Unscharfe Spuren?: Konzepte des Heiligen und Sakralen in fotografischen Bildern am Beispiel von Andres Serrano, David Nebreda und Pierre Gonnord 9783839440650

From the appearance of sacral motifs to the reflection of religious structures: analyses of the relationship between pho

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German Pages 452 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
TEIL I: Einleitung und Theorie
1. Einleitung
2. Heiliges – Sakrales – Fotografisches
TEIL II: Einzelanalysen
3. Subversion, Öffnung, Neuinterpretation: Das Symbol des Heiligen zwischen De- und Resakralisierung
4. Substitutive Gewalterfahrung als kryptoreligiöse Funktion fotografischer Bilder?
5. Die ikonische Öffnung des fotografischen Bildes: Zwischen Reliquie und Vorstellungsbild, Aufwertung und Ausschluss des Subjekts
TEIL III: Synthese, Reflexion, Ausblick
6. Fotografische Verhandlungen des Heiligen und Sakralen zwischen Symbol, Spur und Vorstellungsbild
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
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Unscharfe Spuren?: Konzepte des Heiligen und Sakralen in fotografischen Bildern am Beispiel von Andres Serrano, David Nebreda und Pierre Gonnord
 9783839440650

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Jule Schaffer Unscharfe Spuren?

Image  | Band 123

Jule Schaffer (Dr. phil.) ist Kunsthistorikerin mit den Schwerpunkten Fotografie, Medientheorie, künstlerische Publikationsmedien und Kunstkritik. Sie promovierte als Stipendiatin der a.r.t.e.s. Graduiertenschule und der Andrea von Braun Stiftung an der Universität zu Köln und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln.

Jule Schaffer

Unscharfe Spuren? Konzepte des Heiligen und Sakralen in fotografischen Bildern am Beispiel von Andres Serrano, David Nebreda und Pierre Gonnord

Finanziell ermöglicht wurde diese Publikation durch ein Promotionsstipendium der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne, ein Abschlussstipendium der Andrea von Braun Stiftung sowie einen Druckkostenzuschuss der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln. Zugleich geringfügig überarbeitete und aktualisierte Fassung der von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommenen Dissertation (2015).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Pierre Gonnord, Sonia III, 2000, © Pierre Gonnord/VG Bild-Kunst, Bonn, 2019 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4065-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4065-0 https://doi.org/10.14361/9783839440650 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9

TEIL I: EINLEITUNG UND THEORIE 1

Einleitung | 13

1.1 Heiligkeit und Sakralität in fotografischen Bildern? Skizzierung der Fragestellung | 14 1.2 Zu Aktualität und Vielfalt des Heiligen | 19 1.3 Das Heilige und die Kunst: ausgewählte Kontaktpunkte einer komplexen Liaison | 25 1.4 Aufbau der Arbeit | 41 Heiliges – Sakrales – Fotografisches | 49 2.1 Perspektiven auf das Heilige und das Sakrale | 50 2.1.1 Etymologische Betrachtung | 51 2.1.2 Multidisziplinäre Forschungsperspektiven | 54 2.1.3 Synthetische Begriffsbestimmung: Das Sakrale als „Medium“ des Heiligen | 67 2.1.4 Der Körper als Medium des Heiligen | 75 2.2 Fotografische Verhandlungen des Heiligen und Sakralen um 1900 | 82 2.2.1 Fred Holland Day und Symbole des Heiligen in der Fotografie | 84 2.2.2 Das Grabtuch von Turin: Die acheiropoieta und der fotografisch-indexikalische Einschreibungsprozess | 90 2.2.3 Fotografien des Nicht-Fotografierbaren: Ikonische Vorstellungsbilder von Geistern, Gedanken und Erscheinungen | 101 2.3 Analysekriterien | 115 2

TEIL II: EINZELANALYSEN 3

Subversion, Öffnung, Neuinterpretation: Das Symbol des Heiligen zwischen De- und Resakralisierung. Andres Serrano | 123

3.1 Andres Serrano: Piss Christ, 1987 | 130 3.2 Körperbilder. Piss Christ als multipel transgressiver Akt | 150

3.2.1

Der heilige Körper und die Marker des Realen. Zwischen Diffamierung und sakraler Präsenz | 152 3.2.2 Der Körper des Künstlers. Der Schöpfer, der Leidende, der Suchende und die Aura des Originals | 158 3.2.3 Der Körper des Betrachters zwischen Anziehung und Abschreckung. Vom Rezipienten zum Kollaborateur | 161 3.3 Unschärfe als Darstellungsmodus des Heiligen | 168 3.3.1 Intermediale Unschärfe. Piss Christ zwischen Kohärenz und Erneuerung | 170 3.3.2 Unschärfe des Mediums. Piss Christ zwischen Einschreibung und Konstruktion | 173 3.3.3 Visuelle Unschärfe. Formauflösung als Darstellung des Undarstellbaren | 177 3.4 Fazit | 186 4

Substitutive Gewalterfahrung als kryptoreligiöse Funktion fotografischer Bilder? David Nebreda | 193

4.1 Autoportraits, 1983-1998 | 198 4.1.1 Sakrale Inszenierungen und Praktiken des Realen | 207 4.1.2 Nebredas System, der „fotografische Doppelgänger“ und der „Zugang zum Mythos“ | 234 4.2 Fotografie und Hierophanie. Strukturelle Korrelationen von Manifestation – Entzug – Verortung | 247 4.3 Sehnsucht nach Realität: Fotografien versehrter Körper als kryptoreligiöse „Berührung mit der Wirklichkeit“? | 255 4.3.1 „Berührung mit der Wirklichkeit“ | 257 4.3.2 Bildstrategische Mittel zur Evozierung von Authentizität, Wahrheit, Wirklichkeit bei Nebreda | 261 4.4 Fazit | 284 5

Die ikonische Öffnung des fotografischen Bildes: Zwischen Reliquie und Vorstellungsbild, Aufwertung und Ausschluss des Subjekts. Pierre Gonnord | 287

5.1 Bildimmanente Sakralisierungen | 295 5.2 Prozessuale Bildbetrachtung: Sakralisierungsstrategien in Ausstellung und Katalog Realidades, 2006-2007 | 303 5.2.1 Intermediale formale und ästhetische Sakralisierungen | 303 5.2.2 Ikonische Vorstellungsbilder: Das Heilige als Reales | 320 5.2.3 Gestische Sakralisierung: Der Blick als religionsaffiner Marker innerer und äußerer Bewegung | 328

5.3 Sakralisierung und Ausschluss im Diskurs | 338 5.3.1 Die (Re-)Sakralisierung des fotografischen Akts – Entstehungsprozess und Bildstatus zwischen Ritual und Reliquie | 339 5.3.2 Von Boxern und Bettlern – diskursive Ausschlusseffekte in Interview, Katalog und Rezension | 344 5.3.3 Auf der Schwelle – Überlegungen zur Struktur des Sakralen mit Agambens homo sacer | 347 5.4 Fazit | 353

TEIL III: SYNTHESE, REFLEXION, AUSBLICK 6

Fotografische Verhandlungen des Heiligen und Sakralen zwischen Symbol, Spur und Vorstellungsbild | 361

6.1 Parallelen und Kontaktpunkte zwischen Heiligkeit, Sakralität und Fotografischem: Fotografische Bilder als Schwellenräume | 362 6.2 Sakrale Marker und Darstellungsmittel für das Heilige in fotografischen Bildern | 379 6.3 Wechselspiele: Fünf Tendenzen des Heiligen und Sakralen im fotografischen Bild | 384 6.4 Ausblick | 401 Literaturverzeichnis | 411 Abbildungsverzeichnis | 441

Vorwort

Die vorliegende Publikation ist die geringfügig überarbeitete und aktualisierte Fassung meiner Dissertation, die im November 2015 an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommen wurde. Prof. Dr. Stefan Grohé, Prof. Dr. Ursula Frohne und Prof. Dr. Saskia Wendel gilt mein herzlicher Dank für ihre wissenschaftliche Betreuung des Projekts, für wertvolle Anregungen und strukturelle wie inhaltliche Ratschläge. Finanziell ermöglicht wurde diese Dissertation durch ein Promotionsstipendium der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne, durch ein Abschlussstipendium der Andrea von Braun Stiftung sowie durch einen essentiellen Druckkostenzuschuss der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln – allen drei Institutionen danke ich für ihre Unterstützung und das Vertrauen in meine Forschung. Als Graduiertenschule bot a.r.t.e.s. darüber hinaus einen Rahmen für wissenschaftlichen Austausch: Mein herzlicher Dank gilt dem ganzen a.r.t.e.s.-Team sowie den täglichen MitstreiterInnen im Dienste der Wissenschaft für anregenden Austausch und inspirierende Gespräche, insbesondere Evelyn Buyken, Stefanie Coché, Jennifer Crowley, Cornelia Kratz, Corinna Kühn, Judith Schulte, Germaine S.L. Woodcut, Britta Tewordt und Francesca Valentini. Britta und Cornelia danke ich von Herzen für unsere wunderbare Arbeitsgruppe, sie haben dieses Projekt von A-Z begleitet und bereichert. Wertvolle Denkanstöße verdanke ich zudem den TeilnehmerInnen der Studientage der Deutschen Gesellschaft für Photographie, insbesondere Dr. Barbara Engelbach und Prof. Dr. Katharina Sykora, sowie den religionswissenschaftlichen Gesprächen mit Stefan Niklas, Rogier van Bemmel und Martin Breul. Für andauernde kollegiale und freundschaftliche Unterstützung bedanke ich mich bei dem Team der Gesellschaft für Moderne Kunst am Museum Ludwig sowie bei dem Team der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur; die Arbeit im Kunstbereich hat meine wissenschaftliche Forschung stets bereichert und inspiriert.

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Den besprochenen Künstlerinnen und Künstlern gilt mein herzlichster Dank für ihre Aufgeschlossenheit meinem Projekt gegenüber – ohne ihr kreatives Schaffen, ihr Entgegenkommen und die freundliche Bereitstellung von Bildmaterial wäre die vorliegende Publikation in dieser Form nicht möglich gewesen. Meinen Freunden danke ich, dass sie mir trotz vieler Schreibtischtage die Treue gehalten und stets motivierenden Beistand geleistet haben; ganz besonders Tanja, Uta, Stephanie und Miriam, für unsere Mittags- und Freitagsgespräche. Von Herzen danke ich Oliver für seinen uneingeschränkten Rückhalt, seine Motivation und Geduld, sowie meiner Familie, Erdmuthe, Rolf, Helmut, Henning und Johanna für ihre umfassende Unterstützung und ihr Vertrauen.

TEIL I: Einleitung und Theorie

1. Einleitung „Das Heilige ist nicht vergangen, sondern es ist als Verschobenes, Verborgenes, Verdrängtes und Vergessenes durchaus aktuell. Man muß es nur kenntlich zu machen verstehen, […] es entdecken, darstellen und noch aus seinen verwischten Spuren rekonstruieren können.“1 DIETMAR KAMPER, CHRISTOPH WULF „From the moment of its invention […] photography has proven adept at depicting the photographable: the solid, the concrete, that which can be seen. […] But another tradition exists, a parallel history in which photographers and other artists have attempted to describe by photographic means that which is not so readily seen: thought, time, ghosts, god, dreams.“2 JEFFREY FRAENKEL

Ende der 1980er Jahre löste die Fotografie eines von goldenen Schlieren umgebenen Kruzifixus einen Aufschrei in der christlich-konservativen amerikanischen Öffentlichkeit aus (Abb. 1.1).3 Auf den ersten Blick gibt die Darstellung dazu

1

KAMPER, Dietmar, WULF, Christoph: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt 1987, S. 1-30, S. 1.

2

FRAENKEL, Jeffrey: Introduction, in: Ausst.Kat.: The Unphotographable, Fraenkel Gallery, San Francisco, 2013, o. S.

3

Vgl. Ausst.Kat.: Andres Serrano: El dedo en la llaga, Centro-Museo Vasco de Arte Contemporáneo, Vitoria, Artium, 2006, S. 200f.

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wenig Anlass, vielmehr scheint sie sich nahtlos in die klassische christlichikonografische Bildtradition des Sujets einzureihen. Die Maße von 152,4 x 101,6 cm4 erinnern an monumentale Tafelbilder und für den musealen Raum geschaffene Gemälde, die rot-goldene Farbgebung scheint der opulenten Bildsprache des Barock entlehnt und verweist auf mittelalterliche Darstellungen, die auf Licht und Goldtönung zur Visualisierung von Heiligkeit zurückgreifen. Der Titel der Fotografie Immersion (Piss Christ) gewährt jedoch einen Hinweis auf die sehr irdische Herkunft des goldenen Glanzes. Für die Fotografie tauchte der amerikanische Künstler Andres Serrano einen kleinen Kruzifixus aus Holz und Plastik in ein Glas Urin. Dem fotografischen Bild ist seit jeher ein besonderer Realitätsbezug eingeschrieben, den Roland Barthes mit den Worten „ça a été“5 fasste. Im Falle von Piss Christ führte das Wissen um diesen Realitätsbezug zu der vermeintlichen Sicherheit, dass zur Erstellung der Fotografie tatsächlich ein heiliges christliches Symbol Kontakt mit als unrein betrachteter Körperflüssigkeit hatte. Der Protest entfachte sich demnach, neben dem an und für sich provokanten Titel, an der Verbindung zweier Themenkomplexe, der sakralen Bildtradition einerseits und den spezifischen medialen Eigenschaften fotografischer Bilder andererseits. Piss Christ wurde somit als Affront gegen die Heiligkeit Christi verstanden, da Fotografien der Bezug zur Realität immanent scheint.

1.1 H EILIGKEIT UND S AKRALITÄT IN FOTOGRAFISCHEN B ILDERN ? S KIZZIERUNG DER F RAGESTELLUNG Dieser Schnittstelle von Kunst und Religion widmet sich die vorliegende Studie, indem sie die Frage nach der künstlerischen Auseinandersetzung mit den Themen Sakralität und Heiligkeit stellt, und sich dabei auf ein Medium konzentriert, das die Wahrnehmung der Welt heute maßgeblich prägt: das fotografische Bild. Welche Formen finden Fotografen seit den 1980er Jahren, das Sujet inhaltlich, formal, ästhetisch und strukturell aufzuarbeiten und was kann das fotografische

4

Vgl. BAL, Mieke: Baroque Bodies and the Ethics of Vision, in: Ausst.Kat.: Andres Serrano: El dedo en la llaga, Centro-Museo Vasco de Arte Contemporáneo, Vitoria, Artium, 2006, S. 185-199, S. 188.

5

BARTHES, Roland: La Chambre claire. Note sur la photographie, Paris, 1980, S. 176, in der Folge wird auf die deutsche Version zurückgegriffen: BARTHES, Roland (1980): Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt am Main 1989, S. 90.

E INLEITUNG

| 15

Abb. 1.1: Andres Serrano, Immersion (Piss Christ), 1987, Serie Immersions, Farbfotografie

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Medium an dieser Stelle leisten?6 Wie positionieren sich fotografische Bilder in dem traditionell den älteren Bildmedien zugeschriebenen Bereich? Welche Konsequenzen resultieren aus den fotografischen Medienspezifika im Umgang mit Heiligkeit und Sakralität, werden strukturelle und qualitative Aspekte des Heiligen aufgegriffen? Welches affizierende Potential entfalten fotografische Bilder in der Konvergenz mit dem Sujet des Heiligen? Auf der Grundlage medienhistorischer, -theoretischer und religionswissenschaftlicher Ansätze soll am Beispiel von Andres Serrano, Pierre Gonnord und David Nebreda mittels eingehender Bildanalysen untersucht werden, wie Konzepte von Heiligkeit und Sakralität in fotografischen Bildern aussehen können und welche Kontaktpunkte und Wechselwirkungen zwischen Thema und Medium entstehen. Der Körper bildet dabei eine Schnittstelle, die in Bezug auf die Fragestellung besonders relevant erscheint. Einen methodischen Zugriff liefern, neben kunstwissenschaftlichen Analysen, zeichentheoretische Ansätze nach Charles Sanders Peirce7, die das ikonische, symbolische und indexikalische Potential fotografischer Bilder in Bezug auf Heiliges und Sakrales in den Blick nehmen. Dabei geraten sowohl unscharfe wie scharfe Spuren des Heiligen in den Blick, mit Dietmar Kamper und Christoph Wulf gesprochen, „verwischt[e]“8 strukturelle Übernahmen ebenso wie explizite Referenzen. So verhandelt Serranos Piss Christ ein christliches Symbol auf provokante Art und Weise, entwirft jedoch zugleich unterschwellig neue, subversive Darstellungsformen für Heiliges. Nebredas fotografische Selbstportraits loten das indexikalische Wirklichkeitspotential fotografischer Bilder aus, schreiben sich in mythische Referenzsysteme ein und scheinen als Metapher auf die Verwendung religiöser Sinnsysteme lesbar. Gonnords Portraits von Menschen am Rande der Gesellschaft und ihre Verortung in der Ausstellung Realidades entwerfen Vorstellungsbilder moderner Heiliger und scheinen besonders fruchtbar für die Analyse visueller Sakralisierungsstrategien in fotografischen Bildern.9

6

Soweit im Folgenden die männliche Form von Berufs-, Gruppen- und / oder Personenbezeichnungen Verwendung findet, so ist auch stets die jeweils weibliche Form gemeint.

7

Vgl. PEIRCE, Charles Sanders (1893): Die Kunst des Räsonierens. Kapitel II, in: Ders.: Semiotische Schriften, hrsg. v. Christian Kloesel u. Helmut Pape, Frankfurt am Main 1986, Bd. 1, S. 191-201, S. 193.

8

KAMPER, WULF 1987b, S. 1.

9

Erste Überlegungen zum Thema im Allgemeinen sowie zu der Analyse von Pierre Gonnord im Spezifischen finden sich in verkürzter Form in: SCHAFFER, Jule: Photographic Images, the Holy, and the Sacred: Analyzing Realidades by the Photogra-

E INLEITUNG

| 17

Um eine differenzierte Herangehensweise zu gewährleisten, wird zwischen dem Heiligen, verstanden als theoretischer Konzeptionierung religiöser, spiritueller oder transzendenter Vorstellungen und dem Sakralen, als Bereich der kulturellen Ausformung und Sichtbarmachung dieser Vorstellungen unterschieden.10 Heiligkeit, als Eigenschaft oder Zuschreibung, heilig zu sein, rückt dabei ebenso in den Blick der Analysen wie dem Heiligen zugeschriebene, strukturelle Eigenschaften und Qualitäten. Das Sakrale wird als Bereich tradierter Formen, als Marker religiöser Vorstellungen und Träger religiöser Wertigkeit relevant, aber auch Gesten der Sakralisierung werden in der Untersuchung berücksichtigt (vgl. Kapitel 2.3). Da diese Herangehensweise visuelle Traditionen des Heiligen gewissermaßen voraussetzt, werden in dieser Arbeit grundlegende Fragen zum Bilderverbot ebenso wie theologische Fragen zur Abbildbarkeit Gottes nur am Rande gestreift, jedoch nicht ausführlich diskutiert. Die ausgewählten Positionen entstanden zwischen dem Ende der 1980er Jahre und 2007, ein Zeitraum, der gewählt wurde, da sich seit den 1970er Jahren ein für das Thema besonders interessantes Spannungsfeld entwickelt, dessen Potential Serrano, Nebreda und Gonnord voll auszuschöpfen verstehen: Fotografische Bilder erreichen eine nie zuvor dagewesene Reichweite in den verschiedensten Lebensbereichen, zugleich wird die Aufgabe des Informationsflusses zunehmend von anderen Medien, wie etwa dem Fernsehen, übernommen.11 Künstler beginnen verstärkt mit fotografischen Bildern zu experimentieren und entwickeln neue Bildformen, denen die Technik, etwa durch neue Farbfilme und größere Abzugsformate, zuspielt. Die Fotografie ist im Museum angekommen und wird „auf eine programmatische, geradezu selbstverständliche Weise“12 als Kunstform akzeptiert. Parallel entsteht ein intensiver semiotischer Diskurs, der den Zeichen-

pher Pierre Gonnord, in: GOMES PINTO, José, MATOSO, Rui (Hg.): Art and Photography in Media Environments, Lissabon 2016, S. 17-38. 10 Eine ähnliche Unterscheidung findet sich bei Jörg Splett, Hans-Dieter Bahr und Nadine Böhm, vgl. Kapitel 2.1.3, sowie SPLETT, Jörg: Die Rede vom Heiligen, Freiburg, München, 1971, S. 307. BAHR, Hans-Dieter: Das Heilige und das Entsetzen, in: KAMPER, Dietmar, WULF, Christoph (Hg.): Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt am Main 1987, S. 62-81, S. 64 und BÖHM, Nadine Christina: Sakrales Sehen. Strategien der Sakralisierung im Kino der Jahrtausendwende (Diss. ErlangenNürnberg 2008), Bielefeld 2009, S. 12 und S. 14. 11 Vgl. KEMP, Wolfgang: Geschichte der Fotografie. Von Daguerre bis Gursky, München 2011, S. 90f. 12 KEMP 2011, S. 91.

18 | U NSCHARFE S PUREN ? – T EIL I: E INLEITUNG UND T HEORIE

status und die Eigenheiten fotografischer Bilder genauer zu konturieren sucht.13 Zeitgleich erfährt der Körper in Kunst und Wissenschaft neue Aufmerksamkeit14 und wird aufgrund der aufkommenden Aids Problematik neu thematisiert und problematisiert. Überdies gewinnt die Rede von der „Rückkehr der Religionen“15 an Gewicht, was sich beispielsweise in den USA in einer stärkeren Vernetzung von Religion und Politik widerspiegelt. Auf Grundlage der in den 1970er und 1980er Jahren entstehenden Culture Wars16 gewinnt die Überlagerung von Religion und Kunst erneut an Spannung, wie bereits das eingangs vorgestellte Beispiel der Fotografie Piss Christ verdeutlicht. Einen Überblick zur Aktualität des Heiligen innerhalb oder parallel zu diesen Diskursen in Kunst und Gesellschaft gilt es in den nächsten zwei Abschnitten exemplarisch zu skizzieren (1.2. und 1.3). Dabei soll keine umfassende Entwicklungsgeschichte nachgezeichnet werden. Vielmehr werden für die Fragestellung relevante Eckpunkte in der gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Annäherung an das Heilige knapp umrissen, um die Vielfalt der Schattierungen des Heiligen in aktuellen Diskursen zu unterstreichen, die einen Rahmen für die vorliegende Analyse bilden. Vor diesem Hintergrund stellt Kapitel 1.4 den Analysegegenstand vor und erläutert Aufbau und Vorgehensweise der Arbeit.

13 Als allgemeine Zeichenlehre geht die Semiotik zurück auf die antiken Lehren Heraklits und wurde vor allem in den 1950er und 1960er Jahren in Anlehnung an die Zeichentheorie des Logikers Charles Sanders Peirce und die Sprachwissenschaft Ferdinand Saussures von Umberto Eco und Roland Barthes auf Phänomene der Massenkultur übertragen. Sie profitiert von ihrer Anwendbarkeit auf jegliche Kommunikationsmedien und Zeichensysteme. Für ihre Anwendung im Rahmen kunstwissenschaftlicher Forschung vgl. BRASSAT, Wolfgang, KOHLE, Hubertus (Hg.): MethodenReader Kunstgeschichte: Texte zur Methodik und Geschichte der Kunstwissenschaft, Köln 2003, S. 148. Für eine Zusammenfassung der für die Fotografie relevanten Positionen siehe Kapitel 2.2 dieser Arbeit. 14 Vgl. ELSAESSER, Thomas, HAGENER, Malte: Filmtheorie zur Einführung, 3. erg. Aufl., Hamburg 2011, S. 140, für eine knappe Einführung zur Popularität des Körpers insbesondere in filmisch geprägten Diskursen. 15 RIESEBRODT, Martin: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, München 2000. 16 Zu den politischen Hintergründen rund um die sogenannten Culture Wars siehe HUNTER, James Davison: Culture Wars: The Struggle to define America, New York 1991.

E INLEITUNG

1.2 Z U A KTUALITÄT

UND

V IELFALT

DES

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H EILIGEN

„[M]erkwürdige Dinge tragen sich zu. Große Teile der Gesellschaft haben sich einer ‚antimaterialistischen‘ Strömung verschrieben, und die Interpretation der Entdeckung östlicher wie westlicher Spiritualität, oder auch der Hervorhebung einer ethischen Instanz für das Prinzip Verantwortung als Wiederkehr des Heiligen liegt ihnen nahe. […] Islamische revolutionäre Gruppen proklamieren ausdrücklich als ‚Heiligen Krieg‘, was bisher Ǧihád geheißen hatte und nur von europäischen Gelehrten so übersetzt worden war.“17

Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte das Heilige trotz postulierter Säkularisierung18 eine ausgeprägte Konjunktur: So publizierte 1917 der Theologe Rudolf Otto eine einflussreiche Studie zum Heiligen, die dieses als außerinstitu-

17 COLPE, Carsten: Die wissenschaftliche Beschäftigung mit „dem Heiligen“ und „das Heilige“ heute, in: KAMPER, Dietmar, WULF, Christoph (Hg.): Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt am Main 1987, S. 33-61, S. 51. 18 Für einen Überblick zum Begriff der Säkularisierung siehe ESCHEBACH, Insa, LANWERD, Susanne: Säkularisierung, Sakralisierung und Kulturkritik, in: metis, 9, 2000, H. 18, S. 10-26. Charles Taylor beschreibt die Säkularisierung als eine Option unter vielen, die jedoch aus der Religion heraus entwickelt wurde, vgl. TAYLOR, Charles: Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt am Main 2009. Mit dem Prozess der Säkularisierung findet nach Max Weber eine zunehmende „Entzauberung der Welt“ statt, da diese mit dem Fortschritt nicht mehr unerklärlich und durch unbekannte Mächte beherrscht, sondern potentiell rational erklärbar scheint. WEBER, Max: Wissenschaft als Beruf, München und Leipzig 1919, S. 16. Für eine Zusammenfassung der Position Webers und einer aktuellen Lesart der „Wieder-Verzauberung“ siehe MORGAN, David:

Enchantment,

Disenchantment,

Re-Enchantment,

in:

ELKINS,

James,

MORGAN, David (Hg.): Re-Enchantment, New York, London 2009, S. 3-22, S. 3-5. In Bezug auf die Debatte um Säkularisierung ebenfalls zu nennen ist CASANOVA, José: Public Religions in the Modern World, Chicago 1994.

20 | U NSCHARFE S PUREN ? – T EIL I: E INLEITUNG UND T HEORIE

tionellen Kern des Religiösen etablierte und viel diskutiert wurde.19 Zugleich nutzen Ethnologie, Philosophie und Soziologie das Heilige zunehmend als „Denkfigur“20, um religiöse Riten, Erfahrungsmuster und Strukturen zu hinterfragen. In den 1970er Jahren attestierte der Soziologe Daniel Bell mit seinem Aufsatz The Return of the Sacred offiziell die „Rückkehr“21 des Heiligen, während in den USA in breiten Teilen der Politik offen ausgetragene Konflikte zwischen fundamentalen konservativen wie liberalen Kräften sichtbar wurden.22 James Hunters Publikation Culture Wars: The Struggle to Define America festigte den Begriff der Culture Wars als Bezeichnung für die verhärteten Fronten und verdeutlichte, dass sich die Konflikte auf kultureller Ebene kondensierten.23 Die im Rahmen der Culture Wars ausgetragenen Kleinkämpfe deckten ein breites Spektrum ab, von Familienwerten bis zur Kulturförderung, wie sie insbesondere für die Kunst relevant werden sollte.24 Immer wieder waren es fotografische Bilder, die als Affront gegen moralische oder religiöse Wertvorstellungen begriffen wurden und im Kampf um politische Machtverteilung öffentlich diskutiert und instrumentalisiert wurden, wie sich in der Kontroverse um Piss Christ zeigt.25 Im 19 Vgl. OTTO, Rudolf (1917): Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Neuausgabe mit einem Nachwort von Hans Joas, München 2014. 20 CANAL, Héctor, NEUMANN, Maik, SAUTER, Caroline u.a.: Vorwort: Das Heilige (in) der Moderne, in: Dies. (Hg.): Das Heilige (in) der Moderne. Denkfiguren des Sakralen in Philosophie und Literatur des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2013, S. 7-12, S. 7f. 21 BELL, Daniel: The Return of the Sacred. The Argument on the Future of Religion, in: British Journal of Sociology, 28, 1977, H. 4, S. 419-449. Siehe hierzu ebenfalls THIES, Christian: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Religiöse Erfahrung in der Moderne. William James und die Folgen, Wiesbaden 2009, S. 7-12, S. 7. Eine derartige Wiederkehr setzt eine Säkularisierung, in der das Heilige oder Religiöse aus dem gesellschaftlichen Bereich ausgeschlossen wird, voraus und steht damit Hybridisierungsund Individualisierungstendenzen von Religion gewissermaßen gegenüber. 22 Vgl. NOLAN, James L.: Preface, in: Ders. (Hg.): The American Culture Wars. Current Contests and Future Prospects, Charlottesville, London 1996, S. ix-xvi, S. x. 23 Vgl. HUNTER 1991. Daniel Bell sieht die Anfänge dieser Reibungspunkte in den 1920er Jahren, vgl. BELL, Daniel: The Cultural Contradictions of Capitalism, New York 1976, zit. nach NOLAN 1996, S. x. 24 Vgl. NOLAN 1996, S. ix. 25 Für die Bedeutung der Culture Wars für die Kunst siehe FERGUSON, Bruce: Andres Serrano: Invisible Power, in: SERRANO, Andres: Body and Soul, hrsg. von Brian Wallis, New York 1995, o. S.

E INLEITUNG

| 21

Eingangszitat zu diesem Kapitel bemerkt Carsten Colpe bereits Ende der 1980er Jahre, dass das Heilige auch einen zunehmenden Stellenwert in verschiedenen Disziplinen und gesellschaftlichen Richtungen einnimmt, um neuartige religiöse Strömungen aufzufangen. Sein Hinweis auf fundamentale Ausrichtungen, greift dem 11. September 2001 vor, mit dem die Religion und das Heilige in den Blick der Massen geraten. Die mediale Aufmerksamkeit ist auch hier eng an fotografische Bilder gekoppelt, wurde der ‚heilige‘ Glaubenskrieg doch maßgeblich über und durch fotografische Bilder in Form von Fotografien, Videos und Filmen geführt oder durch diese beeinflusst, wie die weltweit in Endlosschleife zirkulierenden Aufnahmen der einstürzenden Twin-Towers verdeutlichten.26 Ebenfalls 2001 prägte Jürgen Habermas in seiner Rede zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels den Begriff der „postsäkularen Gesellschaft“ für das „Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Gesellschaft“ 27, das heißt auch dem parallelen Auftreten religiöser und säkularer Werte. Dieses entwickelt sich unter der Bedingung, „dass religiöses Denken sich selber kritisch darlegen lässt und dass säkulares Denken die Allgegenwärtigkeit des Religiösen in seinen multiplen Erscheinungen im Prozess der Säkularisierung mitdenkt.“28 Die Popularität der von Bell angestoßenen Rede von der „Rückkehr der Religionen“29 kulminiert schließlich in der vieldiskutierten Frage, inwiefern ein religious turn zu verzeichnen sei.30 Die Gleichzeitigkeit und gegenseitige Durchdringung säkularer und religiöser Strukturen sowie die erneute Fokussierung auf wissenschaftliche Tendenzen der Moderne in der Tradition Ottos zeitigte eine Verständnisrichtung, in der religiöse Strukturen nicht als wiederkehrend und postsäkular, sondern innerhalb der gesellschaftlichen und kulturellen Äußerungen in anderer Form als residual konstant vorhanden interpretiert werden. So heben Thomas Luckmann und Charles Taylor hervor, dass religiöse Tendenzen individueller werden, sich in den priva26 Vgl. GROYS, Boris, WEIBEL, Peter (Hg.): Medium Religion. Faith. Geopolitics. Art, (ersch. anl. d. gleichn. Ausst., Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe; The Model, Sligo, Irland, 2008/2009) Köln 2011. 27 HABERMAS, Jürgen: Glauben und Wissen. Friedenpreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt am Main 2001, S. 12-13. 28 HENKE, Silvia: Einleitung, in: HENKE, Silvia, SPALINGER, Nika, ZÜRCHER, Isabel (Hg.): Kunst und Religion im Zeitalter des Postsäkularen. Ein kritischer Reader, Bielefeld 2012, S. 9.-17, S. 11. 29 RIESEBRODT 2000. 30 Diese Entwicklung sei hier nur angerissen, für einen umfassenderen Einblick siehe DE VRIES, Hent: Philosophy and the Turn to Religion, Baltimore, London 1999; sowie CANAL, NEUMANN, SAUTER 2013b, S. 9.

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ten Bereich verlagern und zunehmend hybride religiöse Ausrichtungen entstehen.31 Da die Vielfalt individualisierter religiöser Formen sich nicht unter einem Nenner fassen lässt, mehren sich die Stimmen für grundsätzliche Neudefinitionen des Religionsbegriffs.32 Um das Glaubensbedürfnis als grundlegende Eigenschaft des Menschen besser zu verstehen, fordert der Mediologe Régis Debray einen institutions- und konfessionsunabhängigen Diskurs über Religion33 während die Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel „auf die Durchflechtung der säkularisierten Welt mit religiösen Deutungsmustern“34 verweist. Die Institutionen der Kirche verlieren demnach an Relevanz, während sich zugleich das Glaubensbedürfnis und seine kulturelle und künstlerische Verarbeitung auf anderen Wegen kanalisieren. Es scheint, dass Säkularisierung und Sakralisierung eine enge Symbiose eingehen, in der das eine oftmals das andere bedingt und durchdringt,35 sei es als thematischer Rest, als Struktur oder über traditionelle Bildund Praxisformen. Es entsteht eine paradoxe Konstellation, in der unter Bedingungen der Säkularisierung die Sakralwissenschaften zunehmend die Deutungshoheit über das Heilige verlieren, während dieses zugleich in neuen Formen und Feldern aufgeht: So entstehen in Kunst und Philosophie „Inszenierungen und Codierungen des Heiligen, d.h. spezifische Schreibweisen und Rhetoriken, die die Form ‚heiliger Texte‘ oder sakraler Traditionen aufnehmen, thematisieren, subvertieren und profanieren.“36 Die Moderne ist demnach nicht durch die „Abschaffung“ des Heiligen gekennzeichnet, vielmehr stellt sie dessen „Dissemination“ ins Profane

31 Vgl. hierzu: LUCKMANN, Thomas (1967): Die unsichtbare Religion, Frankfurt am Main 1991; sowie TAYLOR, Charles: Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt am Main 2002. 32 Der Theologe Martin E. Marty etwa plädiert für eine Lockerung des Gegensatzes säkular versus religiös zugunsten eines Diskurses über hybride Tendenzen. Vgl. MARTY, E. Martin: Our Religio-Secular World, in: Daedalus, 132, 2003, H. 3, On Secularism & Religion, S. 42-48. Die Theologin Saskia Wendel analysiert verschiedene Religionsdefinitionen, um auf dieser Basis eine Neudefinition vorzulegen, vgl. insbesondere das erste Kapitel in WENDEL, Saskia: Religionsphilosophie, Ditzingen 2010. 33 Vgl. Belting über den Mediologen Régis Debray in BELTING, Hans: Das Echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, 2. Aufl., München 2006, S. 33-35. 34 Vgl. WEIGEL, Sigrid: Nachleben der Religion(en). Eine kulturwissenschaftliche Tagung, in: Trajekte, 5, 2004, H. 9, S. 4-7, S. 5. 35 Vgl. ESCHEBACH, LANWERD 2000, S. 20. 36 CANAL, NEUMANN, SAUTER 2013b, S. 8.

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dar.37 Gleich ob (Post-)Säkularisierung, Wiederkehr oder Hybridisierung: Die multiplen Annäherungsversuche an das Heilige zeugen von einer Aktualität und Virulenz des Konzepts auch oder gerade außerhalb seiner institutionellen Verankerung. Das Heilige hat gewissermaßen die Funktion eines Scharniers, anhand dessen sich aus interdisziplinären Perspektiven, von den Religions- und Kulturwissenschaften bis hin zu medientheologischen Tendenzen, die Spuren, in denen sich „Religiöses und Quasi-Religiöses“38 in den verschiedensten Bereichen des gesellschaftlichen Alltags findet, analysieren lassen.39 Vor diesem Hintergrund dient das ‚Heilige‘, beziehungsweise ‚Heiligkeit‘, als die Eigenschaft oder Zuschreibung, heilig zu sein als Ansatzpunkt der vorliegenden Arbeit. Fungiert nach Otto das Heilige als grundlegender Gedanke des Religiösen im Allgemeinen und nicht ausschließlich im christlichen Sinne,40 so scheint es sowohl der geschilderten Diversität religiöser Ansätze und dem Nachwirken religiöser Strukturen als auch der visuellen Popularität wiederkehrender religiöser Motivik gerecht zu werden, sei es in der Werbung41, in der Kunst – von Martin Kippenbergers gekreuzigtem Frosch bis zu David LaChapelles Serie Jesus is my Homeboy, in der Szenen aus der Bibel mit zeitgenössischen Personen und aktuellen Settings reinszeniert werden (Abb. 1.2) – oder in der

37 „In fact […] the modern age has not been the age in which the sacred has been abolished but rather the age of its dissemination in profane space, its democratization, its globalization.“ GROYS, Boris: Religion in the Age of Digital Reproduction, in: Ders., WEIBEL, Peter (Hg.): Medium Religion. Faith. Geopolitics. Art, (anl. d. gleichn. Ausst., ZKM Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe; The Model, Sligo, Irland, 2008/2009) Köln 2011, S. 22-29, S.23. 38 BÖHM, Dorothee, LIVINGS, Frances, REUCHER, Andreas: Vorwort, in: Dies. (Hg.): Erscheinungen des Sakralen, Berlin 2011, S.7-8, S.7. 39 Siehe ebenfalls CANAL, Héctor, NEUMANN, Maik, SAUTER, Caroline u.a. (Hg.): Das Heilige (in) der Moderne. Denkfiguren des Sakralen in Philosophie und Literatur des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2013; sowie COBB, Kelton: The Blackwell Guide to Theology and Popular Culture, Malden, Oxford, Carlton 2005. Siehe zudem den Abschnitt zur Ausstellungspraxis unten sowie Kapitel 2.1 der vorliegenden Arbeit für weitere Literaturhinweise. 40 Vgl. LANCZKOWSKI, Günter: I. Heilig und profan, religionsgeschichtlich, in: GALLING, Kurt (Hg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 3. überarb. Aufl., Tübingen 1959, 3. Bd. HKon, S. 146-148, S. 146. 41 Für einen Überblick von religiösen Elementen in der Werbung der 1990er Jahre und früher siehe die Website http://www.glauben-und-kaufen.de/ (30.11.2014).

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Abb. 1.2: David LaChapelle, Last Supper, 2003, Serie Jesus is my Homeboy, Farbfotografie

Popkultur, etwa den Musikvideos von Madonna.42 Ottos Heiligkeitsbegriff ist dabei nicht unumstritten, da er sich eng am Christentum orientiert und innerhalb der Religionswissenschaften kontrovers diskutiert wird.43 Charles Taylor beispielsweise bevorzugt die Verwendung des Transzendenzbegriffs in seiner Analyse des „säkulare[n] Zeitalter[s]“44. Wie Hans Joas formuliert, liegt jedoch die Stärke der Denkfigur des Heiligen in ihrer Flexibilität, verschiedenste Ausformungen und Erfahrungen von Transzendenz, Spiritualität und Geistigkeit einzuschließen: „Wir brauchen gerade unter den Bedingungen der Säkularisierung die 42 Like a Prayer (Official Uncut Version), R.: Madonna, Patrick Leonard, USA 1989, 5:39 Min. etwa spielt unter anderem in einer Kirche und im Himmel und inszeniert neben diversen brennenden Kreuzen, Wundmale in den Händen der Künstlerin und eine weinende und schließlich zum Leben erwachende Heiligenfigur. 43 Vgl. ALLES, Gregory D.: Rudolf Otto, in: MICHAELS, Axel (Hg.): Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München 1997, S. 198-210, S. 205 und 209f.; sowie den Abschnitt zu Otto in Kapitel 2.1. 44 TAYLOR 2009. Siehe zudem JOAS, Hans: Säkulare Heiligkeit. Wie aktuell ist Rudolf Otto?, in: OTTO, Rudolf (1917): Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Neuausgabe mit einem Nachwort von Hans Joas, München 2014, S. 255-281, S. 281.

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Erforschung von Sakralität, weil nur diese uns erlaubt, die Vielzahl von Erfahrungen der Selbsttranszendenz auch außerhalb der Religionen etwa in Kunst, Natur und Erotik zu bedenken.“45 Um der mit dem Begriff des Heiligen verbundenen Problematik zu begegnen und zugleich das in ihm liegende Erkenntnispotential fruchtbar zu machen, erfolgt eine differenzierte Annäherung an den Begriff, die neben einer Analyse der verschiedenen theoretischen Konzeptionen des Heiligen selbiges in Verhältnis zu den Möglichkeiten seiner historischen und kulturellen Ausformungen – verstanden als Bereich des Sakralen – setzt (vgl. Kapitel 2.1).

1.3 D AS H EILIGE UND DIE K UNST : AUSGEWÄHLTE K ONTAKTPUNKTE EINER KOMPLEXEN L IAISON „Religion and the arts connect through processes of iconomash. Religious images morph, move and mask themselves.“46 S. BRENT PLATE

Fotografische Bilder zirkulieren durch verschiedene gesellschaftliche Bereiche, die vorliegende Analyse setzt den Schwerpunkt auf künstlerische Verhandlungen des Heiligen in und über fotografische Bilder. Diese bewegen sich im Kontext größerer Kunstströmungen, die den Rahmen der Analyse bilden, und scheinen dennoch eigenständige Formen zu finden. Das Verhältnis von Religion und Kunst seit der Moderne ist analog zu den dargelegten religiösen Hybridisierungen in vielfältige Facetten zersplittert, die insbesondere seit der Jahrtausendwende und im Kontext des beschriebenen Diskurses um das Heilige wieder intensiv seitens der Kunst, der Kunstgeschichte und der Kulturwissenschaften befragt werden.47 Von den mannigfaltigen künstlerischen Annäherungen an Heiliges un-

45 JOAS 2014, S. 281. In seiner umfangreichen Analyse zur „Sakralität der Person“ macht Joas den Begriff zum Kern einer modernen Ethik, vgl. JOAS, Hans: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011. 46 PLATE, S. Brent: From Iconoclash to Iconomash, in: ELKINS, James, MORGAN, David (Hg.): Re-Enchantment, New York, London 2009, S. 209-211, S. 211. 47 Wolfgang Ullrich setzt Schlaglichter im zeitgenössischen Spannungsfeld Religion – Kunst. Ist die Kunst Gegenstand eines Glaubens? Wann gerät sie ins Feld der Religion? Wie konkurrieren Kunst und Religion? Vgl. ULLRICH, Wolfgang: An die Kunst glauben, Berlin 2011. Siehe zudem ELKINS, James, MORGAN, David (Hg.): Re-

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ter den Vorzeichen der dargelegten Säkularisierungs- und Hybridisierungsprozesse erscheinen einige in Bezug auf die Formfindungen fotografischer Bilder besonders relevant. Sie werden im Folgenden knapp konturiert, um die Folie zu skizzieren, vor der die ausgewählten Positionen sich bewegen und einen ersten Zugang zu etablieren. Verborgene Spuren des Heiligen in der Kunst – Transzendenz und Geistiges Wie Beat Wyss aufzeigt, sind avantgardistische Tendenzen der Moderne, die sich offiziell dem Projekt der Säkularisierung widmen, mehrfach geprägt durch eine Art „säkulare Metaphysik“48: Oftmals wird das Geistige oder Transzendente fokussiert, beziehungsweise werden kaleidoskopartig alternative religiöse Strömungen anzitiert oder es erfolgt eine unterschwellige Übernahme religiöser Gehalte.49 So verschwinden zwar die „dogmatisch-erzählerischen Motive christlicher Religiosität […], doch deren Erfahrungsstrukturen bleiben erhalten.“50 Auch in den modernen und postmodernen akademischen Kreisen werden, wie James Elkins hervorhebt, religiöse Konzepte über alternative Theorien etwa zum Erhabenen, der Wieder-Verzauberung der Welt (in Umkehrung der These Max Webers) und Walter Benjamins Ausführungen zur Aura „zurückgeschmuggelt“51. Dies zeigt sich auch in der Nachkriegskunst, beispielsweise bei Barnett Newmans „the sublime is now“52 sowie für den deutschen Raum in dem „religi-

Enchantment, New York, London 2009; und GROYS 2011; sowie den Forschungsstand weiter unten. 48 WYSS, Beat: Der Wille zur Kunst. Zur ästhetischen Mentalität der Moderne, Köln 1997, S. 246. 49 Vgl. etwa theosophische Aspekte in den Arbeiten Piet Mondrians oder ‚das Geistige‘ in der Kunst von Wassily Kandinsky, vgl. MACK, Gerhard: Christus wird heute in Hollywood gekreuzigt, in: art. Das Kunstmagazin, 2011, H. 2, S. 20-26, 26. Siehe auch den Ausst.Kat.: Zeichen des Glaubens, Geist der Avantgarde. Religiöse Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Schloss Charlottenburg, Berlin, 1980; oder Ausst.Kat.: The Spiritual in Art: Abstract Painting 1890-1985, Los Angeles County Museum of Art, Los Angeles, 1986. 50 WYSS 1997, S. 246. 51 ELKINS, MORGAN 2009, S. I; sowie PLATE, S. Brent: Walter Benjamin, Religion, and Aesthetics: Rethinking Religion Through the Arts, New York 2005. 52 Newman zit. nach MACK 2011, 26. Siehe ebenfalls: RAUH, Horst Dieter: Barnett Newman – Mystik und Kalkül, in: GERL-FALKOWITZ, Hanna-Barbara (Hg.): Sakralität undModerne, Dorfen 2010, S. 161-196.

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ös inspirierten Kunstmythos“53 Joseph Beuys‘, mit dem der Künstler als Erlöserfigur wieder populär wird54. Hier zeigen sich sowohl der Facettenreichtum religiöser Ideen im Sinne einer Individualisierung und Hybridisierung der Glaubensvorstellungen (vgl. 1.2) als auch die Vielfalt künstlerischer Ansätze zur Verhandlung des Heiligen. Für die Fragestellung verdeutlichen die genannten Beispiele, dass bei der Analyse von Konzepten des Heiligen und Sakralen in fotografischen Bildern, neben expliziten Übernahmen von oder Verweisen auf religiöse Ikonografie, auch implizite religiöse Strukturen, religiös oder spirituell orientierte Formen der Rezeption von Bildern sowie Konzepte des Auratischen, Erhabenen oder Transzendenten relevant sind. Die für die Analyse ausgewählten Arbeiten knüpfen auf mehreren Ebenen an diese Tendenzen an, wie zu zeigen sein wird. Religiöse Symbolik – Transgressive Tendenzen – Körper und lebensweltliche Realität In den 1960er, 1970er und 1980er Jahren erfolgt, nicht zuletzt durch die Pop-Art inspiriert, eine Hinwendung zu der Auseinandersetzung mit der Lebenswelt der Menschen, einschließlich der Symbole und Bilder des Religiösen und Sakralen, das zu diesem Zeitpunkt, wie oben aufgeführt, auch politisch eine neue Relevanz erhält und im Rahmen der Culture Wars zu Spannungen führt.55 In der Verwendung religiöser Ikonografie seitens der Kunst ist zu diesem Zeitpunkt eine Wende zu verzeichnen.56 Zahlreiche Künstler bedienen sich erneut christlicher Motive und Themen, jedoch weniger religiös als kritisch bis provokativ mit humorvollen, ironisierenden oder blasphemischen, transgressiven und ikonoklastischen

53 BELTING 2006, S. 36. 54 Vgl. VAN BÜHREN, Ralf: Spiritualität des Irdischen. Die weltanschauliche Botschaft im Werk von Joseph Beuys (1921-1986), in: GERL-FALKOWITZ, HannaBarbara (Hg.): Sakralität und Moderne, Dorfen 2010, S. 197-230. 55 Vgl. ebenfalls MACK 2011, S.24: „[R]eligiöse Bilder [durchdringen] unseren Alltag. Je säkularer die Gesellschaft wird, desto mehr bedient sie sich abgesunkener Glaubensreste, um sich ihre eigene Gegenwart zu erklären. Das war schon vor 9/11 so.“ Interessanterweise lassen sich auch in der Pop Art Bezüge zur Transzendenz finden. Zu einem Überblick kunstreligiös inspirierter Forschung zu Andy Warhol vgl. ULLRICH 2011, S. 66-76. 56 Vgl. hierzu auch BÖHM, Dorothee: Scheinheilig? Religiöse Phänomene in Kunst und Popkultur der Gegenwart, in: BÖHM, Dorothee, LIVINGS, Frances, REUCHER, Andreas (Hg.): Erscheinungen des Sakralen, Berlin 2011, S. 99-122, S. 103.

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Untertönen.57 Für die Fotografie zu nennen sind hier einerseits Künstler wie Robert Mapplethorpe und Joel Peter-Witkin, die katholische Symbolik mit (homo)erotischen Aspekten verbinden, andererseits Künstler wie Jürgen Klauke oder Andres Serrano. Über den Bezug zur Pop-Art wird zudem deutlich, dass nicht zuletzt das Aufgreifen religiöser Symbolik durch die Werbung und die seltsame Vermischung von religiösen Bildern mit Werbebildern im öffentlichen Raum in diese Positionen hinein spielen (Abb. 1.3).58 Bereits 1964 rückte zudem Pier Paolo Pasolinis Film Il Vangelo secondo Matteo59 nicht nur die Lebenswelt der Menschen, sondern insbesondere den Körper wieder expliziter in den Mittelpunkt der künstlerischen Verhandlung religiöser Themen.60 So umschreibt Pasolinis Film religiöse Tendenzen nicht transzendent spirituell, sondern reinszeniert sie mit Schauspielern. Das Gesche

57 „Religious subject matter has been relatively fashionabe during the 1980s, but religious belief is a anathema to the at-best-skeptical and at-worst-cynical postmodernist enterprise.“ LIPPARD, Lucy: Serrano: The Spirit and the Letter, Art in America, 78, 1990, H. 4, S. 238-245, S. 239. Für eine Übersicht transgressiver Kunstwerke siehe JULIUS, Anthony: Transgressions. The Offences of Art, London 2002 sowie PLATE, S. Brent: Blasphemy: Art that Offends, London 2006. Auch heute arbeiten Künstler transgressiv, vgl. GROYS, Boris, WEIBEL, Peter: Religion as medium, in: Dies. (Hg.): Medium Religion. Faith. Geopolitics. Art, (anl. d. gleichn. Ausst., ZKM Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe; The Model, Sligo, Irland, 2008/2009) Köln 2011, S. 6-10. 58 Vgl. die Website http://www.glauben-und-kaufen.de/ (30.11.2014) sowie die Ausführungen zum amerikanischen Straßenbild bei BELTING 2006, S. 34. 59 Il Vangelo secondo Matteo, R.: Pier Paolo Pasolini, Italien, Frankreich 1964, 131 Min. Für eine genauere Beschreibung der Rezeption des Films vgl. BELTING 2006, S. 4244. Belting führt den Titel allerdings fälschlicherweise als Il Vangelo di San Matteo. 60 Pasolinis Film profitiert dabei davon einer gestiegenen Bedeutung des Körpers im Allgemeinen, wie sie sich in der Kunst ab den 1950er Jahren zeigt. So wird der Körper zunächst mit Bezug auf die Interpretation von Kunstwerken, spätestens seit den 1960er Jahren jedoch auch aktiv bei der Produktion des Werkes mitgedacht und performativ eingebracht. Vgl. JONES, Amelia: Body, in: NELSON, Robert S., SHIFF, Richard (Hg.): Critical Terms for Art History, 2. Aufl., Chicago, London 2003, S. 251-266, S. 254f. Zum Thema generell siehe beispielweise SCHUHMACHERCHILLA, Doris (Hg.): Das Interesse am Körper. Strategien und Inszenierungen in Bildung, Kunst und Medien, Essen 2000; sowie BELTING, Hans, KAMPER, Dietmar, SCHULZ, Martin (Hg.): Quel corps? Eine Frage der Repräsentation, München 2002.

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Abb. 1.3: Abbas, Highway in Alabama mit Jesus-Reklame, 2003, Schwarz-WeißFotografie

hen wird damit an eine physische Lebenswirklichkeit rückgekoppelt, deren realistische Darstellungsweise nicht zuletzt im Abbildungspotential des filmischen Mediums begründet liegt. Das Heilige wird, anders als etwa bei Barnett Newman, hier wieder in seiner menschlichen Gestalt fokussiert, das heißt die vor allem im Christentum durch die Inkarnationslehre sehr enge Verbindung des Heiligen zum Körper wird thematisiert. Auch in der Performance Art, etwa in Hermann Nitschs61 Orgien-Mysterien-Theater, werden Darstellungen religiöser Aspekte mit ‚realen‘ Körpern erprobt – ein Aspekt der auch für fotografische Visualisierungen des Heiligen, wie etwa Andres Serrano sie vornimmt, relevant ist. Nitschs transgressive Performances beispielsweise, lassen sich als Erforschung körperlich-ritueller Gesten und der sakralen Bedeutung des Körpers in Liturgie und Mystik lesen.62 Durch den Aspekt der Integration von Fäkalien, Blut und rohem Fleisch wird zugleich der Blick auf die physische Existenz und Gebunden61 Für eine vertiefende Einführung in die Arbeiten Nitschs und des Wiener Aktionismus, vgl. BRAUN, Kerstin: Der Wiener Aktionismus, Wien 1999. 62 Vgl. BRAUN 1999. Philip Ursprung hebt zudem die enge Verbindung zum Katholizismus hervor, vgl. URSPRUNG, Philip: ‚Catholic Tastes‘: hurting and healing the body in Viennese Actionism, in: JONES, Amelia, STEPHENSON, Andrew (Hg.): Performing the Body/Performing the Text, London, New York 1998, S. 138152.

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heit des Menschen gelenkt. Ein eher skulpturales Beispiel für die Verhandlung der Schnittstelle Religion und Körper ist Paul Thek mit seinen Mitte der 1960er Jahre entstandenen Meat Pieces und Technological Reliquaries: In durchsichtigen Kuben aus Plastik, die auf Sockeln platziert sind, liegen aus Wachs geformte, äußerst veristisch anmutende Fleischstücke. Mit diesen skulpturalen Objekten verbindet Thek die Tradition des Reliquienkultes und des Votiv-Kultes mit Fragestellungen zur Körperlichkeit des Menschen in Technik und Medizin.63 Weigel hebt hervor, dass gerade Performances rituelle Aspekte oft weniger aus provozierenden Gründen aufgreifen. Vielmehr gehe es darum, „verdeckte, vergessene und verschwiegen weiterwirkende Elemente einer religiös grundierten Opferlogik der modernen, scheinbar säkularen europäischen Kultur sichtbar zu machen“64. Der Körper wird somit in der Kunst nicht nur als ‚heiliger‘ Körper verhandelt; er wird auch als Mittler zum Heiligen reflektiert und auf mit ihm ausgeführte rituelle Handlungen, ihre teils verdeckten religiösen Hintergründe und säkularen Folgeformen befragt. So werden beispielsweise religiöse Opfer in den meisten Religionen durchgeführt und sind oft eng an einen Körper gekoppelt, sei es als zu opfernder Körper oder als der das Opfer darbringende Körper.65 Indem sie performative, kultische und rezeptive Aspekte von Körperlichkeit mit Bezug zu religiösen Symbolen und Kulten ausloten, verdeutlichen die gewählten Beispiele exemplarisch, dass dem Körper in der Erfahrung von und Annäherung an Heiliges eine zentrale Stellung zukommt und dass die Kunst sich 63 Beim Votivkult war es üblich, seine Bitten beispielsweise mit aus Wachs geformten Körperteilen zu unterstreichen, die Votivgabe wird zum körperähnlichen Stellvertreter des lebendigen Leibes, vgl. KRÜGER-FÜRHOFF, Irmela Marei: Hybride Körper, Marmor- und Wachsskulpturen zwischen Animation und Mortifikation, in: GERCHOW, Jan (Hg.): Ebenbilder. Kopien von Körpern – Modelle des Menschen, Ostfildern Ruit 2002, S. 131-138, S. 132. Zur Einordnung der Technologischen Reliquiare sowie für einen strukturierten Überblick zu Theks Werk, vgl. WITTMANN, Philipp: Paul Thek – Vom Frühwerk zu den „Technologischen Reliquiaren“. Mit einem Verzeichnis der Werke 1947-1967 (Diss. Bonn 2004), Bonn 2004, S. 130-134. Für eine fundierte Aufarbeitung von Theks situativen Installationen vgl. FRANKE, Marietta: „Work in Progress – Art is Liturgy“ Das historisch-prozessuale und betrachterbezogene Ausstellungskonzept von Paul Thek (Diss. Bonn 1993), Frankfurt am Main. 64 WEIGEL, Sigrid: Schauplätze, Figuren, Umformungen. Zu Kontinuitäten und Unterscheidungen von Märtyrerkulturen, in: Dies. (Hg.): Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern, München 2007, S. 11-37, S. 34. 65 Zur Geschichte des religiösen Opfers vgl. BURKERT, Walter: Anthropologie des religiösen Opfers: Die Sakralisierung der Gewalt, 2. Aufl., München 1987.

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mit dieser Stellung auseinandersetzt. Dem Körper wird somit als Schwelle zum Heiligen auch in der vorliegenden Arbeit besondere Beachtung geschenkt. In Kapitel 2.1.4 werden die zentralen Parameter dieser Verbindung noch einmal konzentriert betrachtet. Da sich sowohl Aspekte einer religiösen Opferthematik als auch die in Kapitel 1.2 beschriebenen Tendenzen zur Hybridisierung individueller Glaubenspraktiken letztlich an der einzelnen Figur, das heißt am Körper verdichten, dient dieser des Weiteren als Auswahlkriterium für die zu analysierenden Positionen. Sowohl die beschriebene Hinwendung zum Körper als auch die eingangs genannte, trangsressive Verwendung religiöser Symbolik in der Kunst können also dazu dienen, „in der profanen Kultur die unsichtbar gewordenen Zeichen der Religion lesbar“66 werden zu lassen. Gerade in der Verbindung beider Aspekte, wie Serrano sie mit seinem Piss Christ ausführt, scheint ein vielschichtiges Reflexionspotenzial zu liegen, das es aufzudecken gilt. Die oftmals provokante Neuverortung von religiösen Symbolen verdeutlicht, dass bei der expliziten Verwendung religiöser Symbole in fotografischen Bildern einerseits der jeweilige historische Kontext einbezogen werden muss. Andererseits kann dieser Diskurs auch bildimmanente Ansätze verschleiern, indem er sie, wie im Falle von Serrano, auf den Akt der Provokation an sich reduziert und damit tiefer gehende Annäherungen geradezu verstellt. Aufgrund der zentralen Position des Bildes in den Culture wars wird Piss Christ daher als erste Position der Analysen ausführlich besprochen (Kapitel 3). Auch die für die zweite Analyse ausgewählten Selbstportraits David Nebredas greifen auf die Darstellung des Körpers in Verbindung mit religiösen Symbolen zurück (Kapitel 4). Mehr noch als bei Serrano steht hier die körperliche Erfahrung und die Durchführung ritueller Handlungen im Vordergrund, die religiöse Märtyrerkonzepte aufgreift und reflektiert. Das Heilige und das Mediale – Massenmedien als Orte religiöser Bilder – Religion als Medium 2003 trat Mel Gibson mit seiner groß angelegten Verfilmung The Passion of the Christ in Pasolinis Nachfolge und wurde für seine realistische Darstellungsweise der Leiden Christi wahlweise gelobt und kritisiert.67 An der breiten Rezeption des Films (allein in den ersten Wochen sahen ihn über 30 Millionen Amerikaner), werden zwei weitere Aspekte sichtbar: Zunächst wird deutlich, dass neben der Jahrtausendwende, die ihrerseits eine Auseinandersetzung mit apokalypti66 WEIGEL 2007b, S. 34. 67 The Passion of the Christ, R.: Mel Gibson, USA, Italien 2004, 127 Min. Zur Rezeption, vgl. BELTING 2006, S. 40. Siehe ebenfalls: PLATE, S. Brent (Hg.): Re-Viewing the Passion: Mel Gibson's Film and Its Critics, New York 2004.

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schen Vorstellungen zeitigte, der 11. September 2001 als zeitlicher Einschnitt neue Aufmerksamkeit auf das Thema Religion lenkte.68 Dabei rückt religionsübergreifend insbesondere die Figur des jungen, männlichen Märtyrers ins Blickfeld69 und beeinflusste auch die Rezeption von Mel Gibsons Film. Der real inszenierte Kreuzestod wies ungewollt Parallelen zum religiös motivierten Selbstopfer der Attentäter auf und lenkte den Blick erneut auf die Körperlichkeit der Passion: Das Thema war, wie Hans Belting formuliert, „von der blassen Allegorie in die Wirklichkeit abgestürzt“.70 Die hiermit insinuierte Frage nach der medialen Verhandlung residualer Konzepte körperlich transgressiver Heiligkeitsentwürfe und Märtyrervorstellungen spielt sowohl bei den Selbstportraits David Nebredas als auch – impliziter – in den fotografischen Portraits von Pierre Gonnord eine Rolle. Des Weiteren wird am Beispiel von The Passion of the Christ deutlich, dass religiöse oder religiös motivierte Bilder in den Massenmedien einen großen Verbreitungskanal gefunden haben. Vor Mel Gibsons Film erreichte das explizit missionarisch orientierte Jesus Film Project (1978) weltweit über 197 Millionen Menschen und wurde in hunderte Sprachen übersetzt.71 Das filmische Bild, so Belting, wird „von einem Unterhaltungs-Medium zu einem Medium der Verkündigung“72. Boris Groys und Peter Weibel untersuchten 2008 in Ausstellung und Buch Medium Religion die medialen Interferenzen zwischen Massenmedien, Kunst und Religion: Religiöse Institutionen und religiös motivierte Glaubensgemeinschaften verbreiten ihre Anliegen über Fernsehen, Video, Tageszeitschriften und ikonische Bilder; während sich im privaten Bereich die Glaubensansätze multiplizieren, rückt Religion somit ins Zentrum visueller Kommunikation.73 Groys und Weibel beschreiben gar, dass die Massenmedien in ihren Veröffentlichungs- und Verbreitungsmustern von Neuigkeiten rituelle Strukturen von der Religion übernehmen würden, und Religion im Umkehrschluss ebenfalls als Medium zu verstehen sei:

68 Die Literatur zum Thema ist vielfältig, vgl. etwa GROYS, WEIBEL 2011a, BELTING 2006, S. 36, MACK 2011, S.24. 69 Zu einem Überblick zu verschiedenen Märtyrer-Konzepten durch die Zeiten vgl. WEIGEL, Sigrid: Märtyrer-Porträts von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern, München 2007. 70 BELTING 2006, S. 40. 71 Vgl. BELTING 2006, S. 33 und S. 41. 72 Vgl. BELTING 2006, S. 33. 73 Vgl. GROYS, WEIBEL 2011b, S. 9. Siehe auch BELTING 2006, S. 40.

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„The machinery of disclosure in the mass media today is merely the technical reproduction of the religious ritual of revelation. Religion is an ur-medium always celebrating its return when news is disseminated and believed. […] right from the start, through the demand for repeatability embodied by the ritual, religion was not only bound to media, but was itself a medium: religion as medium complements media as religion.“74

Scheint die Parallelisierung von Massenmedien und Religion über den Aspekt der Offenbarung in diesem Beispiel etwas überdehnt und dem Wunsch nach einem griffigen Titel geschuldet, so wird doch deutlich, dass technische Medien und religiöse Strukturen und Verhaltensmuster eine enge Symbiose eingehen – und sei es nur in der gesellschaftlichen Reflexion. Es scheint mithin überfällig, danach zu fragen, wie das Heilige in fotografischen Bildern verhandelt wird. Lassen sich über rituelle Muster im Umgang mit Inhalten und der Verortung von Bildern religiös-mediale Strukturen erkennen, so liegt es zudem nahe, neben der Befragung fotografischer Bilder auf die Übernahme religiöser Strukturen, religiöse Bilder und Zeichen auf ihre mediale Funktion hin zu befragen. Inwiefern wird das Heilige in fotografischen Bildern als Medium und/oder Anknüpfungspunkt für andere Fragestellungen verwendet? Zugleich wird deutlich, dass sich der fotografische Akt als Konglomerat unterschiedliche Handlungen und Rezeptionsmodi gestaltet, die es auf verschiedenen Ebenen zu betrachten gilt. Die Analysen beziehen somit neben fotografischen Bildern auch deren Verortung in Ausstellungen, Publikationen und den die Bilder umgebenden Diskurs mit ein (vgl. Kapitel 1.4 sowie die Einzelanalysen in Abschnitt II). Zeitgenössische Kunstproduktion Die neue Aufmerksamkeit, die religiösen Strukturen, dem Heiligen und der medialen Verankerung von Religion insbesondere seit der Jahrtausendwende auch im öffentlichen Bewusstsein zukommt, spiegelt sich in der zeitgenössischen Kunstproduktion wider. Die in der Ausstellung Medium Religion versammelten Künstler näherten sich der Thematik meist über eine provokante De- und Neukontextualisierung traditioneller religiöser Ikonografie, um die Wechselwirkungen zwischen Medialität und Religion innerhalb der Kunst zu (Abb. 1.4).75 In gewisser Hinsicht setzen sie somit die transgressiven Tendenzen der 1970/80er Jahre fort, mit einem Schwerpunkt auf medialen Aspekten. Dementsprechend gilt es, auch bei der Analyse fotografischer Bilder und ihrer Referenzen auf religiöse Ikonografien sowohl die affektiven Konsequenzen eines solchen Verfah-

74 GROYS, WEIBEL 2011b, S. 9. 75 Vgl. GROYS, WEIBEL 2011b, S. 9.

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rens als auch deren enge Verflochtenheit mit medialen Aspekten in den Blick zu nehmen.76 Das Projekt 100 artists see God entstand als Resultat der Medienberichterstattung nach dem 11. September 2001: John Baldessari und Meg Cranston baten zeitgenössische Künstler um Werke, die sich mit Vorstellungen von Gott auseinandersetzen. Die Ausstellung präsentierte ein Kaleidoskop verschiedenster Interpretationen des Göttlichen und des Selbst.77 Wie S. Brent Plate hervorhebt, wird insbesondere in der Vielfalt unterschiedlicher Formgebungen deutlich, dass traditionelle Ikonografien nicht nur neu oder dekontextualisiert werden, sondern sich über ikonoklastische Tendenzen hinaus auch interreligiös überlagern und vermengen – eine Tendenz, für die er den Begriff „iconomash“78 verwendet. Diese Tendenzen der formalen und ästhetischen Überlagerung und Vermischung spiegeln die hybride Gestaltung der Glaubenspraxis, die nicht zuletzt auf dem Boden der medialen Globalisierung mit ihrem interkulturellen und interreligiösen Informationsfluss entsteht. Der Blick auf das Heilige als einen Kern religiöser Erfahrung, dessen Interpretation sich zwar oftmals am Christentum orientiert, zugleich jedoch Blicke auf überreligiöse Tendenzen erlaubt, scheint diesen multiplen visuellen Annäherungen Rechnung zu tragen. Es gilt, fotografische Bilder neben impliziten Bezügen auf Heiliges und der expliziten Verwendung von Symbolen auch auf offenere und veränderte Formen selbiger zu befragen. Auch der Ort des Religiösen wird in der Kunst reflektiert. Neben der Beschäftigung mit dem Ort des Glaubens als „kulturgeschichtliche[m] Phänomen“ widmen sich auch zeitgenössische Künstler beispielsweise der Produktion von Kirchenfenstern.79 Wie Wolfgang Ullrich hervorhebt, werden dabei, wie bei

76 Den neuen transgressiven Tendenzen spielt zudem der Kunstmarkt in die Hände, der, wie Wolfgang Ullrich hervorhebt, Positionen präferiert, die sich außerhalb des „guten Geschmacks“ bewegen und so die Normen der Kunst neu auszutarieren suchen. Ullrich betont, dass sich in dieser Präferenz des als außergewöhnlich wertvoll Gesetzten die Übernahme religiöser Strukturen, der Sehnsucht nach Erhabenheit und dem ‚Anderen‘ spiegelt. Vgl. ULLRICH 2011, Kapitel Ikonen des Kapitalismus – Moderne Kunst zwischen Markt und Transzendenz, S. 90-113. 77 Vgl. Ausst.Kat.: 100 artists see God, The Jewish Museum, San Francisco; Laguna Art Museum, Laguna Beach; Contemporary Art Center of Virginia, Virginia, 2004/2005. 78 PLATE 2009, S. 210. 79 Siehe Gerhard Macks Kommentar zur künstlerischen Produktion von Kirchenfenstern der letzten Jahre, MACK 2011, S. 26. Es ist allerdings hervorzuheben, dass die künstlerische Gestaltung von Kirchenfenstern als Phänomen keinesfalls neu ist, wie Mack insinuiert, sondern lediglich bestehende Traditionen fortsetzt.

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Abb. 1.4: Alexander Kosolapov, This is my body, 2002 und This is my Blood, 2002, Leuchtkästen, je 82 x 150 cm, Ausstellungsansicht, Medium Religion, ZKM Karlsruhe, 2008/2009

spielsweise in der Diskussion um das Richter-Fenster im Kölner Dom und in Richters formalen Entscheidungen für Abstraktion und computergenerierten Zufall, kunstreligiöse Erwartungen an die Kunst reaktiviert.80 So gehe es auch in zeitgenössischen Kunsttendenzen oftmals darum, „eine transzendente Dimension der Kunst gegen einen Umgang mit ihr zu retten, der sich auf zu ängstlich-plumpe Weise an religiösen Ritualen orientiert. […] Beides, die Werke wie ihr Ausstellungsraum, sind also von Verweigerungen gekennzeichnet, die einer Angst vor Profanität entspringen und, umgekehrt, eine Sehnsucht nach einer Kunst verraten, die sich möglichst weit den Eigenschaften und Fähigkeiten einer Religion annähert, um Sinn zu stiften, Heil zu bringen, Transzendenz zu ermöglichen.“81

Es ist zu überlegen, ob nicht auch die Ausstellung von Kunst in sakralen Räumen82 sowie die zunehmende Transformation religiöser Gebäude in ganz- oder

80 Vgl. ULLRICH 2011, S. 23. 81 ULLRICH 2011, S. 9f. 82 Als fundierte Analyse zu Kunst in sakralen Räumen, vgl. MEYER ZU SCHLOCHTERN, Josef: Interventionen. Autonome Gegenwartskunst in sakralen Räumen, Paderborn 2007.

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teil-säkulare Ausstellungsräume Ausdruck einer solchen Haltung ist. Die Besonderheit und Historie der langjährigen religiösen Praxis verleiht diesen Räumen eine auratische Aufladung, die sie vom reinen white cube des Museums unterscheidet. Zugleich stellt sich hier verschärft und auch für die Kunst die Frage nach den potentiellen, metaphorischen und tatsächlichen Orten des Religiösen und den an diese gekoppelten modalen Wirkungsweisen und Wahrnehmungsmustern. Letztere werden als Praktiken der Inszenierung von Heiligkeit auch seitens der Kultur- und Sozialwissenschaften erforscht.83 Ebenfalls zu nennen ist das 2013 produzierte Themenheft der kritischen berichte zum Heiligen, das den Blick verdienstvoll auf die räumliche Anbindung des Heiligen lenkt.84 Zugleich greift jedoch die vorgenommene Beschränkung auf traditionelle religiöse Orte etwas zu kurz. Die vorliegende Arbeit integriert daher die räumlich orientierten und handlungsbasierten Ansätze zum Heiligen (vgl. Kapitel 2.1), weitet in den Analysen den Blick jedoch auf das fotografische Bild aus. Wie wird der fotografische Bildraum als Reflexions- und Visualisierungsraum sakraler Wertigkeit und Inhalte inszeniert? Wie und wo wird das Foto selbst präsentiert und rezipiert? Ausstellungen – Forschungsstand In der wissenschaftlichen Forschung und im Ausstellungskontext wird die Verschränkung von Kunst und Religion und die Verflechtung der Welt mit religiösen Deutungsmustern speziell seit der Zeit um die Jahrtausendwende wieder vermehrt in den Blick genommen.85 Ausstellungen, die sich dem Geistigen oder Transzendenten bereits in den 1980er Jahren widmeten, sind Zeichen des Glaubens, Geist der Avantgarde. Religiöse Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, (1980, Schloss Charlottenburg, Berlin) und Gegenwart Ewigkeit. Spuren des Transzendenten in der Kunst unserer Zeit (1990, Martin-Gropius-Bau, Ber-

83 Vgl. SMITH, Jonathan Z.: To Take Place. Toward a Theory in Ritual, Chicago, London 1987. Siehe ebenfalls Kapitel 2.1.2 für eine kurze Zusammenfassung dieser Tendenzen. 84 kritische berichte. Zeitschrift für Kunst und Kulturwissenschaften, 41, 2013, H. 2. Ebenfalls zu nennen ist die von Anna Minta im März 2018 organisierte Tagung „Raumkult – Kultraum. Architektur und Ausstattung in (post)traditionalen Gemeinschaften“ (Katholische Privatuniversität, Linz). 85 Vgl. MACK 2011, S. 21. Da sich sehr viele Ausstellungen dem Religiösen im weitesten Sinne widmen, setzt der folgende Überblick exemplarische Highlights. Dies gilt auch für den Forschungsstand, der an dieser Stelle lediglich knapp skizziert wird, um in den jeweiligen Analysekapiteln ausführlicher vorgestellt und verhandelt zu werden.

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lin).86 Ausstellungen um die Jahrtausendwende speisten sich aus Endzeitvorstellungen, wie etwa Heaven in der Kunsthalle Düsseldorf (1999) oder die Ausstellung Seeing Salvation die im Jahr 2000 in London gezeigt wurde. 2002 nahm das ZKM in Karlsruhe unter dem Titel Iconoclash. Beyond the Image Wars in Science, Religion and Art die Rolle und affektive Wirkung des Bildes genauer in den Blick. Das Wallraf-Richartz-Museum Köln zeigte mit Ansichten Christi 2005 eine Ausstellung, die, ebenso wie Gott Sehen. Risiken und Chancen religiöser Bilder 2005/2006 in Wilhelmshaven, auch zeitgenössische Positionen integrierte, wobei beide lediglich christliche Bildtraditionen aufgriffen. Das Centre Pompidou öffnete 2008 mit Traces Du Sacré87 den Blickwinkel etwas und untersuchte, wie und in welcher Form das Heilige als Kerngedanke des Religiösen in der Kunst thematisiert wurde. Aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums des Zweiten Vatikanischen Konzils folgte die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf 2015 einer Einladung der Deutschen Bischofskonferenz und zeigte mit The Problem of God künstlerische Positionen insbesondere der letzten 25 Jahre, welche auf christliche Bildtraditionen referieren, diese kritisch reflektieren und teils in einen säkularen Kontext überführen.88 Während diese Ausstellungen auch Fotografien integrierten, widmeten sich nur wenige explizit der Fotografie, obwohl fotografische oder filmische Bilder einen Großteil der Bildproduktion zum Thema ausmachen. Zwei Ausstellungen sind hier zu nennen: Die Deichtorhallen in Hamburg zeigten 2003/2004 Corpus Christi. Christusdarstellungen aus drei Jahrhunderten Fotografie und die DZ 86 Die Ausstellung Glaube. Hoffnung. Liebe. Tod. Von der Entwicklung religiöser Bildkonzepte (Albertina, Kunsthalle Wien, 1995/1996) untersuchte vier Themenkomplexe, während Luther und die Folgen für die Kunst (Hamburger Kunsthalle, 1983) Verbindungen zum reformatorischen Bildverständnis zog. Siehe hierzu ebenfalls BÖHM 2011, S. 101. 87 Die Ausstellung reiste anschließend unter dem Titel Spuren des Geistigen zum Haus der Kunst in München. 88 Eine umfassendere Auflistung von Ausstellungen zum Thema Bild, Kunst und Kirche findet sich in SPANKE, Daniel (Hg.): Gott sehen: Risiko und Chancen religiöser Bilder (ersch. anl. d. gleichn. Ausst., Kunsthalle Wilhelmshaven; Garnisonkirche, Wilhelmshaven; Kirche St. Nicolai, Wittmund u.a., 2005/2006) Wilhelmshaven 2006, S. 100-103. Für eine einschlägige Zusammenfassung der 1980er Jahre bis zum Millenium siehe zudem MENNEKES, Friedhelm: Zwischen Zweifel und Entzücken. Kunst und Kirche im 20. Jahrhundert, in: Stimmen der Zeit. Die Zeitschrift für christliche Kultur, 217, 1999, H. 9, S. 630-642. Vier zeitnahe Ausstellungen stellt ZIESE, Maren: Gott zwischen Kreuz und Konstruktion. Vier Religions-Ausstellungen, in: Kunstforum International, 190, 2008, S. 197-217, vor.

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Bank Kunstsammlung fasste das Thema 2012/2013 unter dem Titel Religion und Riten etwas genereller. Seitens der Theologie wie der Religionswissenschaften gibt es explizit positive Annäherungen an das Spannungsfeld zeitgenössische Kunst und Religion. Dies sowohl in Ausstellungsprojekten, wie der über viele Jahre von Friedhelm Mennekes betriebenen Kunststation St. Peter in Köln, als auch in Zeitschriften, wie etwa Kunst und Kirche oder Tà katoptrizómena. Das Magazin für Kunst, Kultur, Theologie, Ästhetik, das von dem Theologen und Kulturwissenschaftler Andreas Mertin mitherausgegeben wird.89 Hervorzuheben ist auch das Center for Religion and Media an der New York University, das Religionsforschung in Verbindung mit Cultural Studies fördert. Diese Ansätze liefern wichtige Impulse für die vorliegende Arbeit, ihre meist explizit katholische Fundierung gilt es jedoch stets kritisch zu reflektieren. Ergänzend sind einige stärker interdisziplinär ausgerichtete Sammelbände zu nennen. So reflektieren etwa Die Kunst und die Kirchen (1984) sowie Kunst. Raum. Kirche. von 2005 explizit die Interferenzen zwischen christlichen Themen und Kunst.90 Besonders hervorzuheben ist der Band Re-Enchantment.91 Die Stärke des von James Elkins initiierten und herausgegebenen Buches liegt in der Mischung aus transkribierter Diskussion und nachgereichten Kommentaren, deren offene Form es ermöglicht, ein breites Spektrum von Facetten des Religiösen in der Kunst zu skizzieren und neue Tendenzen in einer Art Forum zu diskutieren. Gerade die multiperspektivische Ausrichtung führt jedoch auch dazu, dass die einzelnen Themen meist lediglich angerissen und nicht weiter ausgeführt 89 Es handelt sich um ein online-Magazin: http://www.theomag.de/ (30.07.2018). Die internationale katholische Zeitschrift Communio widmete 2006 zudem einen Band der Frage nach der „Wiederkehr der Religion in der Kunst?“, in dem auch ein lesenswerter Aufsatz von Johannes Rauchenberger enthalten ist: RAUCHENBERGER, Johannes: Was interessiert Gegenwartskunst an der Bildwelt des Christentums?, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio, 35, 2006, H. 5, S. 492-510. 90 Vgl. BECK, Rainer, VOLP, Rainer, SCHMIRBER, Gisela (Hg.): Die Kunst und die Kirchen. Der Streit um die Bilder heute, München 1984 und LUDWIG, Matthias (Hg.): Kunst. Raum. Kirche. Eine Festschrift für Horst Schwebel zum 65. Geburtstag, Lauertal 2005. 91 ELKINS, MORGAN 2009. Der Band bringt Religionswissenschaftler wie S. Brent Plate und David Morgan mit Kunstwissenschaftlern wie James Elkins und Boris Groys ins reflektierte und nachträglich kommentierte Gespräch über zeitgenössisches Kunstschaffen. Insbesondere für den deutschsprachigen Raum relevant sind auch BELTING 2006; GROYS, WEIBEL 2011a; sowie STOCK, Alex: Keine Kunst. Aspekte der Bildtheologie, Paderborn 1996.

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werden können. Weitere nennenswerte interdisziplinäre Publikationen zur Thematik sind Erscheinungen des Sakralen (2011) sowie der Sammelband Kunst und Religion im Zeitalter des Postsäkularen (2012).92 Letzterer vereint im ersten Teil fundierte Schwerpunktaufsätze,93 die im zweiten Teil mit einem regionalen Blick auf die Kunstproduktion in der Schweiz ergänzt werden – eine interessante Herangehensweise, Theorie und Praxis miteinander zu verknüpfen; insgesamt erscheint der erste Teil jedoch breiter andwendbar als der zweite. In eine ähnliche Richtung zielt Spektakel der Transzendenz. Kunst und Religion in der Gegenwart (2017), basierend auf einer Ringvorlesung an der Universität Saarbrücken (2015), indem die Publikation Aspekte von Theorie und Praxis reflektiert und Beiträge aus interdisziplinärer Perspektive zusammenführt.94 Auffällig ist, dass die aktuelle Annäherung an Formen des Religiösen in Kunst und Populärkultur sowie insbesondere auch an das Heilige als Untersuchungsschnittstelle seitens der kunstwissenschaftlichen Forschung erst langsam erfolgt,95 während diese Themen in den Kultur- und Filmwissenschaften extensiv diskutiert werden. So beschreibt beispielsweise Kelton Cobbs Blackwell Guide to Theology and Popular Culture (2005) ein breites Spektrum an religiösen Strukturen in der Populärkultur und entwickelt informierte Methoden zu ihrer Analyse.96 Insbesondere in den Filmwissenschaften wird zudem die Schnittstelle 92 Siehe BÖHM, LIVINGS, REUCHER 2011a, sowie darin Dorothee Böhms fundierter Aufsatz zur Wanderung des Motivs der Pieta in der zeitgenössischen Kunst und Populärkultur, vgl. BÖHM 2011. Des Weiteren HENKE, Silvia, SPALINGER, Nika, ZÜRCHER, Isabel (Hg.): Kunst und Religion im Zeitalter des Postsäkularen. Ein kritischer Reader, Bielefeld 2012. 93 Etwa RAUCHENBERGER, Johannes: Wie inspiriert eigentlich christliche Bildlichkeit die Kunst der Gegenwart?, in: BÖHM 2011. Des Weiteren HENKE, Silvia, SPALINGER, Nika, ZÜRCHER, Isabel (Hg.): Kunst und Religion im Zeitalter des Postsäkularen. Ein kritischer Reader, Bielefeld 2012, S. 21-42. 94 Vgl. BARBOZA, Amalia, HÜTTENHOFF, Michael, LORENZEN, Stefanie u.a. (Hg.): Spektaktel der Transzendenz. Kunst und Religion in der Gegenwart, Würzburg 2017. An interdisziplinären Annäherungen an das Thema weiterhin zu erwähnen sind zudem die Ringvorlesung „Medien und Sakralität: Phänomene anderer Zeitlichkeit in der transkulturellen Moderne“, Universität Duisburg-Essen (WS 2017/2018) sowie der Doktorandenworkshop „Holy Shit. Das Heilige in Literatur und Kunst“ (Mai 2017). 95 Verwiesen sei an dieser Stelle neben den teils kunstwissenschaftlichen Beiträgen in den genannten Sammelbänden auf den Studienkurs des Warburg-Hauses 2018 zum Thema der Medialität des Sakralen. 96 Vgl. COBB 2005, darin insbesondere das Kapitel „Theology and Culture“, S. 72-100.

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zum Sakralen intensiv untersucht. Nadine Böhm reflektiert in einer fundierten kultur- und religionsphänomenologischen Untersuchung die Übernahme thematischer Motive in Blockbuster Filmen (Sakrales Sehen, 2009).97 Ihre Beschreibung der Kulturtechnik der Sakralisierung bietet gute Anknüpfungspunkte zu der hier formulierten Fragestellung.98 Ebenfalls zu nennen ist Stefanie Knauß, die aus einer interdiszplinären Perspektive zwischen Theologie und Filmwissenschaften die Ähnlichkeiten immersiver Erfahrungsstrukturen von Film und Religion in den Blick nimmt (Transcendental Bodies, 2008).99 Besonders hervorzuheben ist ihre strukturierte Aufarbeitung der Bedeutung des Körpers innerhalb der christlichen Religion (vgl. Kapitel 2.1.4), insgesamt ist ihre stark theologisch orientierte Herangehensweise jedoch für die vorliegende Arbeit kritisch zu betrachten. Werden demnach innerhalb der Kunstströmungen der letzten Jahre Film und Video als Medien, in denen sakrale Tendenzen aufgegriffen werden, explizit untersucht,100 so bleiben fotografische Bilder gleichzeitig seltsam unbeachtet, obwohl sie doch einen Großteil der – nicht nur künstlerischen – Bildproduktion ausmachen und gewissermaßen das Fundament für die späteren zeitbasierten Bildmedien liefern. Literatur zum Thema bietet insbesondere der Katalog zur oben genannten Ausstellung Corpus Christi, der jedoch mit der Fokussierung auf den christlichen Körper nur ein Fragment der vielfältigen Ansätze zum Heiligen aufgreift.101 Des Weiteren finden sich einige Ausstellungen, Katalogtexte und Essays zur Frühzeit des Mediums, die frühe okkulte Tendenzen aufarbeiten oder spirituelle Facetten von Abstraktion in Analogie zu Kandinsky nachgehen und auf deren Rezeption durch spätere Fotokünstler verweisen.102 Als Paradefigur im Spannungsfeld Religion-Fotografie ist zudem Arnulf Rainer zu nennen, dessen fotografische Selbstportraits intensiv auf religiöse Themen und Strategien unter97 Vgl. BÖHM 2009. 98 Vgl. insbesondere Kapitel 2.1.3. 99 Vgl. KNAUSS, Stefanie: Transcendental Bodies. Überlegungen zur Bedeutung des Körpers für filmische und religiöse Erfahrung, Regensburg 2008. 100 Als wohl prominenteste künstlerische Position werden aus dieser Perspektive die Arbeiten des Videokünstlers Bill Violas genannt, vgl. PLATE 2009, S. 209. 101 Vgl. PEREZ, Nissan N., SEYMOUR-URE, Kirsty (Hg.): Corpus Christi. Christusdarstellungen in der Fotografie (ersch. anl. d. gleichn. Ausst., Deichtorhallen, Hamburg, 2003/2004), Heidelberg 2003. 102 Siehe etwa KRAUSS, Rolf H.: Das Geistige in der Fotografie, oder: Der fotografische Weg in die Abstraktion. Quendenfeldt – Coburn – Bruguière, in: JÄGER, Gottfried (Hg.): Die Kunst der abstrakten Fotografie, Stuttgart 2002, S. 103-137. Diese werden in Kapitel 2.2.3 aufgegriffen.

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sucht werden, wobei jedoch zumeist der Aspekt der Übermalung der Fotografien im Vordergrund steht.103 Darüber hinaus liefern Katalogtexte zu einzelnen Fotografien,104 Teilaspekte in Aufsätzen zum Gesamtwerk eines Fotografen,105 oder Essays, die sich mit religiösen Aspekten befassen, schwerpunktmäßig aber anders ausgerichtet sind als das geplante Projekt, erste Anhaltspunkte106. Die besondere Position der Fotografie wird durchaus erkannt, so schreibt etwa der Kurator und Kunsthistoriker Josh Decter „photography featuring a distinctly Christian iconography, may be considered as both belonging to – and making a departure from – [the] historical trajectory of religious representations.“107 Eine tiefgreifende Untersuchung unterschiedlicher zeitgenössischer fotografischer Annäherungen an Heiligkeit und Sakralität sowie eine genaue Analyse der fotografischen Mittel und Ansätze mittels derer diese umgesetzt werden, fehlt jedoch bislang.

1.4 A UFBAU

DER

A RBEIT

Insbesondere vor dem Hintergrund, dass religiöse Motivik oftmals über und durch massenmediale und öffentliche Bilder vermittelt wird, scheint es relevant, fotografische Bilder auf ihr Verhältnis zu religiösen Tendenzen zu prüfen. Das Heilige als Denkfigur bietet dabei einen Ansatz, der einerseits überreligiöse Tendenzen und Mischformen einschließt und sich andererseits konkret sowohl auf konzeptionell-strukturelle als auch auf kulturell fixierte formale Aspekte hin

103 Vgl. etwa MÖNIG, Roland: Sieg aus Niederlage. Zu zwei Arbeiten Arnulf Rainers, in: SPANKE, Daniel (Hg.): Gott sehen: Risiko und Chancen religiöser Bilder (ersch. anl. d. gleichn. Ausst., Kunsthalle Wilhelmshaven; Garnisonkirche, Wilhelmshaven; Kirche St. Nicolai, Wittmund u.a., 2005/2006) Wilhelmshaven 2006, S. 74-77. Da die Position Rainers bereits umfassend aufbereitet wurde und der explizit formulierte Akt der Übermalung den hier angesetzten Radius überschreitet, findet diese Position keine weitere Beachtung innerhalb der Analysen. 104 Vgl. etwa Ausst.Kat.: Traces du sacré, Centre Pompidou, Paris, 2008. 105 Vgl. RUBIO, Oliva María: Andres Serrano. Salt on the wound, in: Ausst.Kat.: Andres Serrano: El dedo en la llaga, Centro-Museo Vasco de Arte Contemporáneo, Vitoria, Artium, 2006, S. 180-184, S. 181. 106 Vgl. HEARTNEY, Eleanor: Postmodern Heretics, in: Art in America, 85, 1997, H. 2, S. 33-39. 107 DECTER, Joshua: Andres Serrano, in: Journal of Contemporary Art, 3, 1990, H. 2, S. 7-16, S. 12.

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untersuchen lässt und dergestalt die Rede von der Wiederkehr der Religionen gewissermaßen kondensiert und greifbarer macht. Die vorliegende Untersuchung widmet sich demnach der Frage, wie Konzepte von Heiligkeit und Sakralität in fotografischen Bildern im künstlerischen Kontext aufgegriffen und umgesetzt werden. ‚Konzept‘ wird dabei verstanden als Zusammenschluss inhaltlicher Ansätze, deren visueller Darstellung und ihrer theoretischen Verankerung. Diese drei Bereiche bilden dementsprechend die Schwerpunkte der Arbeit: 1.

2.

3.

Welche inhaltlichen Auslegungen des Heiligen und Auseinandersetzungen mit Heiligkeit (affirmativ, provokativ etc.) werden in den Fotografien verhandelt? Welche (spezifisch fotografischen) ästhetischen, theoretischen und technischen Strategien wählen die Künstler, um Heiligkeit zu visualisieren? Rekurrieren sie auf signifikante modale Formen der Repräsentation und Inszenierung des Heiligen? Gibt es theoretische oder strukturelle Parallelen zwischen dem Heiligen und dem Medium Fotografie, wie etwa Konzepte der Einschreibung über Berührung oder das Verhältnis von Zeigen und Verbergen?

Untersucht werden diese Fragen exemplarisch an fotografischen Bildern von Andres Serrano, David Nebreda und Pierre Gonnord, die jeweils den Körper an zentraler Stelle integrieren. Methodisch sind sowohl kunst- und religionswissenschaftliche, medienhistorische und -theoretische als auch kultursemiotische und rezeptionsästhetische Ansätze relevant. Teil I der Arbeit widmet sich zunächst dem Ziel, ein tragfähiges und historisch wie theoretisch fundiertes Analysekonzept zu entwickeln, mittels dessen sich fotografische Bilder sinnvoll auf Verhandlungen des Heiligen befragen lassen (Kapitel 2). Die Perspektive dieser Untersuchung ist eine abendländische, deren Ausgangspunkt zwar das Christentum bildet, die sich jedoch ebenso anderen, hybriden Glaubenskonzepten öffnet. Neben dem expliziten Aufgreifen und Verweisen auf die visuelle Motivik des Christentums erscheinen somit implizitere künstlerisch-fotografische Konzepte von Heiligkeit von Interesse. Im Hauptteil der Arbeit (Teil II) wird das Analysekonzept an den ausgewählten Positionen in detaillierten Untersuchungen angewandt, überprüft und jeweils mit einem ersten Fazit abgeschlossen. Auf dieser Basis werden die Analyseergebnisse mit Blick auf die Leitfragen der Arbeit abschließend (Teil III) in Form einer Synthese zusammengeführt, ausgewertet und ergänzt, um so eine Basis zu schaffen, auf der perspektivisch weitere fotografische Positionen analysiert werden können.

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Bietet sich das Heilige als Denkfigur besonders an, um den vielfältigen religiös orientierten Schattierungen in der Kunst gerecht zu werden, so gilt es doch zunächst, den Begriff des Heiligen genauer zu konturieren (Kapitel 2.1): Nach einer etymologischen Herleitung (Kapitel 2.1.1) erfolgt daher die definitorische Annäherung an ‚das‘ Heilige in Kapitel 2.1.2 über eine tiefgehende Analyse theoretischer Konzepte zum Heiligen, die das gesellschaftliche Verständnis des Begriffs maßgeblich beeinflusst haben, in den Blick nehmen oder spiegeln. Dies sind zum einen religionsphänomenologische und religionswissenschaftliche Klassiker wie Rudolf Otto, der in seiner epochalen Studie zum Heiligen die irrationalen Seiten des Begriffs beleuchtet,108 und Mircea Eliade, der mit seinen Erläuterungen zu Hierophanien als Manifestationen des Heiligen im Profanen ein einflussreiches Werk vorlegte.109 Zum anderen sind jüngere religionssoziologisch, philosophisch und kulturwissenschaftlich orientierte Ansätze relevant, wie etwa Jonathan Z. Smiths Analysen zum Sakralraum und Formen der Sakralisierung,110 Giorgio Agambens Untersuchung der Figur des homo sacer,111 aus der sich nähere Erkenntnisse zur Struktur des Heiligen ablesen lassen oder Magnus Schlettes Verständnis dessen, was dem Menschen heilig ist als „letzte Werte“112, das er dem alltäglichen Sprachgebrauch entnimmt. Um die Rolle des Körpers und die christliche Personalisierung Gottes als Bezugsgröße näher zu konturieren, wird zudem die theologische Perspektive Saskia Wendels hinzugezogen.113 In Kapitel 2.1.3 werden die Ansätze zu einer praktikablen Definition zusammengeführt, die nicht etwa auf der Annahme der Existenz eines Heiligen als solchem basiert, als vielmehr auf der Existenz verschiedener theoretischer Konzepte zum Heiligen, die sich in der Auseinandersetzung mit dem Begriff prägend auswirken. Um die verschiedenen kulturellen Ausformungen, die diese Interpretationen des Heiligen in der Praxis ausbilden, sprachlich von theoretisch-religiösen Konzeptionen von Heiligkeit differenzieren zu können, wird der Begriff des Sakralen 108 Vgl. OTTO 2014. 109 Vgl. ELIADE, Mircea (1957): Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt am Main, Leipzig 1998. 110 Vgl. SMITH 1987. 111 Vgl. AGAMBEN, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002. 112 SCHLETTE, Magnus: Das Heilige in der Moderne, in: THIES, Christian (Hg.): Religiöse Erfahrung in der Moderne. William James und die Folgen, Wiesbaden 2009, S. 109-132, S. 112. 113 Vgl. WENDEL, Saskia: Gott als Inbegriff der Heiligkeit. Eine Annäherung an eine umstrittene Bestimmung Gottes, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio, 40, 2011, H. 2, S. 163-176.

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genauer beleuchtet und vom Heiligen ausdifferenziert: Das Sakrale wird in der vorliegenden Arbeit verstanden als Jenes, in dem Heiliges sich vermeintlich zeigt oder in dem es über kulturelle Produktion bezeichnet, mithin zur Erscheinung gebracht wird. Eine derartige Herangehensweise wird durch den Sprachgebrauch und die etymologische Herleitung insinuiert, jedoch nicht immer getroffen. Vielmehr werden die Begriffe, bis auf wenige Ausnahmen, die eine ähnliche Herangehensweise aufweisen, oftmals synonym verwendet.114 Die zwischen den Begriffen entstehende Differenz ist relevant, da sie erlaubt, verschiedene Formen der Repräsentation, Produktion und vermeintlichen Einschreibung von Heiligkeit aufzuzeigen, die sich modal in einem Spannungsfeld von /bezeichnen/ und /bezeichnet werden/, verstanden als aktive und passive Handlungs- und Manifestationsprozesse, ereignen. Kapitel 2.1.4 verdeutlicht die Relevanz des Körpers für diese Prozesse. Dazu werden unter den Stichworten des heiligen Körpers, des ritualisierenden und ritualisierten Körpers sowie der körperlich fundierten Erfahrung des Heiligen zentrale Parameter der Auseinandersetzung des Menschen mit dem Heiligen zusammengefasst. Auf dieser Basis dient der Körper als zusätzliches Auswahl- und Analysekriterium für die in Teil II zu untersuchenden fotografischen Positionen. Fotografische Bilder bewegen sich in einer ähnlichen Konstellation von passiven und aktiven Zeichenprozessen, wie der intensive semiotische Diskurs verdeutlicht: Fotografien werden als Einschreibung der Realität verstanden, können Symbole im Bild festhalten und selbst zu Symbolen werden, sie können Wirklichkeiten jedoch auch konstruieren. Mag die Verbindung von Fotografie, Heiligkeit und Sakralität auf den ersten Blick ungewöhnlich scheinen (schließlich trifft hier das essentiell Über-Irdische und gewöhnlich Unsichtbare auf ein Medium, das die Abbildung des Gegenständlichen, Sichtbaren fokussiert), so widmet sich Kapitel 2.2 gewissermaßen mit dem Scharnier einer semiotischen ‚Brille‘, die das Heilige und Sakrale strukturell mit den Fotografien verbindet, den fundamentalen Kontaktpunkten zwischen Medium und Thema. Mit Blick auf Symbol, Ikon und Index werden drei bekannte historische Beispiele aus der Frühzeit der Fotografie um 1900 beleuchtet und auf ihre theoretischen Implikationen für die Schnittstelle Heiligkeit/Sakralität-Fotografie abgetastet: Die Passion (1998) des Fred Holland Day liefert Hinweise zur fotografischen Übernahme religiöser Symbole und Motive (2.2.1), das Beispiel des Turiner Grabtuchs dient zur Diskussion der Relevanz des Index (2.2.2) und die spiritistische Fotografie der Betrachtung ikonischer Vorstellungsbilder in der Fotografie (2.2.3). In Kapitel 2.3 werden die zuvor gewonnenen Erkenntnisse im Entwurf eines Analysekonzepts zusammengeführt und methodisch an aktuelle Positionen zum „Photo114 Vgl. SPLETT 1971, S. 307; BAHR 1987, S. 64; und BÖHM 2009, S. 12 und S. 14.

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graphische[n]“115 angebunden. Auf diese Weise können verschiedene Formen von Sakralisierungen betrachtet werden, die für das Verständnis der potentiellen Wirkung der Fotografien relevant erscheinen. In dem knappen Exkurs zur Aktualität des Heiligen und den beispielhaft skizzierten Interferenzen von Kunst und Religion wurde deutlich, dass in der Kunst im Allgemeinen vielschichtige strukturelle Übernahmen religiöser Tendenzen stattfinden. Auch fotografische Positionen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigen sich auf vielfältige Weise mit den zahlreichen Schattierungen des Heiligen oder religiösen und spirituellen Konzepten. Das Feld reicht von der Wiederentdeckung des Spiritismus, des Okkultismus und der Aura-Fotografie Anfang der 1960er Jahre (vgl. Kapitel 2.2.3) über im Sinne der Romantik verklärte Landschaftsbilder (Bae, Bien-U, Akiko Kimura, Thomas Wrede), planetare Aufnahmen (Izima Kaoru, Sharon Harper), abstrakte Ansätze (Edgar Lissel) bis hin zu fast dokumentarischer Spurensuche an heiligen Orten (bspw. Reto Camenisch, Roland Fischer, Kenro Izu, Mikhail Rozanov, Edgar Lissel) und der Dokumentation von Glaubenspraktiken (etwa Giorgia Fiorio) und natürlich auch dem expliziten Aufgreifen christlicher Symbolik (Bettina Rheims, David LaChapelle, Renée Cox, Petrina Hicks). Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, einen fokussierten Blick auf das Heilige in seinen expliziten sakralen Ausformungen und impliziten konzeptuellen und strukturellen Übernahmen und Effekten zu werfen. Es soll demnach keine überblicksartige Aufarbeitung dieser Ansätze, Motive und Herangehensweisen geleistet werden. Dennoch finden sich in den einzelnen Analysen vielfältige Bezüge zu weiteren Positionen und Kapitel 6.4 skizziert perspektivisch Bereiche, in denen die Untersuchung lohnend fortzusetzen wäre. Im den Einzelanalysen des Hauptteils der Arbeit (Teils II) wird das in Kapitel 2 entworfene Analysemodell im Close-Reading der ausgewählten Positionen erprobt. Dafür wurden fotografische Werke von Serrano, Nebreda und Gonnord ausgewählt, die seit den 1980er Jahren in den USA und Europa entstanden

115 KRAUSS, Rosalind: Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, München 1998. Zum Begriff siehe auch WOLF, Herta: Vorwort, in: KRAUSS, Rosalind E. (1985): Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, hrsg. von Herta Wolf , Amsterdam, Dresden 2000, S. 9-38, S. 12 und S. 16; und DUBOIS, Philippe: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam, Dresden 1998; sowie das Graduiertenkolleg „Das fotografische Dispositiv“ an der Hochschule für Bildende Kunst, Braunschweig, siehe: http://www.hbk-bs.de/ forschung/graduiertenkolleg-das-fotografische-dispositiv/ (24.07.2018).

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sind116 und die skizzierten Entwicklungen und Fragestellungen exemplarisch zu verdichten scheinen. Untersuchungsgegenstand sind sowohl einzelne Fotografien und Serien als auch Ausstellungen, um einen möglichst vielfältigen Überblick zu gewährleisten und verschiedene Formen von Sakralisierung sichtbar zu machen. In allen Positionen ist der Körper als zentrales Element gegenwärtig. Serranos eingangs vorgestellte Fotografie Piss Christ spielt in den Culture Wars der 1980er Jahre eine wichtige Rolle und greift zugleich die transgressiven wie an der Lebenswirklichkeit orientierten Strömungen der Zeit auf. In der visuellen Ausführung spiegeln sich jedoch auch Anklänge der Werbesprache und einer auf Transzendenz angelegten Ikonografie, wie die Analyse der Arbeit in Kapitel 3 zeigt. Die Selbstportraits des spanischen Fotografen David Nebreda erscheinen auf andere Weise transgressiv und in der Lebenswirklichkeit verankert, indem sie den Körper als Objekt von tiefgreifenden Versehrungen in den Mittelpunkt stellen und mediale und physische Einschreibungsprozesse überlagern. Zugleich bindet Nebreda das eigene Abbild über aufwendige Inszenierungen in multiple, vielschichtig religiös und mythisch aufgeladene Kontexte zurück, die sich jedoch nicht eindeutig zuordnen lassen und fast als Formen des „Iconomash“117 erscheinen. Kapitel 4 geht der visuellen Vehemenz dieser Bilder in ihrer Verhandlung des Realen nach, sucht Nebredas Bildsystem erstmals ausführlich für den deutschen Forschungssprachraum118 zu konturieren und stellt Überlegungen zu der sinnstiftenden Funktion von Selbstportraits ebenso an, wie zu dem fotografischen Bild als orientierender, metaphorischer Raumsetzung. Die Portraits des französischen Fotografen Pierre Gonnord von Menschen am Rande der Gesellschaft wurden 2006/2007 in der Ausstellung Realidades im Museo de Bellas Artes de Sevilla inmitten der ständigen Sammlung gezeigt. Sie knüpfen explizit an malerische Traditionen an, untersuchen jedoch genau über diesen Bezugspunkt das fotografische Bild als Vorstellungsbild und können dergestalt tradierte Konzepte von Heiligkeit hinterfragen und mediale Sakralisierungsstrategien sowie ihre Effekte offen legen. Als Analyseobjekte dienen sowohl einzelne Bilder, ihre 116 Wie Jelle Bouwhuis, Kurator am Stedeleijkmuseum in Amsterdam, formuliert, ist es „often unfeasible to deem artists as part of one geographically defined community, due to the increasing mobility from the middle of the 19th century onwards.“ BOUWHUIS, Jelle: This is not about Africa, this is about Us (ersch. anl. d. gleichn. dreiteiligen Ausst. u. Debatte, Kunsthal Rotterdam Rotterdam; Art Rotterdam, Rotterdam; West Den Haag, Den Haag, 2014), Den Haag 2014, o. S. Der regionale Kontext findet jedoch durchaus in den Analysen Beachtung. 117 PLATE 2009, S. 211. 118 Der Hauptteil der Literatur zu Nebreda ist auf Spanisch, Französisch, Englisch oder Portugiesisch, vgl. den Überblick zum Forschungsstand in Kapitel 4.1.

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Verortung innerhalb der Ausstellung als auch der Katalog und der die Bilder umgebende Diskurs, da in ihnen verschiedene Sakralisierungsformen zum Tragen kommen. Alle drei Analysen stellen vom Objekt ausgehend die eingangs dargelegten Leitfragen zur Verhandlung des Heiligen mit kunst- und religionswissenschaftlichen Mitteln. Zudem werden Medium und Thema auf Kontaktpunkte und Parallelen hin untersucht, die Rückschlüsse für die Funktionsweise der Fotografien erhoffen lassen und diese für das Verständnis des komplexen Geflechts von Religion, Kultur und Gesellschaft fruchtbar machen. Die ästhetische und inhaltliche Umsetzung führt zu der Frage, welches (kritische) Potential das Heilige als Sujet entfaltet, über das andere Fragestellungen sowie grundlegende mediale Aspekte des fotografischen Mediums verhandelt werden können. Teil III führt die gewonnenen Erkenntnisse der Untersuchung erneut zusammen. In einem ersten Schritt werden Ergebnisse zu der Frage nach Parallelen und Kontaktpunkten zwischen Medium und Thema aus den drei Analysen zusammengeführt und theoretisch ergänzt (6.1). Der nächste Abschnitt widmet sich den herausgearbeiteten Darstellungsmitteln für das Heilige in fotografischen Bildern (6.2), während Abschnitt 6.3 inhaltliche Tendenzen kategorial zusammenfasst. Abschließend reflektiert Kapitel 6.4 die Vorgehensweise und öffnet den Blick auf weitere fotografische Positionen, deren Untersuchung im Rahmen der Fragestellung und auf Grundlage der neu gewonnenen Erkenntnisse vielversprechend scheint.

2. Heiliges – Sakrales – Fotografisches Theoretische und methodische Annäherung

Eine Analyse von Verhandlungen des Heiligen in fotografischen Bildern setzt zunächst eine Begriffschärfung voraus. Im Folgenden wird daher zunächst das Heilige als Phänomen genauer konturiert und es werden historische und theoretisch-konzeptuelle Kontaktpunkte und Parallelen zwischen Medium und Thema erarbeitet, um abschließend die analytische Vorgehensweise auf dieser Basis festzulegen. Neben begrifflichen Grundlagen (2.1.1) gilt es insbesondere die Verwendung sowie die gegenseitige Abgrenzung der Begriffe des Heiligen und des Sakralen für die vorliegende Arbeit zu schärfen (2.1.2). Auch die Rolle des Körpers für die Vermittlung des Heiligen wird reflektiert (2.1.4). Wie in der Einleitung skizziert, entfaltet sich ein komplexes Gefüge, in dem das Heilige und das Sakrale in einem Spannungsfeld von aktiven und passiven Bezeichnungsprozessen eingebunden sind (2.1.3). Eine zeichentheoretische Verortung der Begriffe erscheint folglich sinnvoll, da auf diese Weise sowohl verschiedene Handlungsebenen als auch grundlegende Parameter des Fotografischen und des Heiligen erfasst werden können, wie in Kapitel 2.2 anhand dreier exemplarischer historischer Beispiele aus der Anfangszeit des Mediums deutlich wird. Die zeitliche Rückschau dient der Ableitung der Kontaktpunkte zwischen Medium und Thema sowie der Zuspitzung einzelner Analysefragen. In Kombination mit medientheoretischen und -historischen Überlegungen, können so abschließend die Analysekriterien für die Einzelbesprechungen in Teil II der Arbeit festgelegt werden (2.3).

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2.1 P ERSPEKTIVEN

AUF DAS

H EILIGE

UND DAS

S AKRALE

„Heiligkeit ist das große Wort in der Religion; es ist sogar noch wesentlicher als der Gottesbegriff.“1 NATHAN SÖDERBLOM

Wie dargelegt sind die Perspektiven auf das Heilige äußerst vielfältig und speisen sich aus diversen religiösen Traditionen, darunter das Christentum, das Judentum und der Islam, aber auch Vorstellungen hybrider, freier religiöser Tendenzen. Die vorliegende Arbeit versucht das Heilige als überreligiöses Phänomen greifbarer zu machen und konzentriert sich damit weniger auf spezifische Auslegungen einzelner Religionen. In Bezug auf visuelle Verhandlungen des Heiligen und Sakralen in fotografischen Bildern erscheint jedoch das Christentum nichtsdestotrotz äußerst relevant, da es mehr als das Judentum und der Islam, in denen das Bilderverbot zentral ist, eine Bildtradition ausgebildet hat, auf die Künstler sich aktiv beziehen. Es werden somit in die Definition auch Ansätze einfließen, die sich am Christentum orientieren. Die hier angesetzte Definition des Heiligen beruht dabei nicht auf der Annahme seiner Existenz, sondern vielmehr auf der Existenz verschiedener Konzepte und Beschreibungen zum Heiligen, welche dieses auf verschiedene Art und Weise theoretisch zu fassen suchen. Im Anschluss an eine kurze etymologische Herleitung werden aus diesem vielfältigen Diskurs ausgewählte religionsphänomenologische, -soziologische, philosophische und kulturwissenschaftliche aber auch theologische Positionen in einem knappen Forschungsüberblick skizziert.2 Das Ziel ist eine diskursbasierte Offenlegung der mit dem Heiligen grundlegend assoziierten Qualitäten und strukturellen wie funktionalen Merkmale, die sich in den mannigfaltigen Verhandlungen des Heiligen in zeitgenössischen fotografischen Positionen widerspiegeln können. Auf dieser Grundlage wird der Begriff des Heiligen, wie er in der vorliegenden Arbeit Verwendung findet, konturiert und vom Sakralen abgegrenzt: Das Heilige wird lesbar als theoretisches

1

Nathan Söderblom zitert nach: LANCZKOWSKI, Günter: Einführung in die Religionsphänomenologie, Darmstadt 1978, S. 39.

2

Tiefergehende Erläuterungen der einzelnen religionswissenschaftlichen Positionen finden sich jeweils in ihrer inhaltlichen Anwendung in den Analysen (Teil II der Arbeit) sowie teilweise bereits in Kapitel 2.2.

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Konzept, das im Sakralen seine manifeste Ausformulierung findet oder über dieses als Gestalt erst produziert wird.3

2.1.1 Etymologische Betrachtung „Die Etymologie der Begriffe heilig und sakral stellt sich als eine teils dunkle und teils komplizierte Geschichte voller metonymischer Verschiebungen dar“4 ÉMILE BENVENISTE

Der Religionshistoriker und Theologe Carsten Colpe verweist darauf, dass in den vielfältigen Übersetzungen der Heiligkeitsbegriffe Äquivalenzprobleme entstehen, die oftmals nicht beachtet werden und auch spezifische Definitionen zu oft in der Rückschau unreflektiert auf historisch früher entstandene Texte übertragen werden, die im Grunde anders ausgerichtet sind.5 Es könnte daher zu fragen sein, inwiefern eine etymologische Ausdifferenzierung der Begriffe überhaupt sinnvoll ist. Dennoch erscheint ein kurzer Überblick relevant, da die meisten der wissenschaftlichen Ausdeutungen sich gerade an der etymologischen Entwicklung orientieren, während im alltäglichen Sprachgebrauch oft eine synonyme Verwendung der Begriffe ‚sakral‘ und ‚heilig‘ festzustellen ist,6 die in der vorliegenden Arbeit differenziert verwendet werden sollen, um als Marker verschiedener Bereiche zu fungieren. Zeichnen sich die Wortverwendungen in den indoeuropäischen Sprachen durch Verschiebungen und Nicht-Übereinstimmungen aus, so ist doch als kennzeichnend hervorzuheben, dass jeweils zwei Wörter für nuancierte Begriffe verwendet werden, wobei sich diese mit der Zeit oftmals überlagern oder auch verdrängen.7 Das im Deutschen verwendete Wort ‚heilig‘ findet seine etymologi-

3

Für erste Überlegungen zum Thema vgl. SCHAFFER 2016, S. 17-22.

4

Émile Benveniste zit. nach BÖHM 2009, S. 56.

5

Vgl. COLPE 1987, S. 36f.

6

Laut Böhm zeichnet sich dies nicht nur im Deutschen, sondern auch im Englischen (‚holy‘ and ‚sacred‘) und im Französischen (‚saint‘ und ‚sacré‘) ab, vgl. BÖHM 2009, S. 58.

7

LIPOWATZ, Thanos: Das Heilige und das Geweihte, in: KAMPER, Dietmar, WULF, Christoph (Hg.): Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt am Main 1987, S. 507-516, S. 508. Lippowatz bezieht sich auf das linguistische Standardwerk des 20.

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schen Vorläufer so zum einen im altgermanischen wheis, was so viel wie ‚geweiht‘ bedeutet, also eine Handlung des Menschen einschließt (es ist nicht durch sich heilig, sondern wird den Göttern geweiht). Demgegenüber steht hails dessen Bedeutung im Sinne von ‚heil‘ als „das körperliche Ganzsein“ ausgelegt werden kann (siehe auch die Sprachnähe von holy und whole im Englischen). Im Laufe der Zeit verdrängte hails/hailigs den Terminus weihs und übernahm zugleich dessen Bedeutung.8 Sakral ist eine neoklassische Adjektiv-Bildung aus dem 19. Jahrhundert, die sich aus dem substantivierten Plural sacra (Heiligtümer) des lateinischen sacer herleitet. Im Sprachgebrauch wird seine Bedeutung zumeist mit ‚heilig‘ synonym gesetzt und erläutert.9 Im Lateinischen bildet sich deutlich eine Differenz ‚sakral-profan‘ heraus, die sich sowohl an sacer als auch an sanctus anlehnt, die sich etymologisch eine Wurzel teilen, jedoch verschiedene Bedeutungen haben.10 So ist dem Charakter von sacer eine grundlegende Doppeldeutigkeit zu eigen, die als Ambivalenz von den Göttern geweiht und ‚verflucht‘ verstanden werden kann.11 Durch die Weihe soll das Profane dem Göttlichen übereignet werden; dazu muss es die Schwelle der menschlichen Ordnung überschreiten und von der Welt der Lebenden ausgeschlossen werden. Ein Mensch oder Tier, der oder das dergestalt geweiht ist, wurde als homo sacer oder animal sacer bezeichnet.12 In dem Falle, dass die Weihe jedoch nicht mit dem Tod besiegelt wird, bewegt der Geweihte sich als Ausgeschlossener in einer Zone, die weder der menschlichen noch der göttlichen Ordnung zugehörig ist und darf daher ohne Strafe getötet

Jahrhunderts, BENVENISTE, Émile: Le vocabulaire des institutions indoeuropéennes, Paris 1969, Bd. 2, S. 179-207. 8

Vgl. LIPOWATZ 1987, S. 508.

9

Vgl. KLUGE, Friedrich (1883): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. durchges. u. erw. Aufl., Berlin, New York 2002, S. 780.

10 Vgl. LIPOWATZ 1987, S. 509 und 511. Aus dieser Dualität ergeben sich jene Definitionen des Heiligen, die es durch den Gegensatz zum Profanen konstituiert sehen, wie bei Émile Durkheim, Roger Caillois oder Mircea Eliade. 11 Laut Giorgio Agamben handelt es sich bei dieser Einfärbung des Wortes ‚sacer‘ um einen Zirkelschluss: Der in der Anthropologie Ende des 19. Jahrhunderts virulent zirkulierende Tabu-Begriff mit seiner Doppelbedeutung von rein und unrein werde mit einer psychologischen Lesart des Heiligenbegriffs bei Émile Durkheim und Rudolf Otto verbunden, deren Bedeutung wiederum auf sacer angewandt werde, um die dort bereits angelegte Doppeldeutigkeit in einer Ambivalenz von ‚verflucht‘ und ‚heilig‘ zu interpretieren, vgl. AGAMBEN 2002, S. 85-90. 12 Vgl. LIPOWATZ 1987, S. 509.

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werden.13 Der Zustand von sacer kann sich über Berührung übertragen; wer in Kontakt kommt mit etwas, das sacer ist, wird selbst sacer und damit ausgegrenzt.14 Sanctus hat insbesondere zu Anfang, eher einen grenzsetzenden, sanktionierenden Charakter inne, mittels dessen das, was sacer ist, ausgegrenzt und somit in gewisser Hinsicht erst begründet werden kann: „[D]ie Differenz sacer-sanctus ist eine symbolisch ausgedrückte Differenz, die das Ziel hatte, das reale Objekt (sacer) durch ein imaginäres Verbot (sanctio) in Abstand zu halten. Damit das Verbot funktioniert, muß das ‚Objekt‘ ausgegrenzt werden und die Minimaldifferenz sacer-profanus vermittels der Grenze sanctus-sanctio benannt und sanktioniert werden.“15

Wie Lipowatz hervorhebt, verschiebt sich diese Bedeutung später: Sanctus fällt nun mit sacer dergestalt zusammen, dass es nun auch den Inhalt des abgegrenzten Bereichs bezeichnet. Die ambivalente Komponente des alten sacer entfällt jedoch dabei, denn sanctus ist nun „derjenige, der, über den normalen Menschen stehend, mit der göttlichen Gnade erfüllt ist und eine Zwischenrolle spielt.“16 Die griechischen Begriffe hierós und hosios ähneln sacer und sanctus, semantisch sind sie jedoch etwas anders nuanciert, was Lipowatz auf die Nähe der Griechen zu ihren Göttern zurückführt. Hierós wurde immer in einem Kontext, „in den die Götter direkt oder indirekt verwickelt sind“ verwendet und bezeichnete so beispielsweise eine andauernde oder zufällige (nicht ambivalente) Eigenschaft weltlicher Objekte oder Lebewesen. Hosios wurde auf Gesetze angewendet, deren Qualität und Art es bezeichnete.17 Eine Zusammenfassung der sprachübergreifenden Bedeutungsähnlichkeiten bietet Jan Assmann:

13 Vgl. LIPWOATZ 1987, S. 509. Agamben untersucht genau diese Konstellation der römischen Rechtsfigur des homo sacer, vgl. AGAMBEN 2002, sowie den Abschnitt zu Agamben unter 2.1.2. 14 Vgl. LIPOWATZ 1987, S. 510. 15 LIPOWATZ 1987, S. 511. Siehe auch WOKART, Norbert: Heilig, Heiligkeit, in: RITTER, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 1974, Bd. 3, S. 1034-1037, S. 1034: „[D]as lateinische ‚sanctus‘ (von sancire: umschließen, umgrenzen) [bezeichnet] einen abgegrenzten Bereich, womit alles vor diesem Bezirk (fanum) pro-fanus ist.“ 16 LIPOWATZ 1987, S. 510. 17 LIPOWATZ 1987, S. 511.

54 | U NSCHARFE S PUREN ? – T EIL I: E INLEITUNG UND T HEORIE „Das Griechische und das Lateinische unterscheiden zwei Begriffe des Heiligen, die sowohl im Hebräischen als auch in den modernen Sprachen zusammenfallen. Das eine Wort hieros im Griechischen, sacer im Lateinischen, kennzeichnet das ‚in der Welt objektiv vielerorts anwesende Heilige‘, das andere hosios bzw. sanctus, kennzeichnet ‚die Qualifikation des Menschen oder der Umstände, die zur Kommunikation mit dem Heiligen notwendig ist.“18

Assmanns Annäherung verweist darauf, dass, obwohl multiple Differenzen in der jeweiligen sprachlichen Interpretation und Verwendung der Begriffe bestehen, sich bestimmte Richtungen ausdifferenzen lassen, die, wenn auch nicht sprachübergreifende Gültigkeit, so doch übersprachliche Tendenzen markieren. Die Betrachtung der Etymologie von heilig und sakral zeigt somit einerseits, dass sich eine Ausdifferenzierung der Bedeutung der Begriffe, wie sie in der vorliegenden Arbeit angesetzt wird, bereits von der sprachlichen Ebene herleiten lässt. Andererseits wird deutlich, dass eben aufgrund dieser vielfältigen Lesarten eine klare Konturierung der Begriffe notwendig ist. Assmanns luzide Zusammenführung der Etymologie zu einer Bezeichnung des in der Welt „anwesende[n]“19 Heiligen als das Sakrale (über den Bezug zu sacer) bietet einen ersten Ansatz für eine mögliche begriffliche Ausdifferenzierung des Sakralen und Heiligen, wie sie im Laufe dieser Arbeit vorgenommen wird.

2.1.2 Multidisziplinäre Forschungsperspektiven Verdeutlicht die etymologische Herleitung bereits, dass die Begriffe des Heiligen und Sakralen mannigfaltige Bedeutungsnuancen aufweisen, so multiplizieren sich die Positionen zum Heiligen seit der Moderne um ein Vielfaches. Will man nach der Verhandlung des Heiligen in der Fotografie fragen, stellt sich somit zunächst ein Definitionsproblem. Mit Blick auf die Relevanz für die Fragestellung wurde eine Auswahl an exemplarischen Positionen zum Heiligen getroffen, die im Folgenden in einem knappen Forschungsüberblick skizziert und im Rahmen der Einzelanalysen erneut relevant werden. Dazu zählen sowohl Klassiker der Religionsphänomenologie wie Rudolf Otto und Mircea Eliade, die den Diskurs um das Heilige nachhaltig geprägt haben als auch postmoderne religi18 Zit. nach BÖHM 2009, S. 58, sie bezieht sich auf: ASSMANN, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2000, S. 154. Auch hagios läuft semantisch eher parallel zu sanctus – sowohl im Sinne des Verbots auch als in der späteren christlichen Verwendung des Begriffs als ‚heilig‘. Vgl. LIPOWATZ 1987, S. 513. 19 Assmann zit. in BÖHM 2009, S. 58.

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onssoziologische, philosophische und kulturwissenschaftliche Ansätze, welche die ideengeschichtliche Aufarbeitung des Heiligen mit fortschreitender institutioneller Säkularisierung und die große Spannbreite der gesellschaftlichen Neuverortung des Phänomens in Alltagsprozessen widerspiegeln. Auf dieser Basis lässt sich in Kapitel 2.1.3 eine synthetische Begriffsbestimmung vornehmen, die relevante Aspekte des Heiligen hervorhebt und zudem den Begriff des Sakralen genauer konturiert. Rudolf Otto und das Numinose Religionsphänomenologische Ansätze verhandeln das Heilige als erfahrbares Phänomen und setzen sich mit den Eigenschaften und Funktionsweisen auseinander, die dem Heiligen zugeschrieben werden. In gewisser Weise setzt eine solche Herangehensweise die Religion oder das Heilige als ontologische Kategorie voraus, dabei geht es jedoch weniger um eine Beweisführung der Existenz des Heiligen, als vielmehr um eine Analyse seiner inhaltlichen Konzeptionierung und visuellen Inszenierung, das heißt seiner Erscheinungsweisen.20 Der Theologe Rudolf Otto (1869-1937) prägte 1917 mit seiner Abhandlung über Das Heilige21 entscheidend die Definition des Begriffs, der sich seitdem im wissenschaftlichen Diskurs als „zusammengesetzte Kategorie“22 etablierte, da Otto das Heilige nach seinen moralischen, rationalen und irrationalen Elementen unterscheidet. Seine Untersuchung fokussiert primär das „Numinöse“23, das heißt den irrationalen Anteil des Religiösen per se, aus dem sich nach Otto alle Religionen 20 Nach Lanczkowski leitet die Religionsphänomenologie aus religionshistorischen Fakten allgemeingültige Kategorien ab „wie etwa Opfer, Kult, Priestertum, Prophetismus, Sekte, Orden – Kategorien also, die in einer Vielzahl von Religionen in einer jeweils individuellen Sondergestalt auftreten“. Das Material der Religionsphänomenologie kann dabei aufgegliedert werden in „die Erscheinungs-, die Vorstellungs- und die Erlebniswelt der Religion“. Die Erscheinungswelt umfasst sowohl „Manifestationen des Sakralen in den verschiedensten profanen Bereichen“, wie etwa spezifische Objekte und Konstellationen in Zeit und Raum, als auch „Realisationen des Sakralen“ in Handlungen und festgeschriebenen Erfahrungsräumen, LANCZKOWSKI 1978, S. 14-16. 21 OTTO 2014. In der Rezeption herrscht Uneinigkeit, inwiefern Otto zu den Religionsphänomenologen zu zählen ist, vgl. ALLES 1997, S. 209; sowie LANCZKOWSKI 1978, S. 28. 22 COLPE 1987, S. 33-61, S. 46 und 53. 23 OTTO 2014, S. 6. Im Folgenden wird der Begriff ohne besondere Hervorhebung verwendet und ebenfalls durch ‚das Heilige‘ bezeichnet, da er im Rahmen der hier angesetzten Fragestellung in diesem aufgeht.

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begründen.24 Als Kategorie sui generis stellt das Heilige bei Otto eine grundlegend andere Realität dar, die nur durch die unmittelbare Erfahrung erschließbar ist.25 Diese unterscheidet sich nach Otto qualitativ stets von jeglicher natürlicher Erfahrung und setzt den „sensus numinis“26, das heißt das Potential zu religiöser Erfahrung voraus. Ottos Definition des Heiligen wurde und wird aufgrund dieser Ausrichtung kritisch diskutiert und spielt in neueren religionswissenschaftlichen und -philosophischen Positionen nur bedingt eine Rolle. Das Numinose aber erfreut sich als Kategorie allgemeiner gesellschaftlicher Verwendung.27 Dabei scheint gerade der Universalismus des Ausdrucks relevant – für die vorliegende Fragestellung bietet sich hier ein Ansatzpunkt für die Analyse auch subtiler oder impliziter Verhandlungen struktureller Aspekte des Heiligen. Die Erfahrung des Heiligen beruht „auf einem Spüren unendlicher Entfernung zwischen [einem] Anderen und dem Selbst.“28 Als das „Ganz Andere“29 entzieht sich das Heilige seinem Wesen als vollendetes mysterium nach der vollkommenen Erkenntnis konstant und wird somit gerade in dieser geheimnisvollen Differenz und den Reaktionen darauf erfahrbar.30 Das mysterium ist ein mysterium tremendum et fascinans, das ein Erschauern vor einem Übermächtigen auslösen kann, das von Scheu bis hin zur Panik reicht, zugleich jedoch das zutiefst „Wundervolle […] das Sinnberückende, Hinreißende, seltsam Entzückende“ ist.31 Natürliche Erfahrungen können als annähernde Analogien begriffen werden, mittels derer das ei-

24 Vgl. LÜDDECKENS, Dorothea: Religionsphänomenologie, in: BURKHARD, FranzPeter, PRECHTL, Peter (Hg.): Metzler Lexikon Philosophie, 3. erw. und akt. Auflage, Stuttgart 2008, S. 522-533, S. 522. Das Numinose als Kern des Religiösen steht damit im Gegenteil zu der strukturellen Möglichkeit oder den verschiedenen rationalen Ausformungen in den großen Religionen, vgl. ALLES 1997, S. 204. Vor Otto wird der Heiligkeitsbegriff als zentrale Kategorie des Religiösen bereits von Nathan Söderblom herausgestellt, vgl. LANCZKOWSKI 1978, S. 39. 25 Vgl. OTTO 2014, S. 7. 26 OTTO 2014, S. 7. 27 Ottos anthropologischer Ansatz der Besinnung nach Jakob Friedrich Fries wurde aufgrund des zwingenden persönlichen Nachvollzugs wissenschaftlich stark kritisiert, auch von theologischer Seite (etwa Karl Barth oder Rudolf Bultmann), vgl. ALLES 1997, S. 205 und 209f. 28 ALLES 1997, S. 205. 29 OTTO 2014, S. 28ff. 30 Vgl. OTTO 2014, S. 11f. 31 OTTO 2014, Kapitel vier und sechs, sowie S. 15 und S. 42f. Für eine Zusammenfassung siehe zudem ALLES 1997, S. 205.

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gentliche numinose Gefühl erweckt und umschrieben werden kann.32 Zu diesen gehören auch die sogenannten „Schematisierungen“, das heißt Begriffe und Vorstellungen, die mit dem irrationalen Heiligen auf rationaler Ebene feste und bleibende Verbindungen eingehen und über die es an Begriffe des natürlichen Lebens und Denkens rückgekoppelt wird.33 Es durchdringt diese Schematisierungen, bildet dabei jedoch stets einen ‚Überschuss‘ zu ihnen.34 Auch bestimmte Ausdrucksmittel in Natur und Kunst können die Gefühle des Heiligen über Ähnlichkeit anregen oder mit diesen parallel verlaufen.35 Dazu gehören direkte Einfühlungen mittels der Nacherzählung heiliger Situationen oder indirekte Darstellungsmittel für dem heiligen Gefühl ähnliche, aber natürliche Gefühle, wie etwa das Scheußliche oder Fürchterliche für das Gefühl des tremendum oder auch das Wundervolle oder das Erhabene.36 In der Kunst sind es insbesondere das Erhabene, aber auch das Magische, das Dunkle und das Leere, die als Elemente das heilige Gefühl anregen können.37 Neben der Beschreibung des Heiligen als grundsätzlich entzogener Realität und der Analyse der an die Erfahrung des Heiligen gekoppelten, ambivalenten Emotionen, sind es gerade diese von Otto formulierten Darstellungsmittel für das Heilige, die eine Anschlussmöglichkeit für die Analysen in Teil II der Arbeit darstellen. Mircea Eliade und die Hierophanie: Manifestationen des Heiligen im Profanen Im Gegensatz zu Otto wandte sich der Religionshistoriker und -philosoph Mircea Eliade (1907-1986) dem Heiligen in seiner Vielfalt zu und bezog auch explizit dessen rationale Elemente mit ein.38 Das Heilige ist auch hier das „Ganz 32 Vgl. OTTO 2014, S. 9 sowie S. 56-60. 33 Vgl. OTTO 2014, S. 60-65. Als Beispiel von Schematisierung spricht Otto von dem irrationalen Erleben der Musik, die das rationale Lied durchdringt: „Das Lied ist insofern rationalisierte Musik.“ OTTO 2014, S. 64. 34 Vgl. ALLES 1997, S. 205f. 35 Otto behandelt diese in Kapitel 11, vgl. OTTO 2014, S. 79-92. 36 Vgl. OTTO 2014, S. 79-85. 37 Vgl. OTTO 2014, S. 85-91. 38 Vgl. ELIADE 1998, S. 14. Wie Richard Reschika hervorhebt, arbeitet Eliade zwar historisch, lässt jedoch methodisch viele Elemente der Religionsphänomenologie in Anlehnung an den niederländischen Theologen Gerardus van der Leeuw einfließen, vgl. RESCHIKA, Richard: Mircea Eliade zur Einführung, Hamburg 1997, S. 57. Lanczkowski bezeichnet Eliades Herangehensweise als „eine Art Phänomenologie“, kritisiert jedoch seine einseitige Quellenausrichtung, vgl. LANCZKOWSKI 1978, S. 26.

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andere. […] Kraft und letztlich Realität schlechthin.“39 Unter Rückgriff auf Roger Caillois unterscheidet Eliade das Heilige zudem explizit vom Profanen.40 Insbesondere mit seinen theoretischen und analytisch-praktisch ausgerichteten Ausführungen zu Hierophanien als Manifestationen des Heiligen im Profanen prägte Eliade nachhaltig den Diskurs um das Heilige. Bei einer „Hierophanie“ handelt sich um einen „geheimnisvollen Vorgang: das ‚Ganz andere‘, eine Realität, die nicht von unserer Welt ist, manifestiert sich in Gegenständen, die integrierende Bestandteile unserer ‚natürlichen‘, ‚profanen‘ Welt sind.“41 Es ergibt sich eine paradoxe Konstellation, da der Gegenstand einer Hierophanie – etwa ein Stein – zu einem grundlegend Anderen wird, jedoch zugleich er selbst bleibt.42 An einem umfangreichen Konvolut an historischem Material zeichnet Eliade konkrete „Geschichte[n] einer Hierophanie“ nach und nimmt zugleich „die Modalität, die in diesen Hierophanien immer wieder erscheint“ als allgemeine Qualitäten in den Blick.43 So bedeutet eine Hierophanie funktional eine grundlegende Unterscheidung zwischen einem Raumzentrum und einer endlosen Weite: „Da sich das Heilige durch eine Hierophanie manifestiert, kommt es […] zur Offenbarung einer absoluten Wirklichkeit, die sich der Nicht-Wirklichkeit der unendlichen Weite ringsum entgegenstellt. Durch die Manifestierung des Heiligen wird ontologisch die Welt 39 ELIADE 1998, S. 15. 40 „Im Grunde ist das einzige, was man vom Sakralen allgemeingültig sagen kann, schon in der Definition des Ausdrucks enthalten: nämlich, daß es dem Profanen entgegengesetzt ist.“ Roger Caillois zitiert in: ELIADE, Mircea (1949): Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte, Darmstadt 1966, S. 12. 41 ELIADE 1998, S. 14f. Hierophanien können sich nach Eliade sowohl auf verschiedenen kosmischen Seinsebenen, wie Wasser oder Himmel, als auch in Elementen der biologischen Ebene, wie Ackerbau oder Geschlecht, an Orten, wie Tempeln oder Plätzen oder in Mythen und Symbolen zeigen, vgl. ELIADE 1966, S. 13f. 42 Vgl. ELIADE 1998, S. 15. 43 ELIADE 1966, S. 27. Eliades Vorgehensweise, Hierophanien aus verschiedenen Zeiten zusammenzuführen, um so ihre übergeordnete Bedeutung für den Menschen, mithin ihre grundlegende Struktur und Modalität zu verdeutlichen, sicherte ihm, nicht zuletzt auch aufgrund der Fülle seiner Publikationen, einen einflussreichen Platz in den Religionswissenschaften, blieb jedoch nicht unumstritten. Für eine versierte Zusammenfassung der wichtigsten Kritiker Eliades und seiner generellen Verortung im akademischen Umfeld siehe BARTH, Christiane: In illo tempore, at the Center of the World: Mircea Eliade and Religious Studies‘ Concepts of Sacred Time and Space, in: Historical Social Research, 38, 2013, H. 3, S. 59-75, S. 65-69.

