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German Pages 396 [400] Year 2013
Frühe Neuzeit Band 181
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Unordentliche Collectanea Gotthold Ephraim Lessings Laokoon zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung Herausgegeben von Jörg Robert und Friedrich Vollhardt
De Gruyter
ISBN 978-3-11-031440-3 e-ISBN 978-3-11-031442-7 ISSN 0934-5531 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier © Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt
Jörg Robert / Friedrich Vollhardt Einleitung ...................................................................................................... 1
I. »UNORDENTLICHE COLLECTANEA« ± FRAGMENT, METHODE, GRUNDSÄTZE
Jörg Robert Laokoon oder: Krieg und Frieden im Reich der Künste ................................ 9
Christine Vogl Lessings Laokoon-Nachlass. Mögliche Antworten auf editorische Fragen ....................................................................................... 41
Wolfgang Adam Hugo Blümners Edition von Lessings Laokoon. Gelehrsamkeit und Zeitgeschmack ............................................................................................. 99
Gideon Stiening Von der empirischen zur fiktiven Genese. Anmerkungen zur Argumentationsmethode in Lessings Laokoon .......................................... 113
Achim Vesper Mendelssohn und Lessing über Illusion in den Künsten ........................... 129
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Inhalt
II. ANTIKE UND ANTIQUARISCHES
Anja Wolkenhauer Laokoon vor Lessing. Anmerkungen zur Geschichte des Laokoonstoffes und seiner Präsenz in Lessings Laokoon .......................... 153
Friedrich Vollhardt Laokoon, Aias, Philoktet. Lessings Sophokles-Studien und seine Kritik an Winckelmann .................................................................... 175
Jörg Robert »Rettung des Virgils«. Nachahmungspoetik und Paragone in Lessings Laokoon .................................................................................. 201
Luca Giuliani Lessing & Hitchcock ± Versuch einer Engführung ................................... 217
III. ÄSTHETISCHE THEORIEBILDUNG
Eric Achermann Intensive Täuschung. Zur Ökonomie der Seelenkräfte in Lessings Laokoon .................................................................................. 237
Norbert Christian Wolf Skizziert Lessings Laokoon eine Theorie der Kunstautonomie? Das Kapitel IX im ästhetikgeschichtlichen Kontext .................................. 281
Joachim Jacob Das Schöne als Herausforderung einer literarischen Ästhetik in Lessings Laokoon .................................................................................. 293
Inhalt
VII
Lothar van Laak »Seine vor sich selbst arbeitende Phantasie«. Zum Stellenwert der Einbildungskraft in Lessings Laokoon ...................................................... 309
Elisabeth Décultot Winckelmann neu gelesen. Zu Lessings polemischer Lektüre der Gedancken über die Nachahmung und der Geschichte der Kunst des Alterthums ........................................................................................... 321
Helmut Pfotenhauer Winckelmann und Lessing lesen Jonathan Richardson jun. ...................... 337
IV. (NACH-)WIRKUNGEN
Frieder von Ammon Laokoon oder Über die Grenzen der Musik und Poesie. Bemerkungen zu Paralipomenon 27 und zur musikästhetischen Wirkungsgeschichte des ungeschriebenen dritten Teils .............................................................. 345
Markus Hien 'LH¾$XIKHEXQJ½GHULaokoon-Debatte in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik ...................................................................................................... 365
Namenregister ................................................................................................. 385
Jörg Robert / Friedrich Vollhardt Jörg Robert / Friedrich Vollhardt Einleitung
Einleitung Der vorliegende Band dokumentiert die Ergebnisse zweier wissenschaftlicher Veranstaltungen, die sich Gotthold Ephraim Lessings kunsttheoretischer Schrift Laokoon: oder über die Grenzen zwischen Mahlerey und Poesie (1766) und ihren Kontexten widmeten. Die erste Tagung fand unter dem Titel »G. E. Lessings Laokoon zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung« vom 11. bis 13. November 2010 im Kloster Bronnbach bei Würzburg statt. Das Symposion wurde durch eine großzügige Förderung der Fritz Thyssen-Stiftung ermöglicht, der wir für die Unterstützung herzlich danken. Ein Workshop zum Thema »Ästhetische Theoriebildung in der Frühen Neuzeit: Der Laokoon-Streit und einige der Folgen« fand im Rahmen des Internationalen 'RNWRUDQGHQNROOHJV ¾7H[WXDOLWlW LQ GHU 9RUPRGHUQH½ (OLWHQHW]ZHUN %D\HUQ am 3. und 4. Juli 2012 in der Seidl-Villa in München statt. Konzeptionell war die zweite Zusammenkunft dem Ziel gewidmet, die Ergebnisse der Bronnbacher Tagung thematisch abzurunden und so zu erweitern, dass eine die Beiträge zusammenfassende Publikation die Breite und Tiefe der in Lessings Schrift verhandelten Diskurse, Theorien und Fachhorizonte umfassend abbilden konnte. An beiden Tagungen nahmen Vertreter der Klassischen Philologie und Archäologie, der Kunstgeschichte und Komparatistik sowie der Germanistik und Philosophie teil. Die Herausgeber danken allen Referenten für ihre kollegiale Mitarbeit und die Bereitschaft, mit ihren Beiträgen zu diesem Band ein breites interdisziplinäres Spektrum geschaffen zu haben. Wenige Schriften haben die Entwicklung der Ästhetik im 18. Jahrhundert ähnlich nachhaltig bestimmt wie Lessings Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766). In Dichtung und Wahrheit äußert sich Goethe rückblickend: »Man muß Jüngling sein, um sich zu vergegenwärtigen, welche Wirkung Lessings Laokoon auf uns ausübte, indem dieses Werk uns aus der Region eines kümmerlichen Anschauens in die freien Gefilde des Gedankens hinriß. Das so lange mißverstandene ut pictura poesis war auf einmal beseitigt, der Unterschied der bildenden und Redekünste klar, die Gipfel beider erschienen nun getrennt, wie nah ihre Basen auch zusammenstoßen mochten.« In Lessings Schrift hat man in der Folge ± ähnlich wie in A. G. Baumgartens Aesthetica (1750) ± eine Wasserscheide zwischen den ¾alten½ Kunstdoktrinen und einer ¾neuen½ Ästhetik zu erkennen geglaubt. Dabei war der Kampf gegen »Allegoristerei« und »Schilderungssucht«, von dem dieser Paragone der Künste seinen Ausgang nahm, nur der kleinste Nenner, auf den sich Lessings ¾spaziergängerische½, bewusst offene und unsystematische Reflexionen zur Ästhetik bringen ließen. Wie die Hamburgische Dramaturgie entfaltet der Laokoon eine Ästhetik vor der Ästhetik, die ± im Sinne des 95. Stückes der dramaturgischen
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Jörg Robert / Friedrich Vollhardt
Schrift ± Gedanken verbindet, »die sich wohl gar zu widersprechen scheinen« oder einer deduktiven Schlüssigkeit entbehren. Auch der Laokoon-Essay tritt an, »fermenta cognitionis« auszustreuen, schon die Vorrede akzentuiert die Position des empirischen »Kunstrichters« gegenüber der des (vermeintlich) kunstfernen Philosophen Baumgarten, der seine Belege nur aus zweiter Hand beziehe. Lessing versteht sich im emphatischen Sinne als ästhetischer Empiriker und criticus, der von der Analyse des Einzelfalles ausgehend induktiv zu den Gesetzen der Künste vordringt. Die Ausführungen im Laokoon werden, darin liegt nicht nur Exordialtopik, als »unordentliche Collectanea« bezeichnet, die »zufälliger Weise entstanden« und »mehr nach der Folge meiner [sc. Lessings] Lectüre, als durch methodische Grundsätze angewachsen« seien (Vorrede). Lessings Laokoon ist damit nicht nur ein Agon und Paragone zwischen den Künsten, sondern auch ein Streit der (ästhetischen) Fakultäten, dessen Grundlinien ± Essay/Fragment vs. System, Induktion vs. Deduktion usw. ± über die klassische Ästhetik bis ins 19. Jahrhundert hinein wirken. Schillers Auseinandersetzung mit Fichte und Kant, die wiederum von Hegel eingefangen wird (vgl. die Beiträge von Jörg Robert und Markus Hien), wiederholt metaästhetische Methodenfragen und Problemlagen unmittelbar im Ausgang von Lessing. Grundimpuls und -intention unseres Projekts ist es, konzentrierter als bisher die Form der Theorie als Dimension ihres Inhalts zu berücksichtigen. Im Horizont der Wissenspoetik des 18. Jahrhunderts sollte die Frage nach den alten und neuen Strategien der ästhetischen Reflexion, insbesondere nach ihrer neuen Pluralität und Unabschließbarkeit in einem Zeitalter nach der Poetik (im späthumanistischen, noch bei Gottsched nachwirkenden Sinne einer normativen Dichtungs- und Kunstlehre) gestellt werden. Die Forschung hat bei Lessings Hinweisen auf seine »Collectaneen« oder Analekten nur selten darauf geachtet, dass hier Verfahren der Vertextung und der Wissensorganisation angesprochen werden, mithin leitende Fragestellungen für die Interpretation der Abhandlung und die Erschließung ihrer Kontexte. In einer Reihe von Beiträgen wird daher untersucht, wie sich der im Laokoon greifbare, durchaus eigenständige Ansatz zu den Binnenargumentationen, der variationsreichen Polemik (auch Parodie), den unterschiedlichen Verweissystemen und Methoden der Kommentierung, den Gedankenspielen und Lesefrüchten verhält. Unter diesen Fragestellungen ist Lessings Argumentation und seine Arbeit am Text neu zu entdecken. Rekonstruieren läßt sich diese nicht unter teleologischen Vorgaben, sondern in Bezug auf historische Traditionen und zeitgenössische Wissens- und Handlungskontexte, kurz: detailliert zu bestimmenden Voraussetzungen und Konstellationen; Aspekte der Wirkung ± Stichwort: Autonomieästhetik ± sind dabei jedoch nicht auszuschließen. Der Gegensatz zwischen Essay / Fragment / Collectanea und »systematischen Büchern« steht im Zentrum der Vorrede des Laokoon und bildet einen kontinuierlichen Referenzpunkt zahlreicher Beiträge. Hier eröffnen sich unterschiedliche Optionen der Deutung. Nimmt man die Zuspitzung zwischen »unordentlichen Collectanea« und Systempoetik Baumgarten¶VFKHU 3UlJXQJ DOV
Einleitung
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gültige methodische Selbstbeschreibung ernst, wird man in Lessing den Vorläufer einer Poetik des Fragments und der progressiven Theoriebildung sehen, wie sie die Frühromantik etabliert ± in der Tat in engem Rückbezug auf Lessing. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass Lessing ein unzuverlässiger Gewährsmann seiner eigenen Ziele und Absichten ist. Die dissimulatio ist auch jenseits exordialer Bescheidenheitstopiken eine der zentralen metaästhetischen Strategien des Textes. In der Tat folgen verschiedene Beiträge dieses Bandes der Spur, den Fragmentaristen Lessing als dissimulierenden Systemtheoretiker in aestheticis zu entlarven ± und dies mit Recht. Einerseits lässt sich zeigen, dass seine Ästhetik auf denselben epistemologischen und ästhetischen Fundamenten ruht wie die Systemästhetik in der Tradition Christian Wolffs ± einige Beiträge setzen diese an Wellbery anknüpfende Kontinuitätsthese fort (Achermann, Stiening, Vesper). Diese Lesart tendiert dann dazu, die behaupteten Differenzen angesichts einer höheren Einigkeit in systematischer Hinsicht zu bestreiten. Die Behauptung, es handle sich um bloße Notizen, wäre dann eine rein strategische. Ein eigenes Licht auf die Frage, wie ernst und terminologisch Lessing den Begriff Collectanea verstanden wissen will, werfen die erhaltenen Manuskripte, insbesondere der Paralipomena, deren editionsphilologischer Status im Artikel von Christine Vogl diskutiert wird. Der Anspruch des Univeralismus gilt aber auch darüber hinaus. Der Laokoon zeigt die unterschiedlichen Disziplinen, die an der Formation der Ästhetik und Kunsttheorie im 18. Jahrhundert beteiligt sind (und die sich nicht auf Baumgarten verkürzen lassen). Der Antiquar Lessing breitet noch einmal die Fülle traditionaler Quellen und Wissensbestände aus Philologie, Archäologie, Kunst und Literatur aus (dazu die Beiträge der zweiten Sektion von Anja Wolkenhauer, Friedrich Vollhardt, Luca Giuliani, Jörg Robert). Der Antagonismus zu Winckelmann (vgl. die Beiträge von Élisabeth Décultot und Helmut Pfotenhauer) befördert von Anfang an den Streit der Disziplinen und bringt die Literatur immer wieder in einen Gegensatz zur bildenden Kunst, der zumeist ± in asymmetrischer Frontstellung ± zugunsten der Dichtung als der ¾geistigeren½ Kunst entschieden wird. Dabei ist der Paragone nicht die einzige Konfliktlinie: Ausgangspunkt der Debatte ist Winckelmanns Laokoon-Beschreibung, die Lessing zur Formulierung einer Reflexion über Affekte führt (Sophokles¶Philoktet), in der zentrale Aspekte der eigenen Dramentheorie (Mitleid versus Bewunderung / ¾civiler½ Stoizismus) zum Ausgangspunkt werden (vgl. den Beitrag von Friedrich Vollhardt). Am Leitfaden der Paragone-Thematik und an einem Vergleich der Vergilischen Laokoon-Szene der Aeneis mit der Darstellung der Gruppe nähert sich Lessing einer Reihe von Kardinalproblemen der zeitgenössischen Ästhetik wie dem Verhältnis von Mimesis und imitatio, das er unter dem Schlagwort einer »doppelte(n) Nachahmung« fasst, das heißt einer Differenzierung der Künste nach Sichtbarkeit (Plastik, »Malerei«) und Imagination (Dichtung; vgl. die Beiträge von Jörg Robert II und Lothar van Laak zur Einbildungskraft). In einem zu Unrecht wenig beachteten Abschnitt (Kap. IX) nähert er sich dabei Überlegungen zur Autonomie der Kunst im Gegensatz zu
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Jörg Robert / Friedrich Vollhardt
ihrer heteronomen Bestimmung (Norbert Chr. Wolf). Wenn Lessing hier die kultische Funktion des Kunstwerks als »Zwang« abtut, dem der »freie Künstler« entgegen gesetzt wird, so zeichnen sich Fluchtlinien jener Autonomiedebatte ab, die zwei Dezennien später bei Kant und Schiller geführt werden. Auf der anderen Seite ergeben sich für die Kunst weitere Zwänge aus ihrer gesellschaftlichen Funktion. So gelangt Lessing in den Anfangskapiteln zu bemerkenswerten Aussagen über die Notwendigkeit einer ästhetischen Staatsraison, welche die Darstellung des Exzessiven und Ekelhaften in der bildenden Kunst zugunsten von decorum und bienséance vermeiden muss (vgl. die Beiträge von Robert I und Jacob). Die zentrale Unterscheidung und Grenzziehung zwischen den Künsten in den Kapiteln 16 und 17 setzt dann in methodischer Hinsicht neu an, indem unvermittelt ± und nicht unironisch (»trockene Schlußkette«) ± auf eine deduktiv-dialektische Methode (»die Sache aus ihren ersten Gründen herzuleiten«) umgestellt wird, die am Leitfaden der Unterscheidung Körper im Raum versus Handlung in der Zeit beide Künste differenziert: »Die Malerei kann in ihren koexistierenden Kompositionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung nutzen, und muß daher den prägnantesten wählen« (Kap. 16). Inspiriert ist diese Wendung nicht nur durch semiotische, sondern auch durch poetologische Vorannahmen: Das Kriterium der Handlung, das zur Differenzierung der Dichtung insgesamt verwendet wird, verweist auf die Poetik des Aristoteles wie überhaupt die Ausdifferenzierung der Künste auf gemeinsamer Grundlage (Nachahmung, Täuschung usw.) nach spezifischen Differenzen (»nach Stoff und Arten der Nachahmung«; Titelblatt, nach Plutarch De gloria Athenensium, 347 A 2-3) von der Methode des Aristoteles inspiriert ist. Die Festlegung aller Künste auf das aristotelische Handlungskriterium sorgt dafür, dass die Lyrik zugunsten von Drama (Philoktet) und Epos (Homer, Vergil) aus dem Horizont grenzkonformer Dichtung verschwindet. Insofern ist der medialen Unterscheidung der Künste immer schon eine gattungspoetologische eingeschrieben. Es ist kein Zufall, dass die Argumentation der Kap. 16ff. nur mehr auf das Epos zurückgreift, während das Theater mit seinen »natürlichen Zeichen« letztlich auf der Schwelle zwischen bildenden und redenden Künsten steht und sich der Zuordnung zu einer Kunst der reinen Imagination widersetzt. Zumal die dogmatische, also lehrende und reflektierende Dichtung, wird zum genre faux, wie die Kritik an Hallers Blumenstücken zeigt (Kap. 17). Die Ablehnung der Ekphrasis, vorgeführt am klassischen Exempel der Helena-Figur, führt Lessing eher beiläufig zu einer Theorie der indirekten Darstellung, die das Schöne nicht mehr objektiv, durch »Enumeration« (Kap. 20) der Teile, sondern subjektiv in der Wirkung auf die Ältesten der Trojaner darstellt. Wirkrhetorisch und sensualistisch begründet, liegt hierin das Plädoyer für eine Subjektivierung des Schönen, die dann von Kant (Kritik der Urteilskraft, § 6) und Schiller (Kallias-Briefe) weiter diskutiert wird. Vor allem für Kant bleibt die strenge »Indirektheit« der Bestimmung des Schönen, die subjektive Verfassung des Schönheitsurteils in der Lessingschen Tradition, verbindlich. Wenn
Einleitung
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Lessing den Reiz an dieser Stelle als »Schönheit in Bewegung« definiert ± und qua Bewegung dem Dichter vorbehält ±, so liefert er damit den entscheidenden Anstoß für Schillers Konzeption der Anmut im Essay Über Anmut und Würde (1793). Der Abschluss der Schrift verlässt den systematischen Duktus der zentralen Kapitel. Zwei Themen treten nun hervor: Am Ende die polemische Auseinandersetzung mit J. J. Winckelmanns soeben erschienener Geschichte der Kunst des Altertums (1766), die in der strikten Anwendung philologisch-antiquarischer Quellenanalyse noch einmal die methodischen Differenzen zwischen beiden Ansätzen deutlich macht. Vorausweisender ist ein Exkurs über die Darstellung ästhetischer Grenzfragen (Kap. 22 bis 25), der eine Ästhetik des Hässlichen entfaltet, die wiederum an Sätze des Aristoteles anknüpft (Poetik Kap. 4). Die Legitimität des Hässlichen in der Darstellung von Ekel, Hunger, sittlicher und ästhetischer Unvollkommenheit wird am Ende als weiteres Prärogativ der redenden Künste gewonnen. Die Ästhetisierung und damit Aufhebung des »Widrigen« im Hässlichen bleibt medial der Dichtung vorbehalten, während die schönen Künste aufgrund ihrer sinnlichen Evidenz dem decorum-Gebot unterliegen und sich einem freiwilligen Verzicht (»will sie nicht ausdrücken«) beugen. An keiner anderen Stelle wird das inspirierende Potenzial der Schrift für die kommende Generation des Sturm und Drang deutlicher als hier: Konsequent tritt etwa Gerstenberg in Ugolino den Beweis an, wie sich »der Anblick eines Hungrigen« (Kap. 25) nun auch für das Theater nutzbar machen lässt. Ausgangspunkt und Initiative zur Konzeption der Tagung(en) war der Eindruck, dass die Forschung zu Lessings Laokoon selbst wie zu angrenzenden historischen und ästhetischen Feldern (namentlich dem der Intermedialität und der inter-artes-Studies) an einem Punkt angelangt scheint, der einerseits eine Bilanz des state of the arts fordert, andererseits zu einer Reflexion über Desiderate einer künftigen Forschung zu Lessings ästhetischem Hauptwerk anregt. Wegweisend und lang anhaltend war der Impuls, den die Laokoon-Forschung durch David Wellberys große Studie erhalten hat. Die Forschung der zurückliegenden beinahe drei Jahrzehnte stand in ihrem Zeichen und mithin im Zeichen der Semiotik, die Lessing in den berühmten Kapiteln 16 bis 18 seiner Schrift entfaltet. Der kursorische Überblick über zentrale Themen und Methoden zeigt die Spannweite und Offenheit der Lessingschen Reflexionen, welche sich ± wie eingangs gezeigt ± dem Grundanliegen einer provisorisch-kritischen Ästhetik verdankt, die nicht systematisch, sondern empirisch-philologisch vom Einzelfall ausgeht. Ein wesentliches Ziel des Bandes und Projektes ist es, die Pluralität und Heterogenität des Lessingschen Denkens, seine dynamisch-prozessuale Struktur, die innerhalb der Gliederung zu Inkonsistenzen, Abbrüchen und Reprisen führt, in den Blick zu nehmen. Gerade das Fragmentarische des Textes verweist darauf, wie hier im Rahmen eines älteren ästhetischen Paradigmas neue Ansätze tastend formuliert werden. Durch das inzwischen in dritter Auflage erschienene Lessing-Handbuch von Monika Fick, die monumentale LessingBiographie von Nisbet und die vollständig revidierte Neuedition des Laokoon
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Jörg Robert / Friedrich Vollhardt
durch Friedrich Vollhardt stehen der Forschung neue Grundlagen zur Verfügung, ein umfassenderes und komplexeres Bild dieser Schrift zu gewinnen, die in kontinuierlichen Reprisen die klassische und moderne Ästhetik ± bis zu aktuellen Fragen der Intermedialität ± beeinflusst und beunruhigt. DANK Zum Gelingen der beiden Tagungsprojekte und dieses Bandes haben viele beigetragen. Für die Vorbereitung und Durchführung der Bronnbacher Tagung gebührt ein herzlicher, etwas wehmütiger Dank der treuen Gruppe um Markus Hien, Manuel Bodenmüller und Friederike Günther (neben den beteiligten Hilfskräften). Am Gelingen des Münchner Workshops haben Thomas Borgstedt und Moritz Strohschneider besonderen Anteil gehabt. Die komplexe Aufgabe der Druckvorbereitung wurde mit unermüdlichem und konzentriertem Einsatz von Würzburg (Michael Storch), München (Christine Vogl) und Tübingen (Marisa Irawan und Fabian Sturm, der das Register erstellt hat) aus durchgeführt. Ein besonderer Dank für die Koordination der Abschlussarbeiten gebührt Astrid Dröse (Tübingen).
I. »UNORDENTLICHE COLLECTANEA« ± FRAGMENT, METHODE, GRUNDSÄTZE
Jörg Robert Jörg Robert Laokoon oder: Krieg und Frieden im Reich der Künste
Laokoon oder: Krieg und Frieden im Reich der Künste ¾Krieg und Frieden½ im Reich der Künste
1. »Unordentliche Collectanea« Wenn der Krieg nach einem Wort Heraklits »aller Dinge Vater, aller Dinge König«1 ist, dann gilt dies für den Lessing der 1760er Jahre und den Laokoon in besonderer Weise.2 Es ist ein buchstäblich kriegerischer, d. h. polemischer Text, der wiederum im sachlichen und chronologischen Kontext anderer kritischer Schlachtfelder steht, erinnert sei an die Kontroverse mit Johann Christian Gottsched, Christian Adolf Klotz, Samuel Gotthold Lange oder Goeze.3 Auch im Laokoon verschränken sich Paragone und Polemos, Ästhetik und »Streitkultur«4. Es ist ein außerordentlicher, ja ein ¾unordentlicher½ Text, wie Lessing in der Vorrede ausdrücklich betont, keine systematische Vollpoetik bzw. -ästhetik.5 Das erste Gefecht ist daher ein methodisches. Es begibt sich auf die via 1 2
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Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker. 6. verbess. Ausgabe hg. von Walther Kranz. 1. Bd. Berlin 1951, S. 161. Die folgenden Überlegungen wollen keine Zusammenfassung des Laokoon bzw. des Forschungsstandes geben, sondern beleuchten von einer bestimmten Warte aus jenen doppelten Habitus des Textes, der durch die Schlagwörter »unordentliche Collectanea« und »Grenzen der Künste« umschrieben ist. Einen Überblick über den state of the arts der Laokoon-Forschung bietet Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben ± Werk ± Wirkung. Dritte, neu bearbeitete Auflage. Stuttgart/Weimar 2010, S. 257± GLHV /HVVLQJV ¾/DRkoon½ zwischen Diskursanalyse und Präsenzdebatte. In: Lessing Yearbook 37 (2006/2007), S. 113±124; Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. München 2008, S. 399±440; Friedrich Vollhardt: Nachwort. In: G. E. Lessing. Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Studienausgabe. Stuttgart 2012, S. 437±467. Der Text wird zitiert nach der Ausgabe: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985±2003 (im Folgenden zitiert als FA für ¾Frankfurter Ausgabe½ mit Band- und Seitenzahl), hier Bd. 5/2, S. 9±321; vgl. auch hier das Nachwort des Herausgebers S. 627±671. 3DZHá =DU\FKWD: »Spott und Tadel«. Lessings rhetorische Strategien im antiquarischen Streit. Frankfurt am Main u. a. 2007 (Europäische Aufklärung in Literatur und Sprache 18). Vgl. Wolfram Mauser: Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Referate der Internationalen Lessing-Tagung der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Lessing Society an der University of Cincinnati, Ohio/USA, vom 22. bis 24. Mai 1991 in Freiburg im Breisgau. Tübingen 1993. Hier vor allem die Beiträge von Wilfried Barner (Autorität und Anmaßung. Über Lessings polemische Strategien, vornehmlich im antiquarischen Streit, S. 15±37) und Hugh Barr Nisbet (Polemik und Erkenntnistheorie bei Lessing, S. 410±419). Vgl. dazu im selben Band den Beitrag von Gideon Stiening.
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negativa der philologischen Analyse und der ästhetischen Vorurteilskritik. Sie will dem »falschen Geschmacke, und den ungegründeten Urteilen« der zeitgenössischen Kunstdebatte entgegentreten.6 Hier stehen zwei Aspekte im Vordergrund: »Allegoristerei« und »Schilderungssucht«. Die Aufzeichnungen seien »zufälliger Weise entstanden«, schreibt Lessing weiter, »mehr nach der Folge meiner Lectüre, als durch methodische Entwicklung allgemeiner Grund- sätze angewachsen«. Und schließlich der Satz, der dem vorliegenden Sammelband als Leitmotiv dient: »Es sind also mehr unordentliche Collectanea zu einem Buche, als ein Buch«.7 Damit sind Fronten und Oppositionen gesetzt. Hier der Fragmentarist und Essayist Lessing, auf der Gegenseite die akademischen Systematiker, von denen Lessing vor allem ein methodischer Habitus trennt: »An systematischen Büchern haben wir Deutschen überhaupt keinen Mangel«,8 schreibt Lessing süffisant. Im Hinblick auf das Kriterium ¾System½, das die Kriterien von Totalität und Methode einschließt, wird Baumgartens Ästhetik der Tradition der Vollpoetiken zugeschlagen, die über Scaliger und Gottsched bis in die eigene Gegenwart reicht. Die Poetiken Bodmers und Breitingers, deren These von den »poetischen Gemälden« oder »poetischen Malerei« im Zentrum der Polemik des Laokoon steht, sind also an der zitierten Stelle immer mit gemeint.9 Lessings Frontlinien markieren solche der Rezeption ± bis heute. Die Diskussion um die Systematizität der vermeintlich »unordentlichen Collectanea« zählt nach wie vor zu den zentralen Impulsen der Laokoon-Forschung. Den Fragmentaristen stehen die Systematiker oder Harmonisten entgegen. Die Stoßrichtung der Letzteren ist eine doppelte: Einerseits wird der von Lessing prätendierte Widerspruch zwischen den eigenen »Aufsätzen« und der systematischen Methode negiert. Dies wird begründet a) durch die innere Kohärenz des Laokoon in systemphilosophischer Hinsicht, die b) durch seine vermeintlich konstante, aus den Mäandern der antiquarischen Methode herauszuarbeitende Referenz auf die rationalistische Tradition (Leibniz, Wolff, Baumgarten usw.) und mithin das ¾Zeichenregime½10 des 18. Jahrhunderts bestimmt sei. Die wichtigste 6 7 8 9
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FA 5/2, S. 15. Ebd. Ebd. Zum Problemkreis ut pictura poesis und der Anschaulichkeit liegt eine umfangreiche Literatur vor. Ich nenne nur die wichtigsten Titel: Hans Christoph Buch: Ut pictura poesis. München 1972; Rensselaer W. Lee: Ut pictura poesis. New York/London 1967; Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Tübingen 1989; Gyburg Radke-Uhlmann und Arbogast Schmitt (Hgg.): Anschaulichkeit in Kunst und Literatur. Wege bildlicher Visualisierung in der europäischen Geschichte. Berlin/Boston 2011(Colloquium Rauricum 119). Damit ist eine Linie der Laokoon-Forschung benannt, die im Gefolge von David Wellberys 6WXGLH /HVVLQJ¶V /DRFRRQ Semiotics and aesthetics in the Age of Reason. Cambridge 1984), die Semiotik(en) des 18. Jahrhunderts im Licht der neueren Semiotik zu fassen suchen. Vorausgegangen war Tzvetan Todorov: Esthétique et sémiotique au XVIIIe siècle. In: Critique 308 (1973), S. 26±39. Exemplarisch der Sammelband von Inge Baxmann, Michael Franz und Wolfgang Schäffner (Hgg.): Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert. Berlin 2000 (Historische und systematische Studien zu einer vergleichen-
Laokoon oder: Krieg und Frieden im Reich der Künste
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Strategie der Harmonisten besteht darin, die methodischen Widersprüche zu entkräften und Lessing dem rationalistischen Denkrahmen zu re-integrieren. Der vorliegende Band versucht einen dritten Weg, der hinter die Alternativen und Oppositionen zurückgreift und die Formen, Gattungen und Diskurstraditionen des Laokoon gezielt herausarbeitet. Die Sektionen dieses Bandes spiegeln die unterschiedlichen Komponenten dieses Unternehmens wider, die oft genug in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die Alternative von Ordnung vs. Unordnung, Collectanea vs. System weniger eine Frage der Systematik als ihrer Performanz ist. Lessings Ästhetik ist auch und zuerst eine Funktion seiner Poetik der Kritik und seiner Pragmatik der Autorschaft. Zu deren wichtigsten Eigenheiten zählen Strategien a) der Dissimulation und b) der simulierten Prozessualität. So laufen, um das zentrale Beispiel für a) zu benennen, die Aussagen der Vorrede dem Befund der Paralipomena zuwider, die bezeugen, dass der systematische Kern und Impuls ± die Differenzierung der Künste nach ihrem Zeichengebrauch (die späteren Kapitel 16 und 17) ± gerade am Anfang der Textgenese steht.11 Hier schließt sich b) die Strategie der simulierten Prozessualität an. Dass es Lessing um die Setzung absoluter Normen geht, wird durch die Form der Beweisführung, die sich mit Begriffen wie »Experiment«12, »Essay«13 bzw. »Aufsatz« fassen lässt, nicht widerlegt ± im Gegenteil. Mag die Argumentation forciert unsystematisch sein, so ist ihr Ziel doch ein System der Künste bzw. der Kunst, das rückstandslose Integration und Totalität anstrebt. Der Versuch etwa, in Paralipomenon 27 die Musik einzugliedern, verrät diesen Systemwillen deutlich.14 Form und Ziel der Argumentation stehen daher in einem dialektischen Verhältnis. Es ist müßig, aus den systematischen Partien (¾Laokoon-Paradigma½) und/oder den nur andeutungsweise explizierten Voraussetzungen (¾semiotics in the age of reason½) Lessings ungeschriebene systematische Ästhetik rekonstruieren und Lessing gleichsam auf Wolff und Baumgarten (plus Mendelssohn) reduzieren zu wollen. Vielmehr ist anzuerkennen, dass die Form der Kritik und
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den Zeichentheorie der Künste 2); Gunter Gebauer (Hg.): Das Laokoon-Projekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik. Stuttgart 1984 (Studien zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft 25); Udo Bayer: Lessings Zeichenbegriffe und Zeichenprozesse im ¾/DRNRRQ½XQGLKUH$QDO\VHQDFKGHUPRGHUQHQ6HPLRWLN'LVV6WXWWJDUW FA 5/2, S. 209±213 (Paralipomenon 1). Vgl. dazu auch und insbesondere den Artikel von Eric Achermann in diesem Band. So Wilfried Barner: Kommentar. In: FA 5/2, S. 662f.: »Sie ist nicht antiquarische Spezialabhandlung akademischen Zuschnitts, nicht sinnenhafte Kunst-Vergegenwärtigung in der Weise Winckelmanns XQG QLFKW ¾V\VWHPDWLVFKH½ 7KHRULH-Darlegung nach der Art von Baumgartens Aesthetica 6LH VWHOOW HWZDV GDUDXV ¾*HPLVFKWHV½ GDU QLFKW VHOEVW VFKRQ Eestimmte neue Form, aber ein Experiment zu neuen Zwecken.« Stiening spricht in diesem Band von einer »bewusste[n] Anwendung einer ¾essayistischen½ Darstellungsform«. Zu dieser Position scheint Moses Mendelssohns Aussage gegenüber Elise Reimarus zu passen, wonach Lessing die »Gymnastik des Geistes wichtiger, als die reine Wahrheit« gewesen sei (Berlin, 16. August 1783. In: Moses Mendelssohn: Briefwechsel. Hg. von Alexander Altmann. Stuttgart-Bad Cannstatt 1979, Bd. III, S. 125). Vgl. den Beitrag von Frieder von Ammon in diesem Band.
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der Habitus des Kritikers wesentliche Bestandteile der Methode selbst sind. Nicht, dass Lessing in der ästhetischen Substanz weniger dogmatisch wäre als etwa Baumgarten. Ihm kommt es nicht nur auf die Lösungen an, sondern darauf, diese Lösungen als Ergebnis der eigenen ästhetischen Pionierarbeit herauszustellen. Lessing führt nicht ein System vor, sondern zeigt dessen Findung. Sukzessivität ist nicht nur Argument, sondern auch zentrale textrhetorische Strategie. Dazu wird eine eigene ästhetische Topographie entworfen, die eng an das flanierende Lese-Subjekt Lessing gebunden wird. Auf die Inszenierung eines solchen Parcours durch eine als begehbar gedachte ästhetische Theorielandschaft kommt es Lessing an. Der Spaziergang ± eine Lieblingsmetapher der Gattung Essay seit Montaigne15 ± ist die angemessene Form der Genese und Präsentation dieses Wissens. Um dieser Form willen. Die Methode wird hier wieder konkret zur meth-odos im ursprünglichen Sinn. Dies zeigt sich vor allem dort, wo die Chronologie der Lektüre fingiert ist, um die Spannung des Weges aufrecht zu erhalten, am auffälligsten in der Spätdatierung der Lektüre der Winckelmannschen Geschichte der Kunst des Altertums.16 So ¾unbeweglich½ die einmal erkannte Wahrheit ist, so beweglich muss der Standpunkt dessen sein, der sie ± wie ein Pionier in unwegsamer Landschaft ± erkundet. Einmal gefunden, steht die Entelechie der Kunst bzw. der Künste jedoch jenseits historischen Wandels fest.
2. Klassizismus und Geniepoetik Dies gilt für die Kunsttheorie ebenso wie die Kunst selbst. Paradigmatisch bleiben daher die antiken Autoren, zumal die griechischen. Lessing drückte »dem hellenischen Revival sozusagen das Siegel auf«,17 auch bei ihm bedingen sich Alter und Geltung. Die Alten ± Sophokles,18 Homer, Vergil ± bleiben unangefochten das Maß aller Dinge, auch und gerade für die Gegenwart. Zu den Paradoxien des Ansatzes gehört es dabei, dass der Genie- und Originalitätsge15
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Montaigne berichtet in seinem Essay Trois commerces von dem Plan, in seine Bibliothek eine Galerie einzubauen, die ihm als »proumenoir« dienen soll. Christin Moser: »You must walk like a camel« ± Eine kleine Geschichte des literarischen Verdauungsspaziergangs. In: Kopflandschaften ± Landschaftsgänge: Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs. Hg. von Axel Gellhaus, Christian Moser und Helmut J. Schneider. Köln/Weimar/Wien 2007, S. 51±81, hier S. 65; -XWWD+HLQ]¾*HGDQNHQ½ über Gott und die Welt. Die Erprobung der Anthropologie im Essay bei Meier, Krüger und Nicolai. ,Q¾Vernünftige Ärzte½. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Hg. von Carsten Zelle. Tübingen 2001 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 19), S. 140±155, hier S. 144±146. Ich meine den Beginn von Kapitel 26: »Des Herrn Winkelmanns Geschichte der Kunst des Altertums, ist erschienen. Ich wage keinen Schritt weiter, ohne dieses Werk gelesen zu haben.« FA 5/2, S. 183; vgl. den Kommentar von Barner, ebd., S. 641. Nisbet: Lessing (Anm. 2), S. 431. Zur Bedeutung der Aias-Studien vgl. Friedrich Vollhardts Beitrag in diesem Band.
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danke den Klassizismus rechtfertigen muss. Damit stellt sich Lessing grundsätzlich Winckelmann zur Seite, der in den Gedancken formuliert hatte: »Der eintzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist GLH 1DFKDKPXQJ GHU $OWHQ >«@ 0DQ PX PLW LKQHQ ZLH PLW HLQHP )UHXQG bekannt, geworden seyn, um den Laocoon eben so unnachahmlich als den Homer zu finden.«19 Damit ergibt sich jedoch ein Dilemma: Lessing postuliert einerseits die Vorbildlichkeit der Alten, stellt jedoch das Prinzip des Schreibens am Modell ± d. h. die imitatio-Poetik ± grundsätzlich in Frage. Klassizismus und Geniepoetik widersprechen sich wie schon im Paradox Winckelmanns. Dies beeinflusst auch einen zentralen Impuls der Schrift: Die »Rettung Virgils«20 ± gegen Winckelmanns Vorwurf der Epigonalität ± bleibt ambivalent. Sie erstreckt sich nur soweit, wie auf antiquarischem Wege die zeitliche Priorität und Originalität der Aeneis gegenüber der Laokoon-Gruppe bewiesen werden kann.21 Für die deutschen Autoren, überhaupt für die zeitgenössische Dichtung, ist das Ergebnis ernüchternd. Der herrschende Geschmack, der durch Autoren wie Haller und Ewald von Kleist repräsentiert wird, hat sich von der Praxis der Alten und damit von der Entelechie der Dichtung entfernt. Methodisch und heuristisch ist daher der Weg zu den Alten zwingend, um aus ihnen induktiv die 19 20
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Johann Joachim Winckelmann: Kleine Schriften ± Vorreden ± Entwürfe. Hg. von Walther Rehm. 2. Auflage. Berlin/New York 2002, hier S. 30. Vgl. dazu meinen Beitrag in diesem Band sowie den Beitrag von Anja Wolkenhauer. Zur Form der Rettung vgl. Friedrich Vollhardt: Lessings Lektüre. Anmerkungen zu den Rettungen, zum Faust-Fragment, zu der Schrift über Leibnitz von den ewigen Strafen und zur Erziehung des Menschengeschlechts. In: Euphorion 100 (2006), S. 359±393. Die Gleichsetzung von Priorität und Originalität gilt auch schon innerhalb der griechischen Kunst. Bereits die »Homerischen Meisterstücke der Poesie [waren] älter als irgend ein Meisterstück der Kunst«. FA 5/2, S. 161. Der Vergleich der beiden Schildbeschreibungen in Ilias und Odyssee macht daher teilweise die »Rettung« wieder zu nichte (dazu auch Oliver Primavesi: Bild und Zeit. Lessings Poetik des natürlichen Zeichens und die Homerische Ekphrasis. In: Klassische Philologie inter disciplinas. Aktuelle Konzepte zu Gegenstand und Methode eines Grundlagenfaches. Hg. von Jürgen P. Schwindt. Heidelberg 2002, S. 187±211). Begründet wird die Abwertung jedoch nicht durch die Tatsache, dass Vergils Schildbeschreibung in der Aeneis (8, 369±453) die Homerische imitiert (wenigstens strukturell). Der Grund liegt vielmehr darin, dass er das Gesetz der sukzessiven Zeichenfolge missachtet. Wo Homer das Gesetz der Sukzession bewahrt und »das Schild [sic] nicht als ein fertiges vollendetes, sondern als ein werdendes Schild [malet]«, da lässt Vergil »die Handlung offenbar während demselben stehen«. Aus einem organischen Bericht der Geschichte eines Gegenstandes wird ein »wahres Einschiebsel«. Der Schild werde nur »wegen der Zierrathen« gefertigt. In ihm zeigt sich ferner »der witzige Hofmann« (alle FA 5/2, S. 137), der politisch-nationale Autor. Hier zeigt sich, wie die ästhetische Argumentation XQYHUVHKHQVYRQHLQHUSROLWLVFKHQIODQNLHUWZLUG2UQDPHQWNULWLNXQG.ULWLNDQHLQHU¾SROiWLVFKHQ½ .XQVW ZLH VLH GLH Aeneis repräsentiert, zielen beide auf die Autonomie des Kunstwerks als autarkes System. Das neunte Kapitel des Laokoon erhebt diese Forderung nach »völlige[r] Freiheit« des Kunstwerks (FA 5/2, S. 84) gegenüber dem »äußerliche[n] Zwang« vor allem gegen die Religion. Die Attacke gegen Vergil und auch gegen Haller wiederum richtet sich gegen die Heteronomien einer Kunst, die sich in den Dienst höfischer Kultur und Prachtentfaltung stellt. Dieser Aspekt steht schon im ersten Teil im Vordergrund, der sich kritisch mit dem Prozess der Zivilisation auseinandersetzt.
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Regeln des guten Geschmacks abzuleiten. Es ist nur konsequent, dass der Laokoon zwar aktuelle Theorie bearbeitet, aber kaum einmal zeitgenössische Dichtung jenseits der Renaissance zitiert ± die Erwähnung von Thomsons Seasons oder Popes Lehrgedichten und Satiren bestätigt die Regel. Wo Zeitgenössisches besprochen wird, ist das Urteil vernichtend. Autoren wie Pope oder Ewald von Kleist werden dadurch entschuldigt, dass sie in ihrem Werk die »Schilderungssucht« längst überwunden hätten.22 Die Kritik an Hallers Alpen (verfasst 1728) wirkt im Jahr 1766 ihrerseits verspätet. Das Fehlen einer Kritik der moderni ist einerseits dem antiquarischen Ansatz geschuldet, der Regeln und Gesetze am Beispiel der Alten entwickelt. Gleichzeitig stellt die Aussparung eine literaturpolitische Strategie dar, die darauf zielt, eine Stunde Null der deutschen Dichtung zu konstruieren, die durch den eigenen kritischen Text markiert wird. Entscheidend ist, dass der unbedingte Anschluss an die Alten nicht nur für die Dichtung selbst, sondern auch für die Poetik gilt. Die zentrale Autorität auch des Laokoon ist Aristoteles¶Poetik. Dies zeigt sich auch und gerade im methodischen Wechselspiel von deskriptiver und normativer Argumentation, in der Verbindung von kritischer Empirie und Gesetzgebung.23 Zumal Schiller wird in Aristoteles nicht den »illiberalen und steifen Gesetzgeber« finden, den die Franzosen aus ihm gemacht hätten.24 Die Sätze der Poetik beruhten auf »einer sehr reichen Erfahrung und Anschauung«. Daher sei »in seinem Buch absolut nichts Speculatives, keine Spur von irgend einer Theorie, es ist alles empirisch, aber die große Anzahl der Fälle und die glückliche Wahl der Muster, die er vor Augen hat, giebt seinen empirischen Aussprüchen einen allgemeinen Gehalt und die völlige Qualität von Gesetzen.«25
3. Die Pluralität des ästhetischen Feldes Letztlich zeichnet sich in der hybriden Begründungstruktur des Laokoon ein für die Ästhetik des 18. Jahrhunderts charakteristisches Phänomen ab, das Problem, wie sich nach dem Abschied von der Normpoetik Gottschedscher Prägung eine neue und integrale Theorie der Künste formulieren lasse, welche die verschiedenen methodischen Sphären insbesondere der Rede über Literatur integrieren
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FA 5/2, S. 127f.: »Von dem Herrn von Kleist kann ich versichern, daß er sich auf seinen Frühling das wenigste einbildete. Hätte er länger gelebt, würde er ihm eine ganz andere Gestalt gegeben haben.« Grundlegend Werner Söffing: Deskriptive und normative Bestimmungen in der Poetik des Aristoteles. Amsterdam 1981 (Beihefte zu Poetica 15). Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe. Im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums und der Deutschen Akademie begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Liselotte Blumenthal u. a., im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums Marbach. Hg. von Norbert Oellers. Weimar 1949f. (im Folgenden zitiert als NA mit Band- und Seitenzahl), hier Bd. 29, S. 82. Ebd.
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würde: die der Kritik,26 der (alten) Poetik (konkret des Aristotelismus) und der (neuen) Ästhetik auf rationalistischer bzw. semiotischer Grundlage. Die Laokoon-Forschung hat darin ihren blinden Fleck, dass sie den problematischen Status der ästhetischen Theoriebildung im 18. Jahrhundert ± d. h. die Pluralität der Traditionen, Methoden, Argumentationsattitüden ± verkennt, indem sie solche sachlichen, methodischen und extensionalen Widersprüche durch monokausale Vereindeutigungen (hier System ± dort Essay) zu entschärfen sucht. Lessings Laokoon unternimmt dagegen den Versuch, eine provisorische Ästhetik zu formulieren, die mit den Ergebnissen immer zugleich ihre Genese reflektiert. Dabei ist Lessings genuiner Aristotelismus (im Sinne der PoetikRezeption) neu zu bedenken. Ausgehend von einem zeitgemäß-semiotisch gewendeten Verständnis der Poetik entwirft Lessing eine Theorie der Kunst (verstanden als Kollektivsingular), die mit den Unterscheidungen (differentiae specificae) zugleich auch deren Verbindendes (das genus proximum) bestimmen muss.27 Diese allgemeine Theorie der Künste, die den dritten Teil der Untersuchung bilden sollte, sollte »weniger die Differenzen zwischen Malerei und Dichtung als vielmehr deren Gemeinsamkeiten behandeln«.28 Lessings Argumentation ist daher in vollem und eigentlichem Wortsinn dialektisch. Kehrt man die Blickrichtung um, wird sichtbar, wie Lessing in der Unterscheidung der Künste am Integrationsbegriff der Kunst arbeitet ± der ihm indes semantisch und konzeptionell noch nicht zur Verfügung steht. 29 Zu jenen Gemeinsamkeiten, die kaum einmal in den Blick genommen wurden, zählen 26
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Zur Literarkritik des 18. Jahrhunderts seien die wichtigsten Gesamtdarstellungen genannt. Astrid Urban: Kunst der Kritik. Die Gattungsgeschichte der Rezension von der Spätaufklärung bis zur Romantik. Heidelberg 2004; Peter Uwe Hohendahl (Hg.): Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730±1980). Stuttgart 1985; Werner Strube: Kurze Geschichte des Begriffs ¾Kunstrichter½. In: Archiv für Begriffsgeschichte 19 (1975), S. 50±82, zu Lessing hier S. 60±64. Zu dieser logischen Fundierung und Struktur der Aristotelischen Poetik und ihrer Wirkung vgl. Stefan Trappen: Dialektischer und klassischer Gattungsbegriff bei Opitz. Ein übersehener Zusammenhang zwischen Aristoteles, Scaliger und der deutschen Barockpoetik. In: Martin Opitz (1597±1639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt. Hg. von Thomas Borgstedt und Walter Schmitz. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit 63), S. 88±98. Vollhardt: Nachwort (Anm. 2), S. 455. 'HU%HJULII¾.XQVW½ZLUGYRQ/HVVLQJ± dem aktuellen Sprachgebrauch folgend ± lediglich auf die bildende Kunst angewandt. Ein alle Künste umspannender Begriff von Kunst steht noch nicht zur Verfügung. Winfried Menninghaus: Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin. Frankfurt am Main 2011, S. ª2KQHKLQLVWGHU.ROOHNWLYVLQJXODU¾GLH.XQVW½IUGLH*esamtheit aller einzelnen Künste eine moderne westliche Erfindung, die wenig älter als 200 Jahre ist.« Das Gemeinte wird kumulativ bestimmt: »Künstler und Dichter« (z. B. S. 74). Exemplarisch ist hier das neunte Kapitel des Laokoon, das von der »Bestimmung der Kunst« spricht, die auf Freiheit von religiösen Zwecken und Zwängen abzielt (vgl. dazu den Beitrag von Norbert Christian Wolf in diesem Band). So offen hier die Autonomie der Kunst ± auch begrifflich! ± ein erstes Mal postuliert wird, so sehr bleibt diese Forderung doch beschränkt auf die bildende Kunst. Es ist Schiller, der im philosophischen Gedicht Die Künstler zuerst auf sachlicher und semantischer Ebene die Integration beider Künste ]XU¾.XQVW½KHUVWHOOW
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etwa die Festlegung beider Künste auf das (aristotelische) Kriterium der »Darstellung/Nachahmung von handelnden Menschen«. Beide Künste »unterscheiden sich nur im Stoff und in der Art der Nachahmung«, so zitiert das Titelblatt aus Plutarch (De gloria Athenensium, 356F). Die fundierende Geltung des Mimesis- und des Handlungsprinzips ist damit für alle Künste bestätigt. Lessing betreibt geradezu eine Renaissance und ¾Rettung½ des Aristoteles für eine ± noch zu formulierende ± allgemeine Theorie der schönen Künste.30 Der Gegensatz von Mimesis und Imagination ist also nur ein scheinbarer. Beide stehen vielmehr in einem funktionalen und dialektischen Verhältnis, in dem sich Objekt- und Rezeptionsästhetik, Aristotelische und rhetorische Tradition zu einem Bedingungsgefüge verbinden. Gewiss stellt die »Frage nach dem inneren Bezugspunkt der Einbildungskraft«31 ein Zentrum der Argumentation dar. Dass die Betonung von Imagination und Illusion zu den folgenreichen Akzentverschiebungen im Laokoon gehört, ist oft zu Recht hervorgehoben worden. Kunst ist schon für Lessing »Gemütserregungskunst«,32 die auf die Mechaniken der Assoziation angewiesen ist. Dennoch darf die Fixierung auf die »Neubewertung der ¾Einbildungskraft½«33 nicht als eine Überwindung der Mimesis-Ästhetik tout court verstanden werden. Vielmehr wird die Nachahmungstheorie modifiziert und »reformuliert«34. Die Rede vom ¾bequemen Verhältnis½35 zwischen Zeichen und Bezeichnetem hat eine doppelte Perspektive: Auf objektästhetischer Ebene sichert sie die semiotische Passung von Urbild und Abbild. Nur diese Passung, die man als semiotisches aptum bezeichnen könnte, garantiert wiederum den ene(a)rgetischen Effekt. Mit dieser dialektischen Lösung ± Imagination aus nicht gegen Mimesis ± setzt Lessing beide in ein Verhältnis von Ursache und Wirkung. Das »freie Spiel« der Einbildungskraft bedarf der geglückten Mimesis, es ist geradezu eine Funktion der Mimesis (in ihrer semiotischen Reformulierung). Damit verschaltet Lessing drei distinkte Theorieschichten: aristotelische Mime30
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Zur semiotischen Reformulierung des Aristoteles vgl. Andreas Kablitz: Mimesis versus Repräsentation. Die Aristotelische Poetik in ihrer neuzeitlichen Rezeption. In: Aristoteles Poetik. Hg. von Otfried Höffe. Berlin 2009, S. 215±232, hier S. 224±227. Eine Studie zur Bedeutung der Aristotelischen Poetik für den Laokoon liegt nicht vor ± ein Desiderat! Zu konsultieren sind jene Studien, die sich den dramentheoretischen Implikationen im ersten Teil widmen. Klaus Bohnen: Geist und Buchstabe. Zum Prinzip des kritischen Verfahrens in Lessings literarästhetischen und theologischen Schriften. Hg. von Klaus Bohnen. Köln u. a. 1974 (Kölner germanistische Studien 10), S. 97. Novalis. Schriften. Hg. von Richard Samuel. Darmstadt 1968, Bd. 3, S. 650. Barner: Nachwort zu Lessing: FA 5/2, S. 667. Vollhardt: Nachwort (Anm. 2), S. 456. So auch Stephen Halliwell: The Aesthetics of Mimesis. Ancient Texts and Modern Problems. Princeton/Oxford 2002, S. 119: »/HVVLQJ¶V aesthetic in Laokoon exhibits, among much else, the modification of a fundamentally mimeticist position by a stress on imaginative expression and suggestiveness.« FA 5/2, S. 116; Karlheinz Stierle: Das bequeme Verhältnis. Lessings Laokoon und die Entdeckung des ästhetischen Mediums. In: Das Laokoon-Projekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik. Hg. von Gunter Gebauer. Stuttgart 1984, S. 23±58.
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sis-Konzeption, rationalistische Semiotik und rhetorische enargeia-Lehre.36 Wie bei der Opposition von System und Collectanea zeigt sich: Die Ambiguitäten des Laokoon sind das Ergebnis der inneren Pluralität des ästhetischen Feldes um und nach 1750. Die Spannung zwischen einer Objekt- und einer Subjektästhetik ist hier bereits angelegt. Auch diese Debatte wird um 1800 erneut aufgenommen: Schillers Versuch, einen »objectiven Begriff des Schönen, der sich eo ipso auch zu einem objectiven Grundsatz des Geschmacks qualificirt«37, zu suchen, und damit Kants Einklammerung der Frage nach dem Wesen des schönen Gegenstands38 entgegenzuwirken, ist im Laokoon vorbereitet.39 Theoriegeschichtlich eröffnet sich dieser Abgrund zwischen Objekt und Subjekt an der Stelle, wo aristotelische und rhetorische Tradition aneinander gefügt werden und eine dauerhafte Schnittstelle ± um nicht zu sagen ¾Wunde½ ± der ästhetischen Theorie bilden.
4. Flanierende Philologie ± ästhetische Kritik Wenn Lessing seine »spaziergängerische« Methode gegen das ¾bündige Raisonnement½ eines Baumgarten absetzt, so bedient er sich der topischen Unterscheidung von akademischer Pedanterie und galanter Kritik. 40 Die antiquarische Methode transzendiert sich selbst zur flanierenden Philologie. Ihre Leitprinzi36
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So auch Vollhardt: Nachwort (Anm. 2), S. 457: »Kombination von Nachahmungs-, Medien- und Wirkungsästhetik«. Zum Nachahmungsproblem Élisabeth Décultot: Theorie und Praxis der Nachahmung. Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. In: DVS 76 (2002), S. 27±49; Herbert Dieckmann: Die Wandlung des Nachahmungsbegriffs in der französischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts. In: Ders.: Studien zur europäischen Aufklärung. München 1974, S. 275±311. Brief Schillers an Körner vom 21.12.1792; NA 26, S. 170. Vgl. NA 26, S. 188: »Wirklich bin icKDXIGHP:HJ>«@VHLQH%HKDXSWXQJGDNHLQREMHNWLYHV3ULQFLSGHV*HVFKPDFNV möglich sey, dadurch anzugreifen, daß ich ein solches aufstelle.« Kritik der Urteilskraft § 17: »Es kann keine objektive Geschmacksregel, welche durch Begriffe bestimmte, was schön sei, geben.« Immanuel Kant: Werke in zehn Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. 5. Auflage. Darmstadt 1983, Bd. 8, S. 313. In der Kritik der Urteilskraft ist die Spannung zwischen dem subjektiven und dem objektiven Pol gleich mehrfach greifbar: In dem Versuch, dem subjektiven ästhetischen Urteil Allgemeingültigkeit zurückzugewinnen und in dem prekären Versuch, noch einmal verbindliche Aussagen über das »Ideal des Schönen« (§ 17) zu finden. Folgerichtig wird Kant hier zum bekennenden Ancien: »Muster des Geschmacks in Ansehung der redenden Künste müssen in einer toten und gelehrten Sprache abgefaßt sein.« Kant: Werke (Anm. 38), Bd. 8, S. 313. Hier ist natürlich vor allem an Christian Thomasius zu denken. Alexander .RãHQLQD'HU gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung. Göttingen 2003, bes. S. 55±84 (kursorischer Überblick über Pedanteriediskurse der Frühen Neuzeit). Eine sozial- und ideengeschichtlich fundierte Aufarbeitung in der klassischen Darstellung von Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 3).
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pien entspringen einer Rhetorik der schönen Natürlichkeit und der Dissimulation. Sie beruft sich auf die laufende Buchproduktion, nicht auf die veralteten Kompendien der akademischen Gelehrsamkeit (»Gesners Wörterbuch«). Aktualität ersetzt Autorität. Dies setzt einen Wandel des kritischen Geschäfts voraus.41 Während die alte Kritik in humanistischer Tradition als »imitatioKontrolle«42 fungiert und die aktuelle Produktion auf der Grundlage überzeitlicher Regeln, Normen und Modelle beurteilt, steht die »critique mondaine« seit dem frühen 18. Jahrhundert im Zeichen von Aktualität, Synchronie und Verzeitlichung.43 Diese Aktualität ist jedoch, wie eben dargelegt, nicht mit der Vorstellung historischen Wandels zu verwechseln. Aktualität besitzt einen Wert nur im Hinblick auf die progressive Annäherung an eine normative Wahrheit. Auch hier steht der Laokoon an einer Zeitenwende. Die abrupte Wendung, die Lessing im 26. Kapitel des Laokoon inszeniert, soll eine Sensibilität für die je neuen und aktuellen Annäherungen an diese überzeitliche Wahrheit ausdrücken: Des Herrn Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums ist erschienen. Ich wage keinen Schritt weiter, ohne dieses Werk gelesen zu haben. Bloß aus allgemeinen Begriffen über die Kunst vernünfteln, kann zu Grillen verführen, die man über lang oder kurz, zu seiner Beschämung, in den Werken der Kunst widerlegt findet.44
Die Suggestion der Stelle ist offensichtlich: Lessing deduziert nicht, er argumentiert gerade nicht »aus den ersten Gründen« (so in Kap. 16) wie die rationalistische Schulphilosophie, hinter der man wieder Baumgarten vermuten kann. Folgende Elemente einer Poetik der Kritik zeichnen sich ab: 1. Der wahre criticus schöpft aus der Quelle bzw. den Quellen, die der Autor dem Buchhändler druckfrisch aus den Händen reißt, um sie gleichsam vor den Augen des Lesers ostentativ zu ¾durchblättern½. 2. Auch die vermeintliche Kenntnis der Werke ist vermittelt durch Druckerzeugnisse wie Winckelmanns Geschichte der Kunst. Die Lektüre ± durch Reproduktion gestützt ± ersetzt die Autopsie. In dieser Vermittlung sieht Lessing nicht das geringste Problem. Wissen ist gedrucktes Wissen. 3. Andererseits wird der subjektive Standpunkt, das gleichsam private und idiosynkratische Interesse (»meine Neugierde«45) stark betont. Lessing baut in seiner Argumentation Spannung auf, inszeniert das Referat als individuellen Lektüreweg, der in und durch Winckelmanns Text hindurchspringt. 4. In der Tradition der Gelehrten- und Pedantensatire, die Lessing in der Komödie Der junge Gelehrte oder im Buchprojekt Die gelehrte Kretze
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Herbert Jaumann: Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius/HLGHQ%ULOO¶VVWXGLHVLQLQWHOOHFWXDOKLVWRU\ . Ebd., S. 164. Ebd., S. 193±213. FA 5/2, S. 183. Ebd.
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fortschreibt,46 werden die Systemästhetiker als Schulfüchse diskreditiert, die ± wie Damon bei Lessing47 ± ihren polyhistorischen »Grillen« nachhingen. 5. Ein fünfter Aspekt ließe sich ergänzen. Er liegt im paradoxen Gegensatz von Habitus und Methode. Lessing stellt im Laokoon seine antiquarische Gelehrsamkeit unter Beweis ± und diskreditiert doch deren Prinzipien. Auch Lessings Wissen beruht auf Kompendien, z. B. dem Malerbuch des Franciscus Iunius (De pictura veterum, 1637), die Naturgeschichte des älteren Plinius versteht sich von selbst. Nicht zu Unrecht kann ihm daher der Antipode Winckelmann »UniversitätsWitz, welcher mit Paradoxien sich hervorthun will«, vorwerfen48 und den gelehrten Antiquar im Sinne seines Autopsie-Ideals (»selber sehen«) herausfordern: »Er komme nach Rom, um auf dem Ort mit ihm zu sprechen«.49 Die Einladung verhallt ungehört. Auch als sich Lessing 1775, fast zehn Jahre nach der Veröffentlichung des Laokoon, für drei Wochen als Begleiter des Prinzen von Braunschweig in Rom aufhält, zeigt er kein Interesse, die Gruppe in Augenschein zu nehmen.50 Das Studium der literarischen Quellen ist und bleibt für Lessing die zureichende Form ästhetischer Empirie (im Sinne eines ¾selber Lesens½), welcher die Anschauung der Originale nichts hinzuzufügen hat. Auch zwischen der auf Aktualität bezogenen Kritik neueren Typs und dem transhistorisch-normativen Anspruch, den Lessing mit seinen Distinktionen erhebt, besteht eine Spannung. Sie ist weniger dem Autor als der Pluralität der ästhetischen Debatten und Tendenzen seiner Zeit zuzuschreiben, die Laokoon zu einem »Übergangswerk«51 machen. Der Widerspruch zwischen Klassizismus und Genie, empirischer Methode und dogmatischer Gesetzgebung verweist auf die innere Pluralität des ästhetischen Diskurses um 1750. Insofern haben in der Diskussion um die Physiognomie des Laokoon beide Seiten recht: die Anhänger der verborgenen Systematik und die der empirisch-philologischen Kritik. Doppeldeutig bleibt auch der Begriff der Collectanea. Im Hinblick auf den publi46 47
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.RãHQLQD$QP40), S. 7f. Vgl. FA 1, S. 1055: »In ihr aber wird auf der Bühne zugleich ein epochaler Wechsel in der Geschichte des Gelehrtenideals vollzogen, wird das Ende des Polyhistorismus unter dem Gelächter des Parketts exHNXWLHUW´ Nisbet: Lessing (Anm. 2), S. 415. Johann Joachim Winckelmann an Johann Michael Francke (10.9.1766), zit. in: FA 5/2, S. 681. Jürgen Dummer: Lessing und die antiken Originale. Präliminarien zum Thema Winckelmann und Lessing. In: Ders.: Philologia sacra et profana. Ausgewählte Beiträge zur Antike und zu ihrer Wirkungsgeschichte. Hg. von Meinolf Vielberg. Wiesbaden 2006, S. 286±307. Balbina Bäbler: Laokoon und Winckelmann. Stadien und Quellen seiner Auseinandersetzung mit der Laokoongruppe. In: Laokoon in Literatur und Kunst. Schriften des Symposions »Laokoon in Literatur und Kunst« vom 30.11.2006, Universität Bonn. Hg. von Dorothee Gall und Anja Wolkenhauer. Berlin/New York 2009, S. 228±241, hier S. 237f. Nisbet: Lessing (Anm. 2), S. 429.
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zierten Text gewinnt er beinahe das Gewicht einer Gattungsbezeichnung (vergleichbar Begriffen wie ¾Aufsatz½ oder ¾Essay½). Auf der anderen Seite stehen die eigentlichen Collectanea, die Lessing als »Schreib- und Lesewerkstatt« geführt hat und deren Auswertung, so Monika Fick, ein »Forschungsdesiderat« darstelle, wiewohl ihr Status (als primäre Collectanea) nicht umstandslos mit dem der ¾sekundären½ ± also des Laokoon selbst ± verrechnet werden darf.52 In ihm beruft er sich auf ein polyhistorisches Verfahren der Wissensorganisation, verwendet es dann aber doch »nur mehr [als] Kontrastfolie für seinen Ansatz«.53 Wenn Lessing in der Vorrede den Anspruch erhebt, seine Beispiele würden mehr »nach der Quelle schmecken«, so ist daran nicht nur der Appell zur Rückkehr »ad fontes« wichtig. Das Verb ¾schmecken½ verweist darauf, dass auch die Kritik dem Kriterium des Geschmacks unterworfen ist. Die Ästhetik der Ästhetik, ihre Poetik und Performanz, ist ein entscheidender Faktor. 54 Der Vorwurf gegen die Baumgarten-Partei lautet daher: Baumgartens Ästhetik verfehlt in ihrer deduktiven Methode den eigenen Anspruch, eine Lehre von der sinnlichen Erkenntnis der Phänomene vorzulegen. Die »Emanzipation« bzw. »Rehabilitation der Sinnlichkeit«55 findet gerade dort nicht statt, wo sie am vehementesten gefordert wird, im Gegenteil: auch bei Baumgarten obsiege ± so suggeriert Lessing ± die rationalistische Tradition, die ästhetische Singularitäten und Individuen unter »allgemeine Grundsätze« subsumiert. Lessing attestiert Baumgartens Theorie demnach einen performativen Widerspruch. Seine »gnoseologia inferior«56 verdankt sich nicht subjektiver »sinnlicher Erkenntnis« (»cognitio sensitiva«), sondern schöpft aus obsoleten Kompendien, wo Lessing sich gerade als »felix aestheticus«57 erweist, weil nur die antiquarische Methode die sinnliche Erfahrung des Textes oder Kunstwerkes gewährt ± auch wenn diese wiederum nur durch Schriftwerke wie Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums vermittelt wird. Der Antiquar kann sich auf sein kritisches Sensorium berufen, wo der Katheder-aestheticus als Bücherwurm desavouiert wird.58 52
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Fick: Lessing-Handbuch (Anm. 2), S. 266: »Die Auswertung der Collectaneen für Laokoon ist noch ein Forschungsdesiderat.« Erste Hinweise ebd., S. 264±266. Zur Genese und den Collectanea vgl. auch den Beitrag von Christine Vogl in diesem Band sowie Wolfgang Adams Artikel zu Blümner. Fick: Lessing-Handbuch (Anm. 2), S. 266. Ebd., S. 282±284. Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Text und Anmerkungen bearbeitet von Claus Rosenkranz. Mit einer Einleitung von Gerald Hartung und einer Bibliographie der Rezensionen von Arno Schubbach. Hamburg 2007 (zuerst 1932), S. 370 bzw. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Hamburg 2002 (zuerst 1986), S. 42ff. Alexander Gottlieb Baumgarten. Ästhetik. Lateinisch-deutsch. 2 Bde. Hamburg 2007 (Philosophische Bibliothek 572), hier Bd. 1, S. 10 bzw. S. 11 (Prolegomena, § 1). Baumgarten (Anm. 56): »Ad characterem felicis aesthetici« (§ 28). Dieser Vorwurf des Pedantischen zieht dann auch in der Forschung Kreise. Vgl. Cassirer (Anm. 55), S. 372: »Der neue Gedanke, den Baumgarten vertritt, findet nicht die ihm gemäße Form; er muß es sich gefallen lassen, in Paragraphen, wie in spanische Stiefel, eingeschnürt zu werden, und er scheint bisweilen durch diese Einengung all seine freie Beweg-
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Neben die Unterscheidung von lesen und schmecken, erkennen und empfinden tritt die von Ordnung und Unordnung. Das Schlagwort heißt ± auch in der Kritik ± beau désordre. Die Vorrede inszeniert den Laokoon als eine Folge »unordentlicher« und »zufälliger« Notizen, Lektüren, Kritiken und Polemiken, digressiv und assoziativ, ohne inneres Ziel. Sie verschweigt die abrupte methodische Kehre der Kapitel 16 bis 18, die ± buchstäblich mitten im Satz ± die kritische Auseinandersetzung mit Caylus¶ 7DEOHDX[ WLUpV GH O¶,OLDGH unterbrechen, um nunmehr »die Sache aus ihren ersten Gründen herzuleiten«.59 Es folgt die bekannte Unterscheidung zwischen den Künsten aufgrund ihrer inneren Zeichenstruktur: Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchen als die Poesie; jene nemlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander oder deren Teile neben einander existieren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen.60
Die Wendung ins Systematische und Apodiktische (»wahr«, »unstreitig«, »können ... nur«) muss und soll verblüffen. Der Syllogismus ist ein methodischer coup in einer scheinbar festgefahrenen Diskussion. Der Leser wird Zeuge eines Durchbruchs, bei dem sich die Genese des Wissens selbst aus- und darstellt. Plötzlichkeit, Schnelligkeit und Überraschung sind nicht nur Kriterien ästhetischer Wirkung, sondern bestimmen auch die gelehrte Argumentation ± Philologia facit saltus. Den Flaneur trifft unvermittelt ein Geistesblitz, der ihn aus der empirischen Analyse ins Grundsätzliche reißt. Die kategoriale Kluft zwischen Empirie und Dogmatik wird durch die Plötzlichkeit des Wechsels überbrückt. Der Übergang von Kapitel 15 zu 16 soll Lessings kritisches ingenium demonstrieren, das mitten aus dem beau désordre der ästhetischen Feldforschung die schöne Ordnung der principia aesthetica emergieren lässt. Die kalkulierte Paradoxie dieser Strategie liegt darin, dass Lessing die »ersten Gründe« der Sache erst im zweiten Drittel der Schrift nachträgt, die methodisch korrekte, ¾ordentli-
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lichkeit zu verlieren.« Cassirer schreibt dann konsequenterweise Lessing das Verdienst zu, »Denken und Tun, Theorie und Leben in eins zu setzen und dadurch die Baumgartensche Forderung der via cognitionis erst vollständig zu erfüllen.« (Ebd.). Diese Teleologie verkennt jedoch die Tatsache, dass sich in der Opposition zwischen Baumgarten und Lessing eine disziplinäre Dichotomie eröffnet, die für das ästhetische Gesamtfeld bis nach 1800 bestimmend bleibt (dazu weiter unten). Die Form und Performanz der ästhetischen Theoriebildung ist jedoch für ihren Inhalt nicht indifferent. Diese Formgeschichte der Ästhetik bleibt jedoch ± gerade im Hinblick auf Baumgarten ± noch zu schreiben. Zu Baumgarten vgl. Steffen Groß: Felix aestheticus. Die Ästhetik als Lehre vom Menschen. Würzburg 2001; zur Ambiguität der Baumgartenschen Theorie vgl. Frauke Berndt: Poema / Gedicht. Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750. Berlin/Boston 2011, S. 12±127, hier bes. S. 12±19. FA 5/2, S. 116. Ebd.
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che½ Argumentation wird zwar entfaltet, sie geht aber nicht vom scheinbar selbstverständlichen, axiomatisch Gesetzten aus, sondern stößt auf diese Axiomatik erst nach tastenden Versuchen der hermeneutischen Auseinandersetzung mit den Quellen. Die Position der systematischen Quellen ist dramaturgisch geschickt gewählt. Das Objektive ist Ergebnis einer subjektiven Suchbewegung, die im Modus des Spaziergangs immer von der Warte des erkennenden und urteilenden Ichs ± Lessing in der Instanz des Kritikers ± ausgeht. Natürlich ist sich Lessing bewusst, dass die auf zwei Seiten entfaltete »trockene Schlußkette« der in der Vorrede formulierten Aversion gegen »systematische Bücher« widerspricht: Ich würde in diese trockene Schlußkette weniger Vertrauen setzen, wenn ich sie nicht durch die Praxis des Homers vollkommen bestätiget fände, oder wenn es nicht vielmehr die Praxis des Homers selbst wäre, die mich darauf gebracht hätte. Nur aus diesen Grundsätzen läßt sich die große Manier des Griechen bestimmen und erklären.61
Die Stelle ist erhellend, weil sie auf engstem Raum ein Schwanken zwischen induktiver und deduktiver Methode und damit auch die zirkuläre Struktur der antiquarischen Argumentation zeigt: im Sinne der Rede von der »Schlusskette« wird zunächst deduktiv argumentiert: die einmal gefundenen Grundsätze werden an Homer »bestätigt«. Sofort sieht Lessing das Prekäre der apriorischen Argumentation, die ihn in die Nähe der »systematischen Büche[r]« über die Ästhetik und ihrer Quellenferne rücken würde. Im nächsten Moment wird behauptet, der Grundsatz sei empirisch-philologisch aus dieser Quelle, der »Manier des Griechen«, entwickelt. Die rhetorische Figur der correctio (»wenn es nicht vielmehr...«) inszeniert gestisch die Ablehnung der deduktiven gegenüber der induktiven Methode. Diese Umschlägigkeit ist jedoch Teil der Widerspruchsstruktur des ästhetischen Wissens selbst. Lessing macht aus der Aporie eine Tugend. Die unvermittelte Volte vom philologischen Modus in den Modus ästhetischer Deduktion zeigt, wie schwer beide Perspektiven ± Induktion und Deduktion, Quelle und Grundsatz ± zu harmonisieren sind. Die Ästhetik macht Sprünge, weil es zwischen den Polen von Subjekt und Objekt keine kontinuierliche Verbindung gibt. Eine solche Verbindung bleibt daher immer an ingenium und acumen des Kritikers gebunden. Das Kernproblem des Laokoon besteht darin, einen Standpunkt zu finden, von dem aus sich der »Wesenszusammenhang der Künste«62 beschreiben ließe. Dieser Standpunkt muss systematische und philologische Komponenten, kritisch-deskriptiven Empirismus und normativen Rationalismus in eine wohl gegründete Einheit zusammenführen. Mit den zur Verfügung stehenden Mitteln
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Ebd., S. 117. Barner: Nachwort. In: FA 5/2, S. 661.
