, und während Moses Mendelssohn (1729–1786), das große Vorbild der Maskilim, und Immanuel Kant 1784 ihre berühmten Antworten auf diese Frage in der Berlinischen Monatsschrift publizierten, diskutierten die Maskilim ebenfalls in Berlin und Königsberg ihr Selbstverständnis und das der Haskala als einer Aufklärungsbewegung von Juden. Allerdings mit einem signifikanten Unterschied: Die jüdische Aufklärung hat Anfang der achtziger Jahre des 18. Jhs. gerade erst begonnen, und sie schaut nach vorn, um sich zu verständigen, was zu tun sei. Dagegen blickte die deutsche Aufklärung zum Zeitpunkt dieser Selbstreflexion auf Erreichtes zurück und war damit in gewisser Weise an einem Ende angelangt. Damit wird ein erster wichtiger Charakterzug der Haskala im Gegensatz zur deutschen und europäischen Aufklärung deutlich: Haskala war nachgeholte, späte Aufklä-

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rung. Sie mußte aufholen, was besonders die englische, französische und deutsche Aufklärung, die über 100 Jahre früher begannen, ihr intellektuell, politisch, kulturell, sozial und nicht zuletzt religiös voraushatten. Das setzte die Haskala zeitlich und sozial unter Druck. Dieser Druck wurde noch verschärft durch die Auflösung der Ghetto-Situation von Juden mittels obrigkeitlicher Maßnahmen der spätabsolutistischen Regimes in Preußen und Österreich, die die Juden als demographischen und als Wirtschaftsfaktor dem Staatswohl und -interesse nutzbar machen wollten und deshalb ihre Anpassung an die christliche Mehrheitsgesellschaft forderten und förderten. In einem noch weit radikaleren Schritt wurden Juden durch die amerikanische und französische Revolution plötzlich als Staatsbürger voll emanzipiert. Aufklärung und politische Gleichberechtigung waren damit nicht mehr Traum und fernes Bedürfnis, sondern wurden eine reale Möglichkeit und sogar Notwendigkeit, sollten die Juden nicht von den Zeitläuften überrollt werden. Die Haskala konnte sich darum im Unterschied zu anderen Aufklärungsbewegungen nicht allmählich entwickeln, der große intellektuelle und soziale Nachholbedarf ebenso wie die äußerlichen Änderungen in Staat und Politik verlangten von den Maskilim eine schnelle Reaktion auf die beschleunigte Modernisierung in den Köpfen und in der Alltagswelt. Haskala war beschleunigte, kurze und darum radikale Aufklärung. Sie mußte viel in wenig Zeit schaffen. Das bewirkte, daß ihre Entwicklung schnell verlief und die verlangten Änderungen in der jüdischen Welt nachgerade revolutionär wirken mußten. Im Vergleich zu den anderen europäischen Aufklärungen bildete die Haskala keine Aufklärungstradition aus, und sie konnte auch auf keine zurückgreifen. Lediglich die mittelalterlichen jüdischen Philosophen, allen voran Maimonides (1135–1204), in ihren Versuchen einer Vermittlung zwischen jüdischer Religion und rationaler wissenschaftlicher Erkenntnis hatten eine gewisse Vorbildfunktion und dienten innerjüdisch als Berufungsinstanz. Aber angesichts einer Vielzahl von politischen und wissenschaftlichen Neuerungen im 17. und 18.Jh. mußte sich die Haskala ihre Vorbilder in der europäischen Aufklärung, d.h. in der nicht-jüdischen Welt suchen. Dabei sind die Anschlüsse heterogen und vielfältig. Darum werden innerhalb der Haskala fast zeitgleich und sich überlappend sehr verschiedene weltanschauliche, philosophische und religiöse Positionen vertreten.

Beginn und Ziel der Haskala Haskala war eine vielstimmige Aufklärung. Vielstimmig war sie vor allem in bezug auf die Frage, ob überhaupt und inwieweit die jüdische Religion, d.h. die rabbinische Tradition des Judentums, verändert und den neuen Erkenntnissen, der modernen Bildung, der bürgerlichen Kultur und den staatsbürgerlichen Anforderungen angepaßt werden sollte. In ihrem Verhältnis zur rabbinischen Tradition fand die Haskala keinen religiösen Konsens, aber gerade in diesem Punkt ist das Judentum der Moderne der religiösen Vielstimmigkeit von Haskala gefolgt und treu geblieben: Seit der Haskala existieren verschiedene religiöse Gruppierungen im Judentum nebeneinander, Haskala steht am Beginn der religiösen Pluralisierung des modernen Judentums.

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Das Einigende in ihrer religiösen und weltanschaulichen Vielstimmigkeit war dennoch der Umstand, daß sich die Protagonisten der Haskala in Preußen, wo Haskala als Aufklärungsbewegung begann, alle kannten, daß sie die gleichen Diskriminierungen in Staat und Gesellschaft erfuhren und vor allem daß sie alle als Juden Aufklärer sein wollten. Dieses Selbstverständnis, zugleich Aufklärer werden und sein zu wollen, dabei jedoch Jude zu bleiben, bringt Universales und Partikulares, Aufklärung und die jüdische Existenz als Angehöriger einer diskriminierten religiösen und sozialen Minderheit in ein Spannungsverhältnis. „Menschenaufklärung kann mit Bürgeraufklärung in Streit kommen“, schreibt Mendelssohn 1784 nicht zufällig. Was Aufklärung sei, summiert Kant ganz knapp im berühmten ersten Satz seiner Abhandlung Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Europäische Aufklärung versteht sich als Aufklärung „des Menschen“, in dieser Allgemeinheit. Menschengeschlecht, Menschheit, man, mankind, l’humanité sind Subjekt und Objekt von Aufklärung. „The only science of Mankind is man“, schreibt 1733 Alexander Pope. Jessod Bechinat ha-Adam – ha-Adam übersetzt der Maskil Isaak Euchel 1790 diesen Satz ins Hebräische der Haskala. „Der Mensch“ klärt sich nach diesem Selbstverständnis selbst auf oder er wird von der Elite der Aufklärer aufgeklärt. Was hingegen die Haskala vor allem will, summiert der jüdische Kantianer und Maskil Lazarus Bendavid (1762–1832) in Etwas zur Charackteristick der Juden 1793 bündig in drei Worten: „Aufklärung des Juden“. Das Singulare tantum „Aufklärung des Juden“ schließt bei Bendavid ausdrücklich alle Juden beider Geschlechter ein, wenngleich Wissenschaft und Religion den Männern vorbehalten blieb, bürgerliche Bildung auch Frauen zukam. Allerdings muß Bendavid im gleichen Atemzug eingestehen, daß längst nicht alle Juden aufklärungswillig sind. Jede Aufklärung hat Gegner, auch die jüdische. Aber nur die jüdische Aufklärung hatte Gegner im Judentum selbst und außerhalb desselben unter den Christen. Darum gilt die Forderungen nach Aufklärung aller Juden sowohl gegenüber den Juden als auch gegenüber den Christen. Lazarus Bendavid nennt nicht nur das Ziel der Haskala, er erlaubt sich, mitten in ihrem Vollzug, auch schon einen historischen Rückblick auf sie: Die „Aufklärung des Juden“ begann mit dem Wirken von Moses Mendelssohn in Berlin. Anstatt Talmud zu lernen, haben Mendelssohn und einige andere junge Juden aus seinem Bekannten- und Freundeskreis nachts und neben dem Beruf „ächte Weltweisheit“ studiert, also statt des religiösen Lernens profanes Allgemeinwissen, Kenntnisse der verschiedenen Wissenschaften, mehrerer Sprachen, der europäischen Literaturen und der Philosophie erworben. Nach dem Siebenjährigen Krieg (1756–63) hat sich dann, so die Schilderung Bendavids, neben einigem Wohlstand auch die Aufklärung unter den Juden in Preußen rasch verbreitet. Aber Preußen war ihr Umfeld, nicht ihr Horizont. Intellektuell wurde die Haskala vom englischen Deismus und englischen Romanen, von der Religionskritik der Lumières, von der wolffianischen Schulphilosophie und später von Kant beeindruckt und beeinflußt. Literatur, Wissenschaften und Philosophie der europäischen Aufklärer wurden innerhalb

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kurzer Zeit sowohl in der deutschen Spätaufklärung als auch in der Haskala rezipiert und rezensiert. Und diese Kenntnisse sollten nicht nur unter den Juden West- und Mitteleuropas, sondern gerade auch unter denen Osteuropas Verbreitung finden. Die Haskala begann nach ihrem eigenen Selbstverständnis unter Berliner Juden um Mendelssohn. Sie begann als Selbstaufklärung und bestand im zunächst autodidaktischen Studium nicht-religiöser Wissensstoffe. Nach dem Siebenjährigen Krieg setzte sie sich unter den wohlhabenderen Juden Berlins durch und wurde eine Bewegung, die sich nicht mehr, wie jüdische Aufklärer vorher, damit zufriedengab, daß einzelne Juden sich selbst aufgeklärt hatten, während der Rest des jüdischen Volkes weiterhin in den Banden der Tradition lebte. Einzelne aufgeklärte Juden wie Uriel da Costa, Baruch de Spinoza und Moses Chajim Luzzatto hatte es im 17. und frühen 18. Jh. in den Niederlanden, in Italien und auch in Deutschland schon gegeben. Aber erst in Berlin und Königsberg, später auch in Breslau, Prag und Wien, formierten sich aufgeklärte Juden zu einer Aufklärungsbewegung. Aus der Aufklärung von einzelnen Juden wurde die jüdische Aufklärung, Haskala. Erst die Haskala als Aufklärungsbewegung machte, und das ist ihr Spezifikum, die Aufklärung möglichst aller Juden, des ganzen jüdischen Volkes oder der „jüdischen Nation“, zum Programm. In den Wissenschaften und der Philosophie gelehrte Juden hatte es im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit immer gegeben. Aber diese Gelehrsamkeit blieb, exemplarisch dekretiert dies Maimonides’ Führer der Unschlüssigen (1190), immer einer Elite von halachisch observanten und in der rabbinischen Tradition belehrten Rabbinern vorbehalten. Die breite Masse der Juden galt ihnen mangels Vernunft als gar nicht erkenntnisfähig und erkenntniswillig. Mit diesem der antiken Philosophie geschuldeten, elitären Vernunft-Modell des jüdischen Mittelalters bricht die Haskala: Aufklärung ist Aufklärung für alle Juden, sie muß notfalls ohne die Rabbiner und auch gegen die Rabbiner und die religiösen Gebote erstritten werden. Alle Juden sind, wie alle anderen Menschen auch, erkenntnisfähig, nicht nur eine schmale Elite von Gelehrten und Philosophen. Das Vernunftmodell der Haskala ist das der europäischen Aufklärung: Vernunft ist allgemein, sie ist nicht auf wenige beschränkt. Sind Juden nicht aufgeklärt, so liegt das nicht am prinzipiellen Vernunftmangel, sondern an schlechten äußeren Umständen durch jahrhundertelange judenfeindliche Diskriminierungen und an der Verblendung durch eine verkrustete religiöse Tradition.

Minoritäten-Aufklärung Dennoch bleibt ein Unterschied zur europäischen Aufklärung zu nennen: Während die englische, französische und deutsche Aufklärung bei allen Unterschieden im Detail die Aufklärung „des Menschen“ zum übergeordneten Ziel hatten, zielt die Haskala allererst auf die Aufklärung der jüdischen Minderheit. Die jüdische Minderheit soll das erreichen, was zumindest die aufgeklärte Avantgarde der christlichen Mehrheit schon erreicht hat. Aufgrund dieser Zielsetzung wird ein weiterer Unterschied deutlich: Haskala war eine MinoritätenAufklärung. Das führte zu einer den Maskilim durchaus bewußten Spannung zwischen

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dem universalen Anspruch der majoritären europäischen Aufklärungen nach Aufklärung „des Menschen“ und dem partikularen Anspruch nach Aufklärung „des Juden“. Dabei setzt die Haskala einerseits die zeitlich frühere europäische Aufklärung mit deren Forderung nach Aufklärung „des Menschen“ schon voraus. Sie widerspricht dieser Forderung nicht, sondern unterstützt diese sogar und setzt sie als bekannt voraus. Erst unter Voraussetzung und im Rahmen der universalen Forderung nach Aufklärung aller Menschen macht die Haskala als Avantgarde der jüdischen Minorität dann andererseits die Aufklärung der Juden zu ihrer partikularen Forderung. Namens der Aufklärung aller Menschen fordert sie die Aufklärung auch der Juden. Die Juden sind in Europa sogar die erste Minorität, die die majoritären, christlichen oder christlich geprägten Aufklärer damit konfrontiert, daß sich hinter dem universalen Anspruch auf Aufklärung des Menschen sehr partikulare Gruppen, Nationen, Geschlechterrollen und Religionen verbergen. Der blinde Fleck der emphatischen Forderung nach Aufklärung des Menschen, nämlich die Tatsache, daß die europäische Aufklärung vergessen hatte, daß ihr Modell des Menschen der europäische, weiße, gebildete, wohlhabende, christliche Mann und Bürger ist, wird von der Haskala ins Bewußtsein gerückt: Es gibt mit den Juden eine Minderheit, die auf solche Aufklärung aller Menschen Anspruch erhebt, ohne diesem Modell des christlichen Bürgers zu entsprechen. Die Aufklärung des Menschen im Namen der Gleichheit aller muß, wenn sie konkret wird, die Aufklärung der Juden einschließen. Will Aufklärung universal die Aufklärung aller Menschen sein, dann muß sie auch die partikulare Aufklärung der Juden zur Konsequenz haben, sie zulassen und sogar fördern. Der paradigmatische Charakter der Haskala als Aufklärung einer Minorität birgt eine besondere Spannung zwischen Universalem und Partikularem, die sich nicht zugunsten des einen oder des anderen auflösen läßt. Die Haskala wollte die Aufklärung aller Juden, aber in einem doppelten Sinne: Haskala war zugleich Aufklärung der Juden als Menschen und Aufklärung der Juden als Juden. Was heißt das? Zunächst implizierte Aufklärung der Juden als Menschen die Gleichheit und Gleichbehandlung der Juden mit allen anderen Menschen. Die Juden mußten in gleicher Weise aufklärungsfähig, aufklärungswillig und aufklärungswürdig gelten wie alle anderen Menschen. Die fundamentale Gleichheit der Juden mit allen anderen Menschen hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, Vernunft und Würde war daher die anthropologische, juristische und moralische Voraussetzung der Aufklärung der Juden als Menschen. Diese Voraussetzung war unter christlichen wie jüdischen Aufklärern weitgehend unstrittig, sie wurde von fast allen geteilt. Bei den Juden mußte allerdings dem Ausgang aus „selbst“verschuldeter Unmündigkeit erst einmal der Ausgang aus „fremd“verschuldeter Unmündigkeit vorausgehen. Es mußten die judenfeindlichen Diskriminierungen in Recht, Gesellschaft und Alltagswelt beseitigt und es mußten, ganz simpel, Schulen gebaut und den Juden die Universitäten geöffnet werden. Das bestimmte die Agenda der Maskilim maßgeblich: Unter Voraussetzung gleicher Aufklärungsfähigkeit mußte Bildung, beginnend mit der Volksschule für arme jüdische

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Kinder, nachgeholt werden. Schul- und Allgemeinbildung als Aufklärung war die Voraussetzung der bürgerlichen Verbesserung der Juden. Emanzipation durch Bildung (George Mosse) blieb von der Haskala an bis zum 20. Jh. das Programm von jüdischen Intellektuellen und Bürgern in Deutschland. Unter dieser Voraussetzung jahrhundertelanger Diskriminierung und entsprechend großen intellektuellen Nachholbedarfs strebten die Maskilim innerhalb und als Teilnehmer der europäischen Aufklärung nach intellektueller, wissenschaftlicher, sozialer und kultureller Anerkennung: als Mensch. Die Anerkennung als Mensch und Aufklärer, d.h. als Mitstreiter in der europäischen Aufklärung, wurde ihnen im Einzelfall zumeist auch zuteil. Anders war dies mit der Anerkennung als Juden. Strittig war die Aufklärung der Juden als Juden. Denn viele christliche Aufklärer sahen auf die jüdische Religion und die Juden mit Mißachtung herab, Judesein und Judebleiben erschien ihnen als mit Aufklärung unvereinbar. Denn das Judentum galt als veraltete, überholte und vor-vernünftige Gesetzes-Religion, die vom Christentum schon in der Antike überholt worden und gar mit Aufklärung gänzlich unvereinbar sei. Nach ihrer in einer jahrhundertealten Tradition des christlichen Antijudaismus vorgeprägten Überzeugung konnte aufgeklärt nur der Jude als Mensch werden, der Jude als Jude nicht. Stellvertretend hierfür ist die Äußerung des Abgeordneten Clermont-Tonnerre in der Constituante 1789: „den Juden als Nation alles verweigern […] als Individuen alles gewähren“. Der Maskil war als Aufklärer willkommen nur um den Preis, daß er seine jüdische Religion und Identität leugnete, radikal veränderte oder aufgab. Gegen diese Zumutung, die erstmals und beispielhaft in der Konversions-Forderung Johann Kaspar Lavaters und anderer christlicher Aufklärer an Mendelssohn im Jahr 1769 ausgesprochen wurde, setzte die Haskala ihre Forderung nach Aufklärung der Juden als Juden. Aufklärung konnte und sollte nicht erreicht werden um den Preis der Selbstaufgabe der jüdischen Identität, konkret: der Taufe oder der Selbstverleugnung der jüdischen Herkunft und Traditionen. Deswegen war die Lavater-Affäre ein Ausgangspunkt, und sie blieb ein Kernproblem für die Ausbildung der Haskala als Aufklärungsbewegung ebenso wie für das Selbstbewußtsein der Maskilim: Sie war mehr als der Verstoß eines Zürcher Pastors gegen die Religionsfreiheit und Toleranz in einem Einzelfall. Ausgerechnet der berühmteste und anerkannteste jüdische Aufklärer deutscher Sprache sollte gerade sein Judesein aufgeben, um als Aufklärer und Mensch volle Anerkennung zu finden. Hiergegen, und das bleibt ein Anspruch der ganzen Haskala in ihrem Auftreten gegenüber den Christen, mußten die Maskilim ihre jüdische Identität und die Gleichwertigkeit ihrer Religion verteidigen. Die Haskala forderte darum nicht nur die Aufklärung aller Juden als Juden, sondern auch die Aufklärung aller Menschen über die Juden und ihre Religion. Darum forderte die Haskala als Projekt und als Bewegung gleicherweise die Anerkennung der Maskilim als Aufklärer und als Juden, das eine nicht ohne das andere. Für die Maskilim schloß sich Teilnahme an der europäischen Aufklärung und an der Haskala nicht aus, vielmehr bedingte das eine das andere. Die Aufklärung als Jude war ohne die als Mensch nicht zu haben, und umgekehrt. Diese unauflösliche doppelte Aufgabenstellung, sich in der europäischen Aufklärung als Aufklärer zu behaupten und zugleich Jude zu blei-

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ben und das Judentum zu verteidigen, ist der Haskala wesentlich. Sie machte die Haskala zur Haskala: Es war nie das Projekt der Haskala, aus einem Juden aus Dessau oder Wilna flugs und rückstandslos einen guten deutschen, französischen oder englischen Aufklärer zu machen. Es gab solche Fälle, aber sie sind nicht typisch. Vielmehr ging es der Haskala um gleichberechtigte Teilhabe an der europäischen Aufklärung unter Beibehaltung der Eigenheit, der partikularen jüdischen Identität, Religions- und Volkszugehörigkeit. Ziel der Haskala in Preußen war niemals die Aufklärung der Juden als Deutsche, sondern die Aufklärung der Juden als Juden.

Doppelte Aufklärung: Binnendiskurs und Außendiskurs Die Aufklärung der Juden als Menschen und als Juden wird von der Haskala allerdings nicht nur gegenüber den christlichen Aufklärern namentlich der deutschen Spätaufklärung geltend gemacht, sondern auch gegenüber Juden. Aufklärung der Juden ist zuallererst Selbstaufklärung der Maskilim durch Aneignung von Bildung, Kultur und Wissenschaften, durch Mehrung des Wissens. Sie ist darüber hinaus aber auch die Aufklärung solcher Juden, die mit den Ideen der europäischen Aufklärung nie in Berührung gekommen waren, denen diese Berührung versagt worden war oder die davor zurückschreckten. Aufklärung der Juden war somit eine Forderung sowohl gegenüber den Christen als auch gegenüber den Juden, sowohl gegenüber der nicht-jüdischen Außenwelt als auch in den innerjüdischen Debatten gegenüber den Traditionalisten und Aufklärungsgegnern. Daraus folgt: Haskala war Aufklärung mit doppeltem Publikum aus Juden und Christen, mit einem jüdischen Binnendiskurs und einem nicht-jüdischen Außendiskurs. Diese Sonderheit rührt daher, daß Haskala eine Minoritätenaufklärung ist, die stets einerseits Judentum und Juden gegenüber der europäischen Aufklärung und den christlich geprägten Eliten der Majorität repräsentieren und gegen Vorurteile verteidigen muß, andererseits jedoch auch die europäische Aufklärung innerjüdisch vermitteln will. Der Außendiskurs muß das Partikulare des Judentums und der Juden gegenüber der christlichen Mehrheit darstellen, rechtfertigen, verteidigen. Der Maskil mußte das eigene Judesein behaupten, umgekehrt muß der innerjüdische Binnendiskurs das Universale der europäischen Aufklärung in den jüdischen Kontext übersetzen, adaptieren und dort akzeptabel machen. Diese doppelte Aufgabenstellung und diese Doppelung in Außen- und Binnendiskurs sind die Ursache der strukturellen Zweisprachigkeit der preußischen Haskala in ihren Publikationen: In ihren deutschsprachigen Publikationen beteiligten sich die Maskilim an den Debatten der deutschen Spätaufklärung und vertraten dort die Positionen der Haskala gegenüber der deutschsprachigen christlichen Mehrheit. In hebräischsprachigen Publikationen hingegen wurde das innerjüdische Lesepublikum angesprochen, um innerjüdisch für die Haskala zu werben und neue Anhänger zu gewinnen. Das Verhältnis beider Diskurse war asymmetrisch: Während die hebräischen Texte praktisch ausschließlich von Juden rezipiert wurden, wurden die deutschen Texte sowohl vom

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christlichen wie vom aufgeklärten jüdischen Publikum gelesen und waren dadurch ständig dem jüdischen wie dem nicht-jüdischen Urteil ausgesetzt. Während die hebräischen Texte ausschließlich dem innerjüdischen Austausch dienten, hatten die deutschen Texte der Maskilim Darstellungs- und Argumentationsfunktion nach außen, aber auch eine Selbstverständigungsfunktion. Asymmetrisch ist auch die inhaltliche Gewichtung beider Diskurse: Während in den deutschen Texten die Debatte um die bürgerliche Verbesserung der Juden und die Abwehr judenfeindlicher Attacken und Vorurteile dominierte, waren diese Themen in der innerjüdischen hebräischen Diskussion fast bedeutungslos, weil eigentlich unumstritten. Dagegen herrscht in den hebräischen Texten der Haskala die Thematik der Bildung neben den innerreligiösen Konflikten wie etwa der Beerdigungsdebatte um die frühe Beerdigung von Juden unmittelbar nach ihrem Tod vor.

Mehrsprachige und multikulturelle Aufklärung Alle Maskilim am Ende des 18. Jhs. verstanden noch beide Sprachen, wenn auch nicht gleich gut. Darum publizierten manche Maskilim wie Mendelssohn, Salomon Maimon (1753–1800) und Aaron Halle-Wolfssohn (1754–1835) in beiden Sprachen, manche fast ausschließlich in Deutsch wie Markus Herz (1747–1803), David Friedländer (1750–1834) und Lazarus Bendavid, wieder andere fast ausschließlich in Hebräisch wie Naftali Hartwig Wessely (1725–1805), Isaak Satanow (1732–1804) oder Isaak Euchel (1756–1804). Muttersprache beinahe aller Maskilim Ende des 18. Jhs. war das Jiddische. Aber das Jiddische war zu diesem Zeitpunkt keine entwickelte Schriftsprache und schon gar keine Gelehrtensprache wie das Hebräische und Deutsche. Es galt den Maskilim als linguistisch unreine Mischsprache, die klares Denken in Begriffen unmöglich macht. Ferner war Jiddisch mit dem Odem des „Schtetl“ behaftet, es galt als Symbol für Unterdrückung und Unbildung unter osteuropäischen Juden. Einerseits war Jiddisch die populäre Umgangssprache der Massen, andererseits Ausdruck und Repräsentation eines Zustandes von Armut, Unwissenheit und Unterdrückung, aus dem die Haskala sich gerade zu befreien strebte. Deshalb wurde die jiddische Sprache in den Publikationen der Haskala gemieden und lediglich als Mittel der Satire zur Kennzeichnung der ungebildeten Haskala-Gegner in Komödien wie Reb Henoch (1796?) von Isaak Euchel und Leichtsinn und Frömmelei (1796) von Aaron Halle-Wolfssohn verwendet. Im aktiven mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauch war die möglichst virtuose Beherrschung des Deutschen das Entreebillett in den allgemeinen Aufklärungsdiskurs. Das Erlernen des Deutschen war für die Maskilim wegen der sprachlichen Nähe ihrer jiddischen Muttersprache zum Deutschen leichter als das irgendeiner anderen europäischen Nationalsprache. Nirgendwo war die sprachliche Akkulturation leichter als im deutschsprachigen Raum. Das trug sicherlich zur Faszination der deutschen Sprache unter den Maskilim bei und sorgte dafür, daß letztlich Deutsch, neben dem Hebräischen, zur Hauptsprache der jüdischen Aufklärer in ganz Europa wurde.

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Mendelssohn und den anderen Maskilim in Preußen begegnete die deutsche Sprache zugleich als Volkssprache, Kultur- und Literatursprache und als Gelehrtensprache. Und dies in einem Zeitraum, wo das Deutsche sich nur wenige Jahre und Jahrzehnte zuvor an den deutschen Universitäten gegenüber dem Lateinischen als Gelehrtensprache etabliert hatte, Kultur- und Literatursprache eines eigenständigen, deutschen Aufklärungsdiskurses geworden war und schließlich von Herder und im Sturm und Drang als Volkssprache gefeiert wurde. Die aktive Beherrschung des Deutschen in mündlicher und schriftlicher Form war deshalb für die Maskilim sowohl eine Bedingung für die Teilhabe am allgemeinen, gelehrten Aufklärungsdiskurs als auch der Teilhabe an bürgerlicher Öffentlichkeit, Bildung und Institutionen der deutschsprachigen Mehrheitsgesellschaft. Überdies war Deutsch im Amtsund Geschäftsverkehr üblich, nötig und oft sogar, wie in der Donaumonarchie nach 1781, amtlich vorgeschrieben. Aufklärung, intellektuelle Anerkennung und bürgerliche Verbesserung der Juden setzten die problemlose Beherrschung der Landessprache voraus. Doch war dies für die Juden in der Diaspora keine neue Situtation. Immer hatten sie der Landessprache sich kundig machen müssen. Tatsächlich neu war hingegen, daß einige Maskilim das Hebräische zur „Jehudim-Sprache“ (Isaak Euchel), zur aufgeklärten jüdischen National-, Literatur- und Gelehrtensprache machen wollten. Das Hebräische sollte nicht wie vordem in der rabbinischen Tradition reine Sakralsprache bleiben. Vielmehr sollte im Rückgang auf das Hebräisch der Bibel und mit Anleihen bei der philosophischen und wissenschaftlichen Terminologie der mittelalterlichen jüdischen Gelehrten ein von Aramaismen und rabbinischen Schlacken gereinigtes, modernisiertes Hebräisch sowohl ein profanes, alltägliches Kommunikations- und Informationsmittel als auch eine Kultursprache mit allen Genres der zeitgenössischen Aufklärungsliteratur im jüdischen Binnendiskurs werden. In der hebräischen Zeitschrift ha-Meassef („Der Sammler“, 1783–1811) und in zahlreichen hebräischen Büchern versuchten Maskilim wie Wessely, Euchel und Halle-Wolfssohn einerseits die Ideologie und Wissensstoffe von Haskala einem nicht der europäischen Sprachen mächtigen Publikum nahezubringen. Andererseits wollten sie, auch angesichts der raschen Akkulturation von Juden an die deutsche Kultur, ein modernisiertes und korrektes Hebräisch zur jüdischen Gelehrten- und Literatursprache machen. Dieser Versuch scheiterte innerhalb nur weniger Jahre, denn die bürgerliche Akkulturation der Juden in Preußen verlief so rasant, daß schon um 1800 die hebräischen Drucke der Haskala kaum noch Käufer fanden. Es gelang nie, Hebräisch als Sprache der Frauen und damit als Mutterund Umgangssprache zu etablieren. Das verhinderte wiederum, daß Hebräisch eine erfolgreiche Literatursprache werden konnte, denn Poeten, die sich einer anderen als ihrer Muttersprache bedienen, und Leser, die dies nachverfolgen können, sind selten. Hebräisch blieb bis zu Elieser Ben Jehudas Erneuerung und Durchsetzung des modernen Hebräisch im Jischuw eine Sprache weniger Poeten, Ideologen und Gelehrten männlichen Geschlechts. In Osteuropa, wo die religiöse Jugenderziehung die Hebräisch-Kenntnisse des Publikums förderte, blieb neben dem Deutschen das Hebräische noch jahrzehntelang die Sprache der Maskilim, in Preußen wurde um 1800 Deutsch die Sprache der Maskilim nach innen und außen, Hebräisch eine Domäne allein der Rabbiner und Gelehrten.

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Passiv beherrschten die Maskilim weit mehr Sprachen. Beispielgebend hatte Mendelssohn schon bald nach seiner Ankunft in Berlin 1743 begonnen, Latein und Griechisch zu lernen, er übersetzte Platon aus dem Griechischen, Rousseau aus dem Französischen ins Deutsche und rezensierte englische Aufklärungsliteratur in deutschen Zeitschriften. Naftali Hartwig Wessely und Isaak Euchel sind in Kopenhagen aufgewachsen und erzogen worden und beherrschten das Dänische, die aus Osteuropa zugewanderten Maskilim wie Isaak Satanow oder Salomon Maimon sprachen Polnisch und Russisch. Es herrschte eine Vielfalt von sprachlichen und kulturellen Prägungen in der Haskala vor allem Berlins. Die Haskala war mehrsprachige und multikulturelle Aufklärung. Sie setzte sich – und dies zunächst ganz informell und ohne ordnende Strukturen, Institutionen und Hierarchien – aus Migranten von ganz unterschiedlicher geographischer Herkunft, aber auch von unterschiedlichem Bildungsniveau und sozialer Schicht zusammen. Da mischten sich in Berlin die Söhne von reichen Kaufleuten und Bankiers, von armen, aber gelehrten Tora-Schreibern und Rabbinern mit denen von Schankwirten und Kleinhändlern. Im Gegensatz zu den anderen nationalen Aufklärungsbewegungen in Europa war sonach die geographische und sozio-kulturelle Herkunft der Maskilim äußerst vielfältig. Auch in der deutschen und französischen Aufklärung gab es Aufklärer aus sehr unterschiedlichen sozialen Schichten, aber zumindest sprachlich herrschte keine solche Vielfalt wie in der Haskala. Auch konfessionell waren die europäischen Aufklärungsbewegungen nicht einheitlich: In Frankreich entstammten die Aufklärer mehrheitlich dem katholischen Milieu, in England dem anglikanischen, in den deutschen Ländern dem protestantischen, in der Donaumonarchie wiederum dem katholischen. Oft waren die Aufklärer selbst Geistliche, Abbés, Pastoren. Allein die Maskilim jedoch hatten eine andere Religion, die sie gegenüber den majoritär christlichen Aufklärern in christlichen Monarchien und Mehrheitsgesellschaften vertreten und verteidigen mußten. Der religiöse Minoritätenstatus zwang die Juden dazu, sich bis ins Detail mit den christlichen Lehren und auch christlicher Kunst und Kultur vertraut zu machen. Auch hier waren intellektueller Aufwand und Lernnotwendigkeiten beim Kennenlernen des anderen weit höher als bei den christlichen Zeitgenossen. Nicht nur ihre Sprachen, ihre wissenschaftlichen und Kunstkenntnisse mußten aufgeholt und nachgelernt werden, wenn ein Maskil intellektuell mithalten und Anerkennung finden wollte: Er mußte auch die christlichen Religionslehren kennenlernen und sich aneignen. Gleichen Ansprüchen mußten sich die christlichen Aufklärer umgekehrt nicht stellen. Ihre Kenntnisse der jüdischen Religion sind meist reduziert auf traditionelle antijüdische Klischees aus dem Fundus des alten christlichen Antijudaismus. Bemühungen, die es bei den christlichen Hebraisten wie den Baslern Johannes Buxtorf sen. und jun., wie beim Hamburger Pastor Johann Chr. Wolf, dem Autor der Bibliotheca Hebraea (1715–33), oder bei Christian Knorr von Rosenroth im 17. Jh. noch gab, Juden und Judentum der Gegenwart kennenzulernen, finden sich bei Aufklärern des 18. Jhs. vergleichsweise selten. Nicht wenige deutsche Aufklärer schöpften ihre ‘Kenntnisse’ des Judentums aus Johann Andreas Eisenmengers 1711 auf Kosten des preußischen Königs Friedrich I. in Königsberg gedruck-

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tem Schmähwerk Entdecktes Judenthum, in dem Eisenmenger gegen Talmud und Kabbala zu Felde gezogen war. Noch die aufgeklärte Toleranz gegenüber Juden und Judentum war so eine gegenüber einem unbekannten anderen und Fremden, eine Toleranz der meist unwissenden Wohlmeinenden einer Mehrheitsgesellschaft gegenüber den intellektuell hungrigen Migranten und Aufsteigern einer religiösen Minderheit. Von den Maskilim war hingegen eine ungeheuere Akkulturationsleistung gefordert, die nicht nur Wissenschaften und Künste betraf, sondern auch Sprache, Alltagsleben und sogar die Religion. Das verlangte große Anstrengungen seitens der Maskilim und endete in einigen Fällen mit einer Gelehrtheit und Versiertheit in der Kultur der anderen, welche die der christlichen Zeitgenossen weit übertraf. Maskilim wie Mendelssohn, Markus Elieser Bloch, Markus Herz, Lazarus Bendavid oder Salomon Maimon, schließlich auch Salonnièren wie Henriette Herz oder Rahel Varnhagen kannten jüdische und christliche religiöse Traditionen, jüdische und christliche Kultur profund und waren damit nicht selten kulturell sogar kompetenter als ihre christlich-aufgeklärten Gesprächspartner.

Bürgerliche Verbesserung der Juden Dabei waren die geistigen Anstrengungen und intellektuellen Leistungen, die in der Haskala neben dem Brotberuf erbracht werden mußten, keineswegs nur Selbstzweck. Die Aufklärung der Juden geschah oft nicht um ihrer selbst willen. Politisch galten Aufklärung und Bildung unter den Maskilim als Voraussetzung und oft sogar als Mittel zum Zweck der bürgerlichen Verbesserung der Juden. Schon viele Jahre, bevor der protestantische preußische Reformbeamte Christian Wilhelm von Dohm 1781 mit seinem Buch Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden dieses Stichwort gab und damit eine Debatte eröffnete, die den Außendiskurs der Maskilim mit den Christen im preußischen Staat beherrschte und den jüdischen Binnendiskurs jedenfalls stark beeinflußte, gab es jüdische Aufklärung um ihrer selbst willen. Juden haben aus Neugier und Wissensdurst gelernt und studiert, auch ohne daß eine Aussicht auf Verbesserung ihres politischen Status als unterdrückte Minderheit bestanden hätte. Aber mit Eröffnung der Debatte um die bürgerliche Verbesserung der Juden wurden Aufklärung und Bildung als Voraussetzung derselben gesehen. Haskala war Aufklärung der Juden als Voraussetzung ihrer bürgerlichen Verbesserung. Die Forderung nach bürgerlicher Verbesserung, die sich die Maskilim in der politischen Debatte zu eigen machten, bezweckte mehr und anderes als den reinen Wissenserwerb und Aufklärung. Zwar fordert Dohm in seiner Antwort auf das Mémoire der elsässischen Juden auch, die Bildung und die Bildungseinrichtungen der Juden zu verbessern, aber ihre „bürgerliche Verbesserung“ umfaßt mehr: Durch rechtliche Gleichstellung, freie Religionsausübung und freie Berufswahl sollten die Juden zu „besseren“, gesitteteren und kultivierteren Menschen und zu wirtschaftlich nützlicheren Untertanen der christlichen Monarchie gemacht werden. Dohms Schrift gibt der politischen und rechtlichen Unterdrückung sowie wirtschaft-

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lichen und beruflichen Restriktionen für Juden die Schuld am miserablen Zustand und den schlechten Lebensverhältnissen der Juden in Europa. Um diesen Zustand zu bessern, schlägt er vor: 1) Die Juden sollen „vollkommen gleiche Rechte mit allen übrigen Unterthanen erhalten“. 2) Freie Berufswahl und Gewerbefreiheit sollen gewährt werden. 3) Juden sollen auch Ackerbau betreiben können. 4) Freiheit des Handels soll gewährleistet bleiben, Juden in allen Sparten des Handels tätig werden, aber ihre Handelsbücher in der Landessprache führen. 5) Kunst und Wissenschaft ebenso wie die wissenschaftlichen Anstalten des Staats wie Universitäten und Akademien sollen Juden offenstehen. 6) Bildung und Aufklärung sollen gefördert, jüdische Kinder in christliche Schulen aufgenommen werden. 7) Den Christen sollen ihre judenfeindlichen Ansichten genommen werden. 8) Den Juden soll völlig freie Religionsausübung, Religionsunterricht, Bau von Synagogen und Anstellung von Lehrern gewährt werden. 9) Die Tora und die mündliche Überlieferung, ebenso wie die rabbinische Gerichtsbarkeit zwischen Juden werden vom Staat anerkannt. Bis auf das Bannrecht, das Mendelssohn und andere Maskilim den Rabbinern nicht mehr zugestehen wollten, wurde dieser Forderungskatalog zur bürgerlichen Verbesserung der Juden als politische Agenda von der Haskala übernommen und verteidigt. Innerjüdisch umstritten war lediglich, daß Dohm in Sachen der Religion den Rabbinern mehr Rechte einräumen wollte, als viele Maskilim für förderlich hielten. Dohm hatte völlig freie Religionsausübung und innerjüdische Gerichtsbarkeit gefordert, aber nach Ansicht der radikalen Maskilim waren viele religiöse Gebote der tatsächlichen bürgerlichen Verbesserung der Juden und ihrer Eingliederung in die Mehrheitsgesellschaft hinderlich. Dabei standen der soziale Verkehr, die Mode, die Sitten, der Handel und die Geselligkeit mit Christen im Vordergrund: Die jüdischen Speisegesetze behinderten das Essen und Trinken in christlichen Häusern, in Wirtschaften und Kaffeehäusern; die Bärte und Kopfhaare sollten nach der neuesten Mode geschnitten und nicht nach rabbinischer Vorschrift ungeschoren bleiben; die Befolgung von Essens-, Reinheits- und Sabbatgeboten vereitelte Geschäfte und bürgerliche Geselligkeit. Vor allem aber wird von den Maskilim die Autorität ungebildeter, nur in den rabbinischen Quellen bewanderter Rabbiner nicht mehr anerkannt, der jiddelnde „polnische Rabbiner“ und Hauslehrer wird zur Witzfigur und Karikatur dessen, wovon der Maskil sich lösen will. Ungeprüfter und unbedingter Gehorsam gegenüber dem Rabbiner und der halachischen Tradition geriet in Widerspruch zum Geist aufgeklärter Kritik. Weder die Autorität der Rabbiner noch die der Halacha hielten dieser Kritik und dem erheblichen sozialen Druck zur bürgerlichen Akkulturation an die christliche Mehrheitsgesellschaft auf Dauer stand. Zum Eklat kam es 1782 mit der Publikation von Naftali Hartwig Wesselys hebräischer Schrift Diwrej Schalom we-Emet („Worte des Friedens und der Wahrheit“), die vor aller religiösen Erziehung eine breite Schulbildung jüdischer Kinder in profanen Fächern wie Geographie und Geschichte forderte. Das erste Mal wurde die Schrift eines Maskil von einigen strenggläubigen Rabbinern verbrannt. Diese Rabbiner wurden im Gegenzug von Maskilim wie David Friedländer und Moses Hirschel heftig als Dunkelmänner attackiert. Die Maskilim wollten sich weder von der christlichen Obrigkeit noch von den Rabbinern ihr Handeln

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und ihren Bildungskanon vorschreiben lassen. Nach dem Tod des bekannt Halacha-treuen Moses Mendelssohn 1786 wird nicht nur gegen die Rabbiner polemisiert, sondern von jungen Maskilim aus der Generation nach Mendelssohn wie Isaak Euchel, Saul Ascher und Lazarus Bendavid erstmals auch eine Reform der jüdischen Religion gefordert. Die als veraltetes, erstarrtes Regelwerk betrachtete jüdische Religion sollte den modernen Bedingungen angepaßt werden, damit nicht sinnlos gewordene religiöse Gebote der bürgerlichen Verbesserung und Selbstverwirklichung junger Juden in Staat, Beruf und Gesellschaft im Wege stehen würden. Der Bildungskanon und die Akkulturationsbestrebungen der Haskala, das läßt sich an ihren Schulprogrammen und Kinderbüchern, an Kunst, Mode und Geselligkeitsformen wie Aufklärungsgesellschaften und Salons ablesen, war bürgerlich. Die Haskala war eine bildungsbürgerliche Aufklärung. Die Akkulturation der Juden an das deutsche Bildungsbürgertum und der Erfolg dieser Bemühungen sind nicht zu verwechseln mit einer allgemeinen Verbürgerlichung der Juden, die erst im 19.Jh. abgeschlossen wurde. Sie ist nicht zu verwechseln mit einer Zugehörigkeit zum Besitzbürgertum, denn die Juden in Preußen lebten großteils an der Armutsgrenze. Und den rechtlich gesicherten Status des Bürgers erreichten sie erst 1812, als sie „Einländer“ wurden. Aber die Verbürgerlichung der Maskilim begann mit ihrem Anspruch auf bürgerliche Bildung. Und die Kluft zwischen Akkulturation ans Bildungsbürgertum und Verweigerung der Bürgerrechte und der gesellschaftlichen Integration führte gerade zur Ausbildung einer jüdischen „subculture“ (David Sorkin), einer jüdischen Minderheitenkultur innerhalb des deutschen Bürgertums und der bürgerlichen Kultur in Deutschland.

Aufklärung der Religion, nicht von der Religion Bürgerlich war nicht nur der Bildungskanon der Haskala. Während in England maßgebliche Vertreter der Aufklärung der „gentry“, dem Landadel, entstammten, und auch in Frankreich zahlreiche Adlige an den Aufklärungsbestrebungen teilnahmen und sie unterstützten, spielte der Adel in der deutschen Aufklärung kaum eine Rolle, es sei denn in Person ganz weniger adliger Förderer. Die deutsche Aufklärung war, Nietzsche hat darauf hingewiesen, eine Aufklärung der Pastoren und Pastorensöhne. Deren Lebenszuschnitt, ihre bürgerlichen Tugendideale und ihre Arbeitsethik, ihre Sparsamkeit und Lustfeindlichkeit, ihr Gehorsam gegenüber gottgewollter Obrigkeit ebenso wie ihre universitäre Ausbildung, ihre Bildungsgüter, ihre Musikvorlieben und Bibliotheken haben die deutsche Aufklärung in ihrer Mentalität entscheidend protestantisch und bildungsbürgerlich geprägt. Da die Haskala in Preußen sich in ständiger, tagtäglicher Konfrontation mit der deutschen Spätaufklärung entwickelte, war sie mit deren bildungsbürgerlichen Idealen und Wertvorstellungen bestens vertraut. Jüdische Akkulturation hieß dort mentalitätsgeschichtlich Anähnelung ans protestantische Bildungsbürgertum, dessen spezifische „Sittlichkeit“, Geselligkeit, Bibliotheksbestände, dessen Humanismus und dessen Universitätsausbildung.

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Nirgendwo auf der Welt konnten Juden so viele Christen finden, die Hebräisch verstanden, wie unter den protestantischen Pastoren, zu deren Studium die Lektüre der Heiligen Schrift im Original gehörte. Das gab es nur in der deutschen Aufklärung. Aber noch in einem weiteren wichtigen Punkt stand die deutsche Pastorenaufklärung der Haskala nahe. Wegen der großen Zahl von protestantischen Theologen und Philosophen in der deutschen Aufklärung war diese, von wenigen Ausnahmen abgesehen, theistisch. Viele aufgeklärte Pastoren und Pastorensöhne waren Theisten mit Hebräisch-Kenntnissen, die von religiösen Institutionen und Lehren der Offenbarungsreligionen nichts hielten; radikale Maskilim wie Friedländer, Bendavid oder Ascher waren genau dies auch. Von daher bestand eine Affinität zwischen deutscher Spätaufklärung und Haskala, die im Theismus ihren kleinsten gemeinsamen Nenner hatte. Die deutsche Aufklärung ist religionskritisch, aber selten offen religionsfeindlich. Anders als in Frankreich hat es öffentlich materialistisch und atheistisch optierende Aufklärer in der deutschen Aufklärung nicht gegeben. Der französische Materialist Julien Offray de Lamettrie (1709–1751) z. B. fand in seinen letzten Lebensjahren auf Initiative Friedrichs II. an der Berliner Akademie der Wissenschaften Schutz, seine provokanten Schriften wie L’homme plante (1748) konnten in Preußen erscheinen. Aber er fand in der deutschen Aufklärung keinen Widerhall und blieb ein französischer Import. Die deutsche Aufklärung betrieb nicht Aufklärung von der Religion, sondern Aufklärung der Religion und mit der Religion. Das tat die Haskala auch. Aufklärung der Juden als Juden wäre sonst nicht ihr Projekt geworden. Ohne Religion wäre auch ein aufgeklärter Jude kein Jude mehr gewesen, die Aufklärung aller Juden als Juden, Kernbotschaft der Maskilim, hätte sich ohne die Religionszugehörigkeit als festen Bezugspunkt von selbst erledigt. Die Religionskritik der Maskilim zielte nicht auf die Abschaffung oder Zerstörung der jüdischen Religion, sondern, wenn überhaupt, auf ihre Veränderung. Die Maskilim wollten die Veränderung des Stellenwertes der Religion und der Rabbiner im jüdischen Leben neben Aufklärung und Bildung. Die Haskala arbeitet sich am Judentum ab, sie konnte und wollte es nie loswerden. Darüber, wie das zu geschehen habe und ob nicht in dieser Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Aufklärung, im Prozeß der bürgerlichen Verbesserung der Juden, der tatsächlich mit ihrer Verbürgerlichung endete, auch das Judentum als Religion sich verändern muß, gab es innerjüdisch starke Auseinandersetzungen. Das macht die Vielstimmigkeit der jüdischen Aufklärung, aber auch ihre intellektuelle, literarische, wissenschaftliche und sogar religiöse Produktivität in nur wenigen Jahren aus. Die Haskala in Deutschland endete teils durch das Erreichen ihrer Ziele, teils durch Napoleon, teils durch die Romantik: Die Juden wurden zunächst durch den Code Napoléon, in Preußen dann durch ein königliches Edikt von 1812 staatsbürgerlich emanzipiert. Das Emanzipationsedikt von 1812 war der Endpunkt der Haskala in Preußen, denn die bürgerliche Verbesserung schien weitgehend erreicht. Schulen, Universitäten, zeitweise sogar die Armee standen für Juden offen. Juden partizipierten in deutscher Sprache an allen Bildungsgütern und intellektuellen Debatten der bürgerlichen Öffentlichkeit. Seit etwa 1800 bildet sich der Sozialtypus des deutschen Juden heraus, der trotz bleiben-

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der Diskriminierung und Judenfeindschaft sich selbst als Deutscher identifiziert, nur noch Deutsch spricht und schreibt, dem eine Vielzahl von Bildungswegen und Berufen offenstehen, für den Religion konfessionalisiert und Privatsache ist und der in Salons, Universitäten, Büchern, Zeitschriften und den schönen Künsten Deutschlands Stimme und Gehör findet. Als universalistische, auf Freiheit, Gleichheit und Bildung der Juden pochende Weltanschauung hat die Haskala gegen Nationalismus und Antisemitismus bis ins 20. Jh. starke Nachwirkungen im deutschen Judentum gehabt. Aber als historische Bewegung hat sie, wie die deutsche Spätaufklärung, am Aufkommen der Romantik und des deutschen Nationalismus ideologisch und kulturell ihre Grenze. Die Aufklärung aller Juden traf im 19.Jh. innerjüdisch kaum noch auf Widerstand; sogar die Halacha-treuen „orthodoxen“, allemal später die neo-orthodoxen Rabbiner wurden deutschsprachige Bildungsbürger, bisweilen mit Universitätsstudium wie Samson Raphael Hirsch. Der Widerstand gegen eine säkulare Schulbildung jüdischer Kinder war innerhalb von nur zwei Jahrzehnten so vollkommen gebrochen, daß „Emanzipation durch Bildung“ entgegen allen antisemitischen Anfeindungen und entgegen fortbestehenden rechtlichen und sozialen Diskriminierungen zu einem erfolgreichen Programm jüdischer Intellektueller in Deutschland werden konnte. Aber die Haskala blieb nicht auf Deutschland beschränkt, sie wirkte in anderen Ländern weiter.

Haskala in Europa Die Haskala war eine europäische Aufklärungsbewegung. In Frankreich war sie zunächst ein deutsches Importprodukt. Zwar genoß die sefardische Gemeinde der Juden von Bordeaux seit dem 16.Jh. gewisse Privilegien, so daß es dort schon zu Beginn des 18. Jhs. wohlhabende und der Aufklärung zugetane jüdische Kaufleute gab; aber die traditionalistische, aschkenasische Mehrheit der Juden Frankreichs lebte im Elsaß und in Lothringen unter erbärmlichen Umständen und im Stand großer Unbildung. Die elsässischen Juden schauten auf die Berliner Haskala, sie richteten ihr berühmtes Mémoire an Mendelssohn, das Anlaß von Dohms Schrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden war. Dohms Schrift wurde wiederum von Jean Bernouilli 1782 ins Französische übersetzt. Die französischen Aufklärer, namentlich Montesquieu, Voltaire und viele Beiträger der Encyclopédie hegten starke judenfeindliche Vorurteile. Einzig der Marquis d’Argens rief in seinen Lettres juives (1736–38) zur Toleranz auf, und der Comte de Mirabeau unterstützte in seiner Schrift Sur Moses Mendelssohn, sur la réforme politique des Juifs (1787) die Anstrengungen für eine Gleichstellung der Juden. Gleiches forderten die Denkschrift der Juden von Bordeaux an den Minister Malesherbes und jene Schriften des Abbé Grégoire und des Zalkind Hourwitz, die auf eine Preisfrage der Metzer Société royale des sciences et des arts von 1785/87 nach der Verbesserung des Zustands der Juden in Frankreich antworteten. Mit der Französischen Revolution, der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen

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und endgültig nach dem Beschluß der „Constituante“ vom 27.9.1791 wurden die Juden in Frankreich citoyens, in ihrer bürgerlichen Gleichberechtigung hatten sie die Berliner Haskala damit überholt. Während in Preußen die politische Emanzipation der Juden ihrer bürgerlichen Akkulturation erst nach Jahren folgte, setzte in Frankreich diese Akkulturation weitgehend erst nach der politischen und juristischen Gleichstellung ein, die überdies mit dem Preis der Auflösung der Gemeindeautonmie der jüdischen Gemeinden bezahlt wurde. Ihr politisches Ziel hatten die französischen Maskilim 1791 erreicht, die bürgerliche Akkulturation vollzogen sie nach den religionsfeindlichen Übergriffen in der Zeit der „Terreurs“ und nach der napoleonischen Ära als Franzosen, nicht als Juden. Innerjüdisch brisant waren die Konflikte um die Reform von jüdischer Religion und Kultus nach 1817. Sie wurden z. T. noch von Maskilim initiiert, aber nicht mehr im Namen der Haskala als Bewegung ausgetragen. In den Niederlanden und in Großbritannien, beides konstitutionell regierte Staaten, hatte die Haskala als Bewegung kaum Auswirkungen. Denn in den Niederlanden genossen Juden schon seit dem 17. Jh. Bürgerrechte, d. h. Niederlassungs- und eine beschränkte Gewerbefreiheit. Sie wurden toleriert, konnten aber keine öffentlichen Ämter ausüben. Ihre Akkulturation und Integration in die niederländische Gesellschaft war im 18. Jh. weiter fortgeschritten als in jedem anderen Land Europas. Der Versuch beider Londoner Parlamente hingegen, die Juden per Gesetz 1753 einzubürgern, scheiterte am öffentlichen Protest. Aber auch in Großbritannien war die bürgerliche Verbesserung und Integration der Juden so weit fortgeschritten, daß eine namhafte Aufklärungsbewegung von Juden als Juden sich dort nicht bildete. In Italien war die Situation der Juden in den verschiedenen Regionen des Landes sehr unterschiedlich. In den österreichisch beherrschten Regionen Norditaliens griffen ab 1780 die Emanzipationsedikte Josephs II. Aber schon vorher genossen Juden in einigen Städten Italiens solche politischen und kulturellen Freiheiten, daß sie nicht nur am italienischen Aufklärungsdiskurs teilnahmen, sondern sogar von den Berliner Maskilim als Vorbilder hingestellt wurden. Eine streitbare jüdische Aufklärungsbewegung bildete sich in Italien nicht aus, aber die jüdische Gemeinde von Livorno z. B. wird vom Berliner Maskil Isaak Euchel in seinem utopischen Roman Iggerot Meschulam („Die Briefe des Meschulam“) als Inbegriff ungezwungener, religiös unorthodoxer und aufgeklärter Geselligkeit und Bildung von Männern und Frauen dargestellt. Das Haskala-Programm von Aufklärung aller Juden und bürgerlicher Verbesserung griff nach 1800 nur noch in Osteuropa und blieb dort aktuell, wo die Macht der Rabbiner und staatliche Unterdrückung der Juden ungebrochen noch Jahrzehnte fortherrschten: in Rußland und in der Donaumonarchie. Dort wirkte die Haskala noch weiter, als die anderen europäischen Aufklärungsbewegungen längst erloschen waren. In Osteuropa traf die Haskala auf breiten Widerstand in jüdisch-religiösen Kreisen, wo jedwede religiöse Reform und die Abschaffung der Gemeindeautonomie abgelehnt wurden. Überdies hatten die absolutistisch regierten Umgebungsgesellschaften in den Städten Rußlands und Galiziens weder eine nennenswerte bürgerliche Öffentlichkeit ausgebildet noch waren die christlichen Eli-

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ten so aufgeklärt, daß sie eine Vorbildfunktion hätten haben können. Dort gesellschaftliche Integration und Anerkennung durch Aufklärung zu erlangen war nicht attraktiv, aufgrund der extremen Diskriminierung von Juden vor allem im Ansiedlungsrayon in Rußland war das aber auch praktisch nicht möglich. Die Maskilim blieben eine kleine Minderheit, die sich an den Vorbildern der westeuropäischen Aufklärung und der Berliner Haskala orientierte. Die Kultursprachen und das interne Kommunikationsmittel der Maskilim Osteuropas in Briefen, Büchern und Zeitschriften, aber auch die Schulsprachen waren bis in die fünfziger Jahre des 19. Jhs. Deutsch und Hebräisch. Schulgründungen von Wolfenbüttel bis Wolhynien und das Entwerfen von Schulbüchern und Schulprogrammen waren das nachhaltigste Mittel der Einflußnahme der Haskala in Osteuropa. Schulen galten als das probate Mittel, die Macht der Jeschiwot zu brechen und Kinder und Jugendliche im Sinne der Haskala zu bilden. Im Sinne einer Dialektik der Aufklärung schlug hier oft genug Aufklärung in Zwang um: Die Maskilim in Osteuropa verbündeten sich mit der christlichen Obrigkeit und erzwangen, in deren Namen und Interesse, modernen, aufgeklärten Schulunterricht auch in profanen Fächern für die jüdischen Kinder ebenso wie neue Gebetbücher. Beispielhaft war hier der wütende Eifer von Herz Homberg, der vormals ein Berliner Maskil, Hauslehrer und Briefpartner von Moses Mendelssohn gewesen war. Als k.u.k.-Zensor und Schulinspektor für Galizien ab 1787 gründete Homberg nicht nur neue jüdische Schulen, sondern organisierte auch über neue Schulund Gebetbücher das gesamte Erziehungssystem neu und verordnete dabei gegen den Widerstand der jüdischen Gemeinden religiöse Reform und Aufklärung mit obrigkeitlicher Sanktionsgewalt. Ab 1812 galt Hombergs umstrittener, antitraditionalistischer Katechismus Bnei Zion („Die Söhne Zions“) als obligates jüdisches Religionslehrbuch der Donaumonarchie. Dennoch konnte sich trotz dieses Bündnisses mit der Obrigkeit solche verordnete Haskala gegen die rabbinischen Kreise nicht entscheidend durchsetzen, vielmehr wurde sie auch von anderen Maskilim in Deutschland und in der Donaumonarchie kritisiert. Auch die Maskilim in Rußland gründeten in den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jhs. aufgeklärte jüdische Schulen in Warschau, Odessa, Kischinew und Riga. Die Unterrichtssprache dort war Deutsch, ideologischer Gegner vor allem der weitverbreitete Chassidismus, den die westeuropäische Haskala gar nicht gekannt hatte. Die russischen Maskilim entwickelten eine eigene hebräische Publizistik, mit der sie ihre Ideen verbreiteten. Um die Massen zu erreichen, schrieben einige Maskilim sogar Jiddisch, also eine Sprache, für die die Berliner Haskala nur Verachtung gehabt hatte. Ein Autor wie Mendele Mojcher Sforim war Maskil und gehört zugleich zu den Vätern der jiddischen Literatur. Dennoch gelang es den Maskilim nicht, die breiten Massen zum Umdenken zu bewegen. Nur ganz vereinzelt wagten einige, religiöse Reformen zu fordern. Die in Warschau, Wilna und Zitomir gegründeten Rabbinerseminare, an denen Maskilim lehrten, fanden bei den Gemeinden keine Anerkennung. Daß einzelne Maskilim der die Juden verfolgenden und unterdrückenden russischen Regierung beim Kampf gegen Gemeindeautonomie und chassidischen „Obskurantismus“ sowie bei der Zensur rabbinischer Literatur beistanden, diskreditierte die Haskala als ganze. In den sechziger Jahren begann ein Prozeß der Selbstkritik und Auflösung der

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Haskala in Rußland, aus der neue politische und ideologische Optionen hervorgingen: Einige Maskilim bildeten jüdisch-sozialistische Kreise, andere wandten sich zionistischen, wieder andere jüdisch-autonomistischen Kreisen zu. Der Judenhaß des zaristischen Regimes und dessen Unterdrückungsmaßnahmen ließen eine bürgerliche Verbesserung und Integration der Juden in Rußland nie zu, die Haskala ist dort, anders als in Westeuropa, letztlich gescheitert.

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Jüdisches Schulwesen Für die männlichen Mitglieder der jüdischen Minderheit nahmen Erziehung und Lernen historisch gesehen einen zentralen Stellenwert ein. Vor der Aufklärung und Emanzipation war das jüdische Schul- und Bildungswesen weitgehend einheitlich und geschlechtsexklusiv organisiert. Jüdische Knaben besuchten ab dem dritten oder vierten Lebensjahr den Cheder, eine jüdische Elementarschule, und blieben dort bis zur Bar Mizwa, der Erreichung des 13. Lebensjahres. Begabte Knaben lernten danach in einer Jeschiwa. Im Osten Europas gab es bedeutende Jeschiwot, die als Zentren des Lehrens und Lernens galten. Mädchen dagegen lernten meist zu Hause das, was sie für die Führung eines traditionellen jüdischen Hauses brauchten, doch gab es Ausnahmen. Manche Mädchen besuchten ebenfalls den Cheder oder erwarben wie die berühmte Hamburger Kauffrau Glückel von Hameln (1646–1724) anderweitig Bildung. Gebildete jüdische Frauen gab es daher in ganz Europa, besonders in Italien. Aufklärung und Emanzipation führten zu Veränderungen im jüdischen Bildungs- und Erziehungswesen. Die Initiative zu diesen Veränderungen ging entweder vom Staat oder den Maskilim aus. Ziel war die Integration der Juden in die Gesellschaft, wobei vor allem in Rußland missionarische Bestrebungen dominierten. In der Habsburgermonarchie bestimmte das Toleranzpatent Josephs II. von 1781 die Errichtung von Schulen, die in deutscher Sprache lehrten und jüdische Kinder nützlichen Berufen z.B. in Handwerk und Landwirtschaft zuführen sollten. Das Bildungsprogramm der Haskala wurde 1782 von Naftali Herz Wessely (1725–1805) in seiner Schrift Worte des Friedens und der Wahrheit (Divrej Schalom we-Emet) vorgestellt. Er ging davon aus, daß die traditionelle jüdische Erziehung sowohl in Methode als auch Inhalt nicht den Anforderungen der modernen Welt entsprach. Er argumentierte, daß es zwei Arten von Wissenschaften gab: die göttlichen Wissenschaften (Torat ha-Schem) und die Wissenschaft des Menschen (Torat ha-Adam). Erstere bestand aus der geschriebenen und mündlichen Tora, letztere aus ethischen Lehren, weltlicher Bildung und dem Erwerb von Umgangsformen. Wessely ging so weit zu behaupten, wer keine Allgemeinbildung habe, sei eine Last für sein Volk und die Menschheit. Seine Ideen stießen in traditionellen Kreisen auf entsprechend scharfe Kritik. Sie wurden aber in den Schulen der Aufklärer verwirklicht, wo man jüdische mit allgemeiner Bildung verbinden und die Methodik der religiösen Unterweisung ändern wollte. Die deutsche Sprache trat an die Stelle des Jiddischen. Das Studium des Talmuds sollte entweder wesentlich eingeschränkt oder ganz abgeschafft werden. Die erste Schule dieser Art war die 1778 gegründete „jüdische Freyschule“ in Berlin. Hier wurden die Schüler in Deutsch, Französisch, Hebräisch, Rechnen, Buchführung, Schreiben, Zeichnen, Geschichte und Geographie unterrichtet. Diese Schule zeigte einen Weg auf, die

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religiösen Studien auf ein Minimum zu reduzieren, den gemeinsamen Unterricht mit Christen zu praktizieren und die Integration jüdischer Kinder in die deutsche Gesellschaft zu fördern. Die Gründung weiterer Schulen folgte bald in Breslau (wo man sogar körperliche Strafen abgeschafft hatte), Dessau, Seesen, Frankfurt a. M., Wolfenbüttel und Kassel. Es handelte sich bei all diesen Schulen um reine Knabenschulen. Aufgrund der Vielfalt der Fächer verbrachten die Schüler den größten Teil ihrer Zeit in der Schule. Um die konfessionellen Scheidewände niederzureißen, nahm man teilweise sogar christliche Schüler auf. Die Lehrpläne wurden den Forderungen der Befürworter der Emanzipation angepaßt, wodurch die sogenannten jüdischen Fächer noch zusätzlich reduziert wurden. Ziel war unter anderem eine Berufsumschichtung der Juden, weshalb man handwerklichen und landwirtschaftlichen Unterricht in den Lehrplan aufnahm. Die Bedeutung der Schulen der Aufklärer lag jedoch nicht in erster Linie in einer radikalen Veränderung der jüdischen Erziehung – dazu war die Anzahl der Schüler zu gering –, sie wurden vielmehr zum Experimentierboden für religiöse Reformen. Es gab Chorgesang und Orgelspiel sowie Gebete in deutscher Sprache. Die Schulen hatten jedoch mit großen Problemen zu kämpfen. Unter anderem weigerten sich wohlhabende Kreise, ihre Kinder dorthin zu schicken. Aus ideologischen Gründen kam die Gegnerschaft der Orthodoxie hinzu. Die meisten dieser Schulen wurden daher bald wieder geschlossen; lediglich das Philanthropin in Frankfurt a. M. konnte sich behaupten. Es wurde schließlich zu einer höheren Schule und existierte bis ins „Dritte Reich“. Während Anfang des 19. Jhs. zahlreiche jüdische Schulen gegründet wurden, ging es mit dem Ausgang des Jahrhunderts mit den Schulen bergab. Das lag u. a. an der Akkulturation, da jüdische Eltern ihre Kinder eher in nicht-jüdische Schulen schickten, aber auch an demographischen Veränderungen in der west- und mitteleuropäischen Judenheit, die sich zunehmend urbanisierte. Schulen an kleineren Orten mußten daher geschlossen werden. Durch das neue Schulsystem mit dem Ansatz der Allgemeinbildung wurde „Religion“ zum eigenständigen Schulfach, für das eigene Lehrbücher benötigt wurden. Diese Lehr bücher hatten meist die Form eines Katechismus, um den Kindern die elementaren Glaubenswahrheiten einzuprägen. Sie betonten besonders die Pflichten des Menschen gegenüber Gott, den Mitmenschen und vor allem dem Staat. Die Einzigartigkeit des Judentums wurde selten hervorgehoben. Statt dessen wurde die jüdische Religion als legitimer Ausdruck eines umfassenderen Glaubens aufgefaßt, den Juden und Christen teilten. Der Religionsunterricht in der Schule wurde später von der Neo-Orthodoxie kritisiert. Diesem Ansatz nach konnte Religion im Judentum kein „Fach“, sondern „des Lebens höchstes und beherrschendstes Prinzip“ sein. Samson Raphael Hirsch lehnte den Religionsunterricht ab, da die „Religion der Schreibhefte“ und der „systematischen Glaubenslehre“ eine Religion zum Auswendiglernen und keine Religion für das tägliche Leben sei. In Frankreich wurden die jüdischen Schulen des modernen Typs zu einem späteren Zeitpunkt als in Deutschland gegründet, da der Staat separate konfessionelle Schulen ablehnte. Auf diese Weise vermied man den Konflikt zwischen Aufklärern und traditionellen Kräften. Erst nach dem Ende der Napoleonischen Zeit wurde 1817 in Bordeaux die erste Schule gegründet, die überwiegend von Kindern aus armen Familien besucht wurde. Weitere Schu-

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len folgten 1818 in Metz, 1819 in Paris und 1819 in Nancy. 1829 gab es 62 jüdische Schulen. Erst 1822 wurde in Paris eine jüdische Mädchenschule gegründet. Um die Integration der jüdischen Minderheit zu beschleunigen, wandte man an manchen Schulen drastische Maßnahmen an. In Metz z. B. verbot man den Schülern, eine andere Sprache als Französisch zu sprechen. In Straßburg wurden Schüler, die Jiddisch sprachen, damit bestraft, daß sie freitags – an diesem Tag gab es Fleisch – keine Mahlzeit erhielten. Die jüdischen Fächer wurden vernachlässigt. 1909 etwa wurden in der Mädchenschule von Bordeaux nur drei von dreißig Stunden auf das Hebräische und die religiösen Fächer verwandt. Jungen wurde eine Stunde mehr zugestanden. Selbst an Schulen wie der von Straßburg, wo man großen Wert auf das Studium des Hebräischen legte und ihm immerhin 13 Wochenstunden widmete, verfügten die Schüler am Ende der Schulzeit nicht über ausreichende Kenntnisse der Sprache. Wie in anderen Ländern West- und Mitteleuropas sah man in der Erziehung der Kinder ein Mittel zur Integration der jüdischen Minderheit, während diese sich gleichzeitig ihre religiöse und kulturelle Identität bewahrte. Die Alliance Israélite Universelle, eine internationale jüdische Hilfsorganisation mit Sitz in Paris, war seit der Mitte des 19. Jhs. bestrebt, das Schulsystem im Orient zu verbessern und Kinder und Jugendliche im Sinne der französisch-jüdischen Bildungseinrichtungen zu erziehen. Die erste Schule dieser Art wurde 1862 in Tetuan gegründet. 1911 umfaßte das Schulnetz der Alliance Israélite Universelle 140 Schulen in Bulgarien, Griechenland, Nordafrika, Palästina, Iran, dem Irak und Ägypten, die von insgesamt 42 208 Schülern besucht wurden. 1938 war die Zahl der Schulen zwar auf 131 gesunken, die Zahl der Schüler jedoch auf 47371 gewachsen. Auch in Ungarn bemühte man sich um eine Integration der jüdischen Kinder in die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft. Dem Reformrabbiner Leopold Löw (1811–1875) zufolge sollte die jüdische Schule menschliche, religiöse und nationale Ziele verfolgen und Kinder zu wertvollen Mitgliedern der jüdischen und ungarischen Gesellschaft erziehen. In Preßburg z. B. führte man 1840 in der Elementarschule Ungarisch als Pflichtfach ein. Die Magyarisierung schritt schnell voran. Bereits 1844 konnten die jüdischen Kinder der jüdischen Schule in Preßburg bei einer Feier ihre Lieder in Ungarisch vortragen. Die Ultra-Orthodoxie allerdings weigerte sich strikt, die Landessprache zu sprechen und sich in die Gesellschaft zu integrieren. In ihrer Jeschiwa in Preßburg waren alle säkularen Fächer und das Erlernen der Landessprache verboten. Der Sohn von Chatam Sofer, Abraham Sofer, verbot sogar das Lesen von Zeitungen, und die Nachfolger des Chatam Sofer gingen noch einen Schritt weiter und erklärten nur vier Sprachen zu erlaubten Sprachen: Hebräisch, Griechisch, Arabisch und Jiddisch. Im Gegensatz zur deutschen Neo-Orthodoxie bekämpfte die ungarische Ultra-Orthodoxie die Verbindung von Talmudstudium mit profanem Unterricht. Während in den deutschen Staaten die Maskilim das jüdische Bildungswesen veränderten, griff in Rußland Zar Nikolaus I. (1796–1855) von außen in die traditionelle Lebensweise der jüdischen Bevölkerung ein. Es sollte eine Reihe von jüdischen Schulen mit Schwerpunkt russische Sprache und Geschichte gegründet werden. Die jüdischen Fächer sollten mit einem neu einzuführenden Katechismus unterrichtet werden, in dem die Betonung auf der Loyalität zum Zaren und zum Staat lag. Ferner strebte man auch hier eine Be-

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rufsumschichtung der Juden in „nützliche Berufe“ an. Aufgeklärte Lehrer aus Deutschland und Österreich sollten in den neuen Schulen unterrichten, deren Ziel nicht nur die Transformation der jüdischen Gemeinschaft, sondern die völlige Assimilation war. Die Maskilim arbeiteten zwar ebenfalls an Reformen, doch wollten sie die jüdische Identität bewahren. In Odessa gründeten sie 1826 eine von vier modernen Schulen, die 1835 289 Schüler zählte. 1835 kam ein Zweig für Mädchen mit 60 Schülerinnen hinzu. Unterrichtet wurden Deutsch, Französisch, Russisch, Hebräisch, Bibel, ausgewählte Talmudtraktate, Mathematik, Physik, Rhetorik, russische Geschichte, Weltgeschichte, Geographie, Kalligraphie und Handelsrecht. Die Reformen der Maskilim und der russischen Regierung stießen in orthodoxen Kreisen, d. h. bei der Mehrheit des russischen Judentums, jedoch auf großen Widerstand. Ein Vorteil des Gesetzes vom November 1844 zur Einführung jüdischer Schulen lag darin, daß Gymnasialabsolventen für 15 Jahre vom Militärdienst befreit wurden. Wer sich in russischer Sprache auszeichnete, konnte sogar mit einer vollständigen Befreiung vom Militärdienst rechnen – bei einer Militärzeit von 25 Jahren ein großes Privileg. Wie viele dieser Schulen schließlich gegründet wurden, ist nicht bekannt. 1855 jedenfalls gab es 71 von ihnen. Auch hier waren die Unterrichtszeiten sehr lang. In der Elementarschule von Wilna wurden z.B. sechs Stunden Religion, zwei Stunden Hebräisch, drei Stunden Russisch und zwei Stunden Deutsch unterrichtet. Für Arithmetik waren drei Stunden angesetzt; Geographie, Geschichte und Kalligraphie wurden in je zwei Stunden unterrichtet. Die Unterrichtsbücher in jüdischer Religion sollten das Studium des Talmud ersetzen. Die Bedeutung dieser Schulen lag darin, daß aus ihnen die literarische, intellektuelle und politische Elite hervorging, die schließlich die neue russisch-jüdische Kultur schuf. Die Haskala hatte sich institutionalisiert und konsolidiert. Mit der Errichtung der Schulen hatten die Aufklärer wirtschaftliche Sicherheit und Unabhängigkeit von den führenden Kräften der jüdischen Gemeinden erlangt. Als Angestellte und Verbündete des Staats waren sie zu einer Kraft geworden, mit der man rechnen mußte. Sie stellten die traditionelle Ordnung in Frage.

Die Schulen der deutschen Neo-Orthodoxie Wie eingangs erwähnt, waren Anfang des 19. Jhs. zahlreiche jüdische Schulen gegründet worden, die sich jedoch nicht lange hielten. 1898 gab es in ganz Deutschland 492 jüdische Volksschulen, deren Zahl 1913 auf 247 gesunken war. 1922 gab es ca. 200 jüdische Schulen mit etwas mehr als 20 000 Schülern. Anfang 1933 waren es nur noch 150 Schulen mit ca. 15 000 Schülern. Auch die deutsche Neo-Orthodoxie sah den Reformbedarf des jüdischen Bildungswesens. Als Ideal verstand sie die Gleichstellung von jüdischer und allgemeiner Bildung (Tora-im-Derech-Erez). Die Schüler sollten nicht nur Aufsätze in hebräischer Sprache schreiben, sondern auch in dieser denken können. Das 1852 von Samson Raphael Hirsch (1808–1888) entwickelte Lehrprogramm war dementsprechend durch ein ausgewogenes Verhältnis zwischen jüdischer und allgemeiner Bildung gekennzeichnet. Judentum und Bil-

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dung waren danach keine Gegensätze, sondern „in vollster tiefster Wahrheit eins“. De facto wurde dieses Lehrprogramm jedoch nie vollständig realisiert. Vielmehr sank die Stundenzahl für jüdische Fächer drastisch und betrug nie mehr als ein Drittel des Stundenplans. Nur besonders befähigte Schüler wurden im Talmud unterwiesen. Ein Grund dafür war die Intervention der Behörden, die die Stundenzahl in den jüdischen Fächern beschränkten. Die Integration von „Tora“ und „Derech Erez“ blieb daher eine Utopie. Wer eine traditionelle jüdische Erziehung anstrebte, konnte seine Studien in der 1891 in Frankfurt a. M. gegründeten Jeschiwa fortsetzen oder mußte in den Osten gehen, wo Männern zahlreiche Jeschiwot offenstanden. Durch die kulturelle Kluft zwischen Ost- und Westjuden war dies jedoch häufig keine wirkliche Alternative. Wer orthodoxer Rabbiner werden wollte, dem stand seit 1873 auch das von Esriel Hildesheimer (1820–1899) gegründete Berliner Rabbinerseminar zur Verfügung. Dort wurde über die Hälfte der Lehrstunden auf das Studium des Talmuds verwandt. Besonderen Wert legte man auch auf das Bibelstudium, außerdem wurden u. a. Geschichte, Geographie Palästinas, Semitistik und Orientalistik gelehrt. Da die meisten Seminaristen gleichzeitig an der Berliner Universität studierten, unterstrich dies den wissenschaftlichen Charakter des Rabbinerseminars. Es entstand ein neuer orthodoxer Rabbinertypus, der akademisch gebildete streng religiöse „RabbinerDoktor“. Viele Absolventen des Rabbinerseminars wurden später Schulleiter, Gymnasiallehrer oder Wissenschaftler. So wurde das Rabbinerseminar zu einer allgemeinen jüdischen Bildungsstätte und Zentrum einer modern-orthodoxen Intelligenz. Wie sahen nun die Erziehungserfolge orthodoxer Schulen aus? Für die Neo-Orthodoxie zählten Gefühlswärme, Geborgenheit und Verehrung von Lehrern und religiösen Führern, der religiöse Einfluß des Lehrers und dessen Persönlichkeit. Die Mehrheit der Schüler blieb denn auch der Tradition treu, allerdings weniger wegen des Lehrplans als wegen der großen Kraft der Gruppenbindung innerhalb der neo-orthodoxen Gemeindestruktur.

Das Schulsystem in Osteuropa Auch in Polen griff die Regierung in das Schulwesen ein. Nach einem Gesetz vom Februar 1919 waren Kinder entweder in staatlichen oder staatlich anerkannten Schulen schulpflichtig. Daneben gab es eine Reihe privater Institutionen, die gewisse Zugeständnisse an die Gesetzgebung zu machen hatten. In Polen entstanden daraus vier verschiedene Schultypen der konkurrierenden religiösen Organisationen und politischen Parteien, die zum Teil nur in hebräischer Sprache, zum Teil zweisprachig (Hebräisch und Polnisch oder Hebräisch und Jiddisch) unterrichteten und von denen manche nicht nach Geschlechtern getrennt waren: die jiddischsprachigen Tsischo-Schulen des „Bund“, die hebräischsprachigen Tarbut-Schulen der Zionistischen Bewegung und die orthodoxen Aguda- und MisrachiSchulen. Nach einer Quelle von 1937 gab es insgesamt 1275 Schulen und Jeschiwot, in denen 180 182 Schüler und Schülerinnen lernten. Die zweisprachigen hebräisch-polnischen Schulen besuchten ca. 5000 Kinder.

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Die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen ging jedoch in staatliche Schulen. Einer amtlichen Statistik zufolge besuchten 1934/35 von 425 566 jüdischen Kindern 343 671 öffentliche Schulen. Teilweise gab es auch staatliche Schulen, die nur von Juden und Jüdinnen besucht wurden und in denen am Sabbat nicht geschrieben wurde. Was höhere Schulen angeht, so besuchten jüdische Heranwachsende allerdings überwiegend jüdische Schulen, da Juden an polnischen höheren Schulen diskriminiert wurden. Das Chedersystem war weiterhin stark verbreitet. Dort lernten Jungen die Gebete, studierten die Bibel und ein wenig den Talmud. In den Unterricht im Cheder griff der polnische Staat jedoch ebenfalls ein. Knaben mußten dort nun auch in polnischer Sprache und Geschichte sowie in Arithmetik unterrichtet werden. Nach einer Schätzung von 1929 lernten allein in Warschau 8000 Jungen in einem privaten Cheder, nach einer anderen Quelle in ganz Polen 1938 immerhin 40 000 Jungen. Wegen der neuen Gesetzgebung seit 1919 mußte die Aguda sich ihre staatliche Anerkennung jedoch erkämpfen, was 1923 gelang. Allerdings war damit die Ergänzung des Lehrplans um weltliche Fächer erforderlich, was den Charakter der Cheder-Erziehung entscheidend veränderte. In den unteren Klassen wurden in zehn Wochenstunden weltliche Fächer unterrichtet, in den oberen Klassen sogar zwölf. Außerdem gab es jetzt einen Monat Sommerferien. Im Cheder hatte man bisher den ganzen Tag gelernt und Ferien gab es nur an Pessach und den Hohen Feiertagen. Anfang der dreißiger Jahre gab es neuerliche Versuche zur Modernisierung. Nach einem 1935 erzielten Kompromiß wurde nicht nur in polnischer Sprache unterrichtet, sondern auch Geschichte, Geographie, Naturwissenschaften, Arithmetik und Geometrie, Zeichnen, Singen und Turnen. In den dreißiger Jahren wurde in Warschau außerdem ein Seminar zur Ausbildung von Melamdim (Lehrenden eines Cheders) und ihrer Leiter gegründet. Sein Lehrplan beinhaltete neben der Bibel und dem Talmud auch Kurse in Pädagogik und Fragen der jüdischen Erziehung. Die Schulen der Aguda umfaßten das größte private Schulnetz im Polen der Zwischenkriegszeit. 1928 bestand das Aguda-Schulsystem aus 103 Schulen für Mädchen, den BeitJakow-Schulen, 108 „Jesodei ha-Tora“ Schulen, 181 traditionellen Chaderim und 64 Jeschiwot. 1931 sollen 73311 Schüler und Schülerinnen in den insgesamt 580 Schulen gelernt haben. Einer Statistik von 1934/35 zufolge gab es in den 592 Aguda-Institutionen immerhin 100 650 Schüler und Schülerinnen. Die Schulen der Misrachi, einer 1902 unter Rabbi Isaak Jakob Reines in Wilna gegründeten religiös-zionistischen Gruppierung, verbanden orthodoxe Erziehung mit säkularer jüdischer Kultur. Ihr Erziehungsideal war die aktive Persönlichkeit, die für die Emanzipation der Juden aus dem Ghetto und für ein jüdisches Leben in der Diaspora und in Palästina kämpfte. Im Gegensatz zum Großteil der Zionisten strebte der Misrachi ein Palästina an, in dem die religiöse Tradition neu aufleben konnte. Das nationale Element spielte eine große Rolle in den Schulen, und den Kindern wurden hebräische Sprache, Literatur und jüdische Geschichte vermittelt. Das Misrachi-Schulsystem umfaßte Kindergärten, Elementar- und höhere Schulen sowie ein Rabbinerseminar. 1937 gab es nach Eigenangaben 238 Lehrinstitute mit 23 567 Schülern und Schülerinnen.

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Das Schulsystem der Zentralen Jüdischen Schulorganisation, kurz Tsischo, war von Anfang an stark politisiert. Die Konflikte zwischen Bundisten, zionistischen Sozialisten und Kommunisten wurden auch in den Schulen ausgetragen und ihr revolutionärer sozialistischer und anti-traditionalistischer Ansatz entfremdete viele Eltern. 1923 verfügte die Tsischo über 120 Elementarschulen mit 12 400 Schülern und Schülerinnen, 26 Kindergärten, drei höhere Schulen und zwei Lehrerseminare. In ihren Schulen wurde großer Wert auf Leibesübungen, Musik und Kunst gelegt, Bereiche, die die traditionelle jüdische Erziehung vernachlässigt hatte. Den Kindern sollte Sinn für Ästhetik, Natur und soziale Fragen vermittelt werden. Kontrovers war die Frage, ob in Hebräisch oder Jiddisch unterrichtet werden sollte. Den führenden Köpfen der Tsischo-Bewegung galt Hebräisch als Sprache der religiösen Tradition, der intellektuellen und politisch konservativen Kräfte. Jiddisch dagegen wurde als Sprache des Volks, als Symbol der Befreiung von den Ketten jüdischer Tradition gesehen. Neben Jiddisch als der Sprache der neuen, von den Massen geschaffenen Kultur wurde jedoch auch Hebräisch unterrichtet. Die Schüler und Schülerinnen sollten zumindest in der Lage sein, hebräische Texte zu lesen. Die Gesamtstundenzahl betrug zwischen 24 in den unteren und 35 in den oberen Klassen. Obwohl diese Schulen ein ausgesprochen hohes Niveau hatten, konnten sie sich nicht durchsetzen. Viele Eltern stellten sich wohl die Frage, wozu eine jiddische Erziehung ihrer Kinder tauge. Während die Tarbut-Schulen immerhin argumentieren konnten, daß sie die Jugendlichen auf eine Auswanderung nach Palästina vorbereiteten, konnten die jiddischen Schulen kein so konkretes Unterrichtsziel vorweisen. Das von der Zionistischen Bewegung gegründete Tarbut-Schulsystem mit seiner Ausrichtung nach Palästina umfaßte Kindergärten wie höhere Schulen. Polnische Juden und Jüdinnen konnten hier ihre gesamte Bildung in einer hebräischsprachigen Umgebung erwerben. Die Tarbut-Schulen wurden Inseln der hebräischen Sprache und modernen hebräischen Kultur und standen in Verbindung mit dem sich entwickelnden modernen Schulsystem in Palästina. Die Kinder und Jugendlichen sollten auf ein Leben in Palästina vorbereitet werden, vor allem in Gemeinschaftssiedlungen auf dem Land, weshalb großer Wert auf Naturverbundenheit gelegt wurde. Die Jugendlichen wurden ermutigt, sich für die Aktivitäten des Jüdischen Nationalfonds zu engagieren. Der Jüdische Nationalfonds war eine 1907 in Großbritannien gegründete Organisation für Bodenkauf und Wiederaufforstung in Palästina. Da die Tarbut-Schulen weniger radikal als die Tsischo-Schulen und praktischer orientiert waren, waren sie entsprechend beliebter. 1923 gab es 30672 Schüler und Schülerinnen und zwölf höhere Schulen. Auch in Litauen war das Tarbut-Schulsystem relativ erfolgreich. 1930/31 gab es 18 Kindergärten, 81 Elementarschulen und 11 höhere Schulen mit insgesamt 15446 Schülern und Schülerinnen. Der Grund für den Erfolg des Tarbut-Systems lag u. a. darin, daß die litauische im Unterschied zur polnischen Kultur keine große Anziehungskraft für die jüdische Bevölkerung besaß. Zudem erhielt das Tarbut-System finanzielle Unterstützung vom Staat. Wie in Polen waren die jüdischen Elementarschulen staatliche und keine privaten Schulen. Trotzdem stieg die Zahl der Schüler und Schülerinnen in den dreißiger Jahren, da Eltern für

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ihre Kinder eine Ausbildung in der Sprache des Landes wollten. Die Bedingungen für eine autonome jüdische Erziehung waren in Litauen ideal, doch wählten die Eltern zunehmend einen anderen Weg. Andererseits war der Einfluß der jüdischen Schulen in Litauen für die Modernisierung und Nationalisierung des litauischen Judentums von großer Bedeutung. In Polen sollten die hebräisch-polnischen Schulen die Integration der Jugendlichen in die polnische Kultur unter Berücksichtigung des zionistischen Elements erleichtern. Die neuen Prinzipien der Erziehung hießen Selbständigkeit und Freiheit, Freude an der Arbeit, Wahrhaftigkeit und Wahrheitssinn. Die hebräisch-jiddischen Schulen (= Schul-Kult: Vereinigung für Schule und Kultur) entstanden in den zwanziger Jahren des 20. Jhs. aus einem ideologischen Konflikt zwischen nicht-sozialistischen Kräften und extremen Jiddischisten, wobei es u.a. um die Gewichtung des Hebräischen in der jiddischen Schule ging. Sie erlangten keine besondere Bedeutung, nicht zuletzt wegen der obligaten Dreisprachigkeit, da auch Polnisch unterrichtet werden mußte. Man glaubte, die Heranwachsenden seien damit überfordert. Ein Problem der jüdischen Schulen in Polen lag in der Weigerung des Staats, die privaten Schulen ungeachtet des Minderheitenvertrags finanziell zu unterstützen. Absolventen und Absolventinnen von jiddischen und hebräischen Schulen wollte man den Zugang zu den polnischen Universitäten entziehen. Da sie letztlich nicht genügend Schüler und Schülerinnen anzogen, gründeten Intellektuelle 1925 das Wilnaer Institut für das wissenschaftliche Studium der jiddischen Sprache und des sozialen, ökonomischen und kulturellen Lebens des jüdischen Volkes (YIVO). Es wurde bald zu einer Institution der jiddischen Bewegung und veröffentlichte in jiddischer Sprache moderne Werke aus Wissenschaft, Literatur und jüdischer Geschichte. Historiker wie Majer Balaban (1877–1942) und Ignacy Schipper (1884–1943) schrieben ihre bedeutenden Werke in jiddischer Sprache.

Mädchenbildung Die Maskilim unternahmen als erste den Versuch zur Verbesserung der Bildung von Mädchen. In Prag wurde 1785 eine Mädchenschule gegründet und in Hamburg errichteten jüdische Philanthropen 1798 ebenfalls eine Schule für arme Mädchen. David Fränkel gründete 1806 eine Mädchenschule in Dessau. Einige Jahrzehnte später schlug die Neo-Orthodoxie mit tiefgreifenden Veränderungen in der Mädchenerziehung einen ähnlichen Weg ein, um der Assimilation entgegenzuwirken. Im Gegensatz zu der herrschenden Auffassung von geschlechtsspezifischer Erziehung und Bildung vertrat die Neo-Orthodoxie die Auffassung, daß Mädchenerziehung sich nicht wesentlich von Knabenerziehung unterscheide. Deshalb plädierte Mendel Hirsch für einen möglichst gleichartigen Unterricht für beide Geschlechter. Mädchen erhielten intensiven Bibelunterricht und der Talmudunterricht für Knaben wurde reduziert. Samson Raphael Hirsch stimmte in den unteren Altersstufen sogar gemischten Knaben- und Mädchenklassen zu. Auch in der Orthodoxie herrschten Spannungen zwischen Ost- und Westjuden. Die

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deutsche Neo-Orthodoxie war stolz auf ihre Mädchenerziehung und fand die fromme deutsche Jüdin den Ostjüdinnen in Wissen und religiösem Leben überlegen. Selbst ein streng orthodoxer ostjüdischer Rabbiner wie Israel Salanter (1810–1883) erklärte letzten Endes sein Einverständnis mit diesen Reformen der deutschen Neo-Orthodoxie. Die Aguda folgte in Polen diesem Konzept einer verbesserten religiösen Erziehung, denn schließlich besuchten orthodoxe Mädchen ebenfalls polnische Schulen, wo sie eine säkulare Erziehung erhielten. Im besten Falle lernten sie auf jiddisch Lesen und Schreiben und eventuell privat noch etwas Hebräisch. Es drohte die Entfremdung von der traditionellen Lebensweise und damit die Akkulturation und teilweise sogar Assimilation, eine Gefahr, vor der die Orthodoxie nicht länger ihre Augen verschließen konnte. Letztendlich jedoch war es der Initiative einer Frau, Sara Schnirer (1883–1935) zu verdanken, daß sich die orthodoxe Mädchenerziehung wesentlich veränderte. 1917 gründete Schnirer die erste Beit-JakowSchule in Krakau. Die Aguda unterstützte die Beit-Jakow-Schulen von Anfang an, die sich schließlich in ganz Osteuropa und Palästina ausbreiteten. 1937 gab es allein in Polen ca. 250 Beit-Jakow-Schulen mit ca. 38 000 Schülerinnen. Mit Ausnahme größerer Städte stellten sie nur eine Ergänzung der öffentlichen Schulen dar. Der Unterricht fand nachmittags, Sonntag vormittags und oft auch während der Sommerferien statt. In den dreißiger Jahren kamen Berufsschulen hinzu. 1925 wurde in Krakau ein Lehrerinnenseminar gegründet, das schließlich eine gebildete weibliche Elite hervorbrachte, die zum Vorbild einer ganzen Generation orthodoxer Frauen wurde. In anderen Ländern lag die Ausbildung von jüdischen Lehrerinnen bei Reformern wie Orthodoxen weiterhin im argen. In Ungarn gründete man erst 1929 in Miskolcz ein Seminar zur Ausbildung jüdischer Lehrerinnen. In Deutschland wurde nie eine vergleichbare Einrichtung geschaffen und jüdische Lehrerinnen wurden erst 1930 an einer jüdischen Lehrerbildungsanstalt aufgenommen.

Zusammenfassung In West- und Mitteleuropa hatten Aufklärung und Emanzipation das traditionelle Schulwesen radikal verändert. Während jüdische Knaben vorher die hebräischen Gebete lesen und beten lernten und je nach Bildungsstand mehr oder weniger bewandert in Bibel und Talmud waren, so verfügten nun höchstens noch orthodoxe Knaben über Kenntnisse in den traditionellen jüdischen Fächern. Der Talmudunterricht war völlig aus den jüdischen Schulen verbannt worden. Allerdings besaßen orthodoxe jüdische Frauen ein größeres religiöses Wissen als Frauen früherer Generationen. Die Mehrheit der Juden und Jüdinnen allerdings wußten nur wenig über ihre Religion und die Kenntnis des Hebräischen hatte sich durch Emanzipation und Akkulturation bedeutend verschlechtert. Außerdem besuchte die Mehrheit der jüdischen Kinder nicht-jüdische, d.h. in der Regel christliche Schulen. Für die Europäisierung der jüdischen Minderheit spielte daher das veränderte Schulsystem eine wesentliche Rolle, hinzu kam der generelle Bildungstrend. Jüdische Kinder und Jugendliche besuchten nicht nur zunehmend höhere Schulen und Universitäten, sondern

Jüdisches Schulwesen

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auch zu einem höheren Anteil als nicht-jüdische Heranwachsende. In Westeuropa waren jüdische Schulen nicht sehr beliebt, da Eltern sich von allgemeinen Schulen die Integration ihrer Kinder in die Gesellschaft und somit die rechtliche Gleichstellung erhofften. Zwar sollten jüdische Kinder in nicht-jüdischen Schulen jüdischen Religionsunterricht erhalten, doch war dieser nicht überall garantiert. In Preußen erhielten 1901 von 17085 Kindern, die nicht-jüdische Volksschulen besuchten, nur 3530 ordnungsgemäßen Religionsunterricht. Nahezu 80% wuchsen also ohne Religionsunterricht auf. Im Osten sah dies anders aus. Hier hatte der Zionismus ein nationales Bewußtsein geschaffen. In den Schulen des Tarbut-Systems sprach man fließend Hebräisch und erzog Kinder und Jugendliche zu modernen Juden und Jüdinnen. Daneben war das traditionelle Schulsystem des Cheders und der Jeschiwa weit verbreitet, doch auch hier änderte und modernisierte sich der religiöse Lehrplan. Die in Litauen entstandenen Jeschiwot der im 19.Jh. in diesem Land entstandenen orthodoxen Mussar-Bewegung, die sich über ganz Osteuropa verbreiteten, betonten das Studium von ethischer und moralischer Literatur zusammen mit dem Talmud. Zwar blieb die traditionelle Erziehung geschlechtsspezifisch, doch passte auch die osteuropäische Orthodoxie die Mädchenausbildung den Anforderungen der Moderne an. Im Osten waren die sozialistisch ausgerichteten Schulen des „Bund“ eine Alternative. Man sprach Jiddisch und erzog Kinder und Jugendliche zum Sozialismus. Es liegt nahe, daß die Schulen der verschiedenen ideologischen Richtungen im Wettstreit miteinander lagen: Die Aguda z.B. warf den Tsischo- und Tarbut-Schulen vor, sie seien Stätten des Unglaubens und der geistigen Assimilation. Nicht ganz aus dem Blick verlieren sollte man schließlich die Tatsache, daß Erziehung nach dem Ersten Weltkrieg sowohl im Osten als auch im Westen vermehrt in den zahlreichen Jugendbewegungen der verschiedenen ideologischen Affiliationen und nicht in den Schulen stattfand.

Christoph Schulte

Die Wissenschaft des Judentums Wissenschaft des Judentums war zuallererst ein Name. Ein Name für eine Wissenschaft, der erfunden wurde, als diese Wissenschaft noch gar nicht existierte. Am Anfang war „Wissenschaft des Judentums“ der Name für das Projekt einer zukünftigen, nur geplanten und noch zu erarbeitenden Wissenschaft. Darüber, wann dieser Name „Wissenschaft des Judentums“ das erste Mal erklang, gibt es Gewißheit: Am 27. Mai 1821 sprach der jüdische Jurist, Universitäts-Dozent und hegelianische Rechtsphilosoph Dr. Eduard Gans bei Beratungen in einem Zirkel angehender jüdischer Akademiker, Studenten und Bürger in Berlin diesen Namen das erste Mal aus. Der erwähnte akademische Vortragszirkel und Verein für jüdische Kultur war am 7. November 1819, also mehr als 18 Monate früher, im Berliner Haus des Joel Abraham List von List selbst sowie von Josef Hillmar, Isaac Levin Auerbach, Isaak Marcus Jost, Leopold Zunz, Moses Moser und Eduard Gans gegründet worden. Nun beratschlagte man, unter welchem Vereinsnamen er bei den preußischen Behörden amtlich registriert werden sollte. Eduard Gans (1797–1839), der Präsident und das damals bekannteste, öffentlich profilierteste Mitglied dieses Zirkels, schlug vor, ihn „Verein zur Beförderung der Kultur unter den Juden und der Wissenschaft des Judentums“ zu nennen, um so das Vereinsziel angemessen zu umschreiben. Nach etlichen Streitereien und Vereinsaustritten, auch nach umfassendem Schriftverkehr mit den Behörden wurde der Verein schließlich als „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“ amtlich eingetragen. Wissenschaft des Judentums kommt im Vereinsnamen nicht vor. Aber im Votum von Gans war am 27. Mai 1821 der Name Wissenschaft des Judentums gefallen, wie das handschriftliche Protokoll dieser Sitzung aus der Feder von Leopold Zunz festhält, der die Worte „Wissenschaft des Judentums“ im Protokoll dick unterstrichen hat. Seitdem knüpfen die Versuche einer organisierten und institutionalisierten wissenschaftlichen Erforschung des Judentums, gleich ob sie heute Jewish Studies, Judaic Studies, Judaistik, Jüdische Studien, Études Juives oder Madae ha-Jahadut betitelt werden, an diesen Namen und dieses Programm an: Wissenschaft des Judentums. Gedruckt und damit einer weit größeren, auch nicht-jüdischen Öffentlichkeit bekannt wurde der Name „Wissenschaft des Judentums“ erstmals auf dem Titelblatt des ersten Heftes der Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums, das im März 1822 in Berlin erschien. Diese Zeitschrift wurde, wie schon ihr Deckblatt verrät, vom Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden herausgegeben und getragen. Redakteur der Zeitschrift war Leopold Zunz (1794–1886), welcher unbestritten der wissenschaftlich bedeutendste und wirkungsvollste Pionier der neuen Wissenschaft des Judentums unter den Vereinsmitgliedern war. Zunz hat sein ganzes Lebenswerk der Arbeit in und der Durchsetzung der Wissenschaft des Judentums gewidmet. Seine Bücher und Schriften haben diese Wissenschaft im 19. Jh. entschei-

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dend geprägt. In der von ihm redigierten Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums, die vor Drucklegung die preußische Zensur passieren mußte, erschienen die ersten wissenschaftlichen Beiträge zu jener Wissenschaft des Judentums, die bis dato nur dem Namen nach, als Projekt und Projektion, existiert hatte. Die Zeitschrift hatte keinen Erfolg. Nur drei Hefte erschienen, und schon 1823 wurde ihr Erscheinen eingestellt, denn sie hatte weder viele Autoren noch viele Leser angezogen. Aber es war programmatisch wie inhaltlich ein Anfang gemacht. Die Wissenschaft des Judentums war mit dieser Zeitschrift mehr als ein Name geworden. Dennoch war dieser Anfang sehr bescheiden. Hier wurde eine moderne, kritische Wissenschaft ohne jegliche staatliche Unterstützung begründet. Die Wissenschaft des Judentums ging aus der Privatinitiative von etwa zwei Dutzend jüdischen Männern hervor, die selbst keineswegs gesellschaftlich arriviert waren. Sie lebte von deren Eifer und deren wenigem Geld. Weder der Staat noch etwa die Universitäten haben diese Wissenschaft gefördert, die jüdischen Gemeinden anfangs auch nicht. Die Wissenschaft des Judentums wie alle anderen Wissenschaften an den Universitäten zu etablieren, zu professionalisieren und die jüdischen Gelehrten mit einem Gehalt zu versorgen, dies blieb im Europa des 19. Jhs. ein vergebliches Anliegen. Da Unterstützung seitens des Staates ausblieb, wurden schließlich Rabbinerseminare die Institutionen, an denen Wissenschaft des Judentums sich etablieren konnte. Erst im 20. Jh. konnte sie auch an Universitäten in den USA, Europa und seit 1925 in Palästina Fuß fassen.

Das Programm Die Pioniere der Wissenschaft des Judentums hatten andere universitäre Disziplinen studiert, bevor sie Judentum zum Gegenstand ihres Forschens und ihrer Reflexionen machten. Die jungen jüdischen Akademiker im Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden stammten aus der ersten Generation jüdischer Studenten, die im Gegensatz zu den Maskilim, den oft nur autodidaktisch gebildeten jüdischen Aufklärern, schon auf ein Gymnasium gegangen waren und an deutschen Universitäten studiert hatten. Wissenschaft des Judentums an ihrem Anfang ist ein Kind von Haskala und deutscher Romantik: Der Haskala verdankt sie die kritische Distanz zur jüdischen Religion und ihren Geboten, der Romantik das gleichzeitige Interesse an der erinnernden Bewahrung von jüdischer Tradition und Geschichte. Die rabbinische Tradition, deren normative Geltung die Haskala kritisiert hatte, wird mit romantischem Gestus durch die Wissenschaft des Judentums historisiert. Ihre Gehalte und Zeugnisse werden im Hegelschen Sinne „aufgehoben“, nämlich als Vergangenes erinnert, erforscht, gesammelt und aufbewahrt, ohne ihre normative Geltung gegenwärtig noch anzuerkennen. Mit der wissenschaftlichen Erforschung des Judentums, seiner Religion, Geschichte und Kultur wollte die Gründergeneration der Wissenschaft des Judentums, entgegen allem zeitgenössischen Antijudaismus, dem Judentum in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit Anerkennung und Gleichberechtigung verschaffen. Dies wurde ausführlich schon

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in den Debatten des Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden besprochen und beschworen. Das Anliegen blieb ohne Erfolg. Schon der Verein existierte nur bis Mai 1824 und war durch die rasche Fluktuation seiner Mitglieder gekennzeichnet. In der Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums finden dann die wissenschaftlich und weltanschaulich ambitionierten Vereinsmitglieder ein erstes Forum: Leopold Zunz ist der Redakteur, es schreiben Zunz selbst, Immanuel Wolf, Eduard Gans, Ludwig Markus und, aus den Reihen der alten Berliner Haskala, David Friedländer (1750–1834) und Lazarus Bendavid (1762–1832). Das junge Vereinsmitglied Heinrich Heine verweigerte jeden Beitrag. In jenem ersten Märzheft der Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums von 1822 erschien auf dem Zeitschriftentitel jedoch nicht nur der Name „Wissenschaft des Judentums“ das erste Mal gedruckt, es erschien auf den Seiten 1–24 als erster Beitrag der Zeitschrift überhaupt das erste Manifest jener neuen Wissenschaft: ein programmatischer Aufsatz, unter Mitarbeit von Zunz, Moser und Gans redigiert und gezeichnet von Immanuel Wolf (1799–1847). Er trägt den Titel: Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums und gibt den wissenschaftlichen Konsens der Gründergeneration der Wissenschaft des Judentums wieder. Dieses Manifest strotzt an sich nicht vor Originalität, es ist geprägt vom damals ganz frischen Wissenschaftsverständnis der Humboldtschen Universitätsidee und -reformen. Aber es formuliert schlüssig, was diese Wissenschaft sein soll – und was seitdem selten in gleicher Klarheit und Allgemeingültigkeit zu Papier gebracht wurde. Es ist eine Art kleinster gemeinsamer Nenner, das Substrat von jahrelangen, z.T. äußerst heftigen und von Austritten begleiteten Kontroversen im Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden. Dieses allererste gemeinsame Programm der Wissenschaft des Judentums ist so wichtig, weil es das Selbstverständnis der Wissenschaft des Judentums formuliert, noch bevor diese überhaupt existiert. Aber es ist erstaunlich, wie viele Aspekte und Gedanken dieses Programms bis heute eingelöst wurden und wie aktuell es bis heute ist. „Wenn von einer Wissenschaft des Judenthums die Rede ist“, heißt es gleich im ersten Satz, so versteht es sich von selbst, daß hier das Wort Judenthum in seiner umfassendsten Bedeutung genommen wird, als Inbegriff der gesammten Verhältnisse, Eigenthümlichkeiten und Leistungen der Juden, in Beziehung auf Religion, Philosophie, Geschichte, Rechtswesen, Litteratur überhaupt, Bürgerleben und alle menschlichen Angelegenheiten; – nicht aber in jenem beschränkteren Sinne, in welchem es nur die Religion der Juden bedeutet.