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gegründet. In dem grenzenlosen homogenen Raum ohne Merkzeichen, in dem keine Orientierung möglich ist, enthüllt die Hierophanie einen absoluten ‚festen Punkt‘, ein ‚Zentrum‘.“44

Da das Heilige gewissermaßen vorausgesetzt wird, lässt sich Eliades Sicht auf das Heilige ähnlich wie bei Otto, als eine ontologische und essentialistische fassen.45 Zugleich arbeitet Eliade heraus, dass sich qualitative Werte der angesprochenen Raumsetzung durch die Hierophanie dem Wesen nach auch in profanen Alltagsstrukturen wiederfinden, was insbesondere in Hinblick auf die Untersuchung säkularer Kontexte relevant erscheint.46 Derlei religiöse Spuren in entsakralisierten Handlungen des Menschen bezeichnet Eliade als „kryptoreligiöse[s] Verhalten“47. Als zwei für die spätere Analyse wichtige Qualitäten des Heiligen sind sowohl seine Transzendenz als ahistorisches Phänomen als auch seine potentielle Immanenz in Form der Hierophanie, die von dem Rezipienten wahrgenommen werden kann, festzuhalten. Der Blick auf die Strukturen des Heiligen und die Offenlegung der daran gekoppelten Funktionalität erlaubt eine vergleichende Betrachtung zum Medium der Fotografie, wie sowohl in Kapitel 2.2.2 als auch in den Analysen, insbesondere in Kapitel 4 deutlich wird. Saskia Wendel: Heiligkeit als immanent vermittelte und personale Qualität In der christlichen Religion besteht eine enge Verbindung zwischen der Heiligkeit Gottes und seiner Inkarnation in der Gestalt Jesus von Nazareths, in der eine Lesart von Heiligkeit als immanent vermittelter Transzendenz, Unbedingtheit und Vollkommenheit gegeben ist, wie Saskia Wendel aufzeigt.48 Da sich viele Künstler auf christlich-katholische Bildtraditionen beziehen, bietet Wendels ex44 ELIADE 1998, S. 23. Eliade folgt der etymologischen Entwicklung des Wortes sanctus als einem vom Profanen unterschiedenen Bereich, vgl. Abschnitt zur etymologischen Herleitung in dieser Arbeit; sowie WOKART 1974, S. 1034. Der von Eliade verwendete Raumbegriff bezieht sich auf die Erfahrung des ‚profanen‘ und ‚heiligen‘ Raums, nicht auf den seit der Antike verhandelten neutralen geometrischen Raum als solchen, vgl. ELIADE 1998, S. 24. 45 Zur Verortung dieser essentialistischen Sichtweise siehe ebenfalls BARTH 2013. 46 So kann beispielsweise die Heimat oder ein besonderer Ort der Jugend als subjektiv aufgeladener Ort aus dem Alltag herausgehoben werden und eine qualitative Veränderung erfahren, die derjenigen durch eine Hierophanie ähnlich ist, vgl. ELIADE 1998, S. 25-S. 27. 47 ELIADE 1998, S. 25. 48 Vgl. WENDEL 2011, S. 163, S. 167 und 173.

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plizit katholisch-theologische Perspektive eine sinnvolle Ergänzung der vorgestellten kultur- und religionswissenschaftlichen sowie soziologisch orientierten Ansätze zum Heiligen, wenn auch in der vorliegenden Arbeit keine theologische Perspektive eingenommen wird. Indem Wendel den Begriff der Heiligkeit an Unbedingtheit und Vollkommenheit zurückkoppelt, weicht sie sowohl vom Heiligen als dem absolut Anderen als auch vom Heiligen als dem zugleich Anziehenden und Abschreckenden und somit letztlich Gewaltvollen, wie Otto es formuliert, ab.49 Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Heilige nicht als das Andere zu lesen wäre, es ist lediglich nicht absolut das Andere, sondern wird gerade im Vollzug seiner Immanenz vermittelt.50 Das Unbedingte zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es „mitten im Bedingten zur Erscheinung kommt und durch bedingtes Dasein realisiert werden soll.“51 Für die vorliegende Arbeit bietet diese Perspektive eine Schnittstelle zu den in der Einleitung ausgeführten, körperlich und lebensweltlich orientierten Verhandlungen des Heiligen in der Kunst insbesondere der 1960er und 1970er Jahre. In christlicher Lesart ist „Gott als Inbegriff der Heiligkeit“ weder personell noch anthropologisch zu bestimmen, seine Heiligkeit gilt jedoch als in der Figur des Jesus von Nazareth als menschliches Bild ausformuliert.52 Heiligkeit als Unbedingtheit und Vollkommenheit wird hier somit personell rückgekoppelt und als Qualität eines bestimmten Handelns und Seins lesbar.53 Ein solches Handeln zeichnet sich, nach Wendel, im Verzicht auf Herrschaftsansprüche, in Gleichheit, Nächstenliebe, Achtung und Anerkennung Anderer aus, „in säkulare Sprache übersetzt […] im Prinzip der Würde der Person“.54 Über den Rekurs auf Kant, der das Heilige als Vollkommenes mit dem Moralischen in Beziehung setzt und als Aufforderung zum moralischen Handeln interpretiert, leitet Wendel Heiligkeit als „Verpflichtung zur Heiligkeit“ für jeden Gläubigen ab, die sich insbesondere im Vollzug der Glaubenspraxis, als Versuch, dem Anspruch Gottes zu entsprechen, zeigt.55 Den Gläubigen, die die Heiligkeit Gottes, seine Unbedingtheit und Vollkommenheit, als seinen Wesensgrund nachzuvollziehen su49 „Der Begriff des Unbedingten bezeichnet einen grundlosen, selbst nicht mehr von einem anderen bedingten Grund alles Bedingten als dessen Möglichkeitsbedingung, und das impliziert Vollkommenheit.“ WENDEL 2011, S. 164 und S. 169-171. 50 „Das Andere, die Transzendenz, das Unbedingte [ist] auf das bezogen und mit dem vermittelt, dessen ‚Mehr‘, dessen Anderes es ist.“ WENDEL 2011, S. 169. 51 WENDEL 2011, S. 169. 52 WENDEL 2011, S. 163 und vgl. S. 173. 53 Vgl. WENDEL 2011, S. 170. 54 WENDEL 2011, S. 173f. 55 WENDEL 2011, S. 172.

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chen, kann die Figur Jesus von Nazareths als „Richtschnur“56 dienen, da sich in ihr Gottes Heiligkeit immanent und geschichtlich konkret vermittelt zeigt. In dem Nachvollzug, etwa über die Taufe, können, so Wendel, die Gläubigen gewissermaßen ebenfalls zu „Heiligen Gottes“ 57 werden. Die Glaubenspraxis ist damit zu verstehen als Zeugnis der Heiligkeit Gottes und als Versuch ihrer aktiven, lebenswirklichen Realisierung.58 In einer solchen Lesart und aufgrund seiner „Gottebenbildlichkeit“ ist jeder Mensch potentiell „heilig“ insofern die Möglichkeit besteht, dass er über seinen Lebenswandel die Heiligkeit Gottes zu realisieren sucht.59 Für die vorliegende Untersuchung bedeutet dies zum einen, dass Heiligkeit auch und gerade die Vermengung transzendenter und immanenter Qualitäten meinen kann, beziehungsweise, dass das Heilige immanent – und das heißt auch und gerade körperlich – aufscheinen kann. Zum anderen wird Heiligkeit aus dieser Perspektive als unbedingte und vollkommene Qualität lesbar, die in Bezug auf den Menschen eng an praxeologische Aspekte gekoppelt ist. Heiligkeit wird damit personal umsetzbar und kann über bestimmte Eigenschaften oder bestimmtes Handeln einer Person auch in fotografischen Bildern attribuiert werden, wie sich besonders in den Analysen zu David Nebreda (Kapitel 4) und Pierre Gonnord (Kapitel 5) zeigt. In den Analysen werden auf dieser Basis auch Interaktionen von Figuren sowie mittels Figuren implizierte Gesten mitgedacht. Jonathan Z. Smith und soziologisch basierte situationelle Studien zum Sakralraum Aus soziologisch-philosophischer Perspektive werden in Hinblick auf die Frage nach visuellen Ent- und Resakralisierungsprozessen Ansätze vorgestellt, die sich im weitesten Sinne der Analyse von (säkularen) Sakralisierungen widmen und diese als Wertschöpfungsprozesse oder Wertzuschreibungen verstehen. So entwickelt beispielsweise Jonathan Z. Smith einen situationellen Blick auf das Heilige, der Eliades substantielle, ontologische Ausrichtung zwar als Orientierungspunkt aufgreift, jedoch konterkariert: Während Eliade die Hierophanie als zwar paradox, jedoch potentiell ontologisch im Objekt manifest begreift, ist Heiligkeit bei Smith das Ergebnis menschlicher Produktivität.60 In dieser soziologi56 WENDEL 2011, S. 173. 57 WENDEL 2011, S. 173. 58 Vgl. WENDEL 2011, S. 173. 59 WENDEL 2011, S. 173. 60 Vgl. SMITH 1987, insbesondere Kapitel 1. „Sacredness, for Smith, is not the result of a hierophany, but effectively the product of the human labor of sacralization.“ BARTH 2013, S. 68.

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schen Lesart steht Smith in der Tradition Émile Durkheims (1858-1917), der Religion als Form der Gemeinschaftsbindung und -entwicklung definierte, deren Entstehung grundlegend abhängig von sozialer Zuschreibung und nicht ontologisch gegeben sei.61 Smith definiert in dieser Linie Sakralisierung als Fokussierung von Aufmerksamkeit,62 wie er am Beispiel des Tempels elaboriert: „The temple serves as a focusing lens, establishing the possibility of significance by directing attention, by requiring the perception of difference. Within the temple, the ordinary (which to any outside eye or ear remains wholly ordinary) becomes significant, becomes ‘sacred’, simply by being there. A ritual object or action becomes sacred by having attention focused on it in a highly marked way. From such a point of view, there is nothing that is inherently sacred or profane. These are not substantive categories, but rather situational ones. Sacrality is, above all, a category of emplacement.“63

Mit dieser Ausrichtung gerät Sakralisierung als Prozess und Sakralität als Produkt menschlichen Handelns in den Fokus der Untersuchung; da eindeutig profane Aktivitäten zur Produktion von sakralem Raum eingesetzt werden, können diese rückwirkend auch analysiert werden.64 Smiths situationeller Ansatz in Bezug auf heilige Räume beeinflusste in der Folge eine Reihe von Wissenschaftlern, wie etwa Jeanne Halgren Kilde und Kim Knott, die sich aus soziologischer und kulturanthropologischer Perspektive mit dem Sakralraum auseinandersetzten und verschiedene methodische Ansätze zu dessen Analyse entwickelten.65 Inte61 Zugleich versteht auch Durkheim die Dichotomie von profan und heilig als grundlegend für jede Religion, vgl. DURKHEIM, Émile (1912): Die elementaren Formen religiösen Lebens, Frankfurt am Main 1981, S. 62, siehe zudem BARTH 2013, S. 68. 62 Smith geht es in seinen Ausführungen insbesondere um die Theorie und Funktion des Rituals, das er als einen grundlegenden Aufmerksamkeitsmarker hervorhebt, vgl. SMITH 1987, S. 103. 63 SMITH 1987, S. 104. Smith bezieht sich primär auf den Sakralraum und folgt Claude Lévi-Strauss‘ Hervorhebung des Konnex‘ der räumlichen Platzierung und der Sakralität von Objekten, vgl. SMITH 1987, S. xii. 64 Zu nennen sind hier neben der Fokussierung von Aufmerksamkeit über räumliche Verortung und rituelle Vollzüge auch Erinnerungsakte sowie das Design und die Konstruktion des Raums, vgl. BARTH 2013, S. 69; sowie Kapitel drei in SMITH 1987, S. 47-73. 65 Dabei werden einzelne historische Beispiele und generelle Möglichkeiten einer produktiven Verbindung von Religionswissenschaften und Soziologie mit Ansätzen im Rahmen des spatial turn zur zeitgemäßen Verortung religiöser Phänomene eruiert, vgl. KILDE, Jeanne Halgren: Sacred Power, Sacred Space, New York 2008; und

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ressanterweise fließen dabei sowohl substantielle Ansätze in der Folge von Eliade, als auch situationelle Überlegungen mit ein.66 Es ist gerade die Differenzierung beider Ansätze, die über eine konzise Analyse sowohl der affektiven Einwirkung sakraler Phänomene, als auch ihre potentielle Konstruiertheit für das Verständnis von Heiligkeit und Sakralität besonders in Bezug auf mit und in Fotografien angewandte Prozesse der Sakralisierung vielversprechend erscheint (Kapitel 2.2 und Bildanalysen in Teil II). Magnus Schlette: Das Heilige als „letzte Werte“ Wird bei Smith Sakralisierung als Konzentration von Aufmerksamkeit verstanden, durch die Außergewöhnliches abgesondert und somit generiert wird, so handelt es sich um Wertsteigerung. Diese zielt auf das Heilige als ultimativen Wert, der sich jedoch, denkt man den situationellen Ansatz zu Ende, erst über diesen Zuschreibungsprozess generiert. Der Philosoph und Soziologe Magnus Schlette betrachtet ‚das Heilige‘ aus einer an William James67 orientierten, pragmatischen Perspektive, die den Sprachgebrauch in den Blick nimmt, als „‚letzte[n]‘ Wer[t]“.68 „Es dürfte eine Art Minimalkonsens unseres charakteristisch modernen Begriffsverständnisses sein, dass dasjenige, dem wir zusprechen, heilig zu sein, wertvoll ist. […] Und unter allem Werthaften und Wertvollen würden wir sogar nur das Wertvollste als heilig be-

KNOTT, Kim: The Location of Religion. A Spatial Analysis, Durham 2005; und KNOTT, Kim: From locality to location and back again: A spatial journey in the study of religion, in: Religion, 39, 2009, H. 2, S. 154-160. 66 Vgl. BARTH 2013, S. 69. 67 William James wird in den letzten Jahren vermehrt rezipiert und folgt damit etwas verspätet seinem Zeitgenossen und Mitbegründer des Pragmatismus Peirce, der in den 1960er Jahren aufgrund seiner zeichentheoretischen Überlegungen auch im Hinblick auf die Fotografie relevant wurde. Vgl. THIES 2009, S. 7f. 68 SCHLETTE 2009, S. 112. Schlettes Begriffsbestimmung geht von alltäglichen, intuitiven Sprechhandlungen aus, „in denen wir etwas gemäß unserer intuitiven Angemessenheitsurteile als kompetente Sprecher unserer Sprache die Eigenschaft zusprechen würden, heilig zu sein.“ SCHLETTE 2009, S. 110. Der Ansatz Schlettes, sich auf das Heilige als letzten Wert zu beziehen, findet seinen Vorgänger in Max Schelers Ausführungen zu Werten im Allgemeinen. Zu den zentralen Aspekten vgl. SPLETT 1971, insbesondere S. 55-78.

64 | U NSCHARFE S PUREN ? – T EIL I: E INLEITUNG UND T HEORIE zeichnen, Gegenstände, Personen, Handlungen oder Ereignisse, die ‚letzte‘ Werte sind, solche, die alle anderen anerkannten Werte übertreffen.“69

Diese letzten Werte sind über alle Maßen wichtig, sie werden weder zur Disposition noch zur Diskussion gestellt.70 Eine derartige ultimative Setzung bestimmter Werte kann gesellschaftlich beispielsweise für abgegrenzte soziale Gruppen über die Einbindung in traditionelle Narrative geprägt sein; seit der Moderne tritt jedoch zwingend die individuelle Wertzuschreibung als zentraler Faktor hinzu.71 Wenn, was als wertvoll empfunden wird, persönlich variabel ist, so wäre die Produktion von heiligen Werten folglich zunächst als individuelle Zuschreibung zu verstehen. Zugleich steht Schlettes Wertbegriff jedoch in einer ontologischen Tradition: Die Qualifizierung eines Wertes als ‚heilig‘ ist das Resultat eines direkten und unbedingten Betroffenseins durch etwas Gegebenes und dieses Erleben zeichnet sich durch grundlegende Parameter des ontologischen Heiligenbegriffs aus.72 Aus dem Sprachgebrauch heraus wird das Heilige hier als moderne, außerreligiöse Kategorie etabliert, die zugleich strukturelle Merkmale des traditionellen Heiligkeitsdiskurses aufgreift und somit für das spezifische Erfahrungspotential des fotografischen Mediums einen fruchtbaren Anknüpfungspunkt bietet, da strukturelle und funktionale Aspekte des Heiligen noch einmal schärfer hervortreten: Das Heilige wird als Wert lesbar, der sowohl substantiell als auch situationell perspektiviert werden kann und als Orientierungsmaßstab73 fungiert. 69 SCHLETTE 2009, S. 112. Als weitere, jedoch differierend geprägte Bedeutungsnuancen des Heiligen in der Moderne stellt er wiederum die Unterscheidung eines sakralen und profanen Bereichs, wie sie sowohl Caillois, Eliade als auch Durkheim postulieren, sowie die zerstörerische Macht, die dem Heiligen insbesondere durch das Collège de Sociologie um Bataille und Caillois zugeschrieben wird, vor. 70 Vgl. SCHLETTE 2009, S. 112. 71 Vgl. SCHLETTE 2009, S. 113. 72 Starke Bezüge auf traditionelle religiöse Interpretationen finden sich in Analogie zur ambivalenten Erscheinung des Heiligen bei Otto, Eliades Ansatz einer durch das Heilige qualifizierten, substantiellen Unterscheidung sowie schlussendlich in der Qualität des Heiligen als „etwas, das uns angeht“ (hier spiegelt sich die systematische Theologie Paul Tillichs wider), SCHLETTE 2009, S. 114f. 73 Vgl. hierzu die Ausführungen Schlettes zum „Bewährungsbewusstsein“, das er unter Rückgriff auf ein anthropologisch-soziologisches Strukturmodell von Ulrich Oevermann als Quelle für die grundlegende Disposition des Menschen für als ultimativ qualifizierte Erfahrungen anführt, SCHLETTE 2009, S. 120f. sowie S. 126f. sowie OEVERMANN, Ulrich: Strukturelle Religiösität und ihre Ausprägung unter Bedin-

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Giorgio Agamben und die Figur des homo sacer Der italienische Philosoph Giorgio Agamben legte mit seiner Publikation Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben74 vor wenigen Jahren eine viel beachtete politisch-juridisch ausgerichtete Studie vor. Im Rahmen der Fragestellung scheinen weniger die kontroversen Implikationen75 der Studie, als vielmehr seine Überlegungen zum Beziehungsgeflecht des Heiligen und Profanen, die er anhand der Figur des homo sacer darlegt sowie seine daran gekoppelte Reflexion der Genese des Heiligkeitsbegriffes relevant. Der homo sacer war ein Vogelfreier des archaischen römischen Rechts, der auf sein ‚nacktes‘ Leben reduziert war und von jedem getötet, jedoch niemals geopfert werden durfte: „[Der] homo sacer, der getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf […] [ist] eine obskure Figur des archaischen römischen Rechts, in der das menschliche Leben einzig in der Form ihrer Ausschließung in die Ordnung eingeschlossen wird […] zugleich stellt uns diese vielleicht älteste Bedeutung des Begriffs sacer vor das Rätsel einer Figur des Heiligen diesseits oder jenseits des Religiösen, die das erste Paradigma des politischen Raumes im Abendland bildet.“76

Aufgrund des ambivalenten Status des homo sacer wurde dieser zum example par excellence der Definitionsgeschichte eines von Ambivalenz geprägten Heiligkeitsbegriffes, wie ihn auch Rudolf Otto, insbesondere aber die Mitglieder des französischen Collège de sociologie pflegten.77 Agamben verdeutlicht, wie sich eine Doppelbedeutung im Sinne von ‚verflucht und heilig‘ über Psychologie und Linguistik verfestigt hat, ohne jedoch dem Begriff sacer ursprünglich eingeschrieben zu sein. Vielmehr handle es sich bei dieser Herleitung um ein wissenschaftliches „Mythologem“78, das über den Einbezug des homo sacer als Quelle und Ziel einen Zirkelschluss bewirke. Agamben nimmt stattdessen die struktugungen der vollständigen Säkularisierung des Bewusstseins, in: GÄRTNER, Christel (Hg.): Atheismus und religiöse Indifferenz, Opladen 2003, S. 339-387. 74 Vgl. AGAMBEN 2002. 75 Agamben nutzt den homo sacer in seiner Studie, um die enge Beziehung zwischen einer „zunehmenden Verrechtlichung menschlichen Lebens [bei] gleichzeitiger Entrechtung von Menschen“ näher zu beleuchten, die er der Moderne zuschreibt. Mit Rückgriff auf Michel Foucault und Hanna Arendt expliziert er, dass mit der Entwicklung vom Territorial- zum Bevölkerungsstaat das „nackte Leben“ (in Anschluss an Walter Benjamin) zunehmend politisiert wird, vgl. AGAMBEN 2002, S. 11ff. 76 AGAMBEN 2002, S. 18f. 77 Beispielsweise Georges Bataille, Roger Callois etc., vgl. AGAMBEN 2002, S. 83f. 78 AGAMBEN 2002, S. 85ff. hier S. 85.

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relle Verortung des homo sacer in den Blick: Als tötbares, jedoch nicht opferbares Leben gehört dieser weder der göttlichen noch der weltlichen Rechtssphäre an und es ist gerade diese „doppelte Rechtlosigkeit“79 die seinen Rechtsstatus darstellt. Das Sakrale steht mit Agamben somit außerhalb der profan-weltlichen sowie der religiösen Ordnung; sacer figuriert hier als Beziehungsstruktur und der homo sacer ist eine doppelte ‚Figur des Außerhalb‘. Das bedeutet jedoch nicht, dass er keine Beziehung zu den bestehenden Ordnungen aufrecht erhalten würde. Betrachtet man die „Ausnahme als eine Beziehungsform“80, wie Agamben sie am Beispiel des Ausnahmezustands81 darlegt, so ist der homo sacer vielmehr ex negativo an die bestehenden Ordnungen gebunden, gerade indem er aus ihnen herausgenommen ist: Er befindet sich laut Agamben in einer doppelten „einschließende[n] Ausschließung“82 und stellt somit eine Schwellenfigur dar.83 Diese Aufschlüsselung der strukturellen Verortung der Figur des Sakralen als Schwellenfigur erscheint in Hinblick auf mögliche funktionale und strukturelle Parallelen zwischen Fotografie und Heiligkeit relevant. Dies gilt sowohl für die strukturelle Einordnung einzelner fotografischer Bilder und die auf ihnen dargestellten Sujets als auch die mit ihnen formulierten Prozesse von Sakralisierung, wie in der Analyse zu den Fotografien Pierre Gonnords (Kapitel 5) deutlich wird.

79 GEULEN, Eva: Giorgio Agamben zur Einführung, 2. überarb. Aufl., Dresden 2009, S. 12. 80 GEULEN 2009, S. 74. Siehe auch AGAMBEN 2002, S. 28. 81 Gemeint ist der von einer souveränen Macht gesetzte Ausnahmezustand, vgl. AGAMBEN 2002, S. 21 und S. 25ff. Agamben bezieht sich hier auf Carl Schmitt. 82 Die zur Ausnahme konträre Struktur findet sich in der „ausschließende[n] Einschließung“ des Beispiels: Ein Beispiel steht exemplarisch für die Norm – gerade in seiner Exponierung als Beispiel wird es jedoch aus der Masse herausgehoben und von ihr abgesondert. „Aus dieser Perspektive steht die Ausnahme in einer symmetrischen Position zum Beispiel und bildet ein System mit ihm. Ausnahme und Beispiel sind die beiden Modi, mittels deren eine Menge die eigene Kohärenz herzustellen und zu erhalten sucht.“ AGAMBEN 2002, S. 31. 83 Vgl. AGAMBEN 2002, S. 92f.

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2.1.3 Synthetische Begriffsbestimmung: Das Sakrale als „Medium“ 84 des Heiligen Anhand der ausgeführten Positionen sollte deutlich geworden sein, dass eine semantische Unterscheidung zwischen dem Heiligen und dem Sakralen nicht immer getroffen wird, sondern die Begriffe sich definitorisch oftmals überlagern und synonym verwendet werden. Gerade in Bezug auf Repräsentationen des Heiligen und eine Analyse seiner medialen Verhandlung in der Fotografie erscheint eine genauere Differenzierung der Begriffe jedoch sinnvoll. Auf diese Weise können verschiedene Sinn- und Zeichenebenen sowie Formen der Zuschreibung näher erfasst werden, die auch für das fotografische Medium relevant sind und daher ein erhöhtes Erkenntnispotential bieten. In Kapitel 2.2 werden darauf basierend Verknüpfungspunkte zum fotografischen Medium beleuchtet und Analysekriterien entwickelt, um Fotografien auf ihr visuelles und mediales Potential zur Verhandlung des Heiligen und Sakralen zu befragen. Eine Vorlage für die interpretatorische Differenzierung liefert der Sprachgebrauch, der dem Sakralen im Gegensatz zum Heiligen bereits eine materiellere Ausprägung zuschreibt, wie unter 2.1.1 mit Blick auf die Etymologie gezeigt wurde.85 Ähnlich ausgerichtete Unterscheidungen finden sich bei Jörg Splett, Hans-Dieter Bahr und Nadine Böhm, die somit als Anhaltspunkte für die folgenden Definitionen dienen. Splett definiert in seiner umfangreichen religionswissenschaftlichen Studie zur Rede vom Heiligen das Sakrale als dessen „interpretierte Erscheinung“.86 Bahr bezeichnet das Sakrale als „Verwaltetsein des Heili-

84 BÖHM 2009, S. 15. 85 Vgl. diesbezüglich die Ausführungen Karl-Heinz Kohls zu der spezifischen Qualität sakraler Objekte: „Man begegnet ihnen mit Ehrfurcht. […] Sakrale Objekte stehen außerhalb der üblichen Kategorien. In der Ordnung der Dinge nehmen sie eine privilegierte Stellung ein. […] Sakrale Objekte sind Gegenstand eines Kultus. Auch verschmelzen sie tendenziell mit dem, was sie repräsentieren. […] Mit den sprachlichen Zeichen teilen sie die Eigenschaft der Beliebigkeit. Grundsätzlich kann jedes materielle Objekt als Repräsentant des Heiligen angesehen werden und als solcher Verehrung erfahren.“ KOHL, Karl-Heinz: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003, S. 151f. und S. 157. 86 „Sakral ist das Sakrale nicht nur nicht vom Profanen her, wie man mitunter meint: gewissermaßen als Ausschuß seiner Selbstbegrenzung […] sondern auch nicht von sich her […], sondern durch das Heilige, das hier erscheint.“ SPLETT 1971, S. 307. An anderer Stelle spricht er von „primäre[r]“ und „sekundäre[r] Sakralität und meint hiermit die Unterscheidung zwischen der sich unter Rückbezug auf Sakrales etablie-

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gen durch die Religionen“87. Für ihre kulturwissenschaftliche Analyse populärer Spielfilme um die Jahrtausendwende greift Böhm Spletts Ansatz auf und unterscheidet explizit zwischen dem religionswissenschaftlich geprägten Begriff des Heiligen als übergeordneter Instanz und dem Sakralen, von dem aus sie den Begriff der Sakralisierung, das heißt der „‚Aufladung‘ oder Assoziierung kultureller Güter mit religiöser Valenz“ ableitet.88 In der vorliegenden Arbeit wird das Heilige auf dieser Basis als konzeptionelle, grundlegend transzendente Kategorie verstanden, die im Sakralen vermeintlich zur Erscheinung kommt oder in diesem zur Erscheinung gebracht wird, sich jedoch zugleich stets entzieht. Im Folgenden werden die Parameter der Begriffe in einer Synthese zusammengefasst.89 In den Analysen (Teil II) werden die Positionen vertieft angewandt. Auf Basis seiner interpretatorischen Ausformulierungen – und wiederum ohne dessen Existenz per se postulieren zu wollen – liest sich das Heilige in erster Instanz als das ganz Andere, vom Profanen verschiedene, indem es das grundlegend Transzendente ist, das als Wesen des Religiösen gesehen werden kann (Otto, Eliade).90 Als Entzogenes lässt es sich schwerlich sprachlich definieren und ist daher primär über die Erfahrung seiner spezifischen Qualität zugänglich (Otto).91 Die Erfahrung zeichnet sich durch ein Ergriffensein durch ein Übermächtiges, unendlich Geheimnisvolles, vollkommen Anderes aus, das zugleich faszinierend und erschreckend sein kann (Otto).92 In jedem Fall erschließt es sich in renden sekundären Sakralität des Kultes und der durch Epiphanie sich begründenden primären Sakralität: SPLETT 1971, S. 303f. Diese Einteilung scheint bedingt in den hier in der Folge ausgeführten Bezeichnungsprozessen aufzugehen, die das Sakrale sowohl als Einschreibung – als sich-Zeigen des Heiligen – (primär Sakrales), sowie als Produkt menschlichen Handelns, als sekundär Sakrales dienen. 87 BAHR 1987, S. 62-81, S. 64. 88 BÖHM 2009, S. 12 und S. 14. Schwerpunkt der Untersuchung von Böhm sind Sakralisierungen und ihre Funktionalisierung innerhalb der Populärkultur, insbesondere in Hinblick auf ihre Wirkung in politischen und ökonomischen Strukturen, die Böhm unter dem Begriff der Transdifferenz weiter analysiert, vgl. BÖHM 2009, S. 12 und S. 42. Die vorliegende Untersuchung setzt ihren Schwerpunkt hingegen auf das Medium Fotografie und befragt dessen spezifisches Potential in Bezug auf das Heilige. Dabei geht es nicht nur um Fiktionalisierungen und Inszenierungen des Heiligen, sondern die Anwendung verschiedener Zeichenarten in der Fotografie. 89 Dass diese sich nicht als abgeschlossen darstellen kann, wird vorausgesetzt. 90 Vgl. OTTO 2014, S 12f., S. 28 und S. 31; und vgl. ELIADE 1998, S. 14. 91 Vgl. OTTO 2014, S. 7. 92 Das mysterium fascinans et tremendum, vgl. OTTO 2014, Kapitel 4 und 6, sowie S. 15 und S. 42f.

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der Erfahrung als etwas ungemein Wertvolles, das uns unbedingt angeht (Schlette in Rückbezug auf Tillich und Scheler).93 Als Transzendentes kann es sich in Gegenständen der natürlichen Welt als Hierophanie manifestieren, geht jedoch zugleich als Ahistorisches auch über diese hinaus (Eliade).94 Es ist demnach auch in seiner Anwesenheit gewissermaßen abwesend und wird in diesem Sinne primär als „Spur“95 einer Abwesenheit begreifbar. Diese Lesart wird insbesondere in negativen Theologien sowie der jüdischen Tradition relevant, die das Heilige aufgrund seines grundlegenden Entzugs als nicht abbildbar deuten.96 Zugleich ergibt sich eine Verflechtung des Profanen mit dem Heiligen, da alles Profane potentiell von Heiligem durchdrungen werden kann und somit zum Träger des Heiligen werden kann. Insbesondere für christlich orientierte Deutungen setzt das Profane damit eine potentielle Immanenz des Heiligen voraus, für welche die Inkarnation als Bildwerdung Gottes im Menschen beispielhaft steht (Wendel).97 Als erste Setzung bietet die Hierophanie dem Menschen Orientierung im Chaos und über die Ausbildungen von Riten und Systemen wird das Heilige mittels Wiederholung zugänglich gemacht (Eliade).98 Fungiert das Heilige als überreligiöser Grund des Religiösen (Otto),99 so wird es nur über individuelle, historisch und kulturell spezifische Zuschreibungsprozesse und Codierungsstrategien mittels seiner Repräsentation kommunizierbar: Das Heilige spiegelt sich in Gesten und Riten der Annäherung, in repräsentativen Zeichensystemen, in Abbildungen und Ikonen.100

93 Vgl. SCHLETTE 2009, S. 112. 94 Vgl. ELIADE 1998, S. 14 und S. 177. 95 LÉVINAS, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg 1983, S. 249f. Levinas differiert insofern von der hier angesetzten Lesart, als dass er das Heilige als grundsätzlich „unpräsentierbare Absenz“ denkt, die sich „jeder Darstellungsmöglichkeit entzieht […] ohne sich jemals zu vergegenwärtigen“, wie Saskia Wendel betont. WENDEL 2011, S. 166. 96 Vgl. etwa LÉVINAS, Emmanuel: Vom Sakralen zum Heiligen. Fünf neue TalmudLesungen, Frankfurt am Main 1998. 97 Vgl. WENDEL 2011, S. 173f. 98 Vgl. ELIADE 1998, S. 23 und S. 29. 99 Gewissermaßen wird das Heilige auch in der vorliegenden Arbeit als substantielle Kategorie vorausgesetzt – dies jedoch nicht in dem Sinne einer Bestätigung des vorliegenden Diskurses, sondern vielmehr, um dem Vorhandensein des Diskurses gerecht zu werden und die Bedeutung und das strukturelle Potential des Heiligen in dieser Hinsicht in die Untersuchung seiner Repräsentationen einbeziehen zu können. 100 Vgl. BÖHM 2009, S. 15.

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Um diese Differenz zwischen der Idee des Heiligen und seiner Repräsentation und Kommunikation, die für diese Arbeit besonders relevant erscheint, näher zu erfassen, wird der Begriff des Sakralen verwendet: Das Sakrale wird als Bereich gedeutet, in dem das Heilige vermeintlich erscheint oder in dem es zur Erscheinung gebracht wird.101 Es ergibt sich ein strukturelles Geflecht, das das Sakrale als Mittler und Schwelle, mithin als „interpretierte Erscheinung“102 des Heiligen, zwischen der Sphäre des Heiligen und der des Profanen etabliert. Das Sakrale ist dabei Jenes, mittels dessen auf ein Heiliges gezielt wird, es ist jedoch auch Jenes, über das oder an dem Heiliges potentiell erfahrbar wird103: So wird zum einen über Sakralisierungen Wert geschaffen, um am Heiligen zu partizipieren und dieses in gewisser Weise erst zu produzieren, wie etwa Jonathan Z. Smith am Beispiel der Aufmerksamkeitssteigerung innerhalb eines Tempels hervorhebt.104 Auch Profanes, das mittels Weihe aus der weltlichen Sphäre ausgeschlossen und dem Heiligen übereignet wird, zählt in gewissem Sinne zum Sakralen, da es das Heilige interpretiert. Zum anderen wird das Sakrale als Bereich verstanden, in dem sich Heiliges zeigt. In diesen Bereich fallen feste Verbindungen, die, im Sinne Ottos, Ergriffenheitserfahrungen eines Unbedingten, Transzendenten anregen können oder schematisieren wie etwa das Erhabene: In diesem Sinne „gilt das Sakrale als Schematisierung des Heiligen, also als jenes, welches das Heilige dem Verstand zugänglich macht und es in bestimmte Formen gießt.“105 Wie Böhm hervorhebt, bietet insbesondere Rudolf Otto mit seiner Ausdifferenzierung des Heiligen in rationale, irrationale und moralische Elemente eine Folie, auf der sich das Heilige vom Sakralen abspalten lässt. Über die Beschreibung der rationalen Schematisierungen des Numinosen erhellt es den Bereich des Sakralen auch in den spezifischen sakralen Formgebungen.106 In ihrer Analyse erarbeitet Böhm eine Typologie grundlegender, nicht nur für den Film gültiger Sakralisierungsformen.107 Eine solche Aufzählung kann für die 101 Siehe hierzu ebenfalls BÖHM 2009, S. 111. 102 SPLETT 1971, S. 307. 103 Im Sakralen treffen ein substantieller und ein situationeller Ansatz in Bezug auf das Heilige zusammen, vgl. die Ausführungen oben. 104 Vgl. SMITH 1987, S. 104. 105 BÖHM 2009, S. 111. Otto beschreibt mit „Schematisierungen“ die rationale Form des Numinosen, so wird beispielsweise das fascinans schematisiert durch die positiven natürlichen Vorstellungen der Liebe, des Mitleids etc., die jedoch jeweils im Überschuss gedacht werden müssen und selbst dadurch dem unendlich höheren Überschuss des Heiligen nicht gerecht werden können. OTTO 2014, S. 42f. und Abschnitt oben. 106 Vgl. BÖHM 2009, S. 59. 107 Vgl. BÖHM 2009, S. 111f.

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vorliegende Arbeit als sinnvoller Referenzpunkt dienen, da sie zum einen Anhaltspunkte liefert, was in den Bereich des Sakralen fällt. Zum anderen können diese Elemente bei Bedarf auch als Analyseinstrumente dienen, wenn kulturelle Erzeugnisse auf ihren sakralen Gehalt abgetastet werden. Dazu gehören ästhetische, emotionale und gestische Elemente, die etwa auf das Erhabene oder beispielsweise Ottos mysterium fascinans et tremendum verweisen oder religionsaffine Gefühle ansprechen. Auch soziale und rituelle Elemente, wie beispielsweise Initiationsriten und Identifikationsprozesse sowie strukturelle und zeichenhafte Aspekte lassen sich in diesem Kontext aufführen. Hinzu treten konkrete theologische Elemente, die spezifisch auf Religionen oder religiöse Zeichenkomplexe, Texte und Narrative verweisen sowie Elemente, die selbige anschaulich und/oder unmittelbar inszenieren und auch akkustisch intonieren (etwa mittels der von Otto benannten Kraft der viva vox).108 Auch Elemente, die, im Sinne Eliades, durch das Heilige gezeichnet und somit erhöht werden (nicht die Hierophanie selbst, jedoch das durch sie im profanen Bereich ausgezeichnete) gehören somit zum Sakralen. Dabei ist stets die Perspektivierung zu beachten, denn sowohl Hierophanien als auch Schematisierungen sind stets betrachterabhängig und kulturell spezifisch, wenn auch, nach Otto, bestimmte Elemente kulturübergreifend gültig sind.109 Das Sakrale kann somit als „Medium“ des Heiligen gelesen werden, als „seine materielle Dimension sowie seine erläuternde Interpretation“, in dem seine jeweiligen Repräsentationen und Inszenierungen analysierbar werden.110 Oft werden die Grenzen dabei unscharf, in dem das Sakrale stets auf etwas verweist, das es nicht vollends auffangen kann, da dem Heiligen

108 Für eine gegliederte Auflistung siehe BÖHM 2009, S. 112. Cobb benennt in seiner, an der Kulturtheologie Tillichs orientierten, Studie zu den Schnittstellen von Theologie und Kultur mehrere ‚Werkzeuge‘ zur Analyse kultureller Phänomene, die bereits in den oben genannten Perspektiven auf das Heilige anklingen und auch in Böhms Ansatz durchscheinen: „ultimate concern, the holy, moral and ontological faith, ecstatic revelation, religious symbols, myths, liminality, and three different modes of religion“, COBB 2005, S. 101-132, Zitat S. 101. Zur „viva vox“ siehe OTTO 2014, S. 80. 109 Vgl. LÜDDECKENS 2008, S. 522. 110 BÖHM 2009, S. 15, S. 49 und S. 111. Wie Böhm hervorhebt, konvergieren „mehrere Mediendefinitionen […] in so einem Medienverständnis“. Das Sakrale wäre ein „Mittler, durch [den] sich eine numinose Macht zeigt, es wäre Trägermedium einer heiligen Botschaft“, die es zudem „übermittelt und verbreitet“, BÖHM 2009, S. 15. Diesem weiter gefassten Verständnis des Mediumbegriffs wird auch in der vorliegenden Arbeit gefolgt. Zur Medientheorie allgemein vgl. LAGAAY A. (Hg.): Medientheorien. Eine philosophische Einführung. Frankfurt am Main 2004.

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ein Bedeutungsüberschuss zu eigen ist111, sei es nun, indem es von diesem passiv gezeichnet scheint oder dieses aktiv bezeichnen soll. Dabei ergibt sich eine paradoxe Doppelkonstellation, denn der Bereich des Sakralen kann Sakralisierungen sowohl umfassen (indem er als ihr Produkt entsteht) als auch selbst zu Zwecken der Sakralisierung dienen, je nachdem welches Verständnis von Sakralisierung man ansetzt. Nach Smiths situationellem Ansatz entsteht Sakrales als Produkt menschlicher Arbeit, etwa in Form der Aufmerksamkeitspotenzierung, wie sie beispielsweise in Tempeln zu finden ist.112 In Korrelation mit Schlettes Ansatz, das Heilige im säkularen Kontext als „letzte Werte“113 zu lesen, lässt sich eine derartige Form der Sakralisierung auch generell als Wertsteigerung begreifen, die nicht nur in religiösen, sondern auch in säkularen Kontexten greifen kann. Diese Form der Sakralisierung muss somit als Prozess vom Profanen her gedacht werden und teilt sich in zwei Bereiche, als Sakralisierung mit allgemeiner Valenzsteigerung oder Valenzsteigerung mit religiöser ‚Zielkategorie‘. Böhm hingegen definiert Sakralisierung als „Aufladung kultureller Güter mit religiöser Valenz“114 und nimmt damit insofern eine andere Perspektive ein, als dass sie Sakralisierung aus Richtung der religiösen Sphäre denkt: Die Bedeutungssteigerung entsteht mit und durch Elemente, die bereits in den Bereich des Sakralen fallen, also schon per se religiöse Valenz besitzen oder durch diese geprägt sind.115 Sie differenziert diese Formen der Sakralisierung noch einmal aus: So versteht sie Sakralisierung zum einen „als Zuschreibungsprozesse […], die mittels eines Zeichentransfers eine sakrale Wertigkeit zu erzeugen suchen“, das heißt als „Bedeutungsaufladung alltäglicher Objekte, Personen und Handlungen […] durch Rekurs auf religiöse Zeichen, Symbole, Strukturen und Riten“.116 Zum anderen untersucht sie „Sakralisierung als gestisches 111 Vgl. BÖHM 2009, S. 113. 112 Vgl. SMITH 1987, S. 104. 113 SCHLETTE 2009, S. 112. Eignen Schlettes Ansatz eher grundlegende, substantielle Eigenschaften des Heiligen, die in seine säkulare Verwendung übertragen werden, so erscheint über den Wertaspekt durchaus eine Verknüpfung der zwei Ansätze in Hinblick auf ihre säkulare Anwendbarkeit möglich. 114 BÖHM 2009, S. 12. In ihrem Begriff der Sakralisierung bezieht sie sich primär auf ESCHEBACH, LANWERD 2000; und KRECH, Volkhard: Götterdämmerung. Auf der Suche nach Religion, Bielefeld 2003, insbesondere S. 51-59; sowie KRECH, Volkhard: Wir sind diffus. Gibt es eine Wiederkehr der Religion?, in: Süddeutsche Zeitung, 29.04.2005, S. 15. 115 Vgl. BÖHM 2009, S. 106. 116 BÖHM 2009, S. 105f. Dieser Ansatz ist zudem stark geprägt durch den Mythosbegriff Roland Barthes’, vgl. BARTHES, Roland (1957): Myth Today, in: Ders.: Mytholo-

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Eindruckspotential“, worunter sie beschreibbare Inszenierungen von „religionsaffine[n] Themen oder Beziehungsstrukturen“, die sich auf Basis „menschlicher/figürlicher Interaktion“ entfalten, versteht.117 Mit Rekurs auf Klaas Huizing, können diese als Gesten gedeutet werden, wie Böhm erläutert: „Huizing expliziert die Erfahrung von Interaktion im Sinne religionsaffiner Themen auf der Basis von Gesten der Solidarität, Barmherzigkeit und Toleranz, was es ermöglicht, so abstrakte Beziehungsstrukturen wie Vertrauen, Verzeihen etc. in visuell darstellbaren Handlungsvollzügen und Gestenrepertoires nachvollziehbar zu machen. Bei seinem Postulat affektiv wirksamer und eindrücklicher Gesten bezieht er sich auf die Warburgschen Pathosformeln und impliziert eine Art Körpergedächtnis. […] Im Zuge einer kritischen Medien-Eindruckswissenschaft analysiert [Huizing], wie in audiovisuellen Medien, die „die Aura der Unmittelbarkeit und Authentitzität“ inszenieren, solche Gesten über legendarische Figuren und ihre Bewegungssuggestionen dargestellt und vom Zuschauer vornehmlich affektiv rezipiert wird.“118

Das Paradoxon eines Sakralen, das Sakralisierungen enthalten kann, entsteht demnach in gewissem Sinne erneut durch das Neben- und Übereinander eines situationellen und eines substantiellen Ansatzes. Zeichen, die aufgrund eines substantiellen Ansatzes eine spezifische Erscheinung des Heiligen in tradierten Formen, Gesten und spezifischen ästhetischen Zuschreibungen ‚auffangen‘ oder gies, New York 1972, S. 109-137. Über diesen Bezug begreift Böhm Sakralisierungen auch als „mythische Zeichenformation“: „Sakralisierungen können demnach analog zum Mythos als Zeichensysteme verstanden werden, bei denen einem Zeichen erster Ordnung ein mythisches Konzept zweiter Ordnung konnotativ angelagert wird; der mythische Signifikant ist nun aber in der Lage, den Verweis auf das mythische Konzept zu verschleiern, indem er sich auf die Position des Zeichens erster Ordnung, das ‚reine‘ Denotat also, zurückzieht.“ BÖHM 2009, S. 101 und S. 102. 117 BÖHM 2009, S. 106f. Nach Krech sind religionsaffine Themen solche, „die Religion anziehen oder nahe legen, aber noch nicht religiös sind. Zu den wichtigsten religiösen Themen gehören biographische und kollektive Krisensituationen und natürlich der Tod. Außerdem sind auch manche Formen der Vergemeinschaftung religionsaffin, nämlich dann, wenn es um den Vergleich von Nähe und Distanz geht – also vor allem in Intimverhältnissen. Vertrauen, Glauben, Schenken, Verzeihen und Versöhnen können als religionsaffine soziale Beziehungsformen begriffen werden, weil sie die ganze Person der an den Interaktionen Beteiligten […] betreffen und zugleich elementare Sozialisierungsformen darstellen.“, KRECH 2003, S. 55. 118 BÖHM 2009, S. 107f. Sie bezieht sich auf: HUIZING, Klaas: Ästhetische Theologie II. Der inszenierte Mensch. Eine Medien-Anthropologie, Stuttgart, Zürich 2002, S. 25.

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in dieser Hinsicht eingesetzt werden, werden verwendet, um mittels ihrer zu sakralisieren und so Sakrales zu produzieren. Zugleich kann über andere Formen der Annäherung Sakrales produziert werden, das ebenfalls in feste Formen (bspw. Rituale) überführt werden kann und dergestalt wieder als potentieller Marker des Sakralen einsetzbar wird. Es ist also zwischen zwei Richtungen und vier Subformen von Sakralisierung zu unterscheiden: Sakralisierung als ‚Wertsteigerung‘ oder Bedeutungsaufladung (Produktion von allgemeiner oder religiöser Valenz) und Sakralisierungen im Sinne von Sakraltransfer (Sakralisierung als Übertragung religiöser Valenz auf Profanes, bspw. kulturelle Artefakte, durch Rekurs auf fixe Zeichensysteme oder Inszenierung religionsaffiner Themen). Es ergibt sich ein komplexes Gefüge aus aktiven und passiven Zuschreibungs- und Bezeichnungsprozessen, in denen das Sakrale als Mittlerkategorie zwischen der Ebene des Profanen, auf Seite der Rezipienten- und Produzenten, und der des Heiligen als überreligiöser, transzendenter Kategorie, die sowohl als ultimativer ‚Sender‘ wie als (final nicht erreichbare) ‚Zielkategorie‘ fungieren kann, steht. Anstatt diese Konstellation als unauflösbaren Zirkelschluss zu deuten (Sakrales produziert Sakrales, das wiederum Sakrales produziert), soll hier angesetzt werden, was Jeanne Halgren Kilde in ihrer Analyse von Sakralräumen als Aufgabe etabliert, nämlich aus beiden Perspektiven auf das Analyseobjekt zu blicken.119 Eine Analyse aller vier Arten von Sakralisierung bietet ein größeres Erkenntnispotential insbesondere auch in Hinblick auf mögliche Kontaktpunkte und Parallelen zwischen Heiligkeit als Sujet und der Fotografie als Medium. Zudem kann auf diese Weise auch sinnvoll nach Prozessen von Ent- und Resakralisierung gefragt werden, die sich sowohl auf das Sujet als auch auf das Medium beziehen können. Während Böhm in ihrer Arbeit primär das kulturelle Potential sakralisierender Zeichentransfers und Gesten dechiffriert und sich auf die Analyse der Inszenierungen der Erfahrung des Heiligen im Film konzentriert, geht es im Folgenden neben der Analyse der jeweiligen Thematisierung von Heiligkeit über Sakrales vielmehr darum, die in dem fotografischen Medium angelegten Möglichkeiten zur Sakralisierung herauszuarbeiten und zu untersuchen, ob und wenn ja wie diese in der jeweiligen fotografischen Position reflektiert zum Einsatz kommen. Kapitel 2.2 bereitet gewissermaßen das Feld für dieses Vorhaben, indem es einer ersten historisch und theoretisch basierten Skizzierung der Schnittstellen zwischen Heiligkeit, Sakralität und Fotografie dient, auf deren Grundlage sich abschließend Analysekriterien ansetzen lassen (2.3). 119 Kilde formuliert dies als „retaining the analytical character of the situational view while remaining cognizant of the power of the substantive view“, KILDE 2008, S. 8.

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Auf Grundlage der Reflexion der multidisplinären Forschungsperspektiven zum Heiligen wurde deutlich, dass dem menschlichen Körper in der Mediatisierung von Heiligkeit (etwa in der Inkarnation), in der Annäherung an Heiliges (etwa durch rituelle Handlungen) sowie in der Erfahrung von als heilig Qualifiziertem (Otto) eine zentrale Rolle zukommt. Aufgrund dieser elementaren Gegenwärtigkeit des Körpers in der menschlichen Auseinandersetzung mit dem Heiligen erscheint es sinnvoll, den Körper als Auswahlkriterium für die exemplarischen Analysen in Teil II der Arbeit anzusetzen. Um auch in dieser Hinsicht eine Basis für die Analysen zu legen, sollen im kommenden Abschnitt zentrale Parameter der Relation des Körpers zum Heiligen vorgestellt werden, die in den einzelnen Analysen in die Tiefe betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund wird anschließend (Kapitel 2.2) deutlich, dass bereits frühe fotografische Positionen markante Korrelationen von Körper, Heiligem und Fotografischem aufweisen.

2.1.4 Der Körper als Medium des Heiligen Als aufschlussreiche Studie, die sich der Rolle des Körpers in der Religion widmet, ist Stefanie Knauß‘ Analyse zur filmischen und religiösen Körpererfahrung zu nennen.120 Der teils stark theologisch reformierende Unterton ist aus kunsthistorischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive kritisch zu betrachten, aufgrund der gut strukturierten und abstrahierenden Vorgehensweise empfieht sich ihre Analyse jedoch für eine das Thema vertiefende Lektüre.121 Knauß konzentriert sich auf die christliche Religion, und hebt die zentrale Stellung des Körpers und das ihn umgebende ambivalente Beziehungsgeflecht hervor: Der Körper ist der Ort der Inkarnation und der Heilserfahrung, wird aber auch als das „Einfallstor des Bösen“ verstanden, er ist Teil der religiösen Praxis und bleibt doch dem Geistigen in der Theologie seit der Neuzeit seltsam unterlegen.122 Die120 Vgl. KNAUSS 2008. 121 Dies insbesondere, da sie nicht nur die historische Entwicklung sondern auch die gegenwärtige Rolle des Körpers für religiöse Erfahrungen in den Blick nimmt und die Stellung des Körpers in anderen gesellschaftlichen Feldern reflektiert. 122 KNAUSS 2008, S. 82. In kurzen, doch fundierten Abschnitten skizziert Knauß Gender-sensibel die Entwicklung verschiedener Körperbilder und verweist auf die historische Wandlung der Körperbegriffe, vgl. KNAUSS 2008, S. 21.f sowie Kapitel 2.4 „Körper und Religion“, S. 81-109. Die christliche Theologie unterscheidet im Deutschen ‚Körper‘ (von lat. corpus) und ‚Leib‘ (von mittelhochdeutsch lip: Leben) als Differenz einer reinen biologischen Körperlichkeit und eines beseelten Körpers. Auf diesen komplexen Diskurs sei hier nur verwiesen, für eine knappe Zusammenfassung

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se theologisch orientierte Perspektive bietet einen Ausgangspunkt, der im Rahmen der interdisziplinären Verortung der vorliegenden Fragestellung einer Ausweitung bedarf. So beschreibt Knauß die Gegenwart Gottes als über und mit dem Körper vermittelt123 – daran anlehnend widmet sich im Folgenden der erste Abschnitt der Funktion des Körpers als ‚heiligem‘ Körper und des Körpers als Heilsträgers. Anschließend wird der Körper als performativ-ritualisierender und ritualisierter Körper sowie als erfahrender Körper betrachtet. Insbesondere in der christlichen Religion kommt dem Körper durch den Prozess der Inkarnation Gottes im Sohn sowie durch die Lehre von der Transsubstantiation in der Heiligen Messe eine zentrale Position zu.124 Die Inkarnation stellt die Mediatisierung von Heiligkeit im menschlichen Körper dar und überlagert somit heilige, sakrale und körperliche Elemente. An dieser Schnittstelle ist auch die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Abbildung Gottes sowie des Bilderverbots situiert, die für die kunsthistorische Entwicklung und die Entstehung religiöser Bildkonzepte relevant ist. Einen guten Einblick in die Bildtheologie bietet Alex Stock.125 Er hebt hervor, dass für die christlichkatholische Tradition die Möglichkeit der Darstellung Christi im Bild in der Inkarnation begründet liegt: Gott, als Inbegriff des Heiligen, ist mittels der Inkarnation im Menschen Bild geworden und kann daher auch im Bild repräsentiert werden.126 Die vorliegende Arbeit widmet sich weniger der Frage nach der Möglichkeit der Abbildung Gottes sondern nimmt vielmehr visuelle Konzepte des Heiligen und Sakralen in den Blick, die ein gewisses Bildpotential in Bezug auf Heiliges bereits voraussetzen und bestehende Bildtraditionen reflektieren.127 und eine Reflexion neuerer Tendenzen, die auch die Medialität der Darstellung des Körpers einbezieht, vgl. KNAUSS 2008, S. 19f. sowie S. 63-65. Siehe ebenfalls WENDEL, Saskia: Leib – Körper/Leib-Seele-Verhältnis, in: FRANZ, Albert, BAUM, Wolfgang, KREUTZER, Karsten (Hg.): Lexikon philosophischer Grundbegriffe der Theologie, Freiburg 2003, 252-255. In der vorliegenden Arbeit wird eine solche Unterscheidung nicht angewandt, der Begriff des Körpers bezieht sich vielmehr auf den menschlichen Körper als Medium der Erfahrung und schließt damit auch geistige Aspekte ein. 123 Vgl. KNAUSS 2008, S. 89. 124 Wie unter 2.1.2 im Abschnitt zum Heiligen als Person (Wendel) bereits angemerkt wurde. 125 Vgl. STOCK 1996. 126 Vgl. STOCK 1996, S. 6. 127 Andres Serrano und Pierre Gonnord knüpfen beispielsweise, wie gezeigt werden soll, an malerische Traditionen an und überführen sie ins fotografische Medium (Kapitel 3 und 5).

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Dennoch ist gerade die Frage nach den Grenzen der Abbildbarkeit des Heiligen, beziehungsweise der symbolischen Visualisierung sakraler Elemente in Bezug zu Bildern des Körpers zentral für die Fragestellung. Dies zeigt sich in keiner der zu analysierenden Position so kontrovers, wie in der eingangs vorgestellten Fotografie Piss Christ (Kapitel 1, Abb. 1.1). Die Frage nach den Grenzen des guten Geschmacks und den individuellen und kollektiven Vorstellungen dessen, was für einen bildlichen Umgang mit Symbolen des Heiligen angemessen ist, wird von Serrano auf komplexe Weise gestellt und über das Verhältnis zum Körper ausgelotet, wie in Kapitel 3 zu zeigen sein wird. Die Interpretation der Inkarnation als Bildwerdung Gottes verdeutlicht darüber hinaus die enge Bindung des menschlichen Körpers an das Bild und impliziert ein Verständnis, das den Körper als Bild begreift.128 Wie Amelia Jones hervorhebt, lässt sich daran anschließend auch das Bild gewissermaßen als Körper begreifen, „the picture, like the body, is flesh of the world“.129 Diese an Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie orientierte Lesart soll die Materialität des Bildes als Objekt der haptischen Begegnung hervorheben. Auf paradoxe Weise integriert sie jedoch auch die Vorstellung, dass das Bild mit dem repräsentierten Körper gleichzusetzen wäre – ein Aspekt der in Bezug auf das Heilige hochgradig ambivalent ist und zur Frage des Bilderverbots, der Götzenverehrung und der Blasphemie zurückführt. An diesem Kreuzungspunkt von Körper, Bild und Interpretation offenbart sich die Relevanz des fotografischen Mediums – insbesondere in David Nebredas zerstörerischen Selbstportraits (Kapitel 4) tritt ein geradezu magisch anmutender Bilderglaube zutage, der das realistische, der Wirklichkeit verhaftete Potential des fotografischen Bildes voll ausschöpft und sich sowohl aus der Medialität fotografischer Bilder als auch aus der engen Verbindung dieser Medialität zu religiösen Bildkonzepten speist.130 Die Vorstellung der Existenz heiliger Körper findet in der christlichen Religion im Reliquienkult eine sakrale Praxis, bei der körperliche Überreste heiliggesprochener Menschen in kostbaren Gefäßen verwahrt werden.131 Knochen und 128 Vgl. BELTING 2006, S. 73. 129 JONES 2003a, S. 262. 130 Vgl. zu letzterem auch Kapitel 2.2. 131 Diese bildeten ihrerseits eine eigene Gestaltungs- und Deutungstradition aus, vgl. etwa ANGENENDT, Arnold: Relics and their Veneration, in: Ausst.Kat.: Treasures of Heaven. Saints, Relics, and Devotion in Medieval Europe, Cleveland Museum of Art, Cleveland; The Walters Art Museum, Baltimore; The British Museum, London, 2010/2011, S. 19-28, S. 28. Er verweist darauf, dass sich ähnliche Vorstellungen bereits vor dem Frühchristentum finden, die Verehrung sterblicher Überreste also keine christliche Erfindung ist.

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Gebeine der Heiligen galten als wundersame, heilbringende und Gnade verheißende Schätze, die Gefäße wurden dementsprechend mit Gold und Edelsteinen geschmückt.132 Für den Reliquienkult von zentraler Bedeutung ist die Vorstellung, dass den körperlichen Überresten eine heilige Kraft innewohnt, die durch Berührung auf alles sie Umgebende übertragen werden kann.133 Besonders in der Volksfrömmigkeit entwickelte sich ein Kult der Berührung der Reliquien.134 Zwei Aspekte werden an dieser Konstellation sichtbar: Zum einen wird die beglaubigende Funktion von körperlicher Berührung hervorgehoben, die sich exemplarisch auch im Griff des ungläubigen Thomas in die Seitenwunde Christi verdichtet und ebenfalls eng mit der Medialität des fotografischen Bildes verknüpft ist. Zum anderen ist der Körper in der Berührung nicht nur als Medium im Sinne eines Trägers oder eines Mittlers, durch den Heiliges sich zeigen kann, relevant. Er dient auch der Ausführung der Bewegung und damit der aktiven Annäherung an Heiliges über Berührungen, Gesten und Rituale.135 Der zweite Modus des Körpers in Bezug auf Heiliges scheint daher rituell und performativ geprägt. Im Christentum wird der Körper vielschichtig in Rituale eingebunden, insbesondere in liturgischen Handlungen, sei es als heiliger Körper während der Eucharistiefeier, als teilnehmender, das Sakrament empfangender Körper, oder in anderen religiösen Ritualen, wie etwa der Taufe, der Salbung, dem Gebet und dem Opfer.136 Der Körper fungiert in diesem Sinne auch

132 Vgl. TOUSSAINT, Gia: Heiliges Gebein und edler Stein – der Edelsteinschmuck von Reliquiaren im Spiegel mittelalterlicher Wahrnehmung, in: Das Mittelalter – Perspektiven mediävistischer Forschung, 8, 2003, H. 2, S. 41-66, S. 46. 133 Vgl. REUDENBACH, Bruno: Reliquiare als Heiligkeitsbeweis und Echtheitszeugnis. Grundzüge einer problematischen Gattung, in: KEMP, Wolfgang, MATTENKLOTT, Gert, WAGNER, Monika u. a. (Hg.): Vorträge aus dem Warburg-Haus, Berlin 2000, Bd. 4, S. 1-36, S. 1. 134 Nicht zuletzt um, neben dem Reliquienhandel, diese haptisch orientierte Volksfrömmigkeit einzuschränken, wurde 1215 vom Laterankonzil der Beschluss gefasst, die Reliquien zu verschließen. Vgl. FRANK, Thomas: Wundertätige Körper. Reliquien und figürliche Reliquiare im Mittelalter, in: GERCHOW, Jan (Hg.): Ebenbilder. Kopien von Körpern – Modelle des Menschen, Ostfildern Ruit 2002, S. 73-82, S. 76f. 135 Diese multiperspektivische Verwendung des Medienbegriffs orientiert sich methodisch an BÖHM 2009, S. 15 und überträgt ihren Ansatz auf den Körper. 136 Zum religiösen Opfer, vgl. BURKERT 1987.

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als Spiegel der Seele, er ist Ausdruck einer inneren, seelischen Haltung,137 die sich auch in der Gestik138 zeigt. Der Einbezug des Körpers als Medium der Annäherung an Heiliges ist jedoch selbstverständlich nicht auf das Christentum beschränkt. Auch in weiter gefassten religiösen und spirituellen Ansätzen kommt der Verbindung des Körpers mit dem Transzendenten eine große Bedeutung zu, wie Robert Wuthnow hervorhebt: „Eastern religions that include ideas about breath and energy centers, along with new insights form alternative and complementary medical approaches, holistic perspectives on health, scientific studies of the effects of meditation and prayer, feminist spirituality, and the incorporation of dance and visualization into traditional liturgical practices, have influenced, how the body is understood in relation to spirituality.“139

Die von Wuthnow beschriebenen östlichen und spirituellen Traditionen dienen somit gewissermaßen der Überwindung des Körpers. Ähnlich verhält es sich in Enthaltsamkeitsübungen; wie Knauß hervorhebt, benutzt jedoch „selbst die Überwindung des Körpers in der Askese […] den Körper als Medium der Vollendung“.140 In einer solchen Lesart wird der Körper dezidiert zum Medium der Annäherung an Heiliges, sei es über Askese, in Praktiken der rituellen Verletzung oder erlittenen gewaltvollen Handlungen im Martyrium. Der Körper kann dabei sowohl aktiv Rituale und Handlungen initiieren, als auch Objekt oder Opfer dieser Handlungen sein. In der Figur des Märtyrers fällt beides oftmals zusammen.141 Im Christentum wird hier wiederum einer Korrelation zum Körper des Heiligen in der Nachfolge Christi aufgebaut. Dem archaischen Menschen dienten rituelle Handlungen nach Eliade zur Wiederholung einer kosmischen Struktur, durch welche erst die eigene Welt Bedeutsamkeit und Realität erhielt. Sie wiederholen die göttlichen Urrituale, um die eigene Lebenswelt der Welt der Götter anzugleichen und so ins Reale zu überführen.142 Dient das Ritual bei Eliade demnach gewissermaßen der Sakrali137 Vgl. KNAUSS 2008, S. 91. 138 Zur engen Verbindung von Sakralisierung und Gestik vgl. Abschnitt 2.1.3 sowie BÖHM 2009, S. 107f. und HUIZING 2002, S. 25. 139 WUTHNOW, Robert: Creative Spirituality. The Way of the Artist, Berkely, Los Angeles, London 2001, S. 170. 140 KNAUSS 2008, S. 89. 141 Zur Figur des Märtyrers vgl. WEIGEL 2007b. 142 ELIADE, Mircea (1949): Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr, Frankfurt am Main 1984, S. 11 und S. 16-18.

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sierung der eigenen Welt mittels zeichenhaften und gestischen Sakraltransfers, so wird hingegen nach Smith über das Ritual Heiliges erst produziert.143 Das Ritual fokussiert die Aufmerksamkeit und hebt erst dadurch das zu Sakralisierende hervor (vgl. Kapitel 2.1.2). Der Körper kann somit auch als Medium der Annäherung an oder der kontrollierten Distanzierung von Heiligem fungieren und über rituelle, performative Handlungen und Gesten zur Produktion von Heiligkeit im Sinne Smiths beitragen. Auf der Basis dieser komplexen Einbindung des Körpers in die Auseinandersetzung des Menschen mit dem Heiligen erscheint die Position Nebredas für die vorliegende Fragestellung besonders interessant. In Kapitel 4 wird zu zeigen sein, wie Nebreda performativ an die Figur des Märtyrers sowie an Vorstellungen von Askese und Opferdarbringungen anknüpft und zugleich die menschliche Tendenz reflektiert, sich über Handlungen und Symbolsysteme in rituelle Bezüge zum Heiligen zu begeben. Otto hebt darüber hinaus hervor, dass sich das Heilige nur in der Erfahrung offenbare – der Körper ist also auch das Medium der Rezeption des Heiligen. Knauß untersucht den Körper ebenfalls in dieser Hinsicht als „Bedingung menschlicher Existenz und Erfahrung und als Ort der Begegnung mit dem Unendlichen und ganz Anderen“.144 Erfahrung wird aus dieser Perspektive meist phänomenologisch verstanden und auch in der vorliegenden Arbeit in Anschluss an Knauß als „eine grundsätzlich sinnlich-körperlich vermittelte Begegnung mit Wirklichkeit, die im Verhältnis mit früheren und zukünftigen Erfahrungen steht“145 angesetzt. In der bildlichen Verhandlung von Konzepten des Heiligen vermischen sich religiöse und ästhetische Aspekte der Erfahrung, die insbesondere in der ästhetischen Theologie verhandelt werden.146 Wie Knauß betont, treffen „sowohl ästhetische als auch religiöse Erfahrungen […] den Menschen in seinem ganzen körperlichen Dasein. Damit sind sie sowohl unmittelbar und intensiv, als auch schwer zu fassen und zu kommunizieren. Bei beiden bleibt ein Rest des Unsagbaren zurück, das sich einer Interpretation verschließt.“147

143 SMITH 1987, S. 105: „Ritual is not an expression of or a response to ‚the Sacred’; rather, something or someone is made sacred by ritual“. 144 KNAUSS 2008, S. 9. 145 KNAUSS 2008, S. 22. 146 Als einschlägige Position ist hier neben Knauß Klaas Huizing mit seiner Ästhetischen Theologie zu nennen, vgl. HUIZING 2002. Ebenfalls relevant, jedoch weniger phänomenologisch als kulturwissenschaftlich ausgerichtet ist COBB 2005. 147 KNAUSS 2008, S. 22.

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Da diese Erfahrung jeweils vom Betrachter abhängig ist, bietet der Körper eine Basis, auf der sich das Heilige vermeintlich besonders konzentriert darstellen lässt. Dabei soll in der vorliegenden Untersuchung die ästhetische Erfahrung nicht als religiöse Erfahrung untersucht werden. Vielmehr soll reflektiert werden, wie in zeitgenössischen Positionen ästhetische Elemente religiöse Aspekte vermitteln, in Frage stellen und konzipieren können. Dennoch schließt dies die Frage nach Schnittstellen, Kontaktpunkten und parallelen Funktionen körperlich basierter religiöser und ästhetischer Erfahrung ein. Ottos Beschreibung, das Gefühl des Numinosen könne durch analoge Erfahrungen angeregt oder thematisiert werden (vgl. Kapitel 2.1.2), ist in dieser Hinsicht aufschlussreich und wird in die Analysen mit einfließen. Der Körper fungiert somit in der religiösen Auseinandersetzung des Menschen mit dem Heiligen auf vielfältige Weise als sakrales Scharnier oder als sakrale Schwelle, er ist gewissermaßen als multiperspektivisches sakrales Medium des Heiligen zu verstehen. Als ‚heiliger‘ Körper mediatisiert er Vorstellungen von Heiligkeit, in der körperlichen Wahrnehmung wird er zum Medium der Erfahrung von Heiligkeit, in der Bewegung, etwa in performativen Ritualen, dient er zur Annäherung oder zum Schutz vor Heiligem und kann, aus einer situationellen Perspektive heraus, das Heilige mittels Körperritualen auch produzieren. Aufgrund dieser zentralen Stellung des Körpers in der Auseinandersetzung des Menschen mit Heiligkeit und Sakralität scheint er auch für die Frage nach Konzepten des Heiligen in fotografischen Bildern erkenntnisversprechend und wird daher als Auswahlkriterium für die zu analysierenden Positionen angesetzt. Dies umso mehr, da, wie in der Einleitung skizziert, auch in der Kunst insbesondere seit den 1950er Jahren verschiedenste Aspekte von Körperlichkeit thematisiert werden.148 Fotografische Bilder bewegen sich innerhalb dieser größeren Kunstdiskurse und profitieren von den dort erprobten Verhandlungen verschiedener Körperaspekte für die gegenseitige Vermittlung religiöser und ästhetischer Vorstellungen von Erfahrung. Daran anknüpfend setzen die für die Analysen ausgewählten künstlerischen Positionen von Serrano, Nebreda und Gonnord den Körper und das Heilige auf vielfältige Weise zueinander in Bezug. In den Analysen wird auf Basis der hier dargelegten Berührungspunkte zwischen Körper und Heiligem jeweils nach der Rolle des heiligen Körpers, des dargestellten Körpers, des betrachtenden Körpers sowie des künstlerischen Körpers gefragt. Auf welche Weise werden diese Körper in fotografische Verhandlungen des Heiligen integriert? Wie geben sie Konzepten von Heiligkeit einen Resonanzraum und beeinflussen sie? Im folgenden Abschnitt, der das Heilige und Sakrale in einem Rück148 Vgl. Kapitel 1.3 sowie Vgl. JONES 2003a, S. 254f. und SCHUHMACHER-CHILLA 2000.

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blick mit ausgewählten Beispielen aus der Anfangszeit des fotografischen Mediums zusammenbringt, wird bereits zu sehen sein, dass der Körper eine besondere Rolle oder gar Präsenz erhält.

2.2 F OTOGRAFISCHE V ERHANDLUNGEN UND S AKRALEN UM 1900

DES

H EILIGEN

In dieser Arbeit soll spezifischen Kontaktpunkten nachgegangen werden, die das Heilige mit dem fotografischen Medium verbindet. Wie wird das Heilige in zeitgenössischen Fotografien visualisiert und thematisiert? Spielen theoretische Konzeptionen des Heiligen eine Rolle? Lassen sich aus den fotografischen Positionen theoretische und funktionale Parallelen zwischen Thema und Medium ableiten? Eine solche Herangehensweise birgt stets die Gefahr, Facetten an Bilder heranzutragen, die diesen nicht inhärent sind. Im Folgenden soll daher anhand dreier konkreter historischer Beispiele aus der Anfangszeit des fotografischen Mediums, in denen Heiligkeit als transzendentes Phänomen aufscheint, gezeigt werden, dass Thema und Medium einander nicht fremd, sondern im Gegenteil bereits seit den fotografischen Anfängen vielschichtig miteinander verflochten sind. Auf Basis dieser historischen Kontaktpunkte können zudem die Analysefragen präzisiert werden, um schließlich sinnvolle Kriterien festzulegen, mit welchen in Teil II der Arbeit die Fotografien Andres Serranos, David Nebredas und Pierre Gonnords auf ihr visuelles und mediales Potential zur Verhandlung des Heiligen und Sakralen befragt werden. Für die Entwicklung einer praktikablen und objektbasierten Methodik scheint dabei eine zeichentheoretische Perspektive sinnvoll, da sie als Schnittstelle zwischen Heiligkeit und Fotografie fungieren kann und sich so erste grundlegende Parameter ableiten lassen.149 Für die Fotografietheorie ist insbesondere der semiotische Ansatz des Logikers und Mitbegründers des Pragmatismus‘ Charles Sanders Peirce (1839-1914) relevant.150 In seiner Beschreibung ordnet er das Foto erst der Zeichenart der Similes oder Ikons zu, also jenen Zeichen, die über Ähnlichkeit funktionieren. Zugleich begründet er diese Ähnlichkeit jedoch mit dem Herstellungsprozess des Fotos, durch welchen dieses wiederum zu den indexikalischen Zeichen gehö-

149 Zur Semiotik im Allgemeinen vgl. BRASSAT, KOHLE 2003, S. 148. 150 Vgl. PEIRCE, Charles S.: Semiotische Schriften, hrsg. v. Christian Kloesel u. Helmut Pape, Frankfurt am Main 1986. Die im Fotografiediskurs wiederholt zitierte Passage findet sich in PEIRCE 1986c, S. 193.

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re.151 Jene Verbindung sollte prägend sein für einen Großteil der Fotografietheorien, die sich dem Fotografischen über die spezifische Herstellungsweise des Mediums nähern und im analogen Aufnahmeverfahren einen indexikalischen Realitätsbezug verortet sehen, der in der Folge als Spur, Abdruck oder Index aufgefasst wird.152 Dass fotografische Bilder über ihre visuelle Ähnlichkeit laut Peirce auch als ikonische Zeichen gefasst werden können, ist ein Umstand, dem insbesondere jüngere fotografietheoretische Positionen erneut nachgehen.153 Symbole als Zeichen, deren Bedeutung nach Peirce auf gesellschaftlicher Übereinkunft beruht,154 können mittels Fotografien gezeigt werden; im Rahmen eines spezifischen Diskurses können Fotografien auch selbst zu symbolhaften Bildern werden. Auch das Heilige ist über das zeichenhaft konkrete Sakrale eng an Zeichenformen gekoppelt – so kann es, wie gezeigt wurde, über gesellschaftlich etablierte Symbolzeichen kommuniziert werden, kann vermeintlich über Ähnlichkeiten angeregt werden (Otto) und sich mutmaßlich mittels der Hierophanie manifestieren und derart eine direkte Verbindung zu einem Zeichen aufbauen und in diesem präsent werden.155 Als historische Beispiele, aus deren Betrachtung heraus sich sowohl ein Forschungsüberblick skizzieren als auch erste grundlegende Parameter etablieren und die Analysefragen zuspitzen lassen, dienen im Folgenden die 1898 entstan151 Vgl. PEIRCE 1986c, S. 193. 152 Den Diskurs im Sinn einer Semiotik der Fotografie prägte besonders nachhaltig BARTHES, Roland (1964): Rhetorik des Bildes, in: KEMP, Wolfgang, VON AMELUNXEN, Hubertus (Hg.): Theorie der Fotografie. Band I-IV 1839-1995, München 2006, Bd. III, S. 138-149. Zugleich beeinflusste dieser Rückbezug auf die Verbindung des Objekts mit dem Abbild auch eine ontologisch geprägte, die Wirkung der Realität der Bilder auf den Betrachter einbeziehende, Lesart der Fotografie, die Andre Bazin, wiederum Roland Barthes und in jüngster Zeit Philippe Dubois maßgeblich prägten. Vgl. BAZIN, André (1958): Ontologie des fotografischen Bildes, in: Ders.: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films, hrsg. von Hartmut Bitomsky, Harun Farocki und Ekkehard Kaemmerling, Köln 1975, S. 21-27; sowie BARTHES 1989; und DUBOIS 1998. Für eine konzise Zusammenfassung dieser Entwicklung siehe KEMP,

Wolfgang:

Theorie

der

Fotografie

1945-1980,

in:

Ders.,

VON

AMELUNXEN, Hubertus (Hg.): Theorie der Fotografie. Band I-IV 1839-1995, München 2006, Bd. III, S. 13-39, hier insbesondere S. 24-32. 153 Vgl. PEIRCE 1986c, S. 193. In Bezug auf jüngere Positionen sei besonders genannt: BLUNCK, Lars: (Hg.): Die fotografische Wirklichkeit: Inszenierung – Fiktion – Narration, Bielefeld 2010. 154 PEIRCE 1986c, S. 193 sowie S. 198f. 155 Vgl. Kapitel 2.1 dieser Arbeit.

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denen fotografischen Bilder der sogenannten Bostoner Passion von Fred Holland Day, die im selben Jahr entstandenen ersten fotografischen Positivabzüge des Grabtuchs von Turin sowie die Tendenzen des 19. Jahrhunderts, transzendente Phänomene in Fotografien einzufangen. Letztere dienten nicht explizit als Rekurrenz auf ein fest zugeschriebenes Heiliges, befassten sich jedoch grundlegend mit der Etablierung fotografisch-ästhetischer Elemente zur Visualisierung von Transzendentem, die auch und gerade für das Heilige relevant sind.

2.2.1 Fred Holland Day und Symbole des Heiligen in der Fotografie „There will always be narrow minds to question the rights of portraying sacred subjects in any medium […]; but to those who criticise only the photographers’ right to these subjects, I can but advise patience – give us time to get out of our drill work, to get into man’s estate, so to speak, with our new theme, and then speak your harshest.“156 F. HOLLAND DAY

1898 inszenierte der Amateurfotograf und Verleger F. Holland Day (1864-1933), der insbesondere für seine piktorialistischen Fotografien und Männerakte bekannt wurde, eine Kreuzigungsszene auf einem Hügel in Norwood, Massachusetts. Day, der selbst keiner spezifischen Religion angehörte, wurde dabei inspiriert von einem Besuch bei den Oberammergauer Passionsspielen wenige Jahre zuvor.157 Die Vorbereitungen waren minutiös, Day bestellte Holzkreuze bei einem syrischen Zimmermann, wählte Kostüme und engagierte seine Nachbarn und Freunde als Schauspieler.158 Er selbst übernahm die Rolle des Christus und

156 DAY, F. Holland (1899): Sacred Art and the Camera, in: CURTIS, Verna Posever, VAN NIMMEN, Jane (Hg.): F. Holland Day. Selected Texts and Bibliography, London 1995, S. 62-63, S. 63. 157 Vgl. CURTIS, Verna Posever: From New Athens to Arcadia, in: CURTIS, Verna Posever, VAN NIMMEN, Jane (Hg.): F. Holland Day. Selected Texts and Bibliography, London 1995, S. 1-28, S. 2 und 15. 158 Vgl. CURTIS 1995, S. 15f.

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hungerte wochenlang vor seinem geplanten Martyrium.159 Die entstandenen Fotografien, darunter Crucifixion, 1998, (Abb. 2.1) zeigen ihn in qualvoller Haltung am Kreuz und greifen somit das christliche Symbol par excellence auf, um es fotografisch zu inszenieren.160 Die Bostoner Passionsserie ist Teil des fotografischen Unternehmens Days, sakrale und religiöse Themen mittels der Fotografie

Abb. 2.1: F. Holland Day, Crucifixion in Profile, Left, 1898, Schwarz-Weiß-Fotografie

159 Vgl. CRUMP, James (Hg): F. Holland Day. Suffering the Ideal, Santa Fe 1995, S. 27. 160 Es entstanden etwa 250 Negative der Serie, vgl. CRUMP 1995, S. 27.

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zu visualisieren.161 Er bewegt sich damit im Kontext des Piktorialismus und Symbolismus der Jahrhundertwende, der klassische Themen der Malerei im fotografischen Medium fortsetzte und sich dazu oftmals malerischer ästhetischer Mittel bediente. Das christliche Symbol dient hier als Mittel, die Fotografie als Medium aufzuwerten und der Malerei an die Seite zu stellen.162 Die Darstellung sakraler Themen in der Fotografie war jedoch Ende des 19. Jahrhunderts bislang nicht üblich, sie war vielmehr den hohen Künsten vorbehalten und Day war mit der aktiven Aufbereitung und Verteidigung des Sujets in einer kritischen Position.163 Seine fotografischen Inszenierungen der Christusgeschichte wurden folglich kontrovers diskutiert. Kritiker waren der Meinung, das sakrale Sujet werde durch das realistische Medium trivialisiert und es sei nicht Aufgabe der Fotografie, narrative Momente des Lebens Christi zu visualisieren.164 Ein Augenzeuge berichtet von den negativen Emotionen, die Day in seinem Heimatdorf entgegenschlugen: „Norwood […] sneered or openly talked of having Day arrested for sacrilege.“165 Die Fotografien, so schien es, waren in ihrer Darstellung eines menschlichen Körpers zu realistisch – die historische Jesusfigur wurde zwar in Literatur und Erzählung seit Beginn des 19. Jahrhunderts in den USA prominenter, Jesu Leben und Kreuzigung blieben jedoch nach wie vor ein schwieriger Topos, wie James Crump hervorhebt: „Up to and throughout Day’s time, the humanized Jesus, described in concrete historical terms and settings, was often found blasphemous. It was feared that realistic depiction of Christ, as demystified in popular fiction, would lead to increased secularization.“166 Day verteidigte die Darstellung sakraler Sujets mittels der Fotografie und verwies auf den Studien- und Beispielcharakter der Aufnahmen, die sich noch immer im Skizzenstadium befänden.167 Eine weitere Angriffsfläche bot die Tatsache, dass Day sich selbst als Christus inszeniert hatte, was durch die ihm zugeschriebene homoerotische Tendenz ein gewisses Provokationspotential ent-

161 Vgl. CURTIS 1995, S. 1. 162 Day argumentierte, dass die Fotografie ebenso wie die Malerei christliche Themen darstellen dürfe, vgl. DAY 1995, S. 62-63. 163 Vgl. CURTIS 1995, S. 1. 164 Für eine konzise Zusammenfassung dieser Kritik vgl. FAIRBROTHER, Trevor: Day and the „Photo-Pictorial Fraternity“, in: Ausst.Kat.: Making a Presence. F. Holland Day in Artistic Photography, Addison Gallery of American Art, Phillips Academy, Andover, Massachusetts, 2012, S. 51-67, S. 61f. 165 Zit. nach CRUMP 1995, S. 27. 166 CRUMP 1995, S. 28. 167 Vgl. DAY 1995, S. 63.

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faltete.168 Day war sich dieses Umstandes durchaus bewusst und verzichtete daher offiziell auf die namentliche Nennung der beteiligten Modelle, inklusive seiner selbst.169 Crump beschreibt Days Fotografien als „a typology of artistic martyrdom“, welche die Entfremdung und spirituelle Einsamkeit derjenigen hervorhebe, die die Ordnung der Moderne in Frage stellten.170 In Zeiten der Straight Photography, die sich auf die dem Medium innewohnende Fähigkeit der exakten, sachlichen Abbildung besann, wurden die piktorialistischen Strategien der Jahrhundertwende zunächst als ästhetische Entgleisungen betrachtet. Erst ab den 1970er Jahren brachte die Kunstwissenschaft ihnen wieder verstärkt positives Interesse entgegen und auch Days Fotografien sowie seine schillernde Persönlichkeit erhielten in diesem Kontext neue Aufmerksamkeit. Ab 1975 erschienen vermehrt Monographien und Anfang der 1980er Jahre besprach schließlich auch Beaumont Newhall Days Arbeiten in seinem Standardwerk zur Geschichte der Fotografie etwas ausführlicher.171 Days religiös motivierte und sakrale Sujets inszenierenden Bilder wurden so auch für nachfolgende Fotografen und Künstler zugänglicher; als Topos hatte sich das Sujet zwischenzeitlich in der Fotografie etabliert, wie der Katalog der Ausstellung Corpus Christi zeigt, der sich explizit fotografischen Referenzen und Selbstdarstellungen widmet.172 Days Selbstinszenierungen können in einer größeren Tradition künstlerischer Selbstportraits betrachtet werden, die in Analogie zu Bildern Jesu entstanden. Eines der berühmtesten ist Albrecht Dürers Selbstportrait im Pelzrock.173 In Dürers Portrait ver168 Vgl. CRUMP 1995, S. 27f. 169 Vgl. FAIRBROTHER 2012a, S. 59. 170 CRUMP 1995, S. 29 171 Vgl. für eine Skizzierung dieser Entwicklung: FAIRBROTHER, Trevor: Coda, in: Ausst.Kat.: Making a Presence. F. Holland Day in Artistic Photography, Addison Gallery of American Art, Phillips Academy, Andover, Massachusetts, 2012, S. 111-123, S. 121. Siehe zudem NEWHALL, Beaumont: Geschichte der Photographie, München 1984, S. 163ff. 172 PEREZ, SEYMOUR-URE 2003. 173 Albrecht Dürer, Selbstportrait im Pelzrock, 1500, Öl auf Holz, 67 x 49 cm, Alte Pinakothek, München. Siehe hierzu DITTSCHEID, Hans-Christoph: Brief des Paulus an die Römer 8, 29. Zu einem typologischen Verständnis von Dürers Selbstbildnis in München aus dem Jahr 1500, in: MÖSENEDER, Karl, SCHÜSSLER, Gosberg (Hg.): Bedeutung in den Bildern. 
Festschrift zum 60. Geburtstag von Jörg Traeger, Regensburg 2002, S. 63-79; MÜLLER, Axel: Die ikonische Metapher. Christus als Symbol des Selbst – Dürers Selbstbildnis von 1500, in: DOBBE, Martina, GENDOLLA, Peter (Hg.): Winter-Bilder. Zwischen Motiv und Medium. Festschrift für Gundolf Winter

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bindet sich eine christomorphe Darstellungsweise mit der Idee des deus artifex oder artifex divinus: Der Künstler wird als Ebenbild Gottes oder Gott ähnlich dargestellt, der als ‚Bildhauer‘ den Menschen aus Lehm formt und zum Leben erweckt.174 Geistesgeschichtlich spiegelt sich in einer solchen Lesart ein humanistisches Selbstverständnis, das eine Wende in der Christomorphie begründet, indem sich die Darstellung Christi im Bild zunehmend an weltlichen Vorbildern orientiert.175 Zugleich wird in Days performativer Inszenierung des eigenen Körpers am Kreuz die in Kapitel 2.1.4 explizierte, elementare Stellung des Körpers in der Auseinandersetzung des Menschen mit dem Heiligen verdeutlicht. Der Körper wird von Day in seiner Funktion als ‚heiliger‘ Körper in Szene gesetzt, indem er eine Kreuzigungsszene nachstellt und fotografisch fixiert. Zugleich enthält die Inszenierung selbst klare Bezüge zur rituellen Rolle des Körpers in der Annäherung an Heiliges, die sich auch in der Referenz auf die Oberammergauer Passionsspiele zeigt. Dass Day seinen eigenen Körper in asketischer Enthaltsamkeit auf diese Rolle vorbereitet, greift Märtyrer- und Opferkonzepte auf und legt den Fokus auf die körperliche Erfahrung. Day knüpft damit sowohl an die körperliche Gebundenheit der Erfahrung des Heiligen als auch an die Überlagerung ästhetischer und religiöser Erfahrungen an, wie sie in Kapitel 2.1.4 beschrieben wurden und verbindet diese explizit mit dem fotografischen Medium. Das Beispiel von Days Crucifixion verdeutlicht somit, dass, ähnlich wie in der Malerei, das Aufgreifen eindeutig konnotierter Symbole des Heiligen in der Fotografie über die Referenz auf einen Kruzifixus oder durch die Inszenierung anderer Christusbilder eine imitatio Christi implizieren kann. Es kann auch als Aufwertung fungieren, wenn etwa das sakrale Kreuzzeichen zur Sakralisierung des Mediums sowie der Person des Künstlers eingesetzt wird oder es dient zur Illustrierung des künstlerischen Leidenswegs.176 Die Präsenz des Körpers entfaltet zum 60. Geburtstag, Siegen 2003, S. 174-187 sowie ZITZLSPERGER, Philipp: Dürers Pelz und das Recht im Bild – Kleiderkunde als Methode der Kunstgeschichte, Berlin 2008. 174 Vgl. KRIS, Ernst, KURZ, Otto: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt am Main 1980, S. 79f. 175 Vgl. BURRICHTER, Rita: Menschenbild als Christusbild? Streit um die Darstellung des Undarstellbaren, Katholische Akademie, Schwerte, Symposium: Rolle und Identität. Gottesbilder in der zeitgenössischen Kunst, 23.-25.01.2015, Vortrag vom 24.01.2015. 176 So können Days Fotos auch als subversive Strategie verstanden werden, die auf die Unterdrückung der sinnlichen Darstellung des männlichen Körpers im protestantischen Amerika aufmerksam macht, vgl. CRUMP 1995, S. 29.

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dabei im fotografischen Medium ein besonderes Potential, das durch seine Referenz auf einen spezifischen Körper, der in Bezug zum Heiligen gesetzt wird, extrem provozierend ausgelegt werden kann. Einhergehend mit der allgemeinen Wiederentdeckung religiöser Symbolik in der Kunst (vgl. Kapitel 1.3) zeigt sich in den 1970er und 1980er Jahren in der Fotografie eine Tendenz, sakrale Formen zu ironisieren, wie etwa bei Jürgen Klauke, und katholische Symbolik oftmals provokativ zu verwenden – gerade, indem sie in Verbindung mit ‚echten‘ Körpern gesetzt werden. Zu nennen sind hier einerseits Künstler wie Robert Mapplethorpe, Joel Peter-Witkin und Bettina Rheims, die katholische Symbolik mit (homo)erotischen Aspekten verbinden, andererseits Künstler wie Andres Serrano, der in Piss Christ auf vielschichtige und unterschwellige Weise fotografische Mittel zur Provokation einsetzt, wie in Kapitel 3 herauszuarbeiten sein wird. Ist der Status fotografischer Bilder im 19. Jahrhundert aufgrund des mechanischen Herstellungsprozesses und der mimetischen Abbildmöglichkeit der neuen Technik im Wesentlichen dokumentarischer Art, so kündigt sich in den Inszenierungen eines Holland Day eine Haltung an, die das fotografische Bild auf andere Weise in Bezug zu Peirce Symbolbegriff setzt. In den 1960er und 1970er Jahren wird der Wirklichkeitsbezug des fotografischen Bildes in semiologischen und ideologiekritischen Diskursen zunehmend dekonstruiert und die Produktion und Rezeption von Bildern als auf kulturellen Codierungen und Konventionen beruhende Konstruktionen und Dechiffrierungen von Botschaften gelesen.177 Wie Philippe Dubois hervorhebt, lässt eine solche Interpretation des fotografischen Prozesses fotografische Bilder als Symbole im peirce’schen Sinne lesbar werden, da sie per se auf Konvention und Vereinbarung zu beruhen scheinen.178 Auf Grundlage der Ausführungen zu Days Crucifixion lässt sich die allgemeine Fragestellung somit in Bezug auf das Symbol als Marker des Heiligen in der Fotografie präzisieren. In der Analyse von Fotografien, die Symbole des Heiligen zeigen gilt es zu fragen: Wie wird das Heilige dargestellt? Finden sich gesellschaftlich fixierte Symbole, die auf eine konkrete religiöse Ausdeutung des Heiligen verweisen, wie etwa das Kreuz als sakraler visueller Marker des Christentums? Wenn ja, wie wird mit diesen Symbolen umgegangen, werden sie ‚nur‘ im fotografischen Bild aufgegriffen oder stehen sie in einer syntaktischen Beziehung mit diesem, das heißt, werden sie durch das Bild verändert? Werden sie Prozessen der Sakralisierung oder Entsakralisierung unterzogen oder dienen sie selbst zur Sakralisierung des fotografischen Bildes? Finden sich auch neuartige 177 Roland Barthes beispielsweise beschreibt die Fotografie als Konglomerat von Zeichen, die in Entstehung und Visualität jeweils von kulturell codierten Botschaften des Produzenten und Rezipienten geprägt sind, vgl. BARTHES 2006. 178 Vgl. DUBOIS 1998, S. 49.

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Symbole des Heiligen oder werden alte Symbole funktional umgeformt und erweitert? Und nicht zuletzt: Welche potentielle und tatsächliche Positionierung findet sich auf der Seite des Betrachters? Die beschriebenen kritischen Reaktionen auf Days fotografische Crucifixion sind dabei vor allem auf die Verbindung des Symbols mit dem Körper zurückzuführen. In der Vermengung des heiligen Körpers mit einem spezifischen profanen Körper zeigt sich ein Provokationspotential, das erst in der postulierten Verbindung fotografischer Bilder zur Wirklichkeit ihr volles Potential entfaltet und daher jeweils genau analysiert werden muss. Beispielhaft wird dies in Kapitel 3 in der Analyse zu Serranos Piss Christ zu sehen sein. Der folgende Abschnitt nimmt ebendiese postulierte Verbindung des fotografischen Bildes zur Wirklichkeit genauer in den Blick und beleuchtet deren mediale Grundlagen am Beispiel des Grabtuchs von Turin.

2.2.2 Das Grabtuch von Turin: Die acheiropoieta und der fotografisch-indexikalische Einschreibungsprozess „Die PHOTOGRAPHIE hat etwas mit Auferstehung zu tun: kann man von ihr nicht dasselbe sagen, was die Byzantiner vom Antlitz Christi sagten, das sich auf dem Schweißtuch der Veronika abgedrückt hat, nämlich, daß sie nicht von Menschenhand geschaffen sei, acheiropoietos?“179 ROLAND BARTHES „Die Fotografie […] geht ontologisch so vor wie Johannes und sagt uns: Das habe ich gesehen, das habe ich berührt: Nun ist es an Euch, zu sehen und mit den Augen zu berühren.“180 PHILIPPE DUBOIS

Im gleichen Jahr in dem Fred Holland Day seine Bostoner Passion inszenierte, fotografierte der Amateurfotograf Secondo Pia auf Veranlassung König Umbertos I. zum 50. Jahrestag der italienischen Verfassung das Grabtuch von Turin

179 BARTHES 1989, S. 92. 180 DUBOIS 1998, S. 75.

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(Abb. 2.2).181 In dem Tuch findet sich der Körperabdruck eines gekreuzigten Mannes im Alter Jesu. Die Echtheit des Turiner Grabtuches als Abdruck des Körpers Christi wird bereits seit dem 14. Jahrhundert diskutiert, weltweite Popularität erlangte es jedoch erst im Moment seiner fotografischen Abbildung.182 Gleichen die visuellen Spuren auf dem Tuch einem Negativabdruck des Körpers, so wurden diese im fotografischen Negativ als Positiv sichtbar; den Glauben an die Echtheit des Tuches vorausgesetzt, erschien so in Secondo Pias Glasnegativ das Antlitz Jesu im Positiv (Abb. 2.3). Die Folge war eine Sensation, die Besucher kamen in Scharen, um die Fotografie zu sehen.183

Abb. 2.2: Secondo Pia, Das Grabtuch von Turin (Detail), 1898, Schwarz-Weiß-Fotografie

181 Man wählte einen Amateur, um jegliche Manipulation des Bildes zu vermeiden, vgl. BELTING 2006, S. 64. 182 Vgl. BELTING 2006, S. 63. 183 Vgl. BELTING 2006, S. 64f.

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Abb. 2.3: Der Effekt wird visualisiert in einer späteren Abbildung von Giuseppe Enrie, Das Antlitz Christi auf dem Turiner Grabtuch (nach Abzügen von den Originalplatten), 1931, Schwarz-Weiß-Fotografie

An diesem Beispiel kristallisiert sich eine funktionale Parallele zwischen Fotografie und Heiligkeit, die im Prozess der Bildentstehung begründet liegt. Das Turiner Grabtuch ist über den in ihm enthaltenen, potentiellen Körperabdruck Christi Teil jenes Diskurses, der Abdrücke vom Körper Christi, wie das Schweißtuch der Veronica (Abb. 2.4), als ‚wahre Bilder‘ (vera icon) präsentiert.184 Diese Art von Bildern findet sich erstmalig im 6. Jahrhundert, es handelte sich um Bilder vermeintlich himmlischen Ursprungs, die nicht von Menschenhand gemacht waren (acheiropoietos), sondern bei denen etwa der heilige Körper sein Bild über einen Kontaktabdruck erschuf. Die acheiropoieta sind doppelt authentisch, indem sie zum einen den Abdruck als Körperbeweis in sich tragen und zum anderen als Bilder das Antlitz Christi zeigen.185 Ihre Legitimation als Bild begründet sich in der Inkarnationslehre, nach der Gott im Körper Christi Bild wird, wie bereits in Kapitel 2.1.4 ausgeführt.186 In diesem Sinne stehen sie auch in einer Tradition, die Tücher als Sekundärreliquien behandelt. Ihre göttliche Herkunft bestätigen die acheiropoieta oftmals, indem sie Wunder wirken.187 Sind diese acheiropoieta nicht von Menschenhand 184 Zum vera icon und seiner Geschichte sowie seiner Verbindung zum fotografischen Bild siehe BELTING 2006; sowie BREDEKAMP, Horst: Theorie des Bildakts, Berlin 2010, S. 173-191. 185 Vgl. BELTING 2006, S. 56f. 186 Vgl. BELTING 2006, S. 73. 187 Vgl. BELTING 2006, S. 57.

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Abb. 2.4: Robert Campin, Heilige Veronika mit dem Schweißtuch, um 1430, Mischtechnik/Eichenholz, 151,5 x 61,0 cm, Städel Museum, Frankfurt am Main

gemacht, so lässt sich eine ähnliche Tendenz der Herauslösung des Menschen aus der Bildproduktion auch in den fotografischen Bildern feststellen: Die Fotografien des 19. Jahrhunderts führen durch das mechanische Verfahren der Bildherstellung und die Reduktion der subjektiven Teilhabe des Fotografen an der Bildproduktion einen neuen maximalen Standard an Objektivität ein – wenn

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Talbot vom „Zeichenstift der Natur“188 spricht, so wird damit die Selbsteinschreibung der Natur im Bild postuliert. Diese besonders zwingend erscheinende Verbindung zwischen fotografischem Zeichen und fotografiertem Objekt erfasst Peirce, indem er die Fotografie der Kategorie der indexikalischen Zeichen zuordnet: Fotografien sind Indizes, da sie über ihren chemisch-physikalischen Entstehungsprozess eine Verbindung zum Objekt aufrecht erhalten, die „sie physisch dazu zwing[t] Punkt für Punkt dem Original zu entsprechen“.189 In der Fotografie des Grabtuchs von Turin werden demnach zwei Selbsteinschreibungsprozesse überlagert: Das fotografische Bild erhält maximale Authentizität durch den Umstand des direkten Körperabdrucks im Tuch, der das fotografische Verfahren metapherngleich auf eben jenen Moment der Einschreibung kondensiert und diesen hervorhebt – alternativ gelesen, gleicht das Tuch im Grunde selbst einem fotografischen Negativ.190 Zugleich wird der Abdruck des Tuches erst in der Fotografie zum Bild, das das Antlitz Christi visuell enthüllt – die Fotografie ist demnach Index und Ikon und damit doppelt „echt“, wie Hans Belting hervorhebt.191 Das Beispiel zeigt die Fotografie zum einen als indexikalisches Zeichen, zum anderen wird deutlich, dass hier eine Parallele zum christlichen Inkarnationsund in der Folge Abdruckgedankens besteht, welche die Potenz des Mediums zu verstärken scheint. Somit erinnern der Prozess und die Annäherung an die entstandene Fotografie an den Umgang mit Reliquien, indem das fotografische Bild zum Objekt von Pilgerströmen wird.192 Kristallisiert sich eine solche Lesart an der Fotografie des Turiner Grabtuchs, so geht sie doch grundlegend über das einzelne historische Beispiel hinaus und verortet die Fotografie als Medium über den Herstellungsprozess parallel zu einem christlichen Verständnis von Heiligkeit, welches nicht nur das 19. sondern auch das 20. Jahrhundert kennzeichnet. Dabei wird auch das Bild des Heiligen im Umkehrschluss durch das fotografische Medium markiert: So charakterisiert André Bazin in seinem berühmten Essay zur Ontologie des fotografischen Bildes, dem er eben jene Fotografie des 188 TALBOT, Henry Fox (1844): Der Stift der Natur, in: KEMP, Wolfgang, VON AMELUNXEN, Hubertus (Hg.): Theorie der Fotografie. Band I-IV 1839-1995, München 2006, Bd. I, S. 60-63. 189 Vgl. PEIRCE 1986c, S. 193. Dies gilt für analoge fotografische Bilder, nicht jedoch für digitale Bilder. 190 Vgl. BELTING 2006, S. 63. 191 BELTING 2006, S. 66f.: „Man könnte diesen Gedanken darin fortführen, dass in der Fotografie Bild und Index, die so lange im Grunde unvereinbar waren, zur Einheit gelangen.“ 192 Vgl. BELTING 2006, S. 66.

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Turiner Grabtuchs beifügt, jenes als „Synthese von Reliquie und Fotografie“193. Die in Kapitel 2.1.4 ausgeführte, multifunktionale Rolle des Körpers in Bezug auf Heiliges kristallisiert sich hier über den Aspekt der aktiven und passiven Seite der wahrhaftigen Berührung, das heißt sowohl über den heiligen Körper als auch über dessen rituelle Berührung im Reliquienkult sowie über das enge Verhältnis von Körper und Bild. Die psychologische Wirkung von Fotografien sieht Bazin in einem ursprünglichen Bedürfnis zur Überwindung der Zeit durch die Herausnahme des menschlichen Körpers aus dem Strom der Zeit begründet, die er zunächst unter dem Stichpunkt des Einbalsamierens als „Mumienkomplex“ fasst. Stellten die Ägypter den einbalsamierten Mumien Terrakottafiguren als Stellvertreter zur Seite, so zeige sich darin der Wunsch, „den Menschen durch sein Abbild zu retten“.194 Hinter dem Wunsch, die Zeit mithilfe des Abbilds zu bannen, steht ein Denken, das weniger auf visuelle Ähnlichkeit als auf Identität von Bild und Abbild zielt. Es handelt sich um „ein geistiges, an sich nicht ästhetisches Bedürfnis, das nur dem magischen Denken entspringen kann“195. Diese Entwicklung sieht Bazin in der Fotografie vollendet: „Welche kritischen Einwände wir auch immer haben mögen, wir sind gezwungen, an die Existenz des repräsentierten Objekts zu glauben, des tatsächlich re-präsentierten, das heißt des in Zeit und Raum präsent gewordenen. […] Die allergenaueste Zeichnung kann uns mehr Auskünfte über das Modell geben, sie wird entgegen allen Einwänden unseres kritischen Bewußtseins niemals die irrationale Kraft der Fotografie erreichen, die unseren Glauben besitzt. […] Das Bild kann verschwommen sein, verzerrt, farblos, ohne dokumentarischen Wert, es wirkt durch seine Entstehung durch die Ontologie des Modells, es ist das Modell.“196

Fotografien wird demnach geglaubt, auch wenn keine visuelle Ähnlichkeit vorliegt, da sie das Objekt in Zeit und Raum festhalten und es indexikalisch vergegenwärtigen. Damit äußert Bazin ein ontologisches Bildverständnis der Fotografie als „Wirklichkeitsübertragung“197 die über die reine Referenz eines Zeichens hinausgeht. Aus diesem Grund untersucht Vinzent Hediger Bazins Ansatz in Hinblick auf eben diese ‚Wirklichkeitsübertragung‘ als gedachte „Transsubstantiation“ mit und in der Fotografie als möglicher medientheoretischer Kategorie: 193 Vgl. BAZIN 1975, S. 25. 194 BAZIN 1975, S. 21. 195 BAZIN 1975, S. 23. 196 BAZIN 1975, S. 24f. 197 Vgl. BAZIN 1975, S. 25.

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Denn wenn das Bild das Modell ist, so scheint man diese Einheit nicht fassen zu können, „solange man sie nicht als ‚Realpräsenz‘ im Sinne der Eucharistie denkt: als Präsenz des Dings in der Darstellung und Aufnahme des Dings in das Bild.“198 In einer solchen Lesart wird das fotografische Bild in seiner Wirkung eindeutig mit der christlichen Lehre in Verbindung gebracht. Im Grunde ist es jedoch in diesem Moment kein Zeichen mehr, da es nicht für etwas steht, sondern selbiges ist. Dabei geht es Bazin nicht wirklich um eine naive Ontologie, die Objekt und Bild per se und tatsächlich gleichsetzt, vielmehr ist es eben die „vollkommene Befriedigung unseres Hungers nach Illusion durch einen mechanischen Reproduktionsprozeß“199, also der hinter der Annäherung an das Bild stehende Wunsch, der, an das Foto herangetragen, hier eine weitestgehende Erfüllung findet, welche die Malerei ihm nicht geben kann. Es kommt nicht von ungefähr, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die fotografische Abbildung des Turiner Grabtuchs mit Bazins Text erneut in den Vordergrund rückt. An dieser Haltung wird eine fotografietheoretische Tendenz deutlich, die erneut, jedoch aus anderer Perspektive, den Entstehungsprozess des fotografischen Bildes fokussiert. Dabei geht es weniger, wie im 19. Jahrhundert, um eine ontologische Bestimmung der Fotografie, welche „das Ursache-Wirkungs-Verhältnis von Realität und Fotografie“200 in Bezug auf die Abbildungsleistung (als Mimesis) in den Vordergrund stellte und zu Legitimationszwecken des Mediums diente. Vielmehr ist diese Richtung der Fotografietheorie insofern ontologisch ausgerichtet, als dass sie den Herstellungsprozess in seiner Wirkung auf den Betrachter in den Vordergrund stellt und die „Fotografie als Fotografie“ denkt.201 Der reliquienartige Charakter des Bildes wird auch nach Bazin wiederholt in Geschichte und Theorie der Fotografie aufgegriffen, so etwa von Susan Sontag, die den Besitz eines Fotos von Shakespeare mit demjenigen eines Nagels vom Heiligen Kreuz vergleicht.202 Oder wenn Edward Land, Erfinder der Polaroid Kamera, für seine instantanen Bilder wirbt, indem er sich selbst bei dem Abzie198 HEDIGER, Vinzenz: Das Wunder des Realismus. Transsubstantiation als medientheoretische Kategorie bei André Bazin, in: montage AV, 18, 2009, H. 1, S. 75-107, S.8. 199 BAZIN 1975, S. 23. 200 KEMP, Wolfgang: Einleitung zu André Bazin, in: Ders., VON AMELUNXEN, Hubertus (Hg.): Theorie der Fotografie. Band I-IV 1839-1995, München 2006, Band III, S. 58-59, S. 58. 201 KEMP 2006b, S. 58. 202 SONTAG,

Susan

(1977):

Die

Bilderwelt,

in:

KEMP,

Wolfgang,

VON

AMELUNXEN, Hubertus (Hg.): Theorie der Fotografie. Band I-IV 1839-1995, München 2006, Bd. III, S. 244-250, S. 245.

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hen eines lebensgroßen Polaroid-Selbstportraits zeigt und so die Simultanität von Objekt und Abbild angelehnt an die Veronika-Legende inszeniert (Abb. 2.5).203

Abb. 2.5: Edwin Land bei der Präsentation seines Polaroid-Selbstportraits (Ausschnitt), Februar 1947, Schwarz-Weiß-Fotografie

Als zeitgenössische künstlerische Position, die sich intensiv mit dem AbdruckCharakter von Tüchern und Fotografien auseinandersetzt, ist zudem Dorothee von Windheim zu nennen.204 Auch Roland Barthes betont die Fähigkeit der Fotografie, ihre Objekte „auferstehen“ zu lassen, wenn er sie ihrem Entstehungsprozess nach in Die helle Kammer zur Kategorie der acheiropoieta rechnet.205 203 Vgl. BREDEKAMP 2010, S. 184f. Mit dem aktuell wachsenden Interesse an Polaroids und dem instantanen Bildverfahren als analoger objektbasierter Bildproduktion (im Gegensatz zu den vielfachen Sofortbildern auf digitalen Trägern) rücken auch die spezifischen Eigenschaften des Polaroids wieder in den Vordergrund, vgl. JELONNEK, Dennis: Selbstbild im Sofortbild. Visuelle Strategien der Polaroid Corporation, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, 33, 2013, H. 129, S. 29-38. 204 Vgl. MOLLWEIDE-SIEGERT, Mona: Dorothee von Windheim: auf der Suche nach (Ab)bildern von Wirklichkeit. Zwei Werkgruppen im Kontext von Spurensicherung und Erinnerungskultur (Diss. Bonn 2007), Weimar 2008. 205 BARTHES 1989, S. 92.

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Diese Tendenz ist in seinen frühen Schriften bereits angelegt, wenn er die Fotografie als Konglomerat konnotierter und denotierter Botschaften erfasst, jedoch auf den Moment der reinen Denotation verweist, in dem sich ohne jegliche Codierung das Objekt vor der Kamera in die Platte einprägt als „Botschaft ohne Code“.206 Wie Dubois später hervorhebt und anhand des Abdrucks ausführt, bestätigt eine Fotografie somit vergangene Existenz, sagt jedoch nichts über die Bedeutung dessen, was vor der Kamera existierte, außer, dass es existierte (hier entsteht ein Zirkel zu Bazin, der hervorhebt, dass es nicht die ästhetische Dimension des Bildes ist, die dessen Realismus ausmacht).207 Das fotografische Bild wurde demnach als Index im Sinne eines Zeichens gedeutet, das mit seinem Referenten in physikalischer Verbindung steht, als Bild, das von einem Moment reiner Denotation gekennzeichnet ist, der als Spur und Abdruck gefasst wurde und bis hin zur Ausdeutung einer realen Restpräsenz des Dargestellten im Bild reicht.208 Die Begriffe des Index, des Abdrucks und der Spur werden in der Fotografietheorie oftmals synonym, manchmal jedoch auch konträr gebraucht.209 Ihnen ist tendenziell eine begriffliche Unschärfe zu eigen, was den tatsächlichen Ablauf des Herstellungsprozesses betrifft.210 Gemein ist ihnen jedoch, dass sie den Herstellungsprozess als zentrales Identifikationsmerkmal des fotografischen Bildes verstehen. Die Idee der automatischen Produktion von Fotografien, wie sie im 19. Jahrhundert postuliert wurde, schließt sich einer solchen Bildbestimmung im Grunde an. Diesen Ansätzen eignet eine gewisse metaphysische Prägung, die Gegenstand reger Kritik war und ist.211 In der vorliegenden Arbeit werden die Begriffe prinzipiell synonym verwendet, insofern auf die ihnen gleichen Eigenschaften Bezug genommen wird und lediglich differenziert, wo einzelne Spezifika relevant erscheinen. Es geht 206 BARTHES 2006, S. 142. 207 Vgl. DUBOIS 1998, S. 55f. Dubois geht über den Ansatz des Index insofern hinaus, als dass er das Fotografische als „Bild-Akt“ beleuchtet, der sowohl die Produktion, als auch die Rezeption einschließt und vom Subjekt her denkt, DUBOIS 1998, S. 19. 208 Georges Didi-Huberman prägt für eine ähnliche Funktion den Begriff des „Fetzens“, der an der Fotografie haftet und durch den das Gewesene im Bild anwesend ist, jedoch nur in Teilen, DIDI-HUBERMAN, Georges: Bilder trotz allem, München, Paderborn 2007, S. 234. 209 Für einen Überblick und eine Diskussion der Tragfähigkeit der einzelnen Begriffe, auf die sich auch der folgende Absatz bezieht, vgl. GEIMER, Peter: Theorien der Fotografie zur Einführung, 2. verbess. Aufl., Dresden 2010, insbesondere S. 58-60. 210 Als Position, die sich dezidiert mit dieser Frage auseinandersetzt, ist wiederum DUBOIS 1998 zu nennen. 211 Vgl. DUBOIS 1998, insbesondere S. 90-92.

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mithin nicht darum, eine solche Debatte in eine Richtung weiterzuführen; vielmehr sollen gerade die verschiedenen Lesarten des fotografischen Bildes als Index in die Analyse der Verhandlung des Heiligen in den jeweiligen fotografischen Positionen einbezogen werden und auf die ihnen inhärente Nähe zu Theorien des Heiligen befragt werden. Grundlegend lässt sich in den theoretischen Positionen, die sich damit befassen, eine funktionale Ähnlichkeit zwischen dem fotografischen Herstellungsprozess und den nicht von Menschenhand gemachten Bildern (als selbsteinschreibende Bildwerdung des Heiligen) erkennen. In dieser Hinsicht ist es relevant, dass Bazins Ausführungen im Grunde weiter zurückführen als das Christentum. Wenn er schreibt, das fotografische „Bild […] ist das Modell“212, so bezieht er sich auf die Ursprünge des magischen Denkens, in dem Objekt und Abbild nur zwei verschiedene stoffliche Materialisationen desselben Phänomens zu sein schienen.213 Die fotografische Bildentstehung in Bezug auf die Übertragung (Prozess) und Identität (Ergebnis) von Objekt und Abbild ließe sich daher treffender mit der Funktionsweise einer Hierophanie beschreiben, wie Eliade sie darstellt.214 Auf diese Weise kann sowohl die doppelte Identität von Bild und Ding im Sinne eines magischen Bildverständnisses als auch die daran gekoppelte Bildwerdung im Sinne einer christlich gefärbten göttlich-körperlichen Einschreibung und Verkörperung als Präsenz mittels Transsubstantiation mitgedacht werden. Das Heilige wird hier also in seiner Struktur und seiner Prozesshaftigkeit in Hinblick auf ein „Sich-Zeigen“ thematisiert und das sowohl im christlichen Kontext, den das genannte Beispiel etabliert, als auch, wenn man diesen Ansatz mit Eliade erweitert, in einem grundlegenden Verständnis des Heiligen. Dubois beschreibt „[dieses] Geheimnis, diese Kraft, die unterirdisch, jenseits des Abbilds (‚hinter alledem‘) in der Fotografie am Werk ist und das Begehren erst stiftet“ als „die pragmatische Kraft der Ontologie des Index“. Sie sei „Eine Anwesenheit, die Abwesenheit aussagt, eine Abwesenheit, die Anwesenheit aussagt. Eine zugleich gesetzte und überwundene Distanz, die das Begehren ausmacht: das Wunder. […] All das, was die Fotografie zum Index macht, trägt dazu bei, der Fotografie das zu verleihen, was Bazin als ein irrationales Vermögen bezeichnete, das uns zu Gläubigen macht.“215

212 BAZIN 1975, S. 25. 213 Vgl. SONTAG 2006, S. 245. 214 Vgl. ELIADE 1998, S. 14; sowie die hier vorgelegte Definition in Kapitel 2.1.2 der vorliegenden Arbeit. 215 DUBOIS 1998, S. 85.

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Die Faszination, die von Fotografien ausgeht, ist demnach eng an das Begehren nach Realität gekoppelt. Ein anderes, wenn auch diesem parallel laufendes Verlangen nach Teilhabe an der Realität findet sich in Eliades Beschreibungen des archaischen Menschen, ein Leben im Heiligen zu führen (siehe oben). Insbesondere in den Fotografien Nebredas, die in Kapitel 4 besprochen werden, scheint dieser Aspekt der parallelen Verlangen nach Realität relevant. Auf Grundlage der am Beispiel des Turiner Grabtuchs angestellten Überlegungen zum Index und der medialen Kopplung von Fotografie, Heiligem und Körper wäre als Präzisierung der Fragestellung im Einzelfall der Bildanalyse jeweils zu formulieren: Welche Rolle spielt die Fotografie als Medium? Wie wird der Index als Berührung mit der Wirklichkeit eingesetzt und inwiefern beeinflusst er das Verständnis des Rezipienten? Welche Rolle spielt ein Element von Präsenz, wie Bazin es insinuiert, für den Betrachter von Fotografien und mit welchen Mitteln kann unter der Voraussetzung einer grundlegenden modernen Desillusionierung gegenüber fotografischen Bildern trotzdem auf eine derartige Präsenz gezielt werden? Auch hier scheint die Darstellung des Körpers aufgrund der dargelegten Schnittstellen zu den in Kapitel 2.1.4 explizierten fundamentalen Berührungspunkten von Körper und Religion einen besonders fruchtbaren Ansatzpunkt zu bieten. Am Turiner Grabtuch als Überlagerung von Körperabdruck, Reliquie und fotografischem Prozess potenziert sich diese Konstellation in einem historisch konkreten Beispiel, das Ausgangspunkt fotografischer Reflexionen zum Thema geworden ist, wie sich besonders in der Analyse von David Nebredas Selbstportraits in Kapitel 4 zeigen wird.

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2.2.3 Fotografien des Nicht-Fotografierbaren: Ikonische Vorstellungsbilder von Geistern, Gedanken und Erscheinungen „Daß die fotografische, mit Silbersalzen beschichtete Platte mehr registrieren könne als das menschliche Auge, daran glaubte man schon kurz nach der Entdeckung der Fotografie.“216 CARL AIGNER, VEIT LOERS, URS STAHEL „Das göttliche Begehren heißt nun Sichtbarmachung des Unsichtbaren“217 CARL AIGNER

Ist im 19. Jahrhundert der mechanische Herstellungsprozess und der mit ihm begründete Realitätsbezug äußerst relevant für das Medium, so ist die objektive Erfassung der Welt nicht nur auf deren sichtbaren Teil beschränkt. Vielmehr entwickeln sich von Anfang an viele fotografische Genres, die sich, gekoppelt an eben jenen Objektivitätsanspruch, mit der Visualisierung des Unsichtbaren befassen. „Je mehr das Feld des Sichtbaren sich gerade auch durch die Fotografie vergrößerte, um so mehr wuchs das Feld des Unsichtbaren, genauer: die Annahme einer unsichtbaren Wirklichkeit. In dieser dialektischen Balance fungierte die Fotografie als eine produktive Schnittstelle; sie wurde zu einem Instrument der Visualisierung und Herstellung dieses Unsichtbaren wie kein anderes Medium zuvor - es verzahnte die Produktion des Diskurses des Sichtbaren mit dem Diskurs der Produktion des Unsichtbaren.“218

216 AIGNER, Carl, LOERS, Veit, STAHEL, Urs: Vorwort, in: Ausst.Kat.: Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren, Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach; Kunsthalle Krems, Krems-Stein; Fotomuseum Winterthur, Winterthur, 1997/1998, S. 7, S. 7. 217 AIGNER, Carl: Das Gespenst der Sichtbarkeit. Notizen zum Verhältnis von Fotografie und Epiphanie, in: Ausst.Kat.: Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren, Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach; Kunsthalle Krems, KremsStein; Fotomuseum Winterthur, Winterthur, 1997/1998, S. 104-108, S. 107. 218 AIGNER 1997, S. 106f.

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Dazu gehörte die Astrofotografie, die unbekannte Planeten und Sterne erstmals dem menschlichen Auge zugänglich machte und so den Blick auf das Universum außerhalb der Erde weitete ebenso wie naturwissenschaftliche Fotografien, die ins Mikroskopische eintauchten. Zu den fotografischen Tendenzen mit einem (pseudo-)wissenschaftlichen Ansatz gehörte weiterhin die Strahlenfotografie, die beispielsweise mittels Röntgenverfahren die Gedanken sichtbar machen wollte oder auch die Fluidalfotografie, die Emanationen des Körpers aufzufangen suchte und dergestalt die Strahlentheorie gewissermaßen umdrehte, indem nun der Körper selbst Strahlen aussandte.219 Auch die Aura des Menschen versuchte man, fotografisch festzuhalten und Magnetismus und Kirlianfotografie waren ebenfalls beliebte Tätigkeitsfelder. Die Objektivität ist dabei nicht von sich aus objektiv.220 Da die entstehenden Bilder etwas nicht Sichtbares visualisieren, es dabei jedoch im Grunde nicht unbedingt so zeigen, wie es tatsächlich aussieht, sondern es ins Bild transferieren, müssen sich vielmehr bestimmte visuelle Parameter und Handlungsleitlinien etablieren, um ein Höchstmaß an Objektivität zu gewähren.221 Der Übergang zu okkulten, spiritistischen oder mediumistischen Traditionen, mithin jenen Ansätzen, die daran interessiert waren, Transzendentes und Andersweltliches im weitesten Sinne zu zeigen und dessen Existenz zu be219 Zu nennen wären hier beispielsweise Hippolyte Baraduc und Major Luis Darget. Es entfaltete sich ein „ganzes Alphabet unsichtbarer Strahlen“, so dass die Aufführung der diversen Tendenzen den hier angelegten Rahmen übersteigen würde. Sehr eloquent zusammengefasst findet er sich jedoch bei CHÉROUX, Clément: Ein Alphabet unsichtbarer Strahlen – Fluidalfotografie am Ausgang des 19. Jh, in: Ausst.Kat.: Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren, Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach; Kunsthalle Krems, Krems-Stein; Fotomuseum Winterthur, Winterthur, 1997/1998, S. 11-22, S. 15-17, sowie S. 20. Interessanterweise beschreibt auch Roland Barthes später die Fotografie als „Emanation des Referenten“, BARTHES 1989, S. 90. 220 Zu dem in dieser Zeit vorherrschenden Objektivitätsbegriff vgl., DASTON, Lorraine, GALISON, Peter: Das Bild der Objektivität, in: GEIMER, Peter (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002, S. 29-99. Objektivität wird dabei zwar als Natureinschreibung wahrgenommen, verschiedene Parameter werden jedoch zu ihrer Sicherung installiert, da es gerade die Bilder von Nicht-Sichtbarem sind, die sich schwer beweisen lassen – Objektivität erhält in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts demzufolge einen stark moralischen Impetus. 221 Vgl. GEIMER, Peter: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002, S. 7-25, S. 7.

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weisen, war dabei fließend. Virulent waren in diesem Sinne beispielsweise Fotografien, die die Geister von Verstorbenen im Bild festhielten (Abb. 2.6). Mit Hilfe von Séancen und Medien (meist jungen, in Trance versetzten Frauen) wurden zudem Antworten und Materialisationen der anderen Welt in Form von Ektoplasmen oder phantastische physische Phänomene, wie schwebende Menschen oder Stühle, mittels der Fotografie eingefangen.222

Abb. 2.6: William H. Mumler, Master Herrod and his double, ca. 1870, Schwarz-Weiß-Fotografie

222 Zu nennen wäre hier insbesondere William Howard Mumler als Pionier der Geisterfotografie. CLOUTIER, Crista: Mumler’s Ghosts, in: CHÉROUX, Clément (Hg.): The Perfect Medium. Photography and the Occult, New Haven, London 2004, S. 20-23. Besonders einflussreich waren zudem die von Albert von Schrenck-Notzing beschriebenen Materialisationsphänomene, in denen sich Geistiges materialsierte, beispielsweise in den genannten Ektoplasmen, vgl. Ausst.Kat.: Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren, Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach; Kunsthalle Krems, Krems-Stein; Fotomuseum Winterthur, Winterthur, 1997/1998, S. 94f.

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Die Fotografie von unsichtbaren oder nur dem sensiblen Auge sichtbaren Geistern und Naturwesen reicht weit ins 20. Jahrhundert hinein, mit dem wohl bekanntesten Beispiel der Bilderserie der Elfenfotografien von Cottingley: Etwa 1917 nahmen zwei junge Mädchen fünf Fotografien von Elfen (Abb. 2.7 und 2.8) auf, deren Echtheit zunächst intensiv diskutiert wurde, bis sie 1970 offiziell als Fälschung entlarvt wurden.223 Hinzu treten Fotografien, in denen sich Unsichtbares vermeintlich zeigt, indem es im Bild und durch das Bild erscheint – ein Beispiel hierfür ist der vom amerikanischen Amateurfotografen William C. Weidling 1914 eingefangene Umriss der Figur Christi (Natures Mystic Apparition of Christ Abb. 2.9).224 Das Bild zeigt zunächst den Blick auf eine winterliche Landschaft, rechts ein See, links ein Baum, im Vordergrund verschneite Gräser und im Hintergrund einige Häuser. Wie das begleitende Etikett informiert, handelt es sich um einen Friedhof in der Nähe von Cincinnati in Ohio; ein zweiter Blick auf den Baum links im Bild gibt jedoch eine zusätzliche Ansicht preis, denn dort erscheinen, einem Vexierbild ähnlich, die Konturen einer Figur, die erstaunliche Ähnlichkeit mit der Figur Christi hat: „Notice the perfection of every detail of the form, the halo, the crown of thorns and the sad expression of the upturned face“225. Bei diesen Phänomenen geht es stets um das Einfangen des Unsichtbaren, meist Transzendenten und oftmals einer anderen Machtsphäre zugehörigen; es handelt sich also nicht oder nicht ausschließlich um direkte Thematisierungen des Heiligen wie im letzten Beispiel.226 Da jedoch dessen elementare Eigenschaft der Transzendenz und der hinter den Dingen stehenden, übernatürlichen Ordnung ebenso aufgegriffen werden, wie spezifische Marker, die in den unter 2.1 ausgeführten Bereich des Sakralen fallen, erscheint es legitim zu hinterfragen, welcher visueller Schemata diese Bilder sich bedienen, um auf Transzendentes 223 Zu der Geschichte der Elfen von Cottingley vgl. KRAUSS, Rolf H.: Jenseits von Licht und Schatten. Die Rolle der Photographie bei bestimmten paranormalen Phänomenen – ein historischer Abriß, Marburg 1992, darin insbesondere das Kapitel „Elsie, Frances und die Elfenphotographien von Cottingley“, S. 183-193. 224 Vgl. hierzu: Ausst.Kat. The Unphotographable 2013, o. S. 225 Ausst.Kat. The Unphotographable 2013, Bildnotiz von W.C. Weidling, 1915, o. S. 226 Laut Michael Glasmaier lassen sich die Fotografien von „Elfen und Gnome[n]“ jedoch im Zusammenhang mit dem Weltbild der Londoner Theosophical Society, die Naturgeister als Teil eines göttlichen Prinzips verstand, durchaus als „fotografiert[e] Zeugen eines Gottesbeweises“ lesen. GLASMAIER, Michael: Feen als Indiz. Doyle und Houdini, in: Ausst.Kat.: Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren, Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach; Kunsthalle Krems, Krems-Stein; Fotomuseum Winterthur, Winterthur, 1997/1998, S. 23-26, S. 24.

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Abb. 2.7: Elsie Wright, Frances and the Fairies, 1917, Schwarz-Weiß-Fotografie

Abb. 2.8: Frances Griffiths und Elsie Wright, Fairies and their Sunbath, August 1920, Schwarz-Weiß-Fotografie

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, Abb. 2.9: William C. Weidling, Nature s Mystic Apparition of Christ, 1914, Schwarz-Weiß-Fotografie

hinzuweisen und damit die Schwelle des Sichtbaren hin zu Ordnungen des Unsichtbaren zu überschreiten. Interessanterweise argumentieren diese Bilder ihre Echtheit über den mechanischen und chemischen Herstellungsprozess der Fotografien, der, wie Peirce beschreibt, diese „physisch dazu zwing[t], Punkt für Punkt dem Original zu entsprechen“227; sie fußen demnach auf der indexikalischen Zeichenfunktion der Fotografie. Gleichzeitig sind es zumeist die Risse, Spalten und Differenzen zwischen fotografischem Abbild und fotografierter Realität, in denen sich das Unsichtbare vermeintlich zeigt, wenn etwa, wie in den Fotografien William Howard Mumlers, ein verstorbenes Familienmitglied schemenhaft als Zusatz auf der Fotografie erscheint, wo es doch für das menschliche Auge in der Wirklichkeit 227 PEIRCE 1986c, S. 193.

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nicht sichtbar war (Abb. 2.6). Diese Darstellungen lassen sich unter Rekurs auf Peirce näher als „Similes oder Ikons [fassen], die die Ideen der von ihnen dargestellten Dinge einfach dadurch vermitteln, daß sie sie nachahmen. […] Photographien, besonders Momentaufnahmen, sind sehr lehrreich, denn wir wissen, daß sie in gewisser Hinsicht den von ihnen dargestellten Gegenständen genau gleichen.“228

Wenn das ikonische Zeichen das von ihm dargestellte Ding nachahmt, so ergibt sich jedoch in Bezug auf Fotografien des Unsichtbaren ein Paradoxon, da die abgebildeten Phänomene in diesem Fall ja gerade nicht sichtbar sind und dementsprechend schwer nachgeahmt werden können. Ein zweiter Blick auf Peirce Theorie verdeutlicht, dass das ikonische Zeichen nicht notwendigerweise das Objekt selbst nachahmt, sondern vielmehr die „Idee“, die von ihm vorhanden ist. Lars Blunck geht genau dieser Funktion des ikonischen Zeichens in Bezug auf das fotografische Bild erneut nach und untersucht das Potential von Fotografien, wie die Malerei „Realitäten fingieren zu können, ‚ohne sie gesehen zu haben‘“229. Unter Rückbezug auf Umberto Eco und über die Analyse des Peirce’schen Ikon-Begriffs hebt er hervor, dass das ikonische Zeichen sich nicht zwangsmäßig auf ein tatsächliches, sondern potentiell auch auf ein rein fiktives Objekt beziehen könne und es folglich als „Vorstellungsbild“ zu begreifen sei: „Mit Umberto Eco lässt sich sagen, dass ein Ikon ein Zeichen ist, „das seinem Gegenstand nicht deshalb ähnelt, weil es ihn reproduziert“, sondern weil es, wie Peirce selbst formuliert, „eine Idee wachruft, die naturgemäß mit der Idee verbunden ist, die das Objekt hervorrufen würde“, für welches das Ikon ein Zeichen ist. Nicht die bildliche Darstellung und ihr Objekt sind demnach ähnlich, sondern das, was Peirce „eine Idee“ des Objekts und „eine Idee“ der bildlichen Darstellung nennt; an anderer Stelle schreibt er auch statt von „Idee“ sehr viel treffender vom Ikon als einem „Vorstellungsbild“. Das in der sprachana-

228 PEIRCE 1986c, S. 193. Wenn im Folgenden vom ikonischen Zeichen gesprochen wird, so ist dieses folglich in Differenz zum religiösen Ikonenbegriff zu verstehen. 229 BLUNCK, Lars: Fotografische Wirklichkeiten, in: BLUNCK, Lars: (Hg.): Die fotografische Wirklichkeit: Inszenierung – Fiktion – Narration, Bielefeld 2010, S. 9-36, S. 22. Bluncks Text befasst sich mit der Beleuchtung ikonischer Aspekte des Fotografischen, da diese von der bisherigen Fototheorie vernachlässigt worden seien. Dabei geht es ihm insbesondere um die mittels Fotografien fingierten und inszenierten „fiktiven Wirklichkeiten“, BLUNCK 2010b, S. 18.

108 | U NSCHARFE S PUREN ? – T EIL I: E INLEITUNG UND T HEORIE lytischen Philosophie viel zitierte Bild eines Einhorns ist also nicht unbedingt einem Einhorn ähnlich, sondern dem Vorstellungsbild, das wir von einem Einhorn haben.“230

Versteht man das fotografische Zeichen in diesem Sinne als Vorstellungsbild, so birgt es das Potential, Unsichtbares in Form der daran geknüpften visuellen Vorstellungen ins Bild zu überführen. Bei diesen Vorstellungen kann es sich um historisch etablierte Bilder und symbolhafte Marker handeln, die über kulturell fest zugeschriebene visuelle Ähnlichkeiten eine direkte ikonische Referenz aufbauen können, wie etwa das Beispiel der Elfen von Cottingley beweist, die als kleine Figuren mit Flügeln dargestellt sind.231 Für das Heilige ist dies der in Kapitel 2.1 ausgeführte Bereich des Sakralen als Fundus etablierter Vorstellungsideen zum Transzendenten, in den auch Rätselhaftes, Mythen, Märchen und Wunder fallen.232 Zugleich finden sich, wie oben festgestellt, wiederholt indirekte Marker, die die Ablösung des Abbildes vom Objekt hervorheben, also solche Elemente, die ein Dazwischen und ein grundsätzliches Entzogensein implizieren und sich gerade mit der Schwelle als Phänomen befassen. Diese fotografischen Bilder nutzen oftmals eben jenes, von Bazin im Rahmen seines „Mumienkomplexes“ benannte grundlegende Differenzpotential zwischen Abbild und Objekt, um auf Transzendentes zu verweisen: „Das Bild kann verschwommen sein, verzerrt, farblos, ohne dokumentarischen Wert, es wirkt durch seine Entstehung durch die Ontologie des Modells, es ist das Modell.“233 Manche der von Bazin als ästhetische Marker einer solchen Differenz genannten Elemente – neben verschwommen, verzerrt, farblos beschreibt er die Fotografien als „grauen oder sepiabrau-

230 BLUNCK 2010b, S. 13f. Blunck zitiert hier der Reihenfolge nach ECO, Umberto (1973): Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt am Main 1977, S. 66; sowie PEIRCE, Charles S. (1895): Kurze Logik. Kapitel 1, in: Ders.: Semiotische Schriften, hrsg. v. Christian Kloesel u. Helmut Pape, Frankfurt am Main 1986, Bd. 1, S. 202-229, S. 205; PEIRCE, Charles S. (1867): Eine neue Liste der Kategorien, in: Ders.: Semiotische Schriften, hrsg. v. Christian Kloesel u. Helmut Pape, Frankfurt am Main 1986, Bd. 1, S. 147-159, S. 155; und schließlich PEIRCE, Charles S. (1903): Kategoriale Strukturen und graphische Logik (H), in: Ders.: Semiotische Schriften, hrsg. v. Christian Kloesel u. Helmut Pape, Frankfurt am Main 1986, Bd. 2, S. 98-165, S. 113. 231 Welchen Stellenwert die Fotografien für den Rezipienten einnehmen, ist abhängig von dessen kultureller und individueller Prägung – das auf dem Bild Dargestellte kann potentiell als Fiktion oder als Spur eines Wirklichen begriffen werden. 232 Vgl. BÖHM 2009, S. 112. 233 BAZIN 1975, S. 24f. Kursivsetzung nicht im Original.