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ist dies nicht zu erreichen. Wie schon bei Baumgarten bleibt auch Lessings Vision einer »theoria liberalium artium« Fragment.63
5. System und Essay ± Nachwirkungen einer Opposition Lessings ¾unordentliche½ Methode bildet Tradition. Um 1800 findet sie ihre Fortsetzung bei Autoren wie Schiller, den Brüdern Schlegel oder Novalis, die sich bei unterschiedlicher Akzentuierung emphatisch auf Lessings flanierende Ästhetik berufen. Bekannt ist Goethes Wort, wonach die Schrift die Generation der um 1750 Geborenen »aus der Region eines kümmerlichen Anschauens in die freien Gefilde des Gedankens hinriß.«64 Die Bedeutung des Laokoon für die Ästhetik um 1800 liegt aber nicht nur in Lessings ästhetischen Thesen selbst. 65 Sie zeigt sich vor allem in der Form der Theoriebildung und ihrer agonalen Stoßrichtung gegenüber den Ansprüchen einer philosophischen Ästhetik. Während die Junktur von antiquarischer Methode und ästhetischer Theoriebildung nach 1770 stetig an Bedeutung verliert, 66 gewinnt die Opposition zwischen 63
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Vgl. auch Hugh Barr Nisbet: Über die Unvollständigkeit von Lessings Laokoon. In: Zwischen Aufklärung und Romantik. Neue Perspektiven der Forschung. Hg. von Konrad Feilchenfeldt u. a. Würzburg 2006, S. 371±385. Johann Wolfgang Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Erich Trunz. Hamburg 1948 ff., hier Bd. 9, S. 316. Zur Rezeption im Allgemeinen Hugh Barr Nisbet: Laocoon in Germany: The Reception of the Group since Winckelmann. In: Oxford German Studies 10 (1979), S. 22±63; Fick: Lessing-Handbuch (Anm. 2), S. 284±287; Ernst Osterkamp: Laokoon in Präromantik und Romantik. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2003, S. 1±28; Monika Schrader: Laokoon ± »eine vollkommene Regel der Kunst«. Ästhetische Theorien der Heuristik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Winckelmann, (Mendelssohn), Lessing, Herder, Schiller, Goethe. Hildesheim u. a. 2005, bes. S. 51±84. Zu Schillers ± revisionistischer ± Rezeption des Laokoon mein Beitrag Die Kunst der Natur ± Schillers Landschaftsästhetik und die anthropologische Revision von Lessings Laokoon. In: Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen. Hg. von Georg Braungart und Bernhart Greiner. Hamburg 2005 (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Sonderheft 6), S. 139±154; zu Goethes Laokoon-Aufsatz Friedmar Apel: Man wird den ganzen Marmor in Bewegung sehen. Sehtheoretische Anmerkungen zu Goethes ¾Über Laokoon½. In: Textbewegungen 1800/1900. Hg. von Matthias Buschmeier. Würzburg 2007, S. 204±212; Inka Mülder-Bach: Sichtbarkeit und Lesbarkeit. Goethes Aufsatz ¾Über Laokoon½. In: Das Laokoon-Paradigma (Anm. 10), S. 465±479; Simon Richter: The end of Laocoon. Pain and allegory in Goethe¶s ¾Über Laokoon½. In: Goethe «@ JHVHW]W ZHrden.«107
7. Politische Ästhetik? ± Ästhetische Polizey Die Semantik der Begriffe ¾Grenze½ und ¾Schranke[n]½ im 18. Jahrhundert ist noch nicht erschöpfend untersucht. Im Wörterbuch Geschichtlichen Grundbegriffe fehlt ein Eintrag, dagegen unterstreicht etwa das Grimmsche Wörterbuch,108 »wie grundlegend die Geschichte und Bedeutung des Wortes [Grenze] auch in der deutschen Sprache mit den militärischen und politischen, zugleich aber auch den kulturell-religiösen Grenzziehungen der frühmodernen Staaten seit dem 16. Jahrhundert verbunden ist.«109 Die Rede von den »Grenzen der Malerei und der Poesie« ist zu Lessings Zeit noch durchaus als starke Metapher, d. h. als Übertragung aus dem juristisch-politischen Raum, wahrnehmbar ± zumal in Zeiten des unmittelbaren Nachkriegs. Der Gebrauch von »Grenze« in der »sphäre des abstracten« ist zwar schon in der Frühen Neuzeit greifbar; »doch breitet sich dieser gebrauch erst mit dem 18. jh. aus«, wie das Grimmsche Wörterbuch schreibt. Im 18. Jahrhundert kommt ein Prozess zum Abschluss, der im Zuge der Idee einer »superioritas territorialis« zu festen räumlichen Grenzziehungen und zu einer Politik des »Arrondissements« führt.110 Ein »Territorium wird durch seine Grenzen beschlossen« (»Territorium enim suis finibus clauditur«), so steht es im Traktat De iure territorii eines deutschen Territorialjuristen des 17. Jahrhunderts.111 Wenn Lessing wiederholt von Grenzen und Schranken spricht, so zeigt dies ein Bemühen, diesen eingeführten Sprachgebrauch auf die Ästhetik und die paragone-Diskussion112 zu übertragen. Dabei vollzieht sich ein Bildsprung: aus 107 108 109
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Wolfgang Lefèvre: Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie. 2. Auflage. Frankfurt am Main 2009, S. 231. Grimmsches Wörterbuch. Bd. 9, Sp. 124±153. Hans Medick: Grenzziehungen und die Herstellung des politisch-sozialen Raumes. Zur Begriffsgeschichte und politischen Sozialgeschichte der Grenzen in der Frühen Neuzeit. In: Literatur der Grenze ± Theorie der Grenze. Hg. von Richard Faber und Barabara Naumann. Würzburg 1995, S. 211±224 (mit weiterer Literatur), S. 216. Vgl. Dietmar Willoweit: Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit. Köln/Wien 1975 (Forschungen zur Deutschen Rechtsgeschichte 11), bes. S. 121ff.; S. 274ff. Andreas Knichen: De sublimi et regio territorii iure synoptica tractatio, in qua principum Germaniae regalia territorio subnixa, vulgo Landesobrigkeit indigenata, nuspiam antehac digesta, luculenter explicatur. Frankfurt 1600, hier Cap. III n.2, 243. Zitiert nach Willoweit (Anm. 110), S. 276. Zum Paragone zusammenfassend Eric Achermann: Das Prinzip des Vorrangs. Zur Bedeutung des Paragone delle arti für die Entwicklung der Künste. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Hg. von Herbert Jaumann. Berlin/New York 2011, S. 179±209.
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Schwesterkünsten werden ästhetische Grenznachbarn. Die metaphorologische Logik der Unterscheidung wechselt vom genealogischen ins topographische Register. Die ästhetische und poetologische Diskussion passt sich den Rahmenbedingungen des 18. Jahrhunderts an. So zeigt etwa der Beginn der Poetik, dass Aristoteles keine Grenzen und Schranken, sondern lediglich »spezifische Differenzen« im Sinne der Logik bzw. Dialektik kennt.113 Von Unterschieden ± nicht Grenzen ± spricht auch die Stelle aus Plutarchs Schrift De gloria Atheniensium (Kap. 3, 346F-347A), die das berühmte »Dictum des Simonides«114 enthält und die Lessing auf dem Titelblatt zitiert: »Wenn nun die einen Farben und Figuren, die anderen Wörter und Sätze verwenden, so unterscheiden sie sich zwar im Material und Vorgehen, doch haben beide dasselbe Ziel«.115 Dagegen ist bei Lessing geradezu obsessiv von ¾Schranken½ und ¾Grenzen½ die Rede, fast immer in Bezug auf die bildende Kunst, fast immer im Sinne von Einschränkung oder Beschränkung auf das Physische, Sinnliche und Materielle: Lessing spricht von den »engern Schranken der Malerei« oder den »materiellen Schranken der Kunst«, gar von »derselben notwendigen Schranken und Bedürfnissen«. Lessing weist also die bildende Kunst in die Schranken, zeigt ihr Grenzen auf, indem er sie ± um noch einmal aus der amtlichen Korrespondenz zu zitieren ± »mit dem Bayonette bis wieder über die Palisaden« treibt.116 Dies gilt durchaus in einem politisch-disziplinarischen Sinn. Er wird etwa im 2. Kapitel des Laokoon deutlich. Die Frage des (Mit-)Leidens wird von der des Hässlichen und Niedrigen entkoppelt. Auch hier werden die Griechen zu Modellen. Die Diskussion entzündet sich an einer lakonischen Bemerkung zum zweiten Kapitel von Aristoteles¶ Poetik: »Die Nachahmenden ahmen handelnde Menschen nach. Diese sind notwendigerweise entweder gut oder schlecht [...] So halten es auch die Maler: Polygnot hat schönere Menschen abgebildet, Pauson häßlichere, Dionysios ähnliche.«117 Der Hinweis auf die Malerei illustriert hier nur das Verfahren der Dramatik, ohne sich davon abzuheben ± ut pictura poesis. Die Darstellung ¾schlechterer½ Menschen in beiden Künsten ist für Aristoteles nicht nur legitim, sondern normativ geboten. An dieser Stelle widerspricht Lessing entschieden seiner wichtigsten Autorität. Der »weise Grieche« habe der bildenden Kunst »weit engere Grenzen« gesetzt, als dies die Gegenwart tue. Der griechische Künstler »schilderte nichts als das Schöne«. Lessing wird diese eindämmende Begrenzung der Malerei auf das Schöne bis zum Schluss der Schrift gegen die Exzesse des Ekelhaften und Hässlichen verteidigen (Kap. 25).118 113 114 115 116 117 118
Aristoteles: Poetik. Griech./dt. Übers. und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 5 (Poetik 1447a). Gabriele Sprigath: Das Dictum des Simonides. In: Poetica 36 (2004), S. 243±280. Lessings Sprachgebrauch entspricht dagegen der lateinischen Tradition, z. B. Ciceros Dialog De finibus bonorum et malorum. Brief vom 18.8.1762 an Friedrich den Großen. LM 18, S. 428. Aristoteles: Poetik (Anm. 113), S. 7±9. Der Laokoon ist auch ein Versuch über Grenzphänomene des Ästhetischen, die nicht etwa aus der Diskussion ausgeklammert werden: Die Diskussion um Barbarentum und Zivilisation in Kapitel I, die Barbarentum und Stoizismus bzw. Heroismus identifiziert, vor allem
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Politik und Polizei müssen die bildenden Künste an ihre Grenzen erinnern. Die Griechen hätten, so Lessing drohend, allen exzessiven Darstellungen des Hässlichen »strenge Gerechtigkeit widerfahren [lassen]«.119 Der niedrige und niederländische Stil ist eine Gefahr für die Jugend und die öffentliche Ordnung: »Jungen Leuten, befiehlt daher Aristoteles, muß man seine Gemälde nicht zeigen, um ihre Einbildungskraft, so viel möglich, von allen Bildern des Häßlichen rein zu halten«.120 Gemeint ist hier der Aristoteles der Politik, nicht der Poetik. Für Lessing ist diese Maßnahme nur selbstverständlich. »Als ob man es erst von einem philosophischen Gesetzgeber lernen müßte, die Jugend von dergleichen Reizungen der Wollust zu entfernen«.121 Der ästhetische Prohibitiv erfasst im Hässlichen und Gemeinen zugleich das Erotische, die Sinne über-Reizende. Die Extreme berühren sich: das eminent Hässliche ist das eminent Sinnliche, Ekel und Eros kommen zur Deckung. Die »Grenzen der Malerei« zu bestimmen, ist daher nicht nur ein ästhetisches, sondern vor allem ein politisches Problem ± dies zeigt schon der Sprung von der Poetik des Aristoteles in seine Politik. Der Kunstrichter wird unversehens zum Agenten der öffentlichen Ordnung, zum Organ der Polizey. »Die Obrigkeit selbst«, heißt es weiter von den Griechen, »hielt es ihrer Aufmerksamkeit nicht für unwürdig, den Künstler mit Gewalt in seiner wahren Sphäre zu erhalten.« Verboten wird daher die »Nachahmung ins Häßlichere«, die »Karikatur«. Überhaupt hätten sich die Griechen einer beispielhaften Bildkontrolle und -disziplin befleißigt. Nicht jedem Olympiasieger sei eine Statue gewidmet worden. »Der mittelmäßigen Portraits sollten unter den Kunstwerken nicht zu viel werden.« Diese Praxis einer Bildkontrolle findet ausdrücklich Lessings Zustimmung. Auch in Fragen einer politischen Ästhetik ist Lessing bekennender Ancien. Wenn die Kunst »in den neuern Zeiten ungleich weitere Grenzen erhalten«122 habe, so wird dies mit äußerster Skepsis betrachtet. Der Ruf nach
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aber die in Kap. 23±25 geführte Debatte um Funktion und Legitimität der »Häßlichkeit der Formen« (FA 5/2, S. 169), die an Aristoteles¶EHUKPWHhEHUOHJXQJEHUHLQHbVWKHWLNGHV Hässlichen anschließen (Poetik, Kap. 4). Lessing greift dazu weit in die Kulturgeschichte XQG(WKQRORJLHVHLQHU=HLWDXV9JOGD]XPHLQHQ%HLWUDJ¾(WKQRILNWLRQXQG.ODVVL]LVPXV Poetik des :LOGHQ XQG bVWKHWLN GHU 6DWWHO]HLW½ ,Q -|UJ 5REHUW XQG )ULHGHULNH *QWKHU (Hgg.): Poetik des Wilden. Festschrift für Wolfgang Riedel. Würzburg 2012, S. 3±39 (mit ZHLWHUHU /LWHUDWXU =XU bVWKHWLN GHV ¾(NHOV½ PLW VWlQGLJHP %H]XJ DXI /HVVLQJ Y a. Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt am Main 2002; Andreas Mielke: Hottentots in the aesthetics discussion of eighteenthcentury Germany. In: Monatshefte 80/2 (1988), S. 135±148; danach François-Xavier Fauvelle-AymDU /¶LQYHQWLRQ GX +RWWHQWRW Histoire du regard occidental sur les Khoisan (XVe±XIXe siècle). Paris 2002, S. 264±270. Zum Kontext Andreas Mielke: Laokoon und die Hottentotten, oder über die Grenzen von Reisebeschreibung und Satire. Baden-Baden 1993. FA 5/2, S. 23. Ebd. Ebd. Ebd., S. 31.
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einer Begrenzung der Kunst auf ihre »wahre Sphäre«123 ± die des Ideals und der bienséance ± ist ästhetisch und politisch gemeint. In diesem Zusammenhang finden sich erstaunliche Zeilen, welche die Kunst (wohlgemerkt: die bildende Kunst) unter die Kuratel und Zensur der Obrigkeit rufen: Wir lachen, wenn wir hören, daß bei den Alten auch die Künste bürgerlichen Gesetzen unterworfen gewesen. Aber wir haben nicht immer Recht, wenn wir lachen. Unstreitig müssen sich die Gesetze über die Wissenschaften keine Gewalt anmaßen; denn der Endzweck der Wissenschaften ist Wahrheit. Wahrheit ist der Seele notwendig; und es wird Tyrannei, ihr in Befriedigung dieses wesentlichen Bedürfnisses den geringsten Zwang anzutun. Der Endzweck der Künste hingegen ist Vergnügen; und das Vergnügen ist entbehrlich. Also darf es allerdings von dem Gesetzgeber abhangen, welche Art von Vergnügen, und in welchem Maße er jede Art desselben verstatten will. Die bildenden Künste insbesondere, außer dem unfehlbaren Einflusse, den sie auf den Charakter der Nation haben, sind einer Wirkung fähig, welche die nähere Aufsicht des Gesetzes heischet.124
Die Stelle gehört zu den irritierendsten der gesamten Schrift. Leichtfüßig, in spielerischem Ton operiert derselbe Lessing, der in Kapitel 9 die Freiheit der Kunst gegenüber der Religion vindizieren wird, vorab mit dem Gedanken, die Kunst der Kuratel der Politik zu unterstellen und sich selbst ± im wahrsten Sinne ± als Kunstrichter zu installieren. Der Ruf nach Kontrolle und Zensur gilt freilich »insbesondere für die bildenden Künste«, genauer: Es sind die redenden Künste ± der Dichter Lessing ± der die Obrigkeit gegen die eigene Schwester resp. Nachbarin auf den Plan ruft. Die Poesie zeigt im öffentlichen Raum der Malerei die Grenzen und Gesetze auf. Noch einmal zeigt sich, dass Lessings Argumentationsstrategie nicht nur in metaphorischer Weise polemisch und bellizistisch genannt werden kann. Der Vertreter der Wortkunst paktiert mit dem Staat, um die Einflusssphäre der bildenden Künste zu beschränken. Die Schwächung der Gegenseite ist wichtiger als die Behauptung der Kunstautonomie für beide Seiten gegen den Einfluss dritter. Redende und bildende Künste sitzen nicht im selben Boot. Das Wort begrenzt das Bild, wie der Geist den Körper. Nicht Nachbarschaft, sondern Vormundschaft bestimmt das Verhältnis. Hierin zeichnen sich klar die Grenzen des Projekts der rehabilitierten Sinnlichkeit ab. Die Rede vom ¾unfehlbaren Einfluss½ lässt eine Bilderangst erkennen, deren rationalistische ± und protestantische ± Signaturen kaum zu übersehen sind. Lessings Theorie der bildenden Künste berührt den wunden Punkt, an dem die erstrebte Sinnlichkeit der Kunst in eine Kunst der Sinnlichkeit umzuschlagen droht.125 Die Pointe des Laokoon 123 124 125
Ebd., S. 24. Ebd., S. 24 f. Hier drängt sich manche Parallele zur Emilia Galotti auf: nicht nur, weil Lessing in der Conti-Szene den Maler die »Schranken unserer Kunst erwägen« und betonen lässt: »Vieles von dem Anzüglichsten der Schönheit liegt ganz außer den Grenzen derselben.« (I. 4; G 2, S. 132). Thema der Emilia ist die Dialektik der Sinnlichkeit und das Verführungspotential der (bildenden) Künste. Alles Leid beginnt daher mit den Bildern und LKUHPIDOVFKHQ¾*eEUDXFK½ Die Kunst ist deshalb »so bedrohlich, weil ihr ein widerständiger Rest, der sich nicht als Sinn aufheben läßt, innewohnt«. David Wellbery: Das Gesetz der Schönheit. Les-
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liegt darin, dass die einzig legitime Bildlichkeit eine literarische ist. Dies führt zurück zu den semiotischen Unterscheidungen. Sie differenzieren nicht nur, sie hierarchisieren. Im Prozess einer »progressiven Semiose«, die von den natürlichen zu den künstlichen Zeichen aufstiegt, entfernt sich letzteres immer weiter von seinem Signifikat, um dieses im inneren Bild gereinigt wiederzufinden. 126 So zeichnet sich eine doppelte Paradoxie ab, die das Verhältnis von Schein und (höherem) Sein betrifft: Einerseits offenbart sich ästhetische Wahrheit in Täuschung und Illusion, andererseits liegt die wahre Bildlichkeit jenseits des Sichtbaren in den inneren Bildern, deren Abfolge doch wieder nur als ein »hinzu denken« gedacht werden kann.127 Das innere Bild ist das gedachte Bild ± ein semiotischer Grenzgänger. So kommt es, dass Lessing vom Begriff der ¾poetischen Gemälde½, den er eigentlich bekämpft, selbst kaum loskommt und sich das terminologische Dilemma perpetuiert.128
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VLQJV bVWKHWLN GHU 5HSUlVHQWDWLRQ ,Q :DV KHLW ¾'DUVWHOOHQ" Hg. von Christian L. Hart Nibbrig. Frankfurt am Main 1994, S. 175±204, hier S. 190. Die Blindheit des Prinzen ist der blinden Unmittelbarkeit des Mediums selbst geschuldet, das mit seinen natürlichen Zeichen die rationale Kontrolle unterläuft. Unmittelbarkeit ist Verlockung und Gefahr zugleich. Dies befördert eine Idolatrie, die der Autonomie des Kunstwerks zuwiderläuft. Das Bild wird zum Substitut der Sache. Bildgewalt ist Verfügungsgewalt über das Dargestellte selbst. Der Prinz missbraucht die Kunst in der Conti-Szene fetischisierend als erotischen Stimulus, während für Emilia der ästhetische Reiz den erotischen zu präfigurieren scheint. Die Lösung liegt nur in einer Totalabstinenz von der sinnlichen Welt (d. h. vom Leben selbst). Laokoon und Emilia Galotti entfalten damit dieselbe Logik der eingedämmten Sinnlichkeit: das Schöne ist in der Emilia nichts als des Schrecklichen, d. h. der Verführung Anfang. Wenn Conti damit hadert, »daß wir nicht unmittelbar mit den Augen malen. Auf dem langen Wege aus dem Auge durch den Arm in den Pinsel, wie viel geht da verloren!«, dann lässt sich dies auch positiv wenden in ein Plädoyer für eine Kunst, die solche unmittelbaren Effekte, die Original und Kopie im Fetisch-Charakter des Porträts kurzschließen, verhindert. Emilia Galotti lässt sich lesen als ein Spiel um die wohl dosierte Sinnlichkeit: wo der Prinz sich der Sinnlichkeit überlässt, buchstäblich auf das Kunstwerk als Wirklichkeitssurrogat fixiert bleibt (»noch immer die Augen auf das Bild geheftet«), das er »gern bei der Hand« hat, da gelingt es Emilia, die hedonistische Sinnlichkeit der höfischen Kultur (»Haus der Freude«) abzuwehren ± freilich nur um den Preis der Selbstauslöschung. *DQ]ULFKWLJVFKUHLEW:HOOEHU\/HVVLQJ¶V/DRFRRQ$QP10), S. 136: »Poetry is located at a more advanced level in the progress of semiosis by which mind liberates itself from actuality.« FA 5/2, S. 32: »Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können.« Zu diesem paradoxen Umschlag von Wort in Bildlichkeit Murray Krieger: Ekphrasis. The Illusion of the Natural Sign. Baltimore/London 1992, S. 46: »So it is a verbal illusion that allows our mind the pictorial conversion, however different the kind of picture.« Einen Ausweg weist die aufschlussreiche Anmerkung zur Vorgeschichte der enargeia. Hier nähert sich Lessing über Plutarch einer Vorstellung von Dichtung als (kollektivem) Tagtraum, wie ihn Hanns Sachs (Gemeinsame Tagträume. Leipzig/Wien/Zürich 1924 [Imago 5]) im Ausgang von Freud entwickeln wird: »Was wir poetische Gemälde nennen, nannten die Alten Phantasieen, wie man sich aus dem Longin erinnern wird. Und was wir die Illusion, das Täuschende dieser Gemälde heißen, hieß bei ihnen die Enargie. Daher hatte einer, wie Plutarchus [...] meldet, gesagt: die poetischen Phantasieen wären, wegen ihrer Enargie, Träume der Wachenden.« FA 5/2, S. 113f.
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8. Ästhetik jenseits der Bilder Halten wir also fest: Der soeben beendete Krieg spielt auf vielfältige Weise in den Laokoon hinein, er färbt die Semantik der Grenzziehungen und Gebietsabgrenzungen, der guten oder problematischen Nachbarschaft, der friedlichen Negotiationen und Kompensationen. Dieser Frieden im Reich der Künste ist ein tendenziöser. Das Bild des ästhetischen Irenikers Lessing ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Sieht man genauer hin, so erweist sich der Friedensvertrag zwischen den Künsten als »zwei billige[n], freundschaftliche[n] Nachbarn« doch eher als ein Siegfrieden oder Friedensdiktat, ganz wie der Vertrag von Hubertusburg. Denn es sind die Konditionen der Poesie, welche die neue territoriale Ordnung bestimmen, und dies keineswegs paritätisch, sondern immer mit dem erklärten Ziel, das eigene Terrain, die eigene Gesetzgebung (Stichwort: Aristotelismus) auszuweiten. Schon die Vorrede schreibt, wie gesehen, von den »engern Schranken der Malerei« und der »ganze[n] weiten Sphäre der Poesie«129; mehrfach ist von den »materiellen Schranken der Kunst«130 die Rede. Dies lässt sich weiterführen. Lessing geht es in der Tat um das »Transzendieren des sinnlich Präsentierbaren«,131 um die Opposition von »geistiger« Poesie und »materieller« Kunst. Eine »Axiologie« wird fortgesetzt, welche die »Superiorität der sprachlichen Kunst gegenüber den bildenden Künsten festschreibt«.132 So kommt es zu einem paradoxen Reentry-Effekt: Die schulphilosophische Unterscheidung zwischen oberen und unteren Erkenntniskräften, sensitiver und rationaler Erkenntnis verdoppelt sich und spaltet nun das Feld der Ästhetik/[Kunst] selbst. [Kunst] ist fortan zweigeteilt in eine untere sinnliche (Malerei) und eine höhere geistige (Poesie). Der coup liegt darin, dass Lessing die rationalistische Logik zur inneren Logik der Ästhetik selbst macht. Poesie ist vollkommen sinnliche Rede mit vollkommen intelligiblen Zeichen ± cognitio symbolica innerhalb der cognitio sensitiva. Sie ist Aufhebung der Sinnlichkeit zugunsten des Sinns selbst. Begründet wird die Superiorität der »geistigen« Zeichen funktional mit einem Gewinn an Reichweite und Extension. Fundiert ist sie jedoch stratifikatorisch in einer traditional wolffianischen Dichotomie und Hierarchie der Erkenntniskräfte und andererseits in einer Art Mimesis zweiter Ordnung, die voraussetzt, dass sich immaterielle Gegenstände nur durch immaterielle Zeichen bezeichnen ließen. So herrscht im Laokoon keineswegs die Sehnsucht nach dem »natürlichen Zeichen«.133 Vielmehr werden zwei konträre Stimmen hörbar. Die eine fordert die Überführung der künstlichen Zeichen in natürliche: »Die Poesie muß schlechterdings ihre willkürlichen Zeichen zu natürlichen zu erheben suchen; 129 130 131 132 133
FA 5/2, S. 14. :HOOEHU\ /HVVLQJ¶V /DRFRRQ $QP 10), S. 117: »Lessing does recognize a degreee of PDWHULDOLW\LQWKHSODVWLFDUWVDQGKHVHHVLQLWWKHGHWHUPLQLQJIDFWRURIWKHLUOLPLWDWLRQV´ Barner/Grimm (Anm. 90), S. 246. Wellbery: Gesetz der Schönheit (Anm. 124), S. 188. Krieger (Anm. 126), S. 44±50 (zu Laokoon).
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und nur dadurch unterscheidet sie sich von der Prose, und wird Poesie.«134 Die Differenz zwischen beiden liegt in der Anschaulichkeit, die durch literarische Bildlichkeit generiert wird. Diese Annäherung kann jedoch immer nur asymptotisch erfolgen, wie Lessing sogleich nachschickt. Auf der anderen Seite liegt in diesem Manko der Poesie auch ihre Überlegenheit. Das künstliche Zeichen egalisiert zwar nicht die Effekte des natürlichen ± obwohl das die regulative Annahme ist (»ähnliche Wirkung«135), neutralisiert dafür aber dessen Verlockungs- und Bedrohungspotentiale, indem es durch einen semiotischen Reinigungs- und Vergeistigungsprozess hindurchgegangen ist, an dessen Ende es ein sinnlich-geistiges Hybrid darstellt. Es ist dann »Natur in der Künstlichkeit«, wie Schiller in vergleichbarem Zusammenhang in den Kallias-Briefen schreiben wird.136 Anders als Schiller fehlt Lessing (scheinbar) jedes sentimentalische Bewusstsein für den Verlust an Sinnlichkeit, den die Sprache ihrer »Tendenz zum Allgemeinen«137 verdankt. Wo Schiller eine grundsätzliche Tragik jeder Sprache sieht ± Verlust der Sinnlichkeit des Individuellen und Konkreten ± sieht Lessing nur ein technisches Problem. Die Arbeit des Dichters besteht darin, den »arbeitenden Dichter« nicht sehen zu lassen. Die rhetorische Maxime der dissimulatio artis wird semiotisch reformuliert. Die Anschaulichkeit besteht darin, die Unanschaulichkeit der Sprache vergessen zu machen. Gleichzeitig bietet die Dichte des Mediums Sprache aber auch einen Schutzwall gegen idolatrische Übersprunghandlungen, wie sie der Prinz in der Emilia Galotti zeigt. Die »Geistigkeit«138 der Dichtung trägt endlich den Sieg über die »Dinglichkeit«139 der schönen Künste davon. Dieser Sieg des Geistes über den Körper, des Wortes über das Bild führt bei Lessing zu Konsequenzen, welche die bekundete Irenik nachhaltig und sozusagen performativ in Frage stellen. Denn es geht nicht nur um eine Neuordnung der Grenzen zwischen Wort und Bild, sondern geradezu um eine Reinigung und »Abtuung der Bilder« (im Sinne der protestantischen Bildkritik). Gerade weil die bildende Kunst eine schöne Kunst ist, muss sie »die ekelhaften Gegenstände überhaupt vermeiden«, so Lessing in Kapitel 25. Grund ist die höhere Intensität des Eindrucks. Das Ekelhafte und das Hässliche »verlieret in einer sichtbaren Nachahmung von seiner Wirkung ungleich weniger, als LQHLQHUK|UEDUHQ>«@6REDOGGLHhEHUUDVFKXQJYRUEHLVREDOGGHUHUVWHJLerige Blick gesättiget, trennet es sich wiederum gänzlich, und liegt in seiner eigenen cruden Gestalt da.«140
134 135 136
137 138 139 140
Lessing: Brief an Friedrich Nicolai vom 26. Mai 1769. FA 11/1, S. 610. FA 5/2, S. 13. »Schönheit ist Natur in der Kunstmäßigkeit«. NA 26, S. 203. Jörg Robert: Vor der Klassik. Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption. Berlin/Boston (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 72), S. 389±405. Schiller: Kallias-Briefe; NA 26, S. 228. FA 5/2, S. 60. :HOOEHU\/HVVLQJ¶V/DRFRRQ$QP 10), S. 118, der von »thingness« und »the heaviness and coarseness of things themselves« spricht. FA 5/2, S. 181f.
Laokoon oder: Krieg und Frieden im Reich der Künste
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Die Beschränkung der Bilder ist nicht nur ein theoretisches Argument, sondern bestimmt performativ das Bild des Laokoon selbst. Dies zeigt sich äußerlich darin, dass der Druck völlig ohne Illustrationen bleibt. Dies gilt auch für die Statuengruppe selbst. Eine Schrift über bildende Kunst ohne bildende Kunst also. Anders als Winckelmann verzichtet Lessing schon auf dem Titelblatt auf eine nahe liegende Abbildung der Gruppe. Die evozierten und zitierten Bildwerke werden damit rein durch die Macht des philologisch-antiquarischen Wortes evoziert, die Beschreibung von Bildern durch Worte wird somit zu einer methodischen Grundoperation des Laokoon selbst. Das Bild des Laokoon ist die imaginative Leerstelle, um die der Essay kreist. Der Kunstrichter Lessing beschreibt ein Bild, um das Beschreiben der Bilder überflüssig zu machen. Es ist ein Akt der transmedialen Okkupation: Das Wort bestimmt das Feld der Malerei und weist diese in die Grenzen eines ästhetischen Reservats namens »schöne Kunst«. Es ist also Ernst H. Gombrich zuzustimmen, der betont hat, der Laokoon sei »nicht so sehr ein Buch über als gegen die bildenden Künste« zu nennen.141 Die Konsequenzen dieser Bildskepsis zeigen sich dort, wo Lessing sich dann doch bemüßigt sieht, eine Illustration der Laokoon-Gruppe einzurücken. Dies geschieht in Kapitel VI im Rahmen einer Erörterung der Frage, ob Vergils Schilderung oder der Gruppe die zeitliche (und damit kreative) Priorität zuzugestehen sei. Im Stile eines neuen Karlstadt hatte Lessing zunächst noch von der »weitern Sphäre der Poesie« und der »Geistigkeit ihrer Bilder« geschwärmt, davon, dass »das Kleinere in dem Größeren enthalten sei«, also die Kunst in der Poesie. Die Fußnote zur Stelle macht diese Einverleibung vollkommen. Statt einer Illustration der Laokoon-Gruppe bietet Lessing deren Ekphrasis im Gedicht des Sadoleto: »Es ist eines alten Dichters würdig, und da es sehr wohl die Stelle eines Kupfers vertreten kann, so glaube ich es hier ganz einrücken zu dürfen.«142 Gegen das Verbot der »Schilderungssucht« und die »poetische Malerei« ersetzt Lessing bedenkenlos das Bild durch den Text, zudem durch einen Text, der seinerseits die doppelte Referenz auf die Gruppe und die Vergilische Darstellung der Szene vereint. Er ist also in doppelter Weise Nachahmung und Kopie, wie Lessing in Kapitel VII schreibt: sofern er nämlich »anstatt der Dinge selbst« nur »ihre Nachahmungen nach[ahmt]143, also in diesem Fall sowohl die Statuengruppe als auch den Text.
141 142
143
Ernst H. Gombrich: Lessing. Lecture on a Master Mind. In: Proceedings of the British Academy 43 (1957), S. 133±156, hier S. 140. FA 5/2, S. 61. Vgl. ebd., S. 57 Anm. 9 (Kap. 5) über den Illustrator Franz Cleyn: »Wenn ein so mittelmäßiger Künstler anders eine Entschuldigung verdient, so könnte ihm nur die zu statten kommen, daß Kupfer zu einem Buche als bloße Erläuterungen, nicht aber als für sich bestehende Kunstwerke zu betrachten sind«. Zur Bedeutung Sadoletos vgl. den Beitrag von Anja Wolkenhauer in diesem Band sowie dies.: Vergil6DGROHWRXQGGLH¾1HXHrILQGXQJ½GHV/DRNRRQLQGHU'LFKWXQJGHU5HQDLVVDQFH,Q*DOO:RONHQKDXHU$QP 50), S. 160±181. FA 5/2, S. 67.
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Jörg Robert
Auf der anderen Seite macht dieser Kopie-Charakter das Gedicht auch geeignet, sich mit dem ganzen Körper seines Textes über das Bild selbst zu legen, dieses zu ersetzen und zu unterdrücken. Deutlicher, anschaulicher lässt sich die ÜberLegenheit des Textes über das Bild kaum vor Augen führen. In der Ersetzung des Bildes durch das Wort wird die Rede von der friedlichen Grenzziehung ad absurdum geführt. Verweist die Rede von den ¾gerechten½ Grenzen auf den Willen zu nachbarschaftlicher Verständigung, so zeigt die mediale Ersetzungsund Inklusionsbewegung im Fall des Sadoleto-Gedichts den aggressiven, (par)agonalen Zug der Schrift hin zu einer Ausweitung der Kampfzone und zu einer expansiven Neuordnung der Grenzen im Sinne der Poesie, die ein Modell von Sinnlichkeit in der Rationalität verheißt. Es ist dies eine Neuordnung, welche die Bilder insgesamt aus dem Terrain der Poesie und der Philologie verbannt ± wenn es sein muss, mit obrigkeitlicher Unterstützung.
Christine Vogl Christine Vogl Lessings Laokoon-Nachlass. Mögliche Antworten auf editorische Fragen
Lessings Laokoon-Nachlass Lessings ¾Laokoon½-Nachlass Mögliche Antworten auf editorische Fragen
»Erneu(er)te Grundlagenforschung zu Lessing tut not«, so lautet der Titel und Tenor eines Aufsatzes von Wolfgang Albrecht, der vor wenigen Jahren im Lessing Yearbook erschien.1 Er moniert, dass »auch in der jüngeren und jüngsten Gegenwart« zwar kein Mangel herrsche an »Deutungen und Interpretationen zu Lessings Gesamtwerk«, aber sich »die Text- und mehr noch die sonstige Quellenbasis« für alle diese Beiträge »bislang wesentlich langsamer und nur vereinzelt fortentwickelt« habe.2 Dieser Missstand wird besonders deutlich an Lessings Laokoon. In den letzten Jahrzehnten sind dazu zahlreiche Publikationen vorgelegt worden. Die Textgrundlage für alle diese Untersuchungen ist jedoch nach wie vor die Ausgabe von Lachmann/Muncker,3 die bereits auf ihr hundertjähriges Jubiläum zurückblicken kann. Trotz nachgewiesener Mängel gilt sie bis heute als maßgebliche historisch-kritische Edition, an der sich fast alle Studienausgaben des 20. Jahrhunderts orientieren. Gerade für Lessings kunsttheoretisches Hauptwerk ist dieser Umstand insofern problematisch, als außer dem 1766 erschienenen Ersten Theil noch nachgelassene Notizen, Entwürfe und Vorarbeiten sowohl zur Druckfassung als auch zur geplanten Fortsetzung überliefert sind, deren Zahl und Anordnung bis heute eine offene Frage ist, wenngleich sie die neuere Forschung weitgehend ignoriert. In den vergangenen zwei Jahrhunderten haben zahlreiche Herausgeber die Nachlassstücke zum Laokoon ediert und dabei sehr unterschiedliche Wege beschritten. Der letzte vollständige Abdruck des überlieferten Korpus erfolgte
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Ich danke den Mitarbeitern der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin ± Preußischer Kulturbesitz für ihre freundliche Unterstützung. Bei der Bestimmung der Wasserzeichen stand mir Frau Andrea Lothe vom Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig hilfreich zur Seite. Ferner danke ich Herrn Prof. Dr. Klaus Kanzog für wertvolle Anregungen und ganz besonders Herrn Prof. Dr. Friedrich Vollhardt für seine wissenschaftliche Unterstützung. Wolfgang Albrecht: Erneu(er)te Grundlagenforschung zu Lessing tut not. Ein Plädoyer nicht nur an die Mitglieder der Lessing-Society. In: Lessing Yearbook 36 (2004/2005), S. 7±12. Ebd., S. 7. Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Hg. von Karl Lachmann. DXI¶V QHXH durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. 23 Bde. Stuttgart, Leipzig 1886±1924 (im Folgenden zitiert als LM mit Band- und Seitenzahl).
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Christine Vogl
1990 durch Wilfried Barner.4 Wie viele Fragen trotz einer über zweihundertjährigen Editions- und Forschungsgeschichte zu den Überlieferungsträgern immer noch ungeklärt sind, hat nicht zuletzt ein 1999 erschienener Aufsatz von Elisabeth Blakert gezeigt.5 Mit diesem Beitrag möchte ich daher versuchen, auf die wichtigsten Fragen eine Antwort zu finden. Dazu gehören einerseits Überlegungen zum Textkorpus ± vor allem zur Anzahl, Bezeichnung und Siglierung der Stücke ± und andererseits zur Anordnung der Texte. Doch bevor eine Auseinandersetzung damit möglich ist, müssen zunächst die Voraussetzungen geklärt werden. Daher werde ich in den ersten vier Abschnitten auf die Überlieferungssituation, den handschriftlichen Befund, einige Entstehungszusammenhänge sowie die Editionsgeschichte näher eingehen und mich erst im letzten Teil mit den genannten Fragen befassen.
1. Überlieferungsgeschichte und Nummerierung der Textträger Sämtliche zum Laokoon überlieferten Handschriften sind heute Bestandteil der Lessing-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin ± Preußischer Kulturbesitz. Dort werden auch die Reinschrift6 und die Korrekturabzüge7 des Erstdruckes aufbewahrt. Die Entwürfe, Notizen und Vorarbeiten gehören zur LessingSammlung Nr. 1±30. Sie befinden sich in einer grauen Flügelmappe aus Pappe (ca. 27,7 × 19,5 cm), die in einer weißgelben Mappe (ca. 39,2 × 29,4 cm) mit dunkelrotem Leinenrücken liegt.8 Die graue Mappe dürfte von Carl Robert Lessing (1827±1911) stammen,9 einem Großneffen des Dichters, der die gesamte Lessing-Sammlung am 28. April 1876 von Julius Friedländer (1813±1884) in
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Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985±2003 (im Folgenden zitiert als FA für ¾Frankfurter Ausgabe½ mit Band- und Seitenzahl), hier Bd. 5/2, S. 207±321. Elisabeth Blakert: Grenzbereiche der Edition. Die Paralipomena zu Lessings Laokoon. In: editio 13 (1999), S. 78±97. Lessing-Sammlung Nr. 31. Einzelheiten bei Wolfgang Milde: Gesamtverzeichnis der Lessing-Handschriften. Bd. 1. Heidelberg 1982, S. 178f., sowie Emil Grosse: Über Lessings Handschrift des Laokoon und den Nachlass zu demselben. In: Archiv für Litteraturgeschichte 9 (1880), S. 144±171. Lessing-Sammlung Nr. 33. Vgl. dazu Milde (Anm. 6), S. 179f., Grosse (Anm. 6), S. 148± 157, sowie Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Studienausgabe. Hg. von Friedrich Vollhardt. Stuttgart 2012, S. 275 und 280f. Vgl. Milde (Anm. 6), S. 172. Die Maßangaben beruhen hier wie im Folgenden auf eigenen Messungen, die von Mildes Ergebnissen zum Teil geringfügig abweichen. Zumindest die knappe Beschriftung mit schwarzer Tinte (»4« auf der Einstecklasche und »27 no« auf der Innenseite der Lasche) stammt von ihm, wie ein Schriftvergleich mit anderen Beilagen der Lessing-Sammlung belegen kann, die Mappe selbst könnte auch auf Julius oder dessen Vater Benoni Friedländer (1773±1858) zurückgehen. Die Machart spricht allerdings für eine Provenienz aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Lessings Laokoon-Nachlass
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Berlin erwarb.10 Die Provenienz der weißgelben Mappe lässt sich aufgrund eines Monogramms (vgl. Abb. 1) in der linken oberen Ecke des Vordeckels mit Sicherheit angeben: Es zeigt die Initialen von Gotthold Lessing (1861±1919),11 der 1911 die väterliche Sammlung erbte und sie offensichtlich einer grundlegenden Neuordnung unterzog, wobei er allen thematisch zusammengehörenden Konvoluten identische Mappen mit seinem Monogramm zuwies, die zum Teil heute noch erhalten sind.12 Mit Hilfe von Arend Buchholtz und Ilse Lessing verzeichnete der Urgroßneffe des Dichters erstmals alle Handschriften, Bücher und Bilder der ererbten Sammlung in einem eigenen Katalog, der 1914±1916 in drei Bänden erschien. Alle Stücke, die sich auf Lessing beziehen, darunter auch die Überlieferungsträger zum Laokoon,13 sind im ersten Band zusammengestellt. Den Nummern der dreißig Handschriften, die der Katalog summarisch als »Vorarbeiten zum Laokoon«14 bezeichnet, entsprechen noch heute die Signaturen in der Staatsbibliothek zu Berlin, deren preußischer Vorgängerinstitution Gotthold Lessing die gesamte Autographensammlung nach seinem Tode am 3. März 1919 testamentarisch vermachte.15 Wie den Angaben des ersten Bandes zu entnehmen ist,16 erfolgte die Nummerierung auf der Grundlage der historischkritischen Ausgabe von Lachmann/Muncker, die damals noch im Erscheinen begriffen war und den neuesten Stand der Forschung repräsentierte. Allerdings sind einige wesentliche Unterschiede zwischen der Berliner Sammlung und dem 14. Band der Sämtlichen Schriften17 festzustellen: Nur die Überlieferungsträger 1 bis 14 und 30 stimmen sowohl inhaltlich als auch bezüglich ihrer Nummerie10
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12
13 14 15 16 17
Zur Bedeutung von Carl Robert Lessing und der Familie Friedländer für die LessingSammlung sowie zur Überlieferungsgeschichte vgl. Milde (Anm. 6), S. 154±171. Siehe auch Carl Robert Lessings Bücher- und Handschriftensammlung. Hg. von ihrem jetzigen Eigentümer Gotthold Lessing. Bd. 1: Die Lessing-Büchersammlung bearbeitet von Arend Buchholtz und Ilse Lessing. Die Lessing-Handschriften- und die Lessing-Bildersammlung von Arend Buchholtz. Berlin 1914 (im Folgenden zitiert als Katalog), S. I-VI. Milde (Anm. 6), S. 172, hält dieses Monogramm für dasjenige von Carl Robert Lessing. Allerdings weisen die Initialen G und L (vgl. Abb. 1) eindeutig auf Gotthold Lessing hin. Das Monogramm des Vaters hingegen besteht aus den Initialen CRL und erscheint als Wasserzeichen im Papier von Carl Robert Lessing (Hg.): Die Geschichte der Familie Lessing. Verfasst von Arend Buchholtz. 2 Bde. Berlin 1909. Da ein Großteil der ursprünglichen Lessing-Sammlung in den Wirren des Zweiten Weltkrieges verloren ging, sind in der Staatsbibliothek zu Berlin ± Preußischer Kulturbesitz heute nur noch vierzehn solcher Mappen überliefert mit Autographen von Gotthold Ephraim Lessing (Nr. 1±30, 31±32, 33, 34±36, 37, 38, 40±52 und 63±147), Johann Wolfgang Goethe (Nr. 1645±1678), Johann Georg Hamann (Nr. 1837±1856b), Johann Michael Hamann (Nr. 1857±1858), Friedrich II. von Preußen (Nr. 4154), Herzog Bernhard von Sachsen-Weimar (Nr. 4607) und drei unsignierten Blättern. Einzelheiten bei Milde (Anm. 6), S. 171. Vgl. Katalog (Anm. 10), S. 159±165. Ebd., S. 159. Vgl. Milde (Anm. 6), S. 170. Vgl. Katalog (Anm. 10), S. 159. Vgl. LM 14, S. 334±440.
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Christine Vogl
rung völlig überein, die Stücke 16 bis 29 der Lessing-Sammlung entsprechen Nr. 15 bis 28 bei Lachmann/Muncker. Manuskript 15 ist in den Sämtlichen Schriften als zweiter Teil der Nr. 14 abgedruckt; und der Text, den Muncker als Nr. 29 wiedergibt, findet sich unter den Berliner Handschriften überhaupt nicht. Da diese bisher kaum beachteten Differenzen schon zu mancher Verwirrung geführt haben,18 soll sich die Nummerierung der Überlieferungsträger im Folgenden auf die Lessing-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin ± Preußischer Kulturbesitz beziehen, wie sie in Mildes Gesamtverzeichnis der Lessing-Handschriften dokumentiert wird.19 Als Sigle schlage ich für diese Stücke LS vor. 20 Eine Tabelle soll die Unterschiede veranschaulichen: LS 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
LM 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
LS 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
LM 11 12 13 14 15 16 17 18 19
LS 21 22 23 24 25 26 27 28 29 ± 30
LM 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30
Tabelle 1: Die Nummerierung der Nachlassstücke zum Laokoon in der Berliner LessingSammlung (LS) und bei Lachmann/Muncker (LM).
Zusammen mit den Laokoon-Handschriften ist neben der Nummerierung nach Gotthelf Lessings Katalog noch eine zweite überliefert, die von der soeben erläuterten völlig abweicht. Interessant ist schon die äußere Form der Überlieferung: Während jedes einzelne Konvolut der Lessing-Sammlung Nr. 1±30 in einem weißen Doppelblatt aus mittelstarkem Maschinenpapier (ca. 21,9 × 13,8 cm) liegt, das auf der Vorderseite mit der entsprechenden arabischen Zahl in schwarzer Tinte beziffert ist, besitzen 21 Stücke, nämlich LS 1±8, 13, 14, 16, 18±23, 25 und 28±30, noch einen zweiten Umschlag aus dünnem weißgelbem Maschinenpapier (ca. 21,5 × 17,5 cm), der offensichtlich älter ist als der erste. Diese Umschläge sind mit großen, römischen Zahlen versehen. Darunter folgt ± 18
19 20
So geht etwa Barner davon aus, die von ihm bzw. Lachmann/Muncker abgedruckten Paralipomena seien »QDFK GHU >«@ %HUOLQHU 6DPPOXQJ YRQ ELV GXUFKJH]lKOW« (FA 5/2, S. 631). Auch Blakert (Anm. 5) scheint die Unterschiede nicht erkannt zu haben. Vgl. Milde (Anm. 6), S. 172±178. Diese Sigle wird vor allem aus pragmatischen Gründen eingeführt, um nicht jedem Textträger »Lessing-Sammlung Nr.« voranstellen zu müssen. Überlegungen zur Bezeichnung und Siglierung der Texte folgen im 5. Abschnitt.
Lessings Laokoon-Nachlass
45
in deutscher Schrift und schwarzer Tinte ± noch eine kurze Beschreibung des Inhalts des jeweiligen Konvoluts. Die Angaben beschränken sich in den meisten Fällen auf Umfang und Format der Handschriften, etwa: »Ein Blatt Folio« (LS 4); oder: »Drei halbe Bogen in Quart, ein Quartblatt, und ein Bogen Folio« (LS 28). Manche Umschläge21 enthalten jedoch noch weitere Anmerkungen, in der Regel Verweise auf Laokoon-Ausgaben, in denen der betreffende Text abgedruckt wurde. Neben dem Erstdruck werden nur die Editionen von Karl Lachmann22 und Gustav Hempel23 erwähnt. Wolfgang Milde nimmt an, dass diese Angaben »wohl noch von Carl Robert Lessing«24 herrühren. Ein Vergleich mit anderen Beilagen, die in der Berliner Sammlung überliefert sind,25 kann seine Vermutung bestätigen. Schriftbild und Duktus lassen keinen Zweifel daran, dass die Umschläge auf den Großneffen des Dichters selbst zurückgehen. Mit Sicherheit stammen sie also nicht von Karl Lachmann, wie Arend Buchholz in Gotthold Lessings Katalog andeutet, 26 auch wenn die Nummerierung der Doppelblätter bzw. der Handschriften, die ursprünglich in ihnen lagen, teilweise derjenigen im 11. Band von Lachmanns Sämmtlichen Schriften folgt, der 1839 erschien. Freilich ist nicht völlig auszuschließen, dass Lachmann zunächst alle Nachlassstücke nummeriert hatte und diese wie auch immer überlieferten Nummern von Carl Robert Lessing später durch neue Umschläge ersetzt wurden. Dagegen spricht allerdings, dass weder der Hempelsche Herausgeber noch Emil Grosse27 oder Hugo Blümner28 diese römische Nummerierung der Handschriften erwähnen, was sehr verwundern muss, zumal alle drei die Überlieferungsträger eingehend untersucht und beschrieben haben. Einzig und allein Franz Muncker geht in der von ihm besorgten Neuauflage der Sämtlichen Schriften darauf ein. In der Vorbemerkung zu den Nachlassstücken des Laokoon schreibt er:
21 22 23 24 25
26
27 28
Dazu gehören LS 1±3, 7, 8, 13, 14, 16, 19 und 29. Gotthold Ephraim Lessings sämmtliche Schriften. Neue rechtmäßige Ausgabe. Hg. von Karl Lachmann. Bd. 11. Berlin 1839. /HVVLQJ¶V:HUNH6HFKVWHU7heil: Laokoon. Berlin: Gustav Hempel 1869. Milde (Anm. 6), S. 172. Milde verzeichnet zwar nicht alle, wohl aber einen Großteil dieser Beilagen (vgl. ebd., S. 183, 213f. und 217f.). Als besonders wichtiges Vergleichsstück wäre noch ein Blatt zu erwähnen, das zusammen mit der Reinschrift der Minna von Barnhelm (LS 34) überliefert ist (vgl. ebd., S. 181) und deshalb Carl Robert Lessing zugeordnet werden kann, weil er hier in der Ich-Form spricht: »Professor Engel schenkte 1795 diese Handschrift an B. Friedländer, von dessen Erben ich sie am 28. April 1876 erkaufte.« In der Vorbemerkung zu den Laokoon-Papieren heißt es: »Die einzelnen Handschriften hat Karl Lachmann mit römischen Zahlen bezeichnet« (Katalog [Anm. 10], S. 159). Da sich auf den Textträgern selbst keine römischen Zahlen befinden, muss sich diese Behauptung auf die Umschläge beziehen. Vgl. Grosse (Anm. 6). Lessings Laokoon. Hg. und erläutert von Hugo Blümner. 2. verbesserte und vermehrte Auflage. Berlin 1880.
46
Christine Vogl 'LH+DQGVFKULIWHQ>«@EHVWHKHQDXVLQ der Hauptsache noch von Lachmann geordneten Nummern (Nr. I±XII und XIV±XXVII, Nr. XIII fehlt); doch beziehen sich einzelne dabei liegende Blätter nicht auf den »Laokoon«, sondern auf spätere Schriften Lessings.29
Der Verweis auf Lachmann bedarf über die erwähnten Einwände hinaus noch einer weiteren Korrektur: Nur die Nummern I±XII, XIV und XV folgen explizit seiner Ausgabe,30 die Stücke, die Ende des 19. Jahrhunderts unter den Nummern XVII±XXVII überliefert wurden, hatte Lachmann überhaupt nicht aufgenommen und die beiden Blätter der Nr. XVI als eigenständige Texte nach den Entwürfen zum Laokoon abgedruckt.31 Alles spricht also dafür, dass die römische Nummerierung der Handschriften erst nach Lachmann erfolgt ist. Aber Munckers Beschreibung ist noch aus einem weiteren Grund interessant: Sie informiert uns nämlich nicht nur darüber, dass um 1898 einige Handschriften zu den Laokoon-Papieren gehörten, die mittlerweile anderen Werken zugeordnet werden, sondern macht es mit Hilfe der jeweiligen Nummern, die Muncker in den entsprechenden Fußnoten den einzelnen Stücken zuweist, auch möglich, das überlieferte Textkorpus zu seiner Zeit genau zu rekonstruieren, wie folgende Tabelle zeigt: HS I II III IV V VI VII VIII IX /1 IX /2 IX /3 IX /4 X XI XII (XIII) XIV XV
LM 8 13 17 20 3 5 21 22 27 25 26 23 24 4 18 ± 19 30
LS 8 13 18 21 3 5 22 23 28 26 27 24 25 4 19 ± 20 30
HS XVI /1 XVI /2 XVII XVIII XIX XX XXI /1* XXI /2* XXI /3* XXI /4* XXI /5* XXII XXIII XXIV XXV XXVI /1 XXVI /2 XXVII
LM 14 /1 14 /2 7 ± ± ± 6 9 10 11 12 ± 2 15 1 28 16 ±
LS 14 15 7 ? 46 44 6 9 10 11 12 48 2 16 1 29 17 49
Tabelle 2: Das Korpus der Laokoon-Handschriften Ende des 19. Jahrhunderts (HS) und ihre heutigen Entsprechungen.32
29 30 31 32
LM 14, S. 333. Vgl. Lachmann (Anm. 22), S. 125±169. Vgl. ebd., S. 170±173. Bei den Nummern IX, XVI, XXI und XXVI, unter denen jeweils mehrere Textträger zusammengefasst waren, richtet sich die Reihenfolge der einzelnen Stücke nach den hand-
Lessings Laokoon-Nachlass
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Zu den Überlieferungsträgern, die sich spätestens seit 1914 ± dem Erscheinungsjahr des ersten Bandes von Gotthold Lessings Katalog ± nicht mehr unter den Laokoon-Papieren befinden, gehören: Nr. XIX (LS 46),33 ein Fragment Über Homers Apotheose von Archelaos;34 Nr. XX (LS 44),35 eine Vorarbeit zu dem Aufsatz Über die sogenannten Fabeln aus den Zeiten der Minnesinger. Zweyte Entdeckung im fünften Wolfenbütteler Beitrag Zur Geschichte und Litteratur;36 Nr. XXII (LS 48),37 ein Entwurf zum 35. Antiquarischen Brief,38 und Nr. XXVII (LS 49),39 eine Notizensammlung zu den Antiquarischen Briefen mit Exzerpten aus Philipp von Stoschs Gemmae antiquae caelatae.40 Nr. XIII war um 1898 nicht besetzt, wie Muncker ausdrücklich anmerkt. Ein Rätsel bleibt jedoch die Nr. XVIII, die in den Sämtlichen Schriften mit Stillschweigen übergangen wird. Hat Muncker diese Nummer vergessen? Ein Blick in die Hempelsche Ausgabe kann hier weiterhelfen. Zwar sind die Anmerkungen zu den einzelnen Handschriften dort weniger genau als bei Lachmann/Muncker, aber ein Hinweis in der »Vorbemerkung des Herausgebers« ist äußerst aufschlussreich: Von diesen Berliner Papieren betreffen die meisten den Laokoon oder beziehen sich doch auf dessen Inhalt. Nur zwei Stücke enthalten hierzu nicht Gehöriges, und zwar enthält das eine auf einem halbbeschriebenen Octavblatt nur eine unbeendigte Notiz in drei Sätzen über ein auf der Wolfenbütteler Bibliothek befindliches Manuscript der sog. Fabeln der 0LQQHVLQJHU >«@ GDV ]ZHLWH DEHU EHVSULFKW DXI ]ZHL %OlWWHUQ GLH 0Q]VDPPOXQJ GHV Comte de Schmettow.41
Das erstgenannte Stück lässt sich problemlos als die oben erwähnte Nr. XX (LS 44) identifizieren, aber für das zweite findet sich in den Sämtlichen Schriften keine Entsprechung. Möglicherweise besetzte diese Handschrift also ursprünglich die Nr. XVIII. Immerhin erwähnt Lessing die Münzsammlung des »H. General L. v. Schmettau« auch in den Collectanea unter dem Eintrag zu »Chabrias«,42 der mit den Antiquarischen Briefen, aber ebenso mit dem XXVIII. Kapitel des Laokoon in einem gewissen inhaltlichen Zusammenhang steht. Merkwürdig ist allerdings, dass weder Gotthold Lessings Katalog noch
33 34 35 36 37 38 39 40 41 42
schriftlichen Angaben auf den Umschlägen. Wo die nötigen Hinweise fehlen, wurde die heutige Überlieferungsreihenfolge angenommen; die entsprechenden Textträger sind mit * gekennzeichnet. Die kursivierten Stücke werden heute nicht mehr zu den Laokoon-Papieren gezählt. Vgl. Milde (Anm. 6), S. 186. LM 15, S. 25. Vgl. Milde (Anm. 6), S. 185. Bei Lachmann/Muncker (LM 16, S. 186f.) als Entwurf Nr. 21 Zur Geschichte der Aesopischen Fabel abgedruckt. Vgl. Milde (Anm. 6), S. 186. LM 15, S. 87ff. Vgl. Milde (Anm. 6), S. 187. LM 15, S. 89±94. Hempel (Anm. 23), S. 178. LM 15, S. 180.
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Christine Vogl
Wolfgang Milde ein derartiges Stück verzeichnen. Handelt es sich hier also um eine verschollene Lessing-Handschrift? Oder um einen unechten Autographen? Nur ein Glücksfund in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin ± Preußischer Kulturbesitz hat es möglich gemacht, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Im letzten Kasten der Lessing-Sammlung, der Autographen von Johann Wolfgang Goethe (LS 1645±1678), Johann Georg Hamann (LS 1837±1856b), Johann Michael Hamann (LS 1857±1858), Friedrich II. von Preußen (LS 4154) und Herzog Bernhard von Sachsen-Weimar (LS 4607) nebst einiger Beilagen enthält, liegt ganz unten eine unsignierte weißgelbe Mappe mit Gotthold Lessings Monogramm, die auf dem Vordeckel die Aufschrift trägt: »Zu Lessing, nicht im gedr[uckten] Katalog«.43 Diese Mappe enthält neben einem Doppelblatt aus weißem Velinpapier (ca. 23,4 × 14 cm), das von unbekannter Hand mit schwarzer Tinte beschrieben ist, noch zwei weitere Blätter, die in einem weißgelben Umschlag (ca. 35,1 × 25 cm) liegen, der den älteren Umschlägen der Lessing-Sammlung Nr. 1±30 gleicht. Auf der Vorderseite steht ± mit schwarzer Tinte und in deutscher44 Schrift: XVIII Ein Blatt octav u. ein halber Bogen Quart. Die Sammlung des Grafen Schmettow wird in Less[ings] Collectaneen zur Litteratur unter Chabrias erwähnt. Die Münze um die es sich handelt, ist von Lhersonesus Taurica. Nach Ramus Museum Regis Daniae I S. XIII. ward diese Schmettow¶VFKH6DPPOXQJ an den König von Daenemark verkauft, S. 96. ist die von Less[ing] besprochene Münze, kenntlich am Beizeichen K, beschrieben.
Ein Schriftvergleich mit den übrigen Umschlägen und Beilagen der Berliner Sammlung45 kann bestätigen, dass auch diese Zeilen von Carl Robert Lessing stammen. Zweifellos handelt es sich hier also um die vormalige Nr. XVIII der Laokoon-Papiere, wie nicht zuletzt die große römische Zahl über der Anmerkung beweist. Was aber liegt in dem Umschlag? Zunächst ein weißgelbliches Einzelblatt (ca. 18,6 × 11,3 cm) aus dünnem handgeschöpftem Papier, das beidseitig mit dunkelbrauner Tinte von fremder Hand beschrieben ist. Wie man den letzten zwei Zeilen auf der Rückseite entnehmen kann, handelt es sich hier um 43
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Tatsächlich ist im dreibändigen Katalog von Gotthold Lessing (Anm. 10) der Inhalt dieser Mappe nicht verzeichnet. Die Mappe selbst ist identisch mit den übrigen dreizehn, die heute noch in der Berliner Lessing-Sammlung überliefert sind (s. o. Anm. 12). Nur für Namen bzw. fremdsprachige Wörter, die hier kursiviert wiedergegeben werden, hat der Verfasser die lateinische Schrift verwendet. Zu dieser in Deutschland lange aufrechtHUKDOWHQHQ¾Zweischriftenherrschaft½ vgl. Marianne Bockelkamp: Analytische Forschungen zu Handschriften des 19. Jahrhunderts. Am Beispiel der Heine-Handschriften der Bibliothèke Nationale Paris. Hamburg 1982, S. 86f. S. o. Anm. 25.
Lessings Laokoon-Nachlass
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einen Brief des Grafen von Schmettau vom 30. April 1769,46 der an einen unbekannten Empfänger in Hamburg gerichtet ist. Die wichtigsten Passagen dieses für die Lessing-Forschung nicht uninteressanten Schreibens, dem die Staatsbibliothek zu Berlin ± Preußischer Kulturbesitz nun die Signatur Lessing-Sammlung Nr. 4607b47 zuweisen wird, lauten: Je Vous prie de faire bien mes complements et mes amitiés à 0U /HVVLQJ>«@-H9RXV enverrai par les chariots de mardi qui arrivent mércredi au Soir à Hambourg la belle et XQLTXH PHGDLOOH TX¶LO GpVLUH j YRLU -¶\ MRLQGUDL OH FDWDORJXH GpWDLOOp GH PHV PHGDLOOHV JUHFTXHV TXL VRQW HQ RUGUH >«@ -¶\ MRLQGUDL DXVVL OD designation de quelques medailles URPDLQHV>«@6L0U/HVVLQJSRXYDLWIDLUHVRQGHUOHWHUUDLQj%HUOLQLO PHIHUDLWOHSOXV grand plaisir.48
Außer diesem Brief liegt in dem besagten Umschlag noch ein Doppelblatt (ca. 21,6 × 16,3 cm) aus handgeschöpftem, mittelstarkem, gelblichem Papier, das offensichtlich von derselben Hand, aber in deutlich größeren französischen Lettern mit dunkelbrauner Tinte beschrieben ist. Auf der Vorderseite, die mit »Contenues« betitelt ist, finden wir eine knappe Inhaltsangabe jenes Münzkataloges, den der Graf von Schmettau in seinem Schreiben verspricht.49 Auf der Rückseite steht nur eine kurze Bemerkung, was »dieser Katalog« nicht enthält.50 Da Blatt 2v und 3r leer sind, liegt die Vermutung nahe, dass der eigentliche Katalog (oder zumindest eines der »cahiers«, aus denen er bestand) bei der Übersendung an Lessing ursprünglich in diesem Doppelblatt lag, das offensichtlich als eine Art Begleitschreiben dienen sollte. Wenn dem so ist, dann haben allerdings beide Blätter ihr bisher gefristetes Schattendasein nicht
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Unter einem langen Schrägstrich stehen auf Blatt 1v anstelle einer Unterschrift die folgenden zwei Zeilen: »la Lettre de S. E. M. le C. de Schmettow est du 30. Avril 1769«. Dem Inhalt nach kann der Absender kein anderer sein als der dänische General Hermann Woldemar Graf von Schmettau (1719±1785), der von 1764 bis 1767 Generalgouverneur von Norwegen war, später jedoch in Holstein lebte und eine umfangreiche Sammlung antiker Münzen besaß. Vgl. Matthias G. Graf von Schmettow: Schmettau und Schmettow. Geschichte eines Geschlechts aus Schlesien. Büderich bei Düsseldorf 1961, S. 255±325, der ausdrücklich darauf verweist, dass Lessing sich eine Münze aus der Schmettauschen Sammlung in seinen Collectanea notiert habe (s. ebd., S. 324 und 513), aber offensichtlich das entdeckte Schreiben nicht kennt. Zur Briefhandschrift sowie zu der von Lessing besprochenen Münze vgl. den ausführlichen Beitrag der Vf.: »In dem Müntzcabinete des H. General L. v. Schmettau« ± Die Münze des Chabrias und ein neuentdecktes Schreiben an Gotthold Ephraim Lessing. Voraussichtlich in: Aufklärung 25 (2013). Unter dieser Signatur sind beide Blätter zusammengefasst, die früher als Nr. XVIII der Laokoon-Papiere bezeichnet wurden. Das Einzelblatt wird im Folgenden als Bl. 1, das Doppelblatt als Bl. 2 und 3 gezählt. LS 4607b, Bl. 1r. (EG%OUªGL[QHXI&DKLHUVGHV0HGDLOOHVGHV5RLVHWVXUWRXWGHVYLOOHVJUHFTXHV>«@ XQHIHXLOOHGH0HGDLOOHVJUHFTXHV>«@0HGDLOOHVG¶RU5RPDLQV>«@6L[&aKLHUV GH 0HGDLOOHV &RQVXODLUHV HQ $UJHQW >«@ 4XDWUH &DKLHUV &RQVXODires en Bronze plus rares que celles en Argent«. Ebd.%OYª&H&DWDORJXHQHFRQWLHQWQL>«@OHVPHGDLOORQVHQ$UJHQWHWHQ%URQ]HGHV Empereurs, encore moins les MedailOHVG¶$UJHQWHWGH%URQ]H,PSHULDOHV>«@©
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verdient, denn sie geben uns nicht nur einen Terminus post quem für den Eintrag zu »Chabrias« in Lessings Collectaneenband an die Hand, sondern enthalten auch wertvolle Kontextinformationen. Aber welche Bedeutung man auch immer diesen Überlieferungsträgern für die Lessing-Forschung beimessen mag, eines ist sicher: Mit ihnen wurde sowohl die frühere Nr. XVIII der LaokoonPapiere wiederentdeckt als auch jenes bei Hempel erwähnte Stück, »das auf zwei Blättern die Münzsammlung des Comte de Schmettow«51 bespricht. Damit wäre es gelungen, das Korpus der Laokoon-Handschriften nicht nur zur Zeit Munckers, sondern auch um 1869 zu rekonstruieren. Denn aus den Angaben bei Hempel lässt sich schließen, dass damals folgende Stücke zum Korpus gehörten: LS 1±30, 44 und 48 sowie die zwei Blätter des Grafen von Schmettau (LS 4607b). Welche Gestalt das Textkorpus vor 1869 hatte, darüber können wir leider nur mutmaßen, da alle früheren Ausgaben weder die überlieferten Stücke vollständig abdrucken, noch Informationen über Zahl oder Inhalt der nicht aufgenommenen Texte enthalten. Lachmann beschränkt sich im 11. Band seiner Sämmtlichen Schriften auf die lapidare Feststellung: »Dieselben Papiere, aus denen Karl G. Lessing die Vorarbeiten zum Laokoon in der zweiten Ausgabe desselben 1788 drucken ließ, sind jetzt im Besitz des Herrn B. Friedländer«.52 Lessings Bruder, der schon bald nach dessen Tod damit begann, die nachgelassenen Handschriften mehr schlecht als recht für verschiedene Veröffentlichungen auszuwerten, und anschließend einen Großteil davon verkaufte oder verschenkte,53 gesteht in seiner »Nachricht des Herausgebers«: Bey einer andern Gelegenheit habe ich schon erwähnt, daß manches seiner Manuscripte verloren gegangen: und mir ist es gar nicht unwahrscheinlich, daß auch einige dieses Inhalts darunter gewesen seyn mögen. Denn alles, was ich hier liefere, fand sich auf einzeln Bogen und Blättern, ohne die geringste Rücksicht auf Zusammenhang.54
Mehr erfahren wir über die Laokoon-Papiere zur Stunde Null am 15. Februar 1781 nicht. Bei der Inventur des Nachlasses wurde zwei Monate nach Lessings Tod im Beisein des Bruders zwar ein Verzeichniß der Leßingischen Manuscripte erstellt,55 allerdings ist dieses so summarisch gehalten, dass es nur in den wenigsten Fällen aufschlussreich sein kann. Immerhin wird unter der Nr. 14 auch ein Konvolut »zur Fortsetzung des Laokoons«56 aufgeführt, aber leider ohne nähere Angaben.
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Hempel (Anm. 23), S. 178. Lachmann (Anm. 22), S. 125, Anm. Vgl. Milde (Anm. 6), S. 20. Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie. Mit beyläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte. Von Gotthold Ephraim Lessing. Neue vermehrte Auflage. Hg. von Karl Gotthelf Lessing. Berlin 1788. Vgl. Otto von Heinemann (Hg.): Zur Erinnerung an Gotthold Ephraim Lessing. Briefe und Aktenstücke aus den Papieren der Herzoglichen Bibliothek und den Akten des Herzoglichen Landeshauptarchivs zu Wolfenbüttel. Leipzig 1870, S. 203±208. Ebd., S. 206.