Programmatisch beginnt der Text mit der Bestimmung dessen, was „Judentum“ in jenem Namen „Wissenschaft des Judentums“ bedeutet. Bis heute wichtig in dieser Bestimmung von Judentum „in seiner umfassendsten Bedeutung“ ist die Abwehr des eingebürgerten engen Verständnisses von Judentum lediglich als „Religion der Juden“. Judentum ist mehr als nur die Religion der Juden, es umfaßt, entgegen der Ansicht von vielen Rabbinern und christlichen Theologen, auch das Profane. Es ist der „Inbegriff der gesammten Verhältnisse, Eigenthümlichkeiten und Leistungen der Juden“ auf den verschiedensten Gebieten und in den verschiedensten Lebensbereichen: in der Religion, aber eben auch in „Philosophie, Geschichte, Rechtswesen, Litteratur überhaupt, Bürgerleben und allen menschlichen Angele-

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genheiten“. Kurz: Gegenstand der Wissenschaft des Judentums im umfassenden Sinne soll die Gesamtheit aller Juden, ihre Aktivitäten in allen Lebensbereichen, in allen historischen Epochen und in der Gegenwart, die Zeugnisse dieser Aktivitäten und damit der Beitrag von Juden zur Weltgeschichte auf allen nur denkbaren Gebieten sein. Die gravierendste Implikation dieses Programmpunktes ist dabei, daß nicht mehr allein die Religion „Judentum“ ausmacht und definiert. Wissenschaft des Judentums steht somit für ein modernes, nicht mehr ausschließlich religiös geprägtes Verständnis und Selbstverständnis von Judentum und Judesein. Umgekehrt wird vielmehr das jüdische Selbstverständnis seit dem frühen 19.Jh. von der Wissenschaft des Judentums mitgeprägt. In dem Ausmaß, wie Religion nicht mehr der alles bestimmende Gegenstand einer Wissenschaft des Judentums sein soll, ändert sich auch der Blick auf die jüdische Geschichte. Sie ist nicht mehr allein religiöse Geschichte des Handelns Gottes an seinem Volk, sondern profane Geschichte. Geschichtssubjekt dieser Geschichte ist nicht mehr Gott und sein Handeln, sondern allein das jüdische Volk und sein innerweltliches Ergehen. Die wenigen historischen Ereignisse, die in der rabbinischen Tradition wichtig genommen und erinnert wurden, bezogen sich bis in die Liturgie der jüdischen Feiertage wie Chanukka, Purim, Pessach oder Tischa be-Aw hinein, auf das Heilshandeln Gottes an seinem Volk Israel. Diese Sicht der Dinge sollte nach Überzeugung ihrer Gründer die Wissenschaft des Judentums ändern: Ziel war eine profane Geschichte des jüdischen Volkes in seiner Wechselbeziehung zu anderen Völkern und die historische Erforschung seiner Rolle in der Weltgeschichte. Die Historiographie innerhalb einer Wissenschaft des Judentums sollte dabei historisch-kritisch sein. Sie sollte, auf dem höchsten Stand der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung der Epoche, vorurteilsfrei und ohne jede religiöse Rücksicht verfahren können. Die jüdische religiöse Tradition der Erinnerung wird hier durch die Wissenschaft des Judentums, durch eine profane jüdische Geschichte ersetzt, wie Yosef Hayim Yerushalmi gezeigt hat. Das rabbinische Diktum Ein mukdam ume’uchar baTora, in der ewig gültigen Tora gebe es kein früher oder später, wird bestritten. Die ahistorische Annahme, derzufolge religiöse Wahrheiten weder eine historische Genese noch einen historischen Index haben, sondern alle gleich ewig wahr und gültig seien, wird abgelöst von einer kritischen Kontextualisierung, von Chronologien und vom Gebrauch anderer als allein der religiösen Quellen. Mit der Wissenschaft des Judentums entsteht auf diese Weise erstmals eine moderne, nämlich (quellen)kritische jüdische Geschichtsschreibung. Ihre Pioniere werden Isaak Markus Jost (1793–1860) mit seiner Geschichte der Israeliten (10 Bde., Berlin 1820–1845), Peter Beer (1758–1838) mit seinem zweibändigen Werk Geschichte, Leben und Meinungen aller bestandenen und noch bestehenden religiösen Sekten der Juden (Brünn 1822/23) und dann Heinrich Graetz (1817–1891) mit seiner berühmten Geschichte der Juden (11 Bde., Leipzig 1853–1875). Neben einer Abgrenzung des Wissenschaftsbegriffs der Wissenschaft des Judentums von den vorwissenschaftlichen Versuchen der Rabbiner einerseits, der Vereinnahmung durch christliche Theologen andererseits ist jedoch eine positive Bestimmung des Begriffs von

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Wissenschaft vonnöten. Zwei weitere wichtige Punkte prägen die Auffassung von der Wissenschaft des Judentums in der Gründungsphase und bis heute: Die Wissenschaft des Judentums soll kritisch und vorurteilsfrei forschen, und sie soll ihre Resultate ergebnisoffen und zweckfrei präsentieren. Sie soll ohne jedwede apologetische oder religiös-weltanschauliche Rücksichtnahme um ihrer selbst willen betrieben werden: „Sie behandelt ihr Objekt an und für sich, um seiner selbst willen, nicht zu einem besondern Zweck, oder aus einer bestimmten Absicht. – Sie beginnt mit keiner vorgefaßten Meinung und ist unbekümmert um das letzte Resultat. Sie geht weder darauf aus, ihren Gegenstand in ein vortheilhaftes, noch in ein nachtheiliges Licht, in Beziehung auf die herrschenden Ansichten, zu setzen, sondern zeigt ihn auf, wie er ist. Die Wissenschaft ist sich selbst genug.“ Nachdem also der Begriff des Judentums dahingehend geklärt ist, daß Judentum nicht nur jüdische Religion meint, sondern „Judentum in seinem ganzen Umfange“, die ganze Lebenswirklichkeit der Juden in ihrer ganzen historischen Erstreckung bis in die Gegenwart, wird in einem zweiten Schritt der Begriff von Wissenschaft klargestellt: Wissenschaft des Judentums soll diesem Programm nach vorurteilsfrei und nicht apologetisch verfahren. Sie ist unbekümmert um ihr letztes Resultat, d. h., es geht ihr nicht darum, eine vorgefaßte Meinung lediglich zu bestätigen und etwa ein nur positives Bild vom Judentum zu zeichnen. Sie ist prinzipiell für jedes Forschungsergebnis offen. Sie kann und muß sich, wie Gershom Scholem (1897–1982) es einmal formuliert hat, auch etwa mit der jüdischen Unterwelt und dem Gaunerunwesen beschäftigen können, selbst wenn dies kein gutes Licht auf bestimmte Phänomene der jüdischen Geschichte werfen sollte. Ferner arbeitet Wissenschaft des Judentums – sonst wäre sie keine Wissenschaft – systematisch. Sie ist kritisch und allein der Wahrheit verpflichtet, also weder herrschenden Ansichten (etwa der christlichen Mehrheitsgesellschaft) noch festgelegten religiösen oder weltanschaulichen Lehrmeinungen (etwa denen mancher Rabbiner). Vor allem aber behandelt die Wissenschaft des Judentums ihren Gegenstand, das Judentum, „um seiner selbst willen“. Die Erkenntnis des Judentums ist in der Wissenschaft des Judentums Selbstzweck, sie ist nicht Mittel zu anderen, außerhalb der Wissenschaft liegenden Zwecken. Diese Wissenschaft dient nicht, wie etwa viele der Forschungen christlicher Theologen, Missionswissenschaftler und Orientalisten über Judentum, dem Erweis der Wahrheit christlicher Lehren. Sie soll jedoch umgekehrt auch nicht apologetisch sein. Das impliziert, daß sie sehr wohl antijüdische Vorurteile richtigstellen kann. Aber sie soll nicht etwa die Überlegenheit des jüdischen Monotheismus beweisen, jüdische Nobel-Preisträger zählen oder, wie das heute bisweilen geschieht, die Legitimität einer bestimmten Siedlungspolitik durch archäologische Ausgrabungen bestärken. Wissenschaft des Judentums ist allein der Wahrheit verpflichtet, nicht irgendeiner weltanschaulichen oder politischen Absicht. Sie ist sich selbst genug, d.h., sie wird betrieben, weil „die Bildung einer Wissenschaft des Judentums ein wesentliches Bedürfnis der Juden selbst ist“. Diese Bestimmung schließt Nichtjuden nicht aus der Wissenschaft des Judentums aus, denn Wissenschaft ist „an und für sich wesentliches Bedürfniß des Geistes“. Aber Nichtjuden müssen dann das Judentum auch um seiner selbst willen erforschen. Sie dürfen nicht

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ihre Forschungen durch andere Absichten und Interessen leiten und damit fremdbestimmen lassen. Diese Bereitschaft, christliche (oder andersgläubige) Wissenschaftler in der Wissenschaft des Judentums zu akzeptieren, war von Anfang an, schon im Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden, selbstverständlich und ist es bis heute geblieben, sofern diese nicht durch die Hintertür wieder christliche Theologie betreiben. Wissenschaft des Judentums ist gemäß diesem Selbstverständnis jedenfalls nie eine jüdische Wissenschaft, nie eine exklusiv jüdische Angelegenheit gewesen. Aber Christen und Andersgläubige sind faktisch in der Wissenschaft des Judentums immer eine kleine Minderheit geblieben. So war das 1822, und so verhält es sich, sehen wir von den deutschen und mitteleuropäischen Besonderheiten nach der Schoa ab, international bis heute. Daß diese Wissenschaft und die Wissenschaftler von diesem Ideal oft abwichen, daß die Wissenschaft des Judentums oft der Beförderung der jüdischen Emanzipation, der Erlangung des „Bürgerrechts des Geistes“ (Zunz) für Juden und der Widerlegung judenfeindlicher Attacken und Vorurteile dienen mußte, hatte mit den schlechten zeitgeschichtlichen Umständen in Europa, besonders der Verweigerung der juristischen und politischen Emanzipation in Deutschland, zu tun. Der Judenhaß in Europa band die Wissenschaft an die Gegenwart und an das Schicksal des jüdischen Volkes in ihr. Aber nicht nur deswegen betonen schon die Gründer die prinzipielle Bedeutung dieses Gegenwartsbezugs. Wissenschaft des Judentums ist keine antiquarische Wissenschaft, sie ist immer, auch wenn sie Details aus der fernsten jüdischen Geschichte nachspürt, konfrontiert mit einem lebendigen, sich ständig fortentwickelnden Judentum in der Gegenwart. Die Geschichte des Judentums ist nicht wie die des antiken Imperium Romanum und seiner Götter abgeschlossen und kann als abgeschlossene nunmehr erforscht werden. Die jüdische Religion und das jüdische Volk sind lebendige, sich fortentwickelnde Größen der Gegenwart. Daß die Wissenschaft des Judentums nicht nur ein „historisches Interesse“ hat, sondern das Judentum „lebt“ und darum für die jüdischen Forscher ein existenzielles und gegenwärtiges Interesse hat, läßt sich im 19. Jh. an der Vita und dem Engagement von Leopold Zunz, im 20. Jh. am sinnfälligsten vielleicht an den Tagebüchern und Briefen, aber auch an den programmatischen Äußerungen von Gershom Scholem ablesen, der seine epochemachende Erforschung der Kabbala von Anfang an und explizit in einen zionistischen Kontext des Lebendigmachens des Judentums im 20.Jh. stellte.

Die Wissenschaftsgebiete und Disziplinen Wissenschaften haben bestimmte Methoden und beherbergen bestimmte Disziplinen unter ihrem Dach. Am Anfang der Wissenschaft des Judentums stehen drei wissenschaftliche Disziplinen, die ihrerseits in sich wiederum verschiedene Teilgebiete und Methoden bergen: die Philologie, die Geschichte und die Philosophie. Die Philologie dient, so die Vorstellung der Gründergeneration in der Programmschrift Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judentums, der Erforschung der „gesamten Littera-

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tur der Juden“, wohlgemerkt also nicht nur der hebräischen, der religiösen oder gar nur der rabbinischen Literatur. Dieser Begriff von Philologie ist umfassend und lehnt sich implizit am Philologie-Begriff des Berliner Altphilologen August Boeckh (1785–1867) an. Nach Boeckh bieten die philologischen Wissenschaften „Erkenntnis des Erkannten“. Sie sind die Rekonstruktion, das Wiederherstellen der Kenntnis des einmal Gekannten, das erneut erkennende Durchdenken des schon einmal erkennend Gedachten, dessen Kenntnis verloren schien. Unter dem Eindruck von Boeckhs Philologie-Begriff wird hier Philologie auf alle jüdischen Lebenszeugnisse der Vergangenheit, allemal auf die gesamte jüdische Literatur angewandt. Philologie verhilft so, idealiter, der Wissenschaft des Judentums zu einer Wiederherstellung des in der Gegenwart Verschütteten, aber einst in der Vergangenheit von Juden Gekannten und Gedachten auf allen Gebieten. Die Geschichte wird zunächst unterteilt in Religionsgeschichte, politische Geschichte und die Literaturgeschichte. Die Vorstellungen, was die Historiographie im einzelnen zu erforschen habe, bleiben allerdings vage. Auf diesem Gebiet mußten in jahrzehntelanger Arbeit Zunz, Jost, Peter Beer und Heinrich Graetz die Lücke füllen. Neben Graetz’ berühmte Leidens- und Gelehrtengeschichte der Juden traten als neue historiographische Ansätze im 20.Jh. die Alltags-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Juden in Simon Dubnows (1860– 1941) Weltgeschichte des jüdischen Volkes (10 Bde., 1925–29) und in Salo W. Barons (1895– 1989) A Social and Religious History of the Jews (16 Bde., 1952–76). Die Philosophie schließlich umfaßte ursprünglich sowohl die jüdischen Philosophen der Vergangenheit als auch die Reflexion des Judentums in der Gegenwart. Auch hier blieb es späteren Autoren wie dem Zunz-Schüler Salomon Munk (1803–1867) und der „Breslauer Schule“ von jüdischen Philosophie-Historikern wie Manuel Joel, Jacob und Julius Guttmann (1880–1950) sowie David Kaufmann vorbehalten, die Arbeiten zu einer Geschichte der jüdischen Philosophie voranzutreiben. Salomon Ludwig Steinheim, Samuel Hirsch, Salomon Formstecher oder Nachman Krochmal legten zwischen 1820 und 1850 zeitgenössische Philosophien des Judentums vor. Im Zuge der Ausdifferenzierung der Wissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jhs. und durch das Entstehen ganz neuer wissenschaftlicher Disziplinen an den Universitäten hat sich virtuell der Kanon der in der Wissenschaft des Judentums vertretenen oder jedenfalls zu berücksichtigenden Disziplinen erheblich erweitert. Heute gibt es, wenn auch selten, Volkskundler und Musikologen, Religionswissenschaftler und Kunsthistoriker, die sich um die Erforschung des „Judentums in seinem ganzen Umfange“ verdient machen. Das konnte die Gründergeneration noch nicht ahnen. Aber sie wußte, wie vielfältig Judentum war und ist, und sie kannte die Menge der Arbeitsfelder einer zukünftigen Wissenschaft des Judentums, die Leopold Zunz schon 1818 in Etwas über die rabbinische Litteratur umrissen hatte: Religion, Theologie und Ritus, Jurisprudenz, Ethik, Naturwissenschaften und Mathematik, Astronomie, Medizin, Technologie, Industrie und Handel, Kunst, Musik, Altertumskunde, Sprache (nämlich vor allem Poesie, Rhetorik, Grammatik), Diplomatik, Typographie, Bibliographie, Philosophie. Hierzu trat später noch die „Statistische Judenthumskunde“ oder „allgemeine Statistik der Juden“, also eigentlich eine „Soziolo-

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gie des Judentums“ (Arthur Ruppin). Diesen und weiteren Gegenständen und Gebieten wenden sich dann eine oder mehrere Disziplinen der Wissenschaft des Judentums je nach Ausrichtung zu und erforschen den Beitrag von Juden in ihnen. Hieraus wird deutlich, daß schon ihre Gründer von Anfang an und prinzipiell die Wissenschaft des Judentums als pluridisziplinäres Projekt entwarfen, als eine Wissenschaft, innerhalb deren wegen der großen historischen Erstreckung, wegen der soziokulturellen, sprachlichen und geographischen Vielfalt und wegen der großen Verschiedenheit von Phänomenen des Judentums notwendig unterschiedliche Disziplinen mit ihren jeweiligen Methoden nebeneinander existieren, benötigt werden und zusammenarbeiten müssen. Martin Buber hat gegen ein solches pluridisziplinäres Konzept in seinem Aufsatz Jüdische Wissenschaft (1901) zu Recht eingewandt, daß die Wissenschaft des Judentums ihre Einheit nicht einer bestimmten Methode verdanke, sondern ihrem Gegenstand und Bezugspunkt Judentum. Auch für Ismar Elbogen und Siegmund Maybaum, beide Professoren an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, ist Wissenschaft des Judentums keine jüdische Wissenschaft, so wenig wie Germanistik eine „deutsche“ Wissenschaft ist. Keine ihrer Methoden oder Disziplinen ist „jüdisch“. Vielmehr integriert die Wissenschaft des Judentums eine Vielzahl von Methoden, Problemstellungen und Kenntnissen anderer Wissenschaften. Sie ist eine Wissenschaft nicht vermöge einer einzigen oder einer abgrenzbaren Anzahl von Methoden, einer einheitlichen Leitidee oder Arbeitsweise wie andere Wissenschaften, z. B. Astronomie oder anorganische Chemie. Sie ist eine Wissenschaft vermöge ihres Gegenstandes in all seinen Phänomenen: des Judentums. Der Gegenstand Judentum ist das Band, das die Pluralität von Disziplinen und Methoden in der Wissenschaft des Judentums zusammenhält. Auch in den Jüdischen Studien, den Jewish Studies oder der Judaistik heute ist „jüdisch“ nicht ein Attribut der Studien selbst, sondern ihres Gegenstandsbereichs. Wissenschaft des Judentums wurde weder als exklusiv jüdische noch als nationale, sondern als europäische Wissenschaft konzipiert, auch wenn dies später maßgebliche Vertreter der zionistischen, sogenannten „Jerusalemer Schule“ wie Ben-Zion Dinur (1884–1973) nicht wahrhaben wollten. Die europäische Perspektive verdankte sich einerseits der Aversion ihrer Gründer gegen die judenfeindliche Deutschtümelei der Zeitgenossen, andererseits aber auch einem an Europa orientierten, kulturellen und moralischen Universalismus. Sicherlich ist dieser Standpunkt heute veraltet, denn die USA und später der Jischuw, dann Israel sind zu blühenden Zentren der wissenschaftlichen Erforschung des Judentums herangewachsen und haben Europa nach der Schoa weit überflügelt. Aber im 19.Jh. war Europa das Zentrum der Wissenschaft des Judentums, die europäische, d. h. die internationale und den Nationalstaat übergreifende Perspektive ist eine bis heute fruchtbare.

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Rabbinerseminare und „jüdische Theologie“ Historisch liefen die Entwicklung der Wissenschaft des Judentums und die Ausbildung des Sozialtypus des „Rabbiner Dr.“, d.h. eines akademisch ausgebildeten und promovierten Rabbiners, in Deutschland und Mitteleuropa parallel. Daß der Rabbiner ein aufgeklärter und studierter Mann sein sollte, war in einigen deutschen Ländern wie Bayern seit den zwanziger Jahren des 19. Jhs. von der Obrigkeit vorgeschrieben, in der Donaumonarchie und in Norditalien durch ein kaiserliches Dekret seit 1820 anbefohlen. Vor allem in den städtischen jüdischen Gemeinden ging die Verbürgerlichung der Gemeindemitglieder jedoch auch mit der Forderung einher, daß der Rabbiner durch ein Universitätsstudium mit Promotion neben seiner religiösen Ausbildung auch die Weihen bürgerlicher und universitärer Bildung vorweisen müsse. Dadurch konnte er die nötige gesellschaftliche Anerkennung erwerben und die Gemeinde auch gegenüber der nichtjüdischen Umwelt und Obrigkeit angemessen repräsentieren. Da indessen Judentum nicht Gegenstand eines Fachs an der Universität war, studierten die angehenden Rabbiner Fächer wie Philosophie, Geschichte oder orientalische und alte Sprachen. Um diese Situation zu beenden, in der Juden nicht Judentum an einer Universität wissenschaftlich studieren konnten, forderte der junge Wiesbadener Rabbiner Abraham Geiger (1810–1874) im Jahr 1836 erstmals die Gründung einer „jüdisch-theologischen Fakultät“ an einer deutschen Universität. Geigers Aufruf, den er 1838 in einem Büchlein wiederholte, fand ebensowenig Gehör bei Universitäten und Ministerien wie die gleichlautenden Forderungen des Magdeburger Rabbiners und Publizisten Ludwig Philippson (1811–1889). Bis nach der Schoa gab es im deutschsprachigen Raum keine Universität, die eine Fakultät oder auch nur einen einzigen Lehrstuhl für Wissenschaft des Judentums oder eines ihrer Teilgebiete eingerichtet hat. Eine Ausnahme bildeten die Instituta Judaica (zuerst: Leipzig 1880) an protestantisch-theologischen Fakultäten, die christlichen Wissenschaftlern vorbehalten blieben, die mit der Absicht der Judenmission gestiftet wurden und gegen die die jüdischen Wissenschaftler, Rabbiner und Publizisten schon deshalb protestierten. In der jüdischen Publizistik blieb die Forderung nach einer Institution für die Wissenschaft des Judentums auf der Agenda und markierte eine klare Frontstellung zwischen liberalen, konservativen und neo-orthodoxen Gruppierungen: Während die deutsche Orthodoxie zunächst nicht ein Universitätsstudium der Rabbiner, wohl aber die wissenschaftliche Beschäftigung mit Tora und Talmud als der jüdischen Religion feindlich und abträglich ablehnte und während die liberalen jüdischen Gruppen (wie gleichzeitig die liberalen Protestanten in der Leben-Jesu-Forschung) ohne Einschränkung die historisch-kritische Erforschung aller religiösen Texte als Teilgebiet jüdischer Theologie freigeben wollten, wurde bei den Konservativen die historisch-kritische Exegese des Pentateuch abgelehnt, Talmud und Midrasch jedoch konnten und sollten wissenschaftlich erforscht werden. Wissenschaft des Judentums galt ihnen, so die Formulierung des konservativen Rabbiners Wolf Landau im Jahr 1851, als „einziges Regenerationsmittel“ des zeitgenössischen Judentums, das sie von

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einer steigenden Verflachung des religiösen Wissens und stetiger Assimilation im jüdischen Bürgertum bedroht sahen. Schließlich gelang es den Konservativen sogar zuerst, im Jahr 1854 mit der Gründung des „Jüdisch-theologischen Seminars“ in Breslau, einer privaten Stiftung, der wissenschaftlichen Ausbildung von Rabbinern einen Ort zu verschaffen. In diesem Breslauer Rabbinerseminar fand die Wissenschaft des Judentums erstmals wieder eine Institution, nachdem der Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden sich bereits 1824 aufgelöst hatte. Breslau wirkte exemplarisch: Rabbinerseminare wurden diejenige Institution, welche zumindest einigen der Protagonisten der Wissenschaft des Judentums, die sich bis dahin in Brotberufen als Rabbiner, Lehrer oder Bibliothekar betätigten und der Wissenschaft als Freizeitbeschäftigung nachgingen, einen Lebensunterhalt bot. In Breslau wirkten neben dem ersten Direktor Zacharias Frankel (1801–1875) so große Gelehrte wie Heinrich Graetz, Marcus Brann (1849–1920) und Jakob Guttmann (1845–1919). Dort studierte, bis zur Schließung im Jahr 1938, eine lange Reihe nachmals berühmter Wissenschaftler, angefangen vom Religionsphilosophen Hermann Cohen (1842–1918) über den Religionshistoriker David Kaufmann (1852–1899) bis zum Talmudisten Ephraim E. Urbach (1912–1991). Mit der in Breslau herausgegebenen Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums (1851–1939) wurde die bedeutendste wissenschaftliche Zeitschrift der Wissenschaft des Judentums im 19. Jh. gegründet, andere wissenschaftliche Zeitschriften folgten. Es wurden nach Breslauer Muster wissenschaftliche Bibliotheken und Ausbildungsgänge eingerichtet und damit ein akademischer Austausch und Diskurs ermöglicht. Das Breslauer Modell des Rabbinerseminars, der Verbindung von Rabbinerausbildung und Wissenschaft des Judentums, entwickelte eine solche Anziehungskraft, daß sogar die Neo-Orthodoxen unter der Leitung von Esriel Hildesheimer (1820–1899) in Berlin ein Rabbinerseminar eröffneten, das wissenschaftliche Anerkennung fand. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß seit dem Ende des 19. Jhs. das Rabbinerseminar, sei es liberal, konservativ oder orthodox ausgerichtet, in Mittel- und Westeuropa ebenso wie in Nordamerika, die gängige Form der Rabbiner-Ausbildung geworden ist. Das Muster und das wissenschaftlich erfolgreichste Rabbinerseminar im 19. Jh. war das von Breslau. Daß es dort und später an anderen Orten mit Hilfe von viel Idealismus, Privatinitiative und unzähligen unbezahlten Arbeitsstunden gelang, die Wissenschaft des Judentums außerhalb des staatlichen Bildungssystems der Universitäten und ohne staatliche Finanzierung zu gründen, erfolgreich zu entwickeln und mit höchsten wissenschaftlichen Standards zu erhalten, gehört zweifellos zu den größten und keineswegs nur intellektuellen Leistungen des deutschen Judentums. Aber auch außerhalb Deutschlands fand die Wissenschaft des Judentums zunächst in Rabbinerseminaren ihren Ort. Das erste wissenschaftlich orientierte Rabbinerseminar war das 1829 gegründete Collegio Rabbinico im damals österreichisch regierten Padua, in dem Samuel David Luzzatto (1800–1865) Bibelexegese, Geschichte und Moral und Lelio Della Torre (1805–1871) Talmud und Homiletik (Predigtlehre) lehrten und in ihrer Epoche die Mehrzahl der Rabbiner Italiens ausbildeten. Das äußerst erfolgreiche Budapester Rabbinerseminar, das dem Breslauer ideell und personell eng verbunden war, wurde 1877 eröffnet.

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Mit der Gründung des liberalen Hebrew Union College 1875 in Cincinnati gelang erstmals die Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums in den USA, wiederum im Rahmen der Rabbinerausbildung. 1896 wurde in New York die orthodoxe Yeshiva University eröffnet. In Osteuropa hingegen, wo die Juden im Zarenreich staatlich unterdrückt und verfolgt wurden, fand die Rabbinerausbildung in den traditionellen Jeschiwot statt, es kam nicht zur Gründung von wissenschaftlich arbeitenden und ausgewiesenen Rabbinerseminaren. Die Wissenschaft des Judentums konnte dort erst nach dem 1. Weltkrieg Fuß fassen: Das YIVO (Yidisher Visenshaftlikher Institut), das 1925 in Berlin gegründet und bis 1940 in Wilna, dann in New York ansässig war, ist ebenso wie die auch 1925 gegründete Hebräische Universität in Jerusalem ein Ableger der Wissenschaft des Judentums in Deutschland, aber beide waren, wie vordem nur die 1872 in Berlin eröffnete „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“, von vornherein institutionell und ideologisch unabhängig von rabbinischen oder anderen religiösen Institutionen und Gemeinden. Eine Sonderstellung nimmt Frankreich ein, wo die Rabbiner-Ausbildung zunächst am Collège Rabbinique in Metz (gegr. 1825) stattfand, das 1859 nach Paris verlegt wurde. Getrennt von den Zwängen einer Rabbinerausbildung konnten allerdings jüdische Wissenschaftler in akademischen Institutionen Frankreichs früher eine religiös und weltanschaulich unabhängige Anstellung finden als sonstwo in Europa: Salomon Munk (1803–1867), Schüler von Zunz und Gans in Berlin und der wichtigste Erforscher der mittelalterlichen jüdischen und arabischen Philosophie, arbeitete ab 1832 in der Bibliothèque National und wurde 1864 als Nachfolger von Ernest Renan Professor für semitische Sprachen am Collège de France. Aber auch an der École Pratique des Hautes Études wurden nach 1880 Wissenschaftler-Stellen eingerichtet, so daß für Frankreich, wo auch an der Ecole des Hautes Études en Sciences Sociales und am Centre National de Recherche Scientifique die Wissenschaft des Judentums ihren Platz gefunden hat, bis heute eher die parallele Existenz von Rabbinerseminar und akademischen Institutionen typisch ist. Die Institutionalisierung der Wissenschaft des Judentums an Orten der Rabbinerausbildung blieb nicht ohne Folge für ihre inhaltliche Ausrichtung. Denn die Wissenschaft des Judentums wurde von den Rabbinerseminaren in Ausbildung und Ausrichtung ausdrücklich in Dienst genommen. Sie sollte die wissenschaftsgläubigen jüdischen Bürger und Gemeindemitglieder vor dem Verlust ihrer religiösen Identität und vor totaler Assimilation schützen. Von der Ausrichtung auf die Rabbinerausbildung her richtete sich der Fokus der wissenschaftlichen Tätigkeit neben der Beschäftigung mit jüdischer Geschichte auf religiöse und religionsphilosophische Texte des rabbinischen Judentums. Anderes blieb außer acht. Profane Wissensgebiete, Tätigkeiten und Texte von Juden, deren Erforschung im umfassenden Sinn ursprünglich Programm gewesen war, rückten in den Hintergrund. Aber nicht nur diese Ausrichtung auf „jüdische Theologie“, d.h. auf religiöses Schrifttum zumeist in hebräischer und aramäischer Sprache oder auch etwa auf eine brauchbare Prediger-Ausbildung, schränkte den einst sehr weiten Horizont der Wissenschaft des Judentums ein. Die jüdischen Wissenschaftler waren auch Kinder ihrer Zeit, und sie nahmen wie Abra-

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ham Geiger, Ludwig Philippson oder Zacharias Frankel in vorderster Front an den innerjüdischen Streitigkeiten um Reform und Modernisierung von Gottesdienst, Synagoge und halachischen Bestimmungen teil. In diesen Konflikten erfüllte die Wissenschaft des Judentums nicht selten eine Legitimationsfunktion und war von anderen als wissenschaftlichen Interessen geleitet. Selbst eine so unabhängige Persönlichkeit wie Leopold Zunz, der ebenso wie der bedeutendste jüdische Bibliograph des 19. Jhs., Moritz Steinschneider (1816–1907), die Tätigkeit an einem Rabbinerseminar ablehnte und 1848 mit seinem Gesuch der Berufung auf einen Lehrstuhl für rabbinische Literatur an der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität gescheitert war, konnte sich dieser Theologisierung der Wissenschaft des Judentums nicht vollständig entziehen: Sein Buch Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden, historisch entwickelt (Berlin 1832), das als die erste umfassende und beispielhafte Abhandlung der neuen Wissenschaft des Judentums gilt, war Bestandteil einer hitzigen zeitgenössischen Debatte um die Einführung und den Platz einer landessprachlichen Predigt im synagogalen Gottesdienst. Zunz selbst hat solche Predigten gehalten und publiziert. Auch die Tendenz, das Judentum gegenüber christlicher und antisemitischer Polemik als „ethischen Monotheismus“ und „Religion der Vernunft“ (Hermann Cohen) darzustellen, war weltanschaulich interesseleitend, verstellte jedoch oft einer kritischen, vorurteilslosen Analyse den Blick: Die jüdische Mystik, jüdische Folklore oder magische Praktiken und Texte, die nicht in das Bild vom Judentum als rationaler Monotheismus passen, wurden überhaupt erst im 20. Jh. Gegenstand breiterer kritischer Forschungen, nachdem sich die Wissenschaft des Judentums institutionell von den Rabbinerseminaren und inhaltlich von der einseitigen Privilegierung der Religion gelöst hat. Besonders folgenreich war die Bindung der Wissenschaft des Judentums an Rabbinerseminare jedoch sowohl für die Tätigkeit von Frauen in der Wissenschaft als auch für die Rolle von Frauen im Judentum als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Frauen blieben bis weit ins 20. Jh. im Wissenschaftsbetrieb ausgegrenzt. Erst mit der Etablierung an Hochschulen, Universitäten und Akademien, also außerhalb von Rabbinerseminaren, bekamen sie eine Chance, in diesem Feld zu studieren und einen Beruf zu ergreifen. Eine Ausnahme bilden hier lediglich die liberalen Colleges in den USA, wo nach dem Zweiten Weltkrieg Frauen eine zunehmend größere Rolle spielen konnten. Aber das vollzog sich zu einem Zeitpunkt, als Frauen an Universitäten längst Wissenschaft des Judentums studierten und praktizierten. Die Verspätung der Gleichberechtigung der Wissenschaftlerinnen auf diesem Gebiet, sogar im Vergleich zu fast allen anderen lange männlich dominierten Wissenschaften, ist eklatant. Sie ist verschiedenen Faktoren geschuldet: Wie in der christlichen Theologie bis weit ins 20. Jh., wie auch im Islam, waren sämtliche religiösen Ämter – und damit Berufsperspektiven – unter Berufung auf die heiligen Schriften Männern reserviert. Die Religionen selber sind patriarchalisch, das Interpretationsmonopol der heiligen Schriften lag bei Männern. In der Synagoge hatten Frauen lediglich Zuhörer-Status, vom Lernen in der Jeschiwa waren sie ausgeschlossen und konnten nicht Rabbiner werden. So kam zu der all-

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gemeinen Diskriminierung der Frauen durch die ihnen auferlegten Mutter- und Hausfrauenrollen und dem lange anhaltenden Ausschluß vom akademischen Studium im 19.Jh. im Fall der Wissenschaft des Judentums erschwerend hinzu, daß diese nie Universitätsfach war und Frauen privat aus religiösen Gründen das Lernen praktisch verwehrt war. Sie konnten Judentum weder an einer Universität noch im Rabbinerseminar, noch in einer Jeschiwa studieren. Die Männer in der Wissenschaft des Judentums dagegen kamen, jedenfalls im 19.Jh., fast immer aus dem Milieu der Jeschiwot, bevor sie ein Universitätsstudium begannen. Einige der Protagonisten der Wissenschaft des Judentums wie Zunz, Geiger, Frankel, Michael Sachs (1808–1864) oder Leo Baeck (1873–1956) amtierten gleichzeitig als Prediger oder Rabbiner. Das führte zu einem starken Übergewicht der Erforschung der Rabbinica, das bis heute anhält. Verstärkt wurde dieses herkunftsbedingte Übergewicht der Rabbinica durch den Trend, die Wissenschaft des Judentums der Ausbildung von modernen, wissenschaftlich geschulten Rabbinern dienstbar zu machen. Aber nicht nur an den Rabbinerseminaren, auch etwa an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums studierten vornehmlich Männer, etwa 30% davon Rabbinatskandidaten, zunächst und bis ins 20. Jh. jedoch keine Frauen. Frauen blieben faktisch so lange ausgeschlossen, bis die Wissenschaft des Judentums Universitätsfach wurde und sie dort Rabbinica studieren konnten. Es gab in Deutschland sogar eher eine Rabbinerin als eine Professorin für die Wissenschaft des Judentums: Regina Jonas (1902–1944), die erste Rabbinerin überhaupt, hatte vor ihrer Ordination 1935 von 1924 bis 1930 an der Berliner Hochschule studiert. Aber die Historikerin Selma Stern (1890–1981), die als erste Frau an der 1919 in Berlin gegründeten Akademie für die Wissenschaft des Judentums eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin innehatte und dort die Grundlagen für ihr bekanntes Werk Der preußische Staat und die Juden (1962–1975) erarbeitete, wurde im amerikanischen Exil lediglich Archivarin. Ähnliches gilt von Frauen, ihrer Geschichte, ihren Tätigkeiten und Texten als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Hier entwickelten sich, einmal abgesehen von frühen Würdigungen etwa der Berliner jüdischen Salonnièren und anderer großer Frauenfiguren, erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten als Reaktion auf Feminismus und die Etablierung von Women studies, sowie in Einklang mit der kulturwissenschaftlichen Öffnung der Forschungen an den Universitäten, neue Perspektiven und umfassende Ansätze in bezug auf die Erforschung der Rolle und der Leistungen von Frauen in der jüdischen Geschichte und Gegenwart.

Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums Die Gründung der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, die am 6. Mai 1872 eröffnet wurde, war der Versuch, der Wissenschaft des Judentums unabhängig von der Bindung an eine jüdische Gemeinde, eine Gruppe von Geldgebern oder eine bestimmte religiöse Ausrichtung eine Wirkungsstätte zu geben. Wie schon der Name „Hoch-

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schule“ annonciert, sollte die Hochschule in der neuen deutschen Reichshauptstadt der Wissenschaft des Judentums in Forschung und Lehrbetrieb das Niveau und die gleiche intellektuelle und institutionelle Unabhängigkeit bieten wie eine deutsche Universität. Vom Staat anerkannt und unterhalten wurde die Hochschule allerdings nicht, sie entstand, da die Wissenschaft des Judentums an deutschen Universitäten nicht Fuß fassen konnte, aus privaten Mitteln. Nach dem vom Historiker Heinrich von Treitschke 1879 ausgelösten Berliner Antisemitismus-Streit wurde die Hochschule unter juristischen Vorwänden 1883 sogar gezwungen, ihren Namen in „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums“ umzuändern. Erst 1920, in der Weimarer Republik, durfte sie den Namen „Hochschule“ wieder tragen, der unter der Nazi-Herrschaft von 1934 bis zur Schließung der Hochschule 1942 wieder in „Lehranstalt“ rückverwandelt wurde. Mit dieser Schließung der Hochschule und der Deportation derjenigen Studenten und Dozenten in die Konzentrationslager, die nicht ins Exil hatten entkommen können, brach die Tradition der Wissenschaft des Judentums in Deutschland ab. Die Berliner Hochschule war vom Zeitpunkt ihrer Eröffnung bis 1933 die führende und tonangebende Institution im Bereich der Wissenschaft des Judentums gewesen. Ein Quartett berühmter Professoren aus der Gründergeneration setzte Maßstäbe: Abraham Geiger, der Führer der Liberalen in Deutschland, war der erste Rektor der Hochschule und lehrte neben Bibelwissenschaft dort jüdische Theologie. Heymann Steinthal (1823–1899), der als Professor für vergleichende Sprachwissenschaft an der Berliner Universität lehrte und mit seinem Schwager, dem Philosophen Moritz Lazarus (1824–1903) die Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft (gegr. 1860) herausgab, lehrte Bibelexegese, vergleichende Religionsgeschichte und Linguistik, David Cassel (1818–1893) unterrichtete Geschichte der Juden und jüdische Literaturgeschichte, Israel Lewy (1816–1893) schließlich Talmud und rabbinische Literatur. Weitere berühmte Lehrer späterer Generationen bis zum Ersten Weltkrieg waren der Neu-Kantianer und Religionsphilosoph Hermann Cohen (1842– 1918), der Jurist und Historiker Ismar Freund (1876–1956) und der nachmalige Rektor und Historiker Ismar Elbogen (1874–1943). Nach dem Ersten Weltkrieg lehrten dort der Philosophiehistoriker Julius Guttmann, der Semitist und Bibelwissenschaftler Harry Torczyner (Tur-Sinai) und der Rabbiner und letzte Rektor der Hochschule Leo Baeck. Programmatisch knüpfte die Hochschule an die ursprünglichen Intentionen des Berliner Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden an, die unabhängige und kritische Erforschung aller jüdischen Quellen wurde hochgehalten. Faktisch lag indessen das Hauptgewicht der Lehrveranstaltungen auf dem Studium von Bibel, Religionsgeschichte und rabbinischer Literatur. Nicht wenige der Studenten wurden später liberale Rabbiner. Dennoch waren die Hochschule und ihre Professoren bis in die Zeit der Weimarer Republik das Zentrum aller methodologischen Diskussionen sowie der religiös freien und institutionell unbehinderten Forschungen in der Wissenschaft des Judentums. In der Hochschule, übrigens im Zusammenwirken mit dem Breslauer Seminar und dem Hebrew Union College (Cincinnati), entstanden seit 1903 die Planungen für die detaillierte, spezialisierte, hochgradig professionalisierte und dennoch auf Vollständigkeit angelegte Erforschung und Dokumentation der gesamten jüdischen Geschichte in allen Wissensgebieten durch eine am Ende

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über 40 Bände umfassende und aus langen Einzeldarstellungen bestehende Schriftenreihe „Grundriß für die Gesamtwissenschaft des Judentums“, eine Art Enzyklopädie der Wissenschaft des Judentums in allen ihren Resultaten. An dieser Schriftenreihe sollten tatsächlich alle namhaften jüdischen Gelehrten der Epoche beteiligt sein. Die Wissensgebiete reichten dabei von Archäologie und Apologetik über Sprachwissenschaft und Geschichte des jüdischen Schrifttums bis zur Liturgik und Homiletik. Hermann Cohen (1908) und später im Ersten Weltkrieg Franz Rosenzweig (1886–1929) forderten die Gründung einer von allen religiösen Rücksichten freien, rein wissenschaftlich orientierten Akademie für die Wissenschaft des Judentums. Rosenzweig propagierte und gründete 1923 in Frankfurt a. M. jedoch auch ein „Freies Jüdisches Lehrhaus“, in dem die Ergebnisse der Wissenschaft nach dem Modell einer Volkshochschule in ein existentielles „Jüdisches Lernen“ eingebracht werden sollten. Nicht reine wissenschaftliche Erkenntnis, sondern die Stärkung der jüdischen Identität gegen die Gefahren der Assimilation war am Lehrhaus das Ziel. Am Frankfurter Lehrhaus lernten und lehrten neben Rosenzweig der Rabbiner Nehemia Nobel, Martin Buber, Nahum Glatzer, Ernst Simon, Gershom Scholem und Erich Fromm. Die 1919 in Berlin gegründete Akademie für die Wissenschaft des Judentums wurde von dem Historiker Eugen Täubler (1879–1953) geleitet und war rein an Forschungsaufgaben ausgerichtet. Viele ihrer Mitarbeiter wie Julius Guttmann und Leo Strauss (1899–1973) waren, wie auch einige Protagonisten des Frankfurter Jüdischen Lehrhauses, Studenten und Dozenten an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums gewesen.

Zionismus und Hebräische Universität Jerusalem Im Jahr 1925 wurde in Jerusalem die Hebräische Universität gegründet. Zionistische Ideologen wie der Historiker Ben-Zion Dinur sahen mit dieser Gründung eine neue Phase der Wissenschaft des Judentums beginnen: den Übergang von der assimilatorischen, dem Diaspora-Judentum verfallenen Wissenschaft des Judentums in Europa und besonders in Deutschland zur „jüdischen Wissenschaft“. Tatsächlich war die Hebräische Universität ein Novum gegenüber der Wissenschaft des Judentums in Europa. Sie bot erstmals und ohne Einschränkung der Wissenschaft des Judentums einen überaus prominenten Platz in der Institution Universität. Und zwar nicht durch Gründung eines Lehrstuhls, eines Instituts oder einer Fakultät, sondern indem in allen größeren geistesgeschichtlichen Wissensgebieten eigene Lehrstühle für die Erforschung der jüdischen Leistungen auf diesem Gebiet eingerichtet wurden: Lehrstühle für jüdische Geschichte in allen Epochen traten gleichberechtigt neben die für allgemeine Geschichte, jüdische Kunstgeschichte neben die allgemeine Kunstgeschichte, jüdische Archäologie neben die Archäologie, jüdische Religionsgeschichte neben die Vergleichende Religionswissenschaft, jüdische Philosophie neben die allgemeine Philosophie. In bis dahin nicht gekannter Breite ergänzten sich allgemeine Fachgebiete mit den spezifisch jüdischen Abteilungen.

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Der Name „Hebräische Universität“ war Programm: Sie sollte keine „jüdische“ Universität mit Schwerpunkt auf Judaica sein, sondern eine alle Fächer umfassende und allgemeine Universität mit Hebräisch als der Sprache von Forschung und Lehre. Dennoch bedeutete ihre Gründung für die Wissenschaft des Judentums ein Novum. Denn die Hebräische Universität bot erstmals Wissenschaft des Judentums an einer Universität mit überwiegend jüdischen Studenten an, seit 1948 und der Gründung des Staates Israel in einem Land, in dem Juden die Majorität der Bevölkerung stellen. Damit ist Wissenschaft des Judentums in Israel nicht mehr die Spezial-Wissenschaft einer Minderheit, sondern sie erforscht Geschichte, Religion und Kultur der jüdischen Bevölkerungsmehrheit, frei von Apologie gegenüber irgendeiner nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft und frei von Rücksicht auf religiöse Autoritäten. Diese Neuerungen bargen neben großem wissenschaftlichen Gewinn jedoch auch Gefahren, auf die der Jerusalemer Kabbala-Forscher Gershom Scholem hingewiesen hat: die des zionistisch revidierten Mißverstehens und Umschreibens der jüdischen (Diaspora-)Geschichte und die des ideologischen Mißbrauchs im Interesse politischer Legitimationsfunktionen. Methodisch und personell schloß die Hebräische Universität eng an die Wissenschaft des Judentums in Deutschland an, obwohl deren Protagonisten sich zumeist dem Zionismus gegenüber ablehnend verhalten hatten: Ein Großteil des wissenschaftlichen Personals der Hebräischen Universität in den Anfangsjahren kam von deutschen Universitäten, Gelehrte wie Julius Guttmann, Harry Torczyner, Ephraim Urbach oder Isaak Heinemann kamen sogar direkt aus den Hochburgen der Wissenschaft des Judentums in Breslau und Berlin. Und selbst namhafte Kritiker der europäischen Wissenschaft des Judentums wie Scholem publizierten zunächst noch in deren wissenschaftlichen Zeitschriften und Schriftenreihen. Sie schlossen an die Standards der europäischen Wissenschaft des Judentums an, konnten jedoch in der neuen und stark verbesserten Situation der Hebräischen Universität im Staat Israel auch neue, avancierte Standards setzen. So wurde Hebräisch nach Deutsch und Englisch heute zur dritten international üblichen Wissenschaftssprache der Wissenschaft des Judentums.

Europa nach dem Zweiten Weltkrieg Der Zweite Weltkrieg und die Vernichtung des europäischen Judentums waren der Nullpunkt der Wissenschaft des Judentums in Europa. Die jüdischen Wissenschaftler waren emigriert oder umgebracht worden, die jüdischen Bücher verbrannt oder verbracht. Die Zentren der Wissenschaft des Judentums sind seitdem die USA und Israel. Dennoch sank Europa nicht in reine Bedeutungslosigkeit zurück. Nur nannten sich die Versuche der Anknüpfung an das Erbe der Wissenschaft des Judentums in Europa nicht mehr so, zu groß war die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen den Leistungen der Vergangenheit und den Möglichkeiten der Gegenwart. In Deutschland wurde zuerst 1960 an der Freien Universität Berlin wieder ein Lehrstuhl für Judaistik eingerichtet, 1966 einer in Köln und 1969 in Frankfurt a. M. Im Jahr 1979

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wurde mit dem Ziel einer Rabbiner-Ausbildung in Heidelberg sogar eine Hochschule für Jüdische Studien gegründet, an der mehrere Professoren aus verschiedenen Disziplinen der Jüdischen Studien tätig sind. Große Institute, Zentren und Studiengänge für Jüdische Studien wurden zu Beginn der neunziger Jahre auch an der Universität Duisburg und an der Universität Potsdam eingerichtet, ferner je ein Lehrstuhl in Halle und in Erfurt. Wie im Osten Deutschlands bedeutete der Fall des Eisernen Vorhangs auch für Osteuropa, daß erstmals seit der Schoa wieder akademische Einrichtungen für Jüdische Studien geschaffen werden können: in Budapest, in Krakau, in Moskau, in St. Petersburg 1990 sogar eine Jüdische Universität. In West- und Nordeuropa begann der Aufschwung der Jüdischen Studien früher: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden erstmals auch in Skandinavien Lehrstühle für Judaistik und Jüdische Studien geschaffen, in Uppsala, in Lund, in Kopenhagen. Gleiches gilt für die Niederlande, wo der Großteil der jüdischen Institutionen in Amsterdam situiert ist. Auch in Spanien und Italien ist seit den achtziger Jahren eine Anzahl von Lehrstühlen und Instituten gegründet worden, in Großbritannien traten neben die Zentren Oxford und London seit Beginn der neunziger Jahre einige neue, kleinere Forschungs- und Lehreinrichtungen für jüdische Geschichte an Universitäten wie Sussex, Manchester, Leicester und Southampton. Dieser Aufschwung der Jüdischen Studien in Europa insgesamt führte 1981 zur Gründung der European Association for Jewish Studies, in deren Verzeichnis heute über 250 akademische Institutionen in Europa zu finden sind, die sich, nolens volens, in der Nachfolge der Wissenschaft des Judentums befinden.

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Jüdische Presse Die Entwicklung des jüdischen Pressewesens in Europa steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. einsetzenden Verbürgerlichungsprozeß des europäischen Judentums und der Entstehung einer neuen Art von jüdischer Öffentlichkeit, die – neben Predigten, Romanen oder populären Abhandlungen – vor allem von den neuen jüdischen Periodika getragen wurde. Letztere zählen heute zu den vielleicht wichtigsten Geschichtsquellen der letzten drei Jahrhunderte, spiegeln sie doch nahezu die gesamte innere wie äußere Entwicklung des europäischen Judentums wider. Die Geschichte der europäisch-jüdischen Presse ist bisher kaum untersucht worden. Ein Problem stellt dabei bereits eine schlüssige Definition der „jüdischen Presse“ dar. Nach einer verbreiteten Kurzformel wird darunter meist die „Presse von Juden für Juden“ verstanden, also alle Periodika mit einem jüdischen Herausgeber- und Redaktionsstab, die für ein vorrangig jüdisches Publikum spezifisch jüdische Themen aufgriffen. Davon zu unterscheiden ist das antisemitische Schimpfwort der sogenannten „Judenpresse“, das sich seit den siebziger Jahren des 19. Jhs. allgemein auf Juden in Journalismus und Nachrichtenwesen bezog. Im kommunikationswissenschaftlichen Kontext stellt sich zudem die Frage, inwieweit jüdische Periodika die vier üblichen definitorischen Merkmale von Periodizität, Publizität, Aktualität und Universalität erfüllen konnten. Sieht man von Jahrbüchern und Almanachen einmal ab, bleibt selbst der Übergang vom Typus der jüdischen „Zeitschrift“ zu dem der „Zeitung“ fließend.

Die Anfänge des jüdischen Pressewesens in Europa (17.–18.Jh.) Die Wiege der jüdischen Presse stand in Amsterdam, das sich nach dem Ende der spanischen Fremdherrschaft 1581 zum Zentrum des sefardischen Judentums und, unter dem Einfluß Menasse ben Israels, auch der hebräischen Typographie in Europa entwickelt hatte. Dort erschien im November 1674 – 65 Jahre nach den ersten Zeitungen überhaupt – in der Druckerei des David Tartas die älteste bekannte Ausgabe der Gazeta de Amsterdam (bis 1699?). Sie war zwar in Jüdisch-Spanisch (Ladino) gedruckt, enthielt mit ihren Handelsnachrichten für sefardische Kaufleute aber eigentlich nichts spezifisch Jüdisches. Anders bereits der Dinstagischi bzw. Frejtagischi Kurant (Amsterdam 1686–87), der für die aschkenasische Leserschaft in Jüdisch-Deutsch (Jiddisch) erschien. Das erste Periodikum in hebräischer Sprache war die monatliche Responsensammlung Pri Ez Chajim („Früchte vom Baum des Lebens“, Amsterdam 1728–61). Ob sie tatsächlich dem Typus einer Zeitschrift entsprach, ist jedoch zweifelhaft.

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Um die Mitte des 18. Jhs. verlagerte sich das Zentrum der jüdischen Presse von den Niederlanden nach Deutschland. Nach Art der literarisch-philosophischen Wochenschriften begründete Moses Mendelssohn zusammen mit Tobias Back (auch Tobias Bock) in Berlin 1755 die erste „jüdische Zeitschrift“, den hebräischen Kohelet Musar („Sittenprediger“), von dem nur zwei Ausgaben von je acht Seiten erschienen. Etwas erfolgreicher war ha-Meassef („Der Sammler“, Königsberg/Berlin u.a. 1783–1812), der von Schülern Mendelssohns herausgegeben und schnell zum hebräischen Sprachrohr der Berliner Haskala wurde. Für ein breiteres jüdisches Publikum waren dagegen Der grosi Schojplatz (Neuwied 1751–52?) und die Dihernfurter pripilegirte Zejtung (Dyhernfurt 1771–72) bestimmt, zwei kurzlebige, annähernd hochdeutsche Unterhaltungs- oder Nachrichtenblätter, die sich zwar der hebräischen Schrift bedienten, aber keinen spezifisch jüdischen Inhalt besaßen. Erst die Sulamith (Dessau u. a. 1806–48) wandte sich schließlich als erstes jüdisches Periodikum ganz dem Hochdeutschen zu. Mit ihr beginnt eine neue Epoche in der europäisch-jüdischen Pressegeschichte.

Grundzüge der sprachlichen Differenzierung der jüdischen Presse in Europa Das Hebräisch des ausgehenden 18. Jhs. war ohne Zweifel die Sprache der Maskilim. In der Wiederbelebung und Profanisierung der „heiligen Sprache“ (Leschon ha-Kodesch) sahen sie nicht nur die Fortsetzung der – neben der jeweiligen Landessprache – traditionellen Zweisprachigkeit des aschkenasischen Judentums, sondern auch die Erfüllung einer biblischen Verheißung. Abgesehen von den Amsterdamer Pri Ez Chajim diente daher gerade die hebräische Presse mit ha-Meassef an der Spitze als Medium zur Umsetzung des gigantischen Bildungsprogramms der Haskala. Ihr Schwerpunkt verlagerte sich ab 1820 zunächst nach Österreich, Böhmen und Galizien, wo zuerst die Bikurei ha-Itim („Erstlingsfrüchte der Zeiten“, Wien 1820/21–31) zum Sprachrohr der Maskilim wurden. Alle Zeitschriften hatten stark literarischen Charakter, trugen damit jedoch – wie später auch haSchachar („Die Morgenröte“, Wien 1869–84) – entscheidend zur Entwicklung der neuhebräischen Literatur und Alltagssprache bei. Vom Beginn einer hebräischen Presse im engeren Sinne läßt sich erst nach 1850 für das zaristische Rußland, Litauen und Polen sprechen. Den Anfang machte das wöchentliche „Dreigestirn“ von ha-Magid („Der Künder“, 1856–92), aufgrund der russischen Zensurbestimmungen noch in der ostpreußischen Grenzstadt Lyck erschienen, ha-Karmel („Der Obstgarten“, Wilna 1860–80) und ha-Meliz („Der Mittler“, Odessa/St. Petersburg 1860–1904/05). Zunächst weniger erfolgreich war haZefirah („Die Morgenröte“ oder „Alarmsignal“, Warschau u. a. 1862–63 und 1874–1914). 1886 läutete schließlich ha-Jom („Der Tag“, St. Petersburg) die große Epoche der hebräischen Tagespresse in Osteuropa ein. Er wurde jedoch schon 1887 von der Konkurrenz eingeholt. Nach den großen Pogromen von 1881 wandte sich fast die gesamte hebräische Presse in Osteuropa der Bewegung der Chibbat Zion („Liebe zu Zion“) und 1897 dem Zionismus zu. Allein bis 1904 lassen sich 149 hebräischsprachige Periodika (23%) in Europa

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nachweisen. Ihr Ende sollte jedoch bereits am Vorabend des Zweiten Weltkrieges kommen. Als neue Zentren etablierten sich statt dessen die USA (seit 1870) bzw. Palästina/ Israel (seit 1863). Weltweit liegt die hebräische Presse heute – nach der englisch-jüdischen – auf dem zweiten Platz. Im Gegensatz zum Hebräischen galt das Jiddische den jüdischen Aufklärern nicht als eigenständige Sprache, sondern lediglich als „Jargon“ und wurde daher bis in die achtziger Jahre des 19. Jhs. bekämpft. Nach den bereits erwähnten Frühformen der jüdisch-deutschen Presse und einigen erfolglosen Gründungsversuchen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts (so 1823/24 in Warschau) kann eigentlich erst seit den sechziger Jahren von einer „jiddischen Presse“ im engeren Sinne gesprochen werden. Den Anfang machte das Wochenblatt Kojl Mevaser („Die verkündende Stimme“, Odessa 1862–71), das noch unter hebräischem Titel als Beilage zu ha-Meliz erschien. Es gilt als Meilenstein in der Entwicklung der jiddischen Sprache und Literatur. Als neue Zentren der modernen jiddischen Presse etablierten sich sehr schnell Polen, Galizien und Litauen, daneben seit 1863 auch Wien, 1867 London, 1871 New York und 1892 Paris. Spätestens in den achtziger Jahren schien sich das Jiddische dann vollständig vom Hebräischen emanzipiert zu haben und verband sich gegen Ende des Jhs. vorrangig mit den verschiedenen Strömungen des jüdischen Sozialismus. Die jiddische Presse diente dabei als Alltagsmedium für jüdische wie nicht-jüdische Themen. Angefangen mit dem Jidischen Telegraf (Bukarest 1877–78) erlebte besonders die jiddische Tagespresse noch vor der hebräischen eine beispiellose Blüte. Bis 1904 lassen sich für Europa 80 jiddische Periodika (12%) nachweisen. Allein in Polen sollen bis 1939 dann mehr als 250 erschienen sein, davon noch am Vorabend des Zweiten Weltkrieges 27 Tageszeitungen, unter anderem Hajnt (Warschau 1908–39) und Der Moment (Warschau 1910–39). Weltweit lag die jiddischsprachige Presse damit an erster Stelle, heute an dritter. Ähnlich wie das Hebräische in großen Teilen des aschkenasischen Judentums, so blieb auch das Jüdisch-Spanische (Ladino) im sefardischen Judentum zunächst der religiösen Sphäre vorbehalten und diente kaum als Alltags- und folglich Zeitungssprache. In der jüdischen Pressegeschichte spielten jüdisch-spanische Periodika daher eine eher untergeordnete Rolle und wurden oft zwei- oder mehrsprachig gedruckt. Ihre eigentliche Blütezeit liegt in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. Neben Wien und Paris erschienen sie vorrangig in den Balkanstaaten, das heißt in der Türkei, Griechenland, Bulgarien und einigen Mittelmeerinseln, bis diese Zentren nach 1939 weitgehend zerstört wurden. Das erste bekannte jüdisch-spanische Periodikum nach der Gazeta de Amsterdam, die Chronica Israelitica, erschien erst 1842 auf Gibraltar. Seit 1860 brachten dann vor allem die in Konstantinopel erschienenen Blätter den jüdisch-spanischen Journalismus zu seiner eigentlichen Blüte, so El Journal Israelith (1860–71), El Tiempo (1871–1930) oder El Telegrapho (1872–?). Bis 1904 lassen sich 41 Periodika (6%) für Europa nachweisen. Um die Jahrhundertwende trugen Zionismus und Sozialismus nochmals zu einem bescheidenen Aufschwung jüdisch-spanischer Periodika bei. Den weitaus größten Teil der europäisch-jüdischen Presse machten – seit 1806 mit Deutschland an der Spitze – jüdische Periodika in den jeweiligen Landessprachen aus. Ihre Entwicklung war aufs engste mit dem Gang der Emanzipation und der Entstehung der

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europäischen Nationalstaaten verbunden. Kommunikationsgeschichtlich ist dies insofern von Bedeutung, als erst durch die Landessprache – meist ging der Presse die Predigt voraus – eine nach außen gerichtete jüdische Öffentlichkeit konstituiert und ein Medium zur Artikulation spezifisch jüdischer Interessen geschaffen wurde. Insbesondere in den Landeshauptstädten konnten sich auf Dauer jeweils nur einzelne, jedoch führende jüdische Blätter etablieren, so die Allgemeine Zeitung des Judenthums (Leipzig/Berlin 1837–1922), Les Archives Israélites de France (Paris 1840–1935) bzw. L’Univers Israélite (Paris 1844–1940), The Jewish Chronicle (London 1841 ff.), das älteste jüdische Periodikum überhaupt, das Nieuw Israelietisch Weekblad (Amsterdam 1865ff.) oder das Israelitische Wochenblatt für die Schweiz (Zürich 1901 ff.). Tendenziell läßt sich beobachten, daß die ersten landessprachlichen Presseerzeugnisse in West- und Mitteleuropa (einschließlich Österreich und Ungarn) bereits vor der Revolution von 1848/49 erschienen, in Ost- und Südosteuropa danach und in Nordeuropa sogar erst ab 1914. Bis 1904 lassen sich für Europa 392 landessprachliche Periodika (59%) nachweisen.

Die typologische und organisatorische Differenzierung des europäisch-jüdischen Pressewesens Die Geschichte der europäisch-jüdischen Presse wurde in der Forschung bislang kaum als Teil der Presseentwicklung der einzelnen Länder oder Europas insgesamt verstanden. Ein Blick auf die typologische Differenzierung der jüdischen Periodika zeigt jedoch bereits bemerkenswerte Parallelen insbesondere zur Geschichte des europäischen Zeitschriftenwesens. Die jüdische Entwicklung scheint dabei um etwa ein Jahrhundert zurückversetzt. Sie durchlief dann einen rasanten Aufholprozeß bis in die erste Hälfte des 19. Jhs. Frühformen der Presse wie „Relationen“, „Newe Zeytungen“ oder Flugblätter sind im jüdischen Bereich nicht nachweisbar. Daß dagegen die ersten jüdischen Periodika vorrangig Handelsnachrichten enthielten, offenbart die Nähe zur Entstehung einer „bürgerlichen Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas) in Europa. Vor allem die Zeitschriften der europäischen Aufklärung fanden in der jüdischen Presse ihre Nachahmung, vornan die „Moralischen Wochenschriften“ mit ihrer Verbindung von Unterhaltung und Belehrung, wie sie später auch für Kohelet Musar, ha-Meassef und Sulamith typisch war. Es folgten die literarisch ausgerichteten „Gelehrten Zeitungen“, meist von Einzelpersonen oder den neuen wissenschaftlichen Gesellschaften herausgegeben, die noch im 18.Jh. durch einzelne Fachzeitschriften abgelöst wurden. Als Beispiel sei dafür die Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums (Berlin 1822–23) genannt. Die Französische Revolution schuf schließlich den Typus der literarischen bzw. historisch-politischen Zeitschriften, die der Zensur zunächst weniger verdächtig erschienen als entsprechende Zeitungen. Ihnen entsprach die Allgemeine Zeitung des Judenthums, die jedoch auch schon – auf der Höhe ihrer Zeit – die Einrichtung des Leitartikels von den großen Tageszeitungen übernahm und so zum Vorbild für alle nachfolgenden allgemeinpolitisch orientierten jüdischen Periodika wurde.

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Abgesehen von der jüdischen (fast ausschließlich jiddischen oder hebräischen) Tagespresse etablierte sich das meist als „Sabbat-Lektüre“ konzipierte Wochenblatt bis in die Gegenwart als Prototyp aller jüdischen Presseerzeugnisse. Der Übergang von der „Zeitschrift“ zur „Zeitung“ war dabei fließend. Eine gewisse Unterscheidung ist dagegen zwischen dem Typus der jüdischen literarisch-historisch-politischen „Zeitblätter“ („newspaper“) und dem der literarisch-wissenschaftlich-religiösen „Zeitschriften“ („journal“ oder „magazine“) zu machen. Da sich letztere meist nur an einen eingeschränkten Leserkreis wandten, erreichten sie lediglich bei Anbindung an wissenschaftliche Institutionen eine längere Existenzdauer. Als besonderes Merkmal der europäisch-jüdischen Presse darf ohnehin – zumindest bis 1945 – ihre Zersplitterung und Kurzlebigkeit gelten. In den meisten Fällen hing dies mit den erschwerten Bedingungen der Redaktionsarbeit zusammen, sei es durch Zensur oder Verfolgung, sei es aus Finanz-, Zeit- oder Personalmangel. Bis in die siebziger Jahre des 19. Jhs. dürften die wenigsten jüdischen Periodika über einen eigenen Redaktionsstab verfügt haben. Sie wurden meist nebenberuflich von einzelnen Rabbinern, Privatgelehrten oder Lehrern herausgegeben, unterstützt durch ein mehr oder weniger dichtes Netz von privaten Korrespondenten. Erst mit Einführung der Pressefreiheit 1848 und der nachfolgenden Revolutionierung des Presse- und Nachrichtenwesen professionalisierte sich auch der jüdische Journalismus, vorrangig in den Hauptstädten West- und Mitteleuropas. Dazu trug seit 1897 zusätzlich die zionistische Bewegung bei, die mit der Neuen Jüdischen Korrespondenz (N.J.K.) in Berlin von 1907–14 die erste jüdische Nachrichtenagentur einrichtete, aus der 1914/19 die Jewish Telegraphic Agency (seit 1922 in New York) hervorging. In Osteuropa blieb die jüdische Presse dagegen weiterhin durch Zensur und Verfolgung gefährdet. Auch im Bereich von Druck und Vertrieb erhielt die jüdische Presse erst nach 1850 entscheidende Impulse, sei es durch die Spezialisierung von Verlagswesen und Buchhandel oder später die Einführung der Setzmaschine (1885), sei es durch die Organisation des Postwesens oder den Ausbau des Eisenbahnnetzes in Europa. Zuvor waren jüdische Periodika – oft mit erheblichen Verzögerungen – direkt bei einzelnen Druckerverlegern oder Verlagsbuchhandlungen erschienen und über letztere oder den Postweg vertrieben worden. Über die organisatorischen und technischen Details des jüdischen Pressewesens ist bis heute leider nur wenig bekannt. Über Finanzierung und Auflagenhöhe mußte beispielsweise in Deutschland erst nach 1933 detailliert Rechenschaft abgelegt werden. Für die Zeit davor bleibt die Forschung weitgehend auf freiwillige Angaben oder Schätzungen angewiesen. Ebenso schwierig ist es zumindest bis zum Ende des 19. Jhs., die Rezeption der jüdischen Presse zu erfassen. Über Leserschaft und Leseverhalten geben die Periodika selbst kaum Aufschluß; andere Quellenarten wie Memoiren, Tagebücher oder Briefe bedürfen noch einer entsprechenden Auswertung. Innerhalb der jüdischen Lesergruppe ist jedoch davon auszugehen, daß zumindest die „Zeitblätter“ über verschiedene Multiplikatoren, Lesezirkel oder Gemeindebibliotheken eine beachtliche Breitenwirkung entfalteten, die selbst an der Auflagenhöhe nur bedingt abzulesen wäre. Zahlreiche Polemiken bzw. Zitate aus anderen

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Periodika belegen zudem die nationale wie internationale Vernetzung der europäisch-jüdischen Presse. Abgesehen von der jüdischen Tagespresse erfüllten die Wochenblätter immer die Funktion eines komplementären Informations- und Artikulationsmediums für spezifisch jüdische Themen. Erst nach 1933, unter nationalsozialistischer Herrschaft, übernahmen sie für Juden und Jüdinnen auch die Rolle der allgemeinen Presse.

Die europäisch-jüdische Presse im Zeitalter der Emanzipation (1780–1918) Die Entstehung einer „jüdischen Öffentlichkeit“ fällt eindeutig mit dem Beginn der Emanzipationsdebatte in Europa seit etwa 1780 zusammen. Vor allem die jüdischen „Zeitblätter“ in der jeweiligen Landessprache übernahmen dabei lange vor der Gründung anderweitiger Institutionen die Funktion einer Kommunikations- und Organisationszentrale auf nationaler wie übernationaler Ebene. Dies galt sowohl nach innen als auch nach außen, ob als Mitteilungsorgan für die jüdischen Gemeinden oder als Medium der Volksbildung, vor allem im Zusammenhang mit den Kontroversen um eine religiöse Reform, oder als Sprachrohr spezifisch jüdischer Interessen im Kampf um die rechtliche Gleichstellung bzw. gegen judenfeindliche und anti-emanzipatorische Stimmen in der nicht-jüdischen Öffentlichkeit. Die äußere Geschichte des europäisch-jüdischen Pressewesens blieb stets mit der allgemeinen politischen Entwicklung verbunden. Bis zum Jahr 1918, in dem der langwierige Prozeß der Emanzipation auch in Ost- und Südosteuropa weitgehend abgeschlossen werden konnte, lassen sich insgesamt fünf große Phasen unterscheiden: (1.) In den Jahren der großen geistigen und politischen Umwälzungen infolge von Aufklärung und Französischer Revolution, in denen Zeitschriften und dann Zeitungen allgemein zu Organen des politischen Meinungskampfes wurden, schalteten sich – wenn auch zögerlich – einzelne jüdische Periodika in der Landessprache ein. Sie wurden meist von der ersten Generation der Maskilim getragen und orientierten sich ganz am Dohmschen Konzept einer „bürgerlichen Verbesserung“, verstanden sich also eher als Erziehungsorgane nach innen. Den Anfang machte Sulamith. Eine Zeitschrift zur Beförderung der Kultur und Humanität unter der jüdischen Nation („Die Friedliebende“, Dessau u. a. 1806–48), die für Jahre zum Vorbild aller folgenden Periodika werden sollte. Ein gleichnamiges Monatsblatt in Amsterdam (1806–08) markierte den Beginn der landessprachlichen jüdischen Presse in den Niederlanden, die sich dort jedoch erst nach 1848/49 richtig entfaltete. (2.) Nach dem Wiener Kongreß von 1815, der mit der staatlichen Neuordnung Europas auch für die jüdische Bevölkerung eine Phase der Restauration und Reaktion einläutete, geriet die Entwicklung des jüdischen Pressewesens ins Stocken. Unter den verschärften Bedingungen der Zensur konnte sich kaum ein jüdisches Blatt länger als ein Jahr halten und lange Zeit blieb die Sulamith europaweit nahezu das einzige jüdische Organ. 1819 erschien mit Siona das erste deutschsprachige Periodikum in Wien, während 1823 The Hebrew Intelligencer in London den Beginn der jüdischen Presse in Großbritannien markierte. Letztere kann seitdem auf eine weitgehend ungestörte und traditionsreiche Entwicklung zurückblicken. (3.) Erst die schrittweise Liberalisierung des

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politischen Klimas in Europa gab den Anstoß zur Herausbildung eines jüdischen Pressewesens im engeren Sinne. Deutschland machte dabei wiederum den Anfang: Getragen von der zweiten, sehr viel selbstbewußteren jungen jüdischen Generation erschienen dort bereits unter dem unmittelbaren Einfluß der französischen „Julirevolution“ von 1830 die ersten politisch orientierten „Zeitblätter“ wie Der Jude (Altona 1832–33/35) von Gabriel Riesser, Ludwig Philippsons Allgemeine Zeitung des Judenthums (1837), Der Orient (Leipzig 1840–51) und andere. Sie wurden zu den Trägern einer eigenständigen jüdischen Emanzipationsbewegung der Vormärzzeit. Als Auslöser für die Politisierung und grenzüberschreitende Vernetzung der jüdischen Presse im übrigen (West-)Europa gilt erst die „DamaskusAffäre“ von 1840: Nachfolgend erschienen unter anderem in Paris Les Archives Israélites de France (1840) und in London The Jewish Chronicle (1841). In die frühen vierziger Jahre des 19. Jhs. fällt zudem mit Ausnahme der Schweiz (1834) der Beginn der landessprachlichen jüdischen Presse in Belgien (1841), Italien (1845) und Ungarn (1846). (4.) Die Revolution von 1848/49 setzte schließlich die größte Zäsur für die europäische Pressegeschichte insgesamt. Nach zumindest formaler Aufhebung der Zensur stieg auch die Zahl der jüdischen Periodika erheblich an. Diese schlossen sich den jeweiligen Nationalbewegungen meist liberal-demokratischer Prägung an, nachdem die jüdischen Hoffnungen auf eine sofortige Gleichstellung weitgehend enttäuscht worden waren. 1848 begann Max Letteris in Wien eine rege Herausgebertätigkeit, war damit jedoch erst 1854 wirklich erfolgreich. Nachfolgend erschienen in Wien die liberalen Blätter Die Neuzeit (1861–1904), Die Wahrheit (1885–1938) und Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift (1884–1920). In Ungarn neigte die jüdische Presse stärker dem Nationalismus zu: Allein die Hälfte der bis 1942 ca. 100 Periodika erschien – angefangen mit Magyar Zsinagóga (Papa 1846–47) – in ungarischer, etwa ein Drittel in deutscher Sprache. Letztere war wiederum in Böhmen seit 1863/64 dominierend: Erst mit Rozvoj (Prag 1894–1932) wurde dort ein dezidiert tschechisch-jüdisches Blatt begründet. 1849 läutete in Amsterdam das Nederlands Israelietisch Nieuws- en Advertentieblad, bis 1893 unter wechselnden Titeln fortgesetzt, das moderne holländisch-jüdische Pressewesen ein. In Deutschland geriet die jüdische Presse 1848/49 dagegen zusammen mit dem Buchhandel in eine ernste Krise, erholte sich jedoch bereits Anfang der fünfziger Jahre des 19. Jhs. Seitdem nahm die Zahl der langlebigen Periodika – bis 1938 – kontinuierlich zu. Als spezifisch deutsch-jüdisches Blatt sei das Organ des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.), Im Deutschen Reich (Berlin 1895–1921; 1922–38 als C.-V.-Zeitung fortgesetzt), genannt. Im bis 1864 umkämpften Dänemark erschien erst 1865 die erste dänisch-jüdische Zeitschrift. In Ost- und Südosteuropa blieb die jüdische Presse auch nach 1848/49 weiterhin von Zensur und Repression bedroht. Besonders unter zaristischer Herrschaft waren Konzessionen nur sehr schwer zu bekommen, so 1860–61 für Rassvjet, das erste russisch-jüdische Periodikum in St. Petersburg, und 1861–63 für Jutrzenka, das erste polnisch-jüdische in Warschau. 1861 erschien auch in Griechenland das erste landessprachliche Blatt, in Rumänien 1857, unmittelbar nach Vereinigung der Fürstentümer Moldau und Walachei, u. a. gefolgt von Egalitatea (Bukarest 1890–1940). (5.) Ähnlich wie die „Damaskus-Affäre“ von 1840 riefen die verheerenden Pogrome in Osteuropa nach der

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Ermordung Zar Alexanders II. 1881 ein verstärktes Bedürfnis nach Information und Aufklärung der Öffentlichkeit hervor. Kurz zuvor hatte sich zudem von Deutschland ausgehend die Bewegung des modernen, parteipolitisch organisierten Antisemitismus formiert. Als direkte Antwort darauf kam es 1881/82 zu zahlreichen Neu- oder Erstgründungen jüdischer Presseorgane, so in Ungarn, Bulgarien und Lettland, während gleichzeitig in Polen, Rußland und der Ukraine die hebräische und jiddische Presse zu blühen begann. Dies war auch dem Umstand zu verdanken, daß dort in den achtziger Jahren die Bewegung der Chibbat Zion entstand. Sie mündete Ende der neunziger Jahre in den politischen Zionismus, der wiederum – neben den Gegnern einer jüdischen Nationalbewegung – mit dem jüdischen Sozialismus in ernsthafte Konkurrenz treten mußte. In nahezu jedem europäischen Land schlossen sich jüdische Periodika der einen oder anderen Richtung an. Aus der Fülle der zionistischen Neugründungen sind etwa Nathan Birnbaums Selbst-Emanzipation (Wien/Berlin 1885–95), die Jüdische Rundschau (Berlin 1895–1938), Theodor Herzls zionistisches Zentralorgan Die Welt (Wien/Köln/Berlin 1897–1914), De Joodsche Wachter (Rotterdam 1905 ff.) und die Selbstwehr (Prag 1907–39) zu nennen. Im Ringen um die sogenannte „Judenfrage“ war damit noch am Ende des 19. Jhs. eine jüdische Presse oder, wie Robert Weltsch 1957 rückblickend schrieb, eine „Presse des Judentums“ entstanden, die sich über den eigenen Bereich der Religion, Wissenschaft oder Emanzipation hinaus als allgemein politisch verstand. Damit verschwammen auch die Grenzen zur nicht-jüdischen Presse. Dienten vor allem die europäisch-jüdischen „Zeitblätter“ nach außen bis 1918 als Sprachrohr der rechtlichen Gleichstellung, so nahm die jüdische Zeitschriftenpresse innerhalb der jüdischen Gemeinschaft die Funktion der Organisation, Information und Kommunikation, Bildung und Erziehung, Erbauung und Unterhaltung wahr – über die verschiedenen staatlichen, rechtlichen, sprachlichen und kulturellen Grenzen hinweg. Dabei sind besonders drei Zeitschriftentypen zu nennen: (1.) Die fast ausschließlich wissenschaftlich, literarisch oder pädagogisch orientierten jüdischen Fachzeitschriften, die sich im Laufe des 19. Jhs. vor allem in Deutschland aus dem Typus der „Moralischen Wochenschriften“ entwickelten, dienten als Organ der Haskala und der „Wissenschaft des Judentums“. Zu ihrem Vorbild wurde die kleine, jedoch bedeutende Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums (Berlin 1822/23) unter der Redaktion von Leopold Zunz. Ihr folgten unter anderem Abraham Geigers Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie (Frankfurt a. M. u. a. 1835–48) und die Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums (Breslau u. a. 1851–1939/41). Aus der Fülle der Publikationen in anderen europäischen Staaten ist besonders die traditionsreiche Revue des Études Juives (Paris 1880ff.) zu nennen. (2.) Der Übergang von den jüdischen „Zeitblättern“ zu ausschließlich religiös orientierten Zeitschriften war dagegen fließend. Noch bis in die vierziger Jahre des 19. Jhs. waren fast alle Periodika unter dem Einfluß der Haskala reformorientiert. Die Ausdifferenzierung der liberalen, orthodoxen bzw. konservativen Strömungen trug dann jedoch zu einem sprunghaften quantitativen wie qualitativen Wachstum bei. Unter den ersten orthodoxen Organen finden sich The Voice of Jacob (London 1841–48), L’Univers Israélite (Paris 1844–1940) und

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Der Treue Zions-Wächter (Hamburg/Altona 1845–54). In Osteuropa erschienen orthodoxe Blätter dagegen erst nach der Jahrhundertmitte. (3.) Eine dritte Stufe der innerjüdischen Presseentwicklung stellen die zahlreichen Gemeinde- und Familienblätter dar, die erst seit Ende des 19. Jhs., also meist bereits nach Abschluß der rechtlichen Gleichstellung und Anerkennung der jüdischen Gemeinden, erschienen. Für Deutschland sei das Israelitische Familienblatt (Hamburg 1898–1938) genannt, das auch überregionale Bedeutung erlangte. Erste Gemeindeblätter erschienen in Berlin 1911, in Frankfurt a. M. 1922 und in München 1924.

Die europäisch-jüdische Presse im Zeitalter der Weltkriege (1914/18–1945) Mit den politischen, geistigen und demographischen Umwälzungen des Ersten Weltkriegs brach für die europäisch-jüdische Presse ein „goldenes Zeitalter“ an. Nach außen war der Prozeß der Emanzipation 1918 weitgehend abgeschlossen, der Versailler Vertrag brachte 1919 zudem die völkerrechtliche Anerkennung als nationale Minderheit in Osteuropa. Innerjüdisch hatten sich die politischen und religiösen Hauptströmungen bereits formiert, und so schuf sich nahezu jede jüdische Gruppierung von der Zensur weitgehend unbehelligt ihre eigenen Presseorgane. Berlin wurde gleichsam zur europäisch-jüdischen „Pressehauptstadt“. In Wien erschien 1919–27 mit der zionistischen Wiener Morgenzeitung die erste und einzige deutschsprachige jüdische Tageszeitung und im unabhängigen Polen kam die jiddische Tagespresse zu beispielloser Blüte. In Frankreich wurden erst nach 1918 54% der dort bis 1940 erschienenen jüdischen Periodika neu gegründet und in Belgien sogar 93 %. Auch in Nordeuropa entstanden nun erstmals jüdische Presseorgane, so in Schweden (1914), Litauen (1915?), Norwegen (1917), Finnland (1918) und Estland (1920). In der jungen Sowjetunion dagegen erlebte die jüdische Presse nur während der Revolution 1917–19 eine kurze Blüte und wurde dann schrittweise unterdrückt. Das Jiddische wurde zwar als Nationalsprache anerkannt, das Hebräische jedoch ganz verboten. Inhaltlich ging es in der europäisch-jüdischen Presse nach 1918 besonders um die Auseinandersetzung mit dem virulenten Antisemitismus – so etwa in den jüdischen Veteranenorganen Der Schild (Berlin 1921–38) und Die Jüdische Front (Wien 1931–38) – und um den Konflikt zwischen Zionismus und Nationalismus. Hinzu kamen die religiösen Flügelkämpfe zwischen liberaler Bewegung und Orthodoxie. Letztere schuf sich vor allem in Ungarn einen eigenen Pressesektor. Die fortschreitende Institutionalisierung der „Wissenschaft des Judentums“ ebenso wie die Blüte des jüdischen Vereinswesens und speziell der Jugendbünde ließ die Zahl entsprechender Organe nach 1918 erheblich anwachsen. Dasselbe gilt auch für zahlreiche Gemeindeblätter. Diese Fülle und Vielfalt der europäisch-jüdischen Presse dokumentierte 1928 die intern sehr umstrittene „Jüdische Sonderschau“ auf der Internationalen Presseausstellung „Pressa“ in Köln. Mit dem Jahr 1933 änderte sich diese Situation schlagartig. Unter nationalsozialistischer Herrschaft konnte die jüdische Presse in Deutschland zwar noch bis zum 10. 11. 1938 legal fortbestehen, ihre Funktion wandelte sich jedoch grundlegend: Mit zunehmender Ein-

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engung des jüdischen Lebensbereiches wurden die drei großen jüdischen Blätter Jüdische Rundschau, C.-V.-Zeitung und Israelitisches Familienblatt zur einzigen Informationsquelle für jüdische Belange. Sie waren Sprachrohr nach außen und „Seelsorgeorgane“ nach innen. Das inhaltliche Spektrum wurde erweitert, die Zahl der Beilagen nahm deutlich zu. Nach dem Verbot der ca. 60 noch verbliebenen Periodika bestand lediglich das nationalsozialistisch kontrollierte Jüdische Nachrichtenblatt (Berlin 1938–43) fort. In den europäischen Ländern unter deutscher Besatzung gehörte das Verbot der jüdischen Presse meist zu den ersten Maßnahmen der Nationalsozialisten, so bereits 1938 in Österreich und Ungarn, 1939 in Polen und Böhmen, 1940 in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Dänemark und Bulgarien, 1941 in Rumänien und der Sowjetunion. Es wird geschätzt, daß dieser größten Katastrophe in der jüdischen Pressegeschichte europaweit etwa 850 Periodika zum Opfer fielen. Statt dessen wurden wie schon in Deutschland fünf weitere offizielle Mitteilungsblätter eingerichtet: 1938 das Jüdische Nachrichtenblatt (Wien), 1939 die Gazeta Zˇ ydowska (Krakau) und das Jüdische Nachrichtenblatt-Zidowská Listy (Prag), 1940 die Informations Juives (Paris) und das Joodsche Weekblad (Amsterdam). Neben verschiedenen Untergrundorganen bestand eine unabhängige jüdische Presse lediglich in Großbritannien, Schweden, der Schweiz und der Türkei weiter. Zum Zentrum der deutsch-jüdischen Exilpresse wurde Frankreich.

Kontinuität und Neubeginn der jüdischen Presse in Europa nach 1945 Bis heute bleibt fraglich, ob für die jüdische Presse in Europa nach 1945 überhaupt von einer Kontinuität zur Zeit davor gesprochen werden kann. Neben der Schweiz hatte nur Großbritannien mit dem Jewish Chronicle an der Spitze eine wirklich ungebrochene Tradition vorzuweisen. London wurde zudem zum Sitz verschiedener jüdischer Pressedienste und neben Paris über die Nachkriegsjahre hinaus zum Zentrum einer florierenden jiddischen Presse. In Frankreich war der Vorkriegscharakter der jüdischen Presse schnell wiederhergestellt, wobei L’Arche (Paris 1957 ff.) zum Ausdruck der erneuerten jüdischen Gemeinschaft wurde. Als ebenso vital erwies sich die jüdische Presse in Belgien. Dort erschien u. a. 1954 zum ersten Mal das Belgisch Israelietisch Weekblad. In den Niederlanden setzten das Nieuw Israelietisch Weekblad und De Joodsche Wachter ihr Erscheinen fort, in Italien Israel (Florenz 1916ff.) und Rassegna Mensile di Israel (1925ff.). Unter den neu begründeten Periodika machten zunächst die Lagerzeitungen den Anfang. Sie erschienen meist unmittelbar nach der Befreiung in den sogenannten „Displaced Persons Camps“ („DP“-Lager) oder größeren Städten in Deutschland, Österreich, Belgien, Italien, der Tschechoslowakei, Polen und Rumänien. Bis zur Auflösung der „DP“-Lager Anfang der fünfziger Jahre entstanden so – angefangen mit der Landsberger Lager-Zeitung – etwa 120 ähnliche Organe. Die deutschsprachige jüdische Presse blieb nach 1945 in Deutschland wie Österreich nur ein Schatten dessen, was sie vor 1938 war. Neben verschiedenen Gemeindezeitungen und Publikationen des Zentralrats der Juden in Deutschland erlangte besonders die Allgemeine jüdische

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Wochenzeitung, die 1946 in Düsseldorf als regionales Mitteilungsblatt gegründet worden war, eine herausragende Stellung für den Neubeginn jüdischen Lebens. In Osteuropa wurden dagegen die bescheidenen Anfänge einer freien jüdischen Presse unter kommunistischer Herrschaft schon bald zunichte gemacht, so 1948 in der UdSSR, der Tschechoslowakei und Ungarn, 1949 in Polen und 1953 in Rumänien. Was blieb, waren meist nur einzelne Gemeindeblätter oder linientreue Organe. Nach einer Statistik für das Jahr 1967 erschienen europaweit 178 jüdische Periodika, davon 54 in Englisch, 41 in Französisch, 25 in Jiddisch und 22 in Deutsch. Europa lag damit auf dem dritten Platz (20%) der weltweit erschienenen jüdischen Periodika (886), hinter Asien (35%) und den USA (28%). Eine gewisse Ausnahme in der Nachkriegsentwicklung der jüdischen Presse in Europa stellen die wissenschaftlichen Periodika dar, die meist an entsprechende Institutionen angegliedert blieben und seit Mitte der achtziger Jahre besonders in Deutschland geradezu eine Renaissance zu erleben scheinen. Neben den zahlreichen europäischen Publikationen, die sich seit 1948 mit der Region des Nahen Ostens und Israel befassen, sind für Frankreich etwa die traditionsreiche Revue des Études Juives, Le Monde Juif (Paris 1946ff.) und Archives Juives (Paris 1965 ff.) zu nennen, für Großbritannien The Journal of Jewish Studies (London/Oxford 1948 ff.), The Jewish Journal of Sociology (London 1959 ff.) und Polin (Oxford 1986 ff.), für die Niederlande die Studia Rosenthaliana (Amsterdam 1966 ff.). In Deutschland erlangten zuerst die verschiedenen Publikationen des Leo Baeck Institute – vornan das LBI Year Book (London/Jerusalem/New York 1956 ff.) – erhebliche Bedeutung, gefolgt von den Germania Judaica (Köln 1960 ff.), dem Tel-Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte (Gerlingen 1972 ff.) und den Frankfurter judaistischen Beiträgen (Frankfurt a. M. 1973 ff.). 1986 machte schließlich Babylon (Frankfurt a. M.) den Anfang in einer ganzen Reihe von Neugründungen, so 1987 Trumah (Wiesbaden), 1990 Menora (München u. a.), 1991 Aschkenas (Wien/Köln), 1992 das Jahrbuch für Antisemitismusforschung und Jüdischer Almanach (beide Frankfurt a. M.), 1993/94 das Jewish Studies Quarterly (Tübingen), 1996 das Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust (Frankfurt a.M.) und andere. Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert nach der größten Katastrophe in der Geschichte des europäischen Judentums, mehren sich die Anzeichen, daß die jüdische Presse in Europa erneut an einem Wendepunkt steht. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Staatensystems in Osteuropa und den damit verbundenen demographischen Veränderungen bleibt zu hoffen, daß jüdische Periodika in Zukunft nicht nur zu einem Spiegel der Vergangenheit, sondern auch lebendiger jüdischer Gegenwart werden.

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Die Juden und die christliche Gesellschaft

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Dietmar Willoweit

Die rechtliche Stellung der Juden im Mittelalter Der Rechtsstatus der Juden unter christlichen Kaisern und Königen So wenig wir über jüdisches Leben im niedergehenden Weströmischen Reich und in den entstehenden germanischen Nachfolgestaaten wissen, so gering sind auch unsere Kenntnisse über die damaligen Rechtsverhältnisse, unter denen die Juden lebten. Sicher scheint nur, daß die wenigen Schutzprivilegien Kaiser Ludwigs des Frommen, unter anderem für die ganze Judenschaft von Lyon, nicht als exemplarische Restüberlieferung eines so oder ähnlich überall im Frankenreich anzutreffenden Rechtsstatus gedeutet werden können. Dafür dürfte die Zahl der jüdischen Gemeinden zu groß und die Privilegierungspraxis zu sporadisch, jedenfalls nicht bürokratisch einheitlich gehandhabt worden sein. Dennoch gewähren diese frühen Schutzprivilegien wertvolle Einblicke in das früh- bis hochmittelalterliche Judenrecht, nicht zuletzt deshalb, weil sie den Privilegien für christliche Kaufleute ähneln und damit – für diese soziale Schicht – doch so etwas wie durchschnittliche Normalität widerspiegeln. Der Herrscher schützt das Leben der Juden durch eine hohe Strafandrohung, verbietet Eingriffe in ihr Eigentum, gewährt umfassende Zollfreiheiten, ferner das Recht, ihr Leben nach ihren eigenen Gesetzen zu ordnen und Christen in ihre Dienste zu nehmen sowie das Recht ungestörten Sklavenhandels. In gerichtlichen Streitigkeiten kann ein christlicher Kläger gegen einen jüdischen Beklagten nur mit drei christlichen und drei jüdischen Zeugen Erfolg haben, während umgekehrt der jüdische Kläger nur drei christliche Zeugen benötigt. Sicher werden in den beiden folgenden Jahrhunderten, aus denen wir nur sehr wenig über das Recht der Juden im Reiche wissen, derartige Vergünstigungen nicht überall beobachtet worden sein. Aber die großen Privilegien Kaiser Heinrichs IV. für die Juden von Speyer und Worms aus dem Jahre 1090 lesen sich wie eine Fortschreibung des älteren Königsschutzes, der jetzt mit zahlreichen einzelnen Regelungen zunehmend ausdifferenziert wird: Handelsfreiheit im ganzen Reich mit dem Vorrecht, daß gekauftes Diebesgut vom Eigentümer zum Kaufpreis ausgelöst werden muß; Schutz vor Zwangstaufen; Verbot, Juden einem Gottesurteil zu unterwerfen; Anerkennung einer eigenen Gerichtsbarkeit für innerjüdische Streitigkeiten; Freiheit von Abgaben, Einquartierungen und Frondiensten für das Heer und anderes mehr. Kaiser Friedrich I. hat diese Regelungen im Jahre 1157 erneuert und – wahrscheinlich erstmals – auf die ganze Judenschaft des Reiches erstreckt. Dafür spricht einerseits der Wortlaut seines Privilegs, andererseits die rechtspolitische Maxime dieses Herrschers, dem Kaisertum als Quelle allen Rechts und aller Gerichtsbarkeit Anerkennung zu verschaffen. Auch die seit 1103 bezeugte Erwähnung der Juden in den Landfrieden festigt das Bewußtsein von der besonderen Beziehung zum Königtum, spätestens seit 1179 Kaiser Fried-

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rich I. auch den Landfrieden als eine kaiserliche Institution auszugestalten versuchte und darin die Juden einbezogen hatte. Diese bis dahin entstandene Rechtslage spiegelt der zwischen 1220 und 1235 entstandene Sachsenspiegel mit erstaunlicher Genauigkeit wider. Die Zugehörigkeit der Juden zur Sphäre des königlichen Rechts ist keine Besonderheit des römisch-deutschen Reiches. Ganz entsprechende Rechtsvorstellungen finden sich im 12.Jh. auch in Spanien und besonders präzise formuliert in England: Sciendum est, quia omnes Judei, quocumque regno sint, sub tutela et defensione regis ligie debent esse; neque aliquis eorum potest se subdere alicui diviti sine licentia regis, quia ipsi Judei et omnia sua regis sunt. Quodsi aliquis detinuerit eos vel pecuniam eorum requirat rex tanquam suum proprium, si vult et potest (etwa 1135).1

Danach sind die Juden unter dem Schutz des Königs diesem nicht nur „ligie“, also durch eine exklusive Treue- und Gehorsamspflicht verbunden. Sie gehören auch mit all ihrem Hab und Gut dem König. Und damit keinerlei Zweifel entstehen, was das bedeutet, hebt der Verfasser dieses Rechtsbuches noch ausdrücklich das Zugriffsrecht des Königs auf das gesamte Vermögen der Juden hervor. In Frankreich treten im 12. Jh. Juden sowohl als solche des Königs wie auch der Kronvasallen in Erscheinung – eine Rechtslage, die sich mit der Vorstellung einer ursprünglichen Zuständigkeit des Königtums für die Juden gut verträgt, da die Hierarchisierung der Herrschaftsverhältnisse mittels des Lehenrechts unter dem Kaiser oder König in den fortgeschritteneren Ländern zu den politisch signifikanten Vorgängen dieser Zeit gehört. Der englische Rechtstext läßt bereits jenen Gedanken erkennen, der später im römisch-deutschen Reich unter dem Begriff der „Kammerknechtschaft“ seit dem 13. Jh. zunehmend an Gewicht gewann und erhebliche Konsequenzen nach sich zog: Es entsteht – wohl erst im 12. Jh. – die Überzeugung, daß die Juden mit ihrer Person und damit auch mit ihrem gesamten Vermögen Eigentum des Herrschers sind. In Spanien und Deutschland stand zu derselben Zeit noch der fiskalische Aspekt, also die Pflicht der Juden, Abgaben an die königliche Kammer zu leisten, im Vordergrund. Aber die Tendenz des Rechtsdenkens, politische Herrschaft eigentumsrechtlich zu verstehen, war überall in Europa, wo römisches Recht studiert wurde, dieselbe. Nicht nur die Rechtsverhältnisse einzelner Liegenschaften, sondern auch jene ganzer Länder mit ihren Gerichten und Herrschaftsrechten und nicht zuletzt den dort siedelnden Menschen unfreien Standes versuchte man mit der Kategorie des Eigentums zu begreifen. Eben dieses Modell erwies sich als geeignet, auch den Status der Juden und ihre Leistungspflichten gegenüber dem Königtum zu erklären. Die alte theologische Redeweise von der servitus Judaeorum mag dabei eine unterstützende Rolle gespielt haben. Jedenfalls mußte die Kirche dem eigentumsrechtlichen Verständnis der Beziehungen zwischen Königtum und Juden aufgeschlossen gegenüberstehen. Der angedeutete Wandel des Rechtsdenkens war jedoch so umfassend und vielgestaltig mit Auswirkungen in ganz verschiedenen Herrschaftsverhältnissen, daß wir es sicher nicht 1 Leges Edwardi confessoris § 25, ed. Felix Liebermann, Die Gesetze der Angelsachsen, Bd. I, Halle 1903, S. 650.

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mit einer spezifisch judenrechtlichen Problematik zu tun haben. Der Prozeß der Ausbreitung eigentumsrechtlichen Denkens stieß jedoch auch auf Grenzen. Wenn von den Juden als servi die Rede ist, dann heißt dies keineswegs, daß sie auch als Sklaven im Sinne des römischen Rechts behandelt wurden. Vielmehr ist bald eine charakteristische Spaltung ihrer Rechtsstellung zu beobachten. Während die Juden einerseits als selbständige Rechtssubjekte Geschäfte der verschiedensten Art ungehindert tätigen konnten, so daß sie keineswegs als „rechtlos“ bezeichnet werden können, war das Verhältnis zu ihrem Herrn durch dessen latenten, jederzeit realisierbaren Anspruch auf ihr Vermögen gekennzeichnet, und dies mit einer zunehmenden, zuletzt schrankenlosen Tendenz. Diese weitere Entwicklung des Judenrechts in Europa ist am eingehendsten im römisch-deutschen Reich zu beobachten, seit die Juden 1290 aus England und 1306 aus Frankreich ausgewiesen worden waren. Vielleicht neigt deshalb die westeuropäische Forschung eher der Annahme zu, der Servus-Status der Juden sei nur als Analogie zu begreifen, während die Wissenschaft im deutschsprachigen Raum davon überzeugt ist, daß mit dem Rechtsstatus der Juden seit dem 12. Jh. eine reale eigentumsrechtliche Komponente verbunden war. Diese aber trat in den Jahrhunderten des späten Mittelalters mit der allgemeinen Verbreitung von Juristen und ihrer Jurisprudenz stärker hervor. Die beiden Aspekte des Judenrechts, der eigentumsrechtliche im Verhältnis zum König und der gleichsam „privatrechtliche“ Status in der Gesellschaft, begegnen nebeneinander im Privileg Kaiser Friedrichs II. von 1236, in dem erstmals von den Juden als „servi camere nostre“ die Rede ist. Der Kaiser bestätigt die bisherige Privilegierung durch seine Vorgänger in vollem Umfang und verbietet nach eingehender Untersuchung, weiterhin den Vorwurf des Ritualmordes zu erheben. Mit der hier erwähnten Kammerknechtschaft ist weder ein neuer Rechtsstatus der Juden eingeführt noch ihre Rechtsstellung in irgendeiner Weise verschlechtert worden. Das ergibt sich nicht nur aus den Beobachtungen zum 12. Jh., sondern auch aus der Überlieferungslage der dem Privileg Friedrichs II. folgenden Jahrzehnte, die kaum Auffälligkeiten erkennen läßt. Große Judengemeinden erhalten weiterhin königliche Privilegien, so Mainz (1244), Worms (1255 und 1258), Köln (1266) und Regensburg (1274). Aus Augsburg heißt es im Jahre 1270, die Juden lebten gemäß ihren alten Gewohnheiten. Die Fürsten Osteuropas übernahmen jetzt die Handhabung des Judenrechts als königliche Aufgabe mit der Folge, daß, wohin der Arm des Kaisers nicht reichte oder seine Zuständigkeit ohnehin nicht gegeben war, ein flächendeckendes Netz landesweit geltender Judenprivilegien entstand. Eine maßgebliche Rolle spielt dabei das Privileg Herzog Friedrichs für Österreich, die Steiermark und Krain aus dem Jahre 1244, von dem sich die Privilegien König Bélas IV. für Ungarn von 1251 und König Ottokars für Böhmen und Mähren von 1254 herleiten. Pommern erhält 1261 ein Privileg dieser Art, die Markgrafschaft Meißen 1265. Entsprechende Nachrichten liegen aus den schlesischen Herzogtümern für die Zeit zwischen 1270 und 1295 vor. Für das polnische Judentum schuf König Boles aw V. mit dem Statut von Kalisch 1264 eine erste rechtliche Grundlage. Diese Privilegierungspolitik setzten die Herrscher Osteuropas auch im 14.Jh. fort. König Kasimir der Große hat 1334 und 1364

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Privilegien für die Juden in Klein- und Großpolen erlassen, in denen zahlreiche Schutzvorschriften zugunsten der Juden enthalten waren: so beispielsweise die Einklagbarkeit von Darlehensforderungen, die Exemtion von der städtischen Gerichtsbarkeit und Zuständigkeit der Gerichte des Adels mit besonderen Judenrichtern und verfahrensrechtlichen Besonderheiten, das Verbot von persönlichen Belästigungen und Beeinträchtigungen des Eigentums und anderes mehr. In Litauen hat Großfürst Witold im Jahre 1389 den Juden von Grodno ausdrücklich auch jegliches Gewerbe, Handel und Landwirtschaft gestattet. Im Altsiedelgebiet des Reiches waren Privilegien für die Juden ganzer Landesherrschaften offenbar nicht gebräuchlich. Hier galt für die Juden noch immer das Prinzip „der romische künig sol si schirmen“, wie der Schwabenspiegel 1275 formulierte. Tatsächlich wahrgenommen wurde dieser Schutz vor allem von den Bischöfen. Noch 1287 beauftragte König Rudolf von Habsburg den Erzbischof von Mainz mit dem Judenschutz in Thüringen und in der Mark Meißen. Die im wissenschaftlichen Schrifttum verbreitete Auffassung, die Könige hätten das „Judenregal“ auf die Landesherren übertragen, verschleiert wesentliche verfassungsgeschichtliche Unterschiede, die von den Zeitgenossen sorgfältig beobachtet wurden. Da die geistlichen und weltlichen Fürsten an Stelle des Kaisers handelten, mußten ihnen Judenschutzrechte nicht besonders übertragen werden. Dem Kurfürsten hat die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. 1356 dieses Recht ausdrücklich bestätigt. Kleinere reichsunmittelbare Prälaten und gräfliche Landesherren dagegen konnten nur dann Judenschutzrechte wahrnehmen, wenn ihnen diese besonders gewährt worden waren. Auch einzelne Reichsstädte, wie Eger oder Frankfurt a. M., und mächtige Mediatstädte, vor allem im Norden Deutschlands, etwa Braunschweig und Breslau, konnten den Judenschutz zeitweise oder dauerhaft an sich bringen. Doch handelt es sich eher um Ausnahmen. Die Rechte des Königtums gegenüber den reichsstädtischen Juden und jene der Fürsten gegenüber den Juden ihrer Herrschaftsgebiete blieben stets ausgeprägt und für die wichtigsten Fragen – Niederlassung, Besteuerung, Ausweisung – maßgebend. Daß die Ansprüche gegenüber den Juden auch veräußert, zum Beispiel verpfändet, werden konnten, entsprach nur der allgemeinen Mobilisierung von Herrschaftsrechten im späten Mittelalter und ist nicht zu verwechseln mit der dezentralen Handhabung königlicher Befugnisse durch die Fürsten. Spätestens seit dem ausgehenden 13. Jh. hatte die eigentumsrechtliche Komponente des Status der Juden zur Folge, daß sie von den Herrschern mit Abgaben belastet wurden, die zunehmend konfiskatorischen Charakter annahmen. Wer mit seinem Vermögen Eigentum eines anderen ist, kann dessen Ansprüchen nur noch dann rechtlich begründete Einwendungen entgegensetzen, wenn ihm besonderer Schutz zugestanden worden ist. Und so werden vor allem auch die spektakulären Fälle königlichen Zugriffs auf jüdisches Vermögen verstehbar, z. B. die Einziehung der Güter auswandernder Juden durch König Rudolf von Habsburg, die Einführung des goldenen Opferpfennigs – einer Kopfsteuer – durch Kaiser Ludwig im Jahre 1342 oder die auf die Zueignung jüdischer Geldforderungen hinauslaufenden Schuldentilgungen, wie sie erstmals in Frankreich Ende des 12. Jhs. und später in Deutschland durch König Wenzel praktiziert wurden.

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Die Juden im Kirchenrecht Das weltliche Judenrecht ist ohne seinen kirchenrechtlichen Hintergrund nicht verständlich. Die Notwendigkeit, für die unter christlichen Herren lebenden Juden besondere Normen zu schaffen, hat seine primäre Ursache in der kirchlichen Abgrenzungspolitik, die schon im 4. Jh. in der römischen Reichskirche zu beobachten war und von den weströmischen Kaisern mitgetragen wurde. Die Kirchenversammlungen des Fränkischen Reiches haben diese rechtspolitische Linie im wesentlichen fortgesetzt. Der Grundgedanke, die Konversion von Christen zum Judentum unter allen Umständen zu verhindern, führte zum Verbot der Tisch- und ganz besonders der Ehegemeinschaft mit Juden. Es gab das immer wieder auftretende Verbot für Juden, christliche Sklaven zu besitzen. Ausgeschlossen bleiben sollten die Juden auch von der Wahrnehmung öffentlicher Ämter. An den Kartagen durften sie sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen. Daß alle diese Regelungen nicht nur pragmatischer Natur gewesen sind, ist an judenfeindlichen Äußerungen einzelner Bischöfe, auch des Kirchenvaters Hieronymus, ablesbar. Dennoch sah es die Kirche stets als ihre Aufgabe an, die Religionsausübung der Juden zu schützen und Zwangstaufen zu verhindern. Die große Autorität des Kirchenvaters Augustinus dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, daß Äußerungen der Judenfeindschaft in der Kirche immer wieder durch päpstliche Schutzversprechen aufgewogen wurden. Im Anschluß an die kirchliche Reformära des 11. Jhs. versuchten die Päpste, auch den Judenschutz als eigene Aufgabe an sich zu ziehen. Die Bulle „Sicut Judaeis“ des Papstes Kalixt II. von 1120 verbot allen Christen, Juden die Taufe aufzuzwingen, sie zu verletzen, zu töten, zu berauben, ihre Gewohnheiten abzuändern, ihre Feste zu stören, sie zu unüblichen Diensten zu zwingen oder ihre Friedhöfe zu beschädigen. Diese Bulle wurde von den Nachfolgern immer wieder erneuert und auch von den weltlichen Herren respektiert, so ausdrücklich von König Rudolf von Habsburg im Jahre 1275. Das 4. Laterankonzil hat im Jahre 1215 indessen zugleich die alten Abgrenzungsregeln erneuert und durch eine Kleidervorschrift verschärft: Es wurde gefordert, daß sich die Juden ebenso wie die Sarazenen in ihrem äußeren Erscheinungsbild von den Christen unterscheiden müßten, damit es nicht irrtümlich zu unerlaubten geschlechtlichen Beziehungen komme. Die Dekretalen Gregors IX. von 1234 haben die bis dahin entwickelten kirchenrechtlichen Regeln weitgehend übernommen, so etwa das Verbot von Christen, in jüdischen Häusern zu dienen, das Verbot der Zwangstaufe, die Kleidervorschrift, das Verbot übermäßiger Zinsforderungen seitens der Juden. Auch für das kirchliche Judenrecht ist also eine Ambivalenz charakteristisch, da einerseits die Existenz der Juden als nichtchristliche Gemeinschaft in der christlich gedachten Welt gewährleistet wird, andererseits aber durch scharfe Abgrenzung die Integration in der Gesellschaft verhindert werden soll. Welche Entwicklung die Kanonistik im späten Mittelalter genommen hat, zu einer Zeit also, als die Rechtsstellung der Juden zunehmend destabilisiert wurde, ist noch kaum bekannt.

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Regelungen des spätmittelalterlichen Judenrechts Im Laufe des 14. Jhs., besonders nach den Pestpogromen der Jahre 1348/49, treten neben die seltener werdenden kollektiven – ganzen Judengemeinden gewährten – Privilegierungen, zunehmend individuelle Schutzprivilegien der weltlichen Herren. Diese bestimmen weitgehend die Situation des Judentums im spätmittelalterlichen Deutschland, obwohl es stets auch schutzbrieflose Juden gegeben hat, die allenfalls geduldet wurden, vielfach aber auch nur als bloßes Objekt obrigkeitlicher Ordnungs- und Ausweisungsmaßnahmen in Erscheinung treten. Ohne Zustimmung der jeweiligen Judenschutzherren durften sich die meisten Judengemeinden nicht einfach durch Aufnahme weiterer Juden vergrößern, sofern sie daran überhaupt interessiert sein konnten. Die Niederlassung an einem Orte führte in der Regel über dessen Herrn. Nach den Pestpogromen und den mit ihnen verbundenen Vertreibungen, welche die Christen als Rechtsakte begriffen, war es für die überlebenden und rückkehrwilligen Juden erst recht notwendig, durch eine individuelle Privilegierung in Schutzbriefen die Erlaubnis zur (Wieder-)Ansiedlung und Rechtssicherheit in den sie betreffenden Angelegenheiten zu erhalten. Angesichts einer erheblich reduzierten und zerstreuten jüdischen Bevölkerung, die sich erst allmählich wieder ihren traditionellen Wohnsitzen zuwandte, ergab es sich von selbst, daß die jetzt erteilten Privilegien jeweils nur für einzelne Personen oder einige Familien galten. Das auffallendste Merkmal dieser in sehr großer Zahl überlieferten Schutzbriefe ist ihre Befristung. Unbefristete, jedoch mit Kündigungsklauseln versehene Schutzbriefe wurden nur ausnahmsweise erteilt. Da der früheste Fall eines befristeten Schutzbriefes schon aus der Mitte des 13. Jhs. bezeugt ist und die Nichtverlängerung erst seit den ersten Jahrzehnten des 15. Jhs. in signifikanter Weise als Vertreibungsinstrument genutzt wird, muß die Festlegung von Geltungsfristen zunächst andere Gründe gehabt haben. Parallelen bei anderen Geschäftstypen, insbesondere bei der befristeten Hausleihe, deuten darauf hin, daß die in den Judenschutzbriefen vorgesehenen Fristen zwischen einem und sechs, seltener acht und mehr Jahren, etwas mit den von den Juden zu leistenden Zahlungen zu tun hatten, die einen bestimmten Zeitraum abdeckten und nach dessen Ablauf erneut zum Gegenstand von Verhandlungen gemacht wurden. Die Schutzbriefe enthalten unterschiedliche, aber auch typische Regelungen. Zu den letzteren gehören die Gestattung der Ansiedlung, meist an einem bestimmten Ort, Freizügigkeit im Territorium des Schutzherrn, Vorschriften für das Darlehnsgeschäft und das Pfandwesen, nicht zuletzt Bestimmungen über den Gerichtsstand. Seltener kommt die Zusicherung oder Versagung des freien Wegzugs zur Sprache, Schutz jüdischer Einrichtungen oder gar die Zusage des Schutzherrn, bei der Eintreibung ausstehender Geldforderungen Unterstützung zu gewähren. Besonders wichtig sowohl für den Schutzherrn wie für die Juden selbst war die Festlegung der zu leistenden Abgaben, zuweilen verbunden mit Zollbefreiungen oder der Zusicherung, keine Sondersteuern zu erheben. Auf diese Weise haben die individuellen Schutzbriefe zweifellos einen Beitrag zur Stabilisierung der jüdischen Existenz geleistet, da sie geeignet waren, die gefährlichen Konsequenzen des eigentumsrechtlichen Ver-

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ständnisses der Herrschaft über Juden einzudämmen. Wessen Leistungspflichten für einen bestimmten Zeitraum fixiert waren, von dem konnte auch der Herr nicht ohne weiteres plötzlich Mehrleistungen verlangen. So erklären sich auch die Berichte über den Widerstand lokaler Inhaber des Judenschutzes gegenüber zusätzlichen Geldforderungen des Reiches. Alle diese Beobachtungen zeigen, daß auch das herrschaftliche Interesse ein bestimmtes Maß an Rechtssicherheit für die Juden zur Voraussetzung hatte. So überrascht es auch nicht, daß zahlreiche Regelungen über gerichtliche Kompetenzen für Klagen von und gegen Juden bekannt sind. In den Reichsstädten ist fast überall der Rat Inhaber der Gerichtsbarkeit auch über die Juden. Ähnlich liegen die Dinge in den Territorialstädten. Doch sind hier verschiedene Sonderentwicklungen festzustellen, einerseits massive landesherrliche Einflußnahme mit der Einsetzung eines besonderen christlichen Judenrichters, z. B. in Österreich, Böhmen und in angrenzenden Territorien; andererseits existierten in fast allen Teilen des Reiches christliche Judengerichte, in denen als Schöffen auch Juden mitwirkten. Von solchen Einrichtungen sind die innerjüdischen Gerichte zu unterscheiden, die selbst strafrechtliche Kompetenzen besaßen und dabei auf die Vollstreckungshilfe der christlichen Herren angewiesen waren. Die zu beobachtenden prozessualen Regeln fügen sich im großen und ganzen nahtlos in das Bild des mittelalterlichen Verfahrensrechts ein, wenn auch Hinweise über diskriminierende Regelungen, insbesondere bei der im Mittelalter so wichtigen Eidesleistung bekannt sind. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, in welchem Umfang der den Juden in Zivil- und Strafsachen gewährte Rechtsschutz wirklich effizient gewesen ist. Nicht wenige Nachrichten sprechen dafür, daß diese Frage für Zeiten ungestörten Zusammenlebens von Christen und Juden weitgehend bejaht werden darf, weil die Obrigkeiten unter den Bedingungen gleichsam alltäglicher Normalität selbst am Rechtsfrieden interessiert waren. Ganz anders sind die im Laufe des 15. Jhs. zunehmenden Situationen zu beurteilen, in denen christliche Obrigkeiten selbst oder ganze Gruppen christlicher Bürger wegen angeblicher Delikte der Juden Verfahren anstrengten und die Ausweisung der Juden forderten. Von jenen ohne Schutzbrief abgesehen, hatten die Juden in der Regel städtisches Bürgerrecht mit allen damit verbundenen Vorteilen und Lasten. Es war ihnen meist gestattet, Grundbesitz zu erwerben, wenngleich hier und dort Beschränkungen hinsichtlich Wert und Lage der Grundstücke erfolgten. Die städtischen Obrigkeiten regelten vielfach auch einzelne judenrechtliche Fragen, wie sie in den Schutzbriefen angesprochen wurden, in besonderen Ordnungen. Die hier vielfach enthaltenen Verbote, z. B. kirchliche Geräte oder Waffen als Pfand anzunehmen oder bestimmte Formen des Handels und Arten des Handwerks zu betreiben, zeigen, daß der den Juden zugebilligte soziale Raum enger wurde. Schon aus der bisherigen Beschreibung des spätmittelalterlichen Judenrechts ergeben sich zahlreiche Minderberechtigungen, die aus der Perspektive des modernen, am Gleichheitssatz geschulten Rechtsdenkens als Diskriminierungen angesehen werden müssen. Versucht man eine derart anachronistische Sicht zu vermeiden, dann ergeben sich am Ende jene Normenkomplexe, die in der Tat auch von den Zeitgenossen als diskriminierend verstanden wurden. Dazu gehört in erster Linie die Verpflichtung der Juden, sich selbst durch

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ein besonderes Symbol, den „gelben Ring“, zu kennzeichnen. Die Forderung des 4. Laterankonzils, von den Juden sei ein kennzeichnender „habitus“ anzulegen, war noch nicht diskriminierend gemeint. Die Umsetzung dieses Gebotes durch ein bestimmtes Symbol – in Westeuropa schon im 13. Jh. – hatte aber diese Wirkung. Der Eifer, die kirchliche Kennzeichnungsvorschrift auch durchzusetzen, nahm unter dem Einfluß judenfeindlicher Predigten seit der Mitte des 15. Jhs. deutlich zu. Zuweilen wurde den Juden eine Befreiung von der Kennzeichnungspflicht erteilt bzw. die Kennzeichnungspflicht vom Rat einer Stadt gar abgelehnt. Doch haben sich im ausgehenden Mittelalter gerade auch die Städte diese Diskriminierungspolitik zu eigen gemacht. Daneben wurden auch ältere Methoden der Abgrenzung von Juden und Christen in diskriminierendem Sinn wiederbelebt, wie das Verbot, in der Passionswoche oder an christlichen Feiertagen die Häuser zu verlassen, das städtische Badehaus zu besuchen oder Christen in Dienst zu nehmen. Generell läßt sich feststellen, daß die Rechtsposition der Juden seit der Wende vom 14. zum 15. Jh. in verschiedener Beziehung unter Druck geriet. Es war jene Zeit, in der mit der Gründung deutscher Universitäten die Juridifizierung der Kirche im Reich einem Höhepunkt zustrebte, Glaubensdisziplin daher als sozialethisches Ziel hohen Ranges und Unglauben im Sinne der Christen als verdammenswert erschienen.