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nen Schatten, phantomhaft, fast unentzifferbar“234 – finden sich dementsprechend in den Fotografien des Unsichtbaren und Transzendenten wieder: Verschwommene Strukturen oder sich auflösende Formen dienen dazu, schemenhaft die Verstorbenen als geisterhafte, sich in einem Zwischenstadium befindende menschliche Schatten in die Fotografie zu bannen,235 verschwommene Konturen verweisen auf die Aura des Dargestellten, überbelichtete weiße, in weitestem Sinne farblose Flecken, werden als Ektoplasmen gedeutet. Es handelt sich um ähnliche ästhetische Elemente, wie Otto sie der Visualisierung des Heiligen zuschreibt. Nach Otto ist das Heilige nicht definibel im engen Sinne sondern nur erfahrbar. Es kann jedoch über Entsprechungen und Analogien angeregt und beschrieben werden. Davon gelten einige als Schematisierungen, das heißt historische und kulturelle, feste und rationale Verbindungen zum Heiligen.236 Die „Ausdrucks-mittel für das Numinose in der Kunst“237 unterscheidet Otto in fünf Grundmuster: So nennt er als indirekte Darstellungsmittel des Numinosen das Erhabene und das Magische, als direkte das Dunkel, das Schweigen und – mit Einschränkung – das Leere.238 Das Erhabene zeichne sich durch feierliche Größe und pompösen erhabenen Gestus aus, was insbesondere in der Architektur zutage trete.239 Das Magische wiederum bezeichnet Otto als „Rohform“240 des Numinosen, und weiß „ganz besonders auch von gewissen Erzeugnissen der schmückenden oder verzierenden Kunst, von gewissen Symbolen Emblemen Ranken- oder Linienführungen, daß sie einen ‚geradezu magischen‘ Eindruck machen“241. In Bezug auf die westliche Kunst hebt er das Schweigen sowie das Dunkel hervor, welches so sein muss, „daß es durch einen Kontrast gehoben und dadurch noch wahrnehmbarer gemacht wird: es muß selber noch eine letzte Helle zu überwinden im Begriffe stehen. Erst das Halbdunkel

234 BAZIN 1975, S. 25. 235 „Erkennungszeichen aller immateriellen Erscheinungen war aber die Unschärfe, die oft durch Doppel- oder Überbelichtungen entstand. Gerade solche typischen, zum Teil damals tatsächlich unerklärlichen fotografischen Effekte wurden nun zur Inszenierung medialer Sensationen benutzt.“, ULLRICH, Wolfgang: Die Geschichte der Unschärfe, veränd. und erg. Neuausg., Berlin 2009, S. 49. 236 Vgl. OTTO 2014, S. 1 und S. 6f. 237 OTTO 2014, S. 85. 238 Vgl. OTTO 2014, S. 88f. 239 Vgl. OTTO 2014, S. 85. 240 Vgl. OTTO 2014, S. 86. 241 OTTO 2014, S. 86.

110 | U NSCHARFE S PUREN ? – T EIL I: E INLEITUNG UND T HEORIE ist ‚mystisch‘. Und sein Eindruck vollendet sich wenn es mit dem Hilfsmomente des ‚Erhabenen‘ sich verbindet.“242

Mit der letzten Kategorie „das Leere und das weite Leere“, bezieht sich Otto primär auf die Kunst des Ostens wie etwa chinesische Malerei oder Architektur.243 Insbesondere das Dunkel, das Schweigen und das Leere sind ästhetische Elemente, die sich Markern des Verschwommenen, Schemenhaften bedienen können.244 Das Heilige ließe sich demnach über Referenz auf ihm Ähnliches, also Vorstellungsbilder des Heiligen, mittels bereits feststehender Verbindungen oder ästhetischer Marker, die Eigenschaften des Transzendenten aufgreifen, evozieren oder in Analogie setzen. Das ikonische Zeichen, verstanden als Vorstellungsbild in Anlehnung an Peirce und Blunck, nimmt mithin eine ähnliche Funktion ein, wie die von Otto beschriebenen Analogien, indem die Idee des Transzendenten durch ikonische Vorstellungsbilder, die dieser Idee ähneln, angeregt oder hervorgerufen werden kann. Das eigentliche Transzendente erschöpft sich jedoch nicht in dieser Erfahrung, sondern geht immer darüber hinaus.245 In diesem Sinne kann das ikonische Zeichen sowohl Sakrales anzitieren oder ‚Träger‘ von sakralen Inhalten sein, es kann sich jedoch auch selbst im Bereich des Sakralen bewegen. Die ikonische Funktion der Fotografie bleibt dabei eng an die indexikalische, beglaubigende Struktur des Mediums geknüpft, indem das eine das andere zu bestätigen scheint. Es ist gerade der Reiz des Sichtbarmachens des Unsichtbaren, verbunden mit dem indexikalischen Authentizitätsversprechen, das den fotografischen Bildern anhaftet, das das gewisse Etwas der Bilder ausmacht – auch wenn ihnen kein Glauben geschenkt wird. So wurden die mediumistischen und spiritistischen Tendenzen sowie die diversen Formen der Strahlenfotografie des Okkultismus bereits Anfang des 20. Jahrhunderts durch die künstlerische Avantgarde adaptiert, wie eine Ausstellung in der Schirn 1995 zeigte.246 Während der Weltkriege 242 OTTO 2014, S. 88. 243 OTTO 2014, S. 89f. 244 Gernot Böhme arbeitet diesen Aspekt für atmosphärische Fotografien der Dämmerung heraus, vgl. BÖHME, Gernot: Theorie des Bildes, 2. Aufl., München 2004, S. 105; sowie Kapitel 4 dieser Arbeit. 245 Vgl. ALLES 1997, S. 205f. sowie den Abschnitt zu Otto unter 2.1.2. 246 Vgl. Ausst.Kat.: Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900-1915, Schirn-Kunsthalle, Frankfurt, 1995. Zu den Interdependenzen von Surrealismus und Strahlenfotografie siehe zudem: POIVERT, Michel: Der unsichtbare Strahl. Die Strahlungsfotografie zwischen Wissenschaft und Okkultismus, in: Ausst.Kat.: Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren, Städtisches Museum Abteiberg,

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ließ das Interesse nach, so dass auch viele Archive nicht mehr erhalten sind.247 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die frühen Tendenzen des 19. Jahrhunderts von Künstlern und Wissenschaftlern wiederentdeckt und zunehmend aufgearbeitet: „Nachdem die im Dienst einer Sache stehenden fotografischen Experimente wie Geisterfotografie, Fluidal- und Strahlenfotografie kaum noch beachtet wurden, erscheinen sie heute im Kontext der künstlerischen Fotografie dieses Jahrhunderts in einem hochinteressanten Licht. Das Band, was die ehemals nicht künstlerisch intendierte mit der affirmativkünstlerischen Fotografie verbindet, ist das Unwirkliche, vermeintlich Unsichtbare.“248

Dabei mischte sich oft der Unglaube, ob der medialen Naivität, die in den genannten Bildpraxen aufscheint, mit einer anhaltenden Faszination ob des Phänomens. So experimentierte beispielsweise der Psychiater Jule Eisenbud 1962 mit der Gedankenfotografie und führte mit dem Medium Ted Serios über 400 Versuche mit Polaroids durch.249 Zeitgleich entdeckten Künstler vor dem Hintergrund von Psychedelik, New Age und Konzeptkunst die unsichtbare Welt erneut als Thema.250 Zu den Fotografen, die gezielt mit Elementen der transzendent ausgerichteten Doppelbelichtung spielen und teilweise auch explizit auf Symbole referieren zählen in den 1960er und 1970er Jahren unter anderen Duane Michals (etwa mit seiner Fotoserie The Spirit leaves the Body, 1968) und Francesca Woodman (Angel Series, 1977).251 In Deutschland war Sigmar Polke einer der ersten, der Schrenck-Notzings Überlegungen zu Materialisationsphänomenen künstlerisch wiederentdeckte und sich spielerisch den magischen PrakMönchengladbach; Kunsthalle Krems, Krems-Stein; Fotomuseum Winterthur, Winterthur, 1997/1998, S. 120–128. 247 Vgl. FISCHER, Andreas: Vorbemerkung zum Bildteil „okkulte“ Fotografie, in: Ausst.Kat.: Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren, Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach; Kunsthalle Krems, Krems-Stein; Fotomuseum Winterthur, Winterthur, 1997/1998, S. 27, S. 27. 248 AIGNER, LOERS, STAHEL 1997, S. 7. 249 Vgl. Ausst.Kat. Phantome 1997/1998, S. 85f. 250 Veit Loers skizziert diese Entwicklung, die oftmals Lichtwahrnehmungen in Form von Halluzinationen einbezieht, für die 1960er und 1970er Jahre, vgl. LOERS, Veit: Mediumistische oder psychedelische Erfahrung? Der Psi-Effekt im Konzeptualismus, in: Ausst.Kat.: Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren, Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach; Kunsthalle Krems, Krems-Stein; Fotomuseum Winterthur, Winterthur, 1997/1998, S. 141–150, S. 141f. 251 Vgl. LOERS 1997, S. 144f.

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tiken widmete.252 Bernhard Johannes Blume setzt sich nicht nur fotografisch, sondern auch theoretisch intensiv mit den mediumistischen Tendenzen auseinander und nimmt dabei eine ironisch-affirmative Haltung ein, in die sich gesellschaftskritische Ansätze mischen und die in den 1990er Jahren zu der Publikation Transzendentaler Konstruktivismus führt.253 Seit den 1990er Jahren scheint zudem ein verstärktes Interesse an der Thematik seitens der Kunstwissenschaft und Ausstellungspraxis vorzuliegen, wie sich in Ausstellungen wie Okkultismus und Avantgarde (Frankfurt 1995), Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren (Mönchengladbach 1997) zeigt, um nur zwei zu nennen.254 Die Nominierung des Ausstellungskataloges The Unphotographable für den Photobook Award Kassel 2014 belegt, dass die Faszination mit Fotografien des Unsichtbaren und Transzendenten auch heute noch ungebrochen ist.255 Um zu untersuchen, wie das Heilige in Fotografien visualisiert und dargestellt wird, ist somit zu fragen: Welche visuellen und ästhetischen Elemente lassen sich als Marker von Transzendenz lesen? Lassen sich hier kulturell und historisch spezifische Marker identifizieren? Bietet das fotografische Medium Möglichkeiten der Ausbildung eigener, neuartiger Marker des Heiligen? Werden diese Marker bewusst eingesetzt, werden sie ironisiert oder als vermeintlich tatsächliche ‚Erscheinung‘ mit ‚magischer Potenz‘ aufgeladen? Wie wird das grundlegend Entzogene im Bild thematisiert? Wird bewusst auf Differenzmarker zwischen Objekt und Abbild rekurriert? Mittels der drei Beispiele konnte gezeigt werden, dass sich, historisch gesehen, zwischen dem Heiligen und Transzendenten und der Fotografie bereits früh über spezifische fotografische Objekte ein Dialogfeld aufspannt. Die skizzierten zeichentheoretischen Schnittstellen können verschiedene Perspektiven dieses Konnexes beleuchten, sei es das Aufgreifen traditioneller Symbole mit fotografischen Mitteln, der Verweis auf das Heilige als strukturellen und zeichenhaften indexikalischen Prozess des Sich-Einschreibens von Transzendentem oder die Frage nach den spezifischen ästhetischen Erscheinungsformen, mittels derer Transzendentes visualisiert wird oder sich vermeintlich zeigt. Dabei sind die einzelnen genannten Zeichenarten lediglich Anhaltspunkte, die mehr oder minder 252 Vgl. LOERS 1997, S. 145f. 253 Vgl. LOERS 1997, S. 147f. Siehe ebenfalls: BLUME, Bernhard: Transzendentale Fotografie. „(Eine) Cellularpathologie der Seele“. Ein Dia-Vortrag, Berlin 1999, insbesondere S. 3-4. 254 Ausst.Kat. Okkultismus 1995; und Ausst.Kat. Phantome 1997/1998. 255 Vgl. Ausst.Kat. The Unphotographable 2013, o. S.; http://2014.fotobookfestival.org/ photobook-award-2014/ (31.08.2014).

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stark hervortreten können. Das fotografische Bild lässt sich jedoch nicht auf eine Zeichenfunktion reduzieren.256 Vielmehr gilt es, gerade die Überlappungen der verschiedenen Funktionen und ihre potentielle Wirkung bei jeder Fotografie neu zu beleuchten. Die elementare Bedeutung des Körpers in der Auseinandersetzung des Menschen mit dem Heiligen wurde in Kapitel 2.1.4 anhand des ‚heiligen‘ Körpers, des rituell-performativen Körpers, sowie der körperlichen Erfahrung mit Blick auf verschiedene Körper und Köper-Modi herausgearbeitet. Der Rückblick in die Frühzeit des Mediums hat diese Aspekte des Körpers multiperspektivisch aufgegriffen: Days performativ angelegte und fotografisch festgehaltene Crucifixion von 1898 integriert primär Elemente, welche die rituelle, agierende Funktion des Körpers in der Annäherung an und der Produktion von Heiligkeit aufgreifen, wie sie in 2.1.4 dargestellt wurden. Zugleich zeigt sich hier die zentrale Rolle der Inkarnation sowohl für die christlich-katholische Religion als auch für die daraus abgeleitete Bildtradition. In der Überlagerung des christlichen und künstlerischen Körperbildes greift Day Traditionen der imitatio Christi auf und verweist zugleich darauf, dass bei künstlerischen Inszenierungen, wie sie sich bei Serrano und Nebreda finden, der Körper stets aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten ist. In der in Abschnitt 2.2.2 beschriebenen Historie um das Turiner Grabtuch und dessen fotografischer Abbildung steht die spezifische mediale Kopplung von fotografischem Zeichen und bildvorläufigem Referenten in Analogie zu religiösen Bildwerdungskonzepten der Inkarnation oder Selbsteinschreibung, wie sie sich ebenfalls im Christentum finden. Zentral wird hier der Wahrhaftigkeitscharakter fotografischer Bilder in Bezug gesetzt zu der bestätigenden Berührung mit dem Körpers des Heiligen. Interessanterweise finden auch die besprochenen Visualisierungen des Unsichtbaren oftmals durch oder in Kombination mit dem Körper statt: Sei es als über ein körperliches Medium herbeigeführte Kontaktaufnahme zu einer jenseitigen Sphäre, die in einer bildlich festgehaltenen Materialisation etwa eines Ektoplasmas resultiert, sei es der schemenhaft sichtbare Körper eines Verstorbenen oder die Figur Christi. Hinzu treten Konzepte, welche körperliche Aspekte von Bildern als Gegenstände der erfahrbaren Welt her256 Dubois hebt als Minimaldefinition des fotografischen Bildes den Index hervor, betont jedoch, dass „im Grunde […] keine dieser drei Kategorien im Reinzustand“ existiere, da oftmals eine Überlappung der Zeichenkategorien stattfindet und sie sich jeweils aufeinander aufstützen. Das fotografische Bild ist nach ihm somit primär und stets Index, seine Effekte können jedoch durchaus der ikonischen und symbolischen Funktion zuzuordnen sein, DUBOIS 1998, S 67. Insbesondere, da nicht nur die Genese des fotografischen Bildes, sondern auch das Bild als Produkt mit seinen Inhalten in den Blick genommen werden soll.

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vorheben, wie bereits in Kapitel 2.1.4 ausgeführt.257 In fotografischen Bildern scheint diese Lesart eine besondere Qualität zu entfalten. So animierte die Faszination der „Berührung“ zweier Körper mittels der Fotografie Roland Barthes zur Wahl körperlicher Metaphern für ihr Zustandekommen: „Die PHOTOGRAPHIE ist, wörtlich verstanden, eine Emanation des Referenten. Von einem realen Objekt, das einmal da war, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin; die Dauer der Übertragung zählt wenig; die Photographie des verschwundenen Wesens berührt mich wie das Licht eines Sterns. Eine Nabelschnur verbindet den Körper des photographierten Gegenstandes mit meinem Blick: das Licht ist hier, obschon ungreifbar, doch ein körperliches Medium, eine Haut, die ich mit diesem oder jener teile, die einmal photographiert worden sind.“258

Die fundamentale Bedeutung des Körpers in der Mediatisierung von Heiligem findet somit in fotografischen Bildern ihre inhaltliche Verlängerung, beziehungsweise wird mit Verbindungspunkten zwischen Körper und fotografischem Bild angereichert. Für die Frage nach fotografischen Verhandlungen von Heiligkeit erscheint der fotografisch fixierte Körper demnach eine besonders fruchtbare Schnittstelle. Nach Knauß beruht die Vielfältigkeit der Körperbilder und die aktuelle Konjunktur der Auseinandersetzungen mit dem Körper in Gesellschaft, Wissenschaft, Kultur und Kunst auf der „zunehmenden Technisierung und Virtualisierung der Lebenswelt […], durch die das Bedürfnis nach physischen Erfahrungen, die jetzt gezielt gesucht werden müssen, hervorgerufen wird.“259 Roland Barthes Metapher verweist in diesem Sinne auf das Potential der Fotografie, als Medium der reliquienartigen Versicherung abwesender und vergangener Körper genutzt zu werden. Zugleich werden mittels fotografischer Bilder Identitäten und Körperbilder produziert und reflektiert. Sakrale Traditionen und das Heilige als kulturell variierendes Theorem scheinen sich in diesen fotografischen Bildern zu spiegeln und der Produktion und Reflexion von Körperbildern und fotografisch-medialen Fragestellungen gleichzeitig einen Referenzraum zu bieten – wie genau, das wird in den Analysen zu eruieren sein.

257 Vgl. JONES 2003a, S. 262. 258 BARTHES 1989, S. 90f. 259 KNAUSS 2008, S. 13.

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2.3 A NALYSEKRITERIEN Anstatt sich auf einen Ansatz, der die Fotografie als Mimesis der Realität versteht, auf einen medientechnischen Ansatz, auf einen bildkonstruktiven Ansatz oder auf einen zeichentheoretischen Schwerpunkt zu fokussieren260, soll bei der folgenden Festlegung der Analysekriterien, ähnlich wie bei der Definition des Heiligen und Sakralen aus zwei Richtungen gedacht werden. So spielen an der Schnittstelle des Heiligen mit fotografischen Bildern zum einen Elemente des aktiven Bezeichnens im Sinne eines situationellen Ansatzes beim Heiligen oder eines konstruktivistischen Ansatzes beim Fotografischen eine Rolle. Zum anderen wird auch die Bedeutung eines dem gegenübergestellten substantiellen Ansatzes für die Verhandlung des Heiligen (im Sinne Ottos oder Eliades) und der postulierte Realitätsbezug fotografischer Bilder in ihrer Relevanz für die Rezeption der Fotografien und des mit ihnen thematisierten Heiligen bedacht. Dies erlaubt, die Relevanz verschiedenster und auch gegenläufiger fototheoretischer Ansätze für die jeweilige fotografische Position zu eruieren und sie gleichzeitig als im Foto potentiell reflektierte Idee zu bedenken. In den Analysen der einzelnen fotografischen Positionen wird demzufolge nach der jeweiligen Rolle von Index, Ikon und Symbol gefragt und die Bilder werden auf Prozesse der Sakralisierung, Entsakralisierung und Resakralisierung hin analysiert. Eine derartige Herangehensweise beinhaltet medientheoretische Überlegungen ebenso wie Überlegungen zu fotografischer Materialität und zu Facetten fotografischen Handelns. Damit steht der hier verfolgte Ansatz im Kontext theoretischer und kunstwissenschaftlicher Forschungen zum Fotografischen und daran angelehnte Ansätze, den Begriff des „Dispositivs“261 für das Fotografische fruchtbar zu machen. Das Fotografische beschreibt nach Rosalind Krauss als „Abstraktum“ alle „Charakteristika der Fotografie“262, die als solche auch in an-

260 Hal Foster hebt hervor, dass insbesondere die fotografisch basierte Nachkriegskunst zu oft entweder in Hinblick auf ihre referentiellen oder auf ihre bildkonstruktiven Eigenschaften betrachtet wird, eine Lesart, welche die spezifischen Eigenschaften vieler Kunstwerke nicht erfasse, vgl. FOSTER, Hal: The Return of the Real. The AvantGarde at the End of the Century, Cambridge, London 1996, S. 128. 261 Die Debatte um das Fotografische als Dispositiv gewinnt insbesondere seit dem Jahr 2013 an Relevanz und findet mit dem DFG geförderten Graduiertenkolleg „Das fotografische Dispositiv“ an der Hochschule für Bildende Kunst in Braunschweig ein Diskussionsforum. Für weitere Informationen siehe: http://www.hbk-bs.de/forschung/ graduiertenkolleg-das-fotografische-dispositiv/ (24.07.2018). 262 WOLF 2000, S. 12 und S. 16.

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dere Bereiche, insbesondere in die Kunst seit der Moderne, eindringen können und diese prägen.263 Das Fotografische betrifft somit in erster Linie fotografische Bilder, ist jedoch auch als theoretischer Rahmen auf andere Medien übertragbar und geht über das fotografisch-materielle Objekt hinaus. Im Rahmen des „fotografischen Dispositivs“ richtet sich der Blick zunächst auf den fotografischen Akt, dessen Verständnis erweitert wird auf die in ihm zusammentreffende „Koinzidenz von intentionalem Handeln und nicht intentionalem Sich Ereignen“264. Dadurch ergibt sich ein „Handlungsgefüge“265, dem das in der vorliegenden Arbeit angesetzte Verständnis des fotografischen Prozesses als Konglomerat von aktiven und passiven Zuschreibungen, welche die Lesart und Disposition der Bilder durchdringen, parallel läuft und das daher als größerer Forschungskontext anschlussfähig erscheint. Insbesondere die Frage, inwiefern Sakralisierungen, Ent- und Resakralisierungen in und mittels fotografischer Bilder vollzogen werden, lässt sich in diesem Kontext verorten – sind Sakralisierungen mittels fotografischer Bilder zu verstehen als spezifische Handlungsform, in denen das Fotografische und das Sakrale temporäre oder gar dauerhafte Verbindungen eingehen? Fallen Fotografisches und Heiliges funktional zusammen? In den Analysen werden, wo es relevant erscheint, die Kontexte der Bildproduktion, -ausstellung und -rezeption einbezogen, um diesen Fragen möglichst umfassend nachgehen zu können. Im Sinne einer Vervielfältigung der Perspektiven266, die das Objekt einschließt, den Blick darauf jedoch erweitert, sollen so die im Bild angelegten Möglichkeiten der Sakralisierung, Ent- und Resakralisierung sowie die mit solchen Aktionen einhergehenden Effekte in konkreten Situation

263 Zu Rosalind Krauss‘ einschlägiger These zu diesem Aspekt, den sie am Beispiel Marcel Duchamps herausarbeitet und auf die Kunst der 1970er Jahre überträgt, siehe: KRAUSS, Rosalind: Anmerkungen zum Index: Teil 1, in: Dies.: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, hrsg. von Herta Wolf , Amsterdam, Dresden 2000, S. 249-264; und KRAUSS, Rosalind E.: Anmerkungen zum Index: Teil 2, in: Dies.: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, hrsg. von Herta Wolf , Amsterdam, Dresden 2000, S. 265-276. 264 SYKORA, Katharina: Explosive Photography, Museum Ludwig, Köln, Vortrag vom 14.09.2014. 265 SYKORA 2014, o. S. 266 Sykora spricht in Bezug auf den an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig verfolgten Forschungsansatz zum fotografischen Dispositiv von der Erweiterung der Perspektive auf 1. die Akteure und Aktanten, 2. die Medien des Fotografischen sowie 3. die historische Dimension auf vor- und postfotografische Zeiten. Vgl. SYKORA 2014, o. S.

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untersucht werden, um dergestalt das Potential des Fotografischen, sich in Objekten mit den Diskursen des Sakralen und Heiligen zu verbinden, zu erhellen. Überlagern sich religiöse und fotografische Tendenzen in konkreten historischen Beispielen, so scheint es folgerichtig, innerhalb der Analysen nach weiteren Parallelen und Kontaktpunkten zu fragen, um daraus wiederum Erkenntnisse für weitere Positionen ableiten zu können. Einen ersten Ansatz hierzu bieten die gängigen Fotografietheorien, die bereits anhand der historischen Beispiele umrissen wurden. Im Rahmen der Analysen wird zudem zu fragen sein, inwiefern das Heilige über weitere Parallelen und Kontaktpunkte aufgegriffen wird, die sowohl thematischer als auch funktionaler Natur sein können. Werden spezifische Bezüge zum Heiligen gesetzt? Werden Facetten des Heiligen reflektiert eingesetzt? Sind sie Teil der potentiellen Bildwirkung? Vor dem Hintergrund der Perspektiven auf das Heilige und Sakrale (Kapitel 2.1) sowie den dargelegten theoretischen und historischen Kontaktpunkten (Kapitel 2.2) zwischen Thema und Medium erscheint es somit sinnvoll, sich der Frage nach der inhaltlichen und visuellen Verhandlung des Heiligen in fotografischen Bildern mittels folgender analytischer Kriterien zu nähern: 1.

2.

3. 4. 5.

Welche inhaltlichen Konzeptionen von Heiligkeit, verstanden als transzendenter, religiöser, jedoch nicht zwingend religionsspezifischer Kategorie, werden aufgegriffen und verhandelt? Wie wird der Bereich des Sakralen, verstanden als Bereich der Sichtbarwerdung und -machung des Heiligen, in der Fotografie umgesetzt (nicht nur, aber auch über spezifisch fotografische Mittel)? Welche Rolle spielen Index, Ikon, Symbol? Wie werden Prozesse der Sakralisierung, Ent- und Resakralisierung in und mittels der Fotografien inszeniert und angewandt? Lassen sich aus den Positionen theoretische Kontaktpunkte und Parallelen zwischen dem Fotografischen und dem Heiligen/dem Sakralen ableiten? Wenn ja, werden diese reflektiert?

Die semiotische Fundierung dieser Fragen versteht auch einzelne Bildelemente als Zeichen, die Träger von Bedeutung im Sinne Roland Barthes sein können und deren Betrachtung daher in die Analysen mit einfließen kann.267 Partizipie267 Roland Barthes konstatiert, dass „die Gliederung und der Stil eines Fotos wie eine sekundäre Mitteilung funktionieren, die über die Realität und den Fotografen Aufschlüsse gibt: Das bezeichnet man als die Konnotation“ (zit. nach einem Interview mit Angelo Schwarz und Guy Mandera in STIEGLER, Bernd: Theoriegeschichte der Photo-

118 | U NSCHARFE S PUREN ? – T EIL I: E INLEITUNG UND T HEORIE

ren die Arbeiten explizit am Kunstkontext (beispielsweise über Ausstellungen sowie thematische und stilistische Referenzen), so scheint es sinnvoll, auf kunsthistorische Methoden und Instrumentarien, wie beispielsweise Ikonografie und Rezeptionsästhetik, zurückzugreifen, die um medientheoretische Überlegungen ergänzt und mit religionswissenschaftlichen Ansätzen verknüpft werden. Wurde unter 2.1.2 eine synthetische Begriffsbestimmung des Heiligen und Sakralen unter Rückbezug auf prominente und neuere religionswissenschaftliche Positionen vorgenommen, um eine begriffliche Grundlage für ein Analysemodell zu legen, so lassen sich einzelne Positionen ebenfalls vertieft anwenden. Die jeweils beschriebenen idealtypischen Qualitäten des Heiligen können aufgrund ihrer Rückkopplung an historische Erscheinungsweisen des Heiligen als Ansatzpunkte dienen, Parameter des Religiösen mit denen des Fotografischen zu vergleichen und dadurch Rückschlüsse für einzelne fotografische Positionen abzuleiten. In Anlehnung an die in der Einleitung ausgeführte kulturwissenschaftliche These zur Wiederkehr der Religion und dem Fortleben religiöser Praktiken im profanen Alltagsleben kann so – falls existent – das Aufscheinen und Aufgehen bestimmter, der Kategorie des Heiligen zugeordneter Erscheinungsweisen sowie vermeintlicher struktureller Eigenschaften im Rahmen des Fotografischen aufgezeigt und die potentielle Bedeutung dieser Konstellationen für fotografische Bilder erörtert werden.268 Den folgenden Hauptteil der Arbeit (Teil II) bilden detaillierte, vom Objekt ausgehende Einzelanalysen dreier zeitgenössischer künstlerisch-fotografischer Positionen.269 An den Werken von Andres Serrano, David Nebreda und Pierre Gonnord wird zum einen die analytische Herangehensweise erprobt und überprüft. Zum anderen kann auf Basis der Untersuchung exemplarischer Positionen das Analyseinstrumentarium perspektivisch sowohl um ein fotografisch-ästhetisches ‚Vokabular‘ des Heiligen und Sakralen als auch in Hinblick auf funktionale und theoretische Parallelen und Kontaktpunkte zwischen Medium und Thema erweigraphie, München 2006, S. 339). Neben inhaltlichen Setzungen sowie realen, erkennbaren Gegenständen sind demnach auch formale Gestaltungsmittel, wie Bewegungsrichtung, Schattenfall, die Wahl des Bildausschnittes, Perspektive etc. als Zeichen zu verstehen, die Bedeutungsträger sein können. 268 Dabei geht es selbstverständlich nicht darum, das Fotografische mit der Religion gleichzusetzen. 269 Die Formulierung beschreibt nicht den künstlerischen Wert der Arbeiten, sondern dient lediglich dazu, das Untersuchungsfeld sinnvoll einzuschränken. Ausgewählt wurden Werke von Fotografen, die sich im weitesten Sinne im Kunstkontext bewegen, das heißt an Ausstellungen teilnehmen und dementsprechend rezipiert werden.

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tert werden (Kapitel 6.1 und 6.2). Auf dieser Grundlage aufbauend, wird in Kapitel 6.4 ein Ausblick auf weiterführende Fragestellungen gegeben. In den Bereich des Sakralen fallen, wie in Kapitel 2.1.2 herausgearbeitet, sowohl Elemente, die mehr oder weniger direkt auf ein Heiliges als überreligiöser, transzendenter Kategorie hinzielen oder durch die ein solches in Erscheinung tritt, als auch Elemente, die ein solches zu produzieren suchen. Die Auswahl der Untersuchungsobjekte beschränkt sich auf solche fotografischen Positionen, die Prozesse der Valenzsteigerung, welche auf eine transzendente ‚Zielkategorie‘ des Heiligen hindeuten, integrieren, das heißt, in denen der Bezug zum Heiligen inhaltlich und abseits nur formaler Mittel zur Bedeutungssteigerung nachvollzogen werden kann.270 Neben fotografischen Bildern, die festgelegte Symbole des Heiligen oder explizite Marker des Sakralen, wie beispielsweise der visuellen Motivik des Christentums, offensichtlich aufgreifen, scheinen implizitere künstlerisch-fotografische Konzepte von Heiligkeit und Sakralität von Interesse. Auf Grundlage der in Kapitel 2 ausgeführten theoretischen Positionen zum Heiligen sowie der konkreten historisch-fotografischen Fallbeispiele und ihrer ästhetischen und theoretischen Verortung lässt sich der Körper als ein zentrales und multifunktionales Bindeglied zwischen fotografischen Bildern und dem Heiligen postulieren.271 Der Körper wird daher im Folgenden sowohl als Auswahlals auch als Analysekriterium für die tiefergehenden Bilduntersuchungen eingesetzt. Die ausgewählten fotografischen Arbeiten von Andres Serrano, David Nebreda und Pierre Gonnord referieren entweder thematisch oder funktional auf die genannten Kategorien des Sakralen oder Heiligen und integrieren darüber hinaus den menschlichen Körper, indem sie die in Kapitel 2.1.4 skizzierten Berührungspunkte umfassend aufgreifen. So bringt Serrano mit seiner Fotografie Piss Christ den heiligen Körper, den künstlerischen Körper und den betrachtenden Körper in einen fruchtbaren, transgressiven Dialog (Kapitel 3). Es wird zu zeigen sein, dass er durch den Kontrast von Körperflüssigkeit, christlichem Symbol und traditioneller visueller Opulenz den von Knauß beschriebenen, ambivalenten Status des Körpers im Christentum auslotet.272 Über das fotografische Medium greift Serrano zudem den Berührungsaspekt und die stark körperlich ausgerichteten Wahrnehmungsmuster mittelalterlicher Reliquienkulte auf. Durch die Überführung ins fotografische Bild stellt er zunächst subtil und anschließend umso vehementer, die eigene Körperwahrnehmung und Glaubensfähigkeit auf 270 Vgl. Abschnitt 2.1.3 oben. Die Untersuchung von Prozessen der allgemeinen Valenzsteigerung fließt jedoch als Element ebenfalls in die Analysen mit ein. 271 Vgl. auch Kapitel 2.1.4 zur Relation des Körpers zum Heiligen. 272 Vgl. KNAUSS 2008, S. 82.

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den Prüfstand. Nicht zuletzt erforscht Serrano abseits dieser transgressiven Tendenzen in einer auf Transzendenz ausgerichteten Lesart subversive Darstellungsmöglichkeiten für das Heilige in fotografischen Bildern. Die Selbstportraits Nebredas verdeutlichen die komplexen performativen Beziehungsstrukturen des eigenen Körpers zum Heiligen auf sehr persönliche Weise (Kapitel 4). Mit welchen Mitteln lässt sich der eigene Körper hin zu einer besseren Identität überwinden? Die Komplexität seines Ansatzes erlaubt zugleich eine Reflexion der Relevanz körperlicher Erfahrung von Wirklichkeit und körpergebundener ritueller Handlungen für den Menschen und verbindet diese Aspekte auf zentrale Weise mit Vorstellungen zur fotografischen Medialität. Gonnords Portraits von Menschen am Rande der Gesellschaft beschäftigen sich mit christlichen Bildtraditionen zur Darstellung verkörperter Heiligkeit und verdeutlichen medienübergreifend einsetzbare visuelle Sakralisierungsstrategien. Zugleich werfen seine Portraits die Fragen danach auf, in welchen Körpern wir Heiliges aufscheinen sehen und wie diese Körper innerhalb von Bildern und den diese Bilder umgebenden Diskurssystemen produziert, politisiert und instrumentalisiert werden. Welchen Resonanzraum öffnen diese Integrationen des Körpers für die Verhandlung von Konzepten des Heiligen? Dieser Frage wird in den jeweiligen Einzelanalysen nachgegangen, indem die verschiedenenen, in Kapitel 2.1.4 herausgearbeiteten Kategorien des Körpers, wie der heilige Körper, der dargestellte Kör per, der Körper des Künstlers, der Körper des Betrachters, der Bild-Körper untersucht und auf diese Weise zentrale Ebenen der Produktion, Thematisierung und Rezeption miteinander verbunden werden.

TEIL II: Einzelanalysen

3. Subversion, Öffnung, Neuinterpretation: Das Symbol des Heiligen zwischen De- und Resakralisierung Andres Serrano

„Maybe Piss Christ is part of a new religious iconography which will eventually be embraced, if not by the Church, then by some of its members. Because, frankly, I don't feel that I debase icons, but rather make new ones.“1 ANDRES SERRANO

Einleitung und Fragestellung Die Fotografie Piss Christ, 1987 (Abb. 1.1), des US-amerikanischen Fotografen Andres Serrano stand Ende der 1980er Jahre im Mittelpunkt der sogenannten Culture Wars.2 Auf den ersten Blick gibt die 152,4 x 101,6 cm3 große Abbildung wenig Anlass zur Diskussion, die Darstellung eines von rot-goldenen Lichtwolken umgebenen Kruzifixus scheint sich nahtlos in die traditionelle Ikonografie zur Visualisierung des Sujets einzureihen. Gleitet der Blick des Betrachters jedoch von dem ersten visuellen Eindruck hinüber zu dem begleitenden Schild, um Titel und Künstler zu identifizieren, erwartet ihn dort der Titel Piss Christ, 1987.4 Das christliche Symbol der Kreuzigung wird hier gleich zweifach in einen provokanten Kontext gestellt: Durch den Titel entsteht für den Betrachter ein as1

Serrano zitiert in: DECTER 1990, S. 12.

2

Siehe auch die Einleitung der vorliegenden Arbeit.

3

Vgl. BAL 2006, S. 188.

4

Für eine interessante Beschreibung eines möglichen Verlaufs der Annäherung eines Betrachters an Piss Christ siehe: JULIUS 2002, S. 15f.

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soziativer Kontext, in dem ein heiliges Symbol zunächst auf sprachlicher Ebene mit im Allgemeinen als unrein gewerteter Körperflüssigkeit in Verbindung gebracht wird, was für sich genommen bereits als Diffamierung Christi und damit als Beleidigung religiöser Gefühle verstanden werden kann. Darüber hinaus verweist der Titel auf den vermeintlichen Entstehungsprozess des Fotos: Nach eigener Aussage tauchte Serrano ein kleines Plastikkruzifix in ein Glas (seines eigenen) Urins und fotografierte es anschließend. Zeigt das fotografische Abbild nur einen Ausschnitt, auf dem Gefäß und Umgebung und damit dieser Entstehungsprozess nicht direkt zu erkennen sind, so wird die besondere visuelle Qualität der rot-goldenen Tönung im Rückbezug auf den Titel als mit Flüssigkeit gefüllter Bildraum evident. Diese besondere Form der Bildstruktur führte bereits zu Beginn der Ausstellungsgeschichte von Piss Christ zu starken emotionalen Reaktionen, die im Rahmen der Culture Wars öffentlich zur Schau getragen und politisch instrumentalisiert wurden: So zerstörte der US-amerikanische Kongressabgeordnete und Senator Alphonse D‘Amato 1989 während einer Senatssitzung ein Exemplar des Ausstellungskataloges, in dem die Fotografie abgedruckt war. Senator Jesse Helms fügte seine Meinung über Serrano hinzu „He is not an artist, he is a jerk“.5 Im Zentrum der Empörung stand der vermeintlich blasphemische Charakter der Arbeit sowie die Tatsache, dass die Ausstellung, in der die Arbeit gezeigt worden war, zum Teil durch den National Endowment for the Arts (NEA) Fonds gefördert wurde, der sich wiederum aus Steuergeldern finanzierte.6 Die öffentlichkeitswirksame Debatte führte zu einem Aufschrei in der christlich-konservativen amerikanischen Öffentlichkeit und katapultierte sowohl Piss Christ als auch den bis dato außerhalb New Yorks eher unbekannten Künst5

Für einen guten Überblick zu den politischen Hintergründen rund um die Culture Wars siehe FERGUSON 1995, o. S. Ein Protokoll der Sitzung ist zudem einsehbar unter http://www.csulb.edu/~jvancamp/361_r7.html (04.08.2018). Letzterem ist auch das Zitat von Jesse Helms entnommen.

6

Die vom Southeastern Center for Contemporary Art in Winston-Salem, North Carolina, organisierte Ausstellung in der Piss Christ präsentiert wurde, zeigte zehn Künstler, die jeweils 15.000 US$ Förderung erhielten. Sie wurde zu etwa einem Drittel indirekt durch den NEA, der das Programm als solches mit 75.000 US$ unterstützte, gefördert (das heißt ca. 5.000 US$ des NEA flossen an Serrano). Die anderen zwei Drittel kamen von der Rockefeller Foundation und der Equitable Life Insurance, vgl. WUTHNOW 2001, S. 169 und S. 171; sowie HONAN, William H.: Congressional Wrath: Andres Serrano’s Christ in Urine Picture Sparks Possible Fund Cutoff, in: Chicago Tribune, 7.9.1989, o. S., unter: http://articles.chicagotribune.com/1989-0907/features/8901110126_1_salman-rushdie-contemporary-art-andres-serrano (04.08.2018).

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ler Andres Serrano über Nacht in das Zentrum der amerikanischen Culture Wars und entfachte eine vielschichtige Diskussion um moralische Grenzen und Freiheiten künstlerischer Produktion.7 Neben der blasphemischen Ausdeutung der Bildentstehung wurden seitens der Kritiker unter anderem moralische Gefühlsverletzungen, fehlender Kunstsinn oder schlechter Geschmack des Künstlers ins Feld geführt. Serranos Unterstützer verwiesen auf das Recht auf freie Meinungsäußerung, künstlerische Freiheit oder interpretierten Piss Christ als Kritik an der Trivialisierung des Sakralen in der Gesellschaft.8 Mit der Wahl eines Motivs aus dem traditionellen sakralen Formenrepertoire des Christentums reiht sich Piss Christ offensichtlich in die in Kapitel 2.2.1 unter Bezug auf Fred Holland Day dargelegte Verhandlung symbolischer Formen in der Fotografie ein. Kann der Marker des Heiligen in erster Instanz eindeutig identifiziert werden, gilt es, das Geflecht der syntaktischen Beziehungen zwischen Motiv und fotografischen Parametern genauer zu beleuchten und zu untersuchen, welche inhaltlichen Facetten von Heiligkeit näher konturiert werden. Auf welche Interpretation des Heiligen zielt die Darstellung? Mit welchen (spezifisch fotografischen) formalen und ästhetischen Mitteln arbeitet Serrano? Welche Verbindungspunkte zwischen Medium und Thema kommen zum Tragen und welche Rolle spielen neben den symbolischen die indexikalischen und ikonischen Qualitäten des Mediums? Die extrem aufgeladenen Reaktionen und Interpretationen zu Piss Christ verdeutlichen, dass hier unter Bezugnahme auf verschiedene Aspekte des Körpers eine besondere Form der Auseinandersetzung mit dem Heiligen stattfindet, die sich aus dem fotografischen Realitätsbezug des Bildes generiert. Der spezifischen Form der Verhandlung des Heiligen in Piss Christ sowie den multiplen und eng verwobenen Elementen und Gesten der Sakralisierung, Desakralisierung und Resakralisierung soll in der folgenden Analyse nachgegangen werden. Wie beeinflussen die einzelnen Bildelemente die Wirkung des Bildes auf den Betrachter? Da die oben dargelegte Diskussion um das Bild und seine kontroversen Interpretationen explizit die Rolle des Künstlers mit einbezogen und die Rezeption von Piss Christ auch heute maßgeblich prägen, werden vor dem Close Reading in einem knappen Überblick Künstler, Werk und Forschungsstand näher erläutert. 7

Vgl. Ausst.Kat. El dedo 2006, S. 200f. Zu den Verflechtungen von künstlerischem Erfolg und insbesondere der Rolle des Senators Jesse Helms vgl. DOUGLAS, Sarah: Art hearts

the

far

right,

in:

www.artinfo.com,

18.7.2008,

unter:

http://www.

blouinartinfo.com/news/story/271056/art-hearts-the-far-right (04.08.2018). 8

Vgl. zu den verschiedenen Positionen sowohl WUTHNOW 2001, S. 170 als auch LIPPARD 1990.

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Künstler, Werk, Forschungsstand Piss Christ steht emblematisch für Serranos Faszination für religiöse Themen, sein Interesse an der Bildsprache der Renaissance und des Barock sowie an der Ästhetik der Werbebranche und spiegelt somit zentrale Einflüsse für sowohl Sujet als auch Ästhetik seines Werks allgemein. Geboren 1950 in New York, wuchs Serrano als Sohn honduranischer und kubanisch-afrikanischer Einwanderer in einem stark katholisch geprägten Umfeld auf. Mit zwölf Jahren besuchte er erstmals das Metropolitan Museum of Art, New York, und beschloss, von den Renaissance-Gemälden fasziniert, Künstler zu werden. Von 1967 bis 1969 besuchte er die Brooklyn Museum School of New York, bevor er nach einer kurzfristigen Anstellung in einer Werbeagentur zu fotografieren begann.9 Es folgte eine Experimentierphase im Stil der Street Photography bevor sich eine ästhetisch aufgeladene Bildsprache sowie der Körper, der Tod, Identität, Verlangen und Religion als primär wiederkehrende Sujets in seinem Werk etablierten. Bereits in seinen frühen Tableaus Anfang der 1980er Jahre wird deutlich, dass ein prägender Aspekt seiner Arbeit sein persönliches Verhältnis zur Religi-

Abb. 3.1: Andres Serrano, Pieta, 1985, Farbfotografie

9

Siehe Ausst.Kat. El dedo 2006, S. 200f. für ausführlichere biografische Informationen.

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Abb. 3.2: Andres Serrano, Milk, Blood, 1986, Farbfotografie

on ist. In ikonografisch konnotierten Arbeiten wie Cabeza de vaca, 1984, Heaven and Hell, 1984, und Pieta, 1985 (Abb. 3.1), zeigt sich eine Mischung aus Faszination für religiöse Themen und Symbole sowie zugleich eine kritische Haltung gegenüber der Macht der kirchlichen Institutionen.10 Nach den frühen Tableaus begann Serrano ab etwa 1987 in Serien zu arbeiten, die zeitlich oft parallel über mehrere Jahre entstanden. Die eng zusammenhängenden frühen Serien Body Fluids und Immersions sind geprägt von seiner Arbeit mit Körperflüssigkeiten wie Blut, Urin, Milch sowie Wasser und Sperma. Body Fluids (oder auch Fluid Abstractions) zeigt Fotografien von rechteckigen und runden Behältern mit Körperflüssigkeiten, die in ihrer Flächigkeit und Farbigkeit an Farbstudien und abstrakte Kunst und Gemälde Mondrians erinnern, wie etwa Milk, Blood, 1986 (Abb. 3.2). Zugleich rufen Form, Größe und die teils sichtbaren Ränder der Gefäße mittelalterliche Tafelbilder in Erinnerung. Neben der Faszination für die Nutzung der Fotografie in einer abstrakt-malerischen, dem Wesen des Mediums zuwiderlaufenden Art und Weise, ist es die zugleich implizite indexikalische Verbindung zu realen Körperflüssigkeiten, die hervorzuheben ist,

10 Für weiteres Bildmaterial siehe Ausst.Kat.: A History of Andres Serrano. A History of Sex, Groninger Museum, Groningen, 1997.

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da sie auch für Piss Christ relevant ist. Dazu passend erstellt Serrano nach eigener Aussage nur analoge Bilder, die er nicht digital nachbearbeitet.11 Piss Christ zählt zu der Serie Immersions, in der Serrano die Sujets Körperflüssigkeiten und religiöse Motive vereint, indem er Skulpturen in Flüssigkeit tauchte und sie anschließend fotografierte, um sie großformatig zu reproduzieren.12 Im fotografischen Bild zeigen sich die Skulpturen durch die gold-gelbe, rötliche oder transparente Flüssigkeit, in der kleine Luftblasen umher schwimmen, schemenhaft verschwommen. Es sind wiederholt christliche Motive, die auf diese Weise abgelichtet werden, so etwa Piss Christ, 1987, Madonna and Child II, 1989 (Abb. 3.3), Black Jesus, 1990 (Abb. 3.4), aber auch klassische Skulptur-Motive wie etwa Female Bust, 1989, oder Hercules Punishing Diomedes, 1990. Bei den Immersions handelt es sich demnach nicht um eine abgeschlossene, in sich kohärente Reihe. Serrano greift die christlichen Symbole und klassischen Motive visuell in der Fotografie auf und benennt sie darüber hinaus in den dazugehörigen, teils provokativ, teils ironisch und teils einfach beschreibend gehaltenen Bildtiteln. Serranos Fotografien spielen zudem mit dem Status, der diesen Symbolen innerhalb der Gesellschaft zukommt: Durch das Eintauchen der Skulpturen in Flüssigkeiten überführt er sie in einen neuen Kontext, der teils sehr stark aufgeladen ist. Die Fotografie Piss Christ vereint in Sujet und Aufbau wesentliche Merkmale der Reihe. Sie kondensiert durch die explizite Verbindung von Bild und Text in der Verwendung eines zentralen christlichen Sujets, das über den Titel einem provokanten Gestus ausgesetzt wird, Fragestellungen, die zentral für diese Arbeit sind, indem das Augenmerk durch diese Konstellation auf den fotografischen Herstellungsprozess und damit das Medium Fotografie gelenkt wird. Durch die hervorgehobene Stellung des Bildes innerhalb der Culture Wars erscheint es zudem ein besonders fruchtbares Analyseobjekt, da sich an ihm zeitspezifische Aspekte zur gesellschaftlichen Verhandlung des Heiligen kristallisieren. Die dokumentierte Rezeptionsgeschichte der Fotografie liefert einen Referenzrahmen für die potentielle Wirkung des Bildes und einzelner formal-ästhetischer und inhaltlicher Elemente.13 11 Vgl. AULT, Julie: An Interview with Andres Serrano, in: SERRANO, Andres: America and other work, hrsg. von Dian Hanson, Köln 2004, o. S. 12 Siehe hierzu WATNEY, Simon: Interview Andres Serrano und Simon Watney, in: SEARLE, Adrian (Hg.): Talking Art, London 1993, S. 119-128, S. 119. 13 Die Analyse konzentriert sich daher auf die Fotografie Piss Christ, ohne jedoch den Anspruch zu stellen, die vielschichtigen Themenfelder, die sowohl Piss Christ als auch die Reihe Immersions entfalten, in ihrer Gänze darzulegen. Vielmehr soll eine ausführliche formal-ästhetische Analyse als Grundlage dienen, die im Rahmen dieser Arbeit gestellten Fragen zu erörtern.

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Abb. 3.3: Andres Serano, Madonna and

Abb. 3.4: Andres Serrano, Black Jesus,

Child II, 1989, Farbfotografie

1990, Farbfotografie

Zugleich wird aufgrund der exponierten Stellung von Piss Christ eine seltsame Leerstelle in der Rezeption des Bildes deutlich: Durch die öffentliche Kontroverse geht die Literatur selten über den Aspekt des Skandalösen hinaus. Unter den Publikationen, die sich eingehender mit der Materie befassen, ist der Katalog zur Ausstellung El dedo en la llaga, Vitoria, Centro-Museo Vasco de Arte Contemporáneo, 2006, als gute Grundlage zu nennen, ebenso wie ein Artikel von Lucy Lippard in Art in America, der übersichtlich die prägnanten Merkmale von Serranos Schaffen hervorhebt.14 Auch die von Simon Watney und Joshua Decter geführten Interviews geben Einblicke in Serranos künstlerische Haltung.15 Als vertiefende Lektüre insbesondere hervorzuheben sind sowohl Robert Wuthnows Ausführungen zu der Verbindung von Körper und Geist, als auch die Beiträge in Body and Soul16: Bell Hooks untersucht die Bedeutung von Körperflüssigkeiten, insbesondere Blut, in Serranos Fotografien, während Bruce Ferguson Serranos Schaffen innerhalb der politischen Landschaft rund um die Culture Wars verortet und mit zu dieser Zeit virulenten grundsätzlichen ästhetischen Fragestellun14 Vgl. LIPPARD 1990. 15 Vgl. WATNEY 1993, S. 119 und DECTER 1990. 16 Vgl. WUTHNOW 2001, insbesondere S. 168-200 sowie SERRANO, Andres: Body and Soul, hrsg. von Brian Wallis, New York 1995, o. S.

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gen verbindet. Amelia Arenas unterzieht mehrere Werkgruppen einer inspirierenden Analyse und vergleicht sie mit barocken Konzepten; in eine ähnliche Richtung zielt auch Mieke Bal in ihrem Aufsatz im Ausstellungskatalog El dedo en la llaga.17 Zu nennen ist darüber hinaus Anthony Julius, der Serranos Werk im Kontext der Transgressionen in der Kunst verortet.18 Aspekte des Heiligen werden in einigen Aufsätzen durchaus thematisiert, so etwa in den genannten Aufsätzen in Body and Soul. Serranos spätere Serie der Holy Works, 2011, eine Reihe von Reinszenierungen klassischer christlicher Portrait-Motive, die an Bettina Rheims Ansatz der Reihe I.N.R.I. erinnert, greift den Begriff des Heiligen gar spielerisch auf. Eine eingehendere gestalterische und theoretische Analyse der spezifischen Verhandlung von Heiligkeit in Piss Christ ist bislang jedoch ein Desiderat.

3.1 A NDRES S ERRANO : P ISS C HRIST , 1987 Bildbeschreibung Die mit 152,4 x 101,6 cm großformatige Farbfotografie Piss Christ, 1987 (Abb. 1.1), zeigt einen monumental anmutenden Kruzifixus, der, leicht schräg gestellt mitten in einem rot-golden getönten Bildraum zu schweben scheint. Die Konturen des Kreuzes und der Figur sind nur teilweise fokussiert, größtenteils jedoch leicht verschwommen und scheinen an manchen Stellen regelrecht mit dem sie umgebenden Bildraum zu verfließen. Das schlierenhafte Flirren des farbigen Raumes deutet auf seine Materialität hin: Es handelt sich um Flüssigkeit. Der Kruzifixus ist ein Dreinageltypus mit Dornenkrone und Lendenschurz, der Kopf der Figur ist leicht gebeugt. Das gesamte Kreuz hebt sich in seiner Farbintensität leuchtend von seiner dunkleren rötlich-goldenen Umgebung ab. Insbesondere der obere Teil des Kreuzes und der Figur bis etwa zu den Knien wird aureolenartig goldgelben von einer Lichtquelle erhellt, die sich vom Betrachter aus rechts oben außerhalb des Bildes befindet. Unregelmäßig in Menge und Konsistenz, verteilen sich kleine Luftbläschen als glitzernde Punkte über die Bildfläche. Sie schweben im Bildraum, verteilen sich über das Motiv und breiten sich in dem Raum zwischen Skulptur und Kamera aus, als würden sie an einer durchsichtigen Fläche haften. In ihrer Verteilung scheinbar willkürlich, zeichnen sie auf

17 Vgl. ARENAS, Amelia: The Revelations of Andres Serrano, in: SERRANO, Andres: Body and Soul, hrsg. von Brian Wallis, New York 1995, o. S. und BAL 2006. 18 JULIUS 2002.

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dieser Ebene mal kreisende, mal in eine Richtung zielende Bewegungen und dynamisieren so den Raum um die Skulptur. In Kapitel 2.1.3 wurde zwischen dem Heiligen und dem Sakralen unterschieden. Das Heilige wurde verstanden als das grundlegend Transzendente, als Kern des Religiösen per se, das im Sakralen zur Erscheinung kommt oder zur Erscheinung gebracht wird. In den Bereich des Sakralen fallen verschiedene ästhetische, formale oder gestische Elemente, in denen das Heilige seine Darstellung findet. Es wurden zudem unterschiedliche Formen der Sakralisierung herausgestellt, die sowohl vom Profanen als Prozesse der (religiösen) Wertsteigerung und -produktion als auch von der heiligen Sphäre als Übertragung bereits existenter religiöser Wertigkeit mittels Zeichentransfer oder Rekurs auf religionsaffine Themen funktionieren. Mit dem Kruzifixus bedient sich Serrano eines traditionellen visuellen Markers des Heiligen, der eindeutig in den Bereich des Sakralen fällt, ikonografisch auf ein christliches Heiliges verweist und dieses als Leitmotiv des Bildes etabliert. Darüber hinaus kommen verschiedene Strategien der ästhetischen und formalen Sakralisierung zum Einsatz, die es im Folgenden herauszustellen gilt, bevor die Bildstruktur auf ihr desakralisierendes Potential befragt und das zwischen Heiligkeit, Körper und Fotografie abgesteckte Spannungsfeld eingehender beleuchtet wird (Kapitel 3.2). Abschließend werden die sich in Piss Christ abzeichnenden, offeneren medienspezifischen Möglichkeiten zur Verhandlung des Heiligen in den Blick genommen (Kapitel 3.3). Kunstwissenschaftliche Analyse Die Wirkung des fotografischen Bildes wird entscheidend geprägt durch die ausdrucksstarke Farbgebung in kräftigen Rot-, Orange-, Gelb- und Goldtönen. Durch den Lichteinfall von rechts oben außerhalb des Bildes entstehen starke Hell-dunkel-Kontraste: Der Kruzifixus und die Skulptur sind hell erleuchtet und auch der Bildraum um das Kreuz leuchtet aureolenartig auf. Während der restliche Bildgrund in einem dunkleren Rotton versinkt, wird die Lichtpassage, die sich im oberen rechten Bilddrittel zwischen Lichtquelle und Kreuz befindet, orangegolden erleuchtet. Auch die dynamisch über das Bild verteilten Luftblasen reflektieren das Licht und leuchten goldgelb auf. Die warme Farbgebung wirkt emotional ansprechend auf den Betrachter, die Beschränkung auf eine Farbpalette intensiviert die Farbwirkung und erinnert an die visuell verführerische Bildsprache der Werbung. Das rotgoldene Leuchten des Bildes hat etwas Dramatisches, fast Kitschiges, die hell-dunklen Kontraste verstärken den Bildausdruck und dynamisieren. Nach Jonathan Z. Smith können Elemente, die zur Aufmerksamkeitssteigerung beitragen, als Form der situationellen Sakralisierung verstanden werden, die darauf zielt, Heiligkeit über menschliche Arbeit zu produzie-

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ren.19 Die beschriebene, dynamisch-expressive Farbgebung von Piss Christ kann in diesem Sinne als Valenzsteigerung mit durch das Leitmotiv etablierter religiöser ‚Zielkategorie‘ gelesen werden. Rot sowohl als auch Goldgelb sind Farben, die ikonografisch in vielerlei Hinsicht aufgeladen sind, in Zusammenhang mit dem Motiv der Kreuzigung evozieren sie jedoch traditionellerweise spezifische Zuschreibungen. Es handelt sich dementsprechend auch um eine Form der Sakralisierung, die auf Sakraltransfer zurückgreift, indem sie sowohl religiöse Marker wie das Symbol als auch bestimmte religionsaffine Themen wie Erleuchtung, Schmerz und Passion über ästhetische Elemente anzitiert. So kann das Rot hier als Ausdruck des gewaltvollen, blutigen, und leidvollen Akts der Kreuzigung selbst gelesen werden und ist zugleich ein Verweis auf die royale Farbe der Könige und den Status Christi als König. Das Goldgelb ist in erster Linie die Farbe des Lichtes. Licht in jedweder Form ist für die Visualisierung der Heilsgeschichte und der Heiligkeit Christi essentiell.20 Göttliche Visionen werden oftmals mit Lichterscheinungen in Verbindung gebracht, wobei der bei Piss Christ verwandte Lichteinfall von oben außerhalb des Bildes an die visuelle Darstellung solcher Visionen Abb. 3.5: Francisco de Zurbarán, oder auch traditioneller KruzifixusChristus am Kreuz, 1627, Öl auf Darstellungen in religiösen TafelbilLeinwand, 290,3 x 165,5 cm, Art dern erinnert (vgl. Abb. 3.5). Gold als Institute, Chicago, Illinois Farbe und Material diente und dient in 19 Vgl. Abschnitt zu Jonathan Z. Smith in Kapitel 2.1.2 der vorliegenden Arbeit. 20 „[S]acred power manifests itself as ‚glory‘ – a light effect like that of the sun, moon, and stars […].‚Because the saints have been transformed from earthly to heavenly clarity, they are able to emit celestial light and cause their earthly remains to shine. They illuminate their dead bodies from above.‘ A pillar of light may form between earth and heaven, just as lights tend to appear over the forgotten grave of a saint.“, ANGENENDT 2010, S. 20. Zitat im Zitat von Theofried von Echternach.

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der visuellen Gestaltung seit jeher als wertvolles Material zur Versinnbildlichung von Licht, Heiligkeit und Reinheit, was nicht zuletzt mit dem schwierigen Prozess seiner Gewinnung zu tun hat.21 Besonders auf mittelalterlichen Tafelbildern findet man eine Sakralisierung des Motivs durch eine Freistellung vor einem flächigen, in Gold gehaltenen Bildgrund (Abb. 3.6). Die älteste Möglichkeit, Christus, die Engel und Heiligen in ihrer ‚Diesund Jenseitigkeit‘ zugleich darzustellen, bestand in der Verwendung des Abb. 3.6: Stefan Lochner, Zwei Flügel Goldgrundes. Er ist gleichsam eine eines Altars, Innenseite: Die Hl. transzendierte Grenze, die ihre LeuchtMatthäus, Katharina und Johannes der kraft in den Raum strahlt. Ein GoldEvangelist, um 1445-1450, Öl auf grund kennt keinen Schatten, und wenn Eichenholz, 68,6 x 58,1 cm, National es keinen Schatten gibt, gibt es auch Portrait Gallery, London keine Zeit; somit ist er Zeichen der Ewigkeit. Indem Christus oder die Heiligen als Menschen im Goldgrund dargestellt wurden, gehören sie zur Ewigkeit und zur Welt. In den Goldmosaiken der frühen Kirchen wurde dieser Weg zuerst beschritten, dann in der Buchmalerei und schließlich im Sakralbild der Gotik.22 Das Heilige wird auf diese Weise in seiner überweltlichen Herkunft und seiner irdischen Formannahme, das heißt seiner sakralen Gestalt dargestellt. Die vorherrschende rot-goldene Farbpalette bei Piss Christ wirkt in Zusammenhang mit dem nicht wirklich ergründbaren Raum, der sich zudem durch nur geringe Tiefenwirkung auszeichnet, in ihrer Bildfunktion ähnlich: Sie scheint das Hauptmotiv der Kreuzigung visuell frei zu stellen. Ohne offensichtliche räumliche und zeitliche Zuschreibungen entsteht so ein Gedankenraum um das Sujet, der einerseits für inhaltliche Interpretationen offen, andererseits als geschlossener eigener Raum mit eigenen Gesetzmäßigkeiten definiert werden kann. Durch 21 Vgl. BAGNOLI, Martina: The Stuff of Heaven. Materials and Craftmanship in Medieval Reliquiaries, in: Ausst.Kat.: Treasures of Heaven. Saints, Relics, and Devotion in Medieval Europe, Cleveland Museum of Art, Cleveland; The Walters Art Museum, Baltimore; The British Museum, London, 2010/2011, S. 137-147, S. 138. 22 HAWEL, Peter: Aspekte zur Sakralkunst, in: GERL-FALKOWITZ, Hanna-Barbara (Hg.): Sakralität und Moderne, Dorfen 2010, S. 14-74, S. 38f.

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die visuelle Konzentration auf das Objekt wird dieses als zentrales Bildmotiv betont und so, ganz im Verständnis der Sakralisierung nach Smith, in seiner Besonderheit und in seiner Bedeutung erhöht. Eine ähnliche formale Wahl des Bildhintergrundes findet sich in der Tradition der Portraitfotografie, bei der Hintergründe entweder requisitenartig oder durch dunkle oder monochrome Flächen geprägt sind, um das Gesicht der Person zu betonen.

Abb. 3.7: Andres Serrano, Dr. Arnold Lehmann, Director of the Brooklyn Museum, 2004, Serie America, Farbfotografie

Serrano nutzt derartige Hintergründe etwa in seiner Serie America, 2004, (vgl. Abb. 3.7) oder auch den Holy Works, 2011, seiner neuesten Serie, welche Figuren aus der Bibel mit lebendigem Personal in Szene setzt. Als Stilmittel verbindet Serrano hier religiöse Bildtraditionen mit einem modernen fotografischinszenierenden Ansatz und koppelt auf diese Weise zwei Formen der visuellen Sakralisierung des Dargestellten. Joshua Decter betont zudem, dass den Abzügen eine gewisse „slickness or glossiness“ zu eigen sei, die auf die Bildsprache der Werbung rekurriere.23 Dieser Bezug zu einer Ästhetik der Werbung, die per se

23 DECTER 1990, S. 7.

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auf Wertsteigerung des dargestellten Produktes ausgerichtet ist, verdeutlicht die intentionale Sakralisierung hinter dem markanten Einsatz von Farben bei Piss Christ.24 Das intensive Farbenspiel wird ergänzt durch das Changieren von Schärfe und Unschärfe bis hin zur fast vollständigen Verschmelzung der Konturen, wie insbesondere an der Christusfigur deutlich wird: Den Kopf geneigt und den Körper leicht gedreht, die Arme durch die Kreuzstellung geweitet, wirkt die Figur des Gekreuzigten zugleich nach innen gewandt und zum Betrachter hin geöffnet. Die Konturen sind dabei an vielen Stellen nur schemenhaft erkennbar, die Gesichtszüge undeutlich verschwommen; allein die an den Balken genagelte Hand und das Kreuz links vorne sind sehr scharf fokussiert. Dabei ist auf der linken Bildseite der Körper deutlich konturiert, auf der rechten Bildseite erfolgt mehr und mehr eine Verschmelzung der Figur mit dem sie umgebenden Licht. Diese Differenz generiert sich aus bewusst eingesetzten fotografischen Mitteln: Zum einen werden mittels einer weit geöffneten Blende einige Stellen, wie die rechte Hand der Figur (und im Bildvordergrund die Luftblasen), explizit fokussiert, andere, wie etwa das vordere Bein und die Füße, unscharf gelassen.25 Zum anderen wird das Kreuz und seine minimale Schrägstellung durch leichte Überbelichtung betont. Der graduelle Schärfeverlust von links nach rechts, an dem der Blick des Betrachters entlang gleitet, verleiht dem Raum bedingte Tiefe und wirkt dieser durch die Auflösung der Konturen zugleich entgegen. Es entsteht ein seltsam flacher, nicht weiter definierbarer Raumeindruck, dem zudem eine diffuse, fast „andersweltliche“26 Aura anzuhaften scheint. Insbesondere die verschwommenen, hell belichteten Stellen, die sich von den dunkleren Teilen kontrastreich abheben, können den Eindruck von Leichtigkeit, Reinheit und Transzendenz vermitteln und stehen in einer fotografischen Tradition, die Verschwommenes und Unschärfe zur Visualisierung übernatürlicher Phänomene verwendet, wie in Kapitel 2.2.3 ausgeführt.27 Der Effekt der Unschärfe ist jedoch auch ein malerischer und somit eigentlich ein dem fotografischen Medium gegenläufiger, der an dessen piktorialistische Zeiten erinnert, in der mit allerhand Edeldruckverfahren

24 Vgl. dazu Serranos Aussage: „If you are working with difficult imagery, it’s a good idea to make it as seductive as possible.“, Serranot zitiert nach DECTER 1990, S. 8. 25 Vgl. BAL 2006, S. 189. 26 BAL 2006, S. 188 („Otherworldly“ im Original). 27 Vgl. hierzu ebenfalls ULLRICH 2009, S. 48-53. Ullrich betont, dass Unschärfe in Form von Weichzeichnung den Eindruck von Leichtigkeit erweckt und daher auch in der Werbebranche aktiv eingesetzt wird, vgl. S. 169f.

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versucht wurde, die fotografisch erzeugten Bilder in ihrem Aussehen der Malerei anzugleichen.28 Die Luftbläschen und die verschwimmenden Konturen weisen zudem darauf hin, dass der Bildraum kein Luftraum sondern vielmehr ein mit Flüssigkeit gefüllter Raum ist. Die Unschärfe geht demnach Hand in Hand mit einer generellen ‚Unter-Wasser-Qualität‘ des Bildes, welche die andersweltliche Wirkung unterstützt. Die Flüssigkeit füllt den gesamten Bildraum und geht zugleich darüber hinaus, wird also außerhalb des Bildes scheinbar fortgeführt. Die Immersion der Christus-Figur in Flüssigkeit kann als Form der Stillstellung oder des Schweigens gedeutet werden, das nach Rudolf Otto eines der direkten Ausdrucksmittel des Heiligen in der Kunst darstellt.29 Rudolf Otto, der im Gegensatz zu Smith einen substantiellen Ansatz verfolgt und das Heilige über dessen Erfahrung analysiert (vgl. Abschnitt zu Otto in Kapitel 2.1.2) hebt hervor, dass das Heilige über Entsprechungen und Analogien, die das Gefühl des Heiligen anregen können, näher beschreibbar wird. Davon gelten einige als Schematisierungen des Heiligen, das heißt fest gekoppelte Entsprechungen.30 Analog zu Ottos Beschreibung des Schweigens positioniert sich Serrano wenn er formuliert: „A lot of my work is meditative. I do it intentionally in the sense that I like to create work in which you can hear a pin drop. There’s a sense of stillness, a quietude, which is something I’m looking for. That, to me, is part of the spiritual process.“31 Neben der Kategorie des Schweigens listet Otto das Erhabene, das Magische, das Leere und das Dunkel als Ausdrucksmittel des Heiligen sowie der dem Heiligen ähnlichen Gefühle in der Kunst.32 Die Darstellung des „Dunkel muß so sein daß es durch einen Kontrast gehoben und dadurch noch wahrnehmbarer gemacht wird: es muß selber noch eine letzte Helle zu überwinden im Begriffe stehen. Erst das Halbdunkel ist ‚mystisch‘. Und sein Eindruck vollendet sich wenn es mit dem Hilfsmomente des ‚Erhabenen‘ sich verbindet. […] Das Halbdunkel, dämmernd in 28 Zum Verhältnis Piktorialismus und Unschärfe, vgl. ULLRICH 2009, S. 24-38. 29 Vgl. OTTO 2014, S. 88. Zugleich benennt Otto auch die lebendige Stimme als direktes Darstellungsmittel zum Nachvollzug heiliger Situationen, vgl. S. 79f. 30 Vgl. OTTO 2014, S. 60-65. 31 Serrano zitiert nach WUTHNOW 2001, S. 173. 32 Otto unterscheidet „direkte“ und „indirekte“ Darstellungsmittel. Zu ersteren gehört das, durch die lebendige Stimme oder die Nacherzählung heiliger Situationen ausgelöste, Ein- und Nachfühlen, das zum Erwachen des heiligen Gefühls führen kann, zu letzteren zählen Elemente die analoge Gefühle darstellen, das heißt etwa das Fürchterliche, das Wundervolle oder das Grandiose oder eben das Erhabene, das in der Kunst zum Einsatz kommt, vgl. OTTO 2014, S. 79-91.

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erhabenen Hallen, […] seltsam belebt und bewegt noch durch das mysteriöse Spiel der halben Lichter, hat noch immer zum Gemüte gesprochen.“33

In Serranos Fotografie wird durch die Lichtführung und das Spiel mit HellDunkel-Elementen eben diese Qualität des Dunkel aufgegriffen. So gestaltet sich der Bildraum als diffuser, nicht entzifferbarer Raum, der teilweise von dem Kontrast des von oben rechts einfallenden Lichtes erhellt wird. Das von Otto genannte „Halbdunkel“ findet sein atmosphärisches Pendant in der Dämmerung, als „Phänomen des […] schwindenden Lichtes, der Verschattung, der Dunkelheit“, welches, so Gernot Böhme „allmählich alles einhüllt, […] unbestimmt macht, Grenzen verwischt und den Raum zu einem dichten Etwas verschwimmen läßt, in dem man sich befindet“34. In seiner Analyse der Darstellungsmöglichkeiten der Dämmerung in der Fotografie hebt er hervor, dass das schwindende Licht und mithin die Dunkelheit selbst schwierig darzustellen sei.35 Als zwei Möglichkeiten diese atmosphärische Qualität einzufangen, nennt er die Raumöffnung und das Unbestimmte: „Das Bild der Dämmerung mußt [sic!] deshalb quasi randlos sein, es muß Tiefe haben und in seiner unvermeidlichen Rahmung den Raum ahnen lassen“.36 Während ersteres auch bei Serrano über die beschriebenen Qualitäten und den mit Flüssigkeit gefüllten Raum in Anlehnung an den mittelalterlichen Goldgrund aufgegriffen wird, wird ein Moment der Unbestimmtheit durch die Unschärfe und die damit verbundene Formauflösung integriert. Doch welcher Art ist diese Flüssigkeit und was für ein Bildraum ist hier wiedergegeben? Die Fotografie selbst gibt wenig Aufschluss über die Art der Flüssigkeit, einzig die „transluzide“37 Qualität sowie die rotgoldgelbe Farbgebung kann zunächst als Hinweis dienen, die eigentliche Konsistenz ist jedoch visuell nicht definierbar. Mit dem Titel bezeichnet der Künstler einen Deutungsweg für den Betrachter, das Bild beginnt gewissermaßen „zu sprechen“38: Piss Christ suggeriert Aufschluss über die Art der Flüssigkeit (Urin) und impliziert damit auch, wie das Bild zustande kam (der Kruzifixus wurde in Urin getaucht). Durch die Ausdeutung der goldgelben Farbe als Urin wird assoziativ neben dem abgebildeten Körper der Christusfigur ein zweiter Aspekt von Körperlichkeit, ja so-

33 OTTO 2014, S. 88. 34 BÖHME 2004, S. 105. 35 Vgl. BÖHME 2004, S. 106f. 36 BÖHME 2004, S. 105. 37 Bal beschreibt die Flüssigkeit als „a liquid that is translucid but not completely transparent“, vgl. BAL 2006, S. 189. 38 BAL 2006, S. 198.

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gar der Hinweis auf einen zweiten Körper, nämlich den des Künstlers, in das Bild integriert. Urin als Körperflüssigkeit haften unterschiedliche Bedeutungs- und Bewertungsfacetten sowie Funktionen an. Es enthält die vom Körper auszuscheidenden Stoffwechselabbauprodukte und gilt daher tendenziell als unrein, als körpereigener Abfall. Komplementär dazu wurde und wird Urin traditionell in vielen Bereichen eingesetzt, beispielsweise zur Produktion von Farben39 oder im Gerbprozess von Leder, in der Alternativmedizin oder, in chemisch reproduzierter Form, als Harnstoff in der Kosmetikindustrie. Darüber hinaus gilt es in manchen kultischen Religionen als heilig.40 Für Serrano ist Urin neben Milch und Blut visuell eine der drei Grundfarben in der Palette von Körperflüssigkeiten, die er für seine Fotografien nutzt.41 Dies verdeutlicht zum einen die große ästhetische Wertschätzung, die er Urin als natürlicher Farbe entgegenbringt und lässt zum anderen einen mit den Originalmaterialien verbundenen Hinweis auf Menschlichkeit und Präsenz des Realen als wichtiges Element für die Interpretation seiner Arbeiten durchscheinen.42 Erscheint die goldene Farbgebung zunächst als formalästhetische Valenzsteigerung, also Sakralisierung, so wird auf kontextueller Ebene über den Titel, der auf den Herstellungsprozess und das Eintauchen in Urin verweist, ein Prozess der potentiellen Desakralisierung angestoßen, der wiederum seitens des Künstlers über eigene Bildinterpretationen und intentionale Aussagen mit einer Reakralisierung des bildlichen Entstehungsprozesses konterkariert wird. Auf die enge Verknüpfung dieser verschiedenen Elemente und ihren Effekt für die potentielle Bildwirkung wird in Kapitel 3.2 näher eingegangen. Mit seiner Größe von 152,40 cm Höhe und 101,60 cm Breite handelt es sich bei Piss Christ um ein Hochformat, das in seinen Ausmaßen an museale Tafelbilder erinnert. Scheint das Motiv fast zentralperspektivisch ausgerichtet, so hat der Betrachter doch eine leichte Untersicht auf den Kruzifixus, die Augenhöhe liegt leicht über dem Bauchnabel der Christusskulptur. Neben der Betonung der aufstrebenden Vertikalen des Kreuzes wird durch diese Perspektive die Erhabenheit der Figur akzentuiert. Der Betrachter findet sich in einer Position, die traditionell eher die des Bittstellers darstellt und an die liturgische Funktion von 39 Vgl. CLAIR, Jean: Das Letzte der Dinge oder Die Zeit des großen Ekels. Ästhetik des Sterkoralen, Wien 2004, S. 34. Der Text beruht auf einem Vortrag, der am 3. Mai 2003 in der Neuen Galerie Graz gehalten wurde. 40 Für Hinweise zur Verwendung menschlicher Exkremente in kultischen Religionen siehe LIPPARD 1990, S. 243; sowie ARENAS 1995, o. S. 41 Vgl. Serranos Ausführungen dazu in WUTHNOW 2001, S. 173f. 42 Vgl. RUBIO 2006, S. 182; sowie WUTHNOW 2001, S. 174.

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Abbildungen des Kruzifixus erinnert. Dabei prägen zwei zentrale Blickachsen das Bild, die in etwa den zwei Kreuzbalken entsprechen: Der horizontale Balken des Kruzifixus im oberen Bilddrittel, der von links oben leicht abfallend an die untere Kante des oberen rechten Bilddrittels läuft und durch die fokale Schärfe auf die Schnittkante des Balkens und die durchschlagene Hand den Einstieg ins Bild bietet. Von dort wird der Blick über den Arm der Christusfigur zur zweiten zentralen Linie des Bildes geführt: Dem vertikalen Balken des Kreuzes, der den Blick des Betrachters auffängt und die Mitte des Bildes entlang nach unten wandern lässt. Die Bildkanten des Hochformats verlaufen fast parallel zu dem vertikalen Balken des Kreuzes, welches als zentrales Motiv den Bildeindruck beherrscht. Da der Kruzifixus schräg in den Bildraum hineingestellt ist, sind dem Betrachter zwei Seiten des Balkens zugewandt, das heißt die Vertikale wird durch drei Grenzlinien, beziehungsweise zwei schmale Flächen betont, von denen sich insbesondere die vom Betrachter aus rechte Seite durch den starken Lichteinfall von rechts oben hell vom Rest des Bildes abzeichnet. Darüber hinaus befindet sie sich fast auf der Mittellinie der Abbildung (mit einer leichten Schwerpunktsetzung nach rechts) und wird weiterhin durch den Körper Christi betont. Diese Bildkonstellation verstärkt den aufstrebenden Charakter des Kreuzes, das so eine Verbindung zwischen unten und oben, Himmel und Erde darstellt. Der Blick des Betrachters kann somit entlang des zentralen Balkens zunächst nach unten und wieder nach oben wandern, wo der linke Arm der Figur ihn wieder in Richtung des Querbalkens und damit hin zu dem diffusen Lichtraum gleiten lässt. Nach Otto ist das Erhabene das am Häufigsten auftretende Darstellungsmittel für das Heilige in der Kunst.43 Zeichnet sich das Erhabene bei Otto durch feierliche Größe und pompös erhabenen Gestus aus44, so sind es bei Piss Christ ebenfalls die Formatgröße sowie darüber hinaus die Zentrierung des Motivs in der Bildfläche, die leichte Untersicht, die aufstrebende Form des Kruzifixus und die klare Linienführung sowie die prominente, opulente Farbgebung und die visuelle Hervorhebung des Motivs durch das goldene Licht, die als Marker des Erhabenen und damit einer visuellen Schematisierung des Heiligen gelten können. Aus beiden Sakralisierungsperspektiven, das heißt sowohl im Sinne der Produktion von Sakralität als auch im Sinne von Sakraltransfer (vgl. Kapitel 2.1.3) lassen sich diese Elemente demnach als formal-ästhetische Marker des Sakralen verstehen.

43 „In den Künsten ist das wirksamste Darstellungs-mittel des Numinosen fast überall das Erhabene.“ OTTO 2014, S. 85. 44 Vgl. OTTO 2014, S. 85.

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Die fast statische und gleichmäßige Linienführung in Piss Christ wird dabei überlagert von dem beschriebenen Reigen leuchtender Luftblasen, die den Raum durch ihre unregelmäßige Verteilung dynamisieren und das Bild als leuchtende Punkte überziehen. Weiß Otto „ganz besonders auch von gewissen Erzeugnissen der schmückenden oder verzierenden Kunst, von gewissen Symbolen Emblemen Ranken- oder Linienführungen, daß sie einen ‚geradezu magischen‘ Eindruck machen“45 und das Magische als „Rohform“46 des Numinosen referenzieren, so können die Luftblasen in Piss Christ durchaus als in diese Richtung zielende Verzierung gelesen werden. Um Kreuzgebälk und Kopf der Figur entsteht eine fast kreisförmige Aureole von kleinen hellen Punkten, in deren Mitte durch die farbliche Überblendung mit den erleuchteten Stellen des Kreuzes und des Kopfes keine Bläschen mehr sichtbar sind. Die Assoziierung eines Heiligenscheins als klassischem christlich-sakralen Marker für Heiligkeit ist evident. Im unteren Bilddrittel entsteht durch mehrere parallele Reihen von Bläschen eine Diagonale, die von links unten zum unteren Rand des mittleren rechten Bilddrittels führt. Gleitet der Blick des Betrachters an der vertikalen Achse des Kreuzes nach unten, kann er hier aufgefangen und abgelenkt werden. Gemeinsam mit der fallenden Linie des Querbalkens entsteht so eine Blickführung, die auf die rechte Bildhälfte und spezifisch auf den diffusen Lichtraum hinzielt. Perspektivisch treffen sich die Linie des Querbalkens und der Bläschen eigentlich nicht, bezieht man die tatsächlich implizierte Raumtiefe mit ein, die sich aus der Positionierung des Kreuzes ergibt. Aufgrund der geringen Tiefenwirkung scheint es jedoch, als liefen die Linien an einem diffusen, räumlich weiter hinten angesiedelten Punkt außerhalb des Bildes zusammen. Die Fotografie wird somit als Ausschnitt aus einem dem Bild äußeren und dem Blick entzogenen Raum gekennzeichnet.47 Die Blickrichtung fällt dabei in eins mit dem bereits angesprochenen Übergang von scharf zu unscharf. Ist das, was sacer ist vom Profanen abgegrenzt (siehe die etymologische Herleitung in Kapitel 2.1.1), so scheint Serrano hier eine Art Übergang vom Profanen zum Heiligen zu visualisieren, indem er das fotografisch festgehaltene Motiv von seiner indexikalisch referenzierten profanen Diesseitigkeit abspaltet und es in eine tendenziell vergeistigte Sphäre überführt oder an diese anschließt. Arbeitet Serrano mit einer gewissen Werbeästhetik, so hebt Ullrich hervor, dass Werbebilder Markenartikel bewerben, indem sie diese 45 OTTO 2014, S. 86. 46 OTTO 2014, S. 86. 47 Vgl. wiederum die oben genannte Beschreibung des atmosphärischen Halbdunkels, das nach Otto als sakraler Marker fungiert und sich über die Bildgrenze hinaus fortzusetzen scheint.

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„in einer kleinen Zone scharf abbilde[n], sonst aber pastellig aufgelöst oder in Unschärfe verfließen [lassen]. Während die scharfe Stelle die reale Existenz der Marke beglaubigt und Auskunft über die irdische Verfaßtheit des Produktes gibt, suggeriert die Weichzeichnung, das Abgebildete gehöre der kostbaren Klasse spiritueller Güter an.“48

Das Spiel von Schärfe und Unschärfe bei Piss Christ kann in diesem Sinne als Verweis auf die zwei Sphären, die profane und die sakrale, aber auch als Referenz auf die Dualität von Körper und Geist gelesen werden, wie sie insbesondere in der Person Christi als zugleich wahrer Mensch und wahrer Gott repräsentiert wird. Der Raum außerhalb des Bildes wäre in diesem Sinne auch metaphorisch als Lichtquelle zu verstehen, wie sie sich zur Visualisierung hagiographischer Elemente und Erscheinungen anbietet. Formal-ästhetisch liegt der Fokus des Bildes dabei weder ganz auf dem diesseitigen, noch auf dem jenseitigen Bereich, sondern vielmehr auf der Schwelle des Übergangs selbst, der weniger als klare Trennlinie, sondern als gradueller Prozess visualisiert wird, indem die Verwobenheit von Immanenz und Transzendenz hervortreten. Viele der aufsteigenden Bläschen sind dabei fast flächig am vorderen Bildgrund angelagert. Es wird klar, dass sich zwischen ihnen und der Skulptur ein mit Flüssigkeit gefüllter Raum befindet, zugleich dienen sie als trennende Ebene zwischen dem Betrachter der Fotografie und dem eigentlichen Motiv. Sie sind die sichtbaren Marker der ansonsten nicht sichtbaren Glasfläche, die in der originalen Aufnahmesituation als Behälter den in Flüssigkeit getauchten Kruzifixus umgab. Auch hier integriert Serrano Hinweise auf den Herstellungsprozess der Fotografie und auf das dazu verwendete Material (Glas und Flüssigkeit). In der musealen Rezeption ergibt sich eine seltsame Dopplung der ursprünglichen Aufnahmesituation: Die nur durch die an ihr haftenden Luftbläschen indirekt sichtbare Glaswand des Gefäßes wird in der Präsentation der Fotografie in Form der Verglasung des Fotos verdoppelt und rekreiert dadurch den ursprünglichen Herstellungsprozess des Bildes. Diese Präsentationsform des Kruzifixus hinter Glas kann als Referenz auf die lange Tradition der Verehrung sterblicher Überreste von Heiligen als Reliquien in besonderen Reliquienbehältern gelesen werden, deren Form und Zugänglichkeit sich im Laufe der Jahrhunderte stetig wandelte.49 Die glitzernden Sauerstoffblasen erinnern in dieser Lesart an Schmuck und Verzierungen, die gemeinsam mit der Form und Beschaffenheit des Reliquiars die Funktion besaßen, auf besondere Eigenschaften des in der Reliquie repräsen-

48 ULLRICH 2009, S. 165. 49 Vgl. hierzu BRAUN, Joseph: Die Reliquiare des christlichen Kultes und ihre Entwicklung, Freiburg im Breisgau 1940.

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tierten Heiligen aufmerksam zu machen.50 Bergkristall galt aufgrund seiner Transparenz als versteinertes Wasser und somit als besonders rein und wurde deshalb zur Visualisierung der Reinheit und Strahlkraft Christi eingesetzt, sowohl als schmückendes Element als auch als Behältnis durch welches die Reliquien zu erblicken waren.51 So beschreibt Bagnoli die Funktion zweier Bergkristall-Behälter am Beispiel des Borghost Kreuzes: „The presence of the relics visible inside the transparent vessels underscores the idea of Christ’s sacrifice as a source of salvation, dispensed through the water of Baptism (symbolized by the rock crystal).“52 In den Behältern können die Reliquien, sofern sie sichtbar sind, durch die Krümmung des geschliffenen Bergkristalls optisch verändert wirken, eine Tradition, die Serrano entfernt aufgreift, indem er die Christusskulptur durch das Material des Behälters und die oszillierende Flüssigkeit hindurch fotografiert. Die Darbringung dieser metaphorischen ‚Reliquien‘ in einem durchsichtigen ‚Reliquiar‘ in Piss Christ spielt in diesem Sinne auf Prozesse des Zeigens und Verbergens und damit auch der physischen und visuellen Zugänglichkeit heiliger Objekte sowie deren genereller Verortung an. Diedrichs hebt hervor, dass mit dem lateranischen Konzil im 13. Jahrhundert die Reliquiare zunehmend geschlossen bleiben, um sowohl die Beschädigung der Reliquien durch partizipative Volksfrömmigkeit als auch durch Reliquienraub zu verhindern.53 Zugleich nimmt jedoch die Sichtbarkeit der Reliquie im Reliquar zu, um den Kontakt zwischen Gläubigem und Reliquie aufrecht zu erhalten.54 Ist es bei dem ungläubigen Thomas der Griff in die Seitenwunde, das heißt die tatsächliche physische Berührung des christlichen Körpers, welche eine beglaubigende Funktion einnimmt, so spiegelt sich hier eine Entwicklung, die neben der Berührung auch den Beglaubigungscharakter des Blicks zunehmend in den Vordergrund rückt. 50 Zur Funktion von Reliquiar-Schmuck siehe TOUSSAINT 2003; sowie BAGNOLI 2010, insbesondere S. 138f. 51 Vgl. BAGNOLI 2010, S. 138. Siehe zudem ANGENENDT, Arnold: „Der Leib ist klar, klar wie Kristall“, in: SCHREINER, Klaus (Hg.): Frömmigkeit im Mittelalter: politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München 2002, S. 387-98. 52 BAGNOLI 2010, S. 139. 53 Zum entsprechenden Beschluss vgl. DENZINGER, Heinrich, HÜNERMANN, Peter (Hg.): Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, 37. Aufl., Freiburg im Breisgau 1991, Nr. 818, S. 366. 54 Vgl. DIEDRICHS, Christof L.: Vom Glauben zum Sehen. Die Sichtbarkeit der Reliquie im Reliquiar. Ein Beitrag zur Geschichte des Sehens (Diss. Berlin 2000), Berlin 2001, S. 12-20. Dies ist nicht als direkte Folge auf das Laterankonzil zu sehen, sondern, wie Diedrichs betont, ein Jahrhunderte andauernder Prozess, S. 9f.

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Serrano setzt verschiedene Strategien ein, um den Betrachter visuell möglichst nah an das Gezeigte heranzuführen. Dazu zählen die visuellen Anschnitte des Kreuzstammes und des Hintergrundes, die im analogen fotografischen Verfahren das Bild stets als Ausschnitt einer ursprünglichen Aufnahmesituation ausweisen sowie die genannten Sakralisierungsmomente der Farbigkeit, Dynamik und Größe, die zu der visuellen Überwältigung und dem affizierenden Potential des Bildes, das die Sinne des Betrachters direkt anspricht, beitragen. Die Motivanschnitte als Referenz auf den Herstellungsprozess des Bildes bringen zugleich das Medium Fotografie und den Raum, in dem das Bild entstanden ist, in den Blick. Die fotografische Verbindung zum Original ist dabei verfremdend: Die kleine Plastikskulptur des Gekreuzigten wurde im Abbild monumentalisiert, was jedoch für den Betrachter nicht, oder nicht direkt ersichtlich wird. Die Fotografie zeigt demnach etwas so in der Realität nicht Existentes und spielt mit der dem Medium zugeschriebenen indexikalischen Verbindung zum dargestellten Objekt. Eine große Fotografie zeigt ein kleines Objekt, das wiederum ein großes Kreuz mit einem lebensgroßen menschlichen Körper daran repräsentiert – Bal betont die grundlegende Auseinandersetzung mit Konzeptionen von Repräsentation, die in diesem Wechselspiel von Größenverhältnissen stattfindet: „It uses scale as a tool through which to rethink representation.“55 In Hinblick auf das Heilige lassen sich daran mehrere interessante und teils gegenläufige Aspekte ablesen. So ähnelt die fotografische Monumentalisierung der malerischen Bedeutungsgröße in ihrer sakralisierenden Wirkung: Es findet eine Erhöhung des Abgebildeten, eine Steigerung des Bildausdrucks statt, die noch durch die leichte Untersicht auf das Motiv unterstützt wird. Lippard betont diesen Effekt: „The small wood-and-plastic crucifix becomes virtually monumental as it floats, photographically enlarged, in a deep golden, rosy glow that is both omnious and glorious.“56 In dieser Lesart ist die Größe der Repräsentation des Kruzifixus in der Fotografie eine Rückkehr zu der (vermeintlichen) historischen Vorlage, der Kreuzigung. Zugleich enthält die Vergrößerung einen provokanten Gestus, da sie Teil einer ästhetischen Überhöhung ist: Ein kleiner Plastikkruzifixus und damit eine Repräsentation wird glorifiziert – eine fast blasphemische Handlung, die die Abbildung selbst götzenbildartig in den Mittelpunkt stellt. Auch hier kann eine andere Lesart angesetzt werden: Plastik steht wie wohl kein anderes Material für die Industrialisierung der Gesellschaft und die Massenproduktion sowie den damit einhergehenden Werteverfall, der hier von Serrano auf die Religion zurückgeführt wird. Das billige Material Plastik, das als Grundlage endloser Reproduktion eingesetzt wird, kann in diesem Sinne symbolisch auf de55 BAL 2006, S. 188. 56 LIPPARD 1990, S. 239.

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sakralisierende gesellschaftliche Tendenzen aufmerksam machen, nämlich die übermäßige und oft zweckentfremdende Nutzung des Symbols, die dessen eigentlichem Gehalt gegenläufig ist und die Form mehr und mehr von ihrer ursprünglichen Funktion abkoppelt.57 Serrano verweist auf grundlegende mediale Herstellungsprozesse der Moderne, die einhergehen mit einem Verfall von Aura im Benjamin’schen Sinne.58 Das Schlagwort der Reproduktion ist dabei auch für die Fotografie wichtig: Einerseits werden genau in dieser Konstellation die täuschenden und manipulierenden Eigenschaften des Mediums Fotografie aufgedeckt, indem – mehr Schein als Sein – hinter dem glanzvollen Äußeren eben ‚nur‘ ein kleiner Plastikkruzifixus steckt. Piss Christ könnte somit als Reflexion des Verlusts der Aura im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit gelesen werden. Andererseits wird die Fotografie entgegen ihrer Rolle als Massenmedium eingesetzt, um den Plastikkruzifixus erneut ‚erstrahlen‘ zu lassen und dergestalt wieder mit einer, wenn auch anders gearteten ‚Aura‘ auszustatten. Serrano betont in diesem Sinne die Monumentalisierung des Dargestellten als einen wichtigen Punkt einer visuellen Überwältigungsstrategie, die im Sinne Jonathan Z. Smiths die Aufmerksamkeit steigert, die dem Symbol des Heiligen entgegengebracht wird und somit als weiterer sakralisierender Faktor verstanden werden kann.59 Serrano vermischt demnach unterschiedliche Medien, indem er mit einer ansprechenden malerischen Bildsprache eine Skulptur innerhalb einer Fotografie zeigt. Intermediale stilistische Referenzen So finden sich stilistisch auf den ersten Blick visuelle Referenzen, welche das fotografische Bild über die Nutzung eines ikonografisch festgelegten Symbols hinaus in althergebrachte Bildtraditionen der visuellen Codierung von Heiligkeit mittels sakralisierender formal-ästhetischer Gestaltungsmittel einstellen: Wie in der Analyse deutlich wurde, findet sich die Freistellung des Sujets vor einem mehr oder minder monochromem Hintergrund bereits im mittelalterlichen Goldgrund, der Lichteinsatz erinnert an Lichtstrahlen oder göttlichen Glanz, das Format an Tafelbilder, und die satte Farbigkeit sowie das Wechselspiel von Licht-

57 Vgl. LIPPARD 1990, S. 239. 58 Vgl. BENJAMIN, Walter (1939): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und weitere Dokumente, hrsg. und kommentiert von Detlev Schöttker, Frankfurt am Main 2007, S. 7-50, S. 14 und S. 16. 59 Vgl. DE RUYTER, Thibaut: Andres Serrano, mon Amérique!, in: Artpress, 320, 2006, H. 2, o. S.

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und Schattenelementen greifen barocke Opulenz60 und Chiaroscuro als Gestaltungsmittel auf. Insbesondere Renaissance und Barock erweisen sich dabei als fruchtbare Bezugspunkte, wenn Arenas die Nähe Serranos früher Arbeiten in Form, Aufbau und Sujet zu barocken Stillleben beschreibt und Bruce Ferguson Serranos Glorifizierung des Dramatischen und Grotesken in eine kunsthistorische Linie mit Caravaggio, Mantegna, Goya und El Greco setzt.61 Im Aufbau und der Verarbeitung des Motivs des Gekreuzigten finden sich ähnliche Abbildungen bei Peter Paul Rubens und insbesondere Francisco de Zurbarán: Die Lichtquelle kommt auch in Rubens Christus am Kreuz (Abb. 3.8) von oben außerhalb des Bildes und erhellt den Körper und das Kreuz vor einem dunkler gehaltenen, diffus-atmosphärischen Hintergrund, wenn auch die Ausrichtung des Kreuzes zur anderen Seite geht.

Abb. 3.8: Peter Paul Rubens, Christus am Kreuz, um 1615-16, Öl auf Holz, 145,2 x 91,8 cm, Alte Pinakothek, München 60 Bal schreibt hierzu „the image's briliantly coloristic quality contributes to an oscillation of scale and focus that makes this work an utterly baroque image.“ BAL 2006, S. 189. 61 Vgl. ARENAS 1995, o. S. und FERGUSON 1995, o. S.

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Zurbaráns Darstellung des Gekreuzigten (Abb. 3.5) ist etwas frontaler ausgerichtet, könnte aber in Körperhaltung, Fußstellung und Lichtführung als direkte Vorlage für die Fotografie gedient haben, wenn man von der leuchtenderen Farbigkeit Piss Christs absieht. Hinzu kommt die außerordentlich skulpturale Qualität von Zurbaráns Darstellung, welche die Verwendung einer Skulptur in Piss Christ gewissermaßen präfiguriert.62 Die malerische Qualität von Piss Christ und Serranos eigene Betonung des Einflusses von Bildern der Renaissance und des Barock auf seine Fotografien mit religiöser Motivik können demnach als über das Einzelbild hinausgehende Strategie Serranos gewertet werden, mit derer er sich selbst als Künstler innerhalb einer spezifischen malerischen Tradition verortet.63 Es finden sich jedoch, wie erwähnt, auch andere stilistische Referenzen, was den Gesamtkomplex seines Werkes angeht, etwa zur abstrakten Malerei, zu Farbfeldstudien oder zum Surrealismus.64 Zugleich lassen sich auch fotografische Traditionen an Piss Christ ablesen. So reflektieren Serranos Bildsprache und formalen Entscheidungen, etwa bezüglich der Größe des Abzugs, den Status der Fotografie als Medium, das sich – beginnend mit der Edward Steichen Ausstellung Family of Men, 1955 – um Mitte der 1980er Jahre in den USA bereits innerhalb des Museums etabliert hatte und zudem nicht nur von Fotografen, sondern insbesondere von vielen Künstlern als vollwertiges Ausdrucksmedium verwendet wurde. Auch Serrano sah sich nicht primär als Fotograf, sondern vielmehr als Künstler, obwohl er hauptsächlich fotografierte und mit der Fotografie bekannt wurde.65 Serranos Wechsel von frühen Fotografien im Stil der Street Photography hin zu großen, farbigen Tableaus wie bei Piss Christ zeichnet dabei Grundzüge der künstlerischen Verwendung von Fotografie in den 1970er und 1980er Jahren nach. Diese löste sich allmählich von der bis zu diesem Zeitpunkt prominenten Schwarz-Weiß-Fotografie: Fotografen wie William Eggleston oder Joel Sternfeld fotografierten nun systematisch in Farbe. Parallel dazu zeugt die Größe von Serranos Fotografien von einer 62 Zubaráns Gemälde befindet sich in der Sammlung des Art Institute of Chicago; da Serrano 1987 an einer Gruppenausstellung in Chicago teilnahm, ist es durchaus möglich, dass er das Gemälde dort gesehen hat und die Abbildung bewusst oder unbewusst in Anlehnung daran entstanden ist. 63 Vgl. etwa Andres Serrano: „My religious imagery owes a lot to Renaissance art.“ Zit. nach LIPPARD 1990, S. 240. 64 Serrano selbst nennt in diesem Zusammenhang Marcel Duchamp als große Inspirationsquelle, vgl. ARENAS 1995, o. S. Die frühen Tableaus weisen Ähnlichkeiten zu surrealistischen Film-Stills auf, vgl. Ausst.Kat. El dedo 2006, S. 200. Diesbezüglich ebenfalls interessant ist JULIUS 2002, S. 160. 65 Vgl. WATNEY 1993, S. 119.

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Entwicklung hin zum fotografischen Großformat mit musealem Charakter, deren prominentester Vertreter neben einigen Becher-Schülern, wie Andreas Gursky, wohl Jeff Wall ist.66 Ähnlich wie Walls Fotografien – wenn auch weniger komplex und weniger darauf bedacht, es erst auf den zweiten Blick preiszugeben – beruhen auch Serranos frühe Aufnahmen oftmals auf sorgfältig inszenierten und konstruierten Settings und integrieren oder referieren auf traditionelle allegorische Symbole.67 Serranos bewusster Einsatz von Sprache im Bildtitel und in Relation zum fotografischen Bild verweist auf die in der Kunst der 1980er Jahre stattfindende grundlegende Auseinandersetzung mit der Relation von Text und Bild, wie sie etwa bei Barbara Kruger zu finden ist.68 Nicht zuletzt zeigt sich hier der Einfluss seiner sechsmonatigen Arbeit in einer Werbeagentur auf seine künstlerischen Arbeiten.69 Piss Christ lässt sich demnach sowohl in einer malerischen als auch in einer fotografisch-künstlerischen Bildtradition verorten.70 Zwei ineinander greifende Punkte sind an dieser Konstellation ablesbar: Erstens ist das Changieren der medialen Zuschreibung der Bildelemente selbst als zentrales Bildthema zu identifizieren. Zweitens ist demzufolge die Frage, welche fotografischen Mittel zur Visualisierung und Interpretation von Heiligkeit in Piss Christ angewandt werden und mit welchem Effekt, nicht einseitig zu beantworten; vielmehr gilt es in der folgenden Zusammenfassung der fotografisch-sakralisierenden Mittel auch und gerade die medialen Brüche im Blick zu behalten. Zusammenfassung der fotografisch-sakralisierenden Mittel Durch das beschriebene mediale Rauschen finden sich mehrere Bildelemente, die zwar an bekannte visuelle Bildtraditionen zur Darstellung des Heiligen anschließen, da sie im Medium Fotografie realisiert werden, jedoch darüber hinaus eine fotografische Wirkung entfalten, die der traditionellen gegebenenfalls gegenläufig ist. So ist beispielsweise die Verwendung von Licht und Goldtönung zur Visualisierung von Reinheit und Glanz als sichtbare Aspekte von Heiligkeit 66 Für einen konzisen Überblick zur Entwicklung der Fotografie in und seit den 1970er und 1980er Jahren siehe KEMP 2011. 67 Vgl. RUBIO 2006, S. 181f. 68 Vgl. zum Verhältnis von Text und Bild bei Serrano siehe FERGUSON 1995, o. S. Für eine ausführlichere Beschreibung der Text-Bild Relation bei Barbara Kruger siehe KEMP 2011, S. 105. 69 Vgl. DECTER 1990, S. 7-8. 70 Serrano „challenges boundaries between abstraction and representation, photography and painting, belief and disbelief“, wie Lucy Lippard treffend zusammenfasst, LIPPARD 1990, S. 239.

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in einer ikonografischen Bildtradition zu sehen, im fotografischen Medium wird jedoch die Herkunft der Farbe ebenfalls antizipiert und dadurch der Realitätsbezug der Fotografie als Medium verstärkt fokussiert. Darüber hinausgehend kommt hier eine modale Herangehensweise zum Einsatz, die durch verschiedene fotografische Mittel die Bildwirkung unterstützt, während manche Bildmittel explizit auf das Medium als solches verweisen: Die Freistellung des Motivs vor einem fast monochromen Hintergrund wirkt sakralisierend und evoziert einen eigenen Gedankenraum.71 Die starke Vergrößerung des kleinen Plastikkreuzes im fotografischen Abbild verstärkt den visuellen Eindruck und ist im Sinne einer Bedeutungsperspektive zu verstehen. Die Vergrößerung ist dabei nicht direkt zu erkennen, sondern wie beschrieben, der Annäherung über Titel und Bildmaterial inhärent. Über den Bildtitel wird der fotografische Herstellungsprozess thematisiert und damit auch die besondere Verbindung des fotografischen Mediums zur Realität. Die Blicklinien des Bildes scheinen außerhalb des Bildraumes zusammenzulaufen, wodurch der Raum außerhalb des Bildes mitgedacht werden muss und als potentieller metaphorischer Ort des Heiligen verstanden werden kann – zugleich wird auf diese Weise der ursprüngliche, reale Entstehungszusammenhang und -raum der Fotografie impliziert. Nennt Otto das Halbdunkel als sakralen Marker der Darstellung des Heiligen in der Kunst, so wird diese besondere atmosphärische Qualität bei Piss Christ über eben diese Raumöffnung visualisiert und verläuft dergestalt parallel zu Gernot Böhmes Analyse fotografischer Mittel zur Darstellung von Dämmerungszuständen.72 Dabei scheint die mit der Dämmerung assoziierte Unbestimmtheit als Qualität schwierig im fotografischen Bild darstellbar zu sein: „Unbestimmtheit widerstreitet dem Apparat, der auf Abbildung, auf Schärfe optimiert ist. Wie soll man mit der Kamera jenes ahnungsvolle Hinausspüren nachahmen?“73 In der Analyse wurde deutlich, dass Piss Christ trotzdem verschiedene Facetten der Unbestimmtheit inkorporiert, sei es durch mediale Verflechtungen oder visuelle Formauflösungen: Durch ausgewählte Fokussierung, leichte Überbelichtung und eine weite Blende spielt Serrano mit dem Licht und produziert Stellen von Schärfe und Unschärfe, so dass eine spezifisch fotografische Tiefenperspektive erzeugt wird, die dem Bildraum seine besondere, überirdisch anmutende Qualität gibt.74 Nennt Otto als letzte Kategorie „das Leere und das weite Leere“75, so deutet dies auf ein zentrales Element von Unbestimmtheit als 71 Siehe hierzu auch BAL 2006, S. 189. 72 Siehe Abschnitt oben; sowie BÖHME 2004, S. 105. 73 BÖHME 2004, S. 107. 74 Vgl. BAL 2006, S. 189. 75 OTTO 2014, S. 89.

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Darstellungsmittel des Heiligen. Nach Otto ist das Leere auch im Westen bekannt, jedoch hauptsächlich in der Kunst des Ostens verbreitet, insbesondere in der chinesischen Malerei und Architektur.76 Die Elemente des ästhetisch und medial Unbestimmten in Piss Christ deuten auch für das Fotografische auf eine zentrale Kategorie in der Darstellung und inhaltlichen Auslegung des Heiligen hin. Dieses Potential soll unter dem Aspekt der Unschärfe in Kapitel 3.3 näher analysiert und ausdifferenziert werden. Die bereits angeführten einzelnen Bildmittel sind darüber hinaus mit grundlegenden fotografischen Eigenschaften verknüpft, die Serrano bewusst einzusetzen weiß: Selektivität, Realitätsbezug und Spur. Der selektive Charakter des Mediums führt in diesem Fall zu zwei gegensätzlichen, sich jedoch bedingenden Aspekten, die sich an der visuellen Grenze des Ausschnittes kristallisieren. So erfolgt durch die Wahl des Bildausschnittes einerseits die Ausgrenzung des ‚realen‘ Raumes – was der Betrachter sieht, kann als in sich geschlossener metaphorischer und atmosphärisch aufgeladener Bildraum wahrgenommen werden, insofern nicht direkt ein realer Raum zu identifizieren ist. Die selektive Auswahl verwehrt hier zunächst die Erkenntnis des Einsatzes materieller Dinge, die zentral für die Entstehung der Fotografie sind – wie etwa das Glas mit Urin, in dem die Bläschen geworfen werden. Durch den Einsatz dieser spezifisch fotografischen Mittel entwirft Serrano ein Bild, das einerseits in seiner Präsentation der Heiligkeit Christi in einer christlichen Darstellungstradition steht und sich andererseits stark vom visuellen Eindruck dessen unterscheidet, was fotografiert wurde. Das visuell ansprechende Bild führt den Betrachter ‚hinters Licht‘ – oder in diesem Falle durch die selektive Darstellung hinter die Herkunft seines goldenen Farbtones. Erst bei genauerem Hinsehen und unter Bezugnahme auf den Titel wird die Verknüpfung hergestellt zum Entstehungsprozess der Fotografie, womit der ‚reale‘ Raum in den Blick gerät. Hier ist einerseits die durch die Ausschnitthaftigkeit des selektiven Charakters des Mediums produzierte visuelle Grenze zu dem Raum außerhalb des Bildes, die betont wird; andererseits wird impliziert, dass der Bildraum keinesfalls als ein abgeschlossener, metaphorischen Raum des Heiligen zu verstehen ist, sondern vielmehr als Teilansicht einer sich außerhalb des Bildes fortsetzenden, nicht näher identifizierbaren Wirklichkeit gedacht werden soll. Mit dieser Konzentration auf den Herstellungsprozess gerät auch der Fotograf als Urheber des Bildes in den Fokus, der die Wahrnehmung des Betrachters aktiv beeinflusst. Durch diesen Verweis auf den Moment der fotografischen Bildentstehung lenkt Serrano den Fokus auf das Medium als solches und spielt durch verschiedene Mittel mit dessen ambivalentem Realitätsbezug. Teilweise integriert er et76 Vgl. OTTO 2014, S. 90.

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wa durch den Titel und die sichtbare Verwendung von Flüssigkeit Hinweise auf einen in der Realität angesiedelten Herstellungsprozess des Bildes, unterläuft die Verbindung des Fotos zur Realität jedoch zugleich, indem er Verweise integriert, die scheinbar real sind, jedoch bei genauerer Analyse einen wahrheitsgetreuen Bezug zur Realität nur vortäuschen, wie etwa der Verweis auf Urin oder die übergroße Darstellung der eigentlich kleinen Skulptur im Abbild. Einerseits verwickelt Serrano den Betrachter auf diesem Wege in ein Spiel der Missverständnisse, das ihm letztendlich seine eigenen Rezeptionsgewohnheiten vor Augen führt, andererseits verdeutlicht er die mediale Eigenschaft der Fotografie, sich auf die Realität beziehen zu können, ebenso, wie dies nur vorzutäuschen. Nicht zuletzt ist es der Fotograf und seine Beeinflussung der Wahrnehmung des Betrachters, die hier thematisiert werden. Der über die indexikalischen Eigenschaften der Fotografie implizierten Verbindung zwischen heiligem Symbol, (Körper-)Flüssigkeit und Betrachter soll im weiteren Verlauf vertieft nachgegangen werden, bevor der Blick auf die Unschärfe als Kategorie zur konzeptuell-ikonischen Fassung des Heiligen in der Fotografie untersucht wird, um abschließend die Symbolfunktion von Piss Christ neu in den Blick zu nehmen.

3.2 K ÖRPERBILDER . P ISS C HRIST TRANSGRESSIVER A KT

ALS MULTIPEL

„I like to make formally pleasing pictures but with an edge. There are levels of perception and understanding: you go from responding to it solely on a visual level, and then you realize what it is, and you have another reaction.“77 ANDRES SERRANO

Die Fotografie Piss Christ zeichnet sich durch eine besondere Bildstruktur aus, die auf Überraschung setzt und sich zwischen den Polen von ästhetischer Überhöhung und gegenläufiger assoziativer Kontextualisierung bewegt. Sah sich Senator Alphonse D‘Amato, wie eingangs beschrieben, in den 1980er Jahren derart persönlich durch die Fotografie angegriffen, dass er ein Exemplar des Ausstellungskataloges in einem ikonoklastischen Akt während der Sitzung des Senats vor aller Augen zerstörte, so wird deutlich, dass diese Bildstruktur besonders bri-

77 Andres Serrano zitiert in WATNEY 1993, S. 128.

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sante affektive Auswirkungen zeitigt. Um diesen Effekt besser zu verstehen, soll im Folgenden das desakralisierende, grenzüberschreitende Potential der Bildstruktur näher befragt werden.78 Anthony Julius hebt hervor, dass die Überschreitung gesellschaftlich akzeptierter Grenzen oftmals als elementarer Bestandteil des Kunstschaffens angesehen wird, sich seit der Moderne jedoch eine besondere Form transgressiver Tendenzen abzeichnet.79 Mit Blick auf historische, etymologische sowie philosophische Traditionen definiert er vier Subformen von Transgression und einen möglichen Effekt: „Four essential meanings emerge, then: the denying of doctrinal truths; rule-breaking, including the violating of principles, conventions, pieties or taboos; the giving of serious offence; and the exceeding, erasing or disordering of physical or conceptual boundaries. […] transgressive art that concerns itself with the simultaneous endorsement and subversion of given practices and beliefs […] offers not just multiple meanings, but contradictory ones. Its ‘aesthetic ideas’ (Kant’s phrase) refuse to cohere.“80

Serranos Piss Christ steht in dieser Tradition und scheint sie gleichermaßen zu reflektieren.81 Im Folgenden sollen daher nicht nur multiple, sondern auch konträre Lesarten, die sich in dem in der Analyse abgesteckten Spannungsfeld zwischen Heiligkeit, Sakralität und fotografischem Bild bewegen, am Scharnier des Körpers untersucht werden. Es scheinen verschiedene symbolische wie ‚echte‘ Körper von Interesse: Neben der symbolhaften Verkörperung Christi im kleinen Plastikkruzifixus wird durch die Benennung der verwendeten Flüssigkeit als Urin der menschliche Körper an sich impliziert. Durch Serranos Aussage, es handle sich um seinen eigenen Urin, wird der Körper des Künstlers als sowohl symbolischer wie spezifischer Körper integriert und dem wahrnehmenden Körper des Betrachters gegenübergestellt. Wie wird die Auseinandersetzung des Menschen mit dem Heiligen über diese verschiedenen Aspekte des Körpers verhandelt?

78 Vgl. die Einleitung des vorliegenden Analysekapitels; sowie FERGUSON 1995, o. S. und http://www.csulb.edu/~jvancamp/361_r7.html (04.08.2018). Die Reaktion von Senator Jesse Helms muss darüber hinaus als kalkulierte politische Geste verstanden werden. 79 Vgl. JULIUS 2002, S. 51. 80 JULIUS 2002, S. 19. 81 Julius verweist auf verschiedene transgressive Strategien, die bei Serrano zum Einsatz kommen, JULIUS 2002, S. 16 und S. 50.

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3.2.1 Der heilige Körper und die Marker des Realen. Zwischen Diffamierung und sakraler Präsenz Motivisch steht an erster Stelle die Figur des Gekreuzigten, die symbolisch auf die Inkarnation – und das heißt auch Bildwerdung – Gottes sowie den Opfertod verweist. Die offene Einbindung eines christlichen Symbols schließt, wie in der Analyse herausgearbeitet wurde, an sakrale Traditionen zur Visualisierung eines spezifischen Verständnisses von Heiligkeit an. Zugleich weicht sie über kontextuelle Desakralisierungsgesten elementar davon ab. In Bezug auf das Symbol des heiligen Körpers lassen sich zwei desakralisierende Gesten aufzeigen, die sich in ihrer Wirkung beeinflussen: Der Titel und der mit diesem implizierte Herstellungsprozess. Der Titel dient als eine Art Handlungsanweisung, als Aufforderung, die von einer allgemeinen sprachlichen Diffamierung bis zum tatsächlichen Akt der Desakralisierung und Profanierung des heiligen Symbols reichen kann. Zugleich wird über den postulierten Herstellungsprozess des Bildes die tatsächliche Ausführung der Handlung impliziert und die Profanierung gleichermaßen als Statusbeschreibung der spezifischen Skulptur eines Kruzifixus verdeutlicht. Implizierte und ausgeführte Handlung können eine Verletzung religiöser Gefühle nach sich ziehen; zugleich verdeutlichen sie das Verhältnis von Bild und Urbild, indem die dem Bild entgegen gebrachten Handlungen sich auf das dahinter stehende Urbild zu beziehen scheinen.82 Das religiöse Symbol differiert in diesem Sinne von dem Peirce’schen Symbolbegriff, als dass es nicht nur ein Zeichen ist, welches auf Übereinkunft beruht, sondern zugleich bis zu einem gewissen Grad an dem von ihm Repräsentierten partizipiert, indem es in fester Verbindung mit diesem steht.83 Wie in der Analyse herausgearbeitet, gelten Körperflüssigkeiten als unrein, werden jedoch zugleich in manchen kultischen Religionen gerade gegenteilig gedeutet: „In ‚tribal‘ art […] human fluids and excrement endow fetishes and emblems, constituting the very substance of the sacred, the stuff of power.“84 Körperflüssigkeiten werden in beiden Fällen körperlich und psychologisch strukturell ausgegrenzt, jedoch konnotativ verschieden besetzt. Diese gleichzeitige

82 Vgl. den Beschluss des zweiten ökumenischen Konzils von Nizäa 787 „‚Denn die Verehrung des Bildes geht über auf das Urbild‘, und wer das Bild verehrt, verehrt in ihm die Person des darin Abgebildeten.“, DENZINGER, HÜNERMANN 1991, Nr. 601, S. 277. 83 Vgl. hierzu auch die Synopse zum theologisch geprägten Symbolbegriff in WENDEL 2011, S. 176. 84 ARENAS 1995, o. S.

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Tabuisierung und Wertschätzung reproduziert formal die dem etymologisch als sacer Ausgegrenzten zugeschriebene Doppeldeutigkeit von verflucht und heilig.85 Serrano spielt mit dieser Grenze und überschreitet sie je nach Perspektive. Indem er das Ausgegrenzte mit einem heiligen Symbol in Kontakt bringt, transferiert er den tabuisierenden Charakter der Körperflüssigkeit und profaniert somit das Symbol, einer Art negativem Taufakt gleich, indem das Heilige entweiht wird.86 Dieser offensichtlich provokante Ansatz kann zunächst als Strategie gedeutet werden, über eine transgressive, also moralische und ethische Grenzen sowie Darstellungskonventionen überschreitende Handlung Aufmerksamkeit für die eigene künstlerische Position zu erzeugen. Zugleich lassen sich mehrere andere Lesarten ansetzen. Ein Deutungsansatz, der sich wiederholt in der Literatur zu Serrano findet, liest Titel und Herstellungsprozess als Kommentar zu dem trivialisierenden gesellschaftlichen Umgang mit religiöser Symbolik, der, wie in der Einleitung ausgearbeitet, insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren einen neuen Höhepunkt erreicht.87 Die Materialsymbolik des kleinen, billig produzierten Plastikkruzifixus sowie des potentiell reproduzierbaren fotografischen Bildes lassen sich, wie die Analyse zeigte, durchaus in diese Richtung lesen. Die Herkunft dieser Interpretation stammt dabei nicht vom Künstler sondern verdankt sich der Diskussion um das Bild im Kontext der Culture Wars, wie Serrano erläutert: „When the controversy first erupted, Ted Potter, who was the director of the Southeastern Center for Contemporary Art, called me from North Carolina, saying, ‚You know, the NEA is breathing down our necks. They want a rationale for the image. They’re getting a lot of heat. They want to know what it means.‘ He said, ‚Why don’t we say it’s a protest against the commercialization of religious or spiritual values.‘ I said, ‚Well, you know, 85 Wie in Kapitel 2.1.2 ausgeführt, legt Giorgio Agamben offen, dass diese Ausdeutung auf einem Zirkelschluss beruht; als Interpretation hat sie jedoch einen bleibenden Eingang in das Verständnis des Heiligen gefunden. 86 Vgl. Kapitel 2.1.1. Derjenige, der mit etwas in Berührung kommt, das sacer ist, wird selbst sacer. Der Aspekt der Taufe wird sowohl durch das Eintauchen in Urin als auch durch die dergestalt im fotografischen Bild produzierte, transluzide Qualität betont, die an mittelalterliche Reliquienpräsentationen hinter Bergkristall erinnern, in denen wiederum über das reine Material, das als versteinertes Wasser galt, auf die Taufe Christi angespielt wird. Vgl. hierzu die formal-ästhetische und stilistische Analyse; sowie BAGNOLI 2010, S. 138. 87 Vgl. BRENSON, Michael: Andres Serrano: Provocation And Spirituality, in: The New York Times, 8.12.1989, unter: http://www.nytimes.com/1989/12/08/arts/reviewart-andres-serrano-provocation-and-spirituality.html (04.08.2018).

154 | U NSCHARFE S PUREN ? – T EIL II: E INZELANALYSEN Ted, it’s not language that I would use, but if you want to say that, it’s fine, go right ahead.‘“88

Der institutionell-interpretatorische Eingriff ist demnach als Versuch zu verstehen, den Diffamierungen der Fotografie eine Art resakralisierende Geste entgegenzusetzen und somit die Ausstellung und Förderung des Bildes durch den National Endowment for the Arts Fonds zu legitimieren. Weitere Lesarten stellen den körperlichen Aspekt in den Vordergrund, der sich wiederum mehrfach ausdifferenzieren lässt. So deutet das Motiv bereits einen äußerst gewaltvollen körperlichen Akt an, indem es die Kreuzigung in den Mittelpunkt stellt. Wie in der Analyse herausgearbeitet, trägt die Farbgebung sowohl in ihrer Dynamik als auch durch die Rottönung dazu bei, den Akt der Kreuzigung in seiner Intensität zu unterstreichen, während sich durch die Immersion der Figur eine gewisse Stille über das Bild legt. Hat der Akt der Kreuzigung den Tod des Gekreuzigten zum Ziel, so geht diesem aufgrund der extremen psychischen und physischen Belastung ein gradueller Verlust körperlicher Kontrolle und damit die Auflösung körperlicher Integrität voraus. In dieser Lesart kann die austretende Körperflüssigkeit Urin als Anzeichen extremen körperlichen Leidens gedeutet werden, wodurch die Körperlichkeit des Gekreuzigten und die schmerzhafte physische Realität einer oder genauer, dieser einen Kreuzigung betont wird.89 Serrano betont diesen Interpretationsansatz in einem Interview: „one of the things Piss Christ attempted to do – on some level – was to bring home the reality of the natural crucifixion, which was a very painful and ugly way to die.“90 Die visuelle Illumination des Urins wäre in diesem Sinne, neben der Stillstellung des Bildes, als Ausdruck der Wertschätzung des erbrachten Opfers zu verstehen. Die von scharf zu unscharf wechselnde Darstellungsweise sowie der ausschnittartige Charakter des Bildraums in Piss Christ, der metaphorisch auf einen transzendenten Lichtraum verweist, lässt sich, wie in der Analyse herausgearbeitet, als Changieren zwischen Diesseitigem und Jenseitigem lesen. Ist Christus nach christlichem Glauben sowohl wahrer Mensch als wahrer Gott in einer Person,91 so greift die Darstellung über die Referenz auf das Geistige wie das Körperliche diese zwei grundlegenden Naturen Christi auf. Interessanterweise geschieht dies über denselben visuellen Marker – die goldgelbe Farbe der Flüssig88 Serrano zitiert nach WUTHNOW 2001, S. 172f. 89 Vgl. RUBIO 2006, S. 182; sowie DECTER 1990, S. 12. 90 DECTER 1990, S. 12. 91 Vgl. die Ausführungen zum Konzil von Chalcedon 451 in BURRICHTER, Rita, GÄRTNER, Claudia: Mit Bildern lernen, München 2014, S. 80.

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keit und des Lichts, womit Serrano sowohl die Gleichzeitigkeit der zwei Naturen darstellt als auch ihre Lokalisierung am selben Ort aufgreift. Bal weist darauf hin, dass eine Verkehrung des Körperaufbaus stattfindet: Statt im dargestellten Körper findet sich die Körperflüssigkeit hier außerhalb des Körpers, ja umgibt diesen.92 Mit der Betonung über den Titel kann daraus abgeleitet werden, dass das Heilige hier bildlich im Physischen, und damit im Profanen, verortet wird.93 In diesem Sinne ist Piss Christ eine metaphorische Ebene eingeschrieben, die im Zusammenspiel mit dem Symbol der Kreuzigung die Inkarnation Gottes in der Figur Christi als besondere Form der Immanenz des Heiligen im Physischen visualisieren kann. Die enge Verbindung von Körper und Geist hebt Serrano selbst hervor: „I think of my art as being a spiritual quest as much as an aesthetic one. But you can't have the spirit without the body.“94 Die postulierte Integration von Urin und damit einer Flüssigkeit des lebendigen Körpers in das Bild kann hier – im Sinne mittelalterlicher Spolien95, die die Echtheit einer Reliquie bestätigen sollten – als metaphorische Authentifizierungsstrategie für die Körperlichkeit Christi und das Wunder der Inkarnation Gottes gewertet werden. Auch die reliquienschmuckartigen Luftbläschen lassen sich in diesem Zusammenhang als Spolien eines für jeden menschlichen Körper unabdingbaren Stoffes lesen (auch – oder grade – wenn sie an dieser Stelle ihrer Funktion beraubt sind). Die Verortung des Heiligen im Profanen ließe sich demnach weiter spezifizieren zu einer Humanisierung des Heiligen.96 Mit der Fokussierung der körperlichen Aspekte des Heiligen folgt Serrano der Betonung der körperlichen Natur Christi seit der Gegenreformation.97 Zugleich findet sich hier jedoch auch ein Bezug zu mittelalterlichen Praktiken der Volksfrömmigkeit, die in der Reliquienverehrung den direkten Kontakt zu Körperreliquien suchte.98 Bal liest Piss Christ dementsprechend als Blick ins Innere des christlichen Körpers: „It is as if the artist's eye crept inside the wound in the crucified Christ's side – the one that Ca92 Vgl. BAL 2006, S. 188. 93 Vgl. zur Immanenz des Heiligen im Profanen WENDEL 2011, S. 168-174; sowie Kapitel 2.1.2 der vorliegenden Arbeit. 94 Serrano zit. in: DECTER 1990, S. 11. 95 In mittelalterlichen Reliquiaren wurden antike Gemmen und Steine wiederverwendet. Diese spolia galten als äußerst wertvoll und konnten zudem über ihre antike Herkunft die Echtheit der Reliquie bezeugen, vgl. BAGNOLI 2010, S. 138f. 96 In Anlehnung an RUBIO 2006, S. 181: „He does not see himself as a heretic since he forms part of a tradition in religious art and, rather than destroying icons, he believes he is creating new ones; simply humanising religion through his work.“ 97 Vgl. ARENAS 1995, o. S. 98 Vgl. ANGENENDT 2010, S. 26.

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ravaggio's Thomas so eagerly explored – and revealed the entire universe exposed inside.“99 Die Hülle der körperlichen Überreste wurde besonders schön gestaltet, die Reliquiare dienten der Veranschaulichung der körperlich abjekten Reste, die den Betrachter sonst abgestoßen hätten, da er ihre spirituelle Qualität nicht erkannt hätte, was Theofried von Echternach unter Rekurs auf die Eucharistie begründet: „Knowing that man cannot see and touch rotten flesh without being nauseated, he hid his body and his blood in the bread and the wine, to which men are accustomed. Similarly, he has persuaded the sons of the Church to conceal and shelter the relics of the saint’s happy flesh in gold and in the most precious of natural materials so that they will not be horrified by looking at a cruel and bloody thing.“100

Aus dieser Perspektive liest sich Serranos Piss Christ als äußerst traditionell in seiner Verbindung von glänzender Hülle und körperlich abstoßendem Inhalt, allerdings zu einer Zeit, in der sich der Reliquienkult grundlegend gewandelt hat und die Körperreste primär eine Erinnerungsfunktion einnehmen.101 Geht es Serrano darum, die physische Seite des Heiligen über die Hervorhebung und Glorifizierung des Abjekten neu wieder nah am und im Menschen zu verorten und auf diese Weise in einer Doppelbewegung ebenfalls das Profane aufzuwerten? Über die dargestellten Materialien Luft und Flüssigkeit werden Stoffe gezeigt, die für den Körper jedes Menschen elementar sind und dergestalt eine Referenz auf den Menschen als Ebenbild Gottes ermöglichen. Sind diese Funktionen singulär an den jeweiligen Körper geknüpft, so heben sie damit die Bedeutung des Einzelnen im Verhältnis zum Heiligen hervor, wie Bell Hooks an einem anderen Beispiel der Serie Immersions zusammenfasst: „Serrano artistically recreates an iconography of sacrament where it is the individual expression of spirituality that is deemed most sacred. That sacredness is present in the ordinary dimensions of human life, in our bodily functions, the urine and blood that mark us.“102 In einer derartigen Ausdeutung spiegelt sich die in der Einleitung skizzierte Hybridisierung religiöser Tendenzen, die zu multiplen Ausprägungen von Spiritualität führt. Arenas verweist mit Bezug auf die Serien Body Fluids und Immersions wiederholt auf den diesen Arbeiten inhärenten inhaltlichen Bezug zum Barock: 99 BAL 2006, S. 189. 100 Theofried von Echternach zit. nach: BAGNOLI 2010, S. 137. 101 Vgl. BAGNOLI 2010, S. 137. 102 HOOKS, Bell: The Radiance of Red: Blood Work, in: SERRANO, Andres: Body and Soul, hrsg. von Brian Wallis, New York 1995, o. S.

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„Curiously, as Serrano’s work in the late 1980s moved away from the theatrics of Baroque iconography, it got closer to something more deeply significant in the Baroque sensibility – its theology. In these works […] the representation of mortality shifted from being merely a manipulation of bodily imagery and symbols to the use of human substances as raw material.“103

In eine ähnliche Richtung zielt Bal wenn sie in Serranos Arbeiten die zeitgenössische Variante eines „barocken“ Konzepts an und für sich realisiert sieht.104 In ihrer Analyse der barocken Qualitäten von Serranos Fotografien hebt Bal Transfiguration als zutiefst barockes religiöses Motiv hervor, das auch die Zelebrierung abjekter Elemente und schließlich die Aufhebung der Grenze zwischen heilig und abjekt mit einschließen kann, etwa im Sinne der Transfiguration des toten und zerfallenden Körpers.105 Konnte in der Analyse die stilistische Nähe von Piss Christ zu Zurbarán aufgezeigt werden, so zeigt sich gerade im Sevillanischen Barock ein Realismus, der auch aktiv die Darstellung von Körperflüssigkeiten wie Blut und Tränen fokussiert.106 In diesem Sinne kann auch die visuelle Illumination der unreinen, ausgegrenzten Körperflüssigkeit in Piss Christ als positive Wertung aufgefasst werden, die die Grenzen zwischen dem Abjekten und dem Heiligen über eine Art Sakraltransfer verschwimmen lässt beziehungsweise aufhebt. Der ästhetisch-formale Bezug zum Barock impliziert dergestalt auch die Übernahme inhaltlicher „barocker“107 Konzepte. Eine solche Lesart wäre folglich der transgressiven, blasphemischen Ausdeutung entgegengesetzt.

103 ARENAS 1995, o. S. Dass Serranos Interesse an körperlichen Substanzen weiter anhielt, zeigt seine Serie Shit von 2008, die Fotografien von diversen Fäkalien zeigt und an Werke anderer Künstler, etwa Chris Ofilis The Holy Virgin Mary, 1996, einer Collage mit Elefantenkot, erinnert. 104 Vgl. BAL 2006, S. 185. 105 Vgl. BAL 2006, S. 186 und 190. 106 Dies gilt insbesondere auch für die Tradition der Skulpturmalerei, die im 17. Jahrhundert eine Hochphase erfährt und wie neue Erkenntnisse zeigen, die Malerei stark beeinflusst zu haben scheint, vgl. BRAY, Xavier: The Sacred Made Real. Spanish Painting and Sculpture 1600-1700, in: Ausst.Kat.: The Sacred Made Real. Spanish Painting and Sculpture 1600-1700, The National Gallery, London; National Gallery of Art, Washington, 2009/2010, S. 15-43, S. 15 und S. 18. 107 BAL 2006, S. 185. Vgl. ebenfalls ARENAS 1995, o. S.

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3.2.2 Der Körper des Künstlers. Der Schöpfer, der Leidende, der Suchende und die Aura des Originals Mit Blick auf den Titel Piss Christ wird referentiell ein zweiter Körper ins Bild integriert. Die Körperflüssigkeit verweist über ihre Eigenschaft als Hinterlassenschaft auf einen spezifischen Körper und wird somit zum Stellvertreter für den abwesenden Menschen. Wird der Urin von Serrano als sein eigener deklariert, so nimmt er die Stellung einer Signatur ein, da er, ähnlich einer Handschrift, die Spur des Künstlers im Bild hinterlässt. Zugleich geht die Form der Signatur über die klassische Handschrift hinaus, da es sich eben nicht nur um eine ausgeführte Handlung sondern um einen ehemaligen Teil des Künstlerkörpers handelt. Die Reste des Körpers werden so gleichsam zu ‚Reliquien‘ und das Bild zu einem – wenn nicht klassischen, so doch quasi physischen – Selbstportrait des Künstlers.108 Dieses steht in historischer Tradition der von Fred Holland Day 1898 inszenierten Crucifixion, bei der sich selbst, wie in Kapitel 2.2.1 beschrieben, am Kreuz inszenierte und anschließend fotografierte. Welche Aspekte werden mit Serranos Portrait vermittelt? Mit Bezug zu kunsthistorischen Traditionen lässt es sich als Schöpfer, Leidender und Suchender deuten. Auf dem Umweg über die Körperflüssigkeit schließt es an eine Tradition künstlerischer Selbstportraits an, sei es fotografisch oder malerisch, die sich auf das traditionelle Christusbild berufen oder dieses zur Vorlage nehmen.109 Der Akt des Eintauchens der Christusfigur in Urin stellt eine Handlung dar, die sowohl ikonoklastische als auch schöpferische Züge trägt, indem das traditionelle Symbol eine interpretatorische Öffnung und Umwidmung erfährt. Über

108 „The relic“, so Alexander Nagel, „marks the departure point in the system of signs used in medieval religious culture. It was defined as the unsubstitutable sign, a sign whose physical relationship to its origin was a necessary part of its meaning. […] What makes the relic unique and valuable is its provenance: one keeps it and reveres it because it is the index or sample of a specific history, of an individual’s life. This is the basis of its efficacy, real or perceived.“ NAGEL, Alexander: The Afterlife of the Reliquary, in: Ausst.Kat.: Treasures of Heaven. Saints, Relics, and Devotion in Medieval Europe, Cleveland Museum of Art, Cleveland; The Walters Art Museum, Baltimore; The British Museum, London, 2010/2011, S. 211-222, S. 212 und S. 215. In Bezug auf den Körper des Künstlers ist für den Urin demnach eine Lesart anzusetzen, welche die Körperflüssigkeit als eine Art Reliquie deutet, während sie in Bezug auf den heiligen Körper, dem sie nicht entstammen kann, den metaphorischen Wert einer beglaubigenden Spolie oder eben eines desakralisierenden Materials besitzt. 109 Vgl. Kapitel 2.2.1.