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2. Zum materiellen Befund der Handschriften Zumindest eine Brücke lässt sich von Karl Gotthelfs Beschreibung der nachgelassenen Stücke zur heutigen Lessing-Sammlung dennoch schlagen: die scheinbare materielle Zusammenhanglosigkeit der überlieferten Papiere, die auch spätere Herausgeber immer wieder betont haben. Schon die äußere Verschiedenheit der Laokoon-Handschriften fällt ins Auge. Neben ausgeschnittenen Zetteln sowie losen Einzel- und Doppelblättern im Oktav- oder Quartformat finden sich auch mehrere Foliobögen, die meist ineinandergelegt und nur in einem Fall (LS 13) zusammengeheftet sind. Der Umfang der Konvolute reicht von einem Zettel (LS 6) bis hin zu zehneinhalb Doppelblättern mit Beilagen (LS 3). Auch die Beschriftung ist sehr unterschiedlich: Während manche Überlieferungsträger nur mit wenigen Zeilen beschrieben sind, umfassen andere bis zu 40 Seiten, die Lessing zum Teil in mehrere Abschnitte untergliedert hat. Manche Stücke sind ein-, andere zweispaltig beschrieben. Einige Blätter weisen einen Rand auf, andere nicht. Viele Textträger wurden ausschließlich von Lessing beschrieben, in sechzehn Stücken begegnen jedoch auch fremde Hände. Ein besonders markantes Beispiel für Letztere ist LS 3, jener grundlegende Entwurf zum Laokoon, den Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn mit über fünfundzwanzig handschriftlichen Anmerkungen versehen haben. Doch trotz all dieser Unterschiede kann man bei näherem Hinsehen auch Gemeinsamkeiten zwischen den Überlieferungsträgern feststellen, die bisher kaum beachtet worden sind. Ein verbindendes Element ist zweifellos das Papier.57 Obwohl die Lessing-Sammlung 1±30 insgesamt sechzehn verschiedene Papiersorten umfasst, wobei zwei von Mendelssohn stammen,58 begegnen sechs davon mehr als einmal. Am häufigsten ist jenes Papier, das bereits Emil Grosse in Ansätzen beschrieben hat.59 Dabei handelt es sich um gelbbräunliche, fein gerippte, dünne Bögen im Klein-Folioformat (ca. 27 × 18,5 cm)60 mit 18 Kettlinien und dreiteiligem A la Mode-Wasserzeichen (vgl. Abb. 2): In der Mitte der einen Bogenhälfte ist ein Kavalier mit Hut oder Blumenbouquet abgebildet, in der Mitte der anderen eine Dame, vermutlich mit Lorgnon. Im Falz befinden sich die doppelstrichigen Antiqua-Versalien SE in einem doppelkonturigen Kreis mit hochgezogenem Kreuz. Diese Sorte begegnet bei LS 2±5, 8, 13, 16, 21, 23 und 24. Am zweithäufigsten ist ein gelbbräunliches, geripptes, mittel57
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Zu den Grundlagen der Papieranalyse vgl. Peter F. Tschudin: Grundzüge der Papiergeschichte. Stuttgart 2002 (Bibliothek des Buchwesens 12); Bockelkamp (Anm. 44); Karl Theodor Weiß: Handbuch der Wasserzeichenkunde. Bearbeitet und hg. von Wisso Weiß. Leipzig 1962. Hierbei handelt es sich um die von ihm beschriebenen Beilagen (ein Einzel- und ein Doppelblatt) zu LS 3. Vgl. Grosse (Anm. 6), S. 164. Vgl. Milde (Anm. 6), S. 173. Die Maßangaben beruhen hier wie oben auf eigenen Messungen. Da es sich bei allen Überlieferungsträgern der Lessing-Sammlung Nr. 1±30 um handgeschöpfte Papiere handelt, sind Differenzen von bis zu 5 mm innerhalb derselben Sorte möglich.
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starkes Papier, das als Wasserzeichen die doppelstrichige Antiqua-Versalie P in einem doppelkonturigen Kreis mit Krone aufweist. Diese Sorte ist unter LS 7, 11, 17 und 19 überliefert. Dass die letzten drei Nummern offensichtlich aus demselben Heft herausgeschnitten sind wie LS 9, obwohl das Wasserzeichen ein anderes ist, beweisen die gleiche Blattgröße (ca. 17,9 × 14,6 cm), der rot getünchte Rand sowie die im Mittelfalz zum Teil noch erkennbaren Spuren einer früheren Heftung. Auch die drei Einzelblätter von LS 7 stammen aus einem ähnlichen Heft, allerdings nicht aus genau demselbem, da die Maße abweichen (ca. 18,5 × 14,2 cm). Wieder einem anderen Heft wurden die Blätter von LS 12 und 18 (ca. 20,4 × 17,3 cm) entnommen. Als Wasserzeichen erscheint hier die doppelstrichige Antiqua-Versalie W aus dem Wappen der schlesischen Hauptstadt Breslau, in der Lessing mit kurzen Unterbrechungen von November 1760 bis April 1765 als Gouvernementssekretär des Generals von Tauentzien weilte.61 Dieses Wappen fungiert als weiteres Bindeglied zwischen den Überlieferungsträgern. Denn auch die Wasserzeichen von LS 1, 6 und 10 sowie das letzte Blatt von LS 23 enthalten heraldische Elemente, die sich eindeutig Breslau bzw. Schlesien zuordnen lassen. Besonders aussagekräftig ist das dreiteilige Wasserzeichen, das auf den beiden zum Teil beschnittenen Foliobögen (ca. 34 × 21 cm) der Nr. 1 überliefert ist: Zwischen Kettlinie 3 und 7 (bzw. 11 und 15)62 befindet sich der schlesische Adler mit Kleeblattsichel und mittig hochgezogenem Kreuz, zwischen Kettlinie 9 und 11 (bzw. 7 und 9) der kursive Schriftzug ¾Breslau½ über der Jahreszahl 1760 und zwischen Kettlinie 13 und 14 (bzw. 4 und 5) das Kopfbild von St. Johannes dem Täufer im doppelkonturigen Kreis über der doppelstrichigen Antiqua-Versalie W (vgl. Abb. 3).63 Eine Variation hierzu stellt das Wasserzeichen auf dem Blatt der Nr. 10 (ca. 18 × 17,2 cm) dar: Hier erscheint der schlesische Adler über dem kaum zu entziffernden kursiven Schriftzug ¾3HWHUVGRUII½.64 Aufgrund der markanten Wasserlinien des dünnen Zeilenpapiers lässt sich auch der kleine Zettel (ca. 9,7 × 12,8 cm), der unter LS 6 überliefert ist, dieser Sorte zuordnen, obwohl nur ein Adlerflügel auf ihm 61 62
63
64
Vgl. Wolfgang Albrecht: Lessing. Chronik zu Leben und Werk. Kamenz 2008 (Begleitbücher zur Dauerausstellung des Lessing-Museums Kamenz), S. 44±51. Die Kettlinien werden hier wie im Folgenden von links nach rechts gezählt, wobei die Siebseite des Bogens nach unten zeigt. Da einige Büttenpapiere im 18. Jahrhundert mit sog. Wechselformen hergestellt wurden, begegnen mehrere Wasserzeichen der LessingSammlung Nr. 1±30 auch spiegel- bzw. seitenverkehrt. Dazu gehören LS 1±5, 8, 13, 15, 16, 21, 23±28 und 30. Zum Phänomen der Wechselformen vgl. Weiß (Anm. 57), S. 116ff., sowie Allan Stevenson: Watermarks are twins. In: Studies in bibliography 4 (1951), S. 57± 91, bes. S. 64±67. Belegt als Wasserzeichen der Papiermühle Breslau im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig, Papierhistorische Sammlungen, Signatur II 489/0/2. Ein nahezu identisches Wasserzeichen aus Akten der Zeit von 1760±1780, das sich der niederschlesischen Papiermühle Petersdorf zuordnen lässt, ist belegt bei Friedrich von Hössle: Alte Papiermühlen der Provinz Schlesien. In: Der Papier-Fabrikant 34/33 (1936), S. 310±312, hier S. 311.
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zu sehen ist. Ein interessanter Sonderfall liegt bei dem Konvolut der Nr. 23 vor: Während das erste Doppel- und Einzelblatt aus jenem A la Mode-Papier bestehen, das unter den Nachlassstücken zum Laokoon am häufigsten begegnet, weist das letzte Einzelblatt (ca. 26,4 × 17,8 cm) ein anderes Wasserzeichen auf: Es enthält dieselben Elemente wie LS 10, allerdings besteht der Schriftzug ¾FRIEDLAND½ unter dem schlesischen Adler aus doppelstrichigen AntiquaVersalien. Darunter ist bei näherem Hinsehen noch die Jahreszahl 1749 zu erkennen (vgl. Abb. 4). Anhand des Ortsnamens lässt sich dieses Wasserzeichen der Papiermühle Alt-Friedland in Niederschlesien zuordnen.65 Am dritthäufigsten begegnet unter den Handschriften der Lessing-Sammlung Nr. 1±30 ein gelbbräunliches, geripptes, dünnes Postpapier, das unter den Nummern 25, 26 und 28 überliefert ist. Das einteilige Wasserzeichen dieser Quartbögen (ca. 20,2 × 16,5 cm) besteht aus einem Horn mit Kreismündung und doppelkonturigem Band zwischen drei Kettlinien im Abstand von je ca. 2,2 cm. Außer den bereits beschriebenen gibt es sonst nur noch eine weitere Sorte, die mehr als einmal auftritt. Dabei handelt es sich um jenes gelbliche, gerippte, starke Papier, auf dem auch die Reinschrift des Laokoon (LS 31) und der Minna von Barnhelm (LS 34) überliefert ist. Setzt man die Oktavbögen (ca. 24 × 15 cm) zusammen, so erkennt man als Hauptmarke zwischen Kettlinie 16 und 19 (bzw. 4 und 7) eine heraldische Lilie über einem Schrägbalkenschild, das sich als Straßburger Wappen identifizieren lässt, und als Gegenmarke zwischen Kettlinie 5 und 6 (bzw. 17 und 18) die doppelstrichigen AntiquaVersalien IV (vgl. Abb. 5). Dieses Papier, das auf französische Papiermacher zurückgeht, die im 18. Jahrhundert unter dem Namen Jean Villedary in Frankreich und Holland tätig waren,66 begegnet unter LS 15 und 27. Alle übrigen Sorten treten nur in jeweils einem Konvolut auf. Dazu gehören ± von den bereits genannten abgesehen ± die Papiere von LS 14, 20, 22, 29 und 30. Doch auch diese scheinbaren Einzelgänger weisen gewisse Gemeinsamkeiten mit anderen Textträgern auf. Eine davon ist der Schreibstoff. Lessing hat offensichtlich alle Laokoon-Handschriften mit der im 18. Jahrhundert gebräuchlichen Eisengallustinte beschrieben. Dafür sprechen neben der dunkel- bis schwarzbraunen Färbung zwei Phänomene, die an mehreren Überlieferungsträgern zu beobachten sind und von Kodikologen mit Eisengallusmischungen in 65
66
Vgl. Friedrich von Hössle: Alte Papiermühlen der Provinz Schlesien. In: Der PapierFabrikant 33/31 (1935), S. 260±262, hier S. 261. Ebd. ist genau dieses Wasserzeichen aus Alt-Friedland abgebildet. Vgl. William Algernon Churchill: Watermarks in paper in Holland, England, France etc., in the XVII and XVIII centuries and their interconnection. Amsterdam 1935, S. 21f., sowie Raymond Gaudriault: Filigranes et autres caractéristiques des papiers fabriqués en France au XVII. et XVIII. siècles. Avec le concours de Thérèse Gaudriault. Paris 1995, S. 278. Churchill erwähnt u. a. einen Jean Villedary, der von 1758±1812 in Hattem, Gelderland, wirkte, bezeichnet aber zugleich dessen Initialen als »hall-mark of excellence« (ebd., S. 22), die möglicherweise auch von anderen Papiermühlen verwendet wurden. Unter der Nr. 437 bildet er ein Wasserzeichen ab (ebd., S. CCCXXVII), das dem hier beschriebenen sehr ähnlich sieht.
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Verbindung gebracht werden: zunächst das »Durchschlagen der Tinte«67 und schließlich der »Lochfraß«68 ± beides Begleiterscheinungen des sog. Tintenfraßes. Ersteres ist vor allem bei LS 2, 3, 5, 13, 21, 23 und 24 eingetreten (vgl. Abb. 6), Letzteres nur stellenweise bei Blatt 1 von LS 8 (vgl. Abb. 7), das bereits mit einem Papierspaltverfahren behandelt wurde, um weitere Schäden zu verhindern. Von diesen Ausnahmen abgesehen hat sich der Schreibstoff jedoch auf den meisten Laokoon-Papieren sehr gut erhalten. Mit bloßem Auge lassen sich vier Farbnuancen unterscheiden: ein blasses Dunkelbraun bei LS 30; ein normales Dunkelbraun bei LS 2±5, 8, 16, 21, 23, 24 und 29, teilweise auch bei LS 1, 6 und 20; ein besonders kräftiges Dunkelbraun bei LS 10, 12±15 und 25± 28, zum Teil auch bei LS 1, 6 und 20, sowie ein je nach Lichtverhältnissen mehr oder weniger schwarz erscheinendes Schwarzbraun bei LS 7, 9, 11, 17±19 und 22 sowie bei einzelnen Passagen von LS 6 und 20. Gewiss ist die Frage berechtigt, wie aussagekräftig solche Nuancen sind, denn bei Eisengallustinten kann es, »je nach der Tinten- XQG 3DSLHUTXDOLWlW >«@ ]XPDO EHL XQJQVWLJHQ 8mwelteinflüssen ± z. B. intensiver Lichteinwirkung ± zu mehr oder weniger starker Verblassung«69 bzw. Verfärbung kommen. Trotzdem kann man davon ausgehen, dass es sich zumindest bei einer dunkelbraunen und einer schwarz(braun)en Beschriftung tatsächlich um zwei verschiedene Tintenmischungen handelt, besonders dann, wenn sie auf Papieren derselben Sorte überliefert sind. Je ähnlicher sich die Farbtöne sind, umso geringer wird freilich diese Gewissheit, aber selbst dann verlieren sie ihre Aussagekraft nicht völlig. Solange keine Tintenanalysen aus dem Labor vorliegen, 70 müssen wir uns mit solchen auf Autopsie beruhenden Befunden begnügen. Ähnliches gilt für das letzte verbindende Element zwischen den einzelnen Konvoluten: die Schrift. Bis auf zwei Stücke, die in lateinischer Kursive abgefasst sind, weil sie ausschließlich lateinischen (LS 10) bzw. französischen Text (LS 30) enthalten, hat Lessing für alle Laokoon-Papiere die deutsche Kurrentschrift71 verwendet. Bei näherem Hinsehen kann man jedoch gewisse Unterschiede im Schriftbild zwischen den einzelnen Überlieferungsträgern feststellen, wonach sich die Konvolute in vier große Gruppen unterteilen lassen. Die Erste ähnelt in Schriftgröße und Duktus der Reinschrift des Laokoon. Hierzu gehören alle Stücke, die auf A la Mode-Papier überliefert sind, wobei gewisse Differenzen auffallen: Bei LS 3, 5, 23 und 24 sind die Buchstaben meist etwas größer (vgl. Abb. 6) und bei LS 8 und 16 ein wenig kleiner (vgl. Abb. 7) als bei LS 2, 67 68 69 70
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Claus Maywald: Die Schreibtinten. Einführung und Übersicht. Königswinter 2010, S. 76. Christian-Heinrich Wunderlich: Geschichte und Chemie der Eisengallustinte. Rezepte, Reaktionen und Schadwirkungen. In: Restauro 100/6 (1994), S. 414±421, hier S. 416. Bockelkamp (Anm. 44), S. 74. Zu möglichen Verfahren vgl. den Editionsbericht in Band 7/2 der Marburger BüchnerAusgabe (Georg Büchner: »Woyzeck«. Text, Editionsbericht, Quellen, Erläuterungsteile. Hg. von Burghard Dedner u. a. Darmstadt 2005, S. 89±102). Im Zuge der ¾=ZHLVFKULIWHQKHUUVFKDIW½ (s. o. Anm. 44) benutzt Lessing für lateinische, englische, französische und italienische Passagen freilich die lateinische Kursive. Für griechische Zitate wählt er die griechische Schrift.
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4, 13 und 21. Wesentlich leichter lassen sich die Grenzen zwischen der zweiten und dritten Gruppe ziehen: Während das Schriftbild von LS 6, 7, 9, 11, 17, 19, 22 und 25 generell unordentlicher erscheint (vgl. Abb. 8) als das der ersten Gruppe, zeichnen sich LS 14 und 15 durch eine regelmäßigere, kleinere Schrift aus (vgl. Abb. 9). Noch kleiner, ja beinahe winzig ist die Schrift der vierten Gruppe (vgl. Abb. 10), zu der LS 1, 12, 18, 20 und 26±29 gehören, wobei auch hier gewisse Unterschiede feststellbar sind: Während der Gesamteindruck von LS 1 schön und ordentlich, ja bisweilen fast verspielt wirkt, ist der Duktus von LS 12 und 18 wesentlich flüchtiger. Noch chaotischer erscheint das Schriftbild von LS 27 und 29, jenes von LS 26 und 28 hingegen wieder sehr regelmäßig. Der Befund spricht also eher gegen einen gemeinsamen Entstehungszeitraum der gesamten Gruppe. Sogar manche Passagen innerhalb derselben Konvolute sind offensichtlich zu verschiedenen Zeiten entstanden: Darauf weisen Differenzen im Duktus und in der Federbreite bei LS 1, 2, 6, 7, 13, 20, 23 und 24 hin.
3. Rückschlüsse auf Entstehungszusammenhänge Nun stellt sich natürlich die Frage, wie der beschriebene Befund zu deuten ist. Dazu sei zunächst einschränkend bemerkt, dass man aus Untersuchungen, die lediglich auf Autopsie beruhen, noch keine relative oder gar absolute Datierung aller Überlieferungsträger ableiten kann. Dennoch scheinen die handschriftlichen Gegebenheiten in manchen Fällen so eindeutig, dass sie gewisse Schlussfolgerungen über Entstehungszusammenhänge zulassen. Damit die Interpretation aber nicht zur bloßen Spekulation wird, bedarf es zunächst einiger grundsätzlicher Überlegungen zu den materiellen Voraussetzungen. Lessing schrieb wie seine Zeitgenossen mit dem Federkiel. Da die gebräuchlichen Gänsefedern recht schnell abgeschrieben waren, musste man sie häufig spitzen und regelmäßig nachkaufen. Ein preußischer Kanzleibeamter etwa verbrauchte im 18. Jahrhundert meist mehr als eine Feder pro Tag.72 Daher verkaufte man Federn in der Regel nicht einzeln, sondern in Bündeln zu 25 Stück. 73 Diese Bündel waren nach Größe und Sorte sortiert, zumal viele Händler nicht nur Gänse-, sondern auch Raben-, Enten-, Fasanen- und andere Vogelfedern feilboten.74 Größe und Sorte beeinflussten zwangsläufig die Schrift. Manche Federn waren eher für grobe, andere für feine Schriften geeignet, einige für Fraktur, andere für Kur-
72 73 74
Vgl. Eric Le Collen: Feder, Tinte und Papier. Die Geschichte schönen Schreibgeräts. Aus dem Französischen von Cornelia Panzacchi. Hildesheim 1999, S. 23. Vgl. ebd., S. 22. Vgl. Gotthard B. Jensen: Schreibgeräte, unter besonderer Berücksichtigung von Schülerschreibgeräten. Historische Entwicklung und kulturethologische Verlaufsformen dieser Entwicklung (aufgezeigt an Kielfeder, Schiefergriffel und ±tafel, Bleistift, Stahlfeder mit Halter und Füllfederhalter). Diss. Erlangen-Nürnberg 2004, S. 32±35.
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rent.75 Auch die Härte und der Zuschnitt hatten einen Einfluss auf das Schriftbild. Nicht zuletzt diese schreibtechnischen Voraussetzungen dürften die erheblichen graphischen Unterschiede zwischen den Nachlassstücken zu Lessings Laokoon erklären, die sich ± von wenigen Ausnahmen abgesehen ± weder auf eine nachweisbare Schriftentwicklung noch auf bloße Differenzen im Duktus zurückführen lassen. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass Überlieferungsträger, die identische Schriftbilder aufweisen, mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb recht kurzer Zeit entstanden sind. Natürlich darf man nicht übersehen, dass Lessing auch zu wiederholten Malen genau dieselbe Federsorte erworben und sie identisch zugeschnitten haben kann. In manchen Fällen wird man dies sogar annehmen müssen.76 Aber überall dort, wo nicht nur die tektonische Gesamtwirkung, sondern auch das Papier und die Tinte dieselben sind, lässt sich mit fast hundertprozentiger Sicherheit ein gemeinsamer Entstehungszeitraum voraussetzen.77 Ein solch glücklicher Zusammenfall ergibt sich bei den LaokoonHandschriften überwiegend nur für Zweiergruppen, nämlich für LS 8 und 16, LS 26 und 28 sowie LS 12 und 18. Alle materiellen Merkmale dieser drei Paare sind identisch; nur die Tinte von LS 18 erscheint etwas dunkler als jene von LS 12, aber dies kann durchaus an den oben genannten Verfärbungssprozessen liegen. Ferner dürften LS 14 und 15 zusammen entstanden sein, obwohl sie auf verschiedenen Papieren überliefert sind. Dafür sprechen nicht nur die gleiche Tintenfarbe und Federbreite, sondern auch das eigentümliche Schriftbild (vgl. Abb. 9), das sie von allen übrigen Stücken unterscheidet.78 Unter den Textträgern der Lessing-Sammlung Nr. 1±30 gibt es allerdings zwei Fälle, die auf komplexere Entstehungszusammenhänge schließen lassen. Hierzu gehören zum einen LS 7, 9, 11, 17 und 19, zum anderen LS 2±5, 13, 21, 23 und 24. Wenden wir uns zunächst der erstgenannten Gruppe zu. Wie oben bereits erwähnt, sind LS 9, 11, 17 und 19 auf beschnittenen Blättern überliefert, die aus ein- und demselben Heft stammen. Aufgrund der vorhandenen Leimreste und Heftspuren lässt sich sogar nachweisen, dass zumindest die letzten drei Doppelblätter zur gleichen Lage gehörten. Weil Tintenfarbe, Federbreite und Duktus aller vier Stücke nahezu identisch sind, müssen sie innerhalb relativ kurzer Zeit 75 76 77
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Vgl. ebd., S. 34f. Dadurch dürfte etwa die Ähnlichkeit im Schriftbild zwischen der Reinschrift des Laokoon und den Entwürfen auf A la Mode-Papier zu erklären sein. Diese These fand ich bei meinen Untersuchungen der erhaltenen Briefhandschriften Lessings an der Staatsbibliothek zu Berlin ± Preußischer Kulturbesitz, der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und der Biblioteka Uniwersytecka Wrocáaw bestätigt. In ca. 95% aller Fälle hat Lessing Briefe, deren Schriftbild, Tinte und Papier identisch sind ± bei den überlieferten Autographen eher eine Seltenheit ±, innerhalb weniger Wochen oder Monate, manchmal sogar weniger Tage verfasst. Daher bezeichnet Blakert LS 15 zu Unrecht als ein »Paralipomenon dubium«, das »möglicherweise aus dem Corpus der Paralipomena ausgeschlossen werden« muss (Blakert [Anm. 5], S. 87). Dagegen spricht auch der bereits erwähnte Umstand, dass dieses Stück auf demselben Papier überliefert ist wie die Reinschrift des Laokoon.
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entstanden sein. Im weiteren Umkreis dieser vier Textträger wird man auch LS 7 ansiedeln dürfen, denn einerseits ist das Schriftbild auffallend ähnlich und andererseits besteht dieser grundlegende Entwurf, der zum ersten Mal auf die Ende 1763 erschienene Geschichte der Kunst des Alterthums von Johann Joachim Winckelmann79 Bezug nimmt, aus Heftblättern derselben Papiersorte wie LS 11, 17 und 19. Sollte eine künftige Laboranalyse einmal bestätigen, dass die Tinte dieser vier Stücke, die mit bloßem Auge identisch aussieht, tatsächlich dieselbe ist, wird man von den bisherigen Datierungen freilich abrücken müssen.80 Muncker nämlich datiert LS 7 in den Winter bzw. Frühling 1763/64,81 LS 19 hingegen erst in den Herbst 1765.82 Sehr viel wahrscheinlicher jedoch dürften LS 9, 11, 17 und 19 alle im Herbst 1764 entstanden sein. Da der letztgenannte Entwurf Winckelmanns Nachrichten von den neuesten Herculanischen Entdeckungen voraussetzt, die erst zur Michaelismesse 1764 erschienen sind, verfügen wir hierfür über einen Terminus post quem. Die Abfassung von LS 7 hingegen könnte einige Wochen oder Monate früher erfolgt sein, im Sommer desselben Jahres etwa, aber kaum schon im Winter 1763/64. Im Wesentlichen hängt die zeitliche Einordnung dieses Überlieferungsträgers von der Interpretation einer bestimmten Textstelle ab. Das Hauptargument für die frühe Datierung des Stückes ist nämlich der Umstand, dass der zweite Abschnitt, der ebenso wie der erste mit einer breiteren Feder geschrieben ist als die folgenden, von einer »Vermuthung« spricht, »die W[inckelmann] in s[einer] G[eschichte] d[er] Kunst vermuthlich aufklären wird«,83 während der dritte bis sechste Abschnitt die Lektüre des Werkes bereits voraussetzen. Daher wird bis heute allgemein angenommen, der erste und zweite Abschnitt von LS 7 sei vor dem Erscheinen der Kunstgeschichte verfasst worden, die übrigen erst danach.84 Der handschriftliche Befund allerdings macht diese Hypothese eher unwahrscheinlich. Denn trotz unterschiedlicher Federbreite ist die Tintenfarbe auf allen drei Blättern dieselbe,85 auch Schriftgröße und Duktus sind auffallend 79 80
81 82 83 84 85
Obwohl das Titelblatt 1764 als Jahr der Drucklegung angibt, wurde Winckelmanns Kunstgeschichte bereits Ende 1763 ausgeliefert. Lessings Tintenverbrauch bedarf noch weiterer Erforschung. Bei meinen bisherigen Untersuchungen konnte ich jedoch feststellen, dass genau dieselbe Tintenfarbe in seinen Briefhandschriften selten länger auftritt als sechs bis acht Monate, manche Tinten begegnen sogar nur in einem wesentlich kürzeren Zeitraum. Da sich die am häufigsten auftretenden dunkelbraunen Farbtöne mit bloßem Auge allerdings kaum unterscheiden lassen, wären hier Laboranalysen ein wichtiges Desiderat. Vgl. LM 14, S. 375, Anm. 1; ebenso FA 5/2, S. 641, und Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Karl S. Guthke. München 2008, S. 402. Vgl. LM 14, S. 408f., Anm. 5. LM 14, S. 376. Vgl. Blümner (Anm. 28), S. 98f.; LM 14, S. 375, Anm. 1; FA 5/2, S. 881, sowie Blakert (Anm. 5), S. 88. Hempel (Anm. 23), S. 244, Blümner (Anm. 28), S. 98, und Muncker (vgl. LM 14, S. 375, Anm. 1) nehmen zwar verschiedene Tinten an, doch lässt sich mit bloßem Auge kein Unterschied feststellen. Blakert (Anm. 5), S. 88, beschränkt sich daher auf den Hinweis, »der dritte Abschnitt« sei »mit dünnerer Feder geschrieben« als die vorausgehenden.
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ähnlich. Lessing hat die Feder also möglicherweise nach dem zweiten Abschnitt nur gespitzt oder gewechselt und nach einer kurzen Unterbrechung weitergearbeitet. Auch der von Blümner betonte Umstand, dass der zitierte Relativsatz eine nachträgliche Ergänzung am Blattrand sei, 86 kann die Hypothese nicht belegen, denn dieser Zusatz weist nicht nur genau denselben Duktus auf wie die ersten zwei Abschnitte, sondern ist auch »mit derselben Feder und Tinte«87 geschrieben und muss daher unmittelbar nach der Niederschrift aus einem gewichtigen Grund eingefügt worden sein. Vielmehr wird man also annehmen dürfen, dass sich Lessing bei der Disposition seines Stoffes hier von Anfang an einer »Fiktion«88 bedient, die sich bekanntermaßen auch in LS 8 wiederfindet und somit durch alle Phasen der Textgenese bis zur Druckfassung hindurchzieht.89 Dieser raffinierte Kunstgriff sollte es ihm ermöglichen, im Hauptteil der Laokoon-Abhandlung die erdrückende Stofffülle von Winckelmanns Kunstgeschichte unberücksichtigt zu lassen und ihr Erscheinen erst im XXVI. Abschnitt »durch eine geschickt eingesetzte Camouflage«90 zu inszenieren: »Des Herrn Winckelmanns Geschichte der Kunst der Alterthums, ist erschienen. Ich wage keinen Schritt weiter, ohne dieses Werk gelesen zu haben.«91 Noch ein weiteres Argument spricht gegen die Datierung von LS 7 in den Winter 1763/64. Dazu ist zunächst ein kurzer Blick auf LS 6 notwendig. Dieses Lektüreexzerpt muss nicht nur aus materiellen, sondern auch aus inhaltlichen Gründen kurz vor LS 7 entstanden sein. Denn einerseits ist das Schriftbild auffallend ähnlich und andererseits nimmt gleich der erste Abschnitt von LS 7 ± wie auch Muncker zu Recht konstatiert92 ± mit einer präzisen Stellenangabe Bezug auf die vorletzte Zeile von LS 6, nämlich das »Geschrey des Philoktets. p. 706«93 im zweiten Band des Ilias-Kommentars des Eustathios, den Lessing nach der Ausgabe des Alexander Politus zitiert. 94 Am Entstehungszusammenhang dieser beiden Überlieferungsträger kann also kein Zweifel bestehen. LS 6 aber ist ebenso wie LS 10 auf demselben schlesischen Papier überliefert wie ein Brief Lessings an seinen Vater Johann Gottfried vom 12. Oktober 1764.95 Demnach wird man alle drei Nachlassstücke zum Laokoon in den Sommer oder Herbst 1764 datieren dürfen, jedoch kaum schon in den Frühling oder gar Winter. Diese zeitliche Einordnung würde sich auch mit der oben angenommenen 86 87 88 89 90 91 92
93 94 95
Vgl. Blümner (Anm. 28), S. 98f. LM 14, S. 376, Anm. 4. FA 5/2, S. 662. So auch Hempel (Anm. 23), S. 184f. Vollhardt (Anm. 7), S. 445. Ebd., S. 187. »Da der folgende Entwurf Nr. 7 gleich in den ersten Worten >«@ auf die vorletzte BemerNXQJXQVHUHV=HWWHOVKLQZHLVWPXGLHVHUYRU1U>«@JHVFKULHEHQVHLQ« (LM 14, S. 374, Anm. 1). LM 14, S. 374. Vgl. Blakert (Anm. 5), S. 88. Staatsbibliothek zu Berlin ± Preußischer Kulturbesitz: Lessing-Sammlung Nr. 104. Einzelheiten bei Milde (Anm. 6), S. 202. Abgedruckt in: LM 17, S. 214f.
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Entstehung von LS 9, 11, 17 und 19 decken. Auffällig ist außerdem, dass die genannten Stücke auch inhaltlich zusammengehören, denn bis auf LS 11 behandeln alle Themen der Altertumskunde bzw. antiken Kunst oder beziehen sich auf Winckelmanns Schriften. Doch nun zurück zu den Überlieferungsträgern der zweiten Gruppe. Prinzipiell sehen sich LS 2±5, 13, 21, 23 und 24, die auf demselben A la Mode-Papier überliefert sind wie LS 8 und 16, alle mehr oder weniger ähnlich und heben sich zugleich von den beiden letztgenannten Stücken deutlich ab. Aufgrund gewisser Nuancen in der Schriftgröße, Federbreite und Tintenfärbung gibt es jedoch kleine Differenzen. Besonders ähnlich, ja nahezu identisch erscheinen einerseits LS 3 und 5 sowie LS 23 und 24, andererseits LS 2 und 4 sowie LS 13 (v. a. Blatt 3r) und LS 21, sodass wir davon ausgehen können, dass Lessing zumindest jedes dieser Entwurfpaare innerhalb weniger Wochen verfasst hat. Dabei nehmen LS 2 und 13 eine gewisse Sonderstellung ein, zumal das variierende Schriftbild beider Stücke nahelegt, dass die einzelnen Abschnitte zu verschiedenen Zeiten entstanden sind. Dies kann angesichts des Inhalts auch nicht verwundern, denn in beiden Fällen haben wir es mit größeren Sammlungen von Lektürenotizen zu tun, die Lessing vermutlich über einen längeren Zeitraum hinweg aufgezeichnet hat. Vor diesem Hintergrund muss die große Ähnlichkeit der genannten acht Überlieferungsträger allerdings umso mehr verblüffen. Denn bei LS 2±5 handelt es sich dem Inhalt nach doch um sehr frühe Entwürfe, die von der gängigen Forschungsmeinung alle in das Jahr 1763 datiert werden, 96 während sich LS 21, 23 und 24 auf Themen beziehen, die für die geplante Fortsetzung des 1766 erschienenen Ersten Teils vorgesehen waren. Wie lässt sich also der handschriftliche Befund mit diesem Umstand in Einklang bringen? Eine erste mögliche Antwort bietet der zentrale Entwurf LS 8. Dieser schematische Gesamtaufriss, der sowohl aus inhaltlichen Gründen als auch aufgrund der materiellen Gegebenheiten nach LS 7, aber vor der Reinschrift des Laokoon entstanden sein muss, ist bekanntlich nicht in drei ¾Theile½, sondern in drei ¾Abschnitte½ samt einem ¾Anhang½97 gegliedert. Offensichtlich hatte Lessing in 96
97
Lachmann/Muncker zufolge fällt die Aufzeichnung von LS 2 »spätestens in den Frühling 1763«, da »einige dieser Anmerkungen hernach« in LS 3 »verwertet wurden« (LM 14, S. 338, Anm. 3). Den zentralen Entwurf LS 3 arbeitete Lessing »vermutlich im Frühling >«@DXVXQGEUDFKWHLKQLP6RPPHU« (ebd., S. 342, Anm. 1), als er in Begleitung Tauentziens von Mitte Juli bis Anfang Oktober in Potsdam weilte (vgl. Albrecht [Anm. 61], S. 48), »den Berliner Freunden, die wohl damals sogleich seine Skizze mit mannigfachen Randbemerkungen versahen« (LM 14, S. 342, Anm. 1). LS 4 muss ebenso »noch im Frühling 1763« (ebd., S. 371, Anm. 3) entstanden sein, da dieser Entwurf ein Beispiel zum unkorrigierten Abschnitt VIII von LS 3 enthält. LS 5 hingegen dürfte »entweder noch in die Potsdamer Sommerwochen oder in die nächstfolgende Zeit, den Herbst 1763 oder spätestens den Winter 1763/64, fallen«, weil der Text gleich »mit den ersten Worten auf mündliche Unterredungen Lessings mit den Berliner Freunden« hinweist, »die ZLU ZRKO ]ZHLIHOORV LQ GLH =HLW VHLQHV 3RWVGDPHU $XIHQWKDOWV >«@ ]X YHUOHJHQ KDEHQ« (ebd., S. 371f., Anm. 7). Ursprünglich war der Anhang mit »Vierter Abschnitt« überschrieben. Vermutlich unmittelbar nach der Niederschrift der (ersten) Unterpunkte hat Lessing diesen Titel jedoch aus-
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dieser Phase der Konzeption also noch vor, das gesamte skizzierte Material in einem einzigen Band zu veröffentlichen, der drei große Abschnitte mit mehreren Unterkapiteln und einen Anhang enthalten sollte. Ist man daher nicht zu der Annahme berechtigt, dass zumindest einige der uns überlieferten Vorarbeiten, die thematische Bezüge zum zweiten und dritten Abschnitt aufweisen, bereits im Umfeld von LS 8 verfasst wurden, ja möglicherweise sogar schon vorlagen, als Lessing das erste große Gesamtkonzept zu Papier brachte? Wenn wir zwei der genannten Textträger näher betrachten, wird diese Hypothese nicht nur plausibel, sondern sogar sehr wahrscheinlich. Beginnen wir mit LS 23. Dieses Stück ist für die Entstehungsgeschichte des Laokoon in mehrfacher Hinsicht äußerst aufschlussreich. Wie oben bereits erwähnt, umfasst LS 23 ein Doppelblatt und zwei Einzelblätter. Kurioserweise bestehen jedoch nur die ersten zwei Blätter aus A la Mode-Papier, während sich das letzte anhand des Wasserzeichens als regionales Papier aus der niederschlesischen Mühle Alt-Friedland identifizieren lässt. Untersucht man nun die Beschriftung des eigenartigen Überlieferungsträgers, so stellt man fest, dass sich das Schriftbild der letzten drei Seiten98 sowie einer längeren Anmerkung in der rechten Spalte von Blatt 1r99 deutlich vom Fließtext der ersten Blätter abhebt: Die Schriftgröße ist wesentlich kleiner und der Duktus ganz anders ± den Textträgern LS 8 und 16 verblüffend ähnlich, wie ein Vergleich ergibt. Zweifellos handelt es sich hier also um spätere Ergänzungen, die Lessing vermutlich erst im Umfeld des schematischen Gesamtaufrisses LS 8 nachgetragen hat. Demnach müsste der Großteil von LS 23 also schon vor LS 8 entstanden sein. Dafür sprechen in der Tat auch andere Gründe: Erstens deutet das Papier des letzten Einzelblattes darauf hin, dass LS 23 noch in Breslau abgeschlossen wurde, also auf alle Fälle vor Mitte April 1765. Die Jahreszahl 1749 im Wasserzeichen scheint sogar eine noch frühere Datierung nahezulegen, allerdings sollte man sich davon nicht irreführen lassen. Denn auch wenn in der Zeit vom dreizehnten bis zum sechzehnten Jahrhundert ein »Papier normalerweise spätestens vier Jahre nach seiner Herstellung verbraucht«100 wurde, konnte es ab dem 17. Jahrhundert aufgrund der veränderten Produktionsverhältnisse, Handelsbedingungen und Lagerfristen zu wesentlich größeren Diskrepanzen kommen.101 Außerdem verweist diese Jahreszahl möglicherweise gar nicht auf das Herstellungsdatum, sondern auf zwei grundlegende Verordnungen für schlesische Papiermühlen, die am 28. Januar und 8. März 1749 erlassen wurden.102 Somit könnte das Papier auch erst später geschöpft worden sein. Da die Nachträge zu LS 23 ± und
98 99 100 101 102
gestrichen und durch »Anhang« ersetzt. Vgl. dazu auch Hempel (Anm. 23), S. 184, Anm., sowie Blümner (Anm. 28), S. 90, Anm. 1. Vgl. LM 14, S. 420, Z. 7 ± S. 422, Z. 23. Vgl. LM 14, S. 416, Z. 24ff., und S. 417, Z. 25±34. Bockelkamp (Anm. 44), S. 55. Vgl. ebd., S. 55f. Vgl. Weiß (Anm. 57), S. 80, der auch von anderen Fällen der Anbringung einer Jahreszahl als Datum einer Papiermüllerordnung oder eines wichtigen Erlasses berichtet.
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wohlgemerkt nur sie ± wiederholt auf Winckelmanns Geschichte der Kunst Bezug nehmen, kann sie Lessing nicht vor 1764 ergänzt haben, andererseits aber auch nicht sehr viel später, weil er bereits um den 22. April 1765 Breslau verließ.103 Die Urfassung von LS 23 hingegen ist schon aus materiellen Gründen um einiges früher anzusetzen. Da sie aber zumindest die reflektierten und kommentierten Kernsätze von LS 3 voraussetzt und dieser Entwurf aus biographischen Gründen wohl in den Sommer 1763 zu datieren ist, 104 ergibt sich daraus ein plausibler Terminus post quem. Auch die intertextuellen Bezüge deuten in diese Richtung, denn in der ältesten Textstufe werden neben vier ausschließlich in LS 23 herangezogenen Quellen (Antipatros von Sidon, Torquato Tasso, Scipione Gentili und Johan van Wouwer) nur Homer, Vergil, Anne Dacier und der Comte de Caylus zitiert, die alle bereits in LS 1 und 3 begegnen. Somit könnte die Urfassung von LS 23 also durchaus schon bald nach LS 3 und noch vor LS 8 entstanden sein. Dem handschriftlichen Befund nach muss dasselbe für LS 24 gelten. Denn dieses Stück stimmt nicht nur in allen materiellen Merkmalen genau mit den A la Mode-Blättern von LS 23 überein, sondern enthält auf Blatt 2v auch noch einen späteren Zusatz,105 dessen Schriftbild den nachträglichen Ergänzungen von LS 23 gleicht. Was kann also näher liegen als die Annahme, dass Lessing beide Entwürfe großteils schon vor LS 8 niedergeschrieben hat? Sollte man dann aber aufgrund der auffallenden Ähnlichkeit nicht davon ausgehen, dass auch LS 2±5 sowie LS 13 und 21 im weiteren Umfeld von LS 23 und 24 entstanden sind? Freilich wären Erstere aus inhaltlichen Gründen etwas früher anzusetzen als Letztere, aber aller Wahrscheinlichkeit nach liegen dazwischen nicht drei Jahre, wie Muncker annimmt, sondern nur wenige Monate, wobei natürlich der oben erwähnte Sonderstatus von LS 2 und 13106 zu beachten ist. Vermutlich werden erst künftige Analysen hier endgültige Gewissheit bringen, aber der handschriftliche Befund legt zumindest nahe, dass alle genannten Stücke noch vor LS 8 und 16 aufgezeichnet wurden. Möglicherweise hat Lessing auch einen Großteil der übrigen uns überlieferten Vorarbeiten, die inhaltliche Bezüge zum zweiten und dritten Abschnitt von LS 8 aufweisen, im Umfeld dieses ersten großen Gesamtaufrisses verfasst. Leider lassen die materiellen Gegebenheiten hier vorerst keine eindeutigen Schlüsse zu. Aber immerhin spricht das Schriftbild von LS 22 dafür, dass auch dieser Entwurf schon vor LS 8, nämlich im Umfeld der oben erwähnten Textträger LS 7, 9, 11, 17 und 19 entstanden ist. Sehr schwer fällt jedoch die Einordnung von LS 25, 26 und 28. Alle drei sind auf demselben Papier überliefert und weisen die gleiche Tintenfarbe sowie Ähnlichkeiten im Schriftbild auf, was immerhin auf einen gemein103 104 105 106
Vgl. Albrecht (Anm. 61), S. 51. S. o. Anm. 96. Vgl. LM 14, S. 424, Z. 31 ± S. 425, Z. 2. Da LS 13 u. a. kommentierte Exzerpte aus den Nouveaux mémoires, ou observations sur O¶,WDOLH HW VXU OHV ,WDOLHQV (1764) von Pierre-Jean Grosley enthält, können zumindest die Notizen ab Blatt 4r frühestens aus dem Jahr 1764 stammen.
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samen Entstehungszeitraum schließen lässt. Aber von der tektonischen Gesamtwirkung her unterscheiden sich diese drei Entwürfe von allen übrigen Nachlassstücken zum Laokoon. Nur Schriftgröße und Duktus von LS 25 zeigen eine gewisse Nähe zu LS 24, doch darf man diesen Sachverhalt allein noch nicht als zuverlässiges Indiz werten. Da das Wasserzeichen keine Kontermarke hat, bietet auch das Papier keinerlei Anhaltspunkte für eine mögliche Datierung. Etwas günstiger ist die Lage dafür im Falle von LS 27 und 29. Beide scheinen mit derselben Feder und im gleichen flüchtigen Duktus niedergeschrieben zu sein. Da LS 27 auf demselben Papier überliefert ist wie die Reinschrift des Laokoon, kann Lessing diesen Entwurf frühestens in ihrem Umfeld verfasst haben. Damit stimmt auch der Terminus post quem von LS 29 überein, der sich auf den 20. Dezember 1765 festsetzen lässt, weil der Text auf die 1763±1765 in Rom erschienene, dreibändige Vergil-Ausgabe von Antonio Maria Ambrogi Bezug nimmt, deren letzter Band eine auf eben diesen Tag datierte Widmung enthält.107 Freilich können beide Stücke auch erst etwas später entstanden sein. Ähnliches gilt für das schematische Konzept LS 20 zum geplanten »II. Theil«, dessen mit XXX beginnende Abschnittszählung zumindest die Reinschrift voraussetzt. Das Wasserzeichen ± ein gekröntes Zepter zwischen Zweigen, der sog. ¾%UDQGHQEXUJVWDE½ PLW GHQ GRSSSHOVWULFKLJHQ $QWLTXD-Versalien JI C NG als Kontermarke ± spricht immerhin dafür, dass Lessing diese Inhaltsskizze noch vor seiner Abreise am 5. April 1767 in Berlin verfasst hat, denn das charakteristische Zepter-Wasserzeichen lässt sich der Mark Brandenburg zuordnen.108 Schon aus inhaltlichen Gründen von allen Nachlassstücken am spätesten anzusetzen ist LS 30, jene französische Übersetzung der Vorrede, in der eine Umarbeitung und Fortsetzung des »il y a quelques années«109 erschienenen Ersten Teils in Aussicht gestellt wird. Muncker datiert diesen Entwurf mit Erich Schmidt in das Jahr 1770,110 »weil Lessing am 5. Januar 1770 seinem Verleger >«@GLH$EVLFKWPLWWHLOWLQ:ROIHnbüttel sogleich wieder ernstlich an den Laokoon zu gehen«.111 Der Manuskriptbefund legt jedoch nahe, dass LS 30 noch später entstanden ist. Denn erstens sind die Schriftzüge regelmäßiger, runder und steiler als bei den übrigen Textträgern der Lessing-Sammlung Nr. 1±30, die Passagen in lateinischer Kursive enthalten. Zweitens wirkt die Tintenfarbe blasser und gleicht interessanterweise mehreren Schriftstücken, die Lessing erst nach 1770 verfasst hat.112 Auch der Duktus weist gewisse Ähnlichkeiten auf.
107 108
109 110 111 112
Vgl. FA 5/2, S. 913. Vgl. Friedrich von Hössle: Alte Papiermühlen der Provinz Brandenburg. In: Der PapierFabrikant 31/1 (1933), S. 1±4, hier S. 1f. Abb. 2 und 3 ebd. zeigen zwei ähnliche ZepterWasserzeichen aus Brandenburg. LM 14, S. 439. Vgl. Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. 2 Bde. Berlin 1884±1886, hier Bd. 2, S. 56. LM 14, S. 436f., Anm. 4. Dazu gehören neben einigen Briefen auch Teile der Reinschrift der Emilia Galotti (Deutsche Staatsbibliothek zu Berlin ± Preußischer Kulturbesitz: ms. germ. quart. 505; Access.
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Drittens begegnet das Papier von LS 30, das in der Berliner Sammlung ein Einzelgänger ist, auch in einem Brief Lessings an Johann Joachim Eschenburg vom 4. Januar 1774113 sowie einem Sammelblatt, auf dem u. a. der Entwurf Nr. 22 Zur Geschichte der Aesopischen Fabel überliefert ist.114 Muncker datiert diese Vorarbeit ungefähr in das Jahr 1779.115 Allerdings kann die älteste Textstufe des offensichtlich mehrmals verwendeten Papiers durchaus schon einige Jahre früher entstanden sein, denn diese besteht lediglich aus vier Zeilen Fabelnummern, die nur noch zum Teil erhalten sind, weil Lessing das Blatt für eine spätere Wiederverwertung stark beschnitten hat.116 Anhand des zweiteiligen Wasserzeichens mit dem Antiqua-Schriftzug ¾GROVE½ als Kontermarke117 lässt sich das Papier Emanuel Siegmund Grove zuordnen, der von 1745 bis 1795 in der ca. 40 km südlich von Wolfenbüttel gelegenen Papiermühle Veckenstedt tätig war.118 Alles spricht also dafür, dass Lessing die französische Übersetzung der Vorrede erst im letzten Jahrzehnt seines Lebens in Angriff genommen hat ± vermutlich um 1774, wie die vergleichende Papieranalyse suggeriert. Immerhin ist uns aus diesem Zeitraum ein ± bislang wenig beachtetes ± briefliches Zeugnis zum Laokoon-Projekt überliefert, zwar nicht von Lessing selbst, wohl aber von Karl Gotthelf, der über das literarische Schaffen seines Bruders in der Regel recht gut informiert war, sei es durch persönlichen (Brief-) Kontakt oder durch Berichte Dritter. Am 7. Januar 1775 schreibt er: »Den Laokoon, hat man mir gesagt, hättest Du umgearbeitet bis zu Ende, und er würde bald gedruckt zu lesen seyn«.119 Sollte man hier keine Verbindung zur französischen Vorrede herstellen dürfen, in welcher der Autor verspricht: »Je vais le UHGLJHUGHQRXYHDXHWG¶HQGRQQHUODVXLWHHQ)UDQFRLV«?120 Nicht nur eine Umarbeitung, sondern auch eine Vollendung durch Fortsetzung wird in Aussicht gestellt. Genau darauf spielt auch Karl Gotthelf an, der durch Freunde von dem
113 114 115 116
117 118 119 120
No. 2424) sowie Ernst und Falk (Deutsche Staatsbibliothek zu Berlin ± Preußischer Kulturbesitz: Lessing-Sammlung Nr. 38). %LEOLRWHND8QLZHUV\WHFND:URFáDZ,9)G1UEinzelheiten bei Milde (Anm. 6), S. 259. Abgedruckt in: LM 18, S. 97ff. %LEOLRWHND8QLZHUV\WHFND:URFáDZ,9)G1UEinzelheiten bei Milde (Anm. 6), S. 256. Nur teilweise abgedruckt in: LM 16, S. 187f. Vgl. LM 16, S. 187, Anm. 12. Die bei LM nicht abgedruckten Fabelnummern der ältesten Textstufe befinden sich kopfstehend am linken unteren Rand von Bl. 1r: 13. 39. | 24 66. | 31. 51. 72 | 42. 63. 87. Als Lessing später Notizen und Vorarbeiten für den erst postum erschienenen Aufsatz Ueber die sogenannten Fabeln aus den Zeiten der Minnesinger. Zweyte Entdeckung anfertigte, war er offensichtlich in Papiernot und verwendete das Blatt wieder, indem er es um 180° drehte, ca. ein Drittel davon abriss und zunächst die leere Rückseite, dann auch die obere Hälfte der Vorderseite beschrieb. Auf beiden Seiten befinden sich außerdem noch später ergänzte Fabelnummern und Federproben in verschiedenen Tintenfarben und Rötel. Die Tinte der ältesten Textstufe wirkt ähnlich blassbraun wie jene von LS 30. Belegt im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig, Papierhistorische Sammlungen, Signatur II 476/0. Vgl. ebd. LM 21, S. 51. LM 14, S. 440.
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Vorhaben seines Bruders erfahren haben mag, freilich ohne über Einzelheiten informiert zu sein. Bekanntermaßen sprach Lessing gerne mit anderen über seine Arbeiten und gab sie nicht selten als nahezu druckfertig aus, sobald er nur ein Konzept oder einige Seiten Manuskript vorweisen konnte.121 Man darf die Nachricht Karl Gotthelfs also nicht vorschnell als »Irrthum«122 abtun, zumal Lessing gerade in den letzten Monaten des Jahres 1774 bemüht war, »reinen Tisch«123 zu machen und Liegengebliebenes aufzuarbeiten. Sollten künftige Analysen bestätigen, dass die Entstehungszeit von LS 30 tatsächlich in den Winter 1774/75 fällt, wäre dadurch jedenfalls leicht zu erklären, warum das Projekt unvollendet blieb: Eine starke seelische Depression,124 die Arbeiten an den Philosophischen Aufsätzen von Karl Wilhelm Jerusalem und vor allem die am 10. Februar 1775 angetretene Reise über Leipzig, Berlin, Dresden und Wien nach Italien125 hinderten Lessing an der Fortsetzung. Freilich mögen darüber hinaus auch inhaltliche Gründe eine Rolle gespielt haben.126 Vielleicht wird es der Forschung einmal gelingen, auch die erste Nummer der Lessing-Sammlung genauer zu datieren. Aus inhaltlichen und materiellen Gründen steht allerdings schon jetzt steht fest, dass LS 1 der älteste erhaltene Entwurf zum Laokoon sein muss.127 Einerseits ist evident, dass dieses Stück als zum Teil fast wörtlich übernommene Vorlage für LS 3 gedient hat. Andererseits suggeriert der handschriftliche Befund eine deutlich frühere Entstehung als die der folgenden Entwürfe, da sich die tektonische Gesamtwirkung sowohl von LS 3±5 als auch von LS 7, 9, 11 und 19 deutlich unterscheidet und das Wasserzeichen des in der Berliner Sammlung einzigartigen Papiers den Schriftzug ¾Breslau 1760½ enthält. Schon die äußere Form weist LS 1 als frühen Entwurf aus, in dem Lessing möglicherweise seine ersten Gedanken zum LaokoonProjekt festgehalten hat. Dafür sprechen nicht nur die häufigen Sofortkorrekturen gleich auf der ersten Seite, sondern auch die auf ungewöhnliche Weise beschnittenen Bögen, die ganz nach Konzeptpapier aussehen: Blatt 2 wurde bis auf einen ca. 5 cm breiten Rand völlig abgetrennt und von Blatt 3 fehlt die 121
122 123 124 125 126
127
Vgl. Elke Bauer: Der Buchdruckerjunge aber klopfte und verlangte Manuscript. Lessings Arbeitsweise und ihre mögliche Konsequenz für eine historisch-kritische Ausgabe. In: AuWRUHQ XQG 5HGDNWRUHQ DOV (GLWRUHQ ,QWHUQDWLRQDOH )DFKWDJXQJ >«@ YHUDQVWDOWHW YRQ GHU Klassik Stiftung Weimar. Hg. von Jochen Golz und Manfred Koltes. Tübingen 2008 (Beihefte zu editio 29), S. 130±143, hier S. 133f. Blümner (Anm. 28), S. 105. Brief an Karl Gotthelf Lessing, 11. November 1774. In: LM 18, S. 117. Vgl. Albrecht (Anm. 61), S. 95. Vgl. ebd., S. 97±102. Vgl. dazu Hugh Barr Nisbet: Über die Unvollständigkeit von Lessings Laokoon. In: Zwischen Aufklärung und Romantik. Neue Perspektiven der Forschung. Festschrift für Roger Paulin. Hg. von Konrad Feilchenfeldt u. a. Würzburg 2006, S. 371±385. So auch die gängige Forschungsmeinung seit Hempel und Blümner (Anm. 28), S. 75f. Da der Hempelsche Herausgeber LS 1 als »Brouillon zu jenem Ur-Entwurf« LS 3 bezeichnet, wurde dies teilweise dahingehend missverstanden, dass er LS 3 als den älteren Überlieferungsträger ansehe. Aus der »Vorbemerkung des Herausgebers« geht jedoch klar hervor, dass er genau das Gegenteil annimmt (vgl. Hempel [Anm. 23], S. 183).
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rechte obere Ecke (ca. 12,5 × 8,7 cm). Dies ist für den »Ästheten Lessing«128 durchaus eine Seltenheit und begegnet in der Berliner Sammlung kein zweites Mal. Außergewöhnlich ist auch die Beschriftung von LS 1, die auf eine komplexe Entstehungsgeschichte schließen lässt. Während die Blätter 1r und 3r einspaltig ganz beschrieben sind, stehen auf Blatt 1v in der linken Spalte nur dreizehn Zeilen und in der rechten vier. Die Innenseite des zweiten Doppelblattes hingegen ist völlig leer, und von Blatt 4v wurde nach zweimaliger mittiger Faltung des Bogens die untere Hälfte quer beschriftet. Auch die wechselnde Tintenfärbung und Federbreite sowie Differenzen im Duktus deuten darauf hin, dass die einzelnen Passagen zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sein müssen. Insgesamt kann man sechs Textstufen ausmachen, denen sich sechs verschiedene Abschnitte zuordnen lassen, wobei die materiellen Merkmale der letzten drei so ähnlich sind, dass hier von einem besonders engen Entstehungszusammenhang auszugehen ist: Der erste und längste Abschnitt,129 der zugleich der älteste sein muss, umfasst die bereits auf den Druck von 1766 vorausweisenden Kernsätze über »Poesie und Mahlerey«,130 und der zweite131 schließt auf Blatt 1r unten mit einigen Schlussfolgerungen und Zitaten aus Ovids Metamorphosen daran an, während der dritte132 in der rechten Spalte auf der Rückseite nur zwei Beispiele für »Homerische Beywörter«133 bringt. Der vierte Abschnitt134 auf Blatt 3r dürfte nach dem Schriftbild zu schließen etwas später entstanden sein und enthält Überlegungen zur Darstellbarkeit von Schönheit und Hässlichkeit in Dichtung und Malerei, der fünfte135 auf Blatt 4v, der durch einen langen Querstrich vom folgenden getrennt ist, verweist auf zwei Beschreibungen von Unsichtbarkeit in Homers Ilias und der sechste136 besteht aus zwei Lektüreexzerpten aus demselben Epos, die nun aber mit den im Erstdruck wiederholt zitierten Tableaux tirés de l¶Iliade, de l'Odyssée d¶Homère et de l¶Enéide de Virgile (1757) des Comte de Caylus und der Ilias-Übersetzung von Anne Dacier (1711) verglichen werden. Für die Genese des Laokoon-Projekts ist dieser Urentwurf insofern aufschlussreich, als er zeigt, dass ganz am Anfang die deduktive Entwicklung der Gedanken steht, die aus der semiotischen Verschiedenheit von Dichtung und Malerei die »besondern Regeln für eine jede«137 herleitet, während die Beispiele erst später hinzutreten. In der Druckfassung hingegen hat sich Lessing für den umgekehrten Weg entschieden. Beachtlich ist aber dennoch, dass bereits diese erste
128 129 130 131 132 133 134 135 136 137
Bauer (Anm. 121), S. 131. Vgl. LM 14, S. 334, Z. 2 ± S. 335, Z. 29. Ebd., S. 334. Vgl. ebd., S. 335, Z. 30 ± S. 336, Z. 19. Vgl. ebd., S. 336, Z. 20±23. Ebd., S. 336. Vgl. ebd., S. 336, Z. 24 ± S. 337, Z. 29. Vgl. ebd., S. 337, Z. 30 ± S. 338, Z. 2. Vgl. ebd., S. 338, Z. 3±16. Ebd., S. 334.
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Skizze alle »wesentlichen Begriffe und Theorien des abgeschlossenen Werks enthält«.138
4. Bisherige Ausgaben und Editionsvorschläge Vergleicht man nach der obigen Analyse der Textträger nun die LaokoonEditionen der vergangenen zwei Jahrhunderte, so muss man feststellen, dass der handschriftliche Befund bisher noch von keinem Herausgeber ausführlich beschrieben, geschweige denn als Datierungshilfe für die Nachlassstücke herangezogen worden ist. Selbst Muncker beschränkt sich in seiner historisch-kritischen Ausgabe auf einige wenige Angaben zu Papier oder Beschriftung in den Fußnoten. Dieser Umstand mag zum einen durch die damalige Editionspraxis zu erklären sein, zum anderen aber auch durch die Schwierigkeit einer eindeutigen Interpretation des materiellen Befundes, zumal zu einer Zeit, da man noch nicht auf die Erkenntnisse der heutigen Papierforschung, Filigranologie und Kodikologie zurückgreifen konnte. Die Herausgeber, die von den jeweiligen Eigentümern der Laokoon-Papiere die Erlaubnis erhielten, die Handschriften einzusehen, standen somit zunächst vor einem Wust mehr oder weniger zusammenhangloser Autographen, die es galt in eine sinnvolle Ordnung zu bringen. Wie aus der Überlieferungsgeschichte hervorgeht, war weder der Umfang des Textkorpus klar definiert, noch eine brauchbare Nummerierung vorgegeben. Von daher sah sich jeder Editor vor die große Aufgabe gestellt, über Zahl und Anordnung der Stücke nach mehr oder weniger plausiblen Gründen von neuem zu entscheiden. Dass sie dabei zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen gelangt sind (vgl. Tabelle 3), kann angesichts der Voraussetzungen nicht verwundern. 139 Der erste, der sich der Herausforderung stellte, war Karl Gotthelf Lessing. Ihn interessierte vor allem die geplante Fortsetzung des 1766 erschienenen Ersten Teils. Deshalb veröffentlichte er im Anhang seiner Ausgabe von 1788 140 nur »das Vorzüglichste«, das er »zur Fortsetzung desselben in den hinterlassenen Handschriften« seines Bruders gefunden hatte,141 insgesamt sechzehn der in der heutigen Lessing-Sammlung überlieferten Stücke: LS 4, 14, 15 und 18±28 sowie LS 5142 und 13143 teilweise. Zudem nahm er noch zwei auf den Laokoon bezogene Einträge aus den Collectanea144 auf ± allerdings in umgekehrter Rei138 139 140 141 142 143 144
Nisbet (Anm. 81), S. 401. Vgl. zu den folgenden Ausführungen auch die ± stellenweise korrekturbedürftigen ± Angaben bei Blakert (Anm. 5), S. 80ff. K. G. Lessing (Anm. 54), S. 299±380. Ebd., Bl. *5r (»Nachricht des Herausgebers zu dieser 2ten Auflage«). LS 5 ist ab »Ich verbessere meine Eintheilung der GegensWlQGH«©YJO/06 371, Z. 23) in LS 20 nach Abschnitt XLIII eingeschaltet. Abgedruckt sind ± nach inhaltlichen Kriterien auf drei verschiedene Kapitel verteilt (s. Tabelle 3) ± die Abschnitte 1, 4f., 7, 18f., 25 und 28±30 (vgl. LM 14, S. 386±397). Dabei handelt es sich um die Abschnitte »Laocoon« (vgl. LM 15, S. 285f.) und »Laokoon s. vorhergehende Seite« (vgl. LM 15, S. 286), die sich auf S. 241 und 242 von Lessings
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henfolge und ohne jeden Hinweis auf die Herkunft der Texte. Da er bestrebt war, aus dem selektierten Material einen möglichst umfangreichen zweiten Teil zu konstituieren, ordnete er die Texte willkürlich nach Kapiteln an und nahm auf Überlieferungszusammenhänge vielfach keine Rücksicht. Dieser schon von Zeitgenossen kritisierten Darbietungsweise versuchte Karl Lachmann 1839 eine bessere gegenüberzustellen, indem er im elften Band der von ihm besorgten Neuauflage der Sämmtlichen Schriften die Entwürfe »Zum Laokoon«145 in der Gestalt abdruckte, wie sie in den einzelnen Konvoluten überliefert sind. Allerdings veröffentlichte auch er nicht alle nachgelassenen Texte, sondern nur neunzehn Nummern der heutigen Lessing-Sammlung zuzüglich der von Karl Gotthelf eingeschleusten Einträge aus dem Collectaneenband.146 Insgesamt vermehrte er seine Ausgabe um drei Nachlassstücke, nämlich LS 3, 8 und 30, wobei er von ersterem nur die Abschnitte I bis IV mit den Anmerkungen von Mendelssohn aufnahm und mitten im vierten Absatz mit einem »u. s. w.« abbrach. Der erste vollständige Abdruck aller nachgelassenen Laokoon-Papiere erfolgte endlich 1869 im Sechsten Theil von /HVVLQJ¶V:HUNHQ,147 der bei Gustav Hempel in Berlin erschien. Diese Edition vereinigt im Anhang zum Ersten Teil des Laokoon nicht nur alle Handschriften der Lessing-Sammlung Nr. 1±30 in ungekürzter Fassung, sondern auch LS 48 148 sowie die beiden Einträge aus den Collectanea.149 Außerdem sind die Texte erstmals nach klar definierten Kriterien150 systematisch geordnet: Während die Anordnung der zentralen Entwürfe LS 3, 7, 8 und 20, die der Hempelsche Herausgeber unter den Nummern 1 bis 4 den übrigen Stücken voranstellt, entstehungschronologischen Gesichtspunkten folgt, ist für die verbleibenden Texte die werkimmanente Chronologie ausschlaggebend, wie sie sich aus dem Erstdruck sowie den Inhaltsskizzen LS 8 und 20 für das auf drei Teile angelegte Gesamtprojekt ergibt. Dieses komplexe Ordnungssystem wurde, zumindest in seiner Grundidee, auch für die folgenden Editionen richtungsweisend.
145 146
147 148 149
150
Collectaneenband befinden. Karl Gotthelf fasst beide Texte unter der Kapitelüberschrift »Einzelne Gedanken zur Fortsetzung meines Laokoons« (K. G. Lessing [Anm. 54], S. 370) zusammen und schaltet nach dem zweiten Eintrag, den er an erster Stelle abdruckt, noch den vierten Abschnitt von LS 13 (vgl. LM 14, S. 388f.) ein. Lachmann (Anm. 22), S. 125±169. Auch Lachmann gibt keinen Hinweis auf die Herkunft der Texte, die er in derselben Reihenfolge und unter der gleichen Überschrift abdruckt wie Karl Gotthelf Lessing. Immerhin merkt er in einer Fußnote an: »Dieses Stück findet sich unter Herrn Friedländers Papieren nicht« (ebd., S. 163). Hempel (Anm. 23), S. 192±327. Bei Hempel als Nr. 23a und 23b abgedruckt (vgl. LM 15, S. 87ff.). Die zwei Abschnitte erscheinen bei Hempel unter der Nr. 22 in derselben Reihenfolge wie bei Karl Gotthelf Lessing und Lachmann. In der »Vorbemerkung des Herausgebers« findet sich dazu folgende Erläuterung: »No. 22 fehlt [unter den Berliner Papieren] ganz; Lachmann KDWWH GLHV IHKOHQGH 6WFN >«@ aus den Mittheilungen Karl LeVVLQJ¶V >«@ HUJlQ]W Wahrscheinlich befand es sich unter den Breslauer Papieren« (Hempel [Anm. 23], S. 179). Vgl. ebd., S. 181±186.
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1880 gliederte Hugo Blümner in seiner zweiten Ausgabe von Lessings Laokoon151 die Nachlassstücke in vier Abteilungen: A. »Entwürfe zum Laokoon«, B. »Materialien und Nachträge zum ersten Theil in seiner gegenwärtigen Gestalt«, C. »Materialien zu den Entwürfen« und D. »Vermischte Materialien, Collectanea und Exzerpte«.152 Mit Ausnahme der Rubrik A, die nach entstehungschronologischen Gesichtspunkten geordnet ist, erhob Blümner die Werkchronologie zum absoluten Maßstab für die Reihenfolge seiner Texte 153 und zerriss dadurch die von den Handschriften vorgegebenen Überlieferungszusammenhänge. Dabei verteilte er die Abschnitte ein- und desselben Textträgers nicht nur auf mehrere Nummern innerhalb einer Rubrik, sondern wies sie bisweilen sogar verschiedenen Abteilungen zu. Auch der Umfang der Ausgabe von 1880 übertraf alles Bisherige. Blümner nahm nicht nur sämtliche von Hempel abgedruckten Texte in seine Edition auf, sondern »auch die auf den Laokoon bezüglichen Stellen aus den Entwürfen für die Fortsetzung der antiquarischen Briefe und aus den Collectaneen«.154 Aus dem Entwurf Antiquarische Briefe, dritter Theil und folgende155 fanden die Abschnitte LXVII, LXVIII, LXIX und LXXI156 Eingang in Blümners Ausgabe, aus den Collectanea neben den beiden Notizen zum Laokoon157 einzelne Passagen aus den Einträgen zu »Abraxas«,158 »Addison«,159 »Villa Borghese«,160 »Ideal«,161 »Malerey«,162 »Philoktet«,163 »Poesie«164 und »Schönheit«165 sowie aus der abschließenden Zitatensammlung die Abschnitte »Zum zweyten Th[eil] des Laokoon«166 und »Zum Schluße des
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158 159 160 161 162 163 164 165 166
Zu Hugo Blümner und seiner Ausgabe vgl. den fundierten Beitrag von Wolfgang Adam in diesem Band. Meines Erachtens sind nur Blümners textkritische Leistungen, die Adam durchweg positiv beurteilt, etwas differenzierter zu bewerten. Obwohl Blümner zweifellos bemüht war, einen »gereinigten Text« vorzulegen, hält sich die angestrebte Textbesserung gerade bei den nur im Manuskript überlieferten Nachlassstücken in Grenzen, da er nicht wenige Lesefehler seiner Vorgänger übernommen oder durch neue ersetzt hat. Zur Problematik der Textdarbietung siehe die folgenden Ausführungen. Blümner (Anm. 28), S. 351±478. Vgl. ebd., S. XVIf. Ebd., S. XVIf. Vgl. LM 15, S. 105±113. Bei Blümner als B. 4, 5, 11 und 13 abgedruckt. Bei Blümner unter D. 4 zusammengefasst. Immerhin weist er als erster Herausgeber darauf hin, dass diese Abschnitte »aus den Kollektaneen« (Blümner [Anm. 28], S. 460) stammen, und druckt sie in der dort überlieferten Reihenfolge ab. Bei Blümner B. 9. Vgl. LM 15, S. 127. Bei Blümner B. 20. Vgl. LM 15, S. 131f. Bei Blümner B. 22. Vgl. LM 15, S. 164. Bei Blümner D. 15. Vgl. LM 15, S. 273. Bei Blümner B. 3. Vgl. LM 15, S. 300. Bei Blümner B. 10. Vgl. LM 15, S. 343. Bei Blümner B. 2. Vgl. LM 15, S. 349. Bei Blümner B. 34. Vgl. LM 15, S. 369. Bei Blümner D. 16. Vgl. LM 15, S. 422.
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Laokoon«.167 Somit bot Blümner vierzehn Texte mehr als Hempel, allerdings kamen nur sehr wenige davon vollständig zum Abdruck (vgl. Tabelle 3). Ein wesentlich schmäleres Textkorpus schlug Emil Grosse 1880 in seinem Aufsatz Ueber Lessings Handschrift des Laokoon und den Nachlass zu demselben vor.168 Er betrachtete nur 23 Stücke der heutigen Lessing-Sammlung als auf den Laokoon bezogene Texte,169 zuzüglich der beiden Einträge aus dem Collectaneenband, die schon Karl Gotthelf aufgenommen hatte. LS 6, 9±12, 14 und 15 schied er aus, da diese Entwürfe seiner Meinung nach zu den Antiquarischen Briefen gehören.170 Die übrigen Überlieferungsträger unterteilte er in drei Gruppen: A. »Materialien und Entwürfe zum Laokoon«, B. »Entwurf und Materialien zur Fortsetzung des Laokoon« und C. »Auszüge und vermischte Bemerkungen, z[um] Th[eil] im Laokoon verwerthet«.171 Aus der Anordnung der Stücke lässt sich schließen, dass die leitenden Organisationsprinzipien innerhalb der einzelnen Abteilungen offensichtlich wiederum die Entstehungs- und Werkchronologie waren, allerdings unter wesentlich stärkerer Berücksichtigung der Überlieferungszusammenhänge.172 Bereits 1880 hatte sich Blümner bei seiner Grobgliederung an diesem Modell orientiert, aber erst in der Ausgabe von 1886, die als Neunter Teil von Lessings Werken im Rahmen von Kürschners Deutscher National-Litteratur erschien, übernahm er Grosses Vorschlag zur Gänze.173 Nicht nachvollziehbar bleibt allerdings eine Abweichung: Das von Grosse berücksichtigte Stück LS 4 fehlt bei Blümner.174 Somit bietet die Ausgabe von 1886 einen Text weniger als der Aufsatz. Zwölf Jahre später erschien schließlich die historisch-kritische Edition von Franz Muncker. Dieser veröffentlichte 1898 im vierzehnten Band der Sämtlichen Schriften 30 Nachlassstücke zum Laokoon,175 wobei er LS 14 und 15 zu einer Nummer zusammenfasste.176 Den von Hempel und Blümner 1880 aufgenommenen Überlieferungsträger LS 48 schied er als Entwurf zu den Antiquarischen Briefen wieder aus, dafür übernahm er die beiden Einträge aus den Col-
167 168 169 170 171 172 173
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Bei Blümner D. 17. Vgl. LM 15, S. 421f. Grosse (Anm. 6), S. 166f. LS 1±5, 7, 8, 13 und 16±30. Vgl. Grosse (Anm. 6), S. 167. Ebd., S. 166f. Nur ein einziger Textträger, LS 18, wird auf mehrere Nummern verteilt (vgl. Tabelle 3). Deutsche National-Litteratur. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Joseph Kürschner. Bd. 66/1: Lessings Werke. 9. Teil, 1. Abteilung: Laokoon. Hg. von Hugo Blümner. Berlin, Stuttgart 1886, S. 175±256. Vgl. Grosse (Anm. 6), S. 166, wo Hempels Nr. 20 (= LS 4) als Zusatz zu A. 2 (= LS 3) vorgeschlagen wird. Ob Blümner dieses Stück bewusst ausgelassen oder schlichtweg übersehen hat, lässt sich aufgrund fehlender Angaben nicht beurteilen. LM 14, S. 333±440. Muncker ließ sich bei dieser editorischen Entscheidung vermutlich von der Überlieferungssituation leiten, da zu seiner Zeit beide Blätter zur Nr. XVI der Laokoon-Papiere gehörten. Auch der Hempelsche Herausgeber hatte beide Texte unter einer Nummer abgedruckt, allerdings wird der erste als 29a und der zweite als 29b gezählt.