Kriminalisierung und Ausweisung der Juden Die mittelalterliche Judenfeindschaft als ein soziales Phänomen mit verschiedenartigen Erscheinungsformen läßt sich sicher nicht von den Rechtsvorstellungen der christlichen Zeitgenossen her verstehen oder gar erklären. Doch ist für die mittelalterliche Geschichte der Juden und für die mittelalterliche Rechtsgeschichte überhaupt von erheblicher Bedeutung, ob sich die elementare Gefährdung der jüdischen Existenz, wie sie im Spätmittelalter in West- und Mitteleuropa zu beobachten ist, im Rahmen der damaligen Rechtsordnung vollzieht – also irgendwelchen normativen Vorstellungen folgt – oder als ein Vorgang der „Entrechtung“ und Willkür begriffen werden muß. Pogrome und ähnliche Gewalttaten, die vielleicht die mittelalterlichen Herrschaftsträger sogar zu verhindern versuchten, kommen als Ausdruck selbst eines pervertierten „Rechts“-Bewußtseins natürlich nicht in Betracht, selbst wenn man, oft nachträglich, Rechtfertigungen erfand. Dennoch ist nicht daran zu zweifeln, daß Unrechtsvorwürfe gegenüber den Juden deren soziale Stellung zunächst in England und Frankreich, im ausgehenden Mittelalter auch im Reich und in Spanien massiv belasteten. Noch kaum wahrgenommen hat die Forschung, daß selbst die Vertreibungen, wenn auch nicht stets, so mutmaßlich doch ganz überwiegend, als Sanktionen strafrechtlicher Art gedeutet werden müssen, weil die Stadt- und Landesverweisung zu den verbreitetsten Strafen auch für Christen gehörte. Die Kriminalisierung der Juden ist am klarsten an der Unterstellung fiktiver Verbrechen, des Ritualmordes und des Hostienfrevels, ablesbar. Die deshalb, aber z. B. auch wegen angeblicher Verspottung Christi im 12. und 13.Jh. in England und Frankreich durchgeführten

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Prozesse brachten viele Juden auf den Scheiterhaufen. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation hatten sich die Verfolgungsenergien nach den Pestpogromen der Jahre 1348/49 zunächst erschöpft. Erst seit der Wende zum 15.Jh. nahmen Ritualmord- und Hostienfrevelbeschuldigungen ganz erheblich zu. Es handelte sich nach der Vorstellung der Christen um kollektiv begangene Verbrechen, an denen auch entfernt lebende Juden teilgenommen haben konnten, da man glaubte, Hostienpartikel und Blutflüssigkeit würden an andere Orte versandt. Die aufsehenerregendsten Gerichtsverfahren wegen angeblicher Hostienfrevel mußten Juden 1404 in Salzburg, 1420 in Enns, 1453 in Breslau, 1478 in Passau und Regensburg, 1492 in Sternberg/Mecklenburg und 1510 in Berlin über sich ergehen lassen. Alle diese Verfahren hatten nicht nur die Hinrichtung einer größeren Anzahl Beschuldigter, sondern auch die Ausweisung weiterer, oft aller Juden aus dem ganzen Territorium zur Folge. Ähnliche Wirkungen zogen die Ritualmordprozesse nach sich, die vor allem im Südwesten des Reiches – 1401 in Dießenhofen, 1429 in Ravensburg, 1470 in Endingen am Kaiserstuhl – eine große Rolle spielten. Einen Höhepunkt stellt der 1475 in Trient durchgeführte Ritualmordprozeß dar, weil dieses Verfahren vom Heiligen Stuhl ausdrücklich anerkannt wurde. Der Prozeß in Trient hatte an anderen Orten erneut Ausweisungen oder Ausweisungsversuche zur Folge. Hinter diesen Strafverfahren gegen eine Vielzahl von Beschuldigten mit Konsequenzen für nichtbeteiligte Juden stand nicht einfach der Vorwurf einer Kollektivschuld wegen „Gottesmord“ oder Unglaube. Vielmehr wurden immer neue Verfahren mit peinlichen Befragungen unter der Folter in rechtsförmlicher Weise durchgeführt. Die Verurteilung hatte offenbar nach der Vorstellung der christlichen Kläger und Ermittler doch einen individuellen Schuldvorwurf zur Voraussetzung, wenigstens den der Mitwisserschaft. Aber verbleibende Zweifel entlasteten die Beschuldigten nicht. Die Merkwürdigkeit dieser Gerichtsverfahren wird verständlicher, wenn wir die Annahme zugrunde legen, daß die Strafverfolgung jener Zeit von einer Schuldvermutung ausging. So würden sich auch die gegen „landschädliche Leute“ verhängten schweren Strafen erklären. Da man auch von den Juden zu wissen glaubte, daß sie immer wieder bestimmten verbrecherischen Verhaltensmustern folgten, lag die Annahme nahe, daß die Zahl der mutmaßlichen Täter viel größer war, als sich im konkreten Prozeß ermitteln ließ. Daher verlieren nicht nur die Verurteilten ihr Leben. Auch andere Juden im Umfeld des Prozesses werden bestraft, indem man sie aus der Stadt oder aus dem Lande weist. Die Ausweisung der Juden aus vielen Landesherrschaften und Reichsstädten nahm im Laufe des 15. Jhs. ein solches Ausmaß an, daß sich gewiß nur für einen Teil dieser Vertreibungsfälle ein unmittelbarer Zusammenhang mit bestimmten Strafverfahren herstellen läßt. Auch für das Vertreibungsgeschehen insgesamt bildet die Wende vom 14. zum 15. Jh. die wichtigste Zeitachse. Seit Kurfürst Ruprecht II. im Jahre 1390 alle Juden aus der Pfalz am Rhein ausgewiesen hatte, riß die Kette der Landesherren, die diesem Beispiel folgten, nicht ab: So wird 1418 das Erzstift Trier erwähnt, 1430 das Kurfürstentum Sachsen, 1450 das Herzogtum Bayern-Landshut, 1453 Schlesien, 1470 das Erzstift Mainz, in den 90er Jahren mehrere mitteldeutsche Hochstifte usw. Vertreibungsaktivitäten von Reichs- und Frei-

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städten entwickelten sich parallel, zeitlich aber doch verzögert, da sich der Kaiser immer wieder gegen den Verlust der Judensteuern zur Wehr setzte. Daß die politisch sehr selbständig gewordenen Städte Köln und Zürich im Jahre 1423 die Juden durch schlichte Nichtverlängerung ihrer Schutzbriefe vertreiben konnten, ist ein eher seltener Fall. Augsburg mußte für die Stadtverweisung seiner Juden im Jahre 1438 Schadensersatz an den König leisten. Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte nahmen die Vertreibungsbemühungen der Reichsstädte erheblich zu, besonders in den 90er Jahren und bald danach unter König Maximilian I., als die Juden aus Nürnberg und Ulm vertrieben wurden. In allen diesen und vielen anderen Fällen – wir hören aus rund 300 Orten von Vertreibungen – stellt sich die Frage, durch welche Vorwürfe vermuteten Unrechts sich die christlichen Akteure motivieren ließen, da sie ja eine damals verbreitete Strafe verhängten und in Einzelfällen zu diesem Zweck sogar Rechtsgutachten bemühten. Vielfach belegt ist nicht nur der von christlichen Predigern geschürte Widerwille gegen die Duldung von Ungläubigen, sondern auch der Vorwurf, die Juden richteten mit ihren Geschäften Schaden an. Von Prozessen, die aus diesem Grunde geführt wurden, hören wir aber nur selten. Daher muß der Unrechtsvorwurf, der sich gegen die jüdische Existenz überhaupt richtete, allgemeinerer Art gewesen sein. Spuren finden sich in der juristischen Literatur des ausgehenden Mittelalters. War früher das Zinsgeschäft der Juden geduldet worden, weil für sie das Zinsverbot des kanonischen Rechts nicht galt, so glaubte man nun erkannt zu haben, daß die Forderung von Zinsen gegen göttliches Recht verstieß, wofür die – auch für die Juden verbindlichen – Schriften des Alten Testaments als Zeugnis dienten. Damit aber durften auch die Juden von Christen keine Zinsen fordern. Diese Doktrin ist in der Forschung noch kaum zur Kenntnis genommen worden. Gar nichts wissen wir darüber, seit wann sie sich in Europa ausgebreitet hat. Doch erklärt sich auf diese Weise, warum im ausgehenden Mittelalter gelegentlich Juden die Niederlassung erlaubt, das Darlehensgeschäft aber verboten wurde. Der ökonomischen Selbständigkeit, einzige realistische Lebensform der Juden, war damit der Boden entzogen. Der europaweite Einfluß der kirchlich geprägten Jurisprudenz hatte eine Verschlechterung der Rechtslage von Juden auch in anderen Ländern zur Folge. So in Spanien, wo seit 1370 die Kennzeichnungspflicht für Juden eingeführt und die Rechtsstellung der Juden schrittweise eingeschränkt wurde, 1492 erfolgte die Vertreibung aus dem Lande. In Polen hatten Juden unter restriktiven Anordnungen der Obrigkeiten seit der Mitte des 15. Jhs. zu leiden. Die Verbindlichkeit des „göttlichen Rechts“ wurde eingeschärft, Handel und Gewerbe beschränkt. Mehrfach kam es nicht nur zu Pogromen, sondern auch zu förmlichen Stadtverweisungen ganzer jüdischer Gemeinden, so 1483 in Warschau und 1494 in Krakau. Jedoch vermochte das polnische Königtum seine Schutzherrschaft über die Juden zunächst zu behaupten, so daß sich das jüdische Leben am Beginn der Neuzeit relativ ungestört entfalten konnte.

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Zwischen Ausweisung und Aufklärung: Juden in der christlichen Gesellschaft der frühen Neuzeit Zu Beginn der frühen Neuzeit lebten in weiten Teilen Europas keine Juden. In Nordeuropa einschließlich der Küstenregionen Deutschlands hatten sie sich im Mittelalter nie niedergelassen, in den Herrschaftsbereich der Moskauer Rus’ waren sie nur vereinzelt vorgedrungen. Aus England waren sie bereits 1290, aus Frankreich 1394 vertrieben worden. Nach der Ausweisung aus Spanien 1492, die den Aufenthalt von Juden auch in den spanischen Besitzungen in Italien – Sizilien und dem Königreich Neapel – sowie seit der Mitte des 16. Jhs. in den Niederlanden unmöglich machte, hatten die Massenzwangstaufen und Vertreibungen, die 1496/97 in Portugal stattfanden, zur Folge, daß nun auf der gesamten Iberischen Halbinsel keine Juden mehr leben konnten. Im Heiligen Römischen Reich waren die Juden im Verlauf des 15. Jhs. aus fast allen größeren Städten sowie einigen Territorien vertrieben worden. Den Gründen für diese Vertreibungen kann hier nicht nachgegangen werden – sie stellen ein Kapitel der christlich-jüdischen Beziehungsgeschichte des Mittelalters dar. Festgehalten sei lediglich, daß die bedeutendsten zusammenhängenden Siedlungsgebiete von Juden auf europäischem Boden zu Beginn des 16. Jhs. das Osmanische Reich mit den von ihm abhängigen Staaten sowie das Königreich Polen-Litauen waren. In letzterem erlebten die jüdischen Gemeinden im 16. Jh. eine Blütezeit. Daneben lebten größere Gruppen von Juden noch in einer Reihe von Territorien des Heiligen Römischen Reiches, vor allem auf dem Land und in Kleinstädten, in einigen Teilen Italiens, unter denen besonders der Kirchenstaat hervorzuheben ist, sowie in den päpstlichen Besitzungen in Frankreich, Avignon und dem Comtat Venaissin. Im ganzen hatten die letzten Jahrhunderte des Mittelalters in weiten Teilen Europas also eine fortschreitende Entrechtung der Juden und eine Verunsicherung ihrer Existenz mit sich gebracht, die vielerorts bis zu Weigerungen, überhaupt jüdische Gemeinden zu dulden, eskaliert waren. Anfang des 18. Jhs., zu Beginn der Aufklärungszeit, war die Karte der jüdischen Ansiedlungen in Europa bereits wieder erheblich dichter gefüllt. Vor allem in Mittel-, West- und Nordeuropa hatten Juden sich inzwischen an vielen Orten, an denen sie sich zu Beginn des 16. Jhs. nicht aufhalten konnten, mit Erlaubnis der jeweiligen Obrigkeiten niedergelassen. Die politischen, rechtlichen und sozialen Bedingungen, unter denen sie lebten, unterschieden sich nun z.T. erheblich von den Verhältnissen, wie sie vor der Vertreibungen des ausgehenden Mittelalters geherrscht hatten. Diese Entwicklung, die keineswegs so linear verlief, wie der Blick auf die gewählten Anfangs- und Endpunkte suggerieren mag, beruhte auf einer Reihe von miteinander verbundenen, zum Teil aber auch widerstreitenden Faktoren, die im folgenden dargestellt werden sollen. Da hierbei der Entwicklung der religiös begrün-

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deten Haltung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Juden und Judentum große Bedeutung zukommt, muß sich der vorliegende Beitrag auf das christliche Europa beschränken. Eine entsprechende Analyse der muslimisch-jüdischen Beziehungen und der daraus resultierenden Entwicklungen im Osmanischen Reich würde eine eigene Untersuchung darstellen und muß daher hier außerhalb der Betrachtung bleiben.

Humanismus, Reformation und Gegenreformation Die humanistische Bewegung, die sich seit dem 15. Jh. von Italien aus über Europa verbreitete, stellte mit ihrer Rückbesinnung auf die Antike, ihrer Wertschätzung des Studiums der klassischen Texte, ihrer Betonung von Rationalität und ihrer Ablehnung von Glaubensfanatismus nicht nur die traditionelle Kirche in Frage und bereitete so den Weg für die Reformation, sondern sie eröffnete auch Ansätze für eine Neugestaltung des Verhältnisses von Christen und Juden. So ließen die Ablehnung von Fanatismus und ein neues wissenschaftliches Denken viele Humanisten rationaler mit den aus dem Mittelalter überkommenen Beschuldigungen und religiösen Entlastungsargumentationen gegenüber den Juden umgehen. Bekannt geworden ist die 1529 von Andreas Osiander veröffentlichte Schrift Ob es wahr und glaublich sey, daß die Juden der Christen Kinder heymlich erwürgen und ir Blut gebrauchen, in der er mit Bezug auf die Hebräische Bibel darlegte, daß sowohl Mord als auch der rituelle Gebrauch von Blut der jüdischen Religion widerspreche. Außerdem zeigte er logische Widersprüche innerhalb von Ritualmordbeschuldigungen auf und erklärte, bei zukünftigen Ritualmordprozessen solle man als erste diejenigen verdächtigen, denen etwas daran gelegen sein könne, den Juden ein solches Ver brechen in die Schuhe zu schieben: verarmte Adelige, an Wundern und Attraktionen interessierte Geistliche und Magier. Solche Argumentationen, die im übrigen nicht ganz neu waren – man denke nur an die von Friedrich II. (1212–1250) angeordnete Untersuchung der Fuldaer Ritualmordbeschuldigung im Jahr 1236 –, führten allerdings noch nicht einmal unter den Gelehrten dazu, daß derartige Beschuldigungen fortan vollständig unmöglich wurden. Als Beispiel sei hier nur Hugo Grotius (1583–1645), der „Vater des Völkerrechts“, angeführt: Als dieser 1615 von den Staaten von Holland um ein Gutachten zu der Frage gebeten wurde, ob man Juden in holländischen Städten dulden könne und, wenn ja, unter welchen Bedingungen, sprach er sich zwar eindeutig für eine Tolerierung aus, erklärte jedoch, daß das Risiko bestehe, daß Juden, die man in christlichen Staaten dulde, aufgrund ihres unauslöschlichen Hasses gegen das Christentum neben andere Untaten auch Ritualmorde an christlichen Jungen und Männern begingen, um diese zugrunde zu richten und die christliche Religion zu verspotten. Zum „Beweis“ für diese Behauptung führte er eine ganze Liste wohlbekannter Ritualmordbeschuldigungen des Mittelalters an. Höher einzuschätzen und erheblich folgenreicher als der rationalere Umgang einer Reihe von Gelehrten mit antijüdischen Entlastungsargumentationen war das Bemühen der Hu-

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manisten um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Hebräischen Bibel, die sie für ein vertieftes Verständnis des Christentums für unabdingbar hielten. Diese Hinwendung zum Alten Testament rückte nicht nur die Juden als das Volk des „Alten Bundes“, das „erste Volk Gottes“, stärker in den Blickpunkt, sondern sie weckte auch ein neues Interesse an der hebräischen Sprache, die man für das Studium der biblischen Originaltexte benötigte, und an der nachbiblischen jüdischen Tradition, von der man glaubte, daß in ihr durchaus Elemente der christlichen Wahrheit angelegt seien, die „freizulegen“ sich lohne. So war z.B. Johannes Reuchlin, sicher einer der bedeutendsten christlichen Hebraisten des 16. Jhs., der Ansicht, daß die Kabbala für das richtige Verständnis des Christentums unerläßlich sei, wobei er unter „Kabbala“ die „bis vor kurzem“ nur jüdischen Gelehrten zugängliche Methode verstand, in und hinter den Buchstaben des „Alten Testaments“ das Geheimnis der Gottesoffenbarung zu entdecken, die über sich selbst hinaus auf das Christusgeschehen hinweise. Wenn Reuchlin sich 1510 gegen das Ansinnen des Konvertiten Pfefferkorn, der eine Einziehung aller jüdischen Bücher forderte, zur Wehr setzte und zur Stützung seiner Meinung neben später noch zu erläuternden Argumenten rechtlicher Natur auch anführte, man müsse die Interessen von Forschung und Lehre wahren, so stellte dies eine logische Konsequenz seiner Ansicht dar, daß das Christentum von der Kenntnis der jüdischen Theologie nur profitieren könne. Diese Hochschätzung der Hebräischen Bibel, der hebräischen Sprache und der jüdischen Tradition – wenn auch zu explizit christlichen Zwecken – sowie das Gefühl einer gewissen Verbundenheit mit dem jüdischen Volk sind, zumindest im Protestantismus, nie verlorengegangen. Dies gilt vor allem für den „linken Rand der Reformation“. So gab es z. B. unter den englischen Nonkonformisten des 17. Jhs. einige Splittergruppen, die der Ansicht waren, daß die Gebote der Hebräischen Bibel wörtlich zu befolgen seien. Sie hielten den Sabbat und praktizierten zum Teil sogar die Beschneidung. Bekannt geworden ist auch die sabbatistische Bewegung in Siebenbürgen, die sich 1588 von der unitarischen Kirche abspaltete und in den ersten Jahrzehnten des 17. Jhs. eine Blütezeit erlebte. Der neue Stellenwert, der der Hebräischen Bibel, der hebräischen Sprache und der jüdischen Tradition in der humanistischen und in Teilen der reformatorischen Bewegung zugewiesen wurde, hatte schließlich auch einen nicht zu unterschätzenden sozialen Aspekt: Aus dem Interesse christlicher Theologen an der hebräischen Sprache und der jüdischen Tradition ergaben sich Kontakte zwischen christlichen und jüdischen Gelehrten, die zwar nicht immer frei von Mißverständnissen und Fehlinterpretationen waren, die jedoch – ganz im Gegensatz zu den Religionsdisputationen des Mittelalters – erstmals einen einigermaßen gleichberechtigten Austausch über Fragen der Religion und Philosophie ermöglichten. Ein herausragendes Beispiel ist in diesem Zusammenhang der um die Mitte des 17. Jhs. existierende Kreis von niederländischen und englischen Gelehrten, dem neben protestantischen Philosemiten wie Henry Jessey, Peter Serrarius, John Dury und Samuel Hartlib eben auch der Chacham der Amsterdamer sefardischen Gemeinde, Menasse ben Israel, angehörte. In diesem Kreis entstanden nicht nur Aktivitäten wie eine Unterstützungssammlung für die in Not geratene jüdische Gemeinde in Jerusalem, sondern seine Mitglieder, vor allem Me-

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nasse ben Israel und Henry Jessey, spielten auch eine wesentliche Rolle in der Kampagne für die Wiederzulassung der Juden in England in den Jahren 1654–1656. Das wachsende Interesse an der hebräischen Sprache und der jüdischen Tradition löste jedoch auch Gegenreaktionen aus. So hatte bereits Erasmus von Rotterdam angesichts von Reuchlins Hebräisch- und Kabbala-Studien in einem Brief an Wolfgang Capito 1516 geargwöhnt, daß diese vielleicht zu einer Renaissance des Judentums führen könnten. Ebenso sorgte sich Martin Luther darum, daß die junge christliche Hebraistik, die es mit der langen rabbinischen Tradition der Bibelauslegung nicht aufnehmen konnte, vielleicht in ihrer Interpretation des „Alten Testaments“ zu sehr von der „jüdischen Auslegung“ beeinflußt sein könnte. Die Entstehung einer sabbatistischen Bewegung unter schlesischen Täufern, von der Luther hörte und gegen die er 1538 sein Sendschreiben Wider die Sabbather richtete, war gewiß ein Katalysator für seine persönliche Entwicklung in Richtung auf eine immer schärfere Abgrenzung vom Judentum, die schließlich in dem massiven Antijudaismus seiner Spätschriften endete. Diese Furcht vor einer „Judaisierung“ des christlichen Glaubens, wie sie sich in den Stellungnahmen von Erasmus von Rotterdam und Martin Luther äußerte, weist noch einmal darauf hin, daß, abgesehen von einigen Randerscheinungen, das Interesse der humanistischen und der reformatorischen Bewegung an der hebräischen Sprache und der jüdischen Tradition keineswegs auf eine Gleichberechtigung der Religionen abzielte. Vielmehr hatte gerade der frühe Protestantismus ein so massives Missionierungsbedürfnis gegenüber den Juden, wie es das christliche Mittelalter nicht gekannt hatte. Die klassische Manifestation solcher Bekehrungsabsichten ist Luthers 1523 entstandene christologische Studie Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei, in der er das Verhalten der Alten Kirche gegenüber den Juden heftig angriff und ein Missionskonzept entwickelte, daß auf geduldige Überzeugungsarbeit und soziale Assimilation setzte. Die Studie selbst sollte ein Beispiel für erfolgversprechende Bekehrungsbemühungen sein. Das missionarische Anliegen gegenüber den Juden, das sich in Luthers Studie äußerte, speiste sich zum einen aus dem reformatorischen Enthusiasmus der jungen protestantischen Bewegung. Da den Juden der christliche Glaube nun in einer von allen Irrtümern der Vergangenheit gereinigten Form präsentiert werden könne, bestehe jetzt, so meinten viele Reformatoren, erstmals Aussicht, daß Bekehrungsanstrengungen zum Erfolg führen würden. Solche „Missionserfolge“ konnten dann im Konkurrenzkampf der sich herausbildenden Konfessionen als Waffe verwendet werden. Zum anderen trug jedoch auch der in der frühen Neuzeit weit verbreitete Glaube, in der Endzeit zu leben, zu dem neu erwachten Interesse an der Judenmission bei. Der klassische Bezugspunkt der Verknüpfung der Frage der Bekehrung der Juden mit einer eschatologischen Naherwartung ist das 11. Kapitel des paulinischen Römerbriefs, dessen Aussagen so gedeutet wurden, daß die Wiederkunft Christi nicht zu erwarten sei, bevor nicht – nachdem alle Heiden das Christentum angenommen hätten – auch die Juden zu Christus bekehrt seien. Kehrte man diesen Gedanken um, so mußte aus der Erwartung, daß die Wiederkunft Christi nahe bevorstehe, folgen, daß es nun an der Zeit sei, die Juden zu bekehren.

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Der auf die Juden bezogene missionarische Impetus der frühen reformatorischen Bewegung, der mit einer auf Assimilation abzielenden judenfreundlichen Haltung verbunden war, ist im Protestantismus niemals ganz untergegangen. Das bekannteste Beispiel im deutschsprachigen Raum ist die pietistische Judenmission, wie sie z.B. von dem von August Hermann Francke (1663–1727) gegründeten Collegium Orientale in Halle und dem seit 1728 ebenfalls dort ansässigen Institutum Judaicum ausging. Hinzuweisen ist jedoch auch auf das bereits erwähnte Gutachten von Hugo Grotius, für den die Möglichkeit der Bekehrung der Juden ebenfalls ein starkes Argument für ihre Duldung darstellte und der, wie die von ihm vorgeschlagene Judenordnung deutlich macht, ein ähnliches assimilatorisches Konzept verfolgte, wie Luther es in Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei vorgeschlagen hatte. Eine besonders wichtige Rolle spielte das Anliegen der Judenmission in der Debatte um die Wiederzulassung der Juden in England 1654–56. Viele englische Tolerierungsbefürworter, wie z. B. der bereits erwähnte Henry Jessey, verbanden dieses missionarische Anliegen nicht nur mit einer endzeitlichen Naherwartung, sondern mit expliziten chiliastischen Hoffnungen und einem festen Glauben an die Auserwähltheit des englischen Volkes, das dadurch in einer besonderen Nähe zum jüdischen Volk, dem ersten auserwählten Volk Gottes, stehe. Sie waren der Ansicht, daß Christus, der Messias, in naher Zukunft wiederkehren und in Palästina ein Tausendjähriges Reich errichten werde. Das bekehrte jüdische Volk werde dorthin zurückkehren und in diesem Reich eine Führungsrolle einnehmen. Das englische Volk habe die Aufgabe, den Juden bei ihrer Umkehr zu Christus und ihrer Rückkehr nach Palästina behilflich zu sein, und werde dafür reichen Lohn empfangen. In dieser Perspektive erschien die Zulassung der Juden in England als erster Schritt in Richtung auf den Anbruch des ersehnten Tausendjährigen Reichs. Die Vorstellung von dem jüdischen Volk, dessen Zeit des Exils zu Ende gehe, und die Beschreibung des erwarteten Tausendjährigen Reichs trugen stark philosemitische Züge. Ein früher Vertreter solcher Ansichten war Sir Henry Finch, der in seiner 1621 veröffentlichten Schrift The worlds great restauration or the calling of the Jews nicht nur versicherte, daß die Juden in naher Zukunft in ihr eigenes Land zurückkehren würden, sondern das Reich, in dem sie dann, von allen Nationen geehrt, leben würden, in den leuchtendsten Farben als ein Land schilderte, in dem Glaube, Wissen, Frömmigkeit, Glück, Reichtum und Sicherheit herrschten. Wurde Finch 1621 noch mit einer Gefängnisstrafe belegt, weil die englische Regierung sein Werk als staatsgefährdend ansah, so stießen seine Ansichten dreißig Jahre später auf breite Akzeptanz. Auch die katholische Kirche machte sich im Zeichen der Gegenreformation das Anliegen der Judenmission zu eigen, wobei der konfessionelle Konkurrenzkampf ebenso eine Rolle spielte wie auch auf katholischer Seite verbreitete eschatologische Naherwartungen. Das Anliegen der Judenmission äußerte sich nicht nur in expliziten Absichtserklärungen der Päpste – z. B. in der 1555 von Paul IV. erlassenen Bulle Cum nimis absurdum –, sondern auch in konkreten Maßnahmen wie der Einrichtung von Katechumenenheimen für jüdische Taufbewerber und der Anordnung von Missionspredigten. Darüber hinaus sollte auch,

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ähnlich wie dies seit Luther mehrfach von protestantischen Theologen vorgeschlagen worden war, die allgemeine Gestaltung der Lebenssituation der Juden zu ihrer Bekehrung beitragen. Verfolgte man auf protestantischer Seite hier, wie bereits dargestellt, im allgemeinen ein „assimilatorisches Konzept“, so hielten die Päpste umgekehrt ein „restriktives Konzept“ für aussichtsreich. Anknüpfend an die augustinische Lehre, daß das jüdische Volk aufgrund seiner Ablehnung Christi die Herrschaft verloren habe und nun über die Welt zerstreut in Knechtschaft leben müsse, was ihm auch mehrfach im „Alten Testament“, am deutlichsten in Gen 49, 10, prophezeit worden sei, vertraten die Päpste die Ansicht, daß man die Juden am ehesten zu der Einsicht bringen könne, daß Christus der verheißene Messias gewesen sei, wenn man ihnen durch die Gestaltung ihrer Lebenssituation deutlich mache, daß der ihnen für die Ankunft des Messias prophezeite Zustand der Unterdrückung und Knechtschaft tatsächlich eingetreten sei. Hierzu sollten die Unterdrückungsmaßnahmen der Bulle Cum nimis absurdum, zu denen u. a. die Kennzeichnungspflicht, die Ghettoisierung der jüdischen Wohnbezirke und das Verbot der Errichtung neuer Synagogen gehörten, ebenso beitragen wie die Verbrennung des Talmud auf dem römischen Campo di Fiore im Jahr 1553 und die Ausweisung der Juden aus dem Kirchenstaat mit Ausnahme der Städte Rom und Ancona durch die im Februar 1569 erlassene Bulle Hebraeorum Gens. Gleichzeitig paßten diese Maßnahmen auch sehr gut zu der Politik der katholischen Profilierung und der Abgrenzung von dem konfessionellen Gegner und anderen „Feinden des wahren Glaubens“, die die katholische Kirche seit dem Trienter Konzil (1545) ins Werk setzte. Im Gegensatz zu dem von vielen Protestanten vertretenen „assimilatorischen Konzept“ der Judenmission führte das von den Päpsten favorisierte „restriktive Konzept“, zumindest potentiell, eher zu einer Verschlechterung der Situation der Juden. Für den Kirchenstaat läßt sich nachweisen, daß dies auch tatsächlich der Fall war. Die konkreten Auswirkungen der päpstlichen Judenpolitik auf andere katholische Staaten wie Polen und die katholischen Territorien des Heiligen Römischen Reiches wurden noch nicht im Detail untersucht. Es ist jedoch naheliegend, anzunehmen, daß die Verschärfung der antijüdischen Stimmung in Polen seit der zweiten Hälfte des 16. Jhs. zumindest zum Teil auf die im Zeichen der Gegenreformation erfolgte päpstliche Neudefinition der Judenpolitik zurückzuführen ist. Das „restriktive Konzept“ der Judenmission, wie es die Päpste in der zweiten Hälfte des 16. Jhs. verfochten, war jedoch nicht das einzige Element im Zusammenhang mit dem neuen christlichen Interesse an der Bekehrung der Juden, das negative Folgen für die Lebenssituation der Juden nach sich ziehen konnte. Vielmehr gerieten durch die Betonung des Bekehrungsanliegens leicht die traditionellen Duldungsargumente der Kirche, wie sie bereits Augustinus formuliert hatte, aus dem Blick. Juden sollten, um es mit anderen Worten zu sagen, nicht mehr als Juden, sondern nur noch als potentielle Konvertiten geduldet werden. Die Verknüpfung der Judenmission mit eschatologischen Naherwartungen verlieh dieser zudem eine besondere Dringlichkeit: Wenn die Juden sich nicht bald bekehrten, so mochte man auf christlicher Seite denken, konnte es leicht für immer zu spät sein. Die Folge war eine zunehmende Unduldsamkeit gegenüber den Juden als Juden. Das

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wahrscheinlich eindrücklichste Beispiel hierfür sind die 1543 entstandenen antijüdischen Spätschriften Luthers, vor allem Von den Juden und ihren Lügen, in denen er seine enttäuschten Bekehrungshoffnungen zum Ausdruck brachte, die Juden beschuldigte, den Christen auf alle möglichen Weisen Schaden zuzufügen, und ihnen gegenüber zu „scharfer Barmherzigkeit“ riet: Man solle, so meinte er, ihre Schulen und Synagogen verbrennen, ihre Häuser zerstören, den Talmud und die jüdischen Gebetbücher konfiszieren, den Rabbinern Lehrverbot erteilen, die Zinsnahme verbieten und jüdische Männer zur Zwangsarbeit anhalten. Für die beste Lösung hielt er es jedoch, die Juden gleich ganz des Landes zu verweisen. Mit diesen Ausführungen begründete Luther eine lange, bis ins 20.Jh. reichende protestantische Tradition der Judenfeindschaft, die unübersehbar neben den oben dargestellten philosemitischen Strömungen steht. Eine konkrete Folge des massiven Antijudaismus, den Luther gegen Ende seines Lebens an den Tag legte, war eine Welle von Judenvertreibungen aus den protestantischen Territorien des Reiches seit dem Ende der dreißiger Jahre des 16. Jhs. In einigen Fällen, so z. B. in Sachsen und in Brandenburg, hat Luther sich auch persönlich bei den Landesherren für die Ausweisung der Juden eingesetzt.

Von der „christlichen Obrigkeit“ zum säkularen Staat Die Reformation und ihre direkten und indirekten Auswirkungen veränderten nicht nur die Haltung der christlichen Theologie gegenüber den Juden, sondern sie hatte, wie z.T. bereits angedeutet wurde, auch Folgen für die Stellung der Juden im Staat. Diese waren durchaus ambivalent. Zunächst bestätigte die protestantische Theologie – z.B. Luthers Zwei-Regimenter-Lehre und ihre Weiterentwicklung durch Johannes Calvin – den aus dem mittelalterlichen Universalismus stammenden Gedanken der Einheit von Kirche und Staat. Danach waren staatliche Gemeinschaft und Glaubensgemeinschaft letztlich identisch, religiöse Homogenität war ebenso der ideale wie der normale Zustand eines Gemeinwesens, und die Aufgabe der Obrigkeiten bestand nicht nur in der Wahrung von Recht und Ordnung, sondern vor allem auch in der Sorge für die rechte Gottesverehrung und das Seelenheil der Untertanen. Organisatorisch kam diese Auffassung im Kirchenregiment der Herrscher zum Ausdruck, wie es überall im protestantischen Europa üblich war: Der Herrscher stand nicht nur an der Spitze des Staates, sondern auch an der Spitze der Kirche und machte dies z. B. durch Eingriffe in die Kirchenorganisation und die Liturgie sowie durch Kirchenvisitationen deutlich. Auf katholischer Seite waren die Bischöfe in den katholischen Territorien des Reiches ebenso wie die Päpste im Kirchenstaat selbstverständlich immer schon gleichzeitig für die Ausübung der weltlichen Macht und die Kirchenorganisation zuständig gewesen. Auch die weltlichen katholischen Herrscher der frühen Neuzeit rechneten den Schutz und die Förderung des „wahren Glaubens“ zu ihren vornehmsten Pflichten. Für die Judenpolitik konnten aus der religiösen Verantwortung des Herrschers recht unterschiedliche Schlußfolgerungen gezogen werden. Stand der Gedanke des „Schutzes“ der christ-

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lichen Untertanen vor dem „Schaden“, den ihnen die Juden angeblich sowohl in religiöser als auch in wirtschaftlicher Hinsicht zufügten, im Vordergrund, so konnte dies zu Ausweisungen wie etwa den bereits erwähnten in den protestantischen Territorien des Reiches, zur Verweigerung von Neuansiedlungen wie z.B. in den Spanischen Niederlanden oder zur Verhängung wirtschaftlicher, sozialer und religiöser Einschränkungen wie z. B. im Kirchenstaat, anderen italienischen Staaten und z. T. auch in Polen führen. Stand das Anliegen der Bekehrung im Vordergrund, so konnten, wie es z.B. 1539 mit der Einrichtung von Zwangspredigten in Hessen geschah, direkte missionarische Maßnahmen ergriffen oder auch gemäß den oben vorgestellten „Missionskonzepten“ die Lebenssituation der Juden generell in entsprechender Weise gestaltet werden. Dabei waren gerade die dem „restriktiven Konzept“ entstammenden Maßnahmen sehr gut mit dem Anliegen des „Schutzes“ der Christen vor den Juden vereinbar. Hielt man dagegen an der von der augustinischen Sicht des Judentums bestimmten mittelalterlichen Duldungspolitik fest, wie es z. B. in einigen katholischen Territorien des Reiches geschah, mußte man von einer aggressiven Politik, die den Juden nur die Wahl zwischen Ausweisung und Taufe ließ, Abstand nehmen, wobei allerdings dennoch unter dem Aspekt des „Schutzes“ der Christen vor den Juden ein restriktives Judenrecht erlassen werden konnte. In jedem Fall mußten Juden in Staaten, die, wie es dem Idealbild der Theologen aller Konfessionen entsprach, religiös einigermaßen homogen waren und in denen nur die Angehörigen der Mehrheitskonfession vollberechtigte Mitglieder der staatlichen Gemeinschaft sein konnten, von jeder politischen Partizipation ausgeschlossen bleiben. Wenn also die Reformation nicht grundsätzlich mit dem mittelalterlichen Universalismus gebrochen und in gewisser Weise Kirche und Staat sogar noch einmal enger verknüpft hatte, war sie es doch, die die Aufrechterhaltung dieser Verknüpfung letztlich unmöglich machte. Die zunehmende Vielfalt der christlichen Konfessionen erschwerte die Aufgabe, alle Untertanen in einem Gemeinwesen auf dasselbe Bekenntnis zu verpflichten. Dies hatte bereits der Augsburger Religionsfriede anerkannt, indem er für die Reichsstädte, der politischen Realität folgend, eine Ausnahme von dem Prinzip „cuius regio eius religio“ vorsah und die Koexistenz von Protestanten und Katholiken verfügte. In der Folgezeit hatten zahlreiche europäische Staaten sich mit dem Problem auseinanderzusetzen, wie sie mit denjenigen ihrer Untertanen umgehen sollten, die nicht dem „allgemeinen“, d. h. dem von den Obrigkeiten verordneten Bekenntnis angehörten. Diese Tatsache führte auf längere Sicht zu der Einsicht, daß Kirche und Staat zwei getrennte Bereiche seien, die nach jeweils eigenen Regeln und Gesetzen funktionierten. Staatstheoretiker wie Thomas Hobbes, Samuel von Pufendorf und Hugo Grotius verstanden den Staat nicht mehr als eine von Gott eingesetzte Institution, die ihr Handeln an den von der Kirche vorgegebenen Prinzipien zu orientieren hatte, sondern als eine auf dem Naturrecht gründende Vertragsgemeinschaft, die das Wohl ihrer Mitglieder zur Richtschnur ihres Handelns machen mußte. Aus dieser Einsicht ergaben sich in bezug auf die Tolerierung von Juden zwei Schlußfolgerungen: Zum einen lieferte die Betonung des Eigenrechts des Staates erstmals seit dem Beginn des christlichen Mittelalters eine theoretische Begründung dafür, daß über die Aufnahme von Juden in einem Gemeinwesen nicht nur religiöse Argumente

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entscheiden sollten, und zum anderen wies die zumindest theoretisch beginnende Trennung von Kirche und Staat den Weg, wie Juden als vollberechtigte Mitglieder in das politische Gemeinwesen eingebunden werden konnten, ohne sich der Mehrheitsreligion anschließen zu müssen. Was den ersten Punkt angeht, so konnte z. B. jenseits aller religiösen Erwägungen der Humanitätsgedanke als ein Argument für die Tolerierung von Juden geltend gemacht werden. Grotius wies z.B. in seinem mehrfach erwähnten Gutachten zur Frage der Tolerierung von Juden in Holland darauf hin, daß unabhängig von Glaubensfragen und konfessioneller Zugehörigkeit „eine natürliche Verbindung und Gemeinschaft“ zwischen allen Menschen bestehe, aus der sich die Verpflichtung ergebe, anderen Menschen gegenüber gastfreundlich zu sein, Fremde aufzunehmen und diese gut zu behandeln. Verbannung und Ausschließung aus dem Gemeinwesen liefen der Natur des Menschen zuwider, da sie das natürliche Band, das zwischen allen Menschen bestehe, zerrissen. Maßnahmen dieser Art seien daher allenfalls als Strafe für begangene Verbrechen zu rechtfertigen; wenn sie jedoch gegen Unschuldige in Anwendung gebracht würden, seien sie ein Anzeichen von Barbarei. Dies gelte, so meinte Grotius, selbstverständlich auch für den Umgang mit Juden, denen daher das Recht, sich in einem christlichen Gemeinwesen aufhalten zu dürfen, grundsätzlich nicht abgesprochen werden könne. Für die politische Praxis der frühen Neuzeit von größerer Bedeutung als solche Gedankengänge war die Tatsache, daß die Betonung des Eigenrechts des Staates auch den Beginn einer staatlichen Wirtschaftspolitik im modernen Sinn bedeutete, in deren Rahmen ebenfalls zahlreiche Argumente für die fortgesetzte Tolerierung oder Neuzulassung von Juden gefunden werden konnten. Als sich zu Beginn des 17. Jhs. portugiesische Juden in Hamburg niederlassen wollten, wurde der Rat, der neben zahlreichen religiösen Argumenten auch darauf hingewiesen hatte, daß diese Ansiedlung dem Hamburger Handel mit der Iberischen Halbinsel zugute kommen werde, zwar von der Hamburger Geistlichkeit und den um ihre Meinung gefragten Lutherisch-Theologischen Fakultäten in Jena und Frankfurt/O. noch heftig kritisiert, aber etwa gleichzeitig wies Hugo Grotius in dem etwas weltoffeneren Amsterdam bereits darauf hin, daß es vollständig legitim und sogar geboten sei, daß die Obrigkeiten bei ihrer Entscheidung über die Tolerierung von Juden auch wirtschaftliche Nutzerwägungen mit einbezögen. Im weiteren Verlauf des 17. Jhs. wurde die Ansiedlung von Juden aus wirtschaftlichen Gründen dann gang und gäbe. Cromwell war um die Mitte des 17. Jhs. an der Ansiedlung von Amsterdamer sefardischen Kaufleuten in London interessiert, weil er Englands Seehandel nach dem Vorbild der Niederlande fördern wollte und dazu Leute benötigte, die ein entsprechendes Know-how besaßen. Der dänische König Christian IV. lud Juden zu günstigen Bedingungen in seine neue Stadt Glückstadt ein, die Hamburg als Fernhandelshafen Konkurrenz machen sollte. Ebenfalls aus handelspolitischen Gründen boten die toskanischen Herzöge Cosimo I. und Ferdinand I. spanischen und portugiesischen Conversos 1548 und erneut 1593 Asyl in Livorno. 1671 siedelte der „Große Kurfürst“ Friedrich Wilhelm I. im Rahmen seiner Peuplierungs- und merkantilistischen Wirtschaftspolitik 50 wohlhaben-

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de jüdische Familien, die aus Wien vertrieben worden waren, in Brandenburg an. In anderen Staaten war es die Aussicht, mit den von den Juden eingenommenen Schutzgeldern den ständig steigenden Geldbedarf des absolutistischen Staates decken zu können, die den Ausschlag für ihre Zulassung gab. Die oben erwähnte Anerkennung von Juden als vollberechtigte Mitglieder des politischen Gemeinwesens wurde selbstverständlich erst mit der Emanzipation Wirklichkeit. Schritte in diese Richtung wurden jedoch bereits in der frühen Neuzeit unternommen. So setzte sich seit dem 16. Jh. im Heiligen Römischen Reich unter dem Einfluß der Rezeption des römischen Rechts und der Anerkennung des justinianischen Corpus Iuris Civilis die Ansicht durch, daß die Juden nicht außerhalb der allgemeinen Rechtsordnung stünden, sondern vielmehr ein Teil von ihr seien. Nahm man dies ernst, so folgte daraus, daß die Juden nicht mehr der Willkür ihrer christlichen Umgebung ausgeliefert sein konnten. Johannes Reuchlin hat in seiner bereits erwähnten Stellungnahme zu der Frage, ob man die Bücher der Juden einziehen dürfe, genau dieses Punkt stark betont. Er hielt eine generelle Konfiszierung von Büchern aus jüdischem Besitz für unzulässig, da sie das Eigentumsrecht verletze, durch das sowohl der Besitz der Christen als auch der der Juden geschützt sei. Schließlich seien die Juden wie die Christen „cives Romani“ und müßten daher in rechtlichen Dingen gleich behandelt werden. Diese Ansicht setzte sich im 17.Jh. auch in England und in den Niederlanden durch. Dies läßt sich z. B. daran ablesen, daß man Juden zumindest formal gleichberechtigten Zugang zu den Rechtsmitteln ermöglichte, indem man ihnen gestattete, vor Gericht zu schwörende Eide auf die Hebräische Bibel abzulegen, und außerdem verfügte, daß Gerichtssitzungen, an denen Juden beteiligt seien, nicht am Sabbat oder an jüdischen Feiertagen stattfinden dürften. Die festere Einbindung in die allgemeine Rechtsordnung hatte schließlich auch zur Folge, daß Vertreibungen von Juden zunehmend als Willkürakte und nicht mehr als normales Mittel der Politik angesehen wurden. Im Verlauf des 17. Jhs. wurden Ausweisungen von Juden im mittel- und westeuropäischen Bereich immer seltener. Die Vertreibungen der Juden aus Rußland, der Ukraine, Livland und Riga, die die Zarin Elisabeth (1741–1761) anordnete, stellen im europäischen Vergleich bereits einen Anachronismus dar.

Judenordnungen, Schutzjuden und „Betteljuden“ Versucht man, die Auswirkungen der hier beschriebenen religiösen, politischen und rechtlichen Entwicklungen auf die Siedlungsgeschichte der Juden in der frühen Neuzeit unter chronologischen Gesichtspunkten zu ordnen, so läßt sich sagen, daß bis gegen Ende des 16. Jhs. die auf Ausgrenzung zielenden Tendenzen dominierten. Dies läßt sich an den bereits erwähnten Ausweisungen von Juden aus verschiedenen Territorien des Heiligen Römischen Reiches ebenso ablesen wie an der restriktiven Judenpolitik der Päpste im Kirchenstaat. Seit dem Beginn des 17. Jhs. begann sich dieser Trend jedoch umzukehren, und es gewannen nun die auf eine Tolerierung von Juden zielenden Tendenzen die Oberhand.

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So wurde Juden seit dem Ende des 16. Jhs. die Ansiedlung in den Vereinigten Niederlanden gestattet. In England wurden sie seit 1656 wieder toleriert. Im Heiligen Römischen Reich wurden sie im Verlauf des 17. Jhs. ebenfalls wieder in einigen Städten und Territorien zugelassen, so z. B. 1612 in Hamburg und 1671 in Brandenburg. Von den skandinavischen Ländern war Dänemark das erste, das Juden zuließ. Nachdem diese bereits seit dem Ende des 16. Jhs. in den dänischen Besitzungen in Norddeutschland gelebt hatten (Altona, Ottensen, Glückstadt), drangen sie im Verlauf des 17. Jhs. auch ins dänische Kernland vor. 1684 wurde die erste jüdische Gemeinde in Kopenhagen gegründet. In Frankreich wurde bis zur Revolution keine offizielle Zulassung von Juden verfügt, aber im Zusammenhang mit den Bemühungen um die Etablierung der französischen Herrschaft über die Bistümer Toul, Verdun und Metz seit der Mitte des 16. Jhs. duldete man die Ansiedlung von Juden in Lothringen. Ebenso wurden die jüdischen Gemeinden im Elsaß, das nach dem Dreißigjährigen Krieg zu Frankreich gekommen war, und die immer offener ihren Glauben lebenden krypto-jüdischen Gemeinden im Südwesten Frankreichs toleriert. Die rechtlichen Bedingungen, unter denen die Juden in den europäischen Staaten der frühen Neuzeit lebten, wurden in aller Regel in Judenordnungen, die für alle Juden des entsprechenden Herrschaftsgebietes galten, sowie in individuellen Schutzbriefen festgelegt. Eine Ausnahme stellt England dar, da hier die Debatte um die Zulassung der Juden 1654–56 formal ohne Ergebnis ausgegangen war und daher zwar eine inoffizielle Tolerierung, aber nicht den Erlaß von judenrechtlichen Bestimmungen zur Folge hatte. So war England das einzige europäische Land, in dem es kein spezielles Judenrecht gab. Die in den Judenordnungen und Schutzbriefen der übrigen Länder festgelegten Bestimmungen schufen eine große Bandbreite von rechtlichen Bedingungen. Die Übereinstimmungen und Unterschiede können hier nicht im einzelnen analysiert werden. Es seien jedoch zwei Aspekte, die für das in den europäischen Staaten der frühen Neuzeit geltende Judenrecht wesentlich waren, hervorgehoben. Der erste Aspekt betrifft die Frage der jüdischen Religionsausübung. Während in mittelalterlichen Privilegien und Schutzbriefen die Legitimität der öffentlichen Ausübung der jüdischen Religion niemals in Zweifel gezogen worden war, mußten die jüdischen Gemeinden der frühen Neuzeit häufig um jedes Zugeständnis in dieser Richtung kämpfen. So untersagte z. B. die Amsterdamer Judenordnung von 1616 die Errichtung von Synagogen, ein Verbot, das allerdings schon bald nicht mehr beachtet wurde. Der Hamburger Rat ließ noch in den siebziger Jahren des 17. Jhs. einen angefangenen Synagogenbau wieder einreißen. Wenn die Errichtung von Synagogen gestattet wurde, hatte dies häufig auf Hinterhofgrundstücken zu geschehen, wie sich z. B. heute noch in Halberstadt beobachten läßt. Dieses Widerstreben der Herrscher, eine öffentliche Ausübung der jüdischen Religion zu gestatten, ergab sich aus ihrem Selbstverständnis als „christliche Obrigkeiten“, mit dem, wie oben dargestellt, das Anliegen des „Schutzes“ der christlichen Religion vor dem Judentum ebenso verbunden war wie der Wunsch, die Juden zum Christentum zu bekehren. Die Existenzberechtigung der jüdischen Religion wurde hier häufig weniger in Rechnung gestellt, als dies noch im Mittelalter der Fall gewesen war.

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Der zweite Aspekt ist der der wirtschaftlichen Nutzerwägungen, die häufig mit der Zulassung von Juden verbunden waren. Aufgrund solcher Nutzerwägungen waren die Herrscher natürlich in erster Linie an der Ansiedlung von wohlhabenden und gut ausgebildeten Juden interessiert. Daß sich nur diese im eigenen Herrschaftsbereich niederließen, versuchten die Obrigkeiten, vor allem in den Territorien des Heiligen Römischen Reiches, durch die Ausstellung individueller Schutzbriefe, die nur gegen Zahlung eines bestimmten Geldbetrags erworben werden konnten, sicherzustellen. Solche individuellen Schutzbriefe ermöglichten es außerdem, Juden, deren Aufenthalt aus finanz- und wirtschaftspolitischen Gründen besonders erwünscht war, bessere rechtliche Konditionen zu gewähren als der übrigen Judenschaft. In Brandenburg-Preußen entwickelte sich hieraus ein ganzes System abgestufter Privilegierungen. Wer zu arm war, um überhaupt einen Schutzbrief zu erwerben, konnte eventuell als Hausbediensteter oder Angestellter eines „vergleiteten“ Juden unterkommen. Wenn ihm dies nicht gelang, war er gezwungen, das Territorium zu verlassen. Auch in Staaten, in denen es kein solches Schutzbriefsystem gab, wie z. B. in den Niederlanden und in England, übten die Obrigkeiten Druck auf die jüdischen Gemeinden aus, arme Juden, die nicht für ihren eigenen Unterhalt sorgen konnten, zur Weiterreise zu veranlassen. Diese auf den wirtschaftlichen Nutzen bedachte Politik der Obrigkeiten verschärfte den Prozeß der sozialen Differenzierung innerhalb der europäischen Judenschaft. Wohlhabenden oder sogar ausgesprochen reichen Juden wie den Hofjuden in den Territorien des Heiligen Römischen Reiches, den sefardischen Kaufleuten in Amsterdam, Hamburg und London und den Verwaltern und Pächtern von Adelsgütern in Polen stand auf der anderen Seite des sozialen Spektrums ein Heer von „Betteljuden“ gegenüber, die keinen festen Wohnsitz hatten, von Hausiererei, Almosen oder Diebstahl lebten und von Ort zu Ort zogen, in der Hoffnung, sich doch eines Tages irgendwo niederlassen zu können. Die Angehörigen der jüdischen Oberschicht erlebten zu dieser Zeit die Anfänge von sozialer Integration und Assimilation an die christliche Gesellschaft, wobei ihre exponierte Stellung und ihre Nähe zu den Herrschern für sie durchaus nicht unwesentliche Gefahren bargen, wie das wohlbekannte Beispiel von Josef Süß Oppenheimer (1698–1738) und auch der Chmel’nickij-Aufstand von 1648, der sich ja in erster Linie gegen die Ostkolonisation des polnischen Adels gerichtet hatte, deutlich machen. Erfuhren die Angehörigen der jüdischen Oberschicht zumindest eine gewisse Akzeptanz von seiten ihrer christlichen Umgebung, so wurden auf die umherziehenden „Betteljuden“ alle wirtschaftlichen und religiösen Ängste der Christen projiziert. Die Legende von dem ewig wandernden Juden Ahasver, die zu dieser Zeit weite Verbreitung fand, spiegelt das Gefühl der extremen Fremdheit und die mit ihm verbundenen irrationalen Ängste, die die marginalisierten jüdischen Unterschichten auf christlicher Seite auslösten. Überblickt man die zwei Jahrhunderte vom Beginn des 16. bis zum Beginn des 18. Jhs., so läßt sich feststellen, daß sich die Situation der Juden, die am Ende des Mittelalters in weiten Teilen Europas von extremer Rechtlosigkeit gekennzeichnet gewesen war, bis zum Ende des hier betrachteten Zeitraums wieder einigermaßen stabilisiert hatte. Die im 18. Jh. beginnenden Debatten der Aufklärungszeit über die „jüdische Frage“ nahmen eine Reihe von

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Themen der zurückliegenden beiden Jahrhunderte wieder auf und setzten sich sowohl mit den Errungenschaften als auch mit den Fehlentwicklungen auseinander: Die Trennung von Religion und Staat, die wirtschaftliche Nützlichkeit der Juden, die Erfahrungen von Integration und Assimilation, wie sie Angehörige der jüdischen Oberschicht bereits gemacht hatten, sowie die Verelendung der jüdischen Unterschichten und die Frage, wie diese zu beheben sei, stellten wesentliche Elemente dieser Debatten dar, die zunächst auf die „bürgerliche Verbesserung“ der Juden abzielten und dann in den Kampf um die vollständige Emanzipation mündeten.

Deborah Hertz

Konversion in Europa Für die Juden Westeuropas nahm das Jahrtausend, das gerade zu Ende gegangen ist, einen denkbar schlechten Anfang. Im ersten Jahrtausend – nach der Zerstörung des Zweiten Tempels (70 n.Chr.) – war das Christentum noch nicht das dominante Glaubenssystem Europas. Zu dieser Zeit entstanden in Mittel- und Westeuropa eher vereinzelt jüdische Siedlungen. Ihre Existenzbedingungen waren im allgemeinen jedoch günstig. Erst mit dem Ersten Kreuzzug im Jahr 1096 begann ein neues Zeitalter: Je stärker nun das Christentum wurde, desto stärker auch sein Bestreben, ganz Europa und selbst den Osten zu christianisieren. In den Städten des Rheinlands und in Frankreich wurden Juden, die sich der Konversion zum Christentum widersetzten, Opfer von Vergewaltigung, Plünderung und sogar Mord. Mit dem Fortgang des neuen Jahrtausends wurde die Frage der Konversion schließlich immer wichtiger für die Art und Weise, in der Christen Juden wahrnahmen und in der sie diese behandelten. Die Konversionsbestrebungen hatten einen beherrschenden, wenn nicht den zentralen Stellenwert, in dem eine eigene Logik mit weitreichenden Konsequenzen steckte, da das Christentum eine originär missionarische Religion war. Juden waren keineswegs die einzigen Nicht-Christen, die man dazu drängte, dem Glauben abzuschwören, in den sie hineingeboren worden waren. Der Konversion von Juden zum christlichen Glauben kam aber immer eine ganz besondere Bedeutung zu, denn sie galt den Christen als Vorbote für die Wiederkunft des christlichen Messias. Im ersten Jahrtausend, also in der Epoche vor den Kreuzzügen, war ihre Konversion allerdings nur in Ausnahmefällen mit brutaler Waffengewalt erzwungen worden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß selbst als die Kreuzfahrer Juden vor die Wahl zwischen Konversion oder Tod stellten, dies nur selten – wenn überhaupt jemals – einer offiziellen Kirchenpolitik entsprach.

Zwangstaufen im Mittelalter Die Kreuzzüge waren eine komplexe soziale Bewegung, die Päpste, Kardinäle und Bischöfe durchaus nicht immer nach ihrem Belieben steuern konnten. Die Idee, auf dem Weg zur Rettung Jerusalems vor den siegreichen Muslimen auch gleich ganz Europa von den Nicht-Christen zu befreien, ging nicht auf einen Befehl von oben zurück. Ja, zu bestimmten Zeiten waren Zwangskonversionen sogar explizit verboten. Papst Kalixt II. (1119–1124) machte durch die Bulle Sicut Judaeis in der Zeit der Kreuzfahrer wiederholt und unmißverständlich öffentlich bekannt, daß Juden nicht unter Zwang zu taufen seien. Andererseits griffen selbst Kirchenführer, die Zwangskonversionen ablehnten, nur selten ein, um Gewalt

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auf lokaler Ebene zu verhindern. Den Schutz, den Juden bei den Mächtigen und Einflußreichen suchten, gewährten nicht kirchliche Amtsträger, sondern die säkularen Herrscher und Prinzen. Eines der bekanntesten Beispiele hierfür stammt aus der Zeit, als Jerusalem im Jahr 1187 von Saladin erobert wurde und sich der Dritte Kreuzzug anbahnte. Der römische Kaiser und deutsche König Friedrich I. Barbarossa (1152–1190) gewährte den Juden des Reichs seinen Schutz, wenn auch gegen Zahlung einer beträchtlichen Summe. Friedrich I. drohte alle Kreuzfahrer zu bestrafen, die Juden töteten, die sich der Konversion verweigert hatten. Daß säkulare Herrscher das Leben von Juden schützten, geschah durchaus in ihrem Eigeninteresse – wollten sie doch die lokalen Wirtschaftsstrukturen durch den Verlust der ökonomisch nützlichen Juden nicht schädigen. Wenn selbst Bestechung und bewaffneter Widerstand gegen die Bedrohung durch die Kreuzfahrer erfolglos blieben, entschieden sich Tausende von Juden mit ihren Familien für den Freitod statt das Christentum. Der Märtyrertod genoß in dieser Zeit unter Juden hohes Ansehen, aber auch Christen schrieben religiöser Loyalität bis in den Tod einen hohen Wert zu, und gerade die Kreuzfahrer waren durch die Bereitschaft charakterisiert, ihr Leben für ihren Glauben zu geben. Trotzdem konnten die Zwangskonversionen der Kreuzfahrer, die Morde an denen, die ihnen Widerstand leisteten, und die Grausamkeit ihrer Methoden nicht verhindern, daß die jüdische Bevölkerung in diesen Jahrhunderten in Westeuropa weiter zunahm. Ein Grund dafür war, daß die meisten der in der Epoche der Kreuzzüge Konvertierten letztlich irgendwann zum Judentum zurückkehrten. Nur in seltenen Ausnahmen wurden konvertierte Juden irgendwelchen Formen von Rückkehrritualen unterzogen, weil es dem jüdischen Gesetz zufolge gar nicht möglich ist, das Judentum zu verlassen – selbst wenn ein Jude gezwungenermaßen oder freiwillig einen anderen Glauben angenommen hat. Von Päpsten und Kardinälen hingegen wurden Konvertiten, die zum Judentum zurückkehren wollten, aus offensichtlichen Gründen nicht gern gesehen, ja, sie stellten wiederholt deren Recht darauf in Frage. Im Jahr 1267 erklärte Papst Clemens IV. die Rückkehr konvertierter Juden zum Judentum sogar zu einem Verbrechen, das mit dem Scheiterhaufen bestraft werden sollte. Eine Folge der Kreuzzüge war, daß die jüdischen Händler ihre dominante Stellung im Fernosthandel verloren – die während einer langen Periode fast schon einem Monopol gleichgekommen war –, weil die christlichen Händler sich nun eigene Wege zu den fremden Märkten erschlossen. Die jüdische Ökonomie reduzierte sich in den Jahrhunderten nach den Kreuzzügen mehr und mehr auf Kleinhandel und (Klein-)Kreditwesen. Und selbst diese Erwerbszweige waren in Teilen den Kreuzfahrern zu verdanken, die sich ja bei ihrem Weg durch Europa mit Vorräten versorgen und ihr Geld in die verschiedenen Währungen umtauschen mußten. Während die Juden in Westeuropa früher eine so bedeutende Stellung eingenommen hatten, daß sie einen entsprechend starken Haß auf sich zogen, wurden sie nun immer entbehrlicher. Könige, Prinzen und Ratsversammlungen der Städte, die sie bisher vor plündernden und mordenden Kreuzfahrern geschützt hatten, waren auf den ökonomischen Beitrag der ortsansässigen Juden nicht mehr angewiesen. Somit wurde das späte Mittelalter zu der Epoche, in der Juden aus Ländern mit zentral strukturierter Herrschaft

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wie England, Frankreich, Portugal und Spanien ausgewiesen wurden, und wo man sie selbst in den dezentralisierten Gebieten der späteren Territorien Italiens, Österreich-Ungarns und des Deutschen Reichs aus zahlreichen großen Städten vertrieb. Die meisten dieser Menschen, die ihre Heimat in West- und Mitteleuropa verlassen mußten, gingen nach Polen. Für die folgenden Jahrhunderte verlagerte sich das Kerngebiet aschkenasisch-jüdischen Lebens in den Osten. In Spanien und Portugal stellte sich die Frage der Konversion im Mittelalter in wesentlichen Aspekten ganz anders dar. Die in diesen Ländern lebenden Juden wurden in eine außerordentlich wohlhabende, schöpferische und einflußreiche Gemeinde mit einer großen Tradition hineingeboren. Erst infolge der dramatischen Entwicklung der Reconquista gingen die iberischen Juden entweder im Christentum auf oder zum Ende des 15.Jhs. schließlich endgültig ins Exil. Zwar waren auch in Spanien die Konversionen von Juden und deren Folgewirkungen zentral, aber der Unterschied zu den Konversionen im Kontext der Kreuzzüge hätte kaum größer sein können. Insbesondere im 13. und 14.Jh. war die Mehrheit der Konvertiten keineswegs mit Waffengewalt in das Christentum gezwungen worden. Vielmehr waren kulturelle Assimilation und Dekrete der Zentralregierungen, die bekennende Juden aus einträglichen Positionen ausschlossen, Ursache für die wachsende Zahl von Konversionen, insbesondere von wohlhabenden und ambitionierten Juden. Aus der sich entsprechend vergrößernden Subkultur der Konvertiten leiteten die in ihren Glauben geborenen Christen eine neue Problemlage ab. Viele kirchliche Würdenträger waren besorgt, daß die neuen Christen insgeheim Juden geblieben waren. In religiösen Termini aber bedeutete geheimes Judentum Häresie. Zu jener Zeit wurden ehemaligen Juden, die im Verdacht standen, insgeheim Juden geblieben zu sein, als „marranos“ bezeichnet. Der Begriff wird meist auf ein verhältnismäßig unbekanntes jüdisches Wort für Schwein zurückgeführt. Allerdings wird von mancher Seite auch die Ansicht vertreten, „marrano“ habe einen weniger abfälligen Inhalt, da es auf das hebräische Wort hamara für Konversion zurückgehe. Im heutigen wissenschaftlichen Sprachgebrauch werden die geheimen Juden Spaniens als „KryptoJuden“ oder „Conversos“ bezeichnet. Somit erfolgten die Konversionen im spanischen Kontext häufig infolge von umfassender Akkulturation. Angesichts dessen läßt sich an diesem Beispiel besonders deutlich aufzeigen, welche Probleme mit der Angleichung von Juden an die christliche Mehrheitsgesellschaft auftreten. Mit anderen Worten: Es ging um mehr als um eine äußerliche Änderung der religiösen Zugehörigkeit. Solange jüdische Körper erkennbar anders aussahen als christliche und Juden eine andere Sprache sprachen, solange sie in eigenen Vierteln oder Städten lebten und in gesonderten ökonomischen Sektoren ihrem Erwerb nachgingen, hatten Christen die Kontrolle darüber, wie intensiv ihr Kontakt zu Juden war. Als sich das jüdische Dasein jedoch in einem so hohen Maß veränderte, daß Juden als Christen gelten konnten, wurde die Sache komplizierter. Zuvor hatten sie sich nicht nur äußerlich deutlich abgehoben, sondern sie hatten auch ihrerseits das Christentum abgelehnt. Der religiöse Unterschied entsprach somit den verschiedenen anderen Ebenen, auf denen Juden anders waren und von Christen als minderwertig eingestuft wurden. Im spätmittelalterlichen Spanien jedoch

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sahen Juden wie Christen aus und sprachen wie sie, ja waren willens, selbst Christen zu werden. Viele gebürtige Christen hingegen wollten die Distanz zu den gebürtigen Juden nicht aufgeben, und das hieß, daß das Ausschließungsprinzip neu definiert werden mußte. Vor diesem Hintergrund entstanden im mittelalterlichen Spanien die ersten Anfänge des rassistischen Antisemitismus in Europa. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zur Zeit der Kreuzzüge lag darin, daß konvertierte Juden im Prozeß der Konversion Spaniens eine Schlüsselrolle für die christliche Mission innehatten. Heute ist das komplexe Verhältnis von persönlicher Identität und öffentlicher Rolle missionierender Konvertiten stärker in den Blickpunkt des historiographischen Interesses gerückt. Die verfügbaren autobiographischen Quellen sind deshalb insbesondere im Hinblick auf die Frage interessant, inwieweit Missionare, die vom Judentum zum Christentum konvertiert sind, von Selbsthaß angetrieben wurden und wie echt ihre innere religiöse Wandlung tatsächlich war. Das läßt sich etwa am Beispiel des Abner von Burgos zeigen. Der bedeutende jüdische Gelehrte war Anhänger eines jüdischen Mystikers, den man den Propheten von Ávila nannte. Es wird berichtet, daß die in der Synagoge versammelte Anhängerschaft Ávilas eines Tages sah, wie sich auf ihren Gewändern unerklärlicherweise Kreuze abzuzeichnen begannen. Abner deutete dies als Zeichen, daß Ávila kein jüdischer Erlöser sein konnte. Im Jahr 1321 kehrte er dem Judentum den Rücken und wurde Christ. Unter seinem neuen Namen Alfonso de Valladolid führte er bald in zahlreichen Traktaten, die in hebräischer und spanischer Sprache erschienen, aggressive Attacken gegen das Judentum. In den Jahren 1336 und 1348 – zur Zeit der Pest – unterstützte Abner König Alfons XI. von Kastilien bei dessen harscher Judengesetzgebung. Er argumentierte, daß die Erlösung für die Juden nur kommen könne, „wenn viele jüdische Gemeinden niedergemetzelt werden“, und daß solche Gemetzel Juden dazu veranlassen würden, aus Furcht sofort zu dem überlegenen christlichen Glauben überzutreten. Die Zeit des Abner von Burgos war durch eine generelle Verschlechterung der Lage der spanischen Juden gekennzeichnet. Die intellektuelle Kluft zwischen Judentum und Christentum vertiefte sich zusehends. Das Judentum wurde stärker mystisch und messianisch, wodurch das Christentum gebildeten Juden wiederum attraktiver erschien. Die Rezeption der aristotelischen Schriften, früher die Domäne von Muslimen und Juden, wurde nun von christlichen Gelehrten betrieben. Zudem schadeten diskriminierende Regierungserlasse den Juden in ökonomischer Hinsicht, da sie christlichen Schuldnern erlaubten, Schulden an jüdische Gläubiger nicht zu begleichen. Im Jahr 1348 wurde die Pest zum Anlaß schwerer Blutschuldvorwürfe. 1391 kam es im Staat Sevilla zu schweren antijüdischen Ausschreitungen. Jüdische Frauen und Kinder wurden als Sklaven an Muslime verkauft, Synagogen in Kirchen umgewandelt und Hunderte von Juden niedergemetzelt. Ganze Gemeinden wurden Opfer von Zwangsbekehrungen, und manche Märtyrer gingen in den Tod, statt Christen zu werden. Die Gewaltbereitschaft der einheimischen Bevölkerung gegen nichtkonvertierte Juden verschaffte der Kirche und den staatlichen Amtsträgern eine Basis, ihrerseits den Druck auf Juden zu verstärken. Dem Dominikanermönch Vicente Ferrer (1350–1419) kam in dem

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nachfolgenden Zusammenspiel von volkstümlicher Gewalt, Staat und Kirchenpolitik eine Schlüsselrolle zu. Ferrer war als Anführer einer Gruppe fanatischer Flagellanten bekannt, die durch die Lande zog und die „Bekehrung“ der Juden predigte. Die Ausschreitungen von 1391 hatte Ferrer zwar öffentlich verurteilt. Er vertrat jedoch den Standpunkt, die Gewaltexzesse hätten die Intensität des Hasses der Massen auf die Juden bewiesen, eine Situation, in der Staat und Kirche handeln müßten. Deshalb drängte er den Gegenpapst Benedikt XIII. (1394–1409 bzw. 1417) und König Ferdinand I. von Aragon dazu, eine ganze Kette von antijüdischen Erlassen zu verfügen. Seit diesem Zeitpunkt begann die Zahl der Juden, die konvertieren wollten, sprunghaft zu steigen. Ferrer war es auch, der die berüchtigte öffentliche theologische Disputation von Tortosa (1413/1414) organisierte, mit der das Judentum theologisch diskreditiert werden sollte. In der Disputation von Tortosa repräsentierte ein Konvertit mit Namen Geronimo de Santa Fé die christliche Seite. Gelehrten Konvertierten kam in solchen religiösen Disputationen vor einem großen Publikum eine ganz zentrale Funktion zu: Sie waren gewissermaßen die leibhaftige Verkörperung der Botschaft, daß frühere Juden nicht nur die christliche Botschaft als wahr erkennen, sondern ihr Wissen über das Judentum sogar zur Kritik an der einstigen Religion verwenden konnten. Nach den Disputationen von Tortosa verschlechterte sich die Lage der Juden immer mehr. 1415 zwang König Ferdinand von Aragon die Juden, ihre Abschriften des Talmud zur Zensur vorzulegen. Unter den Juden war die allgemeine Verzweiflung inzwischen so groß geworden, daß selbst jüdische Gemeindeälteste ihren Glauben aufgaben. In den vierziger Jahren des 15. Jhs. kam es in Toledo und Ciudad Real zu schweren Ausschreitungen gegen die Neuen Christen. Die sich nun entfaltende Feindschaft zu den Conversos war der Beginn einer dramatischen Entwicklung, an deren Ende die Vertreibung der Juden aus Spanien stand. Im Jahr 1478 schuf Papst Sixtus IV. (1414–1484) das berüchtigte Heilige Officium der Inquisition. Seit der Entstehung des christlichen Glaubens hatte die Konversion Juden einen Ausweg vor antijüdischen Verfolgungen geboten. Mit der Verfolgung der Juden, die diesen entscheidenden Schritt getan hatten und Christen geworden waren, war eine qualitativ neue Stufe erreicht. Inquisitoren, häufig selbst Konvertiten, verfolgten andere Neue Christen, die des Krypto-Judentums verdächtigt wurden. In manchen Fällen belasteten die Ankläger sogar ihre eigenen Eltern. So geschah es etwa im Fall des Fernan Falcon, der sich gegen seinen Vater, den Vorsteher der krypto-jüdischen Gemeinde von Ciudad Real, stellte, oder dem der Carolina de Zamora, deren Sohn, der Mönch geworden war, sie auf dem Scheiterhaufen sehen wollte. Das sollte er allerdings nicht erreichen. Die Inquisitoren ließen sie auspeitschen, statt sie zum Tod zu verurteilen. Manche Juden versuchten zu fliehen. Die reichste Konvertitenfamilie von Ciudad Real beispielsweise kaufte ein Schiff und versuchte, nach Valencia zu gelangen, doch trieben widrige Winde sie in den heimatlichen Hafen zurück. Schließlich wurden sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Im Jahr 1492 wurden 13 000 Conversos des heimlichen Judentums angeklagt. Schwerste Strafen wurden verhängt. Selbst nach verbüßter Haft konnte man sie zwingen, ein Jahr oder länger ein sackleinenes Gewand mit zwei gelben Kreuzen zu tragen. Legte er oder sie es un-

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erlaubt ab, konnte das mit dem Tod durch Verbrennen bestraft werden. Aus dem Gefängnis entlassene Conversos wurden häufig zu Spitzeldiensten gezwungen. Die mannigfachen Strafen, die ihren Alltag im Hinblick auf Arbeit, Kleidung und Speisen reglementierten und erschwerten, konnten sogar noch von den Kindern beklagter Conversos geerbt werden. Bis zu 2 000 Conversos fanden auf dem Scheiterhaufen den Tod. Mit der christlichen Rückeroberung des Königreichs Granada, der letzten Bastion der Muslime auf der Iberischen Halbinsel, wurde das vereinigte Spanien im Jahr 1492 endgültig wieder christlich. Die spanischen Juden standen vor der Wahl zwischen Konversion oder Vertreibung. Wie die meisten Familien von Einfluß, entschied sich auch der gemeindeälteste Rabbiner für die Taufe. Annähernd 200 000 nichtkonvertierte Juden verließen Spanien in diesem Jahr; mehr als die Hälfte von ihnen ging nach Portugal. Das sollte sich jedoch nur als vorübergehende Lösung erweisen, denn vier Jahre später wurden die jüdischen Gemeinden auch aus Portugal vertrieben. In Spanien blieben etwa 300 000 Conversos zurück. Dies war das schreckliche Ende der einst blühenden jüdischen Kultur im mittelalterlichen Spanien. An der Geschichte Spaniens läßt sich zeigen, daß die Konversion im Prinzip einen legitimen Ausweg aus dem Judentum darstellen konnte. Wurde die Zahl der Konvertiten jedoch zu groß, konnten Christen selbst diesen Akt der Aufgabe des jüdischen Glaubens als nicht ausreichend behandeln. Das ist die existentielle Lehre aus der Geschichte der spanischen Juden, die besser verstehen läßt, weshalb Nachkommen von Conversos in späteren Jahren so häufig zum Judentum zurückgekehrt sind.

Missionsbestrebungen von Konvertiten und Pietisten Im Jahr 1492, in dem Jahr, in dem die nichtkonvertierten Juden Spaniens aus ihrer Heimat vertrieben wurden, begann der bedeutende deutsche Humanist Johannes Reuchlin am Hofe Kaiser Friedrichs III. mit dem Studium des Hebräischen. Bei italienischen christlichen Gelehrten hatte Reuchlin bereits die Kabbala studiert, den Schlüsseltext der jüdischen Mystik. Er kam dadurch zu dem Schluß, daß er auch Hebräisch lernen müsse, um die Tora, somit auch das christliche Alte Testament, durch das Studium in der Originalsprache besser verstehen zu können. Da Hebräisch an keiner der europäischen Universitäten gelehrt wurde, ließ er sich schließlich von dem jüdischen Arzt Kaiser Friedrichs III., Jacob ben Jechiel Loans, unterrichten. Reuchlin verwickelte sich später in einem ausgedehnten öffentlichen Disput mit dem Konvertiten Johannes Pfefferkorn. Pfefferkorn ist ein weiteres Beispiel für einen aggressiv antijüdischen Konvertiten. 1504 war er zum Christentum übergetreten und in einem bedeutenden Dominikanerkloster zu Köln tätig geworden. Fünf Jahre nach seiner Konversion beauftragte Kaiser Maximilian I. (1493–1519) Pfefferkorn mit der Zensur und Konfiskation „unwahrer und unnützer“ jüdischer Schriften. Der Fanatismus, mit dem Pfefferkorn sich diesem Auftrag verschrieb, rief von seiten der jüdischen Gemeindeältesten Empörung, aber auch Spott hervor, denn vor seiner Konversion war er Metzger, und seine Kenntnis der jüdischen Schriften galt nicht als profund.

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Sowohl der Kaiser als auch Pfefferkorn gingen von der Annahme aus, daß eine größere Zahl von Juden konvertieren würde, wenn man ihnen ihre heiligen Schriften nähme. Doch letztlich durchkreuzte Johannes Reuchlin ihren Plan. Der Erzbischof von Mainz nämlich befragte verschiedene Theologen und andere Experten im Hinblick auf Pfefferkorns Auftrag, die jüdischen Texte zu konfiszieren. Zur allgemeinen Überraschung erklärte Reuchlin, immerhin der bedeutendste Hebraist seiner Zeit, daß es den Juden gestattet sein müsse, die Schriften zu behalten. Reuchlin war nicht unbedingt projüdisch, aber er war davon überzeugt, daß die Juden die Wurzeln des Christentums durch das Studium der Tora in der Originalsprache lebendig erhielten. Ihm zufolge vermochten christliche Gelehrte die hebräischen Texte nur dann richtig auszulegen, wenn Juden weiterhin aus ihren heiligen Quellen lernen konnten. Pfefferkorns öffentliche Rolle als judenfeindlicher Konvertit entsprach, wie gezeigt worden ist, einem etablierten Verhaltensmuster. Je weiter man in der Chronologie des 16.Jhs. voranschreitet, desto häufiger werden solche Fälle von gelehrten Juden, die in zuweilen extrem antijüdischer Form missionierten. Neu an diesem Fall war also nicht die Rolle Pfefferkorns, sondern die Reuchlins, der sich als christlicher Gelehrter und Hebraist zum Verteidiger jüdischer Rechte machte. An ihm, dem humanistischen Schüler des Hebräischen, läßt sich exemplarisch aufzeigen, wie sehr die Reformation die Konversionsproblematik verändert hatte. Für gelehrte Christen war es im Kontext dieser Zeit nicht mehr akzeptabel, Juden mit Gewalt zur Konversion zu zwingen, ebensowenig wie die Verfolgung von ehemaligen Juden, die Christen geworden waren. Hiermit ist der Übergang zu einer Zeit markiert, in der der Dialog zwischen den Religionen zunehmend intensiver wurde und in der sogar synkretistische Sekten entstanden, die sich zwischen den großen etablierten Religionen positionierten. Unter den Pietisten im Deutschland des 17. und 18.Jhs. waren die Sympathien protestantischer Intellektueller für das Judentum besonders ausgeprägt. Zwar ging man auch hier zweifellos davon aus, daß die Begeisterung für das Erlernen jüdischer Sprachen und Bräuche den missionarischen Zielen langfristig dienen würde. Dennoch gingen die Pietisten mit ihrer Bekehrungsmission weitaus behutsamer um als frühere Missionare. So sagte etwa Philipp Jakob Spener im Jahr 1711, „die Pflicht christlicher Liebe macht es allen Christen zur Aufgabe, mit Gebeten und durch gerechte wie sanftmütige Haltung zum Guten dieses Volkes beizutragen und jede Gelegenheit zu nutzen, um sie in Freundschaft anzusprechen und ihnen von unserer Religion zu künden“. Die „Bekehrung“ der Juden wurde ein zentrales Anliegen der Pietisten. Zum Vorbild der pietistischen Missionare ganz Europas wurde dabei der Fonds für Konvertiten, den Esdras Edzard (1629–1708) 1656 in Hamburg errichtete. Geistliche von nah und fern wurden dort sowohl in rabbinischem Wissen als auch missionarischen Techniken unterrichtet. Edzard legte besonderen Wert darauf, daß man potentielle Konvertiten schon vor der Taufzeremonie dabei unterstützte, einen praktischen Beruf zu erlernen. Das war ein außergewöhnlich praxisnaher Ansatz, der ein Grundproblem von Konvertiten in den Gesellschaften der frühen Neuzeit aufgriff. Nach dem Tod Edzards im Jahr 1708 wandte sich sein Sohn anderen Aufgaben zu, so daß seine Hamburger Einrichtung schließlich geschlossen wurde. In der

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Folge befaßten sich vor allem pietistische Professoren der preußischen Universitätsstadt Halle mit der Frage, wie Konvertiten ihr weiteres Leben zu gestalten hätten, und das in einer Form, die weit über das von Edzard Erreichte hinausging. Johann Heinrich Callenberg (1694–1760) hatte dort im Jahr 1728 das Institutum Judaicum gründete, nachdem er an der Universität zu Halle – ebenfalls bei einem Konvertiten – Jiddisch gelernt hatte. Schon bald erhielt er in Halle eine Professur und lehrte selbst Hebräisch, Jiddisch und jüdische Theologie. Das von Callenberg gegründete Institut widmete sich nicht direkt der Konversion von Juden, aber es trug in verschiedenen Formen zum Projekt der Konversion bei. Mitarbeiter des Instituts veröffentlichten und verbreiteten missionarische Texte in jiddischer Sprache und besuchten die Synagogen während der Gebetsstunden und danach, um religiöse Juden in einen Disput zu verwickeln. Manchmal sollen die Missionare die Rabbiner sogar „offen angegriffen“ haben. In der aktivsten Zeit des Instituts waren zwanzig Wanderprediger im Einsatz. Alle sprachen Jiddisch und waren in der jüdischen Theologie bewandert – ein Wissen, das sie für die stetige Auseinandersetzung mit den zu konvertierenden Juden auch brauchten. Der Erfolg, den sie dabei hatten, beruhte auf einer sorgfältig geplanten Strategie. Stefan Schulz, einer der Missionare aus Halle, zeigte sich stolz, daß er „gut genug Jiddisch sprach, um als Jude zu erscheinen“. Die Missionare wurden nicht nur dazu ausgebildet, die Sprache richtig zu sprechen, sondern lernten auch, sich entsprechend zu kleiden. In den vierziger Jahren des 18. Jhs. berichteten zwei Wanderprediger, daß sie „bewußt in den ärmlichsten Kleidern auf Reisen gingen“, „weil unsere Arbeit es verlangt; die meisten Juden sind arm und würden vor einem ehrbaren Mann zurückscheuen“. Obwohl die statistischen Angaben zur Gesamtzahl der konvertierten Juden sehr ungenau sind, stand damals wie heute nicht in Zweifel, daß die meisten Konvertiten in der frühen Neuzeit tatsächlich arm waren, als sie Christen wurden, und daß sie arm blieben. Um 1730 schlug Johann Georg, ein Missionar an Callenbergs Institut, vor, die vom Judentum übergetretenen Konvertiten in einer Versammlung zusammenkommen zu lassen: „Das wäre eine großartige Versammlung. Jeder könnte ihre Armut sehen und sagen: Ich bin erstaunt, daß auch nur ein Jude sich entschlossen hat, Christ zu werden.“ Die pietistischen Missionare waren wegen der seelischen, sozialen und materiellen Probleme der Konvertiten so besorgt, daß sie den Vorschlag machten, sie innerhalb ihrer sogenannten Brüdergemeinen in eigens segregierten Gruppen anzusiedeln. In dieser abgeschlossenen Form würden die Konvertiten weiterhin „eine Nation jenseits anderer Völker“ bilden. Callenberg wollte damit „alternative jüdische Identitäten“ für ehemalige Juden schaffen. Daß seine Idee weder dem Judentum noch dem jüdischen Volk dienen sollte, ist offensichtlich. Vielmehr sollte die neue hybride, möglicherweise sogar synkretistische Identität die Zahl der Konvertiten weiter steigen lassen. Er empfahl sogar, in den Brüdergemeinen eine Reihe jüdischer „Riten und Bräuche“ zu gestatten. Tatsächlich hat es solche segregierten Konvertitengruppen dort nie gegeben, und mit der wachsenden Religionskritik der Aufklärung gegen Ende des 18. Jhs. verblaßte die Anziehungskraft des Pietismus. Auch in herrschenden Kreisen fand er immer weniger Unterstützung, so daß die Patronage für das Hallenser Institut ebenso abnahm wie die Unterstützung mit den notwendigen finanziellen Mitteln.

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Der pietistische Versuch, Juden zu Christen zu bekehren, scheint einen intensiven theologischen Dialog zwischen religiösen Juden und religiösen Christen angestoßen zu haben. Die Missionare waren dabei offensichtlich nicht weit davon entfernt, verschiedenste religiöse Praktiken zu empfehlen – was einem dieser Periode generellen Trend zum Synkretismus entspricht. Juden wie Sabbatai Zwi und Jakob Frank hatten das Judentum verlassen und gleichzeitig den Anspruch erhoben, ihren alten Glauben in den neuen integriert und nicht etwa aufgegeben zu haben. Andere – wie die Krypto-Juden, deren Vorfahren aus Spanien und Portugal geflohen waren – kehrten offiziell zum Judentum zurück und erhoben gleichzeitig den Anspruch, ihren alten Glauben niemals wirklich verlassen zu haben.

Konversionsmotive in der Moderne In den Jahrhunderten zwischen dem Ersten Kreuzzug und der Französischen Revolution beschrieben Juden, die Christen wurden, und solche, die den Prozeß der Konversion verfolgten, diese individuell getroffenen Entscheidungen stets in religiösen Termini. Zweifelsohne gab es auch pragmatische Beweggründe für Konversionen, doch in den verfügbaren Quellen werden sie nur selten explizit. Komplexere Motive jenseits der Religion lassen sich nur in einigen Fällen erschließen. Reuchlin sagte, Juden träten zum Christentum über aus „Eifersucht, Haß, Angst vor Bestrafung, Armut, Rache, Ehre, Liebe zur Welt, böser Schlichtheit und anderen Gründen“. Grundsätzlich aber wäre es in dem breitgefächerten Spektrum der Motive, die in den ersten acht Jahrhunderten dieses Jahrtausends zur Konversion führten, undenkbar gewesen, diese als Ersatz für politische Emanzipation zu betrachten. Da das Konzept bürgerlicher Gleichheit nicht existierte, konnte der Erwerb des Bürgerrechts für Juden auch kein Motiv zur Konversion sein. Politische Emanzipation, rechtliche Gleichstellung und Karrierestreben – das sind Stichworte, die den Bezugsrahmen der Konversionsproblematik der Moderne abstecken. Als erste nationale jüdische Gemeinde erlangte die jüdische Gemeinde Frankreichs im Jahr 1791 die Bürgerrechte, doch folgten nur wenige Staaten dem französischen Beispiel, wenigstens nicht unmittelbar. Deshalb begannen konvertierte Juden im Europa des 19. Jhs. die Konversion als eine Art Ersatz zu betrachten, mit der sie rechtliche Gleichstellung erlangen konnten. Religiöse Begründungen der Konversion wurden seltener. Exemplarisch zeigt sich dies am Fall Daniel Chwolsons (1819–1910), der in Wilna geboren wurde und an der Universität von Breslau studierte. Er trat 1855 zur griechisch-orthodoxen Kirche über, um an der Universität von Sankt Petersburg eine Professur in Orientalistik antreten zu können. Offensichtlich wurde ihm die Frage gestellt, ob er aus Überzeugung übergetreten sei. Seine Antwort soll gelautet haben: „Ja, ich war davon überzeugt, daß es besser war, Professor in St. Petersburg zu sein als ein melamed (Lehrer) in Eyshishok.“ Chwolson war keineswegs ein von Selbsthaß oder Antisemitismus erfüllter Jude. Vielmehr nutzte er seine Position, um die russischen Juden zu unterstützen und sie gegen Blutbeschuldigungen (Ritualmordvorwürfe) zu verteidigen. Sein Fall ist ein Beispiel mehr dafür, daß die historische Analyse

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möglichst differenziert erfolgen muß, bevor Konversionen als opportunistisch etikettiert werden. Stets ist darauf zu achten, wie pragmatische, psychologische und religiöse Beweggründe auf intellektueller und emotionaler Ebene individuell miteinander verknüpft wurden. Die scheinbar klaren Kategorisierungen der Geisteswissenschaften bergen immer die Gefahr, individuelle Fälle in unzulässiger Weise zu nivellieren. Im Europa des 19. Jhs. präsentiert sich die Konversion in verschiedenen Beziehungen wiederum als eine kontextspezifische Problematik. Zunächst einmal war auf dem europäischen Kontinent die Zahl derer, die selbst konvertierten oder die ihre Kinder konvertieren ließen, höher als zuvor. Im 18.Jh. hatte die Höchstzahl der Konvertiten selten über hundert Personen pro Jahr gelegen, oft genug waren es jedoch sogar wesentlich weniger. Im 19. Jh. aber, insbesondere im ausgehenden 19. Jh., kam es vor, daß allein in Großstädten mehrere hundert Juden innerhalb eines Jahres konvertierten. Darüber hinaus waren die Juden, die sich im Europa des 19.Jhs. zum Religionswechsel entschlossen, im allgemeinen reicher und weltlicher als die Konvertiten der früheren Jahrhunderte. Man muß schon auf das spätmittelalterliche Spanien und Portugal zurückgehen, um eine vergleichbar hohe Zahl von gebildeten und privilegierten Konvertiten zu finden. Vom 19.Jh. bis in das frühe 20.Jh. sprach viel für die Konversion, um persönliche Karriere- bzw. Aufstiegschancen zu verbessern. Der schnelle Zuwachs an Wohlstand ermöglichte einer großen Zahl junger jüdischer Männer erstmals den Zugang zu den höheren Bildungseinrichtungen. Viele von ihnen wollten die Welt der kleinen, rein jüdischen Familienbetriebe hinter sich lassen. Staatsämter auf höherer Ebene blieben nichtkonvertierten Juden indes weiterhin verschlossen. Die hohe Konversionsrate von Männern im Alter von Anfang 20 ist deshalb häufig mit dem Karrieremotiv erklärt worden. Die Lebensgeschichten sogenannter karrieristischer Konvertiten sind aber oft paradox. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist Heinrich Heine (1797–1856), der mit 26 Jahren zum Protestantismus übertrat. Heine wollte sich damit den Weg in eine juristische Laufbahn ebnen. Letztlich hat er sie nie eingeschlagen, so daß die Nachwelt in den Genuß seiner Gedichte und Prosa gekommen ist. Der Dichter hat seinen Übertritt später bedauert, zumindest nach eigenem Bekunden. Daß sein berühmtes Bonmot von der Konversion als „Entreebillet in die europäische Kultur“ ihn selbst gar nicht betraf, da er offensichtlich rein pragmatisch handelte, entbehrt nicht einer gewissen Pointe. Das karrieristische Konversionsmotiv kam häufig auch generationenübergreifend zum Tragen. Der oft hohe Anteil von Konvertiten im Kindesalter ist mit der Taufe von Kindern – insbesondere männlichen Geschlechts – durch die Eltern zu erklären. Solche Konversionen sind offensichtlich vollzogen worden, bevor sich der spätere berufliche Weg des Kindes abzeichnete. Autobiographischen Quellen zufolge ließen Eltern ihre Kinder konvertieren, um ihnen die inneren Konflikte der Konversion zu ersparen, die mit einer öffentlichen Änderung der religiösen Identität im Erwachsenenalter psychologisch und moralisch einhergehen würden. Karl Marx ist eines der berühmtesten Beispiele für die Konversion im Kindesalter. Sein Vater Heinrich war 1817 in Trier konvertiert, um als Rechtsanwalt arbeiten zu können. Sieben Jahre später ließ er seinen damals sechsjährigen Sohn Karl zusammen mit

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den sieben Geschwistern taufen. Ein anderer berühmter Fall dieses Typus ist Benjamin Disraeli (1804–1881), dessen Konversion – ebenfalls gemeinsam mit seinen Geschwistern – von seinem Vater 1817 in London veranlaßt wurde. Disraeli wurde später Premierminister von England und ein bekannter Romanautor. Im Mittelpunkt seiner populären Romane standen jüdische Protagonisten, die sich durch besondere Bildung und besonders bewundernswerte Eigenschaften auszeichneten. Ein weiteres häufiges Motiv für die Konversion in der Moderne war die Ehe mit einem gebürtigen Christen. Auch das ist im Vergleich zu den vorhergehenden Jahrhunderten ein neues Element. Zumindest in Mittel- und Westeuropa hatten Konvertiten bislang nur selten gebürtige Christen geheiratet. Solche Beziehungen, die die religiöse Kluft überbrückten, stellten die Partner allerdings insofern vor ein Problem, als weltliche oder nichtkirchliche Trauungen im 19.Jh. nur in wenigen europäischen Ländern erlaubt waren. Wenn gebürtige Christen Juden heiraten wollten, mußten Juden zum Christentum übertreten. Umgekehrt waren nur wenige Christen bereit, Juden zu werden, und in manchen Fällen war die Konversion vom Christentum zum Judentum sogar explizit verboten. Insbesondere in der Ära der Salons im Berlin des frühen 19. Jhs. konvertierten zahlreiche wohlhabende und kultivierte jüdische Frauen kurz bevor sie einen gebürtigen Christen heirateten. Zwei der bekanntesten Frauen aus der Zeit der Berliner Salons waren Rahel Varnhagen von Ense (1771–1833) und Dorothea Schlegel (1764–1839). Dorothea, die Tochter von Moses Mendelssohn, ist sogar zweimal konvertiert, das erste Mal im Jahr 1802, als sie Protestantin wurde, und das zweite Mal 1808, als sie Katholikin wurde. Ihre Söhne aus der ersten Ehe mit Simon Veit wurden später bedeutende katholische Künstler, die im Stil der Nazarener arbeiteten. Während Konversionen aus beruflich-pragmatischen Gründen Rückschlüsse auf die beruflichen Einschränkungen von Juden zulassen, geben Konversionen wegen konfessionsübergreifender Eheschließungen Aufschlüsse über die Bereitschaft von Christen und ihren Familien, enge Verbindungen zu Juden einzugehen, denn im 19.Jh. hatte die Ehe für die gesamte erweiterte Familie der Ehepartner noch eine zentrale Bedeutung. Ethnische „Mischehen“ waren häufig der letzte Schritt der Abkehr vom Judentum, sowohl im Hinblick auf Einzelpersonen als auch auf die jüdische Bevölkerung insgesamt. Während Konvertiten andere Konvertiten heiraten und ihr Leben in einer Art Subkultur ehemaliger Juden führen konnten, erzogen ehemalige Juden, die gebürtige Christen geheiratet hatten, ihre Kinder fern von jeglicher jüdischen Tradition. Abgesehen von den Beispielen von Juden, die aus beruflichen Gründen konvertierten oder weil sie heiraten wollten, gab es nach wie vor Konvertiten, die diesen Schritt nachgewiesenermaßen aus religiösen Gründen getan haben. Wie in früheren Jahrhunderten bauten sich diese aus innerer Überzeugung konvertierten Juden in christlichen Institutionen ein neues Leben auf. Ein Beispiel dafür ist Michael Solomon Alexander (1799–1845). Alexander wurde in Deutschland geboren und ging später nach England, wo er Kantor wurde. Durch den Kontakt zu anglikanischen Missionaren wurde er 1825 im Alter von 26 Jahren selbst Anglikaner. Nachdem er eine Weile Hebräisch unterrichtet hatte und vorü-

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bergehend als Geistlicher, im Missionsdienst sowie als Professor am King’s College in London tätig war, wurde er schließlich der erste anglikanische Bischof von Jerusalem. Er und andere Konvertiten unterzeichneten im Jahr 1840 ein Protestschreiben gegen den Blutschuldvorwurf von Damaskus. Seine Lebensgeschichte ist ein Beispiel dafür, daß die Zahl gelehrter antisemitischer Konvertiten in der Moderne deutlich zurückging. Zwei weitere Beispiele für Konvertiten des 19. Jhs., die sich als Brücke zwischen den Religionen verstanden haben, sind die französischen Gebrüder Theodore (1802–1884) und Alphonse (1812–1884) Ratisbonne. Theodore, der ältere Bruder, ließ sich im Geheimen taufen und wurde 1830 zum Priester ordiniert. Zwölf Jahre später hatte sein Bruder Alphonse, der ihm seine Konversion jahrelang nicht vergeben hatte, in einer Kirche in Rom eine Vision von der Jungfrau Maria und wurde ebenfalls Katholik. Die Brüder gründeten in Paris zwei katholische Frauenkongregationen und veröffentlichten eine ganze Reihe von Schriften. Alphonse verbrachte seine drei letzten Lebensjahrzehnte in Palästina, wo er in der Altstadt von Jerusalem das Kloster Ecce Homo der Schwestern Unserer Lieben Frau von Zion gründete. Im frühen 19.Jh. stößt man auf ein vollkommen neues Motiv für die Konversion, das als kulturelles oder postreligiöses Motiv bezeichnet werden kann. Manche Juden suchten eine innere Verbindung – nicht zur christlichen Religion in einem spirituellen oder theologischen Sinn, sondern zu der Mehrheitskultur, die vom Christentum bestimmt war. Heines Gedanke von der Konversion als „Entreebillet in die europäische Kultur“ trifft vor allem für diesen Typus zu. Ein bekanntes Beispiel für kulturelle Konversion ist die einer ganzen Familie, die mit dem Übertritt des Ehepaars Abraham (1776–1835) und Lea Mendelssohn begann. Sie ließen 1816 zuerst ihre vier Kinder konvertieren und traten sechs Jahre später, im Jahr 1822, schließlich selbst zum Christentum über. Ihr Sohn Felix gelangte später als Komponist und Dirigent zu großer Berühmtheit. Die Konversion des Vaters war unter den Geschwistern Mendelssohn keineswegs die Ausnahme: Von den sechs Kindern der Eltern Moses und Fromet waren vier Christen geworden. Am Beispiel dieser berühmten Familie kann man die Krise des Judentums im frühen 19. Jh. exemplarisch aufzeigen. Es wäre unrichtig zu behaupten, daß die Förderung der Karriere im eigentlichen Sinn der Grund für Abraham und Leah war, ihre Familie zu Protestanten zu machen. Abraham blieb Bankier, und auch die Musik war kein Feld, in dem Konversion zwingend erforderlich war. Daß ein nichtkonvertierter Jude als Musiker durchaus Karriere machen konnte, läßt sich an vielen Beispielen belegen, so etwa bei Giacomo Meyerbeer, einem bedeutenden nichtkonvertierten Komponisten. Abraham hat seine eigene Konversion seinen Kindern gegenüber nie religiös begründet. Er bemerkte vielmehr, daß man Christ sein müsse, „weil es die religiöse Form ist, die von der Mehrheit der zivilisierten Menschheit akzeptiert“ worden sei. Die in der Forschung am häufigsten zitierte Schätzung der Gesamtzahl von Konversionen im Europa des 19. Jhs. geht auf die Berechnungen von Johannes de la Roi zurück. Sie beläuft sich auf 204 540. Im einzelnen verteilt sich dies auf 72 240 Konvertierte, die zu Protestanten, 74500, die griechisch-orthodox, und 57300, die römisch-katholisch wurden. Außerdem verfügt man über rudimentäre, aber aufschlußreiche Kenntnisse hinsichtlich nationaler Muster der Konversion, die ebenfalls auf den Zahlen von de la Roi beruhen. Man

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weiß, daß es in Rußland die größte Zahl von Konvertiten gab (8400). Fast zur Hälfte handelt es sich dabei allerdings um halbwüchsige Knaben, die bei der Zwangsrekrutierung in das Militär zur Konversion gezwungen wurden. Da sich die jüdische Einwohnerzahl Rußlands im 19. Jh. auf ungefähr fünf Millionen Menschen belief, kann man den prozentualen Anteil freiwillig Konvertierter auf eins zu 125 schätzen. Im Westeuropa finden sich allerdings wesentlich höhere Konversionsraten, was angesichts der geringeren jüdischen Einwohnerzahl und der intensiveren Akkulturation und Integration, vor allem in den Hauptstädten, auch naheliegt. In Frankreich gab es 2400 Konvertiten bei einer jüdischen Basisbevölkerung von 80 000, so daß das Verhältnis von Konvertiten zu Juden bei eins zu 33 lag. In Österreich-Ungarn belief es sich auf eins zu 27 und in Deutschland auf eins zu 26. Österreich-Ungarn und Deutschland waren die zwei Länder, in denen Juden sowohl besonders große Chancen hatten als auch besonders einschneidend diskriminiert wurden. Aus ihnen stammt die mit Abstand größte Zahl von Intellektuellen, die schriftliches Zeugnis von ethnischen Identitätskonflikten abgelegt hat. Trotzdem scheint die Annahme ein Irrtum, daß berühmte und kreative Konvertiten notwendigerweise aus solchen Ländern stammen müssen, in denen der Anteil der Konvertiten insgesamt besonders hoch war. Gerade in England, wo die bürgerliche Emanzipation wesentlich behutsamer voranschritt, scheint es beispielsweise eine deutlich höhere Konversionsrate gegeben zu haben als in Deutschland und Österreich-Ungarn. Den verfügbaren Statistiken zufolge, die allerdings dürftig sind, soll die englische Konversionsrate sogar bei eins zu zehn gelegen haben. Da die Zahl der Konvertiten so hoch und unter ihnen so viele kulturell bedeutende Personen waren, hatte die Konversion innerhalb wie außerhalb des Judentums beträchtliche Auswirkungen. Man weiß, daß die relative Konversionsrate in den deutschen Staaten im frühen 19. Jh. höher war als nach 1850. Dieser Trend trägt zur Erklärung der Tatsache bei, weshalb in den zwanziger Jahren des 19. Jhs. gerade in Berlin und Hamburg religiöse jüdische Eliten mit alternativen Formen des jüdischen Ritus auf die Konversionswelle reagierten. Gegen Mitte des Jahrhunderts hatten sich mit dem Reformjudentum und dem liberalen (oder konservativen) Judentum zwei Alternativen zum traditionellen Judentum ausgebildet. Ob das Reformjudentum Konversionen verhindert oder gefördert hat, ist eine heikle, aber zentrale Frage für die künftige Forschung. Im nationalsozialistischen Deutschland wurde der legitime religiöse Weg aus dem Judentum, den die Konversion bisher dargestellt hatte, schließlich vollkommen versperrt. Schon mit den Gesetzen vom April 1933 wurden konvertierte Juden und Nachkommen aus jüdisch-/nicht-jüdischen „Mischehen“ christlichen Glaubens als „nicht-arisch“ eingestuft. Der Status und das Schicksal der „nicht-arischen Bevölkerung“ wurden im „Dritten Reich“ zum Dauerthema nationalsozialistischer Entscheidungsträger, während in den von den Nazis eroberten Ostgebieten der Frage von Christen jüdischer Herkunft weniger Aufmerksamkeit beigemessen wurde. Gerade weil die Doktrin der Nazis explizit rassistisch war, liegt es nahe, daß Juden wenig Grund hatten, zu konvertieren. Dennoch sind Juden auch in der Zeit der NS-Herrschaft und selbst während der Schoa zum Christentum übergetreten. Im

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Lager von Theresienstadt beispielsweise besuchten ehemalige Juden, die evangelisch oder katholisch geworden waren, den Gottesdienst, und das taten sie nicht, um ihr Leben zu retten. Viele, die nach einer übergreifenden Erklärung für das jüdische Leid suchen, interpretieren die Schoa als den Kulminationspunkt von Jahrhunderten der christlichen Zwangskonversion. Andere Ansätze, die historisch-spezifische Ereignisse im jeweils konkreten Kontext in den Mittelpunkt stellen, haben die extrem anti-christliche Ideologie und Praxis des Nationalsozialismus hervorgehoben – eine noch offene Kontroverse. Daß die Konversion angesichts der heutigen Entwicklung der jüdischen Assimilation nicht mehr den zentralen Stellenwert früherer Zeiten einnimmt, steht jedoch nicht in Zweifel. In den Vereinigten Staaten sind soziale Integration und ethnische „Mischehen“ inzwischen ohne den formalen Übergang zu einer anderen Religion möglich. Ja, manchmal tritt sogar der umgekehrte Fall auf, daß nicht-jüdische Partner die Konversion erwägen oder daß der Nationalstaat religiöse Einheit erstrebt. In Israel stellen ultraorthodoxe Juden die Authentizität des Übertritts von gebürtigen nicht-jüdischen Ehepartnern von Juden zum Judentum in Frage – und damit auch ihr Recht, als jüdische Israelis zu gelten. Insofern ist die Konversionsproblematik immer noch aktuell, allerdings in einer vollkommen anderen Form. (Übersetzt von Eva-Maria Ziege)

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Die Emanzipation der Juden in Europa Der Begriff der Emanzipation der Juden bezeichnet jenen historischen Prozeß, der die Integration der Juden in Staat und Gesellschaft zum Ziel hatte. Diese Entwicklung, die sich lange und mit vielen Brüchen in allen europäischen Ländern mit jüdischen Minderheiten vollzog, hatte sowohl rechtliche als auch soziale Aspekte. In juristischer Hinsicht bezeichnet Emanzipation die rechtliche Gleichstellung der Juden nach dem Prinzip der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz. Zuerkannt werden sollten den Juden daher sowohl staatsbürgerlich-politische Rechte, wie das aktive und passive Wahlrecht, als auch bürgerliche Rechte, wie etwa diejenigen zur Ausübung von Berufen, die ihnen zuvor verschlossen worden waren, oder zum Erwerb von Immobilien. Darüber hinaus ging es auch darum, die Gleichstellung der jüdischen Religionsgemeinschaft mit anderen Religionsgemeinschaften durchzusetzen. In sozialer Hinsicht bezieht sich der Begriff auf den sozialen Aufstieg der jüdischen Minderheit, ihre Integration in die Mehrheitsgesellschaft und die damit im Zusammenhang stehende Annahme bürgerlicher Lebensformen und Werte. Begleitet war dieser Prozeß jedoch auch von neuen Formen der Judenfeindschaft. Der grundlegende Wandel im rechtlichen Status der jüdischen Minderheit ging einher mit der Auflösung der alteuropäischen ständischen Welt und der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft. In dem Moment, in dem die überlieferten korporativen Strukturen und paternalistisch-klientelistischen Sozialbeziehungen brüchig wurden und die religiösen Bande des sozioökonomischen Handelns und der alltäglichen Praxis zu individuellen Überzeugungen wurden, sahen sich jüdische Minderheit wie christliche Mehrheit gleicherweise vor die Aufgabe gestellt, ihre Tradition dem gesellschaftlichen Wandel anzupassen. Seinen Anfang nahm dieser Prozeß mit der Auflösung religiös bestimmter Weltbilder und der Säkularisierung der Lebenswelt. In der aufgeklärten Öffentlichkeit des 18. Jhs. wurde in allen Ländern Europas eine Debatte über die Stellung der Juden in der Gesellschaft und über das Prinzip der religiösen Toleranz geführt, die im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus zu ersten Reformen und Toleranzedikten führte, die wiederum die Epoche der Emanzipation der Juden eröffneten.