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das schöpferische Element knüpft Serrano an die um 1500 mit Dürers Selbstportrait bestärkte Tradition der Darstellung des Künstlers als Ebenbild Gottes beziehungsweise Gott ähnlichem Schöpfer, als artifex divinus oder gar als deus artifex an.110 Abweichend von Dürers Selbstbildnis oder auch von der in Kapitel 2 besprochenen Bostoner Passion von Day erfolgt dieser Bezug jedoch nicht über christomorphe Gesichtszüge, sondern eben über die Referenz auf Körperreste. Der Künstler stellt sich damit in die göttliche Linie ein und übersteigt diese Traditionslinie zugleich, indem er die Christusskulptur in seine eigenen Körperreste eintaucht und sie so einem Akt der potentiellen Profanierung unterzieht. In dieser Deutung kann Piss Christ als Metapher auf die mit dem Advent der Moderne einsetzenden säkularen Tendenzen und den sich vollziehenden Machtwechsel zwischen Kunst und Religion, oder genauer zwischen Religion und Kunstreligion gelesen werden (siehe Einleitung). Die besondere Bildstruktur, die auf eine spezifische Form der Betrachterwirkung abzielt, erscheint als autoritäre, anmaßende Handlung angesichts des Sujets. Zugleich wird der Körper des Künstlers über seine Körperreste auf äußerst profane, fast animalische Weise ins Bild integriert – eine Lesart, die sowohl der entzogenen göttlichen Natur als auch einer positiv schöpferischen Selbstinterpretation zu widersprechen scheint. Seit der Neuzeit spielt die Figur des Künstlers für die Wirkung des Bildwerkes eine zunehmend wichtigere Rolle. Klassischerweise unterstreicht die handschriftliche Bildsignatur diese Verbindung, verbürgt die Herkunft des Bildes als Original und trägt zu der Auratisierung des Werkes bei, indem sie die Spur des Künstlers, nach dem sich der Rezipient laut Amelia Jones sehnt und in den er hinein projiziert, integriert.111 In dieser Konstellation klingt die beglaubigende Qualität der körperlichen Berührung an, wie sie sich exemplarisch in der Darstellung des Griffs in die Seitenwunde Christi ausformuliert findet (vgl. Kapitel 2.1.4). Dem entgegengesetzt hebt Jones hervor, dass in der Nachkriegszeit mit Clement Greenberg der Körper in der Erzeugung und Deutung von Kunstwerken zunächst eine untergeordnete Rolle spielte.112 In den 1950er Jahren gewinnt, nicht zuletzt mit Harold Rosenbergs Beschreibung des Action Painters, der Körper des Künstlers in der Interpretation und ab den 1960er Jahren vermehrt auch in der Produktion von Kunstwerken als reflektierte Komponente wieder an Relevanz.113 Es ist zu fragen, inwiefern diese Tendenz zur aktiven Einbindung körperlicher Aktivitäten in Kunstwerke seit den 1960er 110 Zur Figur des deus artifex und und artifex divinus siehe Kapitel 2.2.1; sowie KRIS, KURZ 1980, S. 79f. 111 Vgl. JONES 2003a, S. 259. 112 Vgl. JONES 2003a, S. 254. 113 Vgl. JONES 2003a, S. 254f.

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Jahren nicht eine Reaktion auf den von Benjamin benannten Verlust der Aura des Kunstwerks in Zeiten dessen technischer Reproduzierbarkeit darstellt.114 Serranos Herangehensweise wäre dann eine aktive Aufladung des fotografischen Bildes: Da es den Betrachter auf zunächst subtile, dafür im zweiten Schritt umso vehementere Weise mit dem Körper des Künstlers konfrontiert, der so zwar abwesend, jedoch zugleich über den Bildaufbau und den indexikalischen Charakter des fotografischen Mediums als Spur anwesend ist, kann das Bild an der über seinen reproduzierbaren Charakter hinausgehenden, auratischen Wirkung des Originals partizipieren. Die Betonung der körpereigenen Abfälle ist jedoch der erhöhenden, den Künstler auratisierenden Geste im Grunde gegenläufig. Wurde im letzten Abschnitt das Ausscheiden von Urin im Kontext der Kreuzigungssymbolik als Kontrollverlust und Marker für physisches Leid betont, so lässt sich Piss Christ auch als Selbstportrait in der Tradition des Schmerzensmannes deuten. Eine solche Lesart greift die in 2.2.1 ausgeführten Qualitäten des Künstlers auf, der als Randfigur der Gesellschaft deren Qualen auf sich nimmt und in der Tradition des christlichen Gottessohnes für das größere Ziel seiner Kunst leidet. Handelt es sich auch in Bezug auf den Körper des Künstlers um die seltsame Vermischung sakralisierender und desakralisierender Gesten, so zeigt sich Serrano schlussendlich als Suchender. Eine Interpretation, die sich aus Verweisen auf seine Biographie speisen lässt und sein schwieriges Verhältnis insbesondere zum christlich-katholischen Glauben unterstreicht: „I think I’m a Christian in search of God, still searching.“115 Robert Wuthnow hebt die intuitiv-emotionale Vorgehensweise von Serranos spiritueller Suche hervor: „[H]is searching has remained almost at the level of intuition. His education has not exposed him to philosophy or to theology, and he has felt too uncomfortable with church rules and doctrines to seek there. Capturing color images in Cibachrome prints has thus 116

been central to his explorations.“

Es handelt sich demnach weniger um eine rationale Analyse von Religion, sondern vielmehr um eine Exploration, welche spirituelle Tendenzen in der Konvergenz ästhetischen und religiösen Erfahrens auszuloten sucht und das fotografische Medium als geeigneten Ort für diese Konvergenz anvisiert. Die autoritär und anmaßend erscheinende Handlung, den Betrachter im wahrsten Sinne des Wortes ‚hinters Licht‘ zu führen und die auratische Wirkung des Bildes mit dessen zutiefst profanem Herstellungsprozess zu konterkarieren, erscheint in diesem 114 Vgl. BENJAMIN 2007, S. 14 und S. 16. 115 Serrano zitiert nach WUTHNOW 2001, S. 173. 116 WUTHNOW 2001, S. 173.

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Sinne als direkte und körperlich formulierte unausweichliche Aufforderung an den Betrachter, sich im Prozess der Bilderfahrung mit der eigenen Religiosität und ethischen und moralischen Wertvorstellungen auseinanderzusetzen.

3.2.3 Der Körper des Betrachters zwischen Anziehung und Abschreckung. Vom Rezipienten zum Kollaborateur Die besondere Symbiose von Text und Bild in Piss Christ, welche von der Medienspezifik profitiert, offeriert somit verschiedene potentielle Lesarten. Die Annäherung des Betrachters an das Bild erfolgt als Prozess, der sowohl Momente der Idealisierung als auch Ablehnung umfassen kann und diese möglicherweise in einer zeitlichen Abfolge miteinander konterkariert.117 Wie eingangs beschrieben, löste Piss Christ verschiedenste starke Reaktionen aus, von der Zerstörung des Ausstellungskatalogs durch Senator Alphonso D’Amato, über den von 35 Senatoren gezeichneten Protestbrief, in dem sie Serranos Arbeit als „shocking, abhorrent, and completely undeserving of any recognition whatsoever“118 bezeichneten, bis zu wiederholten tätlichen Angriffen auf Ausstellungsexponate wie zuletzt in Avignon im April 2011.119 Piss Christ kann demnach auch heute, wenn auch aus kontextuell anders motivierten Gründen, zu starken Abwehrreaktionen führen, die in ikonoklastischen Gesten resultieren können. Wodurch genau entsteht die Vehemenz dieser Reaktionen? Wie wird der Betrachter eingebunden? Ist die Bildrezeption stets ein individueller Prozess, so differieren natürlicherweise die Ebenen, auf denen sich die einzelnen Rezipienten persönlich angesprochen fühlen; nichtsdestotrotz lassen sich Parameter der beschriebenen Reaktionen benennen. Wie bereits im Abschnitt zum Umgang mit dem heiligen Körper hervorgehoben, kann die Verbindung zwischen sakralem Symbol und profaner Körperflüssigkeit als Desakralisierung und somit, je nach persönlicher religiöser und moralischer Überzeugung, als Affront gewertet werden. Jane Adams Allen hebt hervor, dass sich die Vermischung profaner und sakraler Elemente in bestimmten Konstellationen als besonders beunruhigend erweist: „Somehow a mix-

117 Siehe etwa JULIUS 2002, S. 15f. 118 HONAN 1989, o. S. 119 Vgl. CHRISAFIS, Angelique: Attack on ‚blasphemous’ art work fires debate on role of religion in France, in: The Guardian, 18.04.2011, unter: http://www.guardian.co.uk/ world/2011/apr/18/andres-serrano-piss-christ-destroyed-christian-protesters (04.08.2018).

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ture of the sacred and the profane, the everyday and the spiritual is more alarming when we think it has its origin in an actual person a dead prostitute, a homosexual, a canister of urine produced by the artist.“120 Bezieht sich der letzte Teil explizit auf Serrano, so scheint es zum einen die Qualität des Urins als Abfallstoff, zum anderen der mit dem Urin verbundene fremde Körper, die bedrohlich wirken. Nach Amelia Arenas stellt die Konfrontation mit Körperflüssigkeiten zudem die Fantasie der körperlichen Stabilität und Ganzheit des Betrachters in Frage.121 Indem sie eine Form des körperlich Ausgeschiedenen und damit Ausgegrenzten darstellen, verweisen sie auf die Durchlässigkeit sowie die potentielle Auflösung und Verwesung des Körpers und verdeutlichen zugleich dessen elementare Abhängigkeit von eben jenen körperlichen Ausgrenzungsprozessen. Durch die Visualisierung und Inszenierung des körperlich Ausgegrenzten formuliert Serrano demnach einen gestisch desakralisierenden transgressiven Akt, indem er dem Betrachter seine körperliche Instabilität direkt vor Augen führt. Diese Bedrohung der Integrität der eigenen Körperlichkeit mittels Auflösung wird durch die nahe Konfrontierung mit den Körperresten eines Fremden verstärkt. Wie in der Analyse hervorgehoben, sind Flüssigkeiten und Sauerstoffbläschen als Bezug auf eine körperliche Realität zu lesen. Die schiere visuelle Größe der Fotografie erhöht zugleich die Präsenz des potentiellen Urins für den Betrachter und konfrontiert ihn fast physisch mit der Körperlichkeit des Künstlers. Medientheoretisch wird die bei Piss Christ auf mehreren Ebenen implizierte Berührung eines Körpers mit fremder Körperflüssigkeit im Verständnis des fotografischen Bildes als ‚Spur‘ aufgegriffen und verstärkt diese Lesart. Denn versteht man den besonderen Bezug des Mediums Fotografie als in seiner physikalischen Verbindung zur Realität liegend, so ergibt sich, ob bewusst oder unbewusst, in der Wahrnehmung des Betrachters eine Verbindung, die eine mögliche negative Reaktion auf den postulierten Herstellungsprozess von Piss Christ verstärken mag: Durch das Licht als Träger „berührt“122 Serrano den Betrachter wortwörtlich mit seiner Fotografie und dem Moment ihrer Entstehung. Diese Geste dürfte in den 1980er Jahren im Kontext der AIDS Epidemie, die den Körperflüssigkeiten eine 120 ADDAMS ALLEN, Jane: The sacred and the profane. A continuing story in Western art, in: New Art Examiner, 1990, S. 18-22, S.20. 121 „The sight of our bodily fluids disturbs us because it threatens the fantasy of our own self-containment and corporeal stability.“, ARENAS 1995, o. S. 122 „[D]ie Photographie des verschwundenen Wesens berührt mich wie das Licht eines Sterns. Eine Nabelschnur verbindet den Körper des photographierten Gegenstandes mit meinem Blick: das Licht ist hier, obschon ungreifbar, doch ein körperliches Medium, eine Haut, die ich mit diesem oder jener teile, die einmal photographiert worden sind.“, BARTHES 1989, S. 90f.

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neuartige Präsenz als verunreinigender Träger zukommen ließ, äußerst bedrohlich erschienen sein.123 Zwar wurde in der frühen Phase der Rezeption von Piss Christ dieser Zusammenhang nicht expliziert, es ist jedoch anzunehmen, dass unterschwellig durchaus eine Beeinflussung stattfand und die Rezeption des Urins als unrein und bedrohlich verstärkte.124 In Zusammenhang mit Serranos weiteren Serien, die sich mit Körperflüssigkeit beschäftigen und auch Blut und Sperma integrieren, verstärkt sich diese Lesart. Arenas Verweis auf die Figur des „Homosexuellen“ schließt sich dieser Interpretation an und ist zugleich ein Hinweis auf den Fotografen Robert Mapplethorpe, der in den 1970er und 1980er Jahren als Akteur und Fotograf intensiv die sadomasochistische Szene New Yorks erforschte und mit seinen Bildern ebenfalls im Zentrum der Culture Wars stand. Jim and Tom, Sausalito (Piss Drinking), 1977, etwa zeigt explizit den Austausch von Körperflüssigkeiten, genauer von Urin und visualisiert damit zugleich das Überschreiten konservativer moralischer und ethischer Wertvorstellungen.125 Die tatsächliche Auflösung und der Zerfall des eigenen Körpers durch den Akt der Berührung fremder Körperflüssigkeiten oder des körperlichen Austauschs von Körperflüssigkeiten musste in diesem Kontext als diffuse Bedrohung erscheinen, die zugleich äußerst real war, wie die zahlreichen Todesopfer, nicht zuletzt Mapplethorpes selbst, belegten. Nach Rudolf Otto zeichnet sich, wie in Kapitel 2.1.2 dargelegt, die Erfahrung des Heiligen durch zwei gegensätzliche Empfindungen aus: Es wird als grundsätzlich anderes, äußerst geheimnsivolles mysterium fascinans et tremendum erfahren, ist also anziehend und wundervoll und lässt zugleich erschauern.126 In ihrer besonderen Qualität sind diese sich durchmischenden Empfindungen der Erfahrung des Heiligen eigen, sie können jedoch durch Gefühle des natürlichen Gebietes umschrieben oder auch angeregt werden.127 Für Piss Christ lässt sich in diesem Sinne sowohl eine um- und beschreibende als auch eine analogisierende Bezugnahme in Anschlag bringen: Piss Christ reflektiert die Ausdeutung des 123 Vgl. HOOKS 1995, o. S. 124 Mit der Aufklärung beginnt sich auch der Reliquienkult zu verändern, indem der tote Körper nun aus einer medizinischen Perspektive betrachtet wird. „Thus instead of kissing the bones, a warning about poisoning; instead of a pleasant aroma, now the stench of decay. A religious form that had been central in human history ended at once“, ANGENENDT 2010, S. 26. Bereits hier lässt sich der Bezug zwischen Körperflüssigkeiten und Verunreinigung sowie Bedrohung herstellen. 125 Bspw. Los Angeles County Museum of Art, einzusehen unter: http://collections.lacma. org/node/222919 (30.7.2018). 126 OTTO 2014, Kapitel 4 und 6, sowie S. 15 und S. 42f. 127 Vgl. OTTO 2014, S. 9 sowie S. 56-60.

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Heiligen als zusammengesetzter Kategorie aus potentiell konträren Qualitäten (heilig und verflucht) und Erfahrungswerten (anziehend und abschreckend) über die Materialkombination aus christlichem Symbol (heilig) und Urin (unrein, ausgegrenzt, potentiell heilig), die Materialinszenierung aus ästhetisch sakralisierenden und gestisch desakralisierenden Momenten sowie die an diese gekoppelten, potentiellen positiven und negativen Wahrnehmungseffekte. Indem er über die Bildstruktur ein konträres Erfahrungsmuster in den Rezeptionsprozess integriert und diesen auf die sukzessive Erfahrung dieser polaren Kategorien zuspitzt, zielt Serrano zudem auf die Analogisierung (nicht zu verwechseln mit Gleichsetzung) dieser grundlegenden Qualität der Erfahrung von Heiligkeit und geht so über die Darlegung eines rein christlich interpretierten Heiligkeitsbegriffs hinaus. Bal interpretiert diese über das Motiv produzierte Parallelisierung religiöser und ästhetischer Erfahrungswerte als Verweis auf eine körperlich orientierte oder zentrierte Form von Religiosität, die sich eben in der Erfahrung erschließt.128 Serranos Werk sei eine Strategie „[to] scratch away the dusts of a disembodied religiosity and gain new acess to religious life, but this time one that is much closer to bodily experience.“129 Scheint die Fotografie über die visuelle Illumination eher an die Tradition einer auf Transzendenz ausgerichteten Erfahrung des Heiligen, etwa bei Barnett Newman oder Mark Rothko, anzuschließen, so knüpft Serrano über die Einführung von Körperflüssigkeiten in die Fotografie zugleich an auf Immanenz gerichtete Strömungen an, wie beispielsweise die Wiener Aktionisten.130 In diesem Sinne ließe sich die mit Piss Christ formulierte Bildstruktur als Verweis und Beispiel immanenter Heiligkeit131 oder ins Profane diffundierter sakraler Strukturen werten und böte sich zugleich dem Betrachter als Medium zur Reflexion über Religion an, eine Lesart die Serrano durchaus unterstützt.132 Der mit Piss Christ potentiell ausgelösten ästhetischen Erfahrung eignet dabei ein ans Gewaltvolle grenzender Kippeffekt. Der Urin wird wahrscheinlich nicht direkt als solcher gedeutet oder erkannt, sondern vielmehr unter Bezug auf seine ästhetischen Qualitäten zunächst rein visuell rezipiert und als harmlos eingeordnet, bevor im Anschluss der, in ‚trojanischer‘ Manier über die visuelle Wahrnehmung in den Körper des Betrachters eingedrungene, interpretatorische 128 BAL 2006, S. 186. 129 BAL 2006, S. 186. 130 Vgl. hierzu die Einleitung der vorliegenden Arbeit. 131 Vgl. den Abschnitt zu Saskia Wendel in Kapitel 2.1.2. 132 So betont Wuthnow: „Serrano thinks the work may be of interest to people who, like himself, are struggling with unresolved issues about their spirituality.“, WUTHNOW 2001, S. 173.

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Kippmoment sein volles Wirkungspotential entfaltet und der erste Eindruck revidiert und in sein Gegenteil verkehrt werden muss.133 Würde das Rezipierte von vorneherein als ambivalent oder tabuisiert wahrgenommen, könnte in einer direkten Abwehrreaktion der weitere Rezeptionsprozess unterbunden oder aktiv gelenkt werden. So aber wird die Bilderfahrung selbst gewissermaßen transgressiv und macht den Betrachter sowohl zum Opfer als auch zum Kollaborateur des Künstlers: „It is a joke at the expense both of its subject and of its audience. The picture invites reverence; the title mocks us for gullibly offering it. […] Piss Christ (1987) traps spectators into uttering a blasphemy […]. The artist thereby makes spectators accomplices in his own transgression.”134 Der Betrachter wird ungewollt überrumpelt und vollzieht gewissermaßen selbst den blasphemischen Akt nach, indem er ihn nicht erkennt oder zunächst positiv wertet. Dieser mit Piss Christ formulierte transgressive Akt lässt sich zeithistorisch mit den Theorien von Georges Bataille verknüpfen, der sich einer Art „Soziologie des Heiligen“135 widmet, in deren Zentrum die ambivalente Grenzüberschreitung steht. Wie Anthony Julius hervorhebt, versteht Bataille den Akt der Grenzüberschreitung, egal ob es sich um körperlich oder gesellschaftlich gesetzte Grenzen handelt, als zugleich gewaltvoll und reinigend. Gesetzliche und moralische Tabus und Verbote dienen demnach dazu, negative und animalische Energien, Gewalt und Tod einzugrenzen und so das soziale Gefüge gesellschaftlicher Systeme zu ermöglichen, stellen jedoch zugleich wiederum ein unterdrückendes System dar. Mittels der zelebrierten, temporären Grenzüberschreitung wird diese durch Tabus und Verbote aufgebaute Schwelle kurzfristig überschritten und dadurch zugleich bestätigt: Der temporäre Exzess ermöglicht den Abbau negativer Energien und dient so der Reinigung und Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Systems. Durch die temporäre Grenzüberschreitung wird das gesellschaftliche System in die Zonen des Profanen (des gesellschaftlich Geordneten) und Sakralen (als Bereich der Exzesse) unterteilt.136 Die Unterscheidung zwischen Sakralem und Profanen fällt zusammen mit der etymologischen Bedeutung von 133 Auf diese Weise referenziert Serrano auch die geheimnisvolle Qualität des myterium fascinans et tremendum, welches sich nur in der Erfahrung offenbart, vgl. Abschnitt 2.1.2. 134 JULIUS 2002, S. 16. 135 WIECHENS, Peter: Bataille zur Einführung, Hamburg 1995, S. 16. 136 Vgl. JULIUS 2002, S. 21-23. Zugleich wird deutlich, dass Batailles Interpretation der exzessiv-transgressiven Qualität des Sakralen nicht mit der christlichen Moral übereinstimmt. Bataille beschäftigte sich in diesem Sinne explizit mit dem körperlich Abgestoßenen und Ekelerregendem wie Füßen, Fingernägel und Exkremente, vgl. WIECHENS 1995, S. 13.

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sacer als abgegrenztem Bereich.137 Die mit Piss Christ offerierte transgressive (ästhetische) Erfahrung kann dergestalt als reinigend empfunden oder so ausgedeutet werden – eine Lesart, welche durch die breite Bataille-Rezeption in den Künstlerkreisen der 1980er Jahre unterstützt worden sein dürfte.138 Die visuelle Sakralisierung der Körperflüssigkeiten verdeutlicht die Zelebrierung des Ausgegrenzten, Tabuisierten, die bei Bataille erotisch aufgeladen wird.139 Im Zusammenspiel mit Bildern wie Mapplethorpes Urinbild, die Urin und Sexualität explizit verbinden, zeichnet sich hier ein eigener Interpretationshorizont ab, der neben der Transgression religiöser und körperlicher auch die Überschreitung moralischer oder ethischer Grenzen aufruft, wie sich in dem dargelegten Unbehagen konservativ orientierter politischer und gesellschaftlicher Gruppen im Kontext der Culture Wars der 1980er Jahre zeigte. Der mit Piss Christ formulierte transgressive Akt wurde dergestalt durch Konnotationen von dunkler Erotik und Voyeurismus sowie einer diffusen Bedrohung durch AIDS angereichert. Neben den offensichtlicheren desakralisierenden Gesten der Kombination von sakralem Symbol und unreiner Körperflüssigkeit im Herstellungsprozess und im Ausstellungskontext liegt der eigentliche Affront von Piss Christ in jenem ‚Hinters-Licht-Führen‘ des Betrachters, das ihn zum Mittäter macht, indem es ihn individuell anspricht und involviert und ihm eine persönliche Stellungnahme in Bezug auf das Heilige abverlangt. Anthony Julius hebt die mögliche Bedeutung von Transgression in diesem Sinne hervor: „The transgressor ‚trans137 Vgl. Kapitel 2.1.1 der vorliegenden Arbeit. 138 Anthony Julius hebt hervor, dass eine Reihe von Verteidigern Serranos in dieser Hinsicht argumentierten, um Piss Christ als Kunstwerk zu legitimieren, vgl. JULIUS 2002, S. 20, S. 26f., S. 30. Eine genauere Beschreibung sowie eine kunsthistorische Verortung einer solchen Argumentation findet sich auf S. 32-36. 139 Vgl. BATAILLE, Georges (1961): Die Tränen des Eros, hrsg. und übers. von Gerd Bergfleth, mit einer Einleitung von Lo Duca & unveröffentlichten Briefen Batailles, 3. Aufl., Berlin 2005. Arenas bedient sich ebenfalls eines Bataill’schen Vokabulars zur Beschreibung von Serranos Arbeiten: „A strange encounter between these two opposing attitudes–taboo and celebration–happens in many of Serrano’s more recent works. […]If his pictures are terrifying, it is because Serrano returns us to old Christian subjects at a time when the theological structure that once held their meaning in place has long since vanished. He reminds us that something deeper than theology and older than Christianity lived in those symbols.“, ARENAS 1995, o. S. Insbesondere die Verehrung von Körperreliquien verdeutlicht die Verbindung christlichen Brauchtums zu vorchristlichem Kult, in dem die Verehrung des toten Körpers und der Gräber praktiziert wurde, während dies im frühen Christentum kein Brauch ist, vgl. ANGENENDT 2010, S. 26.

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gresses against‘ a person, offending in some very serious manner. Transgression here […] becomes a kind of assault, although not necessarily a physiscal one – an insult, perhaps, or a provocation.“140 Im Kontext der 1980er Jahre bedeutete die staatliche Förderung durch den National Endowment for the Arts, dass der Staat selbst zum Mittäter wurde und damit potentiell jeder Steuerzahler.141 Die beschriebenen, von verschiedenen Betrachtern ausgehenden ikonoklastischen Gesten wären in diesem Sinne als Versuch zu lesen, eine derartige Mittäterschaft zu verweigern und, über den Affront der Profanierung des heiligen Symbols hinaus, das zerstörerische Potential der verdrehten ästhetischen Erfahrung, welche die Schutzmechanismen der eigenen Wahrnehmung umgangen hat, nach außen umzuleiten und so erneut auszugrenzen. Inhaltlich wird der Status des Heiligen demnach über das Verhältnis dreier Körper konturiert, ausgelotet, umschrieben und analogisiert: Das Symbol des heiligen Körpers, der Körper des Künstlers und der betrachtende Körper. In dieser Konstellation findet sich eine Tendenz zur Verortung des Heiligen im Profanen. Über die Bildstruktur von Piss Christ vereint Serrano die eingangs von Julius angesprochenen vier Subformen der Transgression, indem er die normativen Darstellungstraditionen des Christentums zwar repetiert, jedoch letztlich in Frage stellt, religiöse Gefühle verprellt, den Betrachter zum Mittäter werden lässt und schließlich über die Zusammenführung verschiedener Körper im Bild sowie die visuell glorifizierende Aufladung des Urins physische und konzeptuelle Grenzen auf den Kopf stellt. Die vielfältigen, oft konträren Interpretationen und Reaktionen, die an Piss Christ herangetragen werden, verdeutlichen die dem Kunstwerk zukommende Rolle als kontroverser Denkfigur, welche die Frage nach den Darstellungsmöglichkeiten des Heiligen im fotografischen Medium stellt.

140 JULIUS 2002, S. 18. 141 Vgl. JULIUS 2002, S. 25.

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3.3 U NSCHÄRFE ALS D ARSTELLUNGSMODUS DES H EILIGEN „Ist das unscharfe [Bild] nicht oft gerade das, was wir brauchen?“142 LUDWIG WITTGENSTEIN

In der Zusammenfassung der fotografischen Mittel wurde die Unschärfe als zentrales Moment von Unbestimmtheit in Piss Christ dargelegt. Nennt Otto als letzte Kategorie zur Darstellung des Heiligen in der Kunst „das Leere und das weite Leere“143, so klingen darin auch die Worte des Kunsttheoretikers Robert de la Sizeranne mit, „das Unbestimmte“ sei „der Weg zum Unendlichen“144. Im Folgenden wird anhand von Piss Christ untersucht, inwiefern in Anlehnung an Ottos Kategorie des unbestimmten ‚Leeren‘ die Kategorie der Unschärfe eine genauere Bestimmung für Möglichkeiten der Verhandlung des Heiligen in fotografischen Bildern darstellt. Unschärfe wird als Kategorie in den letzten Jahren erneut zunehmend in Bezug auf die Fotografie diskutiert. Dabei lassen sich verschiedene Facetten der Unschärfe unterscheiden. In Die Geschichte der Unschärfe legt Wolfgang Ullrich dar, dass der Begriff der Unschärfe eng an das fotografische Bild geknüpft ist.145 Erst durch das mit dem Aufkommen der Fotografie entstehende Paradigma der visuellen Schärfe und Genauigkeit, kann sich im Gegensatz dazu die Unschärfe als stilistisches Element etablieren.146 Unter dem Begriff der Unschärfe fasst Ullrich verschiedenste Effekte der Konturauflösung, von Weichzeichnung über Grobkörnigkeit bis hin zur Überbelichtung und Verblassen.147 Lange Zeit Stilmittel des Piktorialismus, diente Unschärfe in der Frühzeit der Fotografie als

142 WITTGENSTEIN, Ludwig (1958): Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1971, S. 50. 143 OTTO 2014, S. 89. 144 De la Sizeranne zitiert nach ULLRICH 2009, S. 53. 145 Vgl. ULLRICH 2009, S. 35. 146 Ullrich verweist darauf, dass Unschärfe „lediglich einen Typus innerhalb einer ganzen Gattung von Bildern, auf denen einzelne Gegenstände nicht durch klare Konturen voneinander abgegrenzt sind und bei denen der Gesamteindruck wichtiger ist als die Wiedergabe von Details“ darstellt. Für die Fotografie scheinen diese Prozesse unter dem technisch geprägten Begriffspaar scharf-unscharf besonders greifbar. Vgl. ULLRICH 2009, S. 35-37. 147 Vgl. ULLRICH 2009, S. 7.

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Beweis für die künstlerischen Möglichkeiten des Mediums oder wurde dem Paradigma der Schärfe als Bildfehler gegenübergestellt.148 Dem gegenläufig beschreibt Bernd Hüppauf eine neue Funktion der Unschärfe in der Fotografie der letzten 30 Jahre: „Die Gegenwart […] stellt die Frage mit welchen Mitteln Bilder eine Wirklichkeit erzeugen. Eine Antwort liegt in der Unschärfe. Sie schafft einen unterdeterminierten Raum, aus dem der fragende und suchende Blick des Betrachters einen Aktionsraum macht, der es dem Bild ermöglicht, aktiv zu werden und im Austausch mit dem Betrachter eine Welt entstehen zu lassen, die auf der Bildoberfläche nicht abgebildet ist.“149

Unschärfe erscheint demnach als leerstellenartige Öffnung des Bildes, die sich an den Betrachter richtet.150 Als Grundfigur der neuen Unschärfe sieht Hüppauf Gerhard Richter, der mit seinen unscharfen Gemälden nach Fotografien und Fotografien nach Gemälden Unschärfe zu einem seiner Hauptgestaltungsmittel machte.151 Zugleich wird an dieser Konstellation ablesbar, dass Richter neben der visuellen Unschärfe mediale Übertragungsprozesse zwischen Fotografie und Malerei auslotet. Ausstellung und Buch Unschärferelation. Fotografie als Dimension der Malerei widmet sich unter Bezugnahme auf den Begriff der Unschärfe eben jenen Tendenzen in der aktuellen Fotografie, in denen mediale Strategien von Malerei und Fotografie zu verlaufen beginnen, die Trennung zwischen den Medien demnach unscharf wird – oft auch ohne visuelle Unschärfe. 148 Vgl. ULLRICH 2009, S. 24-38. 149 HÜPPAUF, Bernd: Eine neue Unschärfe, in: GASSNER, Hubertus, KOEP, Daniel (Hg.): Unscharf. Nach Gerhard Richter (ersch. anl. d. gleichn. Ausst., Hamburger Kunsthalle, Hamburg, 2011), Ostfildern 2011, S. 34-49, S. 34. 150 Der Begriff der Leerstelle geht auf den polnischen Philosophen Roman Ingarden zurück. Ingarden verweist auf die Differenz zwischen dem materiellen Träger des Kunstwerks und dessen Erleben durch den Rezipienten, vgl. INGARDEN, Roman (1930): Das literarische Kunstwerk, 3. Aufl., Tübingen 1965. Leerstellen im Bild animieren den Betracher, selbiges durch „subjektive Konkretisation“ zu ergänzen, er „füllt auf, projiziert, imaginiert.“, HUBER, Hans Dieter: Leerstelle, Unschärfe und Medium, in: FÖRSTER, Gunda: Noise, Berlin 2001, S.19-35, S. 20f. und 24. Das Kunstwerk wird dergestalt erst in der Betrachtung durch den Rezipienten vollendet. Das Konzept der Leerstelle wurde in den 1980er Jahren von Wolfgang Kemp auf die bildende Kunst übertragen, vgl. KEMP, Wolfgang (Hg.): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Neuausg., erw. und bibliogr. auf den neuesten Stand gebracht, Berlin, Hamburg 1992. 151 Vgl. HÜPPAUF 2011, S. 44.

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Zu nennen sind beispielsweise Joachim Brohm, Thomas Demand, Andreas Gursky und andere.152 In Bezug auf Piss Christ und die Thematisierung verschiedener Aspekte des Heiligen lässt sich der Begriff der Unschärfe dreifach ausdifferenzieren: • • •

Mediale Unschärfe im Sinne eines medialen Rauschens Unschärfe des Mediums Fotografie Visuelle Unschärfe, das heißt unscharfe Stellen im Bild

3.3.1 Intermediale Unschärfe. Piss Christ zwischen Kohärenz und Erneuerung Wie bereits in der Analyse verdeutlicht wurde, lässt sich Piss Christ - sowie die anderen Bilder der Serie Immersions – stilistisch sowohl innerhalb malerischer, skulpturaler wie fotografischer Traditionen verorten und rekurriert zudem auf die Bildsprache der Werbung.153 Die Vermischung und das Ineinanderfließen verschiedener visueller Traditionen werden hier begrifflich als mediale Unschärfe gefasst. Dieser medialen Unschärfe kommen bei Piss Christ verschiedene Funktionen zu. So kann sie als affirmative Bedeutungssteigerung, das heißt nach Smith als Sakralisierung von Sujet, Künstler und Medium gesehen werden (vgl. Kapitel 2.1.2). Die einzelnen Elemente sind dabei eng miteinander verwoben und bestätigen beziehungsweise bedingen gegenseitig ihren Status, indem sie sich zwischen den Polen Kohärenz und Erneuerung bewegen. Durch den Rückgriff auf ikonografische Vorlagen, wie der Darstellung des Kruzifixus in der Malerei und der Skulptur, wird das Sujet klar umrissen. Durch den Einsatz von malerischen Sakralisierungsstrategien stellt Serrano selbiges in eine lange Tradition der bildlichen Darstellung und legitimiert die Wahl des Sujets als Bildthema in einer Zeit, in der die Malerei selbst ihre vormoderne Funktion der figurativen Darstellung geistiger Vorstellungen aus der Religion zum Großteil aufgegeben hat. Über die Reduktion des Hintergrunds auf eine fast monochrome Fläche, die in Serien wie Fluid Abstractions ihre Vorläufer findet, integriert er zudem Stra-

152 Vgl. BERG, Stephan, HIRNER, René, SCHULZ, Bernd (Hg.): Unschärferelation. Fotografie als Dimension der Malerei (ersch. anl. d. gleichn. Ausst., Kunstverein Freiburg im Marienbad, Freiburg; Kunstmuseum Heidenheim, Heidenheim; Stadtgalerie Saarbrücken in der Stiftung Saarländischer Kulturbesitz, Saarbrücken, 1999/2000), Ostfildern-Ruit 2000. 153 Vgl. DECTER 1990, S. 8.

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tegien der abstrakten Malerei, wie etwa Barnett Newmans Versuche, auf das Erhabene zu rekurrieren, das, wie oben ausgeführt, nach Otto einen zentralen sakralen Marker des Heiligen darstellt.154 Zugleich findet durch die Realisierung des Sujets im fotografischen Medium und durch den Anschluss an fotografische Bildtraditionen eine Aktualisierung des Themas statt, die einen Bruch mit der Anlehnung an traditionelle Bildmuster bedeutet. Die Fotografie als Medium hat keine kirchlich-institutionell gebundene Tradition der Visualisierung von Heiligkeit, vielmehr ist sie das Medium des säkularen Zeitalters, dessen Hauptbetätigungsfelder durch die Abbildung des Gegenständlichen, Weltlichen und damit Profanen geprägt sind. Durch die Einbindung der Körperflüssigkeiten über den Titel visualisiert Serrano eine Berührung des Heiligen (beziehungsweise seines Symbols) mit dem Körperlichen, die diese Annäherung an das Profane auf der Ebene des Sujets wiederholt, wie im Abschnitt zum heiligen Körper herausgestellt wurde. Dabei profitiert das Thema in Hinsicht auf seine Aktualisierung von der „im Verhältnis zur Malerei zeitgemäßer erscheinenden apparativen medialen Praxis“155 der Fotografie, die gemeinsam mit anderen technisierten Medien die Sicht auf die Welt heute maßgeblich prägt. Insbesondere in den 1980er Jahren findet sich christliche Symbolik, wie in der Einleitung expliziert, nicht nur in der Kunst, sondern vermehrt auch in technisierten massenmedialen Bildern und Artefakten der Populärkultur.156 Über das mediale Rauschen verbindet Serrano somit in Bezug auf das Sujet Elemente der Kohärenz und der Erneuerung, die es zugleich legitimieren und aktualisieren. Ähnlich sakralisierende Tendenzen lassen sich für den Künstler feststellen: Durch den oben offengelegten stilistischen Anschluss an große Meister der Malerei religiöser Themen, wie etwa Zurbarán, verortet sich Serrano innerhalb einer Tradition und verifiziert und steigert seine eigene Stellung als Künstler; durch die Verwendung eines neueren Mediums und den Versuch, neue ikonografische Akzente zu setzen, weicht er zugleich davon ab, um Neues zu schaffen und auf diese Weise seine kreative Kompetenz und seinen zeitgenössischen Ansatz zu verdeutlichen.157

154 „In fact, I was trying to mimic painting, abstract painting, action painting.“, Serrano zitiert in: WUTHNOW 2001, S. 171; zu Barnett Newman siehe zudem RAUH 2010, S. 161-196. 155 BERG, HIRNER, SCHULZ 2000, S. 6. 156 Vgl. BÖHM 2011, S. 103; sowie LIPPARD 1990, S. 239. 157 Zur grundsätzlichen Konstellation vgl. RUBIO 2006, S. 181. Nach Anthony Julius handelt es sich um eine Verteidigung, die das Kunstwerk durch dessen Eingliederung in den Kanon der Kunst vor Angriffen schützen soll, vgl. JULIUS 2002, S. 27f.

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Das Medium Fotografie wird durch die Darstellung des Heiligen den traditionelleren Medien Malerei und Skulptur gleichgestellt. Das kann als Anspielung auf den jahrelangen Streit um den Kunstwert der Fotografie verstanden werden.158 Insbesondere seit den 1970er Jahren sind jedoch die Voraussetzungen für einen gleichberechtigten Austausch zwischen den Medien gegeben, spätestens in den 1980er Jahren zeigte sich die Diskussion um den Kunstwert der Fotografie im Grunde als obsolet. Das fotografische Bild musste seine Gleichwertigkeit mit der Malerei nicht mehr beweisen;159 indem es malerische Mittel nutzt und eine Skulptur darstellt, integriert es vielmehr die anderen Medien und betont – sakralisiert – so die eigenständige mediale Relevanz. Dabei ist es weniger die wirklichkeitsabbildende Eigenschaft fotografischer Bilder, die hervorgehoben wird. Zwar gibt es in den 1990er Jahren mit Fotografien von Larry Clark, Nan Goldin etc. eine Tendenz, die den wirklichkeitsnahen Charakter fotografischer Bilder erneut betont, zugleich treten jedoch zunehmend Bilder auf, die Gemälde und Stilrichtungen explizit oder implizit zitieren oder verschiedene malerische und fotografische Ebenen absichtlich vermischen.160 Wie Stephan Berg hervorhebt, führt eine solche „Verschmelzung zweier unterschiedlicher medialer Horizonte mit einer unterschiedlichen Geschichte […] zu Bildern, die an der Sehnsucht nach dem Original ebenso partizipieren wie an der Realität technischer Reproduzierbarkeit“.161 Der Fokus wird dadurch verstärkt auf eben jene Ambivalenz des fotografischen Bildes zwischen kreativem Prozess der Bildfindung und abbildender Funktion gelegt. Dies stelle eine Haltung dar,

158 Im fotografischen Piktorialismus um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde die Gleichwertigkeit des Mediums Fotografie mit der Malerei in Hinblick auf die Inszenierung symbolischer Bilderwelten über Vielfachbelichtungen, besondere Druckverfahren, oft nachträglich eingefügte Kolorierung und ästhetische Mittel – wie beispielsweise Unschärfe – betont, vgl. ULLRICH 2009, S. 24-38. 159 Siehe hierzu auch HÜPPAUF 2011, S. 34. 160 Dies gilt auch für die Appropriation Art der 1980er Jahre, vgl. GRAEVENITZ, Antje von: The Gap between the Art of the Seventies and that of the Eighties – Reality or Myth?, in: Ausst.Kat.: Origins Originality + Beyond. The Biennale of Sydney, Art Gallery of New South Wales, Sydney, 1986, S. 32-35, S. 34f. 161 BERG, Stephan: Zur Einführung, in: BERG, Stephan, HIRNER, René, SCHULZ, Bernd (Hg.): Unschärferelation. Fotografie als Dimension der Malerei (ersch. anl. d. gleichn. Ausst., Kunstverein Freiburg im Marienbad, Freiburg; Kunstmuseum Heidenheim, Heidenheim; Stadtgalerie Saarbrücken in der Stiftung Saarländischer Kulturbesitz, Saarbrücken, 1999/2000), Ostfildern-Ruit 2000, S. 8-11, S. 10.

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„die das Medium dazu benützt, um es mit seinen eigenen Mitteln zu etwas zu transformieren, in dem keine eindeutige Klärung des Bild- und Realitätsstatus des Gezeigten mehr möglich ist. Fotografie, so scheint es, hat nicht nur ihre wirklichkeitsmanipulierenden Aspekte erkannt und akzeptiert, sondern stellt die Vorführung und Kenntlichmachung ihres illusionären Potentials offensiv in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen. […] Die Methode der Konstruktion erzeugt dabei eben nicht Bilder, die ausschließlich von ihrer Konstruiertheit reden, sondern ein seltsam schillerndes Equilibrium aus verführerischem, sugges162

tiv entwickeltem Bildzauber und seiner kühl analytischen Zerlegung.“

Die intermedialen Interferenzen bei Piss Christ dienen demnach dazu, jenes Oszillieren des Mediums zwischen Konstruktion und Abbildung als zentrale Reflexionskategorie fruchtbar zu machen, wie sich auch in der Analyse der Betrachter-Integration gezeigt hat. Dieser Ambivalenz des fotografischen Bildes soll im Folgenden unter dem Begriff der Unschärfe des Mediums nachgegangen werden.

3.3.2 Unschärfe des Mediums. Piss Christ zwischen Einschreibung und Konstruktion In diesem Sinne verhandelt Serrano in Piss Christ demnach als zweiten Aspekt von Unschärfe die Unschärfe des Mediums. Die auf den ersten Blick visuell bekannte Codierung und Bildlichkeit des Heiligen, seine sakrale Gestalt, erhält, wie bereits beschrieben, durch die Deutung der Flüssigkeit als Urin eine neue Wertung, es ist jedoch erst die Fokussierung auf den Herstellungsprozess, die diese Bildaussage über die postulierte ontologische Berührung von Kruzifixus und Urin vertiefend wirksam werden lässt. Das Equilibrium des beschriebenen medialen Rauschens verschiebt sich hin zur Fokussierung der fotografischen Bildeigenschaften. Wiederholt findet sich in der Literatur die Aussage, für Serrano seien weniger die technischen und mechanischen Aspekte der Fotografie wichtig, vielmehr gehe es ihm darum, die ästhetischen Möglichkeiten des Mediums in seinem Sinne zu nutzen, um sozusagen mit Licht ‚zu malen‘.163 Kokettiert Serrano mit den malerischen Qualitäten seiner Arbeit und weiß sie gezielt zu nutzen, so ist er sich doch der Essentialität des fotografischen Mediums für den Effekt von Piss Christ (und seiner Bilder allgemein) deutlich bewusst:

162 BERG 2000, S. 8. 163 Vgl. LIPPARD 1990, S. 242. Siehe auch: WATNEY 1993, S. 119.

174 | U NSCHARFE S PUREN ? – T EIL II: E INZELANALYSEN „My work would not have the type of power it does if it were painting. […] When people are confronted with an image that has a reality which they can relate to – like a monochrome of blood, a cum shot, or a piss picture- it's harder to walk away from it and not react to it. Even in its most abstract form, it still has a credibility that goes beyond abstraction.“164

Serrano versteht das in den Fotografien liegende Realitätsversprechen demnach als Auslöser beziehungsweise Verstärker für die Reaktion des Betrachters und setzt die medialen Eigenschaften fotografischer Bilder methodisch als Stilmittel ein. Auch das konsequente Arbeiten mit analogen Fotografien, wie bei Piss Christ, mag darauf zurückzuführen sein.165 Wie sich in dem Wechsel der inhaltlichen Zuschreibung der Flüssigkeit über den Bildtitel zeigt, sagt das fotografische Bild eigentlich nichts über selbige aus, außer, dass sie im Bild dargestellt ist. Ob der Herstellungsprozess tatsächlich Urin involviert, wird dem Betrachter vorenthalten. Diese Konstellation reflektiert gewissermaßen die Ausführungen zur indexikalischen Einschreibung in Kapitel 2.2.2: Nach Roland Barthes ist der Moment, in dem sich das Objekt vor der Kamera auf die lichtempfindliche Fläche einprägt, ein Moment reiner Einschreibung ohne kulturelle Codierung, es handelt sich um eine „Botschaft ohne Code“166, die, wie Dubois betont, eben nichts über das Gezeigte aussagt, außer, dass es da war.167 Serrano reduziert demnach das fotografische Medium keineswegs auf den ihm zugeschriebenen Realitätsbezug. Vielmehr sind es spezifisch das Ineinandergreifen und die Wechselwirkungen von Konstruktion und Realität innerhalb des Mediums, die er auslotet, wie Bruce Ferguson schreibt: „When Serrano repeats, as he often does, that photography for him is really ‘painting,’ he is more aware of the photographic process as a rhetorical device than many artists […] So, Serrano’s deliberate use of the scale and lush color of painting is perhaps less radical than his understanding that photographs, even realist ones, are constructions.“168

Diese dezidierte Herangehensweise an das fotografische Medium ist grundlegend für das Verständnis von Piss Christ, da sie die Differenz zwischen der Fotografie als Zeichen und der Bedeutung, die an dieses Zeichen gekoppelt ist, und 164 DECTER 1990, S. 7f. 165 Serrano erstellt nach eigenen Angaben nur analoge Bilder ohne digitale Nachbearbeitung, vgl. AULT 2004, o. S. 166 BARTHES 2006, S. 142. 167 Vgl. DUBOIS 1998, S. 55f. 168 FERGUSON 1995, o. S.

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damit die Unschärfe des Mediums, verdeutlicht und als bewusste Strategie offen legt.169 Dass Serrano sich hier sowohl der dokumentarischen Bildtradition als auch der sich seit den 1970er Jahren neu entwickelnden breitgefächerten Kategorie fabrizierter oder inszenierter Bilder deutlich bewusst ist, ist evident.170 Fotografische Bilder dieser Art offenbaren, dass die Zuschreibung von Bedeutung stark von den Wahrnehmungs- und Deutungsmustern des Betrachters abhängt und eng an das Medienverständnis des Betrachters gekoppelt ist. Bernd Hüppauf konstatiert „dass der Betrachter konstitutiv keine Erklärungen oder Thesen entwickelt, die unabhängig von dem technischen Prozess wären, durch den er Zusammenhänge und Thesen erzeugt.“171 Als religiöses und damit gegebenenfalls stark emotional aufgeladenes Symbol dient das Heilige in diesem Sinne als verstärkender oder auslösender Reiz der Reaktion des Betrachters.172 Es findet eine Form des Sakraltransfers statt, bei der über den Rekurs auf ein heiliges Symbol Aufmerksamkeit auf ein kulturelles Objekt, das fotografische Bild, transferiert wird: Das Kreuz als traditioneller sakraler Marker des Heiligen wird hier mit seiner Darstellungstradition zum Sujet, über das der Blick auf den Status des fotografischen Bildes sowie die Rolle des Betrachters gelenkt wird. Über die Integration des christlichen Symbols erfolgt in Piss Christ eine Parallelisierung oder indirekte Kommentierung des fotografischen Prozesses, beziehungsweise eines fotografisch-realistischen Medienverständnisses wie es in Kapitel 2.2.2 ausgeführt wurde. Nach Eliade kann sich auch das Heilige manifestieren (vgl. Kapitel 2.1.2); in der christlichen Religion liefert die Bildwerdung Gottes in der Figur des Sohnes mittels Inkarnation die vorgelagerte Legitimation für die Möglichkeit der Abbildung Christi im Bild, sei es repräsentierendes Abbild oder Abbild über Berührung. Beispiele der letzteren Kategorie, der acheiropoieta, sind etwa das Tuch der Veronica, welches der Legende nach den Abdruck des Gesichtes Christi zeigt, sowie als Folgevariante das Turiner Grabtuch, dessen enge Verflechtung zur Fotografie in Kapitel 2.2.2 näher beschrieben

169 „The camera lies, it also tells the truth: that's the beautiful contradiction.“, Serrano in WATNEY 1993, S. 120. 170 Serrano beschreibt seine fotografischen Arbeiten nicht als dokumentarisch, sondern als „visual record of a fabricated reality“, zitiert nach DECTER 1990, S. 9. Zur Konturierung des Begriffs der inszenierten Fotografie vgl. WALTER, Christine: Bilder erzählen! Positionen inszenierter Fotografie: Eleen Cowin, Jeff Wall, Cindy Sherman, Anna Gaskell, Sharon Lockhart, Tracey Moffatt, Sam Taylor-Wood (Diss. München 2001), Weimar 2002. 171 HÜPPAUF 2011, S. 39. 172 Vgl. Kapitel 3.2.

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wurde.173 In der Darstellung des Gekreuzigten in Piss Christ wird zwar nicht direkt, jedoch dafür in einem zweiten Schritt über den Rekurs auf Urin umso vehementer ein unmittelbarer Realitätsbezug generiert. Dieser beruht nicht auf einem Realismusbegriff, der die Abbildungsleistung der Fotografie in den Vordergrund stellt, vielmehr wird der Herstellungsprozess und damit die indexikalische Verbindung zwischen Realität und Abbild in den Blick genommen.174 Kann der Urin in Piss Christ als Bezug zur schmerzhaften Absonderung von Körperflüssigkeiten während der Kreuzigung verstanden werden (vgl. Abschnitt zum heiligen Körper in 3.2), so ergibt sich eine metaphorische Parallele in der Bildentstehung von Piss Christ und der Veronika Legende: Wird bei Piss Christ Körperflüssigkeit in den Produktionsprozess integriert, so ist es bei Veronika ebenfalls Körperflüssigkeit, namentlich Schweiß, welche zu der Bildentstehung per Abdruck beiträgt. Das Eintauchen der Christusskulptur in Flüssigkeit reproduziert zudem den Prozess der fotografischen Bildentwicklung, bei dem das latente Bild in Entwickler- und Fixierbäder getaucht wird und erst so Form annimmt. Piss Christ knüpft so an eine historische medientheoretische Korrelation an: Stehen die acheiropoieta für eine Selbsteinschreibung des Heiligen als „ganz andere[r]“175 Realität über Berührung, so tritt die Fotografie als Medium die Bildfolge der acheiropoieta an, wenn im 19. Jahrhundert postuliert wird, die Natur, das heißt die diesseitige Realität, schreibe sich ohne Zutun von Menschenhand selbst in die fotografischen Platten.176 Diese Parallele verstärkt in einer Doppelbewegung sowohl den Wahrhaftigkeitscharakter als auch das ‚magische Moment‘ fotografischer Bilder. So sieht Bazin in der Fotografie, wie in Kapitel 2.2.2 ausgeführt, die „vollkommene Befriedigung unseres Hungers nach Illusion durch einen mechanischen Reproduktionsprozeß“177 verwirklicht. Das fotografische Bild tritt gewissermaßen an die Stelle der wahren Bilder des Heiligen und befriedigt auf diesem Wege sowohl das Glaubensbedürfnis des Menschen in der profanen Sphäre als auch das von Bazin beschriebene Realismusbedürfnis, welches den Wunsch darstellt, den Menschen über sein eigenes Abbild zu retten und aus der Zeit herauszunehmen.178 Im Kontext eines semiotischen Diskurses, der das fotografische Bild selbst als dechiffrierbare Codierung und Zuschreibung 173 Vgl. Kapitel 2.2.2. Siehe zudem BELTING 2006, S. 73 sowie BREDEKAMP 2010, S. 173-191. 174 Zur Aufarbeitung dieser Differenz in der Fotografietheorie vgl. Kapitel 2.2.2; und KEMP 2006b, S. 58. 175 OTTO 2014, S. 28ff. 176 Vgl. TALBOT 2006. 177 BAZIN 1975, S. 23. 178 Vgl. BAZIN 1975, S. 21-23.

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entlarvt,179 legt Serrano mit Piss Christ den Finger auf eben jene Konstellation, indem er über den Titel und die damit einhergehende Fokussierung auf den Herstellungsprozess des Bildes die Illusion fotografischer Realität offen legt und so zugleich auf das Realismusbedürfnis und das mitunter magischem Denken ähnliche Verhalten in der Rezeption fotografischer Bilder verweist. Über die intermediale Unschärfe und die Unschärfe des Mediums entlarvt Serrano dergestalt „den Schein der Wirklichkeit und die Wirklichkeit des Scheins“.180 Denkt man die Parallelisierung religiösen Glaubens mit dem Glauben an fotografische Bilder weiter, verdeutlicht sich die offene Struktur, die sowohl dem Heiligen wie der Fotografie als Medium innewohnt. Die Rückführung auf die Wahrnehmungsmuster des Betrachters in Bezug auf fotografische Bilder kann als Verweis darauf gelesen werden, dass Glauben stets in der individuellen inhaltlichen Interpretation verankert ist und in gewissem Sinne irrational bleiben muss, wie nach Otto das Heilige nur individuell erfahrbar ist und sich der Erkenntnis zugleich grundlegend entzieht.181 Indem Piss Christ um den ontologischen Status des fotografischen Bildes kreist und dem Bedürfnis des Betrachters nach Identität von Bild und Abbild182 nachspürt, gelingt es Serrano, das Potential des fotografischen Bildes, als Ausgangspunkt individueller Konkretionen persönlicher Überzeugungen dienen zu können, im Bild zu visualisieren, was sich insbesondere in der visuellen Unschärfe zeigt.

3.3.3 Visuelle Unschärfe. Formauflösung als Darstellung des Undarstellbaren Wie in der Analyse dargelegt, finden sich als dritte Form der Unschärfe wiederholt Stellen visueller Unschärfe in Piss Christ, so etwa der undefinierte Bildgrund und die verschwommenen Konturen des Kreuzes und der Figur, die einen Übergang von scharf zu unscharf einschließen. Auch die in Kapitel 2.2.3 beschriebenen fotografischen Strategien der Sichtbarmachung des Unsichtbaren um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert rekurrierten auf visuelle Unschärfe.183 Diente diese im Falle des Piktorialismus als Annäherung der Fotografie an

179 Vgl. BARTHES 2006. 180 BERG 2000, S. 9. 181 Vgl. Abschnitt zu Otto in Kapitel 2.1.2. 182 Bazin beschreibt es als „geistiges, an sich nicht ästhetisches Bedürfnis, das nur dem magischen Denken entspringen kann“, BAZIN 1975, S. 23. 183 Siehe ebenfalls ULLRICH 2009, S. 49f.

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die Malerei, so figuriert sie bei den spiritistischen Fotografien als dokumentarischer Marker des Transzendenten, mittels dessen die Existenz einer übersinnlichen Welt bewiesen werden sollte. Mit dem wachsenden Bewusstsein für das manipulierende Potential fotografischer Bilder ändert sich diese Funktion, wie Bernd Hüppauf hervorhebt: „Die Krise der Repräsentation schafft Bedingungen, die der Unschärfe eine neue und kompensatorische Bedeutung verleihen. Sie macht den Versuch, dem Bild wieder Bedeutung und eine Herausforderung zu geben, und sie verlegt die Frage der Wahrheit in gesellschaftliche Absprachen. Die neue Unschärfe ist ein Scheitern oder wohl zutreffender: die Reaktion auf das Scheitern des Bildes als Dokument. Dieses Scheitern ist produktiv.“184

Indem die bei Piss Christ zum Einsatz kommende Unschärfe nicht dokumentarisch, im Sinne eines Nachweises des Heiligen, sondern interpretatorisch angelegt ist, differiert sie fundamental von der Unschärfe spiritistischer Tendenzen und erlaubt die produktive Auseinandersetzung mit dem Bild.185 Das visuell unscharfe Zeichenelement stellt eine Leer- oder Unbestimmtheitsstelle dar, die es gedanklich zu konkretisieren gilt.186 Sie integriert somit den Betrachter über eine interpretatorische Öffnung aktiv ins Bild.187 Bei der Analyse des ikonischen Potentials fotografischer Bilder gilt es demzufolge nicht nur das mimetisch referenzierte Objekt, sondern auch und gerade die Spalten und Risse oder eben jene „durch Unschärfe produziert[e] Abwesenheit“188 eindeutiger Identifikation in den Blick zu nehmen. In seiner Analyse zu Formen der Sakralisierung über Aufmerksamkeitssteigerung verdeutlicht Jonathan Z. Smith in Referenz auf Lévi-Strauss das Bedeutungspotential des mana, einer Form von religiöser Macht der Völker Polynesiens, welche die Heiligkeit von Objekten und Personen steigere, indem es ihnen Bedeutsamkeit zuschreibe: Das mana repräsentiere, „with precision, floating or undecided signification. […]. It signals significance without contributing signification.“189 Es fungiert dementsprechen als sakralisierender Marker. Visuell un184 HÜPPAUF 2011, S. 44. 185 Formen von visueller Unbestimmtheit, sei es als Sfumato oder Verwischungseffekt, sind, wie oben beschrieben, nicht neu und können in der Malerei durchaus als ästhetischer Verweis auf Andersweltliches oder Übersinnliches dienen, woran sich in diesem Sinne auch die Fotografie anschließt, vgl. ULLRICH 2009, S. 61. 186 Vgl. Einleitung zu diesem Abschnitt. 187 In Rückbezug auf KEMP 1992. 188 HÜPPAUF 2011, S. 44. 189 SMITH 1987, S. 106-108.

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scharfe Zeichen im analogen fotografischen Bild nehmen eine ähnliche Funktion ein, indem sie über den indexikalischen Bezug die vergangene Präsenz von Etwas vor der Kamera implizieren und damit einen Akt von Bedeutungszuschreibung vollziehen, ohne jedoch weitere Aussagen über die Bedeutung des Gezeigten zu treffen.190 Trifft dies im Grunde auch für fotografische Bilder zu, die Objekte scharf konturieren, so wird in Bildern, in denen die mimetisch-ikonische Zeichenhaftigkeit zusätzlich zurücktritt, außerdem die Möglichkeit zur Codierung und Dechiffrierung des Zeichens in den Prozessen vor und nach dem Moment der Bildentstehung minimiert. In einer paradoxen Parallelität entfaltet das unscharfe fotografische Zeichen eine Funktion ähnlich der des mana, indem es auf potentielle Bedeutung verweist, diese jedoch nicht aufklärt und somit als sakralisierender Marker eingesetzt werden kann. Nichtsdestotrotz legt Serrano über die visuell unscharfen Stellen in Piss Christ Interpretationsmöglichkeiten an. So erscheint, wie in der Analyse herausgearbeitet, der Übergang von scharf gezeichnetem Kreuzbalken auf der vom Betrachter aus linken Bildseite zu den sich immer weiter auflösenden Konturen der rechten Bildseite als Versinnbildlichung der Dualität der Natur Christi in Körperlichem und Geistigem. Zugleich ist die Unschärfe und die verstärkte Auflösung der Körperkonturen ein Rückgriff auf Nah-Tod Darstellungen, zu denen auch helles Licht zählt.191 In diesem Sinne wird hier nicht nur der Gekreuzigte, sondern der Moment des physischen Todes seines Körpers erfasst. Genauer: Ist der Moment des Todes schwerlich in all seinen Facetten visualisierbar, so versucht Serrano doch das Prozesshafte und Grenzüberschreitende dieser Transformation hervorzuheben.192 Da die Blickrichtung mit dem bereits angesprochenen Übergang von scharf zu unscharf in eins fällt, scheint sich in der Blickachse der Prozess einer Transzendierung, eines Übergangs von konkreter physischer Materie zu geistiger Transzendenz und Andersweltlichkeit zu vollziehen. Insbesonde190 Vgl. DUBOIS 1998, S. 55f. Wie Dubois formuliert, „bestätigt [das Index-Foto] in unseren Augen die Existenz dessen, was es repräsentiert […], aber es sagt uns nichts über den Sinn dieser Bedeutung. Der Referent wird im Foto als eine empirische oder, wenn man so sagen kann, unbeschriebene Realität gesetzt. Seine Bedeutung bleibt rätselhaft für uns“. 191 Vgl. BAL, Mieke: How Emma Died: Figuring Death, Figuring Knowledge, Internationales Kolleg Morphomata, Köln, Vortrag vom 09.10.2012. 192 Zu Möglichkeiten und Grenzen der Darstellbarkeit des Todes vgl. BAL 2012. Der Vortrag besprach den Film Madame B, R.: Mieke Bal, Michelle Williams Gamaker, Niederlande 2013 (in Prod.), 96 Min, in dem sich ebenfalls Unschärfen finden, wenn die Konturen der umstehenden Figuren verschwimmen, um aus der Perspektive der Sterbenden den Prozess des Sterbens zu visualisieren.

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re der diffuse Hintergrund verweigert eine genauere Identifizierung oder Verortung des Raumes in einer naturalistischen Lebenswelt. Es findet ein Bruch der Verbindung des Mediums Fotografie zu dem von ihm Abgebildeten statt – das Medium agiert hier nicht im Sinne des Pencils of Nature sondern öffnet vielmehr einen metaphorischen Bildraum, der es erlaubt, das Heilige im Fotografischen zu reflektieren. Sind, wie bereits in der Analyse verdeutlicht wurde, nach Otto einige der Hauptdarstellungsmittel des Heiligen in der Kunst das Schweigen, das Dunkel und das Leere, so zeichnen sich alle drei Kategorien durch Unbestimmtheit aus und spiegeln sich in der Kategorie der visuellen Unschärfe. Doch was bedeutet es, wenn die Möglichkeit der Visualisierung des Heiligen eben in der Unschärfe und Uneindeutigkeit verortet scheint? „In einer Reflexion zum Bild fragt Wittgenstein einmal, was Unschärfe eigentlich sei. Seine Antwort besteht in einer Umkehrung, in der Negation des gewöhnlich negativen Urteils. Das unscharfe Bild sei nicht als ein misslungenes scharfes Bild zu verstehen, nicht aus der Abwesenheit von Schärfe, also nicht als Mangel. Seine Negation der Negation weist auf ein eigenes ‚Recht‘ des unscharfen Bildes hin. […] In ihrer Unschärfe zeigt sich das, was sich der bewussten Selektion entzieht, nicht ausgesprochen werden kann.“193

Medial ist die neue Unschärfe demnach eine Öffnung bis hin zur Negation der indexikalischen Qualitäten der Fotografie und als solche fungiert sie als „Verweis auf die mediale Fabrikation von Wirklichkeit durch Bilder“; in ihr lösen sich „Zugehörigkeit und Sicherheit“ auf und „die Ontologie der stabilen Bilder“ öffnet sich „für Fragen und Staunen“.194 In dieser Blicklenkung auf die Auflösung von Sicherheiten und der Fokussierung einer Qualität des NichtBestimmten, Instabilen, sich Entziehenden liegt die Funktion der visuellen Unschärfe im fotografischen Bild. Beschreibt Eliade mit dem Konzept der Hierophanie die prozessuale Schwellenüberschreitung vom Transzendenten zum Immanenten, bei der sich das Heilige in der profanen Sphäre, beispielsweise einem Stein, manifestiert195 und wurde dieser Prozess in Kapitel 2.2.2 der indexikalischen Qualität des fotografischen Bildes parallel gesetzt, so ist bei Serrano im Grunde ebenfalls eine gegenteilige Bewegung dargestellt, indem die traditionell fixierte sakrale Form des Heiligen erodiert und sich auflöst. In diesem Sinne kann die visuelle Unschärfe bei Serrano in einem seltsamen Paradoxon als Visualisierung der Undarstellbarkeit des Heiligen gelesen werden.

193 HÜPPAUF 2011, S. 40. 194 HÜPPAUF 2011, S. 40. 195 Vgl. ELIADE 1998, S. 14f. siehe zudem Abschnitt zu Eliade in Kapitel 2.1.2.

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Das Heilige ist das grundlegend ‚ganz Andere‘, sich Entziehende, das auch in seinen sakralen Formen nie ganz aufgeht, sondern stets einen transzendenten Überschuss aufweist.196 Ist jedwede Form dementsprechend für das Heilige nicht ausreichend, so scheint es logisch, gerade diese Undarstellbarkeit über die graduelle Auflösung der Form bis hin zur gänzlichen Formlosigkeit darzustellen.197 Beide Wege der visuellen Rekurrenz auf Heiliges (Formauflösung und Formloses) werden im Darstellungsmodus der fotografischen Unschärfe aufgegriffen: Unschärfe verstanden als Auflösung der Konturen durch verschiedenste Bildprozesse bedeutet einerseits, dass die Form als solche zwar zu erahnen ist, ihre Grenze jedoch zugleich als überschreitbar visualisiert wird – in diesem Sinne ist Unschärfe eine Verbildlichung des ‚Über die Form Hinausgehens‘ und damit auf den Überschuss des Heiligen zu jeder seiner sakralen Formen.198 Der Bruch der ontologischen Dimension des fotografischen Bildes öffnet es, wie oben beschrieben, für eine geistige Dimension. Zugleich ist die Auflösung der Kontur, wenn sie weiter gedacht und visuell bis hin zur Auflösung der Form weiter expliziert wird, andererseits als gänzlich Formloses zu verstehen. In Piss Christ wird durch die sich graduell verstärkende Auflösung der Konturen von links nach rechts sowohl die Form in ihrer Auflösung als auch die Auflösung der Form als Visualisierung des Formlosen, Undarstellbaren an und für sich integriert. In diesem Sinne ließen sich die formauflösenden Marker auch mit einem postmodernen Verständnis des Erhabenen, wie Lyotard sie insbesondere in der Kunst der Moderne realisiert sieht, in Verbindung setzen. Ähnlich wie das Heilige zeichnet sich der Begriff des Erhabenen durch multiple Interpretationen aus. Neben idealistischen Strömungen, die es als Visualisierung des Transzendenten interpretieren sowie romantischen Auslegungen des Erhabenen als verlorenen Ursprungs, war Immanuel Kants Bezug des Erhabenen auf die Vernunft rich196 Vgl. die synthetische Definition in Kapitel 2.1.3. Das im letzten Abschnitt behandelte ‚mediale Rauschen‘ oder Ineinanderfließen malerischer, skulpturaler und fotografischer Elemente im fotografischen Bild kann in diesem Sinne als produktives Moment gelesen werden, die grenz- und formüberschreitenden Eigenschaften des Heiligen zu visualisieren. 197 Auch Nadine Böhm fragt in ihrer Analyse zu Strategien der Sakralisierung im Kino danach, „inwieweit auf Undarstellbares, Formloses als Darstellungsmodus des Heiligen rekurriert wird oder inwieweit Formen auf ihre eigene Unzulänglichkeit und ihre engen Grenzen hinweisen.“, BÖHM 2009, S. 27. 198 Bruce Ferguson betont die Relevanz des Zusammenhangs von Form und NichtWissen für Serrano: „Serrano is deeply concerned with the relation between what is seen and what is unknown.“, FERGUSON 1995, o. S.

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tungsweisend.199 In der Postmoderne wird mit Lyotard die Ambivalenz und das Irritationspotential des Erhabenen erneut hervorgehoben; es ist hier nicht zu verstehen als das Absolute, Entzogene, sondern vielmehr als grundsätzlich widersprüchliche Struktur.200 Unter Rekurs auf Wittgensteins Sprachtheorie sieht Lyotard im Erhabenen eine amorphe Struktur des Widerstreits am Werk, es ist nun „nicht mehr Signum einer metaphysischen Sehnsucht nach Einheit, sondern spiegelt eher das Orientierungsdefizit unseres postmetaphysischen und postideologischen Zeitalters.“201 Dem entspricht ästhetisch die Auflösung der bekannten Formen in der Kunst der Moderne als Modus des Erhabenen: So gelinge es nicht mehr direkt, die „Bestimmung“ des Kunstwerks, seine „Regel“ darzustellen, vielmehr verweise es auf „etwas, das sich der Bestimmung entzieht, auf ein Unbestimmtes, Undarstellbares.“202 Sieht Lyotard in dieser Auflösung der Form die Möglichkeit zur Darstellung des Erhabenen, oder anders formuliert, verweist gerade die Auflösung der Form auf die Undarstellbarkeit, so sind auch die visuell unscharfen Zeichenelemente bei Piss Christ als Marker des Unbestimmten im fotografischen Bild in diesem Sinne zu lesen, indem sie die Bestimmung des fotografischen Bildes zur Abbildung der Wirklichkeit auflösen und das Bild in Widerstreit setzen mit dem Abgebildeten. Die Zusammenfassung von Lyotards Thesen zu den avantgardistischen Tendenzen der Moderne durch den Philosophen Martin Götz ließe sich dementsprechend auch als Beschreibung von Piss Christ ansetzen: „Die Künstler reflektieren den Zerfall des Realen, seine Zerrissenheits- und Entfremdungssymptome, wollen aber mit ihren Versuchen selbst eine solche Irritation hervorrufen. […] Mittels Auflösung des Materials, des Gegenstandes, der Formen und Farben, untergräbt [der Künstler] die Konventionen der Wahrnehmung und treibt das Werk gleichsam an die Grenzen zum Immateriellen vor, um in der Demontage der Repräsentation auf das Unrepräsentierbare zu deuten. […] Auf der Seite des Betrachters wird das sinnliche

199 Zu einer knappen Übersicht vgl. GÖTZE, Martin: Die Kunst des Unbestimmten. Lyotards Ästhetik des Erhabenen, in: Sic et Non – Forum for Philosophy and Culture, 1993, unter: http://www.cogito.de/sicetnon/artikel/kunst/lyt.htm (18.12.2014). 200 Vgl. PRIES, Christine: Der Widerstreit, das Erhabene, die Kritik. Einige Überlegungen – eine Annäherung? In: REESE-SCHÄFER, Walter, TAURECK, Bernhard H. F. (Hg.): Jean-Francois Lyotard, Cuxhafen 1989, 39-49, S. 46f. 201 Vgl. GÖTZE 1993, o. S. 202 PRIES 1989, S. 44. Ottos Beschreibung der Erfahrung des Numinosen als von gegenläufigen Parametern gekennzeichnet, zielt in eine ähnliche Richtung, vgl. Kapitel 2.1.2.

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Wohlgefallen gedämpft und der Blick auf das Fragezeichen in und hinter dem Werk gelenkt.“203

In der Verbindung mit dem Symbol des Heiligen wird hier die Stelle des Unrepräsentierbaren wiederum religiös besetzt, beziehungsweise mit einer religiösen Darstellungstradition in Verbindung gebracht.204 Serrano liefert über die Verschmelzung eines postmodernen Erhabenen und eines religiösen Heiligen gewissermaßen eine Statusbeschreibung des Verhältnisses des Menschen zum Heiligen und interpretiert dessen ins Profane diffundierte Qualitäten: Die visuelle Unschärfe als Dekonstruktion der christlich-ikonografischen sakralen Bildformel verweist auf die Unzulänglichkeit traditioneller sakraler Formen des Heiligen für die sich überlagernden, multireligiösen und -spirituellen Tendenzen der Postmoderne, die sich eben nicht auf einen Nenner bringen lassen.205 Lyotard deutet jedoch nach Götze die „Unbestimmtheit als Anspielung auf ein unübersehbares, unendlich realisierbares Potential von Möglichkeiten.“206 Beschreibt auch Wittgenstein das Potential von Unschärfe, so kann das Nicht-Sichtbare, sich Entziehende, das Unscharfe von Medium und Heiligkeit bei Piss Christ als produktives Moment gewertet werden, das Heilige heute individuell zu denken und in multiplen neuen sakralen Formen zu erproben.207 Die Formauflösung vereint sich mit den beschriebenen transgressiven Tendenzen, um die Widersprüchlichkeit und Unbestimmtheit des Heiligen hervorzuheben und den Betrachter im Sinne des postmodernen Erhabenen zur Reflexion anzuregen, wie die in Abschnitt 3.2 formulierten, multiplen Lesarten verdeutlichen. Wie Hüppauf hervorhebt, ist die neue Unschärfe somit „ein Bildmittel, das Bilder im Blick des Betrachters in Bewegung setzt und sie zu handelnden Partnern in einem Tauschprozess

203 GÖTZE 1993, o. S. 204 Pries hebt hervor, dass nach Lyotard diese Stelle gerade nicht wieder besetzt werden darf, sondern vielmehr unbesetzt bleiben muss, da jede Formulierung einer Idee zum Terror führt, vgl. PRIES 1989, S. 47. Serrano besetzt diese Leerstelle über den Rekurs auf das Symbol, lenkt jedoch zugleich den Blick auf das dahinter stehende Fragezeichen. 205 Vgl. Einleitung. 206 GÖTZE 1993, o. S. 207 Dreier hebt hervor, dass mit der Säkularisierung die Religionspraxis zunehmend in den privaten Bereich übergeht und daher auch die Vorstellung von Heiligkeit als Objekt des privaten Glaubens zunehmend in dieser Sphäre konkretisiert wird, vgl. DREIER, Horst: Sakralität im säkularen Staat, Universität zu Köln, Köln, Vortrag vom 23.01.2013.

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macht.“208 Die visuelle Unschärfe ist zudem eine Metapher auf das fotografische Bild als solches: Unschärfe findet sich an elementarer Stelle im analogen fotografischen Bild, dessen kleinster Nenner, so Dubois, in der Körnigkeit des Papierabzugs liegt, zu der sich jede im Bild dargestellte Form hin auflösen lässt und in der das kontradiktorische Wesen der Fotografie begründet liegt.209 Die Kategorie der visuellen Unschärfe schließt demnach den Kreis zu den Kategorien der medialen Unschärfe und der Unschärfe des Mediums, indem sie Reflexionen über die Medialität des fotografischen Bildes sowie das Undarstellbare anstoßen kann, was in Piss Christ als Parallelisierung von Medium und Thema interpretiert werden kann. Ähnliche Strategien, Formen der visuellen Unschärfe im Zusammenspiel mit Religion fruchtbar zu machen, finden sich bei anderen Fotografen, so etwa bei dem belgischen Konzeptkünstler Fabrice Samyn (geb. 1981).

Abb. 3.9: Fabrice Samyn, Eva par Jan Gossaert, Musée d’Art ancien, Bruxelles, 2010, Inkjet Photographic Print, 150 x 150 cm, Galerie Sies + Höke, Düsseldorf

Für seine Serie Navels, 2006-2010, fotografierte Samyn den Bauchnabel von Adam und Eva-Darstellungen auf Gemälden alter Meister. Die vielfach vergrößerten fotografischen close-ups zeigen verschwommene, kreiselförmige Gebilde, 208 HÜPPAUF 2011, S. 44. 209 Vgl. DUBOIS 1998, S. 101-104.

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die an Galaxien oder Ultraschallbilder erinnern (vgl. Abb. 3.9). Über die Frage, welche Implikationen eine Darstellung des Bauchnabels als Verweis auf den Mutterleib für die Ebenbildlichkeit des Menschenpaares mit Gott hat, werden dergestalt Aspekte von Transzendenz und Herkunft über visuelle Unschärfe verhandelt.210

Abb. 3.10: Franjo Tholen, Transfiguration, o. J., 20-teilige Serie, Piezo Prints, 51,5 x 41,5 cm

Franjo Tholen (geb. 1960) vergrößerte für seine Serie Transfiguration die mit einem Rasterelektronenmikroskop aufgenommenen Köpfe kleiner Christusfiguren von benutzten Rosenkränzen (Abb. 3.10).211 Zu sehen sind stark erodierte Formen, die teils wie abstrakte Skulpturen, teils wie durch Wind und Wetter gegerbte Reste antiker Statuen wirken, aber auch an seltsam mutierte Gesichtszüge 210 Vgl. Ausst.Kat.: Religion und Riten, DZ Bank Kunstsammlung, Frankfurt am Main, 2012/2013, S. 46 sowie Informationen zum Künstler unter http://www.sieshoeke.com/ exhibitions/fabrice-samyn-2011 (12.02.2015). 211 Vgl. SPANKE 2006, ab S. 80 sowie BONGAERTS, Ursula (Hg.): Franjo Tholen. Überreste glücklicher Gegenwart, Rom 2002.

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aus Horrorfilmen denken lassen oder an Ultraschallbilder eines Fötus erinnern. Über den Titel verweisen die expressiven Figuren auf Transfiguration als christliches Motiv und beziehen diese zugleich auf die aktive Glaubenspraxis der Berührung. Ähnlich wie bei Piss Christ reflektiert hier die Formauflösung über Unbestimmtheit und teilweise visuelle Unschärfe die Transformationskraft des Glaubens, die wiederum das Objekt des Glaubens transformiert, was sich im Kontext des 21. Jahrhunderts als Abnutzungsmetapher der christlichen Religion liest.

3.4 F AZIT In Piss Christ vermengen sich verschiedene Strategien der Sakralisierung und De- sowie Resakralisierung, welche den Status des Symbols als Marker für ein spezifisches Konzept von Heiligkeit maßgeblich beeinflussen und verschiedene Lesarten offerieren. Wie in der Bildanalyse herausgearbeitet, lässt sich die Fotografie auf rein visueller Ebene zunächst als traditionelle Sakralisierung lesen, indem sie auf ein gefestigtes malerisches sakrales Vokabular zur Visualisierung eines christlichen Heiligkeitskonzeptes zurückgreift. In einem zweiten Schritt wird über den Titel diese Lesart mit multiplen transgressiven Strategien überlagert, die in Kapitel 3.2 untersucht wurden. S. Brent Plate hebt hervor, dass Blasphemie in der Kunst als subversiver Akt verstanden werden kann.212 Kulturanalytisch gesehen, werden Objekte, Stile, Formen oder eben Symbole „magically appropriated; ‚stolen‘ by subordinate groups and made to carry ‚secret‘ meanings: Meanings which express, in code, a form of resistance to the order.“213 Indem sie die Darstellungstradition zugleich umarmt und konterkariert, kann Serranos Verwendung der Kreuzigungssymbolik somit als subversive Strategie gelesen werden, die offizielle Symbole appropriiert und sie neuen Bedeutungen zuführt. Der im Bild angelegte Effekt, die kitschig-traditionelle, barocke Glorifizierung in Gold- und Rottönen mit der körperlichen Realität von Urin und dem daran gekoppelten blasphemischen Akt der Desakralisierung des Symbols zu brechen, lässt sich als Form der „semiotic ‚guerilla warfare‘“214 bezeichnen, die das Bild für individuelle Neuinterpretationen öffnet. Durch die Überlagerung sakralisierender und desakralisierender Prozesse wird der mit dem Christussym-

212 Vgl. PLATE 2006, S. 158. 213 HEBDIGE, Dick: Subculture: The Meaning of Style, London 1979, S. 74 zitiert nach COBB 2005, S. 58. 214 ECO, Umberto: Theory of Semiotics, Bloomington, London 1979, S. 150.

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bol assoziierte Wert diesem entlehnt und in einer Art Sakraltransfer, welcher das etablierte Machtgefüge durcheinander bringt, dem Künstler zugesprochen. Die mit Piss Christ ausagierte provozierende blasphemische Desakralisierung wäre somit Mittel zum Zweck, über eine semiotische Neukontextualisierung und Dekonstruktion des christlichen Symbols Kritik am Christentum, seinen Inhalten und Praktiken zu üben. Zugleich schreibt Serrano jedoch, er versuche mit Piss Christ neue Formen einer durchaus religiösen Symbolisierung zu finden, die vielleicht nicht von der Kirche, jedoch von anderen gesellschaftlichen Gruppen und Individuen akzeptiert werden könnten.215 Piss Christ ließe sich demnach deuten als eine produktive Öffnung der traditionellen Institutionalisierung des Christussymbols hin zu einem personalisierten Umgang, der den religiösen Tendenzen entspricht, die sich ebenfalls von institutionalisierten Glaubensformen hin zu privaten Mischformen entwickeln, wie in der Einleitung ausgeführt. Die Verwendung des Symbols wäre nicht nur in Bezug auf ihren destruktiven, blasphemischen Charakter zu lesen. Sie wäre auch eine produktive Handlungsermächtigung, welche die dominierende Ordnung in Frage stellt, um Möglichkeiten auszuloten, einem ins Profane diffundierten Heiligen216 in der visuellen Darstellung gerecht zu werden (Abschnitt 3.3) oder zu versuchen, die Widersprüchlichkeit einer religiösen Erfahrung von Heiligkeit über kontroverse ästhetische Rezeptionsmuster zu analogisieren (Abschnitt 3.2). Das Symbol als Sujet wird demnach aufgegriffen und über seine syntaktische Verortung im Bild zu einer Art Denkfigur transformiert, an der sich sowohl persönliche religiöse Überzeugungen als auch, über strukturelle Gemeinsamkeiten oder Anknüpfungspunkte verschiedene, auch nicht direkt religiöse Praktiken reflektieren lassen. So lenkt Serrano den Blick auf die Frage nach der Glaubwürdigkeit fotografischer Bilder und nimmt damit sowohl Bezug auf den Status des Bildes als auch auf das Wahrnehmungsmuster des Betrachters, das sich oftmals in einem naivem ‚Bilderglauben‘ äußert. Insbesondere die verschiedenen in Piss Christ zum Tragen kommenden Formen von Unschärfe und Unbestimmtheit verdeutlichen in diesem Sinne theoretische und historische strukturelle Korrelationen von Medium und Thema. Kelton Cobb hebt hervor, dass Subkulturen und subversive Praktiken im Rahmen der hegemonialen Bemühungen von Kultur entweder als nicht zugehö-

215 Serrano zitiert in DECTER 1990, S. 12. 216 Nicht zu verwechseln mit einer Interpretation, die das Heilige als mit dem Profanen vermittelt ansieht, wie sie in Kapitel 2.1.2 im Abschnitt zur Position Saskia Wendels ausgeführt wird.

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rig und ‚schlecht‘ abgespalten oder inkorporiert werden müssen.217 Bei Piss Christ lassen sich beide Reaktionen aufzeigen. So argumentierten die Verteidiger Serranos bereits in den 1980er Jahren im Sinne einer „canonic defence“, die, wie Julius beschreibt, das Ziel hat, Piss Christ über stilistische und rezeptionsästhetische Vergleiche mit Meisterwerken der Kunstgeschichte in den Kanon der Kunst aufzunehmen und dergestalt seinen transgressiven Charakter als traditionelle Form der Kunst zu legitimieren.218 Die gegenteilige Reaktion, Piss Christ als ‚schlecht‘ abzuspalten, zeigt sich in den bereits beschriebenen Reaktionen von Politik und Öffentlichkeit im Kontext der Culture Wars. Insbesondere von der Politik wurde Piss Christ dabei auch instrumentalisiert, um den hegemonialen Diskurs auf anderen Ebenen, etwa der Kulturförderung insgesamt, im Sinne der Politik zu beeinflussen. Piss Christ fungierte als eine Art Stellvertreter für eine offene Kulturpolitik, die von konservativen Instanzen angegriffen wurde, um sie so zunächst abzuspalten, ihr den Legitimationsgrund zu entziehen und sie auf diese Weise wieder in konservative Bahnen zurückzuführen, also wiederum zu inkorporieren. Die Verteidiger Serranos kritisierten in diesem Zusammenhang wiederholt, dass es nicht Aufgabe der Politik sei, zu entscheiden, welche Kunst förderungswürdig sei und dass dies die Meinungs- und Religionsfreiheit einschränke.219 An dieser Stelle wird eine Werteverschiebung deutlich, die sich mit Magnus Schlettes Definition dessen, was dem Sprachgebrauch nach auch in der Moderne als „‚letzte‘ Werte“220 ‚heilig‘ ist, fassen lässt. So wiederholen sich im modernen säkularen Staat bestimmte religiöse Strukturen, die gewissermaßen Heiliges und Sakrales im Profanen an- und umdeuten, wie etwa Rituale, wie nationale Feiertage, ‚heilige‘ Symbole, wie die Flagge, und schließlich ethische Grundvorstellungen.221 Die Meinungsfreiheit ist ein in diesem Sinne fixierter gesellschaftlicher „letzter Wert“, der jeden angeht und somit dem modernen Sprachverständnis nach ‚heilig‘ ist.222 S. Brent Plate hebt hervor, dass neben traditionellen Formen von Blasphemie mit dieser Entwicklung auch neue ‚heilige‘ Werte blas217 „[A]ctions of the subversives that begin to spread into society must either be definitively rejected by branding them as a form of deviant behavior to be handled by the police and legal systems, or else de-fanged, absorbed and incorporated.“, COBB 2005, S. 56. 218 JULIUS 2002, S. 27f. und S. 42-48. 219 Vgl. JULIUS 2002, S. 25f. 220 SCHLETTE 2009, S. 112. 221 Vgl. PLATE 2006, S. 136. 222 Auch andere Werte, wie etwa Bildung, können, wie S. Brent Plate hervorhebt, als heilig erachtet werden, vgl. PLATE 2006, S. 133.

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phemischen Handlungen unterzogen werden können.223 Die Ausdrucks- und Meinungsfreiheit bietet dabei einen der Kernreibunspunkte, an denen sich die Frage nach blasphemischen Handlungen, Aussagen und Darstellungen wiederholt bricht.224 Dies zeigt sich insbesondere am Beispiel von Bildern: „Before modernity and its accompanying liberal, Enlightenment values, blasphemous images were often censored: burned, scratched, painted over, removed from the public eye. In the modern world, it paradoxically also becomes blasphemous to censor an image. […] both responses are now in operation, side-by-side, and this constitutes the current, postmodern dilemma.“225

Piss Christ bietet für beide Richtungen ein exemplarisches Beispiel: Zum einen verdeutlicht es das Fortleben religiöser Strukturen in der Gesellschaft, vor denen das Bild und die mit ihm implizierten multiplen Transgressionen folglich als blasphemisch verstanden werden müssen. Zum anderen wird Piss Christ über die öffentliche Debatte dieser Transgressionen selbst zum Symbol für (künstlerische) Meinungs- und Ausdrucksfreiheit, gegen das sich wiederum die Angriffe der konservativen Parteien richteten. Insbesondere gilt dies für einzelne Abzüge von Piss Christ, die durch diverse Attacken physische Spuren davongetragen haben, wie etwa das Exemplar aus der Collection Lambert: Vom 12.12.2010 bis zum 08.05.2011 wurde Piss Christ als Teil der Ausstellung Je crois aux Miracles im Haus der Sammlung in Avignon gezeigt. Am Palmsonntag drangen christlich-katholische Fundamentalisten in das Museum ein und attackierten die Fotografie mit einem Hammer, wodurch das Glas des Rahmens und das Bild im Bereich des Kopfes der Christusfigur zerstört wurden (Abb. 3.11).226 Es entfaltet sich eine dialektische Spirale: Profanierte Piss Christ ein religiöses Symbol und wurde über diese Geste in den 1980er Jahren zum Symbol der künstlerischen Ausdrucksfreiheit sakralisiert, so gestaltet sich dieser Akt der religiös motivierten ikonoklastischen Zerstörung oder „Schändung“227 des Kunstwerks im musealen ‚Tempel‘ als Profanierung des säkular-heiligen Symbols, in223 Vgl. PLATE 2006, S. 133. 224 „We run into a confrontation between blasphemy and one of modernity’s most sacred values: freedom of expression.“, PLATE 2006, S. 131 und S. 136. 225 PLATE 2006, S. 170. 226 Ebenfalls attackiert wurde ein anderes Werk von Andres Serrano, das Bild einer meditierenden Nonne, vgl. CHRISAFIS 2011, o. S. 227 BRÄNDLE, Stefan: Schändung der ‚Schändung Christi‘, in: Frankfurter Rundschau, 18.11.2011, unter: http://www.fr-online.de/panorama/zerstoertes-kunstwerk-schaen dung-der--schaendung-christi-,1472782,8355324.html (12.02.2015).

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dem es einen „Angriff auf die Kunst- und Meinungsfreiheit“228 darstellt. Besonders eklatant scheint die Einschlagestelle des Hammers, die der dargestellten Christusskulptur regelrecht den Kopf zertrümmerte und daher in den Medien auch als „violent slashing“229 bezeichnet wurde. Die körperlich-transgressiven Bezüge Serranos zeitigen hier nicht zum ersten Mal eine physisch transgressive und im Resultat ikonoklastische Antwort, bereits 1997 in Australien sowie 2007 in Schweden ereigneten sich ähnliche tätliche Angriffe auf Kunstwerke. Trotz der Proteste blieb die Ausstellung in Avignon weiterhin geöffnet – mit den zerstörten Werken, um ein Zeichen für die Meinungsfreiheit zu setzen.230 Die dem Abzug von Piss Christ eingeschriebenen Spuren der Versehrung gaben dem grundsätzlich reproduzierbaren fotografischen Bild über seinen Kunstwerkstatus hinaus einen singulären Charakter, der an die Aura des Originals anknüpfte. Zugleich wurden ob der erlittenen Verletzungen religiöse Motive von Passion und Martyrium aufgerufen, die den Abzug zur ausgestellten ‚Reliquie‘ werden ließen, ihn demnach neu sakralisierten.

Abb. 3.11: Boris Horvat, Andres Serranos Piss Christ und Soeur Jeanne Myriam, im Bild: Agnes Tricoire, Rechtsanwältin, Sammlung Lambert, Archivfoto, Juli 2012

228 So der französische Kulturminister Frédéric Mitterrand, zitiert nach BRÄNDLE 2011, o. S. 229 CHRISAFIS 2011, o. S. 230 Vgl. CHRISAFIS 2011, o. S.

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Im September des folgenden Jahres wurde Piss Christ erneut ausgestellt, diesmal an seinem Ursprungsort New York und ebenfalls von starken Protesten begleitet.231 Die Inszenierung des Bildes innerhalb der Ausstellung griff wiederum traditionelle Sakralisierungsstrategien auf, um das Werk zu resakralisieren: Der Zugang zu und somit die Sichtbarkeit des ‚sakralen Symbols‘ für die Meinungsfreiheit wurde streng bewacht, die Gäste mussten sich vor Betreten des Gebäudes ausweisen und in der Galerie liefen „nicht gerade unauffällige New Yorker Sicherheitskräfte mit Knopf im Ohr“232 herum. Wie das Allerheiligste im Tabernakel, so fand sich Piss Christ separiert von den anderen ausgestellten Werken abseits des Hauptraums „im rückwärtigen Teil der Galerie halb verborgen“233 und wurde mittels eines Plexiglasrahmens vor Akten der Profanierung „geschützt“234. Nicht zuletzt durch die in der Analyse angesprochene Dopplung der Präsentation hinter Glas, die an die Praxis des Reliquienkultes erinnert und nun durch den Plexiglasrahmen eine erneute Verstärkung erhielt, erlangte der fotografische Abzug formal gleichsam den Status eines ‚heiligen‘ Objektes. Serranos Kommentar zur neuerlichen Ausstellung: „Wir müssen die Freiheit der Kunst, der Expression immer noch verteidigen“235, bestärkt Piss Christ in seiner Symbolfunktion für die säkular-heilige Ausdrucksfreiheit. Das fotografische Bild erhält über seine referenzierte Realität hinaus eine neue Präsenz, indem es die Spuren seiner wiederholten Verletzungen metaphorisch in sich trägt und so seine ‚Passion‘ für die Freiheit der Kunst bezeugt. Über seine Medienspezifik verdichtet Piss Christ symbolhaft die mit der Moderne einhergehende Vervielfältigung religiöser und profaner ‚heiliger‘ Werte, die zwar neue sakrale Darstellungsmöglichkeiten ausloten, sich jedoch zugleich zu einem Großteil noch immer traditioneller sakraler Marker bedienen.

231 Vgl. SCHWEITZER, Eva C.: Die Rückkehr von Piss Christ, in: Zeit Online, 28.09.2012,

unter:

http://www.zeit.de/kultur/kunst/2012-09/andres-serrano-

ausstellung-new-york (04.08.2018). 232 SCHWEITZER 2012, o. S. Die Zitate zeigen, dass diese sakrale Inszenierung auch in den Medien aufgegriffen wurde, sei es unbewusst oder bewusst ironisierend. 233 SCHWEITZER 2012, o. S. 234 SCHWEITZER 2012, o. S. 235 Zitiert nach SCHWEITZER 2012, o. S.

4. Substitutive Gewalterfahrung als kryptoreligiöse Funktion fotografischer Bilder? David Nebreda

„[L]a fotografía le ha servido también y, sobre todo, para agarrarse a la vida.“1 MARISOL ROMO MELLID „Für mich ist das Heilige immer die Offenbarung des Realen, die Begegnung mit dem, was uns rettet, indem es unserem Dasein Sinn verleiht.“2 MIRCEA ELIADE

Einleitung und Fragestellung Durchstochene Genitalien, verbrannte Haut, hervorstehende Knochen – die in der Überblickspublikation Autoportraits3 veröffentlichten Fotografien des Spaniers David Nebreda zeigen extrem gewaltsam und rituell anmutende Selbstverletzungen, darunter Einritzungen und Verbrennungen, außerordentliche Abmage-

1

MELLID, Marisol Romo: Los Autorretratos más terribles, 2005, o. S., unter: http://www.solromo.com/fotografia/41-david-nebreda (04.04.2018). „Die Fotografie diente ihm [Nebreda, Anm. JS] auch, und vor allem anderen dazu, sich ans Leben zu klammern.“ (Eigene Übersetzung).

2

ELIADE, Mircea: Die Prüfung des Labyrinths. Gespräche mit Claude-Henri Rocquet, Frankfurt am Main 1987, S. 183f.

3

NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000.

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Abb. 4.1: David Nebreda, Visage couvert d’excréments, 1989-1990, Farbfotografie

rung oder auch zweckentfremdende Nutzung von Fäkalien und Körperflüssigkeiten (siehe Abb. 4.1-4.3). Die Selbstportraits entstanden in Phasen, in denen der Künstler unter schizophrenen Schüben litt und sich über mehrere Monate in seiner Wohnung abschottete.4 Sie zeigen sowohl die Effekte extremer disziplinarer Maßnahmen auf den

4

Die schizophrene Erkrankung Nebredas wird in die Analysen einbezogen, wo sie offensichtlich Einlass in sein Werk findet, wird jedoch nicht aus klinischer Perspektive betrachtet. Einen Ansatz für eine derartige Herangehensweise bietet MITCHELL, William John Thomas: Seeing Madness: Insanity, Media, and Visual Culture (Nr. 83 in 100 Notes – 100 Thoughts – Schriftenreihe der documenta 13), Ostfildern 2012.

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Abb. 4.2: David Nebreda, Celui qui naît avec des signes de sang et de feu, 1989-1990, Farbfotografie

Körper als auch die tatsächlichen Handlungen selbst.5 In seinen Fotografien verknüpft Nebreda diese Versehrung des Körpers sowohl mit der christlichen Bildtradition als auch mit anderweitigen religiösen und mythologischen Referenzen. Damit bedient er sich sakraler Marker, legt jedoch, so die These, zugleich die Struktur der Sakralisierung als Konstruktion offen. Über das Zusammenspiel thematischer Schwerpunkte, der besonderen bildsprachlichen Kraft und Komposition der Bilder und ihrer medialen Eigenschaften erscheinen die Fotografien zudem ein eigenes, der Realität verhaftetes, affizierendes Wirkungspotential für den Künstler als auch für den Betrachter zu entfalten. So werden die Fotos für

5

JONES, David Houston: The Body Eclectic: Viewing Bodily Mortification in David Nebreda, in: Reconstruction. Studies in Contemporary Culture, 5, 2005, H. 1, o. S., unter: http://reconstruction.eserver.org/051/jones.shtml#1 (07.01.2014).

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Nebreda in ein festes rituelles System eingebunden und können für den Betrachter die physisch nachspürbare Erfahrung einer fremden körperlichen Realität evozieren. Die Verbindung der visuellen Vehemenz der dargestellten körperlichen Versehrungen mit den indexikalischen Qualitäten der fotografischen Bilder offeriert, so die These, potentiell vielschichtige quasi-religiöse Funktionen, die im Folgenden näher analysiert werden. Wie genau integriert Nebreda Verweise auf Sakrales und Heiliges und welche Rolle spielen Index, Ikon und Symbol als zeichentheoretische Kategorien für den Umgang mit fotografischen Bildern die Gewalt am Körper zeigen und diese mit Verweisen auf Heiliges anreichern? Welche Form des Heiligen wird hier referenziert und wie und zu welchem Zweck werden die Verweise eingesetzt? Lag bei der Analyse zu Serrano der Schwerpunkt über die offensichtliche Referenz der Kreuzigungsmotivik auf der Kategorie des Symbols, so steht bei Nebreda das Indexikalische als technisches Dispositiv des Fotografischen, das bestimmte soziale Gebrauchsweisen fotografischer Bilder nach sich zieht, mit seinen wirkungsästhetischen Implikationen im Vordergrund. Nach einer kurzen Einführung in Biographie, Werk und Forschungsstand dienen die in der Publikation Autoportraits6 veröffentlichten Bilder als Untersuchungsgegenstand. In einem ersten Schritt werden an beispielhaften Analysen ausgewählter Fotos direkte und indirekte sakrale Marker und Bezüge zum Heiligen aufgezeigt und näher untersucht (Abschnitt 4.1.1). Da nicht nur ihre Entstehung, sondern auch ihr semiotischer Aufbau eng mit einem spezifischen Interpretationssystem verwoben ist, wird in einem zweiten Schritt die Funktion der Fotografien für Nebreda beleuchtet (Abschnitt 4.1.2). Die in Autoportraits publizierten Fotografien bieten einen retrospektiven Überblick über verschiedene Schaffensphasen Nebredas und werden zugleich im Kontext der Publikation durch Dokumente begleitet, die einen Einblick in Nebredas Schaffensweise und sein ‚System‘ offerieren, mit der sich die Rolle fotografischer Bilder für den Künstler näher greifen lässt. In den Analysen changiert der Blick von einzelnen Aufnahmen zu ihrer Reihung im Buch, welche die Lesart der Einzelbilder beeinflusst, bewusst von Nebreda gestaltet wurde und so Erkenntnisse über seine Herangehensweise preisgibt. Ein Vergleich mit den Strukturen und Effekten der von Eliade beschriebenen Hierophanie als Manifestation des Heiligen im Profanen legt offen, dass der Struktur von Medium und Sujet Parallelen in Prozessen der persönlichen Verortung und Bedeutungszuschreibung sowie der Aneignung und Verfestigung von Wissen inhärent sind, mit der sich die Rolle fotografischer Bilder für Nebreda weiter begreifen lässt (Kapitel 4.2). Abschließend wird das komplexe Zusammenspiel von Referenzen auf ein Heiliges, dem Medium Foto6

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grafie und versehrten Körpern mit Ursula Frohnes Überlegungen zu Gewalt darstellenden Fotografien der 1990er Jahre7 gelesen, um so das Verständnis der potentiellen Wirkung und Bedeutung der Fotografien Nebredas für den Betrachter weiter zu fördern und mit den bisherigen Erkenntnissen in Zusammenhang zu setzen (Kapitel 4.3).

Abb. 4.3: David Nebreda, La porte entrouverte. Un pied avec du sang, un autre avec de la cendre, 1999, Farbfotografie

7

Vgl. FROHNE, Ursula: Berührung mit der Wirklichkeit. Körper und Kontingenz als Signaturen des Realen in der Gegenwartskunst, in: BELTING, Hans, KAMPER, Dietmar, SCHULZ, Martin (Hg.): Quel corps? Eine Frage der Repräsentation, München 2002, S. 401-426.

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4.1 A UTOPORTRAITS , 1983-1998 Künstler, Werk, Forschungsstand David Nebreda, geboren 1952 in Madrid, studierte Bildende Kunst und begann danach als Autodidakt zu fotografieren, um sich intensiv dem Thema Selbstportrait zu widmen.8 Die Rolle der Fotografie ist dabei eng mit der schizophrenen Erkrankung David Nebredas verbunden: Nach ersten Manifestationen der Krankheit und der klinischen Diagnose im Jugendalter erfolgte 1990 der Befund einer chronischen starken Persönlichkeitsspaltung. Wie mannigfaltig die Perspektiven auf das eigene Selbst sich darstellen, zeigen die vielfältigen Wechsel in der Erzählhaltung Nebredas in Interviews, Texten und Büchern, die immer wieder von der persönlichen Ich-Perspektive über die erste Person Plural zu einem distanzierten „der Autor“ changiert.9 Die Kurzbiographie auf der Homepage des Verlegers Léo Scheer verdeutlicht die besondere Rolle, die dem fotografischen Medium in Nebredas Auseinandersetzung mit dem eigenen Bild zukommt: „David Nebreda est né à Madrid le 1er Août 1952. Pour l’auteur, sa biographie s’arrête là. Il a passé la majeure partie de sa vie enfermé, coupé de tout contact avec le monde extérieur. Son image, qu’il ne perçoit plus dans le miroir, il ne la connaît qu’à travers ces autoportraits photographiques qu’il nous livre aujourd’hui. Il s’agit de l’expérience la plus extraordinaire à laquelle la photographie ait pu prendre part. Une expérience d’une violence extrême avec laquelle se confondent sa vie et son œuvre.“10

Die Fotografien entstanden in vier Etappen, die den Krankheitsverlauf Nebredas spiegeln. Die erste Serie von Selbstportraits wurde zwischen 1983-1989 aufgenommen und ist vollständig in Schwarz-Weiß gehalten. In den Jahren 1989-90

8

„[All] my life I have been obsessed with the self-portrait. […] there came a time when it occurred to me that the form closest to the truth, the one that offers that ultimate likeness in terms of representation, was photography.“ David Nebreda zitiert nach MILLET, Catherine: David Nebreda et le double photographique (Interview), Art Press, 2000, H. 255, S. 49-55, S. 50.

9

Siehe NEBREDA 2000, S. 9 („nous“; „il“) und S. 162 („je“). Auch in einem Interview wechselt er zwischen der ersten und dritten Person, vgl. MILLET 2000, S. 50. In der späteren Publikation von 2004 ist der Hinweis auf die Biographie auf eine kurze Notiz reduziert. Die Texte beider Bücher sind von Nebreda selbst verfasst, wie ein Hinweis im jeweiligen Inhaltsverzeichnis verdeutlicht, vgl. NEBREDA 2000; sowie NEBREDA, David: Chapitre sur les petites amputations, Paris 2004.

10 http://www.leoscheer.com (14.06.2018).

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entwickelte Nebreda eine schwere Krise, die ihn dazu führte, eine erste Serie von Selbstportraits in Farbe zu erstellen, die er in engen Zusammenhang zu einer Art inneren Selbstfindung stellt: „L’auteur se considère comme ‚nouveau-né‘ et ne reconnaît son identité qu’à partir de cette époque.“11 Nach mehrmaligen Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken aufgrund seiner paranoiden Schizophrenie stellte Nebreda 1990 „alle Aktivität“ ein. In den Jahren 1992-97 lebte er in einem „isolierten Zustand mentaler und physischer Quasi-Paralyse“ und kopierte Geometriebücher. Auch hier ist es die fotografische Aktivität, die mit der Änderung des Status quo einhergeht: „En 1997, considérant que le moment etait venu, il réalise la seconde série de photographies en couleur et, peu de temps après, reprend contact avec l’extérieur.“ Der wiederhergestellte Kontakt zur Außenwelt resultierte in der ersten Ausstellung 1998, von der er sich kurz darauf, verstört von den teils heftigen Reaktionen auf seine Arbeit, wieder zurückzog und erneut zu fotografieren begann. Um die Jahrtausendwende wurden Nebredas Arbeiten mehrfach in Paris ausgestellt, erstmalig 1998 in der Galerie Xippas sowie 2000 in der Galerie Renn.12 Zur Ausstellung in der Galerie Xippas erschien eine erste kleinere Publikation, die Fotografien Nebredas mit Aufsätzen von Kritikern zusammenbrachte.13 Im Jahr 2000 erfolgte mit dem Buch Autoportraits das erste monographische Künstlerbuch durch den Verleger Léo Scheer, der in der Folge Nebredas Rezeption innerhalb Frankreichs förderte, etwa durch die Herausgabe eines Essaybands14 zu Nebredas Œuvre der als Pendant zu Autoportrait funktioniert. Ein weiterer Ausstellungskatalog erschien 2002 nach einer Ausstellung in der Universität in Salamanca.15 2004 folgte die Publikation Chapitre sur les petites amputations mit Texten und Fotografien von Nebreda sowie 2006 Sur la révélation, ein primär

11 NEBREDA 2000, S. 9. Die folgenden Zitate sind dieser Seite entnommen. 12 Frühe Ausstellungen: Die Ausstellung in der Galerie Xippas wurde vom 05.11.05.12.1998 als Teil des Monats der Fotografie in Paris gezeigt, die Ausstellung in der Galerie Renn lief unter dem Titel David Nebreda. Autoportraits von 02.02.01.04.2000, vgl.: Ausst.-Ankündigung: David Nebreda, Autoportraits, Renn 14/16 Verneuil (Galerie), Paris, 2000, in: Photographie International. Photographie à Paris, 2000, H. 20, S. 12.; Hinweis auch bei JONES 2005, o. S. 13 Der Katalog ist inzwischen vergriffen: Ausst.Kat.: Autorretratos = Autoportraits, Galerie Xippas, Paris, 1998. 14 Vgl. CURNIER, Jean-Paul, SURYA, Michel (Hg.): Sur David Nebreda, Paris 2001. 15 Ausst.Kat.: David Nebreda. Autorretratos, Sala Patio de Escuelas, Universidad de Salamanca, Salamanca, 2002.

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aus Text bestehendes autobiographisches Buch zu seiner Arbeits- und Lebensweise.16 Im Folgenden werden Aufbau und Schwerpunkte von Autoportraits kurz vorgestellt, um vor dieser Folie anschließend in die eingehende Analyse und Betrachtung einzelner Fotografien eintauchen zu können. Auf der ersten Seite wird den Fotografien die Biographie des Künstlers vorangestellt und etabliert so bereits die Themen Körper und Identität als Leitmotive der Bilder.17 Die Biographie beschreibt die genannten verschiedenen Stadien der Schizophrenie und setzt diese mit den in dieser Zeit entstandenen Fotografien in enge Korrespondenz – Autoportraits ist somit auch die visuelle Aufarbeitung eines Krankheitsverlaufs. Nach einer Beschreibung der generellen Herstellungsweise folgen die fotografischen Serien in Schwarz-Weiß (ohne Titel) und Farbe (teils narrative, teils beschreibende Titel), chronologisch unterteilt in Zeiträume von mehreren Jahren oder Monaten. Daran reihen sich einige Zeichnungen18 und Texte Nebredas, die von poetischen Niederschriften, welche parallel zu den Fotografien entstanden, über selbstgeschriebene „Briefe der Mutter“19 zu Notizen zu den einzelnen Phasen sowie schließlich einem allgemeinen Text „Sur la schizophrénie, le masochisme et la photographie“20 reichen. Es wird erneut deutlich, dass die Aufnahme der Fotografien in vier Etappen jeweils eng verwoben ist mit dem Status und Zustand der schizophrenen Erkrankung.21 Nach seinem erneuten Rückzug im Jahr 1998 entstanden die letzte Serie der Fotografien sowie sechs im Buch präsentierte Zeichnungen. Nebredas Arbeitsweise wird detailgenau beschrieben: So sind fast alle Fotografien und Zeichnungen in nur zwei Räumen des Hauses in isolierten Situationen entstanden, ohne jedwede Hilfe oder Intervention von außen, ohne Zeugen

16 Vgl. NEBREDA 2004; sowie NEBREDA, David: Sur la révélation, Paris 2006. 17 Vgl. NEBREDA 2000, S. 9. 18 Nebreda über diese Zeichnungen: „They are not artistic drawings but crisis drawings, very clearly crisis drawings.” in: MILLET 2000, S. 50. 19 NEBREDA 2000, S. 168-169. 20 NEBREDA 2000, S. 181-187. Der besseren Verständlichkeit halber wird, wenn möglich, auf die deutsche Übersetzung des Textes von 2003 zurückgegriffen, vgl: NEBREDA, David: Schizophrenie, Masochismus und Fotografie, in: WEIBEL, Peter (Hg.): Phantom der Lust. Visionen des Masochismus. Essays und Texte (ersch. anl. d. Ausst., Phantom der Lust. Visionen des Masochismus, Neue Galerie Graz, Graz, 2003), München 2003, Bd. 1, S. 422-430. 21 Die folgenden Ausführungen sind Nebredas Biographie entnommen, vgl. NEBREDA 2000, S. 9.

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oder die Anwesenheit anderer.22 Die Fotografien wurden mit einer 35 mm Kamera und einem 55 mm (Makro) sowie einem 28 mm Objektiv auf StandardNegativfilm, ohne Filter und mittels Selbstauslöser über ein sechs Meter langes Kabel oder mit Hilfe eines Stocks aufgenommen. Die Negative wurden jeweils vollständig vergrößert (es handelt sich folglich nicht um Ausschnitte) und die Positive in keiner Form anderweitig manipuliert. Es wurden jedoch durchaus Doppelbelichtungen vorgenommen oder über lange Belichtungszeiten zweifache Erscheinungen des Autors in demselben Bild produziert. Als Accessoires und Materialien innerhalb des Bildes dienten Haushaltsgegenstände sowie Schminke (in den Schwarz-Weiß-Fotografien), Asche und drei eigene organische Substanzen: „Urin, Blut und Exkremente“23. Für die physischen Versehrungen in Form von „Operationen“ kamen Rasierklingen, Skalpelle, Messer und für die Verbrennungen „tous types de matériaux“ zum Einsatz. Die Ausführungen enden mit dem fast rituell anmutenden Verweis, dass sowohl die Schwarz-WeißFotografien als auch die erste Serie in Farbe unter der Erde vergraben wurden, bevor sie Ende der 1990er Jahre zum ersten Mal gezeigt wurden. Nebredas komplexe Arbeiten stellen Betrachter und Kritiker vor die Schwierigkeit der richtigen Einordnung und scheinen sich dieser gewissermaßen konstant zu entziehen, wie Juan Antonio Ramírez in seiner eingehenden Betrachtung der Autoportraits verdeutlicht: „Das Werk Nebredas ähnelt nichts, was wir vorher gesehen haben und alle interpretativen Pirouetten erscheinen nur wie falsche Verschleierungen, wie konzeptuelle Krücken, die zu schwach sind, das übermächtige Gewicht „dieser“ Realität zu tragen. Das zeitgenössische Kunstsystem, obwohl offen für eigentlich alles, hat immer noch keinen Weg gefunden, diese Persönlichkeit zu verarbeiten. Es handelt sich um einen außerordentlichen Fall, da wir auch nicht über einen Unbekannten sprechen, sondern vielmehr über jemanden, dessen Werk, wunderbar editiert, bereits seit einigen Jahren Absatz unter den Kunstliebhabern findet, was man nicht immer von anderen, renommierteren Künstlern behaupten kann.“24 22 Nebreda nennt zwei Fotografien, in denen seine Mutter bzw. sein Bruder assistierten oder anwesend waren, vgl. NEBREDA 2000, S. 11, ebenfalls für die folgenden Ausführungen. 23 Diese wurden sowohl für den Körper, die Texte innerhalb der Fotografien als auch für die Zeichnungen verwendet. Die abstrahierte, detailgenaue Planung und Einstellung Nebredas zu seinen Fotografien zeigt sich, wenn er schreibt, die Körperflüssigkeiten seien entweder nach Frischhaltung im Kühlschrank oder direkt genutzt worden („après conservation au réfrigérateur ou utilisés directement.“), S. 11. 24 RAMÍREZ: Juan Antonio: Corpus Solus: Para un mapa del cuerpo en el arte contemporáneo, Madrid 2003, S. 79, eigene Übersetzung. Original: „El trabajo de Nebreda

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So sprechen Nebredas Arbeiten vielfältige Themenfelder an. Insbesondere die in Nebredas Fotografien präsentierte, meist brutale und grenzüberschreitende Darstellung von Verletzungen des eigenen Körpers und die zweckentfremdende Nutzung von Körperflüssigkeiten und Exkrementen verlangt nach einer differenzierten Auseinandersetzung mit Grenzen der Erfahrung und offensiver und extremer Kunst, die Ekel und physischen Schmerz sowohl ästhetisch thematisiert als auch produzieren kann.25 Innerhalb der Fotografie wurde dieser Bereich bislang wohl von keinem Künstler so exzessiv untersucht, wie von Joel Peter Witkin, der jedoch eine andere Perspektive wählt. So verwendet er nicht den eigenen, sondern fremde Körper und zudem oftmals Leichen und Tierkadaver, um ästhetische Bilder des Randständigen und Abjekten zu entwerfen.26 Insbesondere durch den Einsatz von Körperflüssigkeiten steht Nebreda zudem in der Nähe von Andres Serrano.27 Dabei ist bei Letzterem die Bildsprache zumeist um ein Vielfaches ästhetisch erhöht und thematisch abstrahiert, und es findet zudem eine andere Strategie der Affizierung Anwendung, wie in Kapitel 3 herausgearbeitet wurde.28 Exzessiver Gebrauch von Körperflüssigkeiten findet sich auch bei den Künstlern des Wiener Aktionismus, wie etwa Herrmann Nitsch oder Günther Brus.29 Die Arbeit mit und vor allem an dem eigenen Körper stellt Nebreda zuno se asemeja a nada que hayamos conocido antes, y todas las piruetas interpretativas aparecen como máscaras, muletas conceptuales demasiado endebles para soportar el peso abrumador de ‚esa‘ realidad. El sistema del arte contemporáneo, a pesar de que es muy correoso y omnívoro, no ha encontrado todavía la manera de digerir a este personaje. Se trata de un caso excepcional, pues no estamos hablando de un desconocido sino de alguien cuya obra, muy bien editada, está desde hace unos años al alcance de los aficionados, lo cual no se puede decir siempre de otros artistas más aclamados.“ 25 Der Philosoph und Anthropologe Ogien Ruwen verweist auf die oft undifferenzierte Herangehensweise innerhalb des „discours catastrophiste“ und fordert eine genaue Analyse der jeweiligen ästhetischen Fragestellung, das heißt inwiefern etwa ein physischer Ekel hervorgerufen oder auf moralischer Ebene schockiert wird. Vgl. RUWEN, Ogien: La grande confusion des catastrophistes, in: Beaux Arts Magazine, März 2013, H. 345, S. 48. 26 Marisol Mellid macht ebenfalls auf diese Verbindung aufmerksam, vgl. MELLID 2005, o. S. 27 Vgl. RUWEN 2013, S. 48. 28 Eine Ausnahme wäre beispielsweise Serranos Serie A history of Sex, in der das Urinieren als Teil sexueller Praktiken dargestellt ist. In diese Richtung gehen auch die sadomasochistische Praktiken dokumentierenden Fotografien Robert Mapplethorpes. 29 Zu nennen wären auch die „vermeintliche[n] Fäkal-Orgien“ Paul McCarthys oder Mike Kelleys u.a. Für eine umfassende Ikonografie des Ekels siehe: REISS, Claudia:

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dem in Korrespondenz zu Rudolf Schwarzkogler und Positionen der auf die Visualität physischer Versehrungen konzentrierten Performance Kunst, wie beispielsweise Marina Abramovic oder der Künstlerin Orlan.30 Bei den Kunstkritikern und in den Kunstwissenschaften erfreut sich Nebredas Werk in Frankreich und Spanien wachsender Rezeption, in den letzten Jahren sind vermehrt internationale Besprechungen hinzugekommen. Eine umfassende Beschäftigung mit seinen Arbeiten im deutschen Sprachraum ist bislang ein Desiderat, dem die vorliegende Arbeit durch eine, im Rahmen der Fragestellung bleibende, doch möglichst umfangreiche Vorstellung des Künstlers entgegenarbeiten möchte. Aufgrund der Vielfältigkeit seiner künstlerischen Arbeitsweise und der offenen Integration seiner psychischen Erkrankung in sein Werk finden sich wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit seinem Œuvre neben den Kunstwissenschaften auch in den Literaturwissenschaften und in der klinischen Psychologie und Psychoanalyse.31 Im Kontext der Kunstgeschichte beEkel. Ikonografie des Ausgeschlossenen (Diss. Duisburg-Essen 2007), 2007, unter: http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-2205 1/ekel.pdf (04.08.2018), Zitat S. 411, zudem S. 409-433 für die Verwendung von Exkrementen in der zeitgenössischen Kunst allgemein. Eine Analyse des Ekels als eigenständigem Kulturphänomen findet sich in MENNINGHAUS, Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt am Main 1999. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Nebreda selbst diese künstlerische Art der Verwendung von Körperflüssigkeiten und insbesondere den Wiener Aktionismus für lächerlich und unnötig hält und sich klar davon distanziert. Vgl. MILLET 2000, S. 55. 30 Herrmann Nitsch verwendete Fleisch und Blut in zahlreichen seiner Werke um über Ekel und Abscheu einen kathartischen Effekt beim Zuschauer herbeizuführen. Die Künstlerin Orlan gilt als Begründerin der sogenannten ‚Carnal Art‘ und unterzog ihren Körper zahlreichen Operationen, so etwa in The Reincarnation of Saint-Orlan, 1990. Marina Abramovic überließ in ihrer Arbeit Rhythm O, 1974, ihren Körper für sechs Stunden dem Publikum, während Rudolf Schwarzkogler 1969 mutmaßlich den Folgen von im Rahmen seiner Arbeit entstandenen Selbstverstümmelungen erlag. Vgl. GOLDBERG, Rose-Lee: Performance Art. From Futurism to the Present, London 1988, S. 165. 31 Die Dissertation von Estevan de Negreiros Ketzer befasst sich mit einem Vergleich zwischen Nebredas Schriften und Zeichnungen und dem Werk Antonin Artauds, vgl. NEGREIROS KETZER, Estevan de: Escritura, Rasura e Arremesso! Desconstruir a poética em Antonin Artaud e David Nebreda, Porto Alegre 2013, unter: http://hdl.handle.net/10923/4228 (25.04.2014). Im Bereich Psychoanalyse sind bspw. zu nennen: MASSON, Antoine: Face aux autoportraits, stigmates et écrits de David Nebreda, in: Champ psy, 2009, H. 53, S. 155-179 oder auch LEBAILLY, Alice: Da-

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schäftigt sich Fritz Vogel mit den inszenatorischen Strategien Nebredas, während Claudia Reiß und Jean Clair sich mit Aspekten des Abjekten und des Wahnsinns in seinem Werk befassen.32 In dem genannten Essayband Sur David Nebreda sind verschiedene Aufsätze vereint, von denen die profunde Analyse Jacob Rogozinskis hervorzuheben ist, der sich sowohl dezidiert den Beweggründen und einer Beschreibung des intrinsischen Systems Nebredas widmet und diese Eindrücke auf dem direkten Austausch mit dem Künstler aufbaut, als auch erste Einordnungen des Werks in ikonografisch-religiöse Zusammenhänge vornimmt.33 Diese werden zudem durch Cécile Zervudacki mit spezifischer Einbettung in einen „radikalen Paulinismus“34 aufgearbeitet. Hinzuweisen ist darüber hinaus auf zwei der seltenen Interviews des Künstlers, geführt mit Catherine Millet35 und Virginie Luc36. Letzteres erschien im Katalog zur Ausstellung in Salamanca, der zudem einen lesenswerten Essay von Juan Antonio Ramírez entvid Nebreda, peau en lambeaux et sentiment d'inexistence, in: Champ psy, 2012, H. 62, S. 99-112. 32 Vgl. VOGEL, Fritz Franz: THE CINDY SHERMANS: inszenierte Identitäten. Fotogeschichten von 1840 bis 2005, Köln 2006, insbesondere S. 405-408. Siehe zudem REISS 2007 und CLAIR 2004, S. 22. Als Ausstellungskatalog, der sich mit Nebredas Arbeiten befasst, vgl. CLAIR, Jean (Hg.): Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst (ersch. anl. d. gleichn. Ausst., Galeries Nationales du Grand Palais, Paris; Neue Nationalgalerie, Berlin, 2005/2006), Ostfildern-Ruit 2005. 33 Vgl. ROGOZINSKI, Jacob: Voyez, ceci est mon sang (ou la passion selon D.N.N.), in: CURNIER, Jean-Paul, SURYA, Michel (Hg.): Sur David Nebreda, Paris 2001, S. 103-136. Es handelt sich um einen der wenigen Texte, die auch in deutscher Übersetzung vorliegen, vgl. ROGOZINSKI, Jacob: Schaut, dies ist mein Blut - Oder: Die Passion nach D.N.N., in: jour fixe intitiative berlin (Hg.): Kunstwerk und Kritik, Berlin 2003, S. 191-223. 34 ZERVUDACKI, Cécile: Les Corps des Ressuscités, in: CURNIER, Jean-Paul, SURYA, Michel (Hg.): Sur David Nebreda, Paris 2001, S. 41-102. 35 Das Interview ist zweisprachig (Französisch und Englisch) publiziert worden, vgl. MILLET 2000. Der besseren Verständlichkeit halber wird in der Folge, wenn möglich, auf die englische Übersetzung zurückgegriffen, die jedoch an einigen Stellen nicht vollständig ist. Der Text wurde auch im genannten Essayband reproduziert (S. 11-20) und zudem eingebunden in Überlegungen zum Körper bei anderen Künstlern in: MILLET, Catherine: Le corps exposé, Nantes 2011. 36 Vgl. LUC, Virginie: Interview mit David Nebreda, in: Ausst.Kat.: David Nebreda. Autorretratos, Sala Patio de Escuelas, Universidad de Salamanca, Salamanca, 2002, S. 105-107 (Englisch und Spanisch), etwa zeitgleich erschien das Interview auf Französisch in LUC, Virginie: Art à Mort, Paris, Madrid 2002, S. 164-171.

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hält.37 Von der steigenden Anzahl internationaler Besprechungen von Nebredas Arbeiten sind darüber hinaus David Houston Jones exzellente kulturtheoretische Essays hervorzuheben, die sich insbesondere mit der Verhandlung des Körpers in Nebredas Werk befassen.38 Jones verweist darauf, dass Nebredas Fotografien und insbesondere deren Publikation in hochwertig gestalteten Büchern in der Edition Léo Scheer die gesellschaftlich akzeptierten Grenzen (re)präsentierbarer Körper in Frage stellen und nach einer neuen Theorie des Körpers und der körperlichen Erfahrung in der fotografischen Repräsentation verlangen.39 Zudem setzt er sich intensiv mit der Konstruktion von Körperbildern auseinander und legt damit offen, was nicht zuletzt als ein zentraler Beweggrund für die Erstellung der Fotos verstanden werden muss und mit der beschriebenen schizophrenen Erkrankung Nebredas zusammenfällt: Der Versuch einer Auslotung und Konstruktion des eigenen Subjekts über verschiedene Körperbilder mittels der Fotografie. Eng damit zusammen hängt die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von psychischer Erkrankung und künstlerischer Kreativität und Imagination sowie, in Folge dessen, mit der Rolle des Künstlers in der Gesellschaft.40 Auf den ersten Blick verweisen sowohl die künstlerische Haltung in ihrer Stringenz, die umfassende Subordination unter eine Art der höheren Reglementierung („le principe d‘ordre“ 41) als auch der Einsatz vielfältiger religiöser Symbole in Nebredas Fotografien zudem auf ein komplexes (Glaubens-)System und scheinen sich daher einer näheren Analyse im Kontext der vorliegenden Fragestellung anzubieten. Neben den wiederkehrenden Bezügen zur Kunstgeschichte verdeutlicht Nebreda die Konstanz dieses Systems und dessen enge Verbindung zur Fotografie.42 Weist das System in vielen Punkten Überschneidungen zu be-

37 Vgl. RAMÍREZ, Juan Antonio: Blood and sickness. Sacrifice and resurrection, in: Ausst.Kat.: David Nebreda. Autorretratos, Sala Patio de Escuelas, Universidad de Salamanca, Salamanca, 2002, S. 95-104. Wenig später erschien der Aufsatz auf Spanisch als Teil der Publikation RAMÍREZ 2003, S. 21-94. 38 Vgl. JONES, David Houston: Sex, Sainthood and the Other Body: Writing Icons in Claude Louis-Combet and David Nebreda, in: French Cultural Studies, 14, 2003, H. 2, S. 178-191, S. 179; sowie JONES 2005. 39 Vgl. JONES 2005, o. S. 40 Siehe hierzu ebenfalls die Rezension der Fotografin und Kritikerin Marisol Mellid , vgl. MELLID 2005, o. S. 41 NEBREDA 2000, S. 9. 42 Als Konstanten der verschiedenen Phasen nennt Nebreda beispielsweise die Ruhe und Zurückgezogenheit, die Selbstkontrolle und die freiwillige Anwendung verschiedener persönlicher Verbote, strengen Vegetarismus und die Abstinenz von jeglichen Drogen

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kannten Glaubenssystemen wie etwa dem Christentum auf, so wird zugleich in Nebredas Texten deutlich, dass er einen komplexen eigenen Referenzrahmen zur Bewertung der Bilder anwendet und aktiv versucht, jeder Fehlinterpretation vorzubeugen.43 Sollen im Folgenden die Fotografien auf die verschiedenen Aspekte und Wirkungsweisen und die für das Werk Nebredas besondere Zusammenführung von sakralisierenden und desakralisierenden Gesten hin untersucht werden, gilt es daher zwischen der Haltung und Intention des Künstlers und der potentiellen Wirkung der Visualität der Bilder auf den Betrachter zu differenzieren. Neben den affektiven Qualitäten und dem Sujet des versehrten Körpers steht die zeichenhafte Verhandlung von Referenzen auf das Heilige im Vordergrund. Dabei wird eine direkte Einordnung in biblische Texte und Zusammenhänge nur exemplarisch aufgezeigt, da diese bereits extensiv an anderer Stelle erfolgt ist44 und der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit auf der Verwendung von Referenzen, das heißt der Art und Weise ihrer Anwendung liegt. So sollen ihre semiotische Bedeutung und ihre Verbindung zum fotografischen Medium erläutert werden, um den Einblick in das System des Künstlers in Bezug auf Darstellung und Verhandlung des Heiligen zu vertiefen und anschließend eine vergleichende Betrachtung der Funktionsweise des Heiligen und des fotografischen Mediums unter Bezugnahme auf Mircea Eliades Ausführungen zur Hierophanie zu ermöglichen (Kapitel 4.2).

sowie wiederholte und absichtliche Bezüge zur Kunstgeschichte. Vgl. NEBREDA 2000, S. 9. 43 So hatten die Organisatoren der Ausstellung Phantom der Lust. Visionen des Masochismus, 26.04.-24.08.2003, Neue Galerie Graz, Nebreda zur Teilnahme eingeladen, er sagte jedoch ab, damit seine Arbeit nicht missverständlich gedeutet werde. Vgl. NEBREDA, David: Brief an Peter Weibel, in: WEIBEL, Peter (Hg.): Phantom der Lust. Visionen des Masochismus. Essays und Texte (ersch. anl. d. Ausst., Phantom der Lust. Visionen des Masochismus, Neue Galerie Graz, Graz, 2003), München 2003, Bd. 1, S. 418-421, S. 418. 44 Hervorzuheben sind hier insbesondere ROGOZINSKI 2003 und ZERVUDACKI 2001

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4.1.1 Sakrale Inszenierungen und Praktiken des Realen „What you see is what you see. […] The blood is my blood, the excrement is my excrement, the photography is direct, without manipulation.“45 DAVID NEBREDA

Die einzelnen Fotografien in Autoportraits explizieren David Nebredas systematische Selbstverstümmelung visuell aufs Deutlichste und mit einer Vehemenz, der sich der Betrachter kaum entziehen kann.46 Bereits die frühe Serie der Schwarz-Weiß-Fotografien enthält Darstellungen von Selbstverletzungen, die jedoch bis zu einem gewissen Grad von der glänzenden Ästhetik der Bilder überlagert werden.47 Mit der ersten Serie von Farbfotografien intensiviert sich der Ausdruck, die der Haut eingeschriebenen Messerschnitte, Verbrennungen und die extreme, an Bilder der KZ-Überlebenden aus dem Zweiten Weltkrieg gemahnende Ausmergelung des Körpers treten in den Vordergrund (Abb. 4.2).48 Doch nicht nur die am Körper sichtbaren Verletzungen, auch der Akt der Selbstverwundung wird gezeigt: Verschwindet Nebredas Gesicht auf einem Foto unter einem Haufen Kot (Abb. 4.1), zieht er die Haut seines Oberkörpers auf einem anderen an vielen Fäden nach vorn (Abb. 4.4), auf einem dritten führt ein Faden aus seinen Augen, in die Nase, in den Mund (Abb. 4.5). In der späteren Serie von 1997 und 1999 sieht man Nebredas brennende Hand und Beine (Abb. 4.3), sowie ein mehrmals durchstochenes Genital. Diese erste und direkt affizierende Bildebene, die den Körper als zentrales Element in den Mittelpunkt stellt, wird überlagert und gewissermaßen aufgefangen durch eine scheinbar symbolisch angereicherte Ebene.49 In den Bildern und Texten finden sich verschiedenste formale und inhaltliche Elemente, Hinweise auf Malerei und die griechische Mythologie ebenso wie Verweise auf das Christentum und die narrativen Facetten der Passion und der Schöpfungsgeschichte:

45 Nebreda in MILLET 2000, S. 55. 46 Vgl. JONES 2003b, S. 179. 47 Rogozinski deutet ebenfalls auf das Ungleichgewicht zwischen körperlicher Versehrung und ästhetischer Repräsentation in dieser ersten Serie hin, welches er erst in der letzten Serie vollkommen erfüllt findet. Vgl. ROGOZINSKI 2003, S. 197. 48 Für diese Assoziation vgl. CLAIR 2004, S. 22. 49 Eine derartige zweifache Lesart findet sich auch in Rogozinskis Beschreibung seiner persönlichen Annäherung an die Fotografien Nebredas. Vgl. ROGOZINSKI 2003, S. 191.

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Abb. 4.4: David Nebreda, le fil de la mère, 1989-1990, Farbfotografie

Abb. 4.5: David Nebreda, Un seul fil parcourt les quatre sens, 1989-1990, Farbfotografie

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„Äpfel und Messer, Kerzen und Fliegen, ein brennendes Brot, unzählige Spiegel mit beschädigter und geborstener Scheibe. Auch Texte […] merkwürdige Legenden, die auf Tafeln oder in die Zeichnungen selbst eingetragen sind.“50 Einige der Fotografien sind reduziert auf ein Hauptsujet, andere sind äußerst komplex aufgebaut und integrieren Mehrfachbelichtungen, so dass Nebreda manchmal multipel im Bild erscheint oder sich verschiedene Bildebenen überlagern. Im Folgenden sollen anhand einzelner Fotografien diese (diffusen) Anzitierungen sakraler Formen und Symbole, ihre Inszenierung und Unterlaufung mit Blick auf die Rolle des Körpers genauer betrachtet werden. Es werden zudem erste Bezüge zur schizophrenen Erkrankung herausgearbeitet. Die Referenz zum Christentum und damit einer spezifischen Form von Heiligkeit sowie einem symbolisch verfestigten Bereich des Sakralen wird bereits über das Bild auf dem Umschlag von Autoportraits (Abb. 4.6) evoziert: David Nebreda ist im Portrait bis zum Oberkörper zu sehen, der Kopf ist umgeben von strahlendem Licht, das einen Heiligenschein assoziiert und das ihn umgebende Dunkel an den Rand des Bildes zurückdrängt. Als äußerste Rahmung erfolgt eine Art golden entflammter Rand, von dem sich Sprenkel unregelmäßig auf das e Papier und den bloßen Körper ausweiten. Über diese Visualität werden sowohl tatsächliche Flammen und damit eine Art Martyrium als auch die Verzierungen von Reliquiaren in Erinnerung gerufen. In Kombination mit dem ausgezehrten und teilweise aufgeritzten nackten Oberkörper sowie den nicht ganz identifizierbaren Wunden und Überlagerungen in dem abgemagerten und zudem mit Asche bestreuten Gesicht, erinnern sie an Darstellungen religiöser Ekstasen in der Tradition der spanischen Malerei.51 Ein Pendant des genannten Bildes findet sich auf dem Essayband Sur David Nebreda (Abb. 4.7). Es zeigt den Künstler in einer ähnlichen Konstellation, ebenfalls vor hellem Hintergrund und dunklem Rand, jedoch ohne goldene ‚Bordüre‘ und zudem mit Hemd und Blazer gekleidet. Die im Gesicht noch wahrnehmbaren Wunden scheinen hier bereits im Prozess der Heilung. Beide Bücher sind auch als Doppelausgabe in einem Schuber erschienen, auf dessen Vorderseite die Fotografien noch einmal nebeneinander zu sehen sind.52 In dieser Konfrontation zweier Selbstportraits werden mehrere Aspekte angesprochen. Neben den visuellen Rückgriffen auf bildliche Heiligendarstellungen wird der Körper Nebredas wahlweise als zwei verschiedene Körper inszeniert oder ein mittels der Fotografie visualisierter Prozess einer inneren

50 ROGOZINSKI 2003, S. 191f. 51 Vgl. CLAIR 2004, S. 22. 52 Vgl. NEBREDA, David: Coffret David Nebreda, Paris 2001.

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Abb. 4.6: Cover von David Nebreda: Autoportraits, Paris 2000, 208 Seiten, 25 x 25 cm, Édition Leo Scheer

Läuterung impliziert.53 Das erste Bild fungiert als Einblick in das Innere des Künstlers und dient als Vorausschau auf dessen Praktiken der körperlichen Versehrung, während das zweite die nach außen getragene, geläuterte Fassung des David Nebreda darzustellen scheint.54 Die Form der schreinartigen Hülle lässt zudem sowohl an ein Grabmal als auch an ein Reliquienkästchen denken und evoziert auf diese Weise die Grenze zwischen Leben und Tod. Mit dieser

53 Beide Aspekte werden in späteren Abschnitten näher betrachtet werden. 54 Jones interpretiert den Anzug an anderer Stelle als durch das System übergestülpte, nicht passende Hülle: „The alien regime of the psychiatric hospital is symbolised by Nebredas dark suit: elsewhere an emblem of the apparently inevitable order and routines of daily life, here it looks uncomfortably like an institutional uniform.“, JONES 2005, o. S.