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lectanea,177 die seit 1788 zum festen Bestandteil jeder Laokoon-Ausgabe gehörten. Obwohl er in der Vorbemerkung angibt, sämtliche Texte so abzudrucken, »wie sie vermutlich ihrer Entstehung nach auf einander folgen dürften«, um dadurch »die zeitliche Ordnung noch einheitlicher durchzuführen« als seine Vorgänger,178 orientiert auch er sich teilweise an der Werkchronologie, insbesondere bei den Entwürfen zur geplanten Fortsetzung.179 Da Munckers Edition bis heute von keiner besseren abgelöst werden konnte, haben fast alle Herausgeber des 20. Jahrhunderts sein Korpus der Nachlassstücke zum Laokoon übernommen. Zu erwähnen sind hier insbesondere die Studienausgaben von Walther Riezler,180 Albert von Schirnding181 und Wilfried Barner.182 Letzterer führte zwei Neuerungen ein, indem er im 1990 erschienenen Band 5/2 von Lessings Werken und Briefen nicht nur sämtliche Entwürfe zum Laokoon erstmals als ¾Paralipomena½ bezeichnete, sondern sie auch im Hinblick auf Lessings Gesamtprojekt in drei Teile untergliederte. Zum Ersten Teil zählt er die Paralipomena 1 bis 18,183 zum Zweiten 19 bis 22184 und zum Dritten 23 bis 30.185 Seine Einteilung orientiert sich zwar an den Inhaltsskizzen LS 8 und 20, beruht im Wesentlichen jedoch auf den Zuordnungen von Lachmann/Muncker. Nur eine große Ausnahme gibt es unter den Studienausgaben des 20. Jahrhunderts: Paul Rilla folgt im 5. Band der Gesammelten Werke186 Blümners Laokoon-Edition von 1880 und ordnet sämtliche Texte nach dessen 177
178 179
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Immerhin wird der Leser in einer Fußnote über die Herkunft der Texte aufgeklärt: »Die beiden Abschnitte von Nr. 29 befinden sich nicht unter den eigentlichen Laokoonhandschriften, sondern stammen aus dem Kollektaneenheft« (LM 14, S. 436, Anm. 1). LM 14, S. 333. So etwa folgt die Anordnung der Nummern 20±27 bei LM (= LS 21±28) schlichtweg der Reihenfolge der entsprechenden Abschnitte in den Inhaltsskizzen LS 8 bzw. 20. Der Nachweis ist schnell erbracht: Munckers Nr. 20 lässt sich den Abschnitten XXXIff. von Nr. 19 (= LS 20) zuordnen, Nr. 21 dem Abschnitt XLV und Nr. 22 dem Abschnitt XLVI. Alle drei weisen in derselben Reihenfolge außerdem Bezüge zum »Zweyten Abschnitt« von LS 8 auf. Die folgenden Entwürfe hingegen stehen in Verbindung mit dem »Dritten Abschnitt« von LS 8: Nr. 23 mit den Unterpunkten If., Nr. 24 mit Unterpunkt II, Nr. 25 und 26 mit den Unterpunkten IIIf. und Nr. 27 mit den Unterpunkten VIf. Muncker verweist in den Fußnoten zwar auf diese Bezüge (vgl. LM 14, S. 414±430), setzt dabei jedoch stillschweigend die Werkchronologie mit der angeblichen Entstehungsreihenfolge gleich. Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Vollständige Ausgabe in 25 Teilen. Hg. mit Einleitungen und Anmerkungen sowie einem Gesamtregister versehen von Julius Petersen und Waldemar von Olshausen in Verbindung mit Karl Borinski u. a. 4. Teil: Briefe, die neueste Literatur betreffend. Laokoon. Hg. von Fritz Budde und Walther Riezler. Berlin u. a. 1925, S. 426±511. Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert u. a. Bd. 6: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften. Hg. von Albert von Schirnding. München 1974, S. 555±660. FA 5/2, S. 207±321. LS 1±19. LS 20±23. LS 24±30, zuzüglich der beiden Einträge zum Laokoon aus den Collectanea. Gotthold Ephraim Lessing: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Hg. von Paul Rilla. Bd. 5: Antiquarische Schriften. Berlin 1955, S. 217±346.
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Modell. Jedoch schließt er aus der Abteilung B fünf Stücke aus, die den Entwürfen zu den Antiquarischen Briefen entnommen sind,187 sodass seine »Materialien und Nachträge zum Laokoon«188 nur aus 35 Nummern bestehen. Einen völlig neuen Editionsvorschlag unterbreitete Elisabeth Blakert 1999 in ihrem Aufsatz Grenzbereiche der Edition: die Paralipomena zu Lessings Laokoon. Um »das Dilemma zwischen dem Chronologie-Prinzip der historischNULWLVFKHQ$XVJDEHHLQHUVHLWVXQGGHPGUIWLJHQ4XHOOHQPDWHULDO>«@DQGHUHrseits«189 aufzulösen, plädiert sie für ein Ordnungskonzept, »das auf einer konsequenten Mischung der Kriterien ¾Entstehungszeit½ und ¾Konzeption½ beruht«.190 Dabei weist sie die einzelnen Paralipomena vier verschiedenen »Konzeptphasen« zu, die jeweils »von einem Haupttext geprägt« sind und »weitere Texte wie Satelliten im Gefolge« haben. Ihrer Meinung nach sollte aber »nicht nur die $QRUGQXQJGHU3DUDOLSRPHQD>«@IUHLQH1HXHGLWLRQEHUGDFKWZHUGHQVRndern auch ihre Anzahl«.191 Auf der Grundlage der Korpora bisheriger Editionen und unter Anwendung des Kriteriums eines eindeutigen und ausschließlichen Bezugs192 zum Laokoon schlägt sie folgendes Textkorpus vor: aus der LessingSammlung die Nummern 1 bis 16 und 18 bis 30,193 aus den Collectanea neben den beiden Texten, die schon Karl Gotthelf aufgenommen hatte,194 den Eintrag zur »Poesie«195 sowie aus der abschließenden Zitatensammlung die Abschnitte »Zum zweyten Th[eil] des Laokoon« und »Zum Schluße des Laokoon«,196 außerdem aus den Anmerkungen über alte Schriftsteller die Exzerptnotizen zu Ovids Metamorphosen, Lukrez¶ De rerum natura und Vergils Aeneis.197 LS 17198 hingegen ist ihrer Meinung nach aus dem Korpus auszuscheiden, da es sich hier »um eine Textfassung und kein Paralipomenon handelt«.199 Dafür zählt sie noch den Brief an Friedrich Nicolai vom 26. Mai 1769200 zu den Paralipomena, den sie als »Exposé« zum geplanten dritten Teil betrachtet.
187
188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200
Dabei handelt es sich um die Abschnitte LXVII, LXVIII, LXIX und LXXI (bei Blümner B. 4, 5, 11 und 13) aus dem Entwurf Nr. 6 (vgl. LM 15, S. 105±113) sowie um den ersten Abschnitt (bei Blümner B. 40) aus dem Entwurf Nr. 1 (vgl. LM 15, S. 87f.). Rilla (Anm. 186), S. 272. Blakert (Anm. 5), S. 82. Ebd., S. 96. Ebd., S. 82. Vgl. ebd. Munckers Nummerierung folgend von Blakert als P1±15 und P17±30 bezeichnet, wobei LS 14 als P14/1 und LS 15 als P14/2 gezählt wird (vgl. Blakert [Anm. 5], S. 83f.). Von Blakert als P29a und P29b bezeichnet (vgl. ebd., S. 84). Bei Blakert P31. Vgl. LM 15, S. 349. Bei Blakert P32 und 33. Vgl. LM 15, S. 421f. Bei Blakert P34, 36 und 37. Vgl. LM 15, S. 438±441. Bei Blakert P16. Blakert (Anm. 5), S. 83. Bei Blakert P35. Vgl. LM 17, S. 290f.
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5. Überlegungen zum Textkorpus und zur Bezeichnung der Nachlassstücke Bevor man nun aus dem bisher Gesagten Schlussfolgerungen für eine Neuedition der Paralipomena zu Lessings Laokoon zieht und überlegt, welche Texte in das Korpus einer historisch-kritischen Ausgabe aufzunehmen sind, mag eine kurze Zwischenbilanz hilfreich sein. Aus der dargestellten Editionsgeschichte ist zweierlei ersichtlich geworden: Die Meinungen der bisherigen Herausgeber differieren nicht nur hinsichtlich der Zahl und Anordnung der zu edierenden Stücke, es besteht nicht einmal Klarheit darüber, wie diese zu bezeichnen sind. Während Karl Gotthelf Lessing nur von »nachgelassenen Handschriften zur Fortsetzung«201 des Laokoon spricht, überschreibt Hempel seinen Anhang mit »Materialien, Entwürfe und Notizen den Laokoon betreffend aus Lessing¶s handschriftlichem Nachlass«.202 Blümner entscheidet sich hingegen für »Entwürfe, Notizen und Collectanea«.203 Muncker wiederum wählt die Bezeichnungen »Vorarbeiten« bzw. »Entwürfe und Notizensammlungen«.204 Was all diesen Ausgaben fehlt, ist ein gemeinsamer Oberbegriff für die nachgelassenen Stücke. Schon aus rein pragmatischen Gründen ist daher der Vorschlag von Wilfried Barner sehr zu begrüßen, diese Texte unter dem Terminus technicus der ¾Paralipomena½ zu subsumieren.205 Da jedoch in der Editionsphilologie ± von der editorischen Praxis ganz zu schweigen ± durchaus kein Konsens darüber besteht, was unter einem Paralipomenon genau zu verstehen ist, erscheint zunächst eine kurze Begriffsklärung sinnvoll. Von seiner ursprünglichen Wortbedeutung her bezeichnet der von dem griech. Verb paraleípein abgeleitete Terminus das ¾Ausgelassene½ oder ¾Übergangene½,206 das, was »zwar zur Sache gehört, aber beiseite bleibt«,207 wie Klaus Kanzog formuliert, d. h. vom Autor nicht veröffentlicht wird. Bekannt ist die Definition von Siegfried Scheibe: Paralipomena sind nicht Textfassungen eines Werkes. Sie sind auf das Werk bedeutungsmäßig, aber nicht syntaktisch beziehbare eigenständige Texte, etwa Vorarbeiten, Schemata, Entwüfe, Exzerpte, Inhaltsangaben und schließlich solche Werkteile, deren genaue Einordnung in das Werk nicht möglich ist.208
201 202 203 204 205 206
207 208
K. G. Lessing (Anm. 54), S. 299. Hempel (Anm. 23), S. 173. Blümner (Anm. 28), S. 351. LM 14, S. 333. Vgl. FA 5/2, S. 629. Vgl. Anne Bohnenkamp: Paralipomena. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung. Hg. von Klaus Weimar u. a. Bd. 3: P-Z. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin u. a. 2007, S. 19f., hier S. 19. Klaus Kanzog: Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur. Berlin 1991 (Grundlagen der Germanistik 31), S. 106. Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 1±44, hier S. 20.
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Soweit die Theorie. Nun bedarf es aber der konkreten Anwendung. Im Falle von Lessings Laokoon ist Elisabeth Blakert die Einzige, die hierzu systematische Überlegungen angestellt hat. Von ihren Erwägungen sollten wir daher ausgehen. Der Praxis Anne Bohnenkamps für Goethes Faust folgend,209 schlägt Blakert vor, bei der Auswahl der Paralipomena zum Laokoon, ª¾zunächst alle Texte½ zu berücksichtigen, ¾die bisher in Textsammlungen dieses Titels veröffentlicht wurden½, nachdem irrtümlich zugeordnete Texte ausgeschieden worden sind«.210 Da sie dieses Kriterium allein jedoch für »keine befriedigende Richtschnur« hält, plädiert sie darüber hinaus für die Berücksichtigung solcher Stücke, die »eindeutig und ausschließlich dem Laokoon zugeordnet werden können«.211 Dabei dürfe man neue Paralipomena unter gewissen Umständen auch »aus dem Zusammenhang eines anderen Werkes« herauslösen.212 Wollte man ihren Vorschlag konsequent auf Lessings kunsttheoretisches Hauptwerk anwenden, so wäre das Korpus über die von ihr hinzugewonnenen Texte hinaus noch um ein Vielfaches zu erweitern. Da sich Lessing mehr als zehn Jahre seines Lebens mit dem Laokoon-Projekt befasst hat, wie die obigen Untersuchungsergebnisse zeigen,213 lassen sich in zahlreichen ± vornehmlich erst postum veröffentlichten ± Schriften aus diesen Jahren bedeutungsmäßige Bezüge nachweisen. An erster Stelle wären etwa die Handschriftlichen Anmerkungen zu Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums zu erwähnen, von denen nicht wenige im Druck von 1766 und in den Nachlassstücken zum Laokoon verwertet wurden,214 aber ebenso das unvollendete Leben des Sophokles, aus dem ganze Passagen in die letzte Anmerkung von Kapitel XXIX eingeflossen sind.215 Ferner stehen die antiquarischen Fragmente über Homers Apotheose von Archelaos216 und über die Isische Tafel217 in einem inhaltlichen 209 210 211 212 213 214
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Vgl. Anne Bohnenkamp: »«GDV+DXSWJHVFKlIWQLFKWDußer Augen lassend«. Die Paralipomena zu Goethes ¾Faust½. Frankfurt am Main, Leipzig 1994, bes. S. 69f. Blakert (Anm. 5), S. 82. Ebd., S. 82f. Ebd., S. 83. S. o. S. 62 ff. Fast wörtlich übernommen hat Lessing die Anmerkung zu S. 136 der Kunstgeschichte (vgl. LM 15, S. 13 und Laokoon XXIX), etwas freier jene zu S. 394 (vgl. LM 15, S. 23f. und Laokoon XXVIII). Ferner sind in den Erstdruck eingeflossen: die Anmerkungen zu S. 167 (vgl. LM 15, S. 14 und Laokoon XXIX), S. 275 (vgl. LM 15, S. 17 und Laokoon XX), S. 328 (vgl. LM 15, S. 19 und Laokoon XXIX) und S. 353 (vgl. LM 15, S. 19 und Laokoon XXIX). In den Nachlassstücken wurden die Anmerkungen verwertet zu S. 32 (vgl. LM 15, S. 11 und LS 23), S. 203 (vgl. LM 15, S. 15 und LS 8, Anhang, V), S. 267 (vgl. LM 15, S. 16 und LS 23), S. 319±321 (vgl. LM 15, S. 17f. und LS 8, Anhang, VI), S. 357 (vgl. LM 15, S. 19 und LS 8, Anhang, VI) und S. 391 (vgl. LM 15, S. 20 und LS 8, Anhang, III). Die herangezogenen Stellen aus den Abschnitten F und I (vgl. bes. LM 8, S. 315f., 325± 334 und 341f.) gehören zu jenen sieben Bögen, die 1760 in Berlin zwar gedruckt, aber nicht ausgeliefert wurden (vgl. FA 5/1, S. 670). LM 15, S. 25. Das Relief bzw. der Künstler werden sowohl im XXVII. Kapitel des Laokoon (vgl. Vollhardt [Anm. 7], S. 197 und 201) als auch in LS 2 (vgl. LM 14, S. 341) erwähnt. Ende des 19. Jahrhunderts befand sich die heute zur Lessing-Sammlung Nr. 46 gehörende Handschrift noch unter den Laokoon-Papieren.
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Zusammenhang mit dem Laokoon-Projekt, außerdem verschiedene Abschnitte aus den Entwürfen Nr. 1, 2 und 6 zu den Antiquarischen Briefen218 sowie mehrere Einträge aus den Collectanea, u. a. jene, die Blümner in seiner Ausgabe von 1880 abgedruckt hat. Eine eindeutige Zuordnung ist allerdings oft schwierig, ja in vielen Fällen sogar unmöglich, da wir aufgrund der spärlichen Überlieferung zur geplanten Umarbeitung und Fortsetzung des Ersten Theils nicht mit Sicherheit sagen können, welche Texte sich darauf beziehen.219 Sind dennoch alle diese Stücke als Paralipomena zum Laokoon einzustufen? Auch einige Briefe Lessings enthalten wertvolle Informationen über sein Projekt. Neben dem von Blakert als P35 bezeichneten Schreiben an Friedrich Nicolai vom 26. Mai 1769 gehört hierzu etwa eine Nachricht an Christian Adolf Klotz vom 9. Juni 1766220 sowie eine weitere an Nicolai vom 13. April 1769.221 Ferner thematisiert Lessing den Laokoon noch in zwei Briefen an Johann Wilhelm Ludwig Gleim vom 13. Mai 1766222 und vom 1. Februar 1767,223 einem 217 218 219
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LM 15, S. 27±34. In LS 23 wird die »Tabula Isiaca« als ein Beispiel »der alten Aegyptischen Kunst« zitiert (vgl. LM 14, S. 422). LM 15, S. 87±94 und 105±113. Die Entwürfe Nr. 1 und 2 (= LS 48 und 49) gehörten Ende des 19. Jahrhunderts noch zu den Laokoon-Handschriften. Sollte Lessing für seine weiteren Pläne ebenso viele Beispiele und Exkurse vorgesehen haben wie für den Erstdruck, kämen aus seinem Collectaneenband prinzipiell alle Einträge zu Kunst, Dichtung, Ästhetik und Altertumskunde in Frage, die sich keinem anderen Werk oder Projekt zuordnen lassen (vgl. dazu FA 10, S. 1125-1291, bes. S. 1133ff.). Die potentiellen Bezüge zum Laokoon ergeben sich schon aus der Werkgenese. Denn wie Arno Schilson und Axel Schmitt zu Recht annehmen, stammt der überwiegende Teil der Collectanea mit hoher Wahrscheinlichkeit aus den Breslauer Jahren (vgl. FA 10, S. 1133). Da Lessing seine Einträge jedoch noch bis zur Jahreswende 1774/75 fortsetzte (vgl. LM 15, S. 126), fällt der Abschluss des Bandes erst in die Zeit, aus der auch die französische Vorrede zum Laokoon stammen dürfte. Enger könnten die Entstehungsgeschichten beider Werke nicht miteinander verbunden sein! »Ich verspreche meinem Laokoon wenig Leser, und ich weis es, daß er noch wenigere gültige Richter haben kann. Wenn ich Bedenken trug, den einen davon in Ihnen zu bestechen: so geschahe es gewiß weniger aus Stolz, als aus Lehrbegierde. Ich habe Ihnen zuerst widersprochen; und ich würde sagen, es sey blos in der Absicht geschehen, mir Ihre WiGHUVSUFKH RKQH DOOHQ 5FNKDOW ]X YHUVLFKHUQ >«@ 'HU KlOLFKH 7KHUVLWHV VROO XQWHU XQV eben so wenig Unheil stiften, als ihm vor Troja zu stiften gelang. Schreibt man denn nur darum, um immer Recht zu haben? Ich meine, mich um die Wahrheit eben so verdient gemacht zu haben, wenn ich sie verfehle, mein Fehler aber die Ursache ist, daß sie ein anderer entdecket, als wenn ich sie selber entdecke« (LM 17, S. 223). »Da so viele Narren itzt über den Laokoon herfallen, so bin ich nicht übel Willens mich einen Monat oder länger, in Kassel oder Göttingen auf meiner Reise zu verweilen, um ihn zu vollenden. Noch hat sich keiner, auch nicht einmal Herder, träumen lassen, wo ich hinDXVZLOO$EHU+HUGHUZLOOMDGLHNULWLVFKHQ:lOGHUQLFKWJHVFKULHEHQKDEHQ>«@'HU9Hrfasser sey indeß, wer er wolle: so ist er doch der einzige, um den es mir der Mühe lohnt, mit meinem Krame ganz an den Tag zu kommen« (LM 17, S. 287). »Ich bin so eitel, auch Ihnen meinen Laokoon zu übersenden; ob ich gleich voraus sehe, daß Sie alle Ihre Freundschaft gegen mich werden nöthig haben, um diesen Mischmasch von Pedanterie und Grillen zu lesen und nur nicht ganz verwerflich zu finden« (LM 17, S. 222). Die fälschliche Datierung des Briefes von Lachmann/Muncker auf den 13. März 1766 ist von Helmuth Kiesel (FA 11/1, S. 445 und 871) korrigiert worden. Siehe dazu auch
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Schreiben an Heinrich Wilhelm von Gerstenberg vom 25. Februar 1768,224 einer Nachricht an Christian Friedrich Voß vom 5. Januar 1770225 sowie einer brieflichen Äußerung gegenüber Christian Gottlob Heyne vom 29. Juli 1771.226 Aber dürfen Briefe überhaupt als Paralipomena klassifiziert werden? Eigentlich widersprechen sie ja der ursprünglichen Wortbedeutung im Sinne von ¾Beiseitegelassenem½, da sie durch das Abschicken an einen Empfänger den Akt der Veröffentlichung ± wenn auch nur in einem sehr kleinen Rahmen ± notwendig mit einschließen. Eine weitere Frage drängt sich auf: Wenn die künftige LessingForschung neue Bezüge zu anderen Texten herstellen kann oder hinzugewonnene ausschließt, müsste dann das Korpus nicht beständig verändert werden? Blakert scheint diese prinzipielle Unabgeschlossenheit sogar einzufordern.227 Aber wäre es tatsächlich so wünschenswert, wenn alle zehn bis zwanzig Jahre eine neue Laokoon-Ausgabe erscheinen müsste, nur um dem neuesten Stand der Forschung gerecht zu werden? Noch ein Punkt erweist sich als problematisch: Ausgehend von Scheibes Definition plädiert Blakert dafür, LS 17 aus dem Korpus der Paralipomena auszuscheiden, »da sich der Text syntaktisch auf Passagen aus Kapitel XXVI und V des ersten Teils des Laokoon bezieht und es sich daher um eine Textfassung und kein Paralipomenon handelt«.228 Die editorische Konsequenz einer solchen Klassifizierung wäre der Verweis von LS 17 in den Variantenapparat. Da dieser Entwurf jedoch als Arbeitsvorlage sowohl für einige Abschnitte aus Kapitel V als auch für den letzten Absatz von Kapitel XXVI gedient hat, bleibt zu fragen, an welcher Stelle im Apparat das Stück denn stehen sollte. Hinzu kommt, dass nur der erste, dritte und vierte Absatz als ¾Textfassung½ im eigentlichen Sinne gelten kann, während es sich beim zweiten Abschnitt durchaus um ein echtes ¾Paralipomenon½ handelt, da dieser nur sehr frei und stark verkürzt in Kapitel V verwertet worden ist. Sinnvollerweise müsste man LS 17 also aufteilen. Aber
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227 228
$JQLHV]ND&LRáHN--yĨZLDN*RWWKROd Ephraim Lessings Briefe, 1760±1769. Texte und Erläuterungen. Stuttgart 2007, S. 158. »Mein Laokoon ist nun wieder die Nebenarbeit. Mich dünkt, ich komme mit der Fortsetzung deßelben, für den großen Haufen unsrer Leser, auch noch immer früh genug. Die wenigen, die mich itzt lesen, verstehen von der Sache eben so viel, wie ich, und mehr« (LM 17, S. 228). »An H. Sturzen meinen tausendfachen Empfehl >«@6HLQH$QPHUNXQJHQEHUGHQ /Dokoon habe ich beygelegt, bis ich in dieses Fach wieder komme. Itzt weiß ich selbst nicht, was in meinem Buche steht: wie sollte ich ihm antworten können?« (LM 17, S. 249). »So bleibe ich vors erste wohl noch Jahr und Tag in Wolfenbüttel, und habe Zeit noch YHUVFKLHGQHV]XYROOHQGHQ>«@'DVHUVWHXQGYRUQHKPVWHZLUGQXQIUH\OLFKGHU/DRNRRn seyn« (LM 17, S. 312). »Ueber die Stelle vom Laokoon, sehe ich, sind wir so ziemlich einig. Ich fürchte, daß wir es über die vom Schilde weniger seyn werden. Vielleicht bin ich auch wirklich für die Manier des Homers zu partheyisch gewesen: und es kann nicht fehlen, daß Sie für die Manier Ihres Virgils nicht manches werden zu sagen wißen, was meiner Aufmerksamkeit entgangen« (LM 17, S. 396). Vgl. Blakert (Anm. 5), S. 84. Ebd., S. 83.
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dadurch würde natürlich der Überlieferungszusammenhang zerrissen. Außerdem gibt es unter den Paralipomena Texte, die noch in viel umfassenderem Maße syntaktische Bezüge zum Laokoon aufweisen: Aus LS 3 etwa sind ganze Abschnitte in den Erstdruck eingeflossen, aber auch aus LS 1, 2 und 13 finden sich fast wortwörtlich übernommene Passagen. 229 Sind darum gerade diese grundlegenden Entwürfe aus den Paralipomena auszuschließen und in den Variantenapparat zu verbannen? Wer diese Frage bejaht, stünde freilich vor demselben Dilemma wie bei LS 17. Denn auch die soeben genannten Stücke beziehen sich auf verschiedene Kapitel, und manche Abschnitte haben gar keine Verwendung in der Druckfassung gefunden. Wo liegt also die Lösung für die aufgezeigten Probleme? Meines Erachtens kann sie im Falle der Paralipomena zu Lessings Laokoon nur in einer pragmatischen Modifikation der Auswahlkriterien bestehen, die der materiellen, textuellen und überlieferungsgeschichtlichen Situation gerecht wird. In Anlehnung an die Formulierung von Anne Bohnenkamp und Elisabeth Blakert schlage ich daher vor, nur solche Stücke in das Korpus der Paralipomena aufzunehmen, die bisher unter den Berliner Laokoon-Handschriften überliefert wurden230 und eindeutig dem auf drei Teile angelegten Projekt zugeordnet werden können. Diesen Kriterien entsprechen lediglich die Stücke der Lessing-Sammlung Nr. 1± 30, die zugleich die Voraussetzungen authentischer Paralipomena erfüllen, indem sie zwar dem Inhalt nach zur Sache gehören aber vom Autor, d. h. von Lessing selbst, nie veröffentlicht wurden. Per Definition aus dem Korpus auszuschließen sind hingegen jene beiden Einträge aus den Collectanea, die Karl Gotthelf 1788 in die Textsammlung eingeschleust hat und Lachmann/Muncker unter der Nr. 29 abdrucken. Die Aufnahme dieses Stückes wäre in mehrfacher Hinsicht inkonsequent. Denn erstens haben diese Notizen nie zu den Berliner Laokoon-Papieren gehört, sondern sind zusammen mit mehreren hundert weiteren in einem über 550 Seiten starken Band überliefert, der sich seit 1805 in Breslau befindet.231 Zweitens handelt es sich hier nicht um einen, sondern um zwei Texte, die im ursprünglichen Überlieferungszusammenhang auf verschiedenen Seiten standen232 und durch einen Eintrag zu »Daniel Landringer«233 voneinander getrennt waren, sodass sie zu ganz unterschiedlichen Zeiten entstanden sein können. Drittens lässt sich nicht stichhaltig begründen, warum eine Paralipomena-Edition zwar diese zwei Einträge aus den Collectanea enthalten, aber auf jene anderen beiden verzichten sollte, die schon Blümner in seine Aus229 230
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232 233
Siehe dazu den Kommentar von Wilfried Barner, der zahlreiche Bezüge nachweist (vgl. FA 5/2, S. 863±878 und 887±892). Auch Kanzog (Anm. 207), S. 106, bezeichnet den Überlieferungszusammenhang als mögliches »Kriterium für die Behandlung einer Texteinheit als eigenständiges Gebilde im Sinne der gegebenen Paralipomena-Definition«. +HXWLJHU$XIEHZDKUXQJVRUWLVWGLH%LEOLRWHND8QLZHUV\WHFND:URFáDZSignatur: B 1688). Einzelheiten zur Handschrift und zur Überlieferungsgeschichte der Collectanea bei Milde (Anm. 6), S. 268f. S. o. Anm. 144. LM 15, S. 286.
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gabe von 1880 aufgenommen hatte und Blakert als P32 und 33 bezeichnet. Denn alle vier Einträge beziehen sich ausdrücklich auf die Fortsetzung von Lessings Laokoon. P32 beginnt mit den Worten »Zum zweyten Th[eil] des Laokoon«234 und P33 mit »Zum Schluße des Laokoon«.235 Die Zugehörigkeit ist also evident. Muncker kann sich bei seiner Entscheidung, dennoch nicht mehr abzudrucken als die ersten beiden Einträge, nur auf das unzulängliche Argument der Editionsgeschichte berufen haben. Wenn man nun aber alle vier Stücke aus dem Korpus der Paralipomena ausscheidet, würde dies nicht einen großen Verlust bedeuten? Immerhin enthalten sie wichtige Informationen über Lessings geplante Fortsetzung des Ersten Theils. Auch die oben erwähnten Schriften und Briefe tun dies großteils, ebenso die von Blakert vorgeschlagenen Texte. Andere weisen hinwiederum Bezüge zum Erstdruck auf. Wenn also alle diese Stücke ausgeschlossen blieben, dann gingen dadurch zweifellos wichtige Hinweise zur Textgenese verloren. Um dies zu verhindern und die Bedeutung dieser Stücke für das Gesamtprojekt zu unterstreichen, aber zugleich ihren differenten Status im Hinblick auf die Überlieferungsgeschichte deutlich zu machen, würde es sich anbieten, sie künftig in einer historisch-kritischen Ausgabe unter einer eigenen Rubrik abzudrucken, etwa als ¾Texte im Umkreis des Laokoon-Projekts½. In eine solche Abteilung könnten prinzipiell alle Schriften, Fragmente und Briefe aufgenommen werden, die bedeutungsmäßige Bezüge zum Gesamtprojekt aufweisen. Selbst publizierte Werke, wie etwa all jene Briefe, antiquarischen Inhalts, die Themen aus dem Laokoon aufgreifen und einmal sogar von einer überarbeiteten »künftigen Ausgabe«236 sprechen, oder die Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet, die an eine Fußnote im XI. Kapitel anknüpft,237 wären auf diese Weise problemlos unterzubringen. Freilich würde es in einer Gesamtedition auch genügen, auf die betreffenden Texte in einem Kommentar zu verweisen, der ihren Stellenwert innerhalb der Werkgenese erläutert und inhaltliche Bezüge herausstellt. Eine Unterteilung in zwei verschiedene Rubriken hätte darüber hinaus den großen Vorteil, dass das Korpus der eigentlichen Paralipomena in Zukunft konstant bliebe, während der Umfang der ¾Texte im Umkreis des Laokoon-Projekts½ je nach Art und Intention der jeweiligen Ausgabe veränderbar wäre. Dadurch könnte auch neuen Forschungserkenntnissen beständig Rechnung getragen werden.Wenngleich damit eine Antwort auf die Frage nach der Anzahl der Paralipomena gefunden wäre, bleibt immer noch zu klären, wie jene 30 Nachlassstücke zum Laokoon künftig sigliert werden sollen. In der bisherigen Editions- und Überlieferungsgeschichte sind so viele verschiedene Nummerierungen vorgeschlagen worden, dass man ohne Konkordanz den Überblick verliert. Aus diesem Grund war die vorliegende Studie bestrebt, so weit wie möglich auf die Signaturen der Berliner Lessing-Sammlung als konstante Größen zurückzugrei234 235 236 237
LM 15, S. 422. LM 15, S. 421. 38. Antiquarischer Brief. In: LM 10, S. 350. Vgl. Vollhardt (Anm. 7), S. 93f., Anm. 1.
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fen. Da diese seit hundert Jahren unverändert geblieben sind und, solange die Staatsbibliothek zu Berlin besteht, auch durch keine anderen ersetzt werden dürften, bieten sie sich als Nummerierungsgrundlage für eine künftige Edition natürlich an. Zugleich gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass die Nummerierung Munckers von nahezu sämtlichen Ausgaben des 20. Jahrhunderts übernommen wurde und daher auch die moderne Forschungsliteratur maßgeblich geprägt hat. Sonach wäre die ideale Siglierung für die Zukunft ± zumindest bis zum Erscheinen einer neuen historisch-kritischen Edition ± eine Synthese aus beiden Systemen. Diese ließe sich am einfachsten dadurch erreichen, dass man die jeweilige Nummer von Muncker in Klammern der entsprechenden Zahl der Lessing-Sammlung nachstellt. LS 16 etwa wäre demnach als 16 (15) zu zählen und LS 29 als 29 (28). Damit stünde ein einheitliches Modell zur Verfügung, nach dem der Leser jedes einzelne Paralipomenon sowohl mit den Berliner Laokoon-Handschriften als auch mit allen modernen Ausgaben und Publikationen sofort in Verbindung bringen kann. Bei den Stücken LS 1±13 und 30 erübrigen sich freilich die Klammern, denn hier ist die Berliner Nummerierung deckungsgleich mit jener von Lachmann/Muncker (vgl. Tabelle 1). Als problematisch erweisen sich nur LS 14 und 15, da Muncker beide Überlieferungsträger unter der Nr. 14 abdruckt. Aber auch hier lässt sich eine Lösung finden. Schon Blakert hat dafür plädiert, die beiden Stücke »wie zwei Paralipomena zu behandeln«238 und ihnen die Siglen P14/1 und P14/2 zuzuweisen. Verbindet man ihren Vorschlag mit dem soeben beschriebenen Modell, so ergibt sich als Nummerierung 14 (14/1) und 15 (14/2). Im Zusammenhang damit sei noch auf eine weitere Neuerung Blakerts hingewiesen, die auch Friedrich Vollhardt in seiner jüngst erschienenen Studienausgabe des Laokoon übernommen hat:239 Zur Bezeichnung der Paralipomena schlägt Blakert die »sprechende Sigle P«240 vor. Dies erscheint in all jenen Kontexten sinnvoll, in denen primär die Texte und weniger die zugrundeliegenden Handschriften im Zentrum des Interesses stehen.241 Somit könnten etwa die Paralipomena, die unter der Lessing-Sammlung Nr. 8, 14 und 20 überliefert sind, künftig als P 8, P 14 (14/1) und P 20 (19) bezeichnet werden.
238 239 240 241
Blakert (Anm. 5), S. 84. Vgl. Vollhardt (Anm. 7), S. 385±400. Blakert (Anm. 5), S. 80, Anm. 12. Nicht immer lässt sich die Ebene der Texte (¾Paralipomena½ bzw. ¾P½) von der Ebene der Textträger (¾Lessing-Sammlung 1U½ bzw. ¾LS½) konsequent unterscheiden. Für eine künftige historisch-kritische Edition wäre eine möglichst genaue Differenzierung jedoch wünschenswert. Sie entspricht der von Siegfried Scheibe geforderten Unterscheidung zwischen ¾Textfassungen½ und ¾Zeugen½: »Ein Zeuge zu einem Werk ist eine mehr oder weniger zufällig entstandene Einheit, die nicht mit der Textfassung (dem editorisch entscheidenden Zustand des Werks) verwechselt werden darf« (Scheibe [Anm. 208], S. 19). Diese Unterscheidung verlangt er auch für Paralipomena (vgl. ebd., S. 21).
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6. Die Frage nach der Anordnung Nun steht zwar ein neues System der Siglierung zur Verfügung, aber damit sind noch nicht alle Probleme gelöst. Denn eine entscheidende Frage ist immer noch offen geblieben: Wie sind jene 30 Textträger der Lessing-Sammlung, die im eigentlichen Sinne als Paralipomena zu Lessings Laokoon bezeichnet werden dürfen, am besten anzuordnen? Im Laufe der Editionsgeschichte sind verschiedenste Ordnungsmodelle vorgeschlagen worden. Welches ist am sinnvollsten? Grundsätzlich hängt die Antwort auf diese Frage natürlich immer von den editorischen Prinzipien ab, denen man als Herausgeber folgen möchte. Wer sich jedoch an den Forderungen maßgeblicher editionstheoretischer Arbeiten der letzten Jahrzehnte orientiert, der wird einer chronologischen Anordnung auf alle Fälle den Vorzug geben.242 Denn eine moderne, genetische »Dokumentation des vorliegenden Materials« soll die »Textzeugen in ihrer historischen Entwicklung adäquat« wiedergeben.243 Und da für Nachlassstücke »die gleiche Forderung JLOW ZLH IU GLH 'DUVWHOOXQJ GHU 7H[WIDVVXQJHQ >«@ VR HUJLEW VLFK GDUDXV GLH Anordnung der Paralipomena in chronologischer Abfolge«.244 Aber lässt sich diese Abfolge im Falle von Lessings Laokoon überhaupt rekonstruieren? Der handschriftliche Befund scheint nicht so eindeutig zu sein, dass die Lösung sofort auf der Hand liegt. Das beweisen nicht zuletzt die unterschiedlichen Organisationsprinzipien der bisherigen Ausgaben und Editionsvorschläge. Muncker war ± von den ihm folgenden Studienausgaben des 20. Jahrhunderts abgesehen ± bislang der Einzige, der den Versuch unternommen hat, sämtliche Überlieferungsträger in der Reihenfolge ihrer Entstehung abzudrucken. Wie ist sein Ordnungsmodell im Licht der analytischen Untersuchungsergebnisse zu bewerten? Nicht ganz unerwartet zeigen die Abschnitte 2 und 3 der vorliegenden Studie, dass seine Anordnung in mehreren Punkten revidiert werden muss. Denn aus den materiellen Gegebenheiten der Handschriften geht klar hervor, dass weder die Reihenfolge seiner Nummern 9 bis 18 noch seine angenommene Entstehungschronologie der Vorarbeiten zum geplanten zweiten und dritten Teil (Nr. 20 bis 27) der historischen Genese entspricht. Da Muncker »seine Chronologie beinahe ausschließlich auf inhaltliche Aspekte« stützt und sich dabei »oft auf unsicherem Grund« bewegt,245 wie Blakert zu Recht konstatiert, kann diese Tatsache nicht verwundern. Trotzdem darf man sein Modell nicht grundsätzlich verwerfen, denn entgegen seiner eigenen Behauptung in der Vorbemerkung ist die Entstehungschronologie ja nicht sein einziges Organisationsprinzip.246 Vielmehr tritt vor allem 242 243 244
245 246
Vgl. Bohnenkamp (Anm. 209), S. 71f. Scheibe (Anm. 208), S. 37. Siegfried Scheibe: Zu Problemen der historisch-kritischen Edition von Goethes Werken. Aus der praktischen Arbeit der Akademie-Ausgabe. In: Weimarer Beiträge 6, Sonderheft (1960), S. 1147±1160, S. 1157. Blakert (Anm. 5), S. 81f. S. o. S. 70 mit Anm. 179.
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bei den auf die geplante Fortsetzung bezogenen Nummern 20 bis 27 noch ein weiteres hinzu, nämlich die immanente Werkchronologie, so wie sie sich aus den Inhaltsskizzen P 8 und 20 (19) ergibt. Letztere kann zwar nicht gleichgesetzt werden mit der tatsächlichen Genese des Laokoon-Projekts, ist aber dennoch eine sinnstiftende Chronologie. Nicht zuletzt darum wurde sie von fast allen bisherigen Herausgebern als ergänzendes Ordnungsprinzip angewandt, wenngleich auf ganz unterschiedliche Weise. Eine gelungene Synthese aus beiden Prinzipien wäre auch für eine Neuordnung der Paralipomena die beste Lösung, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens lassen sich anhand der obigen Untersuchungsergebnisse zwar gewisse Entstehungszusammenhänge rekonstruieren, aber ohne genauere Erforschung von Lessings Papierverbrauch und Schreibgewohnheiten sowie ohne Tintenanalysen aus dem Labor kann man daraus noch keine relative oder gar absolute Datierung aller Überlieferungsträger ableiten. Zweitens muss vorerst dahingestellt bleiben, ob es überhaupt jemals möglich sein wird, die historische Genese der Paralipomena lückenlos nachzuzeichnen. Obwohl Blakerts Verdikt, der Manuskriptbefund sei »nur wenig aussagekräftig«,247 offensichtlich nicht zutrifft, werden sich vielleicht auch mit Hilfe künftiger Untersuchungen nicht alle Handschriften chronologisch einordnen lassen. Drittens wäre eine Anordung, die sich ausschließlich an der Entstehungsreihenfolge orientiert, durch jede neue Erkenntnis der Forschung zu revidieren. Die Problematik, die sich daraus für künftige LaokoonAusgaben ergibt, ist bereits oben angedeutet worden. Deshalb erscheint ein kombinatorisches Modell weit sinnvoller, das Entstehungs- und Werkchronologie miteinander verbindet. Dafür bietet sich eine Synthese aus den Editionsvorschlägen von Hempel, Lachmann/Muncker und Blakert an, ergänzt um die analytischen Untersuchungsergebnisse der vorliegenden Studie. Die Anordnung der Hempelschen Ausgabe kann insofern als Vorbild dienen, als dort den übrigen Paralipomena vier zentrale Entwürfe vorangestellt werden, die für die Entstehungsgeschichte des Laokoon von besonderer Bedeutung sind, weil sich an ihnen die Genese des gesamten Projekts gleichsam in komprimierter Form ablesen lässt. Dabei handelt es sich um P 3, 7, 8 und 20 (19). Zu ergänzen wäre diese erste Abteilung noch um den Urentwurf P 1, ohne den die genetische Dokumentation nicht vollständig ist. Dass die Anordnung dieser fünf Stücke der historischen Chronologie entspricht, beweisen nicht nur inhaltliche Gründe, sondern auch der oben dargelegte handschriftliche Befund. Weit weniger gesichert ist allerdings die Entstehungsreihenfolge der übrigen Paralipomena. Blakert hat daher ein Ordnungsmodell vorgeschlagen, das die Prinzipien »Entstehungszeit und Konzeption« kombiniert, und dabei das gesamte Material vier verschiedenen »Konzeptphasen« zugewiesen.248 Während eine Untergliederung der Texte in mehrere Abteilungen grundsätzlich
247 248
Blakert (Anm. 5), S. 81. Ebd., S. 82.
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zu begrüßen ist, da sie eine »abgestimmte Anwendung«249 der beiden Ordnungsprinzipien erleichtert, erweist sich Blakerts Phaseneinteilung als weniger geeignet, zumal sie durch ihre Unschärfe die Grenzen zwischen Entstehungschronologie und Konzeption wiederholt verwischt. Außerdem widerspricht die Zuordnung nicht weniger Paralipomena dem Manuskriptbefund.250 Um historisch nicht gesicherte Spekulationen zu vermeiden, wäre es daher sinnvoller, die einzelnen Abteilungen enger an die immanente Werkchronologie anzubinden. Dadurch ließen sich die meisten Nachlassstücke in drei große Gruppen unterteilen, nämlich in Entwürfe und Notizen zum Ersten Theil sowie in Vorarbeiten zum geplanten zweiten und dritten Teil. Da für die Zuweisung der einzelnen Paralipomena zu diesen drei Abteilungen allein inhaltliche Bezüge ausschlaggebend sind, würden zur ersten Gruppe nicht nur P 2 und 6 sowie P 9 bis 19 (18) gehören, sondern auch die möglicherweise erst nach dem Erscheinen des Erstdrucks entstandene Lektürenotiz P 29 (28), deren Überlegungen zu einem Laokoon-Bild in Ambrogis Vergil-Ausgabe mit der Formulierung »QLFKWDQGHUV>«@DOVLFKVDJH«251 entweder an die Reinschrift oder an die Druckfassung anknüpfen. Was die Anordnung betrifft, so erscheint es bei diesen Entwürfen angebracht, sie möglichst in der Reihenfolge ihrer Entstehung abzudrucken, um die »Textentwicklung in ihrer historischen Abfolge«252 zu dokumentieren. Zur Rekonstruktion dieser Reihenfolge sollte in erster Linie auf die obigen Untersuchungsergebnisse zurückgegriffen werden, aber auch inhaltliche Kriterien und intertextuelle Bezüge dürfen nicht unberücksichtigt bleiben. Anders hingegen muss bei den Paralipomena der zweiten und dritten Gruppe verfahren werden. Den Abschnitten der Inhaltsskizzen P 8 und 20 (19) zufolge lassen sich zu den Vorarbeiten zum zweiten Teil P 21 (20) bis 23 (22) und zum dritten Teil P 24 (23) bis 28 (27) zählen. Eine entstehungschronologische Anordnung verbietet sich hier, da der handschriftliche Befund in vielen Fällen nicht eindeutig genug ist. Zwar haben die obigen Untersuchungsergebnisse gezeigt, dass einige dieser Vorarbeiten höchstwahrscheinlich schon vor dem schematischen Gesamtaufriss P 8 entstanden sind, bei anderen hat sich eine nähere Datierung jedoch als unmöglich erwiesen. Da dennoch ein einheitliches Organisationsprinzip gefunden werden muss, empfiehlt sich für diese Texte das Modell von Lachmann/Muncker, das P 21 (20) bis 28 (27) nach der Werkchronologie anordnet. Den drei genannten Gruppen wäre noch eine weitere Abteilung voranzustellen, die nur zwei Stücke umfasst: P 4 und 5. Beide Entwürfe müssen sowohl aus inhaltlichen als auch aus materiellen Gründen im 249 250
251 252
Ebd. So etwa gehören P 14 (14/1) und 15 (14/2) aus materiellen Gründen mit Sicherheit nicht der ersten Phase an, P 10 hingegen der ersten oder zweiten, aber gewiss nicht der dritten Phase. Ferner dürfte P 11 im Umfeld der Entwürfe zum ersten statt zum zweiten Teil entstanden sein. Auch Blakerts Zuordnung voQ3XQG ]XUYLHUWHQ¾.RQ]HSWSKDVH½ lässt sich mit dem handschriftlichen Befund kaum vereinbaren. Vgl. Blakert (Anm. 5), S. 86±92. LM 14, S. 435. Scheibe (Anm. 208), S. 33.
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Christine Vogl
unmittelbaren Umfeld von P 3 entstanden sein253 und lassen sich noch nicht unter die eigentlichen Entwürfe zum Ersten Theil zählen. Aus entstehungschronologischer Sicht an letzter Stelle anzuordnen ist P 30, die französische Übersetzung der Vorrede, von der oben nachgewiesen werden konnte, dass sie erst aus den Wolfenbütteler Jahren stammt. Unter Beachtung dieser Prinzipien schlage ich folgende Neuordnung der Paralipomena vor: 1. Zentrale Entwürfe zur Genese des Laokoon-Projekts: P 1 ± P 3 ± P 7 ± P 8 ± P 20 (19) 2. Entwürfe im Umfeld von P 3: P4±P5 3. Entwürfe und Notizen zum Ersten Theil: P 2 ± P 6 ± P 10 ± P 9 ± P 17 (16) ± P 19 (18) ± P 11 ± P 13 ± P 16 (15) ± P 12 ± P 18 (17) ± P 14 (14/1) ± P 15 (14/2) ± P 29 (28) 4. Vorarbeiten zum geplanten zweiten Teil: P 21 (20) ± P 22 (21) ± P 23 (22) 5. Vorarbeiten zum geplanten dritten Teil: P 24 (23) ± P 25 (24) ± P 26 (25) ± P 27 (26) ± P 28 (27) 6. Französische Übersetzung der Vorrede: P 30 Somit stünde für eine künftige Neuedition der Nachlassstücke nicht nur ein klar umrissenes Textkorpus zur Verfügung, sondern auch ein Ordnungsmodell, das durch die komplementäre Anwendung der Organisationsprinzipien Entstehungsund Werkchronologie die historische Genese von Lessings Laokoon getreuer abbildet und zugleich die Anordnung der Texte innerhalb des auf drei Teile angelegten Projekts besser sichtbar macht als alle bisherigen Systeme. Freilich lässt sich nicht völlig ausschließen, dass bei den ¾Entwürfen und Notizen zum Ersten Theil½ einzelne Umstellungen erforderlich sind, wenn einmal professionelle Tintenanalysen sowie ein umfassender Papier- und Schriftvergleich zum gesamten handschriftlichen Nachlass Lessings vorliegen.254 Die Reihenfolge der Stücke in den übrigen fünf Abteilungen müsste aber mit Sicherheit nicht mehr verändert werden. Darin besteht ein weiterer Vorteil dieses kombinatorischen Modells. Nun bleibt natürlich zu fragen, ob damit schon alle Probleme gelöst sind, vor die eine Neuedition der Paralipomena zu Lessings Laokoon gestellt wäre. Angesichts der wiederholt monierten Mängel der historisch-kritischen Ausgabe von Lachmann/Muncker wird man diese Frage zweifellos verneinen müssen. Häufi253 254
S. o. S. 59f. mit Anm. 96. Hier könnten die jüngsten analytischen Forschungen zu den Autographen von Georg Büchner im Rahmen der Marburger Ausgabe Orientierung bieten; vgl. Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Hg. von Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer. Bd. 1ff. Darmstadt 2000ff.
Lessings Laokoon-Nachlass
83
ge Kritikpunkte sind u. a. Lesefehler, stillschweigende Herausgebereingriffe, die mangelnde Kennzeichnung fremder Zusätze, insbesondere der Hand des Bruders Karl Gotthelf, sowie die Unvollständigkeit und Undifferenziertheit der Variantenverzeichnung.255 All diese Mängel finden sich auch in Munckers Edition der Nachlassstücke zum Laokoon, auf deren Text die Studienausgaben des 20. Jahrhunderts »zum großen Teil ungeprüft«256 zurückgreifen. Was Winfried Woesler und Ute Schönberger als eine der Hauptaufgaben einer neuen historisch-kritischen Lessing-Ausgabe betrachten, gilt daher auch für den Laokoon-Nachlass: Eine »erneute Entzifferung aller erhaltenen Handschriften« ist nach mehr als hundert Jahren überfällig, um »Fehllesungen aufzudecken« und die Textgenese »nach heutigen editionswissenschaftlichen Methoden darzustellen«. Dabei könnten beigegebene Faksimiles der Überlieferungsträger »die Kontrolle des Editors durch den Benutzer ermöglichen«.257 In Anlehnung an den eingangs zitierten Aufsatztitel von Wolfgang Albrecht kann ich darum nur resümieren: Eine Neuedition der Paralipomena zu Lessings Laokoon tut not!
255
256 257
Vgl. Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben ± Werk ± Wirkung. 3. Auflage. Stuttgart, Weimar 2010, S. 66f.; Wolfgang Albrecht: Lessing-Editionen. In: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübigen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition 2), S. 315±327, hier S. 319f.; Winfried Woesler und Ute Schönberger: Wie könnte eine neue Lessing-Ausgabe aussehen? In: Literarische Fundstücke. Wiederentdeckungen und Neuentdeckungen. Festschrift für Manfred Winterfuhr. Hg. von Ariane Neuhaus-Koch und Gertrude CeplKaufmann. Heidelberg 2002, S. 11±31, hier S. 21ff. und 26ff. Woesler/Schönberger (Anm. 255), S. 22. Ebd., S. 28.
84
Christine Vogl
Tabelle 3: Die Nachlassstücke zum Laokoon in bisherigen Ausgaben und Editionsvorschlägen Legende: BA BÜ HE HS KG KÜ LA LM LS ANM ANT3 BRIEF COL Zit. (44) §§ § §§ 2 §§ II X /4 E20 /4 Anm. eig. Text eing. §,QFLSLW n. Num. Üb. m. Üb.
Blakert (s. Anm. 5) Blümner (s. Anm. 28) Hempel (s. Anm. 23) Laokoon-Handschriften Ende des 19. Jh. (s. Tabelle 2) Karl Gotthelf Lessing (s. Anm. 54) Kürschner (s. Anm. 173) Lachmann (s. Anm. 22) Lachmann/Muncker (s. Anm. 3) Lessing-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin ± Preußischer Kulturbesitz Anmerkungen über Alte Schriftsteller Antiquarische Briefe, dritter Theil und folgende Brief an Friedrich Nicolai vom 26. Mai 1769 Collectanea Zitatensammlung am Ende der Collectanea Text(träger), der nicht (mehr) zu den Laokoon-Papieren zählt Abschnitt Absatz Abschnittszählung von der Vf. (nach dem Text von LM) Abschnittszählung von Lessings Hand Vierter Teil einer mehrere Stücke umfassenden Nummer Text vom Hg. in LS 20 an vierter Stelle eingeschaltet Anmerkung eigenständiger Text nach den Stücken zum Laokoon (mit Seitenangabe bei LA) eingeschaltet entspricht in etwa dem Textanfang nach Nummerierung Überschrift Text vom Hg. mit Überschrift versehen
HS XXV
XXIII
V
XI VI
XXI /1* XVII I XXI /2* XXI /3* XXI /4* XXI /5* II
LS 1
2
3
4 5
6 7 8 9 10 11 12 13
12
11
– – – – – – – E29
9 20 E /4
–
–
KG –
V
–
LA –
m. Üb. XI ab »Ich verbessere VI meine Eintheilung« in LS 20 n. §§ XLIII eing. – – I – – – – nur §§ 4 in Nr. 10/ 1 II eing. nur §§ 1; m. Üb.; Anm. nachgestellt nur §§ 5, 7, 18f., 25 u. 28-30; m. Üb.
Besonderheiten
20 12
1
6
HE 5a-c
27 2 3 26 24 25 28 nur §§ 1, 3-5, 7, 12, 15- 7 19, 21, 24 (nur 3. §) u. 25-30
nur §§ I-IV (4. § bis »der M ahler u.s.w.«) ohne Anm. Nicolais
Besonderheiten
B. 32 C. 11
A. 2
BÜ A. 1. a+b B. 26 D. 5 B. 21 B. 23 B. 33 B. 35 C. 1 D. 6. a-l
D. 11 A. 3 A. 4 D. 10. a-c B. 16 D. 8 D. 12 Num. der §§ in [ ]; in §§ B. 24 B. 25 8 statt »ibid.« »Observat. sur l'Italie B. 27 Tom. II.«; in §§ 24 B. 28 fehlt Anm. B. 29 B. 30 B. 31 B. 36 B. 37 B. 38 D. 7. a-u
Num. der §§ in [ ]
Besonderheiten
nur §§ 11 nur §§ 20 nur §§ 1 nur §§ 3 nur §§ 15 nur §§ 2 nur §§ 18 nur §§ 10 nur §§ 22 nur §§ 24 nur §§ 4-9, 12-14, 16f., 19, 21, 23 u. 25-30
Besonderheiten nur §§ 1 u. 2 nur 1. § v. §§ 3 nur 2. § v. §§ 3 nur §§ 7 nur §§ 15 nur §§ 10 nur §§ 8 nur §§ 12 nur §§ 1-6, 9, 11, 13f. u. 16
– A. 5 A. 4 – – – – C. 13
– A. 3
A. 2
C. 12
Num. der §§ in [ ]
m. Üb. in ( ) u. Num. der §§ in [ ]
KÜ Besonderheiten A. 1. a+c
6 7 8 9 10 11 12 13
4 5
3
2
LM 1
6 7 8 9 10 11 12 13
4 5
3
2
BA 1
Lessings Laokoon-Nachlass 85
HS XVI /1
XVI /2
XXIV XXVI /2
III
XII XIV
IV
VII
VIII
IX /4 X IX /2 IX /3 IX /1 XXVI /1
XV XX XIX XXII
XXVII
LS 14
15
16 17
18
19 20
21
22
23
24 25 26 27 28 29
30 (44) (46) (48)
(49)
–
– – – –
2 /4 3 2 /2 2 /3 2 /1 –
E20/6
E /5
20
E20/1
4 5 6 II. Theil
E /3
20
m. Üb. (≈ Incipit)
m. Üb. (≈ Incipit)
–
XV – – –
IX /4 X IX /2 IX /3 IX /1 –
–
30 – – 23a+b
18 19 16 17 15 8a
14
13
VIII
10a+b
21 4
11a-d
9 8b+c
29b
HE 29a
VII
»II. Theil« fehlt als Üb.
eig. Text
Besonderheiten eig. Text
IV
XII XIV
III
nur §§ 3 in LS 20 n. §§ XXXIX eing. nur §§ 2 in LS 20 n. §§ XL eing. nur §§ 1 nur §§ 4 m. Üb. mit Einschüben aus LS 5, 18 u. 21-23 in LS 20 n. §§ XXXI eing. in LS 20 n. §§ XLV eing. in LS 20 n. §§ XLVI eing.
E20/2
(S. 172)
LA (S. 170)
– –
m. Üb.
Besonderheiten m. Üb. (≈ Incipit)
– –
8
KG 7
»II.« fehlt als Üb.
Besonderheiten
C. 2 D. 3 C. 3 D. 2 C. 5 B. 14 D. 8 B. 1 – – B. 8 B. 12 B. 40 –
C. 13
C. 12
C. 7 C. 8
nur §§ 3 nur §§ 2 nur §§ 1
nur §§ 1 nur §§ 2
nur §§ 1 nur §§ 2
nur §§ 2 nur §§ 4
nur §§ 3
C. 9 C. 10 D. 1 C. 6 A. 5
»II.« fehlt als Üb. nur §§ 2 nur §§ 3 nur §§ 4 nur §§ 1 nur §§ 1
Besonderheiten nur §§ 1 nur §§ 3 nur §§ 2 u. 4-11
B. 6 B. 15 B. 18 B. 19 B. 39 C. 4
BÜ B. 7 B. 17 D. 13 D. 14
Besonderheiten
–
C. 14 – – –
A. 4a A. 4b A. 4c A. 4d B. 11 A. 6. a
B. 7d
B. 7c
B. 9. a+b
B. 7b B. 10 A. 4f B. 7
B. 7a
A. 4e
nur §§ 2 nur §§ 4
nur §§ 3
nur §§ 1
A. 6. d »II.« fehlt als Üb. A. 6. b+c
–
KÜ –
–
30 – – –
23 24 25 26 27 28
22
21
20
18 19
17
15 16
14 /2
LM 14 /1
–
30 – – –
23 24 25 26 27 28
22
21
20
18 19
17
15 –
14/2
BA 14/1
86 Christine Vogl
– – – –
– – –
–
– – – –
(COL: Zit.)
(ANM : Ovid ) (BRIEF) (ANM : Lucretius ) (ANM : Virgil )
– – – –
– – – – – – – – – –
– – – – – – – – – –
(COL: Poesie ) (COL: Malerey ) (ANT3) (ANT3) (COL: Abraxas ) (COL: Philoktet ) (ANT3) (ANT3) (COL: Addison ) (COL: Villa Borghese ) (COL: Schönheit ) (COL: Ideal ) (COL: Zit.)
LA XIII /2
m. Üb. (≈ Incipit) u. §§ XIII /1 4 von LS 13
Besonderheiten Üb. fehlt
10 /1
KG 10 /2
(COL: Laokoon s. vorhergehende Seite )
(COL: Laocoon )
S onstige Texte
m. Üb. (wie KG)
Besonderheiten Üb. fehlt
– – – –
–
– – –
– – – – – – – – – –
22 /1
HE 22 /2 m. Üb. (wie KG)
Besonderheiten Üb. fehlt
– – – –
D. 17
B. 34 D. 15 D. 16
B. 2 B. 3 B. 4 B. 5 B. 9 B. 10 B. 11 B. 13 B. 20 B. 22
D. 4 /2
BÜ D. 4 /1
nur 1. Satz u. §§ I nur 1.-3. § nur §§ »Zum zweyten Th. des Laokoon« nur §§ »Zum Schluße des Laokoon«
nur §§ LXIX nur §§ LXXI 1. Satz fehlt nur 4. Satz u. §§ I
Besonderheiten m. Anm. v. KG zur Üb. in ( ) m. Anm. v. KG zur Üb. in ( ) statt »s. vorhergehende Seite« nur §§ I nur §§ 3 u. 7 nur §§ LXVII nur §§ LXVIII nur 3. §
– – – –
–
– – –
– – – – – – – – – –
B. 8 /2
KÜ B. 8 /1 Üb. fehlt
– – – –
–
– – –
– – – – – – – – – –
29 /2
Besonderheiten LM m. Unter-Üb. von §§ 2 29 /1
34 35 36 37
33
– – 32
31 – – – – – – – – –
29b
BA 29a
Lessings Laokoon-Nachlass 87
88
Abb. 1:
Christine Vogl
Monogramm (H: 3,4 cm) von Gotthold Lessing (1861±1919) auf der weißgelben Mappe der Lessing-Sammlung Nr. 1±30 der Staatsbibliothek zu Berlin ± Preußischer Kulturbesitz.
Lessings Laokoon-Nachlass
Abb. 2:
89
Dreiteiliges A la Mode-Wasserzeichen im Papier von LS 2±5, 8, 13, 16, 21, 23 (Bl. 1±3) und 24: In der Mitte der einen Bogenhälfte Kavalier mit Hut oder Blumenbouquet (H: 8,6 cm), in der Mitte der anderen Dame, vermutlich mit Lorgnon (H: 8,8 cm), im Falz die doppelstrichigen Antiqua-Versalien SE im doppelkonturigen Kreis mit hochgezogenem Kreuz (H: 3,5 cm). Papier gelbbräunlich, gerippt, dünn.
90
Abb. 3:
Christine Vogl
Dreiteiliges Wasserzeichen der Papiermühle Breslau im Papier von LS 1: Zwischen Kettlinie 3 und 7 (bzw. 11 und 15) schlesischer Adler (H: 8,3 cm) mit Kleeblattsichel und mittig hochgezogenem Kreuz, zwischen Kettlinie 9 und 11 (bzw. 7 und 9) der kursive Schriftzug ¾Breslau½ über der Jahreszahl 1760 und zwischen Kettlinie 13 und 14 (bzw. 4 und 5) das Kopfbild von St. Johannes dem Täufer im doppelkonturigen Kreis über der doppelstrichigen Antiqua-Versalie W (H: 4,5 cm). Papier gelbbräunlich, gerippt, mittelstark.
Lessings Laokoon-Nachlass
Abb. 4:
91
Einteiliges Wasserzeichen der Papiermühle Alt-Friedland im Papier von LS 23, Bl. 4: Zwischen vier Kettlinien im Abstand von je ca. 2,3 cm schlesischer Adler mit Kleeblattsichel und mittig hochgezogenem Kreuz (H: 5,8 cm), darunter der doppelstrichige Antiqua-Schriftzug ¾FRIEDLAND½ in einlinigem Rahmen über der Jahreszahl 1749. Papier gelbbräunlich, gerippt, dünn.
92
Abb. 5:
Christine Vogl
Zweiteiliges Wasserzeichen der französischen Papiermacher Jean Villedary im Papier von LS 15, 27, 31 und 34: Zwischen Kettlinie 5 und 6 (bzw. 17 und 18) die doppelstrichigen Antiqua-Versalien IV (bzw. VI) (H: 1,6 cm), zwischen Kettlinie 16 und 19 (bzw. 4 und 7) heraldische Lilie über Straßburger Wappen (H: 12,2 cm). Papier gelblich, gerippt, stark.
Lessings Laokoon-Nachlass
Abb. 6:
LS 5, Bl. 1r (ca. 27,2 × 18,6 cm).
93
94
Abb. 7:
Christine Vogl
LS 8, Bl. 1r (ca. 27,2 × 18,7 cm).
Lessings Laokoon-Nachlass
Abb. 8:
LS 7, Bl. 1r (ca. 18,5 × 14,2 cm).
95
96
Abb. 9:
Christine Vogl
LS 15, Bl. 1r (ca. 15,9 × 14,8 cm).
Lessings Laokoon-Nachlass
Abb. 10: LS 20, Bl. 1r (ca. 34,8 × 20,9 cm).
97
98
Christine Vogl
Bildnachweis: Abb. 1±5:
Staatsbibliothek zu Berlin ± Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung. Abreibungen der Wasserzeichen: Kurt Heydeck. Abb. 6±10: Staatsbibliothek zu Berlin ± Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Bibliothek.
Wolfgang Adam Wolfgang Adam Hugo Blümners Edition von Lessings Laokoon. Gelehrsamkeit und Zeitgeschmack
Hugo Blümners Edition von Lessings Laokoon Hugo Blümners Edition von Lessings ¾Laokoon½ Gelehrsamkeit und Zeitgeschmack
Am Beginn meiner Ausführungen zu Hugo Blümners Edition von Lessings Laokoon ist das Exemplar vorzustellen, mit dem ich arbeite. 1 Ich habe Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts antiquarisch die zweite verbesserte und vermehrte Auflage (Berlin: Weidmannsche Buchhandlung) aus dem Jahr 1880 erworben. Das neu gebundene Buch trägt auf dem Titelblatt den Besitzstempel »Köngl. Gymnasium Bibliothek Schneidemühl«. Es gehörte also zur Schulbibliothek der seit 1945 polnischen Stadt 3LáD in der Woiwodschaft Großpolen, der Ort liegt ca. 80 km nördlich von Posen. Habent sua fata libelli:2 Keinen Buchliebhaber wird das gedruckte Zeugnis eines untergegangenen Kulturraums unberührt lassen. Mir geht es aber nicht um die historisch-politischen Aspekte dieses Exemplars oder die Frage, auf welchen Wegen, besser wohl, auf welchen Kanälen ein solches Buch aus einer Gymnasialbücherei im ehemaligen Westpreußen in eine Privatbibliothek nach Rulle in Niedersachsen gekommen ist. Mich interessiert das Faktum des Standorts in der Bücherei eines Gymnasiums. Denn nicht nur der Besitzvermerk, sondern auch zahlreiche dezidierte Hinweise von Hugo Blümner belegen, daß Lessings Laokoon Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zum Kanon der Schullektüre gehörte. Der Professor für Archäologie und Klassische Philologie Hugo Blümner freut sich im Vorwort zur zweiten Auflage besonders über die große und zustimmende Resonanz, welche die erste Ausgabe in der »Lehrerwelt« gefunden habe, und er weiß in der Einleitung zu berichten, daß der Laokoon an höheren Lehranstalten des Deutschen Reiches Gegenstand des Unterrichts, ja selbst Thema von schriftlichen Aufsätzen gewesen ist.3 Neben dem universitären Milieu bildete die soziale Elite der Gymnasiallehrer die präferierte Zielgruppe von Blümners Publikation. Die häufig im Kommentar zitierten Schulprogramme4 sind ein eindeutiger Beleg für das Selbstverständnis dieser Schulprofessoren, die zu einem beträchtlichen Teil weiter 1 2 3 4
Lessings Laokoon. Hg. und erläutert von Hugo Blümner. Zweite verbesserte und vermehrte Auflage. Mit drei Tafeln. Berlin 1880 (im Folgenden zitiert als Blümner 1880). Zur Herkunft und Tradition dieses Zitats vgl. Wolfgang Milde: Habent sua fata libelli. Zur Geschichte eines Zitats. Berlin u. a. 1988. Vgl. Blümner 1880, S. V und XIX. Vgl. ebd., S. 536, 588 und 629.
100
Wolfgang Adam
forschten und publizierten und sich so der wissenschaftlichen Gemeinschaft zugehörig fühlten. Es ist also kein Zufall, daß Blümners grundgelehrtes Werk, in dem ± selbstverständlich ohne Übersetzung ± lateinisch, griechisch, englisch, französisch und italienisch zitiert wird, sich in einer Schulbücherei befand. 5 Es wäre interessant nachzuprüfen, welche Gymnasien heute z. B. Barners LaokoonAusgabe in ihrer Bücherei haben. Wilfried Barner hat in seiner ebenfalls als grundgelehrt zu klassifizierenden Laokoon-Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag Blümners Edition als vorbildlich gewürdigt und insbesondere darauf hingewiesen, daß die aktuelle Lessing-Forschung sich noch immer an den »eingehenden Untersuchungen«6 von Hugo Blümner und Emil Grosse zum Nachlaß Lessings7 orientiert. Dem »lieben Freunde, dem treuen Helfer und Berather Emil Grosse in Memel« widmet Blümner seinen Laokoon.8 Grosse war Gymnasiallehrer in Königsberg und wurde anschließend Direktor des Gymnasiums in Memel. Beide Schulmänner und Philologen sind sich während Blümners Königsberger Zeit begegnet und näher gekommen.9 Ich werde zunächst mit wenigen Strichen Vita und ¯uvre Hugo Blümners skizzieren. Dieser biobibliographische Abriß erscheint um so angemessener zu sein, da der Gelehrte keine Erwähnung in Hellmut Sichtermanns Kulturgeschichte der Klassischen Archäologie10 gefunden hat und Wolfgang Schiering11 nur mit wenigen Sätzen auf ihn eingeht. Anschließend werde ich unter den beiden Gesichtspunkten Gelehrsamkeit und Zeitgeschmack die Ausgabe vorstellen, die noch heute Teil der Lessing-Philologie ist. Aus der Rezeptionsforschung wissen wir, in welchem Maße eine gelungene oder mißratene Edition
5
6
7 8 9 10 11
Auch mein Exemplar der ersten Ausgabe stammt aus einer Schulbibliothek. Der Stempel auf dem Titelblatt dokumentiert die Provenienz aus der Bücherei des Gymnasiums von Arnstadt: Lessings Laokoon. Hg. und erläutert von Hugo Blümner, Prof. der Archäologie an der Universität Königsberg. Mit Holzschnitten. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1876 (im Folgenden zitiert als Blümner 1876). Wilfried Barner: Kommentar. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 5/2: Werke 1766±1769. Hg. von Wilfried Barner. Frankfurt am Main 1990 (im Folgenden zitiert als FA 5/2), S. 621±916, hier S. 637. Vgl. Emil Grosse: Über Lessings Handschrift des Laokoon und den Nachlass zu demselben. In: Archiv für Litteraturgeschichte 9 (1880), S. 144±171. Vgl. Blümner 1880: Zueignung. Die erste Ausgabe von 1876 (Anm. 5) hat folgende Zueignung: »Dem Freundeskreise in Breslau in alter Anhänglichkeit und Treue gewidmet.« Vgl. Blümner 1876, S. XI; Blümner 1880, S. VI. Hellmut Sichtermann: Kulturgeschichte der klassischen Archäologie. München 1996. Vgl. Wolfgang Schiering: Zur Geschichte der Archäologie. In: Allgemeine Grundlagen der Archäologie. Begriff und Methode, Geschichte, Problem der Form, Schriftzeugnisse. Hg. von Ulrich Hausmann. München 1969 (Handbuch der Archäologie. Im Rahmen des Handbuchs der Altertumswissenschaft 6/1), S. 11±161, hier S. 94.
Hugo Blümners Edition von Lessings Laokoon
101
die Wirkung und das Weiterleben eines Textes lenken kann. 12 Diese Einsicht berechtigt zur eingehenden Beschäftigung mit Blümners Laokoon-Edition.