Inner- und außerjüdische Diskussion über die Gleichberechtigung Vorausgegangen war der Debatte über die Emanzipation der Juden eine Neuinterpretation der kulturellen und religiösen Tradition, wie sie der italienische Rabbiner und Schriftsteller Jehuda Arje da Modena (1571–1648) durch seine historische Sicht auf das Judentums und durch seine traditionskritische Geschichte der jüdischen Riten geschaffen hatte. Damit wurden nicht nur neue Perspektiven auf die eigene Vergangenheit geöffnet, sondern

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auch eine vorurteilsfreie Haltung gegenüber der jüdischen Religion möglich, ohne die wiederum keine Diskussion über die Frage der Toleranz und die Gleichberechtigung der Juden in der Gesellschaft geführt werden konnte. Einen entscheidenden Beitrag dazu hatte der Rabbiner und Gelehrte Simon Luzzatto (1583–1663) geleistet, der mit ökonomischen Argumenten für die Toleranz und die Aufhebung der den Juden auferlegten Beschränkungen eintrat. Mit ganz ähnlichen Argumenten setzte sich auch der aus Lissabon stammende Amsterdamer Rabbiner Manasseh ben Israel (1604–1657) für die Rückkehr der Juden nach England ein. Selbstkritik an der eigenen religiösen Praxis und an der Tradition des Judentums übte vor allem der niederländische, einer sefardischen Familie entstammende Philosoph Baruch Spinoza (1632–1677), der für Gedankenfreiheit und eine Trennung von Kirche und Staat plädierte und damit eine der zentralen gedanklichen Voraussetzungen für eine neue Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenleben geschaffen hatte. Die Idee eines säkularisierten Staates hat auch der englische Aufklärer John Locke (1632–1704) entwickelt, der sich nachdrücklich für das Prinzip der religiösen Toleranz aussprach. „Weder Heide, noch Mohammedaner noch Jude“, so seine Überzeugung, dürften wegen ihrer Religion von den Bürgerrechten ausgeschlossen werden. Von einer Kritik an der christlichen Überlieferung ausgehend, forderte der englische Philosoph John Toland (1670–1722) die Gleichberechtigung der Juden und plädierte für ihre gesellschaftliche Integration. Auch im Kreis der französischen Aufklärer wurde diese Debatte geführt. Die Verbrennung einer Jüdin auf einem Scheiterhaufen in Lissabon veranlaßte Charles Louis de Montesquieu (1689–1755) in sein Werk über den Geist der Gesetze eine Apologie des Judentums aufzunehmen. Ein neues, von Vorurteilen freies Bild vom jüdischen Leben entwarf ferner der französische Philosoph und Vertraute Friedrichs II. aus der Tafelrunde in Sanssouci Marquis Jean-Baptiste d’Argens (1696–1771) in seinen Jüdischen Briefen. Auch wenn es nur eine kleine Gruppe von Intellektuellen war, die die Frage der religiösen Toleranz diskutierte und sich für die Anerkennung der Juden im gesellschaftlichen Leben engagierte, so war es doch eine europäische Kommunikation. Die Schriften wurden in allen Zentren der europäischen Aufklärung rezipiert und in den Zeitschriften von Warschau bis Florenz und von Lissabon bis Stockholm diskutiert. Wie sehr die Debatte über die jüdische Religion und die Beziehungen zwischen Juden und Christen in nahezu allen Ländern Europas geführt wurde, machte vor allem die Resonanz auf die bitteren Invektiven von Voltaire (1694–1778) gegen die Juden deutlich. Dieser verspottete deren Riten und religiöse Praxis und diffamierte die Juden in seinem Dictionaire philosophique portatif als ein „unwissendes und barbarisches Volk, das seit langem den schmutzigsten Geiz mit dem verachtungswürdigsten Aberglauben verbindet“1. Für diese haßerfüllten Äußerungen erntete Voltaire scharfe Kritik. Verwundert bemerkte der holländisch-jüdische Aufklärer Isaac de Pinto (1715–1787), daß „die barbarischen Vorurteile selbst von dem ruhmreichen Genie unseres aufgeklärten Zeitalters geteilt werden“2. 1

Voltaire, Dictionaire philosophique portatif, London 1764. Isacco de Pinto, Apologie pour la Nation Juive, ou Réflexion critique sur le premier chapitre du VIIe tome des Œuvres de M. de Voltaire, Amsterdam 1762. 2

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Der Abbé Antoine Guénée (1717–1803) griff diesen Beitrag auf und veröffentlichte ihn zusammen mit mehreren Briefen von portugiesischen, deutschen und polnischen Juden, die die Unterstellungen und Diffamierungen Voltaires zurückwiesen. Auch wenn diese Briefe zum Teil fingiert waren, zeigt die Tatsache, daß dieser Band ins Englische, Deutsche, Holländische, Italienische, Spanische und Russische übersetzt wurde, die europäischen Dimensionen dieser Debatte. Diejenigen, die am nachhaltigsten die europäische Diskussion über die Gleichberechtigung der Juden angeregt hatten, waren der Philosoph Moses Mendelssohn (1729–1786) und der Schriftsteller Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781). Lessing hatte schon 1749 in einem kleinen Theaterstück die Vorurteile gegenüber den Juden bekämpft, und Moses Mendelssohn verteidigte das Lustspiel gegenüber der von antijüdischen Stereotypen durchsetzten Kritik. Mit seinen religionsphilosophischen Schriften hatte Mendelssohn die Grundlage für eine Erneuerung der jüdischen Tradition gelegt und damit gleichzeitig unter christlichen Intellektuellen ein neues Verständnis der jüdischen Kultur ermöglicht. Die europäische Anerkennung, die Mendelssohn unter seinen Zeitgenossen gefunden hatte, zeigte sich nicht nur in den zahlreichen Übersetzungen seiner Werke schon kurze Zeit nach ihrer deutschen Erstveröffentlichung, sondern auch darin, daß die Juden des Elsaß ihn baten, ein Memorandum an den französischen Staatsrat zu schreiben, um sich für eine Verbesserung ihrer Lage einzusetzen. Mendelssohn gab die Bitte jedoch an den preußischen Staatsrat Christian Wilhelm von Dohm (1751–1820) weiter, und dessen Abhandlung Über die bürgerliche Verbesserung der Juden wurde zu einer der einflußreichsten politischen Schriften für eine Reform der Rechte religiöser Minderheiten in Europa. Dohm forderte darin gleiche Rechte und freie Berufswahl für Juden, er setzte sich für die Förderung von Kunst und Wissenschaft, Bildung und Aufklärung unter Juden ein und empfahl ihnen, sich besonders in landwirtschaftlicher Tätigkeit zu engagieren. Diese Schrift löste eine breite, in allen europäischen Ländern geführte Auseinandersetzung über die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Juden aus. In Frankreich wurde der Text durch Honoré Gabriel de Riqueti Graf Mirabeau (1749–1791) publik gemacht, der 1787 gefordert hat, den Juden die bürgerliche Gleichberechtigung zuzuerkennen. Die Notwendigkeit einer Reform der den Juden auferlegten Gesetze ist von den Intellektuellen der Zeit als so dringend empfunden worden, daß die Königliche Akademie der Künste und Wissenschaften zu Metz einen Preis ausschrieb für einen Essay über die Frage, wie die Juden Frankreichs „glücklicher und nützlicher“ werden könnten. Ausgezeichnet wurde unter anderen die Arbeit des Bibliothekars polnischen-jüdischer Herkunft an der königlichen Bibliothek zu Paris, Zalkind Hurwitz (um 1740–1812), der eine engagierte Verteidigung des Judentums eingereicht und gezeigt hatte, daß die Juden in moralischer Hinsicht den Christen in keiner Weise nachstehen. Einen Preis erhielt ebenfalls der Beitrag des katholischen Landpfarrers Henri Grégoire (1750–1831), der die Vorurteile gegen Juden minutiös zurückwies und die Wurzeln des antijüdischen Hasses aufdeckte. Grégoire setzte sich nachdrücklich für ein Zusammenleben von Juden und Christen ein, auch wenn er nicht von seinem Streben ablassen konnte, die Juden zum Christentum bekehren zu wollen.

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Zwischen Ausgrenzung und religiöser Toleranz Erste konkrete politische Schritte für die Überwindung der den jüdischen Minderheiten auferlegten Benachteiligungen wurden im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus unternommen. Kaiser Joseph II. erließ 1781 in der österreichisch-ungarischen Monarchie Toleranzpatente, mit denen die emanzipatorische Politik in Europa eröffnet wurde. 1789 wurde für die Juden Galiziens ein Toleranzedikt erlassen, so daß damit auch Teile der ehemals polnischen Juden, der mit weitem Abstand umfangreichsten Gruppe der europäisch-jüdischen Bevölkerung, in die aufgeklärte Reformpolitik einbezogen waren. Der Bruder der Kaisers, der Großherzog Peter Leopold, hatte in der Toskana gleichfalls begonnen, durch schrittweise Reformen die Juden zu gleichberechtigten Untertanen zu machen und ihnen erste kommunale Bürgerrechte zuerkannt. In Frankreich beriet eine Regierungskommission unter dem Ministerpräsidenten Guillaume de Lamoignon de Malesherbes (1721–1794), der bereits 1787 ein Toleranzedikt für die nichtkatholischen-christlichen Minderheiten Frankreichs erlassen hatte, die Lage der Juden. Nicht zuletzt aufgrund der Meinungsverschiedenheiten zwischen den sefardischen Gemeinden in Bordeaux und den aschkenasischen Juden im Elsaß und in Lothringen blieben diese Beratungen jedoch ohne Ergebnis, auch wenn der Vertreter der elsässischen Juden, Naftali Herz Cerfbeer (1730–1793), einige Verbesserungen der Lage der aschkenasischen Juden erreichen konnte. Als sich im Juni 1789 die Generalstände Frankreichs zur Nation erklärt hatten, gehörten die Juden nicht dazu. Sie sandten jedoch Delegierte nach Paris, die in einer Denkschrift für die fiskalische Gleichbehandlung und für die Abschaffung der den Juden auferlegten Steuern plädierten. Nach dem Sturz der Monarchie und der Auflösung des königlichen Heeres trat auch eine Reihe von Pariser Juden der neuen revolutionären Nationalgarde bei, gleichzeitig aber wurden die elsässischen Juden Opfer radikaler, gegenrevolutionärer Ausschreitungen. In den Debatten der Nationalversammlung über die Menschen- und Bürgerrechte, in der die rechtliche Gleichstellung keineswegs unumstritten war, trat vor allem Abbé Grégoire für die Rechte der Juden ein, Robespierre attackierte die Erniedrigungen, denen die Juden ausgeliefert seien, und auch Graf Mirabeau verteidigte gegen den heftigen Widerstand katholischer Abgeordneter das Prinzip, daß niemand wegen seiner religiösen Überzeugung benachteiligt werden dürfe. Wie ambivalent die Haltung der Nationalversammlung gegenüber der jüdischen Minderheit jedoch war, machte vor allem der Beitrag des Abgeordneten Stanislaus Comte de Clermont-Tonnerre (1747–1792) deutlich, der den Juden als Individuen zwar die Bürgerrechte zuerkennen wollte, mit der Bemerkung, es dürfe keine Nation in der Nation geben, den Juden als Angehörigen der jüdischen Gemeinden aber jede Anerkennung verweigerte. Zunächst erhielten lediglich die sefardischen Juden Bordeauxs gleiche Rechte, im September 1791 schließlich, nach intensiver Debatte in der Nationalversammlung, wurden auch den aschkenasischen Juden in Lothringen und im Elsaß Bürgerrechte zuerkannt. Die 1792 mit republikanischem Pathos in Mainz, Worms, Speyer und Köln einmarschierenden französischen Revolutionsheere versprachen, die Juden aus ihrer „erniedrigenden

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Knechtschaft“ zu befreien, und als die republikanische Armee 1796 Wilhelm V. von Oranien aus den Niederlanden vertrieben und die holländische Nationalversammlung die Batavische Republik ausgerufen hatte, erklärte auch sie die Juden zu gleichberechtigten Bürgern. Nicht unter allen Juden aber fand diese Entscheidung ungeteilte Zustimmung, da hiermit auch der Verlust der ihnen von den Oraniern zuerkannten Gemeindeautonomie verbunden war. Als Oberbefehlshaber der republikanischen Italienarmee brachte Napoleon 1797 die revolutionäre Sprache auch in die italienischen Länder, und die neugegründeten Republiken verkündeten die rechtliche Gleichstellung der Juden. In der 1798 zur Helvetischen Republik erklärten Schweiz aber lehnte das Parlament den Antrag auf bürgerliche Gleichstellung, der hier von den Juden eingebracht wurde, ab. Nachdem das republikanische Heer Napoleons die alte Republik Venedig gestürzt hatte, erhielten die venezianischen Juden Bürgerrechte, und mit der Vertreibung des Papstes aus Rom und der Ausrufung der Römischen Republik wurde auch den Juden des Kirchenstaates rechtliche Gleichheit gewährt. Begleitet waren diese revolutionären Umwälzungen jedoch von Feindseligkeiten der katholischen Bevölkerung gegen die Juden und von heftigem Widerstand innerhalb der alten Eliten. In den Staaten des von Napoleon initiierten Rheinbundes kam es vor allem im Großherzogtum Baden zu einer Reform der Rechtsverhältnisse der Juden, wo „jeder Mensch, wes Glaubens er sei“, Staatsbürgerrechte erhielt, und auch die von Napoleon 1808 oktroyierte Verfassung des Königreiches Westfalen bestimmt die Gleichheit aller Untertanen vor dem Gesetz. Dieser Grundsatz wurde zwar auch in der Verfassung des 1807 von Napoleon geschaffenen Großherzogtums Warschau verankert, doch schon im folgenden Jahr wurden den Juden per Dekret die politischen Rechte wieder entzogen. Auch wenn Napoleon in den von ihm besetzten Gebieten das Prinzip der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz einführte, blieb seine Haltung gegenüber den Juden zwiespältig. Während seines Ägyptenfeldzuges hatte er versucht, mit dem Projekt eines jüdischen Staates in Palästina sich die Rückendeckung der europäischen Juden zu erwerben. Im Mai 1806, zwei Jahre nachdem er sich zum Kaiser hatte krönen lassen, beschloß er, gegen jüdische Geldhändler und Pfandleiher vorzugehen. Er berief eine Generalversammlung der jüdischen Notabeln seines Imperiums ein, um die Juden „zu nützlichen Bürgern“ zu machen und um zu klären, wie ihr religiöses Leben mit ihren staatsbürgerlichen Pflichten als Franzosen in Übereinstimmung gebracht werden könne. Überzeugt von den ihm wohlgesonnenen Beschlüssen dieser Versammlung, lud Napoleon daraufhin eine erweiterte europäische, in Anknüpfung an das antike höchste Gericht der Juden als Sanhedrin bezeichnete Versammlung ein, die diesen Beschlüssen normative Kraft verleihen sollte. Obwohl der Sanhedrin die Loyalität der Judenschaft gegenüber dem Staat versichert hatte, erließ Napoleon nur ein Jahr später, im März 1808, das sogenannte Décret infa¯me, das den freien Handel der Juden und ihre rechtliche Gleichstellung wieder erheblich einschränkte. Ferner schuf er eine neue Verwaltungsstruktur für die jüdische Bevölkerung, die die Autonomie der jüdischen Gemeinden abschaffte und sie einem hierarchischen Konsistorialsystem unterwarf. Trotz dieser Rückschläge im Herrschaftsgebiet Napoleons bestimmte das im Code Napo-

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léon zugrunde gelegte Prinzip der rechtlichen Gleichheit der Bürger, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, nun auch die Politik in denjenigen Staaten, die nicht unter unmittelbarer französischer Herrschaft standen. In Preußen begann nach dem militärischen Zusammenbruch ein Reformprozeß, in dem die Frage der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden im Mittelpunkt stand. Schon 1808 sind den Juden in der Städteordnung kommunale Rechte in den Stadtverwaltungen zuerkannt worden, und mit dem „Edikt, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“ vom März 1812 wurden die in Preußen lebenden Juden zu „Preußischen Staatsbürgern“ erklärt. Im Februar 1813 erteilte der Herzog von Mecklenburg-Schwerin eine neue „den Zeitumständen angemessenere Verfassung“, die die „jüdischen Glaubensgenossen“ zu „Einländern“ erklärte. Sie genießen, wie es in dem Edikt heißt, „gleiche bürgerliche Rechte und Freyheiten mit den Christen“3. Im März 1814 verkündete auch der König von Dänemark, daß die „Bekenner des Mosaischen Glaubens“ „gleich Unseren übrigen Unterthanen von keinerley erlaubtem Gewerbe ausgeschlossen seyn“ sollen. Wie ambivalent die Gesetzgebung jedoch war und welche Folgen für die Juden damit verbunden sein konnten, macht der folgenden Absatz deutlich, in dem es heißt, daß es ihnen „nicht verstattet bleibt, in irgend einer bürgerlichen Angelegenheit sich unter die Mosaischen Gesetze oder sogenannten Rabbinischen Vorschriften und Verhaltensregeln zu begeben“4. Mit dem Zusammenbruch des Napoleonischen Imperiums schlug auch das politische Klima, das den Juden erste bürgerliche Rechte gebracht hatte, um. Zwar hatten preußische Reformpolitiker unterstützt von jüdischen Delegationen auf dem Wiener Kongreß noch versucht, die den Juden in den verschiedenen Staaten des konstituierten Deutschen Bundes zuerkannten Rechte aufrechtzuerhalten. Durch eine Eingabe der Hansestädte und der freien Reichsstadt Frankfurt a.M., wurde der Gesetzentwurf, alle den Juden „in Bundesstaaten“ verliehenen Rechte zu erhalten, aber abgeändert und durch die Formulierung „von den Bundesstaaten“ ersetzt. Durch einen Wechsel der Präposition konnten somit die von Napoleon erlassenen Reformen zurückgenommen werden. In Frankreich selbst behielt trotz der in der Verfassung der bourbonischen Monarchie erklärten Freiheit des Religionsbekenntnisses das „schändliche Dekret“ Napoleons Gültigkeit. In den Staaten des Deutschen Bundes traten wiederum ein Vielzahl von unterschiedlichen Bestimmungen in Kraft, und selbst in den einzelnen Provinzen Preußens herrschten zum Teil sich widersprechende Verordnungen. In Brandenburg, Pommern, Ostpreußen und Schlesien etwa blieb das Edikt von 1812 in Kraft, und in Westfalen und den ebenfalls Preußen angegliederten Rheinprovinzen behielt das Décret infa¯me Gültigkeit. Aus den freien Städten Bremen und Lübeck wurden die Juden ausgewiesen. In der Hansestadt Hamburg und in der freien Reichsstadt Frankfurt am Main wurden die alten Verhältnisse ebenso restauriert wie im Königreich Hannover und im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin, wo die 1813 erlassene rechtliche Gleich3

Carl August Buchholz (Hrsg.), Aktenstücke die Verbesserung des bürgerlichen Zustandes der Israeliten betreffend, Stuttgart–Tübingen 1815, S. 94–103. 4 Ebd., S. 144.

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stellung wieder zurückgenommen wurde. Auch in den italienischen Staaten traten die alten Verordnungen wieder in Kraft. Während in Rom und Venedig die Juden erneut ins Ghetto gezwungen wurden, fand in der Toskana die Restauration der vorrevolutionären, für die Juden günstigen Verhältnisse eher die Zustimmung der jüdischen Bevölkerung, da damit auch die Wiederherstellung ihrer eigenen Gemeindeautonomie verbunden war. Allein im Königreich der Vereinigten Niederlande wurde die 1796 erlassene Gleichberechtigung der Juden nicht rückgängig gemacht. In nahezu allen europäischen Ländern vollzog sich eine reaktionäre Wende, die auch im intellektuellen Milieu zum Ausdruck kam und sich hier in der Rückbesinnung auf ein romantisch verklärtes Mittelalter und in einer neuen Hinwendung zum Christentum zeigte. Trotz dieses politischen und kulturellen Wandels, der sich dezidiert gegen Juden richtete, begann nur wenige Jahre später eine neue Phase in der Entwicklung der bürgerliche Gleichstellung der Juden. Mit dem Kampf der irischen Katholiken für ihre Gleichberechtigung, der unter dem Begriff der Emanzipation geführt wurde, war ein neuer Begriff für Abschaffung religiöser Benachteiligungen und die rechtliche Gleichheit religiöser Minderheiten geprägt, der im 19. Jh. zum beherrschenden politischen Schlagwort für die bürgerliche und politische Gleichberechtigung der Juden wurde.

Emanzipation. Eine Begriffsklärung In den europäischen Wörterbüchern der Zeit hingegen tauchte der Begriff Emanzipation noch in seinem alten, aus dem Lateinischen übernommenen Sinn als Entlassung der Söhne aus der väterlichen Gewalt auf. Der emanzipierte Sohn war mit diesem Schritt im zivilrechtlichen Sinn selbständig und erhielt Verfügungsgewalt über sein Eigentum. Noch im 18. Jh. hatte der Begriff allein diese juristische Bedeutung, und in den Enzyklopädien der Zeit finden sich genauere terminologische Differenzierungen. Während die Enzyclopaedia Britannica nur zwei Formen des Vollzugs aufführt, enthält das von Johann Heinrich Zedler herausgegebene Universallexikon sieben unterschiedliche Bestimmungen, und die Enzyklopädie von Jean le Rond d’Alembert und Denis Diderot gibt 19 verschiedene Auslegungen des Begriffs Emanzipation an. Auch im Italienischen wurde der Begriff in diesem juristischen Sinne verwendet. So findet er sich etwa in diesem Sinne in toskanischen Verordnungen des 18. Jhs., und noch die italienischen Wörterbücher der Mitte des 19. Jhs. erläutern den Begriff als Befreiung des Sohnes aus der väterlichen Gewalt. Obgleich die Nachschlagewerke den überlieferten rechtlichen Sinn und seine etymologische Herkunft verzeichneten, hatte sich im allgemeinen Sprachgebrauch eine grundlegende semantische Erweiterung des Begriffs vollzogen. Das zuvor allein transitiv im Sinne von: der Vater emanzipiert den Sohn, oder auch mit dem Akkusativobjekt in der Bedeutung von etwas verkaufen, veräußern, gebrauchte Verb wurde auch reflexiv, sich emanzipieren, im Sinne von „sich selbst von der Gewalt des Vaters frei machen“ gebraucht. Damit bezeichnete der Terminus Emanzipation nicht mehr nur einen einmaligen Rechtsakt, der vom Pater

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Familias vollzogen wurde, sondern auch einen Prozeß, in dem sich ein Unmündiger selbst befreit. Im Sprachgebrauch der ständisch-adligen Welt erhielt dieses Wort jedoch einen pejorativen Sinn. Es bezog sich auf die Anmaßung von Freiheiten und die ungebührliche Durchbrechung gesellschaftlicher Schranken. Im Grand Dictionaire Royal von 1715 wurde das französische Wort s’emancipè mit „sich selbst allzu große Freiheit geben“ übersetzt. Noch Joachim Heinrich Campes Fremdwörterbuch von 1801 führte neben der überlieferten Bedeutung von „frei- und losgeben, aus der väterlichen Gewalt oder aus der Leibeigenschaft entlassen“ eine zweite Bedeutung auf: „Man sagt aber auch: er emanzipiert sich, und meint: er nahm sich heraus, er unterfing sich, er unterwand sich, dieses oder jenes zu sagen oder zu tun.“5 Auch das Italienisch-Deutsche Wörterbuch von Castelli von 1759 gibt als übertragene Bedeutung des reflexiven Verbs an: „keinen Menschen respectieren wollen.“6 Eine folgenreiche Ausweitung erfuhr der Begriff schließlich, als er auf den Bereich der Politik übertragen wurde. Auch hier aber behielt der Terminus zunächst seine negativen Konnotationen bei und wurde im Sinne von „Anarchie“ oder zur Kennzeichnung eines Rückfalls in „alte Wildheit“ gebraucht. Eine positive Umwertung dieses Begriffs im Sinne einer Aufhebung von Knechtschaft und Unterdrückung vollzog sich in der Zeit der Französischen Revolution. Einer der ersten, der den Terminus in diesem emphatischen Sinn von Befreiung benutzte, war der Schriftsteller Georg Forster. Diese positive Besetzung des Wortes ging einher mit einer weiteren semantischen Verschiebung. Der Begriff bezeichnete nicht mehr nur einen individuellen Vorgang der Selbstbefreiung, sondern auch einen kollektiven Prozeß. Was diesem Begriff schließlich zu seinem entscheidenden Durchbruch in der politischen Sprache des 19. Jhs. verhalf, war die Tatsache, daß der in allen Ländern Europas rezipierte Kampf der irischen Katholiken für ihre rechtliche Gleichstellung unter diesem Stichwort geführt wurde. In der ersten Auflage des Brockhaus’schen Konversationslexikons von 1815 wurde daher unter dem Stichwort Emanzipation nur kurz auf die ursprüngliche Bedeutung hingewiesen, um anschließend eine breite Darstellung der rechtlichen und politischen Lage der Katholiken in Irland zu geben. Als der Begriff auf diesem Wege Eingang in die politische Sprache gefunden hatte, machte er weitere semantische Veränderungen durch. Einerseits wurde der Begriff erweitert und zur Bestimmung des Zieles der Geschichte benutzt, die als ein fortschreitender Prozeß der Befreiung verstanden wurde. In diesem Sinne diente er auch zur Kennzeichnung der politischen Ziele der Gegenwart. Heinrich Heine schrieb etwa in seinen italienischen Reisebildern: „Was aber ist die große Aufgabe unserer Zeit? Es ist die Emanzipation. […] absonderlich Europas, das mündig geworden ist und sich jetzt losreißt von dem eisernen Gängelbande der Bevorrechteten, der Aristokratie.“7 Karl Hermann Scheidler erläuterte diesen 5 Zit. nach: Karl Martin Grass, Reinhart Koselleck, Emanzipation, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 153–197. 6 Castelli, Dizionario Italiano–Tedesco, Tedesco–Italiano, 2. Aufl., Leipzig 1759, S. 358. 7 Heinrich Heine, Reisebilder. Dritter Teil. Reise von München nach Genua, (1828), Kap. XXIX; in: Historisch-kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Manfred Windfuhr, Bd. 7.1, Hamburg 1986, S. 69.

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Begriff von Emanzipation in der Enzyklopädie von Johann Samuel Ersch und Johann Gottlieb Gruber und deutete die gesamte Weltgeschichte als einen Emanzipationsprozeß. Andererseits aber wurde die Bedeutung des Begriffs auch eingeschränkt und konkretisiert, indem das Wort Emanzipation mit den Namen derjenigen gesellschaftlichen Gruppen verknüpft wurde, die für ihre rechtliche Gleichstellung kämpften. Neben die irischen Katholiken traten die Arbeiter, Frauen und Juden.

Der Weg zur rechtlichen Gleichstellung aller Religionen Schon wenige Jahre nach der Restauration der alten Mächte auf dem Wiener Kongreß wurde die Frage der Stellung der jüdischen Minderheit im Staat erneut zu einem Thema der politischen Auseinandersetzung in Europa, die nunmehr unter dem Stichwort „Emanzipation der Juden“ geführt wurde. Verschiedene Landtage des Deutschen Bundes erörterten die Frage, doch wurden von Regierungsseite erhebliche Bedenken gegen die Emanzipation erhoben. 1817 etwa hielten württembergische Beamte eine „so plötzliche Emanzipation und völlige Gleichstellung“ nicht für empfehlenswert, und auch das Ministerium des Inneren von Bayern trat gegen „eine augenblickliche gänzliche emancipation der Israeliten“ ein. Anders war die Entwicklung in Frankreich, wo das „schändliche Dekret“ Napoleons 1818 auslief und das französische Parlament den Antrag, die den Juden auferlegten Beschränkungen zu erneuern, mit großer Mehrheit ablehnte. Auf Initiative des russischen Zaren, zu dessen Reich die großen jüdischen Gemeinden Litauens gehörten, kam die Frage der Emanzipation der Juden auch auf die Tagesordnung der Aachener Konferenz der Heiligen Allianz. Alexander I. (1777–1825) hatte einen Entwurf für eine Reform der bürgerlichen und politischen Gesetzgebung der Juden eingebracht, dessen Ziel es jedoch weniger war, die Juden in die Gesellschaft aufzunehmen, als vielmehr sie zum Christentum zu bekehren. Was die Begründer der Heiligen Allianz zusammengeführt hatte, war nicht zuletzt die Furcht vor den in allen europäischen Ländern sich entwickelnden nationalen und liberalen Bewegungen. Deren Utopie einer „klassenlosen Bürgergesellschaft“ (Lothar Gall) schloß alle Privilegien und Sondergesetze aus, folglich mußten auch alle den Juden auferlegten Ausnahmeregelungen aufgehoben werden. Wie berechtigt die Sorgen der alteuropäischen Elite waren, zeigte sich etwa in den italienischen Staaten, wo zahlreiche Geheimgesellschaften, in denen Juden in hohem Maße aktiv waren, für eine liberale Verfassung und die nationale Unabhängigkeit kämpften. Auch in den deutschen Staaten waren nicht wenige Juden in den Befreiungskriegen zu deutschen Patrioten geworden. Juden hatten an der emphatischen nationalen Selbstentdeckung teil, und in den zwanziger Jahren wurde die Emanzipation der Juden in allen europäischen Ländern Thema öffentlicher Auseinandersetzungen. Auf der anderen Seite aber verstärkte sich auch die Opposition gegen die Emanzipation, und die beginnende Anerkennung der Juden als gleichberechtigte Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft fand überall in Europa erbitterte Widersacher. In mehreren deutschen Staaten äußerte sich der Widerstand in den „Hep-Hep-Unruhen“, in Italien fand ein anti-

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jüdisches Pamphlet des Dominikaners Ferdinando Jabalot weite Verbreitung, und auch jene nationale Unabhängigkeitsbewegung, die nahezu alle europäischen Liberalen begeistert hatte, der Aufstand der griechischen Patrioten gegen die türkische Herrschaft von 1821, schlug in gewalttätige Ausschreitungen gegen Juden um. Der Versuch des Königs von Frankreich, die liberale Opposition, an der beispielsweise der jüdische Rechtsanwalt Adolphe Crémieux (1796–1880) beteiligt war, auszuschalten, führte 1830 zur Julirevolution, und die zusammengetretene Nationalversammlung bot Louis Philippe, dem Herzog von Orléans, die Krone an. Der Katholizismus galt fortan nicht mehr, wie das französische Parlament im August 1830 beschlossen hatte, als Staatsreligion, und die jüdischen Gemeinden wurden den christlichen Kirchen gleichgestellt. Adolphe Crémieux sorgte ferner für die Abschaffung antijüdischer, diskriminierender Eidesformeln, so daß Juden nunmehr politische Ämter übernehmen konnten. Als sich die belgische Bevölkerung gegen die holländische Herrschaft erhoben hatte, wurde die Gleichheit aller Religionsgemeinschaften auch in der Verfassung des neuen Staates Belgien festgehalten. Wie sehr die Frage der Emanzipation der Juden in den dreißiger Jahren zu einem europäischen Thema geworden war, machte der Aufruf des polnisch-jüdischen Emigranten Joachim Lelewel an die Juden Europas vom November 1832 deutlich, und auch Jan Czynski hatte in einer 1833 in Paris erschienenen Schrift herausgearbeitet, daß die Frage der polnischen Juden als eine europäische Frage betrachtet werden müsse. In mehreren Ländern des Deutschen Bundes sind in den dreißiger Jahren neue Verordnungen über die rechtlichen Verhältnisse der Juden erlassen worden. Die Ergebnisse blieben jedoch hinter den Erwartungen zurück. Obgleich im Badischen Landtag die liberale Fraktion die Mehrheit bildete und die Juden sich daher Hoffnung auf eine rechtliche Gleichstellung machten, hatte der Reformlandtag von 1831 neue Barrieren zwischen Juden und Christen errichtet. In Kurhessen erhielten die Juden 1833 zwar grundsätzlich „gleiche Rechte mit den Untertanen anderer Bekenntnisse“, durch die „weiter unten stehenden Bedingungen“ ist diese Errungenschaft jedoch erheblich eingeschränkt worden. Auch die Verordnung, die die preußische Regierung für die Juden im Großherzogtum Posen 1833 erließ, hatte zwar das Ziel, Posener Juden die preußische Staatsbürgerschaft zu gewähren, aufgrund der weiteren Bedingungen konnte aber nur ein sehr geringer Teil der jüdischen Bevölkerung Posens die staatsbürgerlichen Rechte erlangen. Einschränkungen gegenüber der jüdischen Minderheit existierten auch in der Schweiz. Als 1835 der Kanton Basel einem elsässischen Juden untersagte, sich in der Stadt niederzulassen und Immobilien zu erwerben, löste dieser Fall nicht nur in Frankreich Proteste aus, sondern auch der italienische Republikaner Giuseppe Mazzini setzte sich öffentlich für die Emanzipation der Juden ein. Dieser Fall veranlaßte außerdem den Mailänder Journalisten und Politiker Carlo Cattaneo (1801–1869) zu einer ökonomischen Untersuchung über die den Juden auferlegten Beschränkungen, die in allen italienischen Ländern eine intensive Debatte über die rechtliche Gleichstellung der Juden auslöste. Nachdem das britische Parlament im März 1829 die politischen Einschränkungen gegenüber den Katholiken abgeschafft hatte, setzte auch in England eine öffentliche Debatte über die Gleichberechtigung der Juden ein. Nach und nach erlangten die Juden in der ersten Hälfte der drei-

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ßiger Jahre den Zutritt zu den Kaufmannsgilden von London und zu politischen Ämtern der Stadt, sie konnten den Beruf des Anwalts ausüben und wurden zum Studium an der Universität zugelassen. In Rußland hingegen brachte das von Zar Nikolaus I. (1796–1855) verfügte Statut weitere Einschränkungen und Behinderungen. Auch wenn die wegen eines angeblichen Ritualmordes angeklagten russischen Juden 1835 freigelassen werden mußten, machte der russische Zar aus seiner Abneigung gegen Juden keinen Hehl. Dabei konnte er sich auf die Zustimmung der überwiegenden Mehrheit der russischen Gesellschaft verlassen, in der Feindseligkeit gegenüber der jüdischen Minderheit überaus stark waren. Ein anderer Ritualmordprozeß aber war es, der im Jahr 1840 eine europaweite Empörung unter der jüdischen Bevölkerung hervorrief. 1840 wurde in Damaskus das Gerücht ausgestreut, Juden hätten einen christlichen Mönch auf rituelle Weise ermordet. In der vom französischen Konsul angeordneten anschließenden Untersuchung wurden mehrere Juden inhaftiert, gefoltert und zu Geständnissen gezwungen. Gegen das skandalöse Urteil, das von dem französischen Ministerpräsidenten gedeckt wurde, erhob sich ein Sturm der Entrüstung. Der englisch-jüdische Philanthrop Moses Montefiore (1784–1885) und der französisch-jüdische Anwalt Adolphe Crémieux brachen zu einer diplomatischen Mission auf. Zu den zahllosen Autoren aus allen Ländern Europas, die sich für die verhafteten Juden einsetzten, gehörte auch Heinrich Heine. Wie sehr der Kampf für die Verbesserung der rechtlichen Lage der Juden in eine europäische Diskussion eingebunden war, zeigte sich auch in der Reise Moses Montefiores von 1846 nach Rußland, wo er den Zaren vergeblich davon zu überzeugen versuchte, ein erneutes antijüdisches Edikt zurückzuziehen. Die vierziger Jahre hatten in vielen europäischen Ländern eine deutliche Klimaverbesserung für die jüdische Bevölkerung gebracht, die in ihrem Kampf für ihre bürgerlichen Rechte von einer stärker gewordenen liberalen Bewegung nachdrücklich unterstützt wurde. 1843 etwa wurde in Dänemark der diskriminierende Judeneid abgeschafft, und in den Ländern des Deutschen Bundes kam diese Aufbruchsstimmung nicht nur in einer Fülle von Flugschriften und Pamphleten zum Ausdruck, sondern auch in zahlreichen Petitionen zugunsten der Emanzipation der Juden. 1842 erhielten so die Juden im Königreich Hannover bürgerliche Rechte, und auch preußische Provinziallandtage sprachen sich für eine Reform der Rechtsverhältnisse der Juden aus. Auch wenn sich die Befürworter einer uneingeschränkten Emanzipation der Juden auf dem Ersten Vereinigten Preußischen Landtag von 1847 nicht durchzusetzen vermochten, konnten sie die Wiedereinführung jüdischer Korporationen und deren Ausgrenzung aus dem christlichen Staat, wie es der Gesetzentwurf vorgesehen hatte, verhindern. Trotz aller Einschränkungen und aufrechterhaltener Behinderungen brachte das neue „Gesetz über die Verhältnisse der Juden“ mit Ausnahme von Posen eine Angleichung der Rechtsverhältnisse der Juden in den preußischen Provinzen. In England wurde Lionel de Rothschild 1847 als Abgeordneter der Londoner City gewählt, seinen Sitz im Parlament konnte er jedoch wegen der Eidesformel, die alle Nichtchristen ausschloß, nicht antreten. Unterstützt wurden die englischen Juden in den vierziger Jahren von der liberalen Fraktion im Unterhaus, die mehrfach versuchte, diese Diskriminierung abzuschaffen. In den italienischen Ländern rief vor allem der im Juni 1846 gewählte und als libe-

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ral geltende Papst Pius IX. einen politischen Klimawechsel hervor. Die italienische Bevölkerung wurde von einer „Piomanie“ und von neoguelfischen Hoffnungen erfaßt, und die Juden des Kirchenstaates erwarteten eine grundlegende Verbesserung ihrer Situation. Im folgenden Jahr wurde die Frage der Emanzipation der Juden in allen italienischen Ländern, in denen es einen jüdischen Bevölkerungsteil gab, zu einem zentralen Thema der öffentlichen Auseinandersetzung. Zum bekanntesten und einflußreichsten Plädoyer für die Rechte der jüdischen Minderheit in Italien wurde – neben Carlo Cattaneos Beitrag von 1836 – die Veröffentlichung des piemontesischen Malers und liberalen Politikers Massimo d’Azeglio Über die bürgerliche Emanzipation der Juden. Wie sehr sich das politische Klima in den italienischen Ländern zugunsten der jüdischen Gleichberechtigung entwickelt hatte und wie mächtig die liberalen politischen Kräfte waren, machten vor allem die Verfassungen, die 1848 in der Toskana und in Piemont erlassen wurden, deutlich, die die volle rechtliche Gleichstellung der Juden verkündeten. Gleichwohl zeigte sich auch in den italienischen Staaten, daß die Emanzipation nicht von allen Bevölkerungsgruppen uneingeschränkt unterstützt wurde. Von seiten der Unterschichten kam es in Rom und in kleineren Orten Piemonts zu Ausschreitungen gegen Juden. Ambivalent war die revolutionäre Entwicklung des Jahres 1848 gleichfalls in den deutschen Ländern. Nachdrückliche Unterstützung fanden die Juden zwar im liberalen Bürgertum, so daß im März 1848 in mehreren kleineren Fürstentümern die rechtliche Gleichstellung der Juden verkündet werden konnte. Die Emanzipation der Juden gehörte in allen europäischen Revolutionen des Jahres zu den zentralen politischen Themen, und auch in Rumänien wurde diese Forderung erhoben. Was das Jahr 1848 für die Juden so zwiespältig machte, waren die in einigen Städten und auf dem Land ausbrechenden antijüdischen Ausschreitungen in den ersten Wochen der Revolution. Diese Übergriffe auf Juden reichten vom Elsaß über Württemberg, Baden, Franken und Oberschlesien bis nach Böhmen, Posen und Ungarn. Während es in Saloniki bereits 1847 zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden gekommen war, gerieten die Juden Prags 1848 zwischen die Fronten der deutschen und tschechischen Patrioten. In Preßburg wurde das Ghetto geplündert und die Synagoge zerstört, nachdem Juden das Wahlrecht erhalten, sich in großer Zahl der ungarischen Unabhängigkeitsbewegung angeschlossen und eine eigene jüdische Kompanie der Nationalgarde gebildet hatten. Darüber hinaus entstanden auch Konflikte zwischen den Juden Galiziens und Posens. Während die Krakauer Juden sich den polnischen patriotischen Vereinen anschlossen und den Posener Aufstand gegen die preußische Herrschaft begrüßten, empfanden sich die Posener Juden als Deutsche und protestierten gegen die Vorwürfe der Krakauer Juden. Trotz der Übergriffe auf die Juden im Zuge der Revolution führten die Erfahrungen dieses Jahres dennoch zu einem grundlegenden Wandel des Selbstbewußtseins der europäischen Juden. Ausschlaggebend für diese Wende war, daß sie nunmehr selbst aktiv in das politische Geschehen eingriffen und politische Ämter übernahmen, sei es als Mitglieder der provisorischen französischen Regierung nach der Februarrevolution, an der Adolphe Crémieux und Michel Goudchaux (1797–1862) beteiligt waren, sei es in der Revolutions-

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regierung von Venedig, in der Isaac Pesaro Maurogonato (1817–1892) und Leone Pincherle Minister waren. In den deutschen Staaten Preußen, Bayern, Braunschweig, MecklenburgSchwerin, Sachsen-Anhalt, Hessen-Homburg, Frankfurt a.M., Lübeck und Hamburg waren erstmals jüdische Abgeordnete in die 1848 gewählten Parlamente oder verfassunggebenden Versammlungen gewählt worden, und im revolutionären Frankfurter Vorparlament waren ebenfalls fünf jüdische Abgeordnete vertreten, von denen sich vor allem Gabriel Riesser (1806–1863) in Zeitschriftenbeiträgen, Reden und politischen Verhandlungen für die vollständige Emanzipation der Juden einsetzte. In dem von der Frankfurter Nationalversammlung verabschiedeten Verfassungsentwurf wurde folglich festgehalten, daß der „Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte“ durch das religiöse Bekenntnis in keiner Weise eingeschränkt wird. In Bayern hingegen erhob sich gegen die von König Maximilian II. vorgeschlagene und von den Abgeordneten des Landes bereits verabschiedete rechtliche Gleichstellung der Juden ein Sturm von Protesten, so daß dem Gesetz im Februar 1850 die Zustimmung verweigert wurde. Nach der Niederschlagung der Revolution wurden in nahezu allen europäischen Staaten, die von der revolutionären Entwicklung erfaßt und in denen die Juden in den neuen Verfassungen rechtlich gleichgestellt worden waren, die alten Verhältnisse restauriert. Die Deklaration der Grundrechte der deutschen Bürger wurde 1851 annulliert, und in den Ländern des Deutschen Bundes verloren die Juden die ihnen 1848 von der Nationalversammlung zuerkannten Rechte. Obgleich Preußen und Österreich noch in den unmittelbar nach ihrem Sieg über die Revolution erlassenen Verfassungen die Emanzipation der Juden verkündet hatten, wurden auch in diesen Staaten die entsprechenden Bestimmungen 1850 und 1851 revidiert. Im Kirchenstaat führte der nach Rom zurückgekehrte Papst Pius IX. erneut die alten rechtlichen Einschränkungen für die jüdische Bevölkerung ein, der Großherzog Leopold II. von Toskana annulierte die von ihm erlassene Verfassung und die in die Herzogtümer Parma und Modena, in die Lombardei und ins Veneto zurückgekehrten österreichischen Machthaber revidierten alle die Juden betreffenden Erlasse. Allein in Piemont und Dänemark blieben die Verfassungen, in denen die Emanzipation der Juden erklärt worden war, in Kraft. In Frankreich wurde mit dem Staatsstreich von 1851 zwar die Verfassung gestürzt, an der rechtlichen Gleichstellung der Juden aber nahm Napoleon III. keine Abstriche vor. Mit dem Sieg der Konterrevolution erlangten konservative Kräfte, die der Idee eines christlichen und monarchischen Staates anhingen und für den Ausschluß der Juden aus Staat und Gesellschaft eintraten, die Hegemonie, und in der katholischen Kirche gewannen erneut die überlieferten judenfeindliche Dogmen an Einfluß. Als im Juni 1858 das heimlich getaufte jüdische Kind Edgardo Mortara aus Bologna seiner Familie entrissen und nach Rom entführt wurde, um es dort katholisch erziehen zu lassen, erhob sich in nahezu allen Ländern Europas scharfer Widerstand, der nicht nur von Vertretern der europäischen Juden, wie Moses Montefiore, sondern auch vom französischen Kaiser Napoleon III. und dem österreichischen Kaiser Franz Joseph I. unterstützt wurde. Auch wenn diese Proteste erfolglos blieben, führte der Kampf zu einer Solidarisierung der Juden Europas und zur

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Gründung der Alliance Israélite Universelle, die sich zum Ziel gesetzt hatte, sich für die verfolgten Juden und ihre Emanzipation einzusetzen. Die europäische Reaktion der fünfziger Jahre wurde wiederum abgelöst von einer neuen liberalen Aufbruchsstimmung. Es war eine neue kulturelle Elite entstanden, die gelernt hatte, sich politisch zu engagieren und die nachdrücklich für die Emanzipation der Juden eintrat. So auch in Italien. Piemont, von dem die entscheidende Initiative für die nationale Einigung ausging, war das einzige italienische Land, das an seiner 1848 erlassenen Verfassung und damit an dem Prinzip der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz festhielt. Juden hatten als gleichberechtigte Akteure an der neuen politische Klasse hohen Anteil, und die zentrale Person des italienischen Risorgimento, der Ministerpräsident von Piemont Camillo Graf Benso di Cavour (1810–1861), der sich schon vor der Verkündigung der Verfassung für die volle Emanzipation der Juden ausgesprochen hatte, war eng mit seinem jüdischen Sekretär und diplomatischen Gesandten Isacco Artom (1829–1900) und seinem gleichfalls jüdischen Regierungssprecher Giacomo Dina (1824–1879) befreundet. Wie stark der Rückhalt der jüdischen Bevölkerung in der neuen politischen Klasse in den italienischen Ländern war, zeigte sich nicht zuletzt daran, daß Leopold II. nur gegen den erbitterten Widerstand der politischen Elite der Toskana die Emanzipation der Juden widerrufen konnte. Mit dem Rücktritt des Großherzogs 1859 setzte auch in der Toskana eine neue liberale Politik ein. In einer ihrer ersten Amtshandlungen stellte die provisorische Regierung die rechtliche Gleichheit der Juden wieder her, und im folgenden Jahr wurde beschlossen, den toskanischen Gemeinden jährlich eine finanzielle Unterstützung zu zahlen. Auch in den Staaten des Deutschen Bundes kam es in den sechziger Jahren zu einem liberalen Aufbruch und zu einer neuen Phase im Prozeß der Emanzipation der Juden. In Baden, wo schon in den fünfziger Jahren erste Schritte in dieser Richtung vollzogen worden sind, unterzeichnete der Großherzog im Oktober 1862 das „Gesetz über die bürgerliche Gleichstellung der Israeliten“, und auch im Nachbarland Württemberg wurde die Emanzipation 1864 vollendet. In der freien Stadt Frankfurt a.M. sprach sich die Bürgerschaft für die Aufhebung der bestehenden Beschränkungen der staatsbürgerlichen Rechte aus und 1864 billigte die Hamburger Bürgerschaft das „Gesetz betreffend die Verhältnisse der israelitischen Gemeinden“, mit dem die Emanzipation verwirklicht wurde. In Österreich wurden die in den fünfziger Jahren wieder eingeführten rechtlichen Einschränkungen und antijüdischen Verordnungen ebenso zurückgenommen. Die Niederlage im Krieg gegen Preußen zwang Österreich zu einem Ausgleich mit der ungarischen Nationalbewegung und in beiden Reichshälften der neu konstituierten österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie erhielten die Juden 1867 volle Bürgerrechte. Auch in Preußen begann Ende der fünfziger Jahre, als die Liberalen die Mehrheit im Preußischen Abgeordnetenhaus errungen hatten, eine „Neue Ära“ und Bismarck, zur Zusammenarbeit mit den Liberalen gezwungen, fand sich nun bereit, der Gleichheit der Juden vor dem Gesetz zuzustimmen, und in der Verfassung des Norddeutschen Bundes wurde 1869 die Emanzipation der Juden bestätigt. In England erfolgte 1858 der entscheidende Schritt zur politischen Gleichberechtigung. Nach den wiederholten und immer wieder erfolglos gebliebenen Versuchen der Liberalen, die diskri-

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minierende Eidesformel für Parlamentsabgeordnete abzuschaffen, konnte nun ein Kompromiß mit dem Oberhaus gefunden werden, der es dem Unterhaus erlaubte, den Eid zu ändern und Juden den Zutritt zum Parlament zu ermöglichen. In der Schweiz hingegen sprach sich noch 1862 die Bevölkerung in einem Referendum gegen die Gleichberechtigung der Juden aus, eine Entscheidung, die erst mit der Bundesverfassung von 1874, in der alle Restriktionen, denen die Juden unterworfen waren, aufgehoben wurde. Nach dem Tod des Zaren Nikolaus I., der eine forcierte Christianisierung der Juden betrieben hatte, schien sich seit 1856 auch in Rußland unter Alexander II. (1818–1881) eine Verbesserung der Lage der Juden anzubahnen. Erste Schritte zur bürgerlichen Gleichstellung der Juden wurden unternommen. Die zuvor besonders drückende Militärzeit wurde gekürzt, jüdische Handwerker und Händler konnten ihrer Tätigkeit nunmehr im ganzen Land nachgehen, Juden erhielten Zutritt zu höheren Schulen und Universitäten und durften medizinische und juristische Berufe ausüben. Seit dem polnischen Aufstand 1863 aber schlug der jüdischen Bevölkerung Rußlands eine Welle des Hasses entgegen, die 1871 im Pogrom von Odessa kulminierte. Nach der Ermordung des Zaren brachen in der Ukraine, auf der Krim und in Bessarabien antijüdische Unruhen aus, und der Zar Alexander III. (1845–1894) unterwarf die Juden 1882 erneut scharfen Restriktionen. Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich in Rumänien. Auch hier schien sich seit Ende der fünfziger Jahre eine Verbesserung der rechtlichen Situation der Juden abzuzeichnen. Schon der erste Fürst der vereinigten Monarchie Moldau und Walachei, Alexandru Ioan Cuza, sprach sich gegen jede Form der religiösen Diskriminierung aus, und dessen Nachfolger Karl I. schlug 1866 vor, den Bürgern unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit gleiche Rechte zu gewähren. Als das Parlament in Bukarest die Frage der Emanzipation der Juden erörterte, wurden die Sitzung jedoch von einer Protestdemonstration gesprengt und unmittelbar darauf brachen gewalttätige Pogrome aus. Die Regierung verordnete nunmehr scharfe Restriktionen gegen die Juden und ließ sie aus zahlreichen Ortschaften ausweisen. Die erschreckende Lage der Juden in Rumänien führte dazu, daß die Frage der Stellung der jüdischen Minderheit in der Gesellschaft 1878 auf der europäischen Konferenz in Berlin erörtert wurde. Bismarck hatte Vertreter Großbritanniens, Rußlands und Österreich-Ungarns eingeladen um die Machtkonflikte auf dem Balkan zu lösen. Nachdem Delegierte der Alliance Israélite Universelle sich dafür eingesetzt hatten, auf dem Berliner Kongreß auch die Situation der Juden zu besprechen, wurde in dem unterzeichneten Vertrag festgehalten, daß niemand aufgrund seines religiösen Bekenntnisses vom Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte ausgeschlossen werden dürfe. Damit war die rechtliche Gleichstellung der Juden von einer europäischen diplomatischen Tagung zu einem völkerrechtlich verbindlichen Grundsatz erklärt worden, und die Staaten Europas hatten die Garantie für das Prinzip der Emanzipation übernommen. Die Epoche der Emanzipation der Juden in Europa, die auf dem Berliner Kongreß ihren Höhepunkt erreicht hatte, ist die Zeit der bürgerlich-liberalen Bewegung, der Entstehung und Entwicklung einer civil society. Mit der Krise der Bürgergesellschaft im letzten Drittel des 19. Jhs. drohten auch der Emanzipation der Juden neue Gefahren.

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Emanzipationsentwicklung in Europa und darüber hinaus Entsprechend dem etymologischen Hintergrund des Begriffs Emanzipation wird dieser sowohl zur Bezeichnung des einmaligen Rechtsaktes der rechtlichen Gleichstellung verwendet, gleichzeitig aber auch im übertragenen Sinne eines geschichtlichen Prozesses, der langfristigen Integration der Juden in die bürgerliche Gesellschaft, gebraucht. Trotz der gravierenden Unterschiede zwischen westlichen Juden und Ostjuden, die sich in ihrer Lebenshaltung, ihrer Bindung an die jüdische Tradition und ihrer gesellschaftlichen Stellung erheblich voneinander unterschieden, vollzog sich dieser Prozeß in allen europäischen Ländern, in denen es eine jüdische Minderheit gab, in annähernd parallelen Phasen. Er nahm überall einen „Zickzackkurs“ (Shulamit Volkov) ein und war mit gleichartigen Problemen und Widerständen konfrontiert. In allen Ländern Europas waren die verschiedenen Stufen der rechtlichen Angleichung der Juden an die übrige Bevölkerung begleitet von intensiven öffentlichen Debatten. Neben heftigen Widersachern einer Aufnahme der Juden in die Gesellschaft setzten eine Reihe von Befürwortern darauf, die Juden zuerst durch Erziehungsmaßnahmen, wie sie ähnlich auch den Unterschichten auferlegt werden sollten, der bürgerlichen Welt anzupassen und ihnen damit ihre Besonderheit zu nehmen. Zahlreiche christliche Unterstützer der Emanzipation hofften auf einen Übertritt der Juden zum Christentum, und nicht wenige Juden ließen sich taufen, weil sie, wie es Heinrich Heine formuliert hatte, hofften, damit das „Entreebillet in die europäischen Kultur“ zu erlangen. Aktiven Anteil an der Politik der Emanzipation in Europa nahm nur eine relativ kleine Schicht von arrivierten Juden in den Städten, und es waren nahezu ausschließlich Männer, die für sie eintraten. Gleichwohl blieb die Emanzipation nicht ohne Folgen für die jüdischen Frauen. Sie ging einher mit neuen Rollenzuweisungen in den jüdischen Familien und neuen geschlechtsspezifischen Erwartungen an die Frauen. Der europäische Prozeß der Emanzipation ist ferner von den verschiedenen, an ihr beteiligten Generationen von Juden in unterschiedlicher Weise wahrgenommen und geprägt worden. Verbunden war die Emanzipation der Juden in Europa mit der Entstehung und Entwicklung der Bürgergesellschaft. Ihren stärksten Rückhalt erfuhren die Juden von den liberalen politischen Bewegungen, und Fortschritte konnten die Juden in Europa überall dort und immer dann erreichen, wenn und wo der Liberalismus zu einer starken politischen Kraft wurde. Insofern als die Herausbildung einer Bürgergesellschaft eine europäische Entwicklung war, unterschieden sich die jüdischen Erfahrungen in Europa von denen der jüdischen Bevölkerungen in anderen Kontinenten. Gemeinsamkeiten bestehen mit den Vereinigten Staaten von Amerika, wo die Einwanderer aus Europa ihre gesellschaftlichen Vorstellungen und Ideen von Freiheit und Gleichheit umzusetzen vermochten und die jüdischen Religionsgemeinschaften in eine pluralistische Gesellschaft eingebunden waren. Dennoch stand die Entwicklung in Nordamerika in einem anderen historischen Kontext. Am Schnittpunkt von Europa, Asien und Afrika standen die Juden des Osmanischen Reiches, die über lange Zeit ihre Selbstverwaltung aufrechterhalten konnten und denen der Sultan 1839 gleiche Rechte

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gegenüber der muslimischen Bevölkerung zuerkannt hatte. In Nordafrika bildeten die Juden im Zeitalter der europäischen Emanzipation eine neue Wirtschaftselite, die besondere Privilegien genoß und die ökonomische Entwicklung der Region prägte. Weitgehend unberührt von europäischen Entwicklungen blieben im 19. Jh. die jemenitischen Juden, deren Situation unter muslimischer Herrschaft prekär war, und die Falaschas, die schwarzen Juden Äthiopiens. Die Juden Persiens teilten mit den europäischen Juden allein die Erfahrung religiöser Intoleranz und antijüdischer Verfolgungen. In Indien hingegen bildeten die jüdischen Gemeinden innerhalb des indischen Kastensystems eine abgeschottete eigene Welt, während sich die Juden in China bis zur ersten Hälfte des 19. Jhs. weitgehend in der chinesischen Gesellschaft assimiliert hatten.

Elke-Vera Kotowski

Wege der Akkulturation Im Zuge der europäischen Aufklärung und der sukzessiven rechtlichen Emanzipation wandelte sich auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft das Selbstverständnis. Jüdische Aufklärer (Maskilim) gaben den Anstoß für eine innerjüdische Diskussion, die sowohl die individuelle Standortbestimmung als auch die bisher nicht in Frage gestellten religiösen Traditionen und Riten zur Disposition stellten. Lebten Juden bis ins 18. Jh. hinein in einer sowohl von außen, durch die christliche beziehungsweise muslimische (z.B. im mittelalterlichen Spanien) Mehrheitsgesellschaft auferlegten als auch von innen tradierten (durch die religiösen Gesetze bedingte) Isolation, so begannen vornehmlich in West- und Mitteleuropa junge Juden – und Jüdinnen – mit den Traditionen zu brechen. Ihr Drang nach profaner Bildung war kaum mehr vereinbar mit der seit Jahrhunderten verfeinerten Interpretation der Offenbarung und der darin implizierten Auserwähltheit des jüdischen Volkes gegenüber anderen Völkern. Es hatte auch schon vor der Haskala Formen der Annäherung gegeben, diese beschränkten sich jedoch auf wenige, vornehmlich geschäftliche Kontakte zwischen Juden und NichtJuden. Bereits im Mittelalter erlernten jüdische Kaufleute, die Handelsbeziehungen in vielen Staaten aufgebaut hatten, die Sprache des Landes, in dem sie lebten und darüber hinaus auch die Sprachen ihrer ausländischen Geschäftspartner. Viele jüdische Kaufleute sprachen neben mehreren europäischen auch arabische und sogar asiatische Sprachen, denn der Handel mit kostbaren Stoffen oder Tee führte sie bis zur Seidenstraße. Jedoch ist festzustellen, daß, obwohl wie erwähnt ein wirtschaftlicher Austausch zwischen Juden und Andersgläubigen stattfand, ein interkultureller dagegen unterblieb. Dies sollte sich jedoch im Zuge der europäischen Aufklärung, die die jüdische (Haskala) mit sich zog, ändern. Die Haskala sei, so Michael Brenner, „eine jüdische Akkulturation an die Aufklärung gewesen“. Diese Aussage ist ebenso prägnant wie prekär, denn je nach Perspektive (jüdischer oder nicht-jüdischer – und darin enthalten wiederum auseinandergehende Positionen) hat sie stets zu unterschiedlichen Interpretationen geführt. Jedoch läßt sich neutral feststellen, daß es im Zuge der Säkularisierung und der sich merkantilistisch entwickelnden Nationalstaaten zu einer Annäherung von Juden und Nicht-Juden kam. Dies hing mit der generellen Auflösung der feudalistischen Ständeordnung zusammen. Juden traten aus der gesellschaftlichen Randposition heraus und erwiesen sich als „nützlich“ (im Sinne Dohms), was ihnen einen sozialen Status als Bürger und „Einländer“, wenn auch mit eingeschränkten Rechten (diese variierten in den jeweiligen Ländern), einbrachte. Zunächst sollen Ursprung und Wesen des Begriffs Akkulturation dargestellt werden. Danach erfolgt eine historische Darstellung der Akkulturationsformen, die letztlich wiederum eng mit dem Emanzipationsprozeß zusammenhängen bzw. ihre gegenseitige Bedingtheit

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aufzeigen. Exemplarisch sollen dabei die Verlaufsformen im deutschsprachigen Raum aufgezeigt werden, da dort sowohl die innerjüdischen Entwicklungen besonders prägnant und weitreichend als auch die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unstet waren, denn während beispielsweise das Gesetz vom 13. November 1791 allen französischen Juden die sofortige und uneingeschränkte Gleichstellung brachte, dauerte es in Deutschland bis zur Reichsgründung 1871, bis eine förmliche bürgerliche Gleichstellung aller Juden in den deutschen Gebieten gesetzlich fixiert wurde, de facto aber stark eingeschränkt blieb.

Akkulturation versus Assimilation Der Begriff Akkulturation ersetzt den bis in die zweite Hälfte des 20. Jhs. ausschließlich verwendeten Terminus „Assimilation“, der im Zusammenhang mit dem Integrationsprozeß der jüdischen Minorität innerhalb der nicht-jüdischen Gesellschaft verwendet wurde. Die Assimilation, die gemeinhin als „Ähnlichmachung“, „Angleichung“ oder „Anpassung“ umschrieben wird, hat, wie Jacob Toury es nennt, einen „Reizwortcharakter“, zumal er – spätestens im nationalsozialistischen Sprachgebrauch – eindimensional und auch abwertend verwendet wird. Allerdings kann der Begriff nicht ausnahmslos ersetzt werden, da er sich nicht mit dem der Akkulturation deckt. Beide Begriffe weisen einen maßgeblichen Unterschied auf: Akkulturation kann als Annäherung an die Kultur der Mehrheitsgesellschaft unter Beibehaltung der eigenen (jüdischen) Religion und Traditionen verstanden werden, d.h. die eigene Identität der Juden in den jeweiligen Ländern speiste sich aus der der nationalen, d. h. der deutschen, französischen, englischen etc. „und“ der jüdischen. In der Weimarer Republik beispielsweise lautete die Selbstdarstellung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft: „Deutscher jüdischen Glaubens“. Assimilation dagegen kann als Versuch – oder Forderung – der gänzlichen Aufgabe der jüdischen Tradition und Identität und damit als das vollständige Aufgehen in der Mehrheitsgesellschaft verstanden werden. Enzo Traverso definiert den Begriff in vier Punkten: 1) Das Aufgehen der Judentums in der Welt der Mehrheitsgesellschaft, was einen Bruch mit der (eigenen) Vergangenheit und damit die Aufgabe der eigenen Identität mit sich bringt, 2) die Begegnung und der Dialog zwischen zwei unterschiedlichen Elementen (der jüdischen und der christlichen und/oder nationalen der Mehrheitsgesellschaft), 3) die Synthese durch die Säkularisierung der jüdischen Welt, 4) die Metamorphose, d. h. die Übernahme der deutschen Kultur in die eigene Tradition. Allerdings zeigte sich, daß diese Vorstellung des „vollkommenen Aufgehens“ – oder, nach Traverso, die Metamorphose – in der Mehrheitsgesellschaft eindimensional war. Die Nürnberger Rassengesetze machten keine Ausnahme bei denjenigen Juden, die zum Christentum konvertiert und/oder sich nach ihrem Selbstverständnis aus tiefstem Herzen ausschließlich als Deutsche oder Österreicher, Polen, Tschechen usw. fühlten. In der Forschung ist die Darstellung der historischen Prozesse innerhalb der jüdischen Gemeinschaft aber auch in ihrer Beziehung zur nicht-jüdischen Majorität heute differenziert genug, um der Beziehungsgeschichte zwischen Juden und Nicht-Juden in all ihren Fa-

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cetten gerecht zu werden. Weder ein verklärter Blick auf die vorübergehend angeblich gelungene deutsch-jüdische Symbiose – die als Erfolg der Akkulturation gewertet wurde – noch die Darstellung der Versuche, jegliche jüdische Identität zu negieren wird der historischen Wirklichkeit gerecht. Somit ist auch die Bedeutung, die der Begriff Assimilation impliziert, abgesehen von seiner ideologischen Belastung, differenziert zu betrachten, und das sowohl hinsichtlich der Individualität des einzelnen als auch der Komplexität kollektiven Handelns. Und da dieser Begriff häufig noch immer ausschließlich, d. h. für beide Ausprägungen – die Angleichung im Sinne von Akkulturation und die Anpassung im Sinne von gänzlich darin aufgehend –, gebraucht wird, wird dabei die Tatsache außer acht gelassen, daß es innerhalb des Judentums sowohl weitreichende Reformen als auch die Tendenzen gab, sich in die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft zu integrieren, dies aber unter Beibehaltung einer jüdischen Identität. Zunächst aber nochmals zum Aufkommen des Begriffs „Assimilation“. Im Zuge der Inaussichtstellung bürgerlicher Rechte sprach man auch von einer zwangsläufigen „Annäherung“ der Juden an die christliche Gesellschaft bzw. deren „Anpassung“ an die nicht-jüdische Majorität, ohne dabei die Begriffe mit konkreten Grundsätzen zu definieren, d. h., die Verhaltensweisen vorzugeben. Jüdischerseits wurde der Begriff, der seit der deutschen Reichsgründung in den Sprachgebrauch einging, zunächst durchaus positiv gewertet. In einem Leitartikel der Magdeburger Israelitischen Wochenschrift heißt es 1875: „Die Juden haben sich in staatlicher Hinsicht assimiliert, so in Deutschland, Frankreich, England u.s.w.“ Will heißen, daß die Juden – aus innerjüdischer Sicht – mit der Erlangung der bürgerlichen Gleichstellung den Pflichten, die den Rechten immanent sind, nachzukommen bereit waren und ihren Beitrag innerhalb der Gesellschaft leisteten.

Die Bedingtheit von Emanzipation und Akkulturation Vergegenwärtigt man sich die Situation der Juden in Europa bis zur Neuzeit, so zeigt die Rückschau, daß es während des Mittelalters immer wieder zu Pogromen gegenüber der jüdischen Minderheit und zu deren Vertreibung kam. Ein extremes Beispiel ist die Iberische Halbinsel. In Spanien und Portugal wurden Ende des 15. Jhs. alle Juden (Sefarden) vertrieben, und es kam danach zu praktisch keiner Neuansiedlung. Viele der vertriebenen Sefarden emigrierten nach West- und Mitteleuropa, beispielsweise in Städte wie Paris, Amsterdam, Antwerpen. Besonders in den deutschen Kleinstaaten kam es aufgrund der starken Dezimierung der Bevölkerung durch den Dreißigjährigen Krieg und die leeren Finanzkassen der zahlreichen Fürstentümer zu erneuten Ansiedlungen von Juden, den Aschkenasen, die vornehmlich aus Mittel- und Osteuropa gekommen waren. Durch sogenannte Judenordnungen wurde ein politisch-rechtlicher Rahmen geschaffen, der die Belange der jüdischen Minderheit innerhalb der Territorialhoheit regeln sollte. Im Vordergrund standen dabei die finanziellen Einnahmen des jeweiligen Fürsten, der den angesiedelten Juden meist hohe Schutzgelder für ihren Aufenthalt abverlangte. Die vielen Ein-

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schränkungen, die diese Verordnungen beinhalteten, sollten darüber hinaus die Interessen der christlichen Untertanen, gerade auf dem ökonomischen Sektor, berücksichtigen. Aber auch bezüglich der Religionsausübung signalisierten die rigiden Verordnungen, daß die christliche Konfession die alleinige Vorherrschaft besaß. Eben diese religiösen Reglements waren kennzeichnend für die Duldung der jüdischen Minderheit. Vor allem in protestantischen Staaten wurden immer wieder neue Unterdrückungsmechanismen eingesetzt, um die Juden zu diskriminieren. Waren zwar jene Judenverordnungen katholischer Territorialstaaten etwas großzügiger, so galt aber auch dort noch immer der alte Konzilssatz, daß die christliche Freiheit der jüdischen Dienstbarkeit überlegen sein müsse. Das hieß beispielsweise, daß vielerorts den Juden die Beschäftigung christlicher Mägde und Knechte und vor allem der Dienst von Ammen verboten wurde. Ferner blieb das Wohnen von Juden und Christen unter einem gemeinsamen Dach untersagt. Die Ausübung religiöser Zeremonien blieb den Juden zudem lange nur im privaten Raum gestattet. Der Bau öffentlicher Synagogen wurde vor allem in protestantischen Staaten erst zu Beginn des 18.Jhs. erlaubt (in Berlin 1714, in Hamburg hingegen erst 1788, d.h. erst 200 Jahre nach Ansiedlung der Hamburger Judenschaft). Zudem mußten die Synagogen nach außen schlicht und unscheinbar wirken, deshalb wurden sie in der Regel in Hinterhöfen errichtet. Die starke Reglementierung aller Lebensbereiche schränkte die Betätigungsmöglichkeiten der jüdischen Minderheit stark ein. Es galt ein Zunftverbot für fast alle handwerklichen Berufe, ebenso war es Juden verboten, Grundbesitz zu erwerben, so daß ihnen auch landwirtschaftliche Tätigkeit untersagt blieb und sich ihr Broterwerb fast ausschließlich auf Handelsberufe beschränkte. Obwohl die jüdische Minderheit erwerbsmäßig keine Bedrohung für die übrige Bevölkerung darstellte, wurde sie von der christlichen Umwelt stets mit Mißtrauen und religiösem Haß betrachtet, so daß die Juden von den Nicht-Juden isoliert in ihrem Gemeindeverband lebten, was zu einer strikten sozialen Trennung führte. Die räumliche Isolation förderte zudem auch innerhalb der jüdischen Gemeinden eine Abgeschlossenheit von der christlichen Umwelt und eine ausschließlich an den religiösen Sitten und Riten orientierte Lebensweise. Die Geborgenheit der Gemeinde und die Wahrung ihrer religiösen Traditionen waren die Quellen, die ihr Selbstverständnis und ihre Identität als Juden speisten. Allein Tora und Talmud bestimmten das geistige Leben, und die Bildung der Kinder beschränkte sich bis zum Ende des 18. Jhs. ausschließlich auf die religiöse Unter weisung. Die Aufklärung, die im 18. Jh. ganz Europa erfaßte, markierte auch für die Juden einen fundamentalen Übergang in ein neues Zeitalter. Es setzte eine Erneuerung des Denkens und Handeln ein, man berief sich nunmehr auf die Vernunft und befreite sich von der Bevormundung durch die kirchliche Autorität. Einen tragenden Pfeiler der Aufklärung bildete die Überzeugung von der natürlichen Freiheit, Gleichheit und Güte aller Menschen, und dies umschloß auch eine religiöse Toleranz. Die von der Obrigkeit verordnete gesellschaftliche Ausgrenzung der Juden war seit den 1770er Jahren nicht mehr aufrechtzuerhalten, da die allmählich aufkommende liberale Leistungsgesellschaft veränderte soziale Beziehungen

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und Verkehrsformen erforderte. Im Zuge der Aufklärung und der damit einhergehenden Säkularisierung schwand daher der durch kirchliche Tradition geheiligte, angeblich unaufhebbare Gegensatz zwischen Juden und Christen dahin. Die Säkularisierung aller Lebensbereiche machte somit eine rechtliche Gleichheit aller gesellschaftlicher Gruppen notwendig. Die aufklärerischen Strömungen jener Zeit blieben auch der traditionsbetonten jüdischen Geisteshaltung nicht verborgen. Neben Gotthold Ephraim Lessing, einem der bedeutenden Aufklärer der deutschen Geistesgeschichte, ist der Philosoph Moses Mendelssohn (1729–1786) zu nennen, der ein wichtiger Vertreter der Haskala war. Als der preußische Staatsrat Christian Wilhelm von Dohm, ein Freund Mendelssohns, 1781 die bürgerliche Gleichstellung der Juden forderte, löste dies eine öffentliche Diskussion aus, die auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft lebhaft betrieben wurde. In seinem Buch Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, dessen Drucklegung von einem Elsässer Juden finanziert wurde, erklärte Dohm, daß die elende soziale Lage der Juden nicht aus irgendwelchen natürlichen Anlagen oder religiösen Gebräuchen, sondern vielmehr aus der jahrhundertelangen Unterdrückung durch die christliche Umwelt herrühre. Allerdings stand auch Dohm noch ganz im Bann einer traditionell-merkantilistischen Vorstellung, wenn er betonte, daß sich die Juden für den Staat als „nützlich“ erweisen müßten. Daher schlug er vor, den Juden als Belohnung für soziales Wohlverhalten und als Vorschuß für künftige Leistungen bürgerliche Rechte zu gewähren, falls sie bereit wären, durch Fortschritte in der wirtschaftlichen Umschichtung und sozialen Eingliederung den Erwartungen der Obrigkeit zu entsprechen. Dies bedeutete zwar, daß die Gleichstellung der Juden gegenüber den Christen jederzeit widerrufbar war, sobald sich die Umstände änderten und die Juden der zugestandenen Rechtsgleichheit angeblich „unwürdig“ waren. Dennoch zeichnete sich zum erstenmal die Möglichkeit ab, die Juden als gleichberechtigte Mitbürger in Staat und Gesellschaft einzubeziehen. Die Haltung der Juden war angesichts dieser neuen Herausforderung ambivalent. Während die Orthodoxen zwar die Emanzipation der Juden innerhalb der nichtjüdischen Gesellschaft begrüßten, gingen ihnen die Bestrebungen der reformorientierten Maskilim doch zu weit, und es kam zu Abspaltungen innerhalb der Gemeinden. Moses Mendelssohn plädierte dafür, innerhalb des Judentums die sichtbaren und unsichtbaren Mauern des Ghettos, die letztendlich auch durch die religiösen Gesetze gestützt wurden, zu überwinden. Er bejahte die Möglichkeit der Integration und Akkulturation in die mehrheitlich christliche Gesellschaft. Durch die Isolation und die gesetzestreue Lebensweise waren die meisten Juden zu jener Zeit noch als „Fremde“ sichtbar. Sie waren anders gekleidet, sprachen ihren Dialekt (Jiddisch oder Ladino bzw. Judeo-Spanisch) und ernährten sich gemäß der Speisevorschriften. Dadurch, daß ihnen viele Berufszweige verwehrt blieben, verdienten sie ihren Lebensunterhalt vornehmlich als Hausierer und Kleinhändler und waren in der Regel verarmt. Die meisten von ihnen verstanden sich als streng orthodox, was ihre Abkapselung gegenüber der christlichen Umwelt verstärkte. Mendelssohn sah es auch als pädagogische Aufgabe, als er die Tora mit hebräischen Lettern ins Deutsche übersetzte. Er wollte damit seine Glaubensgenossen motivieren, die deutsche Sprache zu erlernen um auch an der

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nicht-jüdischen Kultur teilnehmen zu können. Mendelssohn selbst hatte sich als Autodidakt Fremdsprachen angeeignet. Für ihn war Bildung ein wichtiges Gut. David Friedländer (1750–1834), Führer der Berliner Jüdischen Gemeinde und Freund sowie geistiger Nachfahre Mendelssohns, war darum bemüht, mit erzieherischen Reformen und einer allgemeineren Bildung der jungen jüdischen Generation den Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft zu ermöglichen. 1778 gründete er in Berlin die erste öffentliche „Jüdische Freyschule“, in der Schreiben, Rechnen, Zeichnen, Hebräisch, Deutsch und Französisch unterrichtet wurde. Diese neue Schulform wich erheblich von den traditionellen, religiös geprägten jüdischen Bildungszielen ab. Bis dahin wurden in der Elementarschule, der sogenannten Cheder, Knaben bis zum achten Lebensjahr ausschließlich in die Heiligen Schriften eingeführt. Der Unterricht erfolgte in Hebräisch oder Jiddisch, und die Lese- und Schreibkenntnisse, die sie dabei erwarben, waren recht rudimentär. Anschließend konnten die Heranwachsenden bis zum 13. Lebensjahr die Talmud-Tora-Schule besuchen, und ein kleiner Teil der Schüler besuchte darüber hinaus die Jeschiwa, in der das Studium der Heiligen Schriften fortgesetzt wurde. Das Bedürfnis, sich säkulare Bildung anzueignen, stieg in den folgenden Generationen der Haskala stetig an. Im Zuge der sich sprunghaft entwickelnden modernen Wissenschaften partizipierten zunehmend auch jüdische Intellektuelle, die sich dem Bildungsideal der europäischen Aufklärung anschlossen.

Jüdisch-christliche Annäherung Die einsetzende Diskrepanz zwischen Tradition und Modernität zeichnet sich letztlich auch in der urbanen Siedlungsstruktur aus. Während die traditionsverhafteten Juden eher auf dem Land und in Kleinstädten lebten, kamen die Maskilim und Akkulturationswilligen aus den sich zu geistigen Metropolen entwickelnden Großstädten (Berlin, Breslau, Paris, Straßburg). Das Streben nach nicht ausschließlich religiös orientierter Bildung war der jungen christlichen wie jüdischen Generation gemein. Ende des 18. Jhs. zeichneten sich daher deutliche Veränderungen in der jüdischen Bildungswelt ab, die auch zu sozialen Beziehungen zwischen Juden und Christen führten. So wie sich bei der jüdischen Jugend ein wachsendes Interesse an der nicht-jüdischen Kultur entwickelte, verbreitete sich bei der christlichen Bildungselite eine, wenn auch zaghafte, Bereitschaft, den „gebildeten Juden“ auch als Menschen und potentiellen Bürger zu akzeptieren. Die ersten Begegnungen zwischen Juden und Christen fanden in Gelehrtenzirkeln statt. Ein Beispiel waren die Salons der Berliner Familien Itzig und Ephraim, in denen sich die gehobene jüdische und christliche Gesellschaft Berlins traf. Man sprach über Kunst, Literatur oder Politik und natürlich über den neuesten Gesellschaftsklatsch. Die beiden weit über die Grenzen Berlins bekannten Salons waren die von Henriette Herz (1764–1847) und Rahel Varnhagen von Ense (1771–1833). Die Liste ihrer Besucher

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deckt sich mit den Namen der damaligen Geistesgrößen. Schiller, Graf Mirabeau oder Jean Paul versäumten es nicht, den Damen des Hauses Herz oder Varnhagen von Ense ihre Aufwartung zu machen, wenn sie nach Berlin kamen. Ständige Besucher im Hause Herz waren Friedrich Schlegel, der dort seine spätere Frau Brendel, die Tochter Mendelssohns kennenlernte, und Wilhelm von Humboldt, der in seiner Jugend ein schwärmerischer Verehrer der Gastgeberin war. Karl Philipp Moritz lernte hier Mendelssohn und Salomon Maimon (1753–1800) kennen. Friedrich Schleiermacher, der ebenfalls eine tiefe Freundschaft zu Henriette Herz, der „ruhigen und schönen Seele“, unterhielt, war durch seinen Freund, den späteren Minister Alexander Graf von Dohna, bei dem Ehepaar Herz eingeführt worden. So begrenzt der Umfang dieser kulturellen Begegnungen blieb, so stark wirkte doch ihr Einfluß auf die Entstehung und Verwirklichung der Idee der Emanzipation, aber auch Akkulturation der jüdischen Minorität. Viele Juden gingen auch dazu über, sich taufen zu lassen, um sich damit endgültig des Stigmas des Außenseiters zu entledigen, wie im Falle des Trierer Juristen Heinrich Marx, dem Vater Karl Marx’, der sich taufen ließ, um seinen Beruf als Anwalt ausüben zu können. Heinrich Heine nannte den Taufzettel das „Entreebillet in die europäischen Kultur“, und auch die Berliner Salonnièren Henriette Herz und Rahel Varnhagen von Ense, die gern als Musterbeispiel einer gelungenen christlich-jüdischen Symbiose angeführt werden, ließen sich taufen. Wie am Beispiel von Friedrich Schlegel und Brendel Mendelssohn deutlich wird, kam es seit dem späten 18. Jh. auch zu Ehen zwischen Juden und Christen. Meist nahm der jüdische Ehepartner die christliche Konfession an, der umgekehrte Fall war so gut wie unmöglich.

Innerjüdische Debatte um Nation und Konfession Seit Anfang des 19. Jhs. begannen sich mehrere junge jüdische Intellektuelle, die eine weltliche Erziehung genossen und an der kulturellen Annäherung an Nicht-Juden teilgenommen hatten, von der religionsgesetzlichen Regelung des jüdischen Lebens zu lösen. Ihr bedeutendster Repräsentant war der Hamburger Jurist Gabriel Riesser (1806–1863). Riesser erblickte im Judentum keine eigene Nation, sondern ein Glaubensbekenntnis, eine Schicksalsgemeinschaft; er ersehnte die Lösung der „Judenfrage“ als Teil des erfolgreichen Kampfes um deutsche Einheit und Freiheit. Seine Verbundenheit mit dem Deutschtum und sein politisches Programm legte er in der Zeitschrift Der Jude, die er zwischen 1832 und 1835 herausgab, mit folgenden Worten dar: Bietet man mir mit der einen Hand Emanzipation, auf die alle meinen innigsten Wünsche gerichtet sind, mit der anderen die Verwirklichung des schönen Traumes von der politischen Einheit Deutschlands mit seiner politischen Freiheit verknüpft, ich würde ohne Bedenken die letztere wählen, denn ich habe die feste, tiefste Überzeugung, daß in ihr auch jene enthalten ist.

Gemäß der tradierten Auffassung gehörte der Jude, selbst wenn er in der Diaspora lebte, der jüdischen Nation an. Allerdings begannen in ganz Europa die Maskilim gegen den Widerstand der Rabbiner das Judentum als vernunftgemäße Religion herauszustellen und

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sie mit den modernen Wissenschaften in Beziehung zu setzen. Im Jahre 1819 gründete sich in Berlin aus einem Kreis junger jüdischer Akademiker der „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“, in dessen Statuten als Vereinszweck festgeschrieben wurde, „die Juden durch einen von innen heraus sich entwickelnden Bildungsgang mit dem Zeitalter und den Staaten, in denen sie leben, in Harmonie zu setzen“. Zu den Gründern des Vereins gehörten der Rechtsgelehrte Eduard Gans (1797–1839), der Pädagoge Immanuel Wolf (1799–1847) und der Literaturhistoriker Leopold Zunz (1794–1886). 1823 schreibt Wolf in der vereinseigenen Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums: Die Juden müssen sich wiederum als rüstige Mitarbeiter an dem gemeinsamen Werke der Menschheit bewähren; sie müssen sich und ihr Prinzip auf den Standpunkt der Wissenschaft erheben, denn dies ist der Standpunkt des Europäischen Lebens. Auf diesem Standpunkt muß das Verhältnis der Fremdheit, in welchem die Juden und Judentum bisher zur Außenwelt gestanden – verschwinden.

Zunz war es, der erstmals öffentlich davon sprach, daß das Judentum einen rein konfessionellen Charakter habe, denn so schreibt er 1819: „Der Israelit ist nicht mehr Mitglied einer israelitischen Nation, sondern nur eines israelitischen Glaubens.“ Allerdings stellte er unumwunden klar, daß es im Zuge der „Amalgamierung“ an die deutsche bzw. europäische Kultur nicht darum gehe, die jüdische dafür preiszugeben. Vielmehr gehe es darum, die Selbständigkeit der jüdischen Kultur im notwendigen Akkulturationsprozeß zu wahren. Zunz widmete sich in seiner Forschungsarbeit schon sehr früh jüdischen Themen, er wurde zum Begründer der „Wissenschaft des Judentums“, die eine wesentliche Aufgabe jüdischer Geschichtsforschung erfüllte. In der seit 1851 erschienenen Monatszeitschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums wurden wichtige Forschungsergebnisse der neuen Wissenschaft veröffentlicht. Im Jahre 1872 folgte schließlich die Gründung der „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Neuen Synagoge in Berlin befand. Im Engagement dieser und anderer jüdischer Gelehrter, die im Bereich der Naturwissenschaften, der Medizin und der Geisteswissenschaften tätig wurden, zeigt sich eine neue Ausdrucksform der jüdischen Identität. Diese Identität speiste sich nicht mehr aus den streng religiösen Traditionen und Mythen, sondern entsprach einem Bildungsideal, das sich seit der Aufklärung manifestierte. Die Religiosität wich der Vernunft und den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft.

Die Illusion einer deutsch-jüdischen Symbiose Noch bevor der Begriff Assimilation in den Sprachgebrauch einging, gab es zunächst eine Umschreibung für den gegenseitigen „Annäherungsprozeß“, die als „Amalgamierung“ in die Diskussion einfloß. Dieser aus der Chemie entlehnte Begriff verwies auf den Vorgang einer Legierung, der durch die Zusammenfügung verschiedener Komponenten etwas Neues hervorbrachte. Ähnlich auch der Begriff „Symbiose“, der das „Zusammenleben verschiedener Lebewesen zu gegenseitigem Nutzen“ umschreibt. Bleibt man bei diesen beiden Definitionen, so zeigt sich zumindest für die Zeit zwischen Reichsgründung und dem Ende der

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Weimarer Republik in Deutschland eine recht starke Entwicklung von „Neuem“ und „Nützlichem“, an dem Juden maßgeblich beteiligt waren. Im Bereich der Wirtschaft und den Naturwissenschaften einschließlich der Medizin zählten sie zu den Pionieren des Fortschritts und der Modernisierung. In den Geisteswissenschaften und der Kultur gehörten sie zur Avantgarde. Allerdings ist auch festzustellen, daß Juden, die in den hier aufgeführten Bereichen tätig waren, sich am stärksten vom Judentum entfernt und die nicht-jüdischen Werte und Normen verinnerlicht hatten. Die „jüdische Identität“ wurde häufig durch eine „nationale“ ersetzt, dies zeigt der Patriotismus, den Juden in Deutschland, aber auch in allen anderen Ländern an den Tag legten. Es entstand besonders während der Weimarer Zeit auf seiten der deutschen Juden der Eindruck von gelungener Emanzipation sowie Akkulturation, und nicht zuletzt die Zahl von interkonfessionellen Eheschließungen bestärkte dieses Gefühl. Auch wenn sich viele Juden von der Religion entfernten – was im übrigen auch dem allgemeinen Säkularisationsprozeß entsprach –, war ein erkennbares jüdisches Gemeindeleben durchaus vorhanden. Allerdings zeigten sich auch dort eindeutige Akkulturationsprozesse. Die Gottesdienste am Sabbat, der bekanntlich auf den Samstag fällt, wurden in Reformgemeinden, wie beispielsweise in Berlin, auf den Sonntag verlegt. Die Predigten wurden auch nicht mehr in Hebräisch, sondern in Deutsch gehalten, und die Kanzel, auf der der Rabbiner in protestantisch anmutendem Talar predigte, war wie die Orgel und der Chor dem christlichen Gottesdienst entlehnt. In der Pessach-Haggada, der Erzählung, die aus Anlaß des Auszugs aus Ägypten jedes Jahr zum Pessachfest vorgetragen wird, fehlte nunmehr auch die Formel „Nächstes Jahr in Jerusalem“, die die Juden an ihr Diaspora-Dasein erinnern und die Sehnsucht nach Rückkehr ins Heilige Land vergegenwärtigen sollte. In vielen (nicht-orthodoxen) jüdischen Haushalten wurden die Speisevorschriften nicht mehr eingehalten, und das Chanukkafest wurde zunehmend wie Weihnachten gefeiert, bei dem auch der Tannenbaum nicht fehlte. Es bildete sich der sogenannte „Drei-Tage-Jude“ heraus, der nur noch an den hohen jüdischen Feiertagen (zwei Tage an Rosch ha-Schana und Jom Kippur) in die Synagoge ging und ansonsten dem öffentlichen religiösen Leben fern blieb. Spätestens seit dem Berliner Antisemitismus-Streit (1879/80), der als Reaktion auf einige judenfeindliche Publikationen Heinrich von Treitschkes entbrannte, wurde spürbar, daß die erhoffte deutsch-jüdische Symbiose im Sinne einer „dauerhaften und für beide Seiten nützlichen Gemeinschaft“ eine Illusion bleiben sollte. Das Anwachsen antisemitischer Gruppierungen und Parteien, so auch die „Christlich-soziale Arbeiterpartei“ des Hofpredigers Adolf Stoecker, führte dazu, daß sich jüdische Vereine und Verbände gründeten, die einerseits jüdische Studenten oder Sportler zusammenführten, die aus Burschenschaften oder Sportvereinen aufgrund ihrer Konfession hinausgeworfen oder gar nicht erst zugelassen wurden, und es andererseits als eine ihrer Aufgaben ansahen, Aufklärungsarbeit über das Judentum (für Nicht-Juden) zu betreiben, um der antisemitischen Propaganda entgegenzutreten. Die bedeutendste Einrichtung in Deutschland war der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (CV), der sich 1893 in Berlin gründete. Die Mitglieder des CV waren davon überzeugt, daß eine Synthese von Deutschtum und Judentum

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möglich war, und sie betonten um so mehr ihre deutsche Staatszugehörigkeit und Loyalität gegenüber dem Lande und lehnten daher den Zionismus ab. In der Zeitung des CV wurde am 1. August 1914, am Tag der Unterzeichnung des Mobilmachungsbefehls, ein Aufruf veröffentlicht, der an den Patriotismus eines jeden deutschen Juden appellierte, Leben, Geld und Gut für das Vaterland zu opfern. Die Niederlage im November 1918, die dem Traum von nationaler Harmonie und internationaler Hegemonie ein Ende bereitete, führte zu einer enormen Verschärfung des Antisemitismus. Trotzdem bestand in den knapp 15 Jahren der Weimarer Republik erstmals eine Gleichstellung der Juden in der Gesellschaft nicht nur de jure, sondern auch de facto. Die Möglichkeit, einen Lehrstuhl an der Universität zu bekommen, scheiterte nicht mehr an der Konfession, und selbst auf dem politischen Parkett standen Juden nunmehr die Türen offen, was das Beispiel Walter Rathenaus zeigt. Allerdings spiegelt sein Schicksal auch die andere Seite der Medaille in gleich doppelter Weise. Erstens: Rathenau sagte sich bereits in seiner Jugend vom Judentum los, ohne allerdings zum Christentum zu konvertieren, und zweitens: daß ein Jude deutscher Außenminister werden konnte, war für rechtsnationale Kreise undenkbar – 1922 fiel Rathenau nicht weit entfernt von seiner Wohnung in BerlinGrunewald einem Attentat zum Opfer.

Westjüdische Parvenüs und ostjüdische Paria Viele Juden in Deutschland, und nicht nur dort – denn es handelte sich um ein westeuropäisches Phänomen –, befanden sich in einer fatalen Zwitterstellung. Ein Großteil von ihnen war dem Judentum gänzlich entfremdet und wollte auch wenig mit ihm zu tun haben. Dies zeigte sich besonders in ihrem Verhalten gegenüber den Ostjuden, von denen besonders um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jh. viele auf der Flucht vor Pogromen aus Osteuropa in die westeuropäischen Großstädte, besonders nach Berlin kamen, um dort entweder Zwischenstation vor ihrer Emigration in die USA zu machen oder dort ihre Existenz neu aufzubauen. Die Reaktion der Berliner Juden auf ihre ostjüdischen Glaubensgenossen war durchweg negativ, zumal sie glaubten, daß durch jene oftmals verhärmt und schäbig erscheinenden Gestalten, die vielfach wie Parias behandelt wurden, die eigene rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung in Gefahr geraten könne. Es fanden sich viele Stimmen, auch von prominenten Juden, die sich abfällig über die Ostjuden und deren geringe säkulare Bildung äußerten. Jedoch entwickelte sich auch eine genau entgegengesetzte Position, die zunehmende Sympathie für die dem Judentum treu gebliebenen Ostjuden aussprach. Denn im Zuge des wachsenden und vor allem auch offen gezeigten Antisemitismus erkannten viele Westjuden, daß sie eine eigene Identität verloren hatten. Von der nicht-jüdischen Majorität wurden sie als nicht gleichwertig anerkannt, und ihre jüdischen Wurzel hatten entweder sie selbst oder ihre Vorfahren im Anpassungsprozeß an die nicht-jüdische Kultur verdorren lassen oder durchtrennt. Auf seiten der Ostjuden wurden sie dafür als „westeuropäische

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Parvenüs“ verachtet, die für einen finanziellen Wohlstand und die gesellschaftliche Anerkennung ihre Identität preisgaben. Um so tragischer war dies, da besonders in Deutschland die Juden der Idee der Aufklärung anhingen und sich an Gestalten wie Lessing, Kant oder Goethe orientierten. Selbst als die Diskriminierung während des Nationalsozialismus in vollem Gange war und die Katastrophe absehbar wurde, blieben viele Juden passiv. Für viele schien ein Weggang aus Deutschland undenkbar, und diejenigen, die sich vor der Vernichtung retten konnten, hatten oftmals die überstürzt gepackten Koffer mit Büchern deutscher Denker gefüllt.

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Judenfeindschaft

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Winfried Frey

Antijudaismus Gibt es einen Unterschied zwischen Antijudaismus und Antisemitismus? Braucht man zur zeitlichen Unterscheidung nur die Bezeichnungen „antik“, „christlich“ oder „modern“? Und zur inhaltlichen nur „theologisch“, „ökonomisch“ oder „rassisch begründet“? Liest man Lexikonartikel und Abhandlungen, die sich mit „Antisemitismus“ oder „Antijudaismus“ befassen, kann man leicht den Eindruck gewinnen, daß jeder Begriff jederzeit für alle Erscheinungsformen der Diskriminierung und Stigmatisierung von Juden anwendbar ist. Obwohl also das Diktum von Fritz Bernstein, der bereits 1926 in diesem Bereich ein „Babel der Terminologie“1 konstatierte, bis heute seine Berechtigung nicht verloren hat, scheint sich doch im deutschsprachigen Raum die Praxis durchgesetzt zu haben, die Begriffe „Antisemitismus“ und „Antijudaismus“ für zwei unterschiedliche und unterscheidbare Formen der Separierung und Ausgrenzung zu verwenden, wobei „Antijudaismus“ häufig mit der mittelalterlichen, zumeist religiös begründeten Judenfeindschaft gleichgesetzt, „Antisemitismus“ meist zur Bezeichnung „moderner“, rassistisch untermauerter Judenfeindschaft benützt wird. Da erhebt sich sogleich die Frage, ob hier eine von den Historikern zu beschreibende und zu interpretierende Abfolge und Entwicklung postuliert werden soll oder ob es sich – dies scheint die herrschende Auffassung in Israel und in den angelsächsischen Ländern zu sein – beim „Antijudaismus“ allenfalls um eine Unter- oder Nebenform des „Antisemitismus“ handele, ob also „Antisemitismus“ der umfassende und treffende Begriff für eine allgegenwärtige und immer schon vorhandene Judenfeindschaft sei, und „Antijudaismus“ nur ein aus heuristischen – wenn nicht apologetischen – Gründen entwickelter und benützter Unterbegriff, um unterschiedliche Erscheinungsformen ein und derselben Sache bezeichnen zu können. Hannah Arendt und andere haben vor der Vorstellung eines „ewigen Antisemitismus“ gewarnt, die diesen zu einer quasi-natürlichen Eigenschaft der christlichen oder nicht mehr christlichen Mehrheit mache und der so keiner weiteren Legitimation oder Erklärung bedürfe. Andererseits könnte die historische Trennung des Antijudaismus vom Antisemitismus, vor allem wenn der eine Begriff dem „Mittelalter“, der andere der „Neuzeit“ zugeordnet wird, fälschlicherweise suggerieren, daß der Antijudaismus nur ein vergleichsweise harmloser Vorläufer des Antisemitismus gewesen sei, daher weniger gefährlich für die jüdische Minderheit als der Antisemitismus, inzwischen überholt und obsolet, vielleicht gar nicht mehr existent. Um diesem Dilemma zu entgehen, scheint der Verweis auf ein in der Ethnologie entwickeltes Modell, das den Prozeß der Ausgrenzung gesellschaftlicher Gruppen beschreibt, 1

Fritz Bernstein, Der Antisemitismus als Gruppenerscheinung, Berlin 1926, Kapitel 1.

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hilfreich zu sein: Auf der Suche nach Identität, nach Selbstvergewisserung und Identitätsbewahrung neigen menschliche Gruppen dazu, sich selbst im Mittelpunkt der Welt zu sehen, auf dem Höhepunkt der kulturellen, technischen oder religiösen Entwicklung, als das Zentrum von Friede, Recht, Einheit, Reinheit und Wahrheit („Ethnozentrismus“). Scheint diese Vorstellung in der eigenen Gruppe noch nicht oder nicht mehr rein verkörpert, besteht eine der häufig zu beobachtenden Reaktionen darin, die Unvollkommenheit dem schädlichen Einfluß „Anderer“ zuzuschreiben, der zurückzudrängen ist, wenn das Ideal (wieder) erreicht werden soll. Die negative Beurteilung der „Anderen“, die die Verkörperung eines von der eigenen Lebensform abweichenden und daher als schädlich empfundenen Verhaltens darstellen oder zumindest dafür gehalten werden, kann sich in vergleichsweise harmlosen Formen wie „Hohn und Spott“ äußern, sie kann sich aber auch zur Diskriminierung, Marginalisierung, Barbarisierung und Separierung steigern und sogar in Ausgrenzung und Tötung kulminieren. Wenn das „Eigene“ aber als Verkörperung von Friede, Recht und Wahrheit angesehen wird, kann eine solche Negativsetzung der „Anderen“ mit all ihren Konsequenzen nicht einfach dekretiert, sondern muß im Rahmen des eigenen Wertesystems legitimiert werden. Dies kann geschehen, indem die „Anderen“ als absolut gefährliche, die eigene Identität und Existenz bedrohende, übergroße Gegenmacht überzeichnet werden, indem Maximen und Werte, die einer Ausgrenzung im Weg stehen, als der eigenen Tradition widersprechend dargestellt und so desavouiert werden und indem – häufig unter Rückgriff auf die wirkliche oder zu diesem Zweck (re)konstruierte Frühzeit der eigenen Tradition – die Ziele derer, die die Ausgrenzung propagieren, als „natürlich“, „rein“ und „gesund“ dargestellt werden. Die Propagandisten der Ausgrenzung stellen die „Anderen“ nicht als die in sich differenzierte Gruppe dar, die sie in aller Regel ist, sondern ihre Vielfältigkeit wird reduziert auf wenige, angeblich „typische“ Kennzeichen und Eigenschaften, die je nach Bedarf ziemlich beliebig zum Bild des „Anderen“ zusammengesetzt werden können, wenn sie nur die grundlegende Forderung erfüllen, daß sie den Eigenschaften, die für die Idealisierung der eigenen Gruppe in Anspruch genommen werden, diametral entgegengesetzt sind. Das Bild des „Anderen“ in einer Gesellschaft entspricht also in den seltensten Fällen der Wirklichkeit, obwohl es, wie alle Erscheinungsformen des Vorurteils, Elemente dieser Wirklichkeit aufweisen muß, um akzeptiert zu werden und wirksam werden zu können. Der „Andere“ ist immer ein synthetischer Anderer, der im Alltag meist strikt getrennt wird von den bekannten oder vertrauten Vertretern der „anderen“ Gruppe. Kommt es aber zum Konflikt oder soll es zum Konflikt kommen, dann schiebt die Propaganda das in den Köpfen der Menschen zuvor implantierte und daher leicht abrufbare Bild des synthetischen „bösen Anderen“ vor das Bild der realen Nachbarn, Kollegen, Freunde, entmenschlicht sie somit und macht sie zu bloßen Subjekten der Aggression, denn nun kann in ihnen als realen Personen alles getroffen, bestraft, eliminiert werden, was ihnen als dem synthetischen „Anderen“ zuvor an Eigenschaften des Nichteigenen, des Nichtfriedlichen, des Unwahren und Unreinen zugeordnet wurde.

Antijudaismus

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Akzeptiert man dieses Modell, dann kann leichter unterschieden werden zwischen der Tendenz zur Ausgrenzung selbst, ihrer Mechanik und ihrer je spezifischen Begründung und Legitimation. Dann kann genauer beschrieben werden, was „religiös begründeter Antijudaismus“ sein könnte, der dadurch nicht auf eine bestimmte Epoche eingegrenzt werden müßte, und was „rassisch begründeter Antisemitismus“, ohne daß man Gefahr liefe, das jeweils Gemeinsame aus den Augen zu verlieren, die Begründungszusammenhänge und deren gegenseitige Beeinflussung zu übersehen. Hier soll das Augenmerk auf den Antijudaismus gerichtet sein, jene Form der Feindschaft von Christen gegenüber Juden, die, in der frühen Zeit des Christentums, zum Teil schon in den ältesten Texten begründet, in langen Jahrhunderten in unterschiedlicher Häufigkeit und Intensität produziert, rezipiert, verändert und verändert tradiert wurde, die auch in der Neuzeit weiterwirkte, partiell vom Antisemitismus adaptiert und amalgamiert wurde, aber auch in den christlichen religiösen Gemeinschaften bis heute, relativ unabhängig vom Antisemitismus, oft sogar unerkannt und unbegriffen von den Gläubigen, weiterlebt.

Die Abgrenzung des Christentums vom Judentum „Religiös begründet“ war der Antijudaismus unter anderem deswegen, weil es in der Auseinandersetzung zunächst um Streit und dann um Abgrenzungsbemühungen verschiedener Gruppierungen innerhalb des Judentums selbst ging. Die neue Gruppe behauptete, der von den Römern hingerichtete Rabbi Jesus sei der Sohn Gottes gewesen, der verheißene Messias, von der Jungfrau Maria geboren, nach seinem Tode wieder auferstanden und in den Himmel aufgefahren. Diese Auffassung konnte von der Mehrheit in den jüdischen Gemeinden nicht geteilt werden, da sie jüdischem Gottesverständnis und jüdischer Messiaserwartung zum Teil fundamental widersprach. Der Dissens führte zunächst zur Entfremdung, dann zur (Selbst-)Separierung der Jesusanhänger, die sich bald zur Unterscheidung Christen nannten. Der Konflikt steigerte sich dadurch, daß die Christen, um in einer Umwelt, in der das Alter einer Religion eine wichtige Rolle spielte, die eigene Legitimation zu sichern, sich als das „wahre Gottesvolk Israel“ zu betrachten und auszugeben begannen, als das nunmehr auserwählte Volk. Damit war notwendig und absichtlich eine Abwertung des Judentums verbunden, dem nun, Rom zunehmend entschuldigend, eine kollektive Schuld am Tod des Rabbi Jesus zugesprochen („Gottesmord“), dem die vorsätzliche Ablehnung der neuen Botschaft vorgeworfen („Verstockung“) und das deshalb als von Gott verstoßen, verdammt und bestraft (Zerstörung Jerusalems, Leben in der Diaspora) dargestellt wurde. Zwei Aspekte gewannen dabei für die künftige Entwicklung des Verhältnisses der sich nun als Christen und wahres Gottesvolk verstehenden Gruppe zu den Juden besondere Bedeutung: Zum einen ist es die Quasi-Usurpation der heiligen Schriften der Juden durch die neue Gruppe, die der Mutterreligion das Besitzrecht und zunehmend auch die Exegesefähigkeit absprach. Die Hebräische Bibel wurde zum „Alten Testament“, aus dem die Christen ihre eigene Erwählung, die Legitimität und Dignität ihrer Auffassungen von Jesus

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Christus sowie die Verwerfung der Judenheit herauslasen. Diese neue Interpretation wurde der jüdischen Exegese, die als eindimensional und heilsgeschichtlich obsolet diffamiert wurde, als die wahre gegenübergestellt. Die Hebräische Bibel wurde dadurch geradezu zur Fundgrube für die Propagandisten der neuen Religion, in der sie sowohl alle für die eigene Auffassung positiven Argumente begründet fanden als auch Belege für ihre nun negative Einschätzung der Mutterreligion. Mithilfe der Typologie wurden die biblischen Patriarchen und Propheten als Vorläufer und Verkünder des Christentums gedeutet, Sara wurde zum Typus des „Neuen Testaments“ und zum Symbol der Freiheit, Hagar wurde zum Typus des „Alten Testaments“ und damit zum Symbol der Sklaverei. Rebekkas Sohn Jakob wurde als Typus des Christentums verstanden, dem sein älterer Bruder Esau, Typus der Synagoge, zu dienen hatte. Parallel dazu wurde Rachel, „schön von Gestalt“, zum Typus der Ecclesia, Lea, deren Augen „matt“ waren, zum Typus der Synagoge, die der Kirche zu dienen hatte. Dt 28,64–66 wurde als Voraussage der ewigen jüdischen Diaspora verstanden, Hos 1,4–9 als Beweis aufgefaßt, daß Israel nicht mehr Gottes Volk und Gott nicht mehr der Gott Israels sei. Außerdem reagierten die eigenen heiligen Schriften der Christen, die zum Teil erst ein bis zwei Generationen nach dem Tod des Rabbi Jesus und nicht von Augenzeugen niedergeschrieben wurden, schon ganz bewußt auf die Entwicklung, indem sie einerseits die Ereignisse des Jesus-Lebens mit Geschichten und Personen der Hebräischen Bibel im Sinne von Typus und Erfüllung in Verbindung brachten und sie so zur historisierten Prophetie machten, andererseits, z. B. in Lk 21,20–24, das Schicksal der konkurrierenden Judenheit im ersten Jahrhundert als Prophezeiungen ex eventu aufnahmen und so als von Gott gewollte und daher gerechte Bestrafung darstellten: Wenn ihr aber seht, daß Jerusalem von einem Heer eingeschlossen wird, dann könnt ihr daran erkennen, daß die Stadt bald verwüstet wird. […] Denn das sind die Tage der Vergeltung, an denen alles in Erfüllung gehen soll, was in der Schrift steht. Wehe den Frauen, die in jenen Tagen schwanger sind oder ein Kind stillen. Denn eine große Not wird über das Land hereinbrechen: Der Zorn Gottes wird über dieses Volk kommen. Mit scharfem Schwert wird man sie erschlagen, als Gefangene wird man sie in alle Länder verschleppen, und Jerusalem wird von den Heiden zertreten werden, bis die Zeiten der Heiden sich erfüllen.

Das Ergebnis war, daß das Christentum in unterschiedlicher und sicher unterschiedlich zu interpretierender Weise dem Judentum mit der Hebräischen Bibel dessen eigene Geschichte und Tradition streitig machte und mit dem Hinweis, die Juden würden für ihre „Verstocktheit“ von Gott gestraft und seien daher „Spiegel des göttlichen Zorns“, der Judenheit auch die Zukunft absprach. Der Separierung und Marginalisierung folgte die Barbarisierung auf dem Fuße. Ausgehend von Stellen aus dem Zweiten Testament wie dem Paulus-Verdikt in 1 Thess 2,15 f. – „Diese [die Juden] haben sogar Jesus, den Herrn und die Propheten getötet; auch uns haben sie verfolgt. Sie mißfallen Gott und sind Feinde aller Menschen“ –, dem Jesus Christus von Johannes in den Mund gelegten Urteil über die Juden (Joh 8,44–47) – „Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein

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Mörder von Anfang an. […] Wer aus Gott ist, hört die Worte Gottes; ihr hört sie deshalb nicht, weil ihr nicht aus Gott seid“ – und der zweimaligen Erwähnung einer „Synagoge des Satans“ (Apk 2,9 und 3,9) entwickelten frühe christliche Theologen, unter ihnen später mit ungeheurer Autorität ausgestattete Kirchenlehrer, ein ganzes Syndrom der Verteufelung der Judenheit. Einer der sub specie medii aevi erfolgreichsten Judenpolemiker und -hasser war unzweifelhaft Johannes Chrysostomus. Aus Sorge um noch immer anhaltenden Einfluß jüdischer Lehre und Tradition auf die christlichen Gemeinden im 4. und beginnenden 5. Jh. predigte und schrieb der wortgewaltige Antiochier und spätere Bischof von Konstantinopel (seit 398) mit solcher Erbarmungslosigkeit gegen die Judenheit, daß die Lektüre heute nur noch schaudern lassen kann. In mehreren antijüdischen Schriften, besonders aber in seinen acht Homilien Adversus Judaeos nahm er den im Zweiten Testament angelegten Antijudaismus inklusive der dort schon praktizierten Bezugnahme auf die Hebräische Bibel auf, systematisierte und verstärkte ihn. „Die Juden“ hätten sich Gott widersetzt und widersetzten sich ihm noch immer, sie seien halsstarrig und daher verworfen: „Weil ihr Christus getötet habt, weil ihr Hand an den Herrn gelegt habt, weil ihr das kostbare Blut vergossen habt, gibt es für euch keine Besserung, keine Vergebung, keine Entschuldigung.“ Aus diesem Grundvorwurf entwickelte Johannes Chrysostomus ein ganzes Arsenal der Judenbeschimpfungen, aus dem sich seine Nachfolger über Jahrhunderte bedienen konnten: Die Juden liebten Ausschweifungen, sie seien geil und verfressen, dreist, streitsüchtig, sie seien Räuber, Diebe, Betrüger, Kriegsstifter, kurz: sie seien das „Verderben und die Krankheit der ganzen Erde“. Gewiß sind sowohl die von den Polemikern herangezogenen Bibelstellen wie auch ihre eigenen Äußerungen in einem zeitgeschichtlichen Kontext entstanden und aus diesem partiell erklärbar. Aber da die Bibelstellen, als Gottes Wort, für unbezweifelbar gehalten und – zum Teil bis heute – geglaubt wurden, und da die Äußerungen der Kirchenväter als verbindliche Exegese galten, wurden sie als integrale Bestandteile der kirchlichen Lehre zur richtungsweisenden Grundlage aller späterer Meinungen und Äußerungen christlicher Theologen und Autoritäten zur „Judenfrage“. Hinzu kam seit dem beginnenden 4. Jh., daß das Verhältnis der Christenheit zur Mutterreligion nicht mehr alleine religiös begründet, sondern unmittelbar mit der Machtfrage verknüpft war. Mehr und mehr wurden die Ausgrenzungs- und Marginalisierungstendenzen der kirchlichen Lehre und Lehrer in Gesetzestexte umgegossen und mit Macht umgesetzt, der römische, nun sich als ein christlicher verstehende Staat wandte sich vom Prinzip der prinzipiellen Gleichberechtigung der Juden als „cives Romani“ ab und wies ihnen, so wie die Kirchenlehrer dies theologisch getan hatten, ihren Platz nun auch rechtlich am Rande des christlichen Universums zu. Besonders einflußreich war hier Augustinus, der erklärte, man solle die Juden als Zeugen für die Richtigkeit des christlichen Glaubens und zur Erinnerung an ihre „Missetaten“ in ewiger Knechtschaft unter den Christen wohnen lassen.

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Antijüdische Schlüsseltexte Beide Aspekte des Ausschlusses wurden in Text und Bild über die Jahrhunderte in der ganzen Christenheit verbreitet und prägten so auch die Vorstellung der nicht theologisch gebildeten Schichten. Insbesondere die Legende von Papst Silvester und Kaiser Konstantin und die als augustinisch ausgegebene und dadurch als besonders glaubwürdig akzeptierte Schrift De Altercatione Ecclesiae et Synagogae2 wurden so zu Schlüsseltexten christlichabendländischer Judenfeindschaft. Die Silvesterlegende verknüpft Erzählungen über den in der Realität wenig bedeutenden Papst, die nach seinem Tod in Rom entstanden waren. Ihre Hauptteile sind die wunderbare Bekehrung des Kaisers Konstantin zum Christentum, die anschließende Christianisierung des Römischen Reiches und eine – tatsächlich im März 315 abgehaltene – Disputation zwischen Silvester und zwölf jüdischen Gelehrten über die Wahrheit des christlichen Glaubens. Während der Konstantin-Teil die Christianisierung des Römerreiches und der Römer als einfachen herrscherlichen Akt beschreibt, der keinerlei Widerstand hervorruft – gewissermaßen ein Selbstlob der Ecclesia e gentibus –, zeigt der Disputationsteil die „Hartnäckigkeit“ und „Verstocktheit“ der Juden, die sich nicht durch die Überlegenheit der christlichen Exegese von der Wahrheit des Christentums überzeugen lassen, sondern erst durch ein Wunder „bekehrt“ werden. Der Schluß der Legende, die man als Gründungslegende des christlichen Abendlandes lesen kann, beschreibt die feierliche Neugründung des römischen Staates als Roma Christiana. Diese Legende hatte einen großen Einfluß auf die Christen in ihrem Alltag, da sie in keinem lateinischen oder volkssprachlichen Legendar fehlte und in vielen Predigten und Altarbildern auch den Analphabeten bekanntgemacht wurde. Wie eng bei der Tradierung der Legende „politische“ und „religiöse“ Aspekte verbunden wurden – falls diese für das Mittelalter überhaupt zu trennen sind –, zeigt die mittelhochdeutsche Fassung der Silvesterlegende des Dichters Konrad von Würzburg (um 1270), die stärker als viele andere Fassungen die Rolle des „weltlichen“ Herrschers in einem christlichen Reich betont: In einem Brief, den Konstantin seiner judaisierenden Mutter Helena schickt, um sie und ihre jüdischen Gelehrten zur Disputation einzuladen, beschreibt er wie in einem kurzen Fürstenspiegel die Stellung des Herrschers und dessen Pflichten: Der allmächtige Gott lenke unerschütterlich das Leben der Menschen und die Geschicke der Menschheit. Den Fürsten habe Gott die Macht gegeben, damit sie der Menschheit Gesetze gäben und die Reiche im richtigen Glauben, der die Bindung und Rückbindung zwischen Gott, den Herrschern und den Menschen verbürge, lenkten. Die Herrscher müßten wie Gott in allen ihren Handlungen zuverlässig und berechenbar sein, und gerade deshalb seien sie verpflichtet, in allem nur den Besten und dem Besten zu folgen. Deshalb suche er Beweise für den besten, den allein wahren Glauben, und dem erwiesenermaßen besten wolle er mit allen seinen Untertanen folgen. 2

Patrologia Latina 42, 1131–1140.