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Abb. 4.7: Cover von Jean-Paul Curnier, Michel Surya (Hg.): Sur David Nebreda, Paris 2001, 200 Seiten, 25 x 25 cm, Édition Leo Scheer

Konstellation werden metaphorisch die Sujets der folgenden Bilderschau vorweggenommen. So finden sich auf den nächsten Seiten wiederholt Fotografien und Bildtitel, die Nebreda in die lange Reihe der Künstler setzen, die sich in der Tradition christlicher Heiliger und Märtyrer und insbesondere der Christusnachfolge inszenieren und auf Symbole des Christentums alludieren.55 Eine der frühen Schwarz-Weiß-Fotografien zeigt Nebreda auf dem Rücken liegend (Abb. 4.8). Unter dem Gesäß platzierte Kissen sorgen für eine diagonale Positionierung des Körpers, indem der mit einem Tuch verhüllte Kopf unten links zu liegen kommt und die ebenfalls verhüllten Beine nach rechts oben streben, wo sie optisch mit der dunklen Wand zu verschmelzen scheinen. Von dem

55 Für einen Überblick zu Fotografen, die diesen Topos explizit aufgreifen, siehe PEREZ, SEYMOUR-URE 2003. Zu dem Motiv des Märtyrers und seinen Umformungen in verschiedenen Kulturen siehe WEIGEL 2007a.

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dunklen Hintergrund heben sich zwei Elemente hell ab: Arm und Oberkörper sowie darüber an der Wand ein Blätterzweig mit zwei runden glänzenden Kugeln, über welche ein Lichtstrahl hinunter bis zum Oberkörper gleitet. Der schmale Brustkorb weist seitlich eine vernähte Wunde auf, die den Blickfang des Bildes darstellt und assoziativ an die Seitenwunde Christi denken lässt. Der Lichtstrahl sowie der Zweig mit Früchten unterstreichen die mythisch anmutende Wirkung des Bildes, auf dem Nebreda sich als Christusfigur inszeniert und so in die Tradition eines Fred Holland Day tritt, der sich 1898 am Kreuz fotografierte (vgl. Kapitel 2.2.1).

Abb. 4.8: David Nebreda, ohne Titel, 1983-1989, Schwarz-Weiß-Fotografie

In dieser frühen Serie finden sich wiederholt Elemente der Verdeckung des Kopfes und einzelner Körperteile, die eine visuelle Fragmentierung des Körpers zur Folge haben und die Identität der gezeigten Figur vor dem Blick der Kamera verbergen.56 Dies erlaubt eine Konzentration des Blicks auf den Körper als Material und gleicht zudem einer Metapher auf die in anderen Bildern real applizierte Entzweiung von Hautschichten. Rogozinski liest das Verhüllen und Abwenden des Blicks darüber hinaus in Zusammenhang mit Nebredas schizophrener Erkrankung, die ihm zu diesem Zeitpunkt nicht erlaubt, direkt in die Kamera

56 Vgl. ROGOZINSKI 2003, S. 204.

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oder einen Spiegel zu blicken, da diese Medien das eigene Bild duplizieren.57 Im Kontext der folgenden ersten Farbfotoserie findet Nebreda eine Methode, die es ihm ermöglicht, den Betrachter direkt anzublicken und zeitgleich im Spiegel zu erscheinen, oder es zumindest über Mehrfachbelichtungen so aussehen zu lassen.58 Wie der oben erwähnte biographische Eintrag Nebredas verdeutlicht, betrachtet der Autor sich selbst ab diesem Zeitpunkt als neugeboren und zieht es vor, die ersten Fotografien nicht zu kommentieren, da er keinerlei Verbindung mehr zu ihnen sieht.59 Es entstehen nun Fotografien wie jene, auf der Nebreda im Portrait zu sehen ist, den rechten Zeigefinger erhoben und eine Art Heiligenschein über dem ausgemergelten, bärtigen Gesicht, in dem die Augen einen seltsam intensiven Blick ausstrahlen (Abb. 4.9). Der Text unterhalb des Bildes steht im Kontrast zu der so hergestellten visuellen Verknüpfung mit dem Christentum oder gar der Christusfigur, beziehungsweise lässt eine mögliche Konnotation außen vor: Contre-jour sur la fenêtre. Il désigne la présence de quelqu’un dans l’autre pièce. Autoportrait en ouvrant et fermant les yeux; il essaie de la sorte de représenter la peur. Er benennt die technischen Grundlagen der Aufnahme (Gegenlicht, längere Belichtungszeiten für das Öffnen und Schließen der Augen), erläutert die dargestellte Geste (der Fingerzeig auf die Präsenz eines ‚Anderen‘ im nächsten Zimmer) und erklärt den Grund zur Entstehung des Bildes (Angst darzustellen).60 Nebreda lenkt dergestalt den Fokus von der assoziativen Verknüpfung mit einer religiösen Sphäre hin zu der Form der Inszenierung und damit zu dem realen Körper vor der Kamera, im Gegensatz zu der in diesem Falle fiktiven Rolle als ‚Heiliger‘.61 Es wird deutlich, dass Nebreda zwar religiöse und mythologische Bezüge und Symbole integriert, diese sich jedoch nicht konstant aufschlüsseln lassen, ihre Entschlüsselung aktiv konterkariert wird oder die Fotografien weit 57 Vgl. ROGOZINSKI 2003, S. 204f. Auf Seite 205 folgt eine Beschreibung der Aufnahmetechnik der Mehrfachbelichtungen mit Spiegel. 58 Vgl. ROGOZINSKI 2003 S. 205. 59 Siehe auch NEBREDA 2000, S. 9 sowie ausführlicher in der Verweigerung eines Bildkommentars S. 179; und zudem ROGONZINSKI 2003, S. 205. 60 Inwiefern es sich um beschreibende Bildtitel oder Bildunterschriften handelt, wird nicht final ersichtlich. In beiden Fällen ist das Zusammenspiel von Text und Bild relevant und die Bildunterschriften finden sich auch im Katalog zur Ausstellung Nebredas in Salamanca wieder, vgl. Ausst.Kat. Nebreda 2002. Um die enge Verbindung und gegenseitige Beeinflussung hervorzuheben ist im Folgenden auch von ‚Bildtiteln‘ die Rede. 61 Zu verschiedenen Realitätsebenen innerhalb der inszenierten Fotografie im Allgemeinen siehe BLUNCK 2010b.

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über den implizierten symbolischen Bezug hinausgehen, wie Jones formuliert: „Nebreda, then, evokes the narratives and topoi of Christianity in such a way as to simultaneously undercut them. His work creates a borderline disturbance around Christian imagery which cannot (and in this lies its dilemma for spectatorship) be written off as kitsch or as parody.“62

Abb. 4.9: David Nebreda, Contre-jour sur la fenêtre. Il désigne la présence de quelqu’un dans l’autre pièce. Autoportrait en ouvrant et fermant les yeux; il essaie de la sorte de représenter la peur, 1989-1990, Farbfotografie

Ein weiteres Beispiel ist das Foto mit dem Titel Les hosties s’inclinent vers le plafond. Encore se maintient le culte des morts. Du pain avec son sang pour les vivants et pour les morts. (Abb. 4.10) auf dem Nebreda mit zwei „Hostien“ und 62 JONES 2003b, S. 183.

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einem Stück Brot zu sehen ist. Nebreda ist mit grau verschmiertem Gesicht im Profil abgelichtet, die eine Hostie ‚schwebt‘ vor seinen geschlossenen Augen, deutlich sichtbar an einem Draht befestigt, der aus seinem Mund hervor nach oben führt. In der rechten Hand hält er vor sich ein Stück dunkel beflecktes Brot, aus dem, ebenfalls an einem Draht befestigt, eine weitere Hostie emporsteht.

Abb. 4.10: David Nebreda, Les hosties s’inclinent vers le plafond. Encore se maintient le culte des morts. Du pain avec son sang pour les vivants et pour les morts, 1999, Farbfotografie

Auch hier ist der Bezug zum Christentum über Brot, Blut und Hostie integriert. Die als Hostien bezeichneten Objekte scheinen sich jedoch, in einer Abwandlung des Kultes, laut Bildunterschrift zur profanen Zimmerdecke empor zu bewegen

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und sind zugleich, um wieder die Schriftaussage zu unterlaufen, fest installiert.63 Die Fotografie schwankt zwischen zwei gegenläufigen Tendenzen, indem sie die Hostie zwar in einen profanen Kontext überführt, zugleich jedoch aus Nebredas Körper ein, wie Rogozinski formuliert, „Offertorium zur Erhöhung der Hostie macht“64. Das nächste Bild (Abb. 4.11) ist wiederum stärker abstrahierend: Nebreda liegt mit nacktem Oberkörper und geschlossenen Augen auf dem Holzboden. In fester Umarmung hält er eine Glasplatte, die sich an Brustkorb, Hals und Wange presst. Licht und Schatten wechseln sich ab und rahmen sein Gesicht, um welches das Holz des Bodens in einem warmen Farbton erleuchtet wird. Sein Körper ist mit fein getrennten, abwechselnd weißen und größeren schwarzen Streifen überzogen – es scheint, als habe er bestimmte Hautpartien mit Klebestreifen abgedeckt, sich mit Asche bestäubt und die Abdeckung wieder abgezogen. An der Ecke der Glasplatte auf der linken Bildseite in Augenhöhe Nebredas findet sich mit Kreide auf den Boden gemalt ein weißer Kreis mit einem Kreuz. Insbesondere in visueller Nachbarschaft mit dem vorangegangenen Bild der Hostien lässt sich das auf den Boden gezeichnete Symbol als Abstraktion oder Reduktion des durch ein Kreuz geteilten Christogramms Jesus Christus nika lesen, welches oftmals auf griechischen Abendmahlhostien zu finden ist – hier jedoch ohne Buchstaben und damit ohne die Analogie zu verifizieren.65 Der Titel des Bildes, Le baiser le plus doux pour le fils qui n’est pas né, führt laut Jones einen „delusionary, Messianic gloss“66 mit sich, der auch in anderen Fotografien zu finden ist und das Werk als Ganzes überzieht. Einige Fotografien weisen eindeutige Bezüge zur Malerei auf oder integrieren diese über komplexe Bildaufbauten, wie in einem der Stillleben in Autoportraits (Abb. 4.12). Mittig aufgeklebt auf ein schwarzes Papier ist eine kleine

63 Vgl. ebenfalls JONES 2003b, S. 183 für eine genauere Analyse. Darin betont er die Verunsicherung, die von derartigen „problematischen“ Inszenierungen ausgehe. Die Aussage der Titel kann jedoch durchaus in einem humorvollen Zusammenhang gelesen werden, wie auch Rogozinski hervorhebt, vgl. ROGOZINSKI 2003, 191f. Sie ist darüber hinaus für den Fotografen eine Möglichkeit, Belesenheit zu suggerieren. Erst in der Konstellation mit den anderen Bildern des versehrten Körpers Nebredas verschiebt sich der Blickwinkel in der von Jones genannten Weise. 64 Vgl. ROGOZINSKI 2003, S. 218. 65 In gewisser Weise lässt sich dieser Umgang dem von S. Brent Plate beschriebenen iconomash zuordnen: „Religion and the arts connect through processes of iconomash. Religious images morph, move and mask themselves.“ , PLATE 2009, S. 211. 66 JONES 2003b, S. 183.

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Abb. 4.11: David Nebreda, Le baiser le plus doux pour le fils qui n’est pas né, 1999, Farbfotografie

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Kopie von Correggios Gemälde Noli me tangere zu sehen, dessen einzelne Elemente in Farben, Formen und Aufbau nach außen gedrungen zu sein scheinen, um sich in der Fotografie in gewandelter Form zu wiederholen: Von der hellen Tischdecke über die schwarzen Ränder bis hin zu dem purpurnen Tuch und der Lichtquelle im Hintergrund. Integriert in einen kleinen Spiegel links unterhalb des Gemäldes steht Nebredas blau getöntes Selbstportrait in direktem Bezug zu der blau gekleideten Christusfigur Correggios.67 Jones liest die Fotografie als Auseinandersetzung mit der Repräsentierbarkeit des Körpers und schreibt den Körperdarstellungen Correggios eine kontemplative und denen Nebredas im Gegensatz dazu eine in der körperlichen Realität gründende Ausrichtung zu.68 Die mit Spiegelscherben gespickten Äpfel, Les pommes du Correggio, lassen jedoch auch eine Ausdeutung zu, die das Noli me tangere mit der für Nebreda von dem eigenen Spiegelbild ausgehenden Gefahr gleichsetzt. Sie zeugen somit von der Bezugnahme und doch gleichzeitigen Veränderung der Symbolik des Bildes, die ihre Bedeutung erst im intrinsischen System Nebredas entfaltet, das später näher betrachtet werden wird (vgl. Abschnitt 4.1.2).

Abb. 4.12: David Nebreda, Les pommes du Correggio, 1989-1990, Farbfotografie

67 Vgl. JONES 2003b, S. 183. 68 Und damit implizit und in Rückbezug auf Kenneth Clark eine pornographische Konnotation, vgl. JONES 2003b, S. 185.

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In der Fotografie La représentation du premier sacrifice (Abb. 4.13) kniet Nebreda nackt vor einem schwarzen Hintergrund, in den hinter dem Rücken verschränkten Händen eine gebogene Klinge. Über die Haltung Nebredas bei gleichzeitiger Führung der Klinge wird die Anspielung auf das alttestamentarische erste Opfer doppelperspektivisch: Nebreda inszeniert sich als Abraham und Isaak zugleich, er ist Opfernder und Geopferter. Mittig über der knieenden Figur hängt ein handgeschriebenes Plakat mit der Inschrift: „D.N.N. EL SIGUE EL ORDEN – EL LO HACE – LO NECESARIO – POR SU VOLUNTAD EN SILENCIO“.69 Die Inschrift findet sich in Variationen auf vielen der Fotografien wieder und enthält die Kernelemente, die Nebredas Werk formen. Die Abkürzung D.N.N. steht für seinen vollen Namen David Nebreda de Nicolàs und lässt sich erneut als Anspielung auf die Figur Christi und die I.N.R.I. Initialen lesen. Als Teil der parallel zu der ersten Farbfotoserie entstandenen Schriften finden sich in Autoportraits zwei kurze Texte unter dem Titel D.N.N., die einen „dialogue avec l’archétype de certaines images de l’histoire de l’art occidental“70 darstellen. Ähnlich wie auf den Bildern finden sich auch hier Bezüge zum christlichen Narrativ, etwa durch die Erwähnung des Kreuzes, des Schmerzes und des Blutes.71 In den Faksimiles der handgeschriebenen Notizen wird die Aufforderung „voici mon sang“ durch über das Papier verteilte Blutspuren unterstrichen, die sich ähnlich auch in den Bildern wiederfinden.72 Sie verweist dergestalt nicht nur auf einen „Dialog“ Nebredas mit bekannten Figuren der Kunst, sondern auf eine Identifizierung mit diesen – freilich ohne aktiv jene Figuren zu benennen. Rogozinski fasst den Effekt treffend in seinem Aufsatztitel „Schaut, dies ist mein Blut (oder: die Passion nach D.N.N.)“ zusammen. Der Künstler sakralisiert seinen Körper, indem er ihn mittels impliziter Bezüge auf festgefügte Symbole des Sakralen oder traditionelle visuelle sakrale Marker in einen eindeutigen Kontext stellt, meist jedoch ohne diese direkt und eindeutig zu zitieren. Vielmehr wird das ikonische Potential des fotografischen Bildes aktiviert, indem die Referenz auf festgefügte Symbole seltsam unterlaufen oder nicht vollständig ausgeführt wird.

69 „D.N.N. – Er folgt der Ordnung – Er tut es – Das, was notwendig ist – Durch seinen Willen – In der Stille.“, eigene Übersetzung in Anlehnung an die Übersetzung einer ähnlichen Passage durch Werner Welther, vgl. ROGOZINSKI 2003, S. 200. 70 NEBREDA 2000, S. 164. 71 Beispielsweise: „je souris en m’endormant sur la croix, prévoyant mes clous, inoubliables déjà“, NEBREDA 2000, S. 164. 72 Vgl. NEBREDA 2000, S. 165.

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Abb. 4.13: David Nebreda, La représentation du premier sacrifice, 1997, Farbfotografie

In der Zusammenschau der Bilder von Autoportraits entfaltet sich auf diese Weise eine Art Metakonzept, indem die Fotografien sich gegenseitig in ihrer Lesart beeinflussen. David Ganz und Felix Thürlemann sprechen in diesem Sinne von „hyperimages“, welche durch die Zusammenstellung mehrerer autonomer Bilder entstehen und denen eine „metadiskursive Funktion“ zukommt: „Bilderpaare, aber auch größere Bildarrangements bringen den Betrachter dazu, die den zusammengestellten Werken gemeinsamen Kategorien und Differenzen zu erfassen, die dann bei der Betrachtung des je einzelnen Werkes als Grundlage der Deutung in Anschlag

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gebracht werden können. Die jeweiligen Nachbarbilder sagen uns, worauf wir bei der 73

Wahrnehmung des von uns ausgewählten Werkes zu achten haben.“

Über die indirekten und direkten Bezüge wird es dem Betrachter schier unmöglich, die magere Figur Nebredas nicht stets aufs Neue in visuelle Kohärenz zu erinnerten Abbildungen Christi und christlicher Heiliger zu stellen.74 So auch in den Fotografien auf Seite 71 in Autoportraits (Abb. 4.14): Auf dem linken Bild liegt die ausgezehrte Gestalt Nebredas nackt in weiße und beigefarbene Tücher gehüllt auf dem Rücken in einem Bett. Der Kopf ist mit einem Laken verdeckt, so dass der Blick sich ganz auf den geschundenen Körper konzentrieren muss. Die hervorstehenden Knochen werden weiter durch die Haltung Nebredas exponiert, die abgewinkelten Hände zeigen Schürfwunden und die schmutzigen Füße weisen kratzförmige Wunden auf, aus denen das Blut gerade erst herausgeronnen zu sein scheint. Der Bildtitel ist eine Vorschau auf die Fotografie rechts daneben: Les blessures aux pieds sont déjà refermées. – Nebredas Füße sind in Großaufnahme zu sehen, das Blut ist nicht mehr ganz so frisch und die Kratzwunden teilweise verkrustet. Es wirkt, als zeige uns Nebreda die Nachlese der Kreuzabnahme – jedoch in einer Abweichung, die sich vollkommen auf die Erfahrung und Reaktion des lebendigen Körpers konzentriert.75 Jean Clair hebt hervor, dass Nebredas Fotografien mit „Aureolen, Vergoldungen, Dornen, Asche“ sowie der „Bebilderung von Geißelungen und Leiden“ ein ikonografisches Repertoire aufrufen, „das in seiner Mischung aus Makabrem und Überspanntheit der spanischen Barockkunst eigen ist.“76 Insbesondere der Vergleich der beschriebenen Fotografien zu Abbildungen der sevillanischen Kunst der polychromen Skulptur erscheint frappant, wie an Abbildungen der Figur

73 GANZ, David, THÜRLEMANN, Felix: Zur Einführung. Singular und Plural der Bilder, in: Dies. (Hg.): Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und Gegenwart, Bonn 2010, S. 7-38, S. 14 und S. 30. 74 Vgl. JONES 2003b, S. 183. 75 Die im Titel angesprochene heilende Aktivität des lebendigen Körpers untergräbt gewissermaßen das Narrativ, indem es den Tod negiert, kann aber auch als Anzeichen der Reinkarnation und damit der Wiederbelebung gelesen werden. 76 CLAIR, Jean: Melancholische Unsterblichkeit, in: Ders. (Hg.): Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst (ersch. anl. d. gleichn. Ausst., Galeries Nationales du Grand Palais, Paris; Neue Nationalgalerie, Berlin, 2005/2006), Ostfildern-Ruit 2005, S. 434-438, S. 437.

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Abb. 4.14: Seite 71 der Publikation Autoportraits mit zwei Fotografien, David Nebreda, Les blessures aux pieds sont déjà refermées, 1989-1990, Farbfotografien

Dead Christ, 1625-30, ersichtlich wird (vgl. Abb. 4.15 und 4.16).77 Nebreda wählt, ähnlich Serrano, jedoch um vielfaches expliziter, eine Referenz auf das christliche Heilige, die jenes in diesseitig orientierten sakralen Traditionen auffängt, und belebt das Bild des Märtyrers wieder. In Zusammenschau mit Abb. 4.1, auf der Nebreda sein Gesicht vollständig mit Exkrementen verdeckt hat, ergibt sich innerhalb des Buches Autoportraits zudem gewissermaßen ein Triptychon, indem über die Verdeckung des Gesichts die Figur des Leidenden zugunsten der versehrenden Handlungen selbst abstrahiert wird. In der christlichen Bildwelt werden die Verletzungen und die Erfahrung von Gewalt des jeweiligen Martyriums symbolartig in den jeweils benutzten Folter-

77 Zu diesem Themenkomplex siehe auch Ausst.Kat.: The Sacred Made Real. Spanish Painting and Sculpture 1600-1700, The National Gallery, London; National Gallery of Art, Washington, 2009/2010.

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Abb. 4.15 und 4.16: Gregorio Fernandéz und anonymer Polychromer, Toter Christus (Gesamtansicht und Detailansicht der Füße), um 1625-30, polychromes Holz, Horn, Glas, Rinde und Elfenbein oder Knochen, 146 x 191 x 74 cm, Museo Nacional del Prado, Madrid, Dauerleihgabe an das Museo Nacional Colegio de San Gregorio, Valladolid

werkzeugen verdichtet, wie etwa die Arma Christi zeigen. Abb. 4.17 erinnert stark an diese Darstellungen: Auf einem blauen, teils zerschlissenen Tuch sind verschiedenste Objekte drapiert, ein Toaster, eine abgebrannte Kerze, eine Reihe von abgebrannten Zigaretten und kleinen Holzstäbchen, säuberlich nebeneinander gelegt auf einem weißen Tüchlein, dahinter eine fast leere Flasche mit Äthylalkohol, im Vordergrund mehrere Kabel mit sichtbaren Drahtenden. Dazu kommen zwei kleine beschriebene Zettel, von denen einer deskriptiv die Funktion der Geräte benennt: „Utilizados para quemaduras de manos, pecho y costado.“ Die Verbrennungen, die laut Beschreibung an den Händen, der Brust und den Körperseiten mit den Werkzeugen verübt wurden, sind nicht im Bild zu sehen, dem Betrachter in ihrem Ausmaß jedoch bereits aus den anderen Fotografien bekannt. Sind die Arma Christi Zeichen für die Stationen der Passion Christi, so lassen sich diese Elemente als Zeichen der ‚Passion‘ des David Nebreda le-

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sen.78 Das als Hintergrund fungierende blaue Tuch, welches an einigen Stellen skulptural anmutende Falten aufweist sowie die an zwei Stellen sichtbar werdende braune Bank stellen einen weiteren Bezug zu Arma Christi Darstellungen her und verweisen auf Tuch und Sarkophag in Schmerzensmannmotiven. Das zweite Papier unten rechts im Bild enthält, einer Inschrift gleich, die bereits aus anderen Fotografien bekannten Worte: „David Nebreda de Nicolàs – Er Tut Es – Das, was notwendig ist – Durch seinen Willen – In der Stille.“79

Abb. 4.17: David Nebreda, Matériaux utilizes pur les brȗlures des mains, de la poitrine et du flanc, 1989-1990, Farbfotografie

In einem weiteren Foto sieht man verschiedene blutverschmierte Rasierklingen, eine Nadel und Fäden nebeneinander horizontal auf einem Spiegel aufgereiht, verschwommen im Hintergrund ist Nebredas Körper sichtbar (Abb. 4.18). Im Kontext der Darstellungen versehrter Körper und christlicher Symbolik erscheint 78 Bereits in der frühen Schwarzweißserie gibt es eine Fotografie, die Nebreda in einem klassischen Oberkörperportrait vor einem neutralen Hintergrund zeigt, das Gesicht von den erleuchteten Konturen einer Zange überlagert. Während die Zange, die, zum Ziehen der Kreuzigungsnägel verwendet, ebenfalls Symbol der Arma Christi ist, Nebredas Gesicht verdeckt, bildet der leuchtende Punkt der Verbindungsschraube zwischen den Zangenteilen symbolisch das dritte Auge auf der Stirn des Künstlers nach. 79 Eigene Übersetzung, im Orginal: „David Nebreda de Nicolas – El Lo Hace – Lo Necessario – Por su Voluntad – En Silencio“.

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auch diese Fotografie als Darstellung in Anlehnung an die Arma Christi. Der Titel L’échelle vers le ciel verweist zudem auf die Himmelsleiter und ermöglicht vielfältige Bezüge. In Analogie zur alttestamentarischen Jakobsleiter80, auf welcher Jakob im Traum die Engel Gottes hinab- und hinaufsteigen sieht,81 lassen sich die Rasierklingen als Instrumente deuten, deren Verwendung eine Annäherung an eine höhere Sphäre verspricht. Im Johannesevangelium wird die Himmelsleiter auf die Christusfigur übertragen,82 so dass Nebredas Darstellung wiederum eine Analogie zwischen seiner eigenen Passion und derjenigen Christi inhärent ist. Die Bezüge zum Christentum funktionieren demnach nicht nur über direkte körperliche Vergleiche, sondern auch über Objekte, welche die Versehrungen des Körpers implizieren, indem sie etwa Reste des Körpers als Spuren an sich tragen, wie das Blut an den Rasierklingen, oder deren Funktion in der Versehrung des Körpers benannt wird, wie die Verbrennungsmaterialien.

Abb. 4.18: David Nebreda, L’échelle vers le ciel, 1989-1990, Farbfotografie

Nebreda verwendet zudem Blut, Urin und Exkremente, um die Tafeln in seinen Bildern zu beschriften oder die Spiegel und seinen eigenen Körper damit zu bedecken. In dem bereits genannten Visage couvert d’exréments (Abb. 4.1) sieht

80 Vgl. ROGOZINSKI 2003, S. 196. 81 Gen 28,12. 82 Joh 1,51.

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man Nebredas Gesicht (oder besser: sieht es nicht) verborgen unter einer braunen Schicht von Kot. Die Verwendung von Exkrementen mit einer Figur stellt eine Parallele zu Serranos Piss Christ her, stellt jedoch zugleich eine fundamental verschiedene Erforschung dar, da keine ästhetische Überhöhung stattfindet, sondern die Körperreste in all ihrer Profanität und Alltäglichkeit dargestellt und verwendet werden. Dies hebt den, in Anschluss an Julia Kristeva, „abjekten“83 Charakter der Exkremente hervor und verstärkt das von ihrer Handhabung ausgehende, affektive Potential. Der Kopf scheint auf eine Tischplatte gestützt und ist mittig platziert vor einem schwarzen Hintergrund, vom Rest des Körpers ist nichts zu sehen. Die braune Schicht ist an der Gesichtshaut dunkler und wirkt bereits etwas getrocknet, während eine größere hellbraune Masse vorne im Bild noch frisch zu sein scheint. Von Nebreda ist außer einigen Hautstellen und dem Haar kaum etwas zu sehen. Bei näherer Betrachtung treten drei Elemente jedoch besonders eindrücklich hervor: Die Mundhöhle des geöffneten Mundes, deren dunkle Öffnung umgeben ist von Fäkalien, die verschmierten Finger der rechten und linken Hand, sowie das Ohr, an dessen Ecke etwas Kot klebt. Die Kotspuren unter den Fingernägeln verweisen auf die Handhabung der Exkremente und erklären die kugelige Form einiger Objekte im Vordergrund. Auch in anderen Fotografien findet sich das aktive Ergreifen, Hineingreifen oder Bearbeiten von Exkrementen als Sujet (Abb. 4.19). Es ist jedoch insbesondere die Überlagerung des Gesichts mit Kot, die eine grenzüberschreitende Aktion darstellt. Das affektive Potential der Fotografie Visage couvert d’exréments wird deutlich an den Reaktionen der Kritiker und der exponierten Stellung, die ihr in den Analysen von Nebredas Werk zukommt. So begründet sie beispielsweise bei Rogozinski den ersten Satz des Textes und Clair nutzt sie ebenfalls als Ausgangspunkt seiner Abhandlung zur Ästhetik des Sterkoralen, in deren Verlauf er immer wieder zu ihr zurückkehrt.84 Die von ihm als äußerst fragwürdig empfundene Praxis vieler Künstler des 20. Jahrhunderts, Skatologisches und Ekelerregendes als ästhetische Kategorie in den Mittelpunkt zu rücken, habe in den Arbeiten Nebredas einen Höhepunkt gefunden:

83 Körperflüssigkeiten sind zugleich Teil des Körpers und diesem nicht mehr zugehörig, indem sie ausgestoßen werden. In dieser ehemaligen Zugehörigkeit symbolisieren sie die Lebendigkeit des Körpers, der nur über diese Ausscheidungsprozesse lebt, erinnern jedoch zugleich auch an die Abhängigkeit des Körpers von diesen Prozessen und dem dabei Ausgeschiedenen, vgl. KRISTEVA, Julia: Powers of Horror. An Essay on Abjection, New York 1982, S. 3f. 84 Siehe CLAIR 2004, beispielsweise S. 12f. und S. 21; und ROGOZINSKI 2003, S. 191.

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Abb. 4.19: Seite 78 der Publikation Autoportraits mit zwei Fotografien, David Nebreda, Les excréments du fils se divisent en deux, 1989-1990, Farbfotografien „Es handelt sich […] um die Maske der Erniedrigung, die Grauen in uns erweckt. Das Hauptmerkmal des Körpers ist zum anus mundi verkommen. Das Gesicht zu einer Kloake. Das ist es, was Dante im Achtzehnten Gesang der „Hölle‘“ entdeckt, wenn er zum Graben der Schmeichler vordringt. […] „Qui non ha luogo il Santo Volto“: Hier ist nicht der Ort des Heiligen Antlitzes.“85

Als nach außen gekehrte Abfallreste des Körpers konterkarieren insbesondere Urin und Exkremente den Sakralisierungsgestus, der Teil einer Verortung des Körpers im Umfeld eines christlichen Narrativs ist. Können selbstzugefügte Verletzungen im Kontext einer religiösen Ekstase gesehen werden, so wird mit der Darstellung der meisten Körperexkrete vielmehr eine Herabwürdigung verbun-

85 CLAIR 2004, S. 12f.

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den.86 Anders als Körperflüssigkeiten wie Blut, Tränen und Wundeiter, die ikonografisch mit der Leidensdarstellung der christlichen Heiligen verbunden sind,87 muss die Darstellung des Körpers in Verbindung mit Urin, wie in der Analyse zu Serranos Piss Christ herausgearbeitet (siehe Kapitel 3) wurde, oder Exkrementen, wie im Falle Nebredas, primär als entsakralisierender Gestus verstanden werden. Im Falle Nebredas trifft dies im Grunde doppelt zu, da es sich nicht nur um die Herabwürdigung des eigenen Körpers handelt. Über die assoziative visuelle Verknüpfung mit Fotografien, die christliche Symbolik referenzieren, wird dieser zudem mittels der Analogie zum sakralen christlichen Körper zunächst wie beschrieben aufgewertet und wirkt nun auf diesen auch im entsakralisierenden Gestus zurück. Der expliziten Zurschaustellung dieses doppelten Tabubruchs ist eine provokative Tendenz inhärent, die, wie bereits eingangs ausgeführt, stark an performative Praktiken im Umfeld der Wiener Aktionisten erinnert: „All those actions with apparently forbidden substances, or rather, those games, seem to me frivolous, superficial. Excrement and blood are very serious; they are not for playing around with. In some situations their use is inevitable. I have often used them in very particular mental circumstances in relation to which the word art is meaningless. Sometimes I took photos, where you see me with my blood and excrement, but mostly there was no photographic record. […] In those specific circumstances, it remains a necessary limit activity. In others it is a frivolous and ridiculous activity that has no meaning.“88

Die Beschreibung der Handhabung von Exkrement und Blut als bedeutungsvoll und notwendig erinnert an Batailles Ausführungen zur Funktion von temporären Grenzüberschreitungen, in denen der aktiven Auseinandersetzung mit heterogenen oder ekelerregenden Elementen etwas rituell Ekstatisches anhaftet.89 Strukturell fallen diese abjekten Elemente mit dem ausgegrenzten Bereich des Sakralen zusammen. Die von Bataille beschriebenen temporären Grenzüberschreitungen finden sich oft im Kontext obszöner Sexualität und Gewalt.90 In dieser Linie kann die Anwendung von Körperexkreten am eigenen Körper auch an Vorstel86 Claudia Reiß sieht hierin den Grund dafür, dass diese in der Geschichte der Kunst meist ausgelassen werden. Zudem lerne „[d]er Europäer […] bereits im Kindesalter, dass Exkremente als ekelhaft gelten und mit zahlreichen Tabus belegt sind.“, REISS 2007, S. 396 und S. 433. 87 Siehe zudem REISS 2007, S. 433. 88 MILLET 2000, S. 55. 89 Vgl. WIECHENS 1995, S. 7, S. 13 und S. 17. 90 Vgl. WIECHENS 1995, S. 12f. und S. 17.

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lungen von Dominanz und Unterwerfung gebunden sein und so auf eine Nähe der künstlerischen Position zum Masochismus deuten. Aus diesem Grund hatten die Organisatoren der Ausstellung Phantom der Lust. Visionen des Masochismus, 26.04.-24.08.2003, Neue Galerie Graz, Nebreda um seine Teilnahme gebeten.91 Nebreda lehnte jedoch „deutlich und radikal jede Beziehung zum Masochismus […] ab“92 und verweigerte die Teilnahme an der Ausstellung, um einer Interpretation seiner Arbeiten in diese Richtung vorzubeugen. Auch die von Claudia Reiß unter Rückbezug auf Nietzsche und Freud angestellte, naheliegende Vermutung, die exzessive Verwendung von Exkrementen diene dazu, über die direkte Konfrontation eine therapeutische Wirkung zu erzielen, „die Verdrängung zu verdrängen, sich mit Perversion und Neurosen auseinanderzusetzen, indem diese ausgelebt werden“93, weist Nebreda als Impuls für seine selbstversehrenden Praktiken und für die Fotografien von sich.94 Beschreibt Nebreda die Nutzung der Exkremente als ‚notwendig‘, verweist dies vielmehr auf ihre Verortung innerhalb des komplexen Systems von Bestrafungen in Form von körperlichen Versehrungen, das elementarer Teil seines Umgangs mit der paranoiden Schizophrenie ist. Der in seiner Fotografie repräsentierte und mit ihr durchgeführte Tabubruch scheint sich demnach sowohl von einer triebhaften als auch von einer rein provokativen Verwendung abzuheben (auch wenn diese ihr durch den ausgelösten Affekt immer noch als zentrales Element inhärent ist), indem sie diese in ihrer Formation überschreitet. Clair vergleicht im Laufe seiner Analyse die Funktion und Verwendung von Ausscheidungen und anderen Resten des Körpers, wie Haar und Fingernägel, in der zeitgenössischen Kunst mit dem mittelalterlichen Reliquienkult und knüpft damit gewissermaßen an Batailles beschriebenen Ansatz an, das Heilige sei mittels Gewalt, Exzess und Ekelerregendem erfahrbar.95 Das Betrachten, Berühren und Küssen heiliger Körper war im Mittelalter Ausdruck ihrer Verehrung und begründet sich aus der Inkarnation und der physischen Präsenz des Heiligen auch in seinen sterblichen Überresten. Als (ehemalige) Bestandteile eines heiligen Körpers bestätigen sie in ihrer Materialität die Fleischwerdung des Geistes 91 Vgl. NEBREDA 2003b, Hinweis S. 418. 92 NEBREDA 2003b, S. 419. 93 REISS 2007, S. 434f. 94 Vgl. NEBREDA 2003b, S. 419: „Bei mir mit meiner konstitutionellen Ungeschicktheit, steht das konkrete Problem der Autoaggression jedoch nicht im Zusammenhang mit einem Trieb, der unterdrückt, repräsentiert oder eventuell in eine Tat umgesetzt würde.“ 95 Vgl. CLAIR 2004, insbesondere Kapitel V, S. 61-74. Diese Lesart erscheint auch für Piss Christ anschlussfähig.

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im Körper und wirken zudem „aus einer objektiven Beziehung zu diesem Körper heraus“96. Sie partizipieren über eine direkte Verbindung an der Heiligung des Körpers und können diese über Berührung im Kontext der genannten verehrenden Handlungen auch an die Gläubigen weitergeben. Clair weist zu Recht darauf hin, dass sich in der doppelten ästhetischen und inhaltlichen Aufladung der Reliquie als toter körperlicher Überrest einerseits und Objekt heiliger Verehrung andererseits, die von Rudolf Otto hervorgehobene Ambivalenz des Heiligen als zugleich rein und unrein par excellence auffinden lässt.97 Nebredas Beschreibung seiner Empfindungen bei der Verwendung seiner Exkremente reproduziert gewissermaßen das Gefüge des mittelalterlichen Reliquienkultes sowie die Ambivalenz seiner Objekte, indem er eine auf verehrenden physischen Berührungen beruhende Teilhabe an der den Objekten innewohnenden Kraft postuliert: „Comment rendre compréhensibles les sensations que me produisent mon sang et mes excréments? Sensations primaires de reconnaissance, de plénitude, de joie, de tendresse, de lointaine identification, d’amour. Je les ai pris et gardés; je les ai touchés, maniés, j’ai recouvert mon visage et mon corps avec eux. Je les ai introduits dans ma bouche et ils ont été conservés secrètement jusqu’au jour de mon sacrifice. […] en somme les consacrer et me consacrer avec eux.“98

Nebreda verwendet die Exkremente als reliquienartige Objekte und Substanzen seines Körpers, die im Gebrauch geheiligt werden und zugleich heiligend auf ihn zurückwirken. Sie sind dem Körper zugehörig und zugleich Fremdkörper, indem sie das vom Körper Getrennte darstellen,99 und ermöglichen es dergestalt in eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst einzutreten. Nach Freud wird bereits im Kindesalter über die Exkremente zwischen der Form, die man selbst ist und dem, was bereits in der Auflösung begriffen und daher nicht mehr Form und folglich auch nicht man selbst ist, unterschieden.100 Es entsteht gewissermaßen ein Bild des eigenen Körpers ex negativo. In Nebredas Fall kann die Handhabung der ‚Körperreliquien‘ auch als Versuch einer objektiven Bestätigung der 96 CLAIR 2004, S. 64. Zum Reliquienkult siehe ebenfalls die Ausführungen in Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit. 97 Vgl. CLAIR 2004, S. 63. Wenn auch Agamben diese vom Tabu hergeleitete und insbesondere bei Bataille aufgegriffene Ausrichtung dekonstruiert (siehe Kapitel 2, Abschnitt Agamben), so findet sie doch Verwendung. 98 NEBREDA 2000, S. 163. 99 Vgl. KRISTEVA 1982, S. 3. 100 Vgl. CLAIR 2004, S 61.

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Präsenz des eigenen Körpers verstanden werden, dessen materielle Reste sie darstellen.101 Wie der von Caravaggio dargestellte Griff des ungläubigen Thomas in die Seitenwunde (Abb. 4.20), dient das Berühren der Exkremente und ihre Anwendung am Körper somit der physischen Beglaubigung einer körperlichen Präsenz.

Abb. 4.20: Michelangelo Merisi da Caravaggio, Der ungläubige Thomas, um 1600, Öl auf Leinwand, 107x146 cm, Potsdam Sanssouci, Bildergalerie

Zugleich ist jedoch der Handlung des Verdeckens des eigenen Gesichts, wie in Visage couvert d’excrements, eine zweite Komponente inhärent. Wenn Rogozinski Nebredas Foto als „Gesicht eines Menschen, der sich nicht sehen kann und es vorzieht, sich eher in einen Haufen Kot zu verwandeln, als seinen eigenen Blick auszuhalten“102 beschreibt, so verweist er damit auf die dem Vorgehen inhärente, grundlegend ikonoklastische Komponente: Verdeckt Nebreda sein Gesicht mit den eigenen Exkrementen, so löscht er visuell seine eigenen Gesichtszüge aus. Wie oben ausgearbeitet, ist im traditionellen Verständnis mit dieser

101 KRISTEVA 1982, S. 3: „[D]ung signifies the other side of the border, the place where I am not and which permits me to be.“ Die Exkremente bestätigen die Lebendigkeit des Körpers somit gewissermaßen von ‚außen‘. 102 ROGOZINSKI 2003, S. 191.

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Geste zugleich eine fundamentale Herabwürdigung und Entsakralisierung des Subjekts verbunden, die Nebreda jedoch über die Stilisierung der eigenen Exkremente zu Körperreliquien gleichsam zu einer ‚Weihe‘ umformuliert. Es entfaltet sich ein komplexes, paradoxes Handlungsgefüge zwischen Zerstörung und Neuschöpfung des eigenen Bildes, das zentral für Nebredas Œuvre zu sein scheint: Nebreda macht sich ein Bild von sich, indem er die Reste seines Körpers zu Reliquien stilisiert, um sich gleichzeitig mit diesem Bild visuell auszulöschen; Nebreda löscht sich visuell aus, um über diese Negation ein neues, ‚geweihtes‘ Bild mittels der Handhabung seiner Exkremente zu produzieren. Es handelt sich um eine Bestätigung des eigenen Körpers, um diesen Körper zu negieren, einer Negation des Körpers, um ein anderes Bild zu erstellen. Diese auslöschende Geste Nebredas greift auf, was Philippe Dubois anhand eines Werkes von Michael Snow beschreibt. In Authorization, 1969, fotografiert Snow sein Spiegelbild beim Fotografieren mit einer Polaroidkamera und überklebt sukzessive sein Abbild mit den entstandenen Fotografien. Es entstehen neue Bilder, in denen sein Spiegelbild visuell überlagert wird, bis es schließlich nicht mehr zu sehen, ausgelöscht ist und an seine Stelle andere Abbilder getreten sind.103 Die Fotografien in Autoportraits zeigen somit gleichzeitig das Erleiden einer – körperlich allzu realen – „Passion“104 und (sind) deren mythische Überführung. In einer paradoxen Konstellation verbindet Nebreda einen sakralisierenden mit einem entsakralierenden Gestus, indem er sich zugleich in ein christliches Narrativ einstellt und dieses unterläuft, ohne es tatsächlich blasphemisch anzugreifen, wie Serrano es tut (vgl. Kapitel 3). Die Symbole werden zwar gewissermaßen anzitiert, jedoch nicht eins zu eins übertragen, sondern vielmehr im Sinne eines ikonischen Zeichens über Ähnlichkeit referenziert. Dabei können die Inszenierungen und komplexen Bildaufbauten die Realität der selbstversehrenden Handlungen und dargestellten Wunden nicht aufheben. Vielmehr wird, wie David Houston Jones hervorhebt, trotz dieser Elemente über das Zeigen der körperlichen Versehrtheit im Ganzen der Bezug zum realen Körper als primärer Größe aufrecht erhalten, wodurch die Fotografien nicht ohne Bezug zu Nebredas Biographie lesbar scheinen: „[W]e cannot ignore the uncomfortable, excessive presence of ‚Nebreda himself‘ within the painful images, liquidating the ‚charge esthétique‘ in favour of a visceral, unwilling

103 Vgl. DUBOIS 1998, S. 24. In Snows Arbeit löst sich die Erkennbarkeit dieser Bilder ebenfalls auf. 104 In Rückbezug auf Rogozinskis Aufsatztitel: „Schaut, dies ist mein Blut - Oder: Die Passion nach D.N.N.“ ROGOZINSKI 2003, S. 191.

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fascination. Nebreda’s self-mutilation and self-starvation are lived as well as staged: the aesthetic is cripplingly traversed by the real.“105

Die Verortung der Figur Nebredas im Kontext der bekannten christlich-sakralen Bildtradition kann als Versuch einer Begründung gelesen werden, die das Gezeigte symbolisch aufzufangen, zu legitimieren und zu erläutern sucht. Für den Betrachter kann den Bildern jedoch über diese Referenz konträr dazu eine zusätzlich „verstörende“ Ebene eingeschrieben werden: „[W]hat is already, in substance, intolerable, is made doubly so in its appalling juxtaposition with Biblical narrative“106. Überwiegen in den beschriebenen primären Konfrontationen mit den Fotografien oftmals Sensationen von Ekel oder körperlicher Überforderung, so ist es wahrscheinlich, dass durch die Verbindung zur real vorhandenen psychischen Erkrankung der Eindruck der von Nebreda beschworenen Notwendigkeit der Aktionen ebenfalls implizit wahrgenommen wird. Nebreda betont vermehrt die Grenzwertigkeit der Erfahrung, die seine Fotografien im Raum zwischen künstlerisch-ästhetischer Präzision und einer sehr subjektiven Realität verortet.107 Die Produktion und Transformation verschiedener realer Selbstbilder muss demnach eng mit der psychischen Erkrankung Nebredas gelesen werden. In diesem Kontext dienen die Aktionen und „intimen Zeremonien der Autoaggression“, wie Rogozinski hervorhebt, als Nebredas „Verteidigungssystem gegen den Wahnsinn.“108 Sie folgen einem eigenständigen intrinsischen System, das im Folgenden insbesondere in Hinblick auf die Rolle des fotografischen Mediums betrachtet wird.

105 JONES 2003b, S. 181. 106 JONES 2003b, S. 185. 107 MILLET 2000, S. 54. 108 ROGOZINSKI 2003, S. 195.

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4.1.2 Nebredas System, der „fotografische Doppelgänger“ 109 und der „Zugang zum Mythos“110 Für Nebreda ist der Beweggrund für seine Arbeit die schizophrene Erkrankung, die ihn, wie er formuliert, zu dem veranlasst hat, „was man das Projekt einer konkreten Umsetzung und globalen Wandlung der Persönlichkeit nennen könnte“111. Diese Umwandlung ist zugleich das, was Nebreda eine „doppelte Realität“112 nennt. Der Schlüssel für das Verständnis dieser doppelten Realität ist die von ihm beschriebene Erfahrung des persönlichen ‚Todes‘ und der ‚Wiedergeburt‘, die vor der Entstehung der ersten Farbfotografien stattfand.113 An diesem Punkt setzt eine Persönlichkeitsspaltung ein, die Nebredas Identität in ein ‚vor‘ und ‚nach‘ dieser Erfahrung ausdifferenziert und so verdoppelt. Das alte Selbst repräsentiert dabei das „Schlechte“, das es in einem ständigen Prozess zu transzendieren und abzustoßen gilt, zugunsten der neuen „Guten“ Identität.114 Letztere ist in einem größeren Kontext zu sehen, sie ist diejenige, mit der Nebreda in eine „direkte Beziehung“ zu bestimmten Figuren und Tieren der Kulturgeschichte des Abendlandes tritt, mit denen er sich identifiziert. Ihr gehören auch die Fotografien an, oder besser das, was er den „témoin photographique“ nennt, seinen fotografischen Doppelgänger, der ein „autre moi plus réel et plus définitive“ darstellt.115 Das Projekt der Persönlichkeitswandlung hat nun als Ziel, diese bereits vorhandene Spaltung hin zu einer kommenden, finalen Annahme der neuen Realität zu transzendieren, ist jedoch auch mit der grundlegenden Gefahr verbunden, sich in diesem Prozess ganz zu verlieren.116 Das Projekt zur finalen Wandlung der Persönlichkeit wird getragen durch ein komplexes und teils paradoxes System, das sich aus drei Elementen zusammensetzt: „der Zugang zum Mythos, das Verhalten oder die verwendeten Bestandteile und das Procedere“.117 Die benannten Konstituenten lassen sich zwei Ebenen

109 MILLET 2000, S. 48. 110 NEBREDA 2003a, S. 425. 111 NEBREDA 2003a, S. 424. 112 Nebreda zit. nach MILLET 2000, S. 55. 113 Vgl. NEBREDA 2000, S. 174. 114 NEBREDA 2000, S. 175. 115 NEBREDA 2000, S. 174. 116 Vgl. NEBREDA 2000, S. 175. 117 NEBREDA 2003a, S. 425.

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zuordnen118, in welche die bereits in den Analysen benannten Strukturen von Zerstörung und Neuschöpfung als zentrale Handlungsrichtungen einfließen. Auf der ersten Ebene finden sich die selbstversehrenden Handlungen und die Bestrafungsaktionen, die sich aus dem zusammensetzen, was Nebreda „das Verhalten“ und „die Bestandteile“ nennt: die Rasierklingen, das Messer, die Verbrennungen, die Verwendung von Kot.119 Die Aktionen und Objekte werden in Form von geordneten und doch stets neu zusammengesetzten Prozeduren und Ritualen zusammengefügt, denen, wie Rogozinski betont, eine erhaltende Funktion zukommt, indem sie Nebreda vor den Gefahren der Schizophrenie schützen.120 Sie sind dabei weniger religiös-rituell (auch wenn religiöse Symbolsysteme sich, wie unten aufgeführt, darin spiegeln) sondern primär aus psychiatrischer Perspektive zu lesen als irrationale Riten, Zwangshandlungen oder Zwangsverbote, die dazu dienen, eine ebenfalls irrationale Bedrohung in Schach zu halten.121 Auf der schöpferischen zweiten Ebene, jenem „Zugang zum Mythos“ bettet Nebreda die Handlungen über symbolische Aufladung in mythologische und religiöse Kontexte ein und stärkt so die neue, ‚gute‘ Realität. Es handelt sich um eine Form der Sakralisierung, die religiöse Valenz durch eine Art inszenierenden Zeichentransfer an die Handlungen bindet und so eine rahmende Bedeutungsaufladung generiert. Diese ist selbst nicht zwingend religiös, sondern dient vielmehr als Gerüst und Rahmen für die Festlegung und Konstruktion einer Identität, indem sie traditionell festgelegte moralische und sozial etablierte Parameter benutzt, da diese Nebreda aufgrund seiner Erkrankung fehlen, wie er selbst beschreibt: „I did not acquire a system of mental, social or any other standards, and since I was very young I have had to construct them from myself.“122 Die Fotografie ist eng an diese zweite Ebene gebunden und gewissermaßen mit ihr identisch, da im Bild die inszenierenden Elemente in einer Gesamtkomposition zusammengeführt werden.123 Zudem bietet sie, wie Nebreda betont, eine weitestgehend konventionelle „mentale Struktur“ an, von der er lerne.124 Die Ebene der versehrenden Handlungen beinhaltet viele verschiedene Elemente, deren Funktion und Wichtigkeit variieren und die je nach Erfüllung ihrer 118 Diese Aufgliederung wird bei Nebreda impliziert und findet sich sowohl bei Rogozinski als auch bei Jones (hier etwas kürzer) expliziert, vgl. ROGOZINSKI 2003, S. 194f. und JONES 2003b, S. 179. 119 Vgl. NEBREDA 2003a, S. 424. 120 Vgl. ROGOZINSKI 2003, S. 195. 121 Vgl. Nebredas Aussagen in LUC 2002a, S. 106. 122 Nebreda in LUC 2002a, S. 105. 123 Vgl. ROGOZINSKI 2003, S. 195. 124 Nebreda in LUC 2002a, S. 105.

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Aufgabe weiterverwendet werden oder nicht.125 So beschreibt Nebreda, dass beispielsweise das Messer, der Spiegel, das Skalpell und die Exkremente jeweils eine eigene Funktion besitzen und zu einem bestimmten Zeitpunkt einen gleichen Status innehatten, der sich mit der Zeit mehr oder minder stark verändert hat.126 Kristevas Beschreibung der Funktion des Abjekten ließe sich in diesem Sinne fast wortwörtlich auf Nebredas Verwendung von Exkrementen übertragen: „On the edge of nonexistence and hallucination, of a reality that, if I acknowledge it, annihilates me. There, abject and abjection are my safeguards. […] These body fluids […], this shit are what life withstands, hardly and with difficulty, on the part of death. There, I am at the border of my condition as a living being. My body extricates itself, as being alive, from that border. Such wastes drop so that I might live.“127

Die Berührung mit Exkrementen dient der Bestätigung der eigenen Präsenz, indem sie reliquienartige Zeugnisse der Körperfunktionen ablegen und somit die Existenz und Vitalität des Körpers zu einem bestimmten Zeitpunkt bestätigen, indem sie ihn mit dem konfrontieren, was nicht mehr Körper ist. Wurde der Spiegel zu Beginn wiederholt betrachtet, gestreichelt und nachts am Bett platziert, so ändert sich seine Rolle wohl am Radikalsten, indem er seine grundlegende Funktion ganz verliert, beziehungsweise sie ins Gegenteil verkehrt: „Die Spiegelbetrachtung wurde vor zehn Jahren verboten, zu dem Zeitpunkt, als die Invasion meines Gehirns, wie ich es nenne, begann.“128 Wie bereits erwähnt, verweist Rogozinski auf die schwierige Beziehung psychisch Erkrankter zu dem eigenen Spiegelbild, in der er die Ursache für Nebredas Entsagung des Spiegels sieht.129 Von diesem geht eine immense Gefahr aus, da sich der Raum zwischen der eigenen Identität und der des gespiegelten Doppelgängers als Irrgarten erweist, in dem man sich leicht verliert und sich entweder nicht mehr oder zu sehr mit dem Spiegelbild identifiziert.130 So trägt denn auch eines der Portraits der ersten Farbserie den Titel: La découverte du véritable sens du miroir. Il ne sait plus où il est et où est l’autre.131 125 Vgl. NEBREDA 2003a, S. 424. 126 Vgl. NEBREDA 2003a, S. 424. 127 KRISTEVA 1982, S. 2f. 128 NEBREDA 2003a, S. 424. 129 Vgl. ROGOZINSKI 2003, S. 200f. Als weiteres Beispiel verweist Rogozinski auf den Fall von Eugenie, einer Erkrankten, die um 1900 von einem Schüler Charcots in der Salpêtrière behandelt wurde, vgl. S. 199. 130 Vgl. ROGOZINSKI 2003, S. 201. 131 NEBREDA 2000, S. 51.

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Wie groß die Gefahr ist, die von dem Abgrund der schizophrenen Erkrankung ausgeht, wird deutlich, wenn Nebreda seine Angst beschreibt, „die viel größer ist als das eigene Überleben und die Grenze zum Tod“.132 Diese Angst lernte er ebenfalls in seiner ersten fundamentalen Krise kennen, die für ihn den Tod und die Wiedergeburt bedeutet, wie seine eingangs besprochenen biographischen Notizen zeigen. Gleichzeitig verdeutlicht sich ihm zu diesem Zeitpunkt ein komplexes „eigene[s] Bewusstseinsprinzip und […] Ordnungsprinzip“, das seitdem wichtiger Bestandteil des Verhaltens (und dessen Begründung) ist: „At this beginning I am always talking about, in this forced inevitable discovery, of the mental principle, I think that the first element is the sense of order […]. This sense of order that everyone has but that nobody sees is something that I personally have to keep insisting on. […] There are many ways of talking about the sense of order, of ritual, of procedure. It is in the deepest sense, that of self-awareness. But it is difficult to be more precise.“133

Das Ordnungsprinzip, welches Nebreda hier mit dem Procedere gleichsetzt, erscheint absolut notwendig und leitet als konstitutiver Faktor alle Aktionen und rituellen Formationen an. Es wird auch aufrecht erhalten in der langen Phase, in der keine Fotografien entstehen und funktioniert daher unabhängig von diesen, was darauf verweist, dass der Fotografie zwar eine zentrale Rolle zukommt, diese jedoch nicht alleiniges Ziel der Handlungen ist, von denen viele auch nicht fotografisch fixiert werden.134 Der Fokuspunkt der Handlungen ist auch nicht die Bestrafung oder der durch sie ausgelöste Schmerz selbst, den Nebreda an mehreren Stellen als nicht vorhanden beschreibt.135 Vielmehr bewegt sich Nebreda in einem größeren Kontext, vor dem Schmerz und Ekel anders und neu ausdifferenziert werden,136 indem sie Mittel zum Zweck sind, die unbedingte Erfüllung eines dahinter stehenden „Notwendigen“137 durch absolute Selbstdisziplin und das „persönliche Verbot“138 zu erreichen. In den Notizen aus den Jahren 1989 bis 132 NEBREDA 2003a, S. 422. 133 MILLET 2000, S. 54. 134 Vgl. NEBREDA 2003a, S. 426. 135 Vgl. NEBREDA 2003a, S. 424. Diese Wahrnehmung erfordert eine spezifische Haltung Nebredas, die er als Auslassung all dessen „was sich auf die inneren, auf die kulturellen Strukturen oder persönlich-moralische[n] Zusammenhänge bezieht“, beschreibt. 136 Vgl. NEBREDA 2003a, S. 423. 137 NEBREDA 2000, S. 161: „ce qui est nécessaire“. 138 NERBEDA 2003a, S. 425.

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1990 findet sich eine Passage, die dieses „Notwendige“ und dessen ‚Ort‘ umreißt: „Il y a quelque chose au dessus de l’ordre – de l‘idée même de l’ordre – de la formulation ou intuition – au dessus de n‘importe quelle idée d’absolut – de n’importe quelle idée de dieu ou principe – indépendamment de n’importe quelle conception surnaturelle, et de toute idée ou préjudice moral ou culturel – l’essentiel – le principe – ce qui n’est pas contestable – ce qu’on ne peut pas arracher – le renoncement – L’essence – le dépouillement – ce qui est nécessaire – indépendamment de tout ceci et de toute valorization – et pourtant proche et non sujet à l’abandon.“139

Wird das Notwendige oft sprachlich nicht genau vom Ordnungsprinzip unterschieden und ist innerhalb von Nebredas System eng mit diesem verwoben, so erscheint hier deutlich, dass es zugleich einen gewissen Überschuss zur Ordnung darstellt, der sich grundlegend entzieht, indem er „vor allem“ ist. An anderer Stelle beschreibt Nebreda einen „furchtbaren Bereich, in dem sich die heiligen Zeichen bewegen, aus denen sich das Religiöse herleitet, die Zeichen des Gewissens, aus denen sich die Moral herleitet, die Zeichen des Überlebens, aus denen sich der Sexualtrieb entwickelt. Ein kulturell dem Schweigen unterworfener Bereich […].“140 Da dieser Bereich die Formation des Verhaltens bestimmt, kann angenommen werden, dass es sich ebenfalls um den Bereich des Essentiellen, Notwendigen handelt.141 Dieser ganz andere Bereich weist nicht zuletzt durch die ihm inhärenten „heiligen Zeichen“ starke Parallelen auf zu dem Bereich des Heiligen, das gewissermaßen vor den Religionen stehend, sowohl anziehend als auch furchteinflößend wirkt (Ottos fascinans und tremendum). Wenn er auch nicht zwingenderweise interpretatorisch und innerhalb einer spezifischen religiösen Ausprägung des Sakralen mit diesem zusammenfallen muss, lassen sich doch strukturelle Parallelen ausmachen. Indem es das „Notwendige“ ist, das, was Nebreda unbedingt angeht, ihn betrifft und sein Verhalten steuert, nimmt es strukturell den Ort eines „letzten Wertes“ an, wie Magnus Schlette ihn in seiner Analyse dessen, was Menschen heute als „heilig“ im alltäglichen Sprachgebrauch definieren, bezeichnet.142 In Anlehnung an das soziologische Modell Ulrich Oevermanns verweist er auf eine moderne Disposition zu Erfahrungen des 139 NEBREDA 2000, S. 161. 140 NEBREDA 2003b, S. 419. 141 Vgl. NEBREDA 2003b, S. 419. 142 Wobei diese Bezeichnung nicht unbedingt positiv, sondern im Rahmen von Nebredas Erkrankung auch negativ ist. SCHLETTE 2009, S. 112; sowie den Abschnitt zu Schlette in Kapitel 2.1.2 der vorliegenden Arbeit.

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Heiligen auch abseits religiös-institutioneller Kontexte: „[E]s zeigt sich vielmehr, dass wir immer noch Erlebnisse eines Unbedingten haben, das uns ergreift, sich uns aber auch entzieht, in jedem Fall aber unser ganzes Leben ändert. Offensichtlich gibt es eine anthropologische Disposition zur Religiosität, die sich soziokulturell artikuliert.“143 Die strengen Rituale und Prozeduren, die dieser vor allem stehende, notwendige Bereich Nebreda abverlangt, erinnern an religiöse Rituale in der Abgrenzung und Annäherung an Heiliges, wenn auch Nebreda eine bewusste, zeremonielle Durchführung von Ritualen in diesem Sinne negiert.144 Émile Durkheim beschreibt religiöse Verbote und Enthaltungen als Trennungsformen zwischen Heiligem und Profanem, mittels derer erst der Zugang zu einer positiven Kultform geschaffen wird, die sich wiederum in Riten und Ritualen der Sakralisierung zeige.145 Mehr noch: Diese „Askese“ scheint auch im sozialen Leben auf und bilde einen „integrierenden Teil jeder menschlichen Kultur.“146 Dient das Procedere, dem Nebreda sich unterzieht, aus psychiatrischer Perspektive als Schutzhandlung, welche die Trennung zu einem irrationalen, gefährlichen, abgegrenzten Bereich aufrechterhält, so liegt hier eine strukturelle Ähnlichkeit zu den religiösen Verboten. Zugleich können sie als Voraussetzungen interpretiert werden, mittels derer Nebreda sich – und dies durchaus in einem postsäkularen Sinne – vom Profanen lossagt, um eine Zustandsänderung zu bewirken. So ist nach Durkheim der Mensch, der festgeschriebenen Verboten folgt, „nicht mehr das, was er vorher war“. Vielmehr habe er sich nun dem Heiligen genähert, indem er sich dem Profanen entfernt habe.147 In Durkheims Beschreibung scheint schließlich auch jene von Nebreda beschriebene „Wiedergeburt“ auf: „Das Ergebnis dieser vielfältigen Verbote […] ist eine radikale Zustandsveränderung. […] Die Metamorphose ist so vollständig, daß sie oft als eine zweite Geburt dargestellt wird. Man stellt sich vor, daß die profane Person, die der junge Mann bis dahin gewesen ist, gestorben wäre […] und ein ganz anderes Individuum an die Stelle dessen getreten ist, der nicht mehr existiert.“148

Eine besondere Rolle nimmt dabei der rituelle Schmerz ein, der mit der Askese assoziiert wird, sei er emotional oder physisch, und aufgrund dieser Verbindung 143 Zusammenfassung von Schlettes Überlegungen durch THIES 2009, S. 11. 144 Vgl. hierzu seine Ausführungen im Interview mit LUC 2002a, S. 107. 145 DURKHEIM 1981, S. 409 und S. 419. 146 DURKHEIM 1981, S. 429. 147 DURKHEIM 1981, S. 419. 148 DURKHEIM 1981, S. 421.

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schließlich mit diesem Effekt assoziiert und als ritueller Zustand gesucht wird, um die Annäherung an Heiliges zu fördern.149 Indem Nebreda seinen Körper verschiedensten Praktiken der Reduktion und physischen Destruktion unterzieht, nähert er sich demnach einer physischmenschlichen Grenze weitestgehend an und überschreitet diese emotional in Form von Allmachtgedanken in Richtung des ganz anderen Bereichs.150 Alle Aktionen und Bestrafungen zielen neben ihrer Schutzfunktion zugleich auf diese Grenzüberschreitung, auf die „Regression zum Quasi-Nichts“151, um über den Weg der absoluten Kontrolle seines Körpers, die absolute Kontrolle seines Willens zu beweisen und somit die eigene Identität schöpferisch konstruieren zu können.152 Nach Bataille dient nach dem „Tod Gottes“, das heißt gerade auch außerhalb anerkannter und festgeschriebener religiöser Funktionssysteme, die temporäre Überschreitung der Grenze zum Heiligen mittels Gewalt und ekstatischer Zustände zugleich als Überschreitung der Grenzen des Subjekts und der sozialen Normen, die jedoch langfristig gerade über diese Ausnahme aufrecht erhalten werden.153 Im Kontext von Nebredas schizophrener Erkrankung erscheint diese Konstellation als fatales Paradoxon, dass die Möglichkeit der Festschreibung der Identität essentiell an deren Überschreitung und Auflösung koppelt: „Comment garder un identité quand cela exige et ne se reconnaît que par le moyen d’apporter sans relâche la preuve de sa propre destruction?“154 Nebredas „Projekt“ ist somit im Grunde ein „Nichtprojekt“155, indem es zur Etablierung der eigenen Identität, die Annullierung der eigenen Person zugrunde legt. In der langen Phase, in der keine Fotografien entstehen, zeigt sich dies auf eine weitere Art und Weise. So führt die schizophrene Spaltung in eine tiefe degenerative Krise, sobald die doppelte Realität nicht im Sinne eines Glaubens an das vitale Projekt und damit an den positiven Sinn der Persönlichkeitsverwandlung aufrechterhalten werden kann, was etwa durch Intervention von außen pas-

149 Laut Durkheim gilt dies sowohl für alle Religionen, als auch für die Askese im sozialen Rahmen, vgl. DURKHEIM 1981, S. 423 und S. 427 und S. 429. 150 „Dann stellt sich das Gefühl der Allmacht durch Reduktion auf das Nichts ein, und mit ihm das Gefühl der Neuerschaffung der Welt, der Änderung oder der Negation der Norm der Wahrnehmung und der Zeit.“, NEBREDA 2003a, S. 426. 151 Vgl. NEBREDA 2003a, S. 422. 152 Vgl. NEBREDA 2003a, S. 426. 153 Vgl. WIECHENS 1995, S. 17. 154 NEBREDA 2000, S. 162. 155 NEBREDA 2003a, S. 428.

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sieren kann.156 Es beginnt die „Invasion des Gehirns“, wie Nebreda es nennt, die dazu führt, dass er weder die eine noch die andere, weder die alte, noch die neue Identität, wie auch Durkheim sie als positiven Effekt der asketischen Riten beschreibt, annehmen kann und daher das eigene Selbst komplett negieren muss und so auf der Schwelle des Nichts verharrt als der „der nicht ist“157. In den sieben Jahren, die folgen, widmet sich Nebreda primär dem Kopieren von Geometriebüchern und verweigert jegliche Aktivität.158 Richtet man den Blick erneut auf die Konstellation der Fotografien des eingangs beschriebenen Coffret der Doppeledition zu Nebredas Werk (Abb. 4.6 und 4.7), erscheint diese nun als Metapher auf Nebredas System. Indem sie Nebreda sowohl versehrt, als auch „erleuchte[t]“159 zeigen, visualisieren sie die Auslotung von Grenzen sowie deren Transgression. Über den ‚reliquiaren Nachruf‘ auf einen Lebendigen tritt spezifisch die Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen Diesseits und Jenseits in den Vordergrund, die Nebreda gewissermaßen zu einer größeren Sphäre, einer anderen Realität hin zu transzendieren sucht.160 Ohne dieses als Heiliges zu definieren, nutzt Nebreda die christlich-sakralen Ausformungen des Heiligen, etwa den Heiligenschein, um mittels eines strukturellen Sakraltransfers an diesem Bereich zu partizipieren. Die Zusammenführung der eigenen Versehrungen mit mythologischen Elementen und Symbolen stellt demnach die schöpferische zweite Ebene dar, jenen „Zugang zum Mythos“, in der das neue Selbst zur Entfaltung kommt und „bezeug[t]“ wird.161 Diese soll im Folgenden näher betrachtet werden. In seinen Ausführungen zu den Fotografien aus den Jahren 1989 bis 1990 beschreibt Nebreda, dass die mythologischen und religiösen Referenzen auf Personen der Kulturgeschichte, wie etwa Christus, oder Tiere, wie etwa das Lamm, nicht aus Sympathie oder intellektuellem Interesse entstehen. Vielmehr handle es sich um eine „wahrhafte Identifikation“, die ihn in eine „direkt[e] Beziehung“ zu

156 Nebreda verweist hier spezifisch auf die Rolle des Klinikpersonals, vgl. NEBREDA 2000, S. 175f. 157 NEBREDA 2000, S. 175 und S. 177. Diese Formulierung ist zu unterscheiden von der Praxis der Reduktion, fällt jedoch zu einem gewissen Zeitpunkt mit dieser zusammen. 158 Zur Beschreibung dieses Prozesses und den Folgen, vgl. NEBREDA 2000, S. 175f. 159 NEBREDA 2003a, S. 428. 160 Die im Coffret vereinten Texte, einmal die Innenperspektive Nebredas, einmal die Außenperspektive auf sein Werk, lassen diese doppelte Blickrichtung auf die Transgression manifest werden. 161 NEBREDA 2000, S. 174.

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ihnen setze.162 Sprechen die Symbole oder visuellen Inszenierungen dieser zweiten Ebene über das, was Jones eine „oblique mode of referentiality“163 nennt, das kulturelle Gedächtnis des Betrachters an, so verweigert Nebreda ihnen jedoch meist eine symbolische Interpretation, wie bei der Analyse anhand der visuellen und textlichen Brüche in Bildern und Titeln gezeigt werden konnte. Nebreda betont, dass in der Assimilation von Symbolen in seiner persönlichen Arbeit keinerlei symbolische Intention, sehr wohl jedoch eine symbolische Konstruktion liege: „This work has no symbolic intentions. With the author, everything is a symbolic construction. […] This symbolic construction must be accepted as a double reality and not as a product with a deliberate symbolic intention.“164 So scheint über die symbolische Konstruktion beispielsweise die Identifizierung mit Christus durchaus gewünscht. Zugleich wird jedoch die inhärente intentionale Bedeutung einer solchen Identifizierung negiert, oder wie Rogozinski formuliert, handelt es sich dabei eben um „eine konstruierte Identifizierung, wir können es nie genug betonen, die überhaupt keinen Beitritt zu einer Kirche bedeutet“.165 Die in einer solchen Praxis aufscheinende Struktur lässt sich mit Magnus Schlette näher fassen. Wie oben zusammengefasst, sind nach Schlette auch in der Moderne Erfahrungen eines (post)säkularen Heiligen insofern möglich, als dass sie Erfahrungen „letzter Werte“ darstellen. Eng daran geknüpft ist eine „Bewährungsproblematik“: Die im Sprechakt fußende Befähigung des Menschen zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, zwischen präsenter und repräsentierter Wirklichkeit zu unterscheiden, führt zu der Notwendigkeit einer Wahl, welche Deutung den Dingen zukommen soll, bei gleichzeitigem Bewusstsein, dass andere Wirklichkeiten theoretisch ebenfalls möglich sind, wodurch diese Wahl begründet werden muss.166 Religiöse Narrative und Erlösungsmythen bieten einen Orientierungsrahmen für die Bewährungsproblematik, indem sie „Bedeutsamkeitsordnungen“ generieren.167 Dabei entsteht im Grunde ein reziprokes 162 NEBREDA 2000, S. 174. 163 JONES 2003b, S. 182. 164 MILLET 2000, S. 55. 165 ROGOZINSKI 2003, S. 196. 166 „Dieses doppelte Kontingenzbewusstsein kristallisiert sich in einem Wissen um die Deutungs- und Zukunftsoffenheit unserer Lebenspraxis […]. Daraus ergibt sich für den Handelnden nun das Problem individueller Bewährung. Denn der Notwendigkeit der Wahl und Entscheidung korrespondiert die Verpflichtung zu deren Begründung.“, SCHLETTE 2009, S. 122. 167 SCHLETTE 2009, S. 123. Wenn das Bewährungsbewusstsein kultur- und zeitübergreifend wirksam ist, so kann davon eine grundlegende Disposition des Menschen abgeleitet werden, sich verbindlich in einem Narrativ zu verorten und über besondere,

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Verhältnis: Es werden solche Narrative gewählt, welche die Bedeutung der existentiellen Werte für das Leben erklären und adaptieren können, zugleich wird das Narrativ durch diese Werte authentifiziert.168 In der Moderne kann die potentielle Vielzahl der Narrative sowie Handlungs- und Entscheidungsoptionen zu einem „Individuierungsproblem“ führen, dass die Bewährungsproblematik in ihrer Vehemenz steigert und in diesem Sinne auch zu einem verstärkten „Bedürfnis nach Erlebnissen des Heiligen“ führt.169 Magnus Schlette beschreibt das Bewährungsbewusstsein des Menschen somit als den Antrieb, sich zur Begründung der eigenen Lebensentscheidungen und Handlungen, die stets auch anders hätten entschieden werden können, in größere Zusammenhänge einzubetten, welche die eigene Lebensweise leiten und bestätigen können.170 Nebredas Situation verdichtet diese Problematik, da ihm, wie eingangs beschrieben, grundlegende Wertzusammenhänge und moralische und „mentale Standards“ fehlen, die er sich erst als Gerüst „konstruieren“ muss. Die von ihm gewählten Referenzen zum Christentum sind Beispiel der von Schlette beschriebenen Einordnung des Menschen in bedeutsamkeitsgenerierende – mithin also sakralisierende - Gerüste. Indem er ihnen jedoch ihre intentionale Bedeutung verweigert und sie auf den Moment der Bezugnahme, auf den Moment der symbolischen Konstruktion reduziert, legt er eben diese Praxis als Strategie offen und verweist damit auf das Verhältnis des modernen Menschen zum Heiligen. Aus zeichentheoretischer Perspektive werden die Symbole des Heiligen somit zwar anzitiert, jedoch durch ihre Verortung innerhalb eines fremden Systems ihrer auf Absprache beruhenden Bedeutung gewissermaßen entleert und so neu „konstruiert“. Nebreda reduziert das Symbol auf seine Bedeutungsleerstelle: Das Symbol sagt gewissermaßen nichts mehr aus, als das Zustandekommen seiner Form selbst. Zugleich liegt an diesem Punkt sein Bedeutungspotential, das sich jedoch erst in der übereinkommenden Bedeutungszuschreibung manifestiert, auf die Nebreda durch seine Bildaufbauten als grundlegende Prozesse der „symbolischen Konstruktion“ verweist. Der über diese Anzitierungen konstruierte „Zugang zum Mythos“ ist nicht der Mythos selbst, sondern vielmehr seine Form,

als heilig zu qualifizierende Erlebnisse ‚letzter Werte‘ „Sinnhorizonte seiner Bewährungsaufgabe“ zu erschließen, SCHLETTE 2009, S. 126f. 168 Vgl. SCHLETTE 2009, S. 130. Die Einbettung in bestimmte Narrative kann wiederum dazu disponieren, bestimmte Erlebnisse als ‚heilig‘ zu qualifizieren. Dabei ist diesen Erlebnissen stets die Möglichkeit zur Täuschung inhärent, wie Schlette am Beispiel des Nationalsozialismus ausführt, vgl. SCHLETTE 2009, S. 131. 169 SCHLETTE 2009, S. 129f. 170 Vgl. SCHLETTE 2009, S. 120f. sowie S. 126f.

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beziehungsweise die Produktion und Verwendung seiner Form.171 Nebreda referenziert demnach nicht die den Figuren eingeschriebenen jeweiligen spezifischen religiösen Narrative und Aufladungen (oder eben symbolischen Intentionen), sehr wohl jedoch deren „Konstruktion“, die wiederum dem eigenen Handeln und Erleben Sinn geben kann.172 Es geht weniger darum, wie in der Analyse vermutet, das Reale der versehrenden Handlungen mittels einer symbolischen Rahmung annehmbarer zu machen oder abzuschwächen. Vielmehr stellt die Praxis der symbolischen Einbettung selbst die bewusste Konstruktion von Sinnzusammenhängen dar. Mit anderen Worten legt Nebreda das Sakrale als Produziertes offen und verdeutlicht die Verwendung und Konstruktion sakraler Formen als allgemeine Strategie der Bedeutsamkeitsgenerierung, die wiederum sein eigenes Handeln legitimiert und begründet. Den verwendeten Symbolen und Narrativen kommt noch eine weitere Funktion zu, nämlich jene, die Art der „direkten Beziehung“, die Unmittelbarkeit der Identifikation Nebredas mit den verschiedenen Figuren zu visualisieren, zu verstärken und „zu bezeugen“.173 Es ist kein Zufall, dass die einzelnen Elemente auf Ebene der Fotografie zusammengeführt werden (wenn auch in inszenierender Art und Weise), welche diesem Identifikationsprozess ein perfektes mediales Pendant bietet. Rogozinski beschreibt, es sei die fotografische Komposition, auf der die einzelnen Elemente zueinander finden, um den Mythos (oder besser, den Zugang zum Mythos) final zu konstruieren und so die erste Ebene der aktiv den Körper verletzenden „Procedere“174 in ihrer Funktion als Schutzwall gegen die 171 „Wir glauben jedoch, dass der Mythos nur insoweit existiert, als er sich als sich selbst verkleidet, als Quelle oder als Vortäuschung eines Mythos.“, NEBREDA 2003a, S. 425. 172 Dabei ist es fraglich, ob eine derartige Trennung überhaupt möglich sein kann, insbesondere in Bezug auf die von ihm indirekt referenzierten Symbole und Narrative. Indem Nebreda seine eigenen Referenzen unterläuft, verweist er vielmehr auf die Unmöglichkeit, ein Zeichen wahrzunehmen, ohne dabei den Prozess der Bedeutungszuschreibung (und sei er noch so elementar) zu aktivieren. In diesem Sinne lässt sich die „Konstruktion“ ebenfalls verstehen als die den referenzierten Symbolen zugrunde liegende Struktur, die sich im Falle des Heiligen zwischen den Polen von Anziehung und Abstoßung, Zerstörung und Erneuerung bewegt und somit Nebredas eigene Erfahrungen widerspiegelt, sei es der von ihm als Tod und Wiedergeburt beschriebene Prozess oder die geschilderten, transgressiven Erfahrungen und sie als Kernerfahrungen in der Annäherung an Heiliges und als Praktiken der Sinngebung begründen würde. 173 NEBREDA 2000, S. 174. 174 NEBREDA 2003a, S. 425.

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Abgründe der Schizophrenie sowie als Transgression hin zu der neuen Identität zu ergänzen.175 So kann Nebreda mittels der Fotografie eine visuelle Figur, einen „intermédiaire de lui-même“ erschaffen, welcher der symbolisch konstruierten Sphäre der neuen Identität angehört und mit dem er sich identifiziert, da er mit ihm in einer „direkten Beziehung“ steht.176 Spricht Nebreda in dem oben genannten Zitat über die Funktion des Symbols von einer „doppelten Realität“, so erhält diese nun ein Gesicht, denn der „Mittelsmann seiner selbst“, ist sein „double photographique“177, jener fotografische Doppelgänger „plus réel et plus définitif“178. Darin scheint das von Bredekamp veranschaulichte Phänomen eines „substitutiven Bildakt[s]“179 auf, der Körper und Bild als identisch und austauschbar begreift und seine Wurzeln unter anderem in der christlichen Bildtheologie hat.180 Nebredas „double photographique“ bewegt sich damit in einem gewissermaßen magisch aufgeladenen, äußerst „prekären Bereich“181. Zugleich überschreitet die Art und Weise, in der Nebreda seinen Mittelsmann versteht, die Funktion des substitutiven Bildakts, da sie eben nicht auf Identität von Körper und Abbild, sondern auf die Verdopplung182 des Körpers mittels des Abbilds und somit auf die Schaffung einer neuen, besseren Identität zielt, die zunächst jedoch gleichzeitig und in Differenz zum fotografierten Körper existiert, während sie doch die Beziehung zu diesem aufrechterhält. Rogozinski führt aus, wie dieses fotografische Double Nebredas sich als dritte Figur schützend zwischen Nebreda und jenes gefährliche Spiegeldoppelbild stellt, dessen Betrachtung ihm seit seiner tiefen Krise unmöglich ist. Es hilft ihm, die Kontrolle zu bewahren, da er in der Lage ist, seinen Doppelgänger bewusster und zeitlich versetzter zu konstruieren.183 Dieser unterliegt ebenfalls den Prinzipien der Ordnung, die mittels der symbolischen Konstruktion auf ihn übertragen werden können: „Will man diese Prinzipien der Essentialisierung, des Verzichts, des Verbots oder des Projekts auf den fotografischen Doppelgänger anwenden, so geschieht das dank einer Reihe einfacher Formen und Archetypen.“184 Die 175 ROGOZINSKI 2003, S. 195. 176 NEBREDA 2000, S. 174. 177 MILLET 2000, Überschrift des Interviews S. 48. 178 NEBREDA 2000, S. 174. 179 BREDEKAMP 2010, S. 173. 180 Siehe hierzu die Ausführungen zu den acheiropoieta in Kapitel 2.2.2. 181 BREDEKAMP 2010, S. 173 182 Vgl. JONES 2003b. 183 Vgl. ROGOZINSKI 2003, S. 201. 184 NEBREDA 2003a, S. 425.

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Symbole können als visuelle Stellvertreter der versehrenden Handlungen angewendet werden, um das zu erfüllen, „was notwendig ist“, da sie Nebredas Erfahrungen strukturell parallelisieren. Darüber hinaus ist ihnen aufgrund ihrer religiösen Funktion zudem die größere Struktur des Ordnungsprinzips inhärent, womit auch eine Übertragung des übergeordneten Sinns der Handlungen auf die symbolische Ebene gewährleistet ist. Das Ziel aller Handlungen und Aktionen Nebredas sowie der symbolischen Konstruktion ist, wie dargestellt werden konnte, dem eigenen ‚schlechten‘ Selbst zugunsten der ‚neuen besseren‘ Identität zu entsagen, ihn vor dem bedrohlichen, vor allem liegenden Bereich, in dem sich auch die Abgründe der Schizophrenie befinden, zu schützen und ein Gerüst zur Bedeutsamkeitsgenerierung anzubieten. Die Fotografien entstehen in der Folge dieser doppelten Realität Nebredas und partizipieren an dieser, sie sind jedoch nicht ihr primäres Ziel, das heißt, die versehrenden Aktionen werden nicht für die Kamera ausgeführt, sondern existieren auch ohne sie. Je weiter Nebreda sich der Transgression annähert, je mehr er seine alte Realität zugunsten der Neuen reduziert, desto weniger braucht er im Grunde das Foto, wie sich in seinen Ausführungen zu den Allmachtsgedanken auf Ebene der versehrenden Handlungen zeigt.185 Nach Nebreda könnte das Foto sogar gewissermaßen auch nur „anekdotisch“ gelesen werden, käme ihm nicht die gewichtige Rolle zu, seinen subjektiven Transformationsprozess nach außen hin zu präsentieren und dokumentarisch zu bezeugen.186 Die Fotografie schreibt die in den Körper gekerbten Spuren der versehrenden Handlungen auf einer neuen Ebene fest und „transkribiert“187 zugleich die christlich-sakralen Symbole, um beides zu verflechten und so Zeugnis einer subjektiv „realeren und definitiveren“188 Realität abzulegen.189 Diese mittels der Fotografien visualisierte und gewissermaßen durchgeführte „Wiedergeburt“190 Nebredas als fotografische Manifestation im Doppelgänger enthält metaphorische Anleihen des Christentums, insbesondere der Bildwerdung Gottes im Leib Christi, dessen Auferstehung sowie seine vermeintliche Bildwerdung in dem Turiner Grabtuch, das in Kapitel 2.2.2 mit Blick auf seine Beziehung zu fotografischen Bildern vorgestellt wurde. 185 Vgl. NEBREDA 2003a, S. 426. 186 NEBREDA 2003a, S. 426. 187 NEBREDA 2000, S. 174. 188 NEBREDA 2000, S. 174. 189 Nach Rogozinski ist es erst dieser Schritt der Zusammenführung der symbolischen Konstruktion auf Ebene der Fotografie, mit dem Nebredas Arbeit zum künstlerischen Werk im eigentlichen Sinne wird und sich von privaten Ritualen der Perversion oder des Wahnsinns unterscheidet, vgl. ROGOZINSKI 2003, S. 195. 190 NEBREDA 2000, S. 9.

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Ist im Prozess der Manifestation eines Bildes eine erste fundamentale Parallele zwischen dem fotografischen Entstehungsprozess, der Inkarnation sowie den acheiropoieta enthalten, die es Nebreda ermöglicht, über sein fotografisches Abbild seine neue Identität zu „bezeugen“, so scheinen weitere Parallelen durch, die, entgegen Nebredas eigenen Aussagen, einen nicht unerheblichen Charakter für seine Verwendung fotografischer Bilder zu spielen scheinen, wie im Folgenden über einen Vergleich mit dem Konzept der Hierophanie nach Eliade verdeutlicht werden soll.

4.2 F OTOGRAFIE UND H IEROPHANIE . S TRUKTURELLE K ORRELATIONEN VON M ANIFESTATION – E NTZUG – V ERORTUNG Wie in Kapitel 2.1.2 ausgeführt, arbeitete Mircea Eliade Mitte des 20. Jahrhunderts in seinen Untersuchungen zum Wesen der Religionen und des Heiligen heraus, dass Letzteres sich in der natürlichen Welt als „Hierophanie“, das heißt eines Sich-Zeigens des Heiligen, manifestieren kann.191 Seine Ausführungen beruhen auf der Unterscheidung zwischen dem Heiligen und dem Profanen.192 Mit den Begrifflichkeiten der vorliegenden Arbeit ist diese von Eliade ausgeführte Dichotomie zwischen dem Heiligen und dem Profanen als dreigliedrige Beziehung zwischen dem Heiligen, dessen manifester Version als Sakrales und dem Profanen zu lesen.193 Eliade untersucht spezifische Ausprägungen – Hieropha-

191 ELIADE 1998, S. 14. 192 „Die erste Definition des Heiligen ist, daß es den Gegensatz zum Profanen bildet.“ELIADE 1998, S. 14. 193 Eine solche Differenzierung ist insofern relevant, als sie erlaubt, die von Eliade beschriebene ‚Hierophanie‘ zwar in ihrer ontologischen Implikation einzubeziehen, diese jedoch nicht final auszudeuten, sondern zugleich ihre soziale Konstruktion in den Blick zu nehmen. Während Eliades Ansatz eine eigenständige Kategorie des Heiligen zugrunde legt, untersuchen neuere Positionen in Abgrenzung dazu den Prozess der Sakralisierung als aktive soziale Zuschreibung, mittels derer Sakralität erst produziert wird, so etwa Jonathan Z. Smith in Anlehnung an Durkheim. Über die in Anschluss an u.a. Nadine Böhm explizierte, dreigliedrige Differenzierung kann methodisch gewissermaßen eine Synthese beider Ansätze vorgenommen werden, um so die Relevanz von Konzepten des Heiligen für kulturelle Artefakte sowie mediale Strukturen näher zu analysieren. Für eine knappe Zusammenfassung der Differenzen im Ansatz von Smith und Eliade vgl. BARTH 2013, S. 68f. sowie Kapitel 2.1.2 dieser Arbeit.

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nien – des Heiligen und versucht auf dieser Grundlage allgemeingültigere Aussagen über dessen Struktur und Funktionalität sowie „die Modalität, die in dieser Hierophanie immer wieder erscheint“194 zu gewinnen. So scheinen in der Hierophanie zwei Arten des „In-der-Welt-Seins“ auf, die in einer paradoxen Konstellation resultieren: „Indem ein beliebiger Gegenstand das Heilige offenbart, wird er zu etwas anderem und hört doch nicht auf, er selbst zu sein“.195 Eine derartige qualitative Veränderung eines Ortes oder eines Objektes findet sich nach Eliade auch in profanen Alltagsstrukturen und –handlungen wieder, die er daher als „kryptoreligiöse[s] Verhalten“ bezeichnet.196 Nach Eliade ermöglichen gerade moderne Medien wie das Buch und das Kino eine Art Immersion, die strukturell der Teilhabe an einer übergeordneten Zeit des Mythos gleicht.197 In diesem Sinn ermöglicht ein erneuter Blick auf die Fotografie Parallelen zur Funktionsweise und Struktur des Heiligen aufzuzeigen und diese in ihrer Wirkung für die Position Nebredas zu untersuchen. Drei strukturelle beziehungsweise funktionale Aspekte scheinen dabei besonders relevant, die sich mit den Begriffsbereichen Manifestation/Berührung – Entzug – Verortung skizzieren lassen. In dem Prozess der Manifestation einer „metaempirische[n] Realität“198 – des „Ganz anderen“ – in einem Objekt der natürlichen Umgebung liegt eine erste strukturelle Parallele der Hierophanie zum fotografischen Prozess. Ob Index, Abdruck, Rest oder Spur, gemeinsam ist diesen Konzepten zur Beschreibung des Wesens der Fotografie der Moment ihrer Entstehung. Die analoge Fotografie entsteht durch die Berührung von Licht auf lichtempfindlichem Papier, die Natur, und damit eine – wenn auch nicht metaempirische – Realität, schreibt sich in das fotografische Material und es manifestiert sich ein latentes Bild auf einer Bildoberfläche. Die prominenteste Überlagerung dieser Konzepte findet sich in dem in Kapitel 2.2.2 beschriebenen Turiner Grabtuch. Wie oben dargelegt, dient Nebreda die Fotografie in diesem Sinne als wichtiges Mittel, seine (neue) Identität festzuschreiben und zu bezeugen. Über die verschiedenen symbolischen Bezüge zum Christentum und der Inkarnation Gottes in der Figur Christi kann er die fotografische Festschreibung auf einer weiteren Ebene verstärken. In der christlichen Ikonografie bestätigt der ungläubige Thomas die Hierophanie, oder genauer Theophanie, welche die Figur Christi darstellt, wiederum durch eine an194 ELIADE 1966, S. 27. 195 ELIADE 1998, S. 17 und S. 15. 196 Zitat ELIADE 1998, S. 25, siehe zudem S. 25-27. 197 Vgl. ELIADE 1998, S. 177. 198 RESCHIKA 1997, S. 47.

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dere Art der Berührung: Den Griff in die Seitenwunde.199 Die Wunde taucht als Motiv exzessiv auch bei Nebreda auf und macht als zentrales, in den Fotografien festgeschriebenes Motiv deren Vehemenz aus. Wie Ursula Frohne in ihrem differenzierten Aufsatz Berührung mit der Wirklichkeit hervorhebt, ist auch die Wunde ein visuelles Zeichen einer (gewaltvollen) Einschreibung von Realität über Berührung.200 Die Hierophanie, der versehrte Körper und die Fotografie sind somit jeweils Zeugnisse der Berührung, der Manifestation einer Realität und werden bei Nebreda bewusst überlagert. So betont etwa Rogozinski, dass, um ihre „Schutzfunktion vollständig erfüllen zu können,“ die Prozedur, das heißt die versehrenden Handlungen Nebredas „von der leiblichen Oberfläche des Körpers auf die ruhmreiche, körperlose Oberfläche der Fotografie oder des Buches transportiert werden“201 muss, um sich dort mit den symbolischen Referenzen auf die christliche Einschreibung zu verbinden. In Hierophanie, Wunde und Foto ist jedoch das, was manifest geworden ist, zugleich grundlegend abwesend und entzogen: Die Wunde repräsentiert den vergangenen Akt einer Verletzung, der Referent der Fotografie ist zwar seinem Bild indexikalisch verbunden, aber grundlegend abwesend (Roland Barthes „Es-istso-gewesen“202), wie das Heilige im Objekt seiner Hierophanie zwar als Spur vermeintlich anwesend ist, jedoch niemals in diesen Formen aufgehen kann, da es stets einen Überschuss zu ihnen bildet und sich somit grundlegend entzieht.203 Diese parallele Struktur des Heiligen in seiner sakralen Manifestation und des fotografischen Mediums zieht eine dritte funktionale Parallele nach sich, die für Nebreda relevant erscheint. Im ursprünglichen Sinne dient die Hierophanie der Setzung eines festen Punktes, eines Zentrums zur Orientierung, indem sich eine absolute Wirklichkeit der „Nicht-Wirklichkeit der unendlichen Weite“ 204 gegenüberstellt. Im Rahmen des von Eliade beschriebenen „kryptoreligiöse[n] Verhalten[s]“205 lassen sich auch (post)säkulare individuelle Setzungen im Profanen erkennen. Als Beispiel

199 Vgl. FROHNE 2002, S. 414ff. 200 Vgl. FROHNE 2002, S. 403ff. Die im Folgenden angestellten Überlegungen fußen insbesondere auf den von Frohne genannten Zusammenhängen von Realität, Körper und dem Medium Fotografie, die hier um die Perspektive auf das Heilige erweitert werden. 201 ROGOZINSKI 2003, S. 195. 202 BARTHES 1989, S. 87. 203 Vgl. Kapitel 2.1.3 der vorliegenden Arbeit. 204 ELIADE 1998, S. 23. 205 Zitat ELIADE 1998, S. 25. Siehe zudem S. 25-27.

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führt er etwa „die Landschaft der ersten Liebe“206 an, die in Anlehnung an eine Hierophanie eine besondere individuelle Ortssetzung im Profanen darstellt. In ihrer Form erinnern diese individuellen Bedeutungsaufladungen, die Eliade hier an einem räumlichen Beispiel erläutert, an die von Smith dargelegten Mechanismen zur Sakralisierung eines Ortes. In eine ähnliche Richtung geht Eliade, wenn er betont, dass in vielen Fällen bereits ein aktiv herbeigeführtes „Zeichen“ ausreichend sei, um die Heiligkeit eines Ortes hervorzuheben und so Orientierung zu bieten und einen „Stützpunkt“ zu schaffen.207 Für Nebreda scheint die Fotografie ähnlich einer hierophanen Setzung dazu zu dienen, die aufgrund seiner schizophrenen Erkrankung verstärkte Erfahrung der Kontinuität und Homogenität der Welt zu brechen, indem diese im Prozess der Bildentstehung angeeignet und dergestalt qualitativ verändert und ausgedeutet werden kann. Über die fotografischen Bildausschnitte werden einzelne Elemente aus der homogenen Masse der Realität selektiert und als bildwürdige Setzungen festgehalten.208 Da sie sich über ihre objekthafte Manifestation im fotografischen Abzug von den nicht-fotografierten Elementen unterscheiden, kommt diesen räumlich und zeitlich durch den Fotografen als bildwürdig ausgewählten Augenblicken ein besonderer Status zu. Für Nebreda dienen sie als Orientierungspunkte, die das Chaos der Vielfalt der Erfahrungen ordnen und bestimmte, zeit- und identitätsspezifische Momente bezeugen. In dieser Funktion können sie zu Fixpunkten der eigenen Verortung und zur Konstruktion und Festschreibung einer Identität sowie zur Generierung eines Bedeutsamkeitsgerüsts dienen. Im Rahmen eines sozialen Handlungsdispositivs des Fotografischen wären Nebredas Selbstportraits somit als kryptoreligiöses Verhalten im Sinne Eliades zu verstehen und der Moment der Bildaufnahme gliche einer profan-sakralisierenden Handlung, da durch die Bildauswahl bestimmte Elemente mittels einer visuellen Raumsetzung hervorgeoben werden. Die indexikalische Verbindung des Fotos zu seinem Referenten scheint dabei das Gezeigte für die Gegenwart zu konservieren, markiert es jedoch zugleich als Vergangenes und damit grundlegend von der Gegenwart getrenntes – das Foto repetiert die hierophane Struktur einer Schwelle, wie sie beispielsweise auch im Kirchenraum zu finden ist, als Ort, der zwei Welten trennt

206 ELIADE 1998, S. 25. 207 ELIADE 1998, S. 27f. 208 Das Prinzip der Selektivität ist dem fotografischen Verfahren integral zugehörig, indem es die Auswahl eines bestimmten visuellen Ausschnitts, verschiedene Elemente und ihre Relationen zueinander aus dem vielfältigen Komplex der Wirklichkeit meint. Vgl. HUBER 2001, S. 20.

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und zugleich den Punkt ihres Zusammentreffens markiert.209 In der Bildbetrachtung kommen Vergangenheit und Gegenwart zusammen, so dass Nebredas zeichenhafte visuelle „Stützpunkt[e]“210 der eigenen Identität die tatsächlichen Ereignisse rückwirkend als Platzhalter überlagern können. Gernot Böhme hebt hervor, dass fotografische Bilder auf die tatsächliche Erfahrung von Realität rückwirken können, da der Mensch durch den „den extensiven Fotogebrauch“ die Realität so sieht, wie sie ihm von Bildern präsentiert wird.211 Diese Potenz fotografischer Bilder für Nebreda zeigt sich in den Interferenzen zwischen ihrer Entstehung, Nebredas Realität und dessen Handlungsfähigkeit. So zeugen seine Selbstportraits nicht nur von einer nach Nebreda ‚realeren Realität‘, sie wirken auch aktiv auf Nebredas Selbstwahrnehmung und Aktionen in der ‚wirklichen Wirklichkeit‘ zurück: Die einzelnen Farbfotografieserien fallen zeitlich jeweils mit einer besseren physischen und psychischen Verfassung Nebredas zusammen. Die von ihm beschriebene ‚Wiedergeburt‘ wird in einer phänomenologischen Verschmelzung von Realität und Fotografie mit der Schaffung seines fotografischen Doppelgängers visualisiert und der Prozess einer Kontaktannäherung an die Außenwelt nach der langen Phase der Aktivitätslosigkeit wird ebenso von einer fotografischen Schaffensphase begleitet, wie sein Rückzug aufgrund der für ihn verstörenden Reaktionen auf seine erste Ausstellung.212 Die Fotografien werden sowohl als Mittel zur Handlungsermächtigung präsentiert, als auch als – einzige – Quelle zur Selbstwahrnehmung.213 Eliade beschreibt das Kino und das Buch als eine Art Immersion, die strukturell der Teilhabe an einer übergeordneten Zeit des Mythos gleicht.214 Für Nebreda scheint die spezifische Qualität des fotografischen Mediums in dessen Potential zu liegen, wie Symbole und Bilder als schwellenartige „Öffnungen zum Transzendenten“215, als entzogenem Realen und bisweilen Imaginärem zu fungieren, zugleich jedoch über die indexikalischen Qualitäten die tatsächliche Realität des Individuums nicht aus dem Blick zu verlieren. Durch ihre Konstitution zwischen Krea209 Vgl. ELIADE 1998, S. 26. Eliade bezieht sich hier auf die Tür einer Kirche oder auch die Schwelle einer menschlichen Behausung, die in dem Bruch der Homogenität des Raums eine ähnliche Funktion einnimmt. 210 ELIADE 1998, S. 28. 211 BÖHME 2004, S. 127. 212 Vgl. NEBREDA 2000, S. 9. 213 „Nach all diesen Jahren, in denen nicht mehr in den Spiegel geschaut wurde, ist und bleibt das fotografische Abbild meiner selbst, der ‚Doppelgänger‘, die einzige verfügbare Referenz meines Bildes.“, NEBREDA 2003a, S. 424. 214 Vgl. ELIADE 1998, S. 177. 215 RESCHIKA 1997, S. 60.

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tion und Realitätsanhaftung, zwischen Inszenierung und Dokumentation dienen die fotografischen Bilder Nebreda als Schutz und schöpferisches Element und helfen ihm dabei, „sich ans Leben zu klammern“216. Mit diesem Wissen und im Kontext der Fotografie als Medium lässt sich die bereits erwähnte Fotografie Le baiser le plus doux pour le fils qui n’est pas né (Abb. 4.11), auf der Nebreda auf dem Boden liegend, eine Glasplatte fest umschlungen hält, noch einmal neu und als Metapher auf das Herzstück des vitalen Projekts Nebredas deuten. Die von Nebreda gehaltene Glasplatte kann als Anspielung auf den fotografischen Herstellungsprozess gelesen werden, der über einen indexikalischen Abdruck – hier durch die tatsächliche Berührung mit Nebredas Körper – dessen Bild in die Platte einschreibt. Der im Titel benannte „zärtlichste Kuss“ ist der Moment der Berührung des Körpers und der Fotografie. Auch die deutlich sichtbaren weißen Streifen der vernarbten Wunden werden als visuelle Zeichen der vergangenen körperlichen Versehrungen in die Platte eingedrückt und lassen dort ihre Markierungen zurück. Zugleich verbleiben auch Spuren des Glases auf Nebredas Körper, in den dieses sich eindrückt – die Fotografie wirkt also in die körperliche Wirklichkeit Nebredas zurück. Der Verweis auf „le fils qui n’est pas né“ verdeutlicht das, was hier in der Berührung der Fotografie und des Körpers entstehen soll: Es geht um die ‚Konzeption‘ des fotografischen Doppelgängers Nebredas, der mittels des fotografisch-indexikalischen Prozesses „geboren“ werden wird, jedoch noch nicht vollendet ist. Die Geburt wird ex negativo als Kommende markiert und baut in Zusammenhang mit der Bezeichnung des Doppelgängers als „Sohn“ eindeutige Parallelen zum christlichen Narrativ auf, die durch das angedeutete Emblem des siegenden Christus verstärkt werden. Der indexikalische Prozess der Entstehung eines Bildes verweist auf die Kategorie ‚wahrer Bilder‘, spezifisch lässt sich hier das Grabtuch von Turin, das im Moment zwischen Tod und Auferstehung entsteht, als Referenz heranziehen. Nebredas Selbstgeißelung und transgressive Ausrichtung seines Lebens und Werks werden so mittels der symbolischen Konstruktion in einen größeren Zusammenhang gestellt. Indem es die Bildwerdung als fotografischen Akt und acheiropoíeton, die Sichtbarwerdung im Fleisch als religiöse Inkarnation und physische Versehrung mit der Transformation und Neugeburt der Identität als Kern von Nebredas Projekt in Relation setzt, verknüpft das Foto verschiedene Ebenen miteinander, auf denen die Bildwerdung mit einem direkten Einschreibungsprozess verbunden ist. Die körperlichen Versehrungen partizipieren doppelt an diesem Prozess, sind es doch auch die Körperflüssigkeiten

216 MELLID 2005, o. S.: „[L]a fotografía le ha servido también y, sobre todo, para agarrarse a la vida.“ (Eigene Übersetzung).

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Christi, die sich in dem Grabtuch als Bild im Negativ niederschlagen, das wiederum über die Fotografie als Positiv sichtbar wird. Eliades Beschreibung der Sehnsucht des Menschen nach einem durch das Heilige geordneten Leben liest sich als Äquivalent der Funktion, die Nebredas Fotografien seines inszenierten und an der Ebene der heiligen Symbole partizipierenden „realeren Ichs“ in Form seines fotografischen Doppelgängers zukommt: „Das Verlangen […] ein Leben im Heiligen zu führen, ist das Verlangen, in der objektiven Realität zu leben, nicht in der endlosen Relativität rein subjektiver Erfahrungen gefangen zu bleiben, in einer wirklichen und wirksamen – und nicht in einer illusorischen – Welt zu stehen.“217

Mittels Ritualen, Zeremonien und Symbolen suche der Mensch das Werk der Götter zu reproduzieren und zu reaktualisieren, um einen solchen ontologischen Raum zu schaffen, der ihn aus dem Chaos „ins Reale und Bedeutsame“ versetzt, indem er die eigene Geschichte an eine metaphysische Ordnungsebene rückbindet.218 Die Fotografie als Medium verbindet diese archaische Herangehensweise mit der Haltung des modernen Menschen, der sich selbst als „Schöpfer der Geschichte“219 versteht: Verstanden im Sinne der Selbsteinschreibung der Natur stellt sie die Nachahmung einer mythischen Bildwerdung dar, zugleich ist sie aufgrund ihres technischen Herstellungsprozesses eng an die Industrialisierung und damit den bürgerlichen Glauben an die eigene Handlungsfähigkeit gekoppelt. Nebredas Verwendung ‚geöffneter‘ Symbole kann in diesem Kontext als Metapher auf die den Bildern und Symbolen zugeschriebene Funktion gelesen werden, „Öffnungen“220 in eine übergeschichtliche und transzendente Welt zu sein. Indem er das einzelne sakrale Symbol seiner spezifischen zeitlich-kulturell fixierten symbolischen Intention zu entkleiden sucht, hebt er dessen potentielle Funktion als sakraler dialogischer Raum zwischen spezifischen Kulturen und jener übergeschichtlichen, realeren Sphäre des Heiligen hervor und partizipiert zugleich an selbiger. Mit Schlette gelesen, bietet die Fotografie Nebreda das ideale Medium eine individuelle und fundierte symbolische Konstruktion auszuagieren, indem es ihn zweifach Bezüge setzen lässt, zum einen zu einer mythologischen Bildwerdung, zum anderen zu einer beeinflussbaren Realität, die aktiv in seine persönliche Wirklichkeit zurückwirken kann. 217 ELIADE 1998, S. 29. 218 Vgl. ELIADE 1998, S. 28f. und S. 175. 219 RESCHIKA 1997, S. 47. 220 RESCHIKA 1997, S. 60.

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Nebredas System ist, wie sich gezeigt hat, weniger ein Glaubens- als ein Überlebenssystem im Kontext seiner schizophrenen Erkrankung. Die Überlagerung mit symbolischen Elementen sowie die kunstwissenschaftliche Rezeption der Bilder zeugt jedoch von der im Kontext der vorliegenden Arbeit als sakralisierend zu definierenden Aufladung der Bilder, die diese wiederum an größere Glaubenssysteme wie das Christentum anschließt, da diesen ähnliche Prozesse des Leidens eingeschrieben sind, die auf einer körperlichen Ebene ausgetragen werden. Das Fotografieren dient Nebreda als sakral-profaner Verortungsmechanismus, mittels dessen er zugleich grundlegende Verortungspraktiken aufzeigt und reflektiert. Im übertragenen Sinne verdeutlicht Nebreda das Potential von fotografischen Bildern, aufgrund der aufgezeigten Parallelen zu hierophanen Prozessen in Struktur, Funktion und Erfahrung (Manifestation – Entzug – Verortung) zum operativen Objekt kryptoreligiösen Verhaltens zu werden und dieses zu generieren. In diesem Sinne wären Fotos selbst als symbolische Konstruktionen, mittels derer sich ein Bedeutungsrahmen für die eigene Existenz produzieren lässt, zu verstehen. Dies konvergiert mit der aktuellen Vervielfältigung von im weitesten Sinne fotografischen Bildern in den Massenmedien, mittels derer in der Erfahrung Bildwirklichkeit und außermediale Wirklichkeit mehr und mehr zu verschmelzen scheinen, bis hin zu einer „Ersetzung der Wirklichkeit durch Bilder“.221 Die Erfahrung von Wirklichkeit scheint damit seltsam zerstückelt und zerfällt in einzelne, medial variabel ausgeführte Teile, wie Bernhard Waldenfels hervorhebt.222 Mit Blick auf die Vehemenz, mit der Nebredas Bilder den Betrachter potentiell überwältigen, soll diese Konvergenz im Folgenden aus rezeptionsästhetischer Perspektive betrachtet und in Nebredas fotografisches Œuvre in seiner Bedeutung und Funktion für den Betrachter analysiert werden.

221 PEUCKER, Brigitte: Verkörperung: Die Bilder und die Wirklichkeit, in: Dies.: Verkörpernde Bilder – das Bild des Körpers. Film und die anderen Künste, Berlin 1999, S. 111, zitiert nach FROHNE 2002, S. 407. 222 WALDENFELS, Bernhard: Experimente mit der Wirklichkeit, in: KRÄMER, Sybille (Hg.): Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt am Main 1998, S. 228, zitiert nach: FROHNE 2002, S. 407.

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4.3 S EHNSUCHT

NACH R EALITÄT : F OTOGRAFIEN VERSEHRTER K ÖRPER ALS KRYPTORELIGIÖSE „B ERÜHRUNG MIT DER W IRKLICHKEIT “ 223? „Pain and the infliction of pain is the only thing that will confirm your existence“224 KELTON COBB

Wie im letzten Abschnitt herausgearbeitet wurde, scheint in der künstlerischen Position Nebredas den versehrten Körpern, fotografischen Bildern und der Hierophanie eine ähnliche Struktur zuzueignen, die jeweils die Einschreibung von (teilweise gegensätzlich ausgerichteter) ‚Realität‘ impliziert. Für die vorliegende Fragestellung ist dabei weniger eine vermeintliche Beweisführung einer wie immer gearteten ontologischen Kategorie des Heiligen oder die finale Beschreibung einer den fotografischen Bildern vorgängigen Realität relevant. Vielmehr liegt das Augenmerk in diesem Abschnitt auf der potentiellen Bedeutung und Funktion dieser strukturellen Konvergenzen für die Bildbetrachtung. So scheinen diese auf Seiten der Rezipierenden in Form verschiedener, parallel laufender ‚Verlangen nach Realität‘ ihren Wiederhall zu finden, die bereits in Kapitel 2 angeklungen sind. Wie beschrieben führt Eliade aus, dass der religiöse Mensch schon immer nach einem Leben im Heiligen strebe, da dieses mit Realität gesättigt sei, beziehungsweise die eigentliche Realität darstelle.225 Auch Ottos Ausführungen zur Wirkung des Heiligen, das aufgrund seiner Macht und Irrationalität zugleich ersehnt und gefürchtet wird (mysterium tremendum et fascinans) betonen das Verlangen des Menschen, am Heiligen als grundlegend Realem zu partizipieren.226 Die Fotografie als Medium fasziniert bereits seit ihren Anfängen gerade durch ihren besonderen mimetischen und indexikalischen Bezug zur Realität der sowohl affirmativ als auch kritisch verhandelt wurde und wird. Als vermeintliche Fragmente einer begehrten vergangenen realen Präsenz erhalten Fotografien in ihrer alltäglichen Nutzung einen reliquienähnlichen Status. „[D]ie pragmatische Natur des fotografischen Dispositivs“, so Dubois, „ermöglicht und fördert solche maßlosen und unersättlichen Wünsche: Wünsche umgetriebener Subjekte, verliebt, vernarrt in das Reale, die Referenz und die Singularität, ohne lockerzulassen. Hier liegt der Ursprung dessen, was man als den fotografischen

223 FROHNE 2002. 224 COBB 2005, S. 293. 225 Vgl. ELIADE 1998, S. 29. 226 Vgl. OTTO 2014, insbesondere S. 15 und S. 42f.

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Trieb bezeichnen könnte.“227 Mit der zunehmenden Digitalisierung und Medialisierung der Welt in den vergangenen Jahrzehnten nimmt, wie Ursula Frohne in Rückbezug auf Douglas Crimp und Hal Foster darlegt, die tatsächliche Erfahrung von Realität stetig ab, während zugleich das Verlangen danach oder eine Faszination damit weiter ansteigt, was nicht zuletzt der Boom der RealityFormate im Fernsehen zeigt.228 Der Kulturtheologe Kelton Cobb sieht in dieser Sehnsucht nach Realität abseits jeglicher Simulation eine der präsentesten religiösen Botschaften und verknüpft damit inhaltlich die verschiedenen Verlangen nach Realität.229 Der Trend zu Abenteuerreisen und Extremsportarten, bei denen „körperliche Grenzerfahrungen“ im Vordergrund stehen, verdeutlicht, dass der Körper in diesem Kontext als eine der letzten Instanzen tatsächlicher realer Erfahrung und als „das zentrale Erlebnismedium“ fungiert.230 Mit Schlette gesprochen, mediatisiert der Körper das Reale als „letzten Wert“231, als Unbedingtes, da er es als jeden Menschen direkt und notwendigerweise Betreffendes verkörpert. In dem Film Fight Club, 1999, reduziert Tyler Durden, einer der Begründer des Fight Clubs die Identität der Teilnehmer auf ihre Körperlichkeit „You’re not your job, you’re not how much money you have in the bank […]. You are not a beautiful and unique snowflake. You are the same decaying organic matter as everything else.“232 Wie Cobb hervorhebt, fordert er sie damit auf, die einzige Erfahrung mit der Realität zu machen, die ihnen schlussendlich möglich ist: „to pound one another senseless with their fists; this is the ritual action that allows them to have an experience of ecstatic transcendence.“233 Der Film portraitiert mit dieser Ausrichtung eine gesellschaftliche Sehnsucht nach Realität, die den Körper und insbesondere seine Versehrung als zentrales Scharnier hinzuzieht

227 DUBOIS 1998, S. 85. 228 Sie bezieht sich auf Douglas Crimps Hinweis zu der steigenden Relevanz von Bildern für die menschliche Erfahrung, vgl. CRIMP, Douglas: Pictures (ersch. anl. d. gleichn. Ausst., Artists Space, New York, 1977) New York 1977, S. 3. Siehe zudem FOSTER 1996; vgl. FROHNE 2002, S. 401 und S. 403f. sowie zudem S. 409f. 229 „Of the myriad religious messages that are being asserted in popular culture, there is one that, for me, stands out. It is a yearning for a reality beyond all simulations. It stands out because it seems to be a point of resistance to so much else that goes on in popular culture, which tempts us to be content with its amusements and diversions.“, COBB 2005, S. 292. 230 FROHNE 2002, S. 405. 231 SCHLETTE 2009, S. 112. 232 Zitiert nach COBB 2005, S. 293. 233 COBB 2005, S. 293.

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und die Cobb interpretatorisch als religiöse Sehnsucht liest.234 Eine solche Interpretation steht in Verbindung zu der in Kaptiel 2.1.4 herausgearbeiteten zentralen Stellung des Körpers für die Erfahrung und Mediatisierung des Heiligen, die in Kapitel 2 um verschiedene Darstellungen des Körpers in der Fotografie erweitert wurde. Auch Nebreda nutzt, wie in den Analysen deutlich wurde, die rituelle körperliche Versehrung als Form der Bestätigung und Schaffung von Realität.235 In ihrem Aufsatz Berührung mit der Wirklichkeit widmet sich Ursula Frohne Positionen der Gegenwartskunst, die diese Sehnsucht nach Realität spiegeln und sie ebenfalls am „Bild des Körpers als Kodierung des residual Realen“236 aufarbeiten. Da den von ihr untersuchten Fotografien ähnliche Parameter zu Grunde liegen, wie den Fotografien Nebredas (deren Großteil ebenso in den 1990er Jahren entstanden ist), scheinen zentrale Analyseaspekte übertragbar und werden daher im Folgenden knapp referiert, um anschließend die Fotografien Nebredas unter ähnlichen Gesichtspunkten erneut zu reflektieren.

4.3.1 „Berührung mit der Wirklichkeit“ Laut Frohne ist als ausgeprägte Tendenz in bestimmten fotografischen Positionen seit den 1990er Jahren eine „von zufälliger Faktizität gekennzeichnete, vermeintlich nicht-ästhetisierte Sicht auf extreme Existenzweisen und soziale Andersheit“237 erkennbar. Auf besondere Weise implizieren diese Positionen ästhetisch und motivisch eine Art direkte „‚Berührung‘ mit den Desideraten des Realen“, welche, so ihre überzeugende These, „die Illusion einer subjektiven quasikörperlichen Erfahrung anstrebt, die das Vermittelte unserer Kommunikationsund Lebensstrukturen durchbricht“.238 Als Beispiel nennt Frohne Positionen, in denen, wie etwa bei Wolfgang Tillmanns und Nan Goldin, private, von Gewalt geprägte Milieus in den Blick und die Wohnzimmer einer reichen Käuferschicht geraten.239 Über bildrhetorische Mittel in der Tradition des fotojournalistischen „Live“-Bildes – etwa Anschnitte, leicht verschwommene Konturen oder ungewöhnliche Perspektiven – partizipieren diese Positionen formal an einer dokumentarisch wirkenden Schnappschuss-Ästhetik, die einer „Semiotik des Authen234 Vgl. COBB 2005, S. 293. 235 Vgl. zudem MELLID 2005, o. S. 236 FROHNE 2002, S. 404. 237 FROHNE 2002, S. 402. Frohne verweist darauf, dass sich Tendenzen der Wirklichkeitsadaption auch im skulpturalen Bereich wiederfinden, vgl. S. 405. 238 FROHNE 2002, S. 402f. 239 Vgl. FROHNE 2002, S. 401ff., S. 411, S. 418-420.

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tischen“ zugehörig sei.240 Diese werde motivisch mit der „Faktizität des Körpers“ untermauert, die über das Zeigen von „Spuren der Gewalt, der Verwahrlosung oder des Zerfalls“ durch eine zusätzliche Ebene der Realitätseinschreibung verstärkt werde.241 Wie Martin Seel ausführt, stellt Gewalt einen der „Ernstfälle der leiblichen menschlichen Begegnung“ und der körperlichen Erfahrung von Realität schlechthin dar, da sie nicht von Berührung begleitet wird, sondern „als Berührung“ stattfindet.242 Das Motiv der Wunde und des versehrten Körpers trägt, wie bereits dargelegt, die Tatsache der eingeschriebenen realen Erfahrung als sichtbare visuelle Markierung nach außen und dient somit als Zeichen des ultimativen und nachhaltig sichtbaren Akts der Erfahrung und Einschreibung von Realität als „Wahrheitsindikator“243 per se. Über die Verdopplung dieses Einschreibungsprozesses verspricht die Fotografie „die Wunde als Spur menschlicher Hautnähe (indexikalisch) in sich aufzunehmen und als unmittelbare Erfahrung eines Wahrheitsmoments weiterzugeben“244. Nach Frohne ist es insbesondere die Paarung der ästhetisch implizierten „Kontingenz“, des „visuellen Zufallsmoments“ mit der extremen Motivik, die das Publikum aus der „privilegierten Sphäre der Kunstrezipienten“ herausreißt und „eine Erschütterung der Wahrnehmung, des Empfindens und Verstehens“ bewirkt, indem sie es mit der „Gewaltsamkeit des Unerwarteten“ und von seiner Lebenswelt grundlegend Verschiedenen konfrontiert.245 Mit dieser Ausrichtung stellen die fotografischen Tendenzen eine (bis zu einem gewissen Grad paradoxe, da medial immer noch an ihr partizipierende) Gegenhaltung zur simulierenden Repräsentationskultur der Massenmedien dar, indem sie eine „taktil[e] Beglaubigung von Realität […] durch die ‚Realpräsenz des Absoluten‘ im Bild“246 zu implizieren suchen. Über die Konvergenz von „Ekel, Realem und Wahrheit“247 bieten sie dem privilegierten Betrachter, der körperliche Grenzerfahrungen im normalen Leben primär medial vermittelt und nicht am eigenen Leibe wahrnimmt, eine Form der substituierten Gewalterfahrung an.248 240 Vgl. FROHNE 2002, S. 402; Zitat S. 405. 241 FROHNE 2002, S. 403 und S. 405. 242 SEEL, Martin: Ästhetik des Erscheinens, München, Wien 2000, S. 299, zitiert nach FROHNE 2002, S. 424. 243 FROHNE 2002, S. 405. 244 FROHNE 2002, S. 424. 245 FROHNE 2002, S. 403 und S. 412f. 246 FROHNE 2002, S. 404. Zitat im Zitat von MENNINGHAUS 1999, S. 564. 247 MENNINGHAUS 1999, S. 565, zitiert in FROHNE 2002, S. 406. 248 FROHNE 2002, S. 419: „Die gewaltsame Vergegenwärtigung erschütternder Sujets, körperlicher Exzesse und pathologischer Existenzen, deren Exponiertheit mit der Ge-

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„In dieser Fähigkeit, in einer Weise zu affizieren, die ohne tatsächliche Ausgesetztheit den Schauer des Eigentlichen antizipiert, liegt der Reiz und das partizipatorische Versprechen von fotografisch konservierten ‚Live-Sequenzen‘, die, kontingent wie das Leben selbst, die unterschiedlichen (sozialen und kulturellen) Realitäten als Konzentrat eines Lebensgefühls scheinbar zugänglich machen. […] Der Moment der Medialisierung des Motivs […] als die Ambivalenz einer ‚distanzierenden Annäherung‘ gegenüber dem NichtAssimilierbaren des radikal Anderen […] konvergiert mit dem Begehren der Betrachter, in Sublimation der Sehnsucht nach authentischer Erfahrung, die Essenz des ‚Wirklichen‘ auf Bilder zu projizieren, die eine entbehrte Lebensechtheit kompensieren.“249

Über mediales, ästhetisches und motivisches Zusammenspiel wird ein „utopisch[er] Transzendenzgedanke“250 in Form der Teilhabe an einer entzogenen Realität evoziert. Dieser verdichtet das Potential des fotografischen Mediums zur Weltaneignung und -formung, das oben unter Bezugnahme auf die strukturelle Ähnlichkeit mit der als „Schwelle“251 figurierenden Hierophanie herausgearbeitet wurde. Dabei vereinen die Fotografien ikonoklastische und ikonophile Tendenzen, indem sie zum einen die simulierende Abbildung zugunsten der „Präsenz der ‚Sache selbst‘“ zu brechen suchen, andererseits jedoch das (fotografische) Bild als „lebensnahe Inkarnation des Wirklichen“ affirmieren und somit die ikonophilen Tendenzen der Moderne bestärken.252 Unter Rückbezug auf Slavoj Zizeks psychologische Deutung der Sehnsucht nach realer gewaltvoller Erfahrung im Körper als Konsequenz kultureller Saturierung beschreibt Frohne das Aufhängen und Betrachten der Fotografien von gewaltsamen Realitäten durch ein reiches und der authentischen Gewalterfahrung entfremdetes Kunstpublikum zudem als „eine Art Selbstopfer“253. In diesem spiegeln sich nicht nur moderne körperliche Opferpraktiken, die über tatsächliche Einschreibungen in

waltsamkeit der Bilder selbst verschmilzt, affiziert, überwältigt und schockiert; buchstäbliche Gewalt aber widerfährt den Betrachtern nicht.“ 249 FROHNE 2002, S. 420. 250 FROHNE 2002, S. 420. 251 ELIADE 1998, S. 26. 252 Während Frohne diese Frage als divergierende Richtungen zu Anfang aufwirft, verdeutlicht sie zum Schluss ihres profunden Aufsatzes, dass es gerade die Kopplung der radikalen Negierung jeglicher Illusion bei gleichzeitiger absoluter Abhängigkeit von selbiger ist, die die Essenz der Bilder ausmacht. FROHNE 2002, S. 405f., S. 413 und S. 422. 253 FROHNE 2002, S. 425f. Sie bezieht sich auf ŽIŽEK, Slavoj: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt am Main 2001, S. 514.

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den Körper wie Piercings, Tattoos etc. erbracht werden,254 sondern es klingen darin auch grundsätzliche Facetten der Auseinandersetzung mit dem Heiligen nach: So etwa der Wunsch, in einer realeren Realität (des Heiligen) zu leben, Opferungen als Annäherung an eine solche Sphäre und nicht zuletzt Praktiken der stellvertretenden Durchführung solcher Handlungen, wie sie sich als kulturspezifische Ausprägungen des Christentums insbesondere im stellvertretenden Leiden der Figur Christi, aber auch in den Fürbitten, der fremddurchgeführten Pilgerreise sowie entfernt auch im Ablasshandel findet. Auch hier ließe sich demnach von „kryptoreligiöse[m] Verhalten“255 im Sinne Mircea Eliades sprechen. Frohne hebt hervor, dass sich im Laufe der Zeit kulturell, zeit- und medienhistorisch verschiedene rhetorische Mittel zur Darstellung des ursprünglich vornehmlich in Bezug auf das Kino konstatierten effect du reel etabliert haben.256 Spricht sie, wie oben ausgeführt, in Bezug auf die von ihr analysierten Positionen von einer pseudo-dokumentarischen Bildsprache im Anschluss an die Rhetorik des „Live“-Bildes, deren Kontingenzcharakter motivisch mit der Faktizität des Körpers überlagert wird, so findet sich dieses Vokabular bedingt auch bei Nebreda wieder, wird aber, wie im Folgenden gezeigt werden soll, mit anderen Mitteln in Korrespondenz gesetzt. Inwiefern lässt sich die dargelegte kryptoreligiöse Funktion der Fotografien als (utopische) Transzendenzerfahrung auch für die Arbeiten David Nebredas konstatieren, die zudem, wie bereits in der Analyse gezeigt, auch metaphorisch und direkt auf das Heilige und seine sakralen Ausformungen Bezug nehmen? Unter diesem Blickwinkel sollen die Arbeiten Nebredas nachfolgend auf ihre formalen und medialen „Authentisierungsstrategien“257 und deren potentielle rezeptionsästhetische Wirkung hin beleuchtet werden und mit den ausgeführten strukturellen Korrelationen zwischen fotografischem Bild und Hierophanie als Schwellenphänomenen kurzgeschlossen werden.

254 Vgl. FROHNE 2002, S. 426. 255 ELIADE 1998, S. 25. 256 Vgl. FROHNE 2002, S. 410. 257 BEYERLE, Mo: Authentisierungsstrategien im Dokumentarfilm. Das amerikanische Direct Cinema der 60er Jahre, Frankfurt am Main 1996, zitiert nach FROHNE 2002, S. 410.

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4.3.2 Bildstrategische Mittel zur Evozierung von Authentizität, Wahrheit, Wirklichkeit bei Nebreda „Das Wahre ist das Ekelhafte, das Ekelhafte ist das Wahre“258 WINFRIED MENNINGHAUS

Nach Juan Antonio Ramírez sind die Arbeiten Nebredas künstlerische Kreationen, denen in erster Linie eine unzweifelhafte Authentizität innewohnt.259 Neben der bereits in der Analyse herausgestellten Bedeutung des analogen fotografischen Verfahrens für diese Einschätzung, ist es die von Frohne genannte „Faktizität des Körpers“260 auf der diese Bewertung beruht. Motivisch ist die gewaltvolle Versehrung des Körpers, wie in der Analyse beschrieben, in vielfältiger Form in den Fotografien vorhanden, ja scheint die zentrale Aussage der Bilder, deren visuelles Formenrepertoire in allen Variationen durchdekliniert wird: Frische Kratz- und Schnittwunden, Verbrennungen, Penetrationen und Narben werden mit Abmagerung, Überlagerung mit Exkrementen und schließlich mit Bildern der versehrenden Werkzeuge kombiniert. Die motivische Kraft der Einzelbilder akkumuliert sich in ihrer Gesamtheit zu einer vehementen Bilderschau der Zerstörung, die das rezeptionsästhetische Potential eines direkten inhaltlichen Schocks besitzt. Ähnlich den von Frohne analysierten Positionen wird hier „der gezeichnete Körper, der von Exzess und Spuren der Gewalt markierte Körper, […] zum empirisch-physischen Anhaltspunkt einer ‚realness‘, an der sich das Imaginäre der medialen Reproduktion und Repräsentation faktisch bricht“261. Nebreda integriert zudem formal-ästhetische Strategien, die die Fotografien in ihrer dokumentarischen Direktheit unterstützen. So finden sich auch in Autoportraits einige typische Marker der „Live“-Rhetorik wie etwa Unschärfe, ungewöhnliche Perspektiven und scheinbar zufällige Spiegelungen sowie verschiedene dokumentarische Bildsprachen, die zwischen einer unsichtbaren Kamera, einem Fotografen als Augenzeugen und einer Art Crime scene photography changieren.262 Die genannten Elemente werden jedoch zumeist in einer Weise

258 MENNINGHAUS 1999, S. 21. 259 Vgl. RAMÍREZ 2003, S. 79. 260 FROHNE 2002, S. 403. 261 FROHNE 2002, S. 403. 262 Die Unschärfe wird hier, anders als bei Serrano, also als dokumentarischer Marker, der eine Schnappschuss-Ästhetik implizieren soll, eingesetzt und nicht als malerisches Stilmittel oder Referenz auf Übernatürliches, wie in Kapitel 2.2.3 ausgeführt.

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eingesetzt, die sie spätestens auf den zweiten Blick als intendiert dekonstruiert und zudem mit eindeutig inszenierten Fotografien und inszenatorischen Bildstrategien konterkariert.

Abb. 4.21: David Nebreda, Il essaie de représenter la disparition, mais il ne réussit qu’a faire disparaître sa tête, 1989-90, Farbfotografie

So zeigen einige Bilder die Person Nebredas verschwommen und unscharf und implizieren so eine Bewegung, die auf einen Schnappschuss schließen lassen könnte, wie etwa das Selbstportrait Abb. 4.21. Bei näherer Betrachtung und unter Berücksichtigung des Titels Il essaie de représenter la disparition, mais il ne réussit qu’a faire disparaître sa tête. wird deutlich, dass der Effekt durch Langzeitbelichtung absichtlich hervorgerufen wurde und bewusst reflektiert wird. Im Vordergrund stehen dabei eher die Darstellung von Bewegung, das Ausloten der Fähigkeiten des fotografischen Mediums, Dinge zum Verschwinden zu bringen

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und gewisse Stimmungen (Abb. 4.9), als die Implikationen eines Schnappschusses. Ähnliche Unschärfen entstehen durch Doppelbelichtungen mit Spiegeln. Die Doppelbelichtung taucht zudem in einer Fotografie auf, in der Nebreda mehrfach erscheint (eine Anspielung auf seine Schizophrenie) und die als Kategorie eine seltsame kompositorische Mischung zwischen aneinandergereihten Bewegungsbildern mit narrativer Intention, einem kubistisch anmutenden Ausleuchten einer Handlung von verschiedenen Seiten und in einem Bild symbiotisierten und doch separaten Einzelbildern darstellt (Abb. 4.22).

Abb. 4.22: David Nebreda, Celui qui attend, 1997, Farbfotografie

Auch finden sich in einigen Fotografien Spiegelungen, die auf den ersten Blick als beiläufige Bildelemente in scheinbaren Stillleben auftauchen und sich auf den zweiten Blick als dezidiert geplante und technisch hoch komplex durchzuführende Bildaufbauten entpuppen, wie in Abb. 4.23 sowie der bereits besprochenen Fotografie Les pommes du Correggio (Abb. 4.12) Zu dieser Kategorie von Fotografien gehören auch jene Selbstportraits, die Nebreda frontal und zentralperspektivisch scheinbar im Spiegel zeigen, jedoch ebenfalls Doppelbelichtungen sind (bspw. Abb. 4.24). An diesen Beispielen wird deutlich, dass die meisten Fotografien kompositorisch geplant und keineswegs als Schnappschuss entstanden sind, auch wenn sie teilweise formal-ästhetisch auf einen solchen zu rekurrieren scheinen. Hinzu kommen jene Fotografien, die als klassische Portraits aufgenommen sind und Elemente der Inszenierung und Komposition auf

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Abb. 4.23: David Nebreda, La trinité des

Abb. 4.24: David Nebreda, ohne Titel,

miroirs. Hic –quadrum spei, 1989-90,

1983-1989, Schwarz-Weiß-Fotografie

Farbfotografie

den ersten Blick offen legen und über zusätzliche Medien wie Schrift im Bild oder Bild im Bild, ihre Aussage steigern.263 Demgegenüber stehen Aufnahmen, die bildsprachlich den Eindruck einer beobachtenden und für das Modell scheinbar unsichtbaren Kamera evozieren. Sie wirken tatsächlich wie unbemerkte Schnappschüsse des in Gedanken versunkenen, aus dem Bild schauenden oder im Begriff einer Handlung stehenden Nebredas, den die Kamera in seiner Nacktheit nicht stört, da er sie nicht wahrzunehmen scheint, wie beispielsweise Abb. 4.25. In anderen Fotografien scheint es so, als habe ein Fotograf Nebreda angesprochen und dieser ihm daraufhin den Blick zugewandt (Abb. 4.26). DieseBildsprache impliziert eine faktische Differenz von Fotograf und Modell, die scheinbar in einer zusätzlichen dokumentarischen Augenzeugenschaft des Fotografen resultiert.264 Grundsätzlich wird über die Betitelung als Selbstportrait diese Konstellation bereits von Anfang an dekonstruiert – nichtsdestotrotz macht

263 Vgl. etwa NEBREDA 2000, S. 72, S. 86, S. 89. 264 Zu Bildsprache und weiteren Aspekten der Augenzeugenschaft vgl. FROHNE 2002, S. 410.

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Abb. 4.25: David Nebreda, Il reste peu de

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Abb. 4.26: David Nebreda: Le cadeau de

temps et l’agneau me demande de plus en

la mère. Le couteau portant mon nom

plus de sang, 1989-90, Farbfotografie

1989-90, Farbfotografie

sich Nebreda die in ihr implizit inhärente (und formal eine schizophrene Tendenz inkorporierende) Spannung sowie die doppelte visuelle Authentifizierung durch Modell und Fotograf (auch wenn diese sich in ihrer Dekonstruktion als ein- und dieselbe erweist) zunutze. Dazu kommen Fotografien, die durch Anschnitte und ungewöhnliche Perspektiven eine Abweichung von der statischen Kamera nahelegen und somit den Blick des Fotografen als bewegten Agens, der sich mit dem Sujet auseinandersetzt und sich diesem in Momentaufnahmen annähert, aktiv in das Bild integrieren (Abb. 4.27). Die zwischen der ersten und dritten Person changierenden Bildtitel anderer Fotografien verweisen in diesem Sinne auf eine begleitende Reportageform und verifizieren zudem vermeintlich die Realität der aufgenommenen Handlungen durch dokumentarische Beschreibungen wie etwa Après deux jours, il se brȗle de nouveau le torse. (Abb. 4.28).265 In bildfüllenden Nahaufnahmen des geschundenen Körpers wird die Kamera zur intimen Begleitung, die einen besonderen Zugang des Fotografen zum dargestellten Körper nahelegt, der sich auch auf den Betrachter überträgt: „Images like this one are imbued with a parti-

265 Auch Jones hebt diesen Effekt hervor, vgl. JONES 2005, o. S.

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cipatory logic: in such extreme close-up, it appears, we have peculiar access to the body which undergoes the processes of burning and cutting.“266

Abb. 4.27: David Nebreda, 23-6-89, 1989-90, Farbfotografie

Eine weitere Kategorie von Bildern, auf denen nicht der Körper selbst, jedoch die Werkzeuge seiner Malträtierung gezeigt werden, gleicht der polizeilichen Bestandsaufnahme der Fundstücke nach einem Verbrechen, wie beispielsweise Abb. 4.18 und 4.17.267 Über die Strategie der im Bildtitel und über das Blut in Abb. 4.18 visuell angelegten Querverweise auf vorangegangene Handlungen kann Nebreda zudem Interferenzen zwischen den einzelnen Bildern herstellen und ein übergeordnetes Narrativ in Form einer Reportage implizieren, welches in der Publikation Autoportrait durch die eingangs ausgeführte, chronologische Gliederung der Fotografien in vier Einheiten unterstützt wird. Final erweist sich dieses nicht als kohärent, da sich keine der spezifischen Verwundungen explizit und in einem gesicherten Zeitkontext den separat visualisierten Materialien zu266 JONES 2005, o. S. 267 Jones bezieht sich ebenfalls auf crime scene photography, wendet diesen Begriff jedoch seltsamerweise auf Handlungen beschreibende Fotografien an, während er das im Folgenden in dieser Analyse genannte Bild als quasi-museale Bestandsaufnahme etikettiert. Vgl. JONES 2005, o. S.