I. Der 1844 in Berlin geborene und in Breslau aufgewachsene Hugo Blümner13 studierte nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums Klassische Philologie und Archäologie in Bonn bei Otto Jahn, einer zentralen Figur der europäischen Altertumswissenschaft im 19. Jahrhundert.14 Blümner verehrte zeitlebens seinen akademischen Lehrer, 15 dessen Forschungen er mehrmals im Kommentar der Laokoon-Ausgabe affirmativ zitiert.16 Promoviert wurde Blümner in Bonn mit einer Dissertation über Lukian.17 Die Habilitation erfolgte 1870 in Breslau mit einer Studie über die Kunstdarstellung des Hephaistos, 18 wenige Jahre später erschien in Leipzig bei Teubner das vierbändige Standardwerk Technologie und Terminologie der Gewerbe und Künste bei Griechen und Römern.19 Der Ausrichtung des Fachs im 19. Jahrhundert folgend war Blümner als Klassischer Philologe und Archäologe ausgewiesen,20 er widmete sich zeitlebens sowohl den Texten als auch den Realien der antiken Überlieferung. Diese breite Quellenkenntnis kam ihm bei der Erstellung des Laokoon-Kommentars in hohem Maße zugute. Nach Dozententätigkeit in Breslau und Königsberg wurde er 1877 auf einen Lehrstuhl für Altertumswissenschaft (Klassische Philologie und Archäologie) an der Universität Zürich berufen,21 an der er bis zu seinem Tode
12
13
14 15 16 17 18 19 20 21
Ein negatives Beispiel wäre die Ausgabe der Tagebücher Wilhelm Heinses durch Albert Leitzmann. Vgl. Rolf Wiecker: Wilhelm Heinses Beschreibung römischer Kunstschätze. Pallazzo Borghese, Villa Borghese. Kopenhagen 1977 (Text & Kontext. Sonderreihe 4), S. 11f. Lebensdaten nach den Nekrologen von Otto Waser: Hugo Blümner. In: Biographisches Jahrbuch für Altertumskunde 41 (1921), S. 1±44; Albert Rehm: Blümner. In: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 8 (1919), S. 29f. Vgl. auch die Artikel in der ADB 50 (1905), S. 503f., und NDB 2 (1955), S. 320. Vgl. Sichtermann (Anm. 10), S. 220±224; Schiering (Anm. 11), S. 73f. So Rehm (Anm. 13), S. 29: »So kann er als Fortsetzer von Bestrebungen seines Bonner Lehrers Otto Jahn gelten«. Blümner 1880, S. 509, 677 u. ö. Hugo Blümner: De locis Luciani ad artem spectantibus. Diss. Berlin 1866. Hugo Blümner: De Vulcani in veteribus artium monumentis figura. Habil.-Schrift. Breslau 1870. Vgl. hierzu Waser (Anm. 13), S. 17. Hugo Blümner: Technologie und Terminologie der Gewerbe und Künste bei den Griechen und Römern. 4 Bde. Leipzig 1875±1887 (Nachdruck Hildesheim 2004). Er folgte hier dem Rat seines Lehrers Otto Jahn. Vgl. Waser (Anm. 13), S. 9. Waser hält Gottfried Kellers Reaktion auf die Züricher Antrittsvorlesung Über den Entwicklungsgang und die gegenwärtigen Aufgaben der Kunstgeschichte vom 8. 12. 1877 fest: »Der scheint über seine Nase hinauszusehen, was bei diesen Herrn sonst nicht immer der Fall ist« (Waser [Anm. 13], S.19).
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1919 lehrte.22 Die lange und fruchtbare Lehrtätigkeit an der Universität Zürich hat eine schöne Würdigung durch Heinz Hafter gefunden.23 Blümner hat sich im kulturellen und gesellschaftlichen Leben der Stadt engagiert und die Verbindung zum außerfachlichen Publikum gesucht und gefunden. Noch heute im wissenschaftlichen Diskurs präsent ist sein Band Die römischen Privataltertümer, der als Teil IV,2,2 im Handbuch der Altertumswissenschaften bei Beck erschienen ist.24 Von ihm liegen eine ganze Reihe von textkritischen Studien zu Pausanias,25 Plutarch, Petronius und Apuleius vor.26 Intensiv beschäftigte er sich mit dem Phänomen der Metaphorik in der griechischen und römischen Literatur.27 Eine gewisse Kuriosität bildet seine streng nach philologischen Prinzipien arbeitende Untersuchung Der bildliche Ausdruck in den Reden des Fürsten Bismarck, die aus dem Geiste der Bewunderung für den Reichsgründer, aber nicht im Ton des Byzantinismus geschrieben ist.28 Wie sehr sich der Forscher um Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse für ein breiteres, auch außeruniversitäres Publikum bemühte, beweist der noch heute lesenswerte Vortrag Dilettanten, Kunstliebhaber und Kenner im Alterthum, den er im Herbst 1871 im »Verein für Geschichte der bildenden Künste zu Breslau« gehalten hat.29
II. An den gleichen Rezipientenkreis einer akademisch ausgebildeten, mit der antiken Mythologie und Kunstgeschichte aufs engste vertrauten Leserschaft wendet sich ± neben dem Fachpublikum der Kollegen aus den Altertums-
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Die große Anerkennung, die Blümner im Fach und in der breiteren Öffentlichkeit genossen hat, dokumentiert auch die voluminöse Festschrift: Festgabe Hugo Blümner. Überreicht zum 9. August 1914 von Freunden und Schülern. Zürich 1914. Im Geleitwort wird eigens erwähnt, daß ein Beitrag die Erinnerung weckt »an Ihre Beschäftigung mit Lessings Meisterwerk«, S. IV. Es handelt sich um die Studie von Paul Weizäcker: Dannecker über Laokoon. In: ebd., S. 157±163. Vgl. Heinz Hafter: Die klassische Altertumswissenschaft an der Universität Zürich im Überblick (von der Gründung der Universität 1833 bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts). Studienführer des Klassisch-Philologischen Seminars. Zürich 1971. Hugo Blümner: Die römischen Privataltertümer. München 1911 (Handbuch der Altertumswissenschaft 4/2/2). Vgl. Pausaniae Graeciae Descriptio. Hg. von Hugo Blümner und Hermann Hitzig. Leipzig 1896ff. (Nachdruck Hildesheim 1984). Vgl. z. B. Hugo Blümner: Kritische Bemerkungen zu Plutarchs Moralia. In: Hermes 51 (1916), S.415±412. Ders.: Zu Apuleius Metamorphosen. In: Hermes 29 (1894), S. 294± 312. Vgl. Hugo Blümner: Studien zur Geschichte der Metapher im Griechischen. Leipzig 1891 (Nachdruck Aalen 1974). Hugo Blümner: Der bildliche Ausdruck in den Reden des Fürsten Bismarck. Leipzig 1891. Zum möglichen Vorwurf des Byzantinismus vgl. S. VI. Hugo Blümner: Dilettanten, Kunstliebhaber und Kenner im Alterthum. Ein Vortrag gehalten im Verein für Geschichte der bildenden Künste zu Breslau. Berlin 1873.
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wissenschaften ± auch seine Edition des Lessingschen Laokoon. Die erste Auflage ist 1876 erschienen.30 Im Vorwort der zweiten Auflage31 weist Blümner auf die wesentlichen Erweiterungen und Umgestaltungen hin, welche die von 21 auf 48 Bogen angewachsene Neuausgabe erfahren hat. Schon die quantitative Gliederung dieses Werks ist aufschlußreich. Durch den Paratext, die Widmung an Emil Grosse, wird das Buch nach dem Verständnis Blümners ganz im klassisch-humanistischen Geist zu einem pignus amoris innerhalb der respublica litteraria. Nach einem 18 Seiten umfassenden Vorwort (S. V±XXII) folgt eine 140 Seiten füllende, fundierte Einleitung (S. 1±140). Der Text Lessings wird auf den Seiten 141 bis 349 mit den Lesarten (Originalhandschrift, Korrekturbogen, Lessings Verbesserungen in den Korrekturbogen etc.) präsentiert. An diese Edition schließen sich fast 130 Seiten Entwürfe, Notizen und Collectanea zum Laokoon aus Lessings handschriftlichem Nachlasse an (S. 351±478), auf die noch heute die Editoren von Lessing-Ausgaben gern und mit Gewinn zurückgreifen. Ein monumentum eruditionis stellt dann der 200 Seiten umgreifende Kommentar dar (S. 479±680). Im Anhang bietet Blümner Christian Garves rezeptionsgeschichtlich so wichtige Anzeige von Lessings Laokoon32 im neunten Band der Allgemeinen deutschen Bibliothek (1769) und einen Abdruck eines Beitrags von Emil Hübner, welcher die antiken Repliken der Laokoon-Gruppe und weitere bildliche Darstellungen der Sage in der antiken Kunstgeschichte auflistet.33 Nach einer unter wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten höchst aufschlußreichen Bibliographie, Litteratur über die Gruppe des Laokoon (seit Winckelmann)34 ± so der Zusatz in Klammern ± folgen drei mit größter Akribie erstellte Register, zunächst ein Personenverzeichnis mit biographischen Notizen, dann ein Sachregister und schließlich ein besonders verdienstvolles Verzeichnis von sprachlichen und orthographischen Eigenthümlichkeiten, Worterklärungen u. dgl. Blümner hat sich zu dieser anerkennenswerten Leistung selbst verpflichtet, denn er stellt im Vorwort lapidar fest, »daß ein Buch ohne gutes Register heutzutage eine Beleidigung des Publikums sei«.35 30 31
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Siehe die bibliographische Angabe in Anm. 5. Diese zweite Auflage von 1880 (Anm. 1) ist zusammenzusehen mit den 1881/82 erschienenen Laokoon-Studien, in deren 2. Heft Blümner ausführlich und instruktiv den Themenkomplex des fruchtbaren Augenblicks und den Moment des Transitorischen in den Künsten von der Antike bis zur eigenen Gegenwart behandelt. Vgl. Hugo Blümner: LaokoonStudien. Zweites Heft. Über den fruchtbaren Moment und das Transitorische in den Bildenden Künsten. Freiburg, Tübingen 1882. Blümner 1880, S. 683±703. Erstdruck: Christian Garve: Lessings Laokoon. In: Allgemeine deutsche Bibliothek 9/1 (1769), S. 328±358. Emil Hübner: Über antike Repliken der Laokoon-Gruppe und andersweitige Darstellungen der Laokoon-Sage. In: Blümner 1880, S. 704±721; zuerst erschienen in: Nord und Süd 8 (1879), S. 346±364. Blümner 1880, S. 722±724. Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in Malerei und Bildhauerkunst und Die Geschichte der Kunst markieren für Blümner den Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Laokoon und werden noch 1880 als aktuelle archäologische Forschungsliteratur behandelt! Blümner 1880, S. XX.
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Seinem akademischen Lehrer Otto Jahn, der sich selbst als Schüler Karl Lachmanns sah, verdankt Hugo Blümner die solide philologische Ausbildung, die er konsequent in seiner Edition des Lessing-Textes umsetzt. Ganz im Sinne der textkritischen Vorstellungen der Gründerväter der Deutschen Philologie versucht er, »den Text möglichst in der Gestalt zu geben, in welcher Lessing ihn muthmaßlich gegeben wünschte.«36 Bei dem Vergleich des Erstdruckes mit der Originalhandschrift und den unterschiedlichen Korrekturdurchgängen von Lessings Hand stützt sich Blümner auf die Forschungen von Emil Grosse, der auf seine Bitte hin die Kollation der Textzeugen in Berlin vorgenommen hat.37 Die Kooperation zwischen Grosse und Blümner ist ein beeindruckendes Dokument für das procedere, das Holger Dainat und Rainer Kolk einmal so zutreffend als »geselliges Arbeiten« bezeichnet haben: Im Lauf des 19. Jahrhunderts entsteht eine neue »Kommunikationsgemeinschaft von Spezialisten, die auf gemeinsame Problemstellungen und Gegenstandsbereiche verpflichtet sind«,38 hier die Textkonstitution des Lessingschen Laokoon. In Anbetracht der zahlreichen Druckfehler in der Editio princeps von 1766 und der trotz Lachmanns Bemühungen stehengebliebenen und von Ausgabe zu Ausgabe weitergegebenen Versehen entschließt sich Blümner, einen ¾gereinigten Text½ vorzulegen und in der adnotatio critica alle Varianten zu verzeichnen.39 Blümner weiß um das damals in der Fachwelt einsetzende Unbehagen an solchen voluminösen Apparatungetümen, die über hunderte von Seiten wie ein mitlaufendes Band den Haupttext begleiten,40 und versucht mit zwei Argumentationslinien den zu erwartenden Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Er verweist einmal auf die exzeptionelle Stellung Lessings innerhalb der deutschen Literatur und begründet zum anderen das zugegebenermaßen aufwendige Verfahren mit der Transparenz für den Benutzer seiner Ausgabe. Aufgrund des ausführlichen Apparats ist der Leser in der Tat in der Lage, jede der Entscheidungen des Editors nachzuprüfen. Rückschauend kann man sagen, daß die Mehrzahl der editorischen Festlegungen Blümners von der Lessing-Philologie akzeptiert wurden und sein akribisches Durchspielen aller möglichen Abhängig36 37
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Ebd., S. XIII. Ebd., S. VIII. Zur handschriftlichen Überlieferung des Laokoon und der Paralipomena vgl. Wolfgang Milde: Gesamtverzeichnis der Lessing-Handschriften. Bd. 1. Heidelberg 1982, S. 172±180; Elisabeth Blakert: Grenzbereiche der Edition. Die Paralipomena zu Lessings Laokoon. In: editio 13 (1999) S. 78±97. Holger Dainat und Rainer Kolk: »Geselliges Arbeiten.« Bedingungen und Strukturen der Kommunikation in den Anfängen der Deutschen Philologie. In: Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft. Hg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Stuttgart 1987 (Sonderheft der DVS 1987), S. 7±41, hier S. 7. Blümner 1880, S. XIV. Dies belegt die selbstkritisch gestellte Frage im Vorwort: »Warum überhaupt diesen ganzen Ballast von kritischem Material mit abdrucken, anstatt einfach nach eigener Entscheidung den Text zu gestalten und höchstens an ganz besonders wichtigen oder zweifelhaften Stellen dem Leser das benutzte kritische Material zur Beurtheilung vorzulegen? ± Sicherlich sind diese Einwendungen nicht gänzlich ohne Berechtigung« (Blümner 1880, S. XIV).
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keitsrelationen zwischen Lessings Originalhandschrift, den Korrekturbögen, den Autorverbesserungen in diesen Korrekturbögen sowie den Ausgaben von 1766 und 1788 den hohen Standard der Editionskultur gegen Ende des 19. Jahrhunderts dokumentieren. Maßstäbe setzt Blümner auch mit der Präsentation der Entwürfe, Notizen und Kollektaneen aus Lessings handschriftlichem Nachlaß. Darunter befindet sich auch dankenswerter Weise die in Französisch geschriebene Vorrede.41 Lessing trug sich kurz mit dem Gedanken, einen überarbeiteten Laokoon in Französisch zu bieten. Möglicherweise wollte er, wie Wilfried Barner vermutet, mit der Version in der im Gelehrtenmilieu des 18. Jahrhunderts weit verbreiteten Sprache eine größere Resonanz bei einem europäischen Publikum erreichen, denn das Französische nahm im Bereich der Akademien auf dem Kontinent die Funktion der neuen lingua franca ein.42 Die Begründung, die Lessing für die Überlegung gibt, daß nämlich die französische Sprache für diese Form von Abhandlungen besser geeignet sei als die deutsche, überrascht aus seiner Feder,43 und Blümner beeilt sich zu sagen, daß Lessing diesen Gedanken nicht weiter verfolgt hätte.44 Die Vorstellung eines Laokoon en français paßte einfach nicht in das Bild, das eine ihre Identität in der nationalen Dichtung suchende Germanistik sich von diesem Werk als »Muster des klassischen Ausdrucks« 45 geformt hatte.
III. Die Einleitung und der Stellenkommentar sind als Einheit zu sehen. Blümner arbeitet mit zahlreichen Verweisungen; einzelne Ausführungen wie zu Lessings
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Gotthold Ephraim Lessing: Preface. In: Blümner 1880, S. 403. Vgl. zu dieser französischen Vorrede ausführlicher: Wolfgang Adam: Le Laokoon en français? Réflexions sur le concept de gallotropisme comme instrument heuristique. In: Les Lumières. Un héritage et une mission. Hommage à Jean Mondot. Hg. von Gilbert Merlio und Nicole Pelletier. Bordeaux 2012, S. 97±109. Vgl. FA 5/2, S. 915. »La langue allemande, quoique elle ne lui cede en rien etant manié comme il faut, est pourtant encore à former, à creer meme, pour plusieurs genres de composition, dont celuiFH QHVW SDV OH PRLQGUH 0DLV j TXRL ERQ VH GRQQHU FHWWH SHLQH DX ULVTXH PHPH GH Q¶\ reuissir au gout des ses compatriots? Voila la langue françoise deja toute crée, toute formée: risquons donc le paquet« (Gotthold Ephraim Lessing: Preface. In: Blümner 1880, S. 406). Vgl. seinen Kommentar in der Einleitung: »Doch finden sich weiter keine Spuren, daß Lessing diesen Gedanken längere Zeit festgehalten hätte: alle Materialien zur Fortsetzung des Werkes sind deutsch niedergeschrieben« (Blümner 1880, S. 101, Anm. 2). Ebd.
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Passagen zum »Endzweck der Kunst«46 oder zur Theorie des »fruchtbaren Augenblicks«47 bilden im Adnotationes-Teil selbst wieder eigenständige Abhandlungen. Die Kommentierung bewegt sich auf mehreren Ebenen. Die Basis bilden naturgemäß philologische und archäologische Sacherklärungen. Ausdrücklich zu bemerken ist, daß der Klassische Philologe Blümner sich nicht auf die Erläuterung griechischer und lateinischer Vokabeln beschränkt, sondern unter Orientierung vor allem an den sprachhistorischen Forschungen der Brüder Grimm auch Eigentümlichkeiten der deutschen Sprache des 18. Jahrhunderts in der Syntax und Semantik erklärt, etwa wenn er an den veränderten Gebrauch der doppelten Verneinung erinnert48 oder Lessings für den ungeübten Leser angeblichen pleonastischen Regelverstoß in der Formulierung »todte Leichname« mit dem noch bei Luther belegten Bedeutungswandel des Wortes »Leichnam« entkräftet.49 Auf welch hohem philologischen Niveau die Worterklärungen in den alten Sprachen abgehandelt werden, belegt der Kommentar zu dem zweitletzten Wort im Laokoon. Nicht nur Studenten fragen sich, was das Wort »Krokylegmus« eigentlich bedeutet, das Lessing verwendet, um sein Verhältnis zu Winckelmann zu charakterisieren. Der Text endet bekanntlich so: Doch ich enthalte mich, dergleichen Kleinigkeiten [sc. an Kritikpunkten] auf einen Haufen zu tragen. Tadelsucht könnte es zwar nicht scheinen; aber wer meine Hochachtung für den Herrn Winkelmann kennet, dürfte es für Krokylegmus halten.50
Das Wort krokylegmos besteht aus den Bestandteilen krokys, ¾Flosen, Flocken½ bei Kleidern und legein, hier in der Bedeutung ¾absuchen; sammeln½.51 Gemeint ist damit, daß durch das schmeichelnde Hervorheben von unwichtigen, zu monierenden Details suggeriert wird, daß es keine wesentlichen Kritikpunkte im gesamten Werk gäbe. Blümner verweist für den ursprünglichen Sinn des Abflusens auf das Lexikon des Hesychios von Alexandria,52 für die übertragene Bedeutung auf eine Stelle in Theophrasts Charaktere, in der im Kapitel 2 Der Speichellecker diese Tätigkeit als Kennzeichen des Schmeichlers angeführt
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Blümner 1880, S. 496ff. Ebd., S. 513ff. Vgl. hierzu vor allem die noch differenziertere Darstellung »Über den fruchtbaren Moment und das Transitorische in den Bildenden Künsten« in Blümners Laokoon-Studien 2 (Anm. 31). Blümner 1880, S. 582. Ebd., S. 590. Laokoon, Ed. Blümner 1880, S. 348f. Wilhelm Gemoll: Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch. 8 Auflage. München, Wien 1962, S. 454, 467. Wilhelm Pape: Griechisch-deutsches Handwörterbuch. 2 Bde. Nachdruck der 3. Auflage. Graz 1954, Bd. 1, S. 1512, Bd. 2, S. 321. Liddell-Scott: A Greek-English Lexicon. Oxford 1996, S. 998: »flock or nap on woollen cloth; typical of a flatterer.« Blümner 1880, S. 680. Nachweis bei Hesychii Alexandrini Lexicon. Hg. von Moritz Schmidt. 2. Auflage. Jena 1867, Sp. 924.
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wird.53 »Lessing verwahrt sich also dagegen«, wie Blümner bündig nach dieser intensiven Recherche feststellt, »nur aus Schmeichelei gegen Winckelmann jene kleinen Versehen seines Werkes berichtigt zu haben.«54 Barner bezieht sich in seinem Kommentar ausdrücklich auf Blümners Erklärung, im Gegensatz zu dem Kommentator des 19. Jahrhunderts gibt er nicht mehr die Originalzitate in Griechisch.55 Gegen Ende des Laokoon, im Kapitel XXVIII, entwickelt Lessing in polemischer Abgrenzung zu Winckelmann eine eigenwillige Deutung des Borghesischen Fechters,56 den er als Statue des athenischen Feldherrn Chabrias zu deuten glaubt.57 Nach Widerspruch von Heyne und Klotz zieht er später diese Interpretation in den Antiquarischen Briefen zurück.58 Die Form, in der Blümner diesen komplexen Sachverhalt behandelt hat, kann als typisch für seine Vorgehensweise bei der Erklärung archäologischer Streitfragen betrachtet werden. Blümner stimmt zunächst Lessings Kritik an Winckelmanns fehlerhaften Beschreibungen der sich heute im Louvre befindlichen Statue zu, weist aber auch Lessing Irrtümer nach und gibt am Ende die Sicht der damals aktuellen archäologischen Forschung wieder, nach der es sich um die Darstellung eines Kriegers handle.59 Als Beleg verweist er mit Seitenangabe auf zwei damalige Standardwerke zur antiken Plastik, auf Carl Friederichs¶ Verzeichnis von Berlins antiken Bildwerken60 und Johannes Overbecks Griechische Plastik.61 Blümner adaptiert durchgehend bei Streitfragen über Datierung und Deutung antiker Denkmäler die Rolle des Experten, welcher zunächst die Debatte in der antiquarischen Phase des 17. und 18. Jahrhunderts ± die Positionen von Junius, Caylus, Richardson, Harris, Klotz ± dokumentiert und sie dann bis zum gegenwärtigen Wissensstand der archäologischen Forschung führt ± und das ist das Frappierende an seiner Argumentation: Lessing wird bei diesem Prozeß gleich-
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Vgl. Theophrast: Charaktere 2,3. In: Theophrastus: Characters. Herodas: Mimes. Sophron and other Mime Fragments. Ed. and transl. by Jeffrey Rusten and Ian Campell Cunningham. 3. Auflage. Cambridge Mass. u. a. 2002 (The Loeb Classical Library 225), S. 54f. Blümner 1880, S. 680. Vgl. FA 5/2, S. 862. Sog. Borghesischer Fechter, Marmorstatue des Agasias von Ephesos, um 90 v. Chr. Datierung nach Werner Fuchs: Die Skulptur der Griechen. Aufnahmen von Max Hirmer. München 1969, S. 146ff; Francis Haskell and Nicholas Penny: Taste and the Antique. The Lure of Classical Sculpture 1500±1900. 2. Auflage. New Haven, London 1982, S. 221f. Vgl. Laokoon, Ed. Blümner 1880, S. 340ff. (Kap. XXVIII). »Ich nehme sie gänzlich zurück: der Borghesische Fechter mag meinetwegen nun immer der Borghesische Fechter bleiben, Chabrias soll er mit meinem Willen nie werden. In der künftigen Ausgabe des Laokoon fällt der ganze Abschnitt, der ihn betrifft weg« (Gotthold Ephraim Lessing: 38. Antiquarischer Brief. In: FA 5/2, S. 484). Blümner 1880, S. 678f. Vgl. Carl Friederichs: Bausteine zur Geschichte der griechisch-römischen Plastik. Berlins antike Bildwerke. Bd. 1: Die Gypsabgüsse im neuen Museum in historischer Folge erklärt. Düsseldorf 1868, S. 401ff. Vgl. Johannes Overbeck: Geschichte der griechischen Plastik für Künstler und Kunstfreunde. Bd. 2. 2. umgearbeitete und vermehrte Auflage. Leipzig 1870, S. 318ff.
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sam wie ein moderner archäologischer Kollege behandelt!62 Denn Lessing hat im Unterschied zu den »Antiquaren«, die alles mit allem vergleichen, erkannt, wie fundamental für die angemessene Deutung eines antiken Kunstwerks die Beachtung der Zeit der Entstehung, des gesellschaftlichen Umfeldes und der Gattungszugehörigkeit ist: Das ist einer der Hauptunterschiede der heutigen Archäologie von der damaligen, daß der »Antiquar« aus L>essings@ Zeit durcheinander und ohne Wahl etruskische Urnen, römische Sarkophage, griechische Vasenbilder, Münzen, Gemmen u. s. w. citirte und zu seinen Argumentationen benutzte. Daß dies nicht angehe, das fühlte L>essing@ mit seinem gewöhnlichen Scharfblick vollständig heraus, und darum weist er wiederholt daraufhin, daß der »Kenner« gar manchen Beleg, welchen ihm der »Antiquar« vorwiese, zurückweisen müßWH>«@63
Allein Winckelmann64 hat neben Lessing ± trotz aller Unterschiede in der Kunstauffassung ± im 18. Jahrhundert nach Blümner diese neue Richtung der geschichts-, kontext- und genusbezogenen Interpretation der Antike antizipiert. Bei der Kontroverse zwischen Lessing und Herder ± den beiden Hauptprotagonisten der Laokoon-Debatte neben Winckelmann ± versucht Blümner ebenfalls vom Standpunkt der damaligen altertumswissenschaftlichen Forschungserkenntnisse aus, beiden Parteien gerecht zu werden.65 Er tendiert aber insgesamt doch mehr zu den ± wenn auch manchmal als allzu spitzfindig empfundenen ± Argumentationen Lessings.66 An dem Autor des Ersten kritischen Wäldchens kritisiert er, »die so oft sophistische Art, in welcher Herder Lessing verdreht, ja man könnte manchmal meinen, absichtlich mißversteht,«67 eine offensichtlich bewußt eingenommene Strategie, die in extremen Fällen bis in
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Vgl. die folgende Bemerkung: »Wenn es sich um archäologische Fragen handelt (und das sind ja die von L>essing@ in diesem Abschnitt behandelten), dann verfährt der Archäologe YRQKHXWHQRFKJHUDGHVRZLHGHU¾$QWLTXDU½YRQGHP/>essing@ spricht« (Blümner 1880, S. 561). Ebd. »Aber ± und das ist im Grunde dasselbe, was L>essing@ dabei begehrte und was damals noch keinem Archäologen (ich nehme Winckelmann aus) zu thun einfiel: man muß bei jedem Kunstwerke, ehe man es zum Beweise heranzieht oder Folgerungen und Schlüsse daraus macht, fragen: welcher Zeit verdankt es seine Entstehung, welche Umstände scheinen dabei mitgewirkt zu haben, welcher Klasse von Denkmälern gehört es überhaupt an?« (ebd.) So stimmt Blümner bei der Interpretation der berühmten Stelle im I. Kapitel des Laokoon (»Schreyen ist der natürliche Ausdruck des körperlichen Schmerzes« >Laokoon, Ed. Blümner 1880, S. 151@) Herders Position zu, wenn er im Kommentar feststellt: »Herders Einwendungen >...@ sind hier nicht unberechtigt« (Blümner 1880, S. 489, auch S. 547). Kritik an Herder ebd., S. 555. Typisch hierfür Blümners Bemerkung zu Lessings Datierungsversuch der LaokoonGruppe: »Die Gründe, durch welche Lessing hier, die Entstehung der Gruppe in der Kaiserzeit und die Benutzung Virgils als Quelle vorausgesetzt, die Abweichungen der Künstler vom Dichter motivirt, sind sehr geistreich und fein, aber bewiesen wird damit nichts« (Blümner 1880, S. 537). Ebd., S. 525.
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die Nähe der Perfidie komme. 68 Die aktuelle Forschung hat cum grano salis diese Einschätzung Blümners bestätigt. Bei der Positionierung in der zeitgenössischen archäologischen und ästhetischen Debatte ist es interessant zu sehen, auf welche Gelehrten sich Blümner als Gewährsleute beruft. Neben dem schon erwähnten Overbeck werden häufig Heinrich Brunn69 und Otto Jahn70 affirmativ zitiert, während Joseph Anselm Feuerbachs Deutungen in der Geschichte der griechischen Plastik eher kritisch betrachtet werden.71 Noch aufschlußreicher für das Selbstverständnis des Kommentars ist seine Berufung auf Autoritäten im Feld der Literatur und Ästhetik. Bei zahlreichen Themen, etwa bei der Frage nach der Legitimation des Häßlichen in der Kunst, werden Argumentationsmuster bei Friedrich Theodor Vischer72 und Karl Rosenkranz73 aufgegriffen. Die Zäsur, welche Wilhelm Diltheys Aufsatz in den Preußischen Jahrbüchern von 1867 für die Lessing-Forschung bedeutet, wird von Blümner klar erkannt.74 Ähnlich wie Johann Jacob Volkmann in seinem berühmten Reiseführer, den Historisch-kritischen Nachrichten von Italien, bei der Beschreibung antiker Statuen verstummt und Winckelmann als höchster Autorität das Wort gibt,75 verfährt auch Blümner bei seiner Darstellung der ästhetischen Debatte: Zum Abschluß zitiert er Diltheys resümierende Wertung der einmaligen Leistung des Laokoon, in der dieser Lessing als den »zweiten Gesetzgeber der Künste, insbesondere der Poesie nach Aristoteles« bezeichnet.76 Nun zeigt sich vor allem in diesem kunsttheoretischen Teil die Zeitgebundenheit des Kommentators. Die Wertungen, die Blümner vornimmt und auf die antiken Denkmäler projiziert, zeugen von einem Kunstverständnis, das einmal auf den Genievorstellungen des 18. Jahrhunderts basiert und zum anderen einem steril gewordenen Neoklassizismus huldigt. Der »wahre Künstler« ist
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Vgl. die Bemerkung zu Herders Argumentation über das Phänomen des Schmerzes als Hauptidee des Laokoon: »Hierin liegt schon eine gewisse Perfidie« (Blümner 1880, S. 526). Vgl. z. B. Heinrich Brunn: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig 1853, S. 487; Blümner 1880, S. 486f., vgl. auch S. 676 u. ö., Gegenposition zu Brunn, S. 523. Vgl. Blümner 1880, S. 509 und 677. Vgl. Anselm Feuerbach: Geschichte der griechischen Plastik. Aus dem Nachlasse Anselm Feuerbach´s hrsg. von Hermann Hettner. Bd. 2. Braunschweig 1853, S.185 (»Gruppe des Laokoon«); Blümner 1880, S. 509, 512, 514 u. ö. Vgl. Blümner 1880, S. 514, 620, 638. Vgl. ebd., S. 651. Vgl. Wilhelm Dilthey: Über Gotth. Ephr. Lessing. In: Preußische Jahrbücher 19 (1867), S. 117±161, S. 271±294. Ausdrückliche Zustimmung zu Dilthey: Blümner 1880, S. VI, und S. 32, Anm. 1. Vgl. hierzu Wolfgang Adam: Das Italien-Bild in J. J. Volkmanns Historisch-Kritischen Nachrichten. ,Q /¶,PDJH GH O¶,WDOLH GDQV les lettres allemandes et françaises au XVIIIe siècle. Hg. von Gonthier-Louis Fink. Strasbourg 1994 (Collection Recherches Germaniques 4), S. 49±64, hier S. 69. Blümner 1880, S. 67; Zitat aus Dilthey (Anm. 74), S. 131.
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ein »Künstler von Gottes Gnaden«.77 Werke der Kunst sind »Schöpfungen der freiwaltenden Phantasie«.78 Theoretisieren widerspricht dieser »wahren Kunst«. Dieses Gesetz gilt für die Antike wie die Moderne: »Das Reflektieren über die Kunst beginnt streng genommen erst mit der Zeit, da die Blüte der Kunst bereits vorbei ist, mit Aristoteles.«79 Antike und moderne Künstler handeln auf Grund der Intuition.80 Das Nachdenken über die Grenzen der einzelnen Künste ± das zentrale Thema im Laokoon ± ist für Blümner an sich ein Zeichen des »Niedergangs« ± wie auch jede Form der Allegorie in der Malerei oder Schilderungskunst in der Dichtung. Blümner folgt Lessing bedingungslos in dessen Ablehnung der statisch wirkenden, reinen Beschreibung in der Poesie und der Allegorie in der Malerei.81 Von diesem Verdikt, das in gar keiner Weise der mittelalterlichen und Renaissance-Kunst gerecht werden kann, sind weder Rubens noch die damals modernen Künstler ausgenommen. In der Bildenden Kunst um 1880 zählt Blümner unter die »ersten Künstler« seiner Epoche Kaulbach, Markart, Cornelius und Genelli,82 alle prominente Vertreter der Historienmalerei und des Neoklassizismus. Wenn Blümner diesen Malern vorwirft, daß sie zu häufig allegorische ± in seinen Worten »unmalbare Gegenstände«83 ± in ihren Fresken und Gemälden darstellen, so zeigt er, daß er sich ganz auf der Argumentationslinie Lessings bewegt. Am Beispiel der »Treppenhaus-Bilder« Kaulbachs konstatiert er lapidar: »Es würde nicht schwer fallen, eine ganze Reihe solcher Verstöße JHJHQ GLH /HVVLQJ¶VFKHQ 3ULQFLSLHQ LQ GHU PRGHUQHQ .XQVW QDPKDIW ]X Pachen.« 84 Hier wird nicht weniger gesagt, als daß Lessings Überlegungen noch aktuell sind für die zeitgenössischen Künstler, die allerdings ± im Gegensatz zu den modernen Autoren ± seine Axiome nicht beachten. Noch apodiktischer wurde das in der Vorrede zur ersten Auflage 1876 formuliert, wenn Blümner konstatiert, daß »trotz mannichfacher berechtigter Einwände, die ästhetischen *UXQGVlW]H/HVVLQJ¶VQRFKELVDXIGHQKHXWLJHQ7DJXQDQIHFKWEDUVLQG«.85 Folgerichtig steht am Ende der Einleitung gleichsam als Klimax der Ausführungen der Wunsch: »Möge die Zeit nicht zu fern sein, da auch hier die von dem großen Reformator unserer Ästhetik aufgestellten Gesetze in ihrer vollen
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Blümner 1880, S. 1. Ebd., S. 2. Ebd. Ebd. Ebd., S. 14ff. Ebd., S. 140. Ähnliche Wertung in: Hugo Blümner: Laokoon-Studien. Erstes Heft. Über den Gebrauch der Allegorie in den bildenden Künsten. Freiburg, Tübingen 1881. Blümner 1880, S. 140. Ebd., S. 581. Blümner 1876, S.VII. Vgl. auch ebd.: »Bei den Kunstfreunden aber hat der Laokoon von jeher die Bedeutung eines ästhetischen Kanons gehabt; und trotz vielfacher und heftiger Angriffe haben die Gesetze, die darin aufgestellt sind, noch heute ± einige Modifikationen abgerechnet ± allgemeine Gültigkeit.«
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Bedeutung erkannt, gewürdigt und befolgt werden!«86 Beachtung in dem Zitat verdient die Partikel ¾hier½. Blümner ist nämlich der Ansicht, daß sich in der Dichtung die von Lessing im Laokoon aufgestellten Regeln durchgesetzt haben: Auch unsere moderne Literatur, >...@ läßt diesen Einfluß des Laokoon überall erkennen. Dichter wie beispielshalber Wilh. Jordan, Gottfr. Keller, Paul Heyse, Gust. Freytag, schildern nie das Coexistente, ohne es in Handlung umzusetzen, man kann in der That behaupten, daß das Gesetz, der Dichter solle nicht malen, heute zu einem allgemein anerkannten Dogma geworden ist.87
Man hat fast den Eindruck, daß für Blümner die Zeit der ¾Kunstperiode½ noch nicht vergangen ist; die deutsche Literaturgeschichte von Lessing bis Gustav Freytag wird als eine einheitliche Epoche gesehen. Es ist erstaunlich, daß ein Gelehrter, der in seiner Einleitung die europäische Dimension der ÄsthetikDebatte im 18. Jahrhundert erkennt und die Positionen deutscher und ausländischer Autoren von Addison, Shaftesbury und Richardson über De Piles, Batteux und Diderot bis zu Francesco Saverio Quadrio und Francesco Algarotti differenziert darstellt, beim Blick auf die zeitgenössische Literatur nur deutsche Dichter, und in der Mehrzahl dazu zweitrangige wahrnimmt. Die moderne Literatur vertreten nicht Autoren wie Zola oder Baudelaire, dessen Fleurs du Mal bereits 1857 erschienen sind, sondern ein Epigone wie Wilhelm Jordan, bei dem Blümner die »bedeutende Gestaltungskraft« lobt und als Beispiel auf einen in der Gartenlaube von 1875 erschienenen Text verweist.88 Die klassizistische Grundhaltung des Kommentators zeigt sich auch in seiner Wertschätzung des Epos Hermann und Dorothea, dessen Autor die vorbildliche Erfüllung Lessingscher Einsichten attestiert wird,89 ein Werk, das dem heutigen Leser vielleicht am fernsten von allen Goetheschen Texten steht. So bleibend Blümners Leistungen im sachlich-erklärenden Teil des Kommentars sind, so zeitgebunden erweisen sich seine Positionierungen im ästhetischen Bereich. Diese Beobachtung ist natürlich nicht nur im Blick auf Blümners Edition erwägenswert, sie beschreibt eine Gefahr, in der sich jede geisteswissenschaftliche Äußerung bewegt, selbst das auf den ersten Blick so ausschließlich objektive Geschäft des Kommentierens. Trotz der in der heutigen Editionsphilologie veränderten Einstellung zu den Funktionen eines Kommentars und der Rolle des Kommentators bleibt 86 87 88
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Blümner 1880, S. 140. Ebd., S. 139. Blümner 1880, S. 618f.: »Ich führe zur Bestätigung die Worte an, die ein moderner Dichter von bedeutender Gestaltungskraft, der sich an Homer herangebildet, über poetische GePlOGHVDJW¾(VLVWGDVHLQ8QWHUQHKPHQ½VDJW:LOKHOP-RUGDQ im 7. seiner epischen BrieIHGHUGLH¾.XQVWJHKHLPQLVVH+RPHUV½EHKDQGHOW*DUWHQODXEHIU1R¾JHUDGHVR unsinnig, als wollte ein Bildhauer durch die Lippenstellung seiner Statue einen gesprochenen Satz dem Auge verständlich machen«. Vgl. Wilhelm Jordan: Epische Briefe. VII. Die Kunstgeheimnisse Homers. In: Die Gartenlaube 15 (1875), S. 251f., und 16 (1875), S. 274f. (Zitat von Blümner nicht ganz korrekt!) Blümner 1880, S. 619.
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Wolfgang Adam
Blümners Text aber ein herausragendes Zeitdokument, auch wegen des Engagements des Autors, das sich im suggestiven Duktus und Bilderreichtum seiner Sprache niederschlägt. Besonders markant ± und damit möchte ich schließen ± erscheint mir der Vergleich des selbst als Torso so beeindruckenden Laokoon mit dem nur zu einem kleinen Teil vollendeten Dom in Siena. Im Ton und in der für seine Zeit typischen adorativen Haltung den Zeugnissen der deutschen Klassik gegenüber stellt Blümner fest: Wer je im Dome von Siena gewesen und in Bewunderung des prächtigen gothischen Baues versunken erfuhr, daß dieser mächtige Raum, für sich schon ein gewaltiger Tempel, nach dem erweiterten Plane nur der kleinste Theil, nur das Querschiff einer ganz neuen, viel größeren und prächtigeren Kirche werden sollte; und wer dann die schon aufgeführten hohen Mauern des Neubaus, geborne Ruinen, aber von überwältigender Schönheit, und in der Opera del duomo die Pläne dieses nie zur Vollendung gekommenen Riesenwerkes betrachtete ± den wird etwa in gleicher Weise ehrfurchtsvolle Bewunderung der Kühnheit des Planes und lebhaftes Bedauern, daß derselbe unvollendet geblieben, ergreifen, wie uns, wenn wir sehen, daß der an sich schon so herrliche Bau des Laokoon nur ein verhältnißmäßig kleiner Theil jenes umfassenden Prachtbaues sein sollte, den der Meister beabsichtigte, der vielleicht fertig vor seinem geistigen Auge stand, von dem uns aber, außer dem vollendeten Theile nichts geblieben, als einige Grundrisse und ein Paar leicht hingeworfene, mehr nur andeutungsweise ausgeführte Partieen.90
90
Ebd., S. 119.
Gideon Stiening Gideon Stiening Von der empirischen zur fiktiven Genese. Anmerkungen zur Argumentationsmethode in Lessings Laokoon
Von der empirischen zur fiktiven Genese n der empirischen zur fiktiven Genese Anmerkungen zur Argumentationsmethode in Lessings Laokoon
I. Zur Einführung: Lessing und die »Gymnastik des Geistes« Die folgenden Überlegungen beschäftigen sich in ihrem Zentrum mit einer zunächst unscheinbar wirkenden These Lessings aus der Vorrede des Laokoon: Nach einer kurzen, polemisch gehaltenen Rekonstruktion der modernen Anwendung jener berühmten These des Simonides, die die beiden Gattungen der Kunst, Poesie und bildenden Kunst, stark ± nach Lessings Auffassung zu stark ± einander annähern, hält er fest: Diesem falschen Geschmacke, und jenen unbegründeten Urteilen entgegen zu arbeiten, ist die vornehmste Absicht folgender Aufsätze. Sie sind zufälliger Weise entstanden, und mehr nach der Folge meiner Lektüre, als durch die methodische Entwickelung allgemeiner Grundsätze angewachsen. Es sind also mehr unordentliche Collectanea zu einem Buche, als ein Buch.1
Diese These Lessings zur Art und zur Entstehung seiner Methode im Laokoon ist von der Forschung zumeist als zutreffende Bestimmung bezeichnet und daher in die eigenen Rekonstruktionen übernommen worden. Das führte u. a. zu der folgenden, weitgehend kanonisierten Ansicht; in seinem Kommentar zur Ausgabe im Klassiker-Verlag schreibt Wilfried Barner in Bezug auf jene oben zitierten Sätze: Struktur und Gehalt des Laokoon sind schon vielen Zeitgenossen als nicht leicht durchVFKDXEDU HUVFKHLQHQ >«@ 8QG GRFK OlVVW JHUDGH GLH IUKH 5H]HSWLRQV- und Wirkungsgeschichte des Laokoon erschließen, was für nicht wenige Leser an dieser Schrift das faszinierend Neue war. Sie ist nicht antiquarische Spezialabhandlung akademischen Zuschnitts, nicht sinnenhafte Kunst-Vergegenwärtigung in der Weise Winckelmanns und nicht ¾systematische½ Theorie-Darlegung nach der Art von Baumgartens Aesthetica. Sie stellt etwas daraus ¾Gemischtes½ dar: nicht selbst schon bestimmte neue Form, aber ein Experiment zu neuen Zwecken.2
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Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Ders.: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert u. a. 8 Bde. München 1970±1979 (im Folgenden zitiert unter der Sigle G mit Band- und Seitenzahl), hier Bd. 6, S. 11; Hervorhebung von mir. Wilfried Barner: Kommentar. In: Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon. Briefe, antiquarischen Inhalts. Hg. von Wilfried Barner. [Werke, Bd. 5/2] Frankfurt am Main 1990, S. 662f.
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Mit dem Begriff des »Experiments« sucht Barner Lessings Hinweise auf das ¾Zufällige½ der Ordnung zu erfassen; ¾Experiment½ dürfte in diesem Zusammenhang als Suche nach oder Versuche über eine neue Darstellungsform zu verstehen sein. Diese These eines stark experimentellen Charakters der Darstellungsweise und damit der Systematik führte in Verbindung mit der Betonung des von Lessing verwendeten Begriff der »Collectanea« scheinbar zwanglos zu einer Konzentration auf die empirische Werkgenese des Laokoon, die näheren Aufschluss über jenes Experimentelle geben können soll und damit über wesentliche Momente des Gehalts. So hat Monika Fick ± auf der Grundlage des von Axel Schmitt in seinem Kommentar zu Band 10 der Klassiker-Ausgabe definierten Begriffs der »Collectanea« als »Sammlung von Auszügen aus literarischen oder wissenschaftlichen Werken«3 ± das Forschungspostulat entwickelt, man müsse noch stärker den empirischen Prozess der Genese der Lessingschen Gedanken im Laokoon aus jenen Collectanea zu rekonstruieren suchen: »Die Auswertung der Collectaneen für Laokoon ist noch ein Forschungsdesiderat.«4 Diese Rekonstruktion der empirischen Genese verspreche für das Verständnis des Textes auch deshalb Aufschlüsse, weil Lessing »prinzipiell kein abgeschlossenes System bei seinen Forschungen« voraussetzte,5 und damit die Genese der eigentliche Schlüssel zum Gehalt des Textes sei. Das Postulat der Collectaneen-Bearbeitung scheint ± so zeigen neuere Forschungen allein zu den Paralipomena6 ± in bestimmter Hinsicht sehr überzeugend zu sein und solch positivistische Forschungsarbeit dürfte nach wie vor gewinnbringend für Interpretationen dieses schwierigen Textes sein. Gleichwohl soll im Folgenden im Hinblick auf die Argumentationsmethode des Laokoon ein anderer Weg eingeschlagen werden, um aus einer möglichst kleinteiligen Rekonstruktion der zitierten methodischen These sowie einiger kontextueller Informationen Rückschlüsse auf eine allgemeine Methodik des Textes zu gewinnen, die man keineswegs über die empirische Rekonstruktion der tatsächlichen Arbeitsweise Lessings gewinnen kann, sondern die vielmehr als eine spezifische Gestaltung der Darstellung zu erfassen ist, die mit der These von der Berücksichtigung der Genese der Überlegungen produktiv, d. h. gestaltend arbeitet, ohne die tatsächlich empirische Genese zu reproduzieren. Die empirische Genese des Laokoon ist mit der darstellungsfunktionalen, argumentationslogischen Integration reflexionsgenetischer Momente nicht identisch ± und dies hat systematische (interne) und kontextuelle (externe) Gründe. Meine These lautet also: Lessing ¾Methode½ ist alles andere als eine »zufällige« Zusammenstellung seiner Lektüreeindrücke, sondern die bewusste Anwendung einer ¾es-
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Axel Schmitt: Kommentar. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke 1778±1781. Hg. von Arno Schilson und Axel Schmitt. [Werke 10]. Frankfurt am Main 2001, S. 1127. Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben ± Werk ± Wirkung. Dritte Auflage. Stuttgart/Weimar 2010, S. 266. Ebd., S. 265. Vgl. hierzu den Beitrag von Christine Vogl in diesem Band.
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sayistischen½ Darstellungsform,7 die nicht allein modische Einflüsse der 1750er und 1760er Jahre bündelt, sondern dem Autor die Umsetzung spezifischer Reflexions- und Darstellungsinteressen erlaubte. Der Laokoon bietet mithin sehr wohl eine neue Form, die allerdings nicht über den Begriff des ¾Experimentellen½ zu erfassen ist. Hugh Barr Nisbet hat in seiner Biographie die oben angegebene Passage aus dem Laokoon ebenfalls zitiert und in einer Weise kommentiert, die sehr überzeugend ausfällt; er sagt nämlich: Einerseits seien die Behauptungen ± zufällig, ungeordnet, Collectanea ± gerechtfertigt, andererseits müsse man »Lessings Beteuerungen hinsichtlich des formlosen und empirischen Charakters des Laokoon erheblich einschränken«,8 denn erstens gebe es eine erkennbare literarische und rhetorische Formung des Textes; zweitens aber habe der Laokoon »eine in sich schlüssige Struktur und auch einen streng systematischen Kern«.9 Diese Thesen scheinen mir uneingeschränkt verifizierbar und daher können sie im Folgenden nur um einige methodologische Überlegungen ergänzt werden, die Nisbet aus meiner Sicht unterschätzt und dadurch Lessing schlussendlich doch zu einem Vertreter einer anti-systematischen Rhetorik erhebt, wenn er einige Seiten später gegen seine vorherigen Thesen vom systematischen Kern des Laokoon behauptet: Lessing sei »die Debatte lieber gewesen als das Dogma« und er habe »allem, was einem geschlossenen System auch nur ähnlich sah, mißtraut«.10 Diese beliebte Annahme11 geht erkennbar zurück auf eine berühmte Passage aus einem Brief Moses Mendelssohns an Elise Reimarus: Was hat nicht in einem so paradoxen Kopf schon neben einander Raum gefunden. Sobald ihn diese Laune anwandelte, war keine Meinung so ungereimt, deren er sich nicht aus Liebe zum Scharfsinn, anzunehmen fähig war; und in der Hitze des Streits, schien es ihm selbst zuweilen ein Ernst zu seyn. In dieser Stunde war ihm die Gymnastik des Geistes wichtiger, als die reine Wahrheit.12
Bekanntermaßen geht es Mendelssohn in diesem Brief darum, Lessing vor dem durch Jacobis Publikationen dräuenden Verdacht des Spinozismus zu retten; doch hat die Behauptung vom ¾Gymnastiker des Geistes½ weit über diese zeitgenössische Debatte hinaus ± bis hin zu Thesen von der angeblichen ¾Streitkul7 8 9 10 11
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So auch Fick (Anm. 4), S. 283. Hugh Barr Nisbet. Lessing. Eine Biographie. München 2008, S. 404. Ebd. Ebd., S. 434. Vgl. ähnlich Fick (Anm. 4), S. 265; zu klären wäre allerdings einmal, was denn genau unter einem geschlossenen resp. abgeschlossenen (so Fick) System zu verstehen sein soll; so hätte Leibniz VHLQHQ5DWLRQDOLVPXVVLFKHUNDXPDOVHLQ¾JHVFKORVVHQHV6\VWHP½EH]HLFhnet und auch Wolff verbindet mit seinen durchaus emphatischen Systembegriff keineswegs GHVVHQ ¾$EJHVFKORVVHQKHLW½ PLU VFKHLQHQ LQ VROFKHQ 3DVVDJHQ GHU )RUVFKXQJ PHKU 3Rpper-Lektüren des 20. Jahrhunderts eine Rolle zu spielen als Semantik und Systematik des 18. Jahrhunderts. Vgl. hierzu Moses Mendelssohn an Elise Reimarus, Berlin, 16. August 1783. In: Moses Mendelssohn: Briefwechsel. Hg. von Alexander Altmann. Stuttgart-Bad Cannstatt 1979, Bd. III, S. 125; Hervorhebung von mir.
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tur½ oder der so genannten ¾Dialogizität½ des Lessingschen Denkens ± als Folie gedient, um Lessings tatsächlich komplexe Systematik in philosophischen wie ästhetischen Fragen zu marginalisieren;13 zu Recht hat schon Ernst Cassirer im Hinblick auf Lessings methodische Ausführungen im Laokoon festgehalten: Man deutet indes diesen Zug völlig falsch, man gibt dem so oft wiederholten Worte Lessings, daß das Streben nach Wahrheit dem Besitz der Wahrheit selbst vorzuziehen sei, einen durchaus irrigen Sinn, wenn man es in der Weise nimmt, als solle der Erkenntnis ihr objektiver Gehalt und Wert verkümmert werden und statt dessen bloß ihr subjektiver Reflex, bloß die subjektive Lust an der Denkbewegung selbst zurückbleiben. Nichts ist Lessings stets auf die Sache gerichtetem Denken fremder, als eine derartige Tendenz. Ihm ist es vielmehr das Objektive des Begriffs und der Wahrheit selbst, das in der Bewegung des Gedankens heraustritt und sich in keiner anderen Form als in dieser entfalten und darstellen kann.14
Im Folgenden soll und kann vor dem Hintergrund dieser Distinktionen zwischen Lessings strenger Systematik und seiner ebenso präzisen wie anschaulichen Methode unterschieden werden.
II. Kritik, Essay, Zufall: Kriterien der neuen Darstellungsform? Sieht man zunächst noch einmal genauer hin, was Lessing eigentlich in dem oben zitierten Absatz sagt und wie er ihn weiterführt, so kommt man zu folgenden Überlegungen: (1) Zunächst benennt Lessing die zentrale Absicht seiner Schrift als eine kritische, wobei ¾kritisch½ hier im besten, zeitgenössisch klar bestimmten Sinne gemeint ist: Der Laokoon ist streitbar (also polemisch) im Sinne eines Eingreifens in eine öffentliche Debatte. Dabei geht es Lessing um die Berichtigung eines falschen Geschmackes und die Widerlegung unbegründeter Urteile, und zwar im Hinblick auf das Verhältnis der beiden Künste zueinander, nämlich der bildenden Kunst und der Dichtung. Kritisch ist der Laokoon mithin im Sinne einer Berichtigung falscher Urteile durch Prüfung der in ihnen verwandten Begriffe. In dieser Weise hatte Kant den Begriff der Kritik für das Zeitalter bestimmt: Denn, um dem Verstande im Felde reiner Erkenntnisse a priori Erweiterung zu verschaffen, mithin als Doktrin scheint Philosophie gar nicht nötig, oder vielmehr übel angebracht zu sein; weil man nach allen bisherigen Versuchen damit doch wenig oder gar kein Land gewonnen hat, sondern als Kritik, um die Fehltritte der Urteilskraft (lapsus
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Zur Kritik hieran vgl. Gideon Stiening: Historisierte Religion. Mendelssohn und Lessing über den Anspruch der jüdischen Religion. In: Lessing Yearbook 39 (2012), S. 217±235. Ernst Cassirer: Lessings Denkstil (1917). In: Gotthold Ephraim Lessing. Hg. von Gerhard und Sibylle Bauer. Darmstadt 1968 (Wege der Forschung CCXI), S. 54±73, hier S. 59f.; Hervorhebung von mir.
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judicii) im Gebrauch der wenigen reinen Verstandesbegriffe, die wir haben, zu verhüten, dazu (obgleich der Nutzen alsdann nur negativ ist) wird Philosophie mit ihrer ganzen Scharfsinnigkeit und Prüfungskunst aufgeboten.15
Auch Lessing geht es in der und für die Formierung einer ästhetischen Theorie um die Kritik solcher lapsus judicii. Im Zusammenhang der ganz alten und nachgerade klassischen Thematik einer Hierarchie der Künste gibt es nach Lessing Geschmacks- und gelehrte Urteile der Zeitgenossen, die es zu revidieren gilt; und diese kritische Revision von Vorurteilen in jener ästhetischen Sache, der Hierarchie der Künste, ist die vornehmste Aufgabe des Laokoon. (2) Zur genaueren Bestimmung des methodischen Status der folgenden Ausführungen bedient sich Lessing des Terminus »Aufsätze«. Diese Bezeichnung impliziert vor allem eine relative Eigenständigkeit der unterschiedlichen Abschnitte der gesamten Schrift gegeneinander, womit Lessing unübersehbar die Tradition des englischen Essays aufruft, die spätestens seit John Lockes epistemologischem Standardwerk von 1690, An Essay concerning human understanding, ebendiese Eigenschaft haben sollten ± eine relative Eigenständigkeit gegeneinander, vor allem im Hinblick auf das Verhältnis von kritischen und systematischen Abschnitten.16 So gibt es zu Recht eine lange Forschungskontroverse darüber, warum Locke seinen Essay mit einer ausführlichen Widerlegung der epistemologischen These von angeborenen Ideen eröffnet und erst hernach seine Erkenntnistheorie systematisch entfaltet, obwohl seine Polemik gegen den Innatismus auf den späteren Ergebnissen aufruht ± worauf schon David Hume aufmerksam machte.17 Rainer Specht hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Locke mit seinem ersten Buch vor allem theoriepolitische Interessen verfolgte, nämlich die Formulierung eines »aufklärerischen Manifests«, das man in seinem kritischen telos durchaus unabhängig von den weiteren Ausführungen lesen kann.18 In eben dieser Tradition schreibt auch Lessing, der seine Kritik an Fehlurteilen nicht allein Winckelmanns ebenfalls mit theoriepoliti-
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18
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten OriginalAusgabe. Hg. von Raymund Schmidt. 3. Auflage. Hamburg 1990, A 135/B 174. Natürlich ist Lessing auch die auf Montaigne zurückgehende Tradition des französischen Essays wohlbekannt; gleichwohl ist es insbesondere die eigentümliche Kombination von Kritik und System, die seit Locke die Methodik des englischen Essays bestimmt und sich in eben dieser Eigenschaft von der französischen Tradition absetzt; vgl. hierzu u. a. Peter :DOPVOH\/RFNH¶V(VVD\DQG5KHWRULFRI6FLHQFH/RQGRn 2003. David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Aus dem Englischen von Raoul Richter. Durchgesehen und überarbeitet von Lambert Wiesing. Frankfurt am Main 2007, S. 32: »Offengestanden bin ich der Ansicht, dass Herr Locke in diese Fragestellung [nach den ideae innatae] von den Schulgelehrten hineingelockt worden ist, die durch unbestimmte Ausdrücke ihre Streitigkeiten ermüdend in die Länge ziehen, ohne je den strittigen Punkt zu berühren.« Rainer Specht: Über Angeborene Ideen bei Locke. In: John Locke, Essay über den menschlichen Verstand. Hg. von Udo Thiel. Berlin 1997 (Klassiker auslegen 6), S. 39±63, hier S. 53.
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schen Interessen verbindet,19 denen gegenüber der Systematik seiner ästhetischen Theorie eine relative Eigenständigkeit zukommt.20 Nun hat dieses Schreiben an Aufsätzen oder Essays in der Tradition John Lockes in der deutschsprachigen Philosophie und Wissenschaft der 1760er Jahre eine nicht unerhebliche Konjunktur; 1765 waren bekanntermaßen die Leibnizschen Nouveaux Essais erstmals erscheinen, wobei diese die methodische Eigentümlichkeit ihres englischen Vorbildes reproduzierten sowie reflektierten.21 Schon 1764 hatte sich Isaak Iselin mit Muthmassungen über die Geschichte der Menschheit und Johann Bernhard Basedow mit Neuen Aussichten in die Wahrheit und die Religion der Vernunft essayistischer Darstellungsformen bedient, obwohl beide in ihrer systematischen Konzeption weitgehend in den Bahnen der Wolffschen Metaphysik verblieben.22 Auch der Lessing bestens bekannte Hermann Samuel Reimarus hatte mit seinen Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere gezeigt, dass man unnachgiebige (Wolffianische) Systematik mit eleganter Schreibart und einem populären Thema zu verbinden vermochte.23 Selbst Georg Friedrich Meier, ebenso eigenständiger wie systematisch gestrenger Schüler Christian Wolffs, bediente sich seit den 1750er Jahren populärer Darstellungsformen, die zumindest jenen oben genannten Kriterien kritischer Essayistik entsprachen. Lessing partizipiert mit seinem Laokoon also an einer genuin aufklärerischen Theoriebewegung, die sich allererst in den 1770er Jahren mit Texten von Johann Jakob Engel, Christoph Meiners oder Christian Garve als Popularphilosophie distinkter konturierte, die jedoch schon weitaus früher das Praxispostulat aufklärerischer Theorie umzusetzen suchte.24 Im Laufe der 1770er Jahre entstehen auch häufiger Texte, denen mit dem Titel Versuche eine adäquate Umsetzung des englischen Essays termi-
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Vgl. hierzu Fick (Anm. 4), S. 259ff. Dass zum Essay essentiell die Kritik gehört, zeigt Heinz Schlaffer: Art. Essay. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar u. a. Berlin/New York 1997±2004, Bd. 1, S. 522±525, hier S. 525: »Mit Vorliebe knüpft er an vertraute Sujets und Meinungen an, um daran durch Verstehen und Kritik bislang Unbeobachtetes zu entdecken und bestehende Vorurteile zu korrigieren.« Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Übersetzt, eingeleitet und hg. von Ernst Cassirer. 3. Auflage Hamburg 1971, S. 1ff. [Vorrede]. Vgl. Isaak Iselin: Philosophische Muthmassungen über die Geschichte der Menschheit. 2 Bde. Frankfurt am Main/Leipzig 1764; Johann Bernhard Basedow: Philatelie. Neue Aussichten in die Wahrheiten und Religion der Vernunft bis in die Gränzen der glaubwürdigen Offenbarung. Altona 1764. Hermann Samuel Reimarus: Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunstriebe. Zum Erkenntniß des Zusammenhangs der Welt, des Schöpfers und unserer selbst. 2. Auflage. Hamburg 1762. Vgl. hierzu Christoph Böhr: Philosophie für die Welt. Die Populärphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003; dass Meier in die ± noch weitgehend ungeschriebene ± Vorgeschichte dieser Bewegung zu integrieren ist, zeigt Böhr ebd., S. 37ff.
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nologisch wie methodisch gelingt.25 Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, dass es Lessing nicht um »Experimente«, sondern um (englische) ¾Versuche½ im Sinne einer Vermittlung von Kritik und System geht,26 und dies auf möglichst anschauliche, populäre Weise, wozu die relative Selbständigkeit der einzelnen Essays beitragen sollte. (3) Nun verbindet Lessing diese noch ganz klare Bestimmung der Eigenständigkeit der 29 Abschnitte allerdings mit zwei weiteren Prädikaten, die mehr negativer Natur sind und zu vielen Verwirrungen beigetragen haben: Lessing behauptet nämlich, dass jene Aufsätze nicht nur eigenständig gegeneinander, sondern auch in einer »zufälligen Weise« angeordnet seien, und zwar nach der selbst eher ¾zufälligen½ Reihenfolge ihrer Produktion, die der erneut ¾zufälligen½ Reihefolge der Lektüre des Autors geschuldet sei. Lessing bedient sich hier in auffälliger Weise der Kategorie des Zufalls; und das ausgerechnet in der Mitte der 1760er Jahre, im Hinblick auf die wir doch seit langem wissen, dass er sich zu eben diesem Zeitpunkt ± d. h. seit Beginn der 1760er Jahre ± intensiv mit der Philosophie Spinozas beschäftigte,27 und zwar in vielfältiger Hinsicht affirmativ.28 Denn vor diesem Hintergrund ist zu berücksichtigen, dass für Spinoza der Begriff des Zufalls ein asylum ignorantiae, mithin eine Schwäche der menschlich-endlichen Vernunft darstellt, und damit zwar subjektiv wirklich, weil für den menschlichen Erkenntnisprozess funktional, objektiv jedoch inexistent ist.29 Lessing, der noch spät, nämlich in den Zusätzen zu Jerusalem, deut25
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Vgl. hierzu u. a. Michael Hißmann: Psychologische Versuche, ein Beytrag zur esoterischen Logik. Frankfurt am Main/Leipzig 1777 oder auch Johann Nicolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung. 2 Bde. Leipzig 1777; zu diesem mehr als terminologischen Zusammenhang von Essay und Versuch vgl. auch Schlaffer (Anm. 20), S. 522. Zu diesen Distinktionen vgl. auch Wolfgang Müller-Funk: Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus. Berlin 1995. Zum engen zeitlichen Konnex zwischen den Spinoza-Studien und dem Laokoon vgl. Barner (Anm. 2), S. 639f. 9JO KLHU]X GLH EHUKPWHQ ¾6SLQR]LVWHUHLHQ½ Über die Wirklichkeit der Dinge außer Gott sowie Durch Spinoza ist Leibniz nur auf die Spur der vorherbestimmten Harmonie gekommen in G 8, S. 515±518; zu Lessings produktiver Spinoza-Rezeption in Breslau vgl. Gideon Stiening: »Werden Sie lieber ganz sein Freund«. Zur Bedeutung von Lessings Spinoza-Rezeption. In: Spinoza im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Zur Erinnerung an Hans-Christian Lucas (1942±1997). Hg. von Eva Schürmann, Norbert Waszek und Frank Weinrich. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 193±220. Vgl. Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Neu übersetzt, hg. mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Barutschat. Lateinisch ± Deutsch. Hamburg 1999, S. 71: »Zufällig wird ein Ding hingegen lediglich im Hinblick auf unser Erkenntnisdefizit genannt. Ein Ding nämlich, von dem wir nicht wissen, ob seine Essenz einen Widerspruch in sich schließt, oder von dem wir zwar genau wissen, dass sie keinen Widerspruch in sich schließt, über dessen Existenz wir aber, weil die Ordnung von Ursachen uns verborgen ist, nichts mit Gewißheit behaupten können, ein solches Ding kann uns niemals als notwendig oder als unmöglich vorkommen, und so nennen wir es zufällig oder möglich.«
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lich machen wird, dass er vor dem Hintergrund eines in sich geschlossenen rationalen Determinismus den Begriff der inneren Freiheit für deshalb entbehrlich hält, weil in einer rational geschlossenen Welt auch die Moralität wohl gegründet sein kann, womit er Spinoza sehr nahe bleibt,30 hat auch im Hinblick auf die ontologische Kategorie der Kontingenz wenig Zweifel gelassen, was er von ihr hält: Ein Zufall? ± Glauben Sie mir Marinelli: das Wort Zufall ist Gotteslästerung, Nichts unter der Sonne ist Zufall ± am wenigstens das, wovon die Absicht so klar in die Augen leuchtet.31
Natürlich wird diese Widerlegung der Kontingenz als ontologischer Kategorie von Orsina und damit einer Dramenfigur entwickelt, doch gibt es keinerlei Anhaltungspunkt dafür, dass Lessing diese Aussage nicht ohne jede Einschränkung geteilt hätte.32 Die Forschung hat den deutlich distanzierenden Hinweis Lessings allerdings übersehen; doch schickt er den Leser mit diesem Hinweis auf die angeblich ¾zufällige½ Entstehung und Anordnung seiner Essays zur ästhetischen Debatte um die Hierarchie der Künste unübersehbar in die Irre. Dies unternimmt er sicherlich auch deshalb, um den polemisch-agonalen Zweck des nachfolgenden Textes zu tarnen, weil nicht nur Winckelmann, Spence und de Caylus, sondern auch viele andere Ästhetiker vernichtend besprochen werden. Eine mehr zufällig entstandene Kritik entbehrt jener Schärfe, die eine systematisch fundierte Kontroverse mit sich führen muss. Nur en passent sei erwähnt, dass Lessings Kritik an Winckelmanns platonisierender Moralisierung der bildenden Künste nicht auf eine »Amoralität der Schönheit« dieser Kunst abzielt,33 sondern ± schlimmer noch ± auf deren moralische Indifferenz; körperliche Schönheit ist schon für Lessing ¾jenseits von gut und böse½, womit seine Kritik an Winckelmann viel grundsätzlicher ausfällt, als man annehmen sollte. Lessing präludiert damit auch eine Entwicklung in der ästhetischen Theorie, die mit Autoren wie Friedrich Justus von Riedel in den 1760er oder Michael Hißmann in den 1770er Jahren eine Lösung des Natur-
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Vgl. G 8, S. 448f: »[W]as verlieren wir, wenn man uns die Freiheit abspricht? Etwas ± wenn es etwas ist ± was wir nicht brauchen; was wir weder zu unserer Tätigkeit hier, noch zu unserer Glückseligkeit dort brauchen. Etwas, dessen Besitz weit unruhiger und besorgter machen müsste, als das Gefühl seines Gegentheils nimmermehr machen kann. ± Zwang und Notwendigkeit, nach welchen die Vorstellung des besten, wie viel willkommner sind sie mir, als kahle Vermögenheit, unter den nämlichen Umständen bald so, bald anders handeln zu können! Ich danke dem Schöpfer, dass ich muß, das Beste muß.« Unabhängig von der Frage, was Lessing hier unter Notwendigkeit versteht (vgl. hierzu Fick [Anm. 4], S. 521), ist doch ersichtlich, dass er den Begriff der inneren Freiheit, den er an dieser Stelle mit Willkür identifiziert, für moralisch entbehrlich und damit für ontologisch nichtig hält. G 2, S. 181. Vgl. hierzu die grundlegenden Ausführungen von Hermann Timm: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. Frankfurt am Main 1974, S. 15±135. So aber Fick (Anm. 4), S. 270.
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und Kunstschönen von moralischen Zwecken zu begründen versucht. 34 Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass Lessing diese Distinktion nur für die an äußere sinnliche Empfindungen gebundene bildende Kunst reflektiert. Lessing nutzt Winckelmanns Ausführungen zur kritischen Entwicklung einer Autonomieästhetik und dieses ebenso komplexe wie komplizierte, sicher aber klar durchkomponierte Zugleich von kritisch-polemischer Abgrenzung gegen eine moralisch fundierte Ästhetik und dem Entwurf einer grundlegend neuen Legitimität der bildenden Kunst wird von Lessing mit den Thesen vom Zufall der Entstehung und der dadurch erfolgten zufälligen Ordnung geschützt. Es ist also ± wie mir scheint ± eine Schutzbehauptung, die Lessing hier vorbringt und nur insofern ¾berechtigt½. Nun wird die Formel von der »zufälligen Weise«, in der die Aufsätze entstanden seien, von Lessing nicht als Bestimmung bedingungsloser Willkür verwendet; vielmehr setzt er diese Eigenschaft in bestimmter Negation von einer Darstellungsform ab, die er »methodische Entwickelung allgemeiner Grundsätze« nennt. Damit ist nichts anderes gemeint als eine methodisch reflektierte, argumentationslogisch kohärent verbundene und insofern systematische Begründung für die Geltung allgemeiner Regeln des Ästhetischen; es ist an dieser Stelle keineswegs ausgemacht, dass hiermit nur deduktive Begründungstheorien und damit der Rationalismus gemeint seien; auch in Francis Hutcheson An Inquiry into the Original of our Ideas of beauty and Virtue oder David Hume Essay on the Standard of taste werden Theorien zur Schönheit und Kunst in methodisch reflektierter Form entwickelt ± ohne allerdings deduktiv vorzugehen.35 Lessing grenzt sich mit seinen Ausführungen also zunächst gegen jedwede methodisch abgesicherte, systematische Abhandlungs- und Darstellungsform ab, sei sie nun induktiv, sei sie deduktiv, und zwar um selber sowohl deduktiv als auch induktiv vorgehen zu können.36 Eine solches, die bisherige Tradition und eine der prägenden Auseinandersetzung des 18. Jahrhundert ± die nämlich zwischen rationalistischen und empiristischen Erkenntnistheorien und Methodologien37 ± gleichsam überbietendes Verfahren wird allerdings erneut mit einem Schleier belegt: Denn nun kommt es zu jener stärksten negativen Abgrenzung, die Lessing in dieser Vorrede vornimmt: Seine methodologischen Ausführungen zusammenfassend behauptet er nämlich nunmehr: Die nachfolgende Aufsätze, die den Laokoon als Textganzes konstituieren, seien mehr »ungeordnete Collectanea zu einem Buche, als ein Buch.« Wichtig ist dabei zunächst, die
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Vgl. hierzu Friedrich Justus von Riedel: Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. Ein Auszug aus den Werken verschiedener Schriftsteller. Jena 1767 sowie Michael Hißmann: Ueber den Hauptzweck der dramatischen Poesie. In: Deutsches Museum 1777, 2. Bd., S. 553±564. Vgl. u. a. Astrid von der Lühe: David Humes ästhetische Kritik. Hamburg 1996, S. 102ff. So zu Recht Barner (Anm. 2) S. 662ff; Fick (Anm. 4), S. 283 und Nisbet (Anm. 8), S. 417f. Vgl. hierzu die Darlegungen bei Hans-Jürgen Engfer: Empirismus versus Rationalismus? Kritik eines philosophischen Schemas. Paderborn 1996.
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erste, ausschließlich negativ bestimmte Eigenschaft, nämlich das Ungeordnete zu betrachten. Erneut bedient sich Lessing mithin eines Begriffs, der ± wie der des Zufalls ± im Rahmen seiner in den 1760er Jahren produktiv rezipierten Spinoza-Studien zu einem Unding wurde: Für Spinoza ist alles, was objektiv, also tatsächlich ist, in einer notwendigen Ordnung (Ordo naturae) und der Begriff der Unordnung nur der einer defizitären menschlichen Perspektive. 38 Also gehört der mit dem der Unordnung zusammenstehende Begriff der Collectanea vollends zu Lessings (ausnehmend erfolgreichen) Täuschungsmanövern, denn ± wie der schon zitierte Axel Schmitt festhielt ± Collectanea sind »Sammlung von Auszügen aus literarischen oder wissenschaftlichen Werken«. Es ist gar nicht zu bestreiten, dass Lessing mit einem enormen Gelehrsamkeitsaufwand seinen Text geschrieben und gleichsam methodisch und systematisch konstituiert hat und dass er tatsächlich von seinen Lektüreprogrammen erheblich profitierte; schon Dilthey spricht zu Recht davon, dass der »Umfang seiner Induktionen >«@EHZXQGHUQVZUGLJ« ist.39 Dass der Laokoon jedoch eine gleichsam additive Zusammenstellung von Lektürenotizen sei, mithin den Status von Exzerpten nicht übersteige, kann schon aufgrund der typischen Stilistik Lessings nicht unkritisch prädiziert werden, erst recht nicht aufgrund der von Nisbet betonten, erheblichen systematischen Positionierungen,40 die den Text allererst zu seinem langanhaltenden Erfolg führten. Erneut kann man sich auf Dilthey berufen, der festhielt: Die praktische Bedeutung seiner ästhetischen Theorien für die Entwicklung unserer klassischen Literatur war ungeheuer. Sie bilden ein Ganzes. Vor seinem Geiste stand, als er den Laokoon begann, der Zusammenhang einer die Kunst umfassenden Lehre. Eine Wiederherstellung derselben aus dem Laokoon und der Dramaturgie, zusammengenommen mit anderen Quellen, wäre wohl zu geben. Sie würde schon einen vorläufigen Beweis liefern, wie Lessing nichts weniger als ein Gelegenheitsdenker war, ja wie ein großes Geheimnis seiner schriftstellerischen Wirkung darin liegt, dass seine scheinbar zufälligen und momentanen Äußerungen einen festen Hintergrund besitzen.41
Lessing legt also vielmehr ± so kann man Diltheys Hinweise auf ¾große Geheimnis von Lessings Wirkung½ verstehen ± falsche Fährten, um eine bestimmte Rezeptionshaltung zu evozieren, wenigstens jedoch um spezifische Rezeptionen zu verhindern, nämlich eine apriorisch ablehnende. Und das scheint ihm ± betrachtet man selbst die neuere Forschung42 ± durchaus gelungen. Natürlich sind Lessings Hinweise auf seine angeblich kontingente Methodik auch zeitgenössischen Topoi geschuldet, die man auch in anderen essayistschen Texten der Zeit nachlesen kann; so bekennt Kant in der Vorrede zu seinen Träumen eines Geistersehers, einem ebenfalls 1766 erschienenen Essay, mit 38 39 40 41 42
Spinoza (Anm. 29), S. 69ff. Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Leipzig 1991, S. 38. Nisbet (Anm. 8), S. 416±425. Dilthey (Anm. 39), S. 37. Joachim Jacob: Die Schönheit der Literatur. Tübingen 2007, S. 185ff.