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So reformuliert Konrad, was über ein Jahrtausend Grundlage christlichen Religions- und Staatsverständnisses war: Die christliche Religion, die als die richtige „erwiesen“ ist, verbindet Herrschende und Gottesvolk, Gottesvolk und Gott. Religion ist nichts Individuelles, sie durchdringt alle menschlichen Institutionen und Handlungen. Die Pflicht des Herrschers, sich an „das Beste“ zu halten, bedingt, daß er advocatus ecclesiae ist, daß er nach dem Glauben und nach den Lehren des Christentums handeln muß, wenn er ein guter und anerkannter Herrscher sein und seinen Platz im Himmel erhalten will. In diesem orbis christianus haben die Juden allenfalls einen Platz am Rande. Die pseudo-augustinische Altercatio, vermutlich im 5. Jh. entstanden und wohl im 9. Jh. in die überlieferte stark polarisierende Dialogform der Gerichtsrede gebracht, veranschaulichte die Vorstellung von der Überlegenheit des christlichen Glaubens gegenüber dem jüdischen Glauben durch die Einführungen und Popularisierung der Symbolfiguren Ecclesia und Synagoga. Die Altercatio wurde in einigen Diözesen des Fränkischen Reiches in die Liturgie der Karwoche aufgenommen, erlangte hierdurch noch größere Überzeugungskraft und verstärkte ihrerseits die antijüdische Tendenz dieser Liturgie. Im Text streiten sich zwei Frauen vor dem kaiserlichen Gericht um ein Erbe, das die eine, Synagoga, unrechtmäßig an sich gebracht habe und nicht an die rechtmäßige Besitzerin, Ecclesia, herausgeben wolle. Die Kirche bezeichnet sich als rechtmäßige Königin und erklärt die Synagoge zu ihrer Magd, die unter ihren Füßen liege. Zum „Beweis“ zitiert Ecclesia das ganze Arsenal der Bibelstellen, die dem Christentum seit der Väterzeit als Beweis für seine Überlegenheit und Wahrheit dienten, einschließlich des Gottesmordvorwurfs. Darüber hinaus verweist sie auf die schiere Realität der christlichen Herrschaftsausübung, die die Juden als Knechte der Christen von allen Ämtern ausschließe. Das sei, wie von den Propheten vorhergesagt, die Strafe für den Götzendienst der Juden, für die Nichtanerkennung Jesu als Gottessohn und Messias. Angesichts dieser erdrückenden „Beweise“ bekennt Synagoga schließlich: „Du hast mich überwunden, ich kann nichts mehr antworten, nicht durch die Bestätigung der Worte, sondern durch das Gesetz scheine ich verdammt.“ Dieser Wortkampf und sein Ausgang wurden zum Bildvorwurf für die unzähligen Darstellungen der überwundenen Synagoga und der triumphierenden Ecclesia in der Buchund Glasmalerei sowie in der Skulptur des Mittelalters. Der Antagonismus des Figurenpaares wird im Laufe des Spätmittelalters in den Darstellungen verschärft: Die Synagoge wird verteufelt, der stinkende Bock wird zu ihrem Attribut und der Esel zu ihrem Reittier, während Ecclesia auf dem Wahrheit verbürgenden Tetramorph, der Allegorie der vier Evangelien, reitet. In der abstoßendsten Form, die das Bildmotiv dann annimmt, dem „Lebenden Kreuz“, schließt der – figürlich dargestellte – obere Kreuzesarm den Erlösten den Himmel auf, der untere überwältigt und öffnet die Hölle, der rechte krönt die Ecclesia, der linke durchstößt mit einem Schwert die Figur der Synagoga. Das Figurenpaar wurde auch auf die mittelalterliche Bühne gebracht. In Passionsspielen, wie zum Beispiel dem älteren, nur noch durch die Dirigierrolle bezeugten Frankfurter Passionsspiel und im Donaueschinger Passionsspiel treten sie, nachdem Jesu Leiden und Tod durch „die Juden“ mit aller Drastik dargestellt worden ist, unter das Kreuz und „disputie-

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ren“ in der Tradition der Altercatio. Im Donaueschinger Passionsspiel gerät dabei die Rede der Cristiana zu einem kaum verhüllten Aufruf zum Pogrom: O ir schwestern vnd brüder min / helffent mir rechen dise tat / an dem falschenn iudischen rat / die inn [d.h. Jesus Christus] so schantlich getöttet hand.“ Am Ende der Szene wird die überwundene Synagoga als Verkörperung der ganzen Judenheit auf der Bühne von Ecclesia eigenhändig in den Zustand versetzt, den die Bilder und Skulpturen zeigen: „Züm zeichen daz ir all sind blind / vnd daz ir hand ein valschen glouben / So tünd ich dir verbinden din ougen/vnd brich dir din baner ouch en zweÿ /[…].“

In diesen mittelalterlichen religiösen Spielen, die nicht in Gebäuden vor kleinem Publikum gegeben wurden, sondern als Großereignisse von zum Teil über 200 Spielern auf dem Markt- oder Kirchplatz der Stadt vor der wie zu einem Gottesdienst versammelten Stadtgemeinde und der Landbevölkerung oft mehrtägig aufgeführt wurden, feierte sich die christliche Stadtgemeinde als eine einige und geheiligte, und sie tat dies, indem sie „die Juden“ als Gottesmörder und Menschenfeinde, als die sie Paulus im ersten Thessalonicherbrief bezeichnet hatte, als Verdammte und dem Teufel in der Hölle Zugeordnete ausgrenzte und tendenziell schutzlos machte.

Zwischen Duldung und Vertreibung Der Antijudaismus war, wie an den beiden Beispielen zu sehen war, dem Christentum von Anfang an inhärent, und er war allgegenwärtig. Doch gab es in den verschiedenen Regionen Europas Epochen, in denen er politisch und sozial weniger wirksam war, Epochen, in denen sogar eine, wenn auch immer fragile Concivilitas zwischen Christen und Juden, insbesondere der Oberschicht, möglich war, und Epochen, in denen er aktualisiert wurde und so das „normale“ Nebeneinander von Christen und Juden – in dem von Augustinus und dem christlichen Staatsverständnis vorgegebenen Rahmen – zum Schaden der Judenheit abrupt beendet werden und in Vertreibung und Mord umschlagen konnte. In der karolingischen Theologie ist, wie jüngste Forschungen ergeben haben, zu beobachten, daß zunächst die Antijudaismen der Kirchenväter eher wahllos und zufällig übernommen wurden, daß sich aber dann innerhalb weniger Jahrzehnte der antijüdische Ton verschärfte, zum Teil weit über die aggressiven Töne der Väter hinaus. Die Juden wurden zum nicht mehr zu überbietenden negativen Gegenpol zum Christentum und damit zu einer latenten Bedrohung gemacht. Diese Verschärfung erschien den Zeitgenossen ebenso wie den späteren Rezipienten jedoch als Kommentierung und Auslegung der Positionen der Kirchenväter, also als geheiligte alte Lehre. Zwar blieb dieser aggressivere Antijudaismus zunächst nach außen hin wenig wirksam, aber er bereitete den Boden für die Judenverfolgungen im Zusammenhang mit den Kreuzzügen. Totgeschlagen wurden die Juden von den Kreuzfahrern und dem Volk, das sich ihnen angeschlossen hatte. Angestiftet wurden sie von Klerikern bis hin in die höchsten Ränge. Den Massakern folgten strengere Bestimmungen von geistlicher wie „weltlicher“ Seite. So forderte das Vierte Laterankonzil (1215) unter anderem die Kennzeichnungspflicht der

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Juden, die später immer wieder erneuert und zu einem äußerem Zeichen der Position der Juden als Außenseitern in der christlichen Gesellschaft wurde. Schließlich wurde auch die lange als religiöse Metapher verstandene Rede von der Knechtschaft der Juden zunächst kirchenrechtlich kodifiziert und dann weltlich-rechtliche und soziale Festlegung. 1236 erklärte Friedrich II. alle Juden des Reiches zu „servi camere nostre“ (Knechten unserer Kammer), zunächst – in Konkurrenz zu päpstlichen Ansprüchen – zum Schutz der Juden. Aus dieser Zuordnung der Juden zum kaiserlichen Fiskus ergaben sich jedoch im Verlauf der folgenden Jahrhunderte für sie gravierende negative Folgen: Um 1240 wurde eine allgemeine Judensteuer eingeführt, die die Judenheit weit höher belastete als die christliche Mehrheit. Um 1290 wurde zum ersten Mal die Rechtsmeinung geäußert, die Juden, als Kammerknechte, seien dem Herrscher oder den Herren, denen er die Rechte an ihnen überlassen habe, mit Leib und Gut hörig. Seitdem betrachteten Könige, Fürsten, Grafen und städtische Obrigkeiten die Juden in ihrem Territorium oder in ihrer Stadt als „ihre“ Juden im Sinne von verfügbarem und verwertbarem Eigentum. Die ursprüngliche Schutzbeziehung zwischen dem Herrscher und den Juden geriet weitgehend in Vergessenheit. Eine weitere Folge der Massaker während der Kreuzzüge, die auch im Zusammenhang mit der zunehmenden Popularisierung des kirchlichen Antijudaismus stand, war das großflächige Auftreten von judenfeindlichen Entlastungsargumentationen. So kamen im 12. Jh. Gerüchte von angeblichen Ritualmorden von Juden an Christenkindern auf, die bald als Legenden überall in Europa verbreitet und geglaubt wurden. Im Zusammenhang mit der Einführung des Transsubstantiationsdogmas zu Beginn des 13. Jhs. entstanden Hostienfrevellegenden, und in der Zeit der großen Pest 1348–1350 wurde schließlich die Anschuldigung erhoben, die Juden hätten die Seuche durch die Vergiftung der Brunnen verursacht. Diese Verleumdungen führten, meist im Verein mit massiven ökonomischen Interessen, zur Verfolgung einzelner Juden wie auch ganzer Gemeinden. Die Auflösung des traditionellen herrscherlichen Judenschutzes hatte zur Folge, daß die Herrscher gegen Übergriffe auf die jüdischen Gemeinden häufig nicht wirksam einschritten. Wenn sie der Ansicht waren, daß sie die Juden als Ausbeutungsobjekte nicht mehr benötigten, entzogen sie diesen ihren Schutz nicht selten sogar ganz und vertrieben sie aus ihrem gesamten Herrschaftsgebiet, z.B. 1290 aus England, 1394 aus Frankreich (endgültige Ausweisung), 1492 aus Spanien, 1496 aus Portugal. Ebenso wurden die Juden bis zum Beginn des 16. Jhs. aus zahlreichen Territorien und Städten ausgewiesen, z. B. 1389 aus Straßburg, 1400 aus Prag, 1421 aus Wien, 1423/24 aus Köln, 1440 aus Augsburg, 1442 aus Oberbayern, 1450 aus Niederbayern, 1453 aus Breslau, 1499 aus Nürnberg, 1510 aus der Mark Brandenburg und aus dem Elsaß sowie 1519 aus Regensburg. Oft wurde die Vertreibung ganz bürokratisch und ohne Blutvergießen organisiert, oft kam es zuvor zu Ausschreitungen, die nicht selten von interessierter Seite gesteuert waren. In einigen Fällen kam es zu Vernichtungszügen, wie z. B. bei den Massakern der sogenannten Rintfleischbande nach einem angeblichen Hostienfrevel von Juden in Röttingen im Taubertal am Ende des 13. Jhs. in Franken, denen mehr als 5000 Juden zum Opfer fielen, und bei der Vernichtungswelle, die 1336 bis 1338 im Süden und Südwesten des Reiches

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über die Juden hereinbrach. Dieser nach dem Beinamen des ersten Anführes, eines verarmten Ritters, benannten „Armlederbewegung“ fielen über 6000 Juden zum Opfer. Nach all diesen Vertreibungen, Verfolgungen, Tötungen war die Judenheit in Europa entscheidend geschwächt, ihre materielle Existenz war in den allermeisten Fällen nur dürftig und nur mangelhaft gesichert, ihr religiöses Leben nur unter Schwierigkeiten aufrechtzuerhalten.

Die Reformation Die reformatorische Bewegung schien den Juden Mitteleuropas zunächst Erleichterungen zu bringen, sogar Hoffnungen auf Toleranz und Gleichberechtigung schienen berechtigt. In der frühen Publizistik der Reformatoren war sogar so etwas wie Solidarität und mitfühlendes Verständnis zu spüren, wenn sich die Protestanten „wie die Juden“ von der „Papstkirche“ unterdrückt und verfolgt fühlten. Auch Martin Luther hatte in den jüdischen Gemeinden mit seiner Schrift von 1523 Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei vage Hoffnungen wachsen lassen, da er „die groben esels kopffe“ der alten Kirche beschimpfte, sie hätten die Juden behandelt, „als weren es hunde und nicht menschen“, so daß diesen kein Anreiz geboten worden sei, Christen zu werden. Luther empfahl statt dessen, den Juden den wahren christlichen Glauben in vorbildlicher Weise vorzuleben, sie weder sozial noch ökonomisch unter Druck zu setzen und eine vorsichtige Taktik bei der Judenmission anzuwenden. Dann könnte es wohl sein, daß man „ettliche mocht tzum Christen glauben reytzen“. Doch stellte Luther seine – durchaus auf Erfolg seiner Missionsbemühungen gerichtete und nicht etwa auf Tolerierung zielende – Hoffnung unter einen Vorbehalt, der sich für die Juden als verhängnisvoll erweisen sollte. Der letzte Satz der Schrift lautet: „Hie will ichs dis mall lassen bleyben, bis ich sehe, was ich gewirckt habe.“ Weder die durch Luthers Ausführungen genährten Hoffnungen der Juden auf Teilhabe am öffentlichen Leben der Christen noch – wie hätte es anders sein können – die Hoffnung Luthers auf „Bekehrung“ der Juden zu der nun von ihm und seinen Mitstreitern „gereinigten“ christlichen Lehre erfüllten sich. Dies hatte zur Folge, daß die anfangs freundlichen Töne gegenüber den Juden nun bei vielen Reformatoren in das genaue Gegenteil umschlugen. Das Prinzip „sola scriptura“ wurde von ihnen bald noch rigoroser als von der alten Kirche auch auf die Juden angewandt, deren Form der Exegese und deren Lehrtradition, niedergelegt im Talmud, als dem christlichen (= protestantischen) Schriftverständnis entgegengesetzt verurteilt wurde. So warf Luther den Juden in seiner haßerfüllten Schrift Von den Juden und ihren Lügen aus dem Jahr 1543 vor, wie gar mutwilliglich sie der Propheten Bücher mit jren verzweivelten glosen verkeren und martern wider jr eigen gewissen […]. Denn nu sie die Propheten nicht mehr können leiblich oder personlich steinigen und tödten, So martern sie doch die selbigen geistlich […]. Darnach, Wenn sie Gott in seinem Wort also zergeischelt, gecreutzigt, verspeiet, gelestert und verflucht haben, wie Esaias viij. weissagt, kommen sie daher getrollet mit jrer Beschneittung und andern ledigen, lesterlichen, ertichten, nichtigen Wercken, und wollen Gottes Volck allein und eigen sein, alle Welt verdammen, und jr Hohmut und Rhum sol Gotte wolgefallen, dafur einen Messiam geben, den sie erwelen und jm fur malen.

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Darumb hütt dich, lieber Christ, fur solchen verdampten, verzweivelten Volck, bey welchen du nichts lernen kanst, denn Gott und sein Wort lügenstraffen, lestern, verkeren, Propheten morden […].3

Aus diesem uralten, von ihm wieder aufgenommenen Grundmotiv, das er in – heute – ermüdender Weise auf über 130 Seiten in immer neuen Variationen anhand der einschlägigen Schriftstellen ausbreitet, erwachsen auch jene fürchterlichen Ratschläge an die Fürsten, z.B. jüdische Schulen und Synagogen zu verbrennen, den Talmud und die jüdischen Gebetbücher zu konfiszieren, den Rabbinern Lehrverbot zu erteilen, die Zinsnahme zu verbieten und jüdische Männer zur Zwangsarbeit anzuhalten, die von seinen Adepten begierig aufgenommen und verbreitet wurden und so das Judenbild und die Judenpolitik des Protestantismus und der protestantischen Territorien und Städte über zwei Jahrhunderte und darüber hinaus maßgeblich bestimmt haben. Sogar Julius Streicher berief sich 1946 vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg noch auf diese Ratschläge Luthers. Mit der Etablierung des Protestantismus als „Staatsreligion“ in vielen Territorien und Städten wurde auch das Verhältnis von Religion und Staat neu diskutiert. Doch nicht die – wenn auch in bezug auf ihre Intention häufig fragwürdigen – Ansätze toleranten Denkens, wie es sie im Humanismus und im frühen Protestantismus gegeben hatte, wurden zum Leitstern in dieser Diskussion, sondern das Konstantinische Staatsdenken. Insbesondere der Straßburger Reformator Martin Bucer legte in einer Reihe von Schriften den Grundstein für ein alt-neues christliches Staatsverständnis, in dem Juden allenfalls am Rande Platz hatten. Bucers Ziel war ein politisch und religiös einheitlicher Staat, den man einen christlich-protestantischen „Gottesstaat“ nennen könnte. Für die noch verbliebenen Juden bedeutete das nach Bucer, daß sie zur Anhörung von Missionspredigten gezwungen werden sollten, daß ihnen der „Wucher“, worunter jede Art von Pfandleih- und Geldgeschäft verstanden wurde, verboten sein müsse, daß sie zu „nützlicher Arbeit“ – oft verstand man darunter unehrenhafte und demütigende Tätigkeiten – gezwungen werden und daß ihnen Gottesdienste in der Synagoge und überhaupt jegliche öffentliche Ausübung jüdischer Bräuche und Traditionen untersagt werden sollten. Eine Teilhabe am Staatswesen, z. B. der Genuß von Bürgerrechten oder die Ausübung öffentlicher Ämter, wollte Bucer ihnen als Nichtchristen natürlich nicht zugestehen. Und so hielten es die protestantischen Fürsten und Stadtregenten, wie neuere Arbeiten gezeigt haben, so daß es zu der paradoxen Situation kommen konnte, daß es den Judengemeinden in katholischen geistlichen Territorien mitunter besserging als in den protestantischen.

Nichtreligöse Elemente des Antijudaismus Wie schon mehrfach deutlich wurde, mischten sich in die religiöse Begründung für die christliche Judenfeindschaft immer auch ökonomische und soziale Motive. Insbesondere mit dem Aufkommen der Geldwirtschaft seit dem 12. Jh. wurde der Wuchervorwurf zum dauernden Stigma der Juden, obwohl den Christen nicht – wie noch immer zu lesen – alle 3

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Geld- und Zinsgeschäfte verboten waren und obwohl viele christliche Kaufleute und sogar auch Geistliche das sogenannte kanonische Zinsverbot immer wieder zu unterlaufen wußten. Es scheint sogar so gewesen zu sein, daß sich mittelalterliche Juden in der Abwicklung von Geldgeschäften an Gepflogenheiten von christlichen Geldgebern orientiert haben und nicht umgekehrt. Das Stigma blieb ihnen, auch nachdem die Geldwirtschaft sich weitgehend durchgesetzt hatte und Kredite, insbesondere Großkredite, überwiegend von Christen gegeben wurden. In den deutschen polemischen Schriften des 15. und 16. Jhs. nahmen die Anklagen gegen die Juden wegen „Wucher“ und allgemeiner „Sozialschädlichkeit“ immer mehr zu, bis sie schließlich die Polemik eindeutig dominierten. Die „alten“ religiösen Vorwürfe schwanden indessen nicht, schon gar nicht bei theologisch gebildeten Autoren, sie blieben als Legitimationshintergrund zum Teil bis heute erhalten. Man denke an den in Polen noch immer grassierenden, sich christlich gebärdenden Judenhaß oder an weitverbreitete populäre Schriften, auch Comics fundamentalistischer christlicher Gruppen. Dazu kam seit dem 15.Jh. und verstärkt im 16.Jh. ein weiteres Element: Es wurde, je länger, desto häufiger, von der „jüdischen Art“ gesprochen, die sich nicht ändern lasse, von der unveränderlichen „Natur“ der Juden, ja sogar nach den Massenzwangstaufen im spätmittelalterlichen Spanien von der „limpieza de sangre“ (Reinheit des Blutes), die den (Zwangs-) Konvertiten und ihren Nachkommen aufgrund ihrer jüdischen Abstammung fehle. Georg Nigrinus stellte 1570 in seiner Schrift Jüden Feind Überlegungen an, ob denn die zeitgenössischen Juden nach den anderthalb Jahrtausenden der Diaspora überhaupt noch „von rechtem Jüdischem Geblüte“ seien, da nach all den Verfolgungen und Austilgungen kaum mehr glaublich sei, „das vnter jn viel vbrig seien/die aus vnuermischtem Jüdischem Samen von Abraham herkomen“.4 Die zeitgenössischen Juden seien „Bastarde“ und „Menglinge“. Aus diesen Beobachtungen hat sich in den letzten Jahren eine kleine wissenschaftliche Kontroverse entwickelt. Während die einen in solchen sich häufenden, nicht religiös begründeten Charakteristika der Juden als den „Andern“ Wurzeln und Vorformen des Antisemitismus sehen und von Früh- oder Proto-Antisemitismus sprechen wollen, behaupten andere, dies sei allenfalls ein Reflex vorwissenschaftlicher Anschauungen der Zeit, wohl eher aber noch immer Versuche, die Trennung von Christen (als der „Wir-Gruppe“) und Juden (als Gruppe der „Anderen“) geschichtlich zu begründen. Der Streit ist nicht entschieden und soll auch hier nicht entschieden werden. Unbezweifelbar ist die Tatsache, daß in den meisten Polemiken gegen die Juden seit dem späteren 15., verstärkt im 16. und dominierend im 17.Jh. nicht religiös begründete Argumente in Konkurrenz zu den religiösen traten und diese schließlich im öffentlichen Diskurs weitgehend verdrängten. Im Denken, Schreiben, Predigen katholischer wie protestantischer Theologen, im Denken, Fühlen – und Praktizieren – protestantischer wie katholischer Gläubiger behielt der Antijudaismus allerdings zum Teil bis heute seinen Platz und ist, nachdem der Antisemitismus in den meisten Nationen mit Recht gesellschaftlich tabuisiert wurde, mitunter sogar zu dessen Refugium geworden. 4

Georg Nigrinus, Jüden Feind, Gießen 1570, fol. B8v und C1r.

Erika Weinzierl

Moderner Antisemitismus von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus Die Verfolgung und Unterdrückung der Juden haben erst Philosophen der Aufklärung, die die Macht und den Einfluß der Kirche bekämpften, als Unrecht angesehen. Die Niederlande und England waren die ersten, die sich für dessen Beseitigung eingesetzt haben. Für die Emanzipation der Juden sprach sich erstmals 1714 der englische Freidenker John Toland (1670–1722) aus. So wichtig Männer wie Montesquieu (1689–1755), Lessing (1729– 1781) mit seinem berühmten Theaterstück Nathan der Weise und Rousseau (1712–1778) für die Wegbereitung der Gedanken der Aufklärung und damit der Toleranz auch waren, so war von allen großen Denkern des 18. Jhs. allerdings nur Montesquieu bereit, den Juden ihre Eigenart zu belassen. Alle anderen wie Christian Wilhelm von Dohm (1751–1820) und Graf Mirabeau (1749–1791) wollten die Juden zur Kultur der Mehrheit bekehren, sie assimilieren und – wie es ausdrücklich im Judenpatent Kaiser Josephs II. von 1781 heißt – zu „nützlichen Bürgern“ des Staates machen. Diese Sicht stand auch hinter der Emanzipation der französischen Juden durch die französische Nationalversammlung 1791, zwei Jahre nach dem Beginn der Revolution. Der Jude als Bürger war gleichberechtigt wie jeder Mensch, als Jude zählte er nicht. Aber selbst Aufklärer wie Diderot, Holbach und Voltaire haßten die Juden, weil sie ihren Hauptfeind, Christentum und Kirche, auf jüdische Ursprünge zurückführten. Voltaire (1694–1778) erklärte sogar, daß die Juden von Natur aus unwissend seien und niemals in eine moderne Gesellschaft integriert werden könnten. Selbst Immanuel Kant (1724–1804), der Freund Moses Mendelssohns (1729–1786), hat 1800 den „unter uns lebenden Palästinensern“ ihren Wuchergeist vorgeworfen und hielt sie für eine „Nation“ von Kaufleuten. Daher ist es nicht verwunderlich, daß zu Beginn des 19. Jhs. die Juden die volle rechtliche Gleichberechtigung nur in Frankreich und den USA besaßen, aber selbst dort war die Emanzipation in der Praxis nicht voll durchgeführt. Das preußische Judenedikt von 1812 ging zwar wesentlich weiter als die josephinische Judengesetzgebung, war jedoch ebenso wie diese noch weit davon entfernt, die Juden und deren Religion als voll gleichberechtigt anzuerkennen.

Reaktionen auf die Emanzipation Daß die Französische Revolution und die Herrschaft Napoleons eine unbestreitbare Erleichterung der Situation der Juden zur Folge hatten, führte bald zur Entstehung eines neuen Vorurteils, das von nun an steter Bestandteil des modernen antijüdischen Reper toires wurde: die Juden als Urheber, Drahtzieher und Gewinner jeder Revolution von 1789

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über 1848 bis 1917. Damit in enger Verbindung stand die Vorstellung einer geheimen jüdischen Verschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft. Die Napoleonischen Kriege hatten vor allem in den deutschsprachigen Ländern den beginnenden Nationalismus gestärkt. Zusammen mit den das Mittelalter verklärenden Ideen der Romantik führten sie besonders im deutschen Sprachraum zu einer neuen, durch die begonnene Emanzipation verschärften Welle von Judenfeindschaft. Johann Gottfried Herder (1744–1803) und Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) haben sich aggressiv gegen die Juden geäußert. Eine eindeutige Aversion gegen das Judentum bei persönlich enger Freundschaft mit einzelnen Juden findet sich auch bei Friedrich Schleiermacher (1768–1834) oder dem Schweizer Philanthropen und Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827). Die verbalen Attacken der Intellektuellen hatten eine Parallele in der Furcht des ungebildeten Volks. Zu dieser gehörten die sogenannten „Hep-Hep-Krawalle“, die 1819 in Mitteldeutschland begannen und sich bis nach Kopenhagen und Amsterdam fortpflanzten. Ihre Ursache war die allgemeine wirtschaftliche und politische Unzufriedenheit mit der Politik der restaurativen Regierungen, die die Probleme des Frühkapitalismus und der Frühindustrialisierung nicht meisterten. Die Schuld an der Krise gaben die Handwerksgesellen, Bauern, aber auch Studenten, die die Häuser von Juden plünderten, eben diesen. Die Parolen und Flugblätter, die sie verbreiteten, waren von blutrünstigem Haß gegen das Geschlecht der Christusmörder erfüllt: „Nun auf zur Rache! Unser Kampfgeschrey sey Hepp! Hepp! Hepp!!! Aller Juden Tod und Verderben, ihr müßt fliehen oder sterben.“ Teile der deutschen Studenten haben sich unter dem Einfluß des radikalen Jenaer Philosophieprofessors Jakob Friedrich Fries (1773–1843) bereits früher von der neuen Judenfeindschaft ergreifen lassen. Bei den berüchtigten Bücherverbrennungen beim Wartburgfest 1817 wurde auch die jüdische Streitschrift von Saul Ascher Germanomanie mit einem dreifachen „Wehe über die Juden!“ in das Feuer geworfen. Einen extremen Antijudaismus verbreitete Hartwig von Hundt-Radowsky in seinem Judenspiegel von 1821, der den Verkauf jüdischer Kinder als Sklaven an die Engländer, die Verhinderung der Fortpflanzung der Juden und schließlich die Vertreibung und „Vertilgung“ der Juden propagierte. Auch Turnvater Friedrich Ludwig Jahn (1778–1825), die Staatsphilosophen der Romantik Adam H. Müller (1779–1829) und Friedrich von Schlegel (1772–1829) verbanden – in unterschiedlicher Form – ihre Vorstellung vom christlich-germanischen Staat mit einer ausgeprägten Judenfeindschaft. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), der ausdrükklich gegen den romantischen Überschwang der deutschen Volkstümelei Stellung bezogen hat, sah in den Juden zumindest die Verkörperung der Entzweiung, die für immer an die Knechtschaft gebunden war, während er Griechen und Germanen der Freiheit zuordnete. Zusammenfassend ließe sich sogar sagen, daß das, was im letzten Drittel des 19. Jhs. als Antisemitismus relativ breite Volksmassen vor allem in Deutschland, Österreich-Ungarn und Frankreich ergriff, bereits im ersten Drittel dieses Jahrhunderts auf vielen Ebenen vorhanden war.

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Die Epoche des Liberalismus Seit der Julirevolution von 1830 in Frankreich bereitete sich unter den Intellektuellen liberales Gedankengut trotz aller Unterdrückungsversuche der Regierungen auch in Mitteleuropa immer mehr aus. In das Wirtschaftsleben war der Liberalismus bereits eingedrungen. Das hatte zur Folge, daß die Juden zwar offiziell noch der vom Geist der Aufklärung geprägten Emanzipationsgesetzgebung mit ihren Beschränkungen unterstellt waren, in der Wirtschaft, im Journalismus und in einigen spezifischen Berufen aber schon bedeutende Stellungen erlangen konnten. Das zeigte sich deutlich bei der Revolution 1848, in der Juden eine führende Rolle spielten. Einige von ihnen wurden als Abgeordnete in die Deutsche Nationalversammlung und in den Österreichischen Reichstag gewählt. Die unter dem Einfluß der Revolution von den Regierungen erlassenen bzw. von den neuen Parlamenten entworfenen Verfassungen gestanden ihnen nun die volle bürgerliche Gleichberechtigung zu. Nach dem Scheitern der Revolution in Mitteleuropa kehrte man in Frankreich, den Staaten des Deutschen Bundes und dessen Führungsmacht Österreich zu einer neoabsolutistischen Politik zurück, die die Parlamente ausschaltete, die Verfassung sistierte und auch restriktive Maßnahmen gegen die Juden setzte. Nur in Frankreich war die Emanzipation schon durch die Verfassung von 1814 bzw. 1830 und das Gesetz von 1831, aufgrund dessen Rabbiner vom Staat besoldet wurden, vollendet worden. Diese rechtliche Gleichstellung blieb von allen weiteren politischen Schwankungen unberührt. In Österreich-Ungarn erlangten die Juden erst nach dem Zusammenbruch des neoabsolutistischen Systems infolge außenpolitischer und militärischer Niederlagen die volle Gleichberechtigung. Das österreichische Staatsgrundgesetz von 1867 gewährte den Juden ebenso wie das preußische Gesetz von 1869 die volle bürgerliche Gleichberechtigung. Sie ist ihnen, von einigen Abweichungen im Eherecht und Güterrecht in einzelnen deutschen Staaten abgesehen, mit Ausnahme der Ära des Nationalsozialismus im wesentlichen bis zur Gegenwart unverändert erhalten geblieben. In Österreich gelten heute noch die Grundrechte von 1867, die den Sieg des Liberalismus im Verfassungskampf bedeuteten. In der Wirtschaft Mitteleuropas hatte sich der Liberalismus schon vorher durchgesetzt. Das System des freien Wettbewerbs und des liberalen Kapitalismus bestimmte auch die nun in großem Stil einsetzende Industrialisierung. Ihr und den Spekulationen der Gründerzeit fielen vor allem Kleinbürger, Handwerker und Kleingewerbetreibende zum Opfer. Daß diese wirtschaftliche Entwicklung mit dem wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg der gleichberechtigten Juden und mit dem liberalen Kulturkampf zeitlich zusammenfiel, bereitete dem modernen Antisemitismus den Weg.

Der Antisemitismus in Mitteleuropa 1871–1918 Die Voraussetzung für die Entstehung des Begriffes „Antisemitismus“ war die Bildung und Verbreitung des Begriffs „Semitismus“. Der Terminus „Semiten“ entstammte der theologisch-historischen Literatur des späten 18. Jhs. Der französische Philosoph Arthur Graf

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Gobineau (1816–1882) entwickelte um die Mitte des 19. Jhs. in seinem 1854/55 erschienenen vierbändigen Werk Essay sur l’inégalité des races humaines eine Rassentheorie. Danach war die männlich-arische Rasse den nicht-arischen weiblichen Rassen überlegen. In der Folge werden diese Begriffe „Arier“ und „Semiten“ immer häufiger in Hinblick auf Juden angewendet. In den wichtigsten deutschen Lexika wie Brockhaus und Meyer am Ende des 19. Jhs. wurde „Semitismus“ schließlich als ethnologische Bezeichnung des Judentums definiert. In Publizistik und Alltagssprache der 1870er Jahre war „Semitismus“ aber schon vor allem Ausdruck einer Fundamentalkritik an den Prinzipien und Erscheinungsformen der modernen liberalen Gesellschaft. Diese wurde in einer Reihe weitverbreiteter judenfeindlicher Publikationen der 1870er Jahre ausgedrückt, beispielsweise in Wilhelm Marrs Der Sieg des Judentums über das Germanentum (1876), Otto Glagaus Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin (1876) und Eugen Dührings vielbeachteter Schrift Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage (1881). Der Begriff „Antisemitismus“ selbst dürfte nicht, wie lange angenommen wurde, von Marr selbst stammen, sondern im Frühherbst 1879 in seinem Berliner Umkreis geprägt worden sein. Die Entstehung des Begriffes „Antisemitismus“ markiert einen neuen Höhepunkt in der judenfeindlichen Entwicklung. Im Herbst 1879 hielt der evangelische Hofprediger Adolf Stoecker (1835–1909) seine ersten antijüdischen Reden. Im selben Jahr veröffentlichte der preußische Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) seinen ersten Artikel zur Judenfrage. Von ihm stammt das vielzitierte Wort: „Die Juden sind unser Unglück!“ Seine judenfeindlichen Artikel lösten den sogenannten „Berliner Antisemitismusstreit“ von 1879/80 aus, in dem sich der berühmte liberale Historiker Theodor Mommsen (1817– 1903) auf die Seite der Juden stellte. Er prägte dabei aber das von ihm positiv gemeinte, später oft mißverstandene Wort von den Juden als „Ferment des Kosmopolitismus und der nationalen Dekomposition“. Ebenfalls noch Ende 1879 wurde in Berlin eine „AntisemitenLiga“ gegründet. Obwohl diese eher unbedeutend war und sich bald in eine gemäßigtere, konservativ-christlichsoziale und eine radikale, den Rassengegensatz stärker betonende Richtung spaltete, war der Antisemitismus bereits zur Volksbewegung geworden: 1880/81 unterzeichneten 250 000 Deutsche eine Petition an den Reichstag gegen die rechtliche und soziale Stellung der Juden, die allgemein „Antisemitenpetition“ genannt wurde. Obwohl der Reichstag eine Entrechtung der Juden ablehnte, erlahmten die Antisemiten nicht. 1886 wurde in Kassel eine „Deutsche Antisemitische Vereinigung“ gegründet, die besonders in Hessen unter der Führung des Reichstagsabgeordneten Boeckel eine massive antisemitische Agitation entfachte. 1889 schloß sich in Bochum die Mehrheit der verschiedenen antisemitischen Gruppen als „Deutschsoziale antisemitische Partei“ unter Liebermann von Sonnenberg zusammen, während die Minderheit eine „Antisemitische Volkspartei“ gründete, die in den nächsten Jahren mehrmals den Namen wechselte. Zusammenschlüsse und Spaltungen bestimmten auch den Charakter der antisemitischen Bewegung. Ihren größten Wahlerfolg erreichte sie bei den Wahlen von 1893, durch die 16 Abgeordnete antisemitischer Parteien in den Reichstag gelangten. Die ständigen Fraktionskämpfe, vor allem aber die Wirtschaftskonjunktur nach der Jahrhundertwende minderten dann den unmittelbaren politischen Erfolg der Antisemiten stark.

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Bis zur Aufklärung war entweder die Konversion der Juden oder ihre Vertreibung das vom Christentum angestrebte Ziel. Es bestimmte auch das Verhalten ihnen gegenüber, wofür die fromme Kaiserin Maria Theresia ein berühmtes Beispiel war. Nur drei Jahre vor ihrem Tod, 1777, schrieb sie eigenhändig folgenden Aktenvermerk: Künftig sollen keine Juden, wie sie Namen haben, zu erlauben, hier zu sein ohne meine schriftliche Erlaubnis. Ich kenne keine ärgere Pest von Staat als diese Nation, wegen Betrug, Wucher und Geldverträgen, Leute in Bettelstand zu bringen, alle üblen Handlungen ausüben die eine anderer ehrlicher Man verabschäuete […].

Ihr Abscheu gegenüber Juden war so groß, daß sie sogar ihre jüdischen Hoffaktoren nur hinter einem Vorhang verborgen empfing, um sich den verabscheuten Anblick zu ersparen. Für sie löschte allerdings die christliche Taufe allen Makel. Der Staatswissenschaftler und aufklärerische Reformer Joseph von Sonnenfels, ein Konvertit, war schon für sie und nicht nur für ihren aufgeklärten Sohn Joseph einer der einflußreichsten Berater. Ein halbes Jahr nach dem Tod seiner Mutter erließ Joseph II. am 13. Mai 1781 „zur besseren Bildung und Nutzung der Juden für den Staat“ Gesetze, die die Lage der Juden zunächst in Böhmen wesentlich erleichterten. Im Toleranzedikt für die Juden Wiens und Niederösterreichs vom 2. Januar 1782 berief sich der Kaiser auf den öffentlichen Wohlstand aller seiner Untertanen „ohne Unterschied der Nation und Religion“, an dem auch die Juden teilhaben sollten. Es beinhaltete die Aufhebung des Leibzolls und Ghettos, Erweiterung der jüdischen Handelsfreiheiten, Ermunterung zur Errichtung von Fabriken, Pflicht zum Besuch deutscher Schulen, Zulassung zu allen öffentlichen Veranstaltungen und akademischen Berufen, zu den Künsten, dem Handwerk (allerdings ohne Recht auf die Meisterwürde) und zum Ackerbau. Von den früheren Beschränkungen wurden die Begrenzungen der Einwanderung, Toleranzsteuer und die jüdischen Heiratstaxen, das Verbot des Erwerbs von Haus- und Grundbesitz, die Verweigerung des Bürgerrechts und das Verbot der Einfuhr ausländischer Bücher beibehalten. Von diesem Verbot wurde u. a. die Bibelübersetzung von Moses Mendelssohn betroffen. Der Kaiser wollte im Interesse seines Einheitsstaates die Juden in diesen einschmelzen. Daher drängte er die hebräische Sprache zurück, hob den rabbinischen Gerichtsstand auf und verbot die Gründung einer jüdischen Gemeinde in den Orten, in denen es noch keine gab, wie in Wien. 1787 mußten die Juden deutsche Vor- und Zunamen annehmen. Die Militärpflicht wurde für sie im Zusammenhang mit dem letzten Türkenkrieg 1788 eingeführt; freiwilliger Dienst in der Armee war schon früher möglich. Wenn Joseph II. den Juden auch keineswegs die bürgerliche Gleichberechtigung verlieh, so hat er doch ihre Lage auch im Vergleich zu jener der Hofjuden beträchtlich verbessert. Auch wenn er das in erster Linie aus staatspolitischen Gründen tat, hat er ihnen damit die Möglichkeit zu sozialer Entfaltung gegeben. Wie die josephinische Flugschriftenliteratur zeigt, war das schon bei den Zeitgenossen nicht unumstritten. Die österreichischen Juden haben jedoch Joseph II. immer ein dankbares Andenken bewahrt. Der Wiener Magistrat dagegen blieb bei seiner traditionellen Ablehnung der Juden, die sich schon bei der höhnischen Namensgebung – Rosenduft oder Ehrenhaft – zeigte. Er for-

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derte von Josephs Bruder und Nachfolger Leopold II. (1790–1792) die Aufhebung des Toleranzpatents. Leopold verweigerte sie, doch kam es schon unter der Regierung seines Sohnes Franz II. (als österreichischer Kaiser Franz I.) (1792–1835) zu einem Rückschlag. So erlangten etwa in Böhmen durch das Juden-Systempatent von 1797 nur Militärfreiwillige, Ackerbauer und Zunfthandwerker die bürgerliche Gleichberechtigung. Im allgemeinen wurden die Möglichkeiten zu ihrer Erlangung auf ein Maß zurückgedrängt, das ihnen nur einen sehr bedingten und sehr geringen tatsächlichen Wert verlieh. In Wien wurde ein eigenes Einwanderungsamt für Juden eingerichtet, das die Aufenthaltserlaubnis, für die pro Tag 30 Kreuzer zu zahlen waren, alle 14 Tage erneuerte. Ein „Nicht-Tolerierter“ durfte sich nicht länger als einen Monat in Wien aufhalten. Dieses „provisorische Judenamt“ ist erst 1848 aufgehoben worden. Ein 1804 veröffentlichtes Buch beweist, daß damals auch in der stark vom Josephinismus geprägten Beamtenschaft antijüdische Tendenzen vorhanden waren. Joseph Rohrer zeichnete in seinem Versuch über die jüdischen Bewohner der österreichischen Monarchie ein äußerst düsteres Bild vor allem der böhmischen und galizischen Juden. Sie gehörten nicht in die „Klasse der Erzeuger, sondern der Verzehrer“, ihr „Abgott“ sei das Geld. Rohrer war von der Schädlichkeit des Talmuds ebenso überzeugt wie davon, daß die Unsauberkeit der Juden deren „welkes Aussehen“ bewirkte. Er trat für die Aufhebung des Toleranzedikts, die Errichtung von Arbeitshäusern und eines großen Ghettos in der Bukowina ein. Angesichts solcher Meinungen auch unter Beamten ist es nicht verwunderlich, daß es in den ersten Jahrzehnten des 19. Jhs. zu einer beträchtlichen Zahl von Verordnungen zur Einschränkung der Toleranz kam. Dem Rückschritt in der Toleranzgesinnung unter Kaiser Franz entspricht auch die Behandlung dieser Frage auf der diplomatischen Ebene des Wiener Kongresses 1814/15. Um das Schicksal der österreichischen Juden nicht völlig an die Bestimmungen der deutschen Bundesakte zu binden, richteten am 11. April 1815 die österreichischen Judengemeinden eine Bittschrift an Kaiser Franz I. (1792–1835). Für die Wiener Juden war sie von Nathan von Arnstein, Bernhard von Eskeles und Leopold von Herz unterzeichnet, die alle 1797 vom Kaiser geadelt worden waren, für die böhmischen von Salomon von Lämel und für die mährischen von Lazar Auspitz. Trotz ihrer persönlichen Erfolge und ihrer erwiesenen Bewährung während der Napoleonischen Kriege wagten die Bittsteller jedoch nicht, die volle Einbürgerung zu fordern, sondern nur eine grundsätzliche Anerkennung der Gleichheit vor dem Recht. Auch von Staatskanzler Metternich (1773–1859), der mit Herz und Salomon Mayer Rothschild gesellschaftlich verkehrte, erbaten die Juden die Unterstützung für ein neues österreichisches Gesetz. Um sie zu erlangen, ließen sie sogar dem vertrauten Berater des Staatskanzlers, Friedrich von Gentz (1764–1832), beträchtliche Summen zukommen. Dieser war ein Jahrzehnt früher noch dankbarer Gast im Wiener Salon Fanny von Arnsteins gewesen und gehörte zu den Bewunderern Rahel Varnhagens. Dem antijüdischen Pamphlet Wider die Juden seines Berliner Anwalts Grattenauer stimmte er jedoch zu und teilte die Ansicht, daß die Juden „geborene Repräsentaten des Atheismus, Jakobismus, der Aufklärerei“ seien.

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Trotz all ihrer Bemühungen erhielt die Eingabe der jüdischen Petenten weder einen zustimmenden noch einen abschlägigen Bescheid. Der Kaiser befahl zwar der „Zentralorganisierungshofkommission“, Grundsätze für eine gleichmäßige und liberale Behandlung der Juden zu erarbeiten. Da sich jedoch die Kommissionsmitglieder untereinander nicht einigen konnten, zog es Franz seinerseits vor, nicht zu entscheiden. Wenn die Emanzipation auch durch die Gesetzgebung nicht vorangetrieben werden konnte, so machte sie doch im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich ebenso unaufhaltsame Fortschritte wie die ökonomischen und politischen Ideen des Liberalismus. 1821 gab es in Wien bereits neun adelige jüdische Familien, die ihre angesehene Stellung nicht nur ihrem Reichtum, sondern auch ihren Verdiensten um den Aufbau des österreichischen Bankwesens und der Industrie verdankten. In ihren Salons verkehrten die Spitzen der Wiener Gesellschaft, der päpstliche Nuntius Severoli eingeschlossen. Zur Zeit des Wiener Kongresses war sogar der päpstliche Kardinal-Staatssekretär Consalvi (1757–1824) ständiger Gast bei Fanny von Arnstein. Im Gegensatz zur Entwicklung in anderen deutschen Bundesstaaten ist es in Österreich bis 1848 auch an keinem Ort zu antijüdischen Ausschreitungen gekommen. Seit 1830 trat die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jhs. starke antijüdische Tendenz zunehmend in den Hintergrund. Der Liberalismus gewann sogar in Regierung und Bürokratie an Boden. Dieser Prozeß bestimmte auch die Situation der Wiener Juden, die 1833 von der Hofkanzlei wohl etwas zu positiv beschrieben wurde. Sie stünden mit allen Klassen der Residenzbewohner in geschäftlichem und sozialem Kontakt. Ihre frühere Isolierung sei fast gänzlich aufgehoben. „Die Abneigung der christlichen gegen die jüdischen Religionsgenossen […] ist größtenteils verschwunden.“ Diese Zustandsbeschreibung traf jedoch nur auf jene Juden zu, die den Weg von der Emanzipation zur Assimilation am konsequentesten gegangen waren. Das gilt auch für die Länder des Deutschen Bundes. In der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie begann der Antisemitismus im modernen Sinn in den 1870er Jahren virulent zu werden. Im radikalsten Sinne eines Rassenantisemitismus wurde er von dem ursprünglich liberaldemokratischen Abgeordneten und späteren Führer der sogenannten Alldeutschen Partei, Georg Ritter von Schönerer (1841– 1921), vertreten. Die höchste Zahl erklärtermaßen antisemitischer Abgeordneter im Reichstag wurde 1897 mit fünf Personen erreicht. Wie im Deutschen Reich war die Politik der radikalen Deutschnationalen durch rasch wechselnde Formierungen und Umbenennungen charakterisiert. Weit einflußreicher als sie wurde vor allem in Wien jedoch die seit 1889 als „Christlichsoziale Partei“ auftretende Bewegung unter der Führung Dr. Karl Luegers, der 1897 gegen den Widerstand Kaiser Franz Josephs, des Feudaladels und des hohen Klerus Bürgermeister von Wien wurde. Die „Christlichsoziale Partei“, deren Programm von den katholischen Sozialreformern Karl von Vogelsang (1818–1890) und Franz Martin Schindler (1847–1922) ausgearbeitet worden war, wurde zur Interessensvertretung der Kleinbürger, später auch der Bauern. Die antisemitischen Parolen, die ihre Führer vor allem in der Zeit des Kampfes um den Aufstieg der Partei verwendeten und die meist konfessionell, sozioökonomisch und antiliberal gefärbt waren, fanden daher starken Widerhall. Auch sie sind,

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obwohl über Weisung des Vatikans vom Ende der 1890er Jahre an parteioffiziell weniger verwendet, in Österreich zum Teil bis in die Gegenwart erhalten geblieben. In Ungarn begann der Antisemitismus zur selben Zeit virulent zu werden. Radikal antisemitische Abgeordnete gab es sogar noch früher als in Österreich. Sie spielten bereits bei der berüchtigten Ritualmordaffäre von Tisza-Eszlar 1882 eine Rolle. Die vor allem von dem zuletzt in Prag wirkenden deutschen Professor August Rohling (1839–1931) und dem Wiener Pfarrer Dr. Joseph Deckert (1843–1901) verbreiteten, aus dem Mittelalter stammenden Gerüchte über von Juden begangene Ritualmorde und Hostienschändungen erzeugten in der ganzen Monarchie einschließlich Böhmens eine so aufgeladene Atmosphäre, daß es im ausgehenden 19. Jh. zu einer ganzen Reihe von Ritualmordprozessen kam, bei denen sich allerdings immer wieder die Unhaltbarkeit der Anschuldigung herausstellte. Nach der Niederlage Frankreichs gegen Preußen 1870/71 wurden die mit den liberalen Republikanern gleichgesetzten Juden vor allem für die konservativen Kräfte des Landes zum Hauptsündenbock. Der populäre General Boulanger (1837–1891) war ein ebenso überzeugter Antisemit wie Eduard Drumont, dessen Buch La France juive (1886) in zahlreichen Auflagen publiziert wurde. Seinen Höhepunkt erreichte der politische und soziale Antisemitismus Frankreichs mit dem Prozeß gegen den Hauptmann der französischen Armee Alfred Dreyfus, den man 1894 aufgrund gefälschter Beweisstücke und falscher Zeugenaussagen wegen Spionage für die Deutschen anklagte und zunächst auch verurteilte. Dieser Prozeß und seine Begleitumstände veranlaßten Theodor Herzl, der als Feuilletonredakteur der Wiener Neuen Freien Presse dem Prozeß beiwohnte, zur Niederschrift seines Buches Der Judenstaat, durch das er zum Begründer des Zionismus geworden ist. Obwohl Dreyfus infolge des Engagements französischer Intellektueller, an ihrer Spitze der Schriftsteller Emile Zola, vollkommen rehabilitiert werden konnte, blieb auch in Frankreich – wo sich 1898 in der Abgeordnetenkammer eine kleine antisemitische Partei bildete und im selben Jahr Charles Maurras (1868–1952) die monarchistische antisemitische und faschistische „Action Française“ gründete – der Antisemitismus latent. In Rußland galten die Juden während der gesamten Zarenherrschaft als gefährliche Feinde. Sie waren ständiger Unterdrückung und Verfolgung ausgesetzt und erhofften sich daher nur noch von einer Änderung des politischen Systems eine Erleichterung ihrer Situation. Zum Vorwand für antijüdische Pogrome in 160 russischen Städten und Dörfern wurde die Tatsache, daß sich unter den Terroristen, die am 13. März 1881 Zar Alexander II. ermordeten, eine junge jüdische Frau befand. Die Pogrome lösten eine Massenauswanderung russischer Juden in den Westen aus und zogen erste jüdische Niederlassungen in Palästina nach sich. Die russische Regierung erließ im Mai 1882 zudem antijüdische Wirtschaftsgesetze. Der letzte Zar Nikolaus II., der von 1894–1917 regierte, gab einer antisemitischen Organisation, den „Schwarzen Hunderten“, nicht nur Geld, sondern gehörte ihr ebenso an wie der Kronprinz. Diese Organisation stand hinter den neuen Pogromen in den Revolutionsjahren 1903 und 1905. 1905 wurden von der russischen Geheimpolizei die gefälschten Protokolle der Weisen von Zion publiziert, die die „jüdische Weltverschwörung“ beweisen sollten und

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auf der ganzen Welt Verbreitung fanden. Noch 1911 kam es in Kiew zu einem Ritualmordprozeß. Erst nach der Februarrevolution 1917 erhielten die russischen Juden die bürgerliche Gleichberechtigung.

Die Zwischenkriegszeit In den Grenzkriegen zwischen Rußland und Polen unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurden viele tausende Juden in Pogromen getötet. Hunderttausende verloren Heimat und Habe, so daß ein neuerlicher Flüchtlingsstrom nach Westen einsetzte. Dort verstärkte der Zuzug der vielen Ostjuden besonders im besiegten Deutschen Reich und in der Republik Österreich, dem „Rest“ der Donaumonarchie, den schon vorhandenen, in der Vorkriegszeit nur oberflächlich gemilderten Antisemitismus. Vor allem die Deutschnationalen, aber auch die christlichen Parteien wandten sich gegen die Juden, die als Kriegsgewinnler, Schieber und Zerstörer der Moral verleumdet wurden. Die rassistische Komponente des Antisemitismus wurde von der NSDAP von Anfang an unter besonderer Berufung auf Richard Wagner und dessen Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain betont, dessen 1899 veröffentlichtes Buch Die Grundlagen des 19.Jahrhunderts die Juden als die gefährlichsten Feinde Deutschlands diffamierte. In den Kampfblättern der Nationalsozialisten, im Völkischen Beobachter und vor allem in dem berüchtigten Hetzblatt Julius Streichers Der Stürmer wurden alle seit der Antike und dem Mittelalter gegen die Juden erhobenen Beschuldigungen wiederholt. Hitler selbst hat in seinem Buch Mein Kampf keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, welches Schicksal er den Juden bereiten werde. In den westlichen Demokratien hat man dies nicht wahrhaben wollen. Obwohl in Frankreich selbst die „Action Française“ auch nach ihrem Verbot durch Papst Pius XI. 1926 nicht wenige Anhänger besaß, wurde in Ungarn, Polen und Rumänien der Antisemitismus keineswegs nur von einer Partei vertreten. In all diesen Ländern versuchte man, den Einfluß der Juden einzudämmen. In Polen, dessen Bevölkerung zu 10% aus Juden bestand, kam es in manchen Bereichen zur Einführung eines Numerus clausus. Die Weltwirtschaftskrise 1929 und die folgende Massenarbeitslosigkeit besonders im Deutschen Reich und in Österreich haben fast ganz Mitteleuropa für den Faschismus anfällig gemacht. Die sogenannte „Machtergreifung“ Hitlers im Deutschen Reich 1933, die Nürnberger Gesetze 1935, der „Anschluß“ Österreichs und der Sudetenländer 1938, die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 und schließlich der deutsche Überfall auf Polen 1939 waren die Weichenstellungen für das Schicksal des europäischen Judentums: seine Vertreibung in 189 Länder der Welt und die Ermordung von sechs Millionen Juden im Rahmen der „Endlösung“.

Henry Friedlaender

Schoa Von 1933 bis 1945 führte das nationalsozialistische Regime Deutschlands ein Programm zur Massenvernichtung des jüdischen Volkes durch, an dessen Ende der Mord an Millionen von Juden und die weitgehende Vernichtung der jüdischen Gemeinden in Europa stand. Der Angriff auf die Juden begann in Deutschland und eskalierte in der Zeit von 1933 bis 1939. Seit September 1939 wurde er von Deutschland auf den größten Teil Europas erweitert und ab 1941 kulminierte er im Massenmord. Mit seiner Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 gelangte Adolf Hitler als Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) an die Macht, allerdings zunächst nur in einer Koalitionsregierung. Der Antisemitismus war von Anfang an ein zentraler Bestandteil der sogenannten nationalsozialistischen Bewegung, und für Hitler stand der Kampf gegen die Juden sogar im Mittelpunkt seiner Ideologie. In den Jahren 1933 und 1934 konsolidierten die Nationalsozialisten ihre Macht. Sie schufen einen Einparteienstaat und „schalteten“ die nichtstaatlichen Institutionen „gleich“. Wichtige Kompetenzen übertrugen sie auf das Reich, während sie die Länder als Verwaltungseinheiten aufrechterhielten.

Von 1933 bis 1935 Ziel des NS-Regimes war von Anfang an die Ausgrenzung der Juden. Dazu wurde auf zwei Ebenen ein Feldzug gegen sie geführt, zum einen mit einem System des Terrors und der Schikane, meist unter Führung örtlicher Parteiaktivisten, zum anderen mit einer Serie von nationalen und regionalen Gesetzen, Erlassen und Verordnungen, mit der die Rechte der Juden zunächst eingeschränkt und ihre Emanzipation schließlich ganz aufgehoben werden sollte. Obwohl sich der Terror auf den Straßen und in den neuen Konzentrationslagern anfänglich in erster Linie gegen die innenpolitischen Gegner des Regimes richtete – Kommunisten und Sozialdemokraten, Parlamentarier, Journalisten und Gewerkschafter –, traf er die jüdischen Mitglieder dieser Gruppen mit besonderer Schärfe. Gleichzeitig führten von Parteiangehörigen und anderen militanten Anhängern der Rechten initiierte Unruhen zu öffentlichen Angriffen auf Juden – auf der Straße, in Kaffeehäusern oder der Universität. In zahlreichen Städten besetzten sie die Gerichte und erzwangen den Hinauswurf jüdischer Richter und Rechtsanwälte. Diese lokalen Ausschreitungen kulminierten am 1. April 1933 im organisierten Boykott jüdischer Geschäfte im gesamten Reich. Eine bösartige antisemitische Pressekampagne, die eine Atmosphäre der Feindseligkeit und der Einschüchterung erzeugte, war dieser öffentlichen Gewalt vorangegangen und sollte sie begleiten. Der Brief einer Jüdin, Frieda Friedmann, den sie am 23. Februar 1933 an

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Reichspräsident Paul von Hindenburg schrieb, veranschaulicht dieses zersetzende Klima. Friedmann hob die Opfer hervor, die ihre Familie für Deutschland gebracht hatte. Sowohl ihr Verlobter als auch zwei ihrer Brüder waren an der Front gefallen und ein weiterer Bruder sowie ihr späterer Ehemann schwer verwundet worden. Alle waren mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden. Ihr Schwiegervater hatte diese Kriegsauszeichnung sogar schon 1870 erhalten. Sie klagte über die „Hetze gegen die Juden“ und die „öffentliche Aufforderung zu Pogromen und Gewalttaten gegen Juden“ und richtete an Hindenburg den Hilfsappell: „Sollte Ew. Exzellenz da nicht Abhilfe schaffen können und dessen eingedenk sein, was auch Juden dem Vaterlande geleistet haben?“ Otto Meißner, Staatssekretär der Präsidialkanzlei, antwortete darauf, daß Hindenburg „die von Ihnen erwähnten Ausschreitungen gegenüber jüdischen Reichsangehörigen lebhaft mißbilligt und bedauert“. Meißner schickte außerdem Kopien ihres Briefes an den Staatssekretär der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, mit der Bitte, „dem Herrn Reichskanzler Schreiben und Antwort zur Kenntnisnahme vorzulegen“. Meißners Begleitschreiben an Lammers ist eines der seltenen erhaltengebliebenen Dokumente, auf denen Hitler mit Bleistift handschriftlich seine Reaktion vermerkte: „Die Behauptungen dieser Dame sind ein Schwindel! Es ist selbstverständlich nicht eine Aufforderung zu einem Pogrom erfolgt! H.“1 Im Gegensatz zu Hitlers zynischem Kommentar dienten die Ausschreitungen verschiedenen Ländern als Vorwand für Erlasse, mit denen jüdische Beamte – vor allem in der Justiz – ihrer Ämter enthoben wurden. Die Notwendigkeit einheitlicher Regelungen für das gesamte Reich führte schließlich zu einer staatlichen Gesetzgebung. Schon am 7. April 1933 hatte die Regierung das sogenannte „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ erlassen, das erste allgemeine Gesetz gegen die Juden. Zusammen mit sogenannten Parteibuchbeamten und als „politisch unzuverlässig“ eingestuften Personen verfügte das Gesetz in § 3, daß Beamte „nicht arischer Abstammung“ in den sofortigen Ruhestand zu versetzen waren. Diese Regelung betraf Juden, aber auch Zigeuner und andere kleine Minderheiten, die als „nicht arisch“ galten. Hindenburg bestand jedoch auf einer Ausnahmeregel für „Beamte, die bereits seit dem 1. August 1914 Beamte gewesen sind oder die im Weltkrieg an der Front für das Deutsche Reich gekämpft haben oder deren Väter oder Söhne im Weltkrieg gefallen sind“2. Außerdem verabschiedete die Reichsregierung am 14. Juli 1933 das erste Rassengesetz. Dieses Gesetz, offiziell bekannt als „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, richtete sich mit Zwangssterilisationen gegen behinderte Deutsche. „Wer erbkrank ist“, hieß es, „kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden.“3 Das Beamtengesetz führte nicht nur zur Ausgrenzung von Juden in der Ministerialbürokratie, sondern auch in Schulen, Universitäten und Wissenschaft. Darüber hinaus wurde 1 Henry Friedlander und Sybil Milton (Hrsg.): Bundesarchiv der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 20 der Reihe „Archives of the Holocaust“, New York 1933, Dok. 1 (Kursivsetzung im Original unterstrichen). 2 Reichsgesetzblatt 1933, Bd. 1, S. 175. 3 Reichsgesetzblatt 1933, Bd. 1, S. 529.

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die Ausgrenzung der Juden fast sofort mit einer Reihe zusätzlicher Gesetze auf die Bereiche erweitert, die das Beamtengesetz nicht berührte. Am 7. April ermöglichte ein Gesetz die Aufhebung der Zulassung „nicht-arischer“ Rechtsanwälte, am 22. April beendete ein Gesetz die Zulassung von Nicht-Ariern als Kassenärzte, am 25. April wurde für „Nicht-Arier“ per Gesetz ein Numerus clausus an deutschen Schulen und Hochschulen eingeführt und am 4. Oktober wurde mit dem Schriftleitergesetz ein Berufsverbot für Schriftleiter nicht-arischer Abstammung oder mit „nicht-arischen“ Ehepartnern ausgesprochen. All diese Gesetze übernahmen aber die Ausnahmeregelung des Beamtengesetzes für ehemalige Frontsoldaten. Gleichzeitig wurden Juden aus der gesamten Kultur ausgeschlossen – Verlagswesen, Theater, Film, Rundfunk, Musik und bildenden Künsten. Dies wurde durch die Schaffung der Reichskulturkammer unter Joseph Goebbels erreicht. Die Mitgliedschaft in der Reichskulturkammer war Voraussetzung für eine Anstellung. Da Juden in ihr nicht Mitglied werden konnten, erhielten sie auch nirgends eine Anstellung. Die Gesetze zur Ausgrenzung von Juden wurden in der Folge sukzessive erweitert. Beispielsweise legte die Reichshabilitationsordnung vom 13. Dezember 1934 fest, daß jeder Kandidat für die Zulassung zur Habilitation den Nachweis der arischen Abstammung und den seiner Ehefrau zu erbringen hatte und daß es nur Beamten gestattet war, Dozent zu werden. Die Politik der Ausgrenzung ab 1933 erfaßte jedoch nicht die freie Wirtschaft. Das Regime nahm keine Eingriffe in Privatunternehmen vor, weil der reichsweite Boykott vom 1. April nur teilweise erfolgreich gewesen war und das Ausland Vergeltungsmaßnahmen angedroht hatte. Durch den lokalen Boykott von jüdischen Geschäften hatten Nicht-Juden ihre Arbeitsplätze verloren und die Erholung der Wirtschaft Schaden genommen. Statt dessen richtete sich die Politik des Regimes gegen den nicht-öffentlichen Bereich der jüdischen Gemeinschaft. Gegen Ostjuden wurde am 14. Juli 1933 ein Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen aus der Zeit vom 9. November 1918 bis zum 30. Januar 1933 erlassen. Damit konnte auch im Ausland lebenden Deutschen die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt, ihr Vermögen konnte vom Reich konfisziert werden. Ein Gesetz vom 23. November 1933 erleichterte die Scheidung von einem jüdischen Ehepartner und erschwerte Juden die Adoption von Kindern. Schließlich verbot eine Verordnung des Reichsministeriums des Innern (RMdI) vom 21. April das Schlachten nach jüdischem Ritus.

1935: Die Nürnberger Gesetze Die antijüdische Gesetzgebung der ersten beiden Jahre schuf eine Vielzahl von Verordnungen, die den radikalen Nationalsozialisten allerdings nicht ausreichte. Im Sommer 1935 versuchten sie, mit Lokalverordnungen, öffentlichen Krawallen, Angriffen auf Juden und einer immer schärferen Propagandakampagne an ihre Erfolge von 1933 anzuknüpfen. Das Regime war jedoch bestrebt, solche radikalen Aktionen aus ökonomischen und außenpolitischen Gründen zu bremsen. Angesichts des Konflikts zwischen den radikalen Kräften in der Partei und der Regierungsbürokratie griff schließlich Hitler persönlich ein. Beim Nürn-

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berger Parteitag befahl er dem RMdI, ein Gesetz zur umfassenden Regelung des Status der Juden vorzubereiten. In zwei Tagen schrieben die nach Nürnberg beorderten zuständigen Ministerialbeamten mehrere Gesetzesentwürfe. Sie wurden Hitler vorgelegt und am 15. September 1935 von dem in aller Eile zusammengerufenen Reichstag verabschiedet. Die Nürnberger Gesetze – das „Reichsbürgergesetz“ und das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ – wurden zum Kernstück der antijüdischen Gesetzgebung.4 Die Begriffe „arisch“ und „nicht-arisch“ kamen in diesen Gesetzen nicht vor, weil sie sich im Beamtengesetz und zahlreichen anderen Verordnungen als zu ungenau erwiesen hatten. Statt dessen definierten die „Rassengesetze“ sogenannte „Arier“ als Personen „deutschen oder artverwandten Blutes“. Das „Blutschutzgesetz“ schloß Juden aus der deutschen Volksgemeinschaft aus, indem es „Mischehen“ sowie außerehelichen Verkehr zwischen Juden und Personen „deutschen oder artverwandten Blutes“ verbot. Verboten wurde Juden ferner, weibliche Hausangestellte „deutschen oder artverwandten Blutes“ zu beschäftigen, die Reichsflagge zu hissen oder die Nationalfarben zur Schau zu stellen. Das „Reichsbürgergesetz“ war ein von Hitler angeordneter Nachtrag, den die Ministerialbeamten binnen weniger Stunden zu Papier brachten. Am Status der Juden als Staatsangehörige änderte es nichts: Das Gesetz gestand allen Deutschen, auch den Juden, die Staatsangehörigkeit zu, so daß die Juden den mit ihr traditionell verbundenen Schutz und die entsprechenden Rechte behielten. Doch waren sie fortan als Bürger zweiter Klasse gebrandmarkt, denn den neu geschaffenen höheren Status als „Reichsbürger“ konnten nur Personen „deutschen oder artverwandten Blutes“ erhalten. Die Reichsbürger sollten „alleinige Träger der politischen Rechte“ sein, aber diese Rechte waren nicht definiert und angesichts der Zentralisierung der diktatorischen Staatsmacht ohnehin bedeutungslos. Tatsächlich wurden die Reichsbürgerbriefe nie ausgegeben. In den „Rassengesetzen“ selbst wurde der Begriff „Jude“ nicht definiert; dies blieb den Durchführungsverordnungen überlassen. In der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935 wurde festgelegt, wer „Jude“ sei. Danach wurden Personen mit mindestens drei volljüdischen Großeltern als „Volljuden“ eingestuft, „wobei als volljüdisch gilt, wer der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört“5. Personen mit nur einem volljüdischen Elternteil galten nicht als Juden, sondern wurden als „jüdische Mischlinge 2. Grades“ kategorisiert. Personen mit zwei „volljüdischen“ Großeltern galten als „Mischlinge 1. Grades“, wenn sie nicht der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten oder mit einem Juden verheiratet waren. Solche „Mischlinge jüdischer Religion“ wurden als sogenannte „Geltungsjuden“ bezeichnet. Was Juden in „Mischehen“ betraf, so galt eine Ehe als „privilegiert“, wenn die Kinder aus dieser Ehe „Mischlinge 1. Grades“ waren. Waren die Kinder Angehörige der jüdischen Religionsgemeinschaft, galt die Ehe nicht als privilegiert. „Mischehen“ ohne Kinder waren privilegiert, wenn die Ehefrau jüdisch, aber nicht, wenn der Ehemann jüdisch war. All diese Definitionen warfen Probleme auf, die die Bürokratie nie voll4 5

Reichsgesetzblatt 1935, Bd. 1, S. 1146. Reichsgesetzblatt 1935, Bd. 1, S. 1333.

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ständig lösen sollte, die aber in Deutschland und Österreich letztlich den meisten jüdischen „Mischlingen“ und Juden mit nicht-jüdischen Ehepartnern das Leben retteten. Und während die „Rassengesetze“ die Juden angeblich als „Rasse“ behandelten, führten sie de facto eine Definition ein, die auf der Religion beruhte. Obwohl sich die „Nürnberger Rassengesetze“ gegen Juden richteten und auch nur Juden erwähnt wurden, wurden sie bald auch gegen andere Minderheiten angewandt, die sich von der deutschen Mehrheit angeblich in der „Rasse“ unterschieden. Nach dem Reichsminister des Innern, Wilhelm Frick, der für die Durchsetzung der Gesetze zuständig war, galt die Erste Verordnung zu den Rassengesetzen auch für „Angehörige anderer Rassen, deren Blut dem deutschen Blut nicht artverwandt ist“, wie „Zigeuner und Neger“.6 Schließlich verfügte die Erste Verordnung den sofortigen Ruhestand aller noch im Amt befindlichen jüdischen Beamten einschließlich derjenigen, die bis dahin unter die Ausnahmeregelung für Frontsoldaten gefallen waren. Die Bürokratie begann bald, den Rahmen aller nur denkbaren Beschränkungen für „Volljuden“ voll auszuschöpfen, weigerte sich aber, bei „Mischlingen“ auch in dieser Weise vorzugehen. Die Zwangspensionierung von Beamten wurde deshalb weder auf „Mischlinge“ noch auf Beamte mit jüdischen Ehepartnern angewandt, wie es die radikalen Kräfte in der Partei gefordert hatten.

Die Verschärfung der Rassenpolitik seit 1937 Das Jahr 1936 verlief für die Juden in Deutschland verhältnismäßig ruhig. Aus außenpolitischen Gründen wurden keine neuen Verordnungen zu ihrer Entrechtung erlassen, und im Rahmen der Olympischen Spiele von 1936 in Berlin wurden in Städten und Geschäften die Schilder mit der Aufschrift „Juden unerwünscht“ entfernt, um den Eindruck von Normalität zu erwecken. Auch die Ausschließung der Juden aus dem Wirtschaftsleben wurde vom Regime verschoben, um negative Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft zu vermeiden. 1937 und 1938 wurde die Ausschließung von Juden aus der deutschen Gesellschaft jedoch wiederaufgenommen. Nun richtete sie sich auf den wirtschaftlichen Bereich, und zugleich wurden die letzten persönlichen Freiheiten, die den deutschen Juden bis dahin noch geblieben waren, immer stärker beschnitten. Die Enteignung jüdischer Geschäfte und Unternehmen hatte fast unmittelbar nach der sogenannten „Machtergreifung“ von 1933 eingesetzt. Doch waren diese Enteignungen, die allgemein als „Arisierung“ bezeichnet wurden und die sowohl die Expropriation jüdischer Eigentümer als auch die Entlassung jüdischer Erwerbstätiger beinhalteten, auf ganz bestimmte Wirtschaftsbereiche beschränkt. Größere Unternehmen waren nur in solchen Sektoren enteignet worden, die einen zentralen Stellenwert in der nationalsozialistischen Ideologie einnahmen, beispielsweise Kaufhäuser und Verlage. Solche Unternehmen waren 6 Zitiert in Arthur Gütt, Herbert Linden und Franz Maßfeller: Blutschutz- und Ehegesundheitsgesetz München 1936, S. 21.

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auf lokaler Ebene auch auf Initiative örtlicher Parteiführungen konfisziert worden. Außerdem von der „Arisierung“ betroffen waren kleine Geschäfte und die freien Berufe, um die mittelständischen Anhänger des Nationalsozialismus von ihrer jüdischen Konkurrenz zu befreien. Diese frühe Form der „Arisierung“ war jedoch nicht umfassend, und Juden hatten diesen ökonomischen Angriff weitgehend überstanden. Das änderte sich gegen Ende des Jahres 1937, als Hitler einer kleinen Gruppe von hohen Amtsträgern aus Wehrmacht und Reichsaußenministerium sein Ziel offenlegte, deutschen „Lebensraum“ mit Waffengewalt erobern zu wollen. Er entließ Hjalmar Schacht als Reichswirtschaftsminister, der sich aus pragmatischen Gründen der „Arisierung“ in großem Maßstab widersetzt hatte, und übertrug Hermann Göring die Verantwortung für die Wirtschaft. Zu Beginn des Jahres 1938 erlangte Hitler im Zuge der „Blomberg-Fritsch-Krise“ die Kontrolle über die Wehrmacht und ersetzte im Auswärtigen Amt den bisherigen Außenminister Konstantin Freiherr von Neurath durch Joachim von Ribbentrop. Im März 1938 kam es im Rahmen des „Anschlusses“ Österreichs zu weithin populären Enteignungen von und gewaltsamen Übergriffen auf österreichische Juden. Schließlich ebnete die Münchner Konferenz vom 29. September 1938 den Weg für die Besetzung des Sudetenlandes Anfang Oktober. 1938 und zu Beginn des Jahres 1939 wurden die verbleibenden kleinen und großen Unternehmen „arisiert“, die sich noch ganz oder teilweise in jüdischem Besitz befanden oder von Juden geführt wurden. Darüber hinaus wurde den letzten jüdischen Freiberuflern die Ausübung ihrer Tätigkeit untersagt, nachdem Juden mit einem Erlaß vom April 1937 bereits die Erlangung des Doktortitels untersagt worden war. Am 25. Juli 1938 verfügte die Vierte Verordnung zum Reichsbürgergesetz: „Bestallungen (Approbationen) jüdischer Ärzte erlöschen am 30. 9. 1938.“ Nur eine ausgewählte kleine Gruppe durfte weiter praktizieren, allerdings nur für jüdische Patienten und nur unter der Bezeichnung „Krankenbehandler“. Am 27. September verkündete die Fünfte Verordnung: „Juden ist der Beruf des Rechtsanwalts verschlossen.“ Mit Wirkung vom 30. November konnten einige wenige als sogenannte „Rechtskonsulenten“ weiter für Juden tätig werden. Bald darauf verloren jüdische Zahnärzte, Apotheker, Tierärzte, Hebammen und Krankenpfleger ihre Arbeitsberechtigungen.

Das Jahr 1938 Im Lauf des Jahres 1938 wurde der soziale Lebensraum der Juden immer weiter eingeengt. Im Juli verfügte eine Ministerialverordnung, daß Juden bis Ende des Jahres eine besondere Kennkarte zu beantragen hätten, die mit einem „J“ markiert war. Im August ordnete eine Verordnung an, daß Juden, die keinen Vornamen führen, der in dem vom Innenministerium am 18. 8. 1938 herausgegebenen Runderlaß als jüdischer Vorname angeführt ist, […] vom 1. 1. 39 ab als weiteren Vornamen den Namen ‚Israel‘ (für männliche Personen) oder ‚Sara‘ (für weibliche Personen) anzunehmen [haben].

Im Oktober wurde die Identifizierung von Juden auf Reisepässe erweitert, die nun nur noch gültig waren, „nachdem sie mit einem ‚J‘ versehen sind“.

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Die Markierung der Reisepässe war durch ein Schweizer Ersuchen vorangetrieben worden, einreisende Juden kenntlich zu machen. Die Schweiz war jedoch nicht als einziges europäisches Land angesichts des Zustroms von Juden besorgt, der sich nach der Ausweisung zahlreicher osteuropäischer Juden aus den Grenzregionen der Tschechoslowakei und Ungarns verstärkt hatte, als die Grenzen sich nach der Konferenz von München leicht verschoben hatten. Als die polnische Regierung Anfang Oktober die polnischen Pässe der in Deutschland lebenden Juden für ungültig erklärte, beschlossen die deutschen Behörden, ihnen zuvorzukommen. In der Nacht vom 28. zum 29. Oktober 1938 wurden ungefähr 18 000 der etwa 60 000 im Reich lebenden polnischen Juden in einer blitzartigen Polizeiaktion aus Deutschland, Österreich und dem Sudetenland nach Polen abgeschoben. Nachdem die ersten Züge noch hatten passieren können, schlossen die polnischen Beamten die Grenze. Als die SS die Juden trotzdem zwang, weiter die Grenze zu überschreiten, blieben Tausende im Niemandsland zwischen den Grenzen stecken. Als der zu dieser Zeit in Paris lebende Herszel Grynszpan am 7. November von der Deportation seiner Eltern erfuhr, kaufte er eine Waffe und verübte ein Attentat auf den Legationsrat Ernst vom Rath, den er schwer verwundete. Dieser Racheakt eines siebzehnjährigen Juden sollte zum Vorwand für den Pogrom werden, den man unter der Bezeichnung „Reichskristallnacht“ kennt. Am 9. November versammelte sich die nationalsozialistische Führung in München zur Feier des 15. Jahrestages des gescheiterten Putsches von 1923. Unmittelbar vor dem Abendessen um 20.30 Uhr erhielt Joseph Goebbels die Nachricht vom Tod vom Raths. Nach einem kurzen Gespräch mit Hitler, der bald darauf ging, hielt Goebbels vor den versammelten Partei- und SA-Führern eine antijüdische Hetzrede. Auch wenn Goebbels nicht direkt zu einem Pogrom aufrief, war allen klar, daß die Partei die Angriffe lenken sollte, ohne vor der Außenwelt als Anstifter aufzutreten. In der Nacht vom 9. auf den 10. November schickten die örtlichen Parteizentralen und Parteiformationen – SA und zum Teil auch SS – ihre Mitglieder hinaus, die mit Unterstützung einheimischer Bürger Juden und ihr Eigentum angriffen, Synagogen und Gemeindegebäude anzündeten oder zerstörten, die Geschäfte und Wohnungen verwüsteten und jüdische Bürger schikanierten und mißhandelten. Die SS und die Polizei, die im Vorfeld nicht unterrichtet worden waren, wiesen Polizei- und Feuerwehreinheiten an, nicht einzugreifen, außer zum Schutz nicht-jüdischen Eigentums und zur Verhinderung von Plünderungen. Am nächsten Tag präsentierte sich nach dieser Orgie der Zerstörung in den deutschen Städten ein schreckliches Bild. Die Polizei zählte 191 verbrannte und 76 vollkommen zerstörte Synagogen, Tausende zerstörter Geschäfte und zahlreiche zerstörte Wohnungen. Die Zahl der getöteten Juden belief sich auf etwa 100 und viele waren verwundet worden. Die Gestapo verhaftete bis zu 30 000 jüdische Männer und eine wesentlich kleinere Zahl jüdischer Frauen. Die Männer wurden in die Konzentrationslager von Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen gebracht und schrecklich mißhandelt, zum Teil sogar ermordet. Die meisten wurden schließlich jedoch unter der Bedingung freigelassen, daß sie Deutschland verlassen würden.

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Am 12. November leitete Göring ein Gespräch von Vertretern der Partei und der Regierung über die Sachschäden, die aus dem Pogrom entstanden waren. Man beschloß, daß die Versicherungen für die jüdischen Verluste aufkommen, die gezahlten Entschädigungen aber konfisziert werden sollten. Außerdem sollten die deutschen Juden eine Milliarde Reichsmark als Sühneleistung für die Sachschäden und zur Rückzahlung der Entschädigungen der Versicherungen zahlen. Außerdem sollte die „Arisierung“ durch die Ernennung von Treuhändern abgeschlossen werden, die die restlichen Unternehmen veräußern sollten. Es folgte eine Unzahl von Erlassen, mit denen Juden verboten wurde, Freizeit- oder Unterhaltungseinrichtungen zu besuchen, bestimmte Stadtteile zu betreten oder auf nicht speziell gekennzeichneten Parkbänken zu sitzen. Juden waren nun aus deutschen Schulen und Universitäten vollständig ausgeschlossen und die Bezüge aller entlassenen jüdischen Beamten wurden gekürzt. Der Mieterschutz für Juden wurde aufgehoben. Ihren gesamten Besitz an Gold, Silber und Schmuck hatten sie – mit Ausnahme ihrer Eheringe – abzugeben. Nach dem Beginn des Krieges nahmen solche Verbote zu. Juden durften keinen Telefonapparat und kein Radiogerät besitzen. Sie durften nur zu bestimmten Tageszeiten einkaufen gehen oder öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Robert M.-W. Kempner hat die zahlreichen diskriminierenden Gesetze und Verordnungen für Juden treffend beschrieben: Man hat ihnen die Berufe genommen, das Besitztum gestohlen, sie durften nicht erben oder vererben, sie durften nicht auf Parkbänken sitzen oder einen Kanarienvogel halten, keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, keine Restaurants, keine Konzerte, Theater oder Kinos besuchen, für sie galten bestimmte Rassengesetze, ihnen wurden sämtliche staatsbürgerliche Rechte entzogen, die Freizügigkeit wurde ihnen genommen, ihre Menschenrechte und ihre Menschenwürde wurden in den Staub getreten, bis sie in die Konzentrationslager deportiert wurden und in die Gaskammer kamen.7

Die jüdische Gemeinschaft seit 1939 Die jüdische Bevölkerung wurde von 1933 bis 1939 immer kleiner und immer ärmer. Genaue statistische Angaben sind jedoch schwer zu finden. Daher ist man in der Forschung von verschiedenen Schätzungen ausgegangen. Man weiß, daß die Zahl der Personen, die sich 1933 als Mitglieder der jüdischen Gemeinde zur jüdischen Religion bekannten, ungefähr 500 000 betrug. Hinzuzurechnen ist die geschätzte Zahl derjenigen, die nach NS-Rassenkriterien als Juden oder „Mischlinge“ eingestuft wurden und die der nationalsozialistischen antijüdischen Politik in der einen oder anderen Form deshalb ausgeliefert waren. Es handelte sich vermutlich um mehr als 300 000 Personen. Zahlen aus deutschen Volkszählungen belegen, daß die Zahl der nach der rassistischen Definition so genannten „Volljuden“ bis Mai 1939 auf 213 000 und bei Kriegsbeginn im September auf etwa 185 000 sank. Die Zahl der sogenannten „Mischlinge“ für diesen Zeitraum kann nur geschätzt werden. In Österreich war die Zahl der Juden bis September auf etwa 60 000 zurückgegangen und im 7

Robert M.-W. Kempner, Einführung. In: Joseph Walk (Hrsg.): Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien – Inhalt und Bedeutung, Heidelberg und Karlsruhe 1981, S. xiii.

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Protektorat auf etwa 100 000. Somit gab es im Deutschen Reich bei Kriegsbeginn ungefähr 345 000 „Volljuden“ ohne „Mischlinge“. 1933 und 1934 traten sowohl die jüdischen Gemeinden als auch verschiedene jüdische Organisationen – vom „Verband nationaldeutscher Juden“, dem „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“, der „Unabhängigen jüdischen Orthodoxie“ bis zur „Zionistischen Vereinigung für Deutschland“ – mit Denkschriften an Hindenburg und Hitler heran, in denen sie ihre Treue zu Deutschland erklärten und ihre Mitarbeit anboten. Bis 1933 gab es keine Organisation, die die deutschen Juden in ihrer Gesamtheit repräsentierte. Diesbezügliche Versuche waren in der Weimarer Republik gescheitert. Als 1933 die Notwendigkeit der zentralen Organisation immer deutlicher wurde, wurde die „Reichsvertretung der jüdischen Landesverbände“ gegründet, die bald darauf in „Reichsvertretung der deutschen Juden“ und nach den Nürnberger Gesetzen in „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ umbenannt wurde. Unter Vorsitz des Rabbiners Leo Baeck und Otto Hirschs, der für die Verwaltung zuständig war, vertrat sie die jüdischen Gemeinden und die unabhängigen Verbände. Im Juli 1939 erzwang die Zehnte Verordnung jedoch ihre Neukonstituierung als „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ unter Kontrolle der Sicherheitspolizei (Sipo), mit den jüdischen Gemeinden als lokalen Vertretern der Reichsvereinigung, die ihren Status als Körperschaften öffentlichen Rechts verloren hatten. Durch die Ausgrenzung der jüdischen Mitbürger aus der deutschen Gesellschaft mußte die jüdische Gemeinschaft mit der Zeit den Großteil der Funktionen übernehmen, die zuvor der Staat erfüllt hatte. Das war eine schwere Last, besonders angesichts der schwindenden finanziellen Mittel der Juden bzw. der Tatsache, daß diese ihr Einkommen verloren. Mit der Ausschließung der Juden aus dem staatlichen Wohlfahrtssystem trug die jüdische Gemeinschaft die Verantwortung für ihr Wohlergehen. Sie wurde Träger der jüdischen Schulen, da jüdische Schüler aus dem deutschen Schulsystem ausgeschlossen worden waren. Der „Jüdische Kulturbund“ wurde an Stelle der öffentlichen Kultureinrichtungen gegründet, aus denen Juden ebenfalls ausgeschlossen worden waren. Die jüdische Gemeinschaft hatte Theater, Film, bildende Künste, Musik, Erwachsenenbildung, Bibliotheken und Sport in separaten jüdischen Einrichtungen zu finanzieren. Mit der Zunahme antijüdischer Regelungen wurden Juden gezwungen, auf eigene Einrichtungen zurückzugreifen, die alltagswichtige Dienste, aber auch Dienste in Kultur und Bildung anboten. Eine ebenso wichtige oder sogar wichtigere Aufgabe der jüdischen Gemeinschaft lag in der Vorbereitung und Ermöglichung der Emigration. Genaue Zahlen über die Emigration von deutschen Juden liegen nicht vor; das gilt auch für Österreich und das Protektorat. Die Flucht aus Deutschland führte die Juden oft durch mehrere Länder, bis sie ihren endgültigen Zielort erreicht hatten. Man schätzt, daß ungefähr 300 000 Juden Deutschland verlassen hatten, bevor Heinrich Himmler am 23. Oktober 1941 die weitere Ausreise verbot. Die ersten Emigranten gingen in verschiedene europäische Länder, von wo aus viele später nach Übersee auswanderten. Die Zurückbleibenden fielen den Deutschen während des Krieges wieder in die Hände und teilten das Schicksal der anderen, die in Deutschland geblieben waren. Nur eine sehr kleine Zahl von Juden erhielt die Erlaubnis zur Einreise in die neutralen europäischen Staaten; die Schweiz gestattete nur 12 000 Menschen die Einreise. Palästi-

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na, dessen Tore bis 1939 verhältnismäßig weit geöffnet waren, nahm ungefähr 75 000 Juden auf; die Vereinigten Staaten, deren Einwanderungsgesetze die Immigration erschwerten, nahmen etwa 135 000 Juden auf, Großbritannien mit seinen relativ liberalen Einwanderungsgesetzen etwa 50 000. Die Einwanderung im British Commonwealth einschließlich Kanadas und Australiens war restriktiv geregelt, so daß dort nur eine verschwindend geringe Zahl von Menschen aufgenommen wurde. Lateinamerika gestattete ungefähr 50 000 Menschen die Einreise und etwa 12 000 fanden Zuflucht in Schanghai. Das Emigrationsbedürfnis der deutschen Juden kam der nationalsozialistischen Politik entgegen. Während sich die NS-Politik gegen unerwünschte kleine Minderheiten verhältnismäßig leicht umsetzen ließ – körperlich und geistig Behinderte wurden sterilisiert und in Anstalten eingewiesen, und Sinti und Roma in Zigeunerlagern gefangengehalten –, sah das Regime die Emigration als einzig gangbare Lösung dessen, was es als „Judenfrage“ betrachtete. 1938 ging die Leitung der jüdischen Emigration an die SS und die Polizei über. In Österreich lösten öffentliche antisemitische Ausschreitungen nach dem „Anschluß“ die Flucht österreichischer Juden aus. Adolf Eichmann, ein österreichisches Mitglied des Referats II 112 des SS-Sicherheitsdienstes (SD), leitete die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in Wien. In Zusammenarbeit mit der Gestapo entwickelte sie ein „Behörden-Fließband-System“, mit dem die schikanierten und mißhandelten Juden ausgeplündert wurden, ehe sie ihre Ausreisedokumente erhielten. Die Methode der Zentralstelle sollte als Wiener Modell bald im ganzen Reich kopiert werden. Der Exodus der Juden aus dem Deutschen Reich verwandelte sich nach der „Reichskristallnacht“ in eine verzweifelte Flucht, doch gab es nicht genug Länder, die bereit waren, sie aufzunehmen. Auch eine internationale Konferenz zur Flüchtlingsfrage in Evian im Jahr 1938 führte zu keiner Besserung. Bald darauf schlossen sich durch den Krieg die letzten Tore.

Vorbereitung des Massenmords Mit dem Beginn des Krieges am 1. September 1939 änderte sich alles. Unter dem Vorwand des Krieges radikalisierten sich die Maßnahmen der Nationalsozialisten zusehends. Ihre ersten Opfer waren die körperlich und geistig Behinderten, und da zuerst die Kinder, dann die Erwachsenen. Hitler erteilte den Befehl für die erste Mordaktion, die euphemistisch als „Euthanasie“, aber auch als „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ bezeichnet wurde. Im Nürnberger Ärzteprozeß beschrieb die amerikanische Anklage diese Mordaktion mit folgenden Worten: Das Programm bestand in der systematischen und geheimen Hinrichtung von Alten, Geistesgestörten, unheilbar Kranken oder mißgebildeten Kindern sowie anderen Personen in Pflegeheimen, Krankenhäusern und Anstalten mit Hilfe von Gas, tödlichen Injektionen und verschiedenen anderen Methoden.8 8 U.S. Military Tribunal: Official Transcript of the Proceedings in Case 1. United States v. Karl Brandt et al., S. 1513.

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Die Kanzlei des Führers führte die Mordoperation unter Mitarbeit des RMdI und mit Unterstützung der SS und der Polizei durch. Die Zentralstelle der Mordaktion quartierte sich in der beschlagnahmten Villa eines jüdischen Eigentümers in der Tiergartenstraße 4 ein, weswegen diese Aktion unter dem Kürzel T4 bekannt wurde. T4 erfand die Mordzentren für den fabrikmäßigen Massenmord mit Gaskammern, in die man Kohlenmonoxid zur Ermordung der Opfer einleitete, und Krematorien, um die Toten zu vernichten. Vorher wurden ihnen die Goldzähne herausgebrochen. Auf dem Gebiet des Reiches gab es sechs solcher Mordzentren: Brandenburg, Grafeneck, Hartheim, Bernburg, Sonnenstein und Hadamar. Behinderte jüdische Patienten in deutschen Anstalten waren von diesen Morden nicht ausgenommen. Seit April 1940 wurden alle jüdischen Patienten in besonderen Einrichtungen zusammengefaßt und im Sommer von dort aus in eines der Mordzentren geschickt, wo sie ermordet wurden. Um diese Tatsache geheimzuhalten, teilte T4 den Angehörigen mit, ihre Verwandten würden nach Polen verlegt. Erst Monate später wurden sie benachrichtigt, daß er oder sie in einer – fiktiven – Pflegeanstalt in Chelm in der Nähe von Lublin gestorben sei. Behinderte deutsche und österreichische Juden gehörten somit zu den ersten Opfern des Holocaust.

Ghettoisierung Als das Deutsche Reich Polen 1939 angriff, gerieten Millionen von Juden unter die Herrschaft der Nationalsozialisten. Im eroberten Polen konnten die deutschen Behörden wesentlich radikaler gegen Juden vorgehen als in Deutschland. Körperliche Gewalt und die Enteignung jüdischen Eigentums wurden zum Alltag. Juden mußten sich kennzeichnen, im Generalgouvernement von Restpolen mit einem weißen Armband mit blauem Davidstern und im eingegliederten Wartheland mit einem gelben Davidstern auf der Brust und auf dem Rücken. Sie wurden zur Zwangsarbeit eingezogen und überall wurden Arbeitslager errichtet. In Klein- und Großstädten zwang man die Juden in Ghettos. Die größten Ghettos befanden sich im Generalgouvernement in Warschau und im Wartheland in ¸ódz, das in Litzmannstadt umbenannt wurde. Überall ernannten die Deutschen sogenannte Judenräte, die die Ghettos verwalten und die deutschen Anordnungen ausführen sollten. In ¸ódz wurde am 8. Februar 1940 das erste große Ghetto eingerichtet, das am 30. April vollkommen von der Außenwelt abgeschottet wurde. Es wurde auch als letztes – im August 1944 – aufgelöst. Obwohl es der direkten Kontrolle der Deutschen unterstand, hatte das Ghetto eine eigene Verwaltung. Unter Führung von Chaim Rumkowski gab es eine eigene Bürokratie, Polizei und einen Gesundheitsdienst. Eine Schlüsselfunktion hatten die Werkstätten, in denen für den deutschen Bedarf im Reich Produkte hergestellt wurden. Jeder, ob alt oder jung, mußte arbeiten. Der zur Verfügung stehende Wohnraum war überfüllt und in schlechtem Zustand, Brennstoff zum Heizen und Kleidung waren nur in minimalen Mengen vorhanden und Nahrung war äußerst knapp. Anfänglich ging das Leben weiter: Männer und Frauen heirateten, Kinder besuchten die Schule, kulturelle und

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religiöse Veranstaltungen fanden statt. Als Hunger und Krankheiten schließlich immer mehr Opfer forderten, überwog der Kampf ums Überleben. Überall verschlechterte sich die Lage der Juden, als sich der deutsche Herrschaftsbereich durch die Eroberungen und Bündnisse auf den größten Teil Europas ausweitete. Die Judenpolitik, in der Himmler federführend agierte, verfolgte weiterhin die Politik der Emigration, allerdings in veränderter Form. Das Auswärtige Amt arbeitete nach wie vor an dem zum Scheitern verurteilten Plan, die Juden nach Madagaskar zu deportieren. Örtliche Parteivorsitzende fanden eigene Lösungen; so wurden beispielsweise die Juden aus Baden und der Pfalz über die französische Grenze abgeschoben. Und während behinderte Juden bereits ermordet worden waren, begann das Reichssicherheitshauptamt von Reinhard Heydrich (RSHA) – das Amt, das Sipo (Gestapo und Kripo) und SD vereinte – mit einem Programm für die Deportation von Juden in das Generalgouvernement. Es sollten Juden in die Nähe von Lublin verbracht werden. Im Oktober 1939 ließ das RSHA ungefähr 30 000 Juden aus Wien, Mährisch-Ostrau und Kattowitz nach Nisko an der San deportieren. Im Februar 1940 wurden 1200 Juden aus Stettin nach Piaski und im März 160 Juden aus Schneidemühl in die Gegend rund um Lublin deportiert. Doch wurden diese Pläne wiederaufgehoben, weil sie in Widerspruch zu dem Vorhaben standen, in diesem Gebiet Volksdeutsche anzusiedeln.

Vernichtung Als die deutsche Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, ging das NS-Regime von der Deportation zum Massenmord über. Die Einsatzgruppen der Sipo und des SD begannen in den besetzten Gebieten in der Sowjetunion einschließlich der Baltischen Staaten und Ostpolens mit Unterstützung der Ordnungspolizei (Orpo) mit dem Mord an Juden. Dies geschah in einer Orgie der Massenexekutionen, für die das Gemetzel von Babi Jar beispielhaft ist, bei dem in zwei Tagen über 30 000 Juden aus Kiew ermordet wurden. Bald wurden die Mordabsichten und -aktionen, von denen die Deutschen als „Endlösung der europäischen Judenfrage“ sprachen, auf alle europäischen Juden ausgedehnt. Historiker haben lange darüber debattiert, wer den Befehl zur Ermordung der Juden gab, wann er erteilt wurde, wie er weitergeleitet wurde und welche Motive die Mörder hatten. Obwohl die meisten Historiker zu dem Schluß gekommen sind, daß die Entscheidung von Hitler ausging und im Zentrum der Macht koordiniert wurde, haben einige, überwiegend deutsche Historiker die These vertreten, daß der Impetus in dem Druck lag, den die untergeordneten Behörden an der Peripherie im Osten ausübten. Eine Zeitlang nahmen die Historiker an, daß die Entscheidung vor dem Überfall auf die Sowjetunion gefällt wurde, doch später kamen sie zu dem Ergebnis, daß die Einsatzgruppen zunächst vor allem jüdische Männer ermordeten und daß der Befehl zur Ermordung der Frauen und Kinder einige Monate später erfolgte. Darüber hinaus unterscheidet die Geschichtswissenschaft zwischen der Entscheidung, die Juden im sowjetischen Gebiet zu ermorden, und der zur Ermordung aller europäischen Juden. Auch im Hinblick auf den Zeitpunkt der letzteren Entscheidung

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sind die Meinungen geteilt. Manche datieren sie auf den Frühherbst, als die Deportation der deutschen Juden in den Osten begann. Andere gehen von einem späteren Zeitpunkt aus, beispielsweise dem des Kriegseintritts der Vereinigten Staaten. Unbestritten ist jedoch, daß die massiven Morde an Juden im Sommer 1941 begannen und noch vor Ende des Jahres 1941 alle deutschen Juden bedroht waren. Im September 1941 ordnete Himmler die systematische Deportation der deutschen Juden an, vor allem der Juden aus Berlin. In Vorbereitung dieser Maßnahme verordnete das RMdI per Erlaß vom 1. September mit Wirkung vom 15. September die Kennzeichnung der Juden, die von nun an den gelben Davidstern auf der linken Brust tragen mußten, der als „Judenstern“ bezeichnet wurde und in dessen Mitte in hebräisch anmutender Schrift das Wort „Jude“ stand. Außerdem wurde mit dem Erlaß verfügt: „Juden ist es verboten […] Orden, Ehrenzeichen oder sonstige Abzeichen zu tragen.“ Am 23. Oktober, als die ersten Deportationszüge bereits rollten, verbot das RSHA jede weitere Ausreise deutscher Juden. Im Oktober gab das Judenreferat unter Adolf Eichmann das Startzeichen für die Deportation der deutschen Juden und am 14. Oktober erteilte Kurt Daluege, der Chef der Orpo, den Begleitmannschaften der Transporte seine Befehle. Die Deportationen wurden unter Leitung und Koordination von Eichmanns Referat im Hauptquartier der Gestapo, Amt IVb4 des RSHA, von der örtlichen Gestapo organisiert. Wegen Problemen bei den Transporten gingen die ersten Deportationen nur bis in das Ghetto von ¸ódz. Zwischen dem 15. Oktober und dem 4. November wurden 19 953 Juden aus Berlin, Frankfurt a. M., Köln, Hamburg, Düsseldorf, Wien, Prag und Luxemburg in das überfüllte Ghetto in ¸ódz gebracht. ¸ódz, das im eingegliederten Wartheland lag, war jedoch nur eine Zwischenlösung. An Artur Greiser, den Gauleiter im Wartheland, schrieb Himmler, daß er plane, die Juden „im nächsten Frühjahr noch weiter nach dem Osten abzuschieben“9. Danach gingen 22 Transporte mit ungefähr 22 000 deutschen Juden in das Reichskommissariat Ostland, wo die Einsatzgruppen operierten. Von diesen Transporten gingen zehn nach Riga, sieben nach Minsk und fünf nach Kovno (Kauen). Die Mitglieder einiger Transporte wurden gleich nach der Ankunft getötet. In Kovno ermordete das Einsatzkommando 3 die ankommenden Juden außerhalb der Stadt, wo auch die Juden aus Litauen getötet wurden. Im sogenannten „Jäger Bericht“ führte das Kommando Daten, Orte und die Zahl der Ermordeten auf. Die Eintragungen für den betreffenden Tag lesen sich folgendermaßen: „25. 11. 41 KauenF.IX -- 1159 Juden, 1600 Jüdinn., 175 J--Kind. 2934 (Umsiedler aus Berlin, München u. Frankfurt a. M.) 29. 11. 41 Kauen-F.IX -- 693 Juden, 1155 Jüdinn., 152 J.-Kind. 2000 (Umsiedler aus Wien u. Breslau).“10 Auch der erste Transport deutscher Juden kam nie im Ghetto an. Er verließ Berlin am 27. November 1941 und traf am 30. November in Riga ein, dem Tag, an dem das Einsatzkommando 2 die meisten noch am Leben gebliebenen lettischen Juden in der Stadt ermor9

Himmler an Greiser, 18. September 1941, zit. nach H. G. Adler, Der verwaltete Mensch, Tübingen 1974, S. 173. 10 Faksimile-Reproduktion des Jäger Berichts, in: Adalbert Rückerl (Hrsg.), NS-Prozesse.

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dete. Die eintreffenden Juden aus Berlin wurden direkt in den Wald von Rumbuli gebracht. Dort wurden sie frühmorgens erschossen, bevor die Aktion gegen die lettischen Juden begann. Die Deportationen gingen weiter – nach Ostland, in die Gegend von Lublin und nach Auschwitz –, bis es in Deutschland praktisch keine Juden mehr gab, wenn man von „Mischlingen“, Juden in „privilegierten Mischehen“ und den Juden absieht, die untergetaucht waren. 1942 erteilte Himmler sogar den Befehl, alle Juden, die in Konzentrationslagern auf deutschem Boden waren, in den Osten zu verlegen: Deutschland sollte „judenfrei“ sein. Für die deutsche Bürokratie warf die Deportation der deutschen Juden Probleme hinsichtlich ihrer deutschen Staatsangehörigkeit auf, denn mit dieser waren ihnen immer noch bestimmte Rechte geblieben. Während der Deportation nach ¸ódz mußte die Gestapo deshalb auf zwei Gesetze aus dem Jahr 1933 zurückgreifen, um auch diese Opfer ihres Eigentums und ihrer Staatsangehörigkeit berauben zu können: das Gesetz über die Einziehung kommunistischen Vermögens vom 26. Mai 1933 und das Gesetz über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens vom 14. Juli 1933. Doch fand die Bürokratie bald einen besseren Weg. Am 25. November 1941 wurde die Elfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz erlassen, die automatisch den Verlust der Staatsangehörigkeit und die Konfiszierung des Vermögens festlegte, sobald ein Jude seinen Aufenthalt im Ausland nahm. Auf der Basis der Anordnung vom 3. Dezember galt das auch, wenn der Wechsel des Wohnorts nicht freiwillig erfolgte und der neue Wohnsitz sich in einem von den Deutschen kontrollierten Gebiet befand. Außerdem waren „Mischlinge“, jüdische Ehepartner in „Mischehen“ und Juden im Alter von über 60 Jahren von den Deportationen des Jahres 1941 ausgenommen. Diverse örtliche Gestapostellen hatten die Anordnung jedoch mißachtet, ältere Juden von den Transporten auszunehmen, und so war eine große Zahl älterer jüdischer Männer und Frauen von zum Teil über 70 oder 80 Jahren deportiert worden. Diese Tatsache strafte die öffentliche Erklärung Lügen, die Juden würden in den Osten gebracht, um dort schwere Arbeit zu verrichten und Straßen oder Landebahnen für Flugzeuge zu bauen. Aus diesem Grund wurden Personen im Alter von über 65 Jahren und ihre Ehepartner, falls diese über 55 Jahre alt waren, nicht mehr direkt in den Osten deportiert. Statt dessen wurden sie in das Altersghetto Theresienstadt geschickt. Diese Transporte wurden bis zum Ende des Krieges fortgesetzt. Doch während die Todesrate der alten Menschen in Theresienstadt sehr hoch war, konnten viele dort nicht einmal eines halbnatürlichen Todes sterben. Verborgen vor den Blicken der Öffentlichkeit wurde eine große Zahl von Theresienstadt in die Mordzentren im Osten deportiert. Die Gestapo bezeichnete die Deportationen nach Theresienstadt als Wohnsitzverlegung, weil Theresienstadt im Protektorat lag und somit innerhalb der Grenzen des Großdeutschen Reichs. Aus diesem Grund war die Elfte Verordnung hier nicht anwendbar. Dennoch fand das RSHA einen Weg, um jüdisches Eigentum zu konfiszieren. In Anlehnung an den Kauf eines Platzes in einem Pflegeheim wurden die alten Menschen gezwungen, einen „Heimkaufvertrag“ zu unterzeichnen, womit ihr gesamtes Eigentum an die Verwaltung in Theresienstadt übergeben wurde. Dieser Trick brachte dem RSHA, das das Geld von der Reichsvereinigung übernahm, gewaltige Summen ein.

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Überall in Europa, wo die Deutschen und die Kollaborateure Diskriminierungsgesetze verhängten, wurden Juden zur Deportation nach Osteuropa zusammengetrieben – selbst in Nordafrika. Die Juden Deutschlands und Österreichs wurden in den großen Städten gesammelt und von dort aus deportiert. Im Protektorat wurden die tschechischen Juden, die anfänglich von Prag und Brünn aus direkt nach ¸ódz deportiert worden waren, später in Theresienstadt gesammelt, bevor sie in den Osten geschickt wurden. Ebenso war es in Westeuropa. Dort verfügten die Deutschen und ihre Verbündeten 1942 die Kennzeichnung der Juden, also etwas später als in Deutschland. Sie übernahmen das deutsche Modell; nur das deutsche Wort „Jude“ wurde in die Landessprachen übersetzt, beispielsweise „Jood“ oder „Juif“. Außerdem wurden Durchgangslager für die Deportation nach Osten eingerichtet: Westerbork in den Niederlanden und Malines (Mecheln) in Belgien. In den Niederlanden waren die Deutschen besonders erfolgreich, weniger in Belgien. Die relative Todesrate in den Niederlanden war so hoch, daß sie der Polens nahekam. Das französische Durchgangslager lag in Drancy in der Nähe von Paris. Juden aus dem Ausland, unter anderem aus Baden, waren jedoch bereits in französischen Lagern wie Gurs, Les Milles und Rivesaltes – Vichy-Lagern – gefangengehalten worden, von denen aus sie direkt deportiert wurden. Wie erfolgreich es den Deutschen gelang, Juden nach Osten in den Tod zu deportieren, hing von den örtlichen Gegebenheiten ab. Es liegt auf der Hand, daß sie ihr Ziel dort am ehesten erreichten, wo sie die totale Kontrolle hatten, also in Deutschland, Österreich, Böhmen und Mähren. Doch galt dies auch für die Niederlande, wo die Monarchie und die Regierung geflohen waren und den deutschen Zivilbehörden die holländische Bürokratie überlassen blieb. In Belgien war der Monarch jedoch im Land geblieben und behielt gegenüber den deutschen Militärs einigen Einfluß. In Frankreich kollaborierten das Militär und das verbündete Vichy-Regime bei der Verhängung der antijüdischen Gesetzgebung einschließlich der Enteignung jüdischen Eigentums. Wie in den meisten europäischen Ländern wurden die nicht-französischen Juden zuerst deportiert, aber schließlich auch die französischen Juden. Obwohl die Vichy-Beamten bei diesen Deportationen kollaborierten, war der prozentuale Anteil der deportierten Juden geringer als in Ländern unter ausschließlich deutscher Kontrolle. In Norwegen unterstützte die Regierung von Vidkun Quisling die Deutschen und kollaborierte in der Deportation der Juden, die über die Nordsee ausgeschifft wurden. In Dänemark, wo der König im Land geblieben war und die dänische Regierung weiter die Amtsführung innehatte, konnte sich die kleine Zahl der dänischen Juden in das angrenzende Schweden retten. Im besetzten Serbien wurden jüdische Männer von Angehörigen der Wehrmacht erschossen, jüdische Frauen und Kinder wurden im Lager Semlin von der SS in mobilen Gaswagen ermordet. Der größte Teil der griechischen Juden lebte in den Teilen Griechenlands, die von den deutschen Besatzern kontrolliert wurden. Sie gehörten überwiegend zu der großen sefardischen Gemeinde von Saloniki. Mitarbeiter des Sonderreferats Eichmanns organisierten die Deportation der Juden von Saloniki in Zusammenarbeit mit den deutschen Militär- und Zivilbehörden. Wie an anderen Orten erwarb das griechische Marionettenregime das Eigentum der deportierten Juden. Die etwas kleinere Zahl der Juden im unter italienischer

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Militärverwaltung stehenden Gebiet Griechenlands blieb von dieser Politik verschont, da die Italiener sich ihr in Südfrankreich, Kroatien, Dalmatien, Montenegro und Griechenland erfolgreich widersetzten. Erst nach der Kapitulation Italiens vom 8. September 1943 erlangten die Deutschen im September und Oktober 1943 die Kontrolle über diese Gebiete und begannen auch dort, die Juden zu verfolgen. 1944 ließen die Deutschen die griechischen Juden deportieren, auch die Juden von den Ägäischen Inseln. In den Marionettenstaaten Kroatien und der Slowakei sahen die Deutschen sich bei der Deportation der Juden nicht mit nennenswerten Widerständen konfrontiert. Kroatien kooperierte und lieferte alle Juden zur Deportation aus, mit Ausnahme derjenigen, die mit nicht-jüdischen kroatischen Ehepartnern verheiratet waren. Darüber hinaus ließ der von der Ustascha autoritär regierte Staat Juden zusammen mit Serben und Zigeunern ermorden, beispielsweise in dem berüchtigten Lager Jasenovac. Die slowakische Marionettenregierung unter Josef Tiso kooperierte ebenfalls, abgesehen davon, daß die einflußreiche katholische Kirche die Auslieferung der Juden verweigerte, die vor 1939 zum Christentum konvertiert waren. Mit der Wendung des Krieges schwächte sich die Kooperation der Slowaken jedoch ab. Der Aufstand des slowakischen Nationalrats 1944 führte zu harten Vergeltungsmaßnahmen, nachdem die deutschen Truppen ihn niedergeschlagen hatten, unter anderem zur Verfolgung aller noch verbliebenen Juden. In den mit dem Deutschen Reich verbündeten Ländern waren die Juden am wenigsten bedroht, da die Deutschen ihre Politik nicht in dieser Weise forcieren konnten. Somit war Bulgarien bereit, die Juden aus den neu besetzten Gebieten auszuliefern, nicht aber aus dem bulgarischen Kernland. Das Regime unter Ion Antonescu lieferte die Juden zwar nicht an Deutschland aus, organisierte aber selbst Pogrome, bei denen eine große Zahl von Menschen getötet wurde, besonders in der rückeroberten Dobrudscha, der größte Teil der jüdischen Gemeinschaft in Altrumänien konnte hingegen überleben. In Italien erließ Mussolini zwar antijüdische Gesetze, doch wurden keine Juden in den Osten deportiert. Nach der Besetzung Norditaliens verhafteten die Deutschen mit Unterstützung der Faschisten jedoch alle Juden, deren sie habhaft werden konnten, und deportierten sie über das Durchgangslager Fossoli in den Osten. Ungarn unter Admiral Miklós Horthy widersetzte sich ebenfalls lange der Deportation der Juden. Erst mit der Besetzung Ungarns durch die deutschen Truppenverbände 1944 wurden die ungarischen Juden mit Hilfe der ungarischen Behörden deportiert. Deportationszüge aus ganz Europa brachten die Juden nach Polen und in die sowjetischen Gebiete – die Mordgebiete Osteuropas. Im Ostland und in der Ukraine mordeten die SS-Einsatzgruppen mittels Massenexekutionen, doch strapazierte diese Methode die Täter und machte die Geheimhaltung unmöglich. Die SS suchte deshalb nach einer anderen Methode und griff auf die erprobte Technik der T4-Mordzentren zurück. Mit „Erfolg“ wurde sie erstmals im Dezember 1941 in dem Mordzentrum Che mno (Kulmhof) im Wartheland angewandt. Che mno unterstand dem Reichsstatthalter des Warthelands, Gauleiter Arthur Greiser. Es wurde von einem Kommando der Sipo mit Herbert Lange an der Spitze geführt, der bereits 1940 in einem Sonderkommando behinderte Patienten in Gaswagen ermordet

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hatte. Die ersten Opfer waren Juden aus den kleinen Ortschaften im Wartheland und österreichische Zigeuner, die in das Ghetto von ¸ódz deportiert worden waren. Danach wurde das Mordzentrum aufgelöst. In einem Brief an Himmler pries Greiser das Sonderkommando: „Die Männer haben nicht nur treu und brav und in jeder Beziehung konsequent die ihnen übertragene schwere Pflicht erfüllt, sondern darüber hinaus bestes deutsches Soldatentum repräsentiert.“ Im Juni und Juli 1944 wurde Che mno für weitere Morde an Juden aus ¸ódz für zwei Monate wieder in Betrieb genommen.