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weisen lässt. In anderen Bildern werden die Werkzeuge in das Bild, das den versehrten Körper zeigt, integriert und so die Wunden über das parallele Zeigen der sie auslösenden Werkzeuge identifiziert und verifiziert sowie darüber hinaus über die Titel narrativ aufgegriffen (siehe erneut Abb. 4.28).268 Bei Offenlegung inszenierender und kompositorischer Bildmittel verwendet Nebreda demnach trotzdem formale Strategien der Authentifizierung, die einen „Unmittelbarkeitseffekt“269 hervorrufen können und dabei jeweils eng an die Person Nebredas gekoppelt sind.

Abb. 4.28: David Nebreda, Après deux jours, il se brȗle de nouveau le torse, 1989-90, Farbfotografie

268 Auch Jones verweist auf diese Konstellation, vgl. JONES 2005, o. S. 269 FROHNE 2002, S. 409.

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David Houston Jones unterscheidet zwei Modi der Bildbetrachtung in Bezug auf Autoportrait, von denen die eine als Frage nach dem „Wie?“ direkt und explizit beantwortet wird, während das „Warum?“ zunächst offen bleibt.270 Wurde dies im vorliegenden Text bereits in der Betrachtung des intrinsischen Systems Nebredas explizit erörtert, so liegt nun der Fokus auf der potentiellen Wirkung und Bedeutung dieser Frage für den Betrachter. Die willentliche Verletzung des eigenen Körpers weicht von der Norm ab und ist unerwartet. Sie steht der grundlegenden Integrität der körperlichen Verfassung als Paradoxon gegenüber und entbehrt in einer Medienwelt, die primär auf die Perfektionierung und Optimierung des Körpers setzt, einer gesellschaftlich anerkannten Praxis als Basis.271 Die Ebene der Versehrung wird dabei, wie David Houston Jones hervorhebt, auf der Ebene des Zeigens und der Zurschaustellung von Körpern, welche vom ästhetischen Ideal abweichen, repetiert und folglich als Tabubruch wahrgenommen.272 Nebredas Bilder transportieren inhaltlich eine „Gewaltsamkeit des Unerwarteten“273 insofern, als dass sein Verhalten gerade nicht der Norm entspricht und eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, die, obwohl durch eine interne Logik strukturiert, im Sinne der Norm durchaus als kontingent bezeichnet werden können. Sie greifen somit Elemente von Kontingenz auf, diese sind jedoch vielmehr inhaltlicher als rhetorischer Art und weichen damit von den bei Frohne genannten Aspekten ab. Als Ursache der versehrenden Handlungen am eigenen Körper kommt scheinbar nur eine intrinsische Motivation des Autors in Frage, wodurch das Bild eng an die Figur Nebredas gebunden und als Produkt des Individuums authentisiert wird. Die in diesen Handlungen unterschwellig vorhandene Bedrohung durch das arbiträre Krankheitsbild der Schizophrenie knüpft zugleich an jene (von Nebreda dezidiert negierte) verborgene gesellschaftliche Darkside274

270 JONES 2005, o. S. 271 Wobei man auch argumentieren könnte, dass gerade die Anwendung gesellschaftlicher Idealvorstellungen zu ähnlich gewaltvollen Tendenzen führen kann, wie sie bei Nebreda zu finden sind. Dies zeigt sich insbesondere im grenzwertigen Schlankheitswahn, der oft genug tatsächliche psychische und physische Krankheitsbilder zur Folge hat. 272 Vgl. JONES 2005, o. S.: „As well as presenting the very opposite of what we ‚know‘ to be the conventional subjects of representation, however, Autoportraits enquires into, and contests, the basis of that convention.“ 273 FROHNE 2002, S. 413. 274 Mit den Ausstellungen Darkside I und II widmete sich das Fotomuseum Winterthur einem Überblick dieser Tendenzen, vgl. Ausst.Kat.: Darkside I – Fotografische Begierde und fotografierte Sexualität, Fotomuseum Winterthur, Winterthur, 2008 und

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der Begehren und Gelüste an, die im Schatten der glänzenden Oberfläche der Medienbilder lauert und ist von dieser auf den ersten Blick nicht trennbar.275 In seiner Abhandlung über den Ekel hebt Winfried Menninghaus hervor, dass den meisten Theorien zum Phänomen eine Zielrichtung inne sei, die letztendlich die Konvergenz von Ekel und Wahrem betont, womit „das Ekelhafte in die verwaisten Positionen des unverfügbaren ‚Realen‘ und der quasimetaphyischen Wahrheit“ avanciert.276 Insbesondere in den Fotografien, die mit Vehemenz die Grenzen konventioneller Darstellungsmodi des Körpers durchbrechen, indem sie etwa Nebredas Gesicht durch Überlagerung mit Exkrementen auslöschen, zeigt sich dementsprechend eine Funktion der Bilder, die eine Teilhabe an einer nicht verfügbaren Realität suggeriert, welche formal mit der entzogenen Realität des Heiligen in eins fällt, ja mit ihr konvergiert: „Das Wahre ist das Ekelhafte, das Ekelhafte ist das Wahre, ja das ‚Ding an sich‘.“277 Insbesondere im Bild des mageren Körpers, wie es sich dem Betrachter etwa in Abb. 4.2 präsentiert, schwingt zudem eine unheimliche Ebene im Sinne Freuds mit.278 So erinnern die Bilder von Nebredas ausgemergeltem Körper an

Ausst.Kat.: Darkside II – Fotografische Macht und fotografierte Gewalt, Krankheit und Tod, Fotomuseum Winterthur, Winterthur, 2009. 275 Es sei noch einmal auf die im Vorlauf zur Ausstellung Phantom der Lust. Visionen des Masochismus ergangene kuratorische Einladung an Nebreda verwiesen sowie auf die Ablehnung selbiger durch den Künstler, vgl. NEBREDA 2003a, S. 418. Letztere Konstellation verdeutlicht die Schwierigkeit und gleichzeitige Notwendigkeit eindeutig zwischen Krankheitsbildern und individuellen Neigungen zu differenzieren. 276 MENNINGHAUS 1999, S. 21. 277 MENNINGHAUS 1999, S. 21. Er hebt zudem hervor, dass insbesondere die Kunst Raum für eine solche Auslotung bietet. Theoretiker, die sich im weitesten Sinne dieser Konvergenz widmen sind etwa KRISTEVA 1982; sowie CAILLOIS, Roger (1938): Der Mensch und das Heilige, durch 3 Anh. über d. Sexus, d. Spiel u. d. Krieg in ihren Beziehungen zum Heiligen erw. 3. Ausg., München 1988. Bataille bezieht explizit die visuelle Macht gewaltvoller Bilder ein, vgl. BATAILLE 2005, insbesondere S. 245f. Die Konsequenzen der Betrachtung solcher Bilder werden sowohl von Sontag als auch von Wolf reflektiert, vgl. SONTAG, Susan: Das Leiden anderer betrachten, München 2003; und WOLF, Herta: Die Tränen der Fotografie, in: HARASSER, Karin, MACHO, Thomas, WOLF, Burkhardt (Hg.): Folter. Politik und Technik des Schmerzes, München 2007, S. 139-163. 278 Nach Freud handelt es sich bei dem Unheimlichen um bereits Bekanntes, das verdrängt wurde und nun wiederkehrt. Vgl. FREUD, Sigmund: Das Unheimliche (1919), in: MITSCHERLICH, Alexander, RICHARDS, Angela, STRACHEY, James (Hg.):

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jene Fotografien der Überlebenden der Konzentrationslager im Zweiten Weltkrieg,279 die sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben und in einem Status zwischen bewusster Vergegenwärtigung und aus der Möglichkeit der Realität Verdrängtem verharren. In einer seltsamen Verdrehung brechen diese Bilder nun als gewählte Existenzweise in den Erfahrungshorizont des Betrachters ein und konfrontieren diesen mit der ultimativen transgressiven Handlung der ‚freiwilligen‘ Reduktion des eigenen Körpers als quasi-unheimliche Realität. Während die Bilder damit oberflächlich eine nicht zu unterschätzende Differenzerfahrung zur eigenen Existenz darstellen, die der in den von Frohne analysierten Fotografien ähnelt, bergen sie zugleich das Potential auf mehreren Ebenen die Schichten des persönlich und kollektiv Unbewussten und Verdrängten anzurühren. Wie David Houston Jones hervorhebt, konfrontieren sie den Betrachter in ihrer Vehemenz mit der Frage, ob und wie der versehrte Körper dargestellt werden kann und darf280, und ob und wie fotografische Darstellungen versehrter Körper betrachtet werden dürfen.281 Der mediale „ästhetische Schleier […] (image-screen)“ der Fotografien zerreißt folglich nicht ganz „an der anatomischen Wahrheit des entsublimierten Körpers und der Echtheit des sozialen Elends“282, sondern seine eigene Ästhetik und Gemachtheit werden durchaus explizit zur Schau gestellt, dies nicht zuletzt über das Format des Selbstbildnisses, das eine aktive Teilhabe und Zielführung suggeriert. Das Element der Kontingenz wird hier nicht über eine Schnappschussästhetik evoziert, auch wenn die Bilder vorgeben, Dokumente eines – wenn auch ungewöhnlichen – Alltags zu sein. Vielmehr ist es gerade die Unvereinbarkeit des Motivs, die bewusste Durchführung und das Vorzeigen der gewaltsamen Versehrung des Körpers und dessen Präsentation in einer formal ausgeklügelten, ästhetisierenden Bildsprache, die sowohl inszenierende als auch dokumentariSigmund Freud. Psychologische Schriften, Frankfurt am Main 1970, Bd. IV, S. 241274. 279 Vgl. CLAIR 2004, S. 22. 280 Vgl. JONES 2005, o. S. 281 In dieser Fragestellung sind sie äußerst aktuell und verweisen auf spätere Folterbilder aus dem Irak sowie die daran geknüpfte Diskussion über Praktiken des Zeigens und Verbergens von Bildern von Gewalt, vgl. BREDEKAMP, Horst: Wir sind befremdete Komplizen. Triumphgesten, Ermächtigungsstrategien und Körperpolitik, in: Süddeutsche Zeitung, 28.05.2004, S. 17; sowie SONTAG 2003; GEIMER, Peter: „Wir müssen diese Bilder zeigen“ – Ikonografie des Äußersten, in: HARASSER, Karin, MACHO, Thomas, WOLF, Burkhardt (Hg.): Folter. Politik und Technik des Schmerzes, München 2007, S. 119-132; und WOLF 2007, S. 140. 282 FROHNE 2002, S. 405.

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sche Elemente integriert, die in ihrer Erfahrung über bekannte Bilder von Gewalt hinaus unerwartet und verstörend wirkt und deren Kontingenz sich nur über ihre Kopplung an ein Individuum scheinbar erklären lässt. Neben den Wunden und körperlichen Versehrungen, die von den Fotografien festgehalten werden, wird, wie David Houston Jones in seiner Analyse der Fotografien Nebredas herausarbeitet, auch eine Dokumentation des Akts der Verletzung selbst impliziert, indem motivisch in einigen Fotografien eine Überlagerung verschiedener Zeiten stattfindet, das heißt „time of experience“ und „time of representation“ scheinbar zusammenfallen:283 „A number of the photographs depict experiences of bodily modification and pain which happen as the photograph is being taken. […] The execution of mutilation is coterminous with the execution of representation. […] the conflation of time of experience and time of representation is extremely rare when the plane of experience involves the infliction and reception of physical pain.“284

Dieses zeitliche Zusammenfallen von Erfahrung und Repräsentation in Selbstverletzung und zeitgleichem fotografischen Akt (etwa in Abb. 4.3) verstärkt den Authentizitätscharakter der Fotografien wesentlich. Es bedeutet zum einen eine Privilegierung affektiver rezeptionsästhetischer Qualitäten, zum anderen eröffnet es ein vielschichtiges Funktionsfeld der indexikalischen Facetten des fotografischen Mediums, beide Aspekte sollen im Folgenden näher erläutert werden. Dass Bilder bereits über Formen und Farbqualitäten die Wahrnehmung ansprechen und den Betrachter direkt affizieren können, ist bekannt, und wird derzeit durch die Forschung der Neurowissenschaften und der Entwicklungspsychologie bestätigt.285 David Freedberg und Vittorio Gallese beschreiben, dass bei der 283 Jones verweist darauf, dass diesen Fotografien bestimmte narrative und zeitliche Brüche inhärent sind, die das Versprechen der „reification“, das heißt das Zusammenfallen des Objekts der Versehrung und des Agens des fotografischen Aktes in einer singulären biographischen Identität, nämlich derjenigen Nebredas, eigentlich drastisch unterlaufen. So zeigt etwa ein Foto mit dem narrativen Titel einen abgemagerten Körper, dessen Wunden eher Ritzverletzungen als Verbrennungsmale einer Zigarette sind. Vgl. JONES 2005, o. S. An dieser Stelle sei jedoch angemerkt, dass die Bilder auch als Beginn der Handlung vielmehr denn als deren Dokumentation gelesen werden könnten, die implizierte Aktion demnach noch folgt, nicht bereits geschehen ist. 284 JONES 2005, o. S. 285 Vgl. etwa FREEDBERG, David, GALLESE, Vittorio: Motion, emotion and empathy in esthetic experience, in: TRENDS in Cognitive Sciences, 11, 2007, H. 5, S. 197-

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Betrachtung von Kunstwerken, in denen Körperteile verletzt werden, mittels Spiegelneuronen die gleichen Bereiche im Körper des Betrachters aktiviert werden: „The viewing of images of punctured or damaged body parts activates part of the same network of brain centers that are normally activated by our own sensation of pain, accounting for the feeling of physical sensation and corresponding shock upon observation of pressure or damage to the skin and limbs of others.“286

Wie die Kunstwissenschaftlerin Martina Sauer darlegt, geben die visuellen Stimulanzien dabei bereits auf abstrakter Ebene über Intensitätsgrade, Formen und zeitliche Muster bestimmte Richtungen vor, so dass Wahrnehmungsmuster in Gefühlsqualitäten übersetzt werden.287 Die Bildrezeption kann somit als aktive, transmodale, das heißt die Grenzen der einzelnen Sinne überschreitende Teilhabe verstanden werden: „Der Betrachter erkennt die Motive auf einem Bild nicht nur, er erlebt sie.“288 Am Beispiel der zerschnittenen Leinwände Lucio Fontanas führt Sauer aus, wie der Betrachter anhand visueller Spuren, die Bewegungen voraussetzen, diese mittels der Spiegelneuronen in der Empfindung nachahmt und als körperliche Aktion nachspüren kann: „Die Empfindungen, die dabei ausgelöst werden, sind so stark, dass der Betrachter sich regelrecht körperlich betroffen fühlt, so als ob er selbst die Tat ausgeführt hätte. Die Reduzierung des Kunstwerks auf den Schnitt und damit die Reduzierung der Tat im Kopf auf

202; sowie SAUER, Martina: Ein Bild ist ein Bild, wie funktioniert unsere Wahrnehmung (Manuskript), in: SWR2 Aula, 27.05.2012, unter: http://www.swr.de/swr2/ programm/sendungen/wissen/ein-bild-ist-ein-bild/-/id=660374/did=9584814/nid=6603 74/bwu6be/index.html (14.04.2014), S. 2. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden ähnliche Ansätze von Robert Vischer (,,Einfühlung“) , Wölfflin (in Bezug auf die Wahrnehmung von Architektur) und Maurice Merleau-Ponty (Phänomenologie) verfolgt. Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften wurden in der neueren Kunstwissenschaft und insbesondere der ästhetischen Forschung lange Zeit ignoriert – für eine kurze Zusammenfassung, vgl. FREEDBERG, GALLESE 2007, S. 198. Die Kunstwissenschaftlerin Martina Sauer bezieht sich insbesondere auf die vorsprachliche Wirkung abstrakter Bilder, ihre Ansätze erscheinen jedoch auch in diesem Kontext relevant, vgl. SAUER 2012, S. 4 und S. 8. 286 FREEDBERG, GALLESE 2007, S. 198. 287 Vgl. SAUER 2012, S. 6. 288 SAUER 2012, S. 7.

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diesen Schnitt, die hier ohne Bezug zu einer konkreten Situation nachgeahmt werden kann, trägt zur Steigerung des Gefühls bei. […] Gefühlsmäßige Assoziationen im Hinblick auf ein Verletztsein und Ausgeliefertsein können sich daraufhin einstellen.“289

Dieser Ansatz lässt sich auf die dargestellten Wunden in den Fotografien Nebredas übertragen, die als Einschnitte in den Körper demzufolge bereits auf einer formalen Ebene eine direkte affektive Wirkung auf den Betrachter entfalten können, die der gedanklichen Interpretation des Gesehenen vorausgeht. Zugleich werden auf neuronaler Ebene ähnliche Körperteile aktiviert, wie diejenigen, die in der Darstellung verletzt werden.290 Die von Jones dargelegte Überlappung der Repräsentation mit der Ausführung der Handlung führt so zu einer erhöhten Übertragung der sensorischen Erfahrung des Verletzens und Verletztseins im Rezeptionsprozess. Die Bildbetrachtung lässt sich somit weniger als rein rational-ästhetischer, sondern als aisthetischer Prozess begreifen, innerhalb dessen der Schwerpunkt auf der physischen Wahrnehmung der Materialität der gezeigten Handlungen liegt.291 Eine solche vorsprachliche und vorbegriffliche Ebene der Bilder Nebredas in Produktion und Rezeption wird in den Kritiken seiner Arbeiten bestätigt, wenn etwa Jean Paul Curnier und Michel Surya betonen, dass sein Werk sich „a priori, comme le témoignage et le support d’une experérience extérieure au langage et à la pensée“292 präsentiere. Das über den performativen Charakter der repräsentierten Handlungen (in der Überlagerung von Repräsentations- und Exekutionszeit) implizierte Zeitgeschehen betont in diesem Kontext zum einen die dargestellte Geste und befördert somit deren rezeptiven Nachvollzug und kann zum anderen als zeitliches Muster eigene „Vitalitätsaffekte“293, das heißt, spezifische Empfindungsqualitäten hervorrufen, indem die narrativen Implikationen einer Handlung die Immersion des Betrachters in das dargestellte Su-

289 SAUER 2012 S. 8. 290 Vgl. FREEDBERG, GALLESE 2007, S. 198. 291 Für diesen Hinweis danke ich Sarah Maupeu. Eine derartige Lesart ist im Anschluss an eine generelle „aisthetische Wende der Ästhetik“ seit den 1970er und 1980er Jahren zu lesen, die den Begriff der Ästhetik als Philosophie der Kunst und des Schönen zunehmend dekonstruiert und „eine Verschiebung vom Sinn auf die Sinne, von Totalitäten auf Differenzen, von Idealitäten auf Materialitäten als zeitgemäß“ erkennt. Vgl. BARCK, Karlheinz: Aisthesis/Aisthetisch, in: TREBESS, Achim (Hg.): Metzler Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag, Stuttgart 2006, S. 3-6, S. 3. 292 CURNIER, SURYA 2001, S. 9. 293 Stern zit. nach SAUER 2012 S. 6.

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jet befördern können.294 In diesem Sinne weisen auch die Fotografien Nebredas, in denen Handlungen während der Ausführung gezeigt werden, über ihr zeitliches Muster rezeptionsästhetisch erhöhte affektive Qualitäten auf, da sie einen Zeitfluss und eine Zustandsveränderung nicht nur implizieren, sondern gewissermaßen auf die Darstellung verdichten.295 Mittels der exekutiven und repräsentierenden Gleichzeitigkeit wird eine ähnliche mediale Qualität wachgerufen wie bei der instantanen Fotografie, welche die Authentizität der Handlungen weiter stärkt. Polaroids ermöglichen einen direkten Abgleich mit der Realität, indem sie die Repräsentation des Referenten in unmittelbare zeitliche Nähe zu dessen Präsenz setzen und so theoretisch eine fast zeitgleiche Betrachtung entstehen kann.296 Trotz spezifischer, teils gerade abstrahierter und realitätsverfremdender Farbigkeit des Polaroids wohnt diesem somit ein größtmöglicher Authentizitätsfaktor inne, insbesondere, da der Entstehungsprozess gleichsam in der typischen weißen Kadrage des instantanen Fotos sein Symbol findet, der das Polaroid stets als solches ausweist.297 Bei Nebreda 294 Insbesondere der Film, dessen zeitliche Abläufe und narrative Struktur meist Darstellung von Handlung integrieren, kann diesbezüglich aufschlussreich sein. Im Kontext der Filmanalyse beschrieb bereits Walter Benjamin die physiologische Wirkung des Films als den Körper ergreifende Sensation und verweist somit auf die immersiven Qualitäten des Mediums für den Betrachter, vgl. FROHNE 2002, S. 415. 295 Die Implikation eines Zeitflusses stellt Blunck in Anlehnung an den Literaturwissenschaftler Wolf Schmidt als mögliche Minimaldefinition von Narration in Fotografien vor, weist jedoch zugleich auf die Schwierigkeiten einer solchen Einordnung aufgrund der diffizilen Ausdifferenzierung von Markern für eine Zustandsveränderung hin, die darüber hinaus in gewisser Weise jedem Foto als „Schnitt“ aus der Zeit inhärent sind. Nichtsdestotrotz erscheint die Ausdeutung der bei Nebreda dargestellten Handlungen als narrative Strukturen plausibel, wenn auch durchaus in dem Sinne, dass die eigentliche Narration im Betrachter selbst entsteht, der dem Bild gewissermaßen „seine Stimme […] leiht“. BLUNCK 2010b, S. 31f., S. 33f. und S. 36. 296 Vgl. HORAK, Ruth: Extreme des Sofortbildes in der Kunst, in: KRÖNCKE, Meike, LAUTERBACH, Barbara, NOHR, Rolf F. (Hg.): Polaroid als Geste – über die Gebrauchsweisen einer fotografischen Praxis, Ostfildern-Ruit 2005, S. 80-95, S. 86. 297 Vgl. POLTE, Maren: Taschenspielertricks – Skizzen eines flüchtigen Fotoautomaten / Die BfA in einer Polaroid-Reportage Stephan Erfurts, in: KRÖNCKE, Meike, LAUTERBACH, Barbara, NOHR, Rolf F. (Hg.): Polaroid als Geste – über die Gebrauchsweisen einer fotografischen Praxis, Ostfildern-Ruit 2005, S. 32-43, S. 35; sowie KRÖNCKE, Meike, NOHR, Rolf F.: Polaroids und die Ungewissheit des Augenblicks, in: KRÖNCKE, Meike, LAUTERBACH, Barbara, NOHR, Rolf F. (Hg.): Polaroid als Geste – über die Gebrauchsweisen einer fotografischen Praxis, Ostfildern-Ruit

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führt das Zusammenfallen der zwei Zeiten über die im Bild festgehaltene aktive Einschreibung der Wunden in den Körper zu einem ähnlichen Status, der die Authentizität des dargestellten körperlichen Aktes der Versehrung als „Ausschnit[t] von „Jetztzeit“298 betont. Dies wirkt sich als authentizitätssichernder Faktor auf die Gesamtheit der Fotografien aus. So verlieren auch Bilder, die eine Doppelbelichtung zeigen, in der Nebreda zweifach zu sehen ist, nicht ihre Authentizität, auch wenn das Gesehene so nicht in der Wirklichkeit stattgefunden haben kann (wenn es sich auch als gelungene Symbolik der subjektiven Wirklichkeit des Künstlers deuten lässt): In der Gesamtheit der Bilder steht weniger die genaue Übereinstimmung des auf dem Bild zu Sehenden mit der durchgeführten Handlung im Fokus, als vielmehr die durch das Bild und mit diesem bestätigte Wirklichkeit der Handlung selbst. Der fotografische Index fungiert hier als Spur einer anderen indexikalischen Einschreibung, der Wunde. Barthes und in seiner Folge Dubois heben die semantische Leere der Verbindung der Fotografie zur Wirklichkeit hervor, die sich als „perfekte[s] Analogon“299 oder „natürlich[e] Einschreibung“300 im entscheidenden Moment ihrer Entstehung jeder Codierung entzieht, und so zwar die reine Wirklichkeit zeigt, jedoch ohne Aussagen über die Bedeutung des Gezeigten zu treffen (Barthes message sans code301). Wie in der Analyse hervorgehoben, hat der Betrachter es bei den Fotografien Nebredas mit einer Verdopplung dieses Moments zu tun, in der sich eine Konzentration auf den Aspekt der Berührung als solchen findet. Vor der Ebene der Bedeutungszuschreibung steht somit die Reduzierung auf eben jene Berührung: ‚Es‘ (was auch immer) ist authentisch, da

2005, S. 6-19 ,S. 6. Zu der spezifischen Materialität und Medialität von Polaroids siehe zudem die weiteren Aufsätze in: KRÖNCKE, Meike, LAUTERBACH, Barbara, NOHR, Rolf F. (Hg.): Polaroid als Geste – über die Gebrauchsweisen einer fotografischen Praxis, Ostfildern-Ruit 2005; zur Geschichte und Rezeption des Sofortbildes siehe: WENSBERG, Peter C.: Land’s Polaroid. A Company and the Man who invented it, Boston 1987. 298 FROHNE 2002, S. 412. 299 BARTHES, Roland (1964): Die Fotografie als Botschaft, in: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt am Main 1990, S. 11-27, S. 12. Barthes argumentiert dabei nicht direkt über die indexikalische Ebene der Fotografie, sondern über eine denotierte ikonische Ebene. 300 DUBOIS, Philippe: Die Fotografie als Spur eines Wirklichen, in: STIEGLER, Bernd (Hg.): Texte zur Theorie der Fotografie, Stuttgart 2010, S. 102-114, S. 112. 301 BARTHES 2006, S. 142. Zu diesem Abschnitt siehe auch Kapitel 2.2.2 der vorliegenden Arbeit als Referenz.

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es eine „Berührung mit der Wirklichkeit“302 darstellt, ohne jedoch etwas über diese auszusagen, außer der Tatsache der Berührung selbst. Wie Barthes betont, ist eine solche „reine Denotation“ in der Praxis eigentlich nicht auffindbar, da alle Schritte der Produktion und Rezeption vor und nach diesem kurzen Moment der Einschreibung konnotiert sind.303 Insbesondere gewaltvollen Bildern schreibt er jedoch eine Tendenz zur Offenlegung eines solchen Bildstatus zu: „Falls sie [die reine Denotation, Anm. der V.] existiert, dann vielleicht […] auf der Ebene der eigentlich traumatischen Bilder: Das Trauma ist genau das, was die Sprache suspendiert und die Bedeutung blockiert.“304 Nach Peter Geimer ist es „[…] nicht einsehbar, warum Barthes das Schockfoto später als Inbegriff der fotografischen Insignifikanz anführt. Wieso soll die Aufnahme einer Hinrichtung per se durchlässiger und näher am Nicht-Codierten sein als der Anblick eines gewöhnlichen fotografischen Porträts? Setzt Barthes hier auf die schockierende Wirkung des Bildes, die den kulturellen Code gleichsam durchschlägt und sich dem Betrachter als unmittelbares Faktum aufdrängt?“305

Es handelt sich jedoch nicht um eine Zerschlagung des kulturellen Codes, vielmehr lässt sich argumentieren, dass eine derartige Wirkung in der am Beispiel Nebredas dargelegten Verdopplung des indexikalischen Vollzugs mittels Fotografie und Wunde liegt, denn hier offenbart der Index sein wahres Gesicht: Im Nachvollzug der authentischen gewaltvollen Berührung wird der Betrachter bereits auf einer vorsprachlichen Wahrnehmungsebene und, wie Martina Sauer hervorhebt, unabhängig von jeglicher kultureller Codierung306 direkt affiziert und zugleich über eben diese körperliche Reaktion auf sich selbst zurückgeworfen und mit seiner eigenen Interpretation und Reaktion konfrontiert. Der Index 302 FROHNE 2002, S. 401. 303 BARTHES 1990, S. 25. 304 BARTHES 1990, S. 25. 305 GEIMER 2010, S. 89. 306 Vgl. SAUER 2012, S. 4f. Es ließe sich argumentieren, dass es sich bei den unter Rückbezug auf Stern untersuchten „Vitalitätseffekten“ bereits um kulturelle Konnotationen handelt. Die entwicklungspsychologischen Studien Sterns verweisen jedoch, wie Sauer hervorhebt, darauf, dass diese wahrnehmungspsychologischen Reaktionen unabhängig von einer kulturellen Prägung funktionieren, was einer solchen Argumentation entgegen stünde. Erscheint dieser Punkt trotz allem anfechtbar, so beeinflusst er jedoch nicht die grundlegende Ausdifferenzierung der Rezeptionsebene in eine direkt affizierende, vorsprachliche und eine geistig kontemplative Reaktion auf die Fotografien, wie sie im Folgenden ausgeführt werden soll.

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wird somit über seine Verdopplung als vermeintliche Berührung offengelegt und in seiner Authentizität verstärkt, während zugleich die Rezeption der Betrachtenden in zwei Schritten erfolgt, der direkten Affizierung und der ihnen im zweiten Schritt kenntlich abgeforderten semantischen Ausdeutung und Stellungnahme, die im Falle Nebredas zusätzlich die Frage nach der moralischen und grundsätzlichen Repräsentierbarkeit von versehrten Körpern aufwirft.307 Diese Ausdifferenzierung des Rezeptionsprozesses ist es, die – wenn sie auch nicht eine „reine Denotation“ darstellt, dieser doch am nächsten kommt und dergestalt für den Betrachter eine Durchlässigkeit von der Sprache zur tatsächlichen Erfahrung bedeutet: Die doppelte Indexikalität in Verbindung mit der Gleichzeitigkeit von Handlung und Repräsentation sowie den affektiven und immersiven Qualitäten des Bildes „reaffirmiert […] das Bild als lebensnahe Inkarnation des Wirklichen“308 und verspricht dergestalt eine verdichtete Erfüllung der verschiedenen Sehnsüchte nach Realität, wie auch Frohne sie in ihrer Analyse darlegt. Die potentielle Wirkung der Fotografien auf den Betrachter beinhaltet somit durchaus eine substituierte Gewalterfahrung. Dabei bleibt der Betrachter körperlich unversehrt und kann so „ohne tatsächliche Ausgesetztheit den Schauer des Eigentlichen antizipier[en]“309. Indem die Bilder damit zugleich die auch für das Christentum zentrale Thematik des stellvertretenden Leidens aufgreifen, die sich insbesondere an der Figur Christi verdichtet, kann auch die These, dass es sich aufgrund der Kohärenzen zu Elementen des Heiligen bei der Bildbetrachtung und Rezeption um kryptoreligiöses Verhalten im Sinne Eliades handeln kann, bestätigt werden. Dass Nebreda derartige Identifikationsprozesse und substituierte Wahrnehmungsmuster als Tendenz mitdenkt, zeigt eine Fotografie, auf der er ein Plakat mit der Aufschrift „Ich werde zu einem von Euch und ich werde ihn zerstören“ trägt.310 Die Inschrift reflektiert das Potential der versehrenden Aktionen, nicht nur auf den Körper des Künstlers, sondern auch auf den des Betrachters einzuwirken. „Nous voilà averti du péril d’étre brȗlé, à trop s’approcher de la puissance décapante des autoportraits“311, schreibt Antoine Masson und interpretiert Nebredas Hinweis somit als Warnung an den Betrachter. 307 Siehe oben; sowie JONES 2005, o. S. 308 FROHNE 2002, S. 413. 309 FROHNE 2002, S. 420. Diese Wirkung korreliert mit der von Rogozinski beschriebenen Rezeptionserfahrung der Fotografien Nebredas, die ihn „treffen und in [s]einem tiefsten Inneren berühren“, vgl. ROGOZINSKI 2003, S. 191. 310 Der Text lautet im Original: „Me transformare en uno de vosotros y le destruire.“ NEBRDA 2000, S. 117. 311 MASSON 2009, S. 159.

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In gewissem Sinne gehen die Bilder denn auch über eine rein substitutive Gewalterfahrung hinaus, indem auf der Wahrnehmungsebene die dargestellten Handlungen tatsächlich für den Betrachter physisch nachklingen können, wie oben unter Bezugnahme auf neurowissenschaftliche Ansätze herausgearbeitet wurde.312 Für die Erfahrung des Films beschreibt Vivian Sobchack in Parallele zu den dargestellten neurologischen Erkenntnissen die Körperlichkeit der Wahrnehmung als unbedingte Voraussetzung.313 Beruht die Einfühlung in den Körper des anderen somit auf der eigenen Körperlichkeit, so erscheint es logisch, wenn rückwirkend mittels dieser Einfühlung die „Selbsterfahrung der eigenen Verkörpertheit“314 einhergeht. Die dargelegte Überlagerung der Zeiten in den Fotografien Nebredas lässt eine ähnliche Wahrnehmung zu. Über den Nachvollzug des Akts der Versehrung von Nebredas Haut als Akt der Einschreibung von Realität kann somit der eigene Körper als in der Wirklichkeit verortet erfahrbar werden. Nebredas Bilder offerieren damit sowohl die Einfühlung in den Körper des Anderen, als gewissermaßen utopische, transzendente Erfahrung, als auch in der sekundären Reflexion die Rückbesinnung auf den eigenen Körper als Reales. Auf diese Weise ist den Bildern Nebredas ein erhöhtes kathartisches Potential inhärent, dass mit der substituierten Gewalterfahrung Hand in Hand geht und dessen (krypto)religiöse Wirkungsfähigkeit sich wiederum in der Argumentation und Sprache einiger Rezensenten von Nebredas Werk zeigt, wie beispielsweise bei Rogozinski: „Indem [das Werk Nebredas] der Wunde, dem Blut, dem Kot eine symbolische oder ikonografische Dimension verleiht und dadurch zahlreiche Stigmata einer Passion erzeugt, versucht es, eine Art von Katharsis durchzuführen. Die vielen Zitate von Malereimotiven der Tradition dienen diesem Projekt. […] All das fordert uns auf, seine Arbeit in eine 312 Siehe oben. Wie Jones hervorhebt, stellt sich mit Nebredas Bildern auch die Frage nach der Repräsentierbarkeit körperlicher Schmerzen, vgl. JONES 2005, o. S. Während nicht postuliert werden soll, dass das Rezipieren der Bilder die eigentliche Erfahrung des Schmerzes bedeutet, erscheint über diese Referenz doch ein größtmögliches Nachempfinden denkbar. 313 „Wir erfahren Filme nicht nur durch unsere Augen. Wir sehen und verstehen und fühlen Filme mit unserem ganzen körperlichen Sein, gegründet auf der gesamten Geschichte und dem fleischlichen Wissen unseres akkulturierten Sinnesapparats.“, SOBCHACK, Vivian: What my Fingers Knew: The Cinesthetic Subject, or Vision in the Flesh, in: Dies.: Carnal Thoughts. Embodiment and Moving Image Culture, Berkeley 2004, S. 53-84, S. 6; deutsche Übersetzung zitiert nach ELSAESSER, HAGENER 2011, S. 147. 314 ELSAESSER, HAGENER 2011, S. 150.

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symbolische Verbindung einzutragen und unseren Ekel zu überwinden – es ermöglicht die Übertragung und den Empfang, den Aufstieg des Engels.“315

Auch hier zeigt sich, dass die in den Fotografien stellvertretend ausagierte Handlung im Rezeptionsakt zugleich einer „Art Selbstopfer“316 ähnelt, da sie Auswirkungen auf die eigene Person impliziert. Zugleich wird über diesen Rückbezug zu Praktiken des Umgangs mit Sterkoralem und Abjektem in Bezug auf ihre kathartische Funktion der Kreis zu den eingangs genannten Positionen der zeitgenössischen Kunst, wie etwa Hermann Nitsch, dessen Idee des Orgien-MysterienTheaters ebenfalls kathartische Zwecke verfolgte, geschlossen.317 Hebt Reiß hervor, dass für einen kathartischen Effekt die Auseinandersetzung des Rezipienten über Aspekte von Faszination gewährleistet sein muss,318 so kommen zudem Jean Clairs Ausführungen zu Andres Serranos Nahaufnahmen von Verstorbenen in einem Leichenschauhaus (Serie The Morgue, 1992) in den Sinn, die den Betrachter mit gewaltvoller Einwirkung in ihrer finalen Form konfrontieren: mit dem toten Körper. Die ästhetisch überhöhten Bilder zeigen Ausschnitte, die die Identität der Toten verbergen und die sichtbaren Spuren der oftmals gewaltvollen Übergänge vom Leben in den Tod visuell hervorheben. Über die beschreibend gehaltenen Bildtitel knüpfen sie an Traditionen der Pathologie- und Totenfotografie an und verstärken zugleich ihren authentischen Charakter. Jean Clair vergleicht die Bildsprache Serranos mit der Geschichte von Leontios, der beim Anblick der Leichen sein Gesicht mit der Hand verdeckt und zugleich die Augen weit aufreißt.319 Auch hier lassen sich Parallelen finden zu jener ambivalenten Ausstrahlung des Heiligen nach Rudolf Otto, „der 1917 das ‚Numinose‘, das heißt, das ganz andere, als Erfahrung einer schrecklichen, gleichzeitig anziehenden und abstoßenden Präsenz beschrieb, wie sie auch Leontios beim Anblick der Kadaver gefühlt hatte.“320 Die enge Verknüpfung von Entzücken und Schrecken bei der Betrachtung von fotografischen Bildern, die Gewalt zeigen, arbeitet Bataille in die „Tränen des Eros“ heraus.321 Die ethische 315 ROGOZINSKI 2003, S. 196. 316 FROHNE 2002, S. 426. 317 Vgl. REISS 2007, S. 426. 318 REISS 2007, S. 439: „Eine tatsächliche Auseinandersetzung – und damit auch die Möglichkeit der Katharsis – entsteht erst dann, wenn der Rezipient dem ekelhaft anmutenden Werk zumindest in Teilen Neugierde, Faszination und Lust entgegenbringt.“ 319 Platons Sokrates erzählt die Geschichte in der Politeia, vgl. CLAIR 2004, S. 118ff. 320 CLAIR 2004, S. 44. 321 BATAILLE 2005, insbesondere S. 245f.

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Problematik einer solchen Lust am Schauen wurde von Susan Sontag in „Das Leiden anderer betrachten“ eingehend untersucht.322 Die Todesschwelle bildet eine der Schnittstellen des Körpers mit dem Bereich des ‚Ganz Anderen‘, Heiligen und figuriert, wie oben herausgearbeitet (siehe Kapitel 4.1.1 und 4.1.2), auch bei Nebreda als faszinierende Grenze mit transformativem Potential, die es symbolisch zu überschreiten gilt. Bietet die motivische und ästhetisch-formale Überlagerung des Heiligen, der Fotografie und des versehrten Körpers in Nebredas Fotografien somit in der affektiven Wirkung auf den Betrachter einen verdichteten responsiven Ansatzpunkt für die rezeptionsästhetisch an diese Motive geknüpften verschiedenen ‚Verlangen nach Realität‘, so bleibt zu fragen, inwiefern diese Aspekte auch auf den künstlerischen Ansatz Nebredas, der ebenfalls Betrachter der eigenen Arbeiten ist, rückwirken und welche Rolle sie für die strukturellen Parallelen zwischen Heiligkeit und Fotografie einnehmen. Die grundlegende Idee der stellvertretenden Versehrung findet sich als reflektierte und bewusst eingesetzte Praxis innerhalb der Fotografien wieder, da Nebreda sie, wie in der Analyse offengelegt, bewusst auch auf seinen fotografischen Doppelgänger anwendet. Auf paradoxe Weise erfüllen die Fotografien somit auch für Nebreda die Funktion einer ‚substituierten‘ Gewalterfahrung, indem er mit ihnen und über sie eine doppelte Realität (den fotografischen Doppelgänger) zu konstruieren sucht, in der der Schmerz nur sekundär erfahrbar wird, und sich daher in der Rückkopplung auf die Realität des eigenen Körpers gewissermaßen negieren lässt.323 Ähnlich wie in den von Frohne untersuchten Positionen der 1990er Jahre mischen sich bei Nebreda ikonophile mit ikonoklastischen Tendenzen.324 So wird das Foto in vielfältiger Varianz als dem Leben entrissenes Zeugnis des Wirklichen, des versehrten Körpers Nebredas präsentiert und seine Echtheit über die doppelte Einschreibung von Wunde und Index bestätigt. Dieser bildbejahenden Funktion ist bereits eine ikonoklastische Tendenz inhärent, indem der Körper Nebredas stets aufs Neue zerstört wird und so zugleich das Bild des einen, ganzen Körpers der einem biographischen Individuum zuzuschreiben ist, dekonstru-

322 Vgl. SONTAG 2003. Für eine Diskussion von Sontags Ansatz siehe zudem WOLF 2007. 323 Nebreda beschreibt die versehrenden Handlungen als für ihn nicht schmerzvoll, vgl. NEBREDA 2003a, S. 424. 324 Frohne hebt diese duale Positionierung in den von ihr analysierten Tendenzen hervor, vgl. FROHNE 2002, S. 422.

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iert wird.325 Neben der offensichtlichen Verletzung der Einheit des Körpers über Einschnitte und den Umgang mit Exkrementen, die das innerste nach außen kehren, finden sich Spuren der Zergliederung des Individuums in den narrativen Brüchen und auch den Nahansichten von verwundeten Körperteilen, die einer eindeutigen biographischen Zuschreibung im Grunde entbehren und diese nur über die Zusammenstellung mit den anderen Bildern erhalten.326 Als Folge wird „the everyday apprehension of the body as a situated and properly defined object […] replaced by the encounter with a horrific, undefinable ‚something‘“.327 Mit Judith Butler argumentiert Jones, dass Nebreda mit seinem Werk das bereits über den Titel Autoportraits gegebene Versprechen eines einheitlichen biographischen Sujets gerade nicht einhalte, sondern vielmehr die Frage nach der (De)Konstruktion von Körpern mittels Sprache stelle und der Repräsentierbarkeit körperlicher Erfahrung als solcher nachgehe.328 Dies mag zunächst in Widerspruch zu dem herausgearbeiteten Potential der Fotografien stehen, über den Nachvollzug der versehrenden Handlungen eine Form der Annäherung oder Teilhabe an einer entzogenen Realität anzubieten, führt jedoch im Grunde zurück zu den in Kapitel 4.2 angestellten Überlegungen zur strukturellen Korrespondenz zwischen Foto und Hierophanie. Religion lässt sich „ganz abstrakt als Diskurs der Kontingenzbewältigung durch Einführung der Differenz von Immanenz und Transzendenz“329 bestimmen. Die Hierophanie stellt diese Setzung dar und bildet zugleich als Schwelle eine „Durchbrechung der Ebenen“330. Sie schwankt zwischen Immanenz und Transzendenz, indem sie das Transzendente im Immanenten darstellt und damit die potentiell immanente Qualität des Transzendenten betont, wie sie auch Saskia Wendel hervorhebt.331 Wie das Foto ist das Objekt einer Hierophanie zu einem gewissen Grad „durchlässig“ – oder anders herum, besetzt die Fotografie strukturell eben jenen sakralen Raum einer Hierophanie, indem sie ebenfalls zwischen Transzendenz und Immanenz, zwischen der ‚Berührung‘ durch eine entzogene Realität und dem Bild als Objekt der Interpretation des Betrachters oszilliert. Für die Fotografien 325 Jones betont den ikonoklastischen Charakter der Bilder, den er auch durch deren konstante und endlose Wiederholung in verschiedenen Variationen ausgeprägt sieht, vgl. JONES 2005, o. S. 326 Siehe hierzu ebenfalls JONES 2005, o. S. 327 JONES 2005, o. S. 328 Vgl. JONES 2005, o. S. 329 GANZ, THÜRLEMANN 2010, S. 22. 330 ELIADE 1999, S. 58. 331 Vgl. WENDEL 2011; sowie den Abschnitt zu ihrer Position in Kapitel 2.1.2 der vorliegenden Arbeit.

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Nebredas bedeutet dies, dass erst über die Besonderheit des fotografischen Mediums, aufgrund seiner Durchlässigkeit und seiner schwankenden Positionierung zwischen Realitätsbezug (sei er medial bedingt oder durch Zuschreibungen festgelegt) und Interpretation durch den Betrachter, der Rezipient der Bilder an dem genannten „utopische[n] Transzendenzgedanke[n]“332 partizipieren kann. Zugleich wird im Umkehrschluss eben jene Struktur und Funktion des Fotos offengelegt. Nebredas Fotografien profitieren dabei nicht nur von dieser Konstellation des Mediums, sie repetieren und reflektieren sie auch, indem sie sich wiederholt mit der Überschreitung von Grenzen und Schwellensituationen sowohl innerhalb der fotografischen Darstellung als auch auf Ebene des fotografischen Objekts auseinandersetzen und sich so elementar mit Konzepten von Transzendenz und Immanenz und deren struktureller Verortung befassen. Dazu gehören die autoaggressiven Handlungen, die innerhalb des ausgeführten Systems Nebredas auf eine Reduktion der eigenen Identität und deren Neuerschaffung im fotografischen Doppelgänger zielen, sowie die wiederkehrenden visuellen Assoziationen zwischen der Figur Nebredas mit den tradierten Erscheinungen Christi. Zu letzteren vermerkt David Houston Jones: „the dilemma remains as to whether Autoportraits bears a message of transcendence, or whether the ‚reincarnation‘ to which Nebreda refers is a rebirth within the constraints of the flesh“333 und wiederholt damit rezeptiv die dargelegte Schwellensituation. Die Verwendung von Exkrementen und insbesondere die visuelle Auslöschung des eigenen Antlitzes durch Überlagerung mit Kot in dem vielfach besprochenen Foto Abb. 4.1 stellt eine weitere Grenzüberschreitung dar, die von Jean Clair als Bestattungsritus gedeutet wird und verstärkt oder metaphorisiert somit Nebredas eigene antizipierte Auslöschung.334 Dieses Motiv spiegelt sich auch in der Theorie zum fotografischen Bild wider, in der sich konzeptuelle Metaphern des fotografischen Bildes als Tod, etwa über Barthes „Es-ist-sogewesen“, mit solchen der Fotografie als „Auferstehung“ verbinden.335 Nebreda vollzieht diesen Prozess des Todes und der Auferstehung nicht nur thematisch und performativ in seinen Arbeiten nach, sondern auch am fotografischen Objekt selbst, indem er die Bilder wortwörtlich begräbt und dann auferstehen lässt: „They weren’t put straight in the ground, but in big boxes that I filled with earth, in which I then put the photos. This burying happened at the time of what I call the ‚invasion‘ of my 332 FROHNE 2002, S. 420. 333 JONES 2003b, S. 185. 334 Vgl. CLAIR 2004, S. 80f. 335 BARTHES 1989, S. 87 und S. 92. Siehe auch Kapitel 2.2.2 der vorliegenden Arbeit.

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brain, when this hole opened in my head. Everything was erased. I gave up photography and I saw that some kind of end was near. I therefore tried to give these photos a kind of eternity. The best possible guarantee of eternity. […] After seven years of mental paralysis, I thought that it was time to build a regenerative project – not a personal one, another kind. So I decided to exhume the photos, by showing them. That was the first stage.“336

Diese Art des Umgangs mit Fotografien impliziert die absolute Verschmelzung des Bildes mit dem Körper oder vielmehr der Idee des Körpers. Als Handlung ist sie höchst problematisch und im Grunde Idolatrie, die auch an magischem Verhalten partizipiert. Zudem führt es jedoch erneut die potentielle Rückwirkung der Bildentwürfe in die Lebenswirklichkeit vor Augen und offenbart so die enge Korrespondenz der Fotografien mit der Schwellenstruktur einer Hierophanie.337 Mit dieser Ausrichtung scheint auch für den Ansatz Nebredas der „Gedanke, daß sich mit dem Wandel unserer Wirklichkeitsauffassung die Wirklichkeit selbst ändert“ zu greifen, den Frohne mit Bezug zu Bernhard Waldenfels’ phänomenologischen „Wirklichkeitsexperimente[n]“ äußert.338 Wie Jones hervorhebt, geht es Nebreda im Grunde gerade um dieses wirklichkeitsverändernde Potential der Fotografie, um die „‚transformation‘ of the body within the realm of experience, as opposed to that of contemplation“339. Während Nebreda sich die Doppelgesichtigkeit des Mediums als Abbild und Konstruktion von Wirklichkeit zu Nutze macht, scheint er zugleich in ihr gefangen und in gewissem Sinne von ihr abhängig – die Bilder sind nur sekundär für ein Publikum geschaffen, was jedoch ihre Funktion für den Künstler bestärken kann. Das Foto dient Nebreda demnach als Ort, an dem er seine eigene Körperlichkeit transzendieren kann und mittels dessen er sein transzendentes Pendant in die Immanenz seiner eigenen Wirklichkeit rückzuführen sucht. Zugleich wird er jedoch mit der Unmöglichkeit der Vollendung eines solchen Unterfangens konfrontiert. Denn, indem er von der Schwellenstruktur des fotografischen Mediums profitiert, erliegt er dieser zugleich, da auch die neuen Festschreibungen der Identität Variablen sind und keinen andauernden Rückhalt 336 MILLET 2000, S. 51f. 337 An dieser Stelle sei erneut auf Susan Sontag verwiesen: „Der wahre moderne Primitivismus indessen besteht nicht darin, daß man Bilder als etwas ansieht; so wirklich sind fotografische Bilder kaum. Vielmehr wirkt die Wirklichkeit mehr und mehr so wie das, was uns die Kameras zeigen.“, SONTAG 2006, S. 248. Bei Nebreda fallen beide Perspektiven in tragischer Weise zusammen. 338 FROHNE 2002, S. 417f. Sie bezieht sich auf WALDENFELS 1998, insbesondere S. 221. 339 JONES 2003b, S. 185.

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bieten. Beschreibt Antoine Masson Nebredas Unterfangen als „une tentative humaine de se donner vie à travers la mort“340, so wird zugleich deutlich, dass ein solches Projekt nur in einem Akt seine Vollendung finden kann, der zugleich sein Scheitern bedeutet, indem die „Regression zum Quasi-Nichts“341, sich zum tatsächlichen Nichts auflöst: Nur mittels des tatsächlichen physischen Todes kann der fotografische Doppelgänger die volle Funktion übernehmen, diese kann jedoch nicht mehr in die eigene Wirklichkeit rückwirken, wodurch das Unterfangen als solches obsolet wird.342

4.4 F AZIT Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Fotografien von Nebredas versehrtem Körper über dessen metaphorische Aufladungen als Ort der Auseinandersetzung mit der Struktur und Funktion des Heiligen und Sakralen verstanden werden können. Nebreda setzt visuelle Referenzen zu traditionellen sakralen Ausformungen, die zumeist in der Tradition eines christlich interpretierten Heiligen stehen, und trägt so mittels Sakraltransfers zu einer Sakralisierung seiner Bilder und der eigenen Person als Motiv der Autoportraits bei. Die wiederholte Darstellung des gemarterten Körpers kann im Ganzen als Bezug zu Martyrien gelesen werden, die insbesondere in der christlichen Religion ein bekanntes Motivrepertoire ausbilden343, an das Nebreda sich anschließt. Hinzu kommt eine sehr bewusste Inszenierung der Bildaufbauten, die im Sinne Smiths die Bedeutung einzelner Elemente betont und hervorhebt, also ebenfalls sakralisiert, mit dem Ziel religiös orientierte Valenz zu erzeugen. Indem Nebreda die Symbole jedoch nicht final übernimmt, sondern vielmehr nur anzitiert, lenkt er den Blick dabei auf die ihnen zugrunde liegende Funktion. Mit Magnus Schlette lassen sich diese als Marker verstehen, die das Individuum innerhalb eines sinnstiftenden Gesamtzusammenhangs verorten. Das Sakrale wird gewissermaßen von Nebreda auf seine Struktur und Funktion reduziert. Das Heilige verstanden im Sinne Schlettes als ‚letzte Werte‘ bildet hier Eckpunkte aus, an denen sich das Individuum orientieren kann, was im Falle Nebredas aufgrund der schizophrenen Erkran-

340 MASSON 2009, S. 155. 341 NEBREDA 2003a, S. 422. 342 Nebreda ist sich dieses unauflösbaren Paradoxons sehr bewusst, er bezeichnet es als „dieses unmögliche Projekt, das […] auf seine unvermeidliche Selbstauslöschung als Projekt hinausläuft.“ NEBREDA 2003a, S. 428. 343 Hier sei noch einmal verwiesen auf WEIGEL 2007a.

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kung ein erhöhtes Desiderat darstellt und durch aktiv und bewusst durchgeführte sakralisierende Setzungen erst produziert werden muss, was Nebreda mittels der symbolischen Konstruktion und auf Ebene des fotografischen Bildes durchzuführen versucht. Diese Funktion des fotografischen Bildes wurde im Vergleich zu der Rolle der Hierophanie nach Eliade herausgestrichen. Nebredas Verwendung von fotografischen Bildern kann auf dieser Grundlage als kryptoreligiöses Verhalten im Sinne Eliades beschrieben werden. Wurde das Verlangen nach Orientierung über Kontakt zur Realität als grundlegender Aspekt der Annäherung an Heiliges sowie als moderne Affinität beschrieben, so kommt dem Körper und der Fotografie und, wie unter Rückbezug auf Frohne gezeigt werden konnte, insbesondere dem versehrten Körper im fotografischen Bild als Marker von Authentizität und Einschreibung von Realität eine besondere Rolle zu. Weigel hebt in ihrer Analyse von Märtyrerkulturen hervor, dass diese schnell eine Art „Genealogie“ entfalten, die zur Nachahmung anstiftet. In der Folge dieser „Gemeinschaft der conmartyres“ stehe auch „das Publikum als Affektgemeinschaft der compassiones.“ Nach Weigel sind es neben „Erzählungen und Gedenkrituale[n]“ gerade Bilder, die „als Katalysatoren“ zur „steten Fortsetzung der Kettenbildung beitragen.“344 Liest man die Bilder von Nebredas versehrtem Körper als Bilder eines Martyriums der Bezeugung (der eigenen Realität), so können sie für die Betrachtenden einen funktional-sakralen Charakter erlangen, der an das kryptoreligiöse Verhalten Nebredas anschließt: Durch die doppelte Bestätigung von Realität durch die Fotografie und die Wunden wird das Begehren nach erlebter Realität vermeintlich erfüllt, ohne dass man dabei aber selbst verletzt wird (Frohne). Ein anderer Körper wird anstelle des eigenen Körpers verletzt. Das Bild kann so die Funktion einer modernen rituellen Opferhandlung einnehmen – man nähert sich der authentischen, realen Erfahrung an, ohne sie aber selbst zu vollziehen.345 Weigel hebt hervor, dass es insbesondere fotografische und filmische Bilder sind, die „dem Charakter einer Imitatio-Kultur in idealer Weise“346 entgegenkommen. Wie unter Bezug auf neurologische und filmische Forschung aufgezeigt werden konnte, ergreift das Einfühlen die Körper der Betrachtenden, wird nachvollziehbar und physisch spürbar und wirkt damit in die eigene körperliche Präsenz zurück. Der fotografische Herstellungsprozess als analoge Technik ist für die Wirkung von Nebredas Fo344 WEIGEL 2007b, S. 20. 345 Siehe ebenfalls FROHNE 2002, S. 420 und S. 425f. 346 WEIGEL 2007b, S. 21. Wobei diese Interpretation bei Weigel nicht in erster Instanz auf die Medialität des einzelnen fotografischen Bildes, als vielmehr auf den potentiellen massenmedialen Charakter und Einsatz fotografischer Bilder zielt, in deren Nachfolge sich beispielsweise terroristische Selbstmordattentäter produzieren.

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tografien und den auf ihnen gezeigten physischen Grenzsituationen besonders relevant, denn, wie Rogozinski hervorhebt, unterstreicht „[d]ie Wahl der Fotografie – und die Entscheidung für eine technische Norm, die jeden Trick, jede nachträgliche Manipulation der Aufnahmen ausschließt […] zusätzlich die Dichte der Realität, mit der uns diese Fotos überwältigen“347 und erhöht so rezeptionsästhetisch die Wirkung auf den Betrachter. Diese Möglichkeit der Grenzüberschreitung zum entfernten Anderen, zum Kontakt mit dem Realen, der Berührung zwischen zwei Körpern, der Transgression der Grenze zwischen Leben und Tod, wird als Topos innerhalb Nebredas System auf vielfältige Weise erprobt und erforscht, wie sich insbesondere am Motiv des fotografischen Doppelgängers gezeigt hat. Nebredas Projekt ist in dieser Lesart im Kern fotografisch, in dem es in seiner Haltung, durch den Tod Leben zu generieren, eine zentrale Handlungs- und Motivationsebene des fotografischen Dispositivs wiederholt, nämlich über und durch das fotografische Bild an vergangenen Momenten zu partizipieren und diese im gegenwärtigen Moment wiederaufleben zu lassen. Indem sie verschiedene Ebenen von körperlichen, heiligen und fotografischen Einschreibungsprozessen überlagern, dienen die Bilder als Scharnier zum Realen. Handelt es sich dabei nie um eine tatsächliche, sondern stets um eine utopische Transgression auf der Ebene von Bedeutungszuschreibungen und Verortungsprozessen, die ihre Kraft aus der strukturellen Ähnlichkeit des Fotos zur Hierophanie generiert, so scheint den Fotografien Nebredas doch in erhöhter Form eine vermeintliche partielle Einlösung dieses Versprechens inhärent – darin liegt ihr besonderer Reiz und ihr Wirkungspotential. Nicht zuletzt bildet Nebredas Mischung dokumentarischer und ästhetisch betonter Bildsprache eine Referenz auf die Debatte um die Wirkmächtigkeit von Bildern von Gewalt und Gewalteinwirkung und damit der Frage nach einem moralisch tabuisierten visuellen Raum. So ist das Interesse an Gewalt sowie die andauernde Faszination mit Selbstdarstellungen von körperlichen Verletzungen auch Beispiel dafür, wie „Muster, die der Verknüpfung von Opfer und Heiligem, Gewalt und Kult, von Tod und Verehrung, Passion und Pathos entstammen“348, schemenhaft die gesellschaftlichen Strukturen der Moderne durchziehen. In den Fotografien verbinden sich diese mit einem indexikalischen Versprechen, der Realität näher zu kommen, und können so einen modernen funktional-sakralen Charakter entfalten.

347 ROGOZINSKI 2003, S. 192. 348 WEIGEL 2007b, S. 13.

5. Die ikonische Öffnung des fotografischen Bildes: Zwischen Reliquie und Vorstellungsbild, Aufwertung und Ausschluss des Subjekts Pierre Gonnord

„The body is ‘too much’ of a reality that we can’t escape […]. The portrait is in some way a utopia, an idea that can escape from the reality it claims to represent. It idealises & speaks much better of what is trapped inside […]. Beyond the person who is represented there is the idea of common humanity that is universal & timeless. […] In our world it is often a Judeo-Christian intercession of grace & love. The face of the saint.“1 PIERRE GONNORD

Einleitung und Fragestellung Der in Madrid lebende französische Fotograf Pierre Gonnord (geb. 1963) ist bekannt für großformatige fotografische Portraits „marginalisierter Individuen“ am Rande der Gesellschaft.2 Fotografien wie Eli (Abb. 5.1) oder Joan (Abb. 5.2) fo1

Auszug aus GONNORD, Pierre, KNIGHT, Rufus: Interview, in: SOME/THINGS 5, 2011, o. S., unter: http://www.hastedkraeutler.com/press/2011-09-19_some-things (30.03.2015).

2

MONTEROSSO, Jean-Luc: Introduction to the exhibition, in: Ausst.Kat.: Pierre Gonnord, Maison Européenne de la Photographie à Paris, Paris, 2005, o. S.: „[His] sub-

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Abb. 5.1: Pierre Gonnord, Eli, 2004, (1/5), Farbfotografie unter Plexiglas, 157,5 x 134,2 cm, Sammlung zeitgenössische Kunst, Museo Patio Herrreriano, Valladolid

kussieren die Gesichter der Portraitierten in extremer Detailtreue als überlebensgroße Aufnahme vor meist dunklem Hintergrund. Bisweilen farbig ausgeleuchtet, mit starken Konturen und Schatten ist so jede Einzelheit fast hyperrealistisch jects belong by and large to a kind of modern-day ‚Cour des miracles‘ – forgotten, marginalized individuals“. Siehe zudem: „I began to approach people, who were distanced from society by their age or because they didn’t fit into the system.“ Pierre Gonnord in NAVARRO, Mariano: Pierre Gonnord, in: Ausst.Kat.: Realidades. Fotografias de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, Museo de Bellas Artes, Sevilla, 2006/2007, S. 40-45, S. 42.

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Abb. 5.2: Pierre Gonnord, Joan, 2005 (a.p.), Farbfotografie unter Plexiglas, 117 x 110 cm, Pierre Gonnord und Galeria Juana de Aizpuru, Madrid

zu erkennen. Über den Blick der Portraitierten, der oft direkt in die Kamera geht, kann der Betrachter in einen Dialog mit dem Bild treten, das an dieser Stelle sein volles Wirkungspotential zu entfalten scheint. Ein Portrait kann, wie Gonnord betont, sowohl den Körper als auch den inneren Ausdruck eines Menschen visualisieren und in dieser Funktion auch als Utopie wirksam werden.3 In obigem Zitat verknüpft er das „universelle und zeitlose“ Bild einer conditio humana mit dem Antlitz des christlichen Heiligen.4 Während 3 4

Vgl. GONNORD, KNIGHT 2011, o. S. GONNORD, KNIGHT 2011, o. S. Zum Begriff der conditio humana vgl. LIST, Elisabeth: Conditio humana – anthropologische Dimension des kulturwissenschaftlichen

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Abb. 5.3: Ausstellungsansicht, Realidades. Fotografías de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, 25.10.2006-21.1.2007

Abb. 5.4: Ausstellungsansicht, Realidades. Fotografías de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, 25.10.2006-21.1.2007 Diskurses, in: FIALA, Erwin, LIST, Elisabeth(Hg.): Grundlagen der Kulturwissenschaft. Interdisziplinäre Kulturstudien, Tübingen, Basel 2004, S. 443-456.

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in den vorangegangenen Kapiteln zu Andres Serrano und David Nebreda das Heilige durch eindeutige Symbole thematisiert oder über indexikalisch basierte Erfahrungsmomente parallelisiert wurde, scheint Gonnord sich auf das Heilige als inneren Ausdruck, als Ideal zu konzentrieren, das über den Körper vermittelt wird, zugleich jedoch über diesen hinausgeht. Thematisieren Gonnords Fotografien ihre ikonischen Qualitäten in Bezug auf Heiliges? Welche Art von Heiligkeit wird hier impliziert, welche Mittel der Sakralisierung und Entsakralisierung werden in den Fotografien angewandt? Formal und ästhetisch orientieren sich Gonnords Portraits an der Tradition großer Meister der Malerei, insbesondere des spanischen Barock, wie Velázquez, Zurbarán oder Murillo.5 Liefern diese stilistischen Referenzen Anknüpfungspunkte zu einem spezifischen Konzept von Heiligkeit? Ist die Referenz auf malerische Konventionen etwa durch die farbigen Schattierungen auf den Gesichtern an den Einzelbildern erkennbar, so wurde sie in der Ausstellung Realidades 2006/2007 im Museo de Bellas Artes de Sevilla eklatant herausgearbeitet.6 In der Ausstellung wurden die fotografischen Portraits in die ständige Sammlung des Museums, das heißt zwischen Bilder und Skulpturen des Mittelalters, der Renaissance und des spanischen Barocks bis zur Kunst des 18. Jahrhunderts gehängt, wobei insbesondere der sevillanische Barock den Schwerpunkt der Museumssammlung bildet (Abb. 5.3). Die ungewöhnliche Ähnlichkeit der in Malerei, Skulptur oder Fotografie wiedergegebenen Personen in Aussehen und Darstellung war frappant (Abb. 5.4-5.6). Dies umso mehr, da die meisten Fotografien nicht explizit für die Ausstellung entstanden waren.7 Die Ausstellung verdeutlichte zum einen das Wirkungspotential von Gonnords Fotografien, zum anderen verstärkte und erweiterte sie die Aussage der Einzelbilder durch die

5

Darauf verweist auch CANO, Ignacio: Reality and Realities, in: Ausst.Kat.: Realidades. Fotografias de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, Museo de Bellas Artes, Sevilla, 2006/2007, S. 16-17, S. 17.

6

Die Ausstellung Realidades. Fotografias de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla wurde vom 25.10.2006-21.1.2007 im Museo de Bellas Artes de Sevilla, Spanien, gezeigt. Ausst.Kat.: Realidades. Fotografias de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, Museo de Bellas Artes, Sevilla, 2006/2007.

7

Wenn auch durchaus neue Abzüge angefertigt wurden, um die Fotografien über das Format mit den sie umgebenden Werken in einen Dialog zu bringen, vgl. DE GOUVION SAINT-CYR, Agnès: Pierre Gonnord or the Temptation of Museums, in: Ausst.Kat.: Realidades. Fotografias de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, Museo de Bellas Artes, Sevilla, 2006/2007, S. 26-29, S. 28.

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Reihung sowie den intermedialen8 Dialog der Fotografien mit Gemälden und Skulpturen im Ausstellungskontext. Nach Rudolf Otto dienen Mythen, Legenden oder Gleichnisse oftmals als Entsprechungen, über die das Heilige erörtert werden kann und fallen somit in den Bereich des Sakralen, als Darstellung und „Medium“9 des Heiligen. Durch die visuelle Ähnlichkeit von Gonnords Fotografien und den Heiligenbildern der Sammlung in der Ausstellung Realidades scheint eben dieser Bereich des Sakralen evoziert zu werden und die von Gonnord postulierte Idee einer übergeordneten conditio humana somit auch visuell an das Konzept eines christlichen Heiligen angeschlossen zu werden.10 Neben einer eingehenden Analyse der Einzelbilder wird daher in der folgenden Analyse auch die Verortung der Bilder innerhalb der Ausstellung Realidades, des die Ausstellung begleitenden Katalogs und des weiteren Diskurses exemplarisch untersucht. Dies scheint insbesondere relevant, da die Ausstellung die nachfolgende Rezeption der Fotografien stark geprägt hat. In den Fotografien und mittels ihrer Verortungen werden verschiedene Gesten der Sakralisierung und Entsakralisierung eingesetzt, die sowohl ikonische als auch indexikalische Qualitäten des fotografischen Mediums aktivieren. Sie basieren auf formalen, ästhetischen, inhaltlichen und diskursiven Strategien und Kontextualisierungen, die nach einer kurzen Vorstellung des Künstlers auf der jeweiligen Analyseebene von fotografischem Bild, Ausstellung, Katalog und Diskurs differenziert herausgearbeitet werden.11 Nach einer Einführung zu Künstler und Werk erfolgt in einem ersten Schritt eine genaue Betrachtung der Einzelbilder mit Blick auf bildimmanente Sakralisierungen (5.1). Um die prozessuale Ausdeutung der Bilder sowie der Portraitierten genauer zu verstehen und in Bezug sowohl zu Gesten des Fotografischen als auch zu Konzepten des Heiligen zu setzen, werden anschließend die Ausstellung und der Katalog näher betrachtet (5.2). Neben den intermedialen Interferenzen (5.2.1) wird in diesem Kontext das ikonische Potential der Gonnord’schen Bilder in Bezug auf Heiliges genauer befragt (5.2.2) und schließlich der Blick der Dargestellten in seiner Spezifität konturiert (5.2.3). Schließlich wird der Diskurs um die Bilder in die Analyse einbezogen (5.3). In diesem Rahmen kommen Überlegungen zum Entstehungsprozess der Bilder und ihrer Präsentation im häuslichen Kontext der Fotografierten hinzu, wie sie von Pierre Gonnord beschrieben werden (5.3.1). Die Analyse versucht demnach einerseits 8

Intermedial sind laut Irina Rajewski, „Mediengrenzen überschreitende Phänomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren.“ RAJEWSKI, Irina O.: Intermedialität, Stuttgart 2002, S. 6.

9

BÖHM 2009, S. 15; siehe zudem Kapitel 2.1.3 dieser Arbeit.

10 Vgl. GONNORD, KNIGHT 2011, o. S. 11 Erste Analyseergebnisse wurden publiziert in SCHAFFER 2016, S. 23-38.

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aufzuzeigen, wie die auratische Wirkung der Bilder durch Sakralisierung und inhaltliche Rekurrenz auf Heiligkeitskonzepte zustande kommt. Andererseits wird insbesondere in der Analyse des Diskurses um die Bilder deutlich, dass Formen der Sakralisierung eng an Formen der Exklusion gekoppelt sind (5.3.2). Diese lassen sich über den Rekurs auf Giorgio Agambens Ausführung zur Figur des homo sacer12 näher erläutern (5.3.3). Konvergieren in Gonnords Fotografien strukturelle Merkmale fotografischer Bilder mit denjenigen des Sakralen? Welche potentiellen Effekte ergeben sich aus einer solchen strukturellen Korrelation für die Rezeption der Bilder und der Dargestellten? Künstler, Werk, Forschungsstand Der in Madrid lebende französische Fotograf Pierre Gonnord (geb. 1963) begann 1998/99 als Amateur zu fotografieren und wechselte kurz darauf aus dem Bereich Communication ohne professionelle Fotografen-Ausbildung in die Kunst.13 Ihn faszinierten besonders Werke der Malerei von Goya, Ribera, Rembrandt, Dürer bis zu Van Gogh sowie der Expressionismus, dazu Fotografien von Klein, Newton und Arbus sowie Filme der Nouvelle Vague.14 Zu Beginn fotografierte er verschiedene Sujets, darunter Menschen, Körper, Objekte und Orte bevor er sich ab Ende 2002 primär auf das menschliche Antlitz konzentrierte.15 Über mehrere Jahre verteilt entstanden Portrait-Serien wie u.a. Urbanos, Utópicos, Gitanos, Galicia, Mineros, die sowohl als Reihen wie auch als Einzelbilder funktionieren und in Ausstellungen und Fotobüchern jeweils neu thematisch zusammengestellt werden. Formal findet sich am häufigsten das Studioporträt von vorn, wobei einige Serien auch Interieurs, Außenansichten und Rückenfiguren integrieren.16 Erst später widmete Gonnord sich erneut landschaftlichen Motiven, wie die Serien Incendios, bestehend aus Fotografien von brennenden Wäldern und Ber-

12 Vgl. Abschnitt zu Agamben in Kapitel 2.1.2; sowie AGAMBEN 2002. 13 Nach eigener Aussage diente ihm die Kamera als „Rettungsweste“, mit der er sich der Welt nach einer persönlichen Krise und dem Tod seines jüngeren Bruders erneut annäherte, vgl. NAVARRO 2006, S. 40. 14 Vgl. NAVARRO 2006, S. 40ff. 15 Vgl. NAVARRO 2006, S. 42. 16 Besonders hervorzuheben sind hier die in Japan entstandenen Fotografien. Vgl. DOCTOR, Rafael, GONNORD, Pierre: Pierre Gonnord speaks with Rafael Doctor. Conversations with Photographers, Madrid 2008, S. 63.

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gen, und Raices, Nahaufnahmen pflanzlicher Wurzeln, zeigen.17 Gonnord wurde in zahlreichen internationalen Gruppen- und Einzelausstellungen präsentiert, so etwa mehrmals auf dem Festival PHotoEspaña (u.a. 1998, 2003), in dessen Masterprogramm er aktuell lehrt, und den Rencontres d’Arles (2008, 2011). 2011 war er im Rahmen der 54. Biennale mit Arbeiten in der Ausstellung Real Venice vertreten.18 2005 widmete ihm das Maison Européenne de la Photographie in Paris eine Übersichtsschau, 2006/2007 zeigte das Museo de Bellas Artes de Sevilla die Ausstellung Realidades. Hervorzuheben ist zudem sein Arbeitsaufenthalt in der Villa Kujoyama in Kyoto, Japan, in 2003 sowie das Künstlerstipendium des Cité des Arts in Paris. Gonnords Arbeiten sind inzwischen in zahlreichen Sammlungen vertreten, so u.a. im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía in Madrid, dem Maison Européenne de la Photographie in Paris und dem Museum of Contemporary Art in Chicago, USA.19 In der Kunstkritik und der noch wenig umfangreichen kunsthistorischen Forschung werden, Gonnords eigene Aussagen aufgreifend, Bezüge zu Meistern der Malerei wie u.a. Murillo gesetzt, um auf diese Weise die ästhetische Qualität und visuelle Tradition seiner Arbeiten zu fassen.20 Aufgrund des nicht zu übersehenden stilistischen Bezugs zum sevillanischen Barock, dient dieser den meisten Kritikern als unmittelbarer Referenzpunkt, der jedoch in seinen Implikationen für die Rezeption der Fotografien sowie der Dargestellten wenig hinterfragt wird.21 Ein formal-ästhetisches Close-Reading der Fotografien fehlt ebenso, wie eine Analyse der intermedialen Interferenzen und der mit Gonnords Bildsprache gesetzten Bezüge zu Traditionen der Darstellung des Sakralen und zu Konzepten von Heiligkeit, die jedoch für die Bildwirkung essentiell scheinen.

17 Pierre Gonnord wird vertreten durch die Galerie Juana de Aizpuru in Madrid, deren Homepage

einen

Einblick

in

die

genannten

Arbeiten

gewährt,

siehe:

http://www.juanadeaizpuru.com/ (25.06.2018). 18 Real Venice, Abbey of San Giorgio Maggiore, Venedig, 2011, vgl. http://www.real venice.org/artists/pierre-gonnord (02.08.2018). 19 Für weitere biographische Informationen vgl. Ausst.Kat. Realidades 2006/2007, S. 120f. 20 Vgl. MONTEROSSO 2005, o. S. 21 LLORCA, Pablo: Pierre Gonnord (Ausstellungsrezension Realidades), in: Artforum, 45, 2007, H. 9, S. 388, S. 388.

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5.1 B ILDIMMANENTE S AKRALISIERUNGEN In Kapitel 2.1.3 wurden unterschiedliche Sakralisierungsformen herausgearbeitet. So wurde Sakralisierung zum einen und in Anlehnung an Jonathan Z. Smith als Form der Bedeutungsaufladung verstanden, die auf die Produktion allgemeiner oder religiöser Valenz zielt. Zum anderen wurde Sakralisierung in Anlehnung an Nadine Böhm als Sakraltransfer vom Sakralen her gedacht, das heißt als Übertragung religiöser Valenz auf kulturelle Artefakte durch den Rekurs auf bereits als sakral definierte Zeichen oder Themen. In Bezug auf die erste Analyseebene, die den bildimmanenten Aufbau der Gonnord’schen Portraits näher in den Blick nimmt, lassen sich zunächst exemplarisch einige Bildelemente herausarbeiten, die der ersten Sakralisierungsform, das heißt der Aufmerksamkeitssteigerung und damit der Produktion von Bedeutung dienen: Größe, Kontrast, DeLokalisierung, (Hyper)realismus und Farbigkeit. Die Fotografie Jack, 2004, (Abb. 5.5) zeigt in klassischem Dreiviertelprofil das Portrait eines Mannes in mittleren Jahren, der den ernsten Blick in die Kamera richtet. Die Farben des Fotos sind reduziert, die Haut ist von leicht rötlichen, gelben und grünen Schattierungen überzogen. Das Gesicht ist von einem dunklen Hintergrund umgeben und die starke Lichtquelle wirft tiefe Schatten auf Teile des Gesichts, die in deutlichen Kontrasten resultieren. Dieser Bildaufbau wiederholt sich in vielen von Gonnords Fotografien. Die Gesichter sind teilweise durch farbiges Licht überblendet, das Hell-Dunkel-Kontraste setzt und physische Merkmale wie Falten, Wunden oder Augenfarbe optisch hervorhebt. Mit den Maßen von 110 x 110 cm (Größe des ausgestellten Abzugs) erreicht die Fotografie Jack, wie viele zeitgenössische Fotografien im Kunstkontext, eine Bildgröße, die vormals Gemälden vorbehalten war. Die Größe dient dazu, dem Bild als Objekt im Raum Gewicht zu verleihen: Indem es einen bestimmten Raum mit seiner Präsenz ausfüllt, bietet es sich dem Betrachter gewissermaßen als Objekt der Begegnung an. Der Effekt wird erhöht durch die überlebensgroße Darstellung des Gesichts, das den Betrachter durch den Blick in die Kamera direkt anzusprechen scheint. Als zweites Element sind die scharfen Kontraste zu nennen. Durch die Verwendung einer starken Lichtquelle von links oben werden Jacks Stirn und Hals beleuchtet und heben sich deutlich vom dunklen Hintergrund ab. Nase, Augen und Kinn werfen tiefe Schatten auf die linke Gesichtshälfte, die fast mit dem Hintergrund zu verschmelzen scheint. Die scharfen Kontraste sind auch für den Barock typisch. Über die spezifische Bildsprache setzt Gonnord einen ersten Bezug zu malerischen Traditionen. Die starken Hell-Dunkel-Kontraste dienen hier

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Abb. 5.5: Pierre Gonnord, Jack, 2004, Farbfotografie unter Plexiglas, 110 x 110 cm, Colección Rosa Olivares

der Dramatisierung des Dargestellten, sie dynamisieren und fokussieren so die Aufmerksamkeit und steigern die Bedeutung des Gezeigten. Xavier Bray führt den Effekt am Beispiel Caravaggios aus: „By using strong contrasts of light and shade, his compositions were transformed into dramatic ‚tableaux vivants‘ […] such careful staging, controversial at first for reasons of decorum, was soon modified and sanctioned by the Church in its concern to shock the senses and stir the soul.“22 Der schwarze Hintergrund verbirgt zudem Anhaltspunkte, wann und wo das Foto aufgenommen wurde. Lediglich Jacks Gesichtszüge können Assoziationen

22 BRAY 2009, S. 15. In Bezug auf den Einsatz von Hell-Dunkel-Konstrasten und die so hervorgerufene, mystische Atmosphäre siehe zudem: DE GOUVION SAINT-CYR 2006, S. 29.

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Abb. 5.6: Francisco de Zurbarán, Visita de San Bruno a Urbano II (Detail), ca. 1655, Öl auf Leinwand, Museo de Bellas Artes de Sevilla

bezüglich seines kulturellen und geographischen Hintergrunds anregen, es finden sich jedoch keine historischen oder kulturellen Marker wie etwa Kleidung. Diese De-Lokalisierung des Dargestellten kann ebenfalls als sakralisierendes Element verstanden werden. In diesem Sinne argumentiert Rolf Sachsse, wenn er die Freistellung des Motivs vor einem flächigen schwarzen Hintergrund als größtmögliche Form der Sakralisierung in der Fotografie beschreibt.23 Durch die visu-

23 „Eine größere Sakralisierung ist im Medium Photographie nicht möglich.“ SACHSSE, Rolf: Polemoskop und Martial Arts. Über die Rolle der Photographie im modernen und post-modernen Krieg, in: WEIBEL, Peter, HOLLER-SCHUSTER, Günther (Hg.): M_Ars. Kunst und Krieg (ersch. anl. d. gleichn. Ausst., Neue Galerie Graz am Landesmuseum Joanneum, Graz, 2003), Ostfildern 2003, S. 261-277, S. 268.

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elle Konzentration auf Jacks Gesicht wird dieses als zentrales Bildmotiv betont und so in seiner Besonderheit und in seiner Bedeutung erhöht. Wolfgang Ullrich beschreibt, dass Kunstwerke, die im white cube der Galerie oder des Museums „alltäglicher Bezüge entkleidet und damit auch verfremdet“ sind, „zum Anderen, Geheimnisvollen […] zu etwas Erhabenem“ stilisiert werden.24 Übertragen auf Gonnords Fotografie enthebt der schwarze Hintergrund auch hier die Person eines spezifischen historischen Kontextes und wird vielmehr zur Leerstelle, die vom Betrachter des Bildes als Raum für metaphorische Ausdeutung genutzt werden kann. So wurde etwa im Symbolismus die Frau mittels des schwarzen Hintergrunds zu einem „geheimnisvoll immateriellen Wesen. So als sei sie zwischen der diesseitigen und einer anderen – ungreifbaren – Welt angesiedelt, konnte sie ebenso verlocken wie beunruhigen oder gar bedrohen“25. Bedienen sich Gonnords Fotografien keineswegs der für den Symbolismus typischen Unschärfe, welche die Figur mit ihrem Grund verschmelzen lässt, so dient ihm der schwarze Hintergrund doch zur Aufmerksamkeitssteigerung. Als formales Element ist die De-Lokalisierung demnach nicht neu. Ähnliche Strategien, die jedoch komplexe eigene ikonografische Wirkungen entfalten, finden sich auch in mittelalterlichen Tafelbildern, auf deren Goldgrund Christus und die Engel in „ihrer ‚Dies- und Jenseitigkeit‘ zugleich“ gezeigt werden sollten: „Ein Goldgrund kennt keinen Schatten und wenn es keinen Schatten gibt, gibt es auch keine Zeit; somit ist er Zeichen der Ewigkeit. Indem Christus oder die Heiligen als Menschen im Goldgrund dargestellt wurden, gehören sie zur Ewigkeit und zur Welt.“26 Sakralisierungen können, wie auch Böhm hervorhebt, folglich darauf zielen, „eine Person oder einen Gegenstand so erscheinen zu lassen, als wären sie der historischen Situation enthoben, ewig, zeitlos“27. Über die DeLokalisierung mittels des schwarzen Hintergrunds schließen sich Gonnords Fotografien dergestalt an eine Idee von Überzeitlichkeit an,28 wobei Medialität, Material, Technik und Farbigkeit selbstverständlich einen gewissen Zeitrahmen für die Bildentstehung eingrenzen. Andere Fotografien integrieren eindeutigere Hintergründe: So sitzt etwa in Jules, 2004 (Abb. 5.7), ein älterer Mann mit in Wellen herabfallenden Haaren vor einer hellen Holztafel Modell. Diese bedeckt nur ca. 5/6 der Wand hinter

24 ULLRICH 2011, S. 90. 25 ULLRICH 2009, S. 45. 26 HAWEL 2010, S. 38. 27 BÖHM 2009, S. 103. 28 Siehe hierzu auch DE GOUVION SAINT-CYR 2006, S. 28: „Pierre Gonnord refuses to place his models in a chronological context“, sowie S. 27.

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Abb. 5.7: Pierre Gonnord, Jules, 2004 (1/5), Farbfotografie unter Plexiglas, 177 x 135 cm, Galeria Juana de Aizpuru, Madrid

dem Portraitierten, zudem ist an der rechten und der oberen Bildkante noch verschwommen ein Teil eines offensichtlich schräg an Holztafel und Wand gelehnten goldenen Bilderrahmens sichtbar. Dieser umfasst die Holztafel, die weiße Wand und Jules und gibt dem Portrait eine barocke und zugleich improvisierte Qualität. In dieser Konstellation wird das Prozesshafte der Portraitaufnahme innerhalb eines Studios offengelegt – im Grunde zunächst eine, die fotografische Bildentstehung als Arbeitsprozess dekonstruierende Geste. Diese enthält nichtsdestotrotz sakralisierende Elemente: So sind im Hintergrund mit dem mannshohen Holzgrund und dem dafür nutzbaren, fein gestalteten Rahmen die Arbeitsmittel eines Malers zu sehen. Die Fotografie wird demnach als Medium in eine Arbeitstradition eingereiht, die der Erstellung großformatiger Gemälde dient, die zudem durch den goldenen Rahmen in ihrer Wertigkeit erhöht werden. Diese inszenierte Aufnahmesituation lässt sich demnach als Geste der Sakralisierung

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des Mediums wie der Arbeit des Künstlers lesen, die nicht zuletzt durch den goldenen Rahmen auch den Dargestellten erhöht. Bei der Betrachtung der Fotografie Eli, 2004 (Abb. 5.1), lassen sich weitere sakralisierende Elemente erkennen. Das Portrait zeigt einen älteren Mann mit dunklem, grau durchwirktem Haar, Bart und Brauen, dessen Gesichtskonturen von grün-roten Farbtönungen umspielt werden. Auch hier sorgt eine starke Lichtquelle vorne links außerhalb des Bildes für tiefe Schattierungen und scheint das Gesicht aus dem es umgebenden und teilweise vereinnahmenden schwarzen Hintergrund herauszuarbeiten. Silberne Strähnen in Bart und Haupthaar umrahmen das Antlitz des Mannes, sein Blick befindet sich auf der horizontalen Mittellinie und ruht auf dem Betrachter. Falten, leichte Tränensäcke, Alterungsspuren, eine schiefe Nase und eine tiefer rot getönte Stelle an der Stirn, die auf eine Stoßverletzung schließen lässt, sind klar und deutlich zu erkennen und werden durch die Lichtführung und die Größe des Bildes zusätzlich betont. Das Licht, als Medium des Fotografischen per se, wird hier von Gonnord dazu eingesetzt, Elis Gesicht im wahrsten Sinne des Wortes zu skulpturieren – Falten und Erhebungen der Haut, ja sogar die einzelnen Poren, erscheinen wie modelliert. Im Gegensatz zu Robert Mapplethorpe, der die Kamera sozusagen „als Meißel“29 einsetzte, um in skulptural anmutenden Körperstudien das harmonisch glattperfekte Ideal griechischer Skulpturen in Schwarz-Weiß aufleben zu lassen, zeigt Gonnords Fotografie in fast hyperrealem, detailverliebtem Stil einen vom Leben gezeichneten und doch nicht weniger würdevollen Körper. In Kombination mit der Größe des Portraits werden Parallelen zum Fotorealismus etwa eines Chuck Close deutlich. Da diese fast hyperrealistische Darstellungsweise dem rezipierenden Blick das Gesicht als zu erkundende Landschaft anbietet und zur vertiefenden, genauen Betrachtung anregt, kann sie ebenfalls als formal sakralisierendes, im Sinne von Aufmerksamkeit steigerndes Element verstanden werden. Hinzu tritt Gonnords Einsatz von reduzierter Farbigkeit, meist mittels zartfarbiger Hervorhebung über die Kontrastfarben Rot und Grün, die einerseits den Realismus des Bildes unterstützt, andererseits der Bildbetrachtung eine zusätzliche Dimension öffnet. So wird die bestechende, ins Olivgrüne gehende Augenfarbe von Eli aufgegriffen in den grünlichen Schattierungen, die insbesondere an den Stirn- und Wangenseiten das Gesicht rahmen und als Kontrastfarbe zu der rötlichen Schattierung der Haut dienen. In der Reduzierung auf Schwarz, Weiß und die Kontrastfarben Rot und Grün wird das Bild stark ästhetisiert, eine Ver-

29 MORRISROE, Patricia: Robert Mapplethorpe – Eine Biographie, München 1996, S. 142.

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wendung von Licht, die Agnès de Gouvion Saint-Cyr in direkten Bezug zur Malerei setzt: „Because he has observed the art of light in classical painting, Pierre could pride himself on being, as Baudelaire put it, ‚a painter of modern life‘; one who organizes and works with light sources in order to extract the values, the colors and lines, depth of field and focal point of the composition, going so far as to apply Paul Klee’s precepts of ‚psychologically intensifying the lighting process in places, intensifying it where one’s mind requires, rather than where nature places its highlights.‘“30

Über den genauen Blick auf das Äußere hinaus, scheint die spezifische Farbgebung somit eine tiefere Dimension des fotografischen Portraits offenzulegen und lässt den Blick des Portraitierten als nach innen gerichtet erscheinen. Insbesondere die grünlichen Schattierungen in Eli wirken nicht naturgetreu, sondern in Szene setzend und erinnern an den Einsatz und die Bedeutung von Farbigkeit in den Körpergefühlsbildern der österreichischen Malerin und Medienkünstlerin Maria Lassnig. Diese Bezugnahme auf Elemente ‚unter der Haut‘ visualisiert die Funktion eines Portraits, neben dem Aussehen die Persönlichkeit des Dargestellten zu repräsentieren und betont diesbezüglich das Potential des Bildes, als erhöhende Utopie wirksam zu werden, wie Pierre Gonnord in dem eingangs genannten Zitat erläutert.31 Diese Fähigkeit wird hier nicht nur der Malerei, sondern explizit der Fotografie zugeschrieben und zudem als Ausloten der spirituellen Tiefe des Menschen verstanden: „Gonnord […] seeks, like a moralist or portraitist, to ‘bring out the spirituality and the sublime that is in us‘.“32 Dass bei der Rezeption der Fotografien Gonnords die kulturelle Vorbildung des Betrachters ebenfalls eine große Rolle spielt, zeigt ein weiteres Element, das verschiedene sakralisierende Wirkungen entfalten kann. So bietet sich, insbesondere bei jenen Bildern, die auf den schwarzen Hintergrund als delokalisierendes Element zurückgreifen, dem Betrachter der Bildtitel als Möglichkeit zur gedanklichen Einordnung des Portraitierten an. Dieser besteht jeweils nur aus dem Vornamen der abgebildeten Person.33 Einige der Namen, wie etwa Maria, Joan oder Eli scheinen dabei durch sprachliche Ähnlichkeit oder 30 DE GOUVION SAINT-CYR 2006, S. 28. Sie zitiert Paul Klee aus: KLEE, Paul: Journal, Paris 1959, p. 227. 31 Vgl. GONNORD, KNIGHT 2011, o. S. 32 DE GOUVION SAINT-CYR 2006, S. 28. Zu dem Zitat im Zitat liegt keine Quellenangabe vor, vermutlich stammt es jedoch vom Künstler selbst. 33 Vgl. NAVARRO 2006, S. 42: „The title of your photos is always the name of the sitter.“

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etymologische Verwandtschaft (ob historisch verifiziert oder spontan assoziiert) einen christlichen Bezug herzustellen, wodurch sie in den sakralen Bereich fallen und zugleich das Gedächtnis des Betrachters mit Bezug auf seine kulturelle Vorprägung anregen können.34 Durch diese assoziative Verknüpfung sakralisiert Gonnord die Dargestellten mit Blick auf verschiedenste biblische Figuren. Zugleich impliziert die Nutzung des Vornamens Intimität und verspricht dem Betrachter eine unverstellte und gewissermaßen persönliche Begegnung mit der portraitierten Person außerhalb potentiell durch den Nachnamen implizierter sozialer und gesellschaftlicher Stellungen. Die Sakralisierung der Dargestellten findet bei Gonnord demnach nicht etwa im Sinne einer retuschierten, makellos glatten Oberfläche oder durch das Erreichen eines gängigen Schönheitsideals statt. Vielmehr werden durch den bewussten und gesteigerten Einsatz sakralisierender Mittel wie Größe, Kontrast, DeLokalisierung, detailgetreue Abbildung und Farbigkeit die fotografischen Bilder auf die Präsentation der Portraitierten als präsentes Gegenüber zugespitzt. Diese werden als Individuen fokussiert und inszeniert, die zugleich dem natürlichen Zeitfluss enthoben, gewissermaßen stillgestellt und doch seltsam dynamisiert sind. Wird bereits auf einer bildbasierten Ebene deutlich, dass Gonnord zwar im fotografischen Medium und mit fotografischen Mitteln wie Licht und detailgetreuer Abbildung arbeitet, diese jedoch bewusst hin zu anderen Medien wie der Malerei und der Skulptur öffnet, so tritt dies in der Ausstellung Realidades sowie im begleitenden Katalog offen zutage. Im Folgenden werden daher Ausstellung und Katalog kurz vorgestellt und auf die in der prozessualen und vergleichenden Bildbetrachtung aufscheinende Intermedialität, sakralisierende Elemente und Gesten sowie auf mögliche Verhandlungen des Heiligen hin befragt.

34 Den Prozess der Erinnerung über visuelle Ähnlichkeit beschreibt auch de Gouvion Saint-Cyr in Bezug auf andere Bilder der Ausstellung: „the ‚mugs‘ Ajmil or Karl, whose facial features […] ineluctably recall baroque painting.“ DE GOUVION SAINT-CYR 2006, S. 29.

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5.2 P ROZESSUALE B ILDBETRACHTUNG : S AKRALISIERUNGSSTRATEGIEN IN A USSTELLUNG UND K ATALOG R EALIDADES , 2006-2007 Auf einer bildbasierten Ebene setzt Gonnord verschiedene formale und ästhetische Mittel der Aufmerksamkeitsfokussierung ein, die zunächst reine Bedeutungssteigerungen ohne eindeutige religiöse Zielkategorie darzustellen scheinen. Ohne weitere bildbasierte Konkretisierungsoptionen wird der Besucher zur Interpretation der fotografischen Portraits zunächst auf sein Bildgedächtnis zurückgeworfen – im Falle der Ausstellung Realidades bieten sich zudem die umgebenden Gemälde und Skulpturen als naheliegende Bezugspunkte an. Durch eine derartige Gegenüberstellung entsteht zum einen ein intermedialer Dialog, zum anderen bieten die Gemälde und Skulpturen, die christliche Heilige zeigen, einen Kontext, der religiöse Inhalte thematisiert. Welche Auswirkung hat dies auf die Rezeption der fotografischen Bilder? Kommen hier weitere und andere Gesten der Sakralisierung zu tragen? Im Folgenden werden Ausstellung und Katalog exemplarisch erschlossen, bevor im nächsten Schritt nach den durch sie vermittelten Konzepten von Heiligkeit gefragt wird (5.2.2). Schließlich wird der Blick der Portraitierten genauer untersucht (5.2.3) – fungiert er als semantischer Nukleus der Bilder?

5.2.1 Intermediale formale und ästhetische Sakralisierungen Ausstellung Für die Ausstellung Realidades wurden Gonnords Fotografien in die Präsentation der ständigen Sammlung des Museo de Bellas Artes de Sevilla gehängt, die Werke vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert umfasst und einen Schwerpunkt auf den sevillanischen Barock legt. Hauptmerkmal dieser Gegenüberstellung war die medien- und zeitübergreifende physische Ähnlichkeit einzelner Portraitierter, sei es ein Geistlicher aus dem 17. Jahrhundert oder ein junger Mann aus dem 21. Jahrhundert. Quadratisch bis hochformatig, wurde die Größe der fotografischen Arbeiten so gewählt, dass sie einen optimalen Bezug zu den sie umgebenden Kunstwerken herstellen konnten, die fotografierten Gestalten jedoch um ein Vielfaches größer waren als die in Malerei oder Skulptur dargestellten Personen.35

35 Vgl. DE GOUVION SAINT-CYR 2006, S. 28.

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Die bereits besprochene Fotografie Jack (Abb. 5.5) beispielsweise wurde im Saal X des Museums ausgestellt, der sich den Werken Francisco de Zurbaráns widmet, einem der Hauptvertreter des sevillanischen Barocks, der besonders für seine starken hell-dunkel Effekte bekannt ist. An verschiedenen Wänden im rechten Winkel zueinander platziert, hing Jack in Sichtweite von Zurbaráns Gemälde Der Heilige Bruno und Papst Urban II, 1655, das den Besuch des heiligen Bruno von Köln, dem Gründer des Kartäuserordens, bei einem seiner ehemaligen Schüler, Papst Urban II., zeigt (Abb. 5.4). Durch die Hängung der Kunstwerke überwiegt in einer ersten Annäherung an die Bilder zunächst der Eindruck des großen Gemäldes mit barockem Rahmen, das einen Großteil der linken Wand einnimmt. Das fotografische Portrait an der vom Betrachter aus rechten Wand wirkt im Gesamtvergleich geradezu klein. Im Näherkommen kann sich dieses Größenverhältnis insofern umdrehen, als dass der Fokus nun auf den einzelnen Figuren liegt: Innerhalb des Gemäldes ist die hagere Figur des Heiligen Brunos zwar immer noch groß dargestellt, das korrespondierende Foto von Jack zeigt jedoch eine vielfach größere Figur. Von einem nahen Standpunkt aus gesehen, der doch die gleichzeitige Betrachtung beider Bilder noch zulässt, kann über die starke Ähnlichkeit in Physis, Ausdruck und Mimik der Figuren eine fast unheimlich wirkende ästhetische Liaison zwischen den Bildern entstehen. Indem beide Medien als gleichwertige Ausdrucksmedien nebeneinander treten, werden die herausgearbeiteten primären Sakralisierungsstrategien im fotografischen Bild verstärkt. Darüber hinaus entfaltet hier eine zweite Form der Sakralisierung ihre Wirkung, die sich als Sakraltransfer36 beschreiben lässt, bei dem mittels formaler und ästhetischer Ähnlichkeit visueller Zeichen religiöse Valenz von einem Bild auf das andere übertragen wird. Jacks Gesichtszüge und ernster Ausdruck korrespondieren stark mit der Darstellung des Heiligen Bruno. Der malerische Stil, etwa die harten Schwarz-Weiß-Kontraste in Brunos Kleidung und ihre Flächigkeit (Abb. 5.6), wiederholen sich in der farblichen Palette der Fotografie und im schwarzen Hintergrund und werden auf einer Mikroebene in Jacks Augen aufgegriffen. Über diese visuelle Ähnlichkeit wird Jack innerhalb der Ausstellung als Person in eine Linie mit einem Heiligen gestellt und gewissermaßen selbst zum modernen Heiligen stilisiert. Auf fast unheimliche Weise – im Sinne Sigmund Freuds als Wiederkehr und Belebung und als Form des Phantastischen verstanden37 – erscheint Bruno in der Figur Jacks lebendig nachzuklingen. Auch Joan, 2005 (Abb. 5.2), das Portrait eines Mannes mittleren Alters in leichter Seitenansicht vor schwarzem Hintergrund, war in der Ausstellung Realidades vertreten. Mit ernstem Gesichtsausdruck sieht Joan den Betrachter direkt 36 Vgl. hierzu Kapitel 2.1.3 der vorliegenden Arbeit; sowie BÖHM 2009, S. 105f. 37 Vgl. FREUD 1970, S. 267.

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an, die Augen sind dunkel, fast schwarz und ein Fenster scheint sich in ihnen zu spiegeln. Die Haare fallen ihm in leichten Locken auf die Schultern, er trägt einen Bart und hat dunkle Brauen. Wie in den anderen Fotografien sind auch hier einzelne Hautporen, Rötungen, Falten, Flecken und Augenringe sichtbar, die durch einen grünlichen Farbschimmer an Kontur gewinnen. Schweift der Blick des Betrachters weiter in den Raum IV des Museums hinein, der kleineren Meisterwerken aus dem 16. Jahrhundert gewidmet ist, so fällt er auf ein weiter entferntes Gemälde von Alonso Vázquez, bei dem es sich um eine AbendmahlDarstellung von 1588 handelt. Aus der Ferne ist die visuelle Ähnlichkeit der Figuren nicht so markant wie im ersten Beispiel, nichtsdestotrotz ist eine ästhetische Kohärenz zwischen Joan und der Jesusfigur in Vázques‘ Abendmahl zu erahnen, die sich bei der Annäherung an das Gemälde bestätigt. Im Raum links in einer Vitrine findet sich zudem eine lebensgroße, bemalte Terrakotta-KopfSkulptur Johannes des Täufers, 1591, von Gaspar Núñez Delgado, die ebenfalls eine gewisse Ähnlichkeit zu Gonnords fotografischem Portrait von Joan aufweist, welche zusätzlich über die sprachliche Affinität der Namen weiter verstärkt wird. Auch im Falle von Joan wird das Portrait über die umgebenden Bilder somit in einem christlich-narrativen Rahmen verortet und durch Physis und Namen in direkte Korrespondenz zu Darstellungen des Heiligen Johannes und Jesus gesetzt. Das bereits genannte fotografische Portrait Eli, 2004 (Abb. 5.1), hing innerhalb der Ausstellung in Raum VI des Museums, der dem sevillanischen Barock gewidmet ist. Auch hier wird über visuelle Ähnlichkeit der auf Gemälden und Fotografie dargestellten Personen eine Verbindung zwischen den Bildern hergestellt. Dabei sind nicht nur die Kohärenzen in Physiognomie und Mimik der Dargestellten relevant, sondern auch explizit Stilanleihen: So ähneln die HellDunkel-Kontraste in Eli denjenigen in den barocken Gemälden von Francisco Polanco und anderen und auch die rot-grüne Farbgebung sowie die Lichtführung auf den Gesichtern wurden bereits ähnlich in der Darstellung von Heiligen im sevillanischen Barock verwendet. In konzentrierter Form wird dies im Katalog zur Ausstellung deutlich (Abb. 5.8), der Detailansichten von Francisco Polancos San Pablo, 1640, und Santiago el Menor, 1640, sowie Riberas Santa Teresa de Jesús, 1630, dem Portrait von Eli auf einer Doppelseite voranstellt und so explizit die Übernahme formal-ästhetischer Mittel betont (Abb. 5.9). Der von Pierre Gonnord mitgestaltete Katalog kann somit einen wichtigen Aspekt der Ausstellung übertragen und gezielt herausstreichen und soll daher im Folgenden ebenfalls exemplarisch betrachtet werden.

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Katalog Generell greift der Katalog Realidades das Ausstellungsformat auf, indem er die Architektur des Gebäudes durchläuft und in zeitlicher Abfolge vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert die je einer Epoche, einem oder mehreren Künstlern gewidmeten Räume durch mit Überschriften und Grautönen abgegrenzte Abschnitte visualisiert. Nur drei Bilder, von denen zwei kleinformatig und in Schwarz-Weiß gehalten sind, zeigen den Ausstellungsraum, bzw. den Innenhof des Gebäudes. Der Hauptteil des Katalogs konzentriert sich auf die Gegenüberstellung von Werken der Sammlung mit den Fotografien Gonnords. Innerhalb der einzelnen Abschnitte werden jeweils zu Anfang auf einer grau hinterlegten Doppelseite exemplarische Gemälde oder Skulpturen in Gesamt- oder Detailansicht präsentiert (vgl. Abb. 5.9). Es folgen eine oder mehrere Seiten mit fotografischen Portraits, die farbliche, stilistische, physiognomische oder thematische Verwandtschaft mit den vorangegangenen Werken erkennen lassen. Der Akt des Umblätterns übernimmt somit die Funktion des wandernden Auges innerhalb der Ausstellung. Eine direkte Gegenüberstellung von Fotografien und Werken der Sammlung auf einer Doppelseite findet man nur als erste Bebilderung nach dem Einband und als Pendant am Ende des Buches. Der Umschlag zeigt eine ähnliche Konstellation, wobei die Vorderseite hier eine Fotografie, die Rückseite eine Malerei (ohne Figuren) bildet.38 Die intermedialen Referenzen werden dabei explizit herausgearbeitet: Zeigt das Titelblatt des Ausstellungskataloges mit Ahmed, 2005, eine primär durch sanfte Grün- und Rottöne malerisch wirkende Fotografie eines Mannes (Abb. 5.8), so begegnet dem Betrachter auf der genannten ersten Doppelseite eine Gegenüberstellung der Medien Skulptur und Fotografie (Abb. 5.10). Abgebildet sind zwei Körper: Links füllt eine Detailansicht einer Christus-Skulptur das Bild, genauer, die auf dem Brustkorb liegende rechte Hand des Gekreuzigten, die mit dem Daumen auf die ebenfalls sichtbare, darüber liegende Seitenwunde zeigt. Rechts findet sich vor schwarzem Hintergrund das Konterfei eines älteren Mannes, der den Betrachter anblickt. Die zwei dargestellten Körper ähneln sich in Hautfarbe und -schattierung, das leichte Rot der Seitenwunde wird aufgegriffen in den rotumränderten Augen des Unbekannten, der, wie man auf Seite 55 des Katalogteiles erfährt, auf der die Fotografie noch einmal abgebildet ist, Michel, heißt. Zwei kleine Wunden auf seiner Nase führen den Aspekt der körperlichen Versehrtheit von einem Bild ins andere fort. Die Essenz des skulpturalen Details – die Versehrung des Körpers und das dahinter stehende christlich-religiöse Narrativ – scheint hier in einem lebendigen Körper vergegenwärtigt und wird quasi als Leitthema den folgenden Bildern und Ausführungen vorangestellt. 38 Vgl. Ausst.Kat. Realidades 2006/2007, Vorderseite Abb. 5.8.

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Abb. 5.8: Cover des Ausstellungskatalogs Realidades. Fotografias de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, Museo de Bellas Artes, Sevilla, 2006/2007, Motiv: Pierre Gonnord, Ahmed, 2005 (1/5), Farbfotografie unter Plexiglas, 175 x 135 cm, Pierre Gonnord und Galeria Juana de Aizpuru, Madrid, Ahmed auch S. 93

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Die konzentrierte Detailtreue der Abbildung sowie der bildfüllende schwarze Hintergrund des Portraits wirken in der Gegenüberstellung mit den Umrissen der schattenwerfenden Skulptur sehr räumlich und verdeutlichen so das Potential des Mediums Fotografie, auf zweidimensionaler Bildfläche dreidimensionale Effekte zu erzeugen. Dabei greift Gonnord auch auf „malerisches Vokabular“39 wie etwa das bereits im sevillanischen Barock verwendete Hell-Dunkel zurück, um den Effekt der dritten Dimension zu verstärken. Die Fotografie reiht sich als Medium demnach nicht nur neben die Malerei, wie im Rahmen der Ausstellung herausgearbeitet werden konnte, sondern auch neben die Skulptur. Mag in der Ausstellung der Effekt dieser Gegenüberstellung aufgrund der architektonischen Gegebenheiten für den Betrachter weniger leicht zu erschließen gewesen sein, so wird ihm im Katalog eine zentrale Stelle eingeräumt. Zudem wird die Position der Fotografie gegenüber der Skulptur noch weiter herausgestrichen, denn auch die Skulptur ist hier nur durch eine Fotografie repräsentiert, die Fotografie übernimmt scheinbar mühelos die Aufgaben beider Medien. Die Gleichstellung und Nähe der Skulptur und des Körpers in der fotografischen Repräsentation sowie das ineinander Übergehen der zwei Medien Skulptur und Fotografie, wird dadurch verstärkt, dass hier die weiße Absetzung der Bilder fehlt, wie sie auf den anderen Katalogseiten erfolgt. Weitere Beispiele explizieren Gonnords Vorgehen bei der Gestaltung des Katalogs: Im Abschnitt der sich der Kunst der Renaissance in Raum II widmet, werden zwei Details einer Skulptur des Heiligen Hieronymus des Bildhauers Pietro Torrigiano dem Portrait Jules (Abb. 5.7) vorangestellt. Das erste Detail zeigt in einem Ausschnitt das Antlitz der Skulptur im Profil (Abb. 5.11), das zweite fokussiert den Brustkorb (Abb. 5.12). Das Konterfei des mit weiß-gewelltem Vollbart und harten Gesichtskonturen dargestellten Hieronymus ist hier, ähnlich wie auf vielen der Gonnord’schen Portraits, vor einem dunklen Hintergrund zu sehen. Es ist unscharf festgehalten worden und impliziert somit Bewegung und Dynamisierung der Skulptur mittels Fotografie. Auf der nächsten Doppelseite folgt rechts die bereits oben beschriebene Fotografie Jules (Abb. 5.7) – frontal und mit nacktem Oberkörper abgebildet, weisen Jules Gesichtskonturen, das weiße Haar und der wellige Vollbart starke Ähnlichkeit zu dem vorab gesehenen Detail des heiligen Hieronymus auf. Der nackte Brustkorb repetiert die Farbgebung des Torso-Details der Skulptur, wobei kleine Unregelmäßigkeiten sowie Alterungserscheinungen des Materials ihr Pendant in den Muttermalen und der Oberkörperbehaarung von Jules finden. Neben diesen visuellen Ähnlichkeiten fällt auf, dass ein Detail der Skulptur ausgewählt wurde, auf dem durch rote Far-

39 DE GOUVION SAINT-CYR 2006, S. 28.

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Abb. 5.9: Doppelseite des Ausstellungskatalogs Realidades 2006/2007 (S. 80, S. 81), Detailansichten: Francisco Polanco, San Pablo, 1640; Santiago el Menor, 1640; Ribera, Santa Teresa de Jesús, 1630, Museo de Bellas Artes de Sevilla

Abb. 5.10: Doppelseite des Ausstellungskatalogs Realidades 2006/2007 (Schmutzseite nach Einband), Detailansicht einer Skulptur und Pierre Gonnord, Michel, 2006 (1/5), Farbfotografie unter Plexiglas, 158 x 135 cm, Pierre Gonnord und Galeria Juana de Aizpuru, Madrid, Michel auch S. 55

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Abb. 5.11 und Abb. 5.12: Pietro Torrigiano, San Jerónimo penitente (Detail), 1525, polychromierte Holzskulptur, o. A., Museo de Bellas Artes de Sevilla

be Verletzungen des Körpers visualisiert werden. Dies scheint zum einen wie eine Voreinsicht in das, was der folgende Körper nicht preisgibt, das heißt die Geschichten, die Jules Haut in emotionaler und physischer Hinsicht verbirgt. Zum anderen kommt es auf diese Weise zu einer intermedialen Verschmelzung von Malerei, Skulptur und Fotografie. Im Falle von Joan sind dem fotografischen Portrait im Katalog sowohl der Kopf der Skulptur Cabeza de San Juan Bautista, 1591, von Gaspar Núñez Delgado als Detail sowie Alonso Vázquez‘ Darstellung des Abendmahls in Gesamtansicht vorangestellt, um so die physiognomischen und stilistischen Ähnlichkeiten explizit zu betonen.40 Die Geschlechterübergreifende Ähnlichkeit verdeutlicht noch einmal, dass die rezipierte Kohärenz zwischen modernen fotografischen Bildern und älteren Werken aus der Sammlung des Museums stark von formalen und ästhetischen Setzungen abhängt. Ein weiteres Beispiel bildet das Ensemble einer mittelalterlichen Altartafel, auf die im Katalog das fotografische Portrait Sonia III folgt (Abb. 5.13, 5.14). Sonias stille, klare Gesichtszüge und -formen sowie die Farbgebung der blassen Haut und der blauen Badekappe greifen verschiedene stilistische Elemente der Altartafel auf, namentlich Gesichtsform und Hautton eines männlichen Heiligen jedoch auch den blauen, mit Gold durchwirkten Hintergrund, vor dem er steht. Die Kuratorin der Ausstellung betont diese Referenz nicht als interpersonellen, sondern als Genrebezug: „Thus, in its very simplicity, like a sign of mystical purity, the smooth, harmonious face of Sonia, untroubled by any irregularity, recalls those primitive altarpieces that depict the lives of the 40 In Ausst.Kat. Realidades 2006/2007, S. 66f.

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Saints.“41 Während sich visuelle Ähnlichkeiten zu der vorangestellten Altartafel herstellen lassen, beschreibt das Zitat mit Aspekten wie Reinheit und Harmonie Attribute, die traditionell auch der Muttergottes zugeschrieben werden. Die formal-ästhetischen Ähnlichkeiten dienen hier somit über den personellen Bezug zwischen dem auf der Altartafel dargestellten Heiligen und Sonia hinaus als eine Art Trigger für den Betrachter, im Gedächtnis ein tiefer liegendes, generelles Farb- und Interpretationsmuster mit einer eigenen ikonografischen Tradition wachzurufen. Ähnliche Konstellationen wie die Beschriebenen bilden, in leichter Variation, den Grundstein von Katalog und Ausstellung. Beiden liegt, wie gezeigt werden konnte, ein bedachtes Präsentationskonzept zugrunde, das die Möglichkeit der prozessualen Bildbetrachtung aktiv einbezieht und ihre Effekte herauszustreichen sucht. Im Katalog wird zu Beginn und am Ende des Buches Malerei bzw. Skulptur unmittelbar einer Fotografie gegenübergesetzt. Die seitenfüllende, lebens- bis überlebensgroße Abbildung von Michels Gesicht und Hand sowie die fehlende Beschriftung (inwiefern das Foto der Skulptur von Pierre Gonnord ist oder von Guillermo Mendo, der ebenfalls als Fotograf der Museumsarbeiten aufgeführt ist,42 wird beispielsweise nicht ersichtlich) erhöhen die Nähe zum Betrachter durch das Auslassen distanzierender Katalogeigenschaften, wie etwa die Absetzung der Kunstwerke mittels weißer Ränder, und betonen statt des informativen das affektive Potential der Bilder. Der Blick des Portraitierten spricht den Betrachter direkt an und die nahezu lebensgroße Abbildung des Gesichts führt aufgrund der physischen Nähe beim Durchblättern des Katalogs zu einer Begegnung auf Augenhöhe. Der Betrachter wird somit direkt zu Anfang involviert und kann durch den Blick scheinbar in einen Dialog treten. Zwischen den einzelnen Bezugspunkten liegt sonst der Akt des Umblätterns, der einen zeitlichen Abstand schafft und zudem das vorangegangene Bild allein aus der Erinnerung abrufbar macht. Im Ausstellungsraum kann sich eine ähnliche Konstellation ergeben, je nachdem, welchen Weg der Betrachter durch das Gebäude wählt. Auf diese Weise wird für den Besucher der Ausstellung und den Leser des Katalogs das Potential erhöht, die Wahrnehmung visueller und inhaltlicher Bezüge als eigene Erkenntnisleistung zu markieren und gegebenenfalls sogar unbewusst zu leisten, was die Wirkmächtigkeit der einzelnen Fotografien erhöht. Das Konzept der Ausstellung referiert somit auf Bedeutung und Funktionsweise von Erinnerung bei der Rezeption und Interpretation von Kunstwerken

41 DE GOUVION SAINT-CYR 2006, S. 28. 42 Vgl. Ausst.Kat. Realidades 2006/2007, S. 8.

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Abb. 5.13: Doppelseite des Ausstellungskatalogs Realidades 2006/2007 (S. 48, S. 49), Detailansichten: Juan Sánchez de Castro, Jerónimo y San Antonio de Padua, 1480 und San Andrés y San Juan Bautista, Öl auf Holz, o. A., 1480, Museo de Bellas Artes de Sevilla

sowie, etwa durch die Größe der Abbildungen im Ausstellungsraum, auf die Körperlichkeit der Erfahrung als übergeordnete Themenkomplexe. Die verschiedenen Modi der prozessualen Bildbetrachtung werden von Gonnord aktiv reflektiert, um das Erleben des Betrachters anzuleiten. Ein weiteres Ausstellungsbeispiel unterstützt diese Erkenntnis: So stellte Gonnord im Jahr 2010 in der Abteikirche von La Chaise Dieu in Frankreich aus.43 Die Art der Bildpräsentation bezog dabei wiederum den Raum und den Weg des Betrachters durch selbigen bewusst mit ein: Die fotografischen Portraits wurden in einem um einen Innenhof laufenden Säulengang so platziert, dass sie von bestimmten Standpunkten aus von den Säulen gerahmt wurden (Abb. 5.15). Die einzelnen Säulen erinnerten so an architektonische Elemente, wie sie im Mittelalter auf Reliquiaren und Altartafeln zur Rahmung der Figuren eingesetzt wurden. Gonnord versteht die Fotografie demnach als Objekt innerhalb eines (Ausstellungs-)Raumes und lässt sie in den Dialog mit dem Raum und seinen Besuchern treten.44 43 Ausstellung Pierre Gonnord, Cloître de l’abbaye de La Chaise-Dieu, 18.08.29.08.2010. 44 „[Gonnord] conceives of a work in a space, and no longer on a printed page or in a ‚Cabinet of Curiosities‘.“ DE GOUVION SAINT-CYR 2006, S. 28.

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Abb. 5.14: Pierre Gonnord, Sonia III, 2000 (a. p.), Farbfotografie unter Plexiglas, 114 x 120 cm, Besitz des Künstlers

Mittels dieser intermedialen, zeitübergreifenden Gegenüberstellung kann Gonnord die Langlebigkeit formal-ästhetischer sakraler Chiffren herausarbeiten. Als Effekt wird auf einer bildbasierten Ebene die anfangs genannte, formalästhetische primäre Sakralisierung als Sakralisierung kenntlich gemacht und weiter betont. Hinzu tritt als zweite Form der Sakralisierung der beschriebene Sakraltransfer. Das gleichzeitige Auftreten der formal-ästhetischen Chiffren in Gemälden mit religiösem Inhalt und Fotografien dient einer Übertragung christlich geprägter semantischer Inhalte. Inwiefern ist dieser vom Betrachter zu leistende semantische Transfer religiöser Valenz auf die fotografischen Bilder zwingend an die direkte Gegenüberstellung mit Gemälden religiösen Inhalts gekoppelt? Kann eine solche Interpretation sich auch grundsätzlich aus dem kulturellen Vorwissen des Betrachters speisen und wenn ja, wären die sie auslösenden formalen und ästhetischen Elemente somit per se als Chiffren sakraler Bildlichkeit zu deuten? Die Gegenüberstellung

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Abb. 5.15: Ausstellungsansicht, Pierre Gonnord, Cloître de l’abbaye de La Chaise-Dieu, La Chaise-Dieu, 18.08.-29.08.2010

des fotografischen Portraits von Sonia mit der mittelalterlichen Altartafel (Abb. 5.13 und 5.14), die den interpersonellen Bezug zugunsten allgemeiner stilistischer Referenzen in den Hintergrund treten lässt, insinuiert eine derartige Lesart. Für das Medium Film beschreibt Naomi Green die Eigenschaften eines „sakralen Stils“45 als „[m]easured rhythms, slow camera movement, frontal shots, and long and frequent close-ups.“46 Böhm betont hingegen, dass „nicht davon ausgegangen werden“ könne, dass „allein die Präsenz dieser Merkmale schon Sakralität produziert“, da es eine „rein formale Sakralität“ nicht geben könne, auch wenn formale Elemente eine wichtige Rolle in der Produktion von Sakralität spielen.47 Erscheint eine aus sich heraus sakrale Bildlichkeit allein aufgrund der Tatsache unwahrscheinlich, dass sie ein existentes und zugängliches Heiliges voraussetzen würde, so finden sich doch in verschiedenen Beschreibungen sakraler Marker auffällige Ähnlichkeiten.48 Rudolf Ottos Auflistung der „Aus-

45 BÖHM 2009, S. 41. 46 GREEN, Naomi: Pier Paolo Pasolini. Cinema as Heresy, Princeton 1990, S. 44. 47 BÖHM 2009, S. 41. 48 Gemeint sind hier formal-ästhetische Marker, nicht symbolisch bereits festgefügte Zeichen, wie etwa das Kreuz oder ähnliches.

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drucksmittel für das Numinose in der Kunst“49 etwa überschneidet sich in einigen Punkten mit den von Green genannten Elementen des cineastischen Stils, in anderen mit den bei Gonnord herausgearbeiteten Markern. Zu nennen wären hier die „gewaltigen Rhythmen und Schwingungen“50 Ottos, die im Rhythmus Greens nachhallen. Das „Schweigen“51 findet sich als sprachliche Metapher implizit sowohl in der langsamen Kamerabewegungen als auch in den langen Close-ups, mittels derer die Sprache des Films gewissermaßen stillgestellt wird,52 während in den Fotografien Gonnords die delokalisierenden monochromen Hintergründe die Funktion des „Dunkel“53 übernehmen. Diese Elemente speisen sich nicht zuletzt aus einer im kulturellen Gedächtnis verankerten bildlichen Tradition, die über Jahrhunderte sowohl gleichbleibende Bildchiffren für die Darstellung religiöser Valenz verwendet, als auch neue erschaffen und festgelegt hat.54 Aus diesen Kohärenzen lässt sich schließen, dass langfristig oder besonders erfolgreich für die Darstellung von Sakralität eingesetzte Bildchiffren schließlich ihren ursprünglich Kontext-gebundenen semantischen Gehalt zu einem Großteil übernehmen und so auch relativ Kontext-unabhängig religiöse Valenz vermitteln können. Ihre Wahrnehmung ist jedoch stets abhängig von der Erkenntnisleistung des Betrachters, der den fehlenden Kontext gewissermaßen selbst ergänzen muss. Kulturspezifisch können somit bestimmte ästhetische und formale Bildmittel durchaus eine zugeschriebene sakrale Wertigkeit erlangen und diese im Prozess der Wahrnehmung auch ohne eindeutig kontextualisierende Referenz entfalten.55 Sie besitzen sie jedoch nicht per se und eine dauerhafte und kulturübergreifende Verbindung dieser ästhetischen Marker mit religiöser Valenz besteht nur in den seltensten Fällen. Nichtsdestotrotz können sie langfristig als visuelle Chiffren von Sakralität sichtbar werden und es ist auch möglich, dass sie in Folge wiederum dazu verwendet werden, kulturelle Formen von Sakralität zu produzieren (im Sinne Smiths, vgl. Kapitel 2.1.3 dieser Arbeit). 49 OTTO 2014, S. 85-91. 50 OTTO 2014, S. 86 51 OTTO 2014, S. 88. 52 Für die Musik beschreibt Otto eine ähnliche Stillstellung der Bewegung als „Dämpfung, Verhaltung, fast möchte man sagen Verschüchterung“ des Tons, „sodaß das Schweigen sich selber gleichsam ausklingen kann“. OTTO 2014, S. 91 und 90. 53 OTTO 2014, S. 88f. 54 Ergänzend sollte hinzugefügt werden, dass diese bildlichen Traditionen kulturell variieren, im Westen wäre es primär die christliche Bildtradition, die viele formale und ästhetische Elemente in ikonografische Bildprogramme aufgenommen hat. 55 Ein Beispiel wäre das bei vielen christlichen Heiligendarstellungen zum Einsatz kommende helle oder gleißende Licht, vgl. hierzu Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit.

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Dass es sich bei diesen semantischen Transfers religiöser Valenz über intermediale ästhetische und formale Kohärenz stets um Zuschreibungen handelt, wird von Gonnord mittels der offenen Betonung der prozessualen Bilderfahrung hervorgehoben, die den Umweg über die Erinnerung und die kulturelle Vorprägung des Betrachters nehmen muss. Gonnord betont somit die intermedialen Referenzen und verweist zugleich mittels der aktiven Reflexion und der gezielten Konstruktion der prozessualen Bilderfahrung im Katalog darauf, dass die kulturelle Vorprägung des Betrachters sowie das gesellschaftliche Bildgedächtnis eine zentrale Rolle bei der Ausdeutung von sakraler Bildlichkeit spielen und diese auf geformte visuelle Traditionen zur Produktion religiöser Valenz zurückgreifen. Beziehen sich die beschriebenen Sakralisierungen in den fotografischen Bildern Gonnords dabei zunächst auf das jeweilige Sujet, so stellt sich im nächsten Schritt die Frage, welchen Effekt diese Sakralisierungsstrategien auf das Medium haben, in dem sie ausgeführt werden. Diese Frage soll im Folgenden knapp beleuchtet werden. Intermedialität als Sakralisierung fotografischer Bilder? Intermediale Referenzen zwischen Fotografie und Malerei und insbesondere die Verwendung malerischer Stilmittel in Fotografien ist nicht neu, sondern blickt auf eine lange Geschichte zurück. Um ihren Kunstwert zu postulieren und zu verteidigen, versuchten frühe Kunstfotografen die Malerei zu imitieren, indem sie sich ihr bewusst annäherten. So wurden im fotografischen Piktorialismus um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Edeldruckverfahren verwendet, fotografische Negative und Abzüge wurden nachträglich mit der Hand koloriert oder es wurden bewusst unscharfe Stellen eingefügt.56 Als besonders prominentes Beispiel für stilistisch an der Malerei orientierte Mittel nennt die Fotografiehistorikerin Kerstin Stremmel den sogenannten „Rembrandt-Effekt, der infolge bestimmter Beleuchtungstechniken dem photographischen Portrait einen ‚chiaroscuro‘-Eindruck verschaffen sollte.“57 Gonnords Rückgriff auf stilistische Mittel, die sich bereits in der Malerei finden, ließe sich aus dieser Perspektive als Versuch der Sakralisierung des Me-

56 Siehe zu dieser Entwicklung sowie zur Unschärfe die Analyse zu Andres Serrano in Kapitel 3 dieser Arbeit; sowie ULLRICH 2009, S. 24-38. 57 STREMMEL, Kerstin: Geflügelte Bilder. Neuere fotografische Repräsentationen von Klassikern der bildenden Kunst (Diss. u. d. T. Wiederholung und Differenz, Köln 2000) Holzminden 2000, S. 9.

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diums lesen.58 Auch aus Sicht der Kuratoren kann die gleichwertige Gegenüberstellung fotografischer Bilder mit Gemälden vom Mittelalter bis zur Moderne als sakralisierende Geste gedeutet werden. Agnès de Gouvion Saint-Cyr, Kuratorin für Fotografie, beschreibt in ihrem historischen Rückblick im Katalog zur Ausstellung Realidades den Einzug der Fotografie in Museen, „the temples of culture, those modern cathedrals in which excellent taste, deep thinking and subtle emotions are perpetuated“59, als museale Sakralisierung des Mediums. Sie bedient sich damit zusätzlich eines Vokabulars, das Kunst als Ersatz für Religion beziehungsweise als Ersatzreligion deklariert.60 In der Ausstellung Realidades findet somit eine klassische Sakralisierung des Mediums Fotografie als Kunst über malerische Stilanleihen sowie die Hängung im Museum statt. Es ist mit Recht durchaus kritisch zu hinterfragen, inwiefern diese Herausstellung von Fotografie als Kunst heute noch zeitgemäß erscheint oder nicht vielmehr selbstverständlich ist. Seit den 1970er Jahren wird das fotografische Bild zunehmend von Künstlern verwendet, die nicht in erster Linie als Fotografen arbeiten. Durch neue technische Möglichkeiten, wie etwa die Entwicklung großformatiger Drucke von Farbfotografien sowie durch die künstlerische Experimentierfreude etwa eines Jeff Wall, konnte es sich hin zum Tafelbildformat entwickeln. Inzwischen scheinen großformatige Farbfotografien die musealen ‚Tempel‘, insbesondere moderner und zeitgenössischer Kunst längst erobert zu haben und dominieren den Kunstmarkt. Auch werden seit den 1980er Jahren im Kontext der Appropriation Art vermehrt Gemälde und Stilrichtungen explizit oder implizit zitiert.61 Wie Stremmel hervorhebt, betrachten „[z]eitgenössische Künstler, die das Medium Fotografie verwenden, […] nicht die ganze Welt als ihr ‚Material‘, sondern beziehen bestimmte Motive und deren eigenwillige Darstellung in ihre konzeptuellen Überlegungen ein. Ihre Methode der Re-Inszenierung von Einzelwerken und Stilrichtungen der bildenden Künste schaffen neue Kunstwerke, die

58 So finden seine Fotografien auch Eingang in Themenhefte, die sich schwerpunktmäßig dem Piktorialismus widmen, wie etwa in Exit: Imagen y Cultura, Pictorialismo, 2008, H. 30. 59 DE GOUVION SAINT-CYR 2006, S. 28, zudem vgl. generell S. 27. 60 Vgl. etwa COBB 2005, S. 2; DETERING, Heinrich: Kunstreligion und Künstlerkult, in: Georgia Augusta, 2007, S. 124-131, hier S. 127 ; und HERRMANN, Jörg: Medienreligion unplugged. Medienerfahrung und Religiösität in empirischer Perspektive, in: Ästhetik und Kommunikation, 36, 2005, H. 131, S. 19-26, hier S. 22f. 61 Vgl. GRAEVENITZ 1986, S. 34f.

318 | U NSCHARFE S PUREN ? – T EIL II: E INZELANALYSEN Aussagen über bildnerische Qualitäten der verwendeten Werke und mögliche Rezeptionsstrategien zulassen.“62

Zudem wirft die Tatsache, dass in vielen zeitgenössischen künstlerischen Ansätzen fotografische Bilder mit anderen Medien vermischt werden, grundsätzlich die Frage auf, inwiefern eine Untersuchung von Medienspezifika, wie sie auch in der vorliegenden Analyse vorgenommen wird, überhaupt noch sinnvoll und zeitgemäß ist. Stremmel betont diesbezüglich, dass eine solche Vorgehensweise durchaus sinnvoll sein kann, „da der reflektierte Umgang von Fotografen mit ihrem Medium starke Eigenständigkeit zeigt“.63 Hinzu kommt eine Entwicklung in der musealen Ausstellungspraxis, in der sich eine neue Qualität im Umgang mit fotografischen Bildern zeigt: Haben Fotografien in zeitgenössischen Museen bereits ihren festen Platz gefunden, so werden seit einigen Jahren Ausstellungen beliebt, die, wie Realidades, fotografische Bilder in Museen integrieren, deren Sammlungen bis ins Mittelalter zurückreichen.64 Diese Entwicklung erscheint zunächst als logische Folge der Re-Inszenierung klassischer Werke in der Fotografie. Sie ist jedoch insbesondere auch Anzeichen eines Bildverständnisses, dass die ikonischen Qualitäten des fotografischen Mediums anerkennt. Es findet demnach durchaus eine Art von medialer Sakralisierung statt – entgegen der oben postulierten Sakralisierung der Fotografie als Kunst liegt der Fokus hier jedoch auf der Auslotung des ikonischen Potentials fotografischer Bilder nachdem ihre Anerkennung als Kunst bereits stattgefunden hat. So erscheint auch Gonnords Ansatz eher als bewusste Verschmelzung der ikonischen und indexikalischen Fähigkeiten innerhalb des Mediums Fotografie, denn als simple Annäherung an die Malerei oder direkte Übernahme piktorialistischer Bildstrategien. Gonnords Fotografien re-inszenieren nicht einzelne Gemälde, sie verwenden vielmehr Stilzitate65, deren Übereinstimmung mit Werken der bildenden Kunst im Prozess der Ausstellung offengelegt wird, bei gleichzei62 STREMMEL 2000, S. 11. 63 STREMMEL 2000, S. 17. 64 2011 zeigte beispielsweise der italienische Fotograf Mimmo Jodice im Louvre Portraits von Museumsangestellten im Dialog mit barocken Gemälden der Sammlung, Ausstellung: Mimmo Jodice. Les yeux du Louvre, Louvre, Paris, 19.05.-15.08.2011. Die Gründe für eine derartige Ausstellungspraxis wären separat zu untersuchen, es ist zu vermuten, dass es unter anderem auch um die Erschließung neuer Zielgruppen geht. 65 Zum Thema der Stilkopisten vgl. CRIMP, Douglas (1982): Die aneignende Aneignung, in: KEMP, Wolfgang, VON AMELUNXEN, Hubertus (Hg.): Theorie der Fotografie. Band I-IV 1839-1995, München 2006, Bd. IV, S. 250-255.

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tiger Beibehaltung der medialen Fähigkeiten fotografischer Bilder. Er übernimmt den sogenannten Rembrandt-Effekt, lässt seine Bilder jedoch nicht unscharf werden, sondern setzt auf klare Detailsprache. Die Fotografie muss sich der Malerei nicht mehr annähern, sie kann vielmehr aus ihrem Fundus schöpfen, Elemente integrieren, kommentieren oder über sie hinaus gehen. Die Medien treten somit in einen gleichwertigen Dialog und können in der Auslotung ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestimmte Themen durch die Jahrhunderte befragen.66 Im Dialog wird hier das Verhältnis von „Wiederholung und Differenz“67 zwischen den Werken ausgelotet und ein übergeordneter gemeinsamer Nenner gesucht. Die Gegenüberstellungen von Gemälden und Fotografien innerhalb von Ausstellung und Katalog von Realidades verweisen somit, über die vielschichtig sakralisierenden intermedialen Bezüge hinaus, auf epochenübergreifende Themen und Zeichen in Malerei, Fotografie und Skulptur: „Pierre Gonnord is fundamentally a portraitist who, in his work, brings back the tradition of portraiture, showing us the considerable persistence of certain existing codes in the representation of particular identities and in the manner of capturing or revealing their inner being and personality, that is: the character of the photographed subject’s soul.“68

Abseits der Frage nach künstlerischen und medialen Hierarchien werden hier die Fähigkeiten fotografischer Bilder in der Fokussierung auf epochen- und medienübergreifende Themen ausgelotet und im medialen Austausch das ikonische Potential fotografischer Bilder hervorgehoben und bewusst verwendet. So dienen Gonnords fotografische Portraits innerhalb der Ausstellung Realidades dazu, die Langlebigkeit sakraler Bildlichkeit zu bestätigen und zugleich als Bildchiffren im Kontext säkularer Realität zu visualisieren. Im Folgenden soll das mittels eines solchen Vorgehens inhaltlich referenzierte Konzept von Heiligkeit näher untersucht und in Bezug zu den indexikalischen und ikonischen Spezifika fotografischer Bilder gesetzt werden.

66 Vgl. CORRAL, María de: Dialogs in Time, in: Ausst.Kat.: Realidades. Fotografias de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, Museo de Bellas Artes, Sevilla, 2006/2007, S. 20-21, S. 20. 67 So der ursprüngliche Titel der als Dissertation angenommen Publikation von Kerstin Stremmel, vgl. STREMMEL 2000. 68 CORRAL 2006, S. 20.