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dem er nicht nur gegen den Rationalismus polemisierte (so sehr, dass Mendelssohn sich verärgert zeigte),43 sondern mit dem er erheblichen literarischen Ehrgeiz verband, dass sowohl Gegenstand als auch Anlass des Textes letztlich nichtig seien: Er [d. i. der Verfasser] bekennt mit einer gewissen Demüthigung, dass er so treuherzig war, der Wahrheit einiger Erzählungen von der erwähnten Art nachzuspüren. Er fand ± ± ± wie gemeiniglich, wo man nichts zu suchen hat ± ± ± er fand nichts. Nun ist dieses wohl an sich selbst schon eine hinlängliche Ursache, ein Buch zu schreiben; allein es kam noch dasjenige hinzu, was bescheidenen Verfassern schon mehrmals Bücher abgedrungen hat, das ungestüme Anhalten bekannter und unbekannter Freunde. Daraus entstand nun die gegenwärtige Abhandlung, welche, wie man sich schmeichelt, den Leser nach Beschaffenheit der Sache völlig befriedigen soll, indem er das Vornehmste nicht verstehen, das andere nicht glauben, das übrige aber belachen wird.44
Doch wusste Kant, dass die Reaktionen der Leser andere sein würden, als hier scheinbar prätendiert. Entscheidend ist vielmehr für Kant wie auch für Lessings Floskeln, dass nicht nur die Rezeption diese Hinweise auf den genetischempirischen Charakter der Argumentation sehr ernst, nämlich als methodische Vorgaben nahm ± also mehr als nur als Topoi las ±, sondern dass sie tatsächlich auch zu wichtig ausfallen, um sie als äußerliche Rhetorik zu überlesen. Kurz: Weder ist der Laokoon nach einer zufälligen Ordnung strukturiert, noch ist er ungeordnet, noch nur Collectanea, sondern vielmehr ± wie auch Kants Träume mehr als nichts sind ± ebenjenes ¾ganze Buch½, das Lessing angeblich nicht verfasste. Allerdings funktioniert dieses systematische Ganze nach einem weitgehend neuen Ordnungsprinzip.
III. Fortsetzung des Zitats: Zur Frage der Systematizität Was Lessing tatsächlich macht, nämlich durchaus mehr und anderes als ungeordnete Collectanea zu produzieren, lässt sich in einem ersten Schritt bei einem Blick auf die Fortsetzung des oben gegebenen Zitats noch in der Vorrede erkennen; dort heißt es nämlich: Doch schmeichle ich mir, dass sie [die Aufsätze] auch als solche [ungeordnete Collectanea] nicht ganz zu verachten sein werden. An systematischen Büchern haben wir Deutschen überhaupt keinen Mangel. Aus ein paar angenommenen Worterklärungen in der schönsten Ordnung alles, was wir nur wollen, herausleiten; darauf verstehen wir uns, trotz einer Nation in der Welt. Baumgarten bekannte, einen großen Teil der Beispiele in seiner Ästhetik Gesners Wörterbuche schuldig zu sein. Wenn mein Raisonnement nicht so bündig
43 44
Vgl. hierzu die Darstellung dieser Reaktionen bei Manfred Kühn: Immanuel Kant. Eine Biographie. München 2007, S. 204. Kant¶V JHVDPPHOWH 6FKULIWHQ Hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff. (im Folgenden: AA Band, Seite), hier Bd. II, S. 318.
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Gideon Stiening ist als das Baumgartensche, so werden doch meine Beispiele mehr nach der Quelle schmecken.45
Entscheidend für ein Verständnis dieser Passage ist zunächst, den ganz spezifischen Gehalt des Begriffs der Systematizität zu erfassen, den Lessing hier verwendet; denn unter »systematischen Büchern« versteht er an dieser Stelle ausschließlich solche, die aus der begrifflichen Definition oder Bestimmung einer Sache diese selbst auch in ihrer empirischen Wirklichkeit ableiten zu können glaubten. Dieser Vorwurf richtet sich mithin ausschließlich gegen eine bestimmte Systematik, nämlich die des philosophischen Rationalismus, dessen epistemologisches Problem Immanuel Kant wie folgt bestimmte: Dogmatismus, d. i. die Anmaßung, mit einer reinen Erkenntnis aus Begriffen (der philosophischen), nach Prinzipien, so wie sie die Vernunft längst im Gebrauche hat, ohne Erkundigung der Art und des Rechts, wodurch sie dazu gelangt ist, allein fortzukommen. Dogmatismus ist also das dogmatische Verfahren der reinen Vernunft, ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Vermögens.46
Bei aller, noch immer viel zu gering veranschlagten Bindung Lessings an die Philosophie Christian Wolffs47 ist doch evident, dass er mit den zitierten Sätzen aus der Vorrede in eben jenes Horn einer ¾Kritik der reinen Vernunft½ stößt, die schon seit den 1750er Jahren auch die deutschsprachigen Debatten beschäftigte.48 Es ist die Kritik am Dogmatismus eines Rationalismus, der mit einer Analyse und Definition von Begriffen eine Bestimmung der durch sie erfassten Sachen schon geleistet haben will ± allerdings vor und unabhängig von aller Erfahrung. Lessing ist auch hier deutlich polemisch, weil er von »Worterklärungen« statt von Begriffsanalyse und -bestimmung spricht und doch geht es ihm der Sache nach nicht allein um mangelnde empirische Verifikation (so der Vorwurf an Baumgarten), sondern vielmehr um das Problem einer dem Rationalismus zugeschriebenen, nicht angemessenen Berücksichtigung der Eigenständigkeit sinnlicher Wahrnehmung.49 Lessings Versuche der Vermittlung induktiver und deduktiver Methoden (I±XV und XVI±XVII) in der Ästhetik haben in diesem erkenntnistheoretischen Grundproblem des 18. Jahrhunderts, der Vermittlung empiristischer und rationalistischer Prämissen, die vor allem den 1760er und 1770er Jahren eine Fülle von philosophischen Entwürfen in der Erkenntnistheorie, Moralphilosophie, aber auch der Ästhetik hervorbrachte,50
45 46 47 48 49 50
G 6, S. 11. Kant, KrV (Anm. 15) BXXXVf. Produktive Ansätze zu einer Betrachtung der Wolff-Rezeption Lessings jetzt allerdings bei Fick und Nisbet. Vgl. hierzu Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. 4 Bde. Darmstadt 1991, hier Bd. 2, S. 558±582. So auch Fick (Anm. 4), S. 270. Vgl. hierzu die nach wie vor unverzichtbaren Überblicksdarstellungen bei Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 1973, S. 368±482 [»Grundprobleme der Ästhetik«] sowie Rudolf A. Makkreel: Aesthetics. In: The Cambridge History of Eighteenth-
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ihren konstitutiven Hintergrund; an dieser Vermittlungsarbeit schreibt Lessing auf dem Felde der Ästhetik mit seinem Laokoon mit und sie konstituiert u. a. die spezifische Argumentationsmethode seines Textes.
IV. Fingerzeige im ersten Essay: Die Genese des Denkens Dass es Lessing bei allem vorausgesetzten Apriorismus in Fragen der Ästhetik ± und wir wissen längstens, dass die Ausführungen in XVI und XVII den Nucleolus der Abhandlung ausmachen51 ± vor allem darum ging, empiristische Darstellungs- und Argumentationsweisen in seine Beweisführung zu integrieren, lässt sich an einer weiteren Passage nachzeichnen, die ± weil im ersten Aufsatz entwickelt ± selten in den Zusammenhang mit den methodologischen Reflexionen der Vorrede gestellt wird. Lessing gibt hier einen erneuten ¾Fingerzeig½, der wie folgt ausfällt: Nach einer ersten kurzen Vorstellung der Winckelmannschen Thesen zur edlen Einfalt und stille Größe, die sich im Gesichte Laokoons widerspiegele, hält er in seiner sachlichen Argumentation kurz inne und stellt fest: Ich bekenne, daß der mißbilligende Seitenblick, welchen er auf den Vergil wirft, mich zuerst stutzig gemacht hat; und nächst dem die Vergleichung mit dem Philoktet. Von hier will ich ausgehen, und meine Gedanken in eben der Ordnung niederschreiben, in welcher sie sich bei mir entwickelt.52
Hierbei geht es mir vor allem um den letzten Teil der Aussage, nachdem der erste erneut die kritische Anlage der Studie betonte, d. h. den Ausgang von einer für berichtigenswert gehaltenen einflussreichen These. Denn die Behauptung, er habe seine Gedanken niedergeschrieben ¾in der Ordnung, wie sie sich in ihm entwickelt hätten½, darf erneut nicht für bare Münze genommen werden, sondern muss in ihrer Grundlegung in einem bestimmten Schreib- bzw. Darstellungsideal erkannt werden, das sich seit den 1750er Jahren auch in der deutschsprachigen Aufklärung durchzusetzen begann. Zu verbinden ist damit jene »natürliche Schreibart«, die Gellert den zeitgenössischen Briefschreiber als Norm auferlegte. Denn in seiner einflussreichen Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen53 entwickelt Gellert eine Reihe von Kriterien,
51 52 53
Century Philosophy. Hg. von Knud Haakonssen. 2 Bde. Cambridge 2006, Bd. I, S. 516± 556. Vgl. hierzu u. a. Barner (Anm. 2), S. 631ff. G 6, S. 13. Im Folgenden zitiert nach Christian Fürchtegott Gellert: Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. In: Ders.: Werke. Hg. von Gottfried Honnefelder. Frankfurt am Main 1979, Bd. II, S. 137±187. Zur epistolarhistorischen Bedeutung dieser Schrift vgl. u. a. Diethelm Brüggemann: Gellert, der gute Geschmack und die üblen Briefsteller. Zur Geschichte der Rhetorik in der Moderne In: DVS 45 (1971), S. 117±149 sowie insbesondere Robert Vellusig: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert. Wien 2000, S. 83±101.
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die das Postulat ¾schöner Natürlichkeit½ des Schreibens realisieren sollten, was zu folgender Forderung an den Briefschreiber führt: Man bediene sich also keiner künstlichen Ordnung, keiner mühsamen Einrichtungen, sondern man überlasse sich der freiwilligen Folge seiner Gedanken, und setze sie nacheinander hin, wie sie in uns entstehen: so wird der Bau, die Einrichtung, der die Form eines Briefs natürlich sein. Diese Regel bleibt stets die beste, so viel man auch dawider einwenden mag.54
Gellert macht also zur Bedingung natürlicher Epistolarpraxis, dass sich der Autor der »freiwilligen Folge seine Gedankens« überlässt, die er als Hauptbegriff des natürlichen Schreibens bestimmt. Freiwillige Folge meint hier allerdings keineswegs vollständige Beliebigkeit, wie eben Freiheit für das 18. Jahrhundert selten Willkür meint,55 sondern vielmehr die Ermöglichung eines freien Wirkens der Regeln bzw. Gesetze der Assoziation, wie sie seit John Locke, David Hume und insbesondere David Hartley die europäischen Epistemologien prägen.56 Dieser philosophische Kontext ist an dieser Stelle nicht ausführlich darzustellen57 und lässt doch erkennen, dass jene Assoziationsgesetze nur dann angemessen berücksichtigt werden, wenn sie in der Darstellung des Gedachten den Prozess der Genese der Ergebnisse des Denkens als deren essentielles Moment dokumentieren. Auch dies entspricht grundlegenden Ergebnissen empiristischer Epistemologie, die seit John Locke Erkenntnistheorie als Erkenntnisgenese betreibt und damit auch maßgebliche Einflüsse auf andere Wissensbereiche, u. a. die Ästhetik, ausübt.58 Lessing spielt an der zitierten Stelle unübersehbar auf eben jenes Stil- bzw. Darstellungsideal mit all seinen epistemologischen, methodischen und rhetorischen Implikationen an. Daher ist erst diese Passage ein wesentlicher, d. h. konstitutiver Hinweis auf die Argumentationsmethode des Laokoon, auch weil dieser Primat der Erkenntnisgenese substanziell zum Essay als Darstellungsform zu zählen ist.59 Dabei ist allerdings von entscheidender Bedeutung zu erkennen, dass Lessing dieses Postulat der Integration seiner Erkenntnisgenese in die Begründung für 54 55
56
57
58 59
Gellert (Anm. 53), S. 155f.. Zum locus classicus dieser Distinktion für das 18. Jahrhundert vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee. Hg. von Artur Buchenau. 2. Auflage Hamburg 1968, S. 124ff. (§ 44ff.). Vgl. hierzu u. a. Roland Galle: Entstehung der Psychologie. In: Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760±1820. Hg. von Horst Albert Glaser und György M. Vajda. Amsterdam/Philadelphia 2001, S. 313±335, spez. S. 314ff. sowie Kenneth P. Winkler: Perception and ideas, judgement. In: Haakonssen (Anm. 50), Bd. I, S. 234±285, spez. S. 254ff. Vgl. hierzu Falk Wunderlich: Assoziation der Ideen und denkende Materie. Zum Verhältnis von Assoziationstheorie und Materialismus bei Michael Hißmann, David Hartley und Joseph Priestley. In: Michael Hißmann (1752±1784). Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung. Hg. von Heiner F. Klemme, Gideon Stiening und Falk Wunderlich. Berlin 2012, S. 63-84. Vgl. hierzu Cassirer: Aufklärung (Anm. 50), S. 131ff. So Schlaffer (Anm. 20), S. 523; im Hinblick auf Montaigne heißt es dort: »[E]r wollte lieber den Prozeß als das Resultat des Nachdenkens festhalten.«
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die Geltung seines Wissens als ein Formideal empiristisch fundierten Schreibens präzise ausgestaltet. Er formiert daher eine seinen Intentionen entsprechende Genese seiner Gedanken, die eben keineswegs mit der tatsächlichen Genese identisch ist. Lessing vollzieht damit in seinen Aufsätzen zur Ästhetik das, was Gellert mit der Einübbarkeit solch ¾natürlichen Schreibens½ nur andeutete, allererst die Marquise de Merteuil in Choderlos de Laclos Les Liasons dangereueses angemessen begründete und deshalb ausführen konnte;60 die reine Rhetorizität und reflektierte Methodik des Natürlichen. Lessing wird durch diese Argumentation zum ästhetischen Praktiker einer »Kunst gewollter Kunstlosigkeit« des Essays, die ein konstitutives Moment schon der empfindsamen Epistolartheorie und -praxis61 sowie noch derjenigen des Sturm und Drang ausmachte.62 Dass die möglichst zwanglose Integration des Reflexionsprozesses in die Darstellung seiner Ergebnisse zu einem Stilideal der 1760er und 1770er Jahre gehörte, zeigt ein Blick auf die zeitgenössische Rezeption des Laokoon. Denn es ist u. a. Christian Garve, der in seiner späten Rezension von 1769 auf eben diese prägende Prämisse der Lessingschen Darstellungsform und Methodik hingewiesen hat: Aber das ist noch vielleicht übrig, der Reihe der Lessingischen Ideen unverwandt nachzugehen, sie so wie sie sich in seinem Kopf entwickelt haben (denn in der Tat ist sein Buch mehr eine Geschichte seiner Meditation als das bloße Resultat derselben), sich auch in VHLQHPHQWZLFNHOQ]XODVVHQ«'LHVHUIUHLHXQJHKLQGHUWH]JHOORVH/DXIGHU0HGLWDWLRQ diese mehr auf geratewohl als zu einem besondern Entwurf angefangene Untersuchung, diese Entwickelung der Idee durch ihre natürliche Fortschreitung, ohne vorher bestimmten Endzweck, diese Erweiterung des Plan mit jeder Stufe der Entwickelung; mit einem Wort, diese vor den Augen des Lesers selbst angestellte Untersuchung, die ist der Charakter EHLQDKDOOHU/HVVLQJLVFKHU:HUNHXQGDXFKGLHVHVLQVEHVRQGUH>«@63
Lässt man den Begriff der Meditation beiseite, dann weist Garve mit Nachdruck auf das genetische Moment in der Darstellung hin, die auch er mit dem Prädikat des natürlichen Fortschreitens verbindet, und dies nicht etwa als Mangel, sondern als besondere Leistung der Schrift hervorhebt, was nur vor dem Hintergrund des sich durchsetzenden, letztlich empiristisch fundierten Stilideals der Integration der Erkenntnisgenese in die Ausführungen zur begründeten Geltung systematischer Theorie möglich ist. Zu Recht hat Cassirer allerdings darauf aufmerksam gemacht, »daß diese Genese selbst nicht sowohl psychologischen, als 60
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63
Vgl. hierzu Pierre Ambroise Choderlos de Laclos: Les Liaisons dangereuses. Édition revue et corrigée par Yves Le Hir. Paris 1995, S. 247: »Voyez donc à soigner davantage votre style. Vous écrivez toujours comme un enfant.« So prägnant Wilhelm Voßkamp: Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert. In: DVS 45 (1971), S. 80±116, hier S. 85. Vgl. hierzu Albrecht Schöne: Über Goethes Brief an Behrisch vom 10. November 1767. In: Festschrift für Richard Alewyn. Hg. von Herbert Singer und Benno von Wiese. Köln/Graz 1967, S. 193±229. Zitiert nach G 6, S. 870; Hervorhebung von mir.
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logischen Charakter trägt«.64 Lessing bedenkt die Genese des Denkens, weil ein Denken nach seiner Auffassung in seiner Substanz Genese ist.65 Dass sich dieses Stil- und Darstellungsideal als methodische Neuerung nicht allein in der Brieftheorie und -praxis durchsetzte, sondern sich auch in methodologischen Reflexionen zur philosophischen Theorie seit den 1750er Jahren von maßgeblichen Autoren der deutschsprachigen Aufklärung nachweisen lässt ± und damit Garves Rezension keineswegs im kontextfreien Raum individueller Genialität steht ±, kann ein abschließender Blick in einen für die 1750er Jahren prominenten Text dokumentieren: Denn in der Vorrede der von ihm veranlassten Übersetzung des humeschen Imquiry on human understandig führt Johann Georg Sulzer in prägnanten Formulierungen aus: Den andern Grund gab mir die Schreibart und der ganze Vortrag des Herrn Hume, welcher nicht der geringste Theil der Verdienste dieses Verfassers ist. Er führet seine Leser bis in die verborgensten und dunkelsten Tiefen der Philosophie, durch einen Weg der leicht, angenehm und gleichsam mit Rosen betreut ist. Die schwersten und abstraktesten Untersuchungen, die sonst diesem Theile der Weltweisheit ein finsteres und widriges Ansehn geben, sind hier auf eine Weise vorgetragen, wobey Gründlichkeit und Annehmlichkeit um den Vorzug zu streiten scheinen; durch die Feder dieses vortrefflichen Scribenten werden abgezogene Wahrheiten so angenehm als lehrreiche Erzählungen, durch den Vortrag der Dichter.66
Zwar ist unverkennbar, dass Sulzer legitimieren muss, warum er als Wolffianer den gefürchteten Skeptiker Hume dem deutschen Publikum präsentiert. Doch kann Sulzer auch ganz unbefangen fordern, dass durch eine neue, an Hume orientierte Schreibart die deutsche Philosophie nicht allein die Wahrheit ihrer Sätze verbürgen kann, sondern dass der Leser durch die allgemeine Vernunft diese gleichsam »fühlen« können soll. Sulzer formuliert in dieser Vorrede ein umstürzendes Programm für die deutschsprachige Philosophie, die der Sache nach an Wolff gebunden bleiben soll. Lessing hat ± so scheint es ± mit seinem Laokoon an diesem Programm mit großem Erfolg gearbeitet, denn in den Essays XVI und XVII bleibt er der systematischen Sache nach den Grundlagen der baumgartenschen und insbesondere der meierschen Ausführungen zur Differenz der Künste verbunden; die Darstellungsmethode aber differiert von den Texten dieser Autoren grundlegend.
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Cassirer: Lessings Denkstil (Anm. 14), S. 60. Vgl. hierzu Stiening: Historisierte Religion (Anm. 13). Johann Georg Sulzer: Vorrede. In: Philosophische Versuche über die Menschliche Erkenntniß von David Hume, Ritter. Als dessen vermischter Schriften Zweyter Theil. Nach der zweyten vermehrten Ausgabe aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen des Herausgebers begleitet. Hamburg, Leipzig 1755, unpag. [S. I±XX, hier S. IVf.].
Achim Vesper Achim Vesper Mendelssohn und Lessing über Illusion in den Künsten
Mendelssohn und Lessing über Illusion in den Künsten Mendelssohn und Lessing über Illusion in den Künsten
Die durch die Künste hervorgerufene Illusion gehört zu den zentralen Themen von Lessings Laokoon. Aus den Quellen ist bekannt, dass Lessings Darstellung von Überlegungen Mendelssohns angestoßen wurde.1 Gleichwohl hat die Forschung nicht zur Kenntnis genommen, wie eng Lessing auf Ausführungen Mendelssohns bezogen ist. Auch besteht kein Konsens darüber, wie Lessings Aussagen über künstlerische Illusion zu verstehen sind. Neuere Interpretationen tendieren dabei dazu, Lessing ein Verständnis von ästhetischer Illusion als Überwältigung des Rezipienten durch eine künstlerische Darstellung zuzusprechen.2 In diesem Rahmen wird zumeist hervorgehoben, dass der Betrachter von
1
2
Vgl. Wilfried Barner: Kommentar. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 5/2: Werke 1766±1769. Hg. von Wilfried Barner. Frankfurt am Main 1990 (im Folgenden zitiert als FA 5/2 für ¾Frankfurter Ausgabe½ 6 619±1214, hier S. 639 f. Vgl. zu Lessings Theorie von Illusion und Nachahmung Otto Haßelbeck: Illusion und Fiktion. Lessings Beitrag zur poetologischen Diskussion über das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit. 0QFKHQ'DYLG:HOOEHU\/HVVLQJ¶V/DRFRRQ6HPLRWLFVDQG Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge/London 1984; Inka Mülder-Bach: Bild und Bewegung. Zur Theorie bildnerischer Illusion in Lessings Laokoon. In: Deutsche Vierteljahresschrift 66 (1992), S. 1±30; Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der »Darstellung« im 18. Jahrhundert. München 1998, bes. S. 103±148; Monika Fick: Lessings »Laokoon« zwischen Diskursanalyse und Präsenzdebatte. In: Lessing Yearbook 37 2006/07 (2008), S. 113±124. ± Der Ideengeber der jüngeren )RUVFKXQJLVW:HOOEHU\/HVVLQJ¶V/DRFRRQ :HOOEHU\]XIROJHJHKHQ%DXPJDUWHQ, Meier, Mendelssohn und Lessing gemeinsam davon aus, dass die poetische Zeichenverwendung den verweisenden Charakter sprachlicher Zeichen verdunkelt und sich gegenüber ihren *HJHQVWlQGHQWUDQVSDUHQWYHUKlOWYJO:HOOEHU\>/HVVLQJ¶V/DRFRRQ@EHVS. 72). Lessing wird von Wellbery darüber hinaus die Meinung zugesprochen, dass die poetische Rede einem sprachlichen Ideal nahekommt, weil poetische Rede ihre Gegenstände in einer Weise vergegenwärtigt, die beim Zuschauer oder Leser eine Präsenzerfahrung auslöst. Neuere Interpretationen heben zusätzlich hervor, dass Lessing die Wirkung von Kunst als durch die Stimulierung der imaginativen Fähigkeiten der Rezipienten herbeigeführte Täuschung versteht. Lessings Begriff der ästhetischen Illusion beruht nach diesen Deutungen darauf, dass künstlerische Nachahmungen die Wahrnehmung gefangen nehmen und Kunst keine Gegenstände der existierenden Welt repräsentiert. So genießen Werke der darstellenden Kunst dank der aktivierten Einbildungskraft ihrer Rezipienten nach Mülder-Bachs LessingInterpretation »ein Darstellungspotential, das alle Signifikate transzendiert« (Mülder-Bach [Bild und Bewegung], S. 23), während nach Fick von Lessing »der künstlerischen Darstellung selbst eine Wirklichkeitsdimension zugeschrieben« (Fick [Lessings »Laokoon«],
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Achim Vesper
Werken der bildenden Kunst, der Leser literarischer Werke oder der Theaterzuschauer nach Lessing oder auch Mendelssohn einer Täuschung unterliegt. Offen bleibt aber, wieso eine künstlerische Illusion wertgeschätzt wird und keinen epistemischen Mangel darstellt. Im Folgenden behandle ich die Fragen, wodurch die Illusion in den Künsten nach Mendelssohn und Lessing zustande kommt und worauf der Wert der Nachahmung in den Künsten nach der Meinung beider Autoren basiert.
1. Mendelssohns Theorie der Illusion und Wolff Unter den frühen Texten, in denen sich Mendelssohn mit der ästhetischen Illusion beschäftigt, sticht seine, einem Brief an Lessing beigefügte, Schrift Von der Herrschaft über die Neigungen hervor.3 In diesem Aufsatz argumentiert Mendelssohn dafür, dass der Tugendhafte seine unteren Seelenkräfte mit den oberen in Harmonie bringt und sowohl über moralische Gewissheit als auch über ausreichende Bewegungsgründe zu moralischem Handeln verfügt. Stärke erhalten Bewegungsgründe seiner Meinung nach, wenn sie aus möglichst vielen und zugleich möglichst deutlichen Vorstellungen der Vollkommenheit des begehrten Gegenstandes bestehen, die zudem in möglichst geringer Zeit überdacht werden können. Dabei gelangen wir entweder durch das vereinfachte Überdenken deutlicher Begriffe durch Gewohnheit oder durch das Zurückführen von »abstracten Begriffen auf einzelne Begebenheiten in der Natur« und die Verwandlung »symbolische[r] Schlüsse der practischen Sittenlehre in eine anschauende Erkenntniß« besonders schnell zu Vorstellungen über die Vorzüge von Handlungszielen.4 Die Bekanntschaft mit einzelnen Fällen tugendhaften Handelns gewinnen wir durch Erfahrungen, Beispiele oder Erdichtungen. Insgesamt besitzt die anschauende Erkenntnis durch Erdichtung, Erfahrung oder Beispiele
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4
S. 116) wird. Vgl. auch Mülder-Bach (Im Zeichen Pygmalions), S. 116 f.; Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben ± Werk ± Wirkung. Stuttgart/Weimar 2000, S. 233 f. Moses Mendelssohn: Von der Herrschaft über die Neigungen. In: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe Hg. von Alexander Altmann u. a., hier Bd. II, S. 147±155. ± Vgl. zu Mendelssohns Theorie von Illusion und Nachahmung Werner Strube: Ästhetische Illusion. Ein kritischer Beitrag zur Geschichte der Wirkungsästhetik des 18. Jahrhunderts. Bochum 1971, bes. S. 85±141; Hans von Haimberger: Die Rolle der Illusion in der Kunst nach Mendelssohn. In: Mendelssohn-Studien 2 (1975), S. 31±49; Klaus-Werner Segreff: Moses Mendelssohn und die Aufklärungsästhetik im 18. Jahrhundert. Bonn 1984, bes. S. 94±97; Jochen Schulte-Sassen: Aesthetic Illusion in the Eighteenth Century. In: Aesthetic Illusion. Theoretical and Historical Approaches. Hg. von Frederick Burwick und Walter Pape. Berlin/New York 1990, S. 105±121; Maximilian Bergengruen: Gehört »die theatralische Sittlichkeit vor den Richterstuhl der symbolischen Erkenntniß«? Zur Genese von Moses Mendelssohns Theorie der Illusion. In: Mendelssohn-Studien 12 (2001), S. 35±54; Anne Pollok: Facetten des Menschen. Zur Anthropologie Moses Mendelssohns. Hamburg 2010, bes. S. 196±220; Anne Pollok: Einleitung. In: Moses Mendelssohn: Ästhetische Schriften. Hamburg 2006, S. VII-LI, bes. XXVII-XXXVII. Mendelssohn: Von der Herrschaft über die Neigungen (Anm. 3), S. 152.
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eine im Vergleich mit der symbolischen Erkenntnis »größere Gewalt, in den Willen zu wirken«.5 Gegenüber Beispielen genießt die Erdichtung zusätzlich die Vorteile, dass sie mit größerem Vergnügen wahrgenommen wird und ihr Inhalt wahrscheinlicher ist. Demnach spricht Mendelssohn der poetischen Nachahmung einen instrumentellen Wert für die Moral zu, weil sie auf den Willen des Theaterzuschauers oder des Lesers besonders stark einzuwirken imstande ist. Diesen Überlegungen fügt Mendelssohn einen Von der Illusion überschriebenen kunsttheoretischen Abschnitt hinzu, in der er das Thema der moralischen Verbesserung nicht weiter verfolgt, sondern eine Theorie der ästhetischen Illusion als Merkmal poetischer und generell künstlerischer Nachahmung umreißt. Diese Theorie verfügt über einen Hintergrund in der Ästhetik Wolffs.
1.1 Wolff über bildliche Repräsentation Eine Quelle stellt Wolffs Beantwortung der Frage dar, worauf die Schönheit einer bildlichen Darstellung beruht. Wolff teilt mit Leibniz die Auffassung, dass schöne Gegenstände über Vollkommenheit verfügen und ihre Vollkommenheit durch Lust wahrgenommen wird. Diese Überzeugung bringt Wolff mit der Schönheitsdefinition innerhalb der Anfangs-Gründe aller mathematischen Wissenschaft zum Ausdruck: »Die Schönheit ist die Vollkommenheit oder ein nötiger Schein derselben, insoweit sowohl jene als dieser wahrgenommen wird und ein Gefallen in uns verursacht.«6 In Bezug auf die Schönheit von Kunstbildern wirft Wolffs Erklärung der Schönheit jedoch die Frage auf, ob die lustverursachende Vollkommenheit einer bildlichen Darstellung auf der Vollkommenheit des Originals oder der des Abbilds basiert. Eine Antwort auf diese Frage lässt sich der Deutschen Metaphysik entnehmen, in der Wolff seine Auffassung, dass eine Lust im Anschauen der Vollkommenheit besteht, anhand eines Beispiels illustriert: Wenn ich ein Gemälde sehe, daß der Sache, die es vorstellen soll, ähnlich ist, und betrachte seine Aehnlichkeit; so habe ich Lust daran. Nun bestehet die Vollkommenheit eines Gemäldes in der Aehnlichkeit. Denn da ein Gemälde nichts anders ist, als eine Vorstellung einer gewissen Sache auf einer Tafel oder ebenen Fläche; so stimmet in ihm alles zusammen, wenn nichts in ihm unterschieden werden kann, das man nicht auch in der Sache selbst wahrnimmet. Wenn es aber so beschaffen ist; so ist es vollkommen [...]; so ist es auch ähnlich [...]. Derowegen ist die Aehnlichkeit die Vollkommenheit des Gemäldes,
5 6
Ebd. Christian Wolff: Anfangs-Gründe aller mathematischen Wissenschaft. In: Gesammelte Werke. Bd. I.12±15. Hg. von Joseph Ehrenfried Hofmann. Hildesheim/New York 1973, 1. Teil, S. 307. Zur Lust am Schönen bei Wolff vgl. Verf.: »Lust als ¾cognitio intuitiva perfectionis½. Vollkommenheitsästhetik bei Wolff und ihre Kritik durch Kant«. In: Christian Wolff und die Europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-WolffKongress. Hg. von Jürgen Stolzenberg und Oliver-Pierre Rudolph. Teil 4. Hildesheim/Zürich 2008, S. 283±296.
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Achim Vesper und da die Lust aus dem Anschauen der Aehnlichkeit entstehet; so entstehet sie aus dem Anschauen der Vollkomenheit.7
Dieser Passage zufolge basiert die Schönheit eines Gemäldes weder auf der Vollkommenheit der Abbildung noch auf der Vollkommenheit des Originals; für die Schönheit eines Gemäldes ist stattdessen die Ähnlichkeit von Original und Abbildung verantwortlich. Die lustverursachende Vollkommenheit einer bildlichen Darstellung besteht nach Wolff in der Ähnlichkeit mit dem abgebildeten Gegenstand.8 Über Ähnlichkeit mit materiellen Gegenständen verfügen laut Wolff außer materiellen jedoch auch mentale Bilder in Gestalt von Empfindungen oder Einbildungen. Anders als von Künstlern hergestellte Bilder sind Empfindungen den Gegenständen ähnlich, durch die sie kausal hervorgerufen werden. Außerdem sind materielle Bilder anders verfasst als mentale, wie Wolff ebenfalls in der Deutschen Metaphysik darlegt: Es kommen aber sowohl die Empfindungen, als Einbildungen in diesem Stücke mit den Bildern, als Gemählden und Statuen, überein, daß sie eine Vorstellung eines zusammengesetzten sind: und deswegen werden auch die Vorstellungen der cörperlichen Dinge Bilder genennet. Nehmlich ein Bild überhaupt ist eine Vorstellung des zusammengesetzten. Hingegen sind die Empfindungen und Einbildungen darinnen von Gemählden und Statuen unterschieden, daß sie im einfachen, diese aber im zusammengesetzten geschehen.9
Wie Empfindungen und Einbildungen als mentale Bilder repräsentieren Gemälde und Statuen als materielle Bilder komplexe Gegenstände, anders aber als Empfindungen und Einbildungen sind Werke der bildenden Kunst selbst aus Teilen zusammengesetzt. Während Empfindungen existierenden Gegenständen dadurch ähnlich sind, dass sie von ihnen hervorgerufen werden, sind Gemälde und Statuen existierenden Gegenständen dadurch ähnlich, dass die Zusammensetzung ihrer Teile der Zusammensetzung der Teile der abgebildeten Gegenstände entspricht. Die Ähnlichkeit einer bildlichen Darstellung gegenüber ihrem Original basiert darauf, dass »nichts in einem Gemälde unterschieden werden kann, das man nicht auch in der Sache selbst wahrnimmet«.10 Nach diesem Verständnis ist ein Bild dadurch seinem Original ähnlich, dass es dieses auch in seinen Teilen repräsentiert. Auf dieser Grundlage vertritt Wolff die Überzeugung, dass die ästhetische Werteigenschaft eines Bildes in der Ähnlichkeit mit dem abgebildeten Gegenstand besteht.
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Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. In: Gesammelte Werke. Bd. I.2: Hg. von Charles A. Corr. Hildesheim/Zürich/New York 1983, § 404. Vgl. Pietro Kobau: Wolffs Lehre von der Lust an der Ähnlichkeit zwischen Abbildung und Original. In: Christian Wolff und die Europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongress. Hg. von Jürgen Stolzenberg und Oliver-Pierre Rudolph. Teil 4. Hildesheim/Zürich 2008, S. 179±192. Wolff (Anm. 7), § 751. Wolff (Anm. 7), § 404.
Mendelssohn und Lessing über Illusion in den Künsten
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1.2 Illusion und künstlerische Geschicklichkeit Wolffs Theorie von Ähnlichkeit als bildlicher Vollkommenheit liefert den Bezugsrahmen für Mendelssohns Theorie der Illusion. In seiner Schrift Von der Herrschaft über die Neigungen geht Mendelssohn davon aus, dass nicht nur bildliche, sondern alle schönen Nachahmungen über Ähnlichkeit mit dem nachgeahmten Gegenstand verfügen. Anders als Wolff verwendet Mendelssohn Ähnlichkeit jedoch als einen graduellen Begriff und behauptet, dass eine schöne Nachahmung einen täuschenden Grad an Ähnlichkeit besitzt und eine ästhetische Illusion bei den Wahrnehmenden auslöst: »Wenn eine Nachahmung so viel ähnliches mit dem Urbilde hat, daß sich unsre Sinne wenigstens einen Augenblick bereden können, das Urbild selbst zu sehen: so nenne ich diesen Betrug eine ästhetische Illusion.«11 Während Ähnlichkeit eine relationale Eigenschaft von Kunstwerken darstellt, bezeichnet Illusion einen subjektiven Zustand, der durch die Wahrnehmung eines besonders hohen Grades an Ähnlichkeit hervorgerufen wird. Ausgezeichnet ist der Zustand der ästhetischen d. h. sinnlichen Illusion durch das epistemische Merkmal, dass sie den Betrachter, Zuschauer oder Leser glauben lässt, den nachgeahmten Gegenstand wahrzunehmen. Die ästhetische Illusion ist bei Mendelssohn darüber definiert, dass sie den Betrachter in den Zustand des Zu-Sehen-Glaubens versetzt: Im Zustand der ästhetischen Illusion befindet sich das Subjekt der Wahrnehmung, wenn es anstelle des nachahmenden Gegenstands den nachgeahmten zu sehen glaubt. Nach Mendelssohn liefert der Zustand der ästhetischen Illusion ein allgemeines Merkmal der Nachahmung durch schöne Künste. Nicht anders als die bildlichen Nachahmungen sind auch die auf einer Ausübung der Sinnlichkeit als unterem Erkenntnisvermögen beruhenden poetischen Nachahmungen ihm zufolge durch das Hervorbringen von ästhetischer Illusion gekennzeichnet. Die schöne Kunst ist allgemein dadurch ausgezeichnet, dass sie bei dem Kunstrezipienten eine Trugwahrnehmung durch Nachahmung hervorruft. In der Illusionstheorie Mendelssohns ist die Vorstellung fest verankert, dass künstlerische Nachahmungen ihre Rezipienten glauben lassen, den nachgeahmten Gegenstand zu sehen. Allerdings argumentiert er in der Skizze Von der Herrschaft über die Neigungen wie in späteren Texten dafür, dass der Zuschauer, Leser oder Betrachter nicht dauerhaft glaubt, den nachgeahmten Gegenstand zu sehen. Ihm zufolge erwirbt der Rezipient zusätzlich zum Glauben, den nachgeahmten Gegenstand zu sehen, die zeitlich spätere Überzeugung, nicht den nachgeahmten Gegenstand, sondern eine Nachahmung zu sehen. Mendelssohn beschreibt die Wahrnehmung künstlerischer Nachahmungen als einen Überzeugungswechsel, wobei das Zu-Sehen-Glauben des nachgeahmten Gegenstands von der Überzeugung abgelöst wird, dass der nachahmende Gegenstand mit dem nachgeahmten nicht identisch ist. Ihm zufolge handelt es sich um zwei Überzeugungen, die zu verschiedenen Erkenntnisarten gehören: 11
Mendelssohn: Von der Herrschaft über die Neigungen (Anm. 3), S. 147±154.
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Achim Vesper Soll eine Nachahmung schön seyn, so muß sie uns ästhetisch illudiren; die obern Seelenkräfte aber müssen überzeugt seyn, daß es eine Nachahmung, und nicht die Natur selbst sey. Denn das Vergnügen, das uns die Nachahmung gewährt, besteht in der anschauenden Erkenntniß der Uebereinstimmung desselben mit dem Urbilde. Es gehören also folgende beide Urtheile dazu, wenn wir an einer Nachahmung Vergnügen finden wollen: »dieses Bild gleichet dem Urbilde.« ± »Dieses Bild ist nicht das Urbild selbst.« ± Man sieht leicht, daß jenes Urtheil vorangehen muß, daher muß die Ueberzeugung von der Ähnlichkeit intuitive, oder vermittelst der Illusion, die Ueberzeugung hingegen, daß es nicht das Urbild selbst sey, kann etwas später erfolgen, und daher mehr von der symbolischen Erkenntniß abhangen.12
Gemäß dieser Passage gelangt der Rezipient durch eine anschauende Erkenntnis zu der Überzeugung, dass der nachahmende Gegenstand mit dem nachgeahmten identisch ist, und durch eine über Schlussfolgerungen vermittelte symbolische Erkenntnis zu der Überzeugung, dass beide Gegenstände nicht identisch sind. Da das Bewusstsein des Kunstrezipienten zusätzlich zum Akt der Illusion im Sinne der Trugwahrnehmung das Durchschauen der Illusion als weiteren Akt umfasst, bildet der Zustand des Zu-Sehens-Glaubens nur eine Episode innerhalb der Wahrnehmung einer künstlerischen Nachahmung. Damit bestreitet Mendelssohn die Auffassung, dass die durch Kunst hervorgebrachte Illusion für den Rezipienten dauerhaft intransparent bleibt. Stattdessen behauptet er, dass die Wahrnehmung einer Nachahmung nur dann Vergnügen auslöst, wenn der Kunstrezipient das Wissen erlangt, dass der nachahmende Gegenstand vom nachgeahmten unterschieden ist, obgleich er den nachgeahmten Gegenstand episodisch zu sehen glaubt. Zwei Beweise sprechen laut Mendelssohn dafür, dass der Rezipient einer schönen Nachahmung den nachahmenden Gegenstand vom nachgeahmten unterscheidet. Dabei geht Mendelssohn davon aus, dass schöne nachahmende Gegenstände wie schöne Gegenstände allgemein mit Vergnügen wahrgenommen werden. Mit Bezug auf die bildliche Nachahmung existierender Gegenstände wie mit Bezug auf die musikalische Nachahmung von Affekten beruft sich Mendelssohn auf beobachtbare Fälle, in denen künstlerische Nachahmungen mit Vergnügen wahrgenommen werden, aber das Vergnügen nicht durch Eigenschaften des nachgeahmten Gegenstands hervorgerufen sein kann. Nach der ersten Beobachtung gefallen in der Nachahmung auch Gegenstände, die ± wie »eine gemahlte Schlange«13 ± uns erschrecken, wenn wir sie sehen oder fälschlich zu sehen glauben. Weil auch die Nachahmung missfallender Gegenstände Vergnügen hervorruft, kann das Vergnügen nicht auf der Scheinwahrnehmung der repräsentierten Gegenstände beruhen. Nach der zweiten Beobachtung gefällt uns auch die musikalische Nachahmung unangenehmer Affekte. Ersichtlich ist nach Mendelssohn, »daß in diesen Fällen das zweite Urtheil: diese Affecten sind nur nachgeahmt, unmittelbar auf den Affect folgen muß, weil sonst die unangenehme Empfindung, die aus dem Affect entspringt, größer 12 13
Ebd., S. 154. Ebd., S. 155.
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seyn würde, als die angenehme, die eine Wirkung der Nachahmung ist.«14 Die beiden Beispiele vom Vergnügen an der Nachahmung unangenehmer Gegenstände wie vom Vergnügen an der musikalischen Nachahmung negativer Affekte stützen die Meinung, dass das Vergnügen an ästhetischer Illusion nicht aus der Wahrnehmung von Eigenschaften des nachgeahmten Gegenstandes hervorgeht. Alternativ beruht das Vergnügen an der Nachahmung schreckenerregender Gegenstände nach Mendelssohn darauf, dass wir eine Nachahmung wahrnehmen, die uns nur episodisch glauben lässt, den nachgeahmten Gegenstand zu sehen.15 So sprechen beide Beispiele dafür, dass die durchschaute Illusion eine Voraussetzung des Vergnügens bildet. In diesem Zusammenhang lehnt Mendelssohn auch die Meinung ab, dass das Vergnügen an der Nachahmung schreckenerregender Gegenstände ein Vergnügen daran ist, dass wir mit den schreckenerregenden Gegenständen in Wirklichkeit nicht konfrontiert sind. Getreu seiner Auffassung wird das Vergnügen an Nachahmungen in den Künsten nicht durch die Wahrnehmung von Eigenschaften des nachgeahmten Gegenstands, sondern durch die Wahrnehmung der Perfektion der künstlerischen Hervorbringung ausgelöst. Das Vergnügen resultiert ihm zufolge aus dem Bewusstsein für die Fähigkeit des Künstlers, eine Täuschung durch Nachahmung hervorzurufen. Dabei nimmt Mendelssohn an, dass die Verschiedenheit von Nachahmung und nachgeahmten Gegenstand dem Wahrnehmenden zu Bewusstsein kommen muss. Nachahmungen werden ihm zufolge mit Lust wahrgenommen, weil sie den Betrachter auf die Fähigkeit des Künstlers aufmerksam werden lassen, ihn zeitweilig in den Glauben zu versetzen, einen nachgeahmten Gegenstand wahrzunehmen. So äußert Mendelssohn, dass »uns die Nachahmung an und für sich selbst nicht so sehr vergnügt, als die Geschicklichkeit des Künstlers, der sie zu treffen gewußt hat«.16 Damit behauptet Mendelssohn, dass die Aufmerksamkeit auf die Mittel der künstlerischen Gestaltung der Wertschätzung von Kunst zuträglich ist, weil die Freude am Vermögen des Künstlers einen Bestandteil der Wirkung bildet. Für wertvoll erachtet wird die episodische Trugwahrnehmung demnach, weil sie ein Beispiel für die Fähigkeiten des Künstlers bildet. Wertgeschätzt wird die Illusion in den Künsten, weil sie das schöpferische Vermögen des Künstlers in Erinnerung bringt.17 Allerdings gibt Mendelssohn in der zeitnah verfassten und in der Ausgabe seiner Philosophischen Schriften von 1761 erstmals erschienenen Schrift Rhapsodie oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen eine andere Erklä-
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16 17
Ebd. Vgl. allgemein zu Mendelssohns Theorie vermischter Empfindungen Paul Guyer: MenGHOVVRKQ¶V7KHRU\RI0L[HG6HQWLPHQWV,Q0RVHV0HQGHOVVRKQ¶V0HWDSK\VLFVDQG$HVthetics. Hg. von Reinier Munk. Dordrecht/Heidelberg 2011, S. 259±278. Mendelssohn: Von der Herrschaft über die Neigungen (Anm. 3), S. 154. Zum Künstler als Schöpfer bei Mendelssohn vgl. Pollok: Facetten des Menschen (Anm. 3), S. 220±228.
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rung für das Gefallen an der Nachahmung schöner Gegenstände. 18 Unter Berufung auf Dubos behauptet er dort überraschenderweise, dass eine jede Beschäftigung des Erkenntnisvermögens Lust verursacht und auch eine Nachahmung unangenehmer Gegenstände die Erkenntniskräfte beschäftigt. Auf dieser Basis kann er jedoch nicht begründen, weshalb die künstlerische Nachahmung eine eigenständige Quelle von Vergnügen bildet.19 Zwar gesteht er zu, dass »ein heimliches Bewußtseyn, daß wir eine Nachahmung, und keine Wahrheit vor Augen haben«,20 zur Wahrnehmung einer künstlerischen Nachahmung gehört und ein Missfallen über den nachgeahmten Gegenstand relativiert ± in der Rhapsodie geht er aber nicht davon aus, dass die durchschaute Illusion eine Voraussetzung für das Vergnügen bildet. Den Gedanken, dass eine gelungene künstlerische Nachahmung deshalb wertgeschätzt wird, weil sie das schöpferische Vermögen des Künstlers zu Bewusstsein bringt, nimmt er jedoch später wieder auf.
2. Mendelssohn über Illusion und idealische Schönheit Prominent für Mendelssohns Verständnis von Illusion und Nachahmung ist seine 1757 in der Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste und sowohl 1761 als auch 1771 überarbeitet in seinen Philosophischen Schriften erschienene Abhandlung Ueber die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften.21 Darin beruft er sich ausdrücklich auf Batteaux, der in den Worten Mendelssohns behauptet, »die Nachahmung der Natur sey das allgemeine Mittel, dadurch uns die schönen Künste gefallen, und er glaubt aus diesem einzigen Grundsatze alle besondern Regeln der schönen Wissenschaften und Künste herleiten zu können.«22 Zwar stimmt Mendelssohn mit Batteaux in der Ansicht überein, dass die Kunst aufgrund der Nachahmung der Natur gefällt und die Nachahmung der Natur das Ziel der schönen Künste bildet; abweichend von Batteaux behauptet er jedoch, dass der Gegenstand der künstlerischen Nachahmung nicht nur die sinnlich wahrnehmbare Natur ist und dass die einzelnen Künste das Ziel der Naturnachahmung durch verschiedene Mittel erreichen. Obgleich Mendelssohn innerhalb der Hauptgrundsätze allein kunsttheoretische Ziele verfolgt, beruft er sich auf seine allgemeine Theorie der Empfindungen aus den Briefen über die Empfindungen von 1755. Terminologisch neu gegenüber den Briefen behauptet er in Anlehnung an Baumgarten, dass das 18 19 20 21 22
Moses Mendelssohn: Rhapsodie, oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen. In: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe (Anm. 3), Bd. I, S. 381±424. Zu Dubos vgl. Strube (Anm. 3), S. 61±84. Mendelssohn: Rhapsodie (Anm. 18), S. 390. Moses Mendelssohn: Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften. In: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe (Anm. 3), Bd. I, S. 425±452. Mendelssohn: Hauptgrundsätze (Anm. 21), S. 429.
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Gefallen an der Schönheit auf der sinnlichen Erkenntnis von Vollkommenheit basiert.23 Die Überzeugung, dass das Vergnügen am Schönen aus einer sinnlichen Vorstellung der Vollkommenheit resultiert, findet auch Eingang in Mendelssohns den Hauptgrundsätzen zugrunde gelegter Kunstdefinition: Wir haben nunmehr das allgemeine Mittel gefunden, dadurch man unserer Seele gefallen kann, nemlich die sinnlich vollkommene Vorstellung. Und da der Endzweck der schönen Künste ist, zu gefallen; so können wir folgenden Grundsatz als ungezweifelt voraussetzen: Das Wesen der schönen Künste und Wissenschaften besteht in einer künstlichen sinnlichvollkommenen Vorstellung, oder in einer durch die Kunst vorgestellten sinnlichen Vollkommenheit.24
Mit seiner Kunstdefinition öffnet Mendelssohn die Theorie der angenehmen Empfindungen für eine vom Begriff der Nachahmung ausgehende Kunsttheorie und stellt dem Gefallen an natürlichen Gegenständen das Gefallen an der künstlerischen Nachahmung an die Seite. Mendelssohns Kunstdefinition ist für die Fälle offen, dass Kunst sinnlich oder intellektuell vollkommene oder auch unvollkommene Gegenstände repräsentiert. In der Schrift Von der Herrschaft über die Neigungen hatte dafür argumentiert, dass die Wertschätzung repräsentationaler Kunst auf der Wahrnehmung der Nachahmung und nicht der Eigenschaften des nachgeahmten Gegenstands beruht, da auch Nachahmungen missfallender Gegenstände mit Vergnügen wahrgenommen werden. Demgegenüber bildet nicht die Nachahmung missfallender, sondern die Nachahmung gefallender Gegenstände die Schwierigkeit, von der Mendelssohn in den Hauptgrundsätzen ausgeht. Die Herausforderung für den Kunsttheoretiker besteht nach Mendelssohns neuer Auffassung in der Tatsache, dass die schöne Natur auch ohne Nachahmung gefällt. Das Vergnügen an der Nachahmung gefallender Gegenstände stellt eine Schwierigkeit für die Kunsttheorie dar, weil die künstlerische Nachahmung keine dauerhaften Illusionen hervorbringen kann. Da eine Täuschung durch Kunst immer nur partiell ist ± es bleiben »noch viel Nebenumstände zurück, die nicht zum Gebiete der Kunst gehören, und uns zur rechten Zeit erinnern, daß wir nicht die Natur selbst sehen«25 ±, muss zur Lust an der Illusion eine Enttäuschung hinzukommen. Im Unterschied zur lustverursachenden Täuschung führt die »Erinnerung, daß wir Kunst und nicht Natur sehen, etwas Unangenehmes mit sich, indem wir die angenehmen Vorbilder lieber selbst, als im Nachbilde zu sehen wünschen«.26 Anders als zuvor wendet sich Mendelssohn nun der Frage zu, wodurch die Freude an der Repräsentation schöner Gegenstände über die Freude an schönen Gegenständen hinausgeht. 23
24 25 26
Zum Begriff der sinnlichen Erkenntnis im Kontext der Ästhetik von Baumgarten und Wolff vgl. Luigi Cataldi Madonna: The Eighteenth-Century Rehabilitation of Sensitive Knowledge and the Birth of Aesthetics: Wolff, Baumgarten and Mendelssohn. In: Moses 0HQGHOVVRKQ¶V0HWDSK\VLFVDQG$HVWKHWLFVHg. von Reinier Munk. Dordrecht/Heidelberg 2011, S. 279±297. Mendelssohn: Hauptgrundsätze (Anm. 21), S. 431. Ebd., S. 432. Ebd.
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2.1 Nachahmung der idealischen Natur Mendelssohn behält die Überzeugung bei, dass schöne Gegenstände weniger wertgeschätzt werden als ihre Nachahmungen. In Übereinstimmung mit seinen in Von der Herrschaft über die Neigungen geäußerten Überzeugungen nimmt Mendelssohn an, dass sich das Vergnügen an einer Nachahmung nicht der Scheinwahrnehmung des nachgeahmten Gegenstands verdankt. Weil zum Gefallen an den Gegenständen das Gefallen an der Ähnlichkeit der Nachahmung hinzukommt, ruft die Wahrnehmung nachgeahmter schöner Gegenstände ein größeres Gefallen hervor als die Wahrnehmung schöner Gegenstände. Allerdings behauptet er nun, dass eine einem Gegenstand ähnliche Abbildung immer gefällt, wobei eine Abbildung durch künstlerische Nachahmung ein größeres Vergnügen als andere Abbildungen herbeiführt. Wir finden mehr zu bewundern an einer Rose von Huysum, als an dem Bilde, das uns jener Fluß von dieser Königinn der Blumen vorspiegelt; und die entzückendste Landschaft reizt uns in der Camera obscura nicht so sehr, als sie durch den Pinsel eines großen Landschaftsmalers, zu reizen im Stande ist.27
Mendelssohn ist von der Auffassung geleitet, dass die künstlerische Repräsentation schöner Gegenstände ein besonders großes Vergnügen hervorruft. So gefällt eine künstlerische Abbildung ihm zufolge stärker als eine natürliche etwa durch Schattenwurf oder Widerspiegelung oder als eine technische etwa durch Abguss oder die Camera Obscura. Immer noch im Einklang mit Von der Herrschaft über die Neigungen erklärt er diesen Sachverhalt dadurch, dass »die Aehnlichkeit mit dem Urbilde nur eine einfache Vollkommenheit ist« und nur »einen sehr geringen Grad der Lust« hervorruft, wohingegen die sich in der Gestaltung des Werks ausdrückende »Vollkommenheit des Künstlers« ein stärkeres Vergnügen verursacht.28 Kritisch auch gegenüber Wolff behauptet er, dass die Ähnlichkeit nicht die alleinige Quelle für die Lust an einer künstlerischen Nachahmung bildet, sondern zur Lust an der Ähnlichkeit eine stärkere Lust an den Fähigkeiten des Künstlers hinzutritt, von denen das Werk »sichtbare Abdrücke« liefert:29 Hierzu kömmt in den Nachahmungen der Kunst die Vollkommenheit des Künstlers, die wir in ihnen wahrnehmen; denn alle Werke der Kunst sind sichtbare Abdrücke von den Fähigkeiten des Künstlers, die uns, so zu sagen, seine ganze Seele anschauend zu erkennen geben. Diese Vollkommenheit des Geistes erregt ein ungemein grösseres Vergnügen, als die bloße Aehnlichkeit, weil sie würdiger und weit zusammengesetzter ist, als jene. Sie ist um so viel würdiger, je mehr die Vollkommenheit eines vernünftigen Wesens über die Vollkommenheit lebloser Dinge erhaben ist, und auch zusammengesetzter, weil viele Fähigkeiten der Seele [...] zu einer schönen Nachahmung erfordert werden.30
27 28 29 30
Ebd., S. 433. Ebd. Ebd. Ebd.
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Mendelssohns Argumentation basiert auf der Annahme, dass die Wahrnehmung einer einfachen Vollkommenheit ein schwächeres Vergnügen als die Wahrnehmung einer zusammengesetzten Vollkommenheit auslöst und das Genie einer »Vollkommenheit aller Seelenkräfte«31 Ausdruck gibt. Weil zur Wahrnehmung des schönen Gegenstands eine Freude am künstlerischen Hervorbringen hinzukommt, gefällt die Wahrnehmung einer Nachahmung eines schönen Gegenstands stärker als die eines schönen Gegenstands. Dieser Erklärung für den Vorrang der künstlerischen Nachahmung gegenüber anderen Abbildungen fügt Mendelssohn eine zweite hinzu. Unterscheiden lassen sich die Formen der Nachahmung nach einer neuen Überzeugung Mendelssohns auch anhand ihrer Gegenstände. Mendelssohn vertritt die These, dass die Nachahmung durch das Genie einen anderen Gegenstandsbereich hat als die natürliche oder technische Nachahmung und dass ihr Gegenstandsbereich über die sinnlich wahrnehmbare Natur hinausgeht. So untersucht er die Frage, »in welchem Falle es der Kunst zukomme, die Natur zu verlassen, und die Gegenstände nicht völlig so nachzubilden, wie sie im Urbilde anzutreffen sind.«32 Legitimiert sind Abweichungen von der Ähnlichkeit mit sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen, insofern der Künstler etwas in der Weise vorstellt, »wie es die Natur vorgestellt haben würde, wenn die Schönheit dieses begränzten Gegenstandes ihre einzige Absicht gewesen wäre«.33 Mendelssohn folgt hier der Auffassung, dass die Natur eine idealische Schönheit trägt, die sich nur zum Teil in ihren äußeren Formen zeigt. Das Genie des Künstlers zeigt sich dabei im Vermögen, »das idealische Schöne aus den Werken zu abstrahiren«34 und durch eine verschönernde Nachahmung natürlicher Gegenstände sinnlich zu verkörpern. Nach Mendelssohn erheben sich die Künstler »über die gemeine Natur«, deren Ordnung nur in Teilen sinnlich wahrnehmbar ist, und streben danach, einen Gegenstand in der Weise abzubilden, »wie ihn Gott geschaffen haben würde, wenn die sinnliche Schönheit sein höchster Endzweck gewesen wäre, und ihn also keine wichtigeren Endzwecke zu Abweichungen hätten veranlassen können.«35 So genießen nachahmende Werke einen höheren Wert, bei denen zur Repräsentation natürlicher Gegenstände eine Repräsentation idealischer Eigenschaften der Natur hinzukommt. Diese Auffassung ist mit Mendelssohns verschiedentlich geäußerter Auffassung verträglich, dass das Durchschauen der Illusion eine notwendige Bedingung für das Vergnügen an der künstlerischen Nachahmung darstellt. So bildet das Durchschauen der Illusion eine Voraussetzung dafür, dass die künstlerische Vollkommenheit in der Abweichung von der Ähnlichkeit mit materiellen Gegenständen nicht als Fehler wahrgenommen wird. Bei näherer Betrachtung verlässt Mendelssohn hier jedoch den Rahmen einer von der Kunstwirkung 31 32 33 34 35
Ebd., S. 435 f. Ebd., S. 434. Ebd., S. 435. Ebd., S. 436. Ebd., S. 435.
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ausgehenden Erklärung repräsentationaler Kunst. Anders als zuvor behauptet er, dass das Genie Gegenstände außerhalb der sinnlich wahrnehmbaren Natur zur Darstellung bringt. Mendelssohns Empfehlung an die Künstler, die »nicht Genie genug haben, das idealische Schöne aus den Werken der Natur zu abstrahieren«, gibt einen Hinweis auf die Quelle für seinen Meinungswandel. Seinem Rat zufolge kann den genielosen Künstlern »die fleißige Beobachtung der Antiken nützlicher seyn, als die Betrachtung der Natur«.36 Winckelmanns Gedancken über die Nachahmung von 1755 bilden den Kontext für Mendelssohns Auffassung vom Genie, das die Natur nicht in ihrer sinnlichen, sondern in ihrer idealischen Verfassung darstellt.37 Mendelssohn stimmt der für Winckelmanns Kunsttheorie basalen Meinung zu, dass das Genie über die Nachahmung der sinnlich wahrnehmbaren materiellen Natur hinausgeht. Winckelmann zufolge lässt sich an den Griechen lerne, dass sich die nachahmende Kunst der Malerei »auch auf Dinge [erstreckt], die nicht sinnlich sind«, und diese das »höchste Ziel« der Malerei darstellen.38 Mendelssohns Aussage über die exemplarische Bedeutung antiker Kunst für die Repräsentation des idealisch Schönen lassen sich Aussagen Winckelmanns zuordnen: »Die Kenner und Nachahmer der Griechischen Wercke finden in ihren Meister-Stücken nicht allein die schönste Natur, sondern noch mehr als Natur; das ist, gewisse Idealische Schönheiten derselben, die [...] von Bildern bloß im Verstande entworffen, gemacht sind.«39 Mendelssohns Ausführungen über die Kunst des Genies in der Darstellung idealischer Schönheit lassen sich als Bekenntnis zu dem Winckelmanns Kunstverständnis zugrunde liegenden Platonismus verstehen. Innerhalb der Illusionstheorie Mendelssohns machen diese Überlegungen jedoch einen Fremdkörper aus; ideengeschichtlich erwächst ihnen vor allem deshalb Bedeutung zu, weil sie in die Vorgeschichte des Laokoon und Lessings Auseinandersetzung mit Winckelmann gehören.
2.2 Illusion in den einzelnen Künsten Auch Mendelssohns Ausführungen zu den Mitteln der Illusionserzeugung in den einzelnen Künsten weisen auf den Laokoon voraus.40 Während Mendelssohn im ersten Teil der Hauptgrundsätze die These vertritt, dass das Ziel der
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Ebd., S. 436. Johann Joachim Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst. In: Ders.: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe. Hg. von Walther Rehm. Berlin/New York 2002, S. 27±59. Mendelssohn bezieht sich innerhalb der Hauptgrundsätze auch namentlich auf Winckelmann (Mendelssohn: Hauptgrundsätze [Anm. 21], S. 443). Winckelmann (Anm. 37), S. 55. Ebd., S. 30. Zu Mendelssohns Kunsttheorie allgemein vgl. Iwan-Michelangelo '¶$SULOH 'LH VFK|QH Republik. Berlin/New York 206, S. 33±38, und besonders Pollok: Facetten des Menschen (Anm. 3), S. 191±244.
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Kunst in der Nachahmung der sinnlichen und insbesondere der idealischen Natur besteht, diskutiert er im zweiten Teil auf der Basis eines vielfältigen Vergleichs von Kunstformen und Werken, anhand welcher Mittel die Einzelkünste dieses Ziel erreichen. Seiner »Einteilung der schönen Künste in ihre besondern Klassen«41 legt er Unterscheidungen zugrunde, die sich auch in der Kunsttheorie des Laokoon wiederfinden lassen. Zunächst separiert er die schönen Wissenschaften im Sinne von Dichtung und Beredsamkeit anhand ihrer Verwendung willkürlicher Zeichen von den auf der Verwendung natürlicher Zeichen basierenden schönen Künsten.42 Während von natürlichen Zeichen dann zu sprechen ist, »wenn die Verbindung des Zeichens mit der bezeichneten Sache in den Eigenschaften des Bezeichneten selbst gegründet ist«43, sind willkürliche Zeichen durch »die Einwilligung der Menschen«44 d. h. durch Konvention festgelegt. Auf natürlichem Weg verweist ein Zeichen auf einen Gegenstand, wenn es in der Regel gemeinsam mit ihm auftritt, weil es unter normalen Bedingungen durch ihn verursacht ist. Als Beispiele für den Gebrauch natürlicher Zeichen führt Mendelssohn die Darstellung von Leidenschaften durch Töne und Gebärden etwa in Musik, Malerei oder Tanzkunst an. Töne und Gebärden lassen sich als natürliche Zeichen für die Gemütsbewegungen verstehen, deren Verhaltensäußerungen sie normalerweise sind. Wohingegen die schönen Künste aufgrund des natürlichen Zeichengebrauchs nur einen eingeschränkten Bereich von Gegenständen zur Darstellung bringen können, kann die auf willkürliche Zeichen gestützte Literatur alle Arten von Gegenständen nachahmen, von denen sich ein klarer Begriff erwerben lässt. Eine literarische Darstellung stellt jedoch nur dann eine mit Gefallen wahrnehmbare »sinnlich-vollkommene Rede« dar, wenn sie trotz Verwendung willkürlicher Zeichen durch eine anschauende Erkenntnis aufgefasst werden kann. 45 Im Rahmen dieser Überlegung formuliert Mendelssohn eine Regel, durch die über den poetischen Wert von Literatur entschieden werden kann:
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Mendelssohn: Hauptgrundsätze (Anm. 21), S. 436. Über die Unterscheidung willkürlicher und natürlicher Zeichen verfügen bereits Dubos und James Harris. Vgl. Zu Mendelssohns =HLFKHQWKHRULHYJO'¶$SUile: Die schöne Republik, S. 33±38. Zum Begriff »schöne Wissenschaften« vgl. Werner Strube: Die Geschichte des Begriffs »Schöne Wissenschaften«. In: Archiv für Begriffsgeschichte 33 (1990), S. 136± 216. Mendelssohn: Hauptgrundsätze (Anm. 21), S. 437. Ebd., S. 438. Ebd., S. 437. Mendelssohn beruft sich hier explizit auf Baumgartens Definition des Gedichts. Alexander Gottlieb Baumgarten, Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus ± Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes. Hg. von Heinz Paetzold. Hamburg 1983, § 9: »Oratio perfecta sensitiva est POEMA.« Trotz seiner Berufung auf Baumgarten ist Ursula Goldenbaum der Meinung, dass Mendelssohns Ästhetik eine spinozistische Alternative zur Ästhetik Baumgartens darstellt. Vgl. Ursula GoldenEDXP 0HQGHOVVRKQ¶V 6SLQR]LVWLF $OWHUQDWLYH WR %DXPJDUWHQ¶V 3LHWLst Project of AestheWLFV,Q0RVHV0HQGHOVVRKQ¶V0HWDSK\VLFVDQG$HVWKHWLFV+JYRQ5HLQLHU0XQN'RUdrecht/Heidelberg 2011, S. 299±326.
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Achim Vesper Das Mittel eine Rede sinnlich zu machen, bestehet in der Wahl solcher Ausdrücke, die eine Menge von Merkmalen auf einmal in das Gedächtnis zurück bringen, um uns das Bezeichnete lebhafter empfinden zu lassen, als das Zeichen. Hierdurch wird unsere Erkenntniß anschauend. Die Gegenstände werden unsern Sinnen, wie unmittelbar vorgstellt, und die untern Seelenkräfte werden getäuscht, indem sie öfters der Zeichen vergessen, und der Sache selbst ansichtig zu werden glauben.46
Sinnlich ist eine Rede, wenn sie ohne Bewusstsein für den symbolischen Zeichengebrauch aufgefasst wird; das Bewusstsein für die symbolische Zeichenverwendung wiederum geht verloren, wenn durch den sprachlich vermittelte Merkmale eines Gegenstands simultan wahrgenommen werden. Zur Unterscheidung der schönen Wissenschaften und Künste anhand ihrer Zeichen fügt Mendelssohn Unterscheidungen innerhalb der Künste hinzu. Nach seiner Typologie wirken die nicht-literarischen Künste entweder in der Musik »auf die Werkzeuge des Gehörs« oder in den übrigen Künsten »auf die Werkzeuge des Gesichts« ein,47 wobei sowohl die sichtbaren als auch die hörbaren natürlichen Zeichen »entweder in der Folge auf einander oder neben einander vorgestellet werden« und entsprechend »entweder die Schönheit durch Bewegung oder durch Formen ausdrücken«.48 Während sichtbare natürliche Zeichen in der Tanzkunst in zeitlicher Folge verwendet werden, verwenden Malerei und Bildhauerei Flächen oder Körper als räumliche Zeichen. Dabei stehen die nicht zeitlich sukzessive, sondern räumlich simultane Zeichen verwendenden Künste vor einer Schwierigkeit in der Nachahmung menschlicher Handlungen. Eine Nachahmung menschlicher Handlungen durch die beiden Künste kann nach Mendelssohn nur dann gelingen, wenn ein für den weiterreichenden Handlungsverlauf informativer Ausschnitt zur Darstellung gebracht wird: Da der Maler und Bildhauer die Schönheiten in der Folge neben einander ausdrücken, so müssen sie den Augenblick wählen, der ihrer Absicht am günstigsten ist. Sie müssen die ganze Handlung in einem einzigen Gesichtspunkt versammeln, und mit vielem Verstande austheilen. Alles muß in diesem Augenblicke gedankenreich und so voller Bedeutung seyn, daß ein jeder Nebenbegriff zu der verlangten Bedeutung das Seinige beytrage. Wenn wir ein solches Gemälde mit gehöriger Aufmerksamkeit anschauen; so werden unsere Sinne auf einmal begeistert, alle Fähigkeiten unserer Seele werden plötzlich rege, und die Einbildungskraft kann aus dem Gegenwärtigen das Vergangene errathen, und das Zukünftige mit Zuverlässigkeit vorher ahnen.49
Mendelssohn zufolge sind Malerei und Bildhauerei zur Nachahmung von Handlungen fähig, weil die Darstellung einer glücklich gewählten Handlungssituation den Betrachter den weiteren Kurs der Handlung imaginieren lässt. Gemeinsam ist der Nachahmung durch Dichtung und der durch Malerei wie Bildhauerei, dass die Wahrnehmung einer Fülle von Merkmalen oder Nebenbegriffen eine Illusion hervorruft und den Rezipienten zumindest vorübergehend 46 47 48 49
Mendelssohn: Hauptgrundsätze (Anm. 21), S. 437. Ebd., S. 438. Ebd., S. 439. Ebd., S. 440 f.