Die Aktion Reinhard und der jüdische Widerstand Gleichzeitig beauftragte Himmler Odilo Globocnik, den SS- und Polizeiführer von Lublin, die Juden des Generalgouvernements zu ermorden. Dieser Plan wurde „Aktion Reinhard“ genannt. Zur Ausführung seiner Aufgabe errichtete Globocnik drei Mordzentren im Distrikt Lublin: die Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka. Sie wurden im Frühjahr und Sommer 1942 nach und nach in Betrieb genommen. Im Unterschied zu Che mno wurden in den Mordzentren der „Aktion Reinhard“ stationäre Gaskammern benutzt, bei denen ein Dieselmotor Gas in die Kammern pumpte. Zur Führung der Lager erhielt Globocnik die Unterstützung der Kanzlei des Führers (KdF), die zu diesem Zweck erfahrene Mörder von T4 nach Lublin schickte. Die deutschen Aufseher wurden von nichtdeutschen Wachen unterstützt, überwiegend von Ukrainern, die die SS aus den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern rekrutierte. Sie erhielten zum Teil in Trawniki eine Grundausbildung und wurden als „Hiwis“ (von „Hilfswillige“) bezeichnet. Die Lager der „Aktion Reinhard“ waren Orte eines umfangreichen Auftrags zur Ermordung von Juden und – in wesentlich kleinerer Zahl – von Zigeunern. In nur einem Jahr ermordeten die Deutschen in Belzec, Sobibor und Treblinka mindestens 1 750 000 Menschen. Mit den Diamanten, dem Schmuck, den Uhren und dem Zahngold, die sie den Toten stahlen, sammelten sie außerdem einen ungeheuren Reichtum an Beute an. Sadismus, Folter und Korruption erreichten bis dahin unvorstellbare Ausmaße. Ein amerikanischer Richter beschrieb eines dieser Lager später als „Menschenschlachthof“. Die Lager der „Aktion Reinhard“ waren der letzte Zielort der Transporte aus allen Teilen des Generalgouvernements, aber auch für Transporte aus Deutschland, Österreich, dem Protektorat, der Slowakei, Frankreich und den Niederlanden. Der größte Teil der Opfer wurde sofort bei der Ankunft ermordet, ein Teil jedoch zur Arbeit in den Lagern eingeteilt. Sie mußten die Toten verbrennen, ihren Besitz sortieren und andere Arbeiten verrichten. In periodischen Abständen wurden sie ebenfalls getötet. Um sich die eingearbeiteten Spezialisten zu erhalten, ließ man die Abstände zwischen den Morden jedoch immer größer werden, bis es zum Aufstand kam. Im August 1943 revoltierten die jüdischen Gefangenen in Treblinka. Nur wenigen gelang die Flucht. Die meisten wurden getötet, doch das Lager wurde stark beschädigt und kurz darauf geschlossen. Auch Belzec wurde geschlossen und ein Teil seiner jüdischen Arbeitskräfte in Sobibor erschossen. Die Juden in Sobibor versuchten ebenfalls am 14. Ok-

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tober 1943 den Aufstand. Ein Teil konnte fliehen, die meisten wurden aber getötet und auch Sobibor wurde geschlossen. Die Vernichtungslager waren nicht die einzigen Orte jüdischen Widerstands. In vielen Ghettos, beispielsweise in Wilna und Bia ystok, gab es im Untergrund jüdische Widerstandsorganisationen. Juden kämpften mit Partisanen im Osten und in Jugoslawien, beteiligten sich am Kampf der organisierten Widerstandsbewegungen in Westeuropa und in der Widerstandsgruppe um Herbert Baum sogar in Berlin. Der bekannteste Fall bewaffneten Widerstandes ereignete sich im großen Warschauer Ghetto. Nachdem die meisten Juden 1942 und Anfang 1943 bereits nach Treblinka deportiert worden waren, stieß der Versuch, die verbleibenden Fabriken und ihre Arbeiter in den Distrikt von Lublin zu verlegen, auf die Weigerung der jüdischen Arbeiter. Die SS wollte die Juden am 19. April mit Gewalt evakuieren, doch begegnete ihr bewaffneter Widerstand. SS- und Polizeiführer Jürgen Stroop brauchte bis zum 16. Mai, um die Revolte niederzuschlagen, die Juden ermorden oder deportieren zu lassen und das Ghetto niederzubrennen. Die Aufstände in Warschau, Treblinka und Sobibor brachten Himmler zu dem Entschluß, die letzten Juden in den Arbeitslagern um Lublin ermorden zu lassen. Am 3. und 4. November 1943 führte die SS diesen Befehl aus. Etwa 40 000 Juden wurden erschossen, ein Teil in den Arbeitslagern wie beispielsweise Trawniki und Poniatowa und andere, die aus den Lagern von Lublin kamen oder nach Lublin gebracht worden waren, im Konzentrationslager Majdanek. Die Deutschen bezeichneten dieses Massaker als „Erntefest“.

Auschwitz Nach der Schließung der Lager der „Aktion Reinhard“ blieb nur ein Vernichtungslager in Betrieb. Das war Auschwitz, wo insgesamt etwa 1100 000 Menschen, überwiegend Juden, ermordet worden sind. Auschwitz (Oswie¸cim) war ursprünglich als Konzentrationslager für polnische politische Gefangene gedacht. Es wurde am 30. April 1940 eröffnet, als Lagerkommandant Rudolf Höß und fünf SS-Männer in Auschwitz eintrafen. Sein Zweck sollte sich jedoch bald ändern. Im Sommer 1941 teilte Himmler Höß mit, daß Auschwitz zu den Orten gehöre, an denen der Mord an den Juden ausgeführt werden sollte. Im Herbst 1941 experimentierte die SS mit einem neuen Tötungsmittel: Zyklon B, einem Pestizid aus Hydrogenzyanid (Blausäure), das in allen Konzentrationslagern bei der Ausräucherung der Baracken benutzt wurde. Experimentiert wurde an sowjetischen Kriegsgefangenen, doch bald kamen die ersten Transporte jüdischer Gefangener, die mit dem Gas ermordet wurden. Zur Vergrößerung des Lagers begann die SS im Oktober 1941 in Birkenau mit dem Bau von weiteren Anlagen, die etwa drei Kilometer vom Stammlager entfernt waren und in denen Zehntausende von Gefangenen untergebracht werden sollten. Bald wurden die Vergasungen vom Krematorium in Auschwitz in zwei Bauernhäuser auf dem Gelände von Birkenau verlegt. Aus allen Teilen Europas kamen nun Transporte mit Juden, die sogenannten „RSHA-Transporte“. Auschwitz war anders als alle anderen Vernichtungslager. Es umfaßte ein Konzentra-

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tionslager in Auschwitz und ein Mordzentrum in Birkenau. Dennoch wurde eine große Zahl der Gefangenen nicht nur in Auschwitz, sondern auch in Birkenau festgehalten. Außerdem entwickelte Auschwitz sich bald zu einem riesigen Lager für Sklavenarbeit. „Ab Frühjahr 1941 wurden ständig Häftlinge aus dem Konzentrationslager Auschwitz der IGFarbenindustrie zur Errichtung eines Buna-Werkes ca. 7 km vom Lager entfernt zur Verfügung gestellt. Die IG-Farbenindustrie errichtete 1942 für die Häftlingsarbeiter, die zunächst täglich den Weg von und zum Werk zurücklegen mußten, in unmittelbarer Nähe des Buna-Werkes das Häftlingsarbeitslager Monowitz. Weitere kleinere Häftlingslager entstanden bei anderen Industriebetrieben im oberschlesischen Raum aber auch in weiterer Entfernung (z. B. bei Brünn), so daß schließlich zum KL Auschwitz nicht nur das zunächst errichtete Lager (Stammlager) und das Lager Birkenau, sondern außer Monowitz, dem größten der Außenlager, weitere 38 Außenlager gehörten.“11 Schließlich waren es so viele Gefangene, daß die SS allen Gefangenen außer den „arischen“ Deutschen ihre Nummer auf den Arm tätowieren ließ. Auch die Verfahrensweise in Birkenau war anders. Die Juden aus den ankommenden „RSHA-Transporten“ wurden direkt an der Rampe „selektiert“ und bis zu 15% der Arbeitsfähigen zur Zwangsarbeit im Lager eingeteilt. Alle anderen, auch Frauen und Kinder, wurden sofort in die Gaskammer geschickt. Zusätzlich wurden jüdische Gefangene im Lager, die nicht mehr arbeitsfähig waren, in regelmäßigen Abständen „selektiert“ und in den Gaskammern ermordet. Nicht-jüdische Gefangene, vor allem Polen, wurden ebenfalls auf verschiedenste Weise getötet, unter anderem mit tödlichen Injektionen. Wie an anderen Orten starben die Gefangenen außerdem an Hunger, Erschöpfung und Krankheiten. Die Plünderungen aus den „RSHA-Transporten“ führten zu Korruption in großem Maßstab, und das ungeheure Reservoir der Gefangenen gab skrupellosen Ärzten die Gelegenheit zu mörderischen medizinischen Versuchen. Der fabrikmäßige Massenmord in Birkenau ließ angesichts der unvorstellbaren Grausamkeit des Lagerlebens jeden abstumpfen. Das zeigen beispielsweise die Tagebuchnotizen des Untersturmführers Prof. Dr. med. habil. Johann Paul Kremer: 2. Sept. 1942 / Zum 1. Male um 3 Uhr früh bei einer Sonderaktion zugegen. Im Vergleich hierzu erscheint mir das Dante’sche Inferno fast wie eine Komödie. Umsonst wird Auschwitz nicht das Lager der Vernichtung genannt! // 5. September 1942 / Heute mittag bei einer Sonderaktion aus dem F. K. L. (Muselmänner): das Schrecklichste der Schrecken. Hschf. Thilo – Truppenarzt – hat Recht, wenn er mir heute sagte, wir befänden uns hier am anus mundi. Abends gegen 8 Uhr wieder bei einer Sonderaktion aus Holland. Wegen der dabei abfallenden Sonderverpflegung, bestehend aus einem fünftel Liter Schnaps, 5 Zigaretten, 100 g Wurst und Brot, drängen sich die Männer zu solchen Aktionen. Heute und morgen (Sonntag) Dienst.12

Im Spätfrühling 1943 errichtete die SS in Birkenau vier Gebäude, jedes mit einer Gaskammer und einem Krematorium, wodurch die Mordkapazitäten von Auschwitz stark ver11 21 Justiz und NS-Verbrechen: Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen. Hrsg. von Adelheid L. Rüter-Ehlermann und C. F. Rüter. 22 Bde., Amsterdam 1977, Bd. 21, Nr. 595a: LG Frankfurt, 19.–20. Aug. 1965, 4 Ks 2/63 (zit. als JuNSV). 12 JuNSV, Bd. 17, Lfd. Nr. 500, LG Münster, Urteil 1960, 6 Ks 2/60, S. 7f.

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größert wurden. Die Morde erreichten in den Sommermonaten des Jahres 1944 ihren Höhepunkt, als die ungarischen Juden, die Juden aus dem Ghetto von ¸ódz und die Zigeuner im Zigeunerlager von Birkenau ermordet wurden. Da die Mordkapazitäten bis an ihre Grenzen ausgelastet wurden und der Bedarf an Zwangsarbeitern stieg, wurden „junge, gesunde und kräftige jüdische Häftlinge beiderlei Geschlechts zeitweilig als sogenannte Deport-Häftlinge in diverse Baracken in Birkenau eingewiesen, jedoch nicht in die Lagerregister aufgenommen“13. Ohne Tätowierung der Nummer wurden sie schließlich einem der Nebenlager zugewiesen oder in die Konzentrationslager des Reichs gebracht. Am 7. Oktober 1944 revoltierten die jüdischen Mitglieder eines Sonderkommandos, die in den Krematorien arbeiteten. Ein Krematorium wurde zerstört und einige SS-Angehörige wurden getötet, doch der Aufstand wurde niedergeschlagen, und nur einzelne Mitglieder der Sonderkommandos überlebten den Krieg. Drei Krematorien waren weiter in Betrieb, aber mit geringerer Intensität, da immer weniger Transporte aus dem immer kleiner werdenden Gebiet des Deutschen Reichs eintrafen. Angesichts der näherrückenden Ostfront ordnete Himmler am 26. November das Ende der Vergasungen und die Zerstörung aller restlichen Krematorien in Birkenau an.

1945, das Jahr der Befreiung Die letzten vier Monate der Nazi-Lager begannen am 18. Januar 1945 mit der Evakuierung von Auschwitz. Am 15. Januar 1945, unmittelbar vor der Evakuierung, hielten sich in den Konzentrationslagern 714 211 Gefangene, 511 537 Männer und 202 674 Frauen, auf. Mindestens ein Drittel dieser Menschen starb vor der Befreiung. Zu dieser Zeit hatte sich Himmlers Befehl von 1942 umgekehrt, alle deutschen Lager von Juden zu „säubern“. Juden machten vermutlich ein Drittel aller Gefangenen in den Konzentrationslagern aus. In den letzten Monaten teilten sie das Schicksal der anderen Gefangenen. Mit dem Vorrücken der Alliierten und den Gebietsverlusten der Deutschen breitete sich in den Lagern das Chaos aus. In diese Zeit, als die erschöpften Menschen auf der Flucht vor den herannahenden Alliierten von Lager zu Lager getrieben und die, die nicht mehr gehen konnten, von der SS erschossen wurden, fielen die Todesmärsche und Todestransporte. Ein jüdisches Mädchen beschrieb Jahre später seine Erlebnisse: Diesmal ging es zu Fuß vorwärts. Wir hatten unsere Decken und ein Eßgeschirr zu tragen, sonst nichts. Sonst nur die schlechten Kleider, die wir anhatten […] Es waren die ersten Februartage von 1945, noch immer sehr kalt, wir schleppten uns die Landstraße entlang, durch die Dörfer. Langsam und immer am Rand totaler Erschöpfung. Wann wird das alles aus sein?14

Am 30. April 1945 nahm Hitler sich in seinem Berliner Bunker das Leben und am 8. Mai unterzeichneten die militärischen Führer Deutschlands die Gesamtkapitulation. Die Befrei13

Danuta Czech, Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939– 1945, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 699. 14 Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1992, S. 164.

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ung war für Europa gekommen, für etwa eine halbe Million Gefangene der Konzentrationslager und für die Juden, die überlebt hatten. Die Zahl der jüdischen Mordopfer des NS-Regimes wird man niemals genau ermitteln können. Der Historiker Raul Hilberg hat ihre Mindestzahl auf der Grundlage der Quellen von Deportationen und Mordaktionen auf 5 100 000 ermordete Juden geschätzt. Die aufgerundete Zahl von sechs Millionen Todesopfern, von der weithin ausgegangen wird, ist nicht unwahrscheinlich. Die Mehrheit der überlebenden Juden verließ Europa, besonders im Fall Deutschlands, Österreichs und Polens. Die Zentren jüdischen Lebens verlagerten sich nach Übersee. Eines dieser Zentren ist der Staat Israel geworden, der im Gefolge der Schoa entstand. Ein weiteres Zentrum sind die Vereinigten Staaten, die bedeutendste Gemeinschaft der Diaspora. Europa, das mehr als ein Jahrtausend als Zentrum der aschkenasischen Juden von überragender Bedeutung für das Judentum insgesamt war, ist im Vergleich dazu unbedeutend geworden. (Übersetzt von Eva-Maria Ziege)

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Antisemitismus in Europa nach 1945 Rückblickend mag man erwarten, daß der Mord an den europäischen Juden nach Kriegsende jedem Antisemitismus sogleich den Boden entzogen habe, doch war dies keineswegs der Fall. Vielmehr war gerade das erste Nachkriegsjahrzehnt in vielen europäischen Ländern durch einen virulenten Judenhaß gekennzeichnet, sei es in der Bevölkerung, sei es in der staatlichen Politik. Form und Ausmaß dieses Antisemitismus sind durch zwei Faktoren bestimmt: einmal durch die antisemitische Tradition eines Landes, zum anderen durch seine Lage diesseits oder jenseits des Eisernen Vorhangs. Dabei nimmt mit dem zeitlichen Abstand zum Zweiten Weltkrieg die nationale Prägung durch die Tradition eher ab, und es bilden sich gemeinsame Einstellungsmuster in Osteuropa einerseits und im übrigen Europa andererseits, wobei die Bundesrepublik und Österreich, hingegen nicht die DDR, als Nachfolgestaaten des „Großdeutschen Reiches“ eine besondere Form des „sekundären Antisemitismus“ entwickeln, in dem es um eine Abwehr von Schuld und Wiedergutmachungsansprüchen seitens der Juden geht. Der „Antisemitismus nach Auschwitz“ unterscheidet sich von der traditionellen Judenfeindschaft und von seiner rassistischen Zuspitzung, die nach 1945 wieder an Bedeutung verliert, auf dreierlei Weise: 1) Er muß auf den Völkermord reagieren, sei es durch seine Leugnung oder eine Schuldprojektion auf die Juden; 2) er ist in den meisten europäischen Ländern ein Antisemitismus ohne Juden; und 3) er muß seit 1948 die Existenz und die Politik eines jüdischen Staates ideologisch integrieren.

Die Nachkriegsjahre Für viele überlebende Juden war mit dem Ende des Krieges noch keineswegs das Ende von Gewalt, Verfolgung und Flucht gekommen. In Polen, das vor dem Krieg mit über drei Millionen die größte jüdische Bevölkerung besessen hatte und dieser seit Ende der dreißiger Jahre immer feindseliger begegnet war, sahen sich die aus der Sowjetunion, den Vernichtungslagern und dem Untergrund zurückkehrenden Juden gewalttätigen Angriffen ausgesetzt, denen in Pogromen wie in Kielce 1946 und Mordaktionen über 300 Menschen zum Opfer fielen. Den Hintergrund bildeten die Bürgerkriegssituation, die Brutalisierung des Antisemitismus durch die Naziherrschaft, die unterstellte Identifikation der Juden mit dem Sowjetkommunismus, den der antikommunistische und nationalistische polnische Untergrund bekämpfte, sowie Versuche der Bevölkerung, auf diese Weise die Rückgabe jüdischen Besitzes zu verhindern. Diese Welle von Gewalt führte zur Flucht von ungefähr 100 000 Juden in die DP-Lager der westlichen Besatzungszonen Deutschlands. Die heimkehrenden Juden erwartete auch in Tschechien ein unfreundlicher Empfang,

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insbesondere wenn es um die Restitution von früherem Besitz ging. Die deutschsprachigen Juden wurden denselben staatlichen Diskriminierungen unterworfen wie die Sudetendeutschen (etwa mit der Auflage, eine weiße Armbinde zu tragen), ohne daß sich öffentliche Kritik erhob. In Ungarn, dessen Juden kurz vor Kriegsende unter Beteiligung der ungarischen Polizei deportiert und ermordet worden waren und wo nach dem Krieg die größte jüdische Gemeinde in Osteuropa überlebt hatte, finden wir in dieser Phase antijüdische Gewaltakte wegen der Rückgabe von jüdischem Eigentum und angeblicher Schwarzmarktaktivitäten von Juden. Ab 1948 wurden die Juden mit dem verhaßten Sowjetkommunismus identifiziert, da sie bis zum Aufstand 1956 in der Kommunistischen Partei und im Sicherheitsapparat Karriere machen konnten, wie beispielsweise der Generalsekretär der KP, Rákosi. Später blieb jedoch der Antisemitismus in Ungarn im Vergleich zu den anderen Ostblockstaaten während der vierzig Jahre kommunistischer Herrschaft relativ gemäßigt, was sich in der geringen Abwanderung der großen jüdischen Minderheit zeigt, die allerdings wie in allen anderen Ostblockstaaten einem hohen Assimilationsdruck ausgesetzt war und zum Teil auch die Chancen zur Mitarbeit im System nutzte. Verband sich in Polen und Ungarn (ab 1948) nationaler Antisemitismus mit der Abwehr des sowjetischen „Judäokommunismus“, so nahm die Sowjetunion bis 1948 eine judenfreundliche Position ein, was sich etwa in der Unterstützung der Gründung des Staates Israel zeigte. Als sich die Hoffnung auf ein sozialistisches Israel nicht erfüllte und die sowjetischen Juden Sympathie für Israel bekundeten, begann Stalin, der zu einem paranoiden Antisemiten wurde, ab 1948 mit der Entfernung der Juden aus dem öffentlichen Leben der Sowjetunion. Der erste Schritt war die Auflösung des Antifaschistischen Jüdischen Komitees, dessen Mitglieder verhaftet und 1952 zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden. In dem geheimen Verfahren hatte man sie abenteuerlicher Verbrechen beschuldigt. Die Juden zählten zu den Opfern zweier sich scheinbar widersprechender Kampagnen: der Anti-Kosmopolitismus-Kampagne, die die sowjetischen Künstler und Intellektuellen von westlichen Einflüssen abschotten sollte, und der Anti-Nationalismus-Kampagne, die sich gegen jeden nicht-russischen Nationalismus richtete und zum Terror auch gegen andere Minoritäten führte. Die Beschimpfung als „wurzelloser Kosmopolit“ entwickelte sich zu einem Synonym für „Jude“. Die wichtigsten kulturellen Einrichtungen wurden geschlossen und man begann, die Juden aus Spitzenpositionen in Partei, Bürokratie und Universitäten zu verdrängen. „Stalins Krieg gegen die Juden“ gipfelte kurz vor seinem Tod in der sogenannten „Ärzteverschwörung“, in der mehrere Kreml-Ärzte, darunter einige Juden, beschuldigt wurden, sie hätten hohe Sowjetführer zu vergiften versucht und ihre Instruktionen vom American Joint Distribution Committee bekommen. Der große „Ärzteprozeß“ und die Pläne zu einer Massendeportation von Juden blieben nur durch Stalins Tod am 5. März 1953 unausgeführt. Die stalinistische antijüdische Politik griff seit den frühen fünfziger Jahren auf die anderen Ostblockstaaten über. In Rumänien wurden in Säuberungen, die auch die Eliten anderer ethnischer Gruppen und der Kirche trafen, zwischen 1949 und 1954 führende jüdische

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Parteifunktionäre (Anna Pauker, Josif Chisinevschi) ausgeschlossen und exiliert, außerdem wurde die gesamte Führung des Demokratischen Jüdischen Komitees festgenommen. Die Auswanderung von Juden, die bereits 1944 begonnen hatte, führte bis 1975 ca. 300 000 Personen außer Landes, in dem jetzt nur noch 9000–15 000 Juden leben. Im Nachbarland Bulgarien vertrieb die Sicherheitspolizei Juden in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren. In der Tschechoslowakei, in der der Antisemitismus keine starke Tradition besaß, wurde unter Ausnutzung parteiinterner Rivalitäten ein Prozeß gegen den jüdischen Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Rudolf Slánsky, und dreizehn andere führende Kommunisten, darunter elf Juden, inszeniert. Man warf den Angeklagten eine Zusammenarbeit mit dem Zionismus, Trotzkismus und dem westlichen Imperialismus vor und richtete elf von ihnen im Jahre 1952 hin. Nachdem in der Säuberungswelle der SED gegen „Westemigranten“ 1949/50 bereits eine ganze Reihe jüdischer SED-Mitglieder ausgeschlossen, verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt worden war, wurde die Antizionismus-Kampagne 1952/53 in der DDR spürbar, auch wenn Stalins Weg einer offenen Judenverfolgung dort undenkbar war. Statt dessen machte man Paul Merker, der zwar kein Jude war, den man aber zionistischer Auffassungen und der „Verschiebung von deutschem Volksvermögen“ bezichtigte, den Prozeß, weil er sich für eine Rückerstattung des während des Nationalsozialismus enteigneten Eigentums auch an emigrierte Juden eingesetzt hatte. Stalins Tod rettete ihn wohl vor einem antisemitischen Schauprozeß. Er blieb jedoch in Haft und wurde 1955 verurteilt und 1956 dann freigesprochen. In der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR, in der laut Volkszählung im Jahre 1946 einschließlich Ost-Berlins ca. 4500 Juden lebten, läßt sich in den ersten Nachkriegsjahren in der Bevölkerung ein massives Fortleben antijüdischer Ressentiments erkennen, das sich 1947 in einer Welle von Friedhofsschändungen und anderen Zwischenfällen in der Ost- und in den Westzonen offenbarte. Die Führung der KPD und später der SED trat dem aus ihrem antifaschistischen Selbstverständnis entgegen, und die überlebenden Juden wurden als „Opfer des Faschismus“ anerkannt und erhielten, sofern sie im Lande lebten, Wohnung und Eigentum zurück und wurden in vielfältiger Weise bevorzugt behandelt. Allerdings wurden sie gegenüber den kommunistischen „Kämpfern gegen den Faschismus“ zurückgesetzt. Bis zum Vorabend der Gründung der DDR dominierte in der SED-Politik eine hilfsbereite und aufklärerische Haltung gegenüber den Juden, die sich auch in einer proisraelischen Position im Nahostkonflikt ausdrückte. Viele linksgerichtete jüdische Intellektuelle kehrten deshalb aus der Emigration in die antifaschistische SBZ zurück (Ernst Bloch, Stefan Heym, Arnold Zweig u. a.). Zum Konfliktpunkt sollte die Frage der Restitution jüdischen Eigentums an emigrierte Juden und die Wiedergutmachung für Israel werden. Der sowjetische antisemitische Druck und die aufgeladene Atmosphäre während des Slánsky-Prozesses im Nachbarland wirkten sich 1952/53 auch auf die Haltung der SED zu den jüdischen Gemeinden aus, die in ihrer Arbeit behindert und deren Büros vom Staatssicherheitsdienst durchsucht wurden. Führende jüdische Gemeindevertreter wurden aufgefordert, den Slánsky-Prozeß zu billigen, den Antisemitismus in den sozialistischen Staaten als Propagandalüge zurückzuweisen und Israel als faschistischen Staat zu denunzie-

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ren. Diesem Druck entzogen sich Anfang 1953 mehrere hundert Juden durch Flucht in den Westen, darunter die meisten führenden Gemeindevertreter, ein Aderlaß, von dem sich die Gemeinden nicht wieder erholen sollten. Dennoch erreichte die Kampagne gegen „Trotzkisten, Zionisten, Freimaurer“ nicht das Ausmaß wie in der UdSSR und CˇSR, sondern blieb Episode. Mit Stalins Tod und der Rehabilitierung der Kreml-Ärzte endete der Druck auf die jüdischen Gemeinden. In den Westzonen Deutschlands bestanden in der Bevölkerung trotz aller Entnazifizierungs- und Umerziehungsbemühungen der Alliierten antijüdische Haltungen ebenfalls massiv weiter. Meinungsumfragen der Amerikaner zeigen, daß 1946 mindestens 40% der Deutschen als antisemitisch einzustufen waren, wobei diese Vorurteile bis Anfang der fünfziger Jahre eher zu- als abnahmen. Insbesondere die jüdischen Displaced Persons (DPs), die bis in die fünfziger Jahre hinein in Lagern und requirierten Wohnungen blieben, wurden als Schwarzhändler und Kriminelle angesehen und projektiv als „Gefahr für die Deutschen“ hingestellt. 1947 durchlief eine Welle von Friedhofsschändungen und antijüdischen Tumulten, so bei der Einweihung der neuen Münchener Synagoge, die Westzonen. Die Entschädigung der NS-Opfer basierte auf Direktiven der Besatzungsmächte, stieß aber bei der Bevölkerung eher auf Ablehnung, da man darin eine Bevorzugung gegenüber den Kriegswitwen, Ausgebombten und Vertriebenen sah. Es waren vor allem die Alliierten und die ehemaligen NS-Verfolgten selbst, die sich öffentlich gegen antisemitische Vorkommnisse wandten. Eine ganze Reihe führender jüdischer Funktionäre verließ Deutschland wegen des „Kalten Krieges gegen die Opfer“ wieder. Mit Gründung der Bundesrepublik setzte eine Politik ein, die einmal auf die Integration und Amnestierung belasteter Personen zielte, einschließlich der als Kriegsverbrecher verurteilten, und die mit der Zulassung auch rechtsextremer Parteien zu einem Hervortreten nationalistischer und nazistischer Anschauungen führte, die andererseits – gegen die Mehrheit der Bevölkerung – aber auch eine Aussöhnung mit den Juden und Wiedergutmachungszahlungen an Israel einschloß, die 1952 im Luxemburger Abkommen vereinbart wurden. Nach regionalen Wahlerfolgen wurde schließlich 1952 die neonazistische Sozialistische Reichspartei (SRP) vom Bundesverfassungsgericht verboten, was den organisierten Rechtsextremismus für ein Jahrzehnt aus der Politik ausschaltete. Die Jahre 1949 bis 1952 waren jedoch von einer ganzen Reihe von Skandalen und öffentlichen Konflikten über Antisemitismus gekennzeichnet (Boykott der neuen Filme des NS-Regisseurs Veit Harlan, der „Jud Süß“ gedreht hatte, die Auerbach-Affäre u. a.). Danach kehrte bis in die späten fünfziger Jahre Ruhe ein. In Österreich waren aufgrund der von den Alliierten in der Moskauer Deklaration anerkannten Rolle des Landes als „erstes Opfer des Nationalsozialismus“ der alliierte Druck und die eigene Bereitschaft noch geringer als in Westdeutschland, die jüdischen Opfer zu entschädigen, Emigranten zurückzurufen, eine strenge Entnazifizierung durchzuführen und Massenmörder vor Gericht zu stellen. Anders als in Deutschland wurde ein gewisser Philosemitismus nicht zur politischen Grundlage der Innen- und Außenpolitik. Statt dessen unternahm man große Anstrengungen zur Reintegration ehemaliger Nazis, die von der 1949 gegründeten Partei „Verband der Unabhängigen“ (VdU) repräsentiert wurden. Antisemiti-

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sche Einstellungen waren in der Bevölkerung sehr ausgeprägt und reichten bis in die Reihen der Sozialdemokratie hinein. Der alte katholische und christlich-soziale Antisemitismus lebte kaum gebrochen fort und verband sich mit dem NS-Antisemitismus und der Ablehnung der besser versorgten und als Schwarzhändler verschrienen ostjüdischen DPs, die sich in Tirol und im Vorarlberg zu Aufrufen zur Vertreibung der „Volksschädlinge“ und zu Tumulten steigerte (Bad Ischl, Trofaiach, Judenberg). Auch der kleinen Israelitischen Kultusgemeinde in Österreich, die Ende 1945 nur ca. 4000 Mitglieder hatte, eine Zahl, die bis 1949 auf 8000 anwachsen sollte, zeigte man die kalte Schulter. Die westeuropäischen Länder waren nach Kriegsende ebenfalls nicht frei von Antisemitismus. Insbesondere für Frankreich, das in den dreißiger Jahren eine Welle von Antisemitismus und Xenophobie erlebt hatte, die in den Kampagnen der Action Française gegen die Volksfrontregierung des jüdischen Premierministers Léon Blum gipfelte, belegt eine Meinungsumfrage aus dem Jahre 1946 eine feindselige Einstellung zu Juden bei einem guten Drittel der Franzosen. Die französische Gesellschaft schuf sich den Resistance-Mythos und schwieg über die Kollaboration mit den Deutschen bei der Judenverfolgung. Im ersten Jahrzehnt blieb der Antisemitismus jedoch nicht auf latente Einstellungen beschränkt, sondern fand politischen Ausdruck in der nationalistischen und katholischen Rechten, die sich insbesondere gegen den 1954 gewählten jüdischen Premier Mendès-France richteten. Mitte der fünfziger Jahre war es dann die rechtspopulistische Poujade-Bewegung, die unter dem alten Schlagwort der „République juive“ die Rolle der Juden in Staat und Wirtschaft kritisierte und 1956 in den Wahlen zur Nationalversammlung 11% der Stimmen erreichte. Der Antisemitismus wurde durchaus als politisches Instrument eingesetzt, doch stand dem in der französischen Gesellschaft eine aktive antirassistische und anti-antisemitische Strömung entgegen. In England, wo Antisemitismus weder in der Politik noch in der Bevölkerung eine größere Bedeutung besaß und nur in Form des sozialen, Juden aus bestimmten gesellschaftlichen Kreisen ausschließenden Snobismus auftrat, spielte der jüdische Untergrundkampf in Palästina für das Aufkommen antijüdischer Stimmungen die entscheidende Rolle, nachdem diese eigenartigerweise schon während des Krieges angewachsen waren. Als 1947 zwei britische Offiziere von der Irgun Zvai Leumi, einer militärischen Untergrundorganisation in Palästina, erschossen wurden, kam es in mehreren englischen Städten zu antijüdischen Ausschreitungen, und antijüdische Einstellungen bildeten sich in der Armee in Palästina und im proarabischen Foreign Office, wo man die Gründung Israels ablehnte. Gegenüber den DPs in der britischen Besatzungszone Deutschlands, die nach Israel einwandern wollten, verfolgte man eine restriktive Politik, wie sie sich im Fall der „Exodus“ besonders kraß manifestierte. (Das Schiff „Exodus“, das jüdische DPs nach Palästina bringen sollte, wurde von den Briten zur Umkehr gezwungen.) In anderen europäischen Ländern trat Antisemitismus in dieser Phase kaum hervor (Schweiz, Skandinavien, Jugoslawien) oder lebte in seiner christlich-traditionellen Form primär in rückständigen ländlichen Gebieten fort, etwa in Spanien.

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Die ruhigen Jahre: 1953–1967 Mit dem Ende der Nachwehen des Zweiten Weltkriegs und des Stalinismus, der Lösung des DP-Problems und der Gründung des Staates Israel spielte Antisemitismus in Europa bis zum Sechs-Tage-Krieg – mit Ausnahme der Phase von 1958 bis 1962 – öffentlich keine große Rolle mehr. Statt dessen begannen sich etwa durch Bücher wie das Tagebuch der Anne Frank, durch zeithistorische Forschung und vor allem durch den Eichmann-Prozeß (1961) das Bild vom Juden als Opfer des Holocaust und ein Gefühl der Mitschuld durchzusetzen. Die Weihnachten 1959 in Köln ihren Ausgang nehmende, sich aber dann weltweit ausbreitende antisemitische Schmierwelle führte zudem die Versäumnisse in der Bekämpfung der Judenfeindlichkeit drastisch vor Augen. Politik, Kirchen und Erziehungseinrichtungen befragten kritisch die eigene Tradition, so daß im Protestantismus und in der Katholischen Kirche (Nostra Aetate), nicht aber in den griechisch- und serbisch-orthodoxen Kirchen ein Prozeß des Umdenkens gegenüber dem Judentum einsetzte und man in Politik und Medien jedes Auftreten von Antisemitismus bekämpfte. Dies gilt natürlich primär für Mittel-, Nord- und Westeuropa, doch auch in den Ostblockstaaten, die trotz ihrer antizionistischen Position bis 1967 diplomatische Beziehungen zu Israel unterhielten, blieb der Antisemitismus in dieser Phase bei aller Ablehnung des Judentums als Religion relativ „gemäßigt“. Antizionistische und antisemitische Propaganda konnte in der Ära Chruschtschow in den sowjetischen Medien erscheinen, und die Publikation des Buches Judentum ohne Beschönigung von Trofim Kitschko rief 1963 mit seinen Karikaturen im „Stürmer-Stil“ weltweite Proteste hervor und wurde zurückgezogen. Die Existenz von Antisemitismus wurde aber ebenso verschwiegen wie der Völkermord an den Juden, was 1959–1961 zur sogenannten Babi-Jar-Affäre führte, in der um die explizite Erwähnung der jüdischen Opfer gestritten wurde. Der Dichter Evgenij Evtusˇ enko thematisierte diese Nicht-Erwähnung in seinem Gedicht „Babi Jar“ (1961) als Ausdruck von Antisemitismus und zog sich den Zorn der KPdSU und Chruschtschows zu. In dieser Phase diente der Antisemitismus jedoch nicht länger als Mittel zur Legitimierung kommunistischer Herrschaft. Eine Ausnahme bildete hier Polen, wo in der Systemkrise vom Oktober 1956 der zwischen 1948 und 1955 unterdrückte Antisemitismus – zusammen mit antisowjetischen und antikommunistischen Gefühlen – sowohl in der Intelligenzia wie unter den Arbeitern wieder zum Vorschein kam, zum Teil sogar in offenen Übergriffen und antijüdischen Forderungen, so daß die Presse öffentlich davor warnte. Diese Ressentiments gegen die „Macht der Juden“ in Polen, die auch im Parteiapparat weit verbreitet waren, nutzte die Natolin-Fraktion in den Fraktionskämpfen der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, um Opponenten zu diskreditieren, die eigene Macht zu vergrößern und politische Unterstützung in der Bevölkerung zu gewinnen. Antisemitismus blieb auch danach ein Mittel in den Fraktionskämpfen (Moczar-Fraktion), indem Juden die nationale Zuverlässigkeit abgesprochen wurde. In den frühen sechziger Jahren wurden Funktionäre jüdischer Herkunft zunehmend aus der Partei und dem Sicherheitsapparat herausgedrängt. Auch in Ungarn gab es in den Machtkämpfen der Nomenklatura antijüdische Elemente.

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Hier brachte der Aufstand von 1956 die Ablösung der am meisten belasteten prominenten jüdischen Kader in der Parteiführung und Geheimpolizei sowie die Einführung einer jüdischen Quote für führende politische Positionen, doch hatte der Aufstand keine antisemitische Stoßrichtung, und es gab keine generelle „antijüdische Säuberungspolitik“ unter dem Kádár-Regime. Schon aufgrund ihres größeren Bevölkerungsanteils blieben hier mehr Juden als in anderen Ostblockstaaten in der Partei aktiv. Dies mag dazu beigetragen haben, daß der Antizionismus schwächer ausfiel, die Partei das Thema „Juden“ nicht anschnitt und Antisemitismus strafrechtlich verfolgt wurde. In der DDR war das gute Einvernehmen zwischen den jüdischen Gemeinden und dem Staat nach 1953 zerstört und hatte einer wachsenden Entfremdung Platz gemacht. Die Gemeinden blieben während der fünfziger und sechziger Jahre von Partei und Staat weitgehend unbeachtet, Berichte der Staatssicherheit und der Volkspolizei bescheinigten ihnen in den fünfziger Jahren eine positive Einstellung zur DDR. Kontakte zu Israel wegen dessen Wiedergutmachungsforderungen verliefen Mitte der fünfziger Jahre ergebnislos. Ab 1956 suchte die DDR Partner im arabischen Raum, um auf diese Weise die westdeutsche „Hallstein-Doktrin“ zu durchbrechen. Dabei sah die SED geflissentlich über den arabischen Antisemitismus und Antizionismus hinweg und betonte, daß ihr eigener Antizionismus (Krieg gegen Israel als Friedenssicherung) nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen sei, den sie vorrangig in der Bundesrepublik verortete. Dort wurden die ruhigen fünfziger Jahre ab 1958 von einer Häufung antisemitischer Skandale abgelöst, die in der erwähnten Schmierwelle von 1959/60 gipfelten. Diese Welle setzte die bundesdeutsche Regierung innen- wie außenpolitisch unter Druck, da sie als Zeichen für die nicht überwundene NS-Vergangenheit insbesondere in Justiz, Schule und Politik (Fall Globke, Fall Oberländer) gesehen wurde. Tatsächlich lösten diese Skandaljahre eine Umsteuerung in Schulen, Universitäten, Kirchen und anderen Institutionen aus, und die deutsche Justiz begann mit der Gründung der Zentralen Stelle in Ludwigsburg (1958), NS-Gewaltverbrechen energischer zu verfolgen. Der öffentlich propagierte Philosemitismus und eine zunehmende Bewunderung der Aufbauleistungen Israels, insbesondere in der linken akademischen Jugend, waren trotz des Fortlebens antisemitischer Einstellungen bei vielen Deutschen in diesen Jahren so stark, daß sich die seit Mitte der sechziger Jahre bei Landtagswahlen erfolgreiche rechtsextreme NPD mit antisemitischen Aussagen zurückhielt, während in diesen Jahren in England eine jüngere Generation von Neonazis antisemitische Agitation betrieb. Auch Österreich erlebte 1965 mit der Affäre Borodajkewycz einen öffentlichen Konflikt, in dem der Wiener Ökonomieprofessor, der sich mehrfach nationalistisch und abfällig über Juden geäußert hatte, nach gegen ihn gerichteten Demonstrationen, bei denen ein Student in einer Auseinandersetzung zwischen rechten Burschenschaftern und linken Studenten starb, strafweise in den Ruhestand versetzt wurde. Auch hier setzte sich eine antinazistische, politisch aktive Minderheit gegen die schweigende, immer noch antisemitisch geprägte Bevölkerungsmehrheit durch. Die Große Koalition aus ÖVP und SPÖ (1945–1966) beharrte auf der Lebenslüge als erstem „Opfer“, so daß es gegenüber den jüdischen Opfern eine Art stiller Opferkonkurrenz gab und jüdische Ansprüche als Bevorzugung abgelehnt wurden.

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Die von Simon Wiesenthal betriebene Suche nach NS-Verbrechern war vielen Österreichern in den sechziger und siebziger Jahren ein Dorn im Auge, da diese sie an ihre NSVergangenheit erinnerte, der sie sich weder politisch, juristisch noch in der schulischen Erziehung stellten.

Die Wende mit dem Sechs-Tage-Krieg Der Juni-Krieg von 1967 veränderte das Bild Israels grundlegend, das nun als siegreiche Militär- und Besatzungsmacht galt. Die kommunistischen Staaten und die radikale Linke im Westen, insbesondere die Studentenbewegung, reagierten mit einer scharfen Wendung zum Antizionismus, der von antisemitischen Tönen nicht frei war. Es ging damit weltweit ein Riß durch die Linke, da die Gemäßigten für Israel Partei ergriffen. Vor allem in Westdeutschland fand Israel politisch wie öffentlich Unterstützung, aber auch Franco-Spanien verhalf den Juden in Ägypten mit spanischen Pässen zum Verlassen des Landes. In der Sowjetunion der Ära Kossygin begann ab 1967 eine scharf antizionistische Politik, die allerdings zwischen „guten Sowjetjuden“ und „Nazi-Zionisten“ unterscheiden wollte, wohl um den Emigrationswünschen der sowjetischen Juden keine Nahrung zu geben. Sie löste aber eine Welle von populärem Antisemitismus aus. Die sowjetischen Karikaturen dieser Jahre nehmen einerseits eine Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Zionismus vor, wobei letzterer als gelehriger Schüler jenen noch übertrifft. Die Karikaturen stellen andererseits im besten „Stürmer-Stil“ Stereotypen dar, die die Juden als weltbedrohende Gefahr, als Handlanger des US-Kapitalismus und blutrünstigen Aggressor zeigen. Die „antizionistischen Spezialisten“ der siebziger und achtziger Jahre wie Evseev, Begun, Romanenko und andere waren in wissenschaftlichen Akademien tätig. Fast zwanzig Jahre lang sollte diese antizionistische Kampagne, deren Kern die alte, in den Protokollen der Weisen von Zion entworfene, antikapitalistisch umgedeutete Verschwörungstheorie bildete, im Ostblock, in den arabischen Ländern und in der Dritten Welt ihre Wirkung entfalten. Einen Höhepunkt bildete dabei die UN-Resolution von 1975, die Zionismus als „Form von Rassismus“ brandmarkte. Die DDR pflegte bis 1967 einen moderaten Umgang mit Israel, schwenkte dann auf die antizionistische Linie der anderen Ostblockstaaten ein, ohne eine Vorreiterrolle zu spielen. Innenpolitisch begann die Parteiführung Druck auf die Juden, insbesondere auf SED-Mitglieder unter ihnen, auszuüben, um sie zu einer öffentlichen Verurteilung der „zionistischen Aggression“ zu bewegen, durchaus mit Erfolg. Wer gegen die antiisraelische Propaganda protestierte, wie es Eugen Gollomb Anfang der achtziger Jahre tat, wurde fortan öffentlich totgeschwiegen. Man bestand jedoch immer auf einer klaren Trennungslinie zwischen Antisemitismus und Antizionismus. In Polen, wo die „jüdische Frage“ für das kommunistische Regime vom Kriegsende bis 1989 unlösbar mit dem Problem der „Illegitimität“ seiner Herrschaft verknüpft blieb, spielten die Nahostkrise sowie der „Prager Frühling“ eine wichtige Rolle für die 1968 losbrechende antisemitisch-antizionistische Hetzkampagne. Bereits 1967 begann auf An-

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regung Gomu kas und unter Federführung von Innenminister Moczar eine Säuberungsaktion, die sich in erster Linie gegen jüdische Kader in Partei und Armee richtete und von einer intensiven Propaganda begleitet war. Die Ausweitung der Kampagne Anfang 1968 war eine Reaktion auf Studentenproteste gegen die Absetzung eines Dramas von Adam Mickiewicz, so daß das jüdische Thema noch eine antioppositionelle Funktion bekam. Die Entlassungswelle eskalierte und griff auf alle gesellschaftlichen Bereiche über, vor allem Studenten und Professoren waren betroffen. Die studentischen Rebellen wurden wie die übrigen entlassenen Partei- und Staatsbeamten als „unpolnisch“ und als Handlanger des „internationalen Zionismus“ und des „Weltjudentums“ hingestellt. Die meisten Polen jüdischer Herkunft verließen daraufhin das Land. Wie hier in Polen hat in allen kommunistischen Ländern die Tendenz bestanden, ausländische Mächte oder „fünfte Kolonnen“ für interne Probleme verantwortlich zu machen. Die sowjetische Dissidentenbewegung der sechziger Jahre wurde ebenso wie der „Prager Frühling“ als von „zionistischer Seite ausgehende Opposition“ verurteilt (so in einer Resolution des Zentralkomitees der tschechoslowakischen KP). An Polen ist gut zu erkennen, daß seit 1968 das antijüdische Thema in Krisenzeiten immer wieder propagandistisch genutzt wurde, etwa nach den Arbeiterunruhen 1976 sowie während der Zeit der Solidarnosc und nach der Errichtung der Militärregierung zwischen 1980 und 1982. Als einziges Ostblockland brach Rumänien die diplomatischen Beziehungen zu Israel nicht ab. Zwar gab es in der Presse und Literatur gelegentlich antisemitische Ausfälle, doch wurde Antisemitismus unter Ceaus¸escu (Parteiführer von 1965–1989) nicht öffentlich unterstützt, und die Juden genossen größere kulturelle Autonomie als in anderen Ostblockstaaten. Auch Ungarn beschränkte sich nach 1967 auf „Säuberungen“ im Militär und im Außenministerium ohne begleitende antisemitische Propaganda. Hingegen schwang sich ab 1967 das kommunistische, aber blockfreie Jugoslawien zum lautesten Wortführer des Antizionismus und antisemitischer Verschwörungstheorien außerhalb der arabischen Welt auf. Regierung und Presse, von denen diese Kampagnen ausgingen, versuchten gleichzeitig zu verhindern, daß diese Antisemitismus im Lande auslösten. Unter den westlichen Ländern schwenkte die französische Regierung in Reaktion auf den Juni-Krieg am stärksten auf die arabische Seite um, doch nahmen auch andere Regierungen, etwa die Finnlands, eine proarabische Haltung ein. Präsident de Gaulle beschränkte seine Kritik nicht auf Israel, das er als arrogant und aggressiv bezeichnete, sondern nannte die Juden insgesamt elitär, selbstsicher und dominant. Wie auch in Skandinavien, Belgien, Holland und England trat Antisemitismus vor allem in der politischen Linken in der Maske eines haßerfüllten Antizionismus auf, der einseitig den terroristischen „Freiheitskampf der Palästinenser“ unterstützte und Israel als rassistischen und kolonialistischen Staat denunzierte. In Frankreich stand dieser politischen Instrumentalisierung auf der politischen Rechten und Linken in der Bevölkerung jedoch ein Rückgang antisemitischer Einstellungen gegenüber. Die Anerkennung der Juden als „richtige Franzosen“ stieg von 37% im Jahre 1946 auf 60% im Jahre 1966 und wuchs bis 1980 auf 87% (1987: 94%). Der Anteil der Franzosen, die eine Antipathie gegenüber Juden äußerten, sank von zehn Prozent im Jahr 1966 auf ein Prozent zwanzig Jahre später. Wir finden hier in Frankreich – und das gilt auch

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für andere westeuropäische Länder – ein Auseinanderfallen der Haltung der Bevölkerung und der extremen Rechten bzw. in dieser Phase auch der Linken im Land. In Italien war allerdings in den siebziger Jahren eine Zunahme antijüdischer Einstellungen auch in der Bevölkerung und in der Politik zu beobachten, die eine Reaktion auf Israels Politik darstellte und auf den Einfluß des Rechtsextremismus zurückging. Meinungsumfragen der frühen siebziger Jahre belegen für Österreich ein starkes Fortleben antijüdischer Vorurteile, auch wenn manche in der Wahl eines Juden – Bruno Kreisky – zum Kanzler im Jahre 1970 einen Beweis für die Überwindung des Antisemitismus sehen wollten. Kreisky selbst tendierte ebenfalls dazu, ihn als unerheblich anzusehen. Obwohl er Österreich in den siebziger und achtziger Jahren als Transitland für Hunderttausende sowjetischer Juden öffnete und Israels Existenzrecht durchaus anerkannte, wurde Kreisky aufgrund seiner diplomatischen Kontakte zu den Palästinensern und anderen arabischen Führern sowie seiner herben Kritik an Israels Siedlungspolitik zum „schwarzen Schaf“ für Israel und die Juden. Durch die Haltung ihres Kanzlers fühlten sich manche Österreicher in ihrer antijüdischen Haltung bestärkt, die sie nun in die Form des Antizionismus kleideten. Der Jom-Kippur-Krieg von 1973 und die Ölkrise, die die wirtschaftliche Macht der arabischen Länder offenkundig machte, verschlechterten die israelisch-österreichischen Beziehungen, zumal die Solidarität mit Israel generell geringer war als etwa in der Bundesrepublik Deutschland. Wie in anderen westeuropäischen Ländern kritisierte die Linke (und die Rechte) die israelische Besatzungspolitik als rassistisch und expansionistisch. Innenpolitisch kam es 1970 zu einem Konflikt zwischen Kreisky und Wiesenthal, als letzterer nachwies, daß im Kabinett Kreisky vier ehemalige Nationalsozialisten saßen, darunter ein SS-Führer, der daraufhin zurücktreten mußte. Kreisky verteidigte deren NS-Aktivitäten als Jugendirrtum und entfachte eine Kampagne gegen Wiesenthal, in der dieser als „Mossadoder CIA-Agent“, als „Nazi-Kollaborateur“ und von Kreisky höchstpersönlich als „jüdischer Faschist“ denunziert wurde, woraufhin Wiesenthal die österreichische als einzige europäische Regierung hinstellte, in der noch ehemalige Nazis säßen. Dieser Streit eskalierte 1975 zum Fall Kreisky-Wiesenthal-Peter, als Wiesenthal den möglichen Koalitionspartner Kreiskys, Friedrich Peter von der FPÖ, der Beteiligung an Kriegsverbrechen bezichtigte. Darauf verteidigte Kreisky Peter und sprach von einer „zionistischen Einmischung“ in die inneren Angelegenheiten Österreichs. Zwar gab es in der Presse und in der politischen Linken Kritik an Kreiskys Attacken, doch taten sie seiner Popularität keinen Abbruch und brachten ihm sogar den Beifall der Neonazis ein. Die Kanzlerschaft eines Juden, der als Verfolgter den Österreichern Absolution erteilte, eine Studentenbewegung, die weniger explizit als in der Bundesrepublik Fragen nach der NS-Vergangenheit stellte, und geringer internationaler Druck führten dazu, daß sich Österreich bis zur Waldheim-Affäre nur wenig mit seiner NS-Vergangenheit und seinem Antisemitismus auseinandersetzen mußte. In Westdeutschland kam es mit dem Sechs-Tage-Krieg zu einer Verkehrung der Positionen, da sich nun Teile der akademischen, vorher proisraelischen Linken neomarxistisch und antiimperialistisch orientierten und eine israelkritische, ja -feindliche Haltung einnahmen, während die SPD und die Gewerkschaften auf der Seite Israels blieben und große

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Teile der Bevölkerung und die Konservativen für Israel Partei ergriffen. Auch die Regierung verfolgte im Vergleich zu anderen europäischen Staaten eine proisraelische Linie. Als 1969 der israelische Botschafter Ben Nathan in mehreren Universitäten von Teilen der Studentenschaft am Reden gehindert und ausgebuht wurde, bemühten Politiker, Intellektuelle und die Presse Vergleiche mit dem Vorgehen der SA und bezichtigten die Studenten des Linksfaschismus. Die Identifikation mit den Freiheitsbewegungen der Dritten Welt, also auch mit der PLO, und die antikapitalistische Haltung der radikalen Studenten mündeten in einen scharfen Antizionismus, der in einigen Terrorgruppen, die es in den siebziger Jahren auch in anderen europäischen Ländern wie Belgien und Dänemark (Blekingegade-Gruppe) gab, sogar zu Anschlägen auf jüdische Einrichtungen sowie zur Zusammenarbeit mit dem arabischen Terrorismus führte. Eine Antisemitismus-Studie von 1974 zeigte, daß antijüdische Einstellungen bei einem Fünftel der Bevölkerung sehr ausgeprägt und bei der Hälfte in Resten latent vorhanden waren. Insgesamt standen in der Bundesrepublik jedoch Antisemitismus und Rechtsextremismus in den Jahren bis 1978 nicht auf der politischen Tagesordnung, die ganz von der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus der RAF dominiert wurde. Dies änderte sich gegen Ende der siebziger Jahre mit der Hitler-Welle, ausgelöst durch Joachim Fests Hitlerbiographie und seinen Hitler-Film, mit dem Aufkommen militanter neonazistischer Organisationen, die von der jungen Generation getragen wurden, und mit der Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“ Anfang 1979, die bei einem Teil der Deutschen zu emotionalen Erschütterungen und zu einer intensiven privaten wie öffentlichen Diskussion über den Holocaust führten. Meinungsumfragen ermittelten eine – zumindest kurzfristige – Abwendung von antisemitischen Überzeugungen bei einem Teil der Befragten. Aus dieser Zeit datiert auch der Beginn einer breiten lokal- und sozialgeschichtlichen Beschäftigung mit dem Dritten Reich sowie der Geschichte und der Verfolgung der Juden in Universitäten, Schulen und Geschichtswerkstätten.

Die achtziger Jahre: Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus Die Wende von den späten siebziger zu den frühen achtziger Jahren war nicht nur in der Bundesrepublik von einem Wiederaufleben militanter neonazistischer Gruppen und nationalistischer Bewegungen mit antisemitischen und fremdenfeindlichen Überzeugungen, von rechten Parteien sowie vom Aufkommen einer sich intellektuell gebenden Neuen Rechten geprägt, dies gilt auch für Großbritannien (New National Front), Italien (MSI, Ordine Nuovo), Schweden, Belgien (Vlaams Blok), Frankreich (Front National, FANE/FNE, GRECE), Griechenland (ENEK, EPEN) u. a. Von diesen rechtsextremen Gruppen gingen von 1977 bis 1982 zahlreiche antisemitische und fremdenfeindliche Übergriffe aus, zu denen sich noch die antiisraelischen Terrorakte gesellten. Hinzu kam, daß sich mit der israelischen Invasion in den Libanon 1982 in den Medien antizionistische Stellungnahmen auch in Ländern wie Griechenland, Schweden und der Schweiz häuften, in denen Antisemitismus nur eine geringe Rolle spielt, und daß vor allem der französische Präsident Mit-

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terrand in der Europäischen Gemeinschaft Opposition „gegen die Vernichtung des palästinensischen Volkes“ durch Israel mobilisierte. Frankreich, das seit 1978 eine ganze Reihe schwerer Bombenanschläge und Attentate auf jüdische Einrichtungen erlebt hatte, wurde 1982 wiederum von antijüdischen Terrorakten erschüttert, darunter ein Anschlag auf ein jüdisches Geschäft mit sechs Toten und 22 Verletzten, so daß nicht nur der israelische Ministerpräsident Begin Frankreich als „Land des grassierenden Antisemitismus“ kritisierte, sondern auch viele Franzosen ein Wiederaufflackern von Rassismus und Antisemitismus verurteilten. Während dies für eine primär gegen nordafrikanische Zuwanderer gerichtete Xenophobie zutrifft, dürfte die antijüdische Gewalt auf das Konto des arabischen Terrorismus gehen und nicht, wie die genannten Umfragedaten zeigen, auf ein Anwachsen antijüdischer Ressentiments, zumal Terroranschläge zu dieser Zeit auch andere Länder wie Italien erschütterten, wo ein Anschlag auf die Synagoge in Rom 1982 einen Toten und 36 Verletzte forderte. Xenophobie ist auch der Kern der Politik der seit 1983/84 auf nationaler Ebene erfolgreichen Front National Le Pens, in dem antisemitische Bemerkungen nur am Rande eine Rolle spielen, wenn auch das Leugnen des Holocaust in Frankreich seit den achtziger Jahren häufiger vorkommt. Dies gilt auch für andere Länder wie Belgien. Verglichen mit Frankreich oder Griechenland, wo die Berichterstattung der Presse über den Libanon-Krieg Vergleiche mit dem Faschismus und dem Holocaust bemühte, nahm die Bundesrepublik eine weniger israelkritische Haltung ein, auch wenn es 1981 über mögliche deutsche Waffenlieferungen an Saudi-Arabien zu heftigen Angriffen Begins gegen Bundeskanzler Schmidt gekommen war, die laut Umfrageergebnissen kurzfristig antijüdische Ressentiments in Deutschland aufwallen ließen. Ähnlich wie in Frankreich waren die achtziger Jahre durch eine heftig geführte Auseinandersetzung über die Asyl- und Ausländerpolitik bestimmt, die der rechtsextremen Partei der „Republikaner“ am Ende des Jahrzehnts zum Durchbruch verhalf. Im Zuge der ausländerfeindlichen Gewalt häuften sich zu Beginn der achtziger und in den neunziger Jahren antisemitische Straftaten. Zwischen 1984 und 1989 wurde über Antisemitismus jedoch in einem anderen Kontext debattiert. Es ging in mehreren Affären und Konflikten (von Helmut Kohls „Gnade der späten Geburt“ über die Bitburg- und die Faßbinder-Affäre, dem „Historikerstreit“ bis hin zum „Fall Jenninger“) primär nicht um aktuellen Antisemitismus, sondern um die Frage nach dem richtigen Umgang mit den Verbrechen des Holocaust. In diesen Konflikten konnte sich gegen konservativ-nationale Positionen eine Auffassung durchsetzen, die die Bedeutung der Erinnerung an das singuläre Verbrechen betonte und sich etwa in der privaten Initiative zum Bau eines Holocaust-Mahnmals in Berlin manifestierte. Zahlreiche Umfragen zwischen 1985 und 1990 ließen erkennen, daß die Verbreitung antijüdischer Einstellungen weiter zurückging, insbesondere in den jüngeren Generationen und in den Bildungsschichten. In Österreich sollte die Konfrontation mit der NS-Vergangenheit in der Waldheim-Affäre ab 1986 zu einem letztlich kathartisch wirkenden Ausbruch antisemitischer Gefühle führen. Diese waren während der Kreisky-Ära (1970–1983) latent geblieben, traten nun hervor und polarisierten sich in der offenen Konfrontation von Antisemiten und ihren Gegnern. Analysen von Umfragen und Zeitungen fanden bereits in den frühen achtziger Jahren Belege

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für das weitverbreitete Fortleben eines „strukturellen Antisemitismus“ im Lande. Dazu trug einmal der Führungswechsel in der FPÖ bei, der 1986 den liberalen, von den Kritikern als „judaifiziert“ bezeichneten Kurs beendete und die Partei unter Führung Jörg Haiders nach rechtsaußen führte, die nun Ausländerfeindlichkeit und Revisionismus artikulierte. Auch wenn Antisemitismus nicht zum Parteiprogramm der FPÖ gehört, so findet er sich doch in Diskussionspapieren und bei Mitgliedern und wird von der Führung toleriert. In der Waldheim-Affäre entzündete sich offener Antisemitismus bis in die Reihen von ÖVP-Politikern einmal an der Rolle des World Jewish Congress, dessen Kampagne Waldheim für viele Österreicher zum einem „Opfer der Juden“ machte, zum anderen in der Thematisierung von Waldheims (geleugneter) Verwicklung in NS-Verbrechen. Die internationale wie innenpolitische Debatte über den österreichischen Antisemitismus, noch befördert durch das „Gedenkjahr 1988“, konfrontierte das Land mit seinen „Lebenslügen“: seinem Anteil an den NS-Verbrechen, seinem historischen Antisemitismus und mit Versäumnissen seiner Nachkriegsgeschichte, etwa was die Wiedergutmachung für jüdische Opfer betrifft. Dennoch sind in den neunziger Jahren antisemitische Einstellungen in Österreich im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern immer noch weiter verbreitet; in Osteuropa liegt die Verbreitung nur noch in Polen und in der Slowakei höher. Die Ostblockstaaten, allen voran die Sowjetunion, schwächten in den frühen achtziger Jahren ihre antizionistische Politik ab, und mit Gorbatschow wurde sie ganz fallengelassen. In der DDR war ab Mitte der achtziger Jahre die Annäherung an die Juden im In- und Ausland primär außenpolitisch motiviert, da der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker sich dadurch bessere Verbindungen zu den USA versprach, eine Entwicklung, die für die DDR durch das Jahr 1990 abgebrochen wurde.

Das Jahr 1989 und die Folgen Mit dem Ende des Kommunismus in Osteuropa wurde es erstmals möglich, die Einstellung zu Juden in der Bevölkerung dieser Länder zu erforschen. Das Ergebnis war insofern überraschend, als auch nach einem halben Jahrhundert kommunistischer Herrschaft, die Antisemitismus und Antizionismus einerseits politisch instrumentalisiert, andererseits Äußerungen von Antisemitismus tabuisiert hatte, die nationalen und religiösen Vorkriegstraditionen wieder zum Vorschein kamen, in denen die Juden als Gegenpol zur nationalen Selbstdefinition als „wahre“ Polen, Slowaken, Ungarn oder Russen fungierten. So stimmte die polnische und die slowakische Bevölkerung Anfang der neunziger Jahre antijüdischen Vorurteilen weitaus häufiger zu als Tschechen, Ungarn, Moldawier, Bulgaren oder Ostdeutsche. In der Tschechoslowakei hat selbst der Einheitsstaat die Unterschiede nicht eingeebnet. Die überkommenen Vorurteile sind eine Mischung aus den bekannten Elementen des europäischen Antisemitismus verbunden mit einer Xenophobie, die sich auch gegen die jeweiligen anderen nationalen Minderheiten wie Deutsche, Russen, Ungarn oder Roma richtet.

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Das Problem der osteuropäischen Staaten besteht vor allem darin, sich ihrer problematischen antijüdischen Geschichte zu stellen. Einige Länder wie etwa Tschechien, wo heute noch ca. 6 000 stark assimilierte Juden leben, blenden die Juden aus ihrer Geschichte weitgehend aus, während andere, die als Verbündete der Deutschen im Zweiten Weltkrieg an der Judenverfolgung beteiligt waren, heute Schwierigkeiten haben, ihre damalige Rolle offen zu diskutieren. Gerade weil sich viele postkommunistische Regierungen Osteuropas zur Legitimation ihrer Herrschaft auf die nationale Vorkriegsgeschichte zurückberiefen, haben Länder wie Kroatien, Ungarn, die Slowakei und Rumänien zum Teil auch ihre autoritäre bis faschistische antisemitische Vergangenheit und ihre damaligen Führer wie Horthy, Tiso oder Antonescu rehabilitiert. Dies führt dazu, daß in der Slowakei einerseits die Bedeutung der Schoa heruntergespielt und die nationale Verantwortung für antijüdische Maßnahmen auf die Deutschen abgewälzt, andererseits die Rolle der Juden in der heutigen Slowakei in der Presse intensiv diskutiert wird, wobei Vorwürfe des Antisemitismus als „antislowakisch“ zurückgewiesen werden, er aber dennoch Teil des slowakischen Nationalismus ist. Auch in anderen Ländern belastet die Mitwirkung von Teilen der Bevölkerung (Esten, Letten, Litauer, Ukrainer) an den NS-Verbrechen die Beziehung zu den Juden. Staaten wie Polen, Rußland und Tschechien, die Opfer der NS-Okkupation waren, haben den Anteil der Juden unter ihren Opfern während der kommunistischen Jahre weitgehend ignoriert. Dennoch bilden die NS-Verbrechen hier ein zentrales Thema der nationalen Geschichte. Dabei bleibt allerdings der eigene Antisemitismus der Vor- und Nachkriegszeit ausgeblendet. Spiegelbildlich zum Rückgriff auf nationale Traditionen benutzte man zur Delegitimierung der kommunistischen Herrschaft die alte Denkfigur des „Judäokommunismus“, derzufolge der Kommunismus eine „jüdische Erfindung“ sei, mit deren Hilfe die kosmopolitischen Juden die Herrschaft über die osteuropäischen Völker an sich gerissen hätten. Ironischerweise ist zumeist die alte kommunistische Nomenklatura Träger dieses alt-neuen Antisemitismus. In Rumänien wurden die Juden nach 1989 als Urheber der stalinistischen Säuberungen hingestellt. Eine politische Instrumentalisierung des Antisemitismus hat es vor allem in der frühen Phase „postkommunistischer Panik“ gegeben, in der Juden als Sündenböcke für die aktuelle politische und ökonomische Krise herhalten mußten. In Polen wurde Antisemitismus in den Wahlen von 1990 benutzt, als Parteigänger von Staatspräsident Lech Wa esa den politischen Gegner Tadeusz Mazowiecki als „Krypto-Juden“ beschimpften und seine Regierung als von Juden kontrolliert hinstellten – obwohl die Solidarnosc selbst in den siebziger und achtziger Jahren als „unpolnisch“ verleumdet worden war. Versuche einer Wiederbelebung der national-demokratischen Tradition als rein katholische polnische Nation hatten antijüdische Implikationen und führten zu einer Suche nach hinter christlichen Namen „versteckten“ Juden. Ein weiteres Problem besteht in einer Art „Opferkonkurrenz“ zwischen Polen und polnischen Juden, wobei letztere als polnische Opfer der NS-Herrschaft eingemeindet werden. In den ungarischen Wahlen vom März 1990 und – etwas leiser 1994 – waren ebenfalls antijüdische Töne zu hören, da man die demokratischen Parteien als „jüdisch“ hinstellte. Das Demokratische Forum rief zur Wahl „wahrer Ungarn“ auf, und Wahlplakate der Sozialdemokratie, in der jüdische Intellektuelle eine

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große Rolle spielten, wurden mit Davidsternen beschmiert, doch blieb die politische Instrumentalisierung begrenzt. Antisemitismus besitzt in Ungarn keine geschlossene soziale Trägerschicht mehr, und auch die Publikationen der extremen Rechten und ihre Wahlerfolge (1994: 1,6%) bleiben marginal. Nach dem Aufflackern von Antisemitismus in der Wendephase hat sich die Lage in den meisten osteuropäischen Ländern in der Folge beruhigt. Dies gilt jedoch nicht für Rumänien, wo ein überhitzter Nationalismus antisemitische Vorwürfe erzeugt, und vor allem nicht für Rußland, wo antijüdische Verschwörungsängste auch am Ende der neunziger Jahre noch eine ernst zu nehmende politische Gefahr sind, die von der kommunistischen Partei (KPRF) und von rechtsextremen Gruppierungen (z. B. Russische Nationale Einheit, RNE) ausgeht. Hier hat sich nach einer Phase der Entstaatlichung und parallelen Vergesellschaftung des postsowjetischen Antisemitismus in der Perestroikaperiode seit der konservativen Wende von 1991 eine breite inner- wie außerparlamentarische national-patriotische Bewegung als neuer Träger von Antisemitismus etabliert, die die Perestroika als Teil der westlichen „jüdischen Weltverschwörung“ interpretiert und bekämpft. Dieser Antisemitismus äußert sich auch in zahlreichen antijüdischen Vorkommnissen und ist nicht nur ein Problem für die russischen Juden, sondern auch für die Regierung. Das Bild in Rußland ist ambivalent: Einerseits haben Juden heute in Rußland gute Chancen und einflußreiche Positionen in Politik und Medien; es gab sogar einen Premierminister jüdischer Herkunft. Anderseits gab es den Vorwurf, die Juden seien im Kreis um den damaligen Präsidenten Jelzin und in Polizei, Medien und Wirtschaft überrepräsentiert gewesen. Die russische Gesellschaft hat noch keine Mechanismen im Umgang mit ethnischen und religiösen Minderheiten entwickelt. In der Bevölkerung der früheren DDR gab es nach Umfragen, verglichen mit den Westdeutschen, nur einen geringen Prozentsatz von Antisemiten (4–6% im Osten, 15% im Westen). Allerdings fanden ausländerfeindliche und auch antijüdische Einstellungen bei ostdeutschen Jugendlichen größere Resonanz als bei ihren westlichen Altersgenossen. Im Zuge einer heftig geführten Asyldebatte ab 1991 kam es zu einer Welle rechter Jugendgewalt, deren primäres Ziel Asylbewerber waren, die jedoch ab 1992 auch antisemitische Straftaten, Friedhofs- und Mahnmalschändungen, Beleidigungen und Propagandadelikte nach sich zog, die erst Mitte des Jahrzehnts wieder abflaute, nachdem ein neues Asylgesetz den Zustrom von Flüchtlingen stark reduziert und Politik und Justiz durch Organisationsverbote und Strafprozesse das rechtsextreme Potential eingedämmt hatten. Rechte rassistische (Jugend-)Gewalt gab es in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren auch in Frankreich, Österreich, Belgien, England und Schweden. So erlebte Frankreich 1990 mit der schaurigen Schändung des Friedhofs in Carpentras und weiteren 372 Vorfällen eine Antisemitismus-Welle, gegen die die Franzosen in einer großen Demonstration im Mai 1990 protestierten und damit auch zugleich gegen Le Pen und den Front National auf die Straße gingen. Jedoch war 1990 immerhin jeder dritte dafür, daß jeder seine feindselige Einstellung gegen Juden ausdrücken dürfe. Ebenfalls ein westeuropäisches Phänomen sind Wahlerfolge rechter populistischer Parteien, in deren Politik allerdings Antisemitismus im Unterschied zur Xenophobie eine

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Nebenrolle spielt oder wie in den dänischen Anti-Einwanderer-Parteien ganz fehlen kann. Allerdings sind unter den Mitgliedern der rechten Parteien antijüdische Ressentiments sehr weit verbreitet, und die Parteiführer Le Pen, Haider oder Schönhuber verwenden antijüdische Anspielungen, die zumeist auf eine Verharmlosung der Schoa zielen und den Juden vorwerfen, heute aus „Auschwitz“ ihren Vorteil zu ziehen („Schoa-Business“). Im revisionistischen und neonazistischen Lager, das europa- und weltweit vernetzt ist, spielt die Leugnung der Schoa verbunden mit entsprechenden Theorien über jüdische Macht und Weltverschwörung heute die zentrale Rolle. Dabei kommt es sogar zum Reimport durch extremistische islamische Gruppen, die über Buchläden oder Radiosender (wie „Radio Islam“ in Schweden) antisemitische und antizionistische Propaganda betreiben. Die „Auschwitz-Lüge“, die in vielen europäischen Ländern seit kurzem strafbar ist (Deutschland, Frankreich, Belgien, Spanien), sowie die in den neunziger Jahren in vielen Ländern erlassenen Gesetze gegen rassische und religiöse Diskriminierung (Italien, Finnland, Polen, Schweiz, Großbritannien bereits 1976 und 1986) bieten immer wieder Anlaß zu Skandalen und Prozessen (Notin-Affäre in Frankreich 1990, Fall Deckert in der Bundesrepublik 1994, Emil Lachout in Österreich 1996). Die neuen Demokratien Osteuropas setzen hingegen eher auf Presse- und Meinungsfreiheit, nachdem diese fünfzig Jahre lang unterdrückt waren. Dennoch ist 1999 auch in Rußland erstmals regional eine rechtsextremistische Organisation (RNE) als verfassungsfeindlich verboten worden. Auch die polnische Verfassung und das Strafgesetzbuch verbieten die Verbreitung von faschistischer Ideologie und rassistischem sowie religiösem Haß. Antisemitismus, etwa die Überzeugung, Juden besäßen zuviel Macht im Lande, ist in einigen europäischen Ländern bei einem nicht geringen Teil der Bevölkerung vorhanden (1991: England 8%, Tschechoslowakei und Rußland 11%, Ungarn 17%, Deutschland 20%, Polen 26%, Österreich 28%). In vielen anderen Ländern wie den Niederlanden, Finnland, Norwegen, Dänemark oder Bulgarien ist er heute jedoch marginal. In bestimmten Krisensituationen, wie etwa dem Golfkrieg, können auf der politischen Rechten und Linken antijüdische Positionen zum Vorschein kommen (FN in Frankreich, Friedensbewegung in Deutschland). In den ehemals kommunistischen Staaten spielt die Transformationskrise mit ihren Rükkgriffen auf die nationalen Traditionen für eine negative Haltung zu Juden, die in diesen Staaten zu einer verschwindenden Minorität geworden sind, die zentrale Rolle für Politik und Bevölkerung. Vor allem wenn die nationalen Mythen über das Verhalten im Zweiten Weltkrieg von jüdischer Seite in Frage gestellt werden, kommt es zu antisemitischen Reaktionen. Dies gilt auch für die übrigen europäischen Länder, in denen Kränkungen des Nationalstolzes, die sich aus der Verstrickung der eigenen Nation in die NS-Judenverfolgung, wie sie die Schweiz Ende der neunziger Jahre und Österreich mit der „Waldheim-Affäre“ erlebten, und aus der Kritik seitens jüdischer Organisationen ergeben, zu antijüdischen Ressentiments führen. Zwei weitere Ursachen für die Übernahme antisemitischer Einstellungen sind in der Modernisierungskrise, auf die vor allem junge, wenig qualifizierte Menschen mit rechtsextremen und xenophobischen Orientierungen antworten, und im Nahostkonflikt zu suchen.

Nationalismus, Kosmopolitismus, Internationalismus

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Die Juden und der Nationalstaat Als „Idealtyp“, und damit im Sinn eines abstrakten Begriffs, kann man unter einem „Nationalstaat“ etwas verstehen, das sich auf einen Staat bezieht, dessen Grenzen mit den geographischen Landesgrenzen einer bestimmten Nation identisch sind und das demographisch, kulturell und politisch von dieser Nation dominiert wird. Der Ausdruck „Nationalstaat“ legt die mit ihm verwandte Auffassung von einem „Mono-Nationalstaat“ nahe, wenngleich es sich nicht um Synonyme handelt. In Wirklichkeit hat es solche Staaten in dieser verfeinerten Form natürlich selten gegeben, und wenn der Gebrauch des Begriffs hier entsprechend viel lockerer gehandhabt wird, dann weil es darum geht, zwei historische Phänomene zu beschreiben, die sich dem Idealtyp in unterschiedlichen Ausmaßen annähern. Der Nationalstaat kann erstens als der terminus ad quem, als das letztendliche Ziel (das selten tatsächlich erreicht wird) einiger Regierungsformen angesehen werden, die seit der frühneuzeitlichen Epoche der europäischen Geschichte – häufiger unbewußt als bewußt – an einem sich lange hinziehenden Prozeß beteiligt waren, der heute gemeinhin als „Entstehung der Nationen“ definiert wird. Zweitens hat der Nationalstaat als terminus a quo gedient, als das Modell, dem der Nationalismus seinen ideologischen Stempel aufgedrückt hat, mit der Folge, daß die politische Landkarte Europas ständig unter Veränderungsdruck gestellt und umgestürzt worden ist. Vor 200 Jahren fielen gerade einmal eine Handvoll Länder unter die Kategorie werdender Nationalstaaten. Die meisten anderen Staaten waren entweder multinationale Reiche oder subnationale politische Einheiten (Stadtstaaten, Fürstentümer, Grafschaften, unabhängige Bistümer). Daß die Landkarte heute in einem erstaunlichen Ausmaß mit den Forderungen der nationalistischen Ideologie übereinstimmt, ist ebenso auf die frühneuzeitliche Entstehung der Nationen und den Nationalismus zurükkzuführen, wie auf die unzähligen Ausbrüche von Kriegen und Revolutionen seit 1789. Alle der etwa 40 Staaten des heutigen Europas können in der einen oder anderen Weise für sich beanspruchen, Nationalstaaten zu sein. Es gibt in Europa kein Volk und keine Bevölkerung, deren bzw. dessen politische und soziale Entwicklung sich nicht als wesentlich beeinflußt erwiesen hätte von dieser Umwandlung in einen Nationalstaat, ausgehend von einer anfänglichen, halb geformten und relativ vereinzelten politischen Formierung hin zu den Grundfesten, die das Fundament bilden, auf dem Europa heute steht. Der Aufstieg des Nationalstaates hat jedoch eine besonders dramatische und schicksalhafte Auswirkung auf die jüdische Bevölkerung gehabt. Der Versuch besteht deshalb darin, einen übergreifenden Theorieansatz zu erkunden, mit dem die Dynamik der jüdischen Geschichte der Moderne in bezug auf das sich ändernde Wesen des Staats erklärt werden kann. Manchmal heißt es z. B., die multinationalen

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Reiche hätten für die Juden weitaus entgegenkommendere – weil religiös und kulturell pluralistische – Strukturen geboten als der Nationalstaat mit seinen (im besten Fall) homogenisierenden und (im schlimmsten Fall) zum Ausschluß führenden Bestrebungen. Und es ist wahr, daß sowohl das Osmanische als auch das Habsburgerreich, verglichen mit einem zersplitterten Staat wie Rumänien in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg oder mit einem Nachfolgerstaat wie Ungarn nach diesem Krieg, vom jüdischen Standpunkt aus betrachtet vorteilhaft abschnitten. Aber dieser Gedankengang führt nicht allzu weit. Denn das multinationale Zarenreich galt vor 1917 fast weltweit als das vielleicht judenfeindlichste Land in Europa, wohingegen Holland und Großbritannien, die oft als klassische Beispiele für entstehende Nationalstaaten angesehen werden, jahrhundertelang in dem Ruf standen, nicht judenfeindlich zu sein. Anstelle einer allgemeinen Theorie schlage ich deshalb hier vor, die Rolle des Nationalstaates in der jüdischen Geschichte sowohl in bezug auf die Chronologie (Periodisierung) als auch auf die Geographie zu beschreiben (wobei die Ähnlichkeiten und Unterschiede auf der gesamten Europakarte zurückzuverfolgen sind). Was den chronologischen Rahmen angeht, wird sich die Thematik auf die Zeitspanne innerhalb von vier Hauptepochen konzentrieren: von der Frühen Neuzeit bis 1789; von 1789 bis 1914; von 1914 bis 1945 und von 1945 bis zur Gegenwart. Und hinsichtlich der geographischen Vielfalt wird hier den multikausalen Formen historischer Erklärung der Vorzug gegenüber den monokausalen gegeben.

Von der Frühen Neuzeit bis zur Französischen Revolution Die etwa drei Jahrhunderte, die Reformation und Renaissance von der Französischen Revolution trennen, waren Zeugen des allmählichen Entstehens einer Reihe von europäischen Staaten, die aktiv am Prozeß nationaler Konsolidierung beteiligt waren. Diese Entwicklung, die von einem Land zum anderen sehr unterschiedlich verlief, war ein Nebenprodukt der zentralisierenden und antifeudalistisch gerichteten politischen Maßnahmen, die für die Regierungen der Frühen Neuzeit in weiten Bereichen charakteristisch war. Was den Unterschied des aufkommenden „Nationalstaates“ ausmachte, war erstens seine mittlere Größe (weder so weitläufig wie die großen europäischen Reiche noch so zerstückelt wie die meisten der deutschen und italienischen Staaten); zweitens die Tatsache, daß es in seinem Kern eine einzige ethnische Gruppe gab, die ausreichend dominant war, die Vereinheitlichung ihrer Sprache und kulturellen Normen zu bestimmen, und drittens, daß eben diese ethnische Gruppe innerhalb der Grenzen dieses einen Staates konzentriert war. Es genügt ein Blick auf die mutmaßliche Liste der entstehenden Nationalstaaten vor 1789, um sich darüber klarzuwerden, daß das, was deren Verhältnis zu den Juden bestimmte, seit langem bestehende historische Faktoren waren und weniger die ihnen gemeinsamen Tendenzen zur Einheit oder Vereinheitlichung. So gab es an dem einen Ende des Extrems eine Anzahl solcher Staaten, die den Juden schlicht verboten, innerhalb ihrer Grenzen zu leben. Spanien hatte diejenigen Juden, die sich geweigert hatten, das Christentum anzu-

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erkennen, im Jahr 1492 verbannt. Und Portugal ging im darauf folgenden Jahrzehnt einen Schritt weiter, indem es die jüdische Bevölkerung zur Taufe zwang. Auf der Iberischen Halbinsel, die so lange Zeit in christliche und muslimische Herrschaft geteilt war, wurde die Tatsache, daß der Bevölkerung die religiöse Einheit gewaltsam auferlegt wurde, als logisches Ergebnis der triumphierenden Reconquista gefeiert. Der Prozeß nationaler und sprachlicher Konsolidierung (ein Prozeß, der in Spanien nie zum Abschluß kam) wurde somit von Anfang an mit der Vertreibung sowohl der Muslime als auch der Juden in Verbindung gebracht. Diese Entwicklung wurde durch die parallel verlaufende und grandiose Erweiterung der spanischen und portugiesischen Imperien ebenso verstärkt wie durch das damit einhergehende Unternehmen der Konversion, das sich als höchst erfolgreich erwies und unter anderem zum Ausschluß der Juden aus den meisten Teilen Mittel- und Südamerikas führte. Am anderen Ende Europas ergriff Rußland, das sich ebenfalls an der politisch-kulturellen Grenze zwischen muslimischer und christlicher Welt befand, politische Maßnahmen, die sich in bemerkenswert ähnlichen Richtungen entwickelten. Ivan III., auch bekannt als Iwan der Große, war ein Zeitgenosse von Ferdinand und Isabella von Spanien. Unter seiner Regierung erwarb das Fürstentum Moskau erstmals den Status einer regionalen Großmacht, indem es sich 1480 vom „Tartarenjoch“ befreite und anfing, die ersten Kennzeichen eines groß-russischen Nationalstaats zur Schau zu stellen. Und ebenso unter seiner Regierung wurde die offizielle Kampagne gegen die „judaisierende Ketzerei“, die angeblich von Juden nach Novograd importiert worden war, gestartet und verstärkte auf diese Weise bereits vorher bestehende politische Verfahrensweisen, durch die die Juden aus dem Moskaustaat ferngehalten worden waren. Wie in Spanien und Portugal wurde der Ausschluß der Juden auch im Fall Rußlands allmählich zum Symbol für die Einheit von Krone, Kirche und Volk in einem einzigen Raum: dem Heiligen (orthodoxen) Rußland. Selbst als Moskau seine große Expansion zu einem multinationalen Imperium begann, indem es unter anderem Teile Weißrußlands von Polen 1772 annektierte, war es den Juden verboten – wenngleich sie auch nicht verbannt wurden –, in die historischen Kernlandgebiete zu ziehen. Die Niederlande und England repräsentierten im Lauf der Zeit eine umgekehrte historische Entwicklung. Der Aufstieg dieser beiden Staaten in die herausragende Position als große See- und Handelsmächte im 17. und 18. Jh. fiel mit der Rückkehr der Juden in diejenigen Länder zusammen, aus denen sie Jahrhunderte zuvor verbannt worden waren. Die Tatsache, das sich dort seit dem 16. Jh. eine grundlegend neuartige Gesellschaftsform herausbildete, machte diese Entwicklung nur logisch. Der Sieg und die darauf folgende Fragmentierung des protestantischen Christentums hatte ein nie dagewesenes Ausmaß an religiöser Vielfalt und Toleranz hervorgebracht. Die Tatsache, daß die verbleibende Intoleranz und Verfolgung in erster Linie (wenn auch nicht ausschließlich) gegen die Katholiken gerichtet war, konnte für die Juden nur von Vorteil sein, denn sie wurden bisweilen als nur eine weitere Sekte mit anderer Auffassung oder, noch besser, als das „Volk des Buches“ angesehen und galten damit in einem protestantischen Milieu als eines gewissen Respekts würdig.

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Die Abhängigkeit der Niederlande und Großbritanniens vom internationalen Handel und den Geldmitteln für die Finanzierung dieses Handels stärkte die Haltung, für die Zulassung von Juden in die jeweiligen Hoheitsgebiete, zumal die aus Spanien und Portugal vertriebenen sefardischen Juden vom 16.Jh. an ausgedehnte Beziehungen entwickelt hatten. Diese Beziehungen, die von den „Neuen Christen“ und den Conversos weiter ausgebaut worden waren und von Istanbul bis zu den Kontinenten Amerikas reichten, ermöglichten ihnen, relativ sichere Nischen innerhalb der holländischen und englischen Wirtschaftssysteme zu besetzen. Der facettenreiche Konflikt zwischen den iberischen und den englisch-holländischen Mächten umfaßte eine weltweite Dimension, die sich zwangsläufig direkt auf die Situation der Juden auswirkte. So gab die von den Holländern gegen die Portugiesen gewonnene Eroberung Nordost-Brasiliens dieses Gebiet im Jahr 1630 für die jüdische Besiedlung frei, und bis zur Mitte der vierziger Jahre des 17. Jhs. lebten etwa 1 500 Juden in Recife (ein Drittel der Stadtbevölkerung). Als die Portugiesen 1654 dorthin zurückkamen, vertrieben sie die Juden. Eine kleine Gruppe der Vertriebenen ließ sich daraufhin in der holländischen Stadt Nieuw Amsterdam nieder, die später – nach der britischen Eroberung – New York werden sollte. Hinsichtlich der Haltung gegenüber Juden gab es allerdings Unterschiede in den Niederlanden und in England. Mit ihrer föderalen Struktur (und auch Bündnisstruktur) überließen die Niederlande ihren Regionen und Städten die Entscheidung über die Erlaubnis jüdischer Besiedlung, und in vielen Gegenden blieb der Zutritt verboten. Die jüdische Gemeinde in Amsterdam orientierte sich z. B. an traditionellen Richtlinien, und es blieb ihr eine innerjüdische Gerichtsbarkeit gestattet (beispielsweise belegte sie Spinoza und da Acosta mit einem Bann). In England gab es solche Einschränkungen nicht. Im Zuge der entstehenden Nationalstaaten in Europa entwickelte jeder einzeln seine eigene Politik gegenüber den Juden. So erlaubte das dänische Königreich zum Beispiel einer kleinen ausgewählten Anzahl von Juden, sich auf seinem Territorium niederzulassen – zunächst nur in Holstein (1619) –, und hatte bis 1780 einen jüdischen Bevölkerungsanteil von fast 2000 Menschen. Dagegen ließ der protestantische schwedische Staat Juden erst gegen Ende des 18. Jhs. zu, als es dem preußischen Beispiel folgte und die Erlaubnis für eine selektive Besiedlung gab, die sich auf die Städte Stockholm, Göteborg und Norrköping beschränkte (fünfzig Jahre später gab es immer noch weniger als eintausend Juden im Land). Die Judenpolitik in Frankreich war wieder eine andere. Nachdem die Juden während des 14. Jhs. verbannt worden waren, konnten sie kaum damit rechnen, eine offizielle Erlaubnis für eine erneute Niederlassung zu bekommen – zumal in einem Staat, der erst 1685 durch die Widerrufung des Edikts von Nantes beschlossen hatte, seine große protestantische Bevölkerung, die Hugenotten, aus dem Land zu vertreiben. Dennoch hatte es bis zur Revolution verschiedene Entwicklungen gegeben, die dazu geführt hatten, daß eine beachtliche Anzahl von Juden innerhalb der französischen Grenzen lebte. In bezug auf Polen und Preußen muß bemerkt werden, daß – so zentral ihre Rolle im späteren nationalistischen Stadium der europäischen Geschichte auch war – beiden im

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18. Jh. noch keineswegs das Prädikat eines Nationalstaates im eigentlichen Sinne zukam. In Polen war die ethno-nationale Grundlage zwar ausreichend entwickelt – wenn auch in einer Gesellschaft mit starrer, fast kastenartiger Schichtenstruktur –, aber der Staat befand sich im Prozeß eines rasanten Abstiegs. Preußen wiederum konnte mit einem außergewöhnlich effizienten Staat prahlen, besaß jedoch nur die Kontrolle über einen relativ kleinen Teilbereich der deutschsprachigen Länder. Und dennoch sollte beiden Ländern eine Schlüsselrolle in der jüdischen Geschichte der vorrevolutionären Epoche zukommen. Der polnisch-litauische Staat hatte den Juden als Hauptzufluchtsort gedient, die während des späten Mittelalters und der Reformationszeit beinahe aus dem gesamten Rest Europas verbannt worden waren. Damit war es zur Heimat der weitaus größten jüdischen Bevölkerung der Welt geworden: bis zum Ende des 18. Jhs. lebten dort um die 800 000 Menschen. In scharfem Kontrast dazu entwickelte Preußen eine – gemäß dem für die meisten zentraleuropäischen Länder typischen Muster – Politik drakonischer Selektivität und versuchte, nur diejenigen Juden zuzulassen, deren wirtschaftliche Nützlichkeit für den Staat über jeden Zweifel erhaben war.

Zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg Ein grundlegend neues Kapitel in der Entwicklung des Nationalstaats und seinem Verhältnis zu den Juden begann mit der Französischen Revolution und den darauf folgenden Napoleonischen und Revolutionskriegen. Die Grundsätze, so wie sie in der Menschen- und Bürgerrechtserklärung dargelegt und im Slogan „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ ausgerufen wurden, waren eine Herausforderung, die die alte Ordnung bis in ihre Grundfeste hinein ins Wanken brachte, und dies galt für den gesamten Kontinent. Während des „langen Jahrhunderts“ zwischen 1789 und 1914 war Europa in eine Reihe von Debatten, Experimenten und (oft gewaltsamen) Konflikten verstrickt. Die Linken unternahmen dabei den Versuch, den Geist der Revolution lebendig zu halten, und die Rechten versuchten zu retten, was vom Ancien Régime noch zu retten war. In dem einen Lager war es alles andere als selbstverständlich, nicht allein eine parlamentarische Macht, die Freiheit der Meinungsäußerung und eine verfassungsmäßige Regierungsform zu unterstützen, sondern darüber hinaus auch eine nationale Selbstbestimmung und den Nationalstaat als solchen zu fordern. Und im anderen Lager galt es unter denselben Bedingungen, eine Opposition gegen dieses gesamte Veränderungsprogramm zu bilden. Aber mit der Zeit, insbesondere nach dem Scheitern von 1848, verloren die entgegengesetzten politischen Positionen ihre Konturen. Oberflächlich betrachtet, hätte sich diese komplexe Entwicklung zwangsläufig zugunsten dessen auswirken müssen, was man das „emanzipatorische“ Konzept der jüdischen Entwikklung nennen kann. In dem Maße, wie die alte Ordnung in Europa den liberalen und nationalen Kräften allmählich nachgab, würden die Juden – diesem Standpunkt zufolge – zwangsläufig zu gleichberechtigten Bürgern von Nationalstaaten werden (oder zumindest

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zu Bürgern autonomer nationaler Einheiten), die gleiche Rechte genießen würden, an gleiche Pflichten gebunden, in die Mehrheitsgesellschaft integriert wären und die sich lediglich durch Religion, nicht durch Nationalität unterscheiden ließen. Im Zuge dieser wachsenden Überzeugung, die in immer weiteren Gesellschaftskreisen Fuß faßte, wurde dieses Ergebnis auch zunehmend als unvermeidlich akzeptiert. Mehr noch: gegen Ende der 1870er Jahre erschien der emanzipatorische Prozeß – der in enger Verbindung zum Aufstieg des Nationalstaates steht – vielen Zeitgenossen, einschließlich der großen Mehrheit der Juden im Westen, alles andere als ausreichend oder abgeschlossen. Mit dem Entschluß, die Feudalhierarchie zu zerstören und das französische Volk zu konsolidieren, hatte die Nationalversammlung den Weg geebnet und den Juden 1791 (erst den Sefardim und später den Aschkenasim) gleiche Rechte zuerkannt. Und diese Politik wurde anschließend in viele der Regionen exportiert, die unter französische Herrschaft oder direkten französischen Einfluß kamen, einschließlich der Niederlande im Jahr 1796 und – in der napoleonischen Ära – des Rheinbundes, der hanseatischen Häfen und Italien. Mit dem Sieg des Ancien Régime im Jahr 1815 wurde die Stellung der Juden in vielen Gegenden in den vorherigen Zustand zurückversetzt, was entweder Vertreibungen (aus Lübeck und Bremen zum Beispiel) oder eine Rückkehr ins Ghetto (in Rom, Frankfurt a. M. und vielen anderen Städten) bedeutete. Andernorts, wie in Preußen, wurden einige der vorher zuerkannten Rechte jetzt aufgehoben. So gab es auf der einen Seite der ideologischen Linie die verfassungsmäßigen oder rechtsstaatlichen Nationalstaaten, in denen die Juden volle bürgerliche Gleichheit (Holland und Frankreich) oder eine ähnliche Rechtsstellung (England und Dänemark) genossen, während auf der anderen Seite die multinationalen oder subnationalen Staaten des Metternich-Systems oder der „Heiligen Allianz“ waren, wo dem nicht so war. Die Annahme, daß nationale Revolution, Rechtsstaatlichkeit und jüdische Emanzipation logisch verknüpft seien, wird von den Jahren 1830 bis 1831 gestützt, als Belgien, nachdem es seine Freiheit von Holland erhielt, das emanzipatorische Prinzip erneut bestätigte (ebenso wie, zumindest formal, Griechenland, ein weiterer neuer Nationalstaat, der zu dieser Zeit seine Unabhängigkeit erhielt). Dieses Muster wiederholte sich während der Revolutionen von 1848 bis 1849. Um die Angelegenheit der deutschen Vereinigung voranzubringen, sorgte die Nationalversammlung, die im Dezember 1848 in Frankfurt a.M. tagte, dafür, daß das Prinzip der bürgerlichen Gleichheit für „Alle“, Juden eingeschlossen, in ihr Grundsatzdokument Die Grundrechte des deutschen Volkes mit aufgenommen wurde. In Italien brachten die anfänglichen Siege der revolutionären Bewegung eine erneute Befreiung aus den Ghettos mit sich. Und in Ungarn stimmte die Nationalversammlung, nachdem sie die Habsburgerherrschaft gestürzt hatte, im Sommer 1849 für die jüdische Emanzipation. Jedoch war jetzt, wie schon einmal im Jahr 1815, fast alles, was durch die Revolution erreicht worden war, durch ihre Niederlage umgekehrt. Der Kreislauf von Reform und Reaktion wurde erst unterbrochen, als die mit dem Ancien Régime assoziierten Staaten anfingen, eine neue politische Strategie zu verfolgen, und sich dafür entschieden, auf den Wellen der Veränderung zu reiten, statt immerwährend zu

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versuchen, sie zurückzuhalten. Nationalismus und die Idee des Nationalstaates, die über so lange Zeit mit der Revolution in Verbindung gebracht wurden, wurden durch eine Reihe von dramatischen Umkehrungen nun gerade von den Regimen vertreten, die diese Ideen bis dahin unterdrückt hatten. Den Anfang auf diesem Weg machte das Königreich Piemont und Sardinien, das sich, indem es eine Politik aufgriff, die sich 1848 als erfolgreich erwiesen hatte, zusammen mit Frankreich daran machte, die Habsburg-Armeen zu besiegen und Italien unter seiner Flagge zu vereinigen. Die Emanzipation der Juden (einschließlich der von Rom, das erst ein Jahrzehnt später in den neuen Nationalstaat einbezogen wurde) wurde als natürliches Nebenprodukt der italienischen Vereinigung behandelt. Dasselbe Muster wiederholte sich mit der Vereinigung Deutschlands in den Jahren 1866 bis 1870 und mit der Einrichtung der Doppelmonarchie im Habsburgerreich im Jahr 1867. Das emanzipatorische Prinzip wurde fortan mit beschleunigtem Tempo als verfassungsmäßiger Grundsatz in den europäischen Nationalstaaten durchgesetzt: 1870 in Schweden (das in dieser Hinsicht immer hinter Dänemark zurücklag); 1871 in England, als in Oxford und Cambridge (der letzten Bastion legaler Diskriminierung) alle Restriktionen aufgehoben wurden; in der Schweiz durch eine Serie von nach und nach erlassenen Verordnungen in den 1860er und 1870er Jahren; und 1878 in Bulgarien, Serbien und Rumänien, als ihnen die Großmächte während des Berliner Kongresses die internationale Anerkennung ihrer Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich zusprachen. Im Gegensatz dazu erhielt das riesige multinationale Zarenreich – zu dieser Zeit Heimat der großen Mehrheit der Juden weltweit – seinen seit langem bestehenden Ausschluß der jüdischen Bevölkerung aus den historischen russischen Kernlandgebieten weiterhin aufrecht. Generell war die jüdische Reaktion auf die Zuerkennung oder sogar auf das Versprechen gleichen Bürgerrechts innerhalb des Nationalstaates von großem Enthusiasmus geprägt. Natürlich ist es wahr, daß die auf einer breiten Basis beruhende korporative Selbstverwaltung, die mit dem vormodernen Ordnungssystem in Verbindung gebracht wird, zugunsten von Gemeindeinstitutionen weichen mußte, die in religiöser Hinsicht eher schmal definiert waren. Aber die meisten Juden fanden, daß dies ein geringer Preis war, den sie für die Chance zu bezahlen hatten, von jahrhundertelangen zutiefst erniedrigenden Einschränkungen befreit zu werden. Ihre Hoffnungen bestanden darin, ihren Lebensunterhalt gemäß ihren Fähigkeiten und Neigungen zu verdienen und ihren Platz als stolze Mitglieder eines souveränen europäischen Nationalstaats einzunehmen. Diese Hoffnungen wurden von einer weitreichenden Veränderung der Wertmaßstäbe und der Frage der eigenen Identität begleitet. Bis dahin war es für die Juden um die Bildung einer Nation im Exil gegangen, in dem sie sich sowohl selbst isolierten – und sich stur auf den mythischen Tag der Erlösung vorbereiteten – als auch von ihren Nachbarn ausgegrenzt wurden. Nunmehr begannen die Juden, sich in erster Linie als Mitglieder der Staatsnationalität zu sehen, innerhalb deren sie sich wie andere religiöse Minderheiten nur durch ihren Glauben unterschieden. Anfangs trat diese Tendenz am deutlichsten in solchen seit langem etablierten Nationalstaaten wie Frankreich, England, Holland und Dänemark zutage, aber bis 1914 zeigte sie sich dann in Italien, Deutschland und Ungarn in besonderem Maße. Im Verlauf

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des wachsenden Vertrauens in ihren neuen Status organisierten sich die Juden im Westen, um die Sache der Emanzipation und Modernisierung im Ausland – in Osteuropa, Nahost und Nordafrika – voranzutreiben. Körperschaften wie die „Alliance Israélite Universelle“ (1860), die „Anglo-Jewish Association“ (1871) und der „Hilfsverein der deutschen Juden“ (1901) teilten alle dieses eine Ziel, aber jede identifizierte sich auch mit den Interessen ihres eigenen Staates und baute separate Schulsysteme in den jeweiligen Sprachen Französisch, Englisch und Deutsch auf. Da sich auf der einen Seite Juden als Bürger des jeweiligen Nationalstaates entdeckten, entwickelte sich auf seiten der Mehrheitsgesellschaft Widerstand gegen die Idee der Gleichstellung von Juden, auch wenn die Intensität und Art dieses Widerstands von Land zu Land variierten. Es wurden die unterschiedlichsten Argumente gefunden, um diese psychologische Reaktion zu rechtfertigen: die Juden könnten in einem „christlichen Staat“ keine Gleichstellung erwarten, und als Nation mit eigenem Heimatland (nämlich Palästina) auch nicht in einem Nationalstaat; und wenn man ihnen dennoch Gleichstellung gewährte, würden sie sicherlich alles tun, um die nationale Mehrheit wirtschaftlich auszubeuten und politisch zu dominieren. Aufgrund der Ressentiments weiter – oft politisch einflußreicher – Kreise wurde die Gleichstellung sogar während der revolutionären Phasen – zum Beispiel in Frankreich von 1789 bis 1791 oder in Ungarn von 1848 bis 1849 – erst nach heftigen Debatten und langen Verzögerungen gewährt. In vielen Gegenden Europas brach zu Beginn der Revolution – oder in anderen Momenten akuter politischer Krisensituation – antijüdische Gewalt aus, so im Elsaß in den Jahren 1789 und 1848; in Griechenland während des Kampfes um die Unabhängigkeit; in Bayern, Baden, Württemberg, Frankfurt und Hamburg während der „Hep!-Hep!“-Unruhen von 1819; in Rumänien während der 1860er und 1870er Jahre; in Frankreich während der Dreyfus-Affaire in den Jahren nach 1890. In Anbetracht des tiefsitzenden und anhaltenden Widerstands gegen die jüdische Gleichstellung überrascht es kaum, daß ihrer formalen Durchsetzung in Mitteleuropa fast unverzüglich ein extremer Rückschlag folgen sollte. Neuzeitliche antisemitische politische Bewegungen tauchten zuerst in den 1870er Jahren in Deutschland und Österreich auf. Ihre Parolen zeugten von der „teutonischen Überlegenheit“ und der Warnung vor der „jüdischen Rasse“, die die eigene unterwerfen wolle. Weniger extrem, aber einflußreicher als Stoecker oder von Schönerer, vertrat der Historiker Treitschke im Jahr 1880 das Argument, daß die deutsche Nation, auch wenn sie nun endlich als eigener Staat vereinigt war, sich noch festigen müsse und durch die kulturelle Fragmentierung, die die jüdische „Andersheit“ bedeutete, irreparablen Schaden nehmen könnte. Auf den wachsenden Antisemitismus als eine politische Kraft in den deutschsprachigen Ländern folgte fast unmittelbar der Ausbruch antijüdischer Pogrome über weite Teile des südlichen Rußlands in den Jahren 1881/82 (die Gewalt wurde durch den Mord an Zar Alexander II. entfacht). Und eben dieses Zusammentreffen von zwei Arten extremer Feindlichkeit – die eine im nach-emanzipatorischen, die andere im vor-emanzipatorischen Europa – gab zum ersten Mal den Anstoß zu einer bedeutsamen nationalistischen Reaktion von jüdischer Seite. Da die Juden des Zarenreichs auf Gebiete innerhalb der multinationalen

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und nichtrussischen Regionen beschränkt waren, waren sie in das für die westlichen Staaten charakteristische Integrationsschema kaum einbezogen worden. Sie sprachen noch jiddisch und lebten stark konzentriert in Städten und Dörfern mit ausschließlich jüdischer Bevölkerung, wodurch sie alle „Kennzeichen“ einer anderen, osteuropäischen Nationalität beibehielten. Dies war der kulturelle Rahmen, in dem die nationale jüdische Bewegung zu Beginn der 1880er Jahre entstand, die dann durch den Zionismus Auftrieb bekam.