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5.2.2 Ikonische Vorstellungsbilder: Das Heilige als Reales „Our intention has been to bring out the relevance of works from the past and the dialog they establish with the art of our time.“69 MARÍA DE CORRAL

An den Fotografien Gonnords wird somit deutlich, dass sakrale Codierungen des Heiligen medienüberschreitend eingesetzt werden können, wobei es weniger Symbole, also festgelegte Zeichen sind, derer Gonnord sich bedient. Vielmehr ist die visuelle Ähnlichkeit in Physis, Stil, Farbe und Form als ikonische Qualität des fotografischen Bildes zu lesen. Nach Charles Sanders Peirce gleicht das ikonische Zeichen einem „Vorstellungsbild“70 und kann sich damit auch auf fiktionale Objekte oder Ideen beziehen.71 In seiner Analyse zur Bildwirklichkeit inszenierter Fotografien betont Lars Blunck, dass das „in der sprachanalytischen Philosophie viel zitierte Bild eines Einhorns“ folglich „nicht unbedingt einem Einhorn ähnlich“ sei, „sondern dem Vorstellungsbild, das wir von einem Einhorn haben.“72 In diesem Sinne sind auch die von Gonnord Portraitierten keine Heiligen, ihr Bild gleicht jedoch dem Vorstellungsbild, das der Betrachter von einer heiligen Person im Rahmen eines christlichen Narrativs haben kann. Inwiefern diese nun einer historischen Realität angehörig, gänzlich fiktiv oder Teil einer „ganz anderen“73 Realität war, sei dahingestellt – für die Fotografien ist es relevant, dass die Portraitierten eine über ihre eigene Person hinausgehende Rolle einnehmen, die eine in der Gegenwart fiktive Bildwirklichkeit erzeugt. Dass hinter Gonnords Auswahl der zu portraitierenden Personen bereits ein „Vorstellungsbild“ steht, betont auch María de Corral, die Kuratorin der Ausstellung Realidades: „[…] his criteria of selection, as he himself puts it, has less to do with his personal fantasies or his subconscious than with a clear concept. They are fictional beings that inhabit his mind“.74 Um diese Idee möglichst spezifisch umzusetzen, arbeitet

69 CORRAL 2006, S. 20. Die Kuratorin beschreibt das Konzept der Ausstellung Realidades. 70 PEIRCE 1986e, S. 113. Siehe hierzu auch Kapitel 2 der vorliegenden Arbeit. 71 Vgl. ECO 1977, S. 66. 72 BLUNCK 2010b, S. 14. 73 ELIADE 1998, S. 15. Im Sinne einer Realität des Heiligen. 74 CORRAL 2006, S. 20.

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Gonnord sehr genau an Pose und Aussehen seiner Sujets.75 Das Ergebnis ist weniger ein objektives Dokument als vielmehr eine subjektive Sichtweise auf die portraitierte Person.76 Blunck betont, wiederum unter Bezugnahme auf Peirce: „Etwas ist nicht ein Zeichen (gleich ob Ikon oder Index), sondern etwas wird für jemanden zum Zeichen.“77 Bei aller Subjektivität lässt sich die individuelle Interpretation des Künstlers jedoch, wie gezeigt werden konnte, im Ausstellungskontext an wiederkehrende visuelle Codierungen anschließen, beziehungsweise spielt mit eben diesen. Damit verbunden ist ein Hinweis auf die Art des Vorstellungsbildes, das in Gonnords Fotografien zur Erscheinung kommt. So ist beispielsweise die von der Figur des Heiligen Bruno (Abb. 5.6) auf Jack (Abb. 5.5) transferierte religiöse Valenz mit einer bestimmten Semantik aufgeladen. Zunächst macht die ihm zugeschriebene Qualität, im christlichen Sinne ‚heilig‘ zu sein, allgemein auf eine bestimmte Lebensführung aufmerksam. Wie in Kapitel 2.1.2 unter Rekurs auf Wendel erläutert, versinnbildlicht Leben und Handeln Jesu die Heiligkeit Gottes und dienen gewissermaßen als Leitfaden für Gleichheit, Nächstenliebe und den Verzicht auf Herrschaftsansprüche.78 Als Gründer des Kartäuserordens war Bruno spezifisch bekannt für seine Hingabe an Gott, welche mit der strikten Entsagung weltlicher Freuden und einer Fokussierung auf innere Werte einherging.79 In der interpretativen Übertragung können diese Qualitäten auch der Fotografie zugeschrieben werden: In diesem Sinne liegt der Fokus auch bei Jack auf innerlichen Aspekten und einer Ausrichtung hin zum Transzendenten und Geistigen. Gonnord hebt explizit die Fähigkeit fotografischer Bilder hervor, Realität nicht nur abzubilden, sondern sie auch zu transformieren und zu formulieren. So spricht er in dem Zitat, dass auch der Einleitung dieses Analysekapitels vorangestellt ist, von dem Portrait als idealisierender „Utopie“, die in der Lage sei, die an „das Gesicht des Heiligen“ ge-

75 „[Gonnord] works very meticulously on what we would call their fashion designs and poses. We know how carefully he chooses his models according to the nature of his project“, DE GOUVION SAINT-CYR 2006, S. 29. Zugleich streitet Gonnord jeglichen Eingriff in dieser Hinsicht ab: „I never do fashion design in my photos. People bring their own clothing“, Gonnord in: NAVARRO 2006, S. 43. 76 „He redefines the portrait as a way of registering the artist’s personal responses to the subject, and that is how he transforms it from an objective document into a frankly subjective one.“ CORRAL 2006, S. 21. 77 BLUNCK 2010b, S. 13. 78 Vgl. WENDEL 2011, S. 173f. 79 Vgl. BRAY 2009, S. 33f.

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koppelte, zeitlos und universell gültige Idee einer „common humanity“ bildlich zu kondensieren.80 Im Ausstellungskontext wird die Gegenüberstellung von Zurbaráns Gemälde des Heiligen Bruno und der Fotografie Jack dazu verwendet, diese conditio humana durch das Gesicht des Heiligen zeitübergreifend zu vermitteln. Es handelt sich um einen Sakraltransfer, der neben direkter religiöser Valenz über die Figur des Mönchs mit dem übergreifenden Konzept der conditio humana auch religionsaffine Themen anspricht, wie Volkhardt Krech sie herausstellt.81 Das mit dieser Idee verbundene Konzept christlich geprägter Heiligkeit steht in einer langen Geschichte sakraler Bilder und Symbole. So trat im Christentum ab dem 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. die Figur des Märtyrers (abgeleitet vom griech. Martys, Zeuge) vermehrt in Erscheinung: Wie Sigrid Weigel hervorhebt, „geht der christliche Märtyrer zurück auf seine Rolle als Zeuge der Passion CHRISTI und deren Deutung als Sühneopfer. Der Märtyrer stellt sich in die Nachfolge dieses Urbildes eines ,Opfers für‘ das er bezeugt.“82 Märtyrer und damit viele christliche Heilige sind demnach zunächst „Figuren des Erleidens“83, deren imitatio Christi einen Lebensweg voller Opfer und Entbehrungen impliziert, bevor sich später durch die Kreuzzüge das Bild des „Soldaten Christi“84 formte. Nach Krech sind solche Themen oder Beziehungsstrukturen religionsaffin, „die Religion anziehen oder nahe legen, aber noch nicht religiös sind.“85 Leid und Erleiden sind als „biographische oder kollektive Krisensituationen“86 als Teil der conditio humana nicht per se religiös, jedoch über das Konzept des christlichen Märtyrers stark religiös eingebunden. Das Leid als Teil der conditio humana lässt sich somit den religionsaffinen Themen zuordnen. Innerhalb der Ausstellung Realidades sucht Gonnord mittels der beschriebenen intermedialen Bezüge und visuellen Ähnlichkeit ein in der Tradition des christlichen Heiligenbildes stehendes, zeitübergreifendes menschliches Idealbild zu erzeugen, ohne auf eindeutige Symbole auszuweichen. Indem Jacks Portrait über Bruno auf den Bereich des Transzendenten Bezug nimmt und die fotografisch festgehaltene Realität, die reale Person Jack, ästhetisch überformt, transformiert Gonnord den Portraitierten in ein ikonisches Vorstellungsbild einer 80 GONNORD, KNIGHT 2011, o. S. 81 Vgl. KRECH 2003, S. 55. Nadine Böhm bezieht religionsaffine Themen ebenfalls in ihre Analyse mit ein, vgl. BÖHM 2009, S. 106f. 82 WEIGEL 2007b, S. 11-12. 83 WEIGEL 2007b, S. 12. 84 WEIGEL 2007b, S. 12. 85 KRECH 2003, S. 55. 86 KRECH 2003, S. 55.

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eben solchen conditio humana. Er schließt damit in das der Realität indexikalisch verbundene Foto vielfältige, auch imaginäre Realitäten mit ein. Gonnords Portraits stellen somit eine aktive Auslotung des ikonischen Potentials fotografischer Bilder dar, wobei der Bezug zu einem „heiligen“ Ideal innerhalb der Ausstellung Realidades durch die ersichtliche Referenz auf Bilder des Christentums offengelegt wird. Darüber hinaus kann jedoch auch das einzelne Foto, in Abhängigkeit von der kulturellen Vorprägung des Betrachters, als ikonisches Vorstellungsbild fungieren. Über diese Visualisierung einer das eigene Selbst transzendierenden Qualität, der von Gonnord genannten „Utopia“87, wird Jack gewissermaßen ‚zum Heiligen‘ sakralisiert. Mit Wendel gelesen, unterstreicht Gonnord die Möglichkeit jeden Menschens, potentiell „heilig“ zu sein.88 Unterstützt wird diese Erhöhung durch die in der Analyse herausgearbeitete auratische Aufladung mit visuellen Mitteln wie dem Hell-Dunkel oder der Größe der Abbildung, die hier fast einer Bedeutungsgröße zu entsprechen scheint. Fotografien wohnt immer ein Rest der dem Bild vorläufigen Realität inne (und sei es auch nur in unserer Handhabung fotografischer Bilder); diesen indexikalischen Charakter der Fotografie zu verleugnen, wäre, um erneut mit Lars Blunck zu sprechen, „töricht“89. Werden in Gonnords Bildern die ikonischen Qualitäten der Fotografie betont und die Fortschreibung der visuellen Codes des christlichen Narrativs von einem ins andere Medium mittels intermedialer Bezüge impliziert, so generieren die Fotografien ihre Wirkmacht doch aus ihrer Medienspezifik. „Pierre Gonnord is a photographer whose portraits imply an enormous historical baggage, but, as he himself explains, he uses this knowledge to make a portrait a living work that manages to capture you with its strong corporal and spiritual presence, but that also knows how to maintain a skillful and enigmatic distance.“90

87 GONNORD, KNIGHT 2011, o. S. 88 „[D]ie Tatsache, dass es immer wieder Menschen gibt, die wir deshalb als heilig bezeichnen, weil sie es vermochten, unter den Bedingungen der Existenz die Vollkommenheit und damit die Heiligkeit Gottes in ihrem Leben auscheinen zu lassen, zeigt, dass es dem Menschen zumindest potentiell möglich ist, ein ‚heiligmäßiges Leben‘ zu führen.“, WENDEL 2011, S. 173. In der Form der Vollkommenheit weicht eine solche Interpretation jedoch bis zu einem gewissen Grad von einem am Leiden Christi orientierten Märtyrerbild des Heiligen ab. 89 BLUNCK 2010b, S. 8. 90 CORRAL 2006, S. 21.

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Die starke Präsenz der Fotografien Gonnords, von denen die Kuratorin der Ausstellung, María de Corral, hier spricht, beschreibt sie als sowohl spirituell als auch körperlich. In Bezug auf den Körper zeichnen sich Gonnords Fotografien durch einen sehr genauen Blick auf die Gesichter der Portraitierten und die Spuren, die das Leben in diesen hinterlassen hat, aus: Falten, Poren, Altersflecken und Wunden – alles ist sichtbar und durch Farbe und Schärfe genau konturiert, wie in den bereits besprochenen Fotografien Eli oder Michel (Abb. 5.1 und 5.10) deutlich wurde. Diese Bilder zeichnen sich demnach trotz der Betonung ihrer ikonischen Fähigkeiten durch einen eindeutigen Wirklichkeitsbezug aus, der die indexikalischen und mimetischen Fähigkeiten des Mediums voll ausschöpft. In der Ausstellung Realidades konvergiert diese Darstellung mit dem Sammlungsschwerpunkt des Museo de Bellas Artes de Sevilla, der im spanischen Barock liegt. Da dieser zugleich Gonnords primäre stilistische Referenzquelle bildet, lässt sich das von ihm implizierte Vorstellungsbild einer christlich geprägten conditio humana weiter konkretisieren. So wurde in Renaissance und Barock das genannte christlich geprägte Märtyrer-Dispositiv des Erleidens visuell in einem äußerst realistisch geprägten Darstellungsstil kondensiert91: In Italien bediente sich Caravaggio des Mannes von der Straße als Vorbild für seine asketischen Heiligendarstellungen, während der spanische Barock, insbesondere in Sevilla und durch die Nähe zur Kunst der polychromen Skulpturbemalung, die realistische Darstellungsweise des leidenden Körpers perfektionierte.92 Das Heilige wird hier explizit als im Realen Präsentes, beziehungsweise in seiner potentiellen Erscheinungsform in der Realität dargestellt, wie Xavier Bray im Katalog zur Ausstellung The Sacred Made Real ausführt, die sich den mannigfaltigen Interferenzen zwischen polychromer Skulpturbemalung und Malerei im spanischen Barock widmete.93 Auch Wendel hebt in ihrer Analyse der Heiligkeit Gottes her-

91 Vgl. CANO 2006, S. 17. 92 Vgl. CANO 2006, S. 17 sowie Ausst.Kat. Sacred Made Real 2009/2010. 93 Vgl. BRAY 2009, insbesondere S. 18: Bray beschreibt diesen „schockierenden Realismus“ in der skulpturalen Praxis: „Some sculptors introduced glass eyes and tears, and even ivory teeth. To simulate the effect of coagulated blood on the wounds of Christ, the bark of a cork tree, painted red, was often employed.“ Die explizite Darstellung diente der religiösen Versenkung der Gläubigen und der geistigen imitatio christi. Da, wie Bray hervorhebt, die spanischen Maler als Teil ihrer Ausbildung Skulpturen bemalen mussten und die Bemalung von Skulpturen im Allgmeinen nur durch Maler ausgeführt werden durfte, liegt es nahe, von einem direkten stilistischen Austausch auszugehen.

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vor, dass das Transzendente als durch Immanenz Vermitteltes, gewissermaßen „mitten im Bedingten zur Erscheinung kommt“.94 Daran anknüpfend, betonen Gonnords Fotografien sowohl ihre ikonischen als auch ihre indexikalischen Qualitäten. Fungiert der Körper, wie bei Michel und Eli als Spur einer individuellen Lebenswirklichkeit der Dargestellten, die sich in die Gesichtshaut eingeschrieben hat und diese in eine Art Landschaft transformiert, durch welche der Blick des Betrachters wandern kann, so handelt es sich um eine stark der Realität und dem Profanen verhaftete Form der Sakralisierung. Gonnord idealisiert und glättet nicht, sondern verlässt sich im Gegenteil auf die Fähigkeiten der Fotografie, die ‚raue‘ Individualität der Dargestellten abzubilden und sie gleichzeitig auratisch als Ort der Erscheinung des Heiligen aufzuladen. Für die von de Corral beschriebene Präsenzwirkung der Bilder ist der indexikalische Charakter des Mediums Fotografie essentiell: Die Dargestellten gewinnen als reale, aus dem Leben gegriffene Personen an Kontur, die stilisierten visuellen Referenzen auf und Ähnlichkeiten mit den Gemälden der Ausstellung werden als in der Realität verankert expliziert. Auch wenn die fingierenden Fähigkeiten des fotografischen Bildes heute selten in Frage gestellt werden, haftet doch insbesondere dem von Gonnord genutzten analogen Herstellungsprozess ein grundlegender Realitätsbezug an, der über die rein visuelle Ähnlichkeit hinaus im fotografischen Bildprozess begründet liegt.95 Ähnlich wie bei Nebreda findet über diese Form der realistischen Darstellung körperlicher Veränderungen und Versehrungen innerhalb von Gonnords Bildkonzept eine dreifache Überlagerung von Einschreibungen statt: Schreibt sich die Lebenswirklichkeit als Spur in die Haut der Dargestellten ein, so wird in einer zweiten Stufe diese Einschreibung abdruckhaft durch den fotografischen Prozess ins Bild gebracht.96 Das Heilige als Transzendentes, das sich nach Mircea Eliade theoretisch auf ähnliche Weise in Form einer Hierophanie manifestie94 WENDEL 2011, S. 167. 95 Aufgrund der vielfältigen Manipulationsmöglichkeiten des fotografischen Mediums (die natürlich grundsätzlich bereits seit den Anfängen des Mediums gegeben waren und dort auch angewendet wurden) dient der explizite Verweis auf einen analogen Herstellungsprozess insbesondere im künstlerischen Bereich der Stärkung der Glaubhaftigkeit der Fotografien (sowie auch der Fähigkeiten des Fotografen). So betont auch die Kuratorin der Ausstellung in Bezug auf Gonnords Arbeitsweise: „Pierre Gonnord takes his photos in a direct manner, distorting nothing when he captures the image, nor afterwards, when developing and printing the film.“, CORRAL 2006, S. 21. 96 Vgl. hierzu Kapitel 4; sowie FROHNE 2002.

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ren kann, wird hier thematisch ins Bild integriert.97 Diese dreifache Kopplung eines spurenhaften Einschreibungsprozesses impliziert die Möglichkeit einer Präsenz des Heiligen im Menschen und knüpft damit direkt an die genannte Darstellungstradition des spanischen Barocks an. Insbesondere bei Zurbarán geht diese Ausrichtung einher mit einer Fokussierung auf innere Werte, indem die eloquent ausgeführten, äußerst realistischen Körper und Figuren zugleich eine nach innen gewandte geistige Konzentration ausstrahlen.98 Diese Art von sakraler Visualität ist auf der Schwelle zwischen entzogener heiliger und immanenter profaner Sphäre lokalisiert, indem sie an der profanen Weltlichkeit des Körpers partizipiert, diese jedoch zugleich in Richtung Transzendenz und Geistigkeit zu überschreiten sucht. Gonnord greift dieses Konzept des im Körper des Märtyrers physisch-manifest aufscheinenden Heiligen auf, wie in der Ausstellung die direkte Gegenüberstellung des Portraits von Jack mit dem Gemälde Zurbaráns zeigt. In Michel und Eli findet die realistische Bildsprache ebenso wie Zurbaráns Farbpalette Verwendung. Indem Gonnord diese Idee des Heiligen im Profanen im fotografischen Medium umsetzt, impliziert er, dass sich die Fotografie aufgrund ihrer Möglichkeiten, direkte Realitätsbezüge mit imaginärem Potential zu vereinen, also zugleich dokumentarisch und inszenierend zu wirken, besonders gut für das Sujet eignet. Welchen Effekt hat eine solche Gegenüberstellung, wie sie sich mehrmals in der Sammlung wiederholt, auf das Gemälde? Aufgrund des analogen Herstellungsprozesses und des indexikalischen Realitätsbezugs fotografischer Bilder wäre denkbar, dass die Fotografien einen desakralisierenden Effekt ausüben, da sie das Sujet der Gemälde in einem Medium aufarbeiten, das eng an die profane Sphäre der alltäglichen Welt geknüpft ist. Tatsächlich scheint jedoch eine gegenteilige Lesart der Fall: Die gemalte Figur des Heiligen Bruno erhält über die Fotografie eine neue Lebensnähe.99 Medienübergreifend scheint sich somit die Idee einer am christlichen Heiligen orientierten conditio humana zu vergegenwärtigen. Die in den Gemälden und Skulpturen dargestellten Personen werden gewissermaßen als Zeitgenossen des Betrachters ‚zum Leben‘ erweckt:

97 Vgl. hierzu Kapitel 4.2. 98 In Sevilla war Zurbarán bekannt als „painter par excellence of saints and the monastic life“, da es ihm gelang die Mönche realistisch darzustellen und zugleich ihre tiefe Versenkung im Gebet zu vermitteln, Ausst.Kat. Sacred Made Real 2009/2010, S. 197. 99 Vgl. hierzu NAVARRO 2006, S. 42.

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„I’m not trying to reconstruct the true story of what they represent, but rather something equally imaginative. I enjoy imagining that, when visitors see Ahmed –an Algerian I met in a soup kitchen- alongside La Dolorosa and Saint Jerome by Murillo, they might think he is a saint. And the other way around: in looking at La Dolorosa, you see a woman who had a life that may have been easier or harder, smoother or more eventful.“100

Auf einer Metaebene entfaltet das Konzept der Ausstellung somit die Idee der ‚Spuren des Heiligen im Menschen‘. Der Betrachter begegnet einer Überlagerung verschiedenartiger Realitäten, in der das Heilige als „ganz ander[e]“101 Realität, das Physische als diesseitige Realität, sowie die subjektive Realität des jeweiligen Individuums, sei es Dargestellter oder Betrachter mit den verschiedenen medialen Realitäten konvergieren.102 Der Ausstellungstitel Realidades spielt mit diesen Aspekten und führt darüber hinaus das ikonische Potential des fotografischen Bildes als Möglichkeit des Entwurfs von Vorstellungsbildern und Bildwelten und den indexikalischen Charakter des Mediums als Realitätsverankerung zusammen. Mit der Wahl des Titels stellt sich Gonnord dabei noch einmal in die Tradition des sevillanischen Barocks und insbesondere Zurbaráns, der, so Bray, mit seinen skulptural anmutenden Figurendarstellungen seine Betrachter einlädt, bewusst verschiedene Realitätsebenen wahrzunehmen.103 Auch Gonnords Integration malerischer und skulpturaler Stilelemente in das fotografische Medium ist in dieser Tradition zu sehen: „[I]n showing off his skill he is effectively demonstrating that painting can not only do what sculpture can naturally do, but can also play with the different levels of reality in a way that a sculpture can not aspire to emulate.“104 In diesem Sinne könnte der Titel als Anspielung auf eine 100 Gonnord in NAVARRO 2006, S. 45. Die angesprochenen Gemälde von Murillo finden sich im Ausst.Kat. Realidades 2006/2007, S. 90 und S. 91; Ahmed vgl. Abb. 5.8. 101 ELIADE 1998, S. 15. 102 Eine Überlagerung solch verschiedener Realitäten und ihre Sichtbarwerdung am Körper sowie dessen Versehrung im Kontext eines religiösen Narrativs vom ‚heiligen Krieg‘ und seinen medialen Abbildern findet sich auch in den Bildern des 11. September 2001. Der menschliche Körper als ‚Werkzeug‘ und Mittler des Heiligen sowie das Konzept des Märtyrertums werden seitdem wieder bewusster und als prägende Faktoren der Lebensrealität der (westlichen) Welt rezipiert. Beispielhaft sei an dieser Stelle auf das DFG-Forschungsprojekt „Figurationen des Märtyrers“ (2005-2013) des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin verwiesen. Vgl: http://www.zflberlin.org/maertyrer.html (04.08.2018). 103 BRAY 2009, S. 36. 104 BRAY 2009, S. 36.

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Paragone, die bei Zurbarán begann und die Gonnord mit und im fotografischen Bild fortsetzt, gelesen werden.

5.2.3 Gestische Sakralisierung: Der Blick als religionsaffiner Marker innerer und äußerer Bewegung „A look is something as alive as the sea, with its waves and tides, and which changes all the time. It is something immeasurable, and that is what interests me. […] the photo session is a ritual, like a fisherman on that sea.“105 PIERRE GONNORD

Dienen die intermedialen visuellen Referenzen als kontextualisierender Rahmen und Bezugspunkt für ein übergelagertes Narrativ, so scheint im Blick der Portraitierten als wiederkehrendem Bildelement der einzelnen Fotografien die Essenz dessen zu kulminieren, was Gonnord als conditio humana bezeichnet. Im Folgenden soll die besondere Eigenart und Wirkung dieses Blicks betrachtet und sein enges Verhältnis zum Heiligen herausgearbeitet werden. Fungiert der Blick als eine Art sakralisierender semantischer Nukleus der fotografischen Portraits? Dieser Frage soll unter Rekurs auf Volkhard Krech, Klaas Huizing und Georges Didi-Huberman näher nachgegangen werden. Wie in den Analysen herausgearbeitet, ist der Blick in den meisten von Gonnords Portraits ernst und zugleich intensiv, manchmal sinnierend in die Ferne gerichtet, meist jedoch direkt dem Betrachter zugewandt und gleichzeitig nach innen gerichtet. „Leonardo da Vinci beschreibt das Auge als Fenster der Seele, die Gebrüder Grimm notieren in ihrem Deutschen Wörterbuch, das Fenster ähnele ‚einem Auge des Hauses, das Auge einem Fenster des Leibs‘.“106 Der Blick in den Fotografien Gonnords kann in diesem Sinne als Einblick in die innere Gefühlswelt, die Seelenbewegungen des Menschen gelesen werden.107 Einigen der

105 Pierre Gonnord in: DOCTOR, GONNORD 2008, S. 44. 106 MÜLLER-SCHARECK, Maria: Fresh Widow. Die Idee des Fensters als ‚Ausgangspunkt‘, in: Ausst.Kat.: Fresh Widow. Fenster-Bilder seit Matisse und Duchamp, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 2012, S. 19-34, S. 21. 107 Rafael Doctor bespricht einen ähnlichen Aspekt ebenfalls im Interview mit Gonnord, indem er das Gesicht nach einem spanischen Sprichwort als „mirror of the soul“ bezeichnet. Gonnord entzieht sich dieser Interpretation teilweise, indem er Alberto

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Abb. 5.16: Dorothea Lange, Migrant Mother (Nepomo, Kalifornien), 1936, Schwarz-Weiß-Fotografie

Bilder, so beispielsweise Ahmed (Abb. 5.8), ist ein Blickschema zu eigen, das sich ähnlich auch in sozialdokumentarischen Fotografien findet, etwa in Dorothea Langes Migrant Mother (Abb. 5.16): Der Blick geht sinnierend an dem Betrachter vorbei in die Ferne, die Stirn ist gerunzelt und Falten zeigen sich um die Mundwinkel. Grundsätzlich lässt sich dieser Blick als Ausdruck eines nicht momenthaften, sondern dauerhaften Leidens erkennen, dem der Mensch ausgesetzt und das eng an die conditio humana geknüpft ist. Dieses ist in mehreren Aspekten abhängig vom Heiligen. So kann die conditio humana als zu einer übergeordneten Macht, nämlich der des Heiligen, im Verhältnis stehend begriffen werden – eine Relation, die Rudolf Otto mit dem Begriff der „schlechthinnigen Abhängigkeit“108 zu konturieren suchte. Die sozialdokumentarische Fotografie wird laut Abigail Solomon-Godeau oft von dem Wunsch getragen, den Men-

García Alix zitiert: „the face does not reflect the soul!“ und sie als nur „partly correct“ kommentiert. DOCTOR, GONNORD 2008, S. 60f. 108 OTTO 2014, S. 12.

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schen als „würdiges“ Opfer darzustellen, mit dem Ziel, die Hilfsbereitschaft des Betrachters zu aktivieren.109 Impliziert wird auf diese Weise, dass der Dargestellte nicht durch eigenes Verschulden in Not geraten sei, sondern durch Ereignisse, die außerhalb seines Machtbereichs liegen – was wiederum erlaubt, die einem solchen Konzept zugrunde liegende Kräftekonstellation als eine grundsätzliche Abhängigkeit, beziehungsweise als Ausgeliefertsein des Menschen gegenüber einer höheren Macht zu verstehen. Diese kann, abhängig von den Gegebenheiten, sich in äußeren, menschengemachten Systemen zeigen, oder Folge schicksalhafter Ereignisse sein – also von einer transzendenten Macht im Sinne eines Heiligen in Abhängigkeit stehen. Auch die intermedialen Referenzen innerhalb der Ausstellung, die auf ein christliches Heiligenkonzept Bezug nehmen sowie der explizite sprachliche Verweis Gonnords auf die Visualisierung der conditio humana mittels der „Gesichter der Heiligen“110 dürfen in dieser Hinsicht interpretiert werden. Der letzte Punkt verdeutlicht, dass eine Visualisierung der conditio humana eng an den Bereich des Sakralen, als Sichtbarwerdung des Heiligen geknüpft ist, beziehungsweise sich in eben jenen Codes visualisieren kann. Im Christentum ist, wie oben beschrieben, das Leid als konzeptueller Teil des Martyriums, das den auserwählten Menschen zum Heiligen werden lässt, ihn erhöht, eminent. Im Blick der Gonnord’schen Figuren kulminieren diese vielschichtigen Facetten der conditio humana zu einem Ausdruck der Erhöhung und Idealisierung. Es geht demnach weniger um einzelne visuelle Referenzen und singuläre Bezugnahmen zwischen den Bildern und ihrem jeweiligen Sujet, sondern um eine grundlegende Relation des Menschen zum Heiligen. Die Universalität dieses idealisierten inneren Ausdrucks verdeutlicht sich mittels der seriellen Reihung innerhalb der Ausstellung Realidades im Vergleich der verschiedenen Körper. Die Gleichförmigkeit der meisten Bilder in Format, Hintergrund und Beleuchtung dient dabei, wie Rafael Doctor im Gespräch mit Pierre Gonnord hervorhebt, durch ihre Konstanz als fast unsichtbare Folie, vor der sich die Spezifika der einzelnen Körper als Differenz umso mehr abheben können: „By constantly using and repeating the same pattern, what you do is remove that pattern. […] All that remains is the person.“111 Als Anhaltspunkt innerhalb der verschiedenen Gesichter, als wiederkehrender Fokuspunkt, der gewissermaßen eine ‚sich wandelnde Konstante‘ darstellt, dient dabei der Blick, 109 Vgl. SOLOMON-GODEAU, Abigail: Wer spricht so? Einige Fragen zur Dokumentarfotografie, in: WOLF, Herta (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt am Main 2003, S. 53-74, S. 67. 110 GONNORD, KNIGHT 2011, o. S. 111 DOCTOR, GONNORD 2008, S. 39.

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der zwar individuell variiert, jedoch zugleich stets an der übergeordneten conditio humana partizipiert: Egal welches Alter oder Geschlecht, welche Hautfarbe oder welcher kulturelle Hintergrund, der gleiche erhöhte innere Ausdruck scheint alle Körper ausfüllen zu können. Die ‚Spuren des Heiligen im Menschen‘ sind demnach zugleich individuell und übergreifend deutbar. Mit Nadine Böhm lässt sich der Blick in den Fotografien Gonnords als gestische Sakralisierung112 lesen, die zwischen dem Fotografen, den Dargestellten und den Betrachtenden einen verbindenden Erfahrungsraum entfaltet. Gesten können insofern als Sakralisierungen gedeutet werden, als dass sie religionsaffine Themen auf Basis menschlicher Interaktion kondensieren.113 Als solche können sie inszeniert und analysiert werden. Für ihre Ausführungen greift Böhm auf religionswissenschaftliche Überlegungen Volker Krechs sowie medientheologische Ansätze Klaas Huizings zurück, die auch in Bezug auf Gonnords Fotografien von Relevanz sind.114 So sind, wie oben beschrieben, nach Krech solche Themen oder Beziehungsstrukturen religionsaffin, „die Religion anziehen oder nahe legen, aber noch nicht religiös sind.“115 Leid und Erleiden sind über das Konzept des Märtyrers und als Teil der conditio humana den religionsaffinen Themen zuzuordnen. Wird diese spezifische Ausformulierung der conditio humana als Abhängigkeitsstruktur des Erleidens an den Blick gekoppelt, wie in den Portraits Gonnords, so entsteht im Grund eine Dopplung mit einer religionsaffinen Beziehungsstruktur. Letztere sind nach Krech religionsaffin „wenn es um den Ausgleich von Nähe und Distanz geht [oder] weil sie die ganze Person der an den Interaktionen Beteiligten […] betreffen und zugleich elementare Sozialisierungsformen darstellen.“ In diesem Sinne ist der Blick eine elementare religionsaffine Beziehungsstruktur, da er, wie Durkheim hervorhebt, als Träger einer Interaktion dienen kann, da man „schon durch den Blick in Beziehung mit einem Ding treten [kann]: der Blick ist ein Beziehungsvorgang.“116 Stellt der Blick als Beziehungsvorgang oftmals die erste zwischenmenschliche Kontaktaufnahme dar, so prägte der Theologe und Kirchenreformer Nikolaus von Kues im Jahre 1453 mit seiner Ab112 Vgl. BÖHM 2009, S. 106-111; sowie Kapitel 2.1.3 dieser Arbeit. 113 Vgl. BÖHM 2009, S. 106-111, insbesondere S. 107: „Auch die Inszenierungen religionsaffiner Themen werden hier als Sakralisierungen konzipiert, die auf menschlicher/figürlicher Interaktion basieren und mit Klaas Huizing auf einer konkreten Ebene als einzuverleibende Gesten verstanden werden können.“ 114 Vgl. KRECH 2003 und HUIZING, Klaas, RUPP, Horst (Hg.): Medientheorie und Medientheologie, Münster 2003; sowie HUIZING 2002. 115 KRECH 2003, S. 55. 116 DURKHEIM 1981, S. 412.

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handlung De Visione Dei – Die Gottes-Schau gewissermaßen eine Theologie des Blicks mit Bezug auf seine bildliche Ausformung.117 So schrieb er über eine Darstellung des Antlitzes Christi, das die besondere Eigenschaft besaß, dem Betrachter von jeder Position aus das Gefühl zu vermitteln, angesehen zu werden. In diesem Potential des Blicks, mit jedem Betrachter eine Beziehungsstruktur einzugehen, sah Nikolaus von Kues ein Gleichnis für Gottes Blick auf den Menschen.118 Die Formulierung des Blicks als dynamischer, interaktiver Vorgang setzt sowohl einen Schauenden als auch einen Empfänger119 voraus, die ihn aktiv ausführen oder wahrnehmen. Nach Gunter Gebauer und Christoph Wulf sind Gesten „körperliche Darstellungs- und Ausdrucksbewegungen von unterschiedlicher Intensität.“120 Als minimalisierte körperliche Bewegung mit großem Eindruckspotential lässt sich der Blick auf dieser Basis als Geste begreifen. Böhm beschreibt Gesten zudem als implizite, abstrahierte Berührungen, die „den anderen zum eigenen Körper in Bezug setzen“ und so eine direkte „Wirkung auf den eigenen Körper“ entfalten können.121 Klaas Huizing untersucht in seinen medientheologischen Schriften mediale Inszenierungen religionsaffiner Gesten und Themen in audiovisuellen Medien.122 Tradierte oder festgelegte Gesten fasst er in Anschluss an Aby Warburg als affektive Pathosformeln123, die er aufgliedert in weitestgehend allgemein verständliche „ikonische Gesten“ und „inszenierte Gesten“, die „ohne eingehendes kul-

117 VON KUES, Nikolaus (1453): De Visione Dei – Die Gottes-Schau, in: Ders.: Philosophisch-Theologische Schriften, hrsg. von Leo Gabriel, Freiburg 2014, Band III, S. 93-219. 118 VON KUES 2014, S. 95 und S. 129. 119 Wie Durkheim verdeutlicht, muss es sich dabei nicht um Subjekte handeln. 120 GEBAUER, Gunter, WULF, Christoph: Spiel – Ritual – Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Hamburg 1998, S. 85, zitiert nach HUIZING 2002, S. 104. 121 BÖHM 2009, S. 107. Sie bezieht sich für den letzten Punkt auf Maurice MerleauPonty und Bernhard Waldenfels, vgl. WALDENFELS, Bernhard: DeutschFranzösische Gedankengänge, Frankfurt am Main 1955, S. 348. 122 Vgl. HUIZING, RUPP 2003; sowie HUIZING 2002. 123 Die Pathosformel nach Warburg ist eine bildhafte Gebärde, die für eine starke innere Gefühlsregung steht, welche sich im gestisch bewegten Ausdruck eines Körpers ausformt, vgl. WARBURG, Aby: Dürer und die italienische Antike (1905), in: Ders.: Werke in einem Band. Auf der Grundlage der Manuskripte und Handexemplare hrsg. und kommentiert von Martin Treml, Sigrid Weigel und Perdita Ladwig, Berlin 2010, S. 176-183, S. 177.

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turspezifisches Wissen oft nicht decodierbar sind“.124 Einfache ikonische Gesten sind nach Huizing „offensichtlich nicht eng regional begrenzt und in gewissem Sinne transkulturell […] wie eine erhobene Faust, das Stirnrunzeln, ein durchbohrender Blick.“125 Huizings Ansatz impliziert eine Betrachtung des Blicks als Pathosformel – eine Definition, die im Falle Gonnords eine übermäßige Dehnung des Begriffs und der Anwendungsgebiete der Pathosformel voraussetzen würde, die nach Warburg ursprünglich das Aufgreifen antiker Formeln in der italienischen Frührenaissance bezeichnet. In der Sekundärliteratur hat der Begriff zwischenzeitlich ein großes Eigenleben entfaltet. Eine fruchtbare Lesart bietet neben Huizing, der den Begriff zwar verwendet, jedoch nicht weiter erläutert, Georges DidiHubermans seit ihrem Erscheinen weit rezipierte Publikation Das Nachleben der Bilder.126 Ohne den Blick in den Bildern Gonnords im Folgenden als Pathosformel postulieren zu wollen, erscheint insbesondere Didi-Hubermans WarburgLektüre doch aufschlussreich, um die Art der Kondensation innerer und äußerer Bewegung im Blick der von Gonnord Portraitierten besser zu verstehen. Nach Didi-Huberman fließen körperliche Gebärden, formale Details und Mimik der Figuren in das Konzept der Pathosformel mit ein.127 Der Blick als gestische Beziehungsstruktur, die zugleich im Gegensatz zur Mimik stillgestellt scheint, profitiert dementsprechend von ‚äußeren‘ Bewegungen. Didi-Huberman verarbeitet unter dem Stichwort der „Verschiebung“ Ideen Warburgs in dieser Hinsicht am Beispiel der eher „teilnahmslosen“ Figuren Botticellis, in denen die Bewegung nicht direkt über die Figur, sondern vielmehr über das „Beiwerk“ ausgedrückt wird: „‚Verschiebung‘ bezeichnet sehr gut das in den Gemälden des Florentiner Meisters so wirksame Darstellungsgesetz: Die ‚leidenschaftliche Seelenbewegung‘ oder die ‚innere Ursache‘ nimmt ihren Weg über die Darstellung ‚äußerlich bewegten Beiwerks‘, als suchte eine unbewußte Energie […] den Untergrund seiner Prägung in dem so ‚gleichgültigen‘, aber plastischen Material des Gewandes und des Haars.“128 124 HUIZING 2002, S. 102 und S. 107. 125 HUIZING 2002, S. 107. 126 Diese bietet zudem einen Überblick zur Publikationslage zur Pathosformel, vgl. DIDIHUBERMAN, Georges: Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, Berlin 2010, insbesondere S. 212-224. 127 Vgl. DIDI-HUBERMAN 2010, S. 54. 128 DIDI-HUBERMAN 2010, S. 268. Didi-Huberman zitiert aus Warburgs Dissertationsschrift, vgl. WARBURG, Aby: Sandro Botticellis ‚Geburt der Venus‘ und ‚Frühling‘. Eine Untersuchung über die Vorstellungen von der Antike in der italienischen Frühre-

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Die hier beschriebene Bewegung des Beiwerks – etwa in der wellenartigen Struktur der Haare der Venus – stellt tatsächliche physische Bewegung dar (das Wehen im Winde), die wiederum eine Gemütsbewegung impliziert. Finden sich solch explizite Bewegungsformen in den Fotografien Gonnords auch abseits der Hauptfiguren eher weniger, so wird doch im abstrahierten Sinne (auch physische) Bewegung dargestellt. Wie beschrieben, sind Falten und Furchen als Einschreibungen eines gelebten Lebens zu lesen, das einerseits über den singulären Moment einer einzelnen physischen Bewegung hinausgeht und sich andererseits in kleinen Wunden wie bei Michel (Abb. 5.10) verstärkt als zeitlich konzentrierte Form der bewegten Einwirkung manifestiert. Zudem ließen sich, dehnt man den Begriff der Bewegung etwas aus, auch der Einsatz des Lichtes in Form von spannungsgeladenen rot-grünen Farbmischungen und die dynamischen HellDunkel-Kontraste zu dieser Kategorie der impliziteren Repräsentation von Bewegung zählen. ‚Verschobene‘ Bewegungen dieser Art können die Intensität des eigentlichen Ausdrucks steigern: „Intensität entsteht oft durch eine Verschiebung, eine – in allen Bedeutungen des Wortes – deplatzierte Bewegung. Sie zeigt sich überraschend dort, wo man sie nicht erwartet, im Parergon des Körpers (Gewand, Haar) oder der Darstellung selbst (im Zierrat oder in architektonischen Elementen wie der Verzierung […])“129

In diesem Sinne lassen sich mehrere Elemente hervorheben, die in den Gonnord’schen Fotografien aufschimmern, verschiedene Bewegungsfacetten wachrufen und sich miteinander vermengen: Blick, Motiv, Farbe und Kontrast. Teilweise überlagern sich diese mit den anfangs herausgearbeiteten Mitteln der primären Sakralisierung. Im Blick der Portraitierten, der im Fokus des Bildes steht, verdichten sich die genannten abstrahiert-bewegten Elemente, die einzelnen Aspekte der inneren und äußeren Bewegung werden zentriert. Huizing hebt hervor, dass der jeweiligen medialen Vermittlung von Gesten „Verdichtungsleistungen“130 zugrunde liegen – im Falle Gonnords wird über die ästhetischen und formalen intermedialen Referenzen das im Blick kondensierte Eindruckspotential der fotografischen Bilder erhöht. Folgerichtig nennen sich Gonnords erste Galerieausstellungen sowie ein 2005 erschienenes Kompendium seiner Fotografien naissance (1893), in: Ders.: Ausgewählte Schriften und Würdigungen, herausgegeben von Dieter Wuttke, Baden-Baden 1980, S. 11-64, S. 13 und S. 62f. 129 DIDI-HUBERMAN 2010, S. 268. 130 HUIZING, Klaas: Legenden der Leidenschaft. Die neue Heimat der Religion im Film, in: HUIZING, Klaas, RUPP, Horst (Hg.): Medientheorie und Medientheologie, Münster 2003, Bd. 7, S. 86-97, S. 87.

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Regards131. Weder große Gebärde, noch momenthafte starke Emotion, kann diese innere Bewegung, wie oben herausgearbeitet, als stilles, in die Zeit gedehntes persönliches Pathos einer conditio humana verstanden werden, für welche in der Ausstellung Realidades die christlich-sakralen Formen einen Referenzraum bieten. Durch seine religionsaffine Aufladung und die herausgearbeitete Kondensierung innerer und äußerer Bewegung kann der Blick somit als sakralisierende Geste verstanden werden. Dienen die christlich-sakralen Formen gewissermaßen als „Seismograph“132, als Formel für die unterschwellige Energie des Heiligen, so ist dieses in der Übertragung auf die aus Einzelelementen im Blick kondensierte religionsaffine Geste Gonnords nicht religionsgebunden und doch, wie oben herausgearbeitet wurde, als etwas visualisiert, in dessen Abhängigkeit der Mensch steht. Das Heilige wird hier weniger mittels festgelegter Symbol-Formen ausgedeutet, sondern vielmehr als „Kraft“133 gegenübergestellt. Im Kontext der Ausstellung Realidades profitiert der Blick von den traditionellen Forme(l)n des Heiligen in den religiösen Gemälden und Skulpturen, zugleich ist er selbst weniger innerhalb eines festgeschriebenen religiösen Symbolsystems fixiert. Als zeichenhaftes Element befindet er sich auf der Schwelle zwischen ikonischem Potential des Bildes und symbolisch festgefügter Gebärde.134 Zu den Kommunikatoren religionsaffiner Gesten zählt Huizing generell legendarische Figuren in der Tradition Jesu, die „oft (sozial) stigmatisier[t]“ seien.135 Die bereits herausgearbeitete Korrespondenz der von Gonnord Portraitierten zu heiligen Figuren oder Märtyrern erhält mit diesem Aspekt eine Zuspitzung, die Gonnord mit seiner Beschreibung der Dargestellten als Menschen „dis131 GOUVIENT SAINT-CYR, Agnès (Hg.): Pierre Gonnord. Regards, Madrid 2005. 132 Didi-Huberman bezieht sich auf das Konzept des Seismographen, das auch unterschwellige, für den Menschen nicht direkt wahrnehmbare Kräfte in Formen überträgt, um die Beziehung der Wortzusammensetzung von „Pathos“ und „Formel“ näher zu umschreiben. DIDI-HUBERMAN 2010, S. 131ff. 133 Zum Begriff der „Kraft“ vgl. DIDI-HUBERMAN 2010, S. 201ff. 134 Hier wird ein zeichentheoretischer Symbolbegriff in der Tradition Peirce angesetzt, verstanden als Übereinkunft von Bedeutung, und lässt sich auf diese Weise auf das Medium Fotografie übertragen, vgl. Kapitel 2.2.1. 135 Huizing schreibt diesen Legenden zudem das Potential zu, einen entscheidenden Einfluss auf das Leben der Rezipienten ihrer Medialisierungen zu haben. Diese Interpretation erinnert an Schlettes Definition des Heiligen in der Moderne als dessen, was den Menschen unbedingt angeht. In Übereinstimmung mit Böhm 2009, S. 108f., scheint dieses Potential tatsächlich nur sehr bedingt gegeben. HUIZING 2003, S. 88; SCHLETTE 2009; sowie Kapitel 2.1 der vorliegenden Arbeit.

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tanced from society“136 aktiv aufruft. Über die randständige Positionierung der Dargestellten scheint religionsaffines Potential demnach auch im säkularen Kontext abrufbar zu werden.137 Mehr noch: Gerade durch ihre Randständigkeit scheinen die Figuren in der Lage, die von ihnen repräsentierten Gesten authentisch zu vermitteln. Besteht nach Huizing das Ziel der Vermittlung religionsaffiner Gesten in der Erfahrung von Authentizität, so lässt sich aus medialer Perspektive bei Gonnord die eindrucksvolle, fast hyperreale Abbildung der Gesichtskonturen mit ihrer Konzentration auf die reine Präsenz des Körpers als sowohl mimetische wie auch indexikalische Authentifizierungsstrategie der Dargestellten als Randständiger lesen. Zugleich geht die Form der Darstellung darüber hinaus, indem sie die Portraitierten auratisch inszeniert und das Bild so zum Ikonischen und Legendarischen hin öffnet – eine Mischung, welche die conditio humana in Form eines heroisch erlittenen (sozialen und physischen) Erleidens als „kryptoreligiöse[s]“138 Motiv inszeniert, das sich im Blick der Dargestellten zur affektiven, religionsaffinen Geste verdichtet und sie so erhöht. Der Betrachter wird über diesen Blick in eine Beziehungsstruktur involviert, die ihn die mit den Portraitierten geteilte, gemeinsame conditio humana reflektieren lassen kann und so potentiell die Erfahrung eines im Profanen – und genauer: Randständigen – immanenten Heiligen (sei es christlich oder nichtkonfessionsspezifisch religiös) unmittelbar nachvollziehbar werden lässt. Die Fotografien funktionieren somit ähnlich den polychromen Skulpturen und Gemälden, die im 17. Jahrhundert in Spanien die geistige Versenkung der Gläubigen durch eine besonders realistische Darstellungsweise anzuregen suchten, welche die geistigen Vorstellungsbilder im identifikatorischen Nachvollzug als reale Geschehnisse erfahrbar machen sollte. Das Konzept der Spur eines Heiligen im Realen erweist sich dabei als Parallele zur Funktionsweise des fotografischen Mediums: Als viel benutzte Metapher für den fotografischen Bildprozess vereint die Spur sowohl Aspekte der „Brüchigkeit“139 zu einer vorgängigen Realität, als auch inhärent die Möglichkeit des realen Aufscheinens einer solchen. 136 Gonnord in NAVARRO 2006, S. 42. 137 Huizing berichtet diesbezüglich von einer Szene, in der eine Besucherin der Ausstellung Seeing Salvation, die 2000 in London gezeigt wurde, den Ausdruck der Figur eines Schmerzenmannes aus dem 16. Jahrhundert nach dem Ausstellungsbesuch in einer Obdachlosen wiedererkannte, vgl. HUIZING 2002, S. 101. 138 ELIADE 1998, S. 25. 139 „Ob als Echo oder Retina bezeichnet, ob mit einem Schatten, Spiegel oder einer Spur verglichen – in den geläufigen metaphorischen Redeweisen über das Fotografische zeigt sich bereits, dass diese Bilder ein brüchiges Verhältnis zur Wirklichkeit unter-

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Die Effekte der prozessualen Bilderfahrung in Ausstellung und Katalog zusammenfassend lässt sich sagen, dass durch den besonderen Realitätsbezug der Fotografie, wie Gonnord ihn betont, der Gedanke eines allgemeingültigen Heiligen und dessen historische Visualisierungen in der Realität verankert werden. In einem Balanceakt von ästhetischer Überformung und extremer Detailtreue fokussiert er den Einzelnen als individuelle Persönlichkeit mit eigener Lebensgeschichte und stellt ihn zugleich durch die Überlagerung mit traditionellen sakralen Chiffren in eine übergeordnete Menschheitsgeschichte ein. Durch Format und Positionierung schafft er eine inhaltliche Ausgewogenheit, die den Portraitierten auf Augenhöhe mit dem Betrachter stellt. Der Blick dient dabei als gestisch sakralisierendes Element, dass eine Verbindung zum Betrachter schafft und diesen aktiv einbezieht. Im metaphorischen Sinne fungiert das Portrait hier fast wie ein Spiegel, der nicht das Physische spiegelt, jedoch die Teilhabe und das Gebundensein an eine conditio humana, die dem Dargestellten und dem Betrachter gemein sind. Im Gang durch die Ausstellung oder bei der Durchsicht des Katalogs kann sich die Intensität des Blicks mit jedem neuen Sehen akkumulieren und zu einer Gesamtaussage steigern140; der Betrachter übernimmt gewissermaßen selbst einen Teil der den Ausdruck des Blicks intensivierende Bewegung des ‚Beiwerks‘. Gonnords Verständnis der Fotografie lässt somit innerhalb der Ausstellung den perspektivischen Blick auf ein Werk zugunsten von dessen Verortung im Raum zurücktreten und aktiviert damit ein Sehen, „das den Augen die Beine und der Wahrnehmung den Leib restituiert“141 – erst im körperlichen Durchschreiten der gesamten Ausstellung erschließt sich die Bedeutung des einzelnen Werkes in Gänze. Die Allgemeingültigkeit der heiligen Spuren im Menschen, der idealisierte innere Ausdruck, wird dabei sowohl durch die Anknüpfung an ein christliches Narrativ, als auch durch die intermedialen Bezugspunkte, die eine Fortführung dieses Narrativs ins Medium Fotografie implizieren, als etwas zeitübergreifendes visualisiert und durch das Medium Fotografie vergegenwärtigt, wobei die gleichbleibenden formalen Mittel eine Konzentration auf den inneren Ausdruck erlauben. Im Umkehrschluss verortet die Hängung die Fotografie innerhalb der halten.“, SIEGEL, Steffen: Der Blick auf das Fenster. Zum bildanalytischen Gestus bei Ugo Mulas und Timm Rautert, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, 33, 2013, H. 129, S. 17-28. 140 Auch in dieser Facette schwingt Nikolaus von Kues Verständnis des bildlichen Blicks, der jeden ansieht, durch. Vgl. VON KUES 2014, S. 95. 141 GANZ, David, NEUNER, Stefan: Peripatetisches Sehen in den Bildkulturen der Vormoderne. Zur Einführung, in: Dies. (Hg.): Mobile Eyes. Peripatetisches Sehen in den Bildkulturen der Vormoderne, München 2013, S. 9-58, S. 12f.

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für diesen Aufgabenbereich traditionell verwendeten Bildmedien und schreibt ihr somit in einem sakralisierenden Gestus denselben Bildstatus zu, betont also ihre ikonischen und symbolischen Fähigkeiten, ohne jedoch ihre indexikalische Qualität außer Acht zu lassen. Im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern diese Deutung der Fotografien sich auch im Diskurs um die Bilder spiegelt und ob hier andere Sakralisierungen oder Entsakralisierungen zu tragen kommen.

5.3 S AKRALISIERUNG

UND

A USSCHLUSS

IM

D ISKURS

Neben den Fotografien selbst als eigentlichen Bildzeichen, sind für ihre Interpretation die Aussagen des Künstlers, der Katalog sowie Interviews, Pressekonferenzen und in der Folge Ausstellungsrezensionen und Mund-zu-Mund Empfehlungen relevant. Wie Hubertus Knoblauch hervorhebt, ist Kommunikation einer der konstitutiven Faktoren für die Bedeutungsaushandlung kultureller Erzeugnisse.142 Diese prozesshafte „performative Praxis“ verläuft dabei nicht nur von Angesicht zu Angesicht, sondern entfaltet sich insbesondere auch über andere Medien, sie wird mediatisiert.143 Übertragen auf Gonnords Fotografien bedeutet dies, dass die beschriebenen Akteure und verschiedene Medien an der Bedeutungsgenese der Fotografien und ihrer Interpretation teilhaben. Dieses System der Genese, Transformation und Festschreibung von Bedeutung kann als Diskurs mit verschiedenen Ebenen gefasst und analysiert werden.144 Dazu werden zu-

142 Vgl. KNOBLAUCH, Hubert: Kommunikationskultur, Kulturalismus und die Diskursivierung der Kultur, in: YOUSEFI, Hamid Reza, FISCHER, Klaus, KATHER, Regine u.a. (Hg.): Wege zur Kultur. Gemeinsamkeiten – Differenzen und interdisziplinäre Dimensionen, Nordhausen 2008, 261-284, S. 271f. 143 Knoblauch führt dies aus: 2008, S. 275-277. 144 Knoblauch verweist auf die Gefahr der Bedeutungslosigkeit des Diskurs-Begriffs: „So erscheint der „Diskurs“ […] als ein übermächtiger Dynamo, der alles antreibt, was Menschen tun – und damit leicht jede analytische Schärfe verliert: Was bezeichnet das Wort noch, wenn es alles bezeichnet?“ Im Kontext und in Verbindung mit der von ihm dargelegten „Kommunikationskultur“ erscheint die Anwendbarkeit für den eng gesteckten Rahmen der Ausstellung und Rezeption der Gonnord’schen Fotografien jedoch sinnvoll. Vgl. KNOBLAUCH 2008, S. 267 und S. 272. Weniger als eine Analyse des die Ausstellung umgebenden Gesamtdiskurses soll mittels eines Mikroblicks auf eine für die Diskursentwicklung konstitutive „Aussage“ nach Achim Landwehr neben der bildlichen, die sprachliche Konstruktion des thematischen Schwerpunkts

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nächst Sakralisierungsstrategien in Bezug auf das fotografische Portrait, den Akt seiner Entstehung und die Rolle der Portraitierten untersucht (5.3.1), um anschließend die im Diskurs stattfindende sukzessive Informationsreduktion in Bezug auf die Dargestellten offenzulegen (5.3.2). Ein Vergleich mit Giorgio Agambens Konzept des homo sacer scheint aufschlussreich, um die im Diskurs ausformulierten strukturellen Entwicklungen besser zu verstehen (5.3.3).

5.3.1 Die (Re-)Sakralisierung des fotografischen Akts – Entstehungsprozess und Bildstatus zwischen Ritual und Reliquie Auf mehreren Ebenen des fotografischen Akts, verstanden als Prozess der Bildentstehung, der verschiedene Handlungen vor und nach der Belichtung selbst einschließt (vgl. Kapitel 2.3), werden von Gonnord Aspekte des Rituellen aufgerufen. Dies beginnt mit der Auswahl der Portraitierten, setzt sich fort über den Prozess der Bildentstehung bis hin zur Handhabung des fertigen fotografischen Abzugs. So beschreibt Gonnord den ersten Kontakt mit den Dargestellten wiederholt als „rituelle Begegnung“: „In 1998, I began to celebrate a small ritual. I would go out onto the street to look for people, people that appealed to me, intuitively. I would stop them and invite them to a shoot. From then until today, this has evolved, but the general rules have stood fast. Thus, as I am always alone with the person in question, they are the ones to decide yes or no. Those who say yes feel a sort of fascination, an interest that can be absolutely unequal from one to another. It is a very silent ritual of meeting.“145

Wie in Kapitel 2.1.2 unter Bezug auf Jonathan Z. Smith herausgearbeitet, kann Aufmerksamkeitssteigerung zur Sakralisierung beitragen. In diesem Sinne dient das Ritual der Sakralisierung, indem es Aufmerksamkeit auf Personen und Dinge fokussiert.146 Indem Gonnord den Entstehungsprozess des Bildes als Ritual mit

der Fotografien ausdifferenziert werden. LANDWEHR, Achim: Diskurs und Diskursgeschichte, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010, S. 1-12, S. 9 unter http://docupedia.de/zg/Diskurs_und_Diskursgeschichte (04.08.2018). 145 Gonnord zitiert in: NAVARRO 2006, S. 42. 146 SMITH 1987, S. 105: „Ritual is not an expression of or a response to ‚the Sacred’; rather, something or someone is made sacred by ritual.“

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gleichbleibenden Parametern beschreibt, betont er die konzeptuelle Stringenz seines fotografischen Vorgehens; indem er den aktiven Part der Fotografierten hervorhebt, suggeriert er eine Teilhabe am Entstehungsprozess und einen Kontakt auf Augenhöhe. Der fotografische Aufnahmegestus scheint geprägt von Einvernehmen und Respekt, die Beschreibung des rituellen Charakters des Aufnahmeprozesses verdeutlicht den verantwortungsbewussten Umgang des Fotografen mit seinen Modellen. Auf einer bildbasierten Ebene zeigt sich diese Begegnung von Fotograf und Modell etwa bei Michel (Abb. 5.10): Den Blick fest in die Kamera gerichtet, produziert die offene Haltung, das auf sich ruhenlassen des Kameraauges und die Erlaubnis, die spärlichen Haare, die faltige Haut, die trüben Augen genau und schonungslos festzuhalten, einen spezifischen Eindruck der Beziehung des Fotografen zu seinem Sujet, der durch Gonnords Beschreibung der rituellen Begegnung weiter konturiert wird. Neben diesem „small Ritual“147 der persönlichen Begegnung beschreibt Gonnord, dass die Portraitierten aufgrund ihrer medialen Unerfahrenheit dem fotografischen Prozess mit großer Ernsthaftigkeit und als Ereignis mit rituellem Charakter begegnen: „The people I decide to meet & photograph are often from traditional cultures & their relationship to the camera is very special, for reasons of faith & social origins… They have had little experience with Portraiture & have an immense respect for the images. […] Photography still remains for them a ritual in which one gives a lot; it takes the soul on the road. They have looked at my work very carefully, considered & agreed to give very seriously to this ritual.“148

Eine derartige Kontextualisierung des fotografischen Prozesses als Ritual stellt eine Sakralisierung dar, die sich primär über eine rückgewandte mediale Verortung generiert. In Zeiten der medialen Bilderflut ruft Gonnord die Anfangszeiten des Mediums wach, als der Fotografie aufgrund ihres Bildprozesses quasimagische Eigenschaften zugeschrieben wurden, sowie die Fähigkeit, Phänomene der transzendenten Sphäre abzubilden (vgl. Kapitel 2.3). Mit dieser, das Medium resakralisierenden Geste wird der Fotografie ein verloren geglaubter auratischer Status erneut zugesprochen. Rosalind Krauss beschreibt diesen utopischen An147 Pierre Gonnord in: NAVARRO 2006, S. 42, eine ähnliche Beschreibung findet sich auf S. 40: „Those beings with what he calls ‚peculiar destinies,’ and with whom [Gonnord] makes a deal that combines ingredients worthy of a ritual – not a procedural agreement; a ritual – and personal relations that oscillate between passing proximity and lasting friendship.“ 148 Gonnord in: GONNORD, KNIGHT 2011, o. S.

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spruch an das Medium unter Rückgriff auf Walter Benjamin: „Benjamin believed that at the birth of a given social form or technological process the utopian dimension was present and […] that it is precisely at the moment of the obsolescence of that technology that it once more releases this dimension, like the last gleam of a dying star.“149 Gonnord folgt damit einer Entwicklung, wie sie aktuell in der Hinwendung zu und dem Wiederaufgreifen von älteren medialen Techniken zu erkennen ist, wie beispielsweise dem Polaroid-Verfahren.150 Er beschränkt sich jedoch nicht darauf durch die herausgearbeitete enge Verbindung zur Malerei einen, für die Fotografie in gewissem Sinne antiquierten, stilistischen Duktus wieder aufzugreifen und somit der technischen Ebene der Bildproduktion verhaftet zu bleiben. Vielmehr wird durch den dargelegten Diskurs, der die Dargestellten als medial unerfahren beschreibt, ein Reservoir jenes besonderen, „utopischen“ Bild- und Rezeptionsstatus des Fotografischen aktiviert und als im Marginalen immer noch präsent expliziert. Hierbei wird der magische Aspekt betont, der dem Entstehungsprozess innewohnen und die Seele in besonderer Weise berühren kann.151 Die Parameter der fotografischen Sitzung erinnern an diejenigen des 19. Jahrhunderts, in der die Portraitierten repräsentative Sonntagskleidung anlegten und lange Belichtungszeiten sowie inszenierte Studiosettings zur besonderen Atmosphäre der Bildaufnahme beitrugen. Auch dem fertigen Portrait kommt ein besonderer Bildstatus zu, wobei die private Präsentation der Fotografien im häuslichen Kontext der Portraitierten von einer musealen Präsentation zu unterscheiden ist. Der eigene Abzug wird, so beschreibt es Gonnord, zusammen mit anderen persönlichen ‚Heiligtümern‘ platziert und erfährt so eine auratische Aufladung: „They then receive a small album, a portfolio of our meeting that I personally deliver in gratitude that goes in the dresser drawer or cabinet with other ‘relics’ or photographs of the family. I find it very beautiful, very touching, at a time when photography has completely changed its meaning & place.“152 149 KRAUSS, Rosalind: A Voyage on the North Sea: Art in the Age of the Post-Medium Condition, London 2000, S. 4. 150 Vgl. die Ausstellung Old School. Anachronismus in der zeitgenössischen Kunst, Kunsthalle zu Kiel, 27.09.2013-26.01.2014. 151 Vgl. GONNORD, KNIGHT 2011, o. S. Diese Ausführungen erinnern an Rezeptionsmodi und Nutzungsweisen der Fotografie in afrikanischen Ländern, wie sie Heike Behrend in ihrem Vortrag herausgearbeitet hat: BEHREND, Heike: Photo-magic, Internationales Kolleg Morphomata, Köln, Tagung: The Materiality of Magic, 24.25.05.2012, Vortrag vom 25.05.2012, herausgearbeitet hat. 152 Gonnord in: GONNORD, KNIGHT 2011, o. S.

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Die Fotografie erscheint in dieser Beschreibung als reliquienhaftes Objekt – sowohl der visuelle Gehalt des Bildes als auch der auf den ‚Hausaltären‘ platzierte Bildträger selbst wird gewissermaßen kultisch aufgeladen. Verliert, laut Walter Benjamin, der Kultwert des Bildes durch dessen technische Reproduzierbarkeit gegenüber dem Ausstellungswert zunehmend an Gewicht, so bietet ihm das Portrait einen Rückzugsort. „[Der Kultwert] bezieht eine letzte Verschanzung, und die ist das Menschenantlitz. Keineswegs zufällig steht das Portrait im Mittelpunkt der frühen Photographie. Im Kult der Erinnerung an die fernen oder die abgestorbenen Lieben hat der Kultwert des Bildes die letzte Zuflucht. Im flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts winkt aus den frühen Photographien die Aura zum letzten Mal.“153

In Benjamins Beschreibung ist der visuelle Gehalt des Bildes zentral, da an die dargestellte Person individuelle Gedanken geknüpft sind und der Akt des Erinnerns als Teil des Kultes erscheint. Damit verbunden ist das dem fotografischen Bild eingeschriebene Paradoxon von Flüchtigkeit und Präsenz, das an der Konstellation fotografierter Körper besonders evident wird.154 Die Präsenzeffekte verdichten sich am Bild als Objekt: Das fotografische Portrait fungiert hier, ähnlich wie im mittelalterlichen Reliquienkult, als Berührungsreliquie, da es über den fotografischen Herstellungsprozess gewissermaßen eine Spur der erinnerten Person in sich trägt.155 Das Bild wird zum ‚Bildkörper‘, indem es seine eigenen haptischen Qualitäten mit denen des dargestellten Körpers vermengt:

153 BENJAMIN 2007, S. 23. 154 Amelia Jones arbeitet diese Formation am Beispiel des Selbstportraits Bayards heraus, vgl. JONES 2003a, S. 256-264. 155 Dubois beschreibt den Kult von Familienalben in diesem Sinne: „[D]as Familienalbum [ist] fortwährend ein mit Sorgfalt gepflegter Gegenstand der Verehrung, der (mit den Milchzähnen des Kleinkinds und der Haarsträhne der Großmutter) in einem Kästchen verwahrt wird; man öffnet es nur gerührt, in einer Art vag religiösen Zeremonie, als ginge es darum, die Geister zu beschwören. Einen solchen Wert erhalten diese Alben […] durch ihre pragmatische Dimension, ihren Indexstatus, ihr unauflösliches referentielles Gewicht, durch die Tatsache, daß es sich um wirkliche physikalische Spuren singulärer Personen handelt, die einmal gelebt haben und in besonderer Beziehung zu den Betrachtern der Fotos stehen. Nur daraus erklärt sich der Kult, der um Familienfotos getrieben wird und aus diesen Alben gewissermaßen Grabmäler, kolossoi, Mumien der Vergangenheit macht.“, DUBOIS 1998, S. 83.

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„We attach ourselves to pictures (of bodies) as indicators of subjects who live or lived in the world. Far from only a secondary copy, the picture „is“ in this sense a “body“ and, in turn, a self or subject. […] The picture is just as „tangible“ and „corporeal“ as a person living in the world – it’s just tangible in a different way. To paraphrase Merleau-Ponty, the picture, like the body, is flesh of the world.“156

Wird das fotografische Abbild dergestalt zur Reliquie, die im privaten Heiligtum aufbewahrt wird, so bewegt es sich in einem, mit Bredekamp gesprochen, äußerst „prekären Bereich“157. Benjamin schränkt die Art des Bildträgers, in dem ein solcher Kultwert seinen letzten Rückzugsort findet, auf die frühe Fotografie mit ihrer spezifischen Ästhetik ein – Gonnord weiß sich dieser Konstellation über die dargelegten stilistisch wie diskursorientierten Rückgriffe zu bedienen.158 Die von Gonnord Portraitierten widmen sich jedoch nicht dem Erinnerungskult an Verstorbene. Vielmehr erhalten sie Fotografien der eigenen Person. Diesen haftet zum einen und ähnlich wie bei Nebreda, eine Verdopplung und damit repräsentative Vergewisserung des eigenen Körpers an. Mittels seiner Fotografien eröffnet Gonnord den Dargestellten zum anderen ein ikonisches Vorstellungsbild ihrer selbst, welches das Potential zu beinhalten scheint, durch Immanenz des Transzendenten den Wunsch nach dauerhafter Präsenz sowie nach Idealisierung zu erfüllen.159 Innerhalb der dargelegten Ausstellungskonstellation werden die christlich-sakralen Darstellungscodes eines Heiligen anzitiert und auf diese Weise, ähnlich wie bei Nebreda, „substitute bodies“160 produziert, denen über den Realitätsbezug hinaus ein transzendentes Motiv als fiktive Wirklichkeit eingeschrieben ist. In dieser diskursiven Aufladung des fotografischen Akts als vielschichtiges Ritual des Begegnens, des Gebens und Nehmens und des Betrachtens, dient das fotografische Abbild als Beweis der grundlegenden Sakralisierung der Dargestellten durch ihre Teilhabe am künstlerischen Prozess sowie gegebenenfalls ih156 JONES 2003a, S. 262. 157 BREDEKAMP 2010, S. 173. Auch das von Bredekamp veranschaulichte Phänomen eines „substitutiven Bildakt[s]“, der seine Wurzeln unter anderem in der christlichen Bildtheologie hat, scheint hierhin auf. 158 Auf der übergeordneten Ebene lässt sich dies auf das generelle Interesse an alter Technik übertragen (und wird dort interessanterweise wiederum mit einem Akt der Erinnerung verknüpft). 159 „Photography was developed at least partly out of the desire to forestall disappearance (death) […] in order to make ourselves feel coherent, independent of others, and thus closer to transcendence and immortality.“ JONES 2003a, 259. 160 JONES 2003a, 264.

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rer Musealisierung innerhalb des Referenzrahmens traditioneller christlicher Ikonografie. Innerhalb der von Gonnord implizierten privaten Bildrezeption vermischt sich die Utopie des Portraits mit einer Dopplung der Präsenz und fungiert als Manifestation und Zeugnis des sakralisierenden Gestus.

5.3.2 Von Boxern und Bettlern – diskursive Ausschlusseffekte in Interview, Katalog und Rezension Diesen sakralisierenden Gesten steht eine sukzessive Simplifizierung der Interpretationsschritte in Bezug auf die Dargestellten gegenüber. So lässt sich am Beispiel von Realidades zeigen, wie Gonnords Aussagen die Wahrnehmung der Fotografien in der Öffentlichkeit beeinflussen, indem sie in den konstitutiv die Bedeutung der Fotografien gegenüber der Allgemeinheit vertretenden Medien, wie Ausstellungskatalog und Ausstellungsrezensionen aufgegriffen und verdichtet werden, was schließlich in einer Art semantischen Verselbstständigung resultiert. So kommt im Interview im Ausstellungskatalog zu Realidades Gonnord selbst zu Wort und beschreibt die Portraitierten selbstreflektiert als „searching beings, with peculiar destinies […] people who were distanced from society by their age or because they didn’t fit into the system“161, und differenziert in der Folge zwischen seinem Nachbarn, einem Designer und einem Boxer.162 In der Einleitung des Katalogs findet sich diese Beschreibung reduziert zu „marginal or borderline individuals“163, was in der Ausstellungsrezension schlussendlich zu „beggars“164 wird. Diese am Beispiel der Ausstellung Realidades aufgezeigte definitorische Festschreibung der Portraitierten greift dabei das bereits in den sevillanischen Gemälden präsente Dispositiv des christlich leidenden Märtyrers auf und spitzt es in der sprachlichen Überlagerung mit den „Menschen am Rande der Gesellschaft“, „Bettlern“ oder „sozial Marginalisierten“ auf eine Art und Weise zu, die das Fortleben des christlichen Dispositivs auch im säkularen Kontext verdeutlicht. Es kann demnach eine Festschreibung und Simplifizierung der Bildinterpretationen beobachtet werden: Die Sakralisierung der Dargestellten über die intermediale Referenz auf christlich-sakrale Codes, Gemälde und Skulpturen be-

161 Gonnord in: NAVARRO 2006, S. 42. 162 Vgl. Gonnord in: NAVARRO 2006, S. 44. 163 CANO 2006, S. 17. 164 LLORCA 2007, S. 388.

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deutet auch ein Zurücktreten der individuellen Merkmale zugunsten eines Typus und die Reduktion von Identität zugunsten der Anpassung an ein Dispositiv. In der Folge wird in der Rezeption von Gonnords Fotografien in Ausstellungskatalogen, Rezensionen und Internet-Blogs diese Festschreibung der Portraitierten als „marginalisierte Individuen“ aufgegriffen, weiter zirkuliert und verfestigt.165 Findet diese Bedeutungsgenese ihren Anfang in der Äußerung des Künstlers, so muss sie doch als Prozess verstanden werden. „[Die] Mediatisierung und Anonymisierung führt nicht zum ersatzlosen Wegfall der unmittelbaren Interaktion. Ganz im Gegenteil könnte man vermuten, dass die Zunahme vermittelter Kommunikation die Bedeutung der unmittelbaren Interaktion erhöht – ein Umstand, der etwa an der erhöhten Emotionalisierung signifikanter Anderer in der vermittelten Interaktion […] ihren Ausdruck findet.“166

Durch interpretierende Wiederholungen, die auf verschiedenen Diskursebenen aufgegriffen und weitergegeben werden, wird das Sujet von Gonnords Fotografien im Diskurs konstruiert. Über die Ausstellung Realidades hinaus werden, angefangen bei Serien-, Katalog- oder Ausstellungstiteln sowie der Reihung der Fotografien individuelle Züge zugleich als Merkmale bestimmter gesellschaftlicher Gruppen verdichtet.167 Die Gruppierung folgt dabei nicht immer ethnischen oder anderweitig implizierten Abgrenzungen, sondern es handelt sich, wie etwa bei der Serie Utópicos, teilweise auch um frei gesetzte Bezeichnungen. Diese fungieren als Marker und können wiederum als Effekt die Dargestellten im Diskurs als Angehörige sozialer Randgruppen innerhalb der Gesellschaft festschreiben.168 165 Es ist anzunehmen, dass die Ausstellung Realidades aufgrund ihrer expliziten Überlagerung des christlichen Dispositivs mit den marginalisierten Individuen, diese Festschreibung maßgeblich mit beeinflusst hat. Beschreibungen der Portraitierten als „marginalisierte

Individuen“

finden

sich

jedoch

auch

vorab,

etwa

bei:

MONTEROSSO 2005, o. S.: „[His] subjects belong by and large to a kind of modernday ‚Cour des miracles‘ – forgotten, marginalized individuals“. 166 2008, S. 280. 167 Dies ist etwa bei der Serie der Gitanos der Fall. Rafael Doctor verweist darauf, dass der Mensch bei Gonnord zugleich als Individuum und als Teil einer Gruppe reflektiert wird. Vgl. DOCTOR, GONNORD 2008, .S. 65f. 168 Gonnord betont im Gegensatz dazu, dass sein Interesse dabei nicht auf der Gruppe, sondern auf ihren einzelnen Mitgliedern liegt und er zu zeigen versucht, dass die Individualität und Identität der einzelnen Person jeweils schwerer wiegt als diejenige der Gruppe: „Each photographic act fragments the group for the benefit of the individual;

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Die im vorigen Abschnitt beschriebenen Sakralisierungsstrategien in Bezug auf die Dargestellten sowie den medialen Prozess können aus dieser Perspektive ebenfalls ungewollte diskursive Ausschlussstrategien zeitigen. So stellt die Verortung innerhalb des Museums sowie die Parallelisierung mit Heiligenbildern, wie oben bereits ausgearbeitet, grundsätzlich eine Sakralisierung dar. Allerdings bedeutet eine Sakralisierung der Bilder über ihre Musealisierung auch eine Einspeisung in ein elitäres System, die im Sinne Solomon-Godeaus äußerst kritisch zu hinterfragen ist.169 Die Aufnahme der Fotografien in das ‚System Kunst‘ impliziert, dass die Portraitierten „als bildliches Spektakel“170 für ein anderes Publikum dienen, da sie selbst als marginalisierte Individuen kaum der primären Zielgruppe der musealisierten Bilder zuzurechnen sind. Zudem kann man die durch die Hängung evozierten Vergleiche durchaus auch kritisch sehen: So wird etwa Michel (Abb. 5.10) im Katalog in visuelle Partnerschaft mit dem Hauptmann Longinus gestellt – ein in diesem Falle optisch und moralisch zumindest in erster Instanz nicht gerade vorteilhafter Vergleich, an dessen Vollzug der Dargestellte vermutlich nicht partizipierte. Gonnords Verweise auf Herstellungspraxis und Handhabung der Bildobjekte als „kleine Rituale“ suggerieren eine Teilhabe am Entstehungsprozess und greifen somit einer kritischen Diskussion aktiv vor. Der beschriebene Verweis auf die mediale Unerfahrenheit der Fotografierten hebt explizit auch ihre Systemfremdheit hervor und zeugt von Gonnords Sensibilität für die Schwierigkeit der Aufnahme und seine verantwortungsvoll vermittelnde Rolle. Zugleich impliziert diese Aussage jedoch gewissermaßen die Überlegenheit des Fotografen und kann aus dieser Perspektive die Marginalisierung der Portraitierten verstärken oder gar erst produzieren, indem sie sie nicht nur vom System Kunst, sondern vielmehr von einer durch Massenmedien geprägten Welt als solcher ausschließt. Der mitunter etwas unscharf angewendete Begriff der Marginalisierung erhält even if you bring them together, you cannot neutralise them. And that is what matters to me. Each one has more weight than the whole group.“ DOCTOR, GONNORD 2008, .S. 66. 169 So gilt es nach Solomon-Godeau zu fragen, „ob der dokumentarische Akt nicht einen doppelten Akt der Unterjochung impliziert: erstens in der sozialen Welt, die die Opfer hervorgebracht hat; und zweitens im Regime des Bildes, das innerhalb desselben Systems und für dasselbe System produziert wird, welches die Bedingungen, die es repräsentiert, schafft.“ SOLOMON-GODEAU 2003, S. 64. Solomon-Godeau bezieht sich primär auf sozialdokumentarisch ausgerichtete Fotografien, die Interpretation der von Gonnord Portraitierten als sozial marginalisierte Individuen wirft diese Frage jedoch ebenso auf. 170 SOLOMON-GODEAU 2003, S. 66.

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hier eine weitere Konturierung, indem die Zugehörigkeit zur Gesellschaft durch den Zugang zu und den vertrauten Umgang mit dem Medium Fotografie markiert wird. So ist diese Art der expliziten und aktiven „Diskursivierung“171 der Fotografien, der Dargestellten, sowie der Rolle des Künstlers nicht nur Reflexion und Kommentar, sondern kann – auch ungewollt – durchaus zu hinterfragende Etikettierungen der Dargestellten produzieren, indem sie zwar sakralisiert, jedoch zugleich auch reduziert.

5.3.3 Auf der Schwelle – Überlegungen zur Struktur des Sakralen mit Agambens homo sacer Eine solch diskursive Reduzierung der Dargestellten auf ihre Rolle als marginalisierte Individuen, die zugleich im Museum sowie durch Integration in ein System der Repräsentation von Heiligkeit sakralisiert werden, scheint mit Bezug auf Giorgio Agambens Konzept des homo sacer, das die Struktur des Sakralen in ihrer Eigenart beleuchtet, näher greifbar zu werden.172 Der italienische Philosoph verfolgt die Etymologie des Wortes sacer zurück zu einer Figur des römischen Rechts, dem homo sacer.173 Dieser ist eine Art Vo-

171 Knoblauch verwendet den Begriff der „Diskursivierung“ in diesem handlungsleitenden Sinn und benennt explizit die Schwierigkeit einer solchen Praxis: „Die ‚Diskursivierung‘ der Kultur besteht also darin, dass ‚Kultur‘ von den Akteuren selbst als praktischer Begriff aufgenommen und vor dem Hintergrund ihrer Interessen handlungsleitend wird. […] Damit trägt diese Diskursivierung zur Schaffung der Differenzen bei, die als Voraussetzung der Diskursivierung angesehen werden.“ KNOBLAUCH 2008, S. 282f. 172 Vgl. Abschnitt zu Agamben in Kapitel 2.1.2; sowie AGAMBEN 2002, S. 85-90. Im Folgenden werden die wichtigsten Punkte knapp aufgegriffen. 173 Wie in Kapitel 2 ausgeführt, lehnt Agamben die Ambivalenz eines Heiligenbegriffs im Sinne von ‚verflucht und heilig‘ als wissenschaftliches „Mythologem“ (AGAMBEN 2002, S. 85) der spätviktorianischen Anthropologie und der französischen Soziologie ab, die insbesondere in der Figur des homo sacer einen Zirkelschluss bewirke. Agamben benutzt den Begriff des Heiligen primär in Bezug auf das heilige, bzw. das „nackte“ Leben in der Figur des homo sacer und nicht im Sinne eines Heiligen im religiösen Kontext, AGAMBEN 2002, S. 83f. Diesbezüglich differenziert er die antiken Begriffe zoé (das natürliche, nackte Leben) und bios (das politische Leben) und erläutert mit Rückgriff auf Michel Foucault und Hanna Arendt, dass mit der

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gelfreier, „der getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf“.174 Agamben geht es weniger um die religiöse Ausdeutung, sondern vielmehr um die strukturelle Verortung des homo sacer. Eine genauere Betrachtung dieser Struktur ist für die vorliegende Untersuchung insofern von Interesse, als dass sie Aufschluss geben kann über die Zielrichtung und die Nebeneffekte sakralisierender Prozesse wie sie in Gonnords Fotografien und in der Ausstellung und dem Katalog Realidades sowie in dem die Bilder umgebenden Diskurs zu finden sind. Auch die strukturelle Verortung der dergestalt sakralisierten fotografischen Bilder und ihrer Sujets kann näher beschrieben werden. Der homo sacer stellt nach Agamben „eine obskure Figur“ dar, „in der das menschliche Leben einzig in der Form ihrer Ausschließung in die Ordnung eingeschlossen wird“.175 Da der homo sacer zwar vogelfrei, jedoch nicht opferbar ist, befindet er sich strukturell sowohl außerhalb der gesellschaftlichen als auch außerhalb der religiösen Sphäre, erhält jedoch zu beiden eine gewisse Bindung aufrecht. Die besondere Struktur dieser Bindung verdeutlicht Agamben am Beispiel der Setzung des souveränen Ausnahmezustands. In Anschluss an Carl Schmitt versteht er den Ausnahmezustand als das zentrale Element in der Konstitution der souveränen Gewalt. Insofern der Souveränität das Recht zukommt, die Setzung des Ausnahmezustands zu verfügen, ist sie innerhalb des Rechts; indem sie dadurch die herrschende Rechtsordnung aufhebt beziehungsweise suspendiert, steht sie jedoch zugleich außerhalb des Rechts. Nur wer über den Ausnahmezustand verfügt, ist somit im eigentlichen Sinne souverän und steht außerhalb und zugleich innerhalb des Rechts.176 Der Ausnahmezustand nimmt damit die Form einer „einschließenden Ausschließung“177 an, indem er, aus der Ord-

Moderne und der Entwicklung vom Territorial- zum Bevölkerungsstaat das „nackte Leben“ zunehmend in den Fokus der Politik rückt, die zoé also mehr und mehr politisiert wird, AGAMBEN 2002, S. 11ff. Zielt Agambens Untersuchung darauf, die Beziehungsstruktur zwischen nacktem Leben und Souveränität und damit zwischen einem biopolitischen und einem juridisch-institutionellen Modell der Macht zu hinterfragen, AGAMBEN 2002, S. 14 und S. 16, und ist somit anders ausgerichtet als die vorliegende Untersuchung, so erscheint seine strukturelle Analyse von sacer ebenso wie die der ‚einschließenden Ausschließung‘ und der ‚ausschließenden Einschließung‘ doch übertragbar und hilfreich. Böhm wählt eine ähnliche Herangehensweise in Bezug auf ihre Filmanalysen, vgl. BÖHM 2009, S. 82f. 174 AGAMBEN 2002, S. 18. 175 AGAMBEN 2002, S. 18f. 176 Vgl. AGAMBEN 2002, S. 21 und S. 25ff. 177 AGAMBEN 2002, S. 31.

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nung herausgenommen, trotzdem die Bindung zu dieser aufrechterhält.178 Demgegenüber setzt Agamben die „ausschließende Einschließung“, die er anhand des Beispiels verdeutlicht. Das Beispiel wird stets als Teil von Etwas postuliert, hebt sich jedoch durch seine besondere, explizierte Stellung in gewissem Sinne wiederum von dieser Masse ab. „Aus dieser Perspektive steht die Ausnahme in einer symmetrischen Position zum Beispiel und bildet ein System mit ihm. Ausnahme und Beispiel sind die beiden Modi, mittels deren eine Menge die eigene Kohärenz herzustellen und zu erhalten sucht. Doch während die Ausnahme, wie wir gesehen haben, eine einschließende Ausschließung ist (also dazu dient, das einzuschließen, was ausgestoßen wird), funktioniert das Beispiel als ausschließende Einschließung.“179

Der homo sacer befindet sich strukturell in einer Art der doppelten einschließenden Ausschließung, aus der gesellschaftlichen und der religiösen Rechtssphäre, da er getötet, jedoch nicht geopfert werden darf.180 Agambens Untersuchung der Struktur des homo sacer präsentiert diesen somit als Schwellenfigur, die außerhalb der gesetzten Ordnungen steht, jedoch zugleich in sie eingeschlossen ist und so eine Bindung zu ihnen aufrechterhält. Der homo sacer ist somit eine Figur des Dazwischen, der Schwelle. Sacer beschreibt folglich etwas zwischen zwei Sphären, das aus beiden ausgeschlossen ist und doch zu einem gewissen Grad an ihnen partizipiert, wie bereits in der etymologischen Herleitung und der Begriffsdefinition zu Sakralität in Kapitel 2 impliziert wurde. Etwas zu sakralisieren bedeutet demnach nicht nur, es mit Wert aufzuladen, sondern zieht zugleich strukturell Ausschlussmechanismen nach sich, die das Sujet der Sakralisierung auf der Schwelle zwischen verschiedenen Sphären lokalisieren. Sakralisierung, nach Jonathan Z. Smith verstanden als Form der Aufmerksamkeitssteigerung, stellt in diesem Sinne immer auch eine Fokussierung dar, mittels derer andere Aspekte aus dem Sichtfeld rücken, mithin ausgeschlossen werden können. Die in der Analyse der Bilder Gonnords und des Diskurses um die Ausstellung Realidades in der Praxis verdeutlichten Formen dieser Exklusion oder Reduktion, über die der Bezug zum christlichen Dispositiv hergestellt wird, oder die mit diesem einhergehen, sind vielfältig: Sie reichen von der Delokalisierung der Portraitierten, die zeitliche und örtliche Marker weitestgehend ausschließt 178 „Die Norm wendet sich auf die Ausnahme an, indem sie sich von ihr abwendet, sich von ihr zurückzieht.“ AGAMBEN 2002, S. 27. 179 AGAMBEN 2002, S. 31. 180 Vgl. AGAMBEN 2002, S. 92f.

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(Abschnitt 5.1), über die Reduktion der Dargestellten auf ihre Rolle als Träger einer sakralen conidito humana in Anschluss an ein christliches MärtyrerDispositiv des Erleidens (Abschnitt 5.3), bis hin zu der im vorletzten Abschnitt dargelegten, postulierten Systemfremdheit der Portraitierten. Insbesondere diesbezüglich lässt sich der strukturelle Vergleich mit dem homo sacer vertiefen181: Die auf den Fotografien Dargestellten werden im Diskurs marginalisiert, indem sie in einer Zone ‚am Rande der Gesellschaft‘ verortet werden. In gewissem Sinne ähnelt diese Zone jenem Bereich, in dem sich der außerhalb des menschlichen wie des göttlichen Rechtes stehende homo sacer als Schwellenfigur in einer doppelten einschließenden Ausschließung befindet. So werden die Menschen auf Gonnords Bildern, wie oben herausgearbeitet, diskursiv sowohl durch ihre sprachliche Marginalisierung als auch durch ihre Unbekanntheit mit dem fotografischen Medium aus der Mediengesellschaft ausgeschlossen. Denn wenn derjenige als an den Rändern der Gesellschaft stehend und somit als marginalisiert erkannt wird, der außerhalb der medialen Ordnung steht, da er keinen Zugriff auf sie hat, dann ist im Umkehrschluss die mediale Ordnung diejenige, die die Gesellschaft konstituiert.182 Zugleich werden die Portraitierten jedoch gerade durch die Präsentation ihrer Fotografien wiederum in das Mediale und die Gesellschaft eingeschlossen; sie sind gewissermaßen Beispiel ihres Ausschlusses. Diese prozessuale Handlungsebene wiederholt sich auf der Ebene des Kunstsystems: Auch aus dem gesellschaftlichen Mikrokosmos ‚Kunstsystem‘ mit seinen dahinterstehenden kapitalistischen und medial geprägten Gesellschaftsstrukturen erscheinen die Portraitierten ausgeschlossen, da sie nicht zum primären Adressaten-Kreis gehören. Währenddessen werden ihre Bilder auch hier zugleich eingeschlossen und dienen wiederum als Beispiel ihres gesellschaftlichen Ausschlusses.183 Über die Reduktion der Bildtitel auf den Vornamen wird zudem 181 Es geht im Folgenden allein um den strukturellen Vergleich als Figuren der Schwelle, nicht darum, die von Gonnord Portraitierten als homines sacri im eigentlichen Sinne zu konstituieren – sie können kaum als ‚tötbares und nicht opferbares Leben‘, vgl. AGAMBEN 2002, S. 18, wahrgenommen werden. 182 Auch Knoblauchs Analyse der Kommunikationsstrukturen weist in diese Richtung: „Kraft der Mediatisierung weitet sich die Kommunikation als Strukturierungsprinzip der modernen Gesellschaft aus, so dass die Teilnahme an der Kommunikation die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft bestimmt.“, KNOBLAUCH 2008, S. 282. 183 Interessanterweise erhält hier das von Agamben in anderer Weise diskutierte ‚nackte‘ Leben eine wortwörtliche Bedeutung, da sich die meisten Portraits auf das Zeigen des Körpers beschränken und allein die Haut als einziges ‚Kleid‘ des Körpers weiterführende Informationen geben kann.

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nicht nur Intimität heraufbeschworen, sondern es entfällt auch eine Identifizierung der gesellschaftlichen Stellung, die gegebenenfalls mit der Nennung des Nachnamens oder gar des Berufes einhergehen könnte. Die Dargestellten werden somit einer doppelten einschließenden Ausschließung (aus Gesellschaft und Kunstsystem) ausgesetzt. Zugleich – und das unterscheidet sie strukturell vom homo sacer – wird dieser Ausschluss jedoch erst durch ihre Funktion als Beispiel produziert. Im übergeordneten Kontext der Ausstellung Realidades fungiert das Bild nicht nur als Beispiel des Portraitierten; vielmehr wird dieser zum Beispiel eines „Menschen am Rande der Gesellschaft“; als Beispiel einer marginalisierten, heterogenen Gruppe wird er zugleich dieser Gruppe zugeordnet (eingeschlossen – und damit von der Gesellschaft ausgeschlossen), jedoch durch seine beispielhafte Funktion zugleich von ihr abgesondert (ausgeschlossen). Die verschiedenen dargelegten Formen des strukturellen Ausschlusses bei Gonnord lassen sich demnach mit der Struktur des Sakralen erläutern und als Effekte verschiedener Sakralisierungsstufen besser verstehen. Während er vielfältige Strategien der Sakralisierung verwendet, die Effekte der Exklusion nach sich ziehen, gelingt es ihm zugleich, einen Verweis auf diese Exklusionsprozesse zu integrieren: Insbesondere die Präsentationsweise der Bilder im Katalog verdeutlicht, dass der Transfer religiöser Valenz den Weg durch den Blick und die Erinnerung des Betrachters nimmt und dergestalt bereits aktiv Diskurse um Bilder und Formen unbewusster kultureller Interpretation sowie Aufmerksamkeitsfokussierung und damit Informationsreduktion integriert. Nicht zuletzt die Hervorhebung des fotografischen Rituals für die Fotografierten zeugt dabei von einem verantwortungsbewussten und äußerst reflektierten wie sensiblen Vorgehen des Fotografen. Gonnord präsentiert das fotografische Bild zudem in anderer Art und Weise als Schwellenstruktur: Während die realistische Abbildung und der analoge Herstellungsprozess, wie in den Analysen herausgearbeitet, die körperliche Präsenz der Dargestellten in den Vordergrund rücken, wird gleichzeitig durch formale, ästhetische und gestische Sakralisierungen sowie Sakraltransfer innerhalb der Ausstellung das ikonische Potential des fotografischen Bildes betont. Lassen sich Gonnords Fotografien über dieses Oszillieren ihrer Grenzen in eine strukturelle Analogie zum homo sacer als Beschreibung der Struktur des Sakralen setzen? Liegt das Sakrale strukturell auf der Schwelle zwischen der gesellschaftlichen und der religiösen Sphäre, in die es über die einschließende Ausschließung doch eingebunden ist, so wäre zu klären, worin diese zwei Sphären im fotografischen Bild bestünden. Es ließe sich eine parallele Spaltung in eine dem Profanen

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und der Realität verhaftete indexikalische Ebene einerseits sowie eine dem Imaginären, Transzendenten verbundene ikonische Ebene andererseits vornehmen. Liegt der Fokus auf der Bildentstehung, so ließe sich diese Gliederung jedoch ebenso gut umdrehen: Das imaginäre Bild als menschlich produziertes und kulturell codiertes Vorstellungsbild wäre somit der Ebene der profanen gesellschaftlichen Ordnung verhaftet, während das indexikalische Zeichen als Selbsteinschreibung in der Tradition der acheiropoieta eine eher religiöse Tradition aufgreift. Die rahmenden Sphären sind somit im Grunde austauschbar, gerade darüber wird jedoch deutlich, dass die fotografischen Bilder in Gonnords Verwendung genau zwischen diesen Polen zu liegen kommen: Sie sind der Realität verhaftet und zugleich imaginäre Vorstellungsbilder, jedoch weder ganz das eine noch ganz das andere, sie befinden sich vielmehr in einem Außerhalb, einem Dazwischen. Als Folge darf den fotografischen Portraits von Michel, Eli, Joan, Sonia und Jack weder geglaubt noch nicht geglaubt werden. Sie finden sich in einer Zone, innerhalb derer der Betrachter die Grenzen von Realität und Imagination bis zu einem gewissen Grad beeinflussen, sie selbst setzen, austarieren und verschieben kann. In gewisser Hinsicht bildet der Betrachter den souveränen Gegenpol zum fotografischen Bild. Die mit den Fotografien Gonnords formulierte Schwelle ist somit nur relativ stabil, die Abstufungen der Gewichtung imaginärer und realer Einbindung schwanken mit jedem Betrachter und in Abhängigkeit seines kulturellen Vorwissens. Das fotografische Bild stellt eine Schwelle dar, die derjenigen des Sakralen nach Agamben strukturell ähnlich ist, sich jedoch in den semantischen Effekten von ihr unterscheidet. Hat die Analyse der Gonnord’schen Fotografien gezeigt, dass im und mittels des fotografischen Bildes vielfältige Sakralisierungen durchgeführt werden können, so wäre im Umkehrschluss zu fragen, inwiefern sich die fotografischen Bilder Gonnords gerade aufgrund dieser strukturellen Parallelen zum Bereich des Sakralen als Schwellen-„Medium“184 besonders zu Gesten der Sakralisierung eignen? Und – da diese Konstellation der Austarierung der ikonischen und indexikalischen Konvergenz des fotografischen Bildes in Bezug auf Heiliges auch in anderen Fotografien potentiell gegeben sein kann – wäre dies auf weitere Positionen übertragbar? So wurde auch in der Analyse zu Nebreda herausgearbeitet, dass er das fotografische Medium explizit in Hinblick auf die Vermengung ikonischer und indexikalischer Qualitäten verwendet (vgl. Kapitel 4). Aus einer solchen Parallelsetzung von Agambens Struktur des homo sacer und der etablierten zeichentheoretischen Doppelbesetzung des fotografischen Bildes ergäbe sich schließlich als Ausblick die zu überprüfende These, dass sich das fotografische Bild aufgrund dieser parallelen Struktur, seinem Schwanken als Schwellenmedi184 BÖHM 2009, S. 15.

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um zwischen ikonischen und indexikalischen Bildanteilen, generell zu Formen der Sakralisierung eignet.

5.4 F AZIT Gonnords fotografische Portraits von sogenannten Menschen am Rande der Gesellschaft thematisieren Konzepte von Heiligkeit und sakraler Visualität auf vielfältige Art und Weise. Die Analyse der bildimmanenten Sakralisierungsstrategien konnte Größe, Kontrast, De-Lokalisierung, (Hyper)realismus und Farbigkeit als primäre Bildelemente der Bedeutungssteigerung herausarbeiten (5.1). Die Analyse der prozessualen Bildbetrachtung in Ausstellung und Katalog (5.2) ergab enge intermediale Bezüge, die auf die Verhandlung eines thematischen Schwerpunktes über die Jahrhunderte hinweg schließen ließen (5.2.1). In den verschiedenen Medien referieren die Bilder auf ein grundlegendes und scheinbar zeitübergreifendes christlich geprägtes Narrativ einer conditio humana (5.2.2). Die bewusste Verschmelzung der indexikalischen und ikonischen Qualitäten des fotografischen Bildes erlaubt Gonnord den Entwurf der Portraits als Vorstellungsbilder, als Utopien: Die Portraitierten treten durch die bildliche Verwandtschaft mit den Gemälden, einer Ahnengalerie gleich, auf fast unheimliche Art die lebendige Nachfolge der christlichen Heiligen an, werden gewissermaßen zu ihrer (säkularen) Re-Inkarnation. Das mit dieser Kohärenz evozierte christliche Märtyrer-Dispositiv des Erleidens kondensiert sich im Blick der Dargestellten zu einer religionsaffinen Geste, die zum Betrachter hin einen dialogischen Zwischenraum öffnet (5.2.3). Nach Rudolf Otto sind indirekte Ausdrucksmittel des Heiligen solche, die das Gefühl anregen „[e]ben aus der Entsprechung des nicht ganz Verstandenen Ungewöhnlichen (zugleich durch Alter Ehrwürdigen) zum Mysteriösen selber, das sie dadurch gleichsam versinnbilden und das sie anregen durch Anamnesis des Ähnlichen.“185 Hierunter fallen in Bezug auf die Fotografien Gonnords die Bildsprache, welche die Fotografien an eine Malereitradition anschließt, ebenso wie die über Jahrhunderte reichende bildliche Verwandtschaft der Dargestellten sowie ihre Positionierung als Individuen vergangener Zeiten und marginalisierter Räume über die diskursive Beschreibung ihrer Annäherung an das fotografische Medium. Gonnord wendet vielfältige Strategien der Sakralisierung und Resakralisierung an: Innerhalb der Ausstellung Realidades sowie bedingt auch in den Einzelbildern stellt seine Verwendung der Fotografien eine Sakralisierung des Me-

185 OTTO 2014, S. 85.

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diums als Kunst dar, insofern, als dass es gleichwertig in Aufgabenbereiche eingereiht wird, die traditionell den älteren Medien Malerei und Skulptur zugeschrieben werden (auch wenn es, wie herausgearbeitet, primär um die Auslotung der ikonischen Fähigkeiten des Mediums geht). Über die malerischen, fast piktorialistischen Strategien sowie die Beschreibung des fotografischen Akts als Ritual mit vielen Ebenen re-inszeniert Gonnord vergangene medienhistorische Zuschreibungen mit denen er den fotografischen Prozess als Ereignis resakralisiert (5.3.1). Die stilistische Paragone, die Gonnord im Katalog in Anschluss an Zurbarán inszeniert, sakralisiert zudem nicht nur das Medium, sondern auch sein eigenes Schaffen (5.2.1). Über ihre bildimmanente Präsentation, ihre Musealisierung und ihren Vergleich mit Heiligen werden schlussendlich auch die Dargestellten sakralisiert. In der Analyse des Diskurses (5.3.2) sowie mittels des Vergleichs mit Agambens Konzept des homo sacer (5.3.3) wurde deutlich, dass Formen der Sakralisierung eng an Formen der Exklusion gekoppelt sind. Dabei handelt es sich weniger um entsakralisierende Gesten, wie sie sich bei Serrano oder Nebreda finden. Vielmehr betonen die Erkenntnisse den prozessualen Charakter von Sakralisierungsgesten und die Struktur des Sakralen als Schwellenphänomen, das zwischen dem Heiligen und dem Profanen zu liegen kommt. Hier finden sich strukturelle Parallelen zum fotografischen Bild, das bei Gonnord sowohl indexikalisch und mimetisch an die Wirklichkeit gebunden als auch imaginär ist und damit als Zwischenraum verhandelt wird. Geht es also darum, die Realitäts-Verbindung fotografischer Bilder beizubehalten und auszuschöpfen, aber zugleich ihre ikonischen Kapazitäten hervorzuheben, so scheint sich das Heilige, als Thema das per se ikonische Anteile nahelegt, diesem Unterfangen als vielversprechende Auslotungskategorie anzubieten. In diesem Zusammenhang wäre es interessant, die mit Realidades ausformulierte Tendenz, zeitgenössische Fotografien in ältere Sammlungen zu integrieren, auf einer breiteren Basis genauer zu analysieren. Geht es, wie es in einem Pressetext zu Mimmo Jodices Ausstellung im Louvre heißt, generell darum „to restore life, soul, and personality to bygone figures and confer new status to the subjects of the photographic portraits of today“186? Oder sollen über einen Ausstellungsaufbau, der sich primär auf Themen wie „affinity, correspondence and resonance“187 186 http://www.louvre.fr/en/expositions/contemporary-art-mimmo-jodice-–-louvre’s-eyes (11.7.2018). Mimmo Jodice. Les yeux du Louvre, Louvre, Paris, 19.05.-15.08.2011. 187 MEIJERS: Debora J.: The Museum and the ‚ahistorical‘ Exhibition: the latest gimmick by the arbiters of taste, or an important cultural phenomenon?, in: FERGUSON, Bruce W., GREENBERG, Reesa, NAIRNE, Sandy (Hg.): Thinking about Exhibitions, London 2006, S. 7-20, siehe S. 14 für das Zitat. Sie nimmt insbesondere auf Harald

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stützt, die Kuratoren als artistische Visionäre eines emotional ausgerichteten Erlebnisparcours positioniert werden?188 Der in der Ausstellung Realidades über die Integration der Bilder in die ständige Sammlung ausformulierte stilistische Anschluss an den sevillanischen Barock fördert dabei eine sakrale Bildtradition in Bezug auf Heiliges zu Tage, die dem fotografischen Medium mit seinem abbildenden und indexikalischen Wirklichkeitsbezug wie wohl keinem anderen entspricht: Das Heilige wird hier über eine äußerst realistische Darstellungsweise als dem Profanen immanent visualisiert. Über den Bezug zu Darstellungen von körperlichen Versehrungen und Individuen am Rande der Gesellschaft wird das Profane dabei nicht nur als profan, sondern im Grunde als Randständiges sichtbar. Es ist inbesondere dieses randständige Profane, das einen idealen Referenzrahmen für das christlichsakrale Märtyrerdispositiv des Erleidens, wie es in der Ausstellung anzitiert wird, zu bieten scheint. Im historischen Kontext eines Spaniens, das insbesondere seit dem Jahr 2008 massiv an der 2007 in den USA ausgelösten globalen Wirtschaftskrise leidet, entfalten die Porträts über diesen Bezug zur christlichen Tradition des Märtyrers und der conditio humana in ihrer späteren Rezeption, die zentral durch die Ausstellung Realidades geprägt scheint, einen multifokalen Resonanzraum für den Betrachter. René Girards Überlegungen zur anthropologischen Funktion des Opfers sind diesbezüglich aufschlussreich. In seiner einflussreichen Schrift Das Heilige und die Gewalt (frz. 1972) erläutert der Literaturwissenschaftler und Kulturanthropologe die Funktion des Opfers als kollektiven Gewaltakt, der – zum ‚heiligen‘ Akt verklärt – dem Erhalt der sozialen Gemeinschaft diene.189 Girards These zur Funktion des Opfers ist eingebettet in seine Theorie der Mimesis, nach der in primitiven Gesellschaften das Begehren des Anderen stets zu gegenseitigem Neid und Gewalt führt.190 Die sich dergestalt entwickelnde Gewaltspirale bedroht die gesellschaftliche Stabilität und kann erst durch die unbewusste Lenkung aller negativen Gedanken auf einen „Sündenbock“ gelöst werden. Erst desSzeemanns Ausstellung Ahistorische Klanken, Museum Boymans-van Beuningen, Rotterdam, 1988, sowie Rudi Fuchs Aktivitäten von der documenta 7 1982 bis zu seiner Neugestaltung des Haags Gemeentemuseums einige Jahre später Bezug, vgl. S. 8. 188 Auch wäre zu fragen, inwiefern die Einbindung des fotografischen Mediums nicht primär der Erschließung neuer Zielgruppen dient. 189 Vgl. GIRARD, René (1972): Das Heilige und die Gewalt, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1999. 190 Für eine umfassende Einführung in Girards Werk vgl. PALAVER, Wolfgang: René Girards mimetische Theorie im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen, Wien 2004.

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sen gewaltvolle Opferung führt zu einer Klärung der Situation, über welche sich die Gruppe als solche wiederum als Einheit konstituieren kann.191 Das Opfer selbst wiederum nimmt dabei die ambivalente Struktur des Sakralen ein, die bereits in Kapitel zwei und mit Agamben beschrieben wurde, es ist also zugleich heilig und unantastbar. Wurde oben der Status der von Gonnord Porträtierten als dem Sakralen strukturell ähnlich herausgearbeitet, so lässt sich in der Deutung der Rezeption insofern an die von Girard beschriebene Struktur des Opfers anschließen, als dass durch die soziale Marginalisierung sowie über die beschriebene visuelle Einbettung der Dargestellten in die Tradition christlicher Heiligendarstellungen strukturell die Zuschreibung einer Opferrolle erkennbar wird (ohne jedoch einen tatsächlichen gewaltvollen Akt). Folgt man dieser Lesart, so kann in der Differenzsetzung zur eigenen Person, dem definitorischen Vollzug der sozialen Zuschreibung der von Gonnord Portraitierten als „marginalisierte Individuen“ im Kontext eines christlichen Märtyrerdispositivs, ihnen – mit Girard gelesen – gerade über den sozialen Ausschluss aus der gesellschaftlichen Mitte, ihre visuelle und sprachliche Markierung, eine gemeinschaftskonstituierende Funktion zukommen. Das Opfer wird hier also über den christlichen Kontext hinaus zur anthropologischen Kategorie: Im Kontext des allgemeinen Wirtschaftsbooms, welcher dem Gros der spanischen Bevölkerung bis ins Jahr 2007 vermeintlich gesicherte Lebensverhältnisse garantierte, dienen sozial randständige Gruppen potenziell als „Andere“ der Hauptgruppe, die sich außerhalb des sozialen Wohlstands bewegen, diesen jedoch zugleich für die Hauptgruppe bestätigen, indem sie Lesarten zwischen Mitleid und Abgrenzung generieren können. Seit 2008 wirkte sich die Wirtschafts- und Strukturkrise in Spanien konkret auf große Teile der Bevölkerung aus und manifestierte sich etwa in Arbeitslosigkeit, folgendem Verlust von materiellem Wohlstand bis hin zu lebenswirklichen Notsituationen auf individueller Ebene.192 Vormals sozial integrierte Bevölkerungsgruppen aus dem Mittelstand drohten über diese substanziellen Änderun191 Vgl. PALAVER 2004, S. 199-205. 192 So stieg die Zahl der Arbeitslosen von 8,3 Prozent im Jahr 2006 auf 20 Prozent im Jahr 2010, mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 41,2 Prozent, vgl. KÖHLER, HolmDetlev: Spanien in Zeiten der globalen Wirtschaftskrise, in Aus Politik und Zeitgeschichte, 36-37, 2010, o. S., unter: http://www.bpb.de/apuz/32536/spanien-in-zeitender-globalen-wirtschaftskrise?p=all (21.07.2018). Einhergehend mit der finanziellen und materiellen Krise häufen sich katastrophale persönliche Schicksale, vgl. MÜLLER, Annika: Spaniens Verzweifelte, Zeit online vom 21.3.2013, o. S., unter: https://www.zeit.de/wirtschaft/2013-01/spanien-wirtschaftskrise-raeumungenselbstmord (21.7.2018).

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gen im sozialen Gefüge hin zu jenen von Gonnord portraitierten Randgruppen marginalisierter Individuen und damit in ein soziales Stigma abzurutschen. Im Gegensatz zur oben ausformulierten Lesart in Zeiten des Wirtschaftsbooms findet eine interpretatorische Verschiebung statt. Mit Blick auf die vermeintlich schlechter gestellten wahren ‚Opfer‘ der modernen Gesellschaft kann sich die gesellschaftliche Hauptgruppe jedoch auch hier im Gegenzug als vermeintlich noch stabil erleben, erscheint die eigene Lage konstitutionell weniger prekär.193 Über den christlichen Referenzrahmen und mittels formal-ästhetischer Bedeutungssteigerung dienen Gonnords Bilder jedoch, wie ich argumentieren möchte, grundlegend und in erster Linie der visuellen und inhaltlichen Überhöhung der Dargestellten und damit ihrer potenziellen sozialen Rehabilitation. Gerade über den Bezug zu einer grundlegenden conditio humana bieten sie dem Betrachter damit die Möglichkeit des identifikatorischen Nachvollzugs und der Selbstreflexion, die das potentielle persönliche Opfer als Folge der Weltwirtschaftskrise zum Teil eines größeren Sinngefüges werden lässt und perspektivisch Hoffnungsstrukturen aufbaut. Indem Gonnord den marginalisierten Individuen visuelle Präsenz gibt und ihre unumstößliche Menschenwürde ästhetischformal wie inhaltlich und kunsthistorisch fundiert, lenkt er in Zeiten globaler Krisen, in denen der einzelne im System unterzugehen droht, das Augenmerk auf die Sakralität der Person. Über den Blick als dialogischen, religionsaffinen Marker ermöglicht er eine individuelle Ansprache des Betrachters zwischen imaginärem und realitätsverhafteten Interpretationspotenzial – seine Bilder sind somit Hoffnungsträger und Mahnung zugleich. Dient das Opfer bei Girard der heilenden Zusammenführung der Gemeinschaft, so könnte die Figur des bei Gonnord präsentierten, sakralisierten Außenseiters dementsprechend in der Bildrezeption eine gemeinschaftsstiftende Funktion in einer zunehmend als zersplittert wahrgenommenen Gesellschaft einnehmen. Sakrale Marker und inhaltliche Referenzen auf Heiliges bieten auf bildtheoretischer Ebene somit auch einen visuellpolitischen Wirkungsraum, auf dessen potenzielle Wirkmacht es in Krisenzeiten hinzudeuten gilt. Aus dieser Perspektive wäre es interessant, die noch wenig umfangreiche kunsthistorische Forschung zu Gonnord um den Bezug zur sozialdokumentarischen Tradition in der Fotografie zu ergänzen. Werden in den humanistisch ausgerichteten Fotografien eines Sebastiao Salgado oder eines Boris Mikhailov ähnliche Strategien der Sakralisierung zwischen indexikalischem Bezug und Vorstellungsbild eingesetzt? 193 Laut Köhler sind insbesondere die sich durch Niedriglöhne, Kurzzeitjobs und Arbeitsmigranten auszeichnenden Sektoren des Tourismus und der Bauindustrie, welche unter der Wirtschaftskrise leiden, vgl. KÖHLER 2010, o. S.

358 | U NSCHARFE S PUREN ? – T EIL II: E INZELANALYSEN

Im nächsten Abschnitt (Teil III) werden die Ergebnisse der drei Analysen zu Serrano, Nebreda und Gonnord zusammengefasst und ausgewertet. Nach einem erweiterten Überblick der herausgearbeiteten Kontaktpunkte und Parallelen zwischen Medium und Thema, einer Zusammenfassung der sakralisierenden Mittel und einer kategorialen Herausarbeitung inhaltlicher Schnittstellen, wird abschließend das Analysemodell reflektiert und Anschlusspotential für weitere Positionen aufgezeigt.

TEIL III: Synthese, Reflexion, Ausblick

6. Fotografische Verhandlungen des Heiligen und Sakralen zwischen Symbol, Spur und Vorstellungsbild

Ziel der Arbeit war es zu untersuchen, wie Künstler heute in fotografischen Bildern das Heilige und das Sakrale verhandeln: Welches Potential bietet das fotografische Medium, Konzepte von Heiligkeit und Sakralität zu thematisieren und zu visualisieren? Bestehen Kontaktpunkte und Parallelen zwischen Heiligkeit und Fotografie, die einer visuellen und inhaltlichen Auslotung des Heiligen zuspielen? Im Folgenden werden die Ergebnisse der Analysen zusammengefasst und ausgewertet. In einem ersten Schritt (6.1) werden die Ergebnisse nach der Frage zu Kontaktpunkten und Parallelen zwischen dem Fotografischen und Heiligkeit und Sakralität zusammengeführt und perspektivisch ergänzt. Mittels dieser auf konkreten fotografischen Verhandlungen des Heiligen basierenden Zusammenstellung wird das erarbeitete Analysemodell ergänzt, um eine solide Grundlage für weitere Untersuchungen zu schaffen, ohne jedoch die genannten Parallelen in einer substantiellen Ausdeutung als final oder prinzipiell grundlegend für alle fotografischen Verhandlungen des Heiligen zu deuten. In einem zweiten Schritt (6.2) wird die Frage nach der Art und Weise der Darstellung des Heiligen, also der visuellen Sakralisierungsstrategien in fotografischen Bildern aufgegriffen. Der dritte Abschnitt (6.3) widmet sich den Kohärenzen zwischen den drei Positionen von Serrano, Nebreda und Gonnord, die, über die individuelle Herangehensweise hinaus, Hinweise auf Möglichkeiten und Tendenzen der aktuellen Verhandlung von Heiligkeit in fotografischen Bildern geben. Wiederholt mit den Bildern formulierte Gesten der Sakralisierung, Ent- und Resakralisierung werden in fünf Kategorien zusammengefasst. Abschließend wird das Analysemodell perspektivisch zu weiteren zeitgenössischen fotografischen Positionen hin geöffnet (6.4).

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6.1 P ARALLELEN UND K ONTAKTPUNKTE ZWISCHEN H EILIGKEIT , S AKRALITÄT UND F OTOGRAFISCHEM : F OTOGRAFISCHE B ILDER ALS S CHWELLENRÄUME Werden im Folgenden die funktionalen und strukturellen Parallelen zwischen dem Fotografischen und Heiligen ergänzend zusammengefasst, so dient ein solcher Vergleich keineswegs dazu, das Fotografische an das Heilige anzugleichen oder etwa als Heiliges zu postulieren. Ihm wohnt also weder ein substantieller noch ein magisch-religiöser Impetus inne. Vielmehr stellt die Auslotung verschiedener Kontaktpunkte gewissermaßen einen Werkzeugkasten dar: Die Analysen haben gezeigt, dass viele dieser strukturellen oder funktionalen Parallelen von Künstlern direkt oder implizit aufgegriffen und reflektiert werden, sei es als Verhandlung medialer Eigenschaften fotografischer Bilder oder in der affirmativen, kritischen oder ironischen Auseinandersetzung mit Formen von Spiritualität, Religiösität, religiösen Bildtraditionen und Bilderverboten oder schließlich in der Mediatisierung von als sakral empfundener Bildlichkeit und tradierter sakraler Marker. Zugleich spiegeln sich in diesen Parallelen Praktiken und Gesten eines erweiterten Fotografischen, sie sind somit auch medientheoretisch von Interesse und können helfen, bestimmte Praktiken des Fotografischen besser einzuordnen. Die folgende Zusammenschau kann insofern als Basis für Analysen dienen, die sich mit fotografischen Bildern in Verbindung mit Heiligem oder Sakralem auseinandersetzen und ergänzt damit das in Kapitel 2 formulierte Analysemodell. Das Aufzeigen von Parallelen und Kontaktpunkten zweier unterschiedlicher Phänomene kann jedoch nur über die Konzentration und Fokussierung des Blickes gelingen, die notwendigerweise mit Konkretionsverlusten, was die Spezifika des einzelnen Phänomens anbelangt, einhergeht. Die vielfältigen Punkte, in denen das Heilige, das Sakrale und das Fotografische differieren oder nicht zueinanderkommen, mittels derer sie demnach als getrennte Phänomene oder Konzepte ausgezeichnet werden, werden nicht gesondert ausgeführt. Es geht weder um eine erschöpfende Zusammenstellung struktureller Parallelen, noch um einen allumfassenden Vergleich von Heiligkeit, Sakralität und Fotografischem. Vielmehr soll, in Anlehnung an Mieke Bals Ansatz der „Travelling Concepts“1 die Begegnung, der Austausch und die Vermischung verschiedener Parameter und Praktiken untersucht werden, die sich sowohl im Fotografischen als auch im Heiligen finden und als Elemente zur Verhandlung des jeweils anderen in kulturellen Objekten eingesetzt werden (können). Ziel ist es, eine möglichst breite Ba-

1

BAL, Mieke: Travelling Concepts in the Humanities: A Rough Guide, Toronto 200.

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sis zu schaffen, auf der fotografische Ansätze untersucht werden können. Die Zusammenstellung erfolgt im Rückgriff auf etablierte religionswissenschaftliche, kulturwissenschaftliche und medientheoretische Perspektiven auf das Heilige, das Sakrale und das Fotografische, die in Kapitel 2 sowie in den Analysen ausführlich thematisiert wurden. Als augenscheinlichste funktionale Parallele ist zunächst der prozessuale Charakter der Manifestation, der Einschreibung einer Form von Realität, zu nennen, der sowohl das fotografische Bild in seiner Entstehung als auch die Hierophanie, wie Eliade sie beschreibt, prägt.2 Wie in Kapitel 2.2.2 und der Analyse zu Nebreda (Kapitel 4.2) herausgearbeitet, findet sich diese Parallele insbesondere im Christentum über die Abdrucktheorie der acheiropoieta als historisch spezifischer Ausformung, die in der Fotografie des Grabtuchs von Turin ein prominentes Beispiel findet. In der etymologischen Herleitung zu sacer zeigte sich, dass über den Akt der Berührung die Eigenschaft einer berührenden Kraft auf die berührte Instanz übertragen werden kann, so dass beispielsweise derjenige, der als sacer qualifizierte Gegenstände berührt, ebenfalls sacer wird.3 Auch im christlichen Mittelalter ist die Übertragung durch Berührung in den theologischen Lehren relevant, wie die Schriften von Theofrid von Echternach zeigen: „Was [die Seele] in Fleisch und Gebein wunderbar tut, dasselbe tut sie noch wunderbarer im aufgelösten Staub und strahlt aus auf alles, das Äußere wie auch das Innere, auf jedwede Materie und Kostbarkeit der Ornamentik und der Bedeckung. [...] [Der Staub] überträgt den Überfluss seiner Heiligkeit [...] auf alles, worin er inwendig geborgen und von außen umschlossen ist.“4

Zeichnet sich die Entstehung fotografischer Bilder durch die Berührung von Licht und lichtsensiblem Fotomaterial aus, so scheint die Wertung der Fotografie als Reliquie, wie etwa Susan Sontag5 sie postuliert, und wie sie bei Nebreda Anwendung findet (Kapitel 4.3), eine konsequente Weiterführung dieses Gedan-

2

Zur Beschreibung der Hierophanie siehe ELIADE 1998, S. 15ff.

3

Vgl. LIPOWATZ 1987, S. 510; sowie den Abschnitt zur etymologischen Herleitung der Begriffe des Heiligen und Sakralen in dieser Arbeit.

4

Zit. n. REUDENBACH 2000, S. 1. Vgl. hierzu auch Kapitel 2.1.4 der vorliegenden Arbeit.

5

„Ein Foto von Shakespeare besitzen wäre, als besäße man einen Nagel vom Kreuz Christi.“, SONTAG 2006, S. 245.

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kens und erläutert auch den Umgang mit fotografischen Bildern als Trägern, denen, wie Didi-Huberman ausführt, ein „Fetzen“6 der Realität anzuhaften scheint. In der Visualisierung von Einschreibungen von ‚Realität‘ – sei sie, wie im Beispiel der mittelalterlichen Reliquien, jenseitig oder, wie in fotografischen Bildern, diesseitig ausgerichtet – spielt dabei Licht in verschiedenen Interpretationsformen eine entscheidende Rolle: Für mittelalterliche Darstellungen des Sichtbar-Werdens wird das Licht zum Medium des Transzendenten und der virtus der Heiligen, etwa in Visionen oder Heiligenerscheinungen.7 Auch bei der von Echternach beschriebenen Potenzübertragung „strahlt“8 das Gebein aus – Licht, beziehungsweise dessen Strahlkraft, wird zum Träger von heiliger Präsenz und Wirkmacht. Der Goldschmuck und funkelnde Edelsteine verdeutlichen dabei, wie sich heiliges Licht und physikalisches Licht im Rezeptionsprozess überlagern: Wie Echternach hervorhebt, wird die Heiligkeit der Gebeine dem Menschen über das Strahlen von Gold und Edelsteinen zugänglich gemacht.9 In anderer Weise greift der chemisch-physikalische Entstehungsprozess des Mediums Fotografie, bei dem Licht auf dem Fotomaterial seine Spuren hinterlässt, diese Tendenz auf. Dass bereits zu Anfang die Übertragung von Realität mittels der Lichtstrahlen jedoch auch mit einem magischen Charakter aufgeladen wurde, erscheint über die Analogie zu der von Echternach beschriebenen Potenzübertragung folgerichtig.10 Ende des 19. Jahrhunderts gewinnt, wie am Beispiel der Strahlenfotografie gezeigt werden konnte, die Idee der Emanation eines Referenten, die Barthes später aufgreifen sollte, bereits früh in okkultistischen Tendenzen eine spezifische Aufladung.11 Führt Walter Benjamin an, dass die Wirklichkeit die Fotografie gewissermaßen „durchgesengt“12 hat, so ist es eben jene Eigenart des fotografischen Bildes, aufgrund seiner chemisch-physikalischen Herstellung eine Art Berührungsindex zu sein, die wiederum „der Fotografie eine

6

DIDI-HUBERMAN 2007, S. 234. Siehe zudem Kapitel 2.2.2 dieser Arbeit.

7

Vgl. REUDENBACH 2000, S. 10-12.

8

Zit. n. REUDENBACH 2000, S. 1.

9

Vgl. BAGNOLI 2010, S. 137; siehe auch Kapitel 3.2.1.

10 Es soll damit keinesfalls postuliert werden, die von Echternach beschriebene Potenzübertragung in physikalischen Termini zu denken. Vielmehr kann über diese Analogie das für fotografische Bilder bereits früh verwendete Vokabular beleuchtet und seine ‚magische‘ Qualität näher konturiert werden. 11 Siehe Abschnitt 2.2.3 dieser Arbeit. 12 BENJAMIN, Walter (1931): Kleine Geschichte der Fotografie, in: KEMP, Wolfgang, VON AMELUNXEN, Hubertus (Hg.): Theorie der Fotografie. Band I-IV 1839-1995, München 2006, Bd. II, S. 200-213, S. 202.

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solche Strahlkraft verleiht.“13 Die zuvor genannten Reliquienwerte des fotografischen Bildes speisen sich „aus eben dieser Virtualität des Strahlens.“14 Man könne, so Dubois, „sogar die Auffassung vertreten, daß die Wirksamkeit der Fotografie gerade in der Bewegung liegt, die von diesem Hier zu jenem Dort führt.“15 Strukturell wird hier das Prozessuale des Fotografischen hervorgehoben. Neben dem prozessualen Charakter des Sich-Zeigens, eignet den ‚Ergebnissen‘, das heißt den hierophanen und fotografischen ‚Objekten‘ eine grundlegende Ambivalenz, indem sie zwischen Präsenz und Entzug schwanken. So ist der Referent seinem Bild indexikalisch verbunden und doch grundlegend abwesend in Form einer zeitlich vergangenen Existenz (Roland Barthes‘ „Es-ist-sogewesen“16), wie das Heilige im Objekt seiner Hierophanie zwar anwesend ist, sich jedoch zugleich grundlegend entzieht und als solches im Ganzen nicht greifbar ist und stets über seine einzelne historische Manifestation hinausgeht.17 Beide weisen somit eine „eigenartig[e] Doppelstruktur von ‚Offenbarung‘ und ‚Verhüllung‘“18 auf. Insofern ließe sich der Bereich der Präsenz oder indexikalischen Repräsentation eines vergangenen Objekts im fotografischen Träger äquivalent setzen zu dem als Sakrales bezeichneten Träger des Heiligen – beispielsweise der Stein in Eliades Beschreibung einer Hierophanie.19 Dabei ist es gerade diese Doppeldeutigkeit, die grundlegende Differenz, die im Herzen der Hierophanie wie des Index als „Spannung“ und „Distanz zwischen dem Sichtbaren und dem Unberührbaren“20 bestehen bleibt. Nach Dubois entspringt dieser inneren Distanz fotografischer Bilder ein „phantasierende[s] Begehren“21, wie es sich auch bei Nebreda in dem Wunsch zeigt, das alte Selbst mittels der Fotografie zugunsten der neuen Identität zu überwinden (vgl. Kapitel 4). Die Fotografie figuriert hier als gedankliches Dazwischen, als Verbindung zwischen getrennten Polen, die Aspekte von beiden integriert. Die Ambiguität zwischen Präsenz und Entzug wird auch visuell umgesetzt und inszeniert, denn „[d]urch die bloße Tatsache, daß das Heilige sich zeigt, verbirgt es sich auch; wenn etwas Heiliges sich manifestiert, dann wird zur selben

13 DUBOIS 1998, S. 80. 14 DUBOIS 1998, S. 80. 15 DUBOIS 1998, S. 91. 16 BARTHES 1989, S. 90. 17 Vgl. ELIADE 1966, S. 537. 18 KAMPER, WULF 1987b, S. 6. 19 Vgl. ELIADE 1998, S. 15; sowie Abschnitt 2.2.1 dieser Arbeit. 20 DUBOIS 1998, S. 92. 21 DUBOIS 1998, S. 92.

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Zeit auch etwas verborgen.“22 So findet sich auch beispielsweise in Reliquienkulten eine konstante Praxis des Zeigens und Verbergens, des dem Blick Preisgebens und des Verhüllens von Kultobjekten.23 Beim fotografischen Bild ist es zum einen die tatsächliche visuelle Bildebene, die zeigen und verbergen kann, etwa durch die Integration von Leerstellen, Unschärfen (vgl. die Analyse zu Serrano in Kapitel 3) oder anderweitigen Schwellen. Zum anderen ist der Rahmen des Bildes als Marker einer Ausschnitthaftigkeit relevant. So ist das fotografische Bild immer nur ein möglicher Ausschnitt der Wirklichkeit, der sich insbesondere dadurch auszeichnet, dass er den großen Teil anderer, potentiell möglicher Weltansichten, ausschließt.24 Auch ist das fotografische Bild stets ein zeitlicher Schnitt, der auf die Stillstellung des Referenten verweist und ihn damit als Vergangenes markiert.25 Im Erkennen des Gezeigten tritt der Betrachter hinzu. Eliade knüpft das Erkennen einer Hierophanie an eine spezifische Art des „In-der-Welt-Seins“26 des Menschen, Otto rekurriert auf den sensus numinis, welcher die Wahrnehmung des Heiligen erst ermögliche.27 Barthes verweist darauf, dass die codierten Botschaften von Fotografien über die direkte, semantische Ebene hinaus, eine kulturell konnotierte Ebene aufweisen, die es durch den Betrachter zu entschlüsseln gilt.28 In diesem Sinne sind auch fotografische Thematisierungen des Sakralen daran geknüpft, dass sie erkannt werden – Bilder müssen sich entweder direkt oder indirekt der Marker des Sakralen bedienen und diese müssen auf Seiten des Rezipienten lesbar werden, wenn sie entschlüsselt werden sollen. Formen der Codierung finden sich bei Serrano mittels des Symbols, bei Nebreda auf einer Ebene, die Symbole anzitiert, jedoch nicht final visuell darstellt, sowie bei Gonnord über den Rekurs auf traditionell für die Verwendung sakraler Bildlichkeit angewandte Darstellungsmittel. Neben dem, was Roland Barthes als studium der Fotografie bezeichnet, also eben jenen entschlüsselbaren, informativen Elementen, führt er mit Die helle Kammer das punctum als Element ein, das uns direkt „trifft“, wie Wolfgang Kemp zusammen fasst:

22 COLPE 1987, S. 49f. 23 Zur Entwicklungsgeschichte der Reliquiare als Form der Regulierung dieses Sehens siehe: DIEDRICHS 2001. 24 Vgl. HUBER 2001. 25 Vgl. Roland Barthes‘ „Es-ist-so-gewesen“, in BARTHES 1989, S. 90. 26 ELIADE 1998, S. 17. 27 Vgl. OTTO 2014, S. 9. 28 Vgl. BARTHES 2006; sowie Kapitel 2 der vorliegenden Arbeit.

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„Wir können Fotografien auf ihre systematische Codierung hin analysieren und uns ihnen theoretisch widmen (studium), wir können uns aber auch, ohne Analyse, von ihnen treffen, stechen lassen (punctum), von ihnen, d. h. in der Regel von Realitätsfragmenten, die sie ohne funktionalen Zusammenhang mit den Bedeutungsachsen des „studium“ enthalten, als Zugabe an den Betrachter, der sich [mit] dem Übersetzen und Benennen nicht zufrieden gibt.“29

Liest man das Sakrale als Medium oder Sprache des Heiligen, so ist auch dieses in historisch spezifischen Ausformungen studierbar, wie Nadine Böhm hervorhebt.30 Zugleich kann das Heilige auch hier durchscheinen und eben in der Erfahrung unmittelbar ‚ergreifen‘.31 Jörg Splett hebt in seiner zusammenfassenden Rückschau religionswissenschaftlicher Positionen hervor, dass das Heilige eine „Erfahrung unbedingten Betroffenseins“ darstelle: „‚Erfahrung‘ meint dabei nicht Kenntnisnahme im weitesten Sinn [...], sondern unmittelbares Erfassen. Erfassen als Entgegennahme eines Gegebenen im Unterschied zu dessen spontaner Konstitution; Erfassen schließlich als Betroffenwerden von einer Realität“32. Laut Philippe Dubois besteht „die allgemeine Wirkung des indexikalischen Bildes […] darin, daß es das Subjekt selbst voll und ganz in die Erfahrung, in das Erlebnis des fotografischen Prozesses einbezieht.“33 Als weiteres verbindendes strukturelles Element zwischen Heiligkeit und Fotografie ist somit innerhalb der Wahrnehmung etwas zu nennen, das den Menschen unbedingt angeht und ergreift, sei es als religiös gefärbtes Heiliges, im Sinne von Magnus Schlette als „letzte[r] Wer[t]“34 oder in fotografischer Perspektive als Kemps „Realitätsfragment“ oder Barthes punctum. In den drei untersuchten Positionen zu Serrano, Nebreda und Gonnord kam dieser Aspekt jeweils zentral zum Tragen, sei es als Kippeffekt in der Wahrnehmung von Piss Christ, über den Blick der Dargestellten bei Gonnord oder aber als physische Affizierung über die körperlichen Versehrungen bei Nebreda.35 29 KEMP 2006a, S. 32. Siehe zudem Barthes eigene Ausführungen in BARTHES 1989, S. 33-36. 30 Vgl. BÖHM 2009, S. 15. 31 SCHLETTE 2009, S. 112; siehe auch Abschnitt 2.1 dieser Arbeit. 32 SPLETT 1971, S. 225. 33 DUBOIS 1998, S. 82. Dubois hebt drei Formen dieses Einbezugs hervor: Den des spectator, also des Betrachtenden, den des spectrum, also den Abgebildeten und den des operator, des Fotografierenden. 34 SCHLETTE 2009, S. 112; siehe auch Abschnitt 2.1.2 dieser Arbeit. 35 Das sich an diesen Vergleich anschließende Forschungsfeld der Gemeinsamkeiten und Unterschiede religiöser und ästhetischer Erfahrung ist äußerst weitreichend und viel-

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Die Hierophanie dient, wie im Kapitel zu Nebreda ausführlich beschrieben, nach Eliade als erste Raumsetzung dazu, die Kontinuität und Homogenität der Welt zu brechen und so das Chaos zu ordnen.36 Eliade verweist zudem darauf, dass der religiöse Mensch „ein Leben im Heiligen“37 anstrebe und zu diesem Zweck Praktiken der Konstruktion eines solchen ontologischen Raums, wie ihn die Hierophanie darstellt, erlernt habe, um aus dem Chaos herausgehoben zu werden.38 In vielen Fällen sei dabei keine direkte Hierophanie von Nöten, es genüge bereits „ein Zeichen“, das gegebenenfalls aktiv herbeigeführt werde, um die Heiligkeit eines Ortes hervorzuheben und so eine Orientierung zu bieten:39 „Es handelt sich dabei um ein Heraufbeschwören heiliger Formen oder Gestalten, das eine Orientierung im homogenen Raum bezweckt. Man verlangt ein Zeichen, das die Spannung und die aus der Richtungslosigkeit geborene Angst beenden, d.h. einen absoluten Stützpunkt schaffen soll.“40

Zugleich sind die zu einem solchen Zweck angewandten Rituale und Zeremonien jedoch nur insofern wirksam, als dass sie das Werk der Götter reproduzieren – es handelt sich demnach um zwei verschiedene Welten, die jedoch in der Wiederholung zusammentreffen.41 „Indem der Mensch“, wie Eliade formuliert „die heilige Geschichte reaktualisiert, indem er das Verhalten der Götter nach-

fältig. Als neuere Überlegungen, die den Diskurs exemplarisch aufbereiten und ergänzen, vgl. die filmwissenschaftliche Analyse von KNAUSS 2008, sowie den eher museal praktisch ausgerichtete Ansatz von KAMEL, Susan: Religiöse Erfahrung oder ästhetische Erfahrung? Versuch gegen jegliche Unmittelbarkeitsemphase bei der Kunstbetrachtung, in: SCHÖNE, Anja (Hg): Dinge – Räume – Zeiten. Religion und Frömmigkeit als Ausstellungsthema, Münster 2009, S. 53-65. Für letzteren Hinweis danke ich Sarah Maupeu. 36 „Da sich das Heilige durch eine Hierophanie manifestiert, kommt es […] zur Offenbarung einer absoluten Wirklichkeit, die sich der Nicht-Wirklichkeit der unendlichen Weite ringsum entgegenstellt. Durch die Manifestierung des Heiligen wird ontologisch die Welt gegründet. In dem grenzenlosen homogenen Raum ohne Merkzeichen, in dem keine Orientierung möglich ist, enthüllt die Hierophanie einen absoluten ‚festen Punkt‘, ein ‚Zentrum‘.“ ELIADE 1998, S. 23; sowie Abschnitt 4.2 dieser Arbeit. 37 ELIADE 1998, S. 28. 38 Vgl. ELIADE 1998, S. 29. 39 ELIADE 1998, S. 27, siehe zudem auch S. 28. 40 ELIADE 1998, S. 28. 41 Vgl. ELIADE 1998, S. 29.