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»der Sache selbst ansichtig«50 zu sein glauben lässt. Eine generalisierende Beschreibung enthält ein Passus, den Mendelssohn den Hauptgrundsätzen in der späteren Fassung von 1761 hinzufügt. Dort formuliert er eine Antwort auf die Frage, unter welchen Bedingungen künstlerischer Ausdruck die Fähigkeit zur Täuschung erwirbt: »wir müssen eine solche Menge von Merkmalen auf einmal wahrnehmen, daß wir die Sache selbst uns lebhafter vorstellen, als die ausdrückenden Zeichen; und zwar um so viel lebhafter, daß unsere Sinne wenigstens einen Augenblick, die Sachen selbst vor sich zu sehen glauben. Dieses ist der höchste Grad der anschauenden Erkenntnis, die man die ästhetische Illusion nennt.«51 Mendelssohn argumentiert dafür, dass Gegenstände der Kunst genau dann eine episodische Illusion erzeugen, wenn die Wahrnehmung einer Pluralität von Teilen eines dargestellten Gegenstands hinter die Wahrnehmung des Ganzen des dargestellten Gegenstands zurücktritt. Ist diese Bedingung erfüllt, so entsteht eine Täuschung und wird die Darstellung eines Gegenstands für den dargestellten Gegenstand gehalten. Vergleichbar argumentiert er in den Briefen über die Empfindungen dafür, dass die Lust am Schönen aus einem Übergang von der Aufmerksamkeit auf die Teile auf die Aufmerksamkeit des Ganzen hervorgeht. 52 Die Lust am Schönen folgt aus einem Übergang von der deutlichen Auffassung der Teile zur »Achtsamkeit auf ihre allgemeine Beziehung« oder auch »von den Theilen zum Ganzen«.53 Mit der Hinwendung zum Ganzen weichen »die besonderen deutlichen Begriffe [...] gleichsam in eine dunkele Ferne zurück«,54 verleihen aber der Wahrnehmung des Ganzen Reichhaltigkeit. Auf das »Überdenken« der Teile folgt eine Verdunklung im »Geniessen« ± »in dem Augenblicke des Genusses verdunkeln sich alle einzelne Begriffe«.55 Ähnlich erklärt Mendelssohn in den Hauptgrundsätzen die Wahrnehmung künstlerischer Illusion als Spezialfall der Wahrnehmung des Schönen aus der lebhaften d. h. merkmalsreichen Wahrnehmung eines Gegenstandes, bei der die begriffliche Erfassung der Teile in den Hintergrund tritt. Zusammengefasst besteht der Wert der nachahmenden Künste den Hauptgrundsätzen zufolge darin, dass sie neben dem schöpferischen Vermögen des Künstlers die idealische Ordnung der Natur zum Ausdruck bringen. Wegen ihres verschiedenen Zeichengebrauchs gelangen die einzelnen Künste auf verschiedenem Weg zur Nachahmung der Natur. Mendelssohn hebt hervor, dass sich die einzelnen Künste zwar in den Mitteln der Nachahmung unterscheiden, sie sich aber auch ± etwa im Lied, der Oper oder der mit Inschriften ausgestatte50 51 52
53 54 55
Ebd., S. 437. Ebd., S. 576 f. Moses Mendelssohn: Über die Empfindungen. In: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe (Anm. 3), Bd. I, S. 43±123. Die Lust am Schönen bleibt laut Mendelssohn in den »Grentzen der Klarheit«, da sich »kein deutlicher, auch kein völlig dunkler Begriff« mit dem »Gefühle der Schönheit« verträgt (Mendelssohn: Über die Empfindungen, S. 50). Ebd., S. 51. Ebd. Ebd., S. 54.
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ten Malerei ± verbinden lassen. Seine kunsttheoretische Untersuchung bricht er jedoch ab in Erwartung auf »den Unterricht eines Weltweisen, der mit den Künsten vertraut genug ist, ihre Geheimnisse mit philosophischen Augen zu betrachten, und der Welt, wie er längst versprochen, bekannt zu machen.«56 Mit dem Weltweisen ist Lessing gemeint.
3. Lessing über malerische und poetische Illusion Bereits die Vorrede stellt den Laokoon in den Kontext der Diskussion, die Lessing mit Mendelssohn und Nicolai über die Nachahmung durch Malerei und Poesie führt. Bekanntlich führt Lessing die Überzeugungen eines Liebhabers der schönen Künste, eines Philosophen und eines Kunstrichters an, die sich ± in dieser Reihenfolge ± Nicolai, Mendelssohn und Lessing selbst zuordnen lassen. Der Liebhaber nimmt »eine ähnliche Wirkung« beider Künste wahr: »Beide, empfand er, stellen uns abwesende Dinge als gegenwärtig, den Schein als Wirklichkeit vor; beide täuschen, und beider Täuschung gefällt.«57 Demgegenüber versucht der Philosoph, »in das Innere dieses Gefallens einzudringen« und aus einer Erklärung für das Gefallen an der Schönheit »allgemeine Regeln« für die Einzelkünste abzuleiten.58 Während Liebhaber und Philosoph von gemeinsamen Merkmalen der Kunstarten ausgehen, relativiert der Kunstrichter die Geltung allgemeiner Kunstregeln und bemerkt, »daß einige mehr in der Malerei, andere mehr in der Poesie«59 herrschen. Lessing stellt dabei auch durch die Figurenrede des Kunstkritikers nicht in Frage, dass die Künste das Merkmal der Nachahmung teilen und das Gefallen an künstlerischer Nachahmung eine Form des Gefallens am Schönen ist. Nach seiner Meinung sind die von Mendelssohn formulierten Regeln der Nachahmung in den Künsten jedoch zu unspezifisch, um der Verschiedenheit von Malerei und Poesie gerecht zu werden. Mit dem Laokoon führt Lessing das Projekt der Hauptgrundsätze Mendelssohns fort, ein Verständnis von Nachahmung in den einzelnen Künste zu gewinnen; dabei erhebt Lessing den Anspruch, nicht als Philosoph, sondern als Kunstkenner und auf der Basis eines Vergleichs der Künste und einzelner ihrer Werke zu weiteren Differenzierungen zu gelangen.
56 57
58 59
Ebd., S. 452. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon. In: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 5/2: Werke 1766±1769. Hg. von Wilfried Barner. Frankfurt am Main 1990 (im Folgenden zitiert als FA 5/2 für ¾Frankfurter Ausgabe½ 6 9±206, hier S. 13. Ebd. Ebd.
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3.1 Körper und Handlungen als Nachahmungsgegenstände Wie Mendelssohn hebt Lessing hervor, dass materielle Einzelgegenstände nicht die einzigen Gegenstände künstlerischer Nachahmung bilden. Neben körperlichen Gegenständen können die Künste auch menschliche Handlungen nachahmen, wenn sie die imaginativen Fähigkeiten ihrer Rezipienten in geeigneter Weise stimulieren. Dies geht unter anderem aus einer bekannten Passage im dritten Abschnitt des Laokoon hervor, in der sich Lessing über Grenzen der künstlerischen Darstellung von Teilen der veränderlichen Natur wie menschlichen Handlungen und Leidenschaften äußert: Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick, und der Maler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur aus einem einzigen Gesichtspunkte, brauchen; sind aber ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden: so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblickes, nicht fruchtbar genug gewählet werden kann. Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel lässt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben.60
Zwar unterstützt Lessing Mendelssohns Auffassung, dass Malerei und Bildhauerkunst durch die Darstellung eines angemessenen Handlungsausschnitts zur Nachahmung von Handlungen imstande sind; anders als Mendelssohn aber deutet Lessing die Wahl eines geeigneten Augenblicks als eine Restriktion, unter der die Künste von Bildhauerei und Malerei im Unterschied zur Dichtung leiden: »Nichts nötiget [...] den Dichter sein Gemälde in einen einzigen Augenblick zu concentrieren.«61 Abweichend von Mendelssohn behauptet Lessing, dass die Dichtung besser als die schönen Künste zur Nachahmung von Handlungen geeignet ist. Während die bildenden Künste an die Darstellung eines prominenten Augenblicks als Mittel zur Nachahmung von Handlungen gebunden sind, kann die Dichtung Handlungen anhand verschiedener ihrer Episoden zur Darstellung bringen. Weil die Dichtung in der Nachahmung von Handlungen einen Vorzug gegenüber den bildenden Künsten genießt, kann die Malerei auch kein Vorbild für die Dichtung darstellen. Lessing zufolge verliert die Dichtung an Fähigkeiten und gewinnt keine neuen hinzu, wenn sie sich in der Wahl ihrer Gestaltungsmittel an der Malerei orientiert. Diese Beobachtung führt Lessing zu seiner kunsttheoretischen Leitunterscheidung, mit der er über Mendelssohn hinaus gelangt. Wie Mendelssohn geht er zunächst davon aus, dass die Teile von Werken der Malerei räumlich nebeneinander präsentiert werden und gleichzeitig wahrgenommen werden können, während die Teile von Werken der Dichtung nur zeitlich nacheinander wahrgenommen werden können. Gegen Mendelssohn argumentiert er jedoch dafür, dass die Malerei aufgrund ihrer räumlichen Verbindung von Zeichen nicht zur 60 61
FA 5/2, S. 32. Ebd., S. 35.
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Darstellung fortschreitender Handlungen ± von Handlungen »als fortschreitend«62 ± imstande ist. Zwar ist die Malerei auch zur Darstellung von Handlungen befähigt, sie ist aber nicht in der Lage, Handlungen in ihrer Entwicklung nachzuahmen. Lessing verwendet hier Mendelssohns Feststellung über den verschiedenen Zeichengebrauch in Malerei und Dichtung als Prämisse für eine über die Überlegungen Mendelssohn hinausführende Schlussfolgerung: Ich schließe so. Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nemlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen.63
Wie Mendelssohn unterscheidet Lessing die Kunstarten durch ihre zeitlich simultane oder sukzessive Präsentation. Anders als Mendelssohn behauptet Lessing, dass Malerei und Literatur durch ihren Zeichengebrauch für die Nachahmung verschiedener Klassen von Gegenständen unterschiedlich gut geeignet sind. Seine Argumentation beruht auf der gegenüber Mendelssohn neuen Annahme, dass »die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen«,64 und führt ihn zu der Konklusion, dass Körper bevorzugt durch räumlich verbundene Zeichen und Handlungen bevorzugt durch zeitliche verbundene Zeichen dargestellt werden können: Gegenstände, die neben einander oder deren Teile neben einander existieren, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften, die eigentlichen Gegenstände der Malerei. Gegenstände, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.65
Lessing zufolge liefern Körper die paradigmatischen Gegenstände für malerische Nachahmung wie Handlungen die paradigmatischen Gegenstände für poetische Nachahmung. Seine Kritik an Mendelssohn lautet, dass Malerei und Dichtung auch hinsichtlich der Gegenstände ihrer Nachahmung und nicht nur hinsichtlich der Mittel ihrer Nachahmung unterschieden werden müssen. Die Unterscheidung von Poesie und Malerei anhand ihrer zentralen Gegenstände gehört zum Grundgerüst des Laokoon, wie aus Paralipomenon 1 hervorgeht.66 In seinen Kommentaren zu den Entwürfen zum Laokoon erhebt Mendelssohn allerdings Einspruch gegen Lessings Distanzierung der Poesie gegenüber der Malerei. Nach Mendelssohn sind die bildenden Künste von Malerei 62 63 64 65 66
Ebd., S. 116. Ebd. Ebd. Ebd. Gotthold Ephraim Lessing: Paralipomena zum Laokoon. In: FA 5/2, S. 207±321, hier S. 209±213.
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und Bildhauerei Vorbilder für die Poesie, weil sie die Teile eines Werks in der Weise darstellen, dass sie als ein Ganzes wahrgenommen werden können: Ich stelle mir vor, daß die Regelmäßigkeit und Schönheit des Ganzen Ideen sind, auf welche man in der Poesie nicht geraten kann, wenn wir sie nicht von der Malerei und Bildhauerkunst entlehnen, und auf die Dichtkunst anwenden; denn da die Begriffe in der Dichtkunst auf einander folgen; so sehen wir so leicht die Notwendigkeit nicht ein, diese mannigfaltigen Teile zusammen als ein schönes Ganzes zu betrachten, und in ihrer Verbindung zu übersehen. Hingegen ist bei der Malerei und Bildhauerkunst, die die Begriffe zusammen als ein Ganzes darstellen, das Ganze auch immer das erste, worauf wir sehen. Allhier haben also die Regeln von der Schönheit gar leicht erfunden, und hernach per Principium reductionis auf Poesie und Beredsamkeit angewandt werden können.67
Dagegen bestreitet Lessing, dass die Teile einer literarischen Darstellung ähnlich den Teilen einer bildlichen Darstellung überhaupt als ein Ganzes wahrgenommen werden können. Prominent ist hier der 17. Abschnitt des Laokoon, in dem Lessing anhand der Naturbeschreibung in Hallers Alpengedicht die Frage diskutiert, ob der Gebrauch malerischer Mittel auch in der Kunstform der Dichtung illusionsbildend sein kann. Zunächst hält Lessing fest, dass auch der Poet ± anders als der Prosaist ± seine sprachlichen Mittel mit dem Ziel auswählt, eine Täuschung herbeizuführen: »er will die Ideen, die er in uns erwecket, so lebhaft machen, daß wir in der Geschwindigkeit die wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden glauben, und in diesem Augenblicke der Täuschung, uns der Mittel, die er dazu anwendet, seiner Worte bewußt zu sein aufhören.«68 Daneben geht Lessing auf Mendelssohns Annahme ein, dass solche Gegenstände eine Illusion bewirken, bei denen die Wahrnehmung der dargestellten Teile eines Gegenstands von der des dargestellten Ganzen abgelöst wird. Relevant ist die Schnelligkeit in der Zusammenfassung der wahrgenommenen Teile, da die Illusion von der Wahrnehmung des Ganzen eines Gegenstands abhängt und »diese Schnelligkeit unumgänglich notwendig ist, wann wir einen Begriff von dem Ganzen, welcher nichts mehr als das Resultat von den Begriffen der Teile und ihrer Verbindung ist, bekommen sollen.«69 In der nicht-visuellen Kunst der Dichtung besteht jedoch laut Lessing eine besondere Schwierigkeit in der Auffassung des Ganzen, weil die einzelnen Teile zeitlich nacheinander dargestellt werden. Während die poetisch dargestellten Teile eines Gegenstands durch verschiedene Wahrnehmungsakte erfasst werden müssen, können verschiedene malerisch dargestellte Teile in der Wahrnehmung gemeinsam präsent sein. Darüber hinaus genießt die Malerei den Vorzug, dass die Wahrnehmung von Gemäldeteilen wiederholbar ist, während bei zu Gehör gebrachter Dichtung nur die Erinnerung im Gedächtnis fortdauert. Weil sie ihrem Rezipienten nicht zu einem adäquaten Begriff des Ganzen verhilft, verstößt die malerisch beschreibende Dichtung nach Lessing gegen eine
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FA 5/2, S. 246. Ebd., S. 124. Ebd.
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Bedingung für die Erzeugung von Illusion: »Ich frage ihn [den Dichter] nur, wie steht es um den Begriff des Ganzen? Wenn auch dieser lebhaft sein soll, so müssen keine einzelnen Teile darin vorstechen, sondern das höhere Licht muß auf alle gleich verteilet scheinen; unsere Einbildungskraft muß alle gleich schnell überlaufen können, um sich das aus ihnen mit eins zusammenzusetzen, was in der Natur mit eins geschehen wird.«70 In der Folge kann die dichterische Rede nicht die »Lebhaftigkeit und Ähnlichkeit des Bildes«71 liefern, die für die Malerei kennzeichnend ist. Gemäß Lessing ist literarische Rede entweder auf die Beschreibung von Teilen einzelner körperlicher Gegenstände bezogen und nicht illusionsbildend ± oder sie ist illusionsbildend, besteht aber nicht in der Beschreibung von Teilen. Eine Beschreibung der Teile eines Gegenstandes kann nicht poetisch sein, da eine Beschreibung der Teile keine Täuschung bewirken kann und das Ziel poetischer Rede in der Täuschung besteht.
3.2 Illusion und Sympathie Lessings Unterscheidung malerischer und poetischer Illusion basiert auf der Annahme, dass Malerei und Dichtung für eine täuschende Darstellung verschiedener Arten von Gegenständen geeignet sind. Während die Malerei für eine Illusion in Bezug auf leblose Körper in Frage kommt, ist die Dichtung imstande, eine Illusion in Bezug auf Personen und ihre Handlungen zu erzeugen. Lessing ist aber nicht nur der Meinung, dass sich poetische und malerische Illusion auf verschiedene Gegenstände beziehen; ihm zufolge ist der Zustand der poetischen im Unterschied zur malerischen Illusion nicht dadurch gekennzeichnet, dass der Rezipient einen nachgeahmten Gegenstand zu sehen glaubt. Als Beispiel wählt Lessing im 21. Abschnitt Homers Darstellung der Schönheit Helenas aus der Illias. Helenas Schönheit bringt Homer laut Lessing nicht durch die Beschreibung der Bestandteile ihrer Schönheit, sondern durch eine Darstellung ihrer Wirkung auf andere Figuren zum Ausdruck: Was Homer nicht nach seinen Bestandteilen beschreiben konnte, lässt er uns in seiner Wirkung erkennen. Malet uns, Dichter, das Wohlgefallen, die Zuneigung, die Liebe, das Entzücken, welches die Schönheit verursachet, und ihr habt die Schönheit selbst gemalet. [...] Wer glaubt nicht die schönste vollkommenste Gestalt zu sehen, sobald er mit dem Gefühle sympathisieret, welches nur eine solche Gestalt erregen kann?72
Im Unterschied zum Maler kann der Dichter körperliche Schönheit dadurch erfolgreich nachahmen, dass er die emotionale Einstellung ihr gegenüber zum Ausdruck bringt. Lessing zeigt am Beispiel der Darstellung Helenas auf, dass die Darstellung emotionaler Wirkungen gleichartige Wirkungen beim Leser hervorruft. Die malerische Darstellung der Helena durch Zeuxis mit der literari70 71 72
Ebd., S. 125 f. Ebd. Ebd., S. 154.
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schen Darstellung der Helena durch Homer vergleichend, resümiert Lessing ähnlich: »Denn so wie der weise Dichter uns die Schönheit, die er nach ihren Bestandteilen nicht schildern zu können fühlte, bloß in ihrer Wirkung zeigte: so zeigte der nicht minder weise Maler uns die Schönheit nach nichts als ihren Bestandteilen«.73 Die körperliche Schönheit Helenas wird dichterisch von Homer zum Ausdruck gebracht, indem er zeigt, mit welchen Einstellungen Handelnde ihr begegnen. Diesen Passagen zufolge beruht poetische Illusion auf der Repräsentation von Wirkungen, die von Eigenschaften oder Handlungen von Personen ausgehen, und gleichartige Wirkungen beim Rezipienten auslösen; Zuschauer oder Leser reagieren auf literarisch nachgeahmte Handlungen wie auf wirkliche. Die poetische Illusion besteht darin, dass der Leser oder Zuschauer poetisch dargestellten Figuren in gleicher Weise wie wirklichen Personen gegenüber emotional eingestellt ist. Vollständig fremd ist Mendelssohn diese Auffassung jedoch nicht; so schreibt er gelegentlich in Bezug auf literarische Illusion: »Allein wodurch ist dieser glückliche Betrug zu erhalten? Bloß durch die künstliche Erregung der Leidenschaften. Nur diese sind mächtiger als die Sinne, und verführen die Seele, die täuschenden Vorstellungen für wirklich zu halten«.74 Für Lessing jedoch liefert die Überzeugung, dass Handlungen als Gegenstände poetischer Illusion bei ihren Rezipienten ähnliche emotionale Reaktionen wie auf wirkliche Handlungen auslösen, einen Anfangspunkt für die Mitleidstheorie der Hamburgischen Dramaturgie. Wertvoll ist das Mitleid im Sinne des Sympathisierens mit anderen, weil es als »das sympathetische Gefühl der Menschlichkeit«75 eine Quelle für moralisches Handeln darstellt. Damit wählt Lessing einen Weg, poetische Illusion mit geteilten emotionalen Einstellungen und die Fähigkeit zu geteilten emotionalen Einstellungen mit moralischer Tugend zu verbinden.
4. Schluss In der Übersicht nimmt Mendelssohn Korrekturen an Wolffs Meinung vor, dass die Lust an einer bildlichen Darstellung auf der Ähnlichkeit von Original und Abbildung basiert. Laut Mendelssohn verdankt sich die Wertschätzung von 73
74 75
Ebd., S. 157. Lessing spricht Homer eine Schilderung der Schönheit »durch ihre Wirkung« (Ebd., S. 225) zu. Vgl. dazu Jürgen Jacobs: Die Schönheit der Literatur. Zur Geschichte eines Problems von Gorgias bis Bense. Tübingen 2007, S. 254±256. Moses Mendelssohn: Die Idealschönheit in den schönen Wissenschaften. In: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe (Anm. 3), Bd. V.1, S. 98±101. Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. In: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 6: Werke 1767±1769. Hg. von Klaus Bohnen. Frankfurt am Main 1985, S. 181±694, hier S. 654. Zu Lessings Mitleidspoetik vgl. u. a. Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. München 1980, bes. S. 34±45. Eine Quelle für den Sympathie-Begriff im Laokoon bildet Adam Smith, auf den sich Lessing im Zusammenhang mit der sympathisierenden Anteilnahme an den emotionalen Zuständen anderer ausdrücklich bezieht (FA 5/2, S. 43).
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künstlerischen Nachahmungen zusätzlich der Tatsache, dass durch eine künstlerische Nachahmung die Geschicklichkeit des Künstlers zum Ausdruck kommt. Daneben behauptet er jedoch auch, dass künstlerische Nachahmungen besondere Wertschätzung erfahren, weil sie idealisch schöne Gegenstände zur Darstellung bringen. Gegen Mendelssohn wendet Lessing ein, dass die Malerei, nicht aber die Dichtung über angemessene Mittel zur Illusion körperlicher Gegenstände verfügt. Im Unterschied zur Malerei ist die Dichtung jedoch in der Lage, Illusionen in Bezug auf fortschreitende Handlungen hervorzurufen. Die poetische Illusion besteht darin, dass der Rezipient auf poetisch dargestellte Figuren und Handlungen in gleicher Weise wie auf wirkliche Personen emotional reagiert. Gegenüber der Tradition hat Lessing damit den Illusionsbegriff um eine wichtige Komponente erweitert.
II. ANTIKE UND ANTIQUARISCHES
Anja Wolkenhauer Anja Wolkenhauer Laokoon vor Lessing. Anmerkungen zur Geschichte des Laokoonstoffes und seiner Präsenz in Lessings Laokoon
Laokoon vor Lessing Laokoon vor Lessing Anmerkungen zur Geschichte des Laokoonstoffes und seiner Präsenz in Lessings Laokoon Hätte man Lessing gefragt, was er eigentlich über Laokoon wisse und woher er dieses Wissen habe, so hätte er mit Sicherheit eine ganze Reihe von Darstellungen genannt: Vergils berühmte Erzählung im zweiten Buch der Aeneis, die an Vergil anknüpfende Schilderung Petrons, die von Quintus von Smyrna aufgegriffene ältere griechische Tradition, dann auch die 1506 in Rom wiederentdeckte Laokoon-Statue sowie schließlich Sadoletos carmen de Laocoonte und andere neulateinsiche Dichtungen, die sowohl auf den vergilischen Text als auch auf die Skulptur reagieren. Lessings Laokoonbild ist bei weitem nicht so eindimensional, wie es die kanonische Gegenüberstellung ± hier Vergil, dort die Skulptur ± nahelegt. Mir geht es im Folgenden darum, dieses Laokoonbild genauer zu konturieren: Was konnte Lessing von dem Stoff wissen? Welche Handlungsvarianten waren ihm vertraut? Wie ging er mit ihnen um? Was war ihm wichtig? Dazu werde ich zuerst knapp auf die Grundlinien der Laokoonerzählung in den antiken Literaturen eingehen ± differenziertere Darstellungen sind andernorts erfolgt1 und erübrigen sich hier ±, um dann Sadoletos Laokoon als wichtigsten Vertreter der neuzeitlichen lateinischen Laokoondichtung genauer zu untersuchen. Er hat Lessings Laokoonbild ± wie zu zeigen ist ± in zentralen Aspekten geprägt, ist in der Forschung aber, da diese sich auf Vergil und die antike Skulptur als Vertreter der konkurrierenden Gattungen konzentriert, kaum berücksichtigt worden. Ziel der folgenden Überlegungen ist es, Stoff und literarische Figur des Laokoon so zu rekonstruieren, wie sie sich für Lessing darstellten. Dass dabei die Literatur im Vordergrund steht und die Laokoonstatue (die Lessing
1
Die wichtigsten Publikationen der letzten Jahre: Élisabeth Décultot, Jacques Le Rider und François Queyrel (Hgg.): Le Laocoon. Histoire et réception. Paris 2003 (Revue germanique internationale 19); Dorothee Gall und Anja Wolkenhauer (Hgg.): Laokoon in Literatur und Kunst. Schriften des Symposions ¾Laokoon in Literatur und Kunst½ vom 30.11.[-02.12.] 2006. Berlin, New York 2009 (Beiträge zur Altertumskunde 254); Clemens Zintzen: Die Laokoonepisode bei Vergil. Mainz 1979 (Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 10).
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vermutlich nie gesehen hat, sondern nur aus Kupferstichen kannte) 2 nur eine untergeordnete Rolle spielt, entspricht dem Vorgehen des Philologen Lessing.
1. Wieso eigentlich Laokoon? Laokoon ist, so formuliert es Lessing, der Ausgangspunkt seiner Überlegungen, zu dem er immer wieder zurückkehrt. 3 Es ist zu einfach, dies allein auf den Glücksfall zurückzuführen, dass ihm sowohl ein prominenter Text ± Vergils Aeneis ± als auch eine bedeutende Skulptur bekannt waren, die es ermöglichten, den Wettstreit der Künste an zwei herausragenden Exempla durchzubuchstabieren; zu einfach wohl auch, die Wahl allein in der Auseinandersetzung mit Winckelmann begründet zu sehen. Es gibt noch mindestens zwei weitere beachtenswerte, wenn auch ganz unterschiedliche Eigentümlichkeiten, die der Laokoon ± und nur er ± aufweist, und die Lessing herausfordern konnten, so wie sie andere vor und nach ihm herausforderten: Das unverständliche Leiden und die vermittelnde Ekphrasis. Nur selten rückt die antike Bildkunst den Schmerz und das Leiden ins Zentrum der Betrachtung.4 Aus der Literatur hat Lessing mit dem Philoktet des Sophokles5 und den schreienden Göttern des Epos6 gleich mehrere Beispiele parat; für die Bildkünste hingegen nichts.7 Bei den genannten literarischen 2
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4 5 6 7
Balbina Bäbler: Laokoon und Winckelmann. Stadien und Quellen seiner Auseinandersetzung mit der Laokoongruppe. In: Gall/Wolkenhauer (Anm. 1), S. 228±241, hier S. 237; zur Affektdämpfung, die sich an den Stichen durchgängig beobachten lässt und Lessings Urteil prägte, s. Susanne Muth: Leid als mediales Phänomen: Der Laokoon im Kontext antiker Gewaltikonographie. In: Gall/Wolkenhauer (Anm. 1), S. 54±66, hier S. 54ff. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie. Mit beyläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte. Ersther Teil. Berlin 1766. Zitiert nach Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon / Briefe, antiquarischen Inhalts. Text und Kommentar. Hg. von Wilfried Barner. Frankfurt am Main 1990 (im Folgenden zitiert als FA 5/2 für ¾Frankfurter Ausgabe½ mit Seitenzahl), hier S. 15: »Da ich von dem Laokoon gleichsam aussetzte, und mehrmals auf ihn zurückkomme, so habe ich ihm DXFKHLQHQ$QWHLODQGHU$XIVFKULIWODVVHQZROOHQ´ Beispiele bei Muth (Anm. 2), S. 58f. FA 5/2, S. 17. Ebd., S. 19. Ebd., S. 26ff.: »:XWXQG9HU]ZHLIOXQJVFKlQGHWHNHLQHVYRQLKUHQ:HUNHQ>«@« Bei den im Folgenden doch genannten Werken geht es darum, dass die Emotion eben nicht in ihrem höchsten Grad ausgedrückt wird bzw. werden kann. Muth (Anm. 2), S. 54, hält fest: »Kein anderes Werk der antiken Freiplastik formuliert derart zugespitzt das Pathos leidender Opfer und führt die Verzweiflung, das Leiden und die Angst der von Tod Bedrohten derart eindringlich dem Betrachter vor Augen wie die Statue des Laokoon und seiner Söhne im Vatikan. Alles Interesse, das dieser Statue seit ihrer Wiederauffindung im Jahre 1506 widerfahren ist, knüpft konsequenterweise immer wieder an diese exzeptionelle Darstellung eines grausamen Todesschicksals an. Entsprechend gilt der Laokoon als exemplum par excellence für die Darstellung von Pathos und Leid, von Schmerz und Tod im Horizont der %LOGNXQVW>«@«
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Figuren ist zudem klar, wieso sie schreien, wieso sie leiden (müssen); Urheber und Motiv werden genannt. Bei Laokoon hingegen ist alles anders: Eine Schuld ist nicht offensichtlich zu erkennen, die Leiden werden in der Literatur meist nicht begründet. Es bleibt ein Rest an Dunkelheit, der irritiert und zu Fragen herausfordert. Immer schwingt mit, dass das Leiden nicht nur ein schuldlos erlittenes Unrecht, sondern vielleicht auch eine von den Göttern verhängte, ja sogar verdiente Strafe sein könnte. Das Oszillieren zwischen augenscheinlicher Unschuld und schuldanzeigender Strafe hält jedes Urteil in der Schwebe. Ich komme später darauf zurück. Zumindest ebenso wichtig aber ist, dass Lessing in der Ekphrasis Sadoletos ein Vorbild hatte und dass er durch ihre Hilfe nicht nur zwei, sondern drei medial differente Referenzpunkte besaß, um seine Gedanken »über die Grenzen der Malerei und Poesie« zu entwickeln. Dementsprechend führt er Sadoletos carmen mit der Bemerkung ein, dass es »sehr wohl die Stelle eines Kupfers [sc. der Skulptur] vertreten kann,«8 d. h. er positioniert es explizit zwischen der Statue und dem Vergiltext. Lessings Nachdenken setzt also nicht zwischen Text und Bild, sondern zwischen Text, Bild und Ekphrasis an, der etablierten Mischform beider Künste, in der diese schon in der Antike ihren Wettstreit artikulierten. Seine Anmerkungen zum Laokoon beginnen folgerichtig beim Ausdruck des Leidens im Gesicht der Skulptur, um diesen Ausdruck dann mit den Formulierungen zu vergleichen, die Vergil und Sadoleto in unterschiedlichen Textsorten dafür gefunden haben. Vergils Darstellung, so hält Lessing fest, entspricht nicht dem skulpturalen Befund, Sadoletos hingegen orientiert sich erkennbar daran; der eine Dichter, Vergil, biete demnach Dichtung, die dem Bild vorangehe, der andere, Sadoleto, eine, die dem Bild folge.9
8 9
FA 5/2, S. 61f. Ebd., S. 17: »Er erhebt kein schreckliches Geschrei, wie Virgil von seinem Laokoon singet; die Öffnung des Mundes gestattet es nicht: es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen, wie es Sadolet beschreibet.« Vergils Verse, auf die Lessing sich hier bezieht, sind Aen. 2,222ff.: clamores simul horrendos ad sidera tollit: / qualis mugitus, fugit cum saucius aram / taurus et incertam excussit cervice securim (»Zugleich erhebt Laokoon ein angsteinflößendes Gebrüll zu den Sternen: wie wenn ein verletzter Stier vom Altar flieht und das Schlachtbeil, das ihn ungenau getroffen hat, vom Nacken schüttelt.«). Sadoleto schreibt V. 23f.: ille dolore acri et laniatu impulsus acerbo / dat gemitum ingentem (»jener [Laokoon], getroffen vom heftigen Schmerz und dem bitterwütigen Biss, stöhnt heftig auf«). Sadoleto wird zitiert nach: Gregor Maurach: Sadoletos ¾Laocoon½. Text, Übersetzung Kommentar. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft NF 18 (1992), S. 245±265. Eine aktualisierte Fassung des Aufsatzes ist zugänglich unter: URL: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/volltexte/2008/407 (auf der Basis der ersten beiden Drucke, 1532 und 1548, der Werkausgaben sowie der Anthologie von Toscanus, Paris 1577), hier S. 4.
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2. Stoffgeschichte I: Der antike Laokoon10 2.1 Vor Vergil In den zahlreichen antiken Fassungen der Geschichte des Trojanischen Krieges ist Laokoon eine Nebenfigur. Die ältesten Erzählungen von der Eroberung Trojas kommen ganz ohne ihn aus; die List mit dem trojanischen Pferd wäre vermutlich auch ohne sein Eingreifen erfolgreich gewesen. Die Laokoonfigur ist für den Handlungsverlauf in der Regel unwichtig und dient nur als (schwächeres) männliches Pendant zu Kassandra. Beide haben die gleiche textimmanente Funktion ± zu warnen, ohne gehört zu werden ± und üben sie oft gemeinsam aus.11 Neben dieser Doppelbesetzung der Mahnerrolle deuten auch andere Doppelmotivationen in der Laokoonerzählung auf die frühe Kontamination zweier Erzählstränge hin, so z. B. die Überzeugung der Trojaner, das Pferd in die Stadt zu rollen, die sowohl durch Sinons Trugrede als auch durch Laokoons Tod erzielt wird.12 Dort, wo Laokoon in die Handlung eingeführt wird, warnt er mit Worten und Taten vor dem trojanischen Pferd und stirbt direkt darauf in dramatischer Weise. Die Erzähllogik legt es nahe, beide Szenen aufeinander zu beziehen und im Tod eine Folge der Warnung zu sehen. Was aber hat Laokoon getan, um so sterben zu müssen? Wieso schalten die Götter ihn aus, während Kassandra weiter warnen darf? Welche Schuld hat er auf sich geladen? Schon in der griechischen Literatur werden unterschiedliche Reaktionen auf dieses Problem sichtbar, die zwei verschiedenen Deutungsansätzen zugeordnet werden können (ohne dass in der Realität der Texte eine saubere Trennung immer möglich wäre ± wohl aber ein Tendieren in die eine oder andere Richtung): Die eine Reaktion versteht den Tod Laokoons als Sühne eines schon weit zurückliegenden Vergehens: Obwohl er als Priester des Apoll zu Ehelosigkeit und Enthaltsamkeit verpflichtet gewesen sei, habe er gegen dieses Gebot verstoßen und Kinder gezeugt; dies sei sogar ± als doppelter Tabubruch ± direkt vor dem Kultbild, im Tempel des Apoll geschehen.13 Eine solche Darstellung, die eine 10
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Die maßgebliche Darstellung der vorvergilischen Entwicklung des Laokoonstoffes findet sich bei Heinz-Günther Nesselrath: Laokoon in der griechischen Literatur bis zur Zeit Vergils. In: Gall/Wolkenhauer (Anm.1), S. 1±13, dem ich hier folge. Z. B. in der Iliupersis; Nesselrath (Anm. 10), S. 2f. Zu den Nachwirkungen doppelt motivierter Handlung in der Laokoonerzählung der Aeneis vgl. auch Zintzen (Anm. 1), S. 8ff. Belegt ist diese Version bei Euphorion (3. Jh. v. Chr.) und Hygin (2. Jh. n. Chr.). Die ältere Forschung hat das Motiv auch schon im Sophokleischen Laokoon vermutet, den Lessing ebenfalls erwähnt (FA 5/2, S. 21). Nesselraths kritische Überprüfung zeigt, dass es unter diesen Umständen schwer würde, diesen Laokoon als tragischen Helden zu konzipieren. Vgl. Nesselrath (Anm. 10), S. 7ff. und S. 12; zur spätantiken Behandlung des Motivs s. Roswitha Simons: Der verräterische Gott. Laokoon in der lateinischen Literatur der Kaiserzeit und Spätantike. In: Gall/Wolkenhauer (Anm. 1), S. 104±127, hier S. 111f. Lessings Auseinandersetzung mit Sophokles¶ Philoktet (dies sei am Rande bemerkt) legt es nahe, anzunehmen, dass ihm auch die Parallelen beider Erzählungen deutlich waren: die Bedeu-
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persönliche Schuld Laokoons unterstellt, lenkt daher die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Zeichen der Vergangenheit; sie erwähnt sein Priestertum, die Frau und die Kinder, wobei den Kindern als sichtbarer Folge des doppelten Tabubruchs besondere Aufmerksamkeit zukommt. 14 Der Tod Laokoons hat aus dieser Perspektive nichts mit seiner Warnung an die Trojaner zu tun. Die beiden Szenen sind dann nicht als Ursache und Folge zu lesen, sondern als zwei voneinander unabhängige, Laokoon charakterisierende Handlungen. Sein Tod resultiert aus einer nicht mehr miterzählten, aber den historischen Lesern noch vertrauten skandalösen Vorgeschichte. Diese Vorstellung ist bis in die Spätantike hinein greifbar.15 Der vergleichsweise lockere Zusammenhang zwischen der Bestrafung Laokoons und der Zerstörung Trojas läge dann nur darin, dass beide aufgrund älterer Verfehlungen endlich zugrunde gehen mussten. Laokoons Fall nähme den seiner Stadt in Begründung und Ereignis vorweg; sein Schicksal wäre, erzähltechnisch betrachtet, eine Vorwegnahme des Plots im Kleinen. Die andere mögliche Reaktion lautet sinngemäß, bei Laokoons Tod sei es gar nicht um die Person des Laokoon gegangen, sondern um die Trojaner insgesamt und besonders um Anchises, einen engen Verwandten Laokoons. Sein Tod sei ein Zeichen gewesen, das dem Götterplan den Weg bereiten sollte, indem es einerseits die Trojaner dazu brachte, Laokoon zu misstrauen, während es andererseits dem weisen Anchises, der das Zeichen als einziger richtig zu deuten vermochte, anzeigte, dass Troja verloren und Flucht geboten sei. 16 Daher ignorierten die Trojaner Laokoons Mahnung und nahmen das Pferd auf, während Anchises die Flucht wählte, die seinen Nachkommen, Aeneas und Ascanius, das Überleben sicherte. Darstellungen, die diese Sicht vertreten, formulieren die Frage nach der Schuld Laokoons nicht und gehen auch auf Laokoons Priestertum nur so weit ein, wie es nottut, um seine Glaubwürdigkeit zu untermauern. Seine Nähe zum Gott Apoll, der auf Seiten der Trojaner steht, wird betont, da sie eine positive
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tung physischen Schmerzes, die gesellschaftliche Ausgrenzung, die Gegnerschaft zu Odysseus. Lessing kennt die Erwähnung der Laokoonerzählung in Lykophrons Alexandra, wo Kassandra in einer Prophezeiung des Untergangs von Troja auch die Schlangen erwähnt, die die Söhne des Laokoons fressen. Von einer Sühne für ein persönliches Vergehen ist hier nicht die Rede ± die Prophetie wäre aber auch nicht der Ort dafür (FA 5/2, S. 50). Vgl. dazu Nesselrath (Anm. 10), S. 10f. ± Lessings Annahme, Vergil sei der erste gewesen, der Vater und Söhne habe sterben lassen (FA 5/2, S. 50), würde von der heutigen Forschung nicht mehr in dieser Entschiedenheit mitgetragen: Auch wenn meist Vater oder Söhne sterben, so ließ doch schon Arktinos v. Milet (8. Jh. v. Chr.) Laokoon und einen Sohn sterben, überschritt also die Generationengrenze; bei dem hellenistischen Dichter Euphorion starben vermutlich der Vater und beide Söhne. Nesselrath (Anm. 10), S. 7. Vgl. etwa die Darstellung bei Quintus v. Smyrna (4. Jh. n. Chr.), analysiert von Ursula Gärtner: Laokoon bei Quintus Smyrnaeus. In: Gall/Wolkenhauer (Anm. 1), S. 128±145, hier bes. S. 136ff. So zum Beispiel in der verlorenen Laokoontragödie des Sophokles, die aus einer Zusammenfassung bei Dionysios v. Halikarnass bekannt ist (Dion. Hal. Ant. Rom. 1, 48, 2); vgl. dazu Nesselrath (Anm. 10), S. 6.
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Lesart des dramatischen Geschehens unterstützt.17 Frau und Kinder spielen keine besondere Rolle, wohl aber die Reaktionen der Trojaner auf die Erlebnisse Laokoons, besonders die Reaktion des Anchises, dessen Verwandtschaft mit Laokoon hervorgehoben wird. Indem die Flucht von Anchises und Aeneas gedanklich in die Erzählung hineingezogen wird, werden die Zerstörung Trojas und die Begründung Roms in eine logische Folge gebracht. Es liegt nahe, dass entsprechende Texte erst in der Zeit entstanden, als die historische Verankerung der römischen Kultur in der griechischen relevant wurde. Vergils Aeneis, die der Laokoonfigur im Rahmen der Gründungsgeschichte Roms eine zentrale Rolle einräumt, oder auch Petrons Troiae halosis vertreten diese Perspektive. Die von Lessing vorgenommene, aber nicht näher erläuterte Differenzierung von griechischer und römischer Tradition18 deutet darauf hin, dass auch ihm bei seiner umfassenden Lektüre zumindest zwei unterschiedliche Traditionsstränge deutlich geworden sind.
2.2 Vergil Lessing ist mit dem vergilischen Laokoon gut vertraut. Er zitiert einen großen Teil der Passage (Verg. Aen. 2,199±224) und kommt wiederholt auf Einzelverse zurück. Darüber hinaus verwendet er den Donat-Kommentar zur Aeneis und kennt die bei Macrobius ausgeführte Ansicht, das gesamte zweite Buch der Aeneis, besonders die Episode, die von Sinon und dem hölzernen Pferd handle (und die wir als Laokoonepisode bezeichnen), sei eine nahezu wortgetreue Übersetzung aus dem Griechischen.19 Bei Vergil ist Laokoon eine zentrale Figur innerhalb des Berichts von der Zerstörung Trojas in den Büchern 2 und 3 der Aeneis.20 Vergil löst die historisch gewachsene Doppelbesetzung der Warnerrolle auf. Dadurch gewinnt Laokoon bei ihm an Format und Raum, während Kassandra zur vergleichsweise
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D. h., wenn der den Trojanern wohlgesonnene Gott seinen Priester derart opfert, muss letztlich auch etwas Positives für die Trojaner dahinterstecken; in diesem Fall eine letzte eindrückliche Warnung: so auch Nesselrath (Anm. 10), S. 5. FA 5/2, S. 49f. Vgl. den Beitrag von Jörg Robert in diesem Band. FA 5/2, S. 49. Lessing zitiert hier Macr. Sat. 5,2,4±5: »Quae Virgilius traxit a Graecis, GLFWXUXPQHPHSXWHWLVTXDHYXOJRQRWDVXQW">«@YHOTXRGHYHUVLRQHP7URLDHFXP6LQRQH suo et equo ligneo ceterisque omnibus quae librum secundum faciunt a Pisandro ad verbum paene transcripserit, qui inter Graecos poetas eminet opere quod a nuptiis Iovis et Iunonis incipiens universas historias, quae mediis omnibus saeculis usque ad aetatem ipsius Pisandri contigerunt, in unam seriem coactas redegerit et unum ex diversis hiatibus temporum corpus effecerit, in quo opere inter historias ceteras interitus quoque Troiae in hunc modum relatus est, quae Maro fideliter interpretando fabricatus sibi est Iliacae urbis ruinam?« Der von Macrobius erwähnte, von Lessing übernommene Dichtername PisanGHU3HLVDQGURVLVWQXUVFKZHUPLWHLQHP¯XYUH]XYHUNQSIHQ9JOGD]X5XGROI.H\GHOO Die Dichter mit Namen Peisandros. In: Hermes 70 (1935), S. 301±311. Die maßgebliche Analyse der vergilischen Laokoonerzählung bietet Zintzen (Anm. 1).
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unbedeutenden Nebenfigur wird.21 Zwei große Szenen gehören Laokoon ganz allein: Laokoons Angriff gegen das Pferd zeigt ihn als Mahner und Kämpfer (Verg. Aen. 2,40ʹ56), der Angriff der Schlangen gegen ihn als Priester und Opfer (Verg. Aen. 2,201ʹ231). Aeneas, der Erzähler beider Episoden, betont, dass allein Laokoon die List der Griechen erkannt habe, als diese das trojanische Pferd zurückließen und sich scheinbar zur Abreise anschickten. Alle übrigen Trojaner aber seien verblendet gewesen und hätten seinen Angriff gegen das Pferd als Sakrileg fehlinterpretiert:22 55
et, si fata deum, si mens non laeua fuisset impulerat ferro Argolicas foedare latebras Troiaque nunc staret, Priamique arx alta maneres.
[Und wäre der Wille der Götter nicht dagegen gewesen, wäre unser Sinn nicht verblendet gewesen, dann hätte er [Laokoon] uns dazu gebracht, das Versteck der Griechen mit dem Schwert übel zuzurichten, und Troja würde jetzt noch stehen und du, hohe Königsburg des Priamos, wärest noch da.]
Aeneas hingegen zeigt sich während der Ereignisse vor Troja angsterfüllt und täuschbar wie alle Trojaner, deren Verurteilung Laokoons nach dem Schlangenangriff er unreflektiert wiedergibt:23 tum uero tremefacta nouus per pectora cunctis insinuat pauor, et scelus expendisse merentem, 230 Laocoonta ferunt, sacrum qui cuspide robur laeserit et tergo sceleratam intorserit hastam. [Dann aber drang allen eine neue Angst in die bebende Brust, und sie sagten, Laokoon habe sein Verbrechen verdientermaßen gebüßt, da er das heilige Holz [des Pferdes] mit seiner Waffe verletzt und die verbrecherische Lanze in den Rücken [des Pferdes] hineingestoßen habe.]
Erst am karthagischen Hof, also lange nach den geschilderten Ereignissen und weit von Troja entfernt, ist Aeneas in der Lage, die Überlegenheit Laokoons wahrzunehmen. Die übrigen Trojaner und er selbst waren, so erkennt er, anders als Laokoon immemores und caeci,24 unbedacht und verblendet, und nicht in der Lage, die eigenen Geistesgaben dazu einzusetzen, die Griechen richtig einzuschätzen.25 21 22 23 24
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Ebd., S. 8. Verg. Aen. 2,54±56. Zur Übersetzung des fata deum s. P. Vergili Maronis Aeneidos liber 1 with a commmentary by Roland G. Austin. Oxford 1985. Verg. Aen. 2,228±231. Bei der Schilderung des Transports des trojanischen Pferdes in die Burg sagt Aeneas: instamus tamen immemores caecique furore / et monstrum infelix sacrata sistimus arce (Verg. Aen. 2,244±245). Direkt darauf folgt ein Auftritt Kassandras, die wie Laokoon die Gefahr erkennt, aber nicht gehört wird: Tunc etiam fatis aperit Cassandra futuris / ora dei iussu non umquam credita Teucris (Verg. Aen. 2,246±247). Die Schuldfrage ± inwieweit das Handeln der Trojaner der menschlichen dispositio, bzw. der göttlichen List zuzuschreiben ist, ist damit noch nicht geklärt; vgl. dazu Michael Erler:
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Diese geistige Überlegenheit Laokoons, der als einziger die Geschichte noch hätte wenden können, wenn es einem Menschen möglich gewesen wäre, ist es, die Lessing meint, wenn er von Laokoon als »vorsichtigstem Patrioten« spricht.26 Diese Stelle ist von Barner m. E. falsch verstanden worden. Er schlägt vor, »vorsichtig« im Sinne von »nicht fanatisch« zu verstehen, was dem modernen Sprachgebrauch nahekommt.27 Der vergilische Laokoon ist aber alles andere als vorsichtig; sein Sturm von der Burg herab und der Angriff gegen das Pferd sind brennende Sorge und purer Wahnwitz zugleich 28 ± aber er ist vorsichtig, vorhersehend, im griechisch-römischen Sinne des Wortes, die ja nicht nur den Frevler, sondern auch den Menschenfreund und Kulturbegründer kennt. Laokoon ist ein antiker Aufklärer in der Tradition des Prometheus. Lessings »vorsichtig« ist als Übersetzung des griechischen pro-méthes, »vorausdenkend, vorausschauend, vorbedacht« zu verstehen: so beschreibt ihn Aeneas, so beschreibt ihn Vergil. Laokoons menschliche ratio reicht über die seiner Mitbürger hinaus. Sie scheitert allein vor dem Ratschluss der Götter. Darin gleicht er dem ¾modernsten½ der Griechen, Odysseus. Der aufklärerische Priester Laokoon ist, wie auch Vergil andeutet, 29 ein gleichwertiger Gegenspieler des Odysseus, vor dessen List er die Trojaner vergeblich zu warnen versuchte. Der Blick zurück zeigt, dass Vergil beide Deutungsansätze für den Tod Laokoons kennt und weiterträgt. Auch bei seinem Laokoon kann man sowohl über individuelle Schuld als auch über den historischen Opfer- und Zeichencharakter der Figur nachdenken, denn in der Beschreibung des Opfers am Strand, das Laokoon aus unerklärtem Grund vornimmt, und in der vorrangigen Tötung der beiden Söhne klingt das Motiv der individuellen Schuld an. 30 Beides bleibt letztlich unerklärt und ist nur aus der anderen, hier nicht ausgeführten Variante des Mythos zu erklären. Der Zeichencharakter seines Handelns und Sterbens
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Laokoon als Zeichen. Göttliche Einwirkung und menschliche Disposition in Vergils Aeneis und bei Homer. In: Gall/Wolkenhauer (Anm. 1), S. 14±31. FA 5/2, S. 36: »Virgils Laokoon schreiet, aber dieser schreiende Laokoon ist eben derjenige, den wir bereits als den vorsichtigsten Patrioten, als dem wärmsten Vater kennen und lieben.« Hugo Blümner: Laokoon-Studien. 2 Bde. Berlin, Freiburg i. B. etc. 1881/82 geht nicht darauf ein; Barner notiert (FA 5/2, S. 750; Stellenkommentar ad loc.): »vorsichtigsten: Im Gegensatz zum fanatischen, ¾eifrigen½ Patrioten wie etwa in Lessings Brief an Gleim vom 16.12.1758.« Als er das Pferd sieht, stürmt Laokoon vom Gipfel der Burg herab und ruft schon von Ferne den Trojanern seine Mahnung zu. Ob er dies brennend vor Sorge oder eher glühend vor Zorn tat, lässt die Metapher offen: Laocoon ardens summa decurrit ab arce / et procul [clamat]« (Verg. Aen. 2,41f.); vgl. auch die verstärkende Wiederaufnahme der Situation bei Dracontius, Rom. 8, 119±121, behandelt bei Simons (Anm. 13), S. 106. In seiner Warnrede ruft Laokoon: Sic notus Vlixes? (Verg. Aen. 2,44), zeigt also, dass er dessen Handeln einschätzen kann und daher weiß, dass ein einfacher Rückzug von Odysseus nicht zu erwarten ist. Ausgeführt wird dies von Donat ad loc.; dass Lessing hier nachgelesen hat, zeigt seine Anmerkung in Laokoon, V (FA 5/2, S. 55, Anm. 8 zu Donat ad Aen. 2,227). Lessing (FA 5/2, S. 66) betont, dass der gemeinsame Tod aller drei die wichtigste Veränderung sei, die Vergil am Mythos vorgenommen habe.
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tritt hingegen durch die Wahl des sukzessive erkennenden Erzählers, Aeneas, mit wachsender Distanz zu den Ereignissen immer stärker hervor. Troja hätte fortbestehen können; Laokoon hatte ihnen den richtigen Weg zur Rettung der schon fast verlorenen Stadt gewiesen. Dass niemand Laokoon folgte, ist aus späterer Kenntnis nur damit zu erklären, dass der Ratschluss der Götter weiter reichte und auf Neues ± konkret: auf die sogenannte Mission des Aeneas ± zielte. Die Ermordung des Warners Laokoon im göttlichen Auftrag wird in Rom ± so zeichnet es sich in der Literatur seit der augusteischen Zeit ab ± vor allem auf diesen zweiten Aspekt hin gelesen: Es gab keine Rettung für Troja; sein Schicksal war schon lange besiegelt; das Ende war endgültig. Troja musste zugrunde gehen, um die Ereigniskette, die zur Gründung Roms führte, in Bewegung zu setzen. Troja war Vergangenheit, Rom die gottgewollte Nachfolge.31 Anders verhält es sich mit der Skulptur, die hier zumindest einmal erwähnt werden soll. Wenn wir sie mit derjenigen identifizieren, die Plinius beschreibt,32 dann dürfen wir annehmen, dass sie etwa in der gleichen Zeit wie die Aeneis entstanden ist und in Rom aufgestellt war.33 Ob und in welcher Weise sie mit dem vergilischen Text zusammenhängt, ist umstritten; Lessing hielt bekanntlich eine gemeinsame Vorlage von Text und Skulptur für möglich, die Vorgängigkeit des Vergiltextes aber für plausibler.34 Die Skulptur verzichtet weitgehend auf eine Historisierung oder exakte Verortung des Dargestellten; auch auf die Kleidung.35 In der Konzentration auf die drei Körper und ihre verschiedenen Ausdrucksformen kann man eine Konzentration auf das ¾Leiden an sich½ sehen: die unterschiedlich ausgeprägte, in ihrer Intensität aber allen gemeinsame körperliche Qual, die Todesangst, die Angst vor den Schlangen, das Mitleiden des einen Sohnes mit Vater und Bruder: das sind die Segmente des Leidens, die hier sichtbar werden. Doch hinter dieser Dominanz des Leidens wird durchaus auch die eingangs skizzierte Differenzierung der beiden Deutungsrichtungen kenntlich: Die prominente Einbeziehung der Söhne und des Altars ordnet die Darstellung primär der Schuldtradition zu, indem sie auf das Amt und die mögliche Verfehlung Laokoons hinweist. 31 32
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Vgl. Gall (Anm. 1), Vorwort, S. XII; Simons (Anm. 13), S. 117. Lessing kennt und zitiert die Beschreibung bei Plinius, Naturalis historia 36, 4, 37; er tut GLHV DOOHUGLQJV QLFKW GRUW ZR PDQ 3OLQLXV¶ %HVFKUHLEXQJ VXFKHQ ZUGH ± als ersten beschreibenden Text der Statue ganz am Anfang des Werkes ± sondern erst sehr weit hinten im Werk, fast versteckt in Kap. XXVI (FA 5/2, S. 186). Ich gehe im Folgenden davon aus, dass es sich bei der Laokoongruppe um ein Originalwerk der v. a. in Süditalien tätigen Künstler (H)agesandros, Polydoros und Athanadoros aus der 2. Hälfte des letzten vorchristlichen Jahrhunderts handelt. Zur Datierung vgl. die Forschungsübersicht bei Christian Kunze: Zwischen Pathos und Distanz. Die Laokoongruppe im Vatikan und ihr künstlerisches Umfeld. In: Gall/Wolkenhauer (Anm. 1), S. 32±53, hier S. 38f. FA 5/2, S. 48f., S. 59f., S. 186f. Lessing (FA 5/2, S. 58f.) will das Fehlen von Attributen an der Skulptur (im Sinne narrativer Elemente) wirkungsästhetisch erklären, wenn er festhält, dass die Binde nur deswegen fehle, da sie die Stirn bedecken würde und dadurch ihre Aussagekraft reduziert; ähnlich argumentiert er im Hinblick auf die Kleidung.
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Dass er selbst ± und nicht etwa ein Opfertier ± am Altar lehnt, weist hingegen auf die in Vergils Aeneis angelegte und in der Buchmalerei seit dem 5. Jahrhundert vertraute Tradition,36 die in ihm selbst das Opfer sieht, das gebracht werden muss, damit Rom entstehen kann.
2.3 Petron und Quintus von Smyrna Im Zusammenhang mit der Prioritätsdebatte zwischen der vergilischen Aeneis und der Skulptur erwähnt Lessing auch die Darstellungen des Laokoon bei Petron und bei Quintus von Smyrna (Quintus Calaber). In Petrons Satyrica (1. Jh. n. Chr.) wird das Gedicht von der Zerstörung Trojas (Troiae halosis) bereits als Ekphrasis, als Beschreibung eines imaginären Bildes in einer größeren Galerie eingeführt. Lessing lässt den Aspekt der Ekphrasis hier jedoch beiseite und konzentriert sich darauf, das Gedicht als »schülermäßige Nachahmung der Virgilischen Beschreibung«37 zu erweisen. Das, was er dabei als stilistische Schwäche identifiziert, wird in der heutigen Forschung eher als bewusst konstruierter Mangel, als Parodie des hohen epischen Stils und der ekphrastischen Dichtung diskutiert. Lessing geht jedoch auf den parodistischen Charakter des Werkes nicht weiter ein, sondern hebt nur das stilistische Scheitern bei großer motivischer Nähe zu Vergil hervor. Auch die augenfällige Schwerpunktverschiebung kommentiert er nicht weiter: Petron rückt den leidvollen Tod ins Zentrum der Laokoonepisode, diese wiederum ins Zentrum der Troiae halosis: Das ist eine Gewichtung, die mehr als jede andere den zeichenhaften Charakter der Laokoonepisode betont und in ihr die allgemeine historische Entwicklung und den Weg von Troja nach Rom in nuce angekündigt sieht:38 Stupuere mentes. Infulis stabant sacri Phrygioque cultu gemina nati pignora Lauconte. quos repente tergoribus ligant 36
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Eine der berühmtesten antiken Vergilhandschriften, der Vergilius Vaticanus, zeigt nebeneinander Laokoon, ein Opfer ausführend, und Laokoon selbst auf dem Altar kniend, von den Schlangen angegriffen. Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. Lat. 3225, fol. 18v; die Datierung ist unsicher, dürfte aber nicht weit nach 400 n. Chr. liegen. Vgl. Angelika Geyer: Die Genese narrativer Buchillustration. Der Miniaturenzyklus zur Aeneis im Vergilius Vaticanus. Frankfurt am Main 1989 (Frankfurter Wissenschaftliche Beiträge 17), S. 195f. und bes. S. 222. FA 5/2, S. 51ff.: Petron stelle die Geschichte »vollkommen so vor, als sie Virgil erzehlet.« Petron sat. 89. Lessing zitiert v. 29±51, ich gebe hier nur den auf die Skulptur beziehbaren Teil v. 41ff. wieder. Meine Übersetzung folgt Peter Habermehl: Petronius, Satyrica 79± 141. Ein philologisch-literarischer Kommentar. Bd. 1: Sat. 79±110. Berlin/New York 2006 (Texte und Kommentare 27,1); vgl. auch die Anmerkungen bei Simons (Anm. 13), S. 112± 117. Grundlegend zum Verständnis der Troiae Halosis sind Heinz Stubbe: Die Verseinlagen im Petron. Leipzig 1933 (Philologus Suppl. 25, 2) sowie Froma Zeitlin: Romanus Petronius. A Study of the Troiae Halosis and the Bellum Civile. In: Latomus 30 (1971), S. 56±82. Eine Forschungsübersicht bietet Habermehl (ebd.), S. 151±160.
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Angues corusci. Parvulas illi manus ad ora referunt, neuter auxilio sibi, uterque fratri: transtulit pietas vices morsque ipsa miseros mutuo perdit metu. accumulat ecce liberum funus parens, infirmus auxiliator. Invadunt virum iam morte pasti membraque ad terram trahunt. iacet sacerdos inter aras victima terramque plangit. Sic profanatis sacris peritura Troia perdidit primum deos.
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(Zitatende Lessing)
[Entsetzen lähmte uns. Da standen mit heiligen Binden in phrygischer Tracht die beiden Söhne des Laokoon. Die schimmernden Schlangen umwinden sie plötzlich mit ihren Leibern. Jene erheben ihre kleinen Hände vors Gesicht, keiner von beiden denkt an Hilfe für sich, jeder für den Bruder. Die Liebe lässt sie zärtliche Gesten austauschen, 39 und der Tod selbst vernichtet die Armen in wechselseitiger Sorge. Da fügt der Vater seinen Tod [dem Tod] der Kinder hinzu, ein hilfloser Helfer. Die Schlangen, schon vom Mord genährt, drängen zu ihm hin und ziehen seine Glieder zu Boden. Der Priester liegt als Opfer zwischen den Altären und wälzt sich am Boden. So wurde die heilige Handlung entweiht und das zum Untergang bestimmte Troja verlor zuerst seine Götter.]
Petrons Laokoon ist so schuldlos wie seine Kinder, und ebenso wie sie vollkommen machtlos ± man vergleiche den infirmus auxiliator (v. 49) mit Vergils brüllendem Opferstier! Vater und Kinder sind unschuldige Opfer, in denen die wichtigste positive Eigenschaft der Trojaner, die Aeneas später zu vertreten hat, sichtbar wird: die pietas, konkretisiert in Bruderliebe, Fürsorge und religiöser Pflichterfüllung. Petrons Laokoon ist ein macht- und schuldloses Opfer, das zeichenhaft den Untergang Trojas verkündet. Der gemeinsame Tod von Vater und Söhnen ist kein Hinweis auf eine dunkle Vergangenheit, sondern auf den abgrundtiefen Verrat der Götter, die Heiligkeit und Unschuld opfern. Ganz anders wird die Laokoonepisode in die Posthomerica des Quintus von Smyrna integriert. Lessing paraphrasiert sie recht ausführlich; besondere Aufmerksamkeit widmet er der vielfältigen und vielfältig gesteigerten Bestrafung Laokoons, die ihn sein Schicksal schließlich erblindet erleiden lässt. 40 Dieser Laokoon wird für etwas bestraft, auch wenn die Ansicht darüber, welcher Tat die Strafe gilt, geteilt ist: Aus Sicht der Trojaner gilt sie der frevelhaften Warnung Laokoons vor dem Göttergeschenk des Pferdes oder aber der Gegnerschaft zu Sinon, die hier bis zur Folter ausgeweitet ist. Dass sie auch dem schon früher erwähnten, lang zurückliegenden religiösen Tabubruch gelten könnte, deutet Quintus in der Blendung Laokoons und der Einführung der Mutterfigur in die Erzählung an. Wie bei Petron kennt und nennt Lessing die Unterschiede, die zum vergilischen Leittext bestehen, thematisiert die Differenzen jedoch nicht weiter.41
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Dazu Habermehl (Anm. 38), comm. ad loc. FA 5/2, S. 50; zu Laokoon bei Quintus v. Smyrna s. Gärtner (Anm. 15), der ich hier folge. FA 5/2, S. 50.
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3. Stoffgeschichte II: Die Zeit der Wiederentdeckung der Laokoonstatue Die Laokoonfigur vergilischer Prägung ist in der spätantiken und mittelalterlichen Literatur bekannt und wird etwa im Kontext der Trojaromane erwähnt, ohne dass ihr allerdings besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde.42 Das ändert sich schlagartig im Moment der Wiederentdeckung der Laokoonstatue im Februar 1506. Das vergilische Epos und die Beschreibung der (einer?) Laokoonstatue bei Plinius wurden herangezogen, um den Fund zu identifizieren; vom ersten Moment der neuzeitlichen Wirkungsgeschichte an traten Text und Bild gemeinsam auf.
3.1 Sadoletos carmen de Laocoonte Der bedeutendste Text, der im Umfeld der Wiederentdeckung der Laokoonstatue entstand, war Sadoletos carmen de Laocoonte. Das Gedicht ist nur wenige Wochen nach dem Fund in Rom entstanden. Es gehört zu den frühesten bekannten Gelegenheitsdichtungen, die sich mit dem Fund der Laokoonstatue beschäftigen; zugleich ist es das längste bekannte aus dem direkten zeitlichen und räumlichen Umfeld des Fundes.43 Schon bald kursierten unter den italienischen Humanisten zahlreiche handschriftliche Sammlungen, die Sadoletos carmen gemeinsam mit anderen Laokoon-Dichtungen enthielten; Filippo Beroaldo, Pietro Bembo und Cesare Trivulzio kannten und lobten Sadoletos Gedicht im Sommer 1506. Nach einer verhältnismäßig langen Phase der handschriftlichen Weitergabe erfolgte der Erstdruck gemeinsam mit einer anderen Jugendschrift Sadoletos erst 1532 in Bologna; 44 der zweite 1548 in Leipzig.45 Die spätere Drucksituation ist unübersichtlich, da das carmen nicht nur in Sadoletos Werkausgaben (Mainz 1607 = Verona 1738), sondern auch in zahlreiche Anthologien zeitgenössischer lateinischer Dichtung aufgenommen wurde, durch die es seine weite Verbreitung erreichte. Auch Lessing gibt zwei dieser Anthologien als seine Quellen an.46 Anthologien des 20. Jahrhunderts geben meist nur 42
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Beispiele bei Simons (Anm. 13); Carl Robert: Die Laokoon-Sage. In: Ders.: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin 1881 (Philologische Untersuchungen 5), S. 192±212. Dazu ausführlich Anja Wolkenhauer: Vergil, Sadoleto und die ¾Neuerfindung½ des Laokoon in der Dichtung der Renaissance. In: Gall/Wolkenhauer (Anm. 1), S. 160±181. Sadoleti Curtius: Ejusdem Laocoon, ejusdem ad F. Fregusium Epistola Bologna 1532. Exemplare sind nachweisbar in der British Library sowie in Bologna und Rom. VD 16 S 1267. Neben den Ausgaben von Duchesne und Gruter, die Lessing erwähnt (s. u.), findet sich Sadoletos carmen z. B. bei J. M. Toscanus: Carmina illustrium poetarum Italorum. Bd. 2. Paris 1577, fol. 132v-133v., oder in den Carmina quinque illustrium poetarum additis I. Sadoleti cardinalis carminibus. Bergamo 1753, S. 318±319 (Digitalisat der BSB unter http://opacplus.bsb-muenchen.de/search?oclcno=220550472); gelegentlich wird es bereits mit dem Vergiltext und einem Kupfer verbunden, z. B. im zehnten armarium von M. Mercatis postum erschienener Metalloteca, Rom 1717. Später ist es ± oft um den Hinweis auf
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eine ältere Druckfassung von Sadoletos carmen wieder;47 daneben existiert seit einigen Jahren ein erster Versuch einer kritischen Ausgabe.48 Lessing erwähnt Sadoleto am Anfang seiner Studie und zieht ihn am Ende wieder heran, um zu zeigen, wie ein Gedicht angelegt ist, das eindeutig nach der Skulptur entstanden ist, d. h. das Gedicht dient ihm als Bekräftigung seiner Prioritätsargumente für den Vergiltext im Verhältnis zur Skulptur.49 Sein Text basiert dabei, wie er selbst angibt, auf der Ausgabe von Léger Duchesne, Paris 1560, die ich daher auch hier wiedergebe.50 Da es keinen kanonischen Text und schon in den Frühdrucken, vermutlich auch in den bislang gar nicht untersuchten humanistischen Handschriften eine Vielzahl unterschiedlicher Lesarten gibt, ohne dass jeweils klar wäre, welche auf den Autor zurückzuführen ist, gibt es in der Laokoondiskussion des 18. Jahrhunderts einen von der Forschung bislang nicht berücksichtigten ¾Wildwuchs½: Zwar hat jeder einen Sadoleto-Text, aber jeder einen anderen. Im handschriftlichen Nachlass J. J. Winckelmanns, Lessings wichtigstem Kontrahenten in dieser Auseinandersetzung, findet sich eine Abschrift von Sadoletos Gedicht.51 Seine Vorlage unterscheidet sich deutlich von derjenigen Lessings und steht dem Text der Werkausgaben Sadoletos nahe; zudem weist Winckelmanns Manuskript einige offensichtliche Lesefehler auf und unterschlägt einen Vers ganz. Ich gebe im Folgenden als Haupttext Duchesnes, d. h. den Lessing vorliegenden Text wieder und vermerke es in den Fußnoten, wenn Winckelmanns
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Lessings Laokoon ergänzt ± etwa in den Poemata selecta Italorum, qui seculo decimo sexto latine scripserunt. Oxford 1808, S. 51±53, und bei Johann Georg Krabinger: Eclogae illustrium poetarum latinorum rec. Aevi. München 1835, S. 319±324 (mit einigen textkritischen Anmerkungen) zu lesen. Alessandro Perosa, John Sparrow: Renaissance Latin Verse. London 1979, S. 144±186 (auf der Basis des Erstdrucks von 1532); Pierre Laurens: Musae reduces. Anthologie de la poéVLH ODWLQH GDQV O¶(XURSH GH Oa Renaissance. Textes choisis, présentes et traduits par P. L. avec la collaboration de Claudie Balavoine. 2 Bde. Leiden 1975, S. 214±217 (lat.-frz. auf der Basis von Duchesne und den Carmina quinque illustrium poetarum«Bergamo 1753). Mathilde Pigeaud (La découverte du Laocoon et le poème de Jacques Sadolet. In: Helmantica 46 [1995], S. 463± JLEW/DXUHQV¶7H[WZLHGHUXQGELHWHWHLQHQ9HUJOHLFK]ZLVFKHQ Sadoleto und Vergil. Maurach (Anm. 9). FA 5/2, S. 17 und S. 65. FA 5/2, S. 63 verweist auf die Ausgaben von Duchesne und von Gruter: Leodegarius a Quercu (d. i. Léger Duchesne, gest. 1588): Flores epigrammatum. Bd. 2 (wohl identisch mit dem Titel Farrago poematum [?]), Paris 1560, fol. 64v. Janus Gruter (auch Gruterus, de Gruytere, 1560±1627) hat eine Reihe von Anthologien zeitgenössischer europäischer Dichter nach Ländern herausgegeben; in den italienischen Bänden (Deliciae CC. poetarum Italorum. Frankfurt am Main 1608), findet sich Sadoletos carmen, Bd. 2, 582. Lessing (FA 5/2, S. 63) charakterisiert Gruters Ausgabe als »VHKUIHKOHUKDIW´ Paris, Bibliothèque Nationale de France, Départment des manuscrits, Fonds Allemand, Bd. 61, fol. 47r-48r. Ich danke Elisabeth Décultot dafür, dass sie mich auf diese Handschrift hingewiesen hat und mir eine Kopie der entsprechenden Passage zugänglich gemacht hat. Siehe dazu auch Elisabeth Découltot: Les Laocoon de Winckelmann. In: Décultot/Le Rider (Anm. 1), S. 145±157 und Bäbler (Anm. 2).
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Text davon abweicht. Dort führe ich auch diejenigen Lesarten an, die Maurach in seine kritische Textfassung aufgenommen hat, die also meist früh belegt sind und mit einiger Plausibilität als auktorial, zumindest aber als in der potentiellen Leserschaft verbreitet angenommen werden dürfen.52 Lessing zitiert das Gedicht unter dem Titel De Laocoontis statua. Iacobi Sadoleti carmen. Sadoletos Zeitgenossen benutzten, wenn sie über Sadoletos carmen schrieben, gewöhnlich den deskriptiven Titel carmen de Laocoonte, ohne die künstlerische Gattung näher zu bezeichnen. 53 Die Anthologie von Duchesne war ausführlicher als alle anderen und brachte auch noch Informationen aus Plinius¶Naturalis Historia mit in den Titel hinein. Der von Lessing gewählte Titel kann als Abkürzung von Duchesne und Zuspitzung auf die ekphrastischen Qualitäten des Gedichtes verstanden werden. De Laocoontis statua quae in aede Titi imp. de qua Plin. Lib. Nat. Histo. XXXVI Capit. 554 Iacobi Sadoleti carmen 1
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Ecce alto terrae e cumulo ingentisque ruinae visceribus, iterum reducem longinqua retexit55 Laocoonta dies, aulis regalibus olim Qui stetit atque tuos ornabat, Tite, penates. divinae simulacrum artis (nec docta vetustas nobilius spectabat opus) nunc celsa revisit exemptum tenebris redivivae moenia Romae. quid primum summumve loquar? Miserumne parentem et prolem geminam? an sinuatos flexibus angues terribili aspectu? caudasque56 irasque draconum vulneraque et veros saxo moriente dolores? Horret ad haec57 animus mutaque ab imagine pulsat pectora non parvo pietas commixta tremori. prolixum bini spiris glomerantur in orbem58 ardentes colubri et sinuosis orbibus errant59 ternaque multiplici constringunt corpora nexu.
Ziel meiner Anmerkungen ist die Rekonstruktion von Lessings Text (mit einem Seitenblick auf Winckelmann und auf die anderen Texte, die ein Zeitgenosse noch hätte kennen können); Ziel ist nicht, um dies deutlich zu betonen, eine neue Edition ± dazu müsste überhaupt erst einmal die handschriftliche Überlieferung des carmen de Laocoonte ausgewertet werden und eine qualitative Bewertung der Frühdrucke erfolgen. Maurachs Edition (Anm. 9) ist ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung. Belege bei Wolkenhauer (Anm. 43), S. 175 und S. 177. Die Angabe Capit. 5 ist falsch. Plinius geht in nat. 36, 4, 37 auf den Laokoon ein. Winckelmann: reduxit. Lessing und Winckelmann lesen das konkretere caudasque; Maurach: tortusque. Lessing und Winckelmann lesen horret ad haec animus, wobei das haec resümierend auf die vorangegangene Beschreibung zu beziehen ist. Maurach bietet, wiederum den Werkausgaben folgend, horret adhuc animus, wodurch das Moment der Vergegenwärtigung des Schreckens stärker hervortritt. Lessing und Winckelmann lesen orbem, was eher die Form betont; Maurach: agmen, d. h. eher die Bewegung. Winckelmann hat hier ein sinnentstellendes oram (Lesefehler des darüber stehenden orbem?). Lessing nennt diesen Fehler für die Ausgabe Gruters.