Zwischen Beginn des Ersten und Ende des Zweiten Weltkriegs Der Sieg der Westmächte Frankreich, Großbritannien und der Vereinigten Staaten von Amerika (u. a. im Bündnis mit Italien und Belgien) im Ersten Weltkrieg bedeutete, daß nationale Selbstbestimmung zum ersten Mal eine leitende Doktrin internationaler Beziehungen werden sollte. In seinen berühmten Reden vom Januar und Februar 1918 (die „14 Punkte“ und die „Vier Grundsätze“) wies der amerikanische Präsident Woodrow Wilson insbesondere auf die Verpflichtung hin, „allen klar definierten nationalen Bestrebungen“ soweit wie möglich Genüge zu leisten. Und eine der Aufgaben, die man der Pariser Friedenskonferenz unter Lloyd George, Clemenceau und Wilson gestellt hatte, bestand in der Schaffung eines neuen Europas, in dem die Ideologien von Liberalismus und Nationalismus sich gegenseitig bestärken und nicht als Widerspruch behandelt werden sollten. Der Erste Weltkrieg und die Zeit unmittelbar danach hatten – als Ergebnis der massiven Vertreibungen durch die zaristischen Armeen, bzw. der dadurch ausgelösten Massenflucht als Versuch, diesen Armeen zu entkommen, sowie der Pogrome (die während des russischen Bürgerkriegs von 1918 bis 1921 regelrecht tragische Ausmaße angenommen hatten) – ungeahntes Elend über die jüdischen Bevölkerungen Osteuropas gebracht. Doch der Triumph des Westens schien eine für die Verteidigung jüdischer Interessen weitaus günstigere Ära zu garantieren. Die endgültige Emanzipation der Juden innerhalb des Nationalstaats, vor 1914 nur teilweise zu erreichen, stand jetzt unmittelbar bevor. Um sicherzustellen, daß dieses Ziel nicht übersehen würde, kamen jüdische Delegierte aus vielen – und meistens demokratischen – Ländern in Paris zusammen, wo sie sich während der Friedenskonferenzen als Lobbyisten für die Belange der Juden energisch einsetzten. Trotz der nicht unbedeutenden ideologischen Spaltung zwischen den Minimalisten (die anglo-französische Delegation), die versuchten, Gleichstellung nur auf individueller Basis zu verankern, und den Maximalisten (das Comité des Délégations Juives), die darüber hinaus jüdische nationale Rechte erwirken wollten, konnten sie gemeinsam einen beachtlichen Erfolg erzielen. Die neuen Nationalstaaten Europas verpflichteten sich nicht nur zu parlamentarischer Demokratie und bürgerlicher Gleichheit für jeden Menschen, der innerhalb ihrer Grenzen geboren war oder würde, sondern gewährten ebenso ihren jüdischen Bevölkerungen die Rechte einer legitimen nationalen Minderheit. Darüber hinaus muß die Entscheidung der Großmächtekonferenz von 1920 in San Remo als wichtige Errungenschaft jüdischer Diplomatie in diesem schicksalhaften Stadium der Geschichte genannt werden. Mit ihr wurde die

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Balfour-Deklaration von 1917, die sich zugunsten einer „nationalen Heimat“ für die Juden in Palästina ausgesprochen hatte, erneut bestätigt – ein Schritt, der sich als entscheidend für die spätere Errichtung eines jüdischen Nationalstaats erweisen sollte. In den ersten Nachkriegsjahren gab es hinsichtlich des Friedensabkommens und der darin enthaltenen Belange der Juden noch einigen Anlaß zum Optimismus. Rumänien gewährte der jüdischen Bevölkerung nunmehr Staatsbürgerrechte in seinem Kernland. In der Weimarer Republik standen den Juden nun Berufe offen, die ihnen vorher verschlossen waren (beispielsweise das Amt des Richters, die Offizierslaufbahn, Professuren, der höhere Beamtendienst und Regierungsposten). In Lettland, Estland und Litauen erhielten die Juden nationale Autonomie und staatliche Gelder für die Finanzierung des jüdischen Schulsystems, und im letzten dieser baltischen Staaten gab es auch einen Minister für jüdische Angelegenheiten. In Polen konnten sich jüdische Schulsysteme (orthodoxe oder weltliche, auf hebräisch oder jiddisch basierend) entwickeln, was zu Zeiten des Zarenreichs undenkbar war. Und in der Tschechoslowakei wurde den Juden unter dem Einfluß des Präsidenten Tomás G. Masaryk der Status einer offiziellen Nationalität gewährt, obwohl viele es vorzogen, sich zur tschechischen oder deutschen Volksgruppe zugehörig zu erklären. Jedoch erwies sich die Tschechoslowakei in ihrer relativ erfolgreichen Synthese von westlichem Liberalismus und moderatem Nationalismus letztlich als die Ausnahme von der Regel, denn die Zeiten eigneten sich schlecht für derartige Entwicklungen. Die internationale Ordnung, symbolisiert durch den neu gegründeten Völkerbund, wurde von Anbeginn durch das Isolationsverhalten der Vereinigten Staaten, das bittere Ressentiment Deutschlands und die kommunistische Machtübernahme in Rußland unterlaufen. Die wirtschaftliche Erholung verlief langsam, nur punktuell und war bereits vor dem Börsenkrach an der Wall Street von 1929 immer wieder von Krisen gezeichnet. Die politische Lage war instabil, die Zeit war Zeuge von kommunistischen Umstürzen und gewaltsamen Restaurationen (1919 in Bayern und Ungarn), der Errichtung eines faschistischen Regimes in Italien (1922), von Staatsstreichen (1923 in Bulgarien; 1926 in Litauen und Polen; 1929 in Jugoslawien), von häufigen politischen Morden und insgesamt von der Unfähigkeit, ein wirksames parlamentarisches System zu errichten (zum Beispiel gab es in Lettland zwischen 1918 und 1934 nicht weniger als 18 Premierminister). Aber jenseits dieses ungünstigen Kontexts bestand die Tatsache, daß die dominierenden Mehrheiten in den neuen Nationalstaaten (unabhängig davon, ob sie aus dem 19. oder 20.Jh. stammten) dazu neigten, die nationalen Minderheiten als Bedrohung für die wesentliche und notwendige Einheit und damit als Bedrohung für nichts anderes als die Sicherheit ihrer jeweiligen neuen Länder anzusehen. Nichts von alldem verhieß Gutes für die Juden Mittel- und Osteuropas. Zu der Tatsache, daß in diesen großen Regionen sogar die Idee der jüdischen Emanzipation noch weitreichend und tiefgreifend abgelehnt wurde (ein Ressentiment, das durch die Hartnäckigkeit des Aberglaubens an den jüdischen Ritualmord verstärkt wurde), müssen zwei weitere Faktoren hinzugefügt werden, die von großem Gewicht sind. Zum einen war es die unterschiedliche Bevölkerungsstruktur. Der relative Erfolg des Integrationsprojekts im Westen

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verdankte sich zu einem guten Teil der Tatsache, daß die jüdische Minderheit extrem klein war und durch Anti-Immigrationsgesetze (wie 1905 in England) auch klein gehalten wurde. Selbst im Deutschen Reich, wo die „jüdische Frage“ als akut galt, blieb die jüdische Bevölkerung unter einem Prozent der Gesamtbevölkerung. In vielen der Staaten, die aus den inzwischen nicht mehr existierenden Reichen wie dem Zaren-, Habsburger- und Osmanischen Reich hervorgegangen waren, war die Situation grundlegend anders. In Polen stellten die rund drei Millionen Juden etwa 10% der Gesamtbevölkerung; in Litauen (150 000) 7%; in Ungarn (etwa 500 000) 6%; in Lettland (fast 100 000) 5% und in Rumänien (um die 750 000) waren es 4%. Darüber hinaus galt die extrem städtische und halbstädtische Situation der Juden, die oft in Handel und den akademischen Berufen dominierten (im Jahr 1920 waren z. B. in Ungarn über die Hälfte der Rechtsanwälte und Ärzte Juden), als Bedrohung, da viele Ungarn fürchteten, in ihrem „eigenen“ Staat um ihr Recht auf sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg gebracht zu werden. Kaum weniger relevant war zum anderen, daß Juden in der öffentlichen Meinung zunehmend mit dem Kommunismus identifiziert wurden. Die Tatsache, daß einige Juden zwischen 1917 und 1920 zur Führungsspitze in den kommunistischen und sowjetischen Revolutionen gehört hatte – Trockij in Rußland, Béla Kun in Ungarn, Rosa Luxemburg in Deutschland –, verstärkte diesen Eindruck, dem zu dieser Zeit noch zusätzlich Nachdruck verliehen wurde durch die große Popularität der Protokolle der Weisen von Zion (gefälschte antisemitische Hetzschrift über die angeblichen Pläne zur „jüdischen Weltherrschaft“). Die daraus folgende Zunahme des Antisemitismus in Mittel- und Osteuropa sorgte ihrerseits dafür, daß ein unverhältnismäßig hoher Prozentsatz junger Juden (so verschwindend gering ihre absolute Zahl auch gewesen sein mag) in das kommunistische Lager getrieben wurde – ein Trend, der durch das Bild der Sowjetunion als einer Bastion der „Gleichheit aller Werktätigen“, unabhängig von ihrer Nationalität, erheblich an Stärke gewann. Die Situation der Juden hatte sich in vielen Staaten zunehmend verschlechtert. Regierungen hatten kaum Skrupel, wenn es darum ging, politische Maßnahmen zu ergreifen, die den Interessen der nationalen Mehrheit auf Kosten der Minderheiten – einschließlich und oft in erster Linie der Juden – förderlich sein sollten. In Ungarn verabschiedete die Regierung 1920 ein Gesetz, das die Zulassung von Juden an Universitäten drastisch reduzierte. Und auch in anderen Ländern wurden derartige Zugangsbeschränkungen – wenn auch nicht immer gesetzlich gestützt – eingeführt. In Anbetracht derartiger Diskriminierungsmaßnahmen gab es wenig Hoffnung auf die dauerhafte Realisierbarkeit jener nationalen Minoritätenrechte, die seinerzeit bei der Pariser Friedenskonferenz gefordert worden waren. In Polen waren sie nie mehr denn symbolisch in Kraft getreten, und in Litauen wurde das Ministerium für jüdische Angelegenheiten 1924 abgeschafft. Abgesehen von regierungspolitischen Maßnahmen gab es immer wieder gewaltsame Ausschreitungen gegenüber jüdischen Staatbürgern. 1919/20 kam es in Polen zu Pogromen, ebenso 1927 in Rumänien. 1922 wurde der polnische Präsident Gabriel Narutowicz ermordet, weil er bei seiner Wahl jüdische Stimmen bekommen hatte, und 1924 fiel Walter Rathenau, der deutsche Außenminister (jüdischer Konfession), einem Attentat zum Opfer.

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Trotz Diskriminierung und Not waren Juden bis dahin nicht existentiell bedroht. Diese Situation änderte sich jedoch 1933 schlagartig. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde der Nationalismus jetzt offen und aggressiv verfochten, und zwar nicht als Ergänzung zum, sondern als Negierung des Liberalismus. Mit dem kommunistischen Rußland unter Iossif Stalin, das das östliche Ende Europas kontrollierte, und mit Nazi-Deutschland unter Adolf Hitler, das das Zentrum des Kontinents beherrschte, war vom Wilson-Programm aus dem Jahr 1918 wenig übriggeblieben.

Seit der Nachkriegszeit Während des Nationalsozialismus und Faschismus kam es zur völligen Entrechtung der Juden, erst in Deutschland und dann in fast ganz Europa. Es folgte die Vertreibung, bevor die Massenvernichtung begann. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieben die sogenannten Displaced Persons, zu einem Großteil jüdische Überlebende der Konzentrationslager, die nicht auswanderten, in verschiedenen Staaten Europas und versuchten dort eine neue Existenz aufzubauen. Allerdings kam es nach 1945 erneut und fast überall zu Anfeindungen gegenüber Überlebenden des Holocaust. In Polen und Rumänien, die 1946 zusammen eine jüdische Bevölkerung von über 600 000 hatten, leben heute nicht mehr als ein paar Tausend Juden. Als die kommunistischen Regime in Europa kollabierten und die Sowjetunion sich zwischen 1989 und 1991 auflöste, setzten jüdische Massenauswanderungen in erster Linie nach Israel, aber auch in den Westen (wo ein erneuertes und liberales Deutschland zum bedeutenden Immigrationsziel wird) ein. Damit reduzierte sich die jüdische Bevölkerung der neuen Nationalstaaten Rußland, Ukraine, Weißrußland und Litauen auf gerade einmal einen Schatten dessen, was sie vor 1990, ganz zu schweigen von 1939, gewesen war. Insgesamt hat der Triumph des Westens (erst über den Nazismus, dann über den SowjetKommunismus) ein System von Nationalstaaten geschaffen – einschließlich Israel –, in dem das jüdische Volk, dezimiert durch das Dritte Reich, jetzt frei wählen kann, wo es leben und Wurzeln schlagen möchte. Eine solche Situation hat es in der Vergangenheit noch nie gegeben. Die Emanzipation, die für das Individuum ein nie dagewesenes Ausmaß von Wahlmöglichkeit mit sich bringt – von der Ultra-Orthodoxie bis zur totalen Assimilation –, ist heute kein politisches Programm, sondern eine schlichte Tatsache. Woodrow Wilsons Plädoyer für eine Synthese von Liberalismus und Nationalismus, die nach dem Ersten Weltkrieg auf so katastrophale Weise scheiterte, ist seit dem Zweiten Weltkrieg in einem beachtlichem Maße verwirklicht worden (wenn auch in keinster Weise vollständig realisiert). Aber die Geschichte endet nicht, und niemand kann voraussagen, was das 21. Jh. für die Juden, den Nationalstaat und die Menschheit noch alles bereithält. (Aus dem Englischen von Ulrike Oudée Dünkelsbühler)

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Die zionistische Bewegung Die Entstehung der zionistischen Bewegung, der modernen jüdischen Nationalbewegung seit dem Ende des 19. Jhs., hat zahlreiche Interpretationen gefunden. Der Jerusalemer Historiker Shmuel Ettinger bezeichnete sie als einen entscheidenden Wendepunkt in der jüdischen Geschichte. Der kanadische Geschichtswissenschaftler Bernard Avishai nannte den Zionismus eine revolutionäre Bewegung. Ettingers israelischer Kollege, der Politologe Shlomo Avineri, konstatierte „die unglaubliche Vielfalt des zionistischen Denkens“, die in den modernen nationalen und sozialen Bewegungen ihresgleichen suche. Gleichwohl begann der Zionismus für Avineri mit einem Widerspruch: Er belebte die Verbindung zwischen dem jüdischen Volk und dem Land Israel wieder, ohne die Praxis des jüdischen Lebens in der Diaspora zu verändern. Dagegen versuchte Gideon Shimoni, die Ideologie des Zionismus als kohärentes aktionsorientiertes Gefüge von Ideen zu schildern. Für den in Tel Aviv lehrenden Historiker blickte der Zionismus gleichzeitig zurück in die Vergangenheit der jüdischen Ethnie, von der sich die Religion nicht trennen ließ, und als Werk der Intelligenz nach vorn in eine moderne Zukunft im eigenen Nationalstaat. Wer heute nach mehr als hundert Jahren auf die Entstehungszeit der zionistischen Bewegung zurückschaut, wird Deutungen wie diese im Auge behalten müssen. Der politische Zionismus war zum einen der Reinterpretation der jüdischen Gegenwart zu verdanken, die sich von der bisher vorherrschenden, auf göttliche Intervention wartenden Sichtweise der Erlösung des jüdischen Volkes und der Welt löste und dabei ideologische Segmente aus den großen Bewegungen der Zeit, Nationalismus, Liberalismus und Sozialismus, übernahm. Zum anderen ist seine Wirkung auf die jüdischen Bevölkerungen Europas nicht ohne den Antisemitismus zu verstehen, dessen vermeintlich naturwissenschaftliche Argumentationsweise den Ausweg aus dem jahrhundertealten Judenhaß verschloß, den bisher die Taufe geboten hatte. Das politische Gravitationszentrum des Zionismus lag zunächst in Mitteleuropa. Aber die militärische Kapitulation des Deutschen Reiches sorgte dafür, daß sich die Behauptung des Soziologen und Nationalökonomen Franz Oppenheimer (1864–1943) erledigte, der Zionismus sei eine Aktion, „bei der wir [die deutschen Zionisten] die Regie führen und die Ostjuden die Akteure sein müssen“. Nach dem Ersten Weltkrieg verlagerte sich das zionistische Handeln vom Kontinent zunächst auf Großbritannien als Mandatar des Völkerbundes, um von da aus in zwei Richtungen zu wirken: in die Vereinigten Staaten von Amerika, deren Rolle als künftige Weltmacht sich abzuzeichnen begann und die seit dem Ende des 19. Jhs. große Zahlen jüdischer Einwanderer aus Osteuropa aufgenommen hatten, sowie nach Palästina selbst. So zahlenmäßig schwach die dortige jüdische Niederlassung (Jischuw) auch erschien, so außergewöhnlich war die Dynamik, die sie im Land entfaltete.

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Ihr hatten das auf die Wahrung seiner imperialen Interessen bedachte London und die arabische Bevölkerung wenig entgegenzusetzen. Zwar blieb die britische Balfour-Deklaration vom November 1917 hinter den zionistischen Erwartungen zurück, doch bot Woodrow Wilsons Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker ihnen vielfältige Gestaltungsräume. Das jüdische Volk war noch kein Völkerrechtssubjekt, aber die alliierte Konferenz von San Remo im April 1920 definierte die britische Herrschaft bis zum Eintritt der Unabhängigkeit der ihr anvertrauten Völker als Übergangsregime. Konnte die zionistische Bewegung in der internationalen Öffentlichkeit bis dahin nur eine nachgeordnete Aufmerksamkeit für sich beanspruchen, so wurde sie nun Teil der Regional- und schließlich der Weltpolitik. Infolge des anhaltenden Konflikts Israels mit den arabischen Staaten und besonders seinen palästinensischen Nachbarn sind die europäischen Ursprünge der zionistischen Ideengeschichte und des von ihr ausgelösten Pathos des nationalen Aufbruchs fast gänzlich in den Hintergrund gedrängt und durch Polemik und Apologie verdunkelt worden. Das existentielle Kontinuum des Staates Israel hat eine politische und gesellschaftliche Normalisierung ausgelöst, die die Väter und die (wenigen) Mütter des Zionismus überrascht hätte. Deshalb finden sich in der zeitgenössischen zionistischen Literatur häufig Titel und Untertöne, die die ganze Bandbreite der Streitfragen und Widersprüche von heute repräsentieren. Ihr ist sogar die Schlußfolgerung nicht fremd geblieben, daß das Scheitern der israelischen Demokratie mit ihren liberal-demokratischen Ansprüchen der inneren Logik des Zionismus zuzuschreiben sei. Verfolgt man die Gründe dieses Urteils, so muß man auf das Dilemma hinweisen, daß für die Entwicklung pluralistischer zivilgesellschaftlicher Normen nur kurze Zeiträume von zweimal fünfzig Jahren, der britischen Mandatszeit und der Zeit nach 1948, zur Verfügung standen. Vorher hatten sich jüdische Erfahrungen in der Politik jahrhundertelang im Halbschatten zwischen Pogrom und Privilegierung bewegt. Aus systematischen Überlegungen findet diese Darstellung der zionistischen Ideengeschichte mit dem Ausgang des Ersten Weltkrieges ihren Abschluß; weitergehende Anmerkungen dienen dazu, aktuelle Probleme auf ihre theoretischen Grundlagen und deren Historie zu befragen.

Die Vorläufer des politischen Zionismus Fast durchgängig wird die Entstehung des politischen Zionismus in die Reihe der nationalen Emanzipationsbewegungen im europäischen 19. Jh. gestellt. Für die Juden hinterließen sie ein janusköpfiges Profil: Sie belasteten ihr defensives Identitätsbewußtsein, das von der Erwartung des messianischen Zeitalters geprägt war. Von nun an sollte das jüdische Leben vom Himmel auf die Erde verpflanzt werden. Die theologischen Axiome von Bund und Verheißung, Belohnung und Strafe, Sünde und Versöhnung wichen anthropozentrischen Konzepten und gesellschaftspolitischen Programmen. Zugleich wurden im Zionismus zu Zwecken der Selbstlegitimierung Stimmen laut, die unter dem Eindruck von Emanzipation und Aufklärung vor den Gefahren des kulturellen Zerfalls des Judentums

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warnten. So befürchtete der in Prag geborene Philosoph Hugo Schmuel Bergmann (1883– 1975) frühzeitig die Entstehung eines „amerikanischen Palästina“. Auch für den ethischen Sozialisten Georg Landauer (1897–1954) konnte es nicht darum gehen, „zu vielen Ländern der Zerstreuung eben noch eines, Palästina, hinzuzufügen“. Die Charakterisierung von Moses Hess (1812–1875) als „Kommunisten-Rabbi“ war kein Zufall. Denn in seinen zwölf fiktiven Briefen und fünf Epilogen, die er 1862 unter dem Titel Rom und Jerusalem veröffentlichte und die der Historiograph Adolf Böhm als „das erste klassische Werk des modernen Zionismus“ feierte, verband Hess aufgrund seiner Erkenntnis, daß die Juden wie die Italiener und die Deutschen zu den verspäteten Nationen gehörten, gesellschaftspolitische Überlegungen mit dem konkreten Ort Zion zu einer Synthese: „Was nicht der Bruder vom Bruder, nicht der Mensch vom Menschen erlangen konnte, das Volk wird’s vom Volke, die Nation von der Nation erringen.“ In seinem praktischen Teil konnte sich Hess auf den in Thorn an der Weichsel amtierenden Rabbiner Zwi Hirsch Kalischer (1795–1874) berufen, der eine Übersiedlung frommer Juden nach Palästina nicht nur im Sinne des rabbinischen Traditionalismus als „von höchst religiösem Verdienste“ pries, sondern sie erstmals mit „den segensreichen Früchten der angestrengten Arbeit“ und insbesondere „der Agricultur des Bodens“ verknüpfte. Kalischer stellte das „fleißige Studium der heiligen Thora“ mit der Befreiung von den „drückenden Fesseln der Armuth“ auf eine Ebene. Interessanterweise legte er seine Programmschrift Wege nach Zion im selben Jahr – 1862 – vor, in dem Hess seine Briefe veröffentlichte. Ähnlich äußerte sich Kalischers Zeitgenosse, der in Sarajewo geborene Rabbiner Jehuda Alkalai (1798–1878). Alkalai wollte unter Verweis auf die Landnahme Josuas und den Landkauf Jakobs in Sichem die belebende Flamme wieder entfachen, damit „unser heiliges Land von unseren Glaubensgenossen in großer Zahl und unter sicheren bürgerlichen Verhältnissen bewohnt werden könne, dann wird sich Gottes Geist uns zuwenden“. Diese belebende Flamme drohte nicht nur in Westeuropa zu erlöschen. In Osteuropa bestand seit Beginn des industriellen Zeitalters die Gefahr der Proletarisierung der jüdischen Bevölkerung. Die Älteren, schrieb Chaim Weizmann (1874–1952) 1903 in einem Brief an Theodor Herzl (1860–1904), seien in Tradition und orthodoxer Inflexibilität gefangen und „die Jungen machen ihre ersten Schritte auf der Suche nach Freiheit von allem Jüdischen“. Unter den Einwirkungen von Assimilation und Pogrom war es also an der Zeit, dem prophetischen Aufruf „Kommet nun, ihr vom Hause Jakob, und laßt uns wandeln im Lichte des Herren“ (Jes 2,5), die politische Konsequenz folgen zu lassen: Die „Wiederherstellung des jüdischen Volkes in Syrien und Palästina“ forderten in verschiedenen russischen Städten aktive Vereine wie die „Zionsliebenden“ (Chowewei Zion) und die Mitglieder der „Liebe für Zion“ (Chibat Zion). Ihren Spuren folgte der in Odessa wirkende Arzt Leon Pinsker (1821–1891) mit seiner 1882 zunächst anonym in Berlin erschienenen Schrift AutoEmanzipation: Als Antwort auf den Antisemitismus forderte er „eine sichere Heimat“, um „der Judenfrage den Boden für immer zu entziehen“. Den frühen Zionisten fehlte freilich eine organisatorische Mitte, die in der Lage gewesen wäre, ihre Kräfte zu bündeln. Deshalb widmeten sie sich, so sie nicht selbst den Weg nach

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Palästina einschlugen, vornehmlich der Sammlung von Spenden, obwohl sie aus Überzeugung die Abhängigkeit des damals in Palästina üblichen Lebens frommer Juden von der Wohltätigkeit (Chalukka) und von den ständigen Subsidien des Pariser Bankiers Edmond de Rothschild (1845–1934) ablehnten. Doch auch diejenigen, die voller Enthusiasmus in das Heilige Land auswanderten, sahen sich binnen kurzem herben Enttäuschungen ausgesetzt. Ihre Begeisterung schwand angesichts der ärmlichen Umstände des neuen Lebens, der gesundheitlichen Strapazen und der kulturellen Fremdartigkeit des arabischen Palästina. Das neue Zentrum der politischen und agitatorischen Arbeit wurde Deutschland. In Berlin und in anderen Universitätsstädten lebten zahlreiche Studenten aus Rußland und Polen, die daheim eine traditionelle Ausbildung durchlaufen hatten, aber unter den Einfluß der Haskala gerieten. Aus dieser Protesthaltung heraus äußerte sich der Hebräisch schreibende Perez Smolenskin (1842–1885) vehement gegen das sklavenhafte Leben der Bibelfrömmigkeit: Du bist ewig, Du kannst warten. Denn tausend Jahre sind vor Dir wie ein Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Unsere Geduld ist aber zu Ende. Vergib Deinen Kindern also, wenn sie das Nahen des Tages beschleunigen.

Köln wurde zur Zentrale der Zionisten. Hier stellten der Rechtsanwalt Max Isidor Bodenheimer (1865–1940) und der in Litauen geborene Holzgroßhändler David Wolffsohn (1856–1914) im Jahr 1894 der Öffentlichkeit einen „Verein behufs Förderung der jüdischen Ackerbaucolonien in Syrien und Palästina“ vor und suchten Verbindungen in viele deutsche Städte zu dortigen Sympathisantengruppen herzustellen. Nach dem Tode Herzls amtierte Wolffsohn von 1907 bis 1911 als Präsident der Zionistischen Weltorganisation. In Köln wurde auch die „Zionistische Vereinigung für Deutschland“ gegründet; zu ihrem einflußreichen Vorsitzenden wurde von 1924 bis 1933 Kurt Blumenfeld (1884–1963).

Theodor Herzls Programm und seine Kontrahenten Der Begriff Zionismus in seiner politischen Bedeutung tauchte erstmals Anfang der achtziger Jahre bei dem Wiener Schriftsteller Nathan Birnbaum (1864–1937) auf. Bis dahin war von jüdisch-nationalen Bestrebungen die Rede gewesen. Hatten frühere intellektuelle Debatten und Broschüren zur nationalpolitischen Formierung der Juden keinen nachhaltigen Erfolg ausgelöst, so änderte sich dies fast über Nacht durch das Auftreten Herzls. Er stammte aus einer assimilierten Familie aus Budapest, war als 18jähriger nach Wien gegangen und versuchte sich nach dem Jurastudium mit Erfolg als Literat. Frühzeitig mit dem latenten antisemitischen Klima in Wien vertraut, erlebte er in Paris als Korrespondent der Neuen Freien Presse mit dem Prozeß gegen den elsässisch-jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus (1859–1935) die entscheidende Verwundung seines Stolzes als Jude. Daß ausgerechnet in diesem – wie er schrieb – „hochentwickelten“, von den freiheitlichen Ideen der Französischen Revolution zehrenden Land der Antisemitismus derart Furore machte, ließ ihn in weniger als acht Monaten sein programmatisches Buch Der Judenstaat schreiben, das er 1896 vorlegte. Die Erkenntnis „Die Judenfrage besteht. Es wäre töricht, sie zu leugnen“ ver-

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längerte er in das Bekenntnis „Wir sind ein Volk, ein Volk“, um daraus die Schlußfolgerung zu ziehen, daß es eines eigenen Nationalstaates bedurfte: Man gebe uns die Souveränität eines für unsere gerechten Bedürfnisse genügenden Stückes der Erdoberfläche, alles andere werden wir selbst besorgen. Das Entstehen einer neuen Souveränität ist nichts Lächerliches oder Unmögliches. Wir haben es doch in unseren Tagen miterlebt, bei Völkern, die nicht wie wir Mittelstandsvölker, sondern ärmere, ungebildete und darum schwächere Völker sind.

Während die Angehörigen der jüdischen Milieus in Osteuropa von der religiösen Überzeugung geprägt waren, die Juden seien immerwährend „ein Volk, das allein lebt“ (Num 23,7 ff.), glaubte Herzl an die gesellschaftliche Fundamentierung des Antisemitismus und damit an die politische Aufklärung zu dessen Beendigung: Sein Plan eines Judenstaates würde die Regierungen Europas lebhaft interessieren. Der Topos der Ethnizität wurde erneut entscheidend, doch diesmal nicht als theologisches Konstrukt, sondern als Aufruf zur Besinnung auf die eigenen Kräfte. Sie sollten die jüdische Spiritualität und Identität über Zeit und Raum retten. Herzl widmete sich fortan dem Aufbau einer gefestigten Organisationsstruktur, deren erstes Ergebnis auf dem I. Zionistenkongreß in Basel vom 29. bis 31. August 1897 sichtbar wurde. Die mehr als 200 Delegierten vor allem aus Ost- und Südosteuropa verabschiedeten das Basler Programm, in dem es hieß: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina.“ Herzl entwickelte eine rastlose diplomatische Reisetätigkeit in die europäischen Hauptstädte und zum Sultan nach Konstantinopel. In den Zentren der Macht wollte er für die Idee des Judenstaates werben. Unter den Juden selbst war jedoch nur eine Minderheit bereit, aus diesem Programm persönliche Konsequenzen zu ziehen. Während zwischen 1881 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges rund 2,5 Millionen Juden aus dem Zarenreich vor allem nach Amerika auswanderten, fanden nur 30 000 den Weg nach Palästina, von denen ein Drittel das Land schon vor dem Ersten Weltkrieg wieder verließ. Da Herzls Bemühen um eine Charter – die regierungsamtliche Zustimmung zur Schaffung einer nationalen Heimstätte – scheiterte, meldeten sich Anfang des neuen Jahrhunderts vermehrt Stimmen zu Wort, die aus dem Fehlschlag die Konsequenz einer verstärkten Kulturarbeit ziehen wollten, statt sich in die Wechselfälle der Kabinettspolitik zu begeben. Zu den Vertretern dieser „Demokratischen Fraktion“ gehörten Persönlichkeiten wie Chaim Weizmann, Martin Buber (1878–1965), der spätere Leiter des Kopenhagener Büros der Zionistischen Weltorganisation Leo Motzkin (1867–1933) und der nachmalige Mitbegründer des Jüdischen Verlags in Berlin Berthold Feiwel (1875–1937). Zusätzlichen Auftrieb gewann die Opposition durch Herzls Annäherung an Großbritannien, das die Zustimmung zu einer jüdischen Kolonie auf dem ostafrikanischen Hochplateau in Erwägung zog, nachdem der Sultan des Osmanischen Reiches, der über Palästina regierte, Herzls Antichambrieren abgewiesen hatte. Londons Vorschlag ist unter dem Stichwort „Uganda-Plan“ in die Geschichte des Zionismus eingegangen und löste unter den russischen Zionisten heftige Widerstände aus, obwohl die dortige jüdische Bevölkerung im selben Jahr (1903) durch Pogrome in höchste Unruhe versetzt worden war.

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Dennoch verfolgte der radikale Flügel, der sich in der „Jewish Territorial Organization“ unter dem Einfluß von Israel Zangwill (1864–1926) zusammenfand, weiterhin Pläne zur Ansiedlung in der Cyrenaika, in Zentralafrika, in Südamerika und sogar Australien weiter. Für Zangwill war der Zionismus realistisch, „wenn nur nicht Zion wäre“. Herzl selbst mußte seine Londoner Kontakte durch sein Gelöbnis zur Treue für Palästina verteidigen. Sein Tod am 3. Juli 1904 löste Entsetzen und Ratlosigkeit aus; der auf das Wirken seiner Persönlichkeit zugeschnittenen Bewegung drohten sich die widerstreitenden Kräfte der Charteristen und der Gegenwartsarbeiter zu bemächtigen. Die Gegensätze wurden erst auf dem X. Zionistenkongreß 1911 beigelegt. Dagegen blieben die Gegensätze zwischen den beiden Sonderverbänden in der Organisation, dem religiösen Misrachi und den sozialistisch orientierten „Arbeitern Zions“ (Poale Zion), weiter auf der Tagesordnung. Während sich der Misrachi in Palästina, ermuntert vom damals in Jaffa amtierenden aschkenasischen Rabbiner Abraham Isaak Kook (1865– 1935), um die religiöse Erziehung der Einwanderer kümmern wollte, konstituierten die Poale Zion unter Führung David Ben-Gurions (1886–1973) das Ideal der Pioniere (Chaluzim) als Vorkämpfer für das gesamte jüdische Volk, die als „Muskeljuden“ – wie sie Herzls enger Freund und Stellvertreter, der Arzt und Literat Max Nordau (1849–1923), genannt hatte – den Antisemiten das Hirngespinst vom schwächlichen, die körperliche Arbeit scheuenden Ghettojuden austreiben sollten. Neben den religiösen Traditionalisten sah sich der Zionismus im Zarenreich gleichzeitig der ernsthaften Konkurrenz des 1897 in Wilna gegründeten „Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes für Litauen, Rußland und Polen“ ausgesetzt. Der Bund hielt aus verschiedenen Gründen Palästina zur Behebung der Judennot für eine Utopie, strebte statt dessen Lösungen im Rahmen einer nationalen Autonomie vor Ort an und plädierte für eine politische und gewerkschaftliche Verständigung mit den russischen und polnischen Sozialdemokraten. Der politische Zionismus stand mithin vor mehrfachen Herausforderungen. Zum einen trat er wie eine Bewegung der Revolte gegen den theologischen Monismus auf und machte sich den folgenreichen Gedanken zu eigen, „den Glauben und die Hoffnung vom Himmel herunterzuholen und sie in lebendige, reale Kräfte umzusetzen“, wie der unter dem Pseudonym Achad Haam („einer aus dem Volk“) schreibende Ascher Zwi Ginzberg (1856–1927) ahnungsvoll schrieb. Achad Haam erwartete von der jüdischen Kolonisation Palästinas keine grundlegende Heilung für die Not der Judenheit und plädierte statt dessen nachdrükklich für den Aufbau eines „geistigen Zentrums“, dessen Werke in das jüdische Commonwealth ausstrahlen und seinen Bürgern neuen spirituellen Halt geben würden. Nichtsdestoweniger delegitimierte der Zionismus als Konzept einer selbsternannten Avantgarde die – so Gershom Scholem (1897–1982) – „unerweckte Diaspora“ und damit deren grundlegende Voraussetzungen: die Garantie des plural verfaßten liberalen Gemeinwesens, dem der Schutz von ethnischen, religiösen und politischen Minderheiten angelegen sein muß. Andererseits war ohne den Respekt vor der jahrhundertealten religiösen Observanz keine Einwanderung nach Palästina vorstellbar. Wenn auch in säkularisierter Version, blieb der Messianismus im zionistischen Pathos erhalten. Mit dem Basler Programm war nur auf den

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ersten Blick der gesetzestreue Weg zugunsten der Forderung nach nationaler Ebenbürtigkeit unter den Völkern aufgegeben, denn der Zionismus mußte sich zu seiner Legitimation auf die jüdische Präsenz im Land der Bibel berufen. Dabei verwandelte er die Erwählung Israels (Deut 4,32ff.) in ein sozialutopisches Programm zum Aufbau des Landes und formte den göttlichen Zuspruch vom „Licht für die Völker“ (Jes 42,6; 49,6) in das Theorem einer beispielhaften Ordnung der sozialen Gerechtigkeit um, die das „ewige Volk“ (Am Olam) der Welt schenken werde. In der Praxis entstand freilich eine eigentümliche Mischung aus voluntaristischem Sozialismus und dezidiertem Patriotismus, die Ben-Gurion in der Formel „von der Klasse zur Nation“ zusammenfaßte. Der Jerusalemer Historiker Zeev Sternhell hat kürzlich auf die ideologische Verwandtschaft von Oswald Spenglers Buch Preußentum und Sozialismus von 1920 und dessen Satz hingewiesen: „Der Sozialismus bedeutet Macht, Macht und immer wieder Macht.“ Insofern sprach der Zionismus nur bedingt die „innere Judenfrage“ an – nach Martin Buber „die Stellungnahme jedes einzelnen zu der ererbten Wesensbesonderheit“, die sich im „Volljudentum“ erfülle –, auch ernstliche Erwägungen zu einem palästinischen Kulturzentrum interessierten ihn wenig. Achad Haam vermutete denn auch in Herzls Roman Altneuland einen Judenstaat ohne Judentum und warf die später häufig wiederholte Frage auf, ob denn die Juden die prophetische Warnung nicht gehört hätten, ein Volk gleich allen Völkern werden zu wollen (Ez 20,32). Andere Autoren befürchteten, daß die Juden keine Ruhe finden würden, solange sie unter den Völkern lebten. Noch vor kurzem ließ sich der israelische Schriftsteller A. B. Yehoshua zu der Kritik hinreißen, ungeachtet der Schoa klammere sich das jüdische Volk wie ein Blutegel an andere Völker, statt sich nach der Gründung des Staates Israel seiner historischen Verantwortung bewußt zu werden.

Die Entdeckung der arabischen Bevölkerung Die jüdische Einwanderung und die dadurch ausgelöste „Eroberung des Bodens“ – der systematische Kauf von zusammenhängenden Bodenflächen für die Einwanderer – trafen schon im ausgehenden 19. Jh. auf arabische Widerstände. Durch die Revolution der Jungtürken im Jahr 1908 sahen sie sich bestätigt. Zwar äußerte sich die Abwehr fremder politischer Ansprüche noch längst nicht als Forderung nach einem eigenen Staat, griff jedoch auf die arabische Tradition vom Haus des Islam zurück, die jede fremde politische Souveränität in seiner Mitte ablehnt. Die breitgestreute Gegenwehr bewegte Aaron David Gordon (1856– 1922), den ideologischen Begründer der Kolonisationsarbeit, zu der Einschätzung: „Die Initiatoren [der Opposition], die hauptsächlichen Motoren, die die arabische Bewegung führen, sind die Effendis, überhaupt die arabische Intelligenz. Aber sie sind nicht alles, nicht einmal die Hauptsache. So ist es doch bei jeder nationalen Bewegung.“ Die europäischen Erfahrungen des Antisemitismus, aus denen von zionistischer Seite das politische Leitbild der jüdischen Unabhängigkeit hervorging, und die kulturelle Distanz, deren Abwehrgefühle auf Gegenseitigkeit beruhten, boten die Idee einer Sonderexistenz ge-

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radezu an. Der Wunsch nach Trennung der Lebenssphären war innerjüdisch, aber auch ein sozialpolitisches Problem, weil nach den Worten des Siedlungsökonomen Arthur Ruppin (1876–1943) nur aus dem „Werk unserer Hände“ ein Recht auf den Boden zu gewinnen sei. Noch der ärmste Immigrant war auf ein höheres Einkommensniveau angewiesen und stand deshalb bei den Brotgebern in den jüdischen Kolonien in harter Konkurrenz zu den arabischen Arbeitskräften. Deshalb holte Ruppin Anfang des Jahrhunderts einige tausend Juden aus arabischen Ländern, vor allem aus dem Jemen, nach Palästina, „weil ihr ‘standard of life’ niedriger“ war. Die 1920 gegründete Gewerkschaftsorganisation, die gleichzeitig eine Vielzahl wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Aufgaben übernahm, gab sich den Namen „Allgemeiner Verband der hebräischen Arbeiter im Lande Israel“. Zudem hatte gemäß der These Herzls vom Judenstaat als einem „Stück des Walles gegen Asien“ kein Araber dem Lande seinen charakteristischen Stempel aufgedrückt; bestenfalls gab es hier ein arabisches Wohnlager. Die jahrhundertelange Kontinuität ihrer Präsenz begründete lediglich ein geschichtlicher Zufall. Bei seiner Ankunft im Hafen von Jaffa fragte sich der Schriftsteller Moshe Smilansky (1874–1953): „Was tun diese Araber hier? Warum sind sie so arm, so schmutzig, während der Boden um ihre Dörfer so gut und fruchtbar ist?“ Gordon empfand seine ersten Erfahrungen mit den Bewohnern als Begegnung mit „einer Art schmutziger, würdeloser Kreatur“, deren Trostlosigkeit in krassem Gegensatz zum spirituellen Niveau und zur natürlichen Schönheit des Landes Israel stehe. Daraus leitete Gordon die Frage ab, was die Araber in all den Jahren an bleibenden Leistungen produziert hätten. Nathan Birnbaum erblickte zwar eine „verfallene Cultur“ in Palästina, glaubte aber daran, daß das künftige „jüdische Staatsvolk“ zum „langgesuchte(n) Mittler zwischen Morgen- und Abendland“ werden könne. Andere Zeitgenossen hielten es für inakzeptabel, wenn den Juden das Recht auf das Land ihrer Väter bestritten würde, nachdem sogar „die Neger Afrikas“ eine eigene Republik, Liberia, gegründet hatten. Dagegen warnte Achad Haam vor der Fiktion, daß es sich bei ihnen um Wilde handle: Selbst wenn der Araber ruhig bleibe, obwohl er „unsere Tätigkeit im Lande nach deren Zweck durchschaue“, lasse er sich nichts anmerken, bis die Zeit zum Handeln reif sei. Der Schöpfer der modernen hebräischen Sprache, Elieser Ben Jehuda (1858–1922), schwankte zwischen der jüdischen Liebe zur alten Heimat und Eindrücken, die die ersten Begegnungen mit den „ismaelitischen Cousins“, den „Bürgern dieses Landes“, bei ihm hinterließen. Die Devise der Arbeiterbewegung lautete, der arabischen Opposition durch die Anhebung des allgemeinen Lebensstandards den Stachel zu nehmen. So glaubte einer ihrer prominentesten Führer, Chaim Arlosoroff (1899–1933), daß auf diesem Wege „wir nach und nach einer Zukunft entgegen(gehen), die letzten Endes ein friedliches Zusammenleben und eine gegenseitige Verständigung der beiden arbeitenden Völker bringen muß“. Der spätere Revisionist Wladimir Zeev Jabotinsky (1880–1940) zeigte sich skeptischer und warnte schon 1910 in seinem Essay Homo Homini lupus vor einer Moral des „kindischen Humanismus“, um später hinzuzufügen, daß kein Araber „seine Nationalphantasie für ein Butterbrot verkaufe“.

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Die zionistische Bewegung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Während Herzls „Judenstaat“-Idee in Osteuropa begeistert aufgenommen wurde, blieben die Widerstände im Westen zahlreich. Neben der religiösen Orthodoxie gingen sie von einer Mehrheit der Juden aus, an deren Spitze in Deutschland liberale Rabbiner und der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV)“ standen. Angesichts ihrer staatsbürgerlichen Stellung und des hohen Grades ihrer Akkulturation schien die Rückkehr nach Palästina als Anachronismus und als Bestätigung des Vorwurfes der doppelten jüdischen Loyalität. Der geschäftsführende Vorstand des Rabbiner-Verbandes in Deutschland – die sogenannten Protestrabbiner – veröffentlichte schon vor dem Basler Kongreß eine Erklärung, in der er sich gegen „irrige Vorstellungen [des Zionismus] über den Lehrinhalt des Judenthums“ verwahrte, die den messianischen Verheißungen widersprechen würden. Aber auch unter den deutschen Zionisten selbst unterschied sich die Position derjenigen, die den Zionismus als Appell für philanthropische Hilfe für die von Verfolgung, Pogrom und wirtschaftlichem Elend heimgesuchten Juden Osteuropas betrachteten, von der Auffassung anderer, die aus einer grenzenlosen Assimilation, die Nathan Birnbaum als „Affentalent“ gegeißelt hatte, den Weg zur Wiederbelebung der nationaljüdischen Kultur suchten, ohne diese genau definieren zu können, es sei denn in religiösen Kategorien. Sie stimmten allerdings in der Überzeugung überein, daß die Juden aller Länder durch gemeinsame Abstammung und Geschichte miteinander verbunden seien, ohne daß dieses Bekenntnis die patriotische Gesinnung und die staatsbürgerlichen Pflichten für ihr jeweiliges „Vaterland“ beeinträchtige. Zionisten der jüngeren Generation hielten solche defensiven Einstellungen für unangemessen und überholt. Dazu gehörten auch Gershom Scholem, Kurt Blumenfeld und Ernst Simon (1899–1988). Während sich der letztere in einem Brief an seinen Vater vom Februar 1918 zunächst darauf beschränkte, voller Verachtung von der „Degeneration … des Tauentzien-Judentums“ und seinem „Vegetieren als Parasiten“ zu sprechen, verlangte Scholem dezidiert eine religiöse Rückbesinnung, „daß wer ein Zionist ist, nach Thora streben muß, nicht nach Erlebnissen, sondern nach Leben, und daß der Zionist das Wort Gottes nur von Jerusalem vernehmen kann“. Noch bevor er in das ihm unbekannte Land reiste, gehörte Blumenfeld, damals Generalsekretär der Zionistischen Weltorganisation, zu denjenigen, die auf dem Delegiertentag der Zionistischen Vereinigung für Deutschland im Mai 1912 in Posen eine für die damalige Zeit geradezu revolutionäre Resolution durchsetzten – „die Übersiedlung nach Palästina in ihr Lebensprogramm aufzunehmen“. Daß eine so weitgehende Forderung beanstandet wurde, war nicht nur darauf zurückzuführen, daß die Angehörigen gutbürgerlicher Kreise nicht erkennen konnten, wie sie sich im unbekannten Palästina einrichten sollten. Sie konnten auch Blumenfelds Postulat „Der Zionismus ist die Rückkehr zum Judentum vor der Rückkehr ins Judenland“ schwer deuten, zumal dieser Aufruf negativ und allgemein als Abkehr von einer vertrauten Kultur definiert wurde. Wenn Martin Buber in seinen Drei Reden über das Judentum die Kategorie des Blutes bemühte, das „die Kette der Väter und Mütter, ihre Art und ihr Schicksal, ihr Tun

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und ihr Leiden in uns“ konstituiere, dann luden solche Definitionen bestenfalls zu Mißverständnissen ein, wenn sie nicht sogar als Anleihe an die völkische Ideologie abgelehnt wurden.

Auf dem Weg zur „Balfour Declaration“ Mit dem krankheitsbedingten Ausscheiden David Wolffsohns aus der Führung des Weltkongresses 1911 rückte das Ende der deutschen Vorherrschaft in der zionistischen Bewegung näher. Bis auf eine Ausnahme stiegen die „Russen“ in die Leitung (das Engere Aktionskomitee) auf. Während im Zarenreich eine neue Welle der Verfolgungen und Pogrome heranrollte, erklärten die osmanischen Behörden die jüdische Bevölkerung Palästinas zu feindlichen Ausländern, weil sie Staatsbürger ihres Herkunftslandes geblieben waren, statt die türkische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Zu den 18 000 Juden, die während des Weltkrieges zumindest vorübergehend Palästina verlassen mußten, zählten Ben-Gurion und der spätere zweite Staatspräsident Israels, Itzhak Ben-Zwi (1884–1963). Beide gingen in die USA und versuchten wie Jabotinsky von London aus, die Alliierten für eine Jüdische Legion zu gewinnen. Da die Juden der westlichen Staaten es für selbstverständlich hielten, im Krieg ihrem jeweiligen Vaterland zu dienen, verkündete das Aktionskomitee Ende 1914 von Kopenhagen aus die politische Neutralität der Organisation. Zunächst ohne Auftrag übernahm Weizmann, der an der Universität Manchester anorganische Chemie unterrichtete, eine Schlüsselrolle für die künftige Entwicklung. Dem allgemeinen Prestigezuwachs kam zugute, daß er auf den Sieg der Alliierten setzte. Ende 1916 wurde Lloyd George, in dessen Anwaltskanzlei einst das Uganda-Projekt ausgearbeitet worden war, zum Premierminister ernannt. Das Amt des Außenministers übernahm Arthur James Balfour (1848–1930), Innenminister wurde der spätere erste Hochkommissar für Palästina Herbert Louis Samuel (1870–1963). Weizmann begegnete der Ankündigung dieser Gesprächspartner zunächst mit äußerster Skepsis. Von entscheidender Bedeutung für Weizmann wurde jedoch die Zusammenarbeit mit dem Hauptsekretär des Kriegskabinetts: Nachdem Mark Sykes als britischer Unterhändler mit Frankreich 1916 ein Geheimabkommen zur Teilung der Einflußsphären im Nahen Osten vorbereitet hatte (Sykes-Picot-Abkommen), förderte er jetzt das politische Anliegen des Zionismus. Gleichzeitig boten die Briten im Februar 1917 seinen Vertretern, die inzwischen von Weizmann in die Verhandlungen mit einbezogen worden waren, Galiläa und einen Korridor nach Jerusalem als jüdische Heimstatt an. Das war zu wenig. Auch in den USA war es der bis dahin schwachen zionistischen Organisation gelungen, unter Hinweis auf die Verfolgungen in Rußland und in Palästina – bis zu Präsident Woodrow Wilson hinauf – gute Kontakte aufzubauen. Nach zahlreichen Kompromißangeboten und noch mehr Widerständen, die nicht zuletzt von britischen Juden ausgingen, gab Balfour am 2. November 1917 an die Adresse des Präsidenten der „English Zionist Federation“, Lord Lionel Walter Rothschild, folgende Sympathieerklärung ab: „Seiner Majestät Regierung betrachtet mit Wohlwollen die Schaffung einer nationalen

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Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk und wird die größten Anstrengungen unternehmen, um die Erreichung dieses Ziels zu erleichtern, wobei klar verstanden wird, daß nichts getan werden soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte bestehender nichtjüdischer Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und die politische Stellung der Juden in irgendeinem anderen Lande beeinträchtigen könnte.“ Sechs Tage später, als die Erklärung veröffentlicht wurde – die Londoner Times titelte „Palästina den Juden“ –, zog Feldmarschall Edmund Allenby mit seinen gegen die Türkei siegreich gebliebenen Soldaten in Jerusalem ein. „Das Ziel der Kreuzfahrer war erreicht“, schrieb Hans Kohn 1928 in seiner Geschichte der nationalen Bewegung im Orient im Rückblick auf den Einzug Allenbys: „Jerusalem befand sich wiederum in den Händen christlicher Mächte.“ 28 Jahre nach San Remo ging das britische Mandatsregime mit der Gründung des Staates Israel zu Ende, während die politische Unabhängigkeit des palästinensischen Volkes, dessen Angehörige unspezifisch als „nicht-jüdische Gemeinschaften“ angesprochen worden waren, nach wie vor auf sich warten läßt.

Abschlußbemerkung Für die Frühzeit der zionistischen Bewegung bis zum Ersten Weltkrieg bleibt festzuhalten, daß die Ideen des säkularen Nationalgedankens, der staatsbürgerlichen Emanzipation, der sozialen Bewegungen und der Fortdauer des europäischen Antisemitismus nur vier Seiten im Fünfeck der künftigen Entwicklung des politischen Zionismus ausmachten. Denn gegenüber dem Willen zur Modernisierung des jüdischen Volkes gelang es dem religiösen Traditionalismus alsbald, sich deutlich in Erinnerung zu bringen. Zum einen mußte der Zionismus den religiösen Instanzen im Land Kompromisse anbieten, die Herzls Verlangen konterkarierten, die Rabbiner in ihre Synagogen zu verbannen. Zum anderen gewährte er durch seinen Rückgriff auf theologische Konstrukte den religiösen Kräften einen Gestaltungseinfluß, den diese zu eigenen Zwecken ausnutzten: zur Entwicklung eines „dialektischen Messianismus“. Insofern erlebte der Zionismus frühzeitig Versuche der Umdeutung von einem politischen und sozialen Konzept in religiöse Mystik. Nach den Worten des Misrachi-Führers Isaak Jakob Reines (1839–1915) gab es kein größeres Sakrileg als die Behauptung, „daß der Zionismus einen wesentlichen Teil des Säkularismus ausmacht“. Kooks Aufrufe zur Erziehung gegen den Strom der Zeit waren zwar jahrzehntelang nicht mehr als eine Marginalie, die gesellschaftlich nur geringe Wirkung entfaltete. Aber sie verschaffte sich nach dem Junikrieg 1967 desto nachdrücklichere Geltung, als mit der Gewinnung Ost-Jerusalems, Samarias und Judäas – der Westbank – das Verhältnis zwischen Volk und Religion um die dritte Komponente in dieser Trias, das Land Israel, ergänzt wurde. Nach religiös-orthodoxer Überzeugung bildet die Souveränität über die biblischen Landstriche die Voraussetzung für den Einklang mit Gott.

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Juden und Demokratie Der Begriff „Demokratie“, worunter die Griechen „Volksherrschaft“ verstanden, ist ein dehnbares Konzept. In der neueren europäischen Geschichte taucht es, wenn auch noch mit vielen christlichen Elementen vermischt, erstmals in den Utopien des 16. Jhs. auf. Den Charakter einer gesellschaftlich konkreten Forderung nahm es schließlich innerhalb jener sich allmählich bereichernden bürgerlichen Schichten des 17. Jhs. an, die – wie in England und Holland – nicht mehr nur auf ökonomischen, sondern auch politischen Rechten bestanden. Von Demokratie im modernen Sinne läßt sich erst sprechen, seitdem sich der Begriff im 18. Jh. mit der Idee der „Volkssouveränität“ verband und damit seinen spezifisch bürgerlichen Charakter abstreifte, ja wie in der Französischen Revolution von 1789 zur Propagierung einer konsequenten Abschaffung aller bisherigen Standesvorrechte zugunsten einer auf einem parlamentarischen Repräsentativsystem beruhenden Volksherrschaft diente. Im Vorfeld dieser Revolution ist bei Denkern wie Voltaire, Diderot und Rousseau stets von Emanzipation, allgemeinen Menschenrechten, wenn nicht gar einer Pflicht zum zivilen Ungehorsam die Rede, so daß Begriffe wie „Demokrat“ oder „Revolutionär“ fast zu Synonymen wurden. Als jedoch die Revolution tatsächlich ausbrach, kam es innerhalb der aufständischen Massen und ihrer politischen Führer schnell zu erbitterten ideologischen Flügelkämpfen. Während die einen das Wort „Demokrat“ im Hinblick auf ihr eigenes Vaterland mit girondistischer Akzentsetzung weitgehend mit „Patriot“ gleichsetzten, gebrauchten es die anderen, vor allem die Jakobiner, eher als Synonym für „Kosmopolit“. Dies führte zu einer höchst unterschiedlichen Einstellung zu Ausländern wie auch den im eigenen Lande lebenden Minderheiten.

Die jüdische Minderheit und die Demokratisierung der Gesamtgesellschaft im 18.Jahrhundert Im Hinblick auf die mittel- und westeuropäischen Juden, die in Ländern mit bürgerlichen Gesellschaftsschichten lebten, welche zum Teil mit aufklärerischen Gedanken sympathisierten oder gar revolutionäre Ideen unterstützten, führte das zu folgenden Veränderungen. Während die Juden bis zu diesem Zeitpunkt selbst in diesen Ländern entweder verbannt, in Ghettos eingesperrt, unterdrückt oder nur halbwegs toleriert wurden, ergab sich für sie seit der Mitte des 18. Jhs., falls sie sich dem Gedankengut der bürgerlichen Aufklärung anschlossen, zum ersten Mal die Chance, aus dem Stand der Verachteten oder Schutzbefohlenen in den Stand der „Befreiten“ überzuwechseln und zum Teil sogar am geistigen und kulturellen Leben ihrer jeweiligen „Vaterländer“ teilzunehmen.

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Genauer betrachtet vollzog sich dieser Prozeß jedoch in den einzelnen europäischen Staaten höchst unterschiedlich. Mit den geringsten Schwierigkeiten hatten die englischen und holländischen Juden zu kämpfen, obwohl auch sie weiterhin vom aktiven politischen Leben ausgeschlossen blieben. Anders sah es dagegen in Frankreich aus. Während Voltaire und Diderot – trotz ihrer aufklärerischen Gesinnung – den Juden noch feindlich gegenüberstanden, verfügten Revolutionäre wie Robespierre und Grégoire, nachdem sie zuvor den Protestanten die vollen Bürgerrechte gegeben hatten, am 27. September 1791, daß auch den Juden die gleichen Rechte eingeräumt werden sollten. Aufgrund dieser revolutionären Dekrete konnte schließlich sogar ein Jude wie David Gradis als gewählter Volksvertreter Mitglied der Etats généraux werden. Allerdings wurden solche Toleranzakte, wie überhaupt der gesamte Emanzipationsprozeß, unter Napoleon zum Teil wieder rückgängig gemacht. Das Ergebnis dieser Entwicklung war, daß am 30. Mai 1806 auch die Erlasse zur Judenbefreiung eine erhebliche Einschränkung erfuhren. Uneingeschränkte Bürgerrechte hatten die Juden zu diesem Zeitpunkt nur in den USA, die sich als einziger Staat als vollgültige Demokratie ausgaben. Hier war schon 1787 den Mitgliedern aller Konfessionen, welche die Existenz Gottes anerkannten, die volle Gleichberechtigung zugestanden worden. Viele Juden sprachen in der Folgezeit deshalb begeistert von der „Washingtonschen Freiheit“. Die englischen Politiker schreckten dagegen vor einer solchen Liberalisierung noch zurück. Auch in Deutschland kam die Judenbefreiung trotz der Josephinischen Judenpatente (1782–89) und des Hardenbergschen Judenedikts vom 11. März 1812 nicht recht vom Fleck. Überhaupt fanden in Europa nach den gescheiterten revolutionären Erhebungen zwischen 1789 und 1815, denen die Besiegung Napoleons und der Wiener Kongreß ein endgültiges Ende bereiteten, keine einschneidenden Demokratisierungsprozesse mehr statt, die den weiterhin benachteiligten Juden zugute gekommen wären. Zugegeben, in England, Holland und Frankreich erfreuten sie sich größerer „Freiheiten“ als in anderen europäischen Ländern. Aber selbst diese Staaten waren keine Demokratien, sondern konstitutionelle Monarchien. Und auch nach dem Scheitern der Pariser Julirevolution von 1830, die bei vielen aufklärerisch eingestellten Juden – wie den deutschen Schriftstellern Ludwig Börne und Heinrich Heine – die Hoffnung auf eine durchgreifende Demokratisierung Frankreichs und vielleicht sogar anderer europäischer Länder geweckt hatte, blieb die von den bürgerlichen Radikalen ersehnte „Volksherrschaft“ weiterhin eine vorerst unrealisierbare Utopie.

Die Emanzipationsbestrebungen der Juden und die Achtundvierziger Revolution Eine Änderung dieser politischen Stagnation setzte erst im Vorfeld der Achtundvierziger Revolution ein, als unter den aufrechten Liberalen auch einige aufgeklärte Juden auftraten, die sich nur von allgemeinen Wahlen und der Konstituierung demokratischer Repräsentativsysteme eine durchgreifende Verbesserung ihrer Situation versprachen, um so die immer noch herrschenden Vorrechte des ersten und zweiten Standes sowie die aus den Zeiten des

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Feudalismus stammenden Absolutheitsansprüche der jeweiligen Monarchen zu überwinden. Allerdings unterschieden sich auch diese Vorgänge stark in den jeweiligen west- und mitteleuropäischen Staaten, wo die Emanzipation der Juden – im Vergleich zu Osteuropa – bereits am weitesten gediehen war. Die größten politischen Rechte wurden den Juden in diesem Zeitraum in England eingeräumt. Wer sich dort taufen ließ, konnte sich bei den Unterhauswahlen durchaus als Kandidat aufstellen lassen und auch – wie Samuel Solomons, Menasse Lopes und David Ricardo – gewählt werden. Von solchen Rechten konnten die Juden in anderen europäischen Ländern, wo es noch keine Parlamente gab, wie ihre liberal eingestellten nicht-jüdischen Gesinnungsfreunde nur träumen. Daher stand in den meisten dieser Länder bis zum Ausbruch der Achtundvierziger Revolution für die Juden – neben einer Unterstützung allgemein-demokratischer Ideen – noch immer der Kampf um eine Verbesserung ihrer rechtlichen Stellung im Rahmen der fortbestehenden Feudalstaaten im Vordergrund. In Deutschland waren es in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jhs. vor allem folgende jüdische Autoren und Intellektuelle, die sich – im Gegensatz zu anderen deutschen Juden, die weitgehend an ihren althergebrachten Denk- und Lebensformen festhielten – für eine fortschreitende Gleichstellung aller Menschen und damit eine Demokratisierung der Gesamtgesellschaft einsetzten: Leopold Eichelberg, Salomon Ludwig Steinheim und Gabriel Riesser. Die radikalste Position in diesem Umkreis vertrat Eichelberg, der sich zu Beginn der dreißiger Jahre an der politischen Agitation und den Umsturzplänen Ludwig Büchners und Friedrich Ludwig Weidigs beteiligte, verhaftet wurde und von 1837 bis 1848 in hessischen Gefängnissen saß. Ebenso erfolglos wie Eichelberg kämpfte Steinheim in den dreißiger und vierziger Jahren gegen die rechtliche Benachteiligung der Juden in Schleswig-Holstein. Im Gegensatz dazu vertrat der Hamburger Jurist Gabriel Riesser in seiner Zeitschrift Der Jude (1832–35) die These, daß die Judenfrage nur in einem vereinten und befreiten Deutschland gelöst werden könne. Ihren revolutionären Durchbruch erlebten diese Emanzipationsbestrebungen, die sich als Teil einer wesentlich breiteren gesamteuropäischen Umsturzbewegung verstanden, in den Pariser Februarunruhen des Jahres 1848 und den auf sie folgenden Revolutionen, Revolten und lokalen Aufständen in den deutschen Staaten, in Österreich, Polen, Ungarn, Italien usw. Da es vielen bürgerlichen Liberalen in erster Linie um die Errichtung parlamentarisch regierter Republiken ging, erhielt zu diesem Zeitpunkt der Begriff „Demokratie“ für weite Kreise der Bevölkerung zum ersten Mal einen politisch konkreten Sinn. Ein Gesellschaftskonzept, in dem sie bisher eher eine politisch unerfüllbare Utopie gesehen hatten, schien plötzlich in greifbare Nähe gerückt. Das beflügelte auch die „aufgeklärten“, das heißt an bildungsbürgerlich-humanistische Ideale glaubenden Juden überall dort, wo sie eine Chance sahen, in das politische Geschehen einzugreifen. Im Frankfurter Paulskirchenparlament war es vor allem Gabriel Riesser, der als zweiter Vizepräsident und zugleich Mitglied des Verfassungsausschusses – neben anderen Juden wie Berthold Auerbach, Julius Fürst, Ignaz Kuranda, Moritz Veit, Ludwig Bamberger, Moritz Hartmann und Friedrich Wilhelm Levysohn – einen beträchtlichen Einfluß auf die Unterstützung und Vertiefung demokrati-

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schen Gedankenguts ausübte. Dabei kam ihm zugute, daß er sich den Vertretern der mehrheitlichen „Mitte“ anschloß, statt Extrempositionen zu beziehen und demzufolge – wie Johann Jacoby – im parteipolitischen Abseits zu bleiben. Auch die 1848 in die verschiedenen Parlamente und verfassunggebenden Versammlungen in Preußen, Bayern, Braunschweig, Mecklenburg-Schwerin, Sachsen-Anhalt, Frankfurt, Hamburg und Lübeck gewählten Juden vertraten meist ein Demokratiekonzept, das weitgehend dem von Riesser entsprach. Doch nicht alle deutsch-jüdischen Liberalen unterstützten 1848/49 einen solchen eher gemäßigten Kurs der Verwirklichung einer demokratischen Ordnung innerhalb einer konstitutionellen Monarchie. Während Riesser eine Demokratisierung befürwortete, die letztlich von der Gnade der Hohenzollerndynastie abhing, setzten sich andere deutsche Juden – als gesellschaftliche Außenseiter – zu diesem Zeitpunkt für wesentlich radikalere Lösungen der politischen und sozialen Probleme ein. Zu diesen gehörte nicht nur Karl Marx, der bereits 1848 im Kommunistischen Manifest bei seiner Definition der Menschenrechte eindeutig vom proletarischen Klassenstandpunkt ausging, dazu gehörten auch deutsch-jüdische „Demokraten“ wie Ludwig Kalisch und Moses Hess, die sich im Zuge der Achtundvierziger Revolution immer nachdrücklicher auf die Seite der „Enterbten und Entrechteten“ stellten und wegen dieser Haltung wie Marx sogar Verfolgung und Verbannung auf sich nahmen.

Das Hineinwachsen der Juden in demokratische Staatsformen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Die Achtundvierziger Revolution scheiterte bekanntlich nicht nur in Frankreich, sondern in fast allen europäischen Staaten. In ihrem Gefolge kam es dennoch zu einigen politischen und vor allem ökonomischen Zugeständnissen, durch welche die herrschenden Klassen – nach der Einkerkerung oder Vertreibung der exponiertesten Revolutionäre – die bürgerlichen Schichten für sich zu gewinnen versuchten. Davon profitierten auch die Juden, von denen sich viele in der Folgezeit im Zuge der Einführung der Gewerbefreiheit dem allgemeinen Trend zum Embourgeoisement anschlossen. So wurde etwa in Österreich den Juden 1849 das Bürgerrecht und damit das Recht zum uneingeschränkten Haus- und Grundbesitz zugestanden. Ja, im Jahr 1860 wurde hier sogar der bisher bestehende Zunftzwang aufgehoben und damit den Juden die Ausübung jeglichen Handwerks und Gewerbes erlaubt. Im gleichen Jahr gelangten im Rahmen des Wahlsiegs der Liberalen auch einige jüdische Besitz- und Bildungsbürger ins österreichische Parlament. Ähnliche Entwicklungen spielten sich im Rahmen des Norddeutschen Bundes ab, der zum gleichen Zeitpunkt auf Initiative Preußens entstand. Auch dessen Parlament, in dem ebenfalls die bürgerlichen Liberalen tonangebend waren, hob 1867 alle noch bestehenden Rechtsverordnungen gegen Juden auf, was zu steigendem Wohlstand innerhalb dieser Schichten beitrug, die etwa 1–2% der deutschen Bevölkerung ausmachten. Im Hinblick auf ihre politischen Gesinnungen war diese Gesellschaftsgruppe – nach vorsichtigen Schätzun-

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gen – in den fünfziger Jahren zu 50% konservativ bzw. monarchistisch, zu 35% gemäßigt liberal, zu 14% radikal-demokratisch und zu 1% sozialistisch eingestellt, worin sie sich von ihren nicht-jüdischen Mitbürgern nur geringfügig unterschied. Obwohl es also in Österreich und den deutschen Staaten im Rahmen konstitutioneller Monarchien bereits Parlamente gab, setzten sich nach dem Fiasko von 1848/49 immer weniger Bürger für eine durchgreifende Liberalisierung ein, die zur Gründung einer deutschen demokratischen Republik geführt hätte, wie sie dem linken Flügel des Paulskirchenparlaments vorgeschwebt hatte. Nicht viel anders verliefen die politischen und sozialen Entwicklungen in vielen anderen europäischen Ländern. Noch am ehesten kann man nach 1848/49 von einer fortschreitenden Liberalisierung und damit sprunghaften Verbesserung der politischen, ökonomischen und sozialen Stellung der Juden in England sprechen. Dort lebten um 1850 etwa 35 000 Juden, davon allein 20 000 in London. Ihre Zahl vergrößerte sich jedoch wegen der liberalen Einwanderungspolitik in den folgenden Jahrzehnten schnell. Während um 1850 noch 50% der englischen Juden zur Unterklasse zählten, gehörten gegen Ende des Jahrhunderts außer den Neuankömmlingen aus Osteuropa fast alle zum Bürgertum, ja stiegen wie Sir Francis Goldschmid, Sir David Salomons, Sir Samuel Montagu, Sir George Jessel, Sir Moses Montefiore und Lord Lionel de Rothschild sogar in die Oberklasse auf. Wie in Österreich und Deutschland waren dabei die politischen Sympathien der eng lischen Juden keineswegs uniform. Während viele der auf Emanzipation drängenden Juden bis in die fünfziger Jahre bei den Wahlen für die Liberalen stimmten, gab es danach ebenso viele, die sich aufgrund ihres steigenden Reichtums in der hochviktorianischen Periode eher den Konservativen anschlossen, d. h. sich gegen weitere Emanzipationsschübe von seiten der Unterklassen stellten, die ihren neugewonnenen Reichtum und das damit verbundene Sozialprestige gefährden konnten. Was sich dabei als vehemente Verteidigung der jeweiligen Klasseninteressen äußerte, wurde in der politischen Öffentlichkeit meist als endgültiger Sieg des demokratischen Parlamentarismus ausgegeben. Das führte schließlich dazu, daß Lord Lionel de Rothschild 1858 sogar in das Oberhaus einziehen konnte und nicht einmal den dafür vorgeschriebenen Eid auf die Bibel leisten mußte. Ja, ein vom Judentum zur anglikanischen Kirche übergetretener Tory wie Benjamin Disraeli, den Königin Viktoria 1876 zum Earl of Beaconsfield machte, konnte zeitweilig, d. h. 1868 und dann noch einmal von 1874–1880, als Führer der Konservativen Partei sogar das Amt des Premierministers übernehmen. Außer Disraeli unterstützten in den siebziger und achtziger Jahren vor allem die Rothschilds, aber auch jüdische Parlamentarier wie Lionel Louis Cohen und Henry de Worms eindeutig konservative Interessen und distanzierten sich zusehends von den liberalen Ideen der jüdischen Parlamentarier der Jahrhundertmitte. Noch schärfer wandten sie sich aufgrund ihrer national-kapitalistischen Gesinnung gegen den Sozialismus wie auch gegen den in den neunziger Jahren aufkommenden Zionismus, in denen sie weitgehend Bedrohungen ihrer mühsam errungenen und erst im Laufe der zweiten Hälfte des 19.Jhs. relativ gefestigten gesellschaftlichen Position erblickten. Nicht ganz so glatt verlief der Einstieg in die bürgerliche Demokratie für die französischen Juden. Sie waren zwar seit 1791 durch die Verordnungen Grégoires und Robes-

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pierres de jure gleichberechtigte Staatsbürger geworden, aber auch in Frankreich dauerte es mehrere Jahrzehnte, bis sie die damit verbundenen Rechte de facto wahrnehmen konnten. Während den französischen Juden, deren Zahl um die Jahrhundertmitte etwa 50 000 betrug, im Bereich des Ökonomischen, Sozialen und Kulturellen kaum irgendwelche Schwierigkeiten gemacht wurden, überwanden sie im Bereich des Politischen erst in den fünfziger und sechziger Jahren die sie bis dahin einengenden Schranken. Erst im Zweiten Kaiserreich und dann verstärkt in der Dritten Republik stiegen sie – wie Ernest Hendlé, Albert Hendlé, Emanuel Lambert, Joseph Reinach, Ferdinand Dreyfus, David Raynal, Adrien Léon, Eugene Lisbonne, Léopold Javal, Raphael-Georges Lévy und Camille Salomon Sée – in den Rang von Präfekten, Senatoren und Deputierten, ja sogar zu Mitgliedern des Conseil d’Etat auf. Und so wurden aus Français israélites endlich Israélites français, die sich immer stärker mit „ihrem“ Staat identifizierten. Dennoch war ihre Rolle selbst in der Dritten Republik, deren demokratische Grundrechte gerade von den Juden stets aufs Neue herausgestrichen wurden, nicht ganz ungefährdet. Das zeigte sich vor allem bei folgenden zwei Anlässen. So kam es im Jahr 1889 – anläßlich der Jahrhundertfeier der Französischen Revolution – in Frankreich mehrfach zu Spannungen zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Politikern in der Einschätzung Robespierres, den viele der eher konservativ eingestellten Nicht-Juden weitgehend als jakobinischen Anführer des sogenannten „Terreur“ brandmarkten, während ihre jüdischen Kollegen vor allem seinen positiven Einsatz bei der Judenbefreiung betonten und dadurch eine erste Welle antisemitischer Gefühle entfachten. Noch größer wurde diese Welle in den Jahren der Dreyfus-Affäre zwischen 1894 und 1899, in denen der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus (1859–1935) erst des Hochverrats angeklagt und dann wegen mangelnder Beweise freigesprochen wurde. Diese Vorgänge erschütterten die gesamte Republik und führten zu einer wachsenden Polarisierung in antimilitaristisch-linke und nationalistisch-rechte Gruppen wie die Patriotenliga. Doch diese schwere Staatskrise bewirkte keinen Zusammenbruch der Republik, sondern führte 1899 zu einem Wahlsieg der Liberalen und Sozialisten, der weiteren antisemitischen Ausschreitungen ein Ende bereitete, die Trennung von Staat und Kirche besiegelte und damit den gerade von den Juden unterstützten demokratischen Vorstellungen neuen Auftrieb gab. Etwas anders spielte sich das Hineinwachsen der Juden in mehr oder minder demokratische Staatsformen in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. in Italien ab. Während in der ersten Hälfte des 19. Jhs. eine Reihe italienischer Staaten die Juden weitgehend aus dem Gesellschaftsleben ausgegrenzt oder in Ghettos eingepfercht hatte, wurden 1848/49 in SardinienPiemont, der Lombardei, Venetien, der Toskana und schließlich auch in Rom viele der bisherigen Verordnungen gegen Juden aufgehoben. Als jedoch in den folgenden Jahren die Reaktion einsetzte, wurden außer in Sardinien-Piemont in anderen Regionen Italiens diese Emanzipationserlasse widerrufen, ja in Rom sogar die Ghetto-Mauern neu errichtet. Wirklich befreit wurden daher die Juden erst im Verlauf der italienischen Einigungskriege, die 1861 in der Gründung des Königreichs Italien kulminierten. Hier hatten die demokratischen Vertreter der Risorgimento-Bewegung eine wichtige Rolle, und die Juden erhielten

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erneut die vollen Bürgerrechte. Das führte dazu, daß sich die 40 000 Juden, die damals in Italien lebten, relativ schnell assimilierten und sich schließlich mehrheitlich in erster Linie als Italiener und erst in zweiter Linie als Juden fühlten. Dazu trug wie in England und Frankreich vor allem ihr steigender Wohlstand bei, der ihnen eine gesellschaftlich anerkannte Stellung garantierte. Fast das gleiche trifft auf die Schweizer Juden zu, die bis 1848 ebenfalls vom politischen Leben dieses Landes weitgehend ausgeschlossen waren und denen erst in diesem Jahr größere Rechte eingeräumt wurden. Allerdings dauerte es auch hier noch eine Weile, genauer gesagt bis 1866 und 1874, bis ihnen die Schweizer Regierung durch Zusätze zur Verfassung den Status gleichberechtigter Staatsbürger verlieh und sie damit in das demokratische Leben dieses Landes einbezog. Völlig anders war dagegen die Lage für die Juden in Osteuropa. Schließlich war in diesen Gebieten die politische Hauptmacht der absolutistisch regierende Zar, der eine aktive Politik der Russifizierung betrieb und alle ethnischen oder religiösen Minderheiten rücksichtslos unterdrückte. Ein etwas liberalerer Kurs wurde erst von Zar Alexander II. eingeleitet, der 1855 den Thron bestieg. Er ließ als erster die Juden zu den russischen Schulen und Universitäten zu. Dieses Toleranzedikt wurde von der Haskala, der jüdischen Aufklärungsbewegung, aktiv unterstützt, was seit dem Ende der sechziger Jahre zu einer ersten Säkularisierung kleiner jüdischer Gruppen führte. Diese Entwicklung wurde jedoch 1881 durch ein Attentat auf Alexander II. jäh unterbrochen, dessen Nachfolger – Alexander III. – nach den ausgedehnten Judenpogromen in den frühen achtziger Jahren neue antijüdische Gesetzgebungen erließ, die zu einer Massenauswanderung von Juden aus dem Zarenreich führten und später zur Stärkung sozialistischer und zionistischer Bewegungen beitrugen. Die Lage der „Integrationisten“ unter den russischen Juden, die weiterhin für Assimilation eintraten, wurde daher um 1900 immer problematischer, da sie bei der Mehrheit der russischen Juden keine Zustimmung fanden. Daran änderte auch die vom Zaren 1905 zugelassene Volksvertretung, die sogenannte Reichsduma, nicht viel, deren Machtbefugnisse relativ gering waren. Gerade das Zarenreich liefert daher den besten Beweis dafür, daß ohne eine revolutionäre Einführung demokratischer Regierungs- und Verwaltungsformen nicht nur die Emanzipation der bürgerlichen Mittelklasse, sondern auch die der Juden notwendig in ihren Ansätzen steckenbleibt.

Der Erste Weltkrieg Den ersten gravierenden Einschnitt in diese Entwicklungen bildete der Erste Weltkrieg. Indem sich die meisten europäischen Juden, darunter selbst viele Zionisten, in die Armeen aller in diesen Krieg verwickelten Nationen eingliedern ließen bzw. sich freiwillig zum Kriegsdienst meldeten, wollten sie ihre mehr oder minder gelungene Assimilation unter Beweis stellen und sich die Achtung ihrer nicht-jüdischen Mitbürger erwerben. In demokratisch gesinnten Ländern wie Frankreich und England, die aus dem Krieg siegreich hervorgingen, erreichten sie das auch. In anderen Ländern wie Österreich oder Deutschland, in denen trotz parlamentarisch gewählter Volksvertretungen weiterhin das monarchische

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Prinzip im Vordergrund stand, gelang es ihnen weniger gut. Dort wurde daher das Problem „Juden und Demokratie“, das sowohl in den westeuropäischen Staaten als auch in der sich bolschewisierenden Sowjetunion eine zunehmend geringere Rolle spielte, immer wieder zum Anlaß neuer politischer Reibungen. In Österreich hatte die antisemitische Bewegung unter Karl Lueger schon um 1900 beträchtliche Ausmaße angenommen. Statt demokratisch-pluralistische Vorstellungen zu befördern, wurde hier im Hinblick auf Wien, wo damals über 100 000 Juden lebten, immer stärker von „jüdischer Überfremdung“ oder gar der „rassisch bedrohten Metropole eines Vielvölkerstaats“ gesprochen, in der sich endlich wieder eine Rückbesinnung auf das spezifisch „Deutsche“ durchsetzen müsse. Dadurch war die 1918 gegründete österreichische Republik von vornherein gefährdet und steuerte zusehends auf eine konservative Revolution oder einen Klerikalfaschismus zu, was weder für die Idee der Demokratie noch für die Juden viel Gutes verhieß.

Juden bis zur Zerstörung der Weimarer Demokratie Ebenso problematisch entwickelten sich die Verhältnisse in der aus dem Zweiten Kaiserreich hervorgegangenen Weimarer Republik. Seit dem Antisemitismus der siebziger Jahre, d. h. den Parolen Adolf Stoeckers, Paul de Lagardes, Eugen Dührings und Richard Wagners sowie dem Schlachtruf „Die Juden sind unser Unglück“ Heinrich von Treitschkes mehrten sich auch in diesem Land die Chauvinisten, die für alle nationalen und ökonomischen Mißgeschicke Sündenböcke suchten, wobei sie sich vor allem an die Sozialisten und Juden hielten. Schließlich gab es auch in diesem Land trotz der allgemeinen und geheimen Wahlen zum Reichstag kein wahrhaft demokratisches Bürgertum, das sich politisch zu einer konsequenten Toleranz bekannt hätte. Schuld daran war weitgehend das Scheitern der Revolution von 1848/49. Nach 1871 hatte ein „Starker von oben“, Otto von Bismarck, die Macht ergriffen, auf den als politisch bestimmende Figur Kaiser Wilhelm II. folgte, der einem ins Imperialistische ausgeweiteten Herrschaftsstreben huldigte. Obwohl beide keine Antisemiten waren, blockierten sie demokratische und damit assimilationsbereite Stimmungen in der deutschen Bevölkerung. Zu welchen Ergebnissen diese antiliberale Politik führte, zeigte sich im Jahr 1916, als es in der preußischen Armee zu den berüchtigten „Judenzählungen“ kam, mit denen sich die Oberste Heeresleitung gegen mögliche „Verräter“ absichern wollte. Doch nach dem Ausbruch der Novemberrevolution von 1918, auf die im Januar 1919 die ersten demokratischen Wahlen und schließlich das Zusammentreten der verfassunggebenden Nationalversammlung in Weimar folgte, die nicht nur der nicht-jüdischen, sondern auch der jüdischen Bevölkerung de jure alle staatsbürgerlichen Rechte einräumte, schien sich plötzlich ein durchgreifender Wandel anzubahnen. Damit war erstmals in der deutschen Geschichte eine parlamentarische Demokratie entstanden, in der auch Juden alle höheren Staatsämter bekleiden konnten. Das bewies schon die erste Regierung dieser Repu-

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blik unter Philipp Scheidemann, in der mehrere Juden zu Entscheidungsträgern aufstiegen – Hugo Preuß, einer der Hauptinitiatoren der Weimarer Verfassung, als Innenminister, Otto Landsberg als Finanzminister, in der folgenden Regierung unter Joseph Wirth wurde Walther Rathenau als Außenminister und unter Hermann Müller wurde Rudolf Hilferding als Finanzminister berufen. So gesehen war der deutschen Judenheit in der Weimarer Republik endlich das gelungen, was seit langem ihr Ziel war, die gesellschaftliche Gleichstellung und zugleich ein politisches Mitspracherecht, das die höchsten Staatsämter einschloß. Dennoch war ihre Position von Anfang an bedroht. Dafür sorgten sowohl die rechtsradikalen Freicorpsgruppen, die Rosa Luxemburg, Kurt Eisner, Gustav Landauer und Walther Rathenau ermordeten, als auch die von vielen völkisch orientierten Organisationen verbreitete Dolchstoßlegende, mit der diese den Sozialisten und Juden die Schuld an der militärischen Niederlage des Deutschen Reiches in die Schuhe zu schieben versuchten, was in den bürgerlichen Schichten zu einer verstärkten antisemitischen Stimmung beitrug. Statt ideologisch zwischen konservativen, liberalen und linken Juden zu unterscheiden, wurden in der Propaganda der rechtsradikalen Parteien oder Gruppierungen dieser Jahre alle Juden als volksfremde Elemente, das heißt als Vaterlandsverräter stigmatisiert und damit nicht nur den Juden, sondern dem demokratischen Denken schlechthin schwerer Schaden zugefügt. Das gilt vor allem für die politische Turbulenzphase von 1919 bis 1923, in der es nicht nur zu einem katastrophalen Währungsverfall, sondern auch zu einer Reihe rechter und linker Putschversuche kam, welche das Weiterbestehen der Weimarer Republik ständig in Frage stellten. Erst die Periode der sogenannten relativen Stabilisierung von 1923 bis 1929, in der sich die deutsche Wirtschaft durch amerikanische Kredite und technische Modernisierung rapide erholte, führte vorübergehend zu einer politischen und gesellschaftlichen Normalisierung. Sie gab den meisten deutschen Juden das trügerische Gefühl, in einem demokratischen Rechtsstaat zu leben, in dem man sie als Juden und Deutsche respektieren werde. Jedenfalls war das die Meinung all jener Juden, die damals dem „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (C.V.) angehörten, der unter den in Deutschland lebenden Juden das höchste Ansehen besaß. Die Propaganda der kleinen Zionistengruppe in der Weimarer Republik stieß demzufolge weitgehend auf taube Ohren. Von den 2000 deutschen Juden, die in den zwanziger Jahren nach Palästina auswanderten, kam die Hälfte meist schon nach einem Jahr in die deutsche „Heimat“ zurück, wo sie sich als kulturbewußte Bildungsbürger besser aufgehoben fühlten als einem noch weitgehend unterentwickelten und kulturlosen Land wie Palästina. Daher waren es gerade die Juden, die sich in den Parteien der sogenannten Weimarer Koalition, das heißt der SPD und der Deutschen Demokratischen Partei, am stärksten für die parlamentarische Demokratie einsetzten und hierbei von großen jüdischen Zeitungen wie dem Mosseschen Berliner Tageblatt und der Simonschen Frankfurter Zeitung tatkräftig unterstützt wurden. Bis zum Schwarzen Freitag im Oktober 1929 hatte diese Politik, trotz der 1925 erfolgten Wahl des ehemaligen Feldmarschalls Paul von Hindenburg zum Reichspräsidenten, durch-

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aus Chancen auf Erfolg. Mit der Weltwirtschaftskrise brach mit dem Vertrauen in den ökonomischen Aufschwung jedoch auch das Vertrauen in die politische Stabilität zusammen. Jedenfalls rückten nach diesem Zeitpunkt die bürgerlichen Wähler immer weiter nach rechts. Das führte schließlich dazu, daß sie selbst unter den parlamentarischen Vertretern der Deutschen Demokratischen Partei keine Juden mehr duldeten. In den letzten Jahren der Weimarer Republik waren Juden, obwohl sie sich mehrheitlich eher der bürgerlichen Mitte zugehörig fühlten, deshalb im Reichstag nur noch bei der SPD und KPD zu finden. Indem das deutsche Bürgertum im Januar 1933 den Nationalsozialisten durch eine Koalitionsregierung zur Macht verhalf, verriet es nicht nur endgültig seine liberalen Traditionen, sondern lieferte auch seine jüdischen Mitbürger, von denen viele unbeirrt an eine deutsch-jüdische Symbiose geglaubt hatten, an die rabiatesten Antisemiten aus, die es in Deutschland je gegeben hatte, die NSDAP. Diese Partei wollte seit ihrer Gründung im Jahr 1919 offen die Demokratie abschaffen, alle Juden aus Deutschland vertreiben und einen „arischen“ Einheitsstaat aufbauen, der allein auf dem autokratischen Führerprinzip beruhen sollte. Während westliche Demokratien wie Frankreich, England und die USA dank ihrer liberalen Traditionen mit der Weltwirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre relativ gut fertig wurden, indem sie sich wie in Frankreich unter Léon Blum für Volksfrontregierungen entschieden oder wie in den Vereinigten Staaten progressive Arbeitsbeschaffungsprogramme in Kraft setzten, an denen sich auch die in diesen Ländern lebenden Juden aktiv beteiligen konnten und die zugleich zum Fortbestand der dort herrschenden parlamentarischen Systeme beitrugen, verschwand 1933 in Deutschland mit dem demokratischen Rechtsstaat auch die Duldung sogenannter „undeutscher“ Minderheiten. Dies führte wenige Jahre später neben der Vertreibung und schließlich Vernichtung der europäischen Juden auch zur Ermordung der Sinti und Roma sowie von Polen, Russen und anderen Slawen in den von der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg eroberten Ostgebieten Europas. Erst die militärische Niederlage der Nationalsozialisten führte in den drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands erneut zu einer von Amerikanern, Engländern und Franzosen in die Wege geleiteten Demokratisierung und damit Anerkennung aller ethnischen und religiösen Minderheiten, wie sie sich in den meisten westlichen Demokratien – jedenfalls im Hinblick auf die Juden – schon seit der zweiten Hälfte des 19.Jhs. als mehr oder minder akzeptierter Normalzustand durchgesetzt hatte. Ja, in diesen Ländern herrscht bis heute ein Demokratieverständnis, das allen Staatsbürgern konservative und liberale Anschauungen erlaubt, solange diese nicht gegen das Konzept der freien Marktwirtschaft verstoßen. Ob dies die „wahre“ Demokratie, d. h. „Volksherrschaft“ ist oder ob darin nicht immer noch oligarchische Elemente enthalten sind, sei dahingestellt. Doch ist sie jedenfalls wesentlich assimilationsbereiter als frühere, auf den Ideen religiöser Glaubensgemeinschaften oder dem Nationalprinzip beruhende Herrschaftssysteme, in denen die Juden stets der Gefahr ausgesetzt waren, von der Mehrheit der Bevölkerung als nicht dazugehörige Minderheit ausgegrenzt zu werden.

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Die Juden, der Sozialismus und die Arbeiterbewegung Ihren wichtigsten Beitrag zur Arbeiterbewegung in Europa leisteten die Juden zwischen dem Ende des 19. Jhs. – man könnte symbolisch dessen Anfang auf die Gründung der Zweiten Internationale 1899 datieren – und der Schoa. Man findet zwar bereits zuvor jüdische Persönlichkeiten von außerordentlichem Format (z. B. Karl Marx und Ferdinand Lassalle), diese repräsentieren aber noch keine dominierende Tendenz in der jüdischen Welt. Dagegen sind während der ersten Hälfte des 20. Jhs. die Ideen und das Wirken der Juden von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Geschichte des Sozialismus. Ihr Einfluß vollzog sich in zwei unterschiedlichen Formen: einerseits durch den Aufschwung einer jüdischen Arbeiterbewegung in den östlichen Gebieten des Kontinents, besonders im zaristischen Kaiserreich; andererseits durch die wichtige Rolle, welche die jüdischen Intellektuellen sowohl in den sozialistischen bzw. kommunistischen Parteien als auch in der Entwicklung einer marxistischen Kultur in Mitteleuropa spielten. In Deutschland und Österreich gründeten sie die sozialdemokratischen Parteien, mit führenden Persönlichkeiten wie Ferdinand Lassalle, Eduard Bernstein oder Viktor Adler und Theoretikern wie Max Adler, Rudolf Hilferding oder Otto Bauer. Im zaristischen Kaiserreich bildeten sie den „Schmelztiegel“ aller revolutionären Bewegungen: sie standen an der Spitze der verschiedenen Komponenten der russischen sozialistischen Bewegung – der Menschewiki (L. Martov-Tsederbaum – und Fjodor Dan), der Bolschewiki (Grigorij Zinov’ev-Radomyslsky – und Lev Kamenev-Rozenfel’d) oder der vor 1917 zwischen beiden Richtungen schwankenden Gruppe (Leo Trotzki-Bronstein). Sie leiteten darüber hinaus die polnische sozialistische Bewegung (Rosa Luxemburg und Karl Radek-Sobelsohn) und belebten mehrere typisch jüdische Bewegungen, die eine nationale und kulturelle Autonomie forderten (der Bund von Arkadi Kremer und Vladimir Medem), einer zionistischen Orientierung folgten (der Poale Zion von Ber Borochov) oder eine besondere Form der territorialen Autonomie anstrebten (eine Tendenz, die von Chaim Jitlowsky, dem Übersetzer des Kommunistischen Manifests ins Jiddische, vertreten wurde).

Der Bund, der Poale Zion und die jüdische Arbeiterbewegung Das hinsichtlich seiner Größe und Dauer bedeutendste Werk des jüdischen Sozialismus war zweifellos der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund in Litauen, Rußland und Polen („Allgemeyner Yidisher Arbeiter Bund in Lite, Polyn un Rusland“), eher bekannt als „Bund“. Gegründet 1897 in Wilna, der Stadt, die damals den Beinamen „Jerusalem von Litauen“ trug, entwickelte sich der Bund in den folgenden Jahren in Gebieten mit großem jüdischen

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Bevölkerungsanteil – vor allem in Polen und der Ukraine sowie dem „Ansiedlungsrayon“, welchen die zaristischen Behörden den Juden vorgeschrieben hatten. Tief verwurzelt im jüdischen Proletariat der großen Städte von Wilna bis Bia ystok, von Warschau bis ¸ódz, schaffte der Bund die Voraussetzungen und die materielle Infrastruktur, welche für die Gründung der russischen Sozialdemokratie nötig waren. Jene fand im folgenden Jahr in Minsk während einer heimlichen Besprechung statt, der neun Vertreter der jüdischen Bevölkerung – darunter drei Anhänger des Bundes – beiwohnten. Obwohl er seine jüdische Eigentümlichkeit betonte, hielt sich der Bund für eine Komponente der sozialistischen und revolutionären „gesamt-russischen“ Bewegung, mit der, trotz Krisen und manchmal schmerzhaften Brüchen, sein Schicksal verbunden bleiben sollte. Die Besonderheit des Bundes lag gerade in seiner Fähigkeit, eine Synthese zwischen der jüdischen nationalen Identität und dem Sozialismus zu finden, welcher als Projekt einer emanzipierten, egalitären und multikulturellen Gesellschaft ohne nationale oder soziale Unterdrückung verstanden wurde. Der Bund machte größte Anstrengungen, um die Grenzen des Ghettos zu überwinden und den Juden aus den traditionellen und religiösen Gewohnheiten und Denkweisen herauszuhelfen, welche sie von der als feindselig empfundenen Außenwelt trennten. So trug der Bund zur Modernisierung und Säkularisierung der ostjüdischen Welt bei. Andererseits stellte sich der Bund dem Zionismus entgegen, da er in ihm nur eine gefährliche Form des jüdischen Nationalismus sah. Eng an die „Jiddischkeit“ gebunden, als eine Kultur der Diaspora, die sich mehr mit einer Sprache als mit einem Staatsgebiet identifizierte, ließ sich der Bund vom Traum eines jüdischen Staates in Palästina nie verführen. Sein politisches Ziel war die Emanzipation der Juden nicht in einem gesonderten Gebiet, sondern im Schoß der europäischen Nationen selbst. Geboren als Verfechter der Grundrechte eines marginalisierten Proletariats, das aus der Schwerindustrie ausgeschlossen und auf jüdische Wirtschaftszweige beschränkt war (Textilindustrie, Lebensmittelhandel, Tabakmanufaktur, Druckerei u. a.), wurde der Bund sehr schnell zu einer politischen Bewegung, die weit über den Rahmen einer Arbeiterbewegung hinausging. Er setzte sich als Wortführer der Identität und der Kultur einer unterdrückten nationalen Gemeinschaft ein. Wegen seiner Verwurzelung in der Diaspora sowie aufgrund der massiven Auswanderung der russischen und polnischen Juden wurde der Bund eine der weltoffensten politischen Bewegungen seiner Zeit. Politische Repression und antisemitische Verfolgungen zwangen die führenden Persönlichkeiten des Bundes, ständig von Warschau nach Berlin, von Wilna nach New York hin- und herzureisen. Zur Jahrhundertwende war der in Osteuropa entstandene jüdische Sozialismus in Amerika tief verwurzelt, dort verfügte er über eine einflußreiche Tageszeitung namens Forverts; die jüdischen Gewerkschaften der Konfektionsbranche konnten regelmäßig Gelder sammeln, um die Aktivitäten russischer und polnischer Organisationen zu unterstützen. 1908 war der Bund einer der Initiatoren der Konferenz von Czernowicz, auf der sich die jüdische intellektuelle Elite Osteuropas versammelte. Diese Konferenz erklärte das Jiddische, welches damals als „Jargon“ des Ghettos verachtet wurde, neben dem Hebräischen zur Nationalsprache des jüdischen Volkes, zum Ausdruck der religiösen Tradition. Der Bund entstand aus dem Zusammen-

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treffen zweier Gruppen: einer zugleich marginalen und kosmopolitischen Intelligenzia, die mit der Religion und der Tradition gebrochen hatte und nach einem Studium in russischen, schweizerischen oder deutschen Universitäten zum Jiddischen zurückkehrte, sowie eines erst kürzlich gebildeten Proletariats, das nicht vom Land – wie die russische oder polnische Arbeiterklasse –, sondern aus dem handwerklichen Berufsstand des Ghettos stammte. Daher spielte der Bund zeit seines Bestehens eine sehr bedeutende kulturelle Rolle. Mehrere wichtige Essayisten, wie Rafael Abramowitsch Rein, John Mill oder Vladimir Medem betätigten sich aktiv beim Bund; andere waren Sympathisanten und unterstützten ihn, wie der Schriftsteller Isaak Leib Perez. Simon Dubnow (Autor der Briefe über den neuen und alten Judaismus, 1897–1907) war dem Bund gegenüber wohlwollend und kritisch zugleich: er eröffnete eine sehr heftige Debatte mit Vladimir Medem über die Definition der jüdischen Nationalität. Die Debatte über die Nationalitätenfrage entwickelte sich im Bund unter dem Einfluß des österreichischen Marxismus. 1899 hatten die österreichischen Sozialisten auf die persönliche (d.h. außerterritoriale) nationale kulturelle Autonomie als Lösung der Widersprüche und Konflikte eines multinationalen Staates wie Österreich-Ungarn hingewiesen. Die österreichischen marxistischen Theoretiker, zuerst Karl Renner (Staat und Nation, 1899), dann Otto Bauer (Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, 1907) schlugen vor, Nation und Staatsgebiet voneinander zu trennen, damit jeder Staatsbürger von seinen kulturellen Rechten (Bildung in eigener Muttersprache und Möglichkeit, diese in allen öffentlichen Orten und Behörden zu benutzen) unabhängig von seinem Wohnsitz Gebrauch machen könne. Nach Meinung der österreichischen Marxisten sollte dieses Projekt die jiddischsprachigen Juden aus dem habsburgischen Galizien nicht betreffen. Es mußte aber ein großes Interesse bei den Bund-Anhängern in Rußland erregen: jene standen nämlich vor dem Problem einer jüdischen Gemeinde, die zwar eine starke kulturelle Identität hatte, aber unter den zahlreichen nationalen Gruppen innerhalb der Grenzen des zaristischen Staates zerstreut war. Dieses Projekt war dem der Vorläufer der jüdischen Autonomiebewegung in Rußland, vertreten z.B. durch Chaim Jitlowsky und Simon Dubnow, ähnlich. Das vom Bund entwickelte Konzept nationaler und kultureller Autonomie, welches seine vollendete Form erst in Vladimir Medems Essay Die Nationalfrage und die Sozialdemokratie, der 1904 (also drei Jahre vor dem Opus magnum von Otto Bauer) in Russisch und Jiddisch in Wilna erschien, wurde schon 1901 entworfen. Die nationale Frage in den Mittelpunkt seines 4. Kongresses stellend, nahm der Bund ein in drei Forderungen gegliedertes Programm an: die Umwandlung des russischen Kaiserreichs in eine Völkerföderation; das Recht dieser Völker auf Autonomie, unabhängig von ihrem Ansiedlungsgebiet; schließlich die Anerkennung der Juden als vollwertige Nation. Diese Änderung in der Analyse der Nationalfrage brachte den Bund dazu, eine radikale Kritik des Zionismus zu entwickeln. Ab 1905 begann nämlich die von Theodor Herzl gegründete Bewegung in Teilen der Arbeiterschaft des russischen Kaiserreichs Wurzeln zu schlagen und sich nach sozialistischen politischen Prinzipien zu entwickeln, obwohl sie nur eine kleine Minderheitsbewegung blieb. Der Urheber dieser Entwicklung war Ber Borochov, ehemaliger Anhänger Menahem Men-

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del Ussischkins. Die „Poale Zion“ (Die Arbeiter Zions), aus der Verschmelzung mehrerer sozialistischer zionistischer Bewegungen entstanden, forderten die jüdische Autonomie als sofortige Maßnahme. Das strategische Ziel war eine massive Auswanderung der Juden nach Palästina, wo sie dann den Prozeß ihrer nationalen Entwicklung vollenden sollten. Für den Bund aber bildete der Zionismus nur eine bürgerliche und sterile Abwehrreaktion gegen den Antisemitismus. Folglich mißbilligte er den Zionismus als gefährliche Utopie, deren erste Folge die Spaltung und Verwirrung der Arbeiterklasse wäre, und die bei den jüdischen Arbeitern eine „Psychologie des Ghettos“ hervorriefe. Die Annahme eines nationalen Programms bedeutete also für den Bund eine sehr klare Trennung von allen Formen des jüdischen Nationalismus. Zwei Ereignisse des Jahres 1903 brachten den Bund dazu, eine nationale Autonomie zu fordern: einerseits der schreckliche Pogrom von Kishinev, der die Arbeiter traumatisierte und in ihrem Gefühl nationaler Identität bestärkte; andererseits der zweite Kongreß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR), der in Brüssel und London stattfand. Dort stellten die russischen Sozialisten (insbesondere Martov und Trockij) den Anspruch des Bundes in Frage, als einziger Vertreter des jüdischen Proletariats anerkannt zu werden. Da aber der Bund diese Anerkennung als conditio sine qua non für sein Verbleiben in der SDAPR ansah, mußte dieser Streit zu einer Spaltung führen, welche Medem als äußerst schmerzhaften „Riß“ empfand und die erst nach der Revolution von 1905 überwunden werden sollte. In seinen Memoiren schreibt Medem, daß „dieses Trennen von Bindungen, die das jüdische und das russische Proletariat verbunden hatten“, eine „echte Katastrophe“ gewesen wäre – „als ob ein Stück Fleisch von einem lebendigen Körper weggerissen worden wäre“. Der russische Sozialismus warf nun jener Organisation Separatismus und Nationalismus vor, der er seine Entstehung verdankte. Auf die Kritik Lenins, der den Bund beschuldigte, eine engstirnige und obskurantistische Anschauung des Judentums zu vertreten und sogar „die Interessen der Rabbiner und des Bürgertums“ zu verteidigen, antwortete Medem, daß die Arbeiter „der nationalen Kultur“ nicht den Rücken kehren dürften, sondern daß sie nur dank dieser Kultur an der „internationalistischen Kultur der Demokratie und der internationalen Arbeiterbewegung teilnehmen“ könnten. Der Kongreß der SDAPR hatte einen Entschluß gefaßt, der das Selbstbestimmungsrecht anerkannte; zugleich aber hatte er einen Änderungsantrag von Wladimir Medem abgelehnt, in dem er vorschlug, „Institutionen zu gründen, die fähig wären, die totale Freiheit der kulturellen Entwicklung zu garantieren“, und dies für jede Gruppe und jede nationale Minderheit des russischen Staates. Ironie der Geschichte: als die Bolschewisten nach der Revolution von 1917 das Prinzip der kulturellen Autonomie der Juden anerkannten, lehnten sie die Legitimität des Bundes ab, welcher der Urheber jener Idee gewesen war. Die Betonung einer jüdischen nationalen Identität durch den Bund war das Ergebnis eines langen Arbeitsprozesses, der sich über mehrere Jahre erstreckte. Die Historiker datieren seinen Anfang normalerweise auf das Jahr 1894, als Arkadi Kremer und Juli Martov in Wilna die auf Russisch verfaßte Broschüre Über die Unruhe veröffentlichten. Dort wurde die Notwendigkeit anerkannt, das Jiddische als die Sprache der jüdischen Arbeiter zu über-

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nehmen, um diese zu organisieren. Diese empirische Wende, die von den praktischen Bedingungen des politischen und gewerkschaftlichen Kampfes diktiert wurde, verursachte eine kulturelle Anamnesis der jüdischen Intellektuellen. Sie entdeckten nämlich hinter dem Proletariat eine jüdische Nationalität mit ihrer eigenen Sprache und Kultur. Da diese Intellektuellen sich vor allem des Russischen bedienten, aber auch das Deutsche beherrschten (es waren dies die dominierenden Sprachen des zaristischen Kaiserreiches bzw. der marxistischen Kultur), konnte ihre Rückkehr zum Jiddischen nur dessen Erneuerung bedeuten, da sich nun mehrere Sprachen begegneten und mischten. Das Ergebnis war eine Modernisierung des Jiddischen und die Entwicklung einer jiddischen sozialistischen Kultur, bereichert durch russische, polnische und deutsche Einflüsse. Die Erarbeitung eines Programms für die nationale Autonomie war jedoch langwierig und schwierig. Noch 1904 betonte Medem, daß der Bund angesichts der Zukunft der osteuropäischen Juden eine neutrale Politik betriebe. Diese Stellungnahme stand in diametralem Gegensatz zu der Borochovs, welcher eine nationale Entfaltung des Judentums in Palästina vorsah. „Wir sind neutral“, schrieb Medem. „Wir sind nicht gegen die Assimilation; wir sind gegen das Streben zur Assimilation, gegen die Assimilation als Selbstzweck.“ Wenn sich die Assimilation durch einen naturellen und spontanen Prozeß durchsetzen sollte, würde der Bund dagegen nichts einwenden. In dem Essay Nationalismus und Neutralismus von 1910 kehrte Medem zu diesem Thema zurück. Er machte deutlich, daß man die Neutralitätspolitik des Bundes nicht als Form der Gleichgültigkeit, des Agnostizismus oder, noch schlimmer, des „Fatalismus“ interpretieren dürfte: Die jüdische Nation existiert; das Nationalgefühl entwickelt und verstärkt sich […]. Dies ist keine Vorhersage, sondern eine Tatsache. Die nationalen Forderungen blühen und begründen tatsächlich die Existenz unserer Nation.

1928 kam aber ein anderer Führer des Bundes, Vladimir Kossowski, auf diese Debatte zurück, um die These der Neutralität als steril und falsch zu kritisieren. Seiner Meinung nach hätte eine Massenpartei wie der Bund keine neutrale Stellung zu einem so entscheidenden Problem wie dem der Zukunft der jüdischen Nation haben dürfen. Da der Bund den Aufschwung einer jüdischen Nation als Kulturgemeinschaft begünstigt und unterstützt hatte, hätte er erkennen müssen, daß die assimilatorischen Tendenzen diese wesentliche Arbeit untergraben würden. Es ist hier nicht möglich, die ganze Debatte über die nationale Frage zwischen dem Bund und dem russischen und polnischen Sozialismus zu schildern. Diese wenigen Beispiele veranschaulichen jedoch ihre Reichhaltigkeit, ihren offenen und pluralistischen Charakter. Im Unterschied zu Polen, wo der Bund bis zum Zweiten Weltkrieg fortbestand, verschwand er in Rußland kurz nach der Oktoberrevolution von der politischen Bühne. Er hatte schon seit der Revolution von 1905 aufgehört, eine bedeutende politische Rolle in der russischen Arbeiterbewegung zu spielen. Diese Revolution fand nämlich ihre soziale Grundlage im industriellen Proletariat und ihre Hauptzentren in den großen Städten des Reiches, von St. Petersburg bis Moskau. Dagegen hatten die Streiks der litauischen und polnischen jüdischen Arbeiter, die sich auf einige Textilfabriken oder sehr marginale jüdische

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Wirtschaftszweige beschränkten, kaum Auswirkungen. Ab 1905 erlebte der Bund daher einen Niedergang im gesamtrussischen Sozialismus, während er in der jüdischen Gemeinschaft selbst ein aktives und wichtiges Element blieb. Die Oktoberrevolution wurde von der jüdischen Arbeiterbewegung als echtes Trauma erlebt, weil sie einerseits die Emanzipation, andererseits die totale Zerschlagung der jüdischen Gesellschaft mit sich brachte. Die Strömungen, die gegenüber der sowjetischen Macht freundlich gesinnt waren, wurden in die bolschewistische Partei aufgenommen, wo sie in die jüdische Sektion eingegliedert wurden. Diese Sektion war von Simon Dimanstein, einem zum Bolschewik gewordenen ehemaligen Chassid, geleitet. Die Juden mußten also auf ihren Wunsch nach organisatorischer Autonomie in der kommunistischen Bewegung verzichten. Die Strömungen mit menschewistischer Orientierung (von Vladimir Medem geleitet), welche die Oktoberrevolution als einen von Lenin und Trockij angezettelten Staatsstreich à la Blanqui angeprangert hatten, wurden bald verbannt. So verschwand der Bund zwischen 1919 und 1921 aus der Sowjetunion. In Polen hatte er allerdings als unabhängige Partei weiterhin Bestand, und sein Einfluß erreichte kurz vor dem Krieg (1938) seinen Höhepunkt. Die Poale Zion, die am Bürgerkrieg mit ihrem eigenen Truppenteil auf seiten der Roten Armee teilgenommen hatten, überdauerten in der UdSSR bis 1928. Geboren im Untergrundkampf gegen den Zarismus, verließ der jüdische Sozialismus die europäische Bühne während des zweiten Weltkrieges – vernichtet durch den nazistischen Genozid und die stalinistische Repression. In Polen verschwanden der Bund und die Poale Zion kämpfend – während des Aufstands des Warschauer Ghettos im Frühjahr 1943. In der UdSSR wurde der jüdische Sozialismus (repräsentiert durch die Intellektuellen, die Führungskräfte der Yevsektsia, die ehemaligen Bundmitglieder sowie die Zionisten) vom Ende der dreißiger Jahre an allmählich vernichtet. Der aufsehenerregendste Fall war jener der beiden Leiter des polnischen Bundes, Henryk Erlich und Victor Alter. Sie waren im Dezember 1941 nach Moskau gerufen worden, um einen jüdischen antifaschistischen Ausschuß zu gründen. Einige Monate später wurden sie in ein Straflager verschleppt, wo sie verschwanden. Arthur Zygielbojm, Vertreter des Bundes bei der polnischen Exil-Regierung in London, beging im Mai 1943 Selbstmord, um die Passivität anzuprangern, mit der die Öffentlichkeit den Genozid der Juden in Europa verfolgte. Dabei handelte es sich um eine Solidaritätsaktion mit seinen Brüdern im Warschauer Ghetto, deren Aufstand damals gerade niedergeschlagen worden war.