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ahmt, versetzt er sich in die Nähe der Götter, also ins Reale und Bedeutsame.“42 Auch in profanen Strukturen finden sich nach Eliade qualitative Raumsetzungen in Anlehnung an Hierophanien wieder, wenn etwa Orte subjektiv aufgeladen und aus dem Strom des Alltags herausgehoben werden.43 Eliade bezeichnet dies, wie in der Analyse zu Nebreda herausgearbeitet, als „kryptoreligiöse[s] Verhalten“44. Eine Zwei-Welten-Theorie findet sich auch in der fotografischen Medienkritik wieder, wie Wolfgang Kemp ausführt.45 Wird – etwa von Susan Sontag – die Möglichkeit der Verdopplung der Welt mittels Bildschöpfung diskutiert, so erinnert dieser Prozess an die von Eliade beschriebene Tendenz des archaischen Menschen, das Chaos der Erfahrung über die Reproduktion der kosmischen Sphäre in der eigenen Welt zu ordnen. Insbesondere über die Vervielfältigung von Bildern in den Massenmedien führt dies gewissermaßen zu einer „Ersetzung der Wirklichkeit durch Bilder“46, wodurch Bildwirklichkeit und außermediale Wirklichkeit in der Erfahrung mehr und mehr verschmelzen.47 Diese Perzeption bedeutet zugleich eine „Zerstückelung der Erfahrung“48 in einzelne, medial variabel ausgeführte Teile. In der Fotografie werden über den Bildausschnitt einzelne Elemente aus der homogenen Masse der Realität ausgesondert und als bildwürdig festgehalten, sie dienen als Orientierungspunkte, die das Chaos der Viel-

42 ELIADE 1998, S. 175. Diese Ausführungen Eliades beziehen sich primär auf das Verhalten des „archaische[n]“ Menschen, der die anfänglichen heiligen Akte durch Rituale, Mythen und Symbole wiederholt, um dergestalt die eigene Geschichte zu transzendieren und sie in eine metaphysische Ordnungsebene rückzubinden. ELIADE 1984, S. 11 und S. 16-18. Dieser Grundhaltung stehe der moderne Mensch diametral gegenüber, indem er sich selbst als „souveränen Schöpfer der Geschichte“ ansehe und sich zugleich fest in selbiger verorte, „was zur Folge hat, daß der Schrecken der Geschichte, ihre Absurdität, zuweilen immer schwerer zu ertragen ist“, RESCHIKA 1997, S. 47. Eliade prophezeite als möglichen Ausweg aus den Schrecken der Moderne eine potentielle „Reintegration der menschlichen Gemeinschaften in die […] Welt der Archetypen und ihrer Wiederholung“. ELIADE 1984, S. 166. Unter anderem aufgrund dieser als unwissenschaftlich betrachteteten Remythisierungstendenzen wurden Eliades Schriften kritisiert, vgl. RESCHIKA 1997, S. 92 und S. 188ff. 43 Vgl. ELIADE 1998, S. 25; sowie zu den Aspekten der qualitativen Veränderung S. 27. 44 ELIADE 1998, S. 25. 45 Vgl. KEMP 2006a, S. 33. 46 PEUCKER 1999, S. 111, zitiert nach FROHNE 2002, S. 407. 47 Vgl. FROHNE 2002, S. 407. 48 WALDENFELS 1998, S. 228, zitiert nach FROHNE 2002, S. 407.

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falt der Erfahrungen ordnen.49 Diesen Bildausschnitten kommt ein besonderer Status zu, der sie von den nicht-fotografierten Elementen unterscheidet und durch den sie als Fixpunkte zur eigenen Verortung, zur Konstruktion von Erinnerung und Geschichte – mithin einer Weltauffassung – dienen können. So schreibt etwa Joan Fontcuberta: „Die Fotografie stellt die Metaphysik der zeitgenössischen Bildkultur dar. Alle aktuellen visuellen Formen entstehen durch die Verwendung einer Kamera und die Gestaltung des Bildes durch Licht. Wir erleben heute die Evolution des Homo sapiens zum Homo photographicus: ein Großteil unseres Wissens entstammt Bildern, die zudem unser Bewusstsein formatieren. Im Zeitalter des Homo photographicus wird Fotografie zu einem Mittel, sich über die Wirklichkeit Gedanken zu machen. […] Bilder sind nicht länger einfach nur Repräsentationen der Welt, sondern werden vielmehr zur Welt.“50

Wie Ursula Frohne hervorhebt, impliziert die Mediatisierung der Erfahrung zugleich eine Individualisierung von Wirklichkeit, da diese nur noch bedingt an einen „kollektiven Realitätshorizont“51 geknüpft ist. Der Fremdanteil an dem Prozess der Bildschöpfung hebt diesen dabei aus der rein subjektiven Handlung heraus: Unter Rekurs auf die acheiropoieta und die technische Herstellung des fotografischen Bildes wird dieses prozessual als Reproduktion eines übergeordneten göttlichen ‚Bild-Werdens‘ inszeniert. In Anlehnung an Eliades These zur Funktion der Hierophanie als Raumsetzung und übertragen auf das fotografische Medium, wird hier die dem fotografischen Akt innewohnende Kraft der ‚Orientierung‘ und Zentrierung in einer mannigfaltigen Welt deutlich. Das Fotografieren ließe sich aus dieser Perspektive als sakralisierender Prozess verstehen, insofern, als dass es eine Verdopplung der Welt über eine Form der Raumsetzung 49 Vgl. die Ausführungen hierzu in Kapitel 4 am Beispiel von Nebredas fotografischen Bildern. 50 Joan Fontcuberta in: Ausst.Kat.: (Mis)Understanding Photography – Werke und Manifeste, Museum Folkwang, Essen, 2014, S. 235. 51 FROHNE 2002, S. 407. Dies zieht notwendigerweise auch eine begriffliche Differenzierung von Wirklichkeit und Realität nach sich. Frohne legt die von Gernot Böhme wie folgt getroffene Differenzierung von Realität und Wirklichkeit zugrunde: „Realität – das ist das Potential von Dispositionsprädikaten, die im leiblichen Umgang mit den Dingen erfahren werden können. Wirklichkeit – das ist die Erscheinung als solche. Sie wechselt mit Sichtweisen und Lesarten, ist aber jeweils mit ihnen fest verbunden. Jedes Ding, jedes Stück Realität erscheint auch jeweils und hat damit seine Wirklichkeit, diese Wirklichkeit ist immer die Wirklichkeit dieses Stücks Realität, dessen Manifestation.“, BÖHME 2004, S. 9. Siehe auch FROHNE 2002, S. 406.

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bedeutet. Theoretisch schließen sich diese Überlegungen an religionswissenschaftliche, sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungsrichtungen an, die zum einen die Durchdringung des Profanen und Heiligen erneut in den Mittelpunkt stellen52 und zum anderen Heiligkeit in der Tradition Eliades räumlich denken.53 Der Religionswissenschaftler Jürgen Mohn versteht heilige Orte unter Rekurs auf Michel Foucault als Heterotopien, als „andere, ungewöhnliche, qualitativ aus dem homogenen Raum herausgelöste Orte.“54 Aus dieser Perspektive gleicht der im und mit dem Foto ausgewiesene Raumausschnitt in seiner Struktur der von Eliade beschriebenen Funktion der Schwelle des Kirchenraums oder der Behausung: „Die Schwelle ist die Schranke, die Grenze, die zwei Welten trennt und einander entgegensetzt, und zugleich der paradoxe Ort, an dem diese Welten zusammenkommen“55. Über die abbildende Funktion der Fotografie hat das einzelne Foto Teil an der Vergangenheit, indem es diese zeigt und in Form indexikalischer Präsenzeffekte konserviert. Zugleich markiert es das Gezeigte stets als bereits Vergangenes, von der Gegenwart Getrenntes. In der Bildbetrachtung kommen diese zwei persönlichen Erfahrungswelten zusammen, wird das Vergangene im Gegenwärtigen wachgerufen. Beschreibt Eliade die persönliche Hervorhebung bestimmter Orte wie etwa „die Landschaft der ersten Liebe“56 in der profanen Erfahrung als besondere individuelle Ortssetzungen in Anlehnung an eine Hierophanie, so sind auch diese Ortssetzungen über die Erinnerung hervorgehoben, beziehungsweise wird ihr besonderer Status über die Erinnerung aktiviert. Das Foto als Erinnerungsmedium kann diese Aufgabe insofern übernehmen, als dass es die besonderen Orte oder Momente visuell festhalten kann. Diese zeichenhaften visuellen „Stütz-

52 Vgl. MINTA, Anna: Glaubenssache(n). Editorial, in: kritische berichte. Zeitschrift für Kunst und Kulturwissenschaften, 41, 2013, H. 2, S. 7-9, S. 7; sowie generell KAMPER, WULF 1987a; GERL-FALKOWITZ, Hanna-Barbara (Hg.): Sakralität und Moderne, Dorfen 2010; und BÖHM 2009. 53 Vgl. Kapitel 2.1.2; sowie MINTA 2013, S. 7. Siehe zudem LÉVI-STRAUSS, Claude: Das Wilde denken, Frankfurt am Main 1968; ZUR LIPPE, Rudolf: Das Heilige und der Raum, in: KAMPER, Dietmar, WULF, Christoph (Hg.): Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt am Main 1987, S. 413-427; sowie BARTH 2013; und SMITH 1987. 54 MOHN, Jürgen: Heterotopien in der Religionsgeschichte. Anmerkungen zum ‚Heiligen Raum‘ nach Mircea Eliade, in: Theologische Zeitschrift, 63, 2007, H. 4, S. 331– 357; zitiert nach MINTA 2013, S. 7. 55 ELIADE 1998, S. 26. 56 ELIADE 1998, S. 25.

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punkt[e]“57 der offiziellen und eigenen Geschichtsschreibung werden in wiederkehrenden Betrachtungen mit Bedeutung aufgeladen, können die tatsächlichen Ereignisse in ihrer gefühlten Intensität bestärken oder rückwirkend als Platzhalter überlagern. „Das Foto wird“, wie Dubois formuliert, „buchstäblich zu unserer Erinnerung und tritt an die Stelle der Abwesenheit.“58 Die Fotografie verspricht somit, ähnlich wie die Hierophanie, eine Form der Teilhabe an einer ‚transzendenten‘, da der unmittelbaren Partizipation entzogenen und somit außerhalb der persönlichen Reichweite liegenden Realität, sei es derjenigen einer größeren sozialen und geographischen globalen Weltgemeinschaft oder vergangener, vielleicht vor der eigenen Geburt liegender Ereignisse. Über den verbindenden medialen Rahmen der Fotografie kann der Mensch an dieser entzogenen Realität partizipieren, seine eigene unmittelbare persönliche Wirklichkeit auf der gleichen medialen Folie verorten und so idealerweise ein Gefühl der Verbindung oder gar der Konvergenz von übergeordneter Realität und individueller Wirklichkeit evozieren, die ihn sowohl im alltäglichen wie tiefergehenden Verständnis der Geschehnisse und Zusammenhänge verortet.59 Inwiefern das Foto, indem es an dem von Eliade genannten „kryptoreligiösen Verhalten“60 partizipiert und über ausschnitthafte Raumsetzungen sinnstiftend eingesetzt wird, demenstprechend eine sakrale Erfahrung im Profanen darstellen kann, ist im jeweils vorliegenden Falle zu reflektieren. Das Beispiel David Nebredas zeigt jedoch, dass Fotografien dazu dienen können, sich in der Welt zu verorten, indem diese in ihr verdoppelt und zugleich mittels des Bildausschnittes eine ordnende Bedeutungsaufladung von Realitätsfragmenten vorgenommen wird.61 Joan Foncuberta weist darauf hin, dass diese Potenz des fotografischen Bildes nicht nur auf das konzeptionelle Verständnis der Welt, sondern auch auf die tatsächliche Ausgestaltung von Realität rückwirken kann:

57 ELIADE 1998, S. 28. 58 DUBOIS 1998, S. 94. 59 Gernot Böhme schreibt, „daß wir durch den extensiven Fotogebrauch in eine Sichtweise einsozialisiert sind, nach der wir die Realität so sehen, wie sie uns von Fotos präsentiert wird“, BÖHME 2004, S. 127. 60 ELIADE 1998, S. 25. In Zeiten der Bilderflut findet hier eine gewisse Umkehr statt, indem die schiere Masse der Bilder selbst zum Kontinuum wird, dessen Homogenität schwer durchbrochen werden kann. 61 Auf die ordnende Funktion des Heiligen in Bezug auf Objekte und Räume sowie seine säkularen Transformationen verweist MINTA 2013, S. 7.

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„Fotografen […] generieren Erscheinungsformen der Wirklichkeit. Und ausgehend von diesen Erscheinungsformen treffen Menschen Entscheidungen, die ihr Leben bestimmen […] – denken wir nur an das Zitat von Serge Daney, den früheren Chefredakteur der Cahiers du Cinema: ,Ein Anliegen ohne Bilder wird nicht nur übersehen, es geht vollkommen unter‘.“62

Bereits in den 1970er Jahren hat die Verdopplung der Wirklichkeit in der Fotografie einen Punkt erreicht, an dem, wie Susan Sontag kommentiert, das Verhältnis der zwei Welten sich umzudrehen scheint, indem Bilder nicht mehr nur die Wirklichkeit interpretieren, sondern diese im Grunde erschaffen.63 Bilder werden „unentbehrlich […] für die Gesundheit der Wirtschaft, für die Stabilität des Gemeinwesens und das Streben nach privatem Glück […], die Menschen in den industrialisierten Ländern [legen] sogar Wert darauf, fotografiert zu werden, weil sie fühlen, daß sie Bilder sind und durch das Foto wirklich gemacht werden.“64 Das Foto kann Realitätsfragmente demnach nicht nur festhalten und ordnen – es kann sie über Bedeutungszuschreibung potentiell auch erst konstruieren, wie die einzige Grundlage einer Erinnerung ein Foto sein kann und nicht klar scheint, inwiefern diese nicht ganz auf dem Foto basiert und erst durch dieses hervorgerufen wird.65 Sieht Susan Sontag in der Fotografie grundlegend Aspekte des magischen Bildverhaltens aufgegriffen, welches, ähnlich einer Hierophanie, eine Teilhabe „an der Realität des abgebildeten Gegenstands“66 verspricht, so erkennt sie den „wahre[n] moderne[n] Primitivismus“ doch darin, dass „die Wirklichkeit mehr und mehr so wie das [wirkt], was uns die Kameras zeigen“67. In diesem Ansatz 62 Joan Fontcuberta in: Ausst.Kat. (Mis)Understanding 2014, S. 235. 63 Vgl. KEMP 2006a, S. 33. 64 SONTAG 2006, S. 244 und S. 249. 65 In gewissem Sinne lässt sich Roland Barthes Erzählung über „Die Photographie des Wintergartens“, einer Kinderfotografie seiner Mutter, auf der er diese ‚wiederentdeckt‘, ebenfalls in diese Richtung interpretieren. BARTHES 1989, S. 77-83. Mit den digitalen Medien findet eine solche Konstruktion ohne reale Vorlage ihre Vollendung in computergenerierten Wirklichkeitsentwürfen. Zu einer Zusammenfassung verschiedener Künstler, die solche Bildgenerierungsprozesse in der Gegenwart anwenden, siehe FROHNE 2002, S. 408f. 66 „Was die Originalität der Fotografie ausmacht, ist, daß sie just in dem Augenblick in der langen, zunehmend profanen Geschichte der Malerei, da der Säkularismus auf der ganzen Linie triumphierte, etwas wie den primitiven Status der Bilder – auf eine ganz und gar profane Weise –wiederherstellt.“ SONTAG 2006, S. 245. 67 SONTAG 2006, S. 248.

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spiegeln sich eben jene Potenz der Hierophanie, als Raumsetzung Einfluss auf die Wirklichkeit zu nehmen, indem sie diese erst erschafft sowie das Verhalten des Menschens, mittels bestimmter, sakralisierender Handlungen hierophane Setzungen vorzunehmen, wider. In Bezug auf die Fotografie ließe sich diesbezüglich auf Jonathan Z. Smith rekurrieren, der im Gegensatz zu Eliade die Produktion von Sakralität aktiv von der menschlichen Handlung her denkt, wie in Kapitel zwei ausgeführt.68 Dabei ist es insbesondere die Aufmerksamkeitssteigerung mittels räumlicher Konzentration und Abgrenzung, die er am Beispiel des Tempels als sakralisierende Handlung liest.69 Die Fotografie als Medium verbindet beide aufgezeigten sakralisierenden Tendenzen, indem sie im Kern die Nachahmung einer mythischen Bildwerdung und ersten Setzung reinszeniert (Eliade), zugleich jedoch die technische Entwicklung und den bürgerlichen Glauben an die eigene Handlungsfähigkeit70 aufgreift und so aktiv zu einer Schaffung von Welt beiträgt, indem sie über das Bild Bedeutung produziert (Smith), die auf die tatsächliche Wirklichkeit rückwirken kann. Den Konzeptualisierungen des Heiligen und des Fotografischen sind somit in Bezug auf den Einbezug des Menschen als Erfahrenden und Agierenden durchaus Parallelen inhärent, die zum Verständnis konkreter fotografischer Handlungen beitragen können und damit wieder das Potential fotografischer Bilder, als Teil künstlerischer Verhandlungen von Heiligkeit wirksam zu werden, näher konturieren. In Kapitel 2.1.3 wurde ausgeführt, dass in der Entstehung von Zeichen in Hinblick auf Heiliges eine prozessuale Differenz liegt, die sich in der Unterscheidung von aktiven und passiven Zuschreibungs- und Bezeichnungsprozessen fassen lässt. Über den oben formulierten Rekurs auf Eliade und Smith wird deutlich, dass dies auch für die Fotografie gilt, in der sich in Bezug auf Heiliges zwei divergierende Formen der Bedeutungsproduktion zeigen, die in Analogie zu den verschiedenen Interpretationen des fotografischen Bildes als Index, der etwa durch Einschreibung entsteht oder Ikon, das heißt produziertes Vorstellungsbild im weitesten Sinne, lesen lassen. In Hinblick auf Entstehungsprozesse ließe sich innerhalb des Fotografischen und mit Bezug auf Heiliges das ikonische ‚Vorstellungsbild‘ prozessual als /bezeichnen/ und der Index als /bezeichnet werden/

68 Vgl. SMITH 1987, S. xii; sowie generell Abschnitt 2.1.2 dieser Arbeit. 69 Vgl. SMITH 1987 S. 104: „[T]here is nothing that is inherently sacred or profane. These are not substantive categories, but rather situational ones. Sacrality is, above all, a category of emplacement.“ 70 Siehe hierzu Reschikas Ausführungen zu Eliades Thesen in Bezug auf die Differenz zwischen archaischem und modernem Menschen, vgl. RESCHIKA 1997, S. 47.

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gliedern.71 Treffen als heilig Qualifiziertes und die Fotografie zusammen, so kann beispielsweise im Bild nach Ähnlichkeit mit der Vorstellung eines Heiligen vom Betrachter und/oder Bildproduzenten codiert, beziehungsweise auf ein Heiliges hin sakralisiert werden – das heilige Symbol wäre ebenfalls unter diese prozessuale Kategorie zu fassen, insofern, als dass es eindeutig auf die Idee des Heiligen verweist. Das fotografische Bild als Index – oder besser noch als Spur – ist hingegen abhängig von dem Kontakt mit seinem Referenten und wird gewissermaßen von diesem ‚gezeichnet‘, in Anlehnung an die acheiropoieta.72 Der doppelte Zeichenstatus des fotografischen Bildes als Ikon und Index bedeutet, dass das Foto als materielles Objekt weder reines Vorstellungsbild noch reiner Index ist: Es ist kein reiner Index, da seine Produktion und Rezeption durch Codierungen gesteuert werden, die einen Überschuss zum Index bilden – und doch ist ihm ein indexikalisches Moment durch seine Entstehung eingeschlossen,73 weshalb es auch kein reines ikonisches Zeichen sein kann. Mit Belting gesprochen, lässt sich dies auch als „Einheit“ von Index und Ikon im fotografischen Bild lesen.74 Das Oszillieren dieser Grenzen wird bei allen drei in der vorliegenden Arbeit besprochenen Künstlern ausgelotet. In der Analyse zu Gonnord wurde das fotografische Bild daher in eine strukturelle Analogie zum homo sacer gesetzt, der nach Agamben als Figur strukturell außerhalb der menschlichen wie der göttlichen Ordnung verortet ist und daher „getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf“ 75. Denkt man diese strukturelle Parallele weiter und verknüpft sie mit den oben formulierten Gedanken würde dies bedeuten, dass die Fotografie weder rein der Ebene der Sakralisierung, verstanden als Produktion von religiöser Valenz mittels Aufmerksamkeitssteigerung nach Smith, zugehörig wäre, die als menschliches Bezeichnen formal mit Agambens menschlicher Ordnung zu vergleichen wäre. Noch gehörte sie funktional der Ebene der ‚wahren Bilder‘ im 71 Allgemein ist der Index das, was auf etwas anderes verweist. In dieser Lesart wird die Perspektive gewissermaßen umgedreht, indem vom ursprünglichen Objekt her gedacht wird, das das Bild gewissermaßen mit seinem Abdruck zeichnet. Der Index wird also im passiven Moment seiner Entstehung fokussiert. 72 Vgl. Kapitel 2.2.2 dieser Arbeit. 73 Dies gilt primär für das analog erstellte Foto; in der täglichen Rezeptionspraxis von Bildern spielt es jedoch nur eine bedingte Rolle, dass – insbesondere digitale Bilder – durchaus reine ikons sein können. 74 BELTING 2006, S. 66f.: „Man könnte diesen Gedanken darin fortführen, dass in der Fotografie Bild und Index, die so lange im Grunde unvereinbar waren, zur Einheit gelangen.“ Seine Überlegungen beziehen sich auf das Turiner Grabtuch. 75 AGAMBEN 2002, S. 18f.

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Sinne einer transzendenten Kategorie an, die mit Agambens göttlicher Ordnung zu vergleichen wäre. Auch in diesem gedanklichen Experiment wäre die Fotografie vielmehr auf der Schwelle zu verorten: Das fotografische Bild stellt einen Raum dar, indem Wirklichkeit und Vorstellungsbild, Index und Ikon zusammenfallen, wie die vielfältigen und teils gegensätzlich orientierten theoretischen Verhandlungen zum Medium zeigen.76 Es wäre somit strukturell nicht nur mit der von Eliade beschriebenen hierophanen Setzung als Schwelle zwischen zwei Welten vergleichbar, sondern würde ebenfalls strukturelle Ähnlichkeit mit der Zone des Sakralen, wie Agamben sie beschreibt, aufweisen.77 Auch die von Agamben erläuterte Form der einschließenden Ausschließung, die er unter Rekurs auf die Ausnahme erläutert, findet sich ansatzweise in dieser Struktur wieder: Auf indexikalischer Ebene enthält das Foto durch den physikalischchemischen Prozess eine direkte Verbindung zum Dargestellten, das in diesem Sinne als ‚Rest des Realen‘ darin eingeschlossen ist.78 Zugleich entzieht sich das Fotografierte, beispielsweise eine fotografierte Person, zeitlich und räumlich dem Foto, insofern, als dass der festgehaltene Moment immer schon vergangen ist (hier wird also gerade die Abwesenheit der Person, ihr ‚Gewesen-Sein‘, in Anlehnung an Roland Barthes, markiert).79 Das Foto, wie es sich etwa in der Analyse zu Gonnord zeigte, kann reale Elemente einer Person enthalten, es kann jedoch ebenso als utopisches Vorstellungsbild fungieren. Es ist nicht Ziel dieses Vergleichs, das Foto als sakralen Raum zu deuten; vielmehr kann die beschriebene, fototheoretisch fest etablierte und vielfach diskutierte Doppelbesetzung des fotografischen Bildes (vgl. Kapitel 2.2) über den Vergleich mit dem homo sacer als Schwellenraum nuanciert werden, dessen Verortung zwischen Realität und Vorstellungsbild nicht stabil ist, sondern vielmehr zunächst auf Ebene der Produktion und im Anschluss in der Rezeptionspraxis je nach Kontext und Betrachter wiederholt neu gesetzt wird. Der Betrach76 Vgl. hierzu Kapitel 2.2. 77 Eine solche Lesart enthält selbstverständlich neben den aufgezeigten Gemeinsamkeiten auch Differenzen und stellt eine Dehnung der besprochenen Konzepte dar, die diskutierbar ist. 78 Hier und in der Folge ist prinzipiell das analoge Foto gemeint. Der Ansatz scheint jedoch auch übertragbar, da in der Praxis auch andere Bilder dergestalt rezipiert werden, wie Melanie Bühler am Beispiel von Ausstellungsansichten hervorhebt, vgl. BÜHLER, Melanie: Remnants of the Index: Hanging on to Photographic Values – The Installation Shot, in: still searching. An online discourse on photography, 27.04.2015,

unter:

http://blog.fotomuseum.ch/2015/04/5-remnants-of-the-index-

hanging-on-to-photographic-values-the-installation-shot/ (04.08.2018). 79 Vgl. BARTHES 1989, S. 90.

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ter wird gewissermaßen zum Gegenspieler des Portraitierten: Darf dem Bild geglaubt werden? Ist es ein Vorstellungsbild oder entspricht es der Realität? Der Vergleich mit der Struktur des homo sacer verdeutlicht, dass diese interpretativen Setzungen wiederum strukturell Elemente des Ausschlusses beinhalten können, die sowohl positiv (Hervorhebung) als auch negativ (Ausgrenzung) konnotiert sein können, wie die Analyse zu Gonnord gezeigt hat. Es wurde ebenfalls deutlich, dass diese Prozesse als Sakralisierungen verstanden werden können, wenn sie eine religiöse ‚Zielkategorie‘ integrieren, wie die Darstellung der Heiligen in der Ausstellung Realidades. Etwas wird sakralisiert, indem es formal auf ein Heiliges zielt, somit aus der menschlichen Ordnung ausgeschlossen, dem heiligen Bereich jedoch noch nicht zugehörig ist: Es befindet sich im Bereich des Sakralen. Da die beschriebenen, strukturellen Ausschlussmechanismen sich auch in Bereichen zu finden scheinen, die nicht primär auf ein Heiliges zielen, wäre im Umkehrschluss zu fragen, inwiefern perspektivisch diese Mechanismen und Praktiken auch als Sakralisierungen ohne religiöse Zielkategorie im fotografischen Medium über den strukturellen Vergleich mit Sakralem untersucht werden könnten. Könnte ein weniger abstrahierter und tiefer greifender struktureller Vergleich des Sakralen in der Lesart Agambens und des Fotografischen dazu dienen, mittels fotografischer Bilder produzierte oder beeinflusste soziale oder politische Ausgrenzungen oder Machtstrukturen, wie Abigail Solomon-Godeau sie impliziert80, zu hinterfragen? Mögliche Analysebeispiele finden sich in der sozialdokumentarischen Fotografie, der Fotografie aus Krisengebieten oder der Pressefotografie. Spezifisch in Bezug auf Agambens juridisch-politische Ausdeutung des homo sacer wäre zu fragen, inwiefern sich die Fotografie als Medium anbietet, über das sich die Struktur, wenn nicht gar die Figur des homo sacer produzieren lässt, indem die Setzung des Ausnahmezustands im fotografischen Medium austariert und im Rezeptionsprozess sukzessive beeinflusst werden kann. Die Analyse zu Gonnords Bildern und des sie begleitenden Diskurses, innerhalb dessen die Dargestellten beispielsweise über ihre fehlende mediale Kompetenz am Rande der gesellschaftlichen Sphäre verortet werden, zeigt, dass die Steuerung des Rezeptionsprozesses von fotografischen Bildern in dieser Hinsicht als Form der Machtausübung mit realen Implikationen für Individuen dienen kann. Über den Bezug zu der kulturanthropologischen Funktion des Opfers nach Girard wird deutlich, dass die Fotografie hier auf visueller und bildtheoreti80 Solomon-Godeau fragt, „ob der dokumentarische Akt nicht einen doppelten Akt der Unterjochung impliziert: erstens in der sozialen Welt, die die Opfer hervorgebracht hat; und zweitens im Regime des Bildes, das innerhalb desselben Systems und für dasselbe System produziert wird, welches die Bedingungen, die es re-präsentiert, schafft.“ SOLOMON-GODEAU 2003, S. 64.

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scher Ebene einen prekären und hoch aktuellen politischen Raum besetzt. In Hinblick auf die soziale Stellung des Individuuma innerhalb der Gemeinschaft und den sozialen und juridischen Implikationen der Sakralität der Person, kann eine Untersuchung grundlegender Strukuren des Sakralen und mittels Fotografie durchgeführter Gesten der Sakralisierung das Verständnis der visuellen Definition und Kommunikation der Würde des Menschen födern. In Bezug auf die mit dieser Arbeit gestellte Frage nach strukturellen Parallelen und Kontaktpunkten zwischen Heiligem und Fotografischem zeigt sich über den Vergleich mit dem homo sacer eine paradoxe Konstellation: Fotografische Bilder, deren indexikalische Funktion betont wird, schließen sich funktional an eine ‚heilige‘ Ordnung an, dienen jedoch im Allgemeinen der Bestätigung der Sachzusammenhänge der menschlichen Ordnung. Bilder, deren ikonische Fähigkeit betont wird, entspringen funktional der menschlichen Ordnung, können jedoch durchaus auf den Anschluss an transzendente Kategorien (mithin eine ‚heilige‘ Ordnung) zielen, beispielsweise über die Visualisierung von Vorstellungen. In diesem Sinne können im allgemeinen Gebrauch fotografischer Bilder Handlungsebenen des Heiligen kategorial umbesetzt und gewissermaßen profanen Zwecken übereignet werden, beziehungsweise dazu dienen, eigenes Handeln vor einem größeren Sinnhorizont zu begründen. Es bieten sich demanch vielfältige Möglichkeiten der Verflechtung der Konzepte des Fotografischen und des Heiligen. Wenn sie auch selbstverständlich nicht ineinander aufgehen (weder das Heilige noch das Sakrale sind mit dem Fotografischen identisch), so können doch einzelne oder mehrere Parameter und Erfahrungsgehalte des Heiligen und des Fotografischen, die einander parallel laufen und ähnliche Begehrensstrukturen und Ergriffenheitsmuster generieren und bedienen, dazu verwendet werden, innerhalb fotografischer Bilder Formen von Heiligkeit und Sakralität zu verhandeln oder mittels heiliger und sakraler Parameter fotografische Fragestellungen zuzuspitzen. Die Zusammenstellung versteht sich demnach weniger als Beitrag zu einer generellen Parallelisierung religiöser und ästhetischer Erfahrung, wie etwa Knauss81 sie vornimmt, noch als erweiternde theoretische Ausführungen zum Heiligen oder Fotografischen im Allgemeinen. Vielmehr soll sie dazu dienen, das Verständnis der multiplen Begegnungen beider Konzepte in spezifischen kulturellen Objekten, nämlich fotografischen Bildern, zu fördern. Die Peirce’schen zeichentheoretischen Kategorien des Symbols, des Ikons und des Index haben sich dabei als ebenso fruchtbares analytisches Verbindungswerkzeug erwiesen wie die Frage nach Sakralisierungen, Ent- und Resakralisierungen, die mittels fotografischer Bilder angestoßen oder in 81 KNAUSS 2008.

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ihnen ausformuliert werden. Im nächsten Abschnitt soll die Frage nach dem ‚wie‘ der Darstellung genauer betrachtet werden, um anschließend thematische Gemeinsamkeiten der fotografischen Positionen von Serrano, Nebreda und Gonnord in Bezug auf die Verhandlung von Heiligkeit herauszustellen.

6.2 S AKRALE M ARKER UND D ARSTELLUNGSMITTEL DAS H EILIGE IN FOTOGRAFISCHEN B ILDERN

FÜR

Wie wird Heiligkeit in fotografischen Bildern visualisiert? In Kapitel 2.1.3 wurde das Sakrale unter Rekurs auf Böhm und Splett als Bereich hervorgehoben, innerhalb dessen Heiliges zur Darstellung gebracht wird oder sich vermeintlich zeigt, es fungiert als „interpretierte Erscheinung“82 des Heiligen. Der Bereich des Sakralen umfasst aus dieser Perspektive inhaltliche Aspekte der Darstellung, Inszenierungen von Themen, Gesten, Riten, traditionelle Abbildungen und Ikonen ebenso wie zeichenhafte Elemente, über die auf Heiliges verwiesen wird oder Heiliges visuell evoziert werden kann.83 Wurden diese Elemente als Marker des Sakralen, die wiederum zu Sakralisierungen eingesetzt werden können, in die Analyse mit einbezogen, so sollen im Folgenden die bei Serrano, Gonnord und Nebreda verwendeten visuellen Marker, das heißt stilistische formale und ästhetische Elemente, die zur Sakralisierung eingesetzt wurden, indem sie zu einer sakralen Aura beitragen oder diese im Sinne von Smith über Aufmerksamkeitspotenzierung erst produzieren, noch einmal auswertend zusammengefasst werden.84 Dabei geht es nicht darum, eine per se sakrale Bildlichkeit, also einen ‚sakralen Stil‘ im Sinne eines visuellen Esperantos des Heiligen zu postulieren. Ist die Verwendung sowie das Erkennen sakraler Marker an individuelle sowie kulturell und historisch spezifische Normen und Erfahrungswerte geknüpft, so ist mit Böhm85 und in gewissem Sinne im Widerspruch zu Otto86, eine reine sakrale Bildsprache ohne erkennbare, zugeordnete religiöse Semantik oder ‚Zielkatego-

82 SPLETT 1971, S. 307. 83 Vgl. Kapitel 2.1.3; sowie BÖHM 2009, S. 15. 84 Vgl. Kapitel 2.1.3 dieser Arbeit sowie SMITH 1987, S. 104. 85 Vgl. BÖHM 2009, S. 15. 86 Otto stelle in seiner Beschreibung der Darstellungsmittel des Numinosen bestimmte Marker – insbesondere des Erhabenen – in einer Art und Weise dar, die darauf schließen lassen, dass er sie als feste Verbindungen zum Heiligen sieht, vgl. OTTO 2014, S. 85-91 sowie Kapitel 5.2.1.

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rie‘ sehr unwahrscheinlich. Folgt man Otto im Gegensatz zu Böhm, können jedoch durchaus bestimmte visuelle Marker gerade aufgrund ihrer langfristigen, bewussten oder unbewussten kulturellen Fixierung und trotz Fehlen einer eindeutigen religiösen Zielkategorie zur Produktion eine sakralen Aura eingesetzt werden und können somit auch in diesem Effekt benannt werden.87 Im Querschnitt der Analysen zeigen sich Tendenzen, für den Verweis auf Heiliges und Transzendentes in fotografischen Bildern wiederholt bestimmte visuelle Marker zu verwenden. Der Fragestellung der vorliegenden Arbeit entsprechend, geht es im Folgenden inbesondere um diese fotografisch-sakralisierenden Marker. Zur Erweiterung des Analysemodells werden sie zusammenfassend in vier Punkten ausgewertet, wobei die einzelnen Punkte nicht ganz trennscharf sind und sich durchaus Überschneidungen ergeben. Sollen dergestalt die Verwendung sakraler Marker in fotografischen Bildern konturiert und die benutzten Marker benannt werden, so geschieht dies wiederum nicht in der Absicht, final einen spezifisch oder allein fotografischen ‚sakralen Stil‘ zu postulieren – aufgrund der kulturellen Einbettung fotografischer Bilder und ihres Rückgriffs auf traditionelle Bild- und Formenrepertoires erscheint eine derartige Abgrenzung oder Alleinstellung nicht möglich. Auch werden in Fotografien verwendete Marker wiederum in andere Systeme eingespeist, sie sind daher nicht allein fotografisch. Nichtsdestotrotz lassen sich gewisse Tendenzen fotografischer Verwendung von sakralen Markern nachzeichnen. Erstens scheinen, was nicht verwunderlich ist, solche Marker relevant, die sich an künstlerische Traditionen zur Visualisierung christlich religiöser Themen anschließen. Neben Symbolen und offenen ikonografischen Referenzen auf christliche Themen, oder zur Verstärkung selbiger, kommen verschiedene formal-ästhetische Marker zum Einsatz. Bei Gonnord wird beispielsweise Licht88 als farbige Schattierung zur Annäherung an Malerei verwendet. Diese nicht natürliche, malerisch verfremdete Farbigkeit (hier primär Rot und Grün) figuriert als intermedialer Marker, der über seine Kontrastwirkung die innere Dynamik des Bildes steigern kann. Ebenfalls dynamisierend kann der Einsatz von Licht als Hell-Dunkel-Kontrast wirken, wie die Analysen zu Gonnord und Serrano gezeigt haben. Licht wird, wie bei Serrano, aber auch über seine leuchtende Qualität inszeniert: Es ‚beleuchtet‘ das Gezeigte, dient also der visuellen Hervorhebung des Motivs, wird aber im Umkehrschluss auch als externe Quelle, das heißt 87 Vgl. Kapitel 2.1.3 der vorliegenden Arbeit. 88 Eine übersichtliche Zusammenschau der christlich-religiösen Lichtsymboliken findet sich in folgendem Ausstellungskatalog zu den Arbeiten Gregory Crewdsons: Ausst.Kat.: Gregory Crewdson: 1985-2005, Kunstverein Hannover, Hannover; Kunstmuseen Krefeld, Krefeld; Fotomuseum Winterthur, Winterthur u.a., 2005/2006.

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als Verweis auf ein das Bild Übersteigendes, aus dem fotografischen ‚Off‘ Hereinscheinendes und somit als gewissermaßen transzendente Qualität inszeniert. In Piss Christ wird es gleichsam selbst zum Motiv. Stephan Berg hebt den gesteigerten Effekt dieser visuellen Praxis an den Bildkästen Jeff Walls hervor, wenn er schreibt, dass die „auratisch leuchtende suggestive Präsenz der Wall’schen Leucht-kästen […] den Bildern die verloren geglaubte Kraft und Intensität von Tafelbild-Ikonen zurück“89 gebe. Jeff Wall war in dieser Hinsicht einer der ersten, der die neueren fotografisch-technischen Entwicklungen in Hinblick auf Farbe und Größe ausschöpfte. Serrano und Gonnord profitieren von der Anerkennung der Farbfotografie als Kunst seit den 1970er Jahren und inszenieren ihre fotografischen Arbeiten als präsente Werke, die im Raum als Objekte der Begegnung erfahrbar werden. Größe als objekthafte Präsenz und ‚Leuchtkraft‘ sind somit ebenfalls relevante visuelle Marker. Es handelt sich um eine visuelle Affinität, die im säkularen Kontext fotografischer Bilder ihres historischen Bezuges entkleidet ist und zugleich in ahistorischen musealen Ausstellungen, wie bei Gonnord, hervorgehoben wird. Bei Gonnord und Serrano dient dabei der Barock als primäre stilistische Bezugsgröße – ein Umstand, auf den in Abschnitt 6.3 näher eingegangen wird. Zweitens sind innerhalb der Fotografie visuelle Marker relevant, die das Bild in seiner mimetischen Funktion überschreiten, indem sie dessen abbildende Verbindung zur Wirklichkeit offensichtlich aufbrechen oder verfremden. Dazu gehören etwa die Unschärfe-Stellen bei Serrano und Nebreda oder der delokalisierende, das Motiv freistellende Hintergrund, schwarz bei Gonnord, rot-golden bei Serrano. Aber auch die mystifizierende Lichtführung als Spiel aus Überbelichtung und Halb-Dunkel, die Piss Christ mit einer stillgestellten, „andersweltlichen Qualität“90 auflädt und die bereits genannte, verfremdende Farbigkeit in den Portraits Gonnords gehören zu dieser Kategorie. Darin werden, wie gezeigt wurde, zentrale Elemente von Ottos „Darstellungsmittel des Heiligen in der Kunst“ wie die Leere, die Stille und das mystisch-erhabene Halb-Dunkel aufgegriffen.91 Im Kapitel zu Serrano wurden diese Elemente unter dem Aspekt der Unschärfe genauer betrachtet (3.3). Im Bild ergeben sich so Spalten und Risse zur mimetischen Repräsentation der Wirklichkeit, es handelt sich um „durch Unschärfe produziert[e] Abwesenheit“92 eindeutiger Identifikation des Gezeigten. Krauss und in der Folge Dubois sprechen von „shifter“, um, in Anlehnung an die Sprachwissenschaft, das fotografische Zeichen als jenes hervorzuheben, das in 89 BERG 2000, S. 6. 90 BAL 2006, S. 188, englisch im Original. 91 Vgl. OTTO 2014, S. 85-91; sowie Kapitel 3.1 sowie 3.3. 92 HÜPPAUF 2011, S. 44.

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seiner eigentlichen Bedeutung gewissermaßen „leer“93 ist und nur durch den von ihm bezeichneten Gegenstand ‚gefüllt‘ wird: „Anhand solcher Zeichen läßt sich der Unterschied zwischen Bedeuten und Bezeichnen verstehen. Ihre Bedeutung entsteht nur dadurch, daß sie bezeichnen.“94 Wird dieser Bezug zum Bezeichneten wie in den unscharfen Stellen aufgelöst, so wird die Bedeutung des Zeichens kondensiert auf seine Funktion als Verweis, also als leere Bedeutung. In Übereinstimmung mit Seeßlen lässt sich diese Art von visuellem Marker als „schwere[s]“95 Zeichen lesen, das im Grunde nichts weiter bedeutet, als seine eigene Funktion, ein potentieller Bedeutungsträger zu sein. Smith spricht in ähnlicher Weise vom mana als Zeichen, das „floating or undecided signification“96 repräsentiert und sich daher besonders gut zur Sakralisierung eignet. Je nach Sichtweise wird mittels Unschärfe der Index-Charakter dieser fotografischen Bilder ad absurdum geführt oder aber sie werden explizit auf diesen Index-Charakter reduziert, auf den Verweis als solchen. Wird Unschärfe auch vorher zur Visualisierung von Anderweltlichkeit und Transzendenz eingesetzt97, so zeigt sich doch gerade in der Reibung zwischen fotografischem Abbildungspotential und visueller Auslassung die Potenz der Unschärfe, als Aufmerksamkeit fokussierender sakraler Marker im Fotografischen wirksam zu werden. Die unscharfe Stelle produziert Bedeutung als An- und Abwesenheit. In ihrer Funktion, Aufmerksamkeit zu steigern, ist sie zutiefst indexikalisch98, zugleich öffnet sie das Indexikalische hin zum Ikonischen im Sinne eines Vorstellungsbildes, indem das Zeichen zur gedanklichen Leerstelle wird, die der Betrachter semantisch auffüllen kann. In ihrer Eigenart, dergestalt im fotografischen Bild wirksam zu werden, ließe sich in diesem Falle am ehesten von spezifisch fotografischen Markern von Sakralität sprechen (die jedoch auch anders eingesetzt werden können). Drittens scheinen solche Marker relevant, die im Gegensatz zur Unschärfe die Verbindung des fotografischen Bildes mit der ihm vorgängigen Wirklichkeit explizit betonen oder hervorheben und die Repräsentation des Dargestellten hin zu dessen (final nicht einlösbarer) Präsenz zu überschreiten suchen. Hierzu gehören etwa die hyperrealistische Darstellungsweise der Gesichter der von Gonnord Portraitierten, welche die Aufmerksamkeit auf die Abbildungsleistung des foto93 KRAUSS 2000a, S. 250. Sie nimmt die Personalpronomen als Beispiel. 94 DUBOIS 1998, S. 79 95 SEESSLEN, Georg: Sakralität und Blasphemie, in: ROTH, Wilhelm, THIENHAUS, Bettina (Hg.): Film und Theologie. Diskussionen, Kontroversen, Analysen, Stuttgart 1989, S. 83-96, S. 94 zitiert nach BÖHM 2009, S. 41. 96 SMITH 1987, S. 106-108. 97 Vgl. die Ausführungen hierzu in Kapitel 3.3. 98 Vgl. DUBOIS 1998, S. 76.

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grafischen Mediums lenkt, oder die explizite Darstellung körperlicher Versehrung, die, wie bei Nebreda, den Betrachter zum dynamischen Nachfühlen der versehrenden Bewegung anregen kann. Mit dem Impetus, Gezeigtes durch ihre Realitätsnähe zu aktualisieren und zu vergegenwärtigen zielen diese Elemente über ihre affektive Qualität auf Erfahrung und Nachvollzug. Ähnlich den stilistischen Anleihen der untersuchten Positionen sind auch diese Elemente in ihrer Dynamisierung oft in Barock und Renaissance zu finden. Kann nach Smith die Fokussierung von Aufmerksamkeit zu Sakralisierungszwecken eingesetzt werden, so sind – viertens – zur Visualisierung von Heiligkeit und Sakralität innerhalb fotografischer Bilder visuelle Marker relevant, die der Steigerung oder Lenkung von Aufmerksamkeit dienen. Hierzu gehören im Grunde alle der bereits genannten Marker, das heißt strategisch gesetzte Lichteinfälle oder dunkle Hintergründe, die den Blick auf das Motiv lenken, aber auch dynamisierende Hell-Dunkel-Kontraste, die genannten Unschärfen, Größe oder Vergrößerung99 als Präsenzfaktor. Aber auch Zeichenelemente mit (hyper)realistischer Darstellungsleistung, wie sie bei Gonnord zu finden sind oder visuelle Zeichen, die, wie die Verletzungen bei Nebreda, an prekäre Inhalte gekoppelt sind oder Bewegung implizieren, sind dieser Kategorie zugehörig. Nach Peirce ist „[a]nything which focusses the attention […] an index. Anything which startles us is an index in so far as it marks the junction between two portions of experience.“100 In dieser Lesart wären Sakralisierungsprozesse als Prozesse der Steigerung von Aufmerksamkeit zutiefst indexikalisch und stünden per se in enger Verbindung zu einem Konzept des Fotografischen, wie Krauss es formuliert.101 Das fotografische Bild, als fokussierter Ausschnitt von vergangener Wirklichkeit, als herausgehobener Schnitt von Raum und Zeit, stünde dann in enger Korrelation zu Sakralisierungsprozessen im Sinne einer zielgerichteten Fokussierung von Aufmerksamkeit. Innerhalb fotografischer Bilder werden demnach traditionelle Marker zur Visualisierung von Heiligkeit, also Zeichen, die religiöse Valenz bereits besitzen, zur Sakralisierung eingesetzt. Hinzu kommen Zeichen, die generell zur Potenzierung von Aufmerksamkeit dienen, das heißt Zeichen mit allgemeiner Valenz wie sie bei Serrano, Nebreda und Gonnord zur Verstärkung einer inhaltlichen religiösen ‚Zielkategorie‘ eingesetzt werden. Einige Zeichen, wie die unscharfen Stellen oder die hyperreale Abbildungsleistung, können innerhalb des Fotos eine spezifisch fotografische Wirkung entfalten, indem sie den Bezug fotografischer 99 Dieses Element bringt mit der Bedeutungsgröße von beispielsweise Stifterfiguren in mittelalterlichen Altartafeln seine eigene religiöse Tradition mit sich. 100 Peirce zitiert nach DUBOIS 1998, S. 76. 101 Vgl. KRAUSS 1998.

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Bilder zur Wirklichkeit entweder unterlaufen oder affirmieren, in jedem Falle aber betonen. Zeichen, welche die Aufmerksamkeit potenzieren, teilen unter Bezug auf Peirce mit den fotografischen Bildern eine indexikalische Grundtendenz.

6.3 W ECHSELSPIELE : F ÜNF T ENDENZEN DES H EILIGEN UND S AKRALEN IM FOTOGRAFISCHEN B ILD „Was die Religion hinter sich lässt – den Kult der Reliquien und alles, was damit zusammen hängt: die Befriedigung des Blicks, des Sinnapparats, der Gefühle des Gläubigen, der mit einem als ‚heilig‘ geltenden Körper in direkten Kontakt tritt, […] wird heute von der Kunst besetzt, als ob sie einen Mangel ausgleichen würde. In der Kunst kommt man zur Reliquie und zur objektiven Präsenz des Körpers und seiner Säfte zurück, während sich die Religion abstrahiert hat.“102 JEAN CLAIR „[S]olche maßlosen und unersättlichen Wünsche: Wünsche umgetriebener Subjekte, verliebt, vernarrt in das Reale.“103 PHILIPPE DUBOIS

Auf den nächsten Seiten sollen die Gemeinsamkeiten der in den Analysen zu Serrano, Nebreda und Gonnord herausgearbeiteten, strukturellen und inhaltlichen Verhandlungen von Heiligkeit und Sakralität beleuchtet und die Hauptschnittstellen der einzelnen thematischen und ästhetischen Sakralisierungen, Entund Resakralisierungen konturiert werden.104 Auf Basis der Einzelanalysen er-

102 CLAIR 2004, S. 86. 103 DUBOIS 1998, S. 85. 104 Es handelt sich also nicht um eine Zusammenfassung über alle mit den Bildern formulierten Annäherungen an Heiliges oder Sakrales. Diese wurden in den Einzelanalysen zu den jeweiligen Positionen ausführlich herausgearbeitet.

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scheint als markanteste Überschneidung eine Art ‚inszenierter Realismus‘105; hinzu kommen Tendenzen zur Verhandlung des Symbols, zur Humanisierung des Heiligen, der Sakralisierung der menschlichen Figur sowie medienreflexive Ansätze. Serranos ästhetische Inszenierung eines christlichen Symbols mit traditionellen Markern, wie etwa der Rot- und Goldtönung, entsakralisiert es zugleich in einer transgressiven Geste mittels des im Titel angelegten Verweises auf die Berührung mit abjekter Körperflüssigkeit. Nebredas inszenierte Selbstportraits, verstanden als wahre fotografische Doppelgänger, dienen der sakralisierenden Neuverortung des Selbst in einem mythologischen Referenzrahmen. Zugleich affizieren sie auf einer psychologischen und physiologischen Basis aufgrund ihrer besonders dichten Realität, das heißt der Überlagerung von realen Einschreibungsprozessen in fotografischem Bild und freiwillig versehrtem Körper. Gonnords Portraits nutzen intermediale Referenzen um die Dargestellten in Anschluss an Heiligenfiguren in Szene zu setzen und zeigen sie zugleich als Figuren am Rande der Gesellschaft, deren Leben Spuren in ihren Gesichtern hinterlassen hat. Bei allen dreien finden sich Verweise auf religiöse Bezugssysteme, sei es über Symbole oder Figuren (Serrano, Gonnord) oder als offenere Form der eigenen Verortung mittels mythologischer Referenzen (Nebreda). Den expliziten oder impliziten Referenzrahmen bildet dabei zunächst das Christentum, er ist jedoch keineswegs auf dieses beschränkt und öffnet es vielmehr in Form von Hybridisierungen und Individualisierungen in andere Richtungen. So etwa über Serranos Subversion des Symbols, über Nebredas Verwendung geöffneter Symbole oder Gonnords Fokussierung auf die conditio humana im Blick der Dargestellten. Die Figur des Märtyrers fungiert als Schnittstelle, an die sich die verschiedenen Verhandlungen des Heiligen rückbinden lassen, sei es als Darstellung des Märtyrers (Serrano), als Ausagieren märtyrerhaften Verhaltens oder Erleidens (Serrano, Nebreda) oder als Visualisierung der conditio humana in Anschluss an das Gesicht des Heiligen (Gonnord). In diese glorifizierenden Verhandlungen des Heiligen oder sakraler Bildtraditionen werden jeweils Aspekte des Randständigen integriert: Ob als Urin (Serrano), Kot, Abmagerung als Deformation oder Schnittwunden (Nebreda), oder als sozialer Ort am Rand der Gesellschaft. Es entsteht eine thematische Verbindung von Heiligem und Randständigem, die visuell in Form eines ‚inszenierten Realismus‘106 aufgegriffen wird. So verbin105 Auch Böhm verweist auf eine Tendenz, christliche Symbolik – im Film – mit einer „neuen Art von (hyperrealer) Bildlichkeit“ zu verbinden, BÖHM 2009, S. 29. 106 Unterliegt der Realismus-Begriff einem sich konstant wandelnden Verständnis, so ist hiermit eine Realismus gemeint, der die naturalistischen Fähigkeiten der Fotografie ausschöpft (das heißt ihre Verbindung zur Wirklichkeit als auch ihre realistische Dar-

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den sich Facetten visueller Glorifizierung und Inszenierung mit einem Realismus, der die Verbindung der Bilder zur Wirklichkeit sowohl naturalistisch als auch im Sinne einer engagierten Auseinandersetzung mit sozialen Gegebenheiten in den Vordergrund stellt. Dies zeigt sich über Kippmomente im Rezeptionsprozess (Serrano), als affizierende Gewaltdarstellung (Nebreda) oder als genauer Blick in die Gesichter der Dargestellten (Gonnord). Alle drei Positionen postulieren das fotografische Bild somit weder als reines ikonisches Vorstellungsbild, noch indexikalisch als reines Dokument, sondern integrieren und mischen beide Bildformen und spielen bewusst mit den an sie gekoppelten Rezeptionsmodi und -erwartungen. Auf Basis dieser Gemeinsamkeiten lässt sich für die untersuchten fotografischen Bilder eine Form des offen inszenierten Realismus des Randständigen als Modus des Sakralen etablieren. Das transzendente Heilige wird hier über die Fokussierung auf profane, randständige Elemente verhandelt und zudem in enge Beziehung zum Körper als Ort der Annäherung an und Erfahrung von Heiligkeit gesetzt. Die bereits im letzten Abschnitt herausgearbeiteten visuellen Marker für Transzendenz vermischen sich mit denjenigen, die das Indexikalische des fotografischen Bildes als Bezug zur Wirklichkeit betonen; es entsteht eine bewusst reflektierbare und doch affizierende Erfahrung der Präsenzwerte der eigentlich gewissermaßen transzendenten, also zeitlich und räumlich entzogenen Bildmotive. Ist das Sakrale jenes, an dem Heiliges erfahrbar wird, sich zeigt oder zur Erscheinung gebracht, mithin produziert wird (vgl. Kapitel 2), so legt der inszenierte Realismus des Randständigen die verschiedenen Modi, mittels derer Heiligkeit im Sakralen aufscheinen kann, offen und parallelisiert diese im Fotografischen: Über den Aspekt der offenen Inszenierung werden Gesten der Produktion aufgegriffen (was einer situationellen Perspektive im Anschluss an Smith entstpräche), die realistische Darstellungsweise stellt die Spuren als Einschreibungen von Wirklichkeit in den Vordergrund (was einer substantiellen Perspektive im Sinne von Otto und Eliade entspräche). Neben der Vermengung mit religiösen Symbolen und Inhalten formuliert das thematisch Randständige das Heilige strukturell in einer örtlichen Interpretation als Entzogenes, Ausgegrenztes, Transzendentes, das dennoch in seiner immanenten Manifestation (als wiederum zutiefst christliches Inkarnations-Motiv) erfahrbar wird und über den dargestellstellungsfähigkeit) und zugleich unterläuft, indem er das Verhältnis des Betrachters zum fotografischen Bild als Medium sowie zu dem in ihm gezeigten Motiv in Frage stellt. Der Begriff der Inszenierung betont diesen Aspekt und verweist sowohl auf den Überschuss zur Wirklichkeit, der fotografischen Bildern eignen kann und hier in visuellen Markern aufgegriffen wird, als auch auf das ‚In-Szene-setzen‘ der Motive im Sinne einer inszenierten Fotografie.

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ten sowie den rezipierenden Körper eine unmittelbar affizierende Präsenzwirkung entfalten kann.107 An einer solchen Ausformulierung des Sakralen als inszeniertem Realismus des Randständigen in den untersuchten fotografischen Bildern kristallisieren sich mehrere Themenstränge der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, namentlich Transgression, Berührung/Distanz, Präsenz und Barock. So verweisen Kunsthistoriker wie Jean Clair mit seiner „Ästhetik des Sterkoralen“108 oder Anthony Julius mit seiner Analyse grenzüberschreitender Kunstwerke109 auf eine Tendenz in der Kunst seit der Moderne, Randständiges als Topos aufzugreifen, auszuloten und anzuwenden. Wie in den Analysen herausgearbeitet, wird das Abjekte, inspiriert von Bataille110 und Kristeva111, als Thema und transgressiver Modus in der Kunst relevant und zudem in enge Verbindung mit Gewalt und Heiligkeit gesetzt und am eigenen oder fremden Körper ausagiert. Mit Clair lässt sich diese Tendenz als ein Diffundieren religiöser Strukturen in die Kunst begreifen.112 Aus dieser Perspektive sind Ansätze wie die Nebredas oder Serranos nicht neu – in seiner Analyse der Rolle der Avantgarde seit den 1960er Jahren beschreibt Hal Foster eine Art „Traumatic Realism“113, der insbesondere den von Nebreda und Serrano ausformulierten Vermischungen inhaltlicher und visueller Konzepte entspricht. Zugleich wird der inszenierte Realismus des Randständigen in fotografischen Bildern als struktureller Verweis auf Transformationen des Heiligen, wie

107 In Anschluss an Otto und Schlette kann es den Rezipienten ergreifen und zutiefst beeinflussen, vgl. Kapitel 2.1.2. 108 CLAIR 2004. Siehe auch die Analyse zu Nebreda in Kapitel 4 sowie zu Serrano in Kapitel 3. 109 Vgl. JULIUS 2002. Siehe auch die Analyse zu Serrano in Kapitel 3. 110 Vgl. BATAILLE 2005. 111 Vgl. KRISTEVA 1982. 112 Siehe Eingangszitat, CLAIR 2004, S. 86. Auch aus religionswissenschaftlicher Perspektive wird das Aufgehen christologischer Passionsmomente in den mit der Moderne zunehmenden Gewaltdarstellungen in der Kunst untersucht, wie das Forschungsprojekt „Bilder der Wunde / Die Wunde als Bild. Passionsimaginationen im vormodernen Christentum und in der bildenden Kunst der Moderne“ des Exzellenclusters „Religion und Politik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster zeigt. 113 Foster bezieht sich auch aktiv auf Serrano um die Vermischung des simulakralen und des referentiellen Bildanteils im „traumatic realism“ zu verdeutlichen. FOSTER 1996, S. 130.

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sie aktuell in den Kultur- und Religionswissenschaften diskutiert werden (vgl. Einleitung), deutlich.114 Parallel dazu beschreiben Krauss115 und in der Folge Dubois mit der Moderne einen Übergang von der traditionellen Kategorie des Ikons, das heißt der klassischen „Ästhetik der Mimesis“ hin zu einer Kategorie des Index, die sich sowohl als „Theorie der Abstände“116 als auch als „Ästhetik der Spur, der Berührung und der referentiellen Kontiguität“117 bezeichnen lässt. Die Fotografie, oder besser das Fotografische, steht, wie in Kapitel 2.2.2 beschrieben, paradigmatisch für diese Entwicklung, es geht jedoch grundlegend um eine allgemeine „theoretische Verschiebung“118, das heißt das Indexikalische als versetzte Berührung und Spur findet sich in anderen Bereichen der Kunst wieder.119 Wie in Kapitel 2 herausgearbeitet, kommt hier auch eine Fototheorie zum Tragen, welche die Verbindung von Realität und fotografischem Bild vermehrt in der Wirkung auf den Betrachter untersucht.120 Sind auch die transgressiven Darstellungsformen und Motive zutiefst an die von ihnen potentiell ausgehende affizierende Wirkung geknüpft – sei sie abschreckend oder faszinierend, in jedem Falle aber berührend – so wundert es nicht, dass seit den 1970er und 1980er Jahren bis heute und damit in der Kernzeit der untersuchten fotografischen Bilder, das Interesse der Forschung an einer Aisthetik im Sinne Baumgartens121 wiedererwacht, welche die Wahrnehmung als multisensorische und vorsprachliche Form der Erkenntnis in den Blick nimmt.122 Aus dieser Perspektive wird der Körper des Betrachters in 114 Jean-Luc Nancys Analyse der Macht der Bilder, die Verschränkungen zwischen Gewalt, Heiligkeit, Affekt und Bildwirkung als performative Kraft in den Blick nimmt, stützt diese These. Vgl. NANCY, Jean-Luc: Am Grund der Bilder, Berlin, Zürich 2006. 115 Vgl. KRAUSS 2000a und KRAUSS 2000b. 116 KRAUSS 1998. 117 DUBOIS 1998, S. 111. 118 DUBOIS 1998, S. 111. 119 Vgl. KRAUSS 2000a. Dabei lässt sich das photographische Bild sowohl im Sinne Dubois als Berührung, als auch – eher im Sinne Krauss‘ – als Ausformulierung einer Distanz lesen, als Moment, der die Berührung unterbricht. 120 Vgl. BAZIN 1975; sowie KEMP 2006b, S. 58. 121 Vgl. BAUMGARTEN, Alexander Gottlieb: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der ‚Aesthetica‘ (1750/58), hrsg. von Hans Rudolf Schweizer, 2. durchges. Aufl., Hamburg 1988. 122 Vgl. BARCK 2006, S. 3. Zu nennen ist hier ebenfalls BÖHME, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001. Für diesen Hinweis danke ich Sarah Maupeu.

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die Kategorie des Indexikalischen aktiv eingebunden. Die im Kapitel zu Nebreda dargelegten neurowissenschaftlichen Studien123 betonen dabei ebenso die präsente, vorsprachliche Wirkung des Dargestellten auf den Körper des Rezipienten wie die Ausführungen des Literaturwissenschaftlers Hans Ulrich Gumbrecht zur Rolle von „Präsenz“124 in der Wahrnehmung von Dingen im Raum. Gumbrecht betont, dass die den Körper unmittelbar affizierenden Präsenzeffekte nicht gleichzusetzen sind mit einer Einfühlung im Sinne eines Hineinversetzens in den Körper des Anderen, was bereits Sinn-Zuschreibung wäre.125 Vielmehr scheint sie diese zu präfigurieren. Er plädiert für eine Herangehensweise, die sowohl die Präsenz- als auch die Sinneffekte und insbesondere ihr Oszillieren in den Blick nimmt.126 In diesem Sinne kann ein inszenierter Realismus des Randständigen zunächst unmittelbar Präsenzeffekte erzielen, indem das, was als Objekt dargestellt ist, sowohl über seine Mediatisierung in potentiell dokumentarischen Bildern als auch über seine realistische Darstellungsweise als gewissermaßen präsentes Objekt der Begegnung wahrgenommen wird, das im Falle von Urin (Serrano) oder körperlichen Versehrungen (Nebreda) zudem eine besondere Beziehung zum Körper besitzt. Im zweiten Schritt kann ein gedanklicher und physiologischer Nachvollzug mitschwingen, der jedoch aufgrund der offensichtlichen ästhetischen Inszenierung der Darstellung in ein Nachdenken über die mediale Vermitteltheit dieser Präsenzeffekte umschlagen kann. Es ist auffällig, dass sich dieses Zusammenspiel von inszeniert-realistischer Darstellungsweise und Randständigem, das Präsenzeffekte befördert, diese jedoch zugleich als vermittelt präsentiert, in zwei der genannten Positionen, Serrano und Gonnord, stilistisch am Barock orientiert. Nach Bazin kulminiert innerhalb der Malerei im barocken Stil das Bedürfnis „die Zeit mit Hilfe […] des Realismus“, verstanden als illusionäre Wiedergabe des Wirklichen, angereichert mit einer dramatisch-psychologisierenden Bewegungsdimension, zu überwinden und „den Menschen durch sein Abbild zu retten“.127 Unter Rekurs auf André Malraux sieht er das fotografische Bild als Verlängerung oder finale Erfüllung dieses realistischen Stils, der sich jedoch weniger aus der Abbildungsleistung, 123 Vgl. etwa FREEDBERG, GALLESE 2008. 124 GUMBRECHT, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt am Main 2004, S. 12 und S. 11f. Auch bei Gumbrecht wird die Wahrnehmung situativ und örtlich gedacht als Wahrnehmung von Objekten im Raum – parallel zur Analyse aktueller Phänomene des Heiligen, die ebenfalls, wie unter 6.1 herausgestellt, den räumlichen Charakter heiliger Phänomene in den Blick nimmt. 125 GUMBRECHT 2004, S. 12. 126 GUMBRECHT 2004, S. 12. 127 BAZIN 1975, S. 21 und S. 22.

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als vielmehr aus ontologischen Präsenzeffekten speist.128 Unter der Voraussetzung einer modernen Desillusionierung gegenüber dem Wahrheitsgehalt fotografischer Bilder und im Bewusstsein ihres manipulativen Potentials kann ein solcher „Hunge[r] nach Illusion“129 mittels Fotos nur noch bedingt befriedigt werden, wenn auch, wie insbesondere die Analyse zu Nebreda gezeigt hat, die steigende Mediatisierung der Welt die Erfahrung von Realität zunehmend dringlicher erscheinen lässt.130 Die untersuchten Positionen von Serrano, Gonnord und Nebreda spitzen den Realismus des fotografischen Bildes demnach zu, indem sie sowohl die Abbildungsleistung eines barocken Realismus, verstanden als möglichst wirklichkeitsgetreue Wiedergabe, aufgreifen, als auch über den Rekurs auf basale körperliche Erfahrung den Körper der Dargestellten gewissermaßen als Trigger für Präsenzeffekte im Körper des Betrachters verwenden.131 So scheinen im Kontext der oben dargelegten Entwicklung transgressive Bilder und Präsentationen des Randständigen – und hier insbesondere des körperlich Randständigen – ein gewisses, unbewusstes Reservoir einer Rezeptionspraxis reaktivieren zu können, mittels der Realität trotz allgemeiner Mediatisierung vermeintlich erfahrbar wird, seien es genaue Blicke auf Körper (Gonnord), Darstellungen gewaltvoller Handlungen wie bei Nebreda oder Bilder, welche Präsenzeffekte über Körperflüssigkeiten befördern wie bei Nebreda und Serrano. Betont Gumbrecht für die Präsenzerfahrungen die Materialität des Objekts132, so offenbart sich an der Haut und dem Blick unter die Haut, das heißt den Körperflüssigkeiten als Blick ins Körperinnere, „stets aufs Neue das Verhältnis von innen und außen, weil sie im Hinblick auf die Frage, wo das Selbst zur Welt wird und umgekehrt, eine Zone des Übergangs und der Ungewissheit bezeichnet.“133 Die Präsenz der Haut des dargestellten Anderen wird über den vermeintlich indexikalischen Charakter des fotografischen Bildes zusätzlich gesteigert: Dieses ist als fixiertes Licht Teil einer, wie Roland Barthes formuliert, metaphorischen „Nabelschnur“ oder eben „Haut, die ich mit diesem oder jener teile, die einmal photographiert worden sind.“134 Die Haut fungiert hier also zweifach als Schwelle der körperlichen Be-

128 Vgl. BAZIN 1975, S. 22f. 129 BAZIN 1975, S. 23. 130 Vgl. Kapitel 4.3 und FROHNE 2002. 131 Vgl. hierzu insbesondere Kapitel 4.3 in der Analyse zu Nebreda. 132 GUMBRECHT 2004, S. 11. 133 ELSAESSER, HAGENER 2011, S. 141. 134 BARTHES 1989, S. 90f. Wie Thomas Elsaesser und Malte Hagener explizieren, wird diese Metapher der Haut von Laura Marks für den Film aufgegriffen und adaptiert und

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rührung, in Bezug auf das dargestellte Motiv sowie als Metapher auf die Materialität des fotografischen Mediums – insbesondere dann, wenn sie Formen der performativen Berührung und Oberflächenzerstörung ausgesetzt ist, die den Körper des Anderen zusätzlich aufritzen, markieren oder als Objekt einer Handlung bestätigen (vgl. Kapitel 4). Während diese Bilder auf Präsenzeffekte zielen, wird zugleich der Realismus als Inszenierung, als gewählte und ausgestaltete Abbildungsleistung des fotografischen Mediums offengelegt.135 Der inszenierte Realismus fungiert als Distanzmarker, der den Bruch fotografischer Bilder zu der ihnen vorgängigen Wirklichkeit betont und sie als Mittel zur engagierten Reflexion von Wirklichkeit präsentiert. Mittels dieses Paradoxons einer auf Präsenzeffekte angelegten Bilderfahrung, die zugleich ihre Vermitteltheit verdeutlicht, kann der Betrachter zur kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Glaubensbedürfnis, das bewusst oder unbewusst an Bilder herangetragen wird, angeregt werden. Die im Kapitel 4.3 zu Nebreda dargelegten, verschiedenen kulturellen und religiösen parallel laufenden Verlangen des Menschen nach Realität, die neben Bazin auch bei Eliade, Otto, Frohne, Dubois sowie Cobb anklingen,136 werden somit als immer noch präsenter, oft unterschwelliger Wunsch des Menschen beleuchtet und potentiell als kryptoreligiöses137 Verhalten im Sinne Eliades reflektiert. Klaas Huizing hebt eine ähnliche Tendenz am Beispiel des Films Trueman Show hervor, der sich gewissermaßen als Vorführung einer Form des inszenierten Realismus lesen lässt: „Hier wird noch einmal die Authentizität gefeiert. Wenn denn alles inszeniert ist, und wenn alle darum wissen, dann sehnt sich jeder nach Echtheit und spürt fieberhaft diesen Erfahrungen nach – obwohl niemand sicher sein kann, dass Gesten authentisch und nicht inszeniert sind. […] Die leibliche Bewegung, die hier mitvollzogen werden soll, ist die des Überstiegs, der Ekstase, vulgo: des Ausstiegs aus der Nicht-Authentizität“

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als Theorie der materiellen Sinngenese ausformuliert, vgl. ELSAESSER, HAGENER 2011, S. 157. 135 Über diesen Aspekt differieren die Bilder von den bei Frohne untersuchten Positionen der 1990er Jahre, die den Aspekt der Vermitteltheit zurücktreten lassen zugunsten eines Eintauchens in die dargestellte Situation, vgl. FROHNE 2002. 136 Vgl. hierzu Kapitel 4.3; sowie ELIADE 1998, S. 29; OTTO 2014, insbesondere S. 15 und S. 42f.; FROHNE 2002, S. 401, 403f. und 409f.; DUBOIS 1998, S. 85 (Eingangszitat); und COBB 2005, S. 292. 137 Vgl. ELIADE 1998, S. 25. 138 HUIZING 2003, S. 95f.

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In transgressiven Bildern wie Piss Christ, die sich explizit auf Heiliges beziehen, spiegelt sich zudem eine erneute Vermengung des Profanen mit dem Heiligen, wie die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth List sie als typisch für die Postmoderne im Gegensatz zur Moderne hervorhebt.139 Auch die weniger vordergründigen, eher impliziten Vermischungen des Heiligen und Profanen mittels einer Inszenierung des Randständigen als Modus des Sakralen lassen sich aus dieser Perspektive lesen. Gonnords, Serranos und entfernt auch Nebredas visuelle Orientierung am Barock, insbesondere in seiner sevillanischen Prägung, in dem eben eine solche formale und inhaltliche Vermischung des Heiligen mit dem Profanen betont wird, ist aus dieser Perspektive nicht nur als stilistischer Anschluss sondern als Aufgreifen barocker Themenkomplexe zu deuten. Die Fotografen stehen dabei nicht allein in ihrer Übernahme und Aneignung des Barock – das Barocke als Stil, inhaltliches Thema und Denkfigur wird aktuell sowohl in der Kunst, etwa von Louise Bourgeois140, als auch in der Forschung, etwa von Mieke Bal141, aufgegriffen. Es handelt sich um eine Form der Fortführung und des Wiederbelebens religiöser Bildstrukturen, die eng an realistische Darstellungsweisen geknüpft sind und die Immanenz des Heiligen im Profanen als Konvergenz verschiedener Realitäten, die sich am Körper auskristallisieren, betonen, während sie sie zugleich aktiv reflektieren.142 Zugleich ist diese Oszillation des Bildes „zwischen Zeichen und Präsenz“143 zutiefst religiös verankert. Fotos, die in Form eines inszenierten Realismus Präsenzeffekte auslösen, zielen somit zunächst auf die Erfahrung von Präsenz und Realität im Verhältnis des Selbst zur Umwelt. Sie erfüllen damit ein kryptoreligiöses Verlangen, das der Erfahrung hierophaner Strukturen oder Setzungen parallel läuft, die eine Orientierung in der Vielfalt der Erfahrung bieten.144 Den fotografischen Bildern von Serrano, Gonnord und Nebreda wohnt damit das Potential inne, Sinn-Ordnungen zu generieren und in einer auf Medialität ausgerichteten Welt Erfahrungen eines Unbedingten zu bieten – des Körpers. Zugleich wird dieses Potential stets als 139 Die mit der Moderne vollzogene Trennung der profanen und der heiligen Sphäre, so List, werde in der Postmoderne wieder zurückgebildet, vgl. LIST 2004, S. 447. 140 Vgl. BAL 2002, S. 62. 141 Vgl. BAL, Mieke: Quoting Caravaggio. Contemporary Art, Preposterous History, Chicago 1999. Siehe zudem KITTNER, Alma Elisa, VON FLEMMING, Victoria (Hg.): Barock – Moderne – Postmoderne: ungeklärte Beziehungen, Wiesbaden 2014. 142 Die Übernahme barocker Modalitäten gestaltet sich dabei weitaus komplexer, wie Mieke Bal deutlich in ihrem Buch herausarbeitet, vgl. BAL 1999. 143 HOEPS, Reinhard (Hg.): Handbuch der Bildtheologie, Paderborn 2014, Bd. 3 (Zwischen Zeichen und Präsenz). 144 Vgl. Kapitel 4.2 der vorliegenden Arbeit.

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Vermitteltes reflektiert. Vor diesem Hintergrund wird auch die Rekurrenz auf die Figur des Märtyrers und der Passionsgeschichte als Form der Verhandlung von Erfahrungen körperlicher Realität, die zugleich mit einer ganz anderen Realität konvergiert, relevant. Dabei wird weniger das religiöse Narrativ, sondern vielmehr die körperliche Erfahrung in den Vordergrund gerückt, die im Rahmen des dargelegten Diskurses als eine der letzten Bastionen realer Erfahrung, verstanden im Sinne von Schlettes „letzte[n] Werte[n]“145, in einer mediatisierten und vermittelten Welt verständlich wird. Das bereits sakral ausformulierte Heilige in Gestalt der (primär christlich geprägten) Märtyrerfigur wird somit zwar inhaltlich thematisiert, dient jedoch auch als Schnittstelle und Angelpunkt, anhand dessen aktuelle mediale Aspekte und Formen der Erfahrung von Bildern und Wirklichkeit verhandelt werden können. Gerade in Bezug auf die im Kapitel zu Gonnord explizierten Lesarten seiner Bilder im historisch-politischen Kontext der spanischen Wirtschaftskrise und im Kontext der Theorie von René Girard zur gesellschaftlichen Funktion des Opfers wird deutlich, dass eine dergestalt vermittelte randständige Realität des Sakralen eine anthropologische Funktion erfüllen kann, indem sie auf bildtheoretischer Ebene einen politisch-sozialen Raum öffnet: Das fotografische Bild wird zur affizierenden visuellen Erfahrung, die innerhalb einer zunehmend als zersplittert wahrgenommenen Welt interpretatorische Angebote zur Sinnzuschreibung und Rehabiliterung einer sich zunehmend als heterogen erfahrenden Gesellschaft liefert. Auf Basis der Analysen lässt sich somit sagen, dass das Randständige im Gewand eines inszenierten Realismus eine besonders fruchtbare Schnittstelle für die Verhandlung von inhaltlichen und strukturellen Merkmalen von Heiligkeit in fotografischen Bildern zu bieten scheint, seien sie traditionell, als strukturelle Spuren von Religiosität oder als Formen der Individualisierung von Glaubensansätzen verstanden. Der inszenierte Realismus des Randständigen ist jedoch nicht die einzige, sondern lediglich eine besonders relevant erscheinende, unter den vielfältigen Möglichkeiten der Verhandlung des Heiligen und des Sakralen, wie die multiplen Gesten der Sakralisierung, Ent- und Resakralisierung, die in den Analysen der Fotografien Gonnords, Nebredas und Serranos zu Tage treten, aufzeigen. Ausgehend davon sollen im Folgenden weitere Schnittstellen der Analysen skizziert werden, in denen Heiliges und Sakrales inhaltlich oder strukturell thematisiert wird, namentlich der Umgang mit Symbolen, die Humanisierung des Heiligen, die Sakralisierung des Menschen sowie mediale Reflexionen zu Glaubenspraktiken. Teilweise bilden diese Bereiche noch einmal thematische Unterpunkte aus.

145 SCHLETTE 2009, S. 112; sowie Kapitel 2.1.2 der vorliegenden Arbeit.

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So werden als zweite Tendenz durch die teils transgressive, teils geöffnete Verwendung von Symbolen in Piss Christ und den Fotografien Nebredas sakrale und religiöse Traditionen in Frage gestellt und auf ihren zeitgenössischen Bedeutungsgehalt abgetastet. Mit der Verbindung verschiedener sakralisierender und desakralisierender Gesten in Bezug auf Heiliges kann eine Reflexion über Wahrnehmungsmuster, Darstellungstraditionen und die dahinter stehenden gesellschaftlichen und individuellen ethischen, moralischen und religiösen Wertvorstellungen angestoßen werden. Das Symbol dient als eine Art Denkfigur, die auch den Zeichenstatus des fotografischen Bildes reflektiert. Da über die Einbindung religiöser Symbolik eine eindeutig religiöse, meist konfessionell und institutionell verankerte Zielkategorie formuliert wird, stellt sich die Frage, in welchem Kontext und mit welcher Intention Bilder dieser Art in Umlauf gebracht werden und inwiefern sie als blasphemische Kunst rezipiert werden. In der Gegenüberstellung des Skandals um Piss Christ und des Malers Johannes Torrentius, der 1627 der Produktion blasphemischer Bilder beschuldigt wurde, hebt S. Brent Plate hervor, dass sowohl die Anschuldigungen als auch die Bestrafungen für als blasphemisch interpretierte Bilder sich ändern.146 Die Konsequenzen der zwei Fälle differieren in der Tat stark – Torrentius wurde gefoltert und anschließend zu zwanzig Jahren Haft verurteilt, Serrano wurde durch die Kontroverse als Künstler ins Rampenlicht gerückt.147 Die Art des Umgangs mit Symbolen, wie sie sich bei Serrano und Nebreda zeigt, kann demnach affirmatives, kritisches oder ironisches Potential beinhalten, sie kann aber auch als Affront wahrgenommen werden – eine Einschätzung, die zeithistorische Ansichten spiegelt und selbst dem Wandel der Zeit unterliegt. Als zeithistorisch-dokumentarischer wie humorvoll bis nachdenklich stimmender Kommentar auf die Relation heiliger Symbole und ihrer öffentlichen Präsentation und Referenz liest sich das in Paradise L’Ost vorgestellte fotografische Werk des Kunsttheoretikers und Fotografen Uli Bohnen. Auf zahlreichen, 1994 und 2005 unternommene Reisen, insbesondere in Länder des nicht mehr existierenden beziehungsweise untergehenden Realsozialismus entstand eine visuelle Studie zum generellen Umgang mit christlichen wie sozialistischen Symbolen, welcher, sich stetig wandelnd, den jeweiligen politischen Gegegbenheiten unterliegt.148 In eine ähnliche Richtung zielen 146 Vgl. PLATE 2006, S. 131. 147 Bei den Bildern, für die Torrentius verurteilt wurde, handelte es sich wohl um pornografische Darstellungen mythologischer Sujets, vgl. PLATE 2006, S. 131. Später wurde er begnadigt und Hofmaler am Englischen Hof. Für eine tiefergehende Lektüre, vgl. BREDIUS, Abraham: Johannes Torrentius, ‘s-Gravenhage 1909. 148 Vgl. Ausst.Kat.: Paradise L’Ost, Von der Heydt-Museum Wuppertal, Wuppertal, 2006.

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die Fotografien der Künstlerin Martha Laugs. America After Jesus zeigt seit dem Jahr 2000 entstandene Aufnahmen von kirchlichen Werbetafeln oder Werbetafeln mit religiösen Untertönen aus dem amerikanischen Südosten. In Großbuchstaben zeugen Nachrichten wie „Coming soon, Jesus, Dont miss him!“ oder „Eternity, Smoking or Non-smoking“ von der paradoxen Durchmischung religiöser und werbender Absichten und stellen die Frage nach dem Status des Religiösen im öffentlichen Raum.149 Kann das Heilige als Denkfigur und zur Reflexion für diese Entwicklungen dienen, so können seine Symbole, wie auch Böhm und Krech hervorheben, dabei auch anderweitig eingesetzt werden. Etwa, indem sie die Valenz des Heiligen als „Letztgültigkeit“ in säkulare Kontexte überführen und kulturelle Objekte mit einer Aura der Unverfügbarkeit, ja einer „Aura des Heiligen“ aufladen.150 Die Website „glauben & kaufen“ stellt Werbeanzeigen zusammen, die in diesem Sinne einem „religiöse[n] Kapitalismus“ fröhnen, indem sie etwa christliche Symbole zur Bewerbung von Jeans verwenden.151 Daran anschließend können auch visuelle Marker, denen traditionell religiöse Valenz eignet,152 wie etwa die Lichtspots, im Sinne eines Sakraltransfers ihre Potenz in säkularen Kontexten, etwa Werbung und Kunstmarkt, entfalten. So können beispielsweise Größe und Licht zu einer Art (post-)säkularen Ökonomie beitragen, in der große, farbige Objekte mit Leuchtkraft, wie etwa die Skulpturen eines Jeff Koons oder großformatige Farbfotografien eines Andreas Gursky auf dem Kunstmarkt Höchstwerte erzielen. Versteht man diese Zeichenelemente als variabel lokalisierbare Wertträger, so wären religiöse Symbole, Marker mit religiöser Valenz und Marker allgemeiner Valenz in diesem Sinne als eine Art „currency“153 einer Aufmerksamkeitsökonomie zu deuten, die über den religiösen Kontext hinaus auch in profanen Bereichen wirksam werden kann. Es handelt sich dabei, wie Andres Serrano mit der Gleichung Urin und rot-goldene Sakralisierung offen legt, nicht um eine per se sakrale Bildlichkeit, die stets auf Heiliges verweist. Die Korrelation von Sakralisierung und Fokussierung von Aufmerksamkeit impliziert jedoch ein Diffundieren traditionell für die Visualisierung von Heiligkeit verwendeter 149 Ausst.Kat.: America After Jesus, Museum Morsbroich, Leverkusen, 2005, o. S. 150 Beide Zitate von KRECH 2005, S. 15. Siehe ebenfalls BÖHM 2009, S. 105. 151 www.glauben-und-kaufen.de (11.06.2015). 152 Vgl. hierzu Abschnitt 6.2 der vorliegenden Arbeit. 153 Die Fotografen Adam Broomberg and Oliver Chanarin setzen sich in und über ihre Fotografien mit fotografischen Bildern als currency auseinander, beleuchten dabei jedoch andere Aspekte. COLBERG, Jörg: A Conversation with Adam Broomberg and Oliver

Chanarin,

in:

Conscientious

Photo

Magazine,

http://cphmag.com/convo-broomberg-chanarin/ (04.08.2018).

22.07.2013,

unter:

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Bildlichkeit in profane Strukturen. Im Umkehrschluss wäre perspektivisch zu fragen, inwiefern solche profanen Bildstrukturen mit einem ähnlichen Instrumentarium wie dem Vorliegenden auf Sakralisierungsprozesse untersucht werden könnten.

Abb. 6.1: Chris Burden, Trans-Fixed, 23. April 1974, Venice, Kalifornien, USA, Schwarz-Weiß-Fotografie

In einer dritten Kategorie lässt sich eine Tendenz festhalten, die darauf zielt, das Heilige zu humanisieren, beziehungsweise es über die Einbindung von (im weitesten Sinne) echten Körpern zu verlebendigen und zu aktualisieren. Hierzu zählt Serranos Verbindung von Christusfigur und Körperflüssigkeit, liest man letztere als Verweis auf die höchst menschlichen und körperlichen Facetten des Kreuzigungsaktes, wie in der Analyse unter Bezug auf Serranos eigene Aussagen herausgearbeitet wurde. Nebredas Inszenierungen als Märtyrer und Gonnords Aktualisierung der auf den Gemälden Zurbaráns dargestellten Geistlichen und Heili-

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gen lassen sich ebenfalls als Humanisierung und Aktualisierung heiliger Qualitäten lesen. Diese Kategorie geht auf in dem Zusammenfall von Profanem und Heiligem, wie sie oben im inszenierten Realismus des Randständigen beschrieben wurde. Die Zahl zeitgenössischer Künstler, die in Form von fotografischen tableaux vivants Reinszenierungen der Passionsgeschichte entwerfen und somit das Sujet in zeitgenössischen menschlichen Körpern aktualisieren, stellt vermutlich den Hauptteil religiöser Verhandlungen in fotografischen Bildern dar.

Abb. 6.2: Serge Bramly und Bettina Rheims, Die Dornenkrönung, Serie I.N.R.I., 1998, Farbfotografie

Die Vertreter reichen von dem bereits besprochenen F. Holland Day (Kapitel 2, Abb. 2.1) über Chris Burdens fotografische Dokumentation seiner Performance Trans-fixed, bei der er sich 1974 auf einen VW-Käfer nageln ließ (Abb. 6.1), bis zu Bettina Rheims / Serge Bramlys Serie I.N.R.I, 1997-1999, einer Nachstellung des Lebens Christi in 200 Fotografien (Abb. 6.2) oder David LaChapelles Jesus is My Homeboy, von 2003, einer poppigen Reinszenierung von Bibel-Szenen (Abb. 1.2). Enthält Burdens Arbeit gesellschaftskritische Elemente, die den Akt der Kreuzigung entmystifizieren, indem er den Volkswagen einbindet, so stellt I.N.R.I. auch die Kindheit des Gottessohnes in Fotografien vor und integriert zu-

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dem Gender-Reinterpretationen, indem auch ein Frauenkörper gekreuzigt wird. Die Humanisierung insbesondere des christlichen Heiligen vergegenwärtigt das Thema demnach, indem es mittels der Fotografie ein Alltagsmedium aufgreift und mit dessen Verbindung zur Realität spielt, verschiedene provokative, affirmative und ironische Untertöne bleiben dabei nicht aus. Zugleich lässt sich diese Art der Verwendung als Reflexion des menschlichen Bedürfnisses lesen, sich in größere Rahmenzusammenhänge sinnvoll einzubinden, seien es religiöse, ökonomische (Volkswagen) oder soziale (die Homeboys). Beide Tendenzen, der Umgang mit Symbolen wie die Humanisierung des Heiligen schließen an die in der Einleitung ausgeführten Tendenzen der 1970er und 1980er Jahre an. Als vierter Tendenz lässt sich von einer Sakralisierung der auf den Bildern dargestellten Personen sprechen. Dies ist eindeutig der Fall bei Nebreda, der sich selbst sakralisiert und bei Gonnord, der mit seinen fotografischen Portraits von Menschen am Rande der Gesellschaft die Dargestellten formal-ästhetisch und in Anlehnung an Heiligenbilder sakralisiert. Ähnliche Sakralisierungen finden sich, wie bereits in der Analyse zu Gonnord angedeutet, in historischen und zeitgenössischen humanistisch ausgerichteten sozialdokumentarischen Fotografien, wie Bilder von Dorothea Lange (Abb. 5.16), Giles Peress oder Sebastião Salgado (etwa die Serie Migrations) zeigen. Auch hier werden aus der Gesellschaft oder spezifischen sozialen Strukturen Ausgegrenzte mit formal-ästhetischen Mitteln und unter Rückgriff auf ikonografische Anleihen sakralisiert und, so wäre zu untersuchen, gerade darüber eventuell auch wieder ausgegrenzt (vgl. Kapitel 6.1). Grundsätzlich zielen diese Bilder auf eine Idealisierung des Guten im Menschen und rufen damit christliche Themen wie Nächstenliebe und Gemeinschaft auf. Auf einen anderen Aspekt der Sakralisierung verweisen Nebredas idealisierende Selbstentwürfe: Soll hier mittels der Fotografie ein Selbstbild erschaffen werden, das transformativ auf den eigenen Körper zurückwirkt, so zeigt sich darin eine Praxis des Fotografischen die aktuell in Form der selfies154 exzessiv in sozialen Netzwerken ausgelebt wird und unterschwellig ein nicht zu geringes Maß an magischem Bilderglauben beherbergt, den das Fotografen-Duo Adam Broomberg und Oliver Chanarin wie folgt beschreibt: „There is a hidden promise built into the act of making a photograph, particularly with portraiture. A hint of salvation, as if the camera can act as a portal to a better place.“155 Auch in selfies werden oftmals formal-ästhetische Marker wie verfremdende Farbfilter, ma154 Für verschiedene Lesarten der selfie-Praxis siehe HEIFERMAN, Marvin: Here’s Looking At Me, in: still searching. An online discourse on photography, 13.11.2013, unter: http://blog.fotomuseum.ch/2013/11/iv-heres-looking-at-me/ (04.08.2018). 155 COLBERG 2013.

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lerische Anklänge oder Unschärfe-Filter als currency zur Selbstoptimierung angewandt, was sich in der Popularität von Apps wie Instagram oder ähnlichen widerspiegelt. Mischt Ikonophilie sich hier in meist harmlosen Ausmaßen mit Selbstverliebtheit und Unsicherheit, so verkehrt sich bei Nebreda die Selbstoptimierung ins Negative und wird bis zur letzten Konsequenz als Zerstörung des wirklichen Körpers für die Produktion des fotografierten, besseren Ichs ausagiert. Als fünfte Tendenz lassen sich medienreflexive Aspekte zusammenfassen, die im weitesten Sinne Gesten und Praktiken der Annäherung an Heiliges oder allgemein Entzogenes reflektieren. Wie in Kapitel drei herausgearbeitet, ruft der Titel von Serranos Piss Christ aktiv den fotografischen Herstellungsprozess auf und stellt so den Glauben des Betrachters an das Dargestellte in Frage. Verweise auf Reste eines naiven fotografischen Bilderglaubens schwingen hierin ebenso mit, wie Hinweise auf ein grundsätzliches Glaubensbedürfnis des Menschen. Darüber hinaus reduzieren die unscharfen Stellen die abbildend-mimetische Funktion des fotografischen Bildes, laden es mit einer Aura des Transzendenten auf und heben zugleich den Anteil des Betrachters bei der Interpretation dieser Leerstelle hervor. Nebreda integriert über das Selbstportrait, in dem er eine Glasplatte an seinen Körper drückt (Abb. 4.11), Anspielungen auf den fotografischen Prozess als Einschreibung in Tradition an christliche Inkarnations- und bildliche Selbsteinschreibungsprozesse und reflektiert allgemeiner das Fotografieren als Praxis der Weltaneignung und Selbstverortung, wie insbesondere im Vergleich zur Hierophanie deutlich wurde (vgl. Kapitel 4). Gonnord reflektiert über die malerischen Anklänge seiner Bilder deren sakralisierende Fähigkeiten sowie die Annäherung des Betrachters an Bilder (vgl. Kapitel 5). Diese Werke lassen sich als Reflexionen über die ikonischen Fähigkeiten des fotografischen Bildes, sinnstiftende Vorstellungsbilder zu generieren, lesen. Der Akt des Fotografierens wird bei Gonnord wie bei Nebreda zum Ritual, dass der Sakralisierung und der Festschreibung von Identität in größeren Zusammenhängen dient. Über diesen rituellen Charakter wird das Fotografieren zur ins Profane diffundierten, sakralen Geste, die sinnstiftend, verklärend und orientierend wirken kann und zudem den Glauben des Einzelnen an dargestellte Realitäten und vermittelte Wahrheiten in Frage stellt. Wie ein abstrahierender Kommentar auf diese Tendenzen erscheinen die Fotografien Iwajla Klinkes: Auf ihren Portraits der Serie Ritual Memories blicken junge Menschen, mit Mäusen, Regenwürmern, Servietten und brennenden Kerzen geschmückt, mit feierlichem Gesichtsausdruck in die Kamera (Abb. 6.3). Die fotografischen Portraits untersuchen die enge Verflechtung von sakralen Schmuckelementen, die hier besonders fremdartig

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wirken, mit Spiritualität und Identitätsformung.156 Sie sind ein Verweis darauf, dass den Riten des Übergangs heute der Akt des Fotografierens an die Seite gestellt ist, der, auch wenn symbolische oder religiöse Zeichen nicht lesbar sind oder fremd erscheinen, doch den Prozess als rituelle Geste festhält und bezeichnet.

Abb. 6.3: Iwajla Klinke, Tim, Berlin, 2011, Serie Ritual Memories, Farbfotografie

156 Vgl. YEH, Chia-Chen: Ritual Memories by Iwajla Klinke, in: Alles Berlin/ Photography, 14.03.2011, unter: http://alles.blog.com/2011/ritual-memories-iwajla-klinke/ (30.06.2015).

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6.4 A USBLICK Es hat sich gezeigt, dass die Möglichkeiten der Verhandlungen des Heiligen und Sakralen in fotografischen Bildern äußerst vielfältig sind: Als Haupttendenzen in den untersuchten Positionen von Serrano, Nebreda und Gonnord konnten ein inszenierter Realismus des Randständigen, der kritische, provokante, affirmierende und ironisierende Umgang mit Symbolen, die Humanisierung des Heiligen, die Sakralisierung der menschlichen Figur als auch medienreflexive Tendenzen, die das Fotografieren zu Glaubenspraktiken, der Annäherung an Entzogenes und Formen der rituellen Sinnstiftung in Bezug setzen, herausgearbeitet werden. Die in der Einleitung explizierten, vielfältigen philosophischen, kultur- und religionswissenschaftlichen Verhandlungen des Heiligen, sei es im Sinne einer (post-)säkularen Wiederkehr, eines Nachklingens oder Diffundierens in profane Strukturen oder der Hybridisierung und Individualisierung religiöser Tendenzen, finden somit ihren Widerhall in fotografischen Auseinandersetzungen. Im Umkehrschluss können diese Werke Aufschluss darüber bieten, in welchen Formen und welchen Praktiken das Heilige heute thematisiert wird und strukturell nachklingt. Insbesondere der Akt des Fotografierens als solcher erscheint in dieser Hinsicht relevant. Die methodische Herangehensweise über fundierte und ausführliche Einzelananlysen erwies sich als äußerst fruchtbar, auch wenn aufgrund der damit einhergehenden, nötigen Beschränkung der Analysen auf drei Positionen nicht per se von einer Allgemeingültigkeit des Analysemodells ausgegangen werden kann. Die vorliegende Untersuchung dient somit perspektivisch als historisch und theoretisch fundierte Basis, auf der weitere Untersuchungen fotografischer Verhandlungen von Heiligkeit und Sakralität ansetzen können. Insbesondere die erarbeiteten Analysekriterien sowie die Zusammenführung und Ergänzung der strukturellen Parallelen zwischen Medium und Thema in Kapitel 6.1 und der sakralen Marker in 6.2 kann als Grundlage dienen, um die Funktionsweise und Wirkmacht von fotografischen Bildern in Bezug auf Heiliges und Sakrales genauer zu untersuchen. Vor dieser Folie ergeben sich vielfältige Forschungsfelder, für welche das Analysemodell fruchtbar erscheint. Zum einen können, wie in Kapitel 6.3 angedeutet, die genannten Tendenzen, wie etwa die Verhandlung der Symbole des Heiligen oder die Sakralisierung des Menschen thematisch um ähnliche Positionen erweitert und als eigene Kategorien vertiefend untersucht werden. Zum anderen ergeben sich ergänzend Übertragungen auf andere Bereiche: So sind die transgressiven, den Körper versehrenden Gesten von Nebreda auf einer medien-

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reflexiveren Ebene und mit anderer Intention als Versehrungen des Bildraums und der Bildfläche wiederzufinden: Daniele Buetti etwa durchsticht die fotografische Fläche und leuchtet diese von hinten strahlend aus oder verletzt metaphorisch die Haut der von ihm portraitierten Models, wenn er in ihre Gesichter nachträglich Markenzeichen ‚eintätowiert‘. Auch bei Miguel Rothschild findet sich eine Versehrung des Bildraums, wenn in fotografischen Bildern von Kirchenfenstern der Bereich des Fensterglases ausgestanzt wird und die Schnipsel wie kondensierte Lichtmosaike installativ innerhalb eines Plexiglasrahmens vor dem Bild zu liegen kommen (Abb. 6.4). Anders als bei Nebreda liegt die Wirkmacht des Bildes hier nicht in seiner Verbindung zum Realen, sondern genau in dem Bruch mit der ihm vorgängigen Realität – ähnlich wie bei Serranos Überbelichtungen wird das fotografische Bild geöffnet hin zu einer anderen Dimension, die eine entzogene Leerstelle bildet und je nach Betrachter, ergreifende, ironisierende oder medien- und kulturreflexive Reaktionen zeitigen kann.

Abb. 6.4: Miguel Rothschild, Blessed are those who have not seen and yet have believed, 2011, Farbfotografie (perforierter C-Print, loses Konfetti produziert durch den Perforationsprozess)

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Die installative Dimension verdeutlicht bereits, dass das Fotografische nicht nur die Form eines Bildes im Raum annehmen kann, sondern auch hybride Strukturen zwischen Objekt, digitaler Datei, Projektion und Video ausbildet. In diesem Sinne wäre die Untersuchung auf Verhandlungen des Heiligen in fotografischen Installationen und Videos auszuweiten, wobei hier insbesondere der Aspekt des Immateriellen der Videoprojektion relevant scheint, wie etwa jüngst eine Videoarbeit von Judith Albert im Münster von Zürich zeigte.157 Auch wäre es lohnend, die Verortung fotografischer Bilder und Installationen in sakralen Räumen genauer zu analysieren – welche Schnittstellen und Wechselwirkungen ergeben sich hier zwischen fotografischem Bild- und Sakralraum?

Abb. 6.5: Santiago Sierra/Julius von Bismarck, No mithilfe des Fulgurators über den Papst projiziert, Weltjugendtag, Madrid 2011, Schwarz-Weiß-Fotografie

157 Ausstellung Judith Albers. PROLOG (Videoinstallation), Krypta, Grossmünster, Zürich, 29.05.-02.07.2015.

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Eine vielschichtige medienreflexive und religionskritische Aktion im öffentlichen Raum initiierte der Künstler Santiago Sierra in 2011: Bei einem öffentlichen Auftritt des Papstes im Rahmen des Weltjugendtags in Madrid strahlte er für den Bruchteil einer Sekunde mit einem Laser ein großes „NO“ in weißer Leuchtschrift hinter den Papst (Abb. 6.5). Im Ablauf des Zeremoniells nicht zu bemerken, erschien das „NO“ als religionskritischer Kommentar in den privaten fotografischen Bildern der zahlreichen, das Ereignis bildlich fixierenden Besucher. Das fotografische Bild mit seiner Eigenschaft, auch das „OptischUnbewußt[e]“158 aufzuzeichnen, wird hier subversiv zur Verhandlung institutionsgebundenen Glaubens eingesetzt. Zugleich werden naiv-magische Qualitäten des Mediums aktiviert, indem sich, einer Apparition gleich, das „NO“ dem einzelnen Nutzer zeigte, seinem Nachbarn, der eine Sekunde später auf den Auslöser gedrückt hatte, jedoch vorenthalten blieb. Den Status fotografischer Bilder als Medien nicht nur der Aneignung, sondern auch der Offenbarung reflektieren Positionen wie Anna Malagrida oder – mit stärker religiösem Bezug – Catherine Balet. Malagrida zeigt Menschen in der Dunkelheit, vor leuchtenden Computer

Abb. 6.6: Anna Malagrida, Álvaro, Serie Telespectadores, 1999-2000, Diapositiv in Lichtboxen, bewegtes Licht, 60 x 60 x 25 cm

158 BENJAMIN 2007, S. 41.

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Abb. 6.7: Catherine Balet, Untitled, Serie Strangers in the light, 2008-2010, Farbfotografie

bildschirmen, welche die Gesichter der Betrachtenden gleichsam erstrahlen lassen (Abb. 6.6). Balets Fotografien reinszenieren etwa die Anbetung Jesu, indem die Menschen an der Krippe das Kind durch Tablets und Smartphones betrachten, deren seltsames Strahlen, das Balet als „digital twilight glow […] the chiaroscuro of the 21st century“159 beschreibt, als einzige Lichtquelle die Szenerie erleuchtet (Abb. 6.7). Als interessanter kategorialer Gegenpol zu der mit dieser Arbeit vorgenommenen Konzentration auf den Körper ist zudem gerade die Absenz des menschlichen Körpers, beziehungsweise die Konzentration auf Himmelskörper zu nennen, die von zeitgenössischen Positionen in verschiedenen Formen aufgegriffen wird. So zeigt etwa Bae Bien-U Fotografien sakraler Wälder Koreas (Abb. 6.8), die ebenfalls stark auf visuelle Marker wie Unschärfe und Überbelichtung zurückgreifen, während Joan Fontcuberta mit dem ursprünglich für wissenschaftliche und militärische Zwecke entworfenen Programm Terragen, vom Menschen unberührte Landschaften auf dem Computer entwirft, welche die Naturerfahrung in mythischer Reinheit kondensieren.160 Izima Kaoru zeichnet den Lauf der Son-

159 BALET, Catherine: Strangers in the light, Göttingen 2012, S. 7. 160 Serie Orogenesis. Die Bilder verwenden Bilddaten, die auf bekannten Fotografien Eugene Atgets, Alfred Stieglitz u.a. beruhen und am Computer neu angeordnet wer-

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Abb. 6.8: Bae, Bien-U, snm 1a-096h, 2007, Serie Sacred Wood, Schwarz-WeißFotografie

ne an verschiedenen Orten der Welt nach und setzt damit einen übergeordneten, nicht primär religiösen und doch für alle gültigen und auratisch aufgeladenen Bezugsrahmen mit seiner Serie One Sun (Abb. 6.9). In diesen Positionen werden romantische Vorstellungen einer beseelten und übermächtigen Natur sowie der Sehnsucht des Menschen nach dem Himmel aufgegriffen und an eine mehr oder minder postmoderne Lesart adaptiert. Gerade aufgrund der räumlichen Betonung in der aktuellen Forschung zum Heiligen161 wäre es zudem interessant, neben den bereits genannten eher sozialdokumentarischen Fotografien etwa eines Sebastião Salgado, dokumentarisch ausgerichtete Tendenzen mit Blick auf reale Orte, Räume und Praktiken näher zu untersuchen. So widmet sich etwa der Dokumentarfotograf Peter Bialobrezki mit seiner Serie XXX Holy-Journeys religiösen Stätten und mystischen Kulturen Indiens in fotografischen Bildern mit einem, wie er sagt, „unique field of tensions“162. Dieses zeichnet sich jedoch insbesondere durch die Verwendung der in Kapitel 6.2 herausgearbeiteten visuellen Marker aus und ist damit weniger eigenständig als traditionell, nichtsdestotrotz es Bialobrezkis persönlichen Blick

den. Heute wird Terragen oft für Werbezwecke oder für den Entwurf künstlicher Hintergrundbilder in Computerspielen verwendet, vgl. RUELFS, Esther, BERGER, Tobias: Images recalled: Bilder auf Abruf, 3. Fotofestival Mannheim – Ludwigshafen – Heidelberg, Heidelberg 2009, S. 189. 161 Vgl. hierzu Kapitel 2.1.2; sowie SMITH 1987; und MINTA 2013, S. 7. 162 Peter Brialobrezkis Beschreibung auf seiner Homepage, unter: http://www. bialobrzeski.de/work/XXX_holy_journeys/Holy_01.html (30.07.2018).

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Abb. 6.9: Izima Kaoru, Nanyuki, Kenya, 2009, Serie One Sun, Farbfotografie

Abb. 6.10: Roland Fischer, Lugo II, 2003, Farbfotografie

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Abb. 6.11: Giorgia Fiorio, THE GIFT N° 2000-888-3/4: Voodoo Feier in Saut d’Eau Aguas Blancas, Haiti, 2000, Schwarz-Weiß-Fotografie

auf Indiens religiöse Vielfalt vermittelt. Die wohl ausführlichste Studie heiliger Orte liefert der Japaner Kenro Izu, der seit 1984 weltweit mit einer schweren Plattenkamera heilige Orte aufsucht und mit variierender Nüchternheit und einer gewissen Aura dokumentiert. Mit welchen visuellen Markern vermittelt Kenro Izu die Heiligkeit dieser Orte? Auch Edgar Lissel bedient sich eines älteren technischen Verfahrens, wenn er mit einem zu einer Lochkamera umgebauten Laster Kirchen in Europa in Langzeitbelichtung gewissermaßen von außen ‚portraitiert‘ und damit eine ähnliche Kohärenz vergangener fotografischer Praktiken zu Bildern des Heiligen setzt, wie sie in Kapitel 5.3.1 zu Gonnord herausgearbeitet wurden. Abstrahierender sind die Arbeiten Roland Fischers, der 2003 auf dem Weg nach Santiago de Compostela die Kathedralen und Kirchen aufnahm und dabei Außen- und Innenansichten visuell überlagerte und das Programm der Kathedralen gewissermaßen kondensierte (Abb. 6.10).163 Ebenfalls zu nennen ist an dieser Stelle Christof Klute, der zuerst Theologie, dann an der Düsseldorfer Kunstakademie Fotografie studierte und mit seinen Fotografien spiritueller Orte teils ähnliche visuelle Überlagerungen einfängt, etwa, wenn der Blick in eine Quelle neben der Wasseroberfläche auch die an ihrem Grund liegenden Münzen als zeigt und darüber hinaus die Spiegelung des Kirchengebäudes in der Wasseroberfläche festhält. Daneben treten fast abstrakt wirkende, auf Form, Farbe und 163 Vgl. zu dieser Position SCHMIDT, Frank: Stationen auf dem Wege. Roland Fischers Kathedralenbilder, in: SPANKE, Daniel (Hg.): Gott sehen: Risiko und Chancen religiöser Bilder (ersch. anl. d. gleichn. Ausst., Kunsthalle Wilhelmshaven; Garnisonkirche, Wilhelmshaven; Kirche St. Nicolai, Wittmund u.a., 2005/2006) Wilhelmshaven 2006, S. 54-57.

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Fläche reduzierte Bilder von Kirchenbauten Le Corbusiers.164 Auch Glaubenspraktiken werden, anders als in Klinkes metaphorischer Inszenierung, dokumentarisch untersucht und festgehalten. Zu nennen ist hier insbesondere Giorgia Fiori, deren fotografische Untersuchung Ritus. Die Gabe, von 2000-2009 Menschen aus aller Welt bei rituellen und zeremoniellen Handlungen dokumentiert. Die seit 2009 unter UNESCO-Schirmherrschaft stehenden Bilder zeigen tanzende Derwische, Gekreuzigte auf den Philippinen, haitische Wasserrituale (Abb. 6.11) und andere. Die meisten der Bilder sind in Schwarz-Weiß gehalten, viele integrieren genannte visuelle Marker der Sakralisierung, wie Überbelichtungen und Bewegungsunschärfe, etwa in der Darstellung des Wassers und ritueller Handlungen. Fotografien von Pilgern und Gläubigen finden sich auch bei Roland Fischer als Teil seiner Arbeit über den Pilgerweg nach Santiago de Compostela.165 Lassen sich Gemeinsamkeiten und Differenzen in diesen Ansätzen aufzeigen? Wie kommen sie mit aktuellen Untersuchungen zur Medialität und Materialität des Heiligen zusammen?166 Der Ausblick skizziert, dass, über die untersuchten Beispiele hinaus, die Spuren, in denen Heiliges und Sakrales in fotografischen Bildern thematisiert werden, zwar manchmal unscharf und gewissermassen „verwisch[t]“167 sind, jedoch in der Breite eine Vielzahl fotografischer Verhandlungen, Formfindungen und struktureller Übernahmen in Bezug auf Heiliges und residuale religiöse Reste deutlich zutage treten. Die vorliegende Untersuchung bietet einen Beitrag zu einer Herangehensweise, die hilft, dieses weite Feld besser zu kartieren und liefert Arbeitsmittel, mit denen weitere Positionen sinnvoll und theoretisch wie historisch fundiert auf fotografische Konzepte des Heiligen und Sakralen befragt werden können.

164 Vgl. Ausst.Kat.: Christof Klute. Spirituelle Orte, Fotogalerie Löhrl, Mönchengladbach; Galeria Maior, Mallorca, Spanien, 2007, S. 16 und S. 20. 165 Es handelt sich um die über 1000-teilige Portraitserie Pilgrims, 2003. Siehe zudem seine Serie Nuns and Monks, 1985. 166 Vgl. das Themenheft BALKE, Friedrich, SIEGERT, Bernhard, VOGL, Joseph (Hg.): Medien des Heiligen, Jahrbuch des Archivs für Mediengeschichte Bd. 15, Paderborn 2015, oder den Tagungsband KÖRNER, Hans, WIENER, Jürgen (Hg.): Materialität des Heiligen, Essen 2017. 167 KAMPER, WULF 1987b, S. 1.

Literaturverzeichnis

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Videos und Filme Like a Prayer (Official Uncut Version), R.: Madonna, Patrick Leonard, USA 1989, 5:39 Min. The Passion of the Christ, R.: Mel Gibson, USA, Italien 2004, 127 Min. Il Vangelo secondo Matteo, R.: Pier Paolo Pasolini, Italien, Frankreich 1964, 131 Min. Madame B, R.: Mieke Bal, Michelle Williams Gamaker, Niederlande 2013 (in Prod.), 96 Min.

Abbildungsverzeichnis

Kapitel 1 Abb. 1.1 Andres Serrano, Immersion (Piss Christ), 1987, Serie Immersions, Farbfotografie (Cibachrome-Abzug), 152 x 102 cm, La Collection Lambert, Avignon © Andres Serrano, 2018; courtesy des Künstlers Abb. 1.2 David LaChapelle, Last Supper, 2003, Serie Jesus is my Homeboy, Farbfotografie (Cibachrome-Abzug auf Aluminium), 110,2 x 151,8 cm, Jablonka-Galerie, Köln, aus: ANDRATSCHKE, Thomas; SCHRADER, Kristin (Hg.): David LaChapelle. Earth Laughs in Flowers, Hannover 2011, o. S., Abb. 11. © David LaChapelle, 2018 Abb. 1.3 Abbas, Highway in Alabama mit Jesus-Reklame, 2003, SchwarzWeiß-Fotografie, o. A. © Abbas / Magnum Photos / Agentur Focus, 2018 Abb. 1.4 Alexander Kosolapov, This is my body, 2002 und This is my Blood, 2002, Leuchtkästen, je 82 x 150 cm, o. A., Ausstellungsansicht Medium Religion, ZKM Karlsruhe, 2008/2009 © Alexander Kosolapov, 2018; Installationsansicht: ZKM | Karlsruhe, Foto: Franz Wamhof/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018 Kapitel 2 Abb. 2.1 F. Holland Day, Crucifixion in Profile, Left, 1898, Schwarz-WeißFotografie (Platinum Print), 15,9 x 8,2 cm, The Louise Imogen Guiney Collection, Prints and Photographs Division, Library of Congress, USA, unter: http://www.loc.gov/pictures/item/00650237/ (10.2.2018). Reproduktion © Library of Congress, USA, 2018 Abb. 2.2 Secondo Pia, Das Grabtuch von Turin (Detail), 1898, SchwarzWeiß-Fotografie, 30 x 24 cm, o. A., aus: Ausst.Kat.: Secondo Pia, Promotrice delle Belle Arti, Turin, 1989, o. S., Abb. 41. Abb. 2.3 Giuseppe Enrie, Das Antlitz Christi auf dem Turiner Grabtuch (nach Abzügen von den Originalplatten, Links Positiv, rechts Nega-

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Abb. 2.4

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tiv), 1931, Schwarz-Weiß-Fotografie, o. A., aus: BULST, Werner, PFEIFFER, Heinrich (Hg.): Das Turiner Grabtuch und das Christusbild. Band I: Das Grabtuch, Forschungsberichte und Untersuchungen, Frankfurt am Main 1987, S. 22, Abb. 4 und 5. Robert Campin, Heilige Veronika mit dem Schweißtuch, um 1430, Mischtechnik auf Eichenholz, 151,5 x 61,0 cm, Städel Museum, Frankfurt am Main. Reproduktion © Städel Museum – ARTOTHEK, 2018 Edwin Land bei der Präsentation seines Polaroid-Selbstportraits (Ausschnitt), Februar 1947, Schwarz-Weiß-Fotografie, o. A. © Polaroid Corporation Records, Baker Library, Harvard Business School, 2018 William H. Mumler, Master Herrod and his double, ca. 1870, Schwarz-Weiß-Fotografie, o. A., aus: BLUNCK, Lars: Fotografische Wirklichkeiten, in: BLUNCK, Lars: (Hg.): Die fotografische Wirklichkeit: Inszenierung – Fiktion – Narration, Bielefeld 2010, S. 9-36, S. 25. Elsie Wright, Frances and the Fairies, 1917, Schwarz-WeißFotografie, o. A., University of Leeds, unter: https://www.science andsociety.co.uk/ (09.09.2018). © Science & Society Picture Library, 2018 Frances Griffiths und Elsie Wright, Fairies and their Sunbath, August 1920, Schwarz-Weiß-Fotografie, o. A., University of Leeds, unter: https://www.scienceandsociety.co.uk/ (09.09.2018). © Science & Society Picture Library, 2018 William C. Weidling, Nature's Mystic Apparition of Christ, 1914, Schwarz-Weiß-Fotografie (Silbergelatineabzug), 14,2 x 9,4 cm, Princeton University Art Museum, Princeton, USA, unter: http://artmuseum.princeton.edu/fr/collections/objects/55839 (31.08.2014). Reproduktion © Princeton University Art Museum, 2018

Kapitel 3 Abb. 3.1 Andres Serrano, Pieta, 1985, Farbfotografie (Cibachrome-Abzug), 70 x 102 cm, Besitz des Künstlers © Andres Serrano, 2018; courtesy des Künstlers Abb. 3.2 Andres Serrano, Milk, Blood, 1986, Farbfotografie (CibachromeAbzug), 101,6 x 152,4 cm, Besitz des Künstlers © Andres Serrano, 2018; courtesy des Künstlers

A BBILDUNGSVERZEICHNIS

Abb. 3.3

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Andres Serrano, Madonna and Child II, 1989, Farbfotografie (Cibachrome-Abzug), 152,4 x 101,5 cm, Corcoran Gallery of Art, Washington, D.C., USA © Andres Serrano, 2018; courtesy des Künstlers Andres Serrano, Black Jesus, 1990, Farbfotografie (CibachromeAbzug), 152,4 x 101,6 cm, Besitz des Künstlers © Andres Serrano, 2018; courtesy des Künstlers Francisco de Zurbarán, Christus am Kreuz, 1627, Öl auf Leinwand, 290,3 x 165,5 cm, Art Institute, Chicago, Illinois. Reproduktion © bpk / The Art Institute of Chicago / Art Resource, NY, 2018 Stefan Lochner, Zwei Flügel eines Altars, Innenseite: Die Hl. Matthäus, Katharina und Johannes der Evangelist, um 1445-1450, Öl auf Eichenholz, 68,6 x 58,1 cm, National Portrait Gallery, London. Reproduktion © The National Gallery, London, 2018 Andres Serrano, Dr. Arnold Lehman, Director of The Brooklyn Museum, 2004, Serie America, Farbfotografie (Cibachrome-Abzug), 101,6 x 82,55 cm, Besitz des Künstlers © Andres Serrano, 2018; courtesy des Künstlers Peter Paul Rubens, Christus am Kreuz, um 1615-16, Öl auf Holz, 145,2 x 91,8 cm, Alte Pinakothek, München. Reproduktion © bpk | Bayerische Staatsgemäldesammlungen, 2018 Fabrice Samyn, Eva par Jan Gossaert, Musée d'Art ancien, Bruxelles, 2010, Schwarz-Weiß-Fotografie (Inkjet Photographic Print), 150 x 150 cm, Galerie Sies + Höke, Düsseldorf, unter: http://www.sieshoeke.com/exhibitions/fabrice-samyn-2011, (12.02.2018). © Fabrice Samyn/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018; courtesy des Künstlers und Sies + Höke Galerie, Düsseldorf; Meessen De Clercq, Brussels; Foto: Achim Kukulies, Düsseldorf Franjo Tholen, Transfiguration o. J., 20-teilige Serie, SchwarzWeiß-Fotografie (Piezo Prints), 51,5 x 41,5 cm, Besitz des Künstlers © Franjo Tholen/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018; courtesy des Künstlers Boris Horvat, Andres Serranos Piss Christ und Soeur Jeanne Myriam, im Bild: Agnes Tricoire, Rechtsanwältin, Sammlung Lambert, Archivfoto, Juli 2012, o. A., in: SCHWEITZER, Eva C.: Die Rückkehr von Piss Christ, in: Zeit Online, 28.09.2012, unter: http://www.zeit.de/kultur/kunst/2012-09/andres-serranoausstellung-new-york (18.10.2012). © Boris Horvat/AFP/Getty Images, 2018

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Kapitel 4 Die Fotografien von David Nebreda entstanden in vier Etappen, wie folgt: • Erste Schwarz-Weiß-Serie 1983-1989 • Erste Farbserie zwischen Mai und Okrober 1989 und Juni und Oktober 1990 • Zweite Farbserie zwischen August und Oktober 1997 • Dritte Farbserie zwischen Januar und Juli 1999 Abb. 4.1

Abb. 4.2

Abb. 4.3

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Abb. 4.8

David Nebreda, Visage couvert d’excréments, 1989-1990, Farbfotografie, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 70. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer David Nebreda, Celui qui naît avec des signes de sang et de feu, 1989-1990, Farbfotografie, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 64. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer David Nebreda, La porte entrouverte. Un pied avec du sang, un autre avec de la cendre, 1999, Farbfotografie, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 138. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer David Nebreda, le fil de la mère, 1989-1990, Farbfotografie, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 59. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer David Nebreda, Un seul fil parcourt les quatre sens, 1989-1990, Farbfotografie, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 89. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer Cover von NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, 208 Seiten, 25 x 25 cm, Édition Leo Scheer, Bild: David Nebreda, ohne Titel, 1989-1990, Farbfotografie, o. A., private Aufnahme eines Bibliotheksexemplars mit beschnittenem und festgeklebtem Originalcover. © David Nebreda/Éditions Léo Scheer, 2018 Cover von CURNIER, Jean-Paul, Surya, Michel (Hg.): Sur David Nebreda, Paris 2001, 200 Seiten, 25 x 25 cm, Édition Leo Scheer, Bild: David Nebreda, ohne Titel, 1989-1990, Farbfotografie, o. A., private Aufnahme eines Bibliotheksexemplars mit Originalcover. © David Nebreda/Éditions Léo Scheer, 2018 David Nebreda, ohne Titel, 1983-1989, Schwarz-Weiß-Fotografie, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 32. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer

A BBILDUNGSVERZEICHNIS

Abb. 4.9

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David Nebreda, Contre-jour sur la fenêtre. Il désigne la présence de quelqu’un dans l’autre pièce. Autoportrait en ouvrant et fermant les yeux; il essaie de la sorte de représenter la peur, 1989-1990, Farbfotografie, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 82. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer Abb. 4.10 David Nebreda, Les hosties s’inclinent vers le plafond. Encore se maintient le culte des morts. Du pain avec son sang pour les vivants et pour les morts, 1999, Farbfotografie, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 136. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer Abb. 4.11 David Nebreda, Le baiser le plus doux pour le fils qui n’est pas né, 1999, Farbfotografie, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 137. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer Abb. 4.12 David Nebreda, Les pommes du Correggio, 1989-1990, Farbfotografie, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 65. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer Abb. 4.13 David Nebreda, La représentation du premier sacrifice, 1997, Farbfotografie, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 111. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer Abb. 4.14 Seite der Publikation Autoportraits mit zwei Fotografien, David Nebreda, Les blessures aux pieds sont déjà refermées, 1989-1990, Farbfotografien, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 71. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer Abb. 4.15 und 4.16 Gregorio Fernandéz und anonymer Polychromer, Toter Christus (Gesamtansicht und Detailansicht der Füße), um 1625-30, polychromes Holz, Horn, Glas, Rinde und Elfenbein oder Knochen, 146 x 191 x 74 cm, Museo Nacional del Prado, Madrid, Dauerleihgabe an das Museo Nacional Colegio de San Gregorio, Valladolid, aus: Ausst.Kat.: The Sacred Made Real. Spanish Painting and Sculpture 1600-1700, The National Gallery, London; National Gallery of Art, Washington, 2009/2010, S. 169 und S. 168. Reproduktion © Photo Imagen M.A.S., 2018 Abb. 4.17 David Nebreda, Matériaux utilizes pur les brȗlures des mains, de la poitrine et du flanc, 1989-1990, Farbfotografie, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 100. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer

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David Nebreda, L’échelle vers le ciel, 1989-1990, Farbfotografie, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 63. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer Seite der Publikation Autoportraits mit zwei Fotografien, David Nebreda, Les excréments du fils se divisent en deux, 1989-1990, Farbfotografien, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 78. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer Michelangelo Merisi da Caravaggio, Der ungläubige Thomas, um 1600, Öl auf Leinwand, 107x146 cm, Potsdam Sanssouci, Bildergalerie. Reproduktion © bpk / Stiftung Preussische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg / Hans Bach, 2018 David Nebreda, Il essaie de représenter la disparition, mais il ne réussit qu’a faire disparaître sa tête, 1989-90, Farbfotografie, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 67. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer David Nebreda, Celui qui attend, 1997, Farbfotografie, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 118. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer David Nebreda, La trinité des miroirs. Hic –quadrum spei, 198990, Farbfotografie, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 80. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer David Nebreda, ohne Titel, 1983-1989, Schwarz-Weiß-Fotografie, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 43. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer David Nebreda, Il reste peu de temps et l’agneau me demande de plus en plus de sang, 1989-90, Farbfotografie, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 52. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer David Nebreda, Le cadeau de la mère. Le couteau portant mon nom, 1989-90, Farbfotografie, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 62. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer David Nebreda, 23-6-89, 1989-90, Farbfotografie, o. A., aus: NEBREDA, David: Autoportraits, Paris 2000, S. 53. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer David Nebreda, Après deux jours, il se brȗle de nouveau le torse, 1989-90, Farbfotografie, o. A., aus: NEBREDA, David: Autopor-

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traits, Paris 2000, S. 58. © David Nebreda, 2018; courtesy Éditions Léo Scheer Kapitel 5 Abb. 5.1 Pierre Gonnord, Eli, 2004 (1/5), Farbfotografie unter Plexiglas, 157,5 x 134,2 cm, Sammlung zeitgenössische Kunst, Museo Patio Herreriano, Valladolid, in: Ausst.Kat.: Realidades. Fotografias de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, Museo de Bellas Artes, Sevilla, 2006/2007, S. 48. © Pierre Gonnord/VG BildKunst, Bonn, 2018; courtesy des Künstlers Abb. 5.2 Pierre Gonnord, Joan, 2005 (a.p.), Farbfotografie unter Plexiglas, 117 x 110 cm, Pierre Gonnord und Galeria Juana de Aizpuru, Madrid, in: Ausst.Kat.: Realidades. Fotografias de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, Museo de Bellas Artes, Sevilla, 2006/2007, S. 69. © Pierre Gonnord/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018; courtesy des Künstlers Abb. 5.3 Ausstellungsansicht, Realidades. Fotografías de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, 25.10.2006-21.1.2007 © Pierre Gonnord/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018; courtesy des Künstlers Abb. 5.4 Ausstellungsansicht, Realidades. Fotografías de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, 25.10.2006-21.1.2007 © Pierre Gonnord/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018; courtesy des Künstlers Abb. 5.5 Pierre Gonnord, Jack, 2004, Farbfotografie unter Plexiglas, 110 x 110 cm, Colección Rosa Olivares, in: Ausst.Kat.: Realidades. Fotografias de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, Museo de Bellas Artes, Sevilla, 2006/2007, S. 115. © Pierre Gonnord/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018; courtesy des Künstlers Abb. 5.6 Francisco de Zurbarán, Visita de San Bruno a Urbano II (Detail), ca. 1655, Öl auf Leinwand, Museo de Bellas Artes de Sevilla, aus: Ausst.Kat.: Realidades. Fotografias de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, Museo de Bellas Artes, Sevilla, 2006/2007, S. 113. Courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, Reproduktion: Niklas Rausch Abb. 5.7 Pierre Gonnord, Jules, 2004 (1/5), Farbfotografie unter Plexiglas, 177 x 135 cm, Galeria Juana de Aizpuru, Madrid, in: Ausst.Kat.: Realidades. Fotografias de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, Museo de Bellas Artes, Sevilla, 2006/2007, S. 61. © Pierre Gonnord/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018; courtesy des Künstlers

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Abb. 5.8

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Cover des Ausstellungskatalogs Realidades. Fotografias de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, Museo de Bellas Artes, Sevilla, 2006/2007, Motiv: Pierre Gonnord, Ahmed, 2005 (1/5), Farbfotografie unter Plexiglas, 175 x 135 cm, Pierre Gonnord und Galeria Juana de Aizpuru, Madrid, auch S. 93. © Pierre Gonnord/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018; courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, Reproduktion: Niklas Rausch Doppelseite des Ausstellungskatalogs Realidades, Detailansichten: Francisco Polanco, San Pablo, 1640; Santiago el Menor, 1640; Ribera, Santa Teresa de Jesús, 1630, Museo de Bellas Artes de Sevilla, aus: Ausst.Kat.: Realidades. Fotografias de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, Museo de Bellas Artes, Sevilla, 2006/2007, S. 80 und 81. Courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, Reproduktion: Niklas Rausch Doppelseite des Ausstellungskatalogs Realidades, Detailansicht einer Skulptur und Pierre Gonnord, Michel, 2006 (1/5), Farbfotografie unter Plexiglas, 158 x 135 cm, Pierre Gonnord und Galeria Juana de Aizpuru, Madrid, aus: Ausst.Kat.: Realidades. Fotografias de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, Museo de Bellas Artes, Sevilla, 2006/2007, Schmutzseite nach Einband, Michel auch S. 55. © Pierre Gonnord/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018; courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, Reproduktion: Niklas Rausch Pietro Torrigiano, San Jerónimo penitente (Detail), 1525, polychromierte Holzskulptur, o. A., Museo de Bellas Artes de Sevilla, aus: Ausst.Kat.: Realidades. Fotografias de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, Museo de Bellas Artes, Sevilla, 2006/2007, S. 58. © Pierre Gonnord/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018; courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, Reproduktion: Niklas Rausch Pietro Torrigiano, San Jerónimo penitente (Detail), 1525, polychromierte Holzskulptur, o. A., Museo de Bellas Artes de Sevilla, aus: Ausst.Kat.: Realidades. Fotografias de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, Museo de Bellas Artes, Sevilla, 2006/2007, S. 59. © Pierre Gonnord/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018; courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, Reproduktion: Niklas Rausch Doppelseite des Ausstellungskatalogs Realidades, Detailansichten: Juan Sánchez de Castro, Jerónimo y San Antonio de Padua, 1480

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Abb. 5.14

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und San Andrés y San Juan Bautista, 1480, Öl auf Holz, o. A., Museo de Bellas Artes de Sevilla, aus: Ausst.Kat.: Realidades. Fotografias de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, Museo de Bellas Artes, Sevilla, 2006/2007, S. 48 und S. 49. Courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, Reproduktion: Niklas Rausch Pierre Gonnord, Sonia III, 2000 (a. p.), Farbfotografie unter Plexiglas, 114 x 120 cm, Besitz des Künstlers, in: Ausst.Kat.: Realidades. Fotografias de Pierre Gonnord en el Museo de Bellas Artes de Sevilla, Museo de Bellas Artes, Sevilla, 2006/2007, S. 69. © Pierre Gonnord/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018; courtesy des Künstlers Ausstellungsansicht, Pierre Gonnord, Cloître de l’abbaye de La Chaise-Dieu, La Chaise-Dieu, 18.08.-29.08.2010 © Pierre Gonnord/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018; courtesy des Künstlers Dorothea Lange, Migrant Mother (Nepomo, Kalifornien), 1936, Schwarz-Weiß-Fotografie, o. A., aus: BORHAN, Pierre: Dorothea Lange, Boston, New York, London 2002, S. 133.

Kapitel 6 Abb. 6.1 Chris Burden, Trans-Fixed, 23. April 1974, Venice, Kalifornien, USA, Schwarz-Weiß-Fotografie, 2 Nägel, Kassette, o. A., Collection: Jasper Johns, New York, USA © Chris Burden/VG BildKunst, Bonn, 2018; courtesy Chris Burden Studio & Gagosian Gallery Abb. 6.2 Serge Bramly und Bettina Rheims, Die Dornenkrönung, Serie I.N.R.I., 1998, Farbfotografie, o. A., aus: BRAMLY, Serge, RHEIMS, Bettina: I.N.R.I., Paris 1998, o. S. © Bettina Rheims/ Serge Bramly, 2018 Abb. 6.3 Iwajla Klinke, Tim, Berlin, 2011, Serie Ritual Memories, Farbfotografie (C-Print auf Hahnemühle Photopapier), 9 x 12 cm, Besitz der Künstlerin © Iwajla Klinke, 2018; courtesy der Künstlerin ABb. 6.4 Miguel Rothschild, Blessed are those who have not seen and yet have believed, 2011, Farbfotografie (perforierter C-Print, loses Konfetti produziert durch den Perforationsprozess), 112 x 150 cm, DZ Bank Kunstsammlung, Frankfurt © Miguel Rothschild/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018; courtesy des Künstlers Abb. 6.5 Santiago Sierra/Julius von Bismarck, No mithilfe des Fulgurators über den Papst projiziert, Weltjugendtag, Madrid 2011, Schwarz-

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Weiß-Fotografie, o. A. © Santiago Sierra/Julius von Bismarck/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018; courtesy die Künstler Anna Malagrida, Álvaro, Serie Telespectadores, 1999-2000, Diapositiv in Lichtboxen, bewegtes Licht, 60 x 60 x 25 cm, Besitz der Künstlerin © Anna Malagrida, 2018; courtesy der Künstlerin & der Philipp von Rosen Galerie Catherine Balet, Untitled, Serie Strangers in the light, 2008-2010, Farbfotografie, o. A. © Catherine Balet, 2018; courtesy Galerie Thierry Bigaignon Bae, Bien-U, snm 1a-096h, 2007, Serie Sacred Wood, SchwarzWeiß-Fotografie, o. A., aus: BAE, Bien-U: Sacred Wood, Ostfildern-Ruit 2009, o. S. © Bae, Bien-U, 2018 Izima Kaoru, Nanyuki, Kenya, 2009, Serie One Sun, Farbfotografie (C-print hinter Diasec), 120 cm, Van der Grinten Galerie, Köln © Izima Kaoru, 2018; courtesy Van der Grinten Galerie, Köln Roland Fischer, Lugo II, 2003, Farbfotografie (C-Print hinter Diasec), 190 x 190 cm, Besitz des Künstlers, aus: SPANKE, Daniel (Hg.): Gott sehen: Risiko und Chancen religiöser Bilder (ersch. anl. d. gleichn. Ausst., Kunsthalle Wilhelmshaven; Garnisonkirche, Wilhelmshaven; Kirche St. Nicolai, Wittmund u.a., 2005/2006) Wilhelmshaven 2006, S. 55. © Roland Fischer/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018 Giorgia Fiorio, THE GIFT N° 2000-888-3/4: Voodoo Feier in Saut d’Eau Aguas Blancas, Haiti, 2000, Schwarz-Weiß-Fotografie, o. A. © Giorgia Fiorio, 2018; courtesy der Künstlerin

Ich danke allen RechteinhaberInnen für die Abdruckgenehmigung und die freundliche Bereitstellung des Bildmaterials. Alle Bildrechte wurden sorgfältig geprüft und nach bestem Wissen eingeholt. Sollte trotzdem in Einzelfällen das Copyright nicht richtig genannt sein, bitte ich um Kontaktaufnahme.

Kunst- und Bildwissenschaft Julia Allerstorfer, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)

»Global Art History« Transkulturelle Verortungen von Kunst und Kunstwissenschaft 2017, 304 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4061-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4061-2

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Haare hören – Strukturen wissen – Räume agieren Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung 2015, 216 S., kart., zahlr. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3272-9 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3272-3

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Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kunst- und Bildwissenschaft Burcu Dogramaci, Katja Schneider (Hg.)

»Clear the Air«. Künstlermanifeste seit den 1960er Jahren Interdisziplinäre Positionen 2017, 396 S., kart., zahlr. z.T. farb Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3640-6 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3640-0

Astrit Schmidt-Burkhardt

Die Kunst der Diagrammatik Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas 2017, 372 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3631-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3631-8

Gerald Schröder, Christina Threuter (Hg.)

Wilde Dinge in Kunst und Design Aspekte der Alterität seit 1800 2017, 312 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 36,99 € (DE), 978-3-8376-3585-0 E-Book: 36,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3585-4

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