Die jüdischen Intellektuellen und der Sozialismus Trotz der sehr unterschiedlichen Umstände, unter denen sie handelten (Emanzipation und Assimilation im deutschsprachigen Mitteleuropa; Diskriminierung, Pogrome und Beibehaltung einer spezifischen kulturellen Identität durch das Jiddische im zaristischen Kaiserreich), waren die Intellektuellen, die sich der sozialistischen Bewegung anschlossen,

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keine isolierten Gestalten. Sie bildeten ein Globalphänomen, das die jüdische Intelligenzia als soziale Schicht betraf. Einige soziologische Angaben genügen, um diese Situation zu veranschaulichen: 1895 stellten die Juden 10% der Studenten in den deutschen Universitäten und sogar 23,6% an der Universität Wien (sie repräsentierten in Deutschland 1% bzw. in Österreich 10% der Gesamtbevölkerung). Die Absolventen wurden dann jedoch mit dem Antisemitismus konfrontiert, der die deutsche Gesellschaft ebenso prägte wie die österreichische. Somit hatte diese jüdische intellektuelle Schicht keine Berufsaussichten in den staatlichen Institutionen, insbesondere im Verwaltungsdienst, und war vor allem vom universitären Schuldienst ausgeschlossen. Dies war einer der Gründe für die massive Präsenz der Juden im Journalismus. Man kann sich vorstellen, daß dieses Phänomen im zaristischen Kaiserreich noch deutlicher sichtbar war, da die Juden von einer antisemitischen Gesetzgebung belastet waren, die sie allmählich aus den Universitäten ausschloß. Zwischen 1887 und 1905 sank ihr Anteil an der gesamten Studentenzahl von 14,4% auf 7%. Folglich studierten etliche jüdische sozialistische Intellektuelle im Umfeld der russischen Emigranten in Deutschland oder in der Schweiz, wo sie sich niederließen. Wie den „Luftmenschen“ im „Schtetl“ wurde auch der Intelligenzia jeglicher Wirkungskreis entzogen. Die Unmöglichkeit, sich zu assimilieren, die Diskriminierung durch die Gesetze sowie die Zugehörigkeit zu einer unterdrückten Kultur verursachten Radikalisierung und Politisierung der jiddischsprachigen Intellektuellen. In Mitteleuropa wie auch in Rußland schien der Marxismus diesen ausgegrenzten und revoltierenden Menschen Weltanschauung, operatives konzeptuelles System und Zukunftsprojekt zugleich. Hier lag der Hauptunterschied zu anderen westeuropäischen Ländern, wie zum Beispiel Frankreich. Dort war die jüdische Bevölkerung deutlich weniger zahlreich und ihre Eingliederung in die französische Gesellschaft war seit 1789 schnell und tiefgreifend gewesen. In Frankreich hatte die Emanzipation nicht nur (wie in Zentraleuropa) den sozial-ökonomischen Aufstieg und die kulturelle Assimilation begünstigt, sondern auch einen Prozeß der politischen Integration verursacht. Dieser Prozeß führte gegen Ende des 19. Jhs. zur Bildung einer jüdischen Prominenz, der „Staatsjuden“ (Pierre Birnbaum). Im Kontext dieses massiven Zugangs der „Israeliten“ zu den Institutionen der III. Republik waren jüdische Revolutionäre seltene, sogar außerordentliche Gestalten (z.B. der Anarchist Bernard Lazare). Die wenigen leitenden Persönlichkeiten des Sozialismus (wie Léon Blum) waren ganz und gar französische Persönlichkeiten, deren jüdische Abstammung nur von der Propaganda der antisemitischen und antirepublikanischen Rechten hervorgehoben wurde. Diese Beobachtungen treffen auch auf Italien zu, wo zur Jahrhundertwende der Oberbürgermeister von Rom, Minister, Generale und sogar ein Regierungschef Juden waren. In Italien gab es weniger jüdische Sozialisten (Claudio Treves und Emanuele Modigliani) als jüdische Abgeordnete der liberalen Rechten. Kurz gesagt, war der Antisemitismus in Frankreich und Italien zwar ein verbreitetes soziales Phänomen, das aber außerhalb der staatlichen Institutionen blieb (oder sich auf einige Sektoren wie die militärische Elite beschränkt war). In der Hauptsache fungierte der Antisemitismus als eine politische Waffe der

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klerikalen und konservativen Opposition gegen die III. Republik oder die Piemontesische Monarchie, zwei politische Systeme, welche die Juden fast uneingeschränkt unterstützten. Folglich gab es in Frankreich und Italien weder einen jüdischen Sozialismus (im Gegensatz zu Rußland oder Polen) noch einen wichtigen Beitrag der Juden zur Organisation der Arbeiterbewegung oder zum Aufschwung der marxistischen Denkweise (wie in Deutschland oder Österreich). Diese fehlende Beteiligung der französischen Juden am Sozialismus fand ihren Ausdruck auch im Fortbestehen einer starken linksantisemitischen Tradition (Auguste Blanqui, Pierre-Joseph Proudhon, Alphonse de Toussenel), die bis zur Dreyfus-Affäre existierte. Dieser Antisemitismus stützte sich auf die Identifizierung der Juden mit dem Kapitalismus, dem Merkantilismus und der Spekulation. Ein gemeinsames Merkmal vieler jüdischer Sozialisten östlich des Rheins trotz unbestreitbarer Unterschiede zwischen Rußland und Deutschland war, nach Meinung des Historikers Isaac Deutscher, ihr Status als „nicht-jüdische Juden“, also als Intellektuelle, welche die jüdische Tradition zugleich verkörperten und überwanden, sie manchmal auch verleugneten, um eine ganz und gar laizistische und säkularisierte ideologische und politische Einstellung an den Tag zu legen. Deutscher, geboren in ebendiesem polnisch-jüdischen marxistischen Milieu, hat eine frappierende Schilderung dieser Intellektuellen gegeben: Alle diese großen Revolutionäre waren extrem verwundbar. Als Juden waren sie in gewisser Weise ohne Wurzeln; aber nur in gewisser Weise, denn sie waren tief verwurzelt in der intellektuellen Tradition und in den erhabenen Sehnsüchten ihrer Zeit. Jedes Mal aber, wenn religiöse Intoleranz und dogmatischer Fanatismus triumphierten, waren sie die ersten Opfer. Sie wurden von den Rabbinern exkommuniziert, von den christlichen Priestern verfolgt, von den Gendarmen und der Soldateska gejagt, von pseudo-demokratischen Philistern gehaßt, aus ihren eigenen Parteien ausgestoßen. Fast alle wurden ins Exil gezwungen, früher oder später sahen sie ihre Bücher auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Der Soziologe Robert Michels schätzte in seiner 1911 veröffentlichten klassischen Studie über die politischen Parteien die Anzahl der jüdischen Mitglieder der deutschen Sozialdemokratie auf 20 bis 30% der Gesamtzahl der Mitglieder. Er begründete dies mit der nonkonformistischen sozialen Haltung der Juden und dem Fortbestehen eines alten, hartnäckigen antisemitischen Vorurteils, das sie in eine Oppositionspartei drängte – zumal die SPD die einzige Partei war, die Juden aufnahm. Deswegen finden wir selbst in Ländern, in denen es kaum ein jüdisches Proletariat gab, viele jüdische leitende Persönlichkeiten innerhalb der Arbeiterbewegung, meistens aus der Mittelklasse und der Intelligenz stammend. Die jüdischstämmigen leitenden Persönlichkeiten der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie wurden bereits genannt. Man sollte jedoch auch die jüdischen Führungskräfte der deutschen kommunistischen Partei erwähnen: Paul Levi, August Thalheimer, Rosa Luxemburg, Ruth Fischer (Elfriede Eisler), Arkadi Maslow (Isaak Cˇ ereminskij), Werner Scholem usw. Mehrere Juden (Kommunisten und Anarchisten) leiteten die nur kurzlebige bayerische Arbeiterräterepublik im Frühling 1919 (Ernst Toller, Gustav Landauer, Eugen Leviné, Erich Mühsam). Nach Schätzung des Historikers Istvan Deak waren zwischen 70% und 95% der Volkskommissare der ungarischen Sowjetrepublik (1918–1919) Juden (Béla Kun, Josef Revai, Matias Rákosi, Georg Lukács usw.).

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Der Sozialismus marxistischer Prägung erschien in der jüdischen Welt in zwei unterschiedlichen Formen. In Osteuropa verkörperte er den Kampf für die Emanzipation. Dagegen war er im deutschsprachigen Mitteleuropa das Ergebnis einer mißglückten Emanzipation und einer unmöglichen oder illusorischen Assimilation, welche die Juden anstrebten, deren Umfeld aber ablehnte. Die Emanzipation schuf, so Hannah Arendt, die zwei idealtypischen Gestalten des modernen Judentums: die des „Parvenüs“, dem eine scheinbare Integration in eine fremde und im Grunde genommen feindselige Welt gelungen war, und die des „Parias“, der ausgeschlossen und entwurzelt blieb. Der Sozialismus, mit seinen verschiedenen Varianten, bot den Juden ein universalistisches Projekt, das diese Dichotomie überwinden sollte. Entweder verleugneten die Juden ihr Judentum bzw. stellten es in Zusammenhang mit einer übernationalen Zukunft – so der „proletarische Internationalismus“, der die kosmopolitische Anschauung der Aufklärung radikalisierte –, oder sie bekannten sich, im Gegenteil, zum Judentum mit der Aussicht einer multikulturellen und multiethnischen Gesellschaft, wie der Bund, der die kulturelle Autonomie vertrat. Zur Jahrhundertwende nahm der Marxismus eine stark evolutionistische und positivistische Orientierung an. In dieser Epoche identifizierten die Theoretiker der Sozialdemokratie die Emanzipation der Juden mit ihrer Assimilation und das Ende des Judentums mit dem Fortschritt der Geschichte. So waren die Gedanken über die „jüdische Frage“, die in den Schriften von Eduard Bernstein und Otto Bauer auftauchten, mit einer Anschauung verbunden, deren Ursprung auf die Aufklärung und den humanistischen Rationalismus des 18. Jhs. zurückging. Ganz im Sinne dieser Tradition – die vor allem von Persönlichkeiten wie Christian Wilhelm von Dohm in Preußen und dem Abbé Grégoire in Frankreich vertreten wurde – verstanden die Sozialisten die jüdische Emanzipation als Kampf für die Gleichberechtigung dank der Beseitigung aller Ungerechtigkeit und Diskriminierung durch die Vernunft. Insofern verstanden sie die Emanzipation keineswegs als eine Bestätigung des Judentums. Die Juden mußten ihre Vergangenheit und ihre Erinnerungen aufgeben und sich emanzipieren, um sich dann an ihr Umfeld zu assimilieren. Nach Meinung Kautskys, des wichtigsten marxistischen Theoretikers der „Zweiten Internationale“, war das Judentum „die Schlinge um dem Hals des fortschrittlichen Juden“, die „letzten Trümmer des Mittelalters“. In die Sprache des historischen Materialismus übertragen, beschränkte man die jüdische Geschichte mit allen ihren religiösen und kulturellen Facetten auf den Handel, und mit ihm auf die sozialökonomische Funktion der Juden im vormodernen Europa. Im Gefolge Marx’, der die Juden als „Geldmenschen“ bezeichnet hatte, und Engels, für den die Juden „ein geschichtsloses Volk“ waren, definierte Kautsky die Juden als eine „Kaste“, welche dazu bestimmt war, durch das unwiderstehliche „Naturgesetz“ der ökonomischen und sozialen Entwicklung des Kapitalismus aufgelöst zu werden. Diese These wurde, begrifflich höherentwickelt, vom österreichischen jüdischen Marxisten Otto Bauer in sein berühmtes Werk Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie aufgenommen. In ihrer bekanntesten und interessantesten Version wurde sie schließlich vom jungen belgischen Marxisten jüdischpolnischer Herkunft Abraham Léon (eigentlich: Weinstock) vollendet und sozusagen „ko-

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difiziert“. Der Autor von Die materialistische Auffassung der jüdischen Frage (1946) verwandelte Kautskys Kategorie der „Kaste“ in den breiteren, aber im Grunde analogen Begriff vom „Klasse-Volk“. Dieser Begriff ist zwar anwendbar, um die Entwicklung der Juden in Westeuropa von den Kreuzzügen bis zum 15.Jh. zu erfassen, er bietet jedoch keinen universellen Schlüssel zur Interpretation der jüdischen Geschichte. Diese Konzeption der „jüdischen Frage“, die im europäischen Sozialismus dominierte und von den deutschsprachigen jüdischen Marxisten zumeist akzeptiert wurde, war aber nicht die einzige. In Osteuropa, wo das Judentum sich zu einer spezifischen nationalen Identität konkretisierte, war die marxistische Anschauung weitaus komplexer. Einerseits waren die russischen und polnischen Sozialisten, darunter viele Juden, mit dem Schema Kautskys einverstanden. Sie begründeten die ausbleibende oder verspätete Assimilation mit der sozioökonomischen Rückständigkeit des russischen Kaiserreichs, das als „halb feudales und halb barbarisches“ Regime bezeichnet wurde. Diese Sozialisten beachteten die jiddische Kultur überhaupt nicht und betrachteten die Geschichte Westeuropas als eine Art Paradigma der historischen Entwicklung. Vor der Revolution von 1917 betrachtete Lenin die Vertreter des Konzepts einer jüdischen Nation als Obskurantisten, die „das Rad der Geschichte zurückdrehen wollten“ (jüdische Marxisten wie Martov und Trockij teilten diese Ansicht). Andererseits versuchten die Theoretiker des Bundes und der Poale Zion, die man wohl, wie Gramsci, als „Intellektuelle der jüdischen Arbeiterbewegung schlechthin“ betrachten kann, ein politisches Konzept zu entwickeln, welches auf der Anerkennung des osteuropäischen Judentums als nationaler Einheit beruhte. Wie schon gesagt, war der Bund der Verfechter einer jüdischen nationalen kulturellen Autonomie, während die Anhänger der Poale Zion auf den Wiederaufbau eines nationalen jüdischen Zentrums in Palästina abzielten. Die Anhänger des Bundes hingegen trennten das „Staatsgebiet“ von der „Nation“, welche sie hauptsächlich mit der jiddischen Sprache gleichsetzten. Die Anhänger der Poale Zion dachten dagegen, daß die jüdische Nation sich keinesfalls in der Diaspora entfalten könnte, ohne ein eigenes Staatsgebiet zu haben. Diese beiden Orientierungen waren gegensätzlich und gerieten bald in Streit, doch teilten sie die gleiche Voraussetzung: sie lehnten nämlich beide den „Assimilationismus“ – d. h. eine normative Auffassung der Assimilation – ab und betrachteten die jüdische Frage in Osteuropa als „nationale Frage“. Für sie waren die russischen und polnischen Juden weder eine „Kaste“ noch eine bloße religiöse Konfession, sondern eine Nation im modernen Sinne. Diese beiden sozialistischen Strömungen, die an die „Jiddischkeit“ gebunden waren, entwickelten zwei Varianten einer neuen Vorstellung des Judentums, die man zusammenfassend als jüdischen Marxismus bezeichnen könnte. Die jiddischsprachigen sozialistischen Intellektuellen wollten die marxistische Denkweise in den Dienst ihrer nationalen Identität stellen: sie sahen keinen Widerspruch zwischen dem Kampf für den Sozialismus und ihren nationalen Forderungen. Das Nachdenken der Sozialisten über die „jüdische Frage“ war also grundsätzlich in zwei Strömungen geteilt. Die sozialdemokratischen Parteien in Deutschland, Österreich, Rußland und Polen waren „assimilationistisch“ – also für die Assimilation – und stellten die

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Mehrheit dar. Die Minderheitsströmung war „national“ (der Bund) oder „nationalistisch“ (Poale Zion) gesinnt. Wenn man bedenkt, daß die Juden nicht nur in der zweiten Strömung vertreten waren (was selbstverständlich ist), sondern auch in der ersten, könnte man berechtigterweise behaupten, daß diese sozialistische Debatte vor allem eine „jüdische Debatte“ gewesen sei. Der Marxismus bot den Intellektuellen zwar eine gemeinsame Sprache, der Gegenstand der Debatte aber war die Geschichte und die Zukunft des jüdischen Volkes. In der Zwischenkriegszeit wurden die Vorstellungen, die von der jüdischen Arbeiterbewegung vertreten wurden, zum Teil vom sowjetischen Regime aufgenommen. Dieses emanzipierte die russischen Juden und unterstützte die Entwicklung der jiddischen Kultur im Rahmen einer Politik des „aufgeklärten Absolutismus“, deren Ziel es war, aus dem Jiddischen eine moderne, von ihrer Vergangenheit und der traditionellen jüdischen Kultur abgeschnittene Sprache zu machen (daher die Unterdrückung des Hebräischen und jeder Form religiöser Kultur). Viele jüdische Intellektuelle – sowohl in Rußland als auch in Mitteleuropa – betrachteten das sowjetische Regime wohlwollend, da es den Antisemitismus ausgerottet und auch ihre nationalen Forderungen anerkannt zu haben schien. Aber dieses Bündnis zwischen den Juden und dem bolschewistischen Rußland dauerte nur kurze Zeit. Das Scheitern wurde durch den tragischen Versuch Birobidjan symbolisiert. In diesem sibirischen Gebiet hatte die bolschewistische Regierung durch eine Verordnung 1928 ein „autonomes jüdisches Gebiet“ gegründet. Dort ließen sich mehrere tausend Juden aus allen Republiken der UdSSR (und einige tausend Juden aus der ganzen Welt) nieder. Ende der dreißiger Jahre aber hatte die große Mehrheit der jüdischen Ansiedler Birobidjan wieder verlassen. Das Gebiet bestand weiter, laut Trockij, als „bürokratische Farce“. Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand der jüdische Sozialismus, wenn man darunter eine eigenständige intellektuelle und politische Strömung versteht, trotz einiger Persönlichkeiten wie Herbert Marcuse oder Ernest Mandel, endgültig vom Alten Kontinent, für immer von den Nazis vernichtet. Sein Erbe aber lebt in Israel fort, wo viele Anhänger des Bundes und Linkszionisten ab 1948 ihren Beitrag zum Aufbau eines neuen jüdischen Staates leisteten. Die antisemitische Welle, die Polen 1968 erschütterte, beendete den Versuch mehrerer jüdischer Intellektueller und Kommunisten, mit den Regierungen des „realen Sozialismus“ in der DDR, in Ungarn und in Polen zusammenzuarbeiten. (Übersetzt von Carin Blanc-Delmas und Marc Talabardon)

Anhang

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Glossar Die mit * markierten Begriffe finden sich ihrerseits im Glossar erklärt. Aaron, nach der Bibel Bruder des Mose, Ahnherr der Priestersippe der Aaroniden und Prototyp des Jerusalemer Ober- oder Hohepriesters. Alija, pl. Alijot („Aufstieg“), Immigration von Juden nach Palästina. Aljama, rechtliche Institution der jüdischen Gemeinde auf der Iberischen Halbinsel. Amoräer, die talmudischen Lehrer der Gemara*, 200–500 n.Chr. Apokryphen des AT, Schriften, die in der Septuaginta* zwar enthalten sind, jedoch nicht in den Kanon der (hebräischen) Heiligen Schriften aufgenommen wurden. Apostasie, Abfall von der bisherigen Religion. Aschkenasim (Aschkenas = Deutschland), Bezeichnung für die mittel- und osteuropäischen Juden mit eigener Tradition und Sprache im Unterschied zu den Sefardim*. Beschneidung, Entfernung der Vorhaut, ein u.a. im Orient weit verbreiteter Brauch, der im Judentum zu einem zentralen Bekenntnissymbol wurde. Bet Din („Haus des Gerichtes“), rabbinisches Gericht, das aus mindestens drei rabbinischen Richtern besteht. Bima, erhöhtes Pult in der Mitte des Synagogenraumes, von dem aus während des Gottesdienstes die Tora verlesen wird. Chanukka („Einweihung“), Fest zur Erinnerung an die Wiedereinweihung des Tempels unter Judas Makkabäus 164 n.Chr. Chasan, Vorbeter, Vorsänger, Kantor. Chassid, pl. Chassidim (der „Fromme“), gesetzestreuer, frommer Jude. Chassidismus, religiöse Richtung im Judentum, die sich im 18. Jh. als Erneuerungsbewegung in Osteuropa entwickelte und eine volkstümliche und verinnerlichte Frömmigkeit vertrat. Dhimmi, arabische Bezeichnung für Juden und Christen. Gematria, Zahlenmystik, die auf Spekulationen der Kabbala beruht. Gaon, pl. Geonim („Exzellenz“), von 589 bis 1034 Titel der Schulhäupter in Babylonien und Palästina. Gemara („Vervollständigung“), die talmudischen Ausführungen auf der Basis der Mischna*. Genisa, Aufbewahrungsort unbrauchbar gewordener heiliger Bücher. Haggada („Erzählung“), nichtgesetzliche Überlieferung. Halacha, die verbindliche religionsgesetzliche Überlieferung, das jüdische Religionsgesetz. Haskala, hebräischer Begriff für die „Aufklärung“, die Ende des 18. Jhs. für eine religiöse, kulturelle und soziale Emanzipation der Juden eintrat. Hasmonäer, Familie und Herrscherhaus im 2. und 1. Jh. v.Chr., auch „Makkabäer“ genannt. Höre Israel s. Schema Jisrael. Israel, 1. Bezeichnung des Nordreiches, das 722 v.Chr. durch die Assyrer vernichtet wurde; 2. Bezeichnung für das Volk der Juden insgesamt; 3. Bezeichnung für den modernen Staat Israel.

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Glossar

Jeschiwa, pl. Jeschiwot, weiterführende talmudische Schule. JHWH, Tetragramm für den Gottesnamen Jahwe, der nicht ausgesprochen werden darf und beim Lesen durch Adonai (Herr) ersetzt wird. Jischuw („bewohntes Land“), Gesamtheit der jüdischen Siedlungen und Einwohner in Palästina vor der Gründung des Staates Israel. Jom Kippur, Versöhnungstag, letzter und wichtigster der zehn mit Rosch ha-Schana* beginnenden Bußtage. Juda, 1. Vierter Sohn Jakobs; 2. Name des israelitischen Stammes, der sich auf Juda, den Sohn Jakobs, zurückführt; 3. Bezeichnung des Südreiches, das 597/96 v.Chr. von den Babyloniern erobert wurde. Judäa, Bezeichnung für das Siedlungsgebiet der Juden um Jerusalem nach der Babylonischen Gefangenschaft, später das Reich von Herodes d. Gr., seit 67 n.Chr. römische Provinz. Kabbala („Überlieferung“), speziell eine spekulative mystische Strömung im mittelalterlichen und neuzeitlichen Judentum. Kahal, Kehilla („Gemeinde“), Bezeichnung für die mit weitgehender Autonomie ausgestatteten jüdischen Gemeinden in Polen. Karäer, jüdische Sekte aus dem 8. Jh., die die talmudisch-rabbinische Gesetzestradition ablehnte. Kaschrut, jüdische Speisegesetze. Ketuba, Ehevertrag. Kiddusch ha-Schem („Heiligung des [göttlichen] Namens“), vor allem durch Martyrium, Gebet und Lebensführung. Laubhüttenfest s. Sukkot. Leviratsehe, Schwagerehe, nach Dt 25,5 die Ehe der Witwe eines sohnlos verstorbenen Mannes mit einem Bruder des Verstorbenen. Leviten, Jahwe verehrende Gruppen aus Südjuda, unter David in Kult und Verwaltung tätig, später vor allem als Priester an den staatlichen Heiligtümern, daher als Priesterstamm dargestellt und auf Levi, den Sohn Jakobs, zurückgeführt. Machsor („Kreislauf, Wiederholung“), Gebetbuch als Kompendium des religiösen Lebens innerhalb des Jahreszyklus. Magen David, David-Stern. Makkabäer, Beiname der frühen Hasmonäer*. Maskil, pl. Maskilim („Verständiger, Unterweiser“), jüdische Aufklärer. Mazzen, ungesäuerte Brot, das an Pesach* zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten gegessen wird. Menora, siebenarmiger Leuchter nach dem Vorbild des Leuchters im zweiten Tempel. Midrasch, 1. Rabbinische Auslegung der Bibel; 2. Verschiedenartige rabbinische Schriften (u. a. Kommentare, Homilien, Traktate). Mikwe, rituelles Tauchbad. Minhag („Brauch“), durch mündliche Überlieferung weitergegebene Bräuche. Minjan („Zahl“), um einen Gottesdienst abhalten zu können, bedarf es der vorgeschriebenen Zahl von mindestens zehn jüdischen Männern. Mischna („Unterweisung“), Sammlung der jüdischen Gesetzeslehre aus dem 2. Jh. n.Chr., Grundlage des Talmud*. Mizwa, pl. Mizwot („Gebot“), religiös verdienstvolle Handlung. Pascha, Passah s. Pesach. Pesach, achttägiges Fest der ungesäuerten Brote zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten. Pijjut, liturgisches Gedicht. Pogrom („Massaker, Verwüstung“), russische Bezeichnung für eine mit Plünderungen und Mord verbundene Judenverfolgung.

Glossar

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Proselyt, Nichtjude, der zum Judentum übertritt. Ptolemäer, Herrscherdynastie in Ägypten. Purim, Fest zur Erinnerung an die Rettung der Juden durch Ester und Mordechai vor dem von dem persischen König Artaxerxes und seinem Berater Haman geplanten Völkermord. Rabbaniten, Anhänger des Talmuds und der Rabbinen. Rabbi, pl. Rabbinen („Mein Lehrer“), Meister, Ehrentitel für die Gesetzesgelehrten der pharisäischtalmudischen Zeit. Rabbiner, Angestellter Gesetzeslehrer, in europäischen Gemeinden des Mittelalters eingeführt. Raw („Herr, Meister“), Gelehrter. Responsum, Briefwechsel zwischen Gelehrten, in dem eine Seite die andere über ein Problem der Halacha* befragt. Rosch ha-Schana („Kopf des Jahres“), jüdisches Neujahrsfest. Sabbat („ruhen“), siebter Wochentag, die Sabbatruhe beginnt am Freitagabend und endet am Samstagabend mit Einbruch der Dunkelheit. Samaritaner, religiöse Gemeinschaft, Nachfahren der Stämme Ephraim und Menasse. Sanhedrin, oberstes politisches, religiöses und juristisches Gremium in Judäa in der herodianischrömischen Zeit unter dem Vorsitz des Hohepriesters. Schawuot, achttägiges Wochenfest, das sieben Wochen nach Pesach gefeiert wird, entspricht dem christlichen Pfingstfest. Schechina, in der rabbinischen Literatur die Bezeichnung für die Gegenwart Gottes in der Welt. Schema Jisrael („Höre Israel“), zweimal täglich zu lesendes Pflichtgebet, das aus drei Schriftstellen besteht: Dt 6, 4–9, Dt 11, 13–22 und Num 15, 37–41. Schoa („Vernichtung“), in der jüdischen Welt Bezeichnung für den Völkermord anstelle von Holocaust. Schtetl, Kleinstadt-Gemeinde in Osteuropa, in der Juden die Mehrheit der Bevölkerung bilden, Zentren der jiddischen Kultur. Sefardim (Sefarad = Spanien), Juden spanisch-orientalischer Herkunft im Unterschied zu den Aschkenasim*. Seleukiden, Herrscherdynastie in Syrien und Mesopotamien. Selicha, pl. Selichot, Bußgebete, die während des Monats Elul und während der zehn Bußtage von Rosch ha-Schana* bis Jom Kippur* gebetet werden. Septuaginta, griechische Bibelübersetzung der Juden in Ägypten, entstanden seit 250 v.Chr. Sohar („Lichtglanz“), Hauptwerk der mittelalterlichen Kabbala. Sukkot, Laubhüttenfest, siebentägiges Fest, ursprünglich ein Erntefest, später mit der Erinnerung an den Auszug aus Ägypten verbunden. Sulat, pl. Sulatot, poetische Einfügung im Morgengebet am Sabbat und an Festtagen. Takkana, pl. Takkanot, innerhalb des Systems der Halacha* eine Hinzufügung mit der Absicht, eine Lücke zu füllen oder eine Anpassung aufgrund veränderter Gegebenheiten vorzunehmen. Tallit, Gebetsschal. Talmud („Lehre“), Sammlung von rabbinischen Kommentaren über die Mischna* aus dem 2. bis 5. Jh. (Gemara*), in Palästina um 400, in Babylonien um 500 schriftlich fixiert; der Babylonische Talmud setzte sich gegenüber dem Palästinensischen Talmud schließlich fast völlig durch. Tannaiten, Lehrer der „mündlichen Überlieferung“ bis zum Abschluß der Mischna* (um 200 n.Chr.). Tefillin, „Gebetsriemen“, während des Betens an Kopf und linkem Arm anzulegen. Tora („Lehre“, „Anweisung“), im engeren Sinne die fünf Bücher Mose (Pentateuch, „schriftliche“ Tora), im weiteren Sinne die gesamte hebräische Bibel und die folgende mündliche Auslegung („schriftliche“ und „mündliche“ Tora).

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Glossar

Versöhnungstag s. Jom Kippur. Wochenfest s. Schawuot. Zaddik, pl. Zadikim, „Gerechter“ Mensch, der rechtschaffen ist und im Glauben lebt. Zion, ursprünglich der Name eines Jerusalemer Hügels und der auf ihm angelegten Burg, dann auch Bezeichnung für den Tempelberg, schließlich dichterisch-symbolische Bezeichnung für Jerusalem und das ganze Land Israel. Zizit, pl. Zizijot, „Fransen“, „Quasten“, die am Tallit* angebracht sind.

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Abkürzungsverzeichnis Bibel (einschließlich Apokryphen und NT) Am Apg Bar Chr Dan Dtn Eph Esra Est Ex Ez Gal Gen Hab Hag Hebr Hld Hos Ijob Jak Jdt Jer Jes Joël Joh Jona Jos Jud Klgl Koh

Amos Apostelgeschichte Baruch Chronik Daniel Deuteronomium Epheserbrief Esra Ester Exodus Ezechiel Galaterbrief Genesis Habakuk Haggai Hebräerbrief Hoheslied Hosea Ijob Jakobusbrief Judit Jeremia Jesaja Joël Johannesevangelium bzw. -briefe Jona Josua Judasbrief Klagelieder Kohelet

Kol Kön Kor Lev Lk Makk Mal Mi Mk Mt Nah Neh Obd Offb Petr Phil Phlm Ps Ri Röm Rut Sach Sam Sir Spr Thess Tim Tit Tob Weish Zef

Kolosserbrief Könige Korintherbrief Levitikus Lukasevangelium Makkabäer Maleachi Micha Markusevangelium Matthäusevangelium Nahum Nehemia Obadja Offenbarung des Johannes Petrusbrief Philipperbrief Philemonbrief Psalmen Richter Römerbrief Rut Sacharja Samuel Jesus Sirach Sprichwörter Thessalonicherbrief Timotheus Titusbrief Tobit Weisheit Zefanja

488

Abkürzungsverzeichnis

Talmud Abot Ar AS BB Bech Ber Beza Bik BM BK Chag Chal Chul Demai Ed Er Git Hor Jad Jeb Joma

Abot Arachin Aboda Sara Baba Batra Bechorot Berachot Beza Bikkurim Baba Mezia Baba Kamma Chagiga Challa Chullin Demai Edujot Erubin Gittin Horajot Jadajim Jebamot Joma

Kel Ker Ket Kid Kil Kin Maas Mak MSCH Meg Meila Men Mid Miqw MK Naz Ned Neg Oh Orla Para

Kelim Keritot Ketubbot Kidduschin Kilajim Kinnim Ma’aserot Makkot Ma’aser Scheni Megilla Meila Menachot Middot Mikwaot Moed Katan Nasir Nedarim Negaim Ohalot Orla Para

Pea Pes RH Sab Sanh Schab Schebi Schebu Schek Seb Sota Suk Taan Tam TebJ Tem Ter Toh Uk

Pea Pesachim Rosch ha-Schana Sabim Sanhedrin Schabbat Schebi’it Schebuot Schekalim Sebachim Sota Sukka Ta’anit Tamid Tebul Jom Temurot Terumot Toharot Ukzin

Mischna wird nach Kapitel (römische Zahl) und Paragraphen (arabische Zahl) zitiert (z. B. AS I, 1). Zitaten aus dem babylonischen Talmud ist ein b (z.B. bPes) und Zitaten aus dem Jerusalemer Talmud ein j (z.B. jHag) vorangesetzt. Im folgenden sind nur die Zitatstellen aus dem Midrasch und den Qumrantexten aufgeführt, die in den Beiträgen vorkommen.

Midrasch BerR PesR QohR

Bereschit Rabba Pesikta Rabbati Koheht Rabba

Qumran 4Q MMT 4. Höhle Qumran 11Q Temp 1 Qumran Tempelrolle

Personenregister Aaron ben Elija I 294 Aaron ben Josef I 293 Abaja bar Nachmani (Abaje) II 108 Abba Aricha II 108 Abdul Hamid II. I 313 Abner von Burgos s. Alfonso de Valladolid Abrabanel, Isaak I 343, 346, II 116 Abrabanel, Jehuda (gen. Leone Ebreo) I 370 Abraham Abulafia II 121, 132 Abraham ben Mattatia II 158 Abraham ibn Daud I 334 Abramowitsch (Rafael Abramowitsch Rein) II 462 Abudiente, Mose Gideon I 37 Achad Haam (Ascher Zwi Ginzberg) I 112, 192, 259, II 165, 444–446 Achron, Joseph II 200–201 Adler, Hugo II 202 Adler, Jankel II 181 Adler, Max II 60 Adler, Viktor I 133, II 460 Adolf von Nassau (dt. König) I 25 Adret, Salomo ben Abraham (gen. Raschba) II 61, 110 Agnon, Samuel Josef II 166–167 Aguilar, Diego d’ I 126 Akiba ben Josef (Rabbi) II 108 Alarich I. (westgotischer Heerführer) I 289 Albrecht I. (dt. König) I 25 Albrecht II. (dt. König) I 27 Albrecht von Brandenburg (Kurfürst) I 34 Alechem, Schalom II 160–161 Alemanno, Jochanan ben Isaak I 373 Alembert, Jean le Rond d’ II 342 Alexander ben Giat I 313 Alexander I. (russ. Zar) I 182–183, 243, II 344 Alexander II. (russ. Zar) I 185–186, 188–190, 220, 251, 404, 436, II 292, 350, 386, 434, 456 Alexander III. (russ. Zar) I 190–191, II 350, 456 Alexander, Michael Salomon Michael II 332 Alexej Michaijlovicˇ (russ. Zar) I 175 Alfons I. (König von Aragon) I 333

Alfons VI., der Tapfere (König von Kastilien und León) I 333 Alfons VII. (König von Kastilien und León) I 333 Alfons VIII., der Edle (König von Kastilien und León) I 334 Alfons X., der Weise (König von Kastilien und León) I 335–336 Alfons XI. (König von Kastilien und León) I 337, II 325 Alfons XIII. (span. König) I 348 Alfonso de Spina I 343 Alfonso de Valladolid I 337, II 325 Algazi, Léon II 202 Alkabez, Salomo ha-Levi I 303 Alkalai, Jehuda I 306, 314, II 441 Alkalai, Mose ben David I 306 Allatini, Moise I 311 Allenby, Edmund Henry Hynman II 449 Alter, Wiktor I 258, II 465 Altmann, Nathan II 181 Ambrosius (Bischof v. Mailand) I 289 Amitai I 373 Ancona, Alessandro d’ II 361 Ancˇrl, Karel I 149 Andreas II. (ungar. König) I 151 Anna Ivanovna (russ. Zarin) I 176–177 Anschel (Rabbi) II 157 Antigonos aus Socho II 107 Anton, Carl II 204 Antonescu, Ion I 283–284, 286, II 403, 422 Antonio (portug. Thronprätendent) I 454 Apostol, Daniil I 176 Appelfeld, Aharon II 167 Ara¯js, Viktors I 225 Arcadius (röm. Kaiser) I 289 Archivolti, Samuel I 369, 371 Arendt, Hannah II 367, 468 Argens, Jean-Baptiste de Boyer d’ II 254, 337 Arguete, Isaak I 305 Aristoteles II 83 Arlosoroff, Chaim Victor II 446

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Personenregister

Arnold von Vohburg II 206 Arnstein, Fanny (Franziska) von I 127, II 384–385 Arnstein, Nathan von II 384 Aron, Marton I 285 Aronson, Boris II 181 Artom, Elia Samuel I 368 Artom, Isacco II 349 Asa, Abraham I 306 Asch, Schalom II 161–162 Ascher ben Jechiel (gen. Rosch od. Ascheri) I 36, 110–111 Ascher, Saul II 252–253, 380 Aschi (Rabbi) II 108 Aschkenasi, Gerschon I 114 Ashtor, Elijahu II 62 Asriel II 133–134 Atatürk, Kemal (Mustafa Kemal) I 317 Auerbach, Berthold I 80, II 165, 169, 452 Auerbach, Isaac Levin II 268 Auerbach, Jacob I 80 Auerbach, Philip II 412 August (Kurfürst von Sachsen) I 56 August III. (poln. König) I 240 Augustinus, Aurelius (Bischof von Hippo) I 291, II 122, 303, 314, 371, 374 Ausländer, Rose I 282, II 169 Auspitz, Lazar I 118 Avineri, Shlomo II 439 Avishai, Bernard II 439 Azeglio, Massimo Taparelli Marches d’ I 359, II 347 Baal Schem Tow s. Israel ben Elieser Bachja ibn Pakuda I 306, 330, II 120 Bachur, Elijahu s. Levita, Elia Back (auch Bock), Tobias II 286 Badeni, Kasimir Felix Graf I 112 Badoglio, Pietro I 364 Baeck, Leo I 88, 149, II 236, 280–281, 396 Balaban, Majer II 265 Balakirev, Milij Alekseevicˇ II 199 Baldwin, Stanley I 479 Balfour, Arthur James I 474, 476, II 448 Bamberger, Ludwig II 452 Bar Kochba, Simon I 278, 325 Bär, Julius I 95 Bárdossy, László von I 159 Barkai, Abraham II 54 Baron, Salo W. II 274

Basarab, Matei (Fürst d. Walachai) I 278 Basileios I. (byzant. Kaiser) I 291 Basnage, Jacques I 431 Bassani, Giorgio I 375 Bassevi, Jakob I 40 Batja, Reina II 85–86 Bauer, Otto I 137, II 460, 462, 468 Baum, Herbert II 405 Baum, Oskar I 112 Bayezid II. (osman. Sultan) I 298 Bayle, Pierre I 431 Beer, Peter II 271, 274 Beer-Hofmann, Richard I 136 Beethoven, Ludwig van II 193 Begin, Menachem II 420 Begun, Vladimir J. II 416 Behar, Jakim I 313 Beilis, Mendel I 194, 473 Béla IV. (ungar. König) I 151, II 60, 301 Bellison, Simon II 201 Belloc, Hilaire I 472 Ben Asai II 81–83 Ben Jehuda, Elieser II 248, 446 Benamozegh, Elijahu I 370, 371, 373 Benaroya, Abraham I 315 Bendavid, Lazarus II 242, 247, 250, 252–253, 270 Bendel, Sebald I 75 Benedikt XIII. (Papst) I 341, II 326 Benesˇ, Eduard I 143 Ben-Gurion, David II 124, 224, 444–445, 448 Benjamin ben Jona aus Tudela I 290, 294, 334, 352, II 206 Benveniste, Abraham I 342 Benveniste, Emanuel I 426 Ben-Zwi, Itzhak II 448 Ber, Dow von Mie˛dzyrzecz (gen. Maggid) I 237, II 136 Berditschewsky, Leon II 201 Bergel’son, David I 205, II 162 Berger, Richard II 139 Bergmann, Hugo Schmuel I 112, II 441 Berlin, Naftali Zwi II 85 Berlin, Sir Isaiah I 222, 483 Berman, Karel I 149 Bernadotte, Folke I 494 Bernays, Jacob I 79 Bernouilli, Jean II 254 Bernstein, Eduard II 460, 468 Bernstein, Fritz I 84, II 367 Bernstein, Leonard II 194, 197

Personenregister Berthold von Regensburg II 95 Bertinoro, Obadja di I 377 Beruria II 80, 83–86 Bettauer, Hugo I 136 Bialik, Chajim Nachman II 166, 201 Binder, Abraham Wolf II 202 Bing, Seligmann Oppenheim ha-Levi II 98 Birnbaum, Nathan I 167, 259, 263, II 292, 442, 446–447 Birnbaum, Pierre II 466 Bismarck, Otto von I 47, 64, 65, II 349–350, 457 Blanqui, Louis Auguste II 465, 467 Bleichröder, Gerson von I 65 Bloch, Ernest II 194, 197 Bloch, Ernst II 411 Bloch, Jan I 248 Bloch, Josef Samuel I 132 Bloch, Markus Elieser II 250 Blum, Léon I 408, II 413, 459, 466 Blumenfeld, Kurt II 442, 447 Blümlein, Aaron I 30 Bodenheimer, Max Isidor II 442 Bodenschatz, Johann Christoph Georg II 204 Boeckel, Otto II 382 Boeckh, August II 274 Böhm, Adolf II 441 Bohr, Harald I 493 Bohr, Niels I 493 Bolesław V., der Fromme (Herzog von Großpolen) I 22, 28, 228, II 60, 301 Bonaparte, Louis (König von Holland) I 432 Bonjour, Edgar I 98 Bonnet, C. II 163 Bontoux, Paul-Eugène I 405 Boris I. (bulgar. Fürst) I 292 Börne, Ludwig II 168–169, 170, 451 Borochov, Ber I 260, II 124, 460, 462, 464 Boulanger, Georges II 386 Bouman, Elias II 186 Brandes, Edvard I 493 Brandes, Ernst I 493 Brandes, Georg I 492–493 Brann, Marcus II 277 Bra˘tianu, Gheorghe I 285 Brauer, Arik II 175, 181 Brauner, Victor I 281 Brenner, Chajim Josef II 166 Brenner, Michael II 353 Breßlau, Harry I 79 Brezˇnev, Leonid I 208–209, 225

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Briscoe, Robert I 486 Brod, Max I 112, II 168 Brodskij, Yosif I 213 Bronstein, Lev s. Trockij, Leo Bruch, Max II 194 Bruckner, Anton II 197 Brunschwig, Georg I 97 Buber, Martin I 97–98, 112, II 124–125, 227, 234–236, 275, 282, 443, 445, 447 Bucer, Martin I 38, II 377 Buchbinder, Jozef II 179 Buchbinder, Szymon II 179 Büchner, Ludwig II 452 Büdinger, Max I 94 Burchard (Bischof v. Worms) I 20, 21 Burla, Jehuda II 166 Burton, Montague I 472 Buxtorf, Johannes I 91, II 204, 249 Byk, Jakob Samuel I 281 Cahnmann, Werner J. II 211 Callenberg, Johann Heinrich II 329 Calvin, Jean I 91, II 315 Candrea, Aureliu I 281 Cantemir, Dimitri (Fürst d. Moldau) I 278 Capistrano, Johannes I 230 Capito, Wolfgang I 36, II 312 Capsali, Mose I 294, 299 Caracalla (Marcus Aurelius Severus Antoninus, röm. Kaiser) I 288, 350, 387 Carasso, Emmanuel I 314 Carolina de Zamora II 326 Cäsar, Gaius Julius (röm. Staatsmann) I 287, 350 Cassel, David II 281 Cassirer, Ernst I 79 Cassuto, Mose David I 368 Castelli, Nicolo di II 343 Castro, Rodrigo de I 37 Cattaneo, Carlo I 359, II 345, 347 Cavour, Camillo Graf Benso di II 349 Ceaus¸escu, Nicolae I 286, II 417 Celan, Paul I 282, II 169 Celminsˇ, Gustav I 223 Cˇereminskij, Isaak s. Maslow, Arkadi Cerfbeer, Naftali Herz II 49, 339 Cˇernichovskij, Saul II 201 Cervantes Saavedra, Miguel de II 214 Chagall, Marc II 175, 180–181 Chajes, Abraham I 117 Chajes, Gerson I 116

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Personenregister

Chajes, Hirsch II 210 Chajes, Julius II 202 Chajes, Zwi Perez I 136, II 210 Chajim ben Bezalel I 37 Chamberlain, Houston Stewart I 498, II 387 Chamberlain, Sir Joseph Austen I 475 Chanina ben Teradion II 85 Chasdai ibn Chasdai I 329 Chasdai ibn Schaprut I 328–330 Chaucer, Geoffrey I 454 Chemnitz, Martin I 38 Cherniavsky, Josef II 201 Chesterton, Gilbert Keith I 472 Chisinevschi, Josif II 411 Chmel’nickij, Bogdan I 175, 216–217, 235, 425, II 39, 48 Chorin, Aaron ben Kalman I 155 Christian IV. (dän. König) I 487, II 317 Christian V. (dän. König) I 488 Christian VI. (dän. König) I 489 Christina (schwed. Königin) I 496 Chrusˇcˇev, Nikita I 206–209, II 414 Chwolson, Daniel II 330 Clemenceau, Georges II 435 Clemens IV. (Papst) II 323 Clemens VII. (Papst) II 116 Clemens VIII. (Papst) I 356 Clemens XII. (Papst) I 240 Clermont-Tonnerre, Stanislaus Comte de II 245, 339 Clore, Sir Charles I 477 Cobbett, William I 461, 466 Codreanu, Corneliu Zelea I 282 Cohen, Hermann I 79, II 124–125, 224, 231–233, 237, 277, 279, 281–282 Cohen, Lionel Louis II 454 Cohn, Arthur I 96 Coke, Sir Edward I 458 Colner, Lew I 32 Consalvi, Ercole II 385 Constantius II. (röm. Kaiser) I 289 Coopersmith, Harry II 202 Cordovero, Mose I 303 Coryate, Thomas II 206, 212 Cosimo I. Medici (Herzog d. Toskana) II 317 Costa, Duarte Nunes da I 40 Costa, Uriel da I 428, II 162, 243 Cranz, A. F. II 163 Cremer, Wilhelm II 189 Crémieux, Adolphe I 401, II 345–347

Crescas, Chasdai II 121, 223 Croce, Benedetto I 365 Cromwell, Oliver I 456–457, II 317 Csokor, Theodor I 134 Culi, Jakob I 305 Cumberland, Richard I 465 Cuza, Alexandru C. I 282 Cuza, Alexandru Ioan (Fürst v. Rumänien) I 279, II 350 Czerniaków, Adam I 272 Czynski, Jan II 345 Daluege, Kurt II 400 Dan (Fürst d. Walachai) I 277 Dan, Fjodor II 460 Danie˙l, Julij M. I 209 Dante Alighieri I 369, 371 David ha-Reubeni II 116–117 David, Israel I 488 Deak, Istvan II 467 Deckert, Joseph II 386 Della Torre, Lelio I 369, II 277 Delmedigo, Josef Salomo (gen. Rofe) I 37 Derzˇavin, Gabriil R. I 181–182, 185 Descartes, René II 222 Deutscher, Isaac II 467 Dibden, Thomas I 465 Dickens, Charles I 469 Diderot, Denis II 342, 379, 450–451 Diether VI. (Graf v. Katzenelnbogen) I 24 Dimanstein, Simon II 465 Dina, Giacomo II 349 Dinur, Ben-Zion II 275, 282 Diokletian (Gaius Aurelius Valerius Diocletianus, röm. Kaiser) I 287–288 Dionis, Albert s. Jachja, Samuel Dioskurides, Pedanios I 329 Disraeli, Benjamin I 467–469, II 332, 454 Dmowski, Roman I 265–267 Dobruschka, Mose ben Salomo ha-Levi I 116 Dohm, Christian Wilhelm von I 55–56, 58, 73, 181, II 49, 123, 163, 250–251, 254, 290, 338, 353, 357, 379, 468 Dohna, Alexander Graf von II 359 Domitian (Titus Flavius Domitianus, röm. Kaiser) I 350 Dostoevskij, Fedor M. I 189 Drechsler, Joseph II 193 Dreifus, Marcus Getsch I 94 Dreifuss, Ruth I 99

Personenregister Dreyfus, Alfred I 405–406, 408, 450, 473, II 165, 386, 434, 442, 455, 467 Dreyfus, Ferdinand II 455 Drumont, Edouard-Adolphe I 405, II 386 Du Maurier, George Louis Palmella Busson I 472 Dubnow, Simon I 175, 222, 225, 261, II 67, 274, 462 Dühring, Eugen II 382, 457 Dunasch ben Labrat I 329 Dury, John II 311 Ebner, Mayer I 262 Edgeworth, Maria I 465 Eduard I. (engl. König) I 454 Edzard, Esdras II 328–329 Efraim ben Isaak II 211 Egica (westgot. König) I 327 Egidio da Viterbo II 206 Ehrenstamm, Veith I 118 Eichelberg, Leopold II 452 Eichmann, Adolf I 39, 148, 284, II 397, 400, 402, 414 Einstein, Albert I 204 Eisenmenger, Johann Andreas I 125, II 204, 249– 250 Eisler, Elfriede s. Fischer, Ruth Eisner, Kurt II 458 E˙jdelman, Julij I 210 Elbogen, Ismar II 275, 281 Eleaser ben Jehuda I 19, II 130 Elia von Wilna (gen. Gaon) I 244 Eliás, Jószef I 160 Elieser ben Hyrkanos II 81–84 Elieser ben Joel (gen. Ravia) I 19 Elijahu ben Salomo Abraham ha-Kohen I 306 Elijahu de Vidas II 131 Eliot, George (Mary Ann Cross) I 469 Eliot, T. S. I 478 Elisabeth I. (engl. Königin) I 454 Elisabeth Petrovna (russ. Zarin) I 177–178, 215– 216, II 318 Eljakim ben Meschullam I 16 Emden, Jakob ben Zwi II 110 Emicho I 17 Emmerich (Bischof v. Worms) I 25 Engel, Joel II 199–201 Engels, Friedrich II 122, 468 Eötvös, József I 156 Ephraim, Veitel I 52–53 Ephros, Gerschon II 202

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Epstein, Baruch II 85 Epstein, Isaak I 314 Epstein, Jacob I 478 Epstein, Jehudo II 179 Erasmus von Rotterdam II 312 E˙renburg, Il’ja I 204, 207 Ergas, Josef I 373 Erlich, Henryk I 258, II 465 Ersch, Johann Samuel II 344 Erwich (westgot. König) I 327 Eskeles, Bernhard von II 384 Esra aus Gerona II 133–134 E˙tkind, Efim I 211 Ettinger, Salomon II 160 Ettinger, Shmuel II 439 Euchel, Isaak II 242, 247–249, 252, 255 Evans-Gordon, Sir William I 474 Evseev, Valerij II 416 Evtusˇenko, Evgenij I 208, II 414 Ezofowicz, Michel I 231 Falcon, Fernan II 326 Fano, Menachem Asarja de I 373, II 110 Farbstein, David I 96 Farchi, Menachem I 306 Fay, Theodore S. I 94 Fedor I. (russ. Zar) I 174 Fefer, Isaac I 205 Feiwel, Berthold II 443 Ferdinand (Herzog v. Kurland) I 217 Ferdinand I. (röm.-dt. Kaiser) I 39, 42, 101, 155 Ferdinand II. (röm.-dt. Kaiser) II 40, 101–102, 113, 123–124 Ferdinand III. (röm.-dt. Kaiser) III 41, 103 Ferdinand I. von Antequera (König v. Aragon) II 326 Ferdinand II., der Katholische (König von Aragon, span. König) I 343–344, 347, 352, 429 Ferdinand I. (Großherzog d. Toskana) II 317 Fernandez, Salomon I 311 Ferrer, Vicente II 325–326 Fest, Joachim II 419 Fettmilch, Vinzenz I 45, II 158 Feuchtwanger, Ludwig II 33 Fichte, Johann Gottlieb I 61, II 229, 380 Finch, Henry II 313 Fischer, Ruth (Elfriede Eisler) II 467 Fischhof, Adolf I 128 Fleckeles, Eleasar ben David I 108 Fleischer, Max II 189

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Personenregister

Florentin, David I 314 Florentin, Isaak I 313 Fonseca, Abraham da I 37 Formstecher, Salomon II 141, 228, 230, 274 Forster, Georg II 343 Francés, Immanuel I 371 Francés, Jakob I 367, 374 Francke, August Hermann II 313 Franco Bahamonde, Francisco I 349 Frank, Jakob I 116, 236, II 330 Fränkel, David II 265 Fränkel, Elkan I 68 Fränkel, Hirsch I 68 Frankel, Simon Wolf II 215 Frankel, Zacharias II 142–145, 149, 277, 279–280 Frankfurter, David I 97 Franz II. (dt. Kaiser, österr. Kaiser) I 108, 117, II 384 Franz Joseph I. (österr. Kaiser) I 110, 123, 132, 156–157, II 348, 385 Franzos, Karl Emil II 160–161, 169 Freed, Isadore II 202 Freud, Sigmund I 122, 213, II 87 Freund, Ismar II 281 Frick, Wilhelm II 392 Friedländer, David II 123, 247, 251, 253, 270, 358 Friedmann, Desider I 137, 139–140 Friedmann, Frieda I 388 Friedrich (Herzog von Mecklenburg-Schwerin) II 211 Friedrich I. Barbarossa (röm.-dt. Kaiser) I 17, II 299–300, 323 Friedrich II. (röm.-dt. Kaiser) I 20–22, 228, 352, II 60, 301, 310, 375 Friedrich III. (röm.-dt. Kaiser) I 31, II 327 Friedrich I. (Kurfürst von Brandenburg, König in Preußen) I 49, II 249 Friedrich II. (preuß. König) I 49–53, 58, II 253, 337 Friedrich III. (dän. König) I 487 Friedrich IV. (dän. König) I 489 Friedrich V. (dän. König) I 490 Friedrich VI. (dän. König) I 490 Friedrich II. von Babenberg (Herzog v. Österreich und d. Steiermark) I 228, II 301 Friedrich Heinrich (Statthalter d. Niederlande) I 422 Friedrich Wilhelm I. (Kurfürst von Brandenburg) I 47, 48, II 317 Friedrich Wilhelm I. (preuß. König) I 49, 52

Friedrich Wilhelm II. (preuß. König) I 58 Friedrich Wilhelm III. (preuß. König) I 58, 61 Friedrich Wilhelm IV. (preuß. König) I 62 Fries, Jakob Friedrich II 380 Fritta, Bedrˇich I 149 Fromm, Erich I 98, II 282 Fromm, Herbert II 202 Fryd, Norbert I 149 Fundoianu (Fondane), Benjamin I 282 Fürst, Julius II 452 Gaen, Schabetai Hosef I 313 Galante, Abraham I 313 Gall, Lothar II 344 Gallimani, Ricardo II 37 Gans, David ben Schlomo I 37 Gans, Eduard II 268, 270, 278, 360 Gaon, Nissim I 99 Gaster, Moses I 280 Gattegno, Aaron I 311 Gaulle, Charles de I 415, II 417 Geiger, Abraham II 113, 143–144, 149, 276, 279– 281, 292 Geiger, Ludwig II 169 Gengler, Heinrich Gottfried II 34 Gennadij (Erzbischof v. Moskau) I 173 Gentz, Friedrich von II 384 Georg, Johann II 329 Gerle, Karl II 189 Geronimo de Santa Fé s. Jehoschua ben Josef ibn Vives Lorki Gerschom ben Jehuda I 16, II 95, 98 Ghasali I 173 Gideon, Sampson I 462 Ginsburg, Saul II 200 Ginzberg, Ascher s. Achad Haam Glagaus, Otto II 382 Glatzer, Nahum II 282 Glenn, Susan II 86 Globke, Hans II 415 Globocnik, Odilo II 404 Glückel von Hameln I 491, II 77, 85, 121, 216, 259 Gnessin, Michael II 200–201 Gobineau, Arthur Graf II 381 Godefroi, Michael Henri I 436 Godunov, Boris (russ. Zar) I 174 Goebbels, Joseph II 78, 390, 394 Goethe, Johann Wolfgang von I 87, 89, 134, II 30, 363

Personenregister Goldfaden, Abraham I 281, II 160 Goldfarb, Israel II 202 Goldman, Michel I 258 Goldschmidt, Sir Francis II 454 Goldschmidt, Helmut II 189 Goldschmidt, Hermann Levin I 98 Goldschmidt, Meïr I 488 Goldschmidt, Meïr Aaron I 491 Gollancz, Victor I 478 Gollomb, Eugen II 416 Gombrich, Sir Ernst I 483 Gomperz, Julius Ritter von I 118 Gomułka, Władysław I 273–274, II 417 Gorbacˇev, Michail II 204, 212 Gordon, Aaron David II 124, 445–446 Göring, Herrmann II 393, 395 Gottlieb, Maurycy II 179–180 Goudchaux, Michel II 347 Gradis, David II 451 Graetz, Heinrich II 66, 211, 271, 274, 277 Gramsci, Antonio II 469 Grattenauer, Karl Wilhelm Friedrich II 384 Greble, Ja¯nis I 223 Grégoire, Henri II 123, 254, 338–339, 451, 454, 468 Gregor I., der Große (Papst) I 351, 352 Gregor IX. (Papst) I 21, 389, II 303 Greiser, Artur II 400, 403–404 Gronemann, Sammy II 30, 42 Grossman, Vassilij I 204 Grotius, Hugo I 421, II 310, 313, 316–317 Grözinger, Karl-Erich II 32 Gruber, Johann Gottlieb II 344 Grünbaum, Icchak I 266 Grunwald, Max (Meir) II 204–205, 216 Grynszpan, Herszel I 271, II 394 Güdemann, Moritz I 127–128, II 205, 214 Guénée, Antoine II 338 Guggenheim-Grünberg, Florence I 99 Guido (päpstl. Legat) I 22 Guimard, Hector II 189 Günther von Schwarzburg (dt. König) I 27 Gustav II. Adolf (schwed. König) I 215 Gustav III. (schwed. König) I 496, 497 Gustav IV. Adolf (schwed. König) I 497 Gustloff, Wilhelm I 97 Gutenberg, Johannes II 173 Guttmann, Hermann II 189 Guttmann, Jacob II 274, 277 Guttmann, Julius II 274, 281–283

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Haas, Lev I 149 Haas, Ludwig I 82 Habe, Hans I 98 Habermas, Jürgen II 288 Hadassi, Jehuda I 293 Hadrian (Publius Aelius Hadrianus, röm. Kaiser) I 287 Hahn, Josef Juspa I 37 Haider, Jörg II 421, 424 Hajjug, Jehuda I 330 Håkon VII. (norweg. König) I 495 Halevi, Menachem Man ben Salomo I 431 Halevi, Uri I 420, 423 Halevy, Saadi Bezalel I 313 Haller, Józef I 265–266 Halle-Wolfssohn, Aaron II 247–248 Halpern, Georg II 71 Harden, Maximilian I 82 Hardenberg, Karl August Fürst von I 58, 61, 62 Harlan, Veit II 412 Hart, Salomon Alexander II 179 Hartlib, Samuel II 311 Hartmann, Karl Amadeus II 194 Hartmann, Moritz I 109, II 452 Hauff, Wilhelm I 89 Haverkamp, Alfred II 33, 35 Hazaz, Chajim II 166 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich I 373, II 228–229, 268–269, 380 Heidegger, Martin II 238 Heine, Heinrich I 84, 95, II 168–169, 270, 331, 333–343, 346, 351, 359, 451 Heinemann, Isaak II 283 Heinrich II. (röm.-dt. Kaiser) I 17 Heinrich IV. (röm.-dt. Kaiser) I 17–18, II 207, 299 Heinrich VII. (dt. König) I 20, 24 Heinrich II. (franz. König) I 393 Heinrich IV. (franz. König) I 395 Heinrich II. (König von Kastilien und León) I 338–339 Heinrich IV. (König von Kastilien und León) I 343 Heinrich III. (Herzog von Brabant) I 440 Helfman, Max II 202 Heller, Jomtov Lipmann I 37, 105, 113 Heln, Elchanan II 158 Hendlé, Albert II 455 Hendlé, Ernest II 455 Henriette Maria (engl. Königin) I 422

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Personenregister

Herakleios (byzant. Kaiser) I 291 Herder, Johann Gottfried von II 248, 380 Herz, Henriette II 250, 358–359 Herz, Leopold von II 384 Herz, Markus II 247, 250 Herzl, Theodor I 84, 96, 112, 133, 260, 262, 469, 475, II 124, 165, 292, 386, 441–447, 462 Herzog, Chaim I 486 Herzog, Elisabeth II 40 Herzog, Hans I 93 Herzog, Isaac I 486 Heschel, Abraham Joshua II 226, 236–238 Hess, Moses II 165, 441, 453 Heydrich, Reinhard II 399 Heym, Stefan II 411 Hieronymus II 303 Hilberg, Raul II 408 Hildebrand II 158 Hildesheimer, Esriel II 114, 262, 277 Hilferding, Rudolf II 458, 460 Hillel (ha-Sakeu) II 107 Hillel ben Eljakim I 293 Hillel ben Salomo I 30 Hillel ben Samuel aus Verona I 370 Hillomar, Josef II 268 Hilsner, Leopold I 112 Himmler, Heinrich II 396, 400–401, 404–405, 407 Hindenburg, Paul von II 389, 396, 458 Hirsch, Israel I 176 Hirsch, Jacob von I 76 Hirsch, Mendel II 265 Hirsch, Moritz Baron von II 54, 76 Hirsch, Otto II 396 Hirsch, Samson Raphael I 113, 119, II 114, 142, 144–145, 149, 230, 253, 259, 261, 265 Hirsch, Samuel II 141, 228, 230, 274 Hirschel, Moses II 251 Hirschsprung, H. I 493 Hirszenberg, Samuel II 179–180 Hitler, Adolf I 86, 133, 137–138, 141, 145, 158, 203, 286, 349, 408, 452, 478–480, 493, 498, II 387–391, 393, 396, 399, 407, 438 Hobbes, Thomas II 316 Hoenig, Israel I 106 Holbach, Paul Thierry II 379 Holberg, Ludvig I 490 Holdheim, Samuel II 113, 143–144, 149 Holländer, Ludwig I 85 Homberg, Naphtali Herz I 107–108, II 113, 256

Homolka, Walter II 114 Honecker, Erich II 421 Horowitz, Jesaja I 37, II 133 Horowitz, Jukl II 85 Horthy, Miklós I 159–160, II 403, 422 Horwitz, Sabbatai Scheftel I 72 Höß, Rudolf II 405 Hossu, Iuliu I 285 Hourwitz, Zalkind II 254 Hugo (angebl. Ritualmordopfer in Lincoln) I 453 Humboldt, Wilhelm Freiherr von I 61, II 270, 359 Hundt-Radowsky, Hartwig von I 75, II 380 Hurwitz, Zalkind II 338 Husserl, Edmund II 238 Hyman, Paula II 86 Iancu, Marcel I 281 Ibn Chazm I 329 Idelsohn, Abraham Zvi II 200 Ignatius von Loyola I 356 Ilarion (russ. Metropolit) I 171 Il’juchin, Viktor I 213 Immanuel ben Jakob Bonfils I 173 Inge, W. R. II 127 Innozenz III. (Papst) I 352 Iosif (Abt des Klosters v. Volokolamsk) I 173 Ipsilanti, Alexandru (Fürst d. Walachai) I 278 Isaac de Pinto II 337 Isaac, Jules I 415 Isaak Alfasi II 110–111, 195 Isaak ben Mose (gen. Or Sarua) I 16, 19, II 206 Isaak ben Nathan II 111 Isaak, Aaron I 496 Isabella I., die Katholische (Königin von Kastilien und León, span. Königin) I 343–344, 347, 352, II 429 Iselin, Isaak I 93 Israel ben Elieser (gen. Baal Schem Tow) I 236, 370, II 131, 135, 159, 197 Israel ben Isaak I 30 Israel Isserlein ben Petachja I 29 Israel, Chajim Abraham I 306 Israeli, Isaac d’ I 467 Israels, Josef II 180 Isserles, Mose ben Israel I 232, II 83, 110–111 Itzig, Daniel I 52–53, 127 Ivan III. (Großfürst v. Moskau) I 174, II 429

Personenregister Ivan IV. (gen. der Schreckliche, russ. Zar) I 174, 178 Ivo (Bischof v. Chartres) I 20–21 Jabalot, Ferdinando II 345 Jabotinsky, Wladimir Zeev II 95, II 446, 448 Jachja, Samuel (alias Albert Dionis) I 487 Jacob-Loewensohn, Alice II 202 Jacobsen, L. L. I 493 Jacobson, Israel II 139 Jacoby, Alfred II 190 Jacoby, Johann II 453 Jaffe, Mordechai I 36–37 Jahn, Friedrich Ludwig II 380 Jaime I. (König von Aragon) I 335–336 Jakob (Herzog v. Kurland) I 216 Jakob II. (engl. König) I 457–458 Jakob ben Ascher II 111 Jakob ben Chabib I 303 Jakob ben Chajim I 43 Jakob ben Jakar I 16 Jakob ben Jechiel Loans II 327 Jakob ben Mëir (gen. Rabbenu Tam) I 19, II 92, 110–111 Jakob ben Mose Molin (gen. Maharil) I 30–31 Jakob Josef II 136–137 Jakob Pollack II 110 Jakob von Meseritsch II 158 Jakobovits, Immanuel I 486 Jalta II 85 Janácˇek, Leosˇ II 202 Jaroslav d. Weise (Fürst v. Kiev) I 171 Jasinowski, Israel Isidor I 260 Javal, Léopold II 455 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) II 359 Jechiel bar Jekutiel ben Benjamin Rofe I 306 Jeffreys, George I 458 Jehoschua ben Josef ibn Vives Lorki I 341, II 326 Jehoschua, Abraham B. II 167 Jehuda Arje da Modena I 371, II 115, 336 Jehuda ben Jechiel (gen. Messer Leone) I 371 Jehuda ben Samuel he-Chassid I 19, II 195, 213 Jehuda ben Samuel ha-Levi I 330, 372 Jehuda ha-Nassi II 80, 108 Jehuda ibn Mosconi I 293 Jehuda Löw ben Bezalel (gen. Maharal) I 36, 113 Jehuda von Barcelona II 195 Jeiteles, Benedikt II 51 Jellinek, Hermann I 119 Jelski, Israel I 260

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Jelzin, Boris I 213, II 423 Jessel, Sir George II 454 Jessey, Henry II 311–313 Jesus I 171, 336 Jitlowsky, Chaim II 460, 462 Jochanan ben Sakkai II 214 Jochanan Treves von Cambrai I 31 Joel ben Schimon II 173 Joel, Manuel II 274 Jogiches, Leon s. Tyszka, Jan Johann I. (Bischof v. Speyer) I 18 Johann I. (König von Kastilien und León) I 339 Johann II. (portug. König) I 347 Johann III. (portug. König) II 116 Johann IV. (portug. König) I 40 Johann Kasimir (poln. König) II 60 Johannes Chrysostomos (Patriarch v. Konstantinopel) I 171, II 371 Jona ben Ganach I 330 Jonas, Regina II 85, 280 Jones, Henry II 204 Jones, R. II 127 Josef Gikatilla II 131, 134 Josel ben Gerschom aus Rosheim I 37, 41–43, 46, II 117 Josel von Witzenhausen II 214 Joselewicz, Berek I 242 Joseph ha-Kohen I 371 Joseph II. (röm.-dt. Kaiser) I 105–106, 110, 116– 117, 127, 154–155, 181, 244, 445, II 215, 339, 379, 383–384, II 122, 163, 255, 259 Josephus, Flavius I 171, 292, 430 Jost, Isaac Marcus I 94, II 268, 271, 274 Joyce, James I 485 Juda ben Bezalel (Rabbi Löw) II 130 Juda, Isaak Bechor I 306 Julianus Apostata (röm. Kaiser) I 289 Jussuf ben Samuel ibn Nagrela I 329 Justinian (oström. Kaiser) I 290–291, 351 Kádár, János II 415 Kafka, Franz I 112, II 167–169 Kaganovicˇ, Lazar I 203 Kalisch, Ludwig II 453 Kalischer, Ita II 86 Kalischer, Zwi Hirsch II 441 Kalixt II. (Papst) I 23, II 303, 322 Kálmán I. (ungar. König) I 151 Kamenev, Lev Borisovicˇ (L. B. Rozenfel’d) I 201, II 460

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Personenregister

Kant, Immanuel II 163, 227–228, 230–231, 233, 237, 240, 242, 363, 379 Kapon, Abraham Aharon I 313 Kapper, Siegfried I 109 Karl Albert (König von Sardinien) I 359 Karl Alexander (Herzog von Württemberg) I 69 Karl der Große (fränk. König und Kaiser) II 59 Karl IV. (röm.-dt. Kaiser) I 24–27, 30, 32, II 302 Karl V. (röm.-dt. Kaiser) I 42–43, 419, 442, II 117 Karl VI. (röm.-dt. Kaiser) I 103, 105, 114–115, 126, 154 Karl I. (österr. Kaiser) I 112 Karl I. (engl. König) I 456 Karl II. (engl. König) I 457, 458 Karl V. der Weise (franz. König) I 390 Karl VI. (franz. König) I 390 Karl I. (rumän. König) I 279, II 350 Karl II. (rumän. König) II 283 Karl I. (ungar. König) I 152 Karl I. von Anjou (König von Sizilien und Neapel) I 352 Karl von Liechtenstein (Statthalter von Böhmen) I 101, 102 Karl von Lothringen (Generalstatthalter d. Niederlande) I 444 Karl Ludwig von der Pfalz (Kurfürst) I 68, 125 Karmona, Elia I 313 Karo, Josef I 232, 303, 306, II 31, 91, 111 Karpeles, Gustav II 170 Kasimir III. der Große (poln. König) I 28, 228– 229, II 60, 301 Kasimir IV. (poln. König) I 230, II 60 Katharina I. (russ. Zarin) I 176 Katharina II., die Große (russ. Zarin) I 177–181, 200, 217–218 Katz, Jakob I 377, 461, II 61 Katzenellenbogen, Meïr ben Isaak II 110 Kaufmann, David II 274, 277 Kaufmann, Isidor II 180 Kaufmann, Jakob II 160 Kautsky, Karl II 468–469 Kayserling, Moritz I 94 Kaznelson, Siegmund II 168 Kempner, Robert M.-W. II 395 Kettler, Gotthard I 214 Kierkegaard, Sören Aabye II 237 Kilcher, Andreas II 165, 169 Kirchner, Paul Christian II 204 Kiselev, Pavel I 219, 278

Kisling, Moise II 180 Kitschko, Trofim II 414 Klausner, Abraham I 29 Klein, Melanie I 483 Knoblauch, Eduard II 189 Knorr von Rosenroth, Christian II 249 Kohl, Helmut II 420 Kohn, Hans I 96, II 449 Kohn, Salomon II 160 Kommeter, Michael II 186 Kompert, Leopold I 109, II 160 Konfino, Abraham I 305 Konrad IV. (dt. König) I 20–21, 24 Konrad von Weinsberg I 30, 32 Konrad von Würzburg II 372–373 Konstantin I. (Flavius Valerius Constantinus, röm. Kaiser) I 288–289, 351, II 372 Kook, Abraham Isaak II 125, 444, 449 Körner, Edmund II 189 Kosakoff, Reuben II 202 Kosciuszko, Tadeusz I 180, 242 Kossowski, Vladimir II 464 Kossygin, Alexej II 416 Kouffinas, Mose I 323 Krása, Jan I 149 Kraus, Karl I 84, 136 Krein, Alexander II 200–201 Krein, Gregory II 200 Kreisky, Bruno I 141, II 418, 420 Krémegne, Pinchas II 180 Kremer, Arkadij (Aron) I 258, II 460, 463 Kremer, Johann Paul II 406 Krestin, Lunar II 180 Krochmal, Menachem Mendel I 110 Krochmal, Nachman II 229–230, 274 Kuh, David I 109 Kun, Béla II 437, 467 Kuranda, Ignaz II 452 Kyrillos I 169, 292 Lacave, José Luis II 36–37 Lachaout, Emil II 424 Ladislaus I. (ungar. König) I 151 Lagarde, Paul de II 457 Lambert, Emanuel II 455 Lämel, Somon von II 384 Lammers, Hans Heinrich II 389 Landau, Ezechiel I 105, 107–109, II 110, 113 Landau, Moses I. I 109 Landau, Wolf II 276

Personenregister Landauer, Georg II 441 Landauer, Gustav II 458, 467 Landsberg, Otto II 458 Lange, Friedrich Albert I 79 Lange, Herbert II 403 Lara, David de Isaak Kohen de I 37 Laski, Harold I 478 Lassalle, Ferdinand II 460 Lattes, Dante I 368 Laval, Pierre I 412 Lavater, Johann Caspar I 92–93, II 163, 245 Lazare, Bernard II 466 Lazarus, Moritz I 94, II 230–231, 281 Le Pen, Jean Marie II 420, 423–424 Lehmann, Behrend (Issachar) I 56 Leib bar Moses Melir II 158 Leibniz, Gottfried Wilhelm II 225 Leibov, Baruch I 177 Leibowitz, Jeschajahu I 222 Lelewel, Joachim I 250, II 345 Lemmlein, Ascher I 36, II 116, 121 Lenin, Vladimir I. I 197, 202, 206, II 463, 465 Leon III. (byzant. Kaiser) I 291 Léon, Abraham (Abraham Weinstock) II 468 Léon, Adrien II 455 Leone da Modena s. Jehuda Arje da Modena Leone Ebreo s. Abrabanel, Jehuda Leopold I. (röm.-dt. Kaiser) I 48, 114, 124, 154 Leopold II. (röm.-dt. Kaiser) I 117 Leopold I. (belg. König) I 450 Leopold II. (belg. König) I 450 Leopold II. (Großherzog d. Toskana) II 348–349, 384 Leopoldi, Hermann I 136 Leskov, Nikolaj S. I 190 Lesser, Alexander II 179 Lessing, Gotthold Ephraim I 55, II 126, 163, 338, 357, 363, 379 Lessing, Theodor I 84 Lestschinsky, Jakob II 42–43 Letteris, Max II 291 Levi ben Chabib I 303 Levi von Völkermarkt I 31 Levi, Josef I 303 Levi, Paul II 467 Levi, Primo I 374 Levin, Ernst I 87 Levin, Mayer I 499 Lévinas, Emmanuel II 226, 238–239 Leviné, Eugen II 467

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Levinsohn, Isaak Baer I 185 Levita, Elia (Elijahu Bachur) I 36, II 206 Levy, Nathan I 431 Lévy, Raphael-Georges II 455 Levy, Sam I 313 Levysohn, Friedrich Wilhelm II 452 Lewko I 229 Lewy, Israel II 281 Liberman, Aron Samuel I 258 Liebermann, Max I 86, II 180 Liebermann von Sonnenberg, Max II 382 Lilien, Ephraim Moses II 174–175, 180 Lilienthal, Max I 185, 219 Lippold I 40, 48 Lisbonne, Eugene II 455 Lissauer, Ernst I 81, 82 Lissitzky, El II 181 List, Joel Abraham II 268 Liszt, Franz II 198 Litvinov, Maxim I 203 Lloyd George, David I 476, II 435, 448 Loans, Elia I 37 Locke, John II 226, 337 Loewi, Isaak I 76 Lopes, Menasse II 452 Lopez, Rodrigo I 454 Loubet, Emile I 406 Louis Philippe (franz. König) II 345 Löw, Leopold II 146, 210, 260 Löwenherz, Josef I 139 Ludwig der Fromme (fränk. Kaiser) II 299 Ludwig IV., der Bayer (röm.-dt. Kaiser) I 23–24, 27, 31, II 302 Ludwig IX., der Heilige (franz. König) I 388 Ludwig X., der Zänker (franz. König) I 389 Ludwig XI. (franz. König) I 393 Ludwig XIII. (franz. König) I 395, 397 Ludwig XIV. (franz. König) I 395–396 Ludwig XV. (franz. König) I 395 Ludwig I. (ungar. König) I 152 Lueger, Karl I 133, II 385, 457 Lukács, Georg II 467 Lunschitz, Salomo Efraim I 37 Lunzer-Talos, Viktoria II 40 Lupu, Vasile (Fürst d. Moldau) I 278 Luria, Isaak I 37, 303–304, II 120, 135 Luria, Jochanan ben Aaron I 41 Luria, Salomo I 232 Luther, Martin I 36, 42, 91, II 312–315, 376–377

500

Personenregister

Lutz, Charles I 160 Luxemburg, Rosa I 95, 258, II 437, 458, 460, 467 Luzzatti, Luigi I 360 Luzzatto, Efraim I 374 Luzzatto, Mose Chajim I 368, 370, 373–374, II 243 Luzzatto, Samuel David I 367–368, 370, 372, II 228–229, 277 Luzzatto, Simon (Simcha) I 370, II 337 Macaulay, Thomas Babington I 467 MacDonald, Malcolm I 481 Magriso, Isaak I 305 Mahler, Gustav I 122, II 197 Maimon, Salomon II 247, 249–250, 359 Maimonides (Moses ben Maimon) I 173, 331, 334, 336, 338, 370–372, II 82–83, 91, 96, 110–111, 117–118, 132, 156, 163, 223, 229, 241, 243 Maksimov, Vladimir I 211 Malesherbes, Chrétien Guillaume II 254 Malesherbes, Guillaume de Lamoignon de II 339 Manasse I 90 Mandel, Ernest II 470 Mandel, Isaac I 118 Mandel, Mayer I 118 Manger, Itzig II 161 Maniu, Iuliu I 285 Mann, Klaus II 170 Mannheim, Karl I 483 Mannheimer, Isaak Noah I 128–129, II 146 Manuel I. (portug. König) I 347 Mapu, Abraham I 259 Mar Samuel II 58–59 Marcello, Benedetto II 193 Marcuse, Herbert II 470 Margarethe Theresia (span. Infantin) I 124 Margaritha, Antonius I 42 Maria Theresia (röm.-dt. Kaiserin) 103–106, 109, 114–116, 124, 126, 154, 429, II 51, 122, 383 Markisˇ, Perec I 207 Markowitz, Arthur II 180 Markus, Ludwig II 270 Marlowe, Christopher I 455 Marr, Wilhelm II 382 Martínez, Fernando I 339 Martov, L. (Julij Tsederbaum) II 460, 463, 469 Marx, Heinrich II 331, 359 Marx, Karl I 469, II 122, 331, 359, 453, 460, 468

Masaryk, Tomásˇ G. I 112, 143, II 436 Maslow, Arkadi (Isaak Cˇereminskij) II 467 Matejka, Viktor I 141 Matthias (röm.-dt. Kaiser) I 39–40, 45 Matthias I. Corvinus (ungar. König) I 152 Maurogonato, Isaac Pesaro II 348 Maurras, Charles Marie II 386 Mauthner, Fritz I 82 Maximilian I. (röm.-dt. Kaiser) I 31–32, 34, 42, 113, II 308, 327–328 Maximilian II. (röm.-dt. Kaiser) I 39 Maximilian II. (König von Bayern) II 348 Maybaum, Siegmund II 275 Mayer, David Amsel I 491 Mayer, Hans I 98 Mayer, Saly I 98 Mazowiecki, Tadeusz II 422 Mazzini, Guiseppe I 359, II 345 Medem, Vladimir I 258, II 460, 462–465 Medici (Familie) II 186 Medigo, Elija del I 369, 371 Medina, Samuel de I 300, 303 Medina, Sir Salomo de I 462 Megged, Aharon II 167 Mehler, Jehuda ben Samuel II 209 Mëir II 83–85 Mëir ben Baruch aus Rothenburg I 23, 25 Mëir ben Baruch Segal I 29–30 Mëir ben Isaak I 16 Meisel, Mordechai I 40 Meisel-Schochat, Hanna I 96 Meißner, Otto II 389 Melanchthon, Philipp I 36 Menachem ibn Saruk I 329 Menasse ben Israel I 457, II 117, 163, 285, 311– 312, 337 Mendelssohn, Abraham II 333 Mendelssohn, Fromet II 333 Mendelssohn, Lea II 333 Mendelssohn, Moses I 54–55, 92–93, 432, 489, II 49, 113–114, 122, 156, 159, 162–164, 169, 211, 225–228, 233, 240, 242–243, 247–252, 254, 256, 286, 332–333, 338, 357–359, 379, 383 Mendelssohn-Bartholdy, Felix II 194, 198, 333 Mendes, Diogo I 442 Mendès-France, Pierre II 413 Mendoza, Daniel I 462 Merker, Paul II 411 Meschullam ben Kalonymos I 16

Personenregister Metastasio, Pietro I 374 Methodios I 169, 292 Metternich, Klemens Wenzel Lothar Fürst von II 384 Meyerbeer, Giacomo II 333 Michael der Tapfere (Fürst d. Walachai) I 277 Michael III. (byzant. Kaiser) I 292 Michael I. (rumän. König) I 283 Michael von Derenburg I 40 Michels, Robert II 467 Micho’els, Solomon I 200, 204–205, 213 Mickiewicz, Adam I 250 Mildner, Moses II 200–201 Milhaud, Darius II 194 Mill, John Stuart II 462 Minz, Mose I 30 Mirabeau, Honoré Gabriel de Riqueti, Comte de II 254, 338–339, 359, 379 Misrachi, Elija I 294, 299 Mistechkin, Jacob II 201 Mitrani, Josef I 303 Mitrani, Rachamim Menachem I 305 Mitterrand, François II 419–420 Moczar, Mieczyslaw II 414, 417 Modigliani, Amedeo II 180 Modigliani, Emanuelle II 466 Mohammed II. (osman. Sultan) I 294, 299 Molcho, Salomo (Diego Pirez) I 36, II 117 Moldavan, Nicolas II 201 Molière (Jean-Baptiste Poquelin) I 313 Mommsen, Theodor I 80, II 382 Monash, Sir John I 475 Mond, Sir Alfred I 476 Montagu, Edwin Samuel I 476 Montagu, Lilian Helen I 474 Montagu, Sir Samuel (Lord Swaythling) I 472, II 454 Montefiore, Claude Goldsmith I 474, II 148 Montefiore, Sir Moses I 468–469, II 346, 348, 454 Montesquieu, Charles Louis Baron de II 254, 337, 379 Moritz von Nassau (Statthalter d. Niederlande) I 421 Moritz, Karl Philipp II 359 Mortara, Edgardo I 435, II 348 Moruzi, Alexandru (Fürst d. Walachai) I 278 Moscato, Jehuda I 372 Mose von Burgos II 121 Mose ben Isaak da Rieti I 371–372 Mose ha-Kohen ben Eleasar I 41

501

Mose von Kreta I 291 Mose von León I 336, II 132 Mose ben Menachem II 209 Mose ben Nachman (Nachmanides) II 133 Moser, Moses II 268, 270 Mosley, Sir Oswald Ernald I 480 Mosse, George II 245 Motzikin, Leo II 443 Mühsam, Erich II 467 Müller, Adam H. II 380 Müller, Hermann II 458 Munk, Salomon II 274, 278 Mussafia, Benjamin I 37 Mussolini, Benito I 362, 364, II 403 Nachman von Bracław I 237, II 159 Nachman ben Jakob II 85 Nachmanides s. Mose ben Nachman Nachmanowitz, Isaak II 184 Nadel, Arno II 202 Nadel, Zygmunt II 179 Naftali ben Jakob Elchanan Bacharach I 37 Nahum, Haim I 300 Namier, Sir Louis I 483 Napoleon I. Bonaparte (franz. Kaiser) I 57–59, 108, 117, 183, 242, 399–400, 432, 446, 358, 361, 497, II 51, 122, 139, 147, 340–341, 344, 379, 451 Napoleon III. (frz. Kaiser) II 348 Narutowicz, Gabriel I 267, II 437 Nassi, Josef I 302–303 Nathan von Eger I 31 Nathan von Gaza II 121 Nathan, Ernesto I 361 Nathansen, Henri II 212 Nathanson, Mendel Levin I 491 Natronai ibn Chabibai I 330 Nebukadnezar II. (babylon. König) I 168 Nechemja (Rabbiner) II 103 Nehama, Josef I 321 Nehama, Juda I 311, 313 Neidhart von Reuenthal II 209 Nekrasov, Viktor I 211 Nesviski-Abileah, Leo II 200 Neumann, Robert I 98, II 168 Neurath, Konstantin Freiherr von II 393 Newachowicz, Leon I 247 Nicodem I 285 Nietzsche, Friedrich II 168, 252 Nigrinus, Georg II 378

502

Personenregister

Nikolaus I. (Papst) I 292 Nikolaus I. (russ. Zar) I 183–184, II 260, 346, 350 Nikolaus II. (russ. Zar) I 193–194, II 386 Nilus, Sergej I 191 Nissim, Nechiel I 373 Nobel, Nehemia II 282 Nomberg, Hersh David II 162 Nordau, Max II 165, 444 Nordmann, Achilles I 96 Nordmann, Moses I 94 Nossig, Alfred I 262 Novosil’cev, Nikolaj Nikolaevicˇ I 243 Nussbaum, Felix II 181 Obadja ha-Ger II 195 Oberländer, Theodor II 415 Oevermann, J. II 180 Offray de Lamettrie, Julien II 253 Okun, Israel II 200 Oppenheim, David I 104–105, 113 Oppenheim, Moritz Daniel II 179–180 Oppenheimer, Franz I 82, 85, II 439 Oppenheimer, Josef Süß I 69, II 320 Oppenheimer, Samuel I 69, 104, 125 Oppler, Erwin II 189 Ortenau, Ignaz I 76 Osiander, Andreas I 36, II 310 Otto I. (röm.-dt. Kaiser) I 15, 328 Otto II. (röm.-dt. Kaiser) I 15 Ottokar II. (König v. Böhmen) I 22, 24, II 60, 301 Ouaknin, Marc-Alain II 154 Overbeck, Franz II 168 Owen, Robert II 122 Oz, Amos II 167 Pahlen, Graf Konstantin Ivanoviè I 191 Palacky, Frantisˇek I 110 Papo, Elieser ben Isaak I 306 Pappenheim, Bertha I 254, II 87–88 Pardo, Josef I 423–424 Pascin, Jules II 180 Pasternak, Leonid II 180 Patai, József I 162 Pauker, Anna II 411 Paul IV. (Papst) I 356, II 313 Pauw, Adriaan I 421 Perez, Isaak Leib II 160–161, 201, 462 Perl, Josef II 161 Perlasca, Giorgo I 160 Pesrodney, Gregory II 201

Pestalozzi, Johann Heinrich II 380 Petachja I 29 Pétain, Philippe I 410 Peter III., der Große (König von Aragon) I 336 Peter IV. (König von Aragon) I 337 Peter I. (König von Kastilien und León) I 338, II 216 Peter I., der Große (russ. Zar) I 175–176, 179, 215 Peter II. (russ. Zar) I 176 Peter Leopold (Großherzog d. Toskana) II 339 Peter, Friedrich II 418 Petljura, Symon I 196 Pett, Peter I 458 Pfefferkorn, Johannes I 41, II 311, 327–328 Philipp II. August (franz. König) I 388–389 Philipp IV., der Schöne (franz. König) I 389 Philipp V. (franz. König) I 390 Philipp III. (König von Navarra) I 337 Philipp II. (span. König) I 419 Philipp II., der Kühne (Herzog von Burgund) I 442 Philipp v. Schwaben (dt. König) I 20 Philippson, Ludwig I 94, II 276, 279, 291 Philippus I 289 Philo von Alexandria II 106, 129, 221 Picasso, Pablo I 213 Pik, Jesaja Berlin II 85 Piłsudski, Józef Klemens I 267–269 Pincherle, Leone II 348 Pine, Samson II 214 Pinsker, Leon I 192, 259, II 165, 441 Pinthus, Alexander II 34 Pinto, Diana II 57 Pirez, Diego s. Molcho, Salomo Pissarro, Camille II 180 Pius V. (Papst) I 356 Pius IX. (Papst) I 359, II 347–348 Pius XI. (Papst) II 387 Platon II 249 Plotin II 221 Pobedonoscev, Konstantin P. I 191 Polácˇek, Karel I 149 Polak, Jakub I 232 Pollak, Albert I 130 Pomis, David de I 370 Pope, Alexander II 242 Popovici, Traian I 285 Popper, Sir Karl I 456, 483 Portaleone, Abraham I 369, 371

Personenregister Portaleone, Jehuda ben Isaak (Leone Sommo, Leone Ebreo) I 368–369 Potemkin, Grigori I 181 Preuß, Hugo II 458 Primo de Rivera y Saenz de Heredia, José Antonio I 348 Prokof ’ev, Sergej II 194 Proudhon, Pierre Joseph II 467 Provençalo, Mose I 378 Pufendorf, Samuel Freiherr von II 316 Pulido, Angel I 348 Quisling, Vidkun Abraham Lauritz I 495, 496, II 402 Rabba bar Josef bar Chama II 108 Radek, Karl (Karl Sobelsohn) II 460 Rákosi, Matias II 410, 467 Rakousz, Vojtech II 160 Rakowski, Puah II 86, 88 Rami, Ahmed I 498 Ranke, Leopold von I 94 Rapoport, Salomo Jehuda I 108 Raschi s. Salomo ben Isaak Rath, Ernst vom I 271, 408, II 394 Rathenau, Walter I 78, 83, 85, II 362, 437, 458 Ratisbonne, Alphonse II 333 Ratisbonne, Theodore II 333 Ravel, Maurice II 194 Ravina (Rabbiner) II 82 Raynal, David II 455 Reading, Rufus Daniel Isaacs I 476 Recanati, Menachem I 372 Reggio, Isaak Samuel I 369 Reich, Leon I 267 Rein, Rafael Abramowitsch s. Abramowitsch Reina, Josef della II 116–117 Reinach, Joseph II 455 Reines, Isaak Jakob II 263, 449 Reisen, Abraham II 162 Rekkared (westgot. König) I 326–327 Rekkeswind (westgot. König) I 327 Renan, Ernest II 278 Renner, Karl II 462 Retti, Leopold II 185 Reubeni, David I 36, 354 Reuchlin, Johannes I 38, 41, II 311–312, 318, 327–328, 330 Reuter, Paul Julius Baron von (Israel Beer Josaphat) I 469

503

Revai, Josef II 467 Ribbentrop, Joachim von II 393 Ricardo, David I 469, II 452 Richter, Gustav I 284 Riegner, Gerhard I 97 Rieß, Mayer I 52 Riesser, Gabriel II 291, 348, 359, 452–453 Rimskij-Korsakov, Nikolaj II 199 Rintfleisch I 25 Robespierres, Maximilien de I 399, II 339, 451, 454–455 Rodriguez, Daniel I 302 Rohling, August II 386 Rohrer, Joseph II 384 Roi, Johannes de la II 333 Romanelli, Samuel Aaron I 368 Romano, Immanuel I 367, 369, 373 Romanos I. Lekapenos (byzant. Mitkaiser) I 292 Rosales, Emanuel Bocarro I 41 Rosen, Joseph I 222 Rosenbaum, Wladimir I 96 Rosenberg, Alfred I 437 Rosenfeld, Samson Wolf I 76 Rosenzweig, Franz I 98, II 125, 222, 233–234, 236, 238, 282 Roskin, Janot S. II 202 Rosowsky, Schlomoh II 200 Rossi, Asarja ben Mose dei I 368, 371 Rossi, Salomon de II 193 Roth, Joseph II 168 Rothmüller, Marko II 202 Rothmund, Heinrich I 97 Rothschild, Edmond de II 442 Rothschild, Lionel Walter de I 467, II 346, 448, 454 Rothschild, Nathan Mayer I 464 Rothschild, Nathaniel Mayer de I 467 Rothschild, Salomon Mayer II 384 Rotta, Angelo I 160 Rousseau, Jean-Jacques II 249, 379, 450 Rozenblit, Marsha II 45–46 Rozenfel’d, Lev Borisovicˇ s. Kamenev, L. B. Rudolf I. von Habsburg (dt. König) I 23 Rudolf II. (röm.-dt. Kaiser) I 36–37, 40, 44 Rudolf IV. (Herzog v. Österreich) I 27 Rufinus I 289 Rumkowski, Mordechai Chaim I 272, II 398 Ruppin, Arthur II 42–43, 45–46, 275, 446 Ruprecht v. der Pfalz (dt. König) I 30–31 Ruprecht II. (Kurfürst v. d. Pfalz) II 307

504

Personenregister

Russell, Bertrand II 122 Ryback, Issachar II 181 Saadja Gaon II 109 Saadja ben Josef I 293, II 221 Sabbatai ben Mëir ha-Kohen I 114 Sacharov, Andrej I 210 Sachs, Curt II 193 Sachs, Hans II 208 Sachs, Michael II 280 Sˇafarevicˇ, Igor I 213 S¸aˇineanu, Laza˘r I 281 Saint John, Henry I 461 Saint-Simon, Claude Henry de Rouvroy Graf von II 122 Saladin (Sultan von Ägypten und Syrien) II 323 Salanter, Israel II 266 Salem, Emmanuel I 314 Salomo ben Isaak (gen. Raschi) I 16, 19, 370, II 84–85, 110–112 Salomo ben Simson I 16 Salomo ha-Babli I 373 Salomo ibn Gabirol I 330, 370, II 132 Salomon Sée, Camille II 455 Salomon, Abraham I 489 Salomon, Isaac Marcus I 215 Salomon, Jeskel II 179 Salomons, Sir David I 466, II 454 Salomonsen, C. J. I 493 Salz, Abraham I 262 Saminsky, Lazare II 200–201 Samson I 69 Samuel ben Jehuda I 487 Samuel ben Josef ibn Nagrela I 329 Samuel ben Mëir (gen. Raschbam) I 19, II 110–111 Samuel ha-Levi aus Toledo I 338 Samuel, Herbert Louis I 473, 476, II 448 Santob de Carrion II 216 Satanov, Isaak II 247, 249 Saudek, Rudolf I 149 Sˇcˇaranskij, Anatolij I 210 Schacht, Hjalmar II 393 Schaki, Chajim Isaak I 305 Schalom ben Isaak I 29–30 Schalom Schachna ben Josef II 110 Schammai der Ältere II 107 Schammes, Josef (Juspa) I 37 Scheidemann, Philipp II 458

Scheidler, Karl Hermann II 343 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von II 228 Schemarja Ikriti I 293 Scherira Gaon II 109 Scheuer, Michael II 51 Schiff, Mëir (Maharam) I 37 Schiller, Friedrich I 87, 89, 134, II 359 Schindler, Franz Martin II 385 Schipper, Ignacy II 265 Schitlowski, Chaim I 95 Schkliar, Ephraim II 200 Schlachta, Margit I 160 Schlegel, Dorothea von II 332, 359 Schlegel, Friedrich von II 359, 380 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst II 359, 380 Schmidt, Helmut II 420 Schmidt, Joseph I 282 Schnëur Salman ben Baruch I 244 Schnirer, Sara II 266 Schnitzler, Arthur I 132, 136 Schoeps, Hans Joachim II 233 Scholem Werner II 467 Scholem, Gerschom I 88, II 119, 121, 127, 136, 213, 272–273, 282–283, 444, 447 Schönberg, Arnold I 213, II 194, 201 Schönerer, Georg Ritter von I 133, II 385, 434 Schönhuber, Franz II 424 Schorr, David II 200 Schubert, Franz II 193–194 Schudt, Johann Jakob II 204 Schulstein, Ferdinand Kindermann von I 107 Schulz, Stefan II 329 Schuschnigg, Kurt von I 138 Schwager, Karl I 131 Schwalb, Nathan I 97 Schwaner, Wilhelm I 83 Scott, Sir Walter I 465 Sebastian, Mihail I 282 Seligman, Rafael II 169 Seligmann, Raphael II 41 Seneor, Abraham I 343, 345 Senior, Nassau W. I 469 Sepner, Philipp Jakob II 328 Serrarius, Peter II 311 Sessa, Carl Borromäus Alexander I 75 Severus Alexander, Marcus Aurelius (röm. Kaiser) I 151 Seyß-Inquart, Arthur I 138, 437

Personenregister Sforim, Mendele Mojcher I 248, 254, II 160–161, 256 Sforno, Obadja ben Jakob I 371 Shaked, Gershon II 154, 168 Shakespeare, William I 55, 313, 454–455 Shamir, Moshe II 167 Shinwell, Emanuel I 478 Sigismund (röm.-dt. Kaiser) I 30–32, 42, 152 Sigismund I., der Alte (poln. König und Großfürst v. Litauen) I 231, II 60 Sigismund II. August (poln. König und Großfürst v. Litauen) I 214 Sigismund III. (poln. u. schwed. König) I 214 Silvester I. (Papst) II 372 Simmel, Georg I 79, II 43 Simon (angebl. Ritualmordopfer in Trient) I 355 Simon bar Kochba II 108, 115 Simon ben Isaak (Simon der Große) I 16 Simon ben Lakisch II 108 Simon, Ernst II 282, 447 Simonsen, David I 492 Singer, Ludvik I 143 Singer, Schlome II 158 Sinjavskij, Andrej D. I 209 Sintzheim, David I 400 Sirat, René Samuel I 416 Sirkes, Joel ben Samuel Jaffe (gen. Bach) II 110 Sisebut (westgot. König) I 326–327 Sisenand (westgot. König) I 327 Sitruk, Joseph I 416 Sixtus IV. (Papst) II 326 Sjuganov, Gennadij I 213 Slánsky, Rudolf I 149, II 411 Smilansky, Moshe II 446 Smolenskin, Perez II 442 Sobelsohn, Karl s. Radek, Karl Sofer, Abraham II 260 Sofer, Chatam II 260 Sofer, Moses I 155, II 123 Sokołow, Nahum I 260 Sokrates Scholastikos I 291 Solomons, Samuel II 452 Soloveitschik, Joseph Dov II 236–238 Solov’ev, Vladimir I 190 Solzˇenicyn, Aleksandr I 211 Sombart, Werner I 425 Somerhausen, Hartog I 447 Sonnenberg, Berek Szmul I 247 Sonnenfels, Aloys von I 115 Sonnenfels, Joseph von II 163, 383

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Sorkin, David II 252 Sˇostakovicˇ, Dimitrij I 208, II 194 Soutine, Chaim II 180 Sperber, Manès II 38–40 Spiel, Hilde II 44 Spinoza, Baruch I 428, II 156, 162–164, 223–225, 227–228, 243, 337 Spira-Wedels, Simon I 104–105 Spitzer, Karl Heinrich I 119 Sprengler, Oswald II 445 Stalin, Iossif I 195, 197–198, 202–203, 205–207, II 56, 410–412, 438 Stavisky, Serge Alexandre I 408 Stein, Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum I 58 Stein, Ludwig I 95 Steinberg, Augusta I 96, 99 Steinhardt, Jakob II 174, 180 Steinheim, Salomon Ludwig II 141, 233, 274, 452 Steinthal, Heymann II 281 Stemberger, Günter II 153 Stephan IV. Báthory (poln. König) I 231 Stern, Bruno II 210 Stern, Selma II 280 Sternhell, Zeev II 445 Steuss, David I 29 Stilicho I 289 Stoecker, Adolf I 80, II 361, 382, 434, 457 Stolypin, Pjort I 194 Stow, Kenneth R. II 94 Strauß, Johann I 132 Strauss, Leo II 224, 282 Streicher, Julius I 498, II 377, 387 Stricker, Robert I 137, 139–140 Stroop, Jürgen II 405 Struck, Hermann II 42, 174, 180 Stutschewsky, Joachim II 202 Suleiman II. (osman. Sultan) I 302 Sulkes, Isaak II 158 Sulzer, Salomon I 128 Surenhuys, Wilhelm I 430 Suslov, Michail I 206 Susmann, Margarete I 98 Sussmann, Elieser II 185 Suttner, Bertha Freifrau von I 132 Sverdlov, Jakob Michaijlovicˇ I 201 Svjatopolk (Großfürst v. Kiev) I 172 Swintila (westgot. König) I 327 Sykes, Mark II 448 Sylvester, James Joseph I 466

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Personenregister

Syrkin, Nachman I 260 Szálasi, Franz I 160 Sztehló, Gábor I 160 Szyk, Arthur II 174 Taitazak , Josef I 303 Talleyrand, Charles Maurice I 398 Tam s. Jakob ben Mëir Tartas, David II 285 Täubler, Eugen II 282 Tawney, Richard Henry I 425 Teitelbaum, Moses I 155 Teleki, Paul I 159 Tendlau, Abraham M. II 204 Teplitz, Jakob II 158 Terboven, Josef I 495 Terni, Matatia Nissim I 374 Terquem, Olry II 147 Terracini, Umberto I 365 Thalheimer, August II 467 Theilhaber, Felix II 43–44 Theodosius I., Flavius (röm. Kaiser) I 289 Theodosius II. (röm. Kaiser) I 289 Thile, Ludwig Gustav von I 62 Thomas von Aquin I 23, 371, 440, II 127 Thon, Abraham Ozjacz I 267 Tiktin, Heinrich I 281 Tiktiner, Rebekka bat Mëir II 158 Tirado, Jakob I 423 Tiso, Josef II 403, 422 Titus, Flavius Vespasianus II 207 Tobias ben Elieser I 293 Tobias ben Mose I 294 Toch, Michael II 35–36 Toland, John II 337, 379 Toller, Ernst II 467 Tomás de Torquemada I 344 Tommaseo, Niccolò I 359 Tomsa, Stefan (Fürst d. Moldau) I 277 Tontremoli, Rafael I 305 Torczyner (Tur-Sinai), Harry II 281, 283 Toury, Jacob II 354 Toussenel, Alphonse de II 467 Traverso, Enzo II 354 Trebacz, Maurycy II 179 Treitschke, Heinrich von I 79–80, II 78, 281, 361, 382, 434, 457 Tretiack, Philippe II 45 Treves, Claudio II 466 Treves, Naftali Hirz ben Elieser I 36

Trockij, Leo (Lev Bronstein) I 201–202, II 437, 460, 463, 465, 469–470 Troki, Isaak Serach ben Abraham I 232 Tsederbaum, Julij s. Martov, L. Tuch, Gustav II 204 Tucholsky, Kurt I 84 Tyszka, Jan (Leon Jogiches) I 258 Tzara, Tristan I 281 Uhland, Ludwig I 89 Uissigheim, Ritter Arnold von (gen. König Armleder) I 26 Ulla II 114 Ulman, Naftali Hertz I 432 Ulmanis, Ka¯rlis I 223 Ulrich, Johann Caspar I 93 Ungar, Otto I 149 Urbach, Ephraim E. II 277, 283 Urban II. (Papst) I 17 Ury, Lesser II 180 Ussischkin, Menahem Mendel II 462 Uvarov, Sergej S. I 185 Valentin, Gustav Gabriel I 94 Valera, Eamon de I 486 Vallat, Xavier I 411 Varnhagen von Ense, Rahel II 250, 332, 358, 384 Veit, Moritz II 452 Veit, Simon II 332 Veitshans, Helmut II 29 Vespasian (Titus Flavius Vespasianus, röm. Kaiser) I 350 Vico, Giambattista II 229 Viktor Emanuel III. (ital. König) I 362, 364 Viktoria (engl. Königin) II 454 Vince, Agnès II 45 Vita, Schabetai I 306 Vital, Chajim I 303, II 135–136 Vitte, Sergej J. I 190 Vladimir II. Monomach (Großfürst v. Kiev) I 172 Vogelsang, Karl Freiherr von II 385 Volkov, Shulamit II 71, 351 Voltaire (François-Marie Arouet) I 232, II 254, 337–338, 379, 450–451 Voznicyn, Aleksandr I 177 Wachtel, Wilhelm II 180 Wagner, Richard I 79, II 387, 457

Personenregister Waldheim, Kurt I 142, II 418, 420–421, 424 Wałesa, Lech II 422 Wallenberg, Raoul I 160, 498 Wallenstein, Albrecht Eusebius Wenzel I 40 Walther, Heinrich I 98 Wassermann, Jakob I 83, II 168 Weber, Max I 425 Weidig, Friedrich Ludwig II 452 Weinberg, Jacob II 202 Weinberg, Jechiel I 96 Weinreich, Max II 214 Weizmann, Chaim I 95, 472, 474–475, II 441, 443, 448 Wellington, Arthur Wellesly I 464 Weltsch, Felix I 112 Weltsch, Robert I 112, II 292 Wenzel von Luxemburg (dt. König) I 30, 32–33, II 302 Weprik, Alexander II 202 Werfel, Franz I 136 Wertheimer, Samson I 69, 125 Wertheimer, Samuel I 69 Wessely, Naftali Herz (Hartwig) I 107, II 49, 113– 114, 122, 247–249, 251, 259 Wiesel, Elie I 284 Wiesenthal, Simon I 141, II 416, 418 Wilhelm (Graf von Hennegau) I 441 Wilhelm von Holland (dt. König) I 24 Wilhelm II. (dt. Kaiser) I 79, 82, II 457 Wilhelm I., der Eroberer (engl. König) I 453 Wilhelm III. von Oranien (engl. König, Statthalter d. Niederlande) I 426, 462 Wilhelm I. von Nassau-Oranien (Statthalter d. Niederlande) I 419, 422 Wilhelm V. (Statthalter d. Niederlande) I 433, II 340 Wilhelm I. (niederländ. König) I 433 Wilhelmina (niederländ. Königin) I 437 William (angebl. Ritualmordopfer in Norwich) I 453 Wilson, Woodrow II 435, 438, 440, 448 Winder, Ludwig I 112 Windischgrätz, Alfred Fürst zu I 109 Wirth, Joseph II 458 Witold (Großfürst v. Litauen) I 229, II 302

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Wittgenstein, Ludwig I 483 Władisław IV. Vasa (poln. König, Großfürst v. Moskau) I 175 Wolf, Gerson I 123 Wolf, Immanuel II 270, 360 Wolf, Johann Christoph II 249 Wolff, Abraham Alexander I 492 Wolff, Adolf II 189 Wolff, Christian Freiherr von I 432, II 225, 242 Wolff, Theodor I 85 Wolffsohn, David II 442, 448 Wolffsohn, Michael II 207 Wolfson, Sir Isaac I 477 Worms, Henry de II 454 Wulf, Isaak I 216 Yehoshua, Avraham Bar II 445 Yerushalmi, Yosef Hayim II 271 Yishar, Samech II 167 Zak, Eugène II 180 Zakuto, Mose I 373–374 Zangwill, Israel II 161, 444 Zarfati, Josef I 374 Zborowski, Mark II 40 Zebulon, Isaak I 499 Zedler, Johann Heinrich II 342 Zelenka, Frantisˇek I 149 Zilberts, Zavel II 202 Zimberli, Johann I 26 Zinov’ev, Grigorij Eveevich (Ovsel Gerschon Aronov Radomyslsky) I 201, II 460 Ziwes, Franz-Josef II 33, 35 Zola, Emile I 405, II 386 Zundelevicˇ, Aron I 258 Zunz, Leopold II 165, 268, 270, 273–274, 278, 280, 292, 360 Zweig, Arnold II 411 Zweig, Stefan I 81, 133, 136 Zwi Hirsch ben Jakob Aschkenasi (gen. Chacham Zwi) II 110 Zwi, Sabbatai I 116, 236, 304–305, 428, II 116, 119–121, 159, 330 Zwingli, Ulrich I 91 Zygielbojm, Arthur II 465

Nachbemerkung Das vorliegende Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa möchte einen Überblick über die zweitausendjährige Geschichte der Juden auf europäischem Boden geben. Dabei werden sowohl die inneren Entwicklungen der jüdischen Gemeinschaft als auch die Beziehungen zwischen den Juden und der sie umgebenden christlichen bzw. muslimischen Gesellschaft dargestellt und analysiert. Hierfür wurden zwei Zugänge gewählt: Im ersten Band wird die Geschichte der Juden in den einzelnen europäischen Ländern verfolgt, im zweiten Band wird in thematischen Essays die transnationale, europäische Dimension der jüdischen Geschichte herausgearbeitet und ein Vergleich zwischen den Entwicklungen und Strukturen in den verschiedenen Teilen Europas ermöglicht. Die länderorientierte Darstellung des ersten Bandes bringt es mit sich, daß hier politikund sozialgeschichtliche Fragestellungen sowie die Analyse der jüdisch-christlichen bzw. jüdisch-muslimischen Beziehungsgeschichte im Vordergrund stehen. Wenn auch in allen Länderartikeln wesentliche religiöse, kulturelle und organisatorische Entwicklungen innerhalb der jeweiligen jüdischen Gemeinschaft angesprochen werden, so bilden doch die auf die Juden bezogene Politik der einzelnen Staaten und ihrer Herrscher, die Interaktion zwischen Juden und Nichtjuden sowie der gesamte Themenbereich von Abgrenzung und Integration einen Schwerpunkt der Darstellung. In den Essays des zweiten Bandes werden diese Themen noch einmal aufgenommen und systematisiert, aber hier erhalten doch innerjüdische Entwicklungen religiöser und philosophischer, sprachlicher und kultureller sowie wirtschaftlicher und sozialer Natur wesentlich breiteren Raum. Dieser Zugang trägt der Tatsache Rechnung, daß sich die Beschreibung und Analyse von Strukturen und Entwicklungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft fast immer einer an den Grenzen der europäischen Staaten orientierten Perspektive entzieht. Zu bedenken sind hier vielmehr die Kultur- und Kommunikationsräume, die durch die unterschiedlichen Migrationsbewegungen, die die Geschichte des europäischen Judentums durchziehen, sowie die vielfältigen Kontakte und Verbindungen, die die jüdischen Gemeinden miteinander verknüpften, entstanden sind. Die Tatsache, daß die Grenzen der Kultur- und Kommunikationsräume, die sich aus einer innerjüdischen Perspektive ergeben, in aller Regel nicht mit den staatlichen Grenzen deckungsgleich sind, verweist auf das Problem der geographischen Abgrenzung in den Länderkapiteln. Dieses Problem wird dadurch verschärft, daß die Grenzen der heutigen Nationalstaaten häufig erst im 19.Jh. entstanden sind und daher auch aus einer politikgeschichtlich orientierten Perspektive für weite Teile der Geschichte der Juden in Europa keinen sinnvollen Analyserahmen abgeben. Besonders schwierig sind in diesem Zusammenhang die geographischen Abgrenzungen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Zur Lösung dieses

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Nachbemerkung

Problems wurde ein pragmatisches Vorgehen gewählt: So wurde z.B. im mitteleuropäischen Bereich den Veränderungen der Grenzen vom Heiligen Römischen Reich bis zu den modernen Nationalstaaten dadurch Rechnung getragen, daß die geographische Gliederung durch eine zeitliche ergänzt wurde. In bezug auf Südosteuropa und Osteuropa wurde sehr weitgehend auf eine nationalstaatliche Gliederung verzichtet und der Differenzierung innerhalb der betreffenden Artikel überlassen. Regionen, die zu verschiedenen Zeiten zu unterschiedlichen Staaten gehörten wie etwa das Elsaß oder Transsylvanien werden in mehreren Kapitel, je nach politischer Zugehörigkeit behandelt. Eine Ausnahme von dieser Regel stellt der Bereich des polnischen Judentums dar. Hier wäre es für die Zeit zwischen der letzten Teilung Polens und dem Ende des Ersten Weltkriegs strenggenommen nicht möglich gewesen, überhaupt eine „Geschichte der Juden in Polen“ zu schreiben. Vielmehr hätten die einzelnen Regionen im Zusammenhang mit der Geschichte der Juden im Russischen Reich, in der Habsburgermonarchie und in Preußen behandelt werden müssen. Da die verbindenden Elemente innerhalb des polnischen Judentums jedoch auch zu dieser Zeit stärker waren als die Trennung durch die verschiedene staatliche Zugehörigkeit, erschien eine solche Aufteilung künstlich. Die Teilungsgebiete werden daher in dem Artikel zu Polen behandelt. Um dem Leser die Orientierung zu erleichtern, wurde überall dort, wo dies angebracht und notwendig erschien, auf Passagen in anderen Beiträgen, die weitere Informationen zum Thema enthalten, verwiesen. Abgekürzt zitierte Literatur in den einzelnen Artikel findet sich mit vollständigen Angaben im Literaturverzeichnis am Ende des jeweiligen Bandes. Für die Umschrift hebräischer Wörter wurde die Umschriftentabelle der seit 1928 in Berlin erschienenen Encyclopaedia Judaica verwendet, russische Namen und Begriffe wurden transliteriert. Abschließend sei Tobias Barniske, Caterina Günter, Stephanie Kowitz, Alice Krück und Eva-Maria Ziege für ihre Hilfe bei der Vorbereitung des Manuskripts gedankt. Potsdam, im Herbst 2001

Die Herausgeber