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vix oculi sufferre valent crudele tuendo exitium casusque feros: micat alter et ipsum Laocoonta petit totumque infraque supraque implicat et rabido tandem feritilia morsu. connexum60 refugit corpus, torquentia sese membra latusque retro sinuatum a vulnere61 cernas. Ille dolore acri et laniatu impulsus acerbo Dat gemitum ingentem, crudosque evellere62 dentes connixus63 laevam impatiens ad terga chelydri obicit; intendunt nervi collectaque ab omni corpore vis frustra summis conatibus instat. ferre nequit rabiem, et de vulnere marmor anhelum est. At serpens lapsu crebro redeunte subintrat Lubricus intortoque ligat genua infima nodo. Absistunt surae spirisque prementibus arctum64 crus tumet, obsaepto turgent vitalia pulsu, liventesque atro distendunt sanguine venas. nec minus in natos eadem vis effera saevit implexuque angit rapido miserandaque membra dilacerat. Iamque alterius depasta cruentum pectus, suprema genitorem voce cientis [vacat]65 circumiectu orbis validoque volumine fulcit. Alter adhuc nullo violatus corpora morsu, Dum parat adducta caudam divellere planta Horret ad adspectum miseri patris, haeret in illo, et iamiam ingentes66 fletus lacrymasque cadentes anceps in dubio retinet timor. Ergo perenni qui67 tantum statuistis opus iam laude nitentes,
Maurach entscheidet sich hier für das sehr viel anschaulichere convexum, das die unnatürliche Krümmung des sich wehrenden Körpers betont. Lessing und Winckelmann lasen connexum, was nur dann einen sinnvollen Satz ergibt, wenn man die Schlangen als logisches Subjekt ergänzt. Winckelmann hat hier sinnentstellend corpore (= »man sieht, wie die Glieder sich verrenken und wie sich der Leib nach hinten krümmt, fort vom Körper« [?]). Winckelmann: avellere. Lessing und Winckelmann lesen connixus, das als Synonym von adnixus (Maurach) keine weiteren Sinnverschiebungen, aber vielleicht eine geringere räumliche Ausdehnung bietet. Dieser Vers fehlt bei Winckelmann. Nur im Erstdruck stehen die beiden Verse (37±38) pectus in obliquos linquentem corpora casus / extremo in fletu et genitorem voce cientem (»Schon zerfrisst die Schlange die blutige Brust des einen Jungen, und während er seinen Körper in einem letzten Schrei zurücksinken lässt in schrägem Fall, hält sie ihn aufrecht durch das Umschlingen der (Knie)scheibe in kräftiger Windung.«). Bei Duchesne und in allen späteren Drucken sind die zwei Verse zu einem zusammengefasst: pectus, suprema genitorem voce cientis; so lesen es auch Lessing und Winckelmann. Um die Verszählung nicht zu verunklären und die Vergleichbarkeit mit anderen Fassungen nicht zu beeinträchtigen, bleibt v. 38 hier frei. Lessing und Winckelmann lesen ingentes, Maurach bietet instantes. Die Lesart instantes entstammt ebenso wie das adhuc (s. o.) dem Erstdruck; beide vergegenwärtigen die als lebend gedachte Statue. Ingentes hingegen spart die zeitliche Dimension aus und betont allein die Größe von Schmerz und Trauer, die auch durch das folgende Hendiadyoin lacrimasque cadentes hervorgehoben wird.
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artifices magni, quamquam et melioribus actis quaeritur aeternum nomen multoque licebat clarius ingenium venturae tradere68 famae, attamen ad laudem quaecumque oblata facultas, egregium hanc rapere et summa ad fastigia niti. vos rigidum lapidem vivis animare figuris eximii et vivos69 spiranti in marmore sensus inserere (aspicimus motumque iramque doloremque et paene audimus gemitus). vos extulit olim clara70 Rhodos, vestrae iacuerunt artis honores tempore ab immenso, quos rursum in luce secunda Roma videt celebratque frequens operisque vetusti gratia parta recens. Quanto praestantius ergo est ingenio aut quovis extendere fata labore quam fastus et opes et inanem intendere luxum.71
Über die Statue des Laokoon, die im Palast des Titus stand, worüber Plinius im 36. Buch der Naturalis historia, Kapitel 5 [recte 4, 37], schreibt: ein Gedicht von Iacopo Sadoleto [(1±7:) Sieh, aus dem aufgehäuften Erdreich und den Eingeweiden der gewaltigen Ruine hat die langwährende Zeit den Laokoon wiederum aufgedeckt, einen Rückkehrer, der einst in den kaiserlichen Hallen stand und dein Haus, Titus, zierte. Ein Kunstwerk von göttlicher Machart auch das kunstverständige Altertum kannte kein würdigeres Werk sieht nun erneut, vom Dunkel befreit, die hochragenden Mauern des wiedererstandenen Rom. (8±44:) Was soll ich als erstes, was als letztes nennen? Den bedauernswerten Vater und seine beiden Söhne? Oder die in Windungen gekrümmten Schlangen, schrecklich anzusehen? Die Leiber und Wut der Drachen und die Wunden und den lebensechten Schmerz im sterbenden Stein? All das verursacht Grauen, und vom stummen Bild her erschüttert liebevolle Zuneigung, gemischt mit großer Angst mein Herz. Die beiden Schlangen ziehen sich zusammen in weitem Ring, sie flammen auf und zucken hin und her in gewundenen Ringen und umschnüren die drei Körper mit einem vielfachen Knoten. Kaum vermögen die Augen den Anblick des grausamen Endes, des schrecklichen Untergangs zu ertragen. Da schießt die eine Schlange hervor und greift Laokoon selbst an und umwickelt ihn ganz, unten und oben, und verwundet schließlich mit wütendem Biss seinen Unterleib. Der Körper, [von den Schlangen] zusammengebunden, versucht auszuweichen; man sieht, wie die Glieder sich verrenken und wie sich der Leib nach hinten krümmt, fort von der Wunde. Getroffen vom heftigen Schmerz und dem bitterwütigen Biss 67 68 69
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Duchesne bietet hier richtig qui, bei Lessing steht laut Blümner (Anm. 27) fälschlich cui; Barner druckt unkommentiert qui. Lessing und Winckelmann lesen tradere famae; Maurach: prodere famae; die Variatio bleibt ohne Auswirkungen auf die Argumentation. Lessing liest eximii et vivos; Maurach bietet hier veros. In Verbindung mit sensus ist sicher veros vorzuziehen, da es die Aussage intensiviert: Empfindungen sind immer an das Leben gebunden; sie als vivi zu bezeichnen, ist also redundant, als veri hingegen steigernd. Winckelmann hat hier das unverständliche eximit, et vivos. Lessing und Winckelmann lesen clara, das strahlende, berühmte Rhodos (nach Hor. Carm. 1,7,1); Maurach bietet sacra, wobei festzuhalten ist, dass aus dem Text nicht klar wird, worin die spezifische Heiligkeit des Ortes liegen könnte. Lessing und Winckelmann lesen mit den Werkausgaben so; Maurach folgt den älteren und gibt quam luxus et opes et inanem intendere fastum, also »als Prunk und Reichtum zu erstreben und eitlen Hochmut«. Der Unterschied liegt allein in der Gewichtung der Begriffe durch ihre Position; in Lessings Text hallt der Luxus als letztes noch nach.
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stöhnt Laokoon heftig auf; er müht sich, die rohen Zähne zu lösen und stemmt die linke Hand unduldsam gegen den Schlangenkörper; alle Fasern spannen sich an und die Kraft des ganzen Körpers konzentriert sich ± vergeblich! ± in größter Anstrengung.72 Er vermag das Wüten nicht zu ertragen, und von der Wunde her versagt dem Marmor der Atem. Aber die schlüpfrige Schlange, vielfach gewunden, kommt von unten zurück und umwindet Laokoon unter dem Knie mit einem verschlungenen Knoten. Die Waden geben nach und der Unterschenkel, abgeschnürt von den drückenden Schlingen, schwillt an; durch die einschnürende Bedrängung schwellen die lebenswichtigen Teile und weiten die bläulichen Adern mit schwarzem Blut. Nicht weniger wütet dieselbe zügellose Gewalt gegen die Kinder, würgt sie mit schnell wirkender Fessel und zerfleischt ihre bemitleidenswerten Glieder. Schon zerfrisst die Schlange die blutige Brust des einen Jungen, der mit letzter Stimmkraft nach seinem Vater ruft. Während der andere, noch von keinem Biss verletzt, sich müht, den Schwanz vom hochgezogenen Fuß zu lösen, ergreift ihn der Schrecken beim Anblick des elenden Vaters; sein Blick hängt an ihm, und das ungeheure Weinen und die fallenden Tränen hält die zweifelnd schwankende Furcht zurück. (45±60:) Ihr habt ein solch großes Werk verfertigt, große Bildhauer, schon in ewigem Ruhm strahlend obwohl ein unvergänglicher Name auch durch bedeutendere Taten gewonnen wird [und nicht nur durch deren künstlerische Bearbeitung, s. u.] und es euch in weit glänzenderer Weise offen stand, euer Ingenium dem künftigen Ruhm anzuvertrauen ± aber jede Fähigkeit bietet sich dazu an, Ruhm zu gewinnen, und es ist hervorragend, sie zu ergreifen und zur höchsten Vollendung zu streben. Ihr wart Meister darin, den starren Stein mit lebendigen Gestalten zu beleben und dem atmenden Marmor lebendige Empfindungen einzugeben: wir sehen die Bewegung und die Wut und den Schmerz, und beinahe hören wir das Stöhnen. Euch hat das berühmte Rhodos einst hervorgebracht; die Anerkennung für euer hoch zu verehrendes Kunstwerk blieb euch seit undenklicher Zeit versagt. Nun sieht Rom es in günstigem Lichte wieder und feiert es vielfältig, und der Ruhm des alten Werkes entsteht wieder neu. Wie viel besser ist es also, durch Talent oder mühevolle Arbeit über den Tod hinaus zu leben, als Stolz und Reichtum zu erstreben und eitlen Luxus.]
Lessing liest den Text vollständig und zitiert ihn ebenso, während manche spätere Abhandlung über Laokoon bzw. Lessings Laokoon-Schrift das Zitat nach Vers 44 enden lassen, so als ob das, was nach der Ekphrasis folgt, nicht mehr so recht dazugehöre. Doch in Sadoletos carmen steht die Ekphrasis nicht für sich allein; ihr geht ein knapper Fundbericht voraus (v. 1±7), und ihr folgt eine moralische Reflexion (v. 45±60). Ein verkürzendes Zitieren nimmt dem carmen diese Dimension. Welche Aspekte des Gedichts gehen damit verloren? Im ekphrastischen Hauptteil des Gedichts nutzt Sadoleto alle geläufigen Strategien der Ekphrasis: das statische Bild wird bei ihm zum bewegten Geschehen,73 akustische Scheinwahrnehmungen ergänzen die Beschreibung,74 Sprecher75 und Künstler76 werden mit unterschiedlichen Perspektiven dem Werk an die Seite gestellt usw. Im letzten Drittel des Gedichts schlägt er dann einen 72 73 74 75 76
Summis conatibus: vgl. Prud. c. Symm. 2, 149; Mart. Cap. 2, 198. V. 14: glomerantur; v. 15: errant; v. 21: refugit; v. 29: lapsus; v. 43: lacrimae cadentes. V. 24: dat gemitum ingentem; v. 37/38: genitorem ciens; v. 44: fletus; v. 54: audimus gemitus. V. 10: terribilis aspectus; v. 17/18: vix oculi sufferre valent crudele tuendo exitium casusque feros; v. 22: cernas; v. 53: aspicimus; v. 54: audimus. V. 45/46: tantum statuistis opus / artifices magni; v. 51±53: vos rigidum lapidem vivis animare figuris / eximii et vivos spiranti in marmore sensus / inserere.
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Weg ein, der vom konkreten Kunstwerk fortführt und die künstlerische Produktivität an sich zum Thema macht: Das Kunstwerk ± die Skulptur des Laokoon ± habe den Künstlern des Laokoon zu Recht Ruhm, fama, eingebracht; sie hätten mit den ihnen zur Verfügung stehenden Gaben das erreicht, was ihnen möglich war; konkret: den Stein so zu bearbeiten, dass er wie lebendig wirke. Das ist verdienstvoll; noch größerer Ruhm wäre zu erreichen gewesen, hätten sie sich anders betätigt. Sadoleto greift hier einen antiken, von Sallust zu Beginn des Bellum Catilinae maßgeblich formulierten Gedanken auf.77 Bei der Abwägung der verschiedenen Formen des Ruhmes gelangt er zu einer für die folgenden Zeiten sehr wichtigen Hierarchie: den größten Ruhm erlangt man als aktiv Handelnder im Krieg und in der Politik; den zweitgrößten, wenn man darüber (als Historiker) schreibt; den dritten, so könnte man mit Sadoletos Hilfe die Reihe fortsetzen, wenn man kriegerische und politische Taten ins Bild setzt. Am Ende des carmen geht es also um die Hierarchie der menschlichen Tätigkeiten und die Konkurrenz der Künste. Sind auch die Bildhauer ob ihres handwerklichen Vermögens zu preisen, so werden sie doch nie den gesellschaftlichen Rang des politisch Tätigen oder des Historiographen erreichen. Sadoletos abschließende Reflexion über den Ruhmesbegriff ist eine Reflexion über den gesellschaftlichen Rang der Künste; durch die Wahl der Ekphrasis als literarischer Form, die durch den Text ein neues Bild im Geiste entstehen lassen kann, wie Bembo es schildert,78 nimmt er dabei eine deutlich überlegene Haltung gegenüber den Bildkünstlern ein.
3.2 Epigramme auf den Fund der Statue Neben und gemeinsam mit Sadoletos carmen zirkulierten in ganz Europa Epigramme, die Einzelaspekte der Figur, des Fundes und der ästhetischen Diskussion formulierten. Aufgrund der Kürze dieser Texte spielt die Ekphrasis gewöhnlich eine untergeordnete Rolle, während die zur Pointe führende Detail-
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Sall. Cat. 3: »Sed in magna copia rerum aliud alii natura iter ostendit. pulchrum est bene facere rei publicae, etiam bene dicere haud absurdum est; vel pace vel bello clarum fieri licet; et qui fecere et qui facta aliorum scripsere, multi laudantur. ac mihi quidem, tametsi haudquaquam par gloria sequitur scriptorem et auctorem rerum, tamen in primis arduom videtur res gestas scribere >«@´(»Aber unter der Vielzahl möglicher Dinge zeigt die Natur jedem einen anderen Weg. Es ist schön, dem Staat Gutes zu tun; auch gut zu reden ist nicht unnütz. Im Frieden und im Krieg kann man berühmt werden, und sowohl der, der etwas geleistet hat, als auch der, der die Taten anderer beschreibt, wird gerühmt. Mir aber scheint es, auch wenn keineswegs der gleiche Ruhm dem Autor folgt wie dem Urheber der HandOXQJHLQHEHVRQGHUVVFKZLHULJH$XIJDEH*HVFKLFKWH]XVFKUHLEHQ««). Pietro Bembo, Brief vom 5.5.1506 an Sadoleto: »non modo eius signi nobis quasi aliud simulachrum effinxisti, sed plane etiam signum ipsum prorsum in animo exsculpisti meo.« Zitiert nach: Pietro Bembo: Lettere. Ed. critica a cura di Ernesto Travi. Bd. 1: 1492±1507. Bologna 1987; dort Nr. 233. Vgl. Wolkenhauer (Anm. 43).
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beobachtung und kunsttheoretische Überlegungen, die an Sadoletos Gedichtschluss anknüpfen, eine größere Bedeutung gewinnen. Leider liegen die Epigramme nur zum Teil modern ediert vor. Es handelt sich um ein umfangreiches, in gewisser Hinsicht diskursabbildendes Textcorpus, das im 16. Jahrhundert intensiv rezipiert, von der heutigen Forschung jedoch m. W. kaum zur Kenntnis genommen worden ist. 79 Auch Lessing erwähnt keinen der neuzeitlichen Laokoondichter außer Sadoleto, doch dies dürfte vor allem im geringen Renommee der Gattung begründet liegen. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass er zumindest die Epigramme kannte, die in den Anthologien enthalten waren, die er für Sadoletos carmen bereits konsultiert hatte: Gruters Sammlung enthielt die Epigramme von Antonio Tebald[e]o (1460± 1537) und Ercole Strozzi (filius, 1471±1508) auf den Laokoon.80 Hinzu kommt die Tatsache, dass nicht nur Anthologien, sondern auch Klassikerausgaben und Reiseführer des 17. und 18. Jahrhunderts sowohl Sadoletos carmen als auch weitere epigrammata de Laocoonte abdruckten. Ich möchte daher kurz auf einige Motive hinweisen, die Sadoleto nur streift, die aber in den Epigrammen anderer Humanisten weiterentwickelt wurden und daher auch für Lessings Zeitgenossen als diskursrelevant einzuschätzen sind: Die Schöpferkraft der Künstler: Die zentrale Leistung der Künstler liegt darin, den Stein lebendig erscheinen zu lassen.81 An dieser sinnentäuschenden Fähigkeit bemisst sich jedes Qualitätsurteil. Das Motiv ist aus Künstleranekdoten seit der Antike geläufig. Sadoleto spitzt es in Oxymora wie dem Bild des atemlosen Marmors und des sterbenden Steins zu.82 In der Rezeption wird es als Leitkategorie sowohl zur Beurteilung des Bildkunstwerks als auch zur Beurteilung von Sadoletos carmen. Es führt zu Bonmots wie demjenigen Bembos, man müsse gar nicht nach Rom fahren, um den Laokoon zu sehen, da das Gedicht Sadoletos einem bereits alles lebendig vor Augen stelle. Die Wirkmacht des Kunstwerks: Die Wirkmacht des Kunstwerks wird als Indikator seiner künstlerischen Qualität verstanden. Die Epigramme sehen seine wichtigste Wirkung in der Erschütterung, die es beim Betrachter auszulösen vermag. Dementsprechend wird der mitleidende Betrachter als zentrales Moment miteingeführt; er ist in der Figur des berichtenden Aeneas bei Vergil ebenso vorgebildet wie in der Statue des einen Sohnes, der auf die anderen schaut und zu entkommen scheint; der Betrachter ist auch Hauptfigur vieler Epigramme. Der mitleidende Betrachter ist bei Sadoleto doppelt präsent, wenn er die 79
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Die m. W. einzige moderne Edition (mit einer italienischen Übersetzung und knappen, aber sehr fundierten Einführungen) bietet Sonia Maffei: La fama di Laocoonte nei testi del Cinquecento. In: Laocoonte. Fama e stile. Hg. von Salvatore Settis. Rom 1999, S. 85±230. Eine Ergänzung der Sammlung bereite ich zur Zeit vor. Tebaldeo beschreibt den Wettstreit zwischen den Künstlern und Minerva, der anders als vergleichbare Konstellationen gut für die menschlichen Künstler ausging; Strozzi betont die Lebensnähe und Unversehrtheit der Skulptur. Gruter, Bd. 2, 1105 und 1152 (Anm. 50); beide wieder abgedruckt bei Maffei (Anm. 79), S. 134f. und S. 142f. Sadoleto, v. 51: lapidem animare. Sadoleto, v. 28: marmor anhelum; v. 11: saxo moriente.
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vergilische Wendung horret adhuc animus (v. 12) zitiert: Wir hören die literarische Reminiszenz an den vergilischen Aeneas, der die Katastrophe aus der Entfernung beobachtete und später noch immer erschüttert davon erzählt, und zugleich den humanistischen Betrachter, der die Beschreibung der Statue um eine Beschreibung ihrer dramatischen Wirkung ergänzt. Die fortwährende Aktualisierbarkeit des Laokoonstoffes: Sadoleto verliert am Anfang und Ende einige andeutende Worte darüber, dass der Untergang und die Wiedergeburt Roms und Laokoons parallel verlaufen sind; beide sind reduces (v. 2) und redivivi (v. 7). Viele Epigramme setzen diesen Gedanken ins Zentrum, leisten also aktualisierende Interpretationsarbeit. Sie knüpfen an die eingangs angesprochene ¾römische½ Deutung des Laokoon an. Laokoon konnte als Symbol des Kulturtransfers von Griechenland/Troja nach Rom verstanden werden; er musste sterben, damit Aeneas fliehen und die römische Geschichte ihren Anfang nehmen konnte. Am Ende der Antike ging die Skulptur verloren; ihre Wiederentdeckung im Rom der Päpste wurde je nachdem als Zeichen der ungebrochenen Tradition, des humanistischen Neubeginns oder der politischen Gestaltungsmacht des Papsttums gedeutet ± schließlich lebte Rom zur Zeit der Wiederentdeckung des Laokoon wiederum in einer lux secunda und sub Iulio, diesmal unter dem Papst Julius II., der sich nicht nur in seinem Namen auf die Familie der Julier und ihren Stammvater Aeneas berief.
4. Laokoon vor Lessing Dies also ist der Laokoon, den Lessing kannte: vor allem anderen eine literarische Figur mit einer langen und facettenreichen Geschichte, erzähltechnisch eher am Rande stehend, aber vielleicht gerade deshalb offen für Veränderungen. Lessings philologischer Aufmerksamkeit erschlossen sich die widersprüchlichen Züge der Figur. Der Laokoon seiner Lektüren ist eine durchaus zwiespältige Gestalt, ein scheiternder Mahner, ein verlorener Priester, ein bestrafter Sünder, aber auch ein trojanischer Odysseus, ein prometheischer Aufklärer, der den Willen der Götter herausforderte, oder auch ein schuldloses Opfer im großen Spiel der Götter, als Zeichen verbraucht für die große Mission des Aeneas. Lessing nutzt seine Kenntnis des Stoffes, wenn er das Verhalten der Schlangen beschreibt oder Datierungs- und Prioritätsvorschläge für die Statue in Abhängigkeit von der dargestellten Form des Mythos entwickelt. Der inhaltlichen Deutung des Geschehens aber ± den Fragen nach dem warum, nach der Schuld Laokoons, nach dem Sinn seines Todes oder nach dem Verhältnis von Troja und Rom, die die antiken und manche frühneuzeitlichen Dichter beschäftigten ± geht er ökonomisch aus dem Weg und verschafft sich dadurch Freiraum für die Frage danach, wie das Leiden dargestellt ist: Vielleicht ist das das Opfer, das die ästhetische Diskussion fordert. Wie Sadoleto nimmt Lessing die inhaltliche Widersprüchlichkeit der Figur als tragende, aber nicht interpretationsbedürftige Basis hin und konzentriert sich
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auf die ästhetische Diskussion. Sadoletos carmen dient ihm als tertium comparationis und ermöglicht es ihm, den Wettstreit zwischen den Künsten auf dem Feld der Ekphrasis zu führen. Mit Sadoletos Hilfe zeigt er, dass Vergils Laokoon keine Ekphrasis sein kann, kein Nachschaffen nach einer Skulptur. Vor allem aber findet Lessing einen großen Unterschied zwischen Sadoleto und Vergil und macht daraus sein stärkstes Argument: Vergils Laokoon brüllt und rast wie ein verletzter Stier; Sadoletos Laokoon hingegen seufzt einmal laut auf, um kurz darauf ganz die Stimme zu verlieren: marmor anhelum est (v. 28). Hier setzt Lessings Diskussion der für die jeweiligen künstlerischen Gattungen, für Ekphrasis und Originalwerk angemessenen Ausdrucksform ein, hier ist der Angelpunkt seiner Prioritätsdiskussion: beides wäre ohne Sadoletos carmen nicht denkbar gewesen.
Friedrich Vollhardt Friedrich Vollhardt Laokoon, Aias, Philoktet. Lessings Sophokles-Studien und seine Kritik an Winckelmann
Laokoon, Aias, Philoktet Laokoon, Aias, Philoktet Lessings Sophokles-Studien und seine Kritik an Winckelmann Mit den Begriffen ¾Präsenz½, ¾Epiphanie½ oder ¾Stimmung½ hat Hans Ulrich Gumbrecht ästhetische Grundeinstellungen zu beschreiben versucht und damit eine Debatte ausgelöst, in der die Verschiedenheit von Sinnverstehen und nichtbegrifflicher Wahrnehmung erörtert wird. Dabei hat Gumbrecht ± wohl mit geringerem Erfolg, aber das mag täuschen ± auf ältere Konzepte hingewiesen, in denen das eine Rolle spielt, was man im 18. Jahrhundert ein je-ne-sais-quoi nannte: Augenblicke der Intensität, die nicht alltäglich sind, dafür aber überraschend oft mit Kunst zu tun haben. Eine lohnende Wiederentdeckung ist für ihn Wilhelm Diltheys für die Geisteswissenschaften formulierter Grundsatz, der besagt, daß durch die Interpretation von Texten individuelle Lebensäußerungen erschlossen werden sollen, und zwar im ¾Erlebnis½ ± dieser Begriff ist der erwähnten Reihe hinzuzufügen. Mit ihm umschreibt Dilthey, wie Gumbrecht ausführt, »das Maximum der den Menschen verfügbaren Realität überhaupt, nämlich jene noch nicht auf Begriffe gebrachten Momente, in denen das Bewußtsein auf Wirklichkeiten außerhalb seiner selbst stößt«.1 Fraglich bleibt jedoch, ob solche Dimensionen der Erfahrung durch eine interpretative Methode zu erschließen oder nur in der literarischen Form des Essays, also wiederum künstlerisch zu beschreiben sind. Die Adaptation des Diltheyschen Konzepts gelingt nicht ohne weiteres, obwohl sich gerade Erlebnismomente, wie schwer diese auch zu fassen sein mögen, zur Konturierung jener Effekte anbieten, die zwischen Präsenz und Bedeutung oszillieren und als solche stets »ephemer«2 bleiben. Auf das Pro und Contra der Präsenz-Debatte kann hier nicht näher eingegangen werden. Erwähnt sei nur der Einwand von Martin Seel, der die antihermeneutische Einstellung der Präsenzästhetiker mit dem Hinweis kritisiert hat, daß in jeder kulturellen Ordnung das Verstehen und Auslegen sinnhafter Objekte praktiziert wird, mehr noch: »Wenn von der Signatur historischer
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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. November 2005, S. 1 í 'LH JHQDQQWHQ Begriffe ODVVHQVLFKLQHLQHU.DWHJRULH]XVDPPHQIDVVHQ¾*HJHQZlUWLJNHLW½9JOGD]XGLH$XVIhrungen von Christian Kiening: Gegenwärtigkeit. Historische Semantik und mittelalterliche Literatur. In: Scientia Poetica 10 (2006), S. 19±46. Hans Ulrich Gumbrecht: Epiphanien. In: Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Hg. von Joachim Küpper, Christoph Menke. Frankfurt am Main 2003, S. 203±222, hier S. 215.
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Kulturen die Rede ist, geht es weit darüber hinaus um den kulturellen Sinn von Praktiken, seien diese im engeren Sinn verstehend-auslegend oder nicht.«3 Anregungen aus der Debatte sind auch in neuere Laokoon-Studien eingegangen. Gefragt wird nach den Perspektiven, in denen Lessings Kunstauffassung auf heutige ästhetische Fragestellungen zu beziehen sind; leitend ist dabei der Gedanke, »daß der ästhetische Gegenstand die triviale Gegebenheit seines ¾Konstruiertseins½ überschreitet, daß er eine Wirklichkeit zur Erscheinung bringt, die sich weder in der Selbstreferentialität künstlerischer Mittel (z. B. der literarischen Sprache) erschöpft noch auf die vergegenwärtigten Inhalte zu reduzieren ist«.4 Hier läßt sich anschließen, wobei der von Gumbrecht gegebene Hinweis auf Wilhelm Dilthey aufzunehmen ist, wenn auch im Bewußtsein der historischen Distanz. Denn Dilthey hat zur Explikation des Erlebnisbegriffs seinerseits auf Vorgänger verwiesen, wobei er die gesuchte »hermeneutische Kunst« vor allem bei einem Autor entdeckt, und zwar bei Johann Joachim Winckelmann, der »einen Kreis großer Kunstleistungen wirklich über den Horizont unserer geschichtlichen Einsicht erhob. Eine ästhetische Realität lebte so wieder auf und wurde in ihrem Kern verstanden, d. h. nicht bloß vorgestellt, sondern nachgelebt.«5 Die bekannte Trias von Erleben, Ausdruck und Verstehen wird bei Dilthey über unser »inneres Verhältnis zu Plato« konstruiert, das uns durch Winckelmann überhaupt erst deutlich geworden sei: »So wurde die bildende Kunst von uns an der Realität des Griechentums zunächst begriffen, wie die Religion an der Realität des Christentums oder das Recht am römischen Zivilrecht.«6 Damit ergibt sich auch ± über die Vermittlungswege muß nicht lange nachgedacht werden ± eine Verbindung zwischen der ¾Präsenzkultur½ um 1750 und der Zeit um 1900, deren Beziehung zu unserer Gegenwart, sollte es sie geben, allerdings erklärungsbedürftig bleibt.
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0DUWLQ 6HHO hEHU GHQ NXOWXUHOOHQ 6LQQ lVWKHWLVFKHU *HJHQZDUW í PLW 6HLWHQEOLFNHQ DXI Descartes. In: Merkur 61 (2007), S. 619±626, hier S. 621. Der Einwand wollte als konstruktiver Beitrag zu einem »Familienstreit« verstanden werden; der anti-hermeneutische Affekt hat sich in der Zwischenzeit deutlich abgeschwächt. Monika Fick: Lessings Laokoon zwischen Diskursanalyse und Präsenzdebatte. In: Lessing Yearbook 37 (2006/2007), S. 113±124, hier S. 116. Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Bd. 6: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Zweite Hälfte: Abhandlungen zur Poetik, Ethik und Pädagogik. Leipzig, Berlin 1924, S. 267. Ebd.; vgl. auch Hinrich C. Seeba: Johann Joachim Winckelmann. Zur Wirkungsgeschichte HLQHV¾XQKLVWRULVFKHQ½+LVWRULNHUV]ZLVchen Ästhetik und Geschichte. In: DVS 56 (1982), Sonderheft Kultur, S. 168*±201*, bes. S. 197* sowie Esther Sophia Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal íBerlin 2004, S. 80.
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I Was haben wir uns unter dem von Dilthey als so vorbildlich eingeschätzten Platonismus Winckelmanns und seiner Hermeneutik vorzustellen? Nun ± Winckelmann hat die visuelle Erfahrung in die Ordnung des Wissens seiner Zeit eingeführt und eine spezielle Beschreibungssprache entwickelt. Nur der Akt der Wahrnehmung, das Erlebnis, soll zur Erkenntnis führen: »/¶DXWRSVLH VHUD OD PD[LPHGHVRQGLVFRXUVVXUO¶DUW«7 Und hier kam dem Fragment eine besondere Bedeutung zu. Winckelmann hat sich vehement gegen die seit dem 16. Jahrhundert übliche Praxis der Restaurierung beschädigter Statuen gewandt. Unter den stilistisch oft falschen Ergänzungen sucht er nach dem authentischen Werk, das allein »in das Arcanum der Kunst«8 einführt. Damit uns die Antike in der Betrachtung wieder zugänglich wird ± künstlerische Nachahmung kann das nicht leisten ±, muß das Original wahrgenommen werden, wie fragmentarisch es uns auch überliefert sein mag. Der Rezeptionsakt des professionellen Kunstkritikers erweist sich hier dem Reproduktionsversuch des Künstlers als überlegen. Ebenso fruchtlos wie die Bemühungen der modernen Bildhauer um die antiken Statuen erscheint Winckelmann auch der Umgang der Philologen mit den antiken Texten. Bekannt sind seine spöttischen Berichte über berühmte Gelehrte in der Vatikanischen Bibliothek, die bei der Abfassung ihrer Manuskripte und der Edition klassischer Werke, in denen sie noch kleinste Abweichungen festhalten, die steinernen Monumente der Antike übersehen, von denen sie umgeben sind. Von dem anti-gelehrten Affekt Winckelmanns darf man sich indes nicht täuschen lassen. Mit der Ankunft in Italien hat der Bibliothekar seine gelehrte Vergangenheit nicht einfach hinter sich gelassen ± die vielzitierten Briefstellen über den Gegensatz von Sinnlichkeit und Intellektualität gehören zu den Selbststilisierungen des Autors, mit denen er das Originalitätspathos seiner Schriften beglaubigt. Er hat nämlich weiter aus Büchern exzerpiert und das in einer Technik, wie sie vorbildlich in der Tradition der Historia literaria ausgebildet worden ist.9 Winckelmann ist auch in Rom ein deutscher Gelehrter geblieben, wie sich nicht zuletzt an dem Prinzip zeigt, daß er für den Rekurs auf den ¾Urtext½ in der Kunst, eben das Fragment empfiehlt: »Man muß die unechten Glieder der Statuen abnehmen, um aus diesen Hybriden das Echte herauszuziehen, diese verfälschten marmornen Texte auseinandernehmen, um an das Original zu gelangen.«10 Dazu wendet er zwei philologische Verfahren an: »die
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Élisabeth Décultot: Johann Joachim Winckelmann. (QTXrWHVXUODJHQqVHGHO¶KLVWRLUHGH O¶DUWParis 2000, S. 227. Wolfgang Adam: Kanon und Generation. Der Torso vom Belvedere in der Sicht deutscher Italienreisender des 18. Jahrhunderts. In: Euphorion 97 (2003), S. 419±457, hier S. 442. 9JOeOLVDEHWK'pFXOWRW /¶DUW ZLQFNHOPDQQLHQGHODOHFWXUH5HSULVHHWVXEYHUVLRQG¶XQH pratique erudite. In: Lire, copier, écrire. Les bibliothèques manuscrites et leurs usages au XVIIIe siècle. Hg. von ders. Paris 2003, S. 91±110. Élisabeth Décultot: Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert. Übers. von Wolfgang von Wangen-
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recensio, also die Überprüfung und den Vergleich ähnlicher Werke, um die ältere ¾Lesung½ auszuwählen, und die emendatio, die Korrektur abweichender Lesungen. Wie der Philologe stellt er Statuen desselben Themas, derselben Zeit oder desselben Stils zusammen, um daraus einen Kanon, eine ideale Form, eine Norm abzuleiten, nach deren Maß andere formale Erscheinungen dann beurteilt werden können.«11 Einen solchen Kanon hatte Winckelmann im Hof des Belvedere bereits vorgefunden, ein exquisites Statuenprogramm, in das die 1506 entdeckte Laokoongruppe integriert worden war. Unter den drei anderen Skulpturen ist neben dem berühmten Apoll und einer im 18. Jahrhundert fälschlich als Hermes gedeuteten Figur besonders der rätselhafte Torso zu erwähnen, den Winckelmann mehrfach beschrieben hat. Drei Versionen seines Textes sind innerhalb von sieben Jahren zwischen 1759 und 1766 publiziert worden.12 In diese Jahre fällt auch Lessings Arbeit am Laokoon, einer Schrift über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (erschienen 1766), die über weite Strecken eine Auseinandersetzung mit Winckelmann enthält. Die Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom ist übrigens die einzige separat gedruckte Statuenabhandlung Winckelmanns, erschienen in der Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (1759 und 1762), wo sie Lessing kennengelernt haben dürfte. Dieser Text erscheint besonders geeignet, um die an einem Fragment entwickelte Deskriptionstechnik Winckelmanns zu analysieren, die seinen Ruhm begründete und ihn zu der noch von Dilthey beachteten Autorität im Feld ästhetischer Präsenzbildung ± Stichwort ¾Erlebnis½ ± werden ließ; an diesem Text läßt sich zudem zeigen, was Lessing zur Kritik herausforderte, die er in seinem Laokoon entfaltet hat (vgl. Abb. 1). »Ich theile hier eine Beschreibung des berühmten Torso im Belvedere mit, welcher insgemein der Torso vom Michael Angelo genennet wird, weil dieser Künstler dieses Stück besonders hochgeschätzet, und viel nach demselben studiret hat.«13 So beginnt Winckelmann seine Betrachtung des antiken Fragments, indem er auf die ¾moderne½ Aneignung, also nachahmende Re-Konstruktion bzw. -Produktion durch Michelangelo verweist, der den Torso in der Tat mehrfach für eigene Arbeiten als Vorlage verwendet hat; »singolarmente lodato da Michel Angelo«, heißt es bei dem Zeitgenossen Ulisse Aldroandi.14 Im Anschluß an diesen Hinweis gibt Winckelmann sofort zu verstehen, daß ihn eine
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heim und René Mathias Hofer. Ruhpolding [2004] (Stendaler WinckelmannForschungen 2), S. 145. Ebd. Daneben gibt es noch eine vierte Version, die 1776 erschien, sowie drei weitere, nur im Manuskript überlieferte Fassungen; vgl. Frühklassizismus. Position und Opposition: Winckelmann, Mengs, Heinse. Hg. von Helmut Pfotenhauer u. a. Frankfurt am Main 1995 (Bibliothek der Kunstliteratur 2), S. 167±185, 491±495 und 581±590. Ebd., S. 174. Zit. nach Raimund Wünsche: Der Torso des Michelangelo. In: Der Torso. Ruhm und Rätsel. Begleitbuch zu einer Ausstellung der Glyptothek München. Hg. von Raimund Wünsche. München 1998, S. 30±36, hier S. 31.
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auf die aemulatio veterum zielende Nachbildung nicht interessiere. Sein Gegenstand ist das Fragment, genauer die »verstümmelte Statue eines sitzenden Herkules«; die Beschreibung geht »nur«, wie es weiter heißt, »auf das Ideal der Statue, sonderlich da sie idealisch ist«.15 Was nun folgt, ist wider Erwarten keine auf mimetische Genauigkeit zielende Schilderung des visuellen Eindrucks, sondern ein Nachvollzug des Mythos, für den die Statue einen materialen Bezugspunkt liefert. Winckelmann inszeniert ein »Assoziationsspiel«, das im Ausgang von einzelnen Merkmalen der Skulptur die mythologische Erzählung nachvollzieht, genauer: die Apotheose des Herkules, seine Aufnahme in den Olymp. »Diese Interpretation ist wichtig, weil sie den Darstellungsmoment als die Metamorphose des Körpers bestimmt, die er durch seine Beschreibung nachvollzieht.«16 Dabei behauptet Winckelmann, daß die bildende Kunst der Poesie überlegen sei, was Lessing zur Stellungnahme herausfordern wird: Da, wo die Dichter aufgehöret haben, hat der Künstler angefangen: Jene schweigen, so bald der Held unter die Götter aufgenommen, und mit der Göttinn der ewigen Jugend ist vermählet worden; dieser aber zeiget uns denselben in einer vergötterten Gestalt, und mit einem gleichsam unsterblichen Leibe, welcher dennoch Stärke und Leichtigkeit zu den grossen Unternehmungen, die er vollbracht, behalten hat.17
Im Anschluß an diesen letzten, in seiner Bedeutung nicht sofort verständlichen Satz ± was verbindet die Taten des Herkules mit dem vorhandenen Torso? ± erzählt Winckelmann nach einem einleitenden »Ich sehe« die Geschichte des Helden: In jedem Theile dieses Körpers offenbaret sich, wie in einem Gemählde, der ganze Held in einer besRQGHUHQ7KDWXQGPDQVLHKHW>«] zu welcher That ein jedes Theil gedienet hat. Ich kann das wenige, was von der Schulter noch zu sehen ist, nicht betrachten, ohne mich zu erinnern, daß auf ihrer ausgebreiteten Stärke, wie auf zwey Gebirgen, die ganze /DVW GHU KLPPOLVFKHQ .UHLVH JHUXKHW >«@ 6R ZLH LQ HLQHU DQKHEHQGHQ %HZHJXQJ GHV Meers die zuvor stille Fläche in einer lieblichen Unruhe mit spielenden Wellen anwächset, wo eine von der anderen verschlungen, und aus derselben wiederum hervorgewälzet wird; ebenso sanft aufgeschwellet und schwebend gezogen, fließet hier eine Muskel in die andere, und eine dritte, die sich zwischen ihnen erhebet, und ihre Bewegung zu verstärken VFKHLQHWYHUOLHUHWVLFKLQMHQHXQGXQVHU%OLFNZLUGJOHLFKVDPPLWYHUVFKOXQJHQ>«@ In diesem Augenblicke durchfährt mein Geist die entlegensten Gegenden der Welt, durch welche Herkules gezogen ist, und ich werde bis an die Grenzen seiner Mühseligkeiten, und bis an die Denkmale und Säulen, wo sein Fuß ruhete, geführet, durch GHQ$QEOLFNGHU6FKHQNHOYRQXQHUVFK|SIOLFKHU.UDIW>«@.18
Bereits dieser Ausschnitt aus dem Prosa-Hymnus zeigt, mit welchen Mitteln Winckelmann an der Vergegenwärtigung des Mythos arbeitet und der Skulptur 15 16 17 18
Winckelmann (Anm. 12), S. 174. Raimund M. Fridrich: »Sehnsucht nach dem Verlorenen«. Winckelmanns Ästhetik und ihre frühe Rezeption. Bern, Berlin 2003, S. 123. Winckelmann (Anm. 12), S. 175. Ebd., S. 176f.
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zugleich eine sakrale Weihe gibt. Das Bild der Wasserfläche steht dabei für das Konzept vom Idealschönen; der Reiz der Meeres-Metapher liegt darin, Bewegung und Ruhe in paradoxer Weise zu verbinden und der antiken Plastik einen Ausdruck zuzuschreiben, der dann mit Vorstellungen der Stoa konnotiert wird ± von der ¾edlen Einfalt und stillen Größe½ wird im Zusammenhang mit Lessing noch die Rede sein. Winckelmann »schildert nicht einfach, was er sieht, sondern wofür das Gesehene steht«.19 Seine ¾Lektüre½ der Statue behauptet zwar, nur den unmittelbaren Eindruck wiederzugeben, doch das Bestehen auf dem Erlebnis (»in diesem Augenblicke durchfährt mein Geist«) kann nicht verdecken, daß es sich bei der Beschreibung um eine in chronologischer Folge entwickelte Erzählung handelt, bei der die starken textlichen Referenzen zu einer »Inflation von Bedeutung«20 führen. Was als eine Dynamisierung der Form durch den Betrachter erscheinen möchte, wird zu einem im hohen Ton vorgetragenen Exempel der allegorischen Auslegung eines künstlerischen Monuments. Eine Kleinigkeit bleibt noch nachzutragen. Die enge Verknüpfung von Wort und Bild, welche die Torso-Beschreibung auszeichnet, ergibt sich aus der selbstverständlichen, von Winckelmann nicht bezweifelten Annahme, daß es sich bei der vollständigen Plastik um eine Darstellung des Herkules gehandelt haben muß. Für diese Deutung sprach neben der athletischen Gestalt vor allem GDV XP GHQ 6FKHQNHO JHVFKOXQJHQH /|ZHQIHOO í HLQ W\SLVFKHV $WWULEXW GHV Herkules.21 Es sollte noch gut einhundert Jahre dauern, bis der Anatom Carl Hasse darauf aufmerksam machte, daß es sich aufgrund der angedeuteten Schädelgröße des Tieres, der fehlenden Schwanzquaste und der Fellzeichnung nur um ein Pantherfell handeln könne, womit der »Herkules-Deutung die Basis entzogen«22 war. Und erst vor kurzem hat der Archäologe Raimund Wünsche aufgrund von Motivvergleichen sowie Untersuchungen der anatomischen Gegebenheiten den Vorschlag gemacht, das Fragment als Aias-Figur zu deuten, das heißt als Darstellung des Moments kurz vor dem Selbstmord des mythischen Helden; nur über die rekonstruierte Haltung des Schwerts läßt sich auch die komplizierte Lage der Dübellöcher möglicherweise erklären.23 Wünsche hat seine Rekonstruktion ausführlich begründet und auf einer Ausstellung gezeigt (vgl. Abb. 2). Um Mißverständnisse zu vermeiden: Es soll damit nicht gezeigt werden, aufgrund welcher Analysemethoden die moderne Archäologie gegenüber dem 19
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Fridrich (Anm. 16), S. 123. Vgl. auch Gabriella Catalano: Sintassi testuale e stile nella ¾.XQVWEHVFKUHLEXQJ½ GL :LQFNHOPDQQ. A proposito delle descrizioni del Torso del Belvedere. In: Winckelmann und die Mythologie der Klassik. Narrative Tendenzen in der Ekphrase der Kunstperiode. Hg. von Hein Georg Held. Tübingen 2009 (Reihe der Villa Vigoni 22), S. 151±162. Fridrich (Anm. 16), S. 123. Vgl. Adam (Anm. 8), S. 436. Ebd., S. 437. Vgl. Raimund Wünsche: Archäologische Deutungen und Ergänzungen. In: Wünsche (Anm. 14), S. 66±87, hier S. 74± ª'HU 7RUVR í 6LQQHQGHU $LDV© ± auf die Kritik an dieser Deutung kann hier nicht eingegangen werden.
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klassizistischen Deutungsversuch recht behält, sondern mit welchen Argumenten schon in der zeitgenössischen Diskussion die poetische Betrachtungsweise Winckelmanns hätte geprüft werden können. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß der rasch einsetzende Erfolg Winckelmanns einen Paradigmenwechsel bewirkt hat. Der suggestiven Kraft seiner Beschreibungskunst konnte nicht mit der von ihm verachteten antiquarischen Gelehrsamkeit begegnet werden, die Kritiker mußten sich auf den vollzogenen Geschmackswandel einstellen.
II Daß Lessing hier ein überzeugendes, durchaus konkurrenzfähiges Deskriptionsverfahren entwickelt hat, ist mehrfach gezeigt worden; weniger Aufmerksamkeit hat die Wahl seiner Exempel gefunden. Erstaunlich ist, ja ganz überraschend, daß er in seinem Laokoon ausgerechnet das Beispiel des sinnenden Aias wählt, um seine These von der Trennung der Künste zu illustrieren! Dabei plädiert Lessing für ein vom Material gelöstes imaginatives Sehen, der TorsoBeschreibung Winckelmanns stellt er einen »Anti-Herkules«24 gegenüber. Nach der Erwähnung einiger antiker Bildwerke faßt er seine Überlegungen wie folgt zusammen: Ajax erschien [in diesen Darstellungen] nicht, wie er unter den Heerden wüthet, und 5LQGHU XQG %|FNH IU 0HQVFKHQ IHVVHOW XQG PRUGHW 6RQGHUQ >«@ ZLH HU QDFK GLHVHQ wahnwitzigen Heldenthaten ermattet da sitzt, und den Anschlag fasset, sich selbst umzubringen. Und das ist wirklich der rasende Ajax; nicht weil er eben itzt raset, sondern weil man siehet, daß er geraset hat; weil man die Grösse seiner Raserei am lebhaftesten aus der verzweiflungsvollen Scham abnimt, die er nun selbst darüber empfindet. Man siehet den Sturm in den Trümmern und Leichen, die er an das Land geworffen. 25
Auch Lessing setzt die Kenntnis des Mythos voraus, er erzählt diesen jedoch nicht nach, sondern konzentriert sich auf den dargestellten Augenblick. Indem er den Mythos nicht in die Statue selbst verlegt, sondern nur in der Vorstellungskraft des Betrachters vergegenwärtigt, verfährt er in einer Winckelmann entgegengesetzten Weise.26 In dem erfaßten Moment wird zugleich das Motiv erkennbar, das zu dem tragischen Ende führt: Scham, die mit Verzweiflung JHSDDUWLVWíGLHVHQGHXWHQGHQ=XVDW]KDW/HVVLQJPLW%HGDFKWJHwählt, wie zu zeigen sein wird. Doch damit ist der gesamte Argumentationsgang etwas verkürzt dargestellt worden. Unter den vorausgehenden Überlegungen ist, wie eben angedeutet, der Begriff des ¾Augenblicks½ hervorzuheben, den der bildende Künstler nicht 24 25
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Fridrich (Anm. 16), S. 154. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Studienausgabe. Hg. von Friedrich Vollhardt. Stuttgart 2012, S. í'LHIROJHQGHQ6Hitenverweise im Text beziehen sich auf diese Ausgabe. Vgl. Fridrich (Anm. 16), S. 153.
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verfehlen darf, will er die Einbildungskraft des Betrachters in Bewegung setzen, um ihr ± wie das Aias-Beispiel zeigt ± ein »freyes Spiel« zu ermöglichen. Will er diesen »fruchtbar[en]« Augenblick treffen, darf der Künstler gerade nicht den Höhepunkt des zu schildernden Vorgangs wählen: »In dem ganzen Verfolge eines Affects ist aber kein Augenblick der diesen Vortheil weniger hat, als die höchste Staffel desselben.« Wird unserem »Auge das Äusserste« gezeigt, heißt das, »der Phantasie die Flügel binden«; aus diesem Grunde darf die marmorne Hauptfigur der Laokoon-Gruppe nicht, wie im Text Vergils (Aeneis II 222± 224), vor Schmerzen schreiend dargestellt werden. Denn nur, wenn der Affekt zurückgenommen ist, kann dieser imaginativ wirkungsvoll ergänzt werden: »Wenn Laokoon also seufzet, so kann ihn die Einbildungskraft schreyen hören; wenn er aber schreyet, so kann sie von dieser Vorstellung weder eine Stuffe höher, noch eine Stuffe tiefer steigen, ohne ihn in einem leidlichern, folglich uninteressantern Zustande zu erblicken.« (26) Damit ist der Punkt erreicht, an dem der Dissens zwischen Winckelmann und Lessing deutlich erkennbar wird und, zumindest aus der Sicht Lessings, auch zu entscheiden ist, ob die LaokoonDeutung Winckelmanns auf einem Mißverständnis beruht. Keine Stelle in der deutschen Kunstliteratur hat eine größere Beachtung gefunden als die Formel von der ¾edlen Einfalt und stillen Größe½, mit der Winckelmann die Meisterstücke der griechischen Bildhauerkunst umschreibt. Dabei handelt es sich bei dieser Formulierung um einen Gemeinplatz der europäischen, vor allem der französischen Kunsttheorie der Zeit um 1700, wie Élisabeth Décultot nachgewiesen hat. Winckelmann übersetzt jedoch nicht einfach aus seinen Quellen, sondern gibt dem deutschen Begriff eine veränderte Bedeutung: grandeur sereine durch ¾stille Größe½ wiederzugeben, verleiht dem Ausdruck eine neue Dichte. Gespielt wird mit der Zweideutigkeit von Stille, die nicht nur ± wie in der französischen Wendung ± ¾ruhig½ oder ¾ausgeglichen½ meint, sondern zugleich andeutet, daß hier ¾stumm½ geschwiegen wird; auf dieser erweiterten Bedeutung gründet sich Winckelmanns Auslegung der Laokoon-Statue im Sinne der stoischen Ethik.27 Daß Lessing seine Abhandlung mit der berühmten Formel und einem langen Zitat aus der Laokoon-Beschreibung Winckelmanns eröffnet, hat Signalcharakter ± offenbar soll auf das pathetische Geschmacksideal gezielt werden. 28 Den Beobachtungen Winckelmanns zu der Differenz zwischen dem Text der Aeneis und der Skulptur stimmt er gleichwohl zu. In der Tat, Laokoon seufzt: 27
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Vgl. Élisabeth Décultot: Theorie und Praxis der Nachahmung. In: DVS 76 (2002), S. 27± 49, bes. S. ª,QGHPHUGLH%HJULIIHYRQ¾FDOPH½RGHU¾VpUpQLWp½GXUFK¾6WLOOH½EHUVHW]W vollzieht Winckelmann also eine Sinnerweiterung, die für die deutsche Theorie des ErhaEHQHQEHVRQGHUVHUJLHELJZHUGHQVROOWH©í9JODXFK%DUEDUD1H\PH\U/DRNRRQDOV3Uototyp stoischer Schmerzbewältigung? Winckelmanns Deutung im Kontext ästhetischer Kontroversen. In: Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike zur Moderne. Hg. von ders., Jochen Schmidt und Bernhard Zimmermann. 2 Bde. Berlin, New York 2008, hier Bd. 1, S. 343±364. Vgl. Friedhelm Solms: Disciplina aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder. Stuttgart 1990, S. 166.
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»Nur in dem Grunde, welchen Herr Winkelmann dieser Weisheit giebt, in der Allgemeinheit der Regel, die er aus diesem Grunde herleitet, wage ich es, anderer Meynung zu seyn.« (11) Das klingt, zu Beginn der Auseinandersetzung, noch zurückhaltend, ja defensiv. Sollte Lessing allein die formalen Gründe und Prinzipien im Blick haben, durch die sich die Künste unterscheiden? Hängt die Darstellung des Schmerzes ausschließlich von der Materialität und Eigengesetzlichkeit des Mediums ab? Die neuere Forschung hat wiederholt nach diesen semiotischen Aspekten der Lessingschen Theorie gefragt und seine Gegenüberstellung von Darstellungsmedien und -modi eingehend untersucht. Unter den drei Ebenen seines Werkes ± der nachahmungsästhetischen, der wirkungsästhetischen und der medienästhetischen29 ± ist der zuletztgenannten und damit Lessings Vorschlag zur Grenzbestimmung von Dichtung und bildender Kunst die größte Aufmerksamkeit geschenkt worden. Seine These lautet, wie bekannt, daß Poesie nur Handlungen zum Gegenstand haben, also nicht deskriptiv verfahren solle. Abgelehnt wird damit die beschreibende Dichtung und die ut pictura poesis-Doktrin seiner Zeit; und behauptet wird zugleich die Überlegenheit der Poesie. So wichtig diese Ergebnisse im einzelnen sind, scheinen sie doch einen Aspekt der Lessingschen Argumentation zu vernachlässigen, der auch den Laokoon in einen weiteren Kontext stellt; gemeint ist die Ethik, worunter nicht nur Fragen der Wirkungsästhetik im engeren Sinn zu fassen sind: Der Meister [sc. der Bildhauer der Laokoon-Gruppe] arbeitete auf die höchste Schönheit, unter den angenommenen Umständen des körperlichen Schmerzes. Dieser, in aller seiner entstellenden Heftigkeit, war mit jener nicht zu verbinden. Er mußte ihn also herab setzen; er mußte Schreyen in Seufzen mildern; nicht weil das Schreyen eine unedle Seele verräth, sondern weil es das Gesicht auf eine ekelhafte Weise verstellet. Denn man reisse dem Laokoon in Gedanken nur den Mund auf, und urtheile. Man lasse ihn schreyen, und sehe. Es war eine Bildung, die Mitleid einflößte, weil sie Schönheit und Schmerz zugleich zeigte; nun ist es eine häßliche, eine abscheuliche Bildung geworden, von der man gern sein Gesicht verwendet, weil der Anblick des Schmerzes Unlust erregt, ohne daß die Schönheit des leidenden Gegenstandes diese Unlust in das süsse Gefühl des Mitleids verwandeln kann. (23)
Und an anderer Stelle: Alles Stoische ist untheatralisch; und unser Mitleiden ist allezeit dem Leiden gleichmäßig, welches der interessierende Gegenstand äussert. Sieht man ihn sein Elend mit grosser Seele ertragen, so wird diese grosse Seele zwar unsere Bewunderung erwecken, aber die Bewunderung ist ein kalter Affekt, dessen unthätiges Staunen jede andere wärmere Leidenschaft, so wie jede andere deutliche Vorstellung, ausschliesset. (15)
Deutlicher kann der Widerspruch gegen die Feier der ¾edlen Einfalt und stillen Größe½ nicht formuliert werden. Das in dem Vorwurf des »kalte[n] Affekt[s]« enthaltene Urteil trifft nicht das Marmorbild, sondern das Mißverständnis, das 29
Dazu eingehender Luca Giuliani: Laokoon in der Höhle des Polyphem. Zur einfachen Form des Erzählens in Bild und Text. In: Poetica 28 (1996), S. 1±47, bes. S. 16.
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durch die falschen Interpretamente des modernen Klassizismus erzeugt wird. In der Wirkungsästhetik, genauer: in der auf das Mitleid gegründeten Ethik hat Lessing nun das Argument gefunden, das ihm im Dezember 1756 noch nicht zur Verfügung stand, als Mendelssohn ihn auf die gerade publizierten Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke Winckelmanns aufmerksam machte. Daher wirken die zentralen Passagen des Laokoon wie eine verspätete Antwort30 auf das in der brieflichen Diskussion über das Trauerspiel von Mendelssohn formulierte Plädoyer für den bewunderungswürdigen Helden.
III Ein solcher Held ist auch der Athener Aias. Wie der Mythos berichtet, hat dieser Kämpfer vor Troia den Leichnam Achills geborgen, während Odysseus die Troianer zurückhielt. Zwischen den beiden kommt es zu einem Streit um die Waffen Achills, in welchem Aias unterliegt, weshalb er versucht, die griechischen Heerführer zu töten. In seinem Wahnsinn wütet er jedoch nur unter einer Viehherde; der in seiner Ehre verletzte Held begeht daraufhin Selbstmord.31 Mit der von Sophokles dramatisierten Geschichte aus der Odyssee war Lessing seit der Schulzeit vertraut. Sein Griechisch- und Lateinlehrer Johann Gottfried Höre hat 1746 eine Schulausgabe des Stücks publiziert (Sophoclis Aiax cum Scholiis tam antiquis quam novis et translatione soluta metris ac revincta, Wittenberg), in der die Lehre der Tragödie auf eine Warnung vor Respektlosigkeit und Selbstüberschätzung reduziert wird. 32 Der junge Lessing hat auf diesen Unterricht ablehnend reagiert, was zu Konflikten führte: »Dem guten H. Conrektor [sc. Höre] hat es gefallen«, schreibt er rückblickend an den Vater, »VHLQHQ *UROO JHJHQ PLFK >«@ ]X YHUUDWHQ«. Er habe zwar einerseits »alle Hochachtung« für diesen Lehrer, andererseits aber keine Reue für den eigenen Ungehorsam: »Ich weiß wohl, daß es seine geringste Sorge ist, aus seinen Untergebnen vernünftige Leute zu machen, wenn er nur wackre Fürstenschüler aus
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So die treffende Formulierung Albert von Schirndings im Kommentar zu seiner LaokoonEdition: Gotthold Ephraim Lessing. Werke. Bd. 6: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften. München 1974, S. 864. Ob die von den Tragikern beschriebene Scham des Helden »ein Potential zur Selbsterkenntnis« enthält bzw. »seine Identität transformiert«, wie in der neueren Forschung zu Sophokles behauptet worden ist, wird zu diskutieren sein ± auch im Blick auf Lessing, der hier andere Akzente setzt; vgl. Jan Stenger: Ich schäme mich, also bin ich. Scham und Selbstbewußtsein in der griechischen Literatur. In: Vom Selbst-Verständnis in Antike und Neuzeit. Hg. von Alexander Arweiler und Melanie Möller. Berlin, New York 2008 (Transformationen der Antike 8), S. 217±238, bes. S. 235f. Vgl. Uta Korzeniewski: »Sophokles! Die Alten! Philoktet!« Lessing und die antiken Dramatiker. Konstanz 2003 (Xenia 46), S. 95.
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ihnen machen kann, das ist, Leute, die ihren Lehrern blindlings glauben, ununtersucht ob sie nicht Pedanten sind.«33 In St. Afra hat Lessing mit der Aias-Edition seines Lehrers einen Dramenhelden kennengelernt, der im Repertoire des protestantischen Schultheaters außerordentlich beliebt war, nicht zuletzt aus sprachdidaktischen Gründen. Die lateinische Versübersetzung von Thomas Naogeorg, die erstmals 1553 in Straßburg erschienen ist, hat Lessing noch bei seinen späteren Sophokles-Studien benutzt. Auch Naogeorg deutet den tragischen Konflikt und die Tat des Helden als abschreckendes Beispiel, aus dem die Mahnung zur Affektbeherrschung folgt, eine neostoizistische Maxime; das politisch umsichtige Handeln des Odysseus wird dagegen als vorbildlich interpretiert. 34 Gegen eine solche moralSlGDJRJLVFKH,QGLHQVWQDKPHGHUDQWLNHQ/LWHUDWXUíZLHVLHYRQGHP*Ul]LVWHQ Melanchthon im protestantischen Schulwesen verankert worden ist35 íKDWVLFK Lessing gewandt und Vorstellungen von einer poetischen Gerechtigkeit, die der Interpret oft nur mit Mühe in »eine ordentliche Schuld-Sühne-Relation«36 hineinliest, zu korrigieren versucht. In seinem Nachlaß fand sich der Entwurf einer Übersetzung der sophokleischen Aias-Tragödie aus der Zeit um 1760, die in mehrfacher Hinsicht für die hier verfolgte Spur von Interesse ist. Von den eben erwähnten lateinischen Übertragungen in Prosa und Versen, die Lessing benutzt hat, weicht seine Version an bestimmten Stellen ab; diese »Änderungen gehören teils zum Grundrepertoire eines Fürstenschülers, teils zu Lessings typischer Technik, einen Text
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Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985±LP)ROJHQGHQ]LWLHUWDOV)$IU¾)UDQNIXUWHU$XVJDEH½ mit Band- und Seitenzahl), hier Bd. 11/1, S. 34 (Brief an Johann Gottfried Lessing, 8. FebUXDU í'HU.RQUHNWRUJHK|UWHLQGHVDQGHUVDOVHVGHU%ULHI/HVVLQJVYHUPXWHQOlW HKHU]XGHQ¾5HIRUPHUQ½GHUKXPDQLVWLVFKHQ%LOGXQJVHLQULFKWXQJ6RYHUIDWH+|re gegen den Widerstand der Schulinspektoren eine deutschsprachige Grammatik des Lateinischen und vertrat in seinen historischen Programmschriften eine pro-habsburgische Sicht der Geschichte und damit der auf die Gegenwart bezogenen Politik; vgl. Detlef Döring: Die Fürstenschule in Meißen zur Zeit des jungen Lessing. In: Neues zur Lessing-Forschung. Hg. von Eva J. Engel und Claus Ritterhoff. Tübingen 1998, S. 1±29, bes. S. 14 u. 22. Vgl. Anastasia Daskarolis: Die Wiedergeburt des Sophokles aus dem Geist des Humanismus. Studien zur Sophokles-Rezeption in Deutschland vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2000 (Frühe Neuzeit 55), S. 277f. Vgl. Bernd Roling: Exemplarische Erkenntnis: Erziehung durch Literatur im Werk Philipp Melanchthons. In: Das Theater des Mittelalters und der Frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation. Hg. von Christel Meier u. a. Münster 2004, S. 289±365 (mit einem Abschnitt zur melanchthonschen Sophokles-Aneignung S. 353ff.). í=X/HVVLQJV$XVHLQDQGHUVHW]XQJPLWGHPDQWLNHQ'UDPDXQGGHVVHQ3RHWLNYJO:LOIULHG Barner: Lessing und die griechische Tragödie. In: Tragödie. Idee und Transformation. Hg. von Hellmut Flashar. Stuttgart, Leipzig 1997 (Colloquium Rauricum 5), S. 161±198. Karl Eibl: Poetische Gerechtigkeit als Sinngenerator. In: Poetische Gerechtigkeit. Hg. von Sebastian Donat u. a. Düsseldorf 2012, S. 215±240, hier S. 218 (im Blick auf die dramatische Uneindeutigkeit, wie sie Lessing gepflegt und seinen Interpreten als Problem hinterlassen hat).
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bühnengerecht zu machen«.37 Lessing schenkt den intendierten Opfern der Tat mehr Beachtung als dem Helden, verstärkt also das Moment des Mitleidens. Wie im einzelnen gezeigt werden kann, unterdrückt Lessing das »kriegerisch[e] Epitheton des Aias und hält auch das Bild der Jagd nicht durch, das bei Sophokles den ganzen [ersten] Abschnitt durchzieht«.38 Aus Aias wird ± ähnlich wie bei der parallel konzipierten Figur des Philotas ± ein versagender Held, dessen Handeln wie dessen Untergang auf einem mehr oder weniger vermeidbaren, jedenfalls tragischen Irrtum beruht. Lessing hat sich bei seiner Übersetzung an der Stelle im Prolog versucht, wo Athene den wahnsinnigen Kriegshelden zu sich rufen wird, um Odysseus die Macht der Götter zu demonstrieren. Die Handlung setzt also in der Mitte der mythischen Erzählung ein, genau in dem Augenblick (notabene), in dem Aias aus dem Wahnsinn erwacht und den Entschluß zum Selbstmord fassen wird. Es handelt sich um jenen Moment, den der antike Bildhauer des Torso-Fragments vermutlich gestalten wollte: »Odysseus und seine Schutzgöttin Athene sind auf der Bühne. Odysseus ist bestürzt über die Tötung der Rinderherde, folgt der %OXWVSXU ELV ]XU %ORFNKWWH GHV $LDV >«@ ,P *HVSUlFK ]ZLVFKHQ$WKHQHXQG Odysseus wird die Vorgeschichte exponiert. Athene berichtet Odysseus, daß sie Aias zum Wahnsinn getrieben hat.«39 Mit dem Wahnsinn wird gleich zu Beginn ein anti-heroisches Element in die Handlung eingeführt und der hilflose Aias durch hinterlistige Fragen derart gedemütigt, daß Odysseus die Göttin bittet, »es mit ihrer geradezu sadistischen Schadenfreude nicht zu weit zu treiben«.40 Bereits das antike Publikum dürfte über diese dramatische Versuchsanordnung irritiert gewesen sein. Lessing übersetzt wie folgt: MINERVA. ULYSSES. MINERVA. ULYSSES. MINERVA. ULYSSES. MINERVA. ULYSSES. MINERVA. ULYSSES. MINERVA. ULYSSES. MINERVA.
37 38 39 40
Er [sc. Aias] ist der Thäter! Er ist es! Und was hat ihn zu so etwas Widersinnigem vermögen können? Der wütende Zorn über die ihm abgesprochenen Waffen des Achilles. $EHUGLH+HHUGHíZDUXPILHOHUEHUGLHKHU" Er glaubte seine Hände mit eurem Blut zu färben. Und also galt es den Griechen? Sie würden es auch empfunden haben, wenn ich nicht gewesen wäre! Welche Verwegenheit! welche Tollkühnheit! Es war Nacht; er war allein, und ging als ein Meuchelmörder auf euch los. Wie weit, wie nahe, kam er denn dem Ziele? Schon nahte er sich den Zelten beider Feldherren. Und was hielt da seine rasende Faust? ,FKí,FKVW|UWHLKPGLHVHJUDXVDPH)UHXGH0LWWlXVFKHQGHQ%LOGHUQ füllte ich sein Auge, und wandte ihn gegen die vermischten Heerden, gegen die Hüter des sämtlichen Beuteviehs. Welch ein Metzeln! Alles hieb er um sich in Stücke. Bald glaubte er, beide Atriden mit eigner Hand zu morden; bald
Korzeniewski (Anm. 32), S. 224 (Hervorhebung nicht berücksichtigt). Ebd., S. 226. Hellmut Flashar: Sophokles. Dichter im demokratischen Athen. 2. Auflage. München 2010, S. 47. Ebd., S. 49.
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gegen einen andern Heerführer zu wüten. Denn ich reizte den Wahnwitzigen, und ließ die grausamste der Erynnen gegen den Tobenden los.41
Das Fragment endet abrupt mit diesem Auftritt der Erinnyen. Das unmittelbar im Anschluß geschilderte Handeln der Göttin, die das Opfer in ihre Netze treibt, wird ausgelassen, das »harte Bild der Menschenjagd«42 also deutlich abgeschwächt. Die antike Tragödie wird der Dramensprache des 18. Jahrhunderts angepaßt und auf die Maßstäbe der Mitleidsdramaturgie bezogen. Dies geschieht jedoch nicht gewaltsam, da Sophokles selbst zu verstehen gibt, daß »das Mitleid mit dem Schwachen und Hilflosen seinen Platz in der Politik haben«43 muß. Zu vermuten ist, daß Lessing eine Bestätigung für seine wirkungsästhetischen Annahmen dann in der folgenden, von ihm nicht mehr übersetzten Passage der Tragödie gefunden hat, in der die Göttin den Rasenden um Gnade für seinen Feind bittet, womit sie die überlegene Stärke des Odysseus um so deutlicher auszuspielen versucht. Beide verweigern sich der Zumutung jedoch auf »spiegelbildliche Weise«44 ± Aias zeigt kein Erbarmen, sondern nur unversöhnlichen Haß, während Odysseus der Göttin im Verweis auf die Verdienste des Aias antwortet, der immer ein Muster für die Tugend der Sophrosyne, der Selbstbeherrschung, gewesen sei: Ich wüßte keinen [Besonneneren]. Und mich faßt Wehmut um ihn, der immer elend, sei er auch mein Todesfeind, Dieweil ihn grausam blindes Unheilslos bestrickt, Woran ich mehr nicht schaue sein als mein Geschick; Denn alle, seh ich, sind wir ja nichts andres denn Scheinbilder, die wir leben, mit des Schattens Kraft.45
Was Lessing an dieser Konstellation interessiert, liegt auf der Hand: Das situativ geäußerte Mitleid des Siegers verbindet sich ± stellvertretend für den Zuschauer ± mit der Furcht über das eigene künftige Schicksal, was auf die Aristoteles-Auslegung in der Hamburgischen Dramaturgie vorausweist.46
41 42 43 44
45 46
Gotthold Ephraim Lessing: Leben des Sophokles. Hg. von Johann Joachim Eschenburg. Berlin 1790, S. 171f. Korzeniewski (Anm. 32), S. 228. Markus Altmeyer: Unzeitgemässes Denken bei Sophokles. Stuttgart 2001 (Hermes. Einzelschriften 85), S. 235. Gisbert Ter-Nedden: Philotas und Aias, oder Der Kriegsheld im Gefangenendilemma. Lessings Sophokles-Modernisierung und ihre Lektüre durch Gleim, Bodmer und die Germanistik. In: »Krieg ist mein Lied«. Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Medien. Hg. von Wolfgang Adam und Holger Dainat. Göttingen 2007, S. 317±378, hier S. 345. Sophokles. Die Tragödien. Übertragung von K. W. F. Solger [Berlin 1808]. Hg. von Wolfgang Schadewaldt. München 1977, S. 12. Vgl. Wolf-Hartmut Friedrich: Sophokles, Aristoteles und Lessing. In: Euphorion 57 (1963), S. 4±27, bes. S. 6f.
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Doch was hat Lessing an der Adaptation des antiken Dramas gereizt, was hat er im einzelnen von Sophokles übernommen? Diese Frage ist noch immer unzureichend beantwortet, trotz der Untersuchungen von Gisbert Ter-Nedden zum Philotas, die zugleich einen Beitrag zur Geschichte der Lessingforschung liefern, welche sich hier als besonders defizitär erweist: »Zwar waren die Philologen des 19. Jahrhunderts mit den attischen Tragikern hinreichend vertraut, um Lessings Aias-Anspielungen zu realisieren, aber sie konnten nichts damit anfangen. Ein wesentlicher Grund liegt in der Übermacht Schillers und der Heroisierung und Ästhetisierung der Gewalt im Rahmen der Philosophie des Tragischen von Hegel bis Nietzsche, die wenig mit der attischen Tragödie, aber viel mit dem Bellizismus des 19. Jahrhunderts zu tun hat.« Die nachgewiesenen Aias-Zitate sind seither meist »nur als philologischer Datenmüll registriert«47 worden, den es noch aufzubereiten gilt. 48 *HOHJHQWOLFKVROOWHQZLUíHLQHU0Dhnung des AltertumsZLVVHQVFKDIWOHUV $UQDOGR 0RPLJOLDQR IROJHQG í »in die Vergangenheit der Disziplin« aufbrechen, »um etwas Neues zu lernen oder an etwas, das wir vergessen haben, erinnert zu werden, was fast auf das gleiche hinausläuft«.49
IV Die in den Laokoon eingeführte Aias-Stelle hat Lessing durch einen umfangreichen Sophokles-Exkurs ergänzt, der das gesamte vierte Kapitel des ersten Teils umfaßt. Dabei handelte es sich um Material, das für eine Studie vorgesehen war, die den fehlenden Sophokles-Artikel im Dictionnaire historique et critique ersetzen sollte: »Bayle, der in seinem kritischen Wörterbuche sowohl dem Aeschylus, als dem Euripides einen besondern Artikel gewidmet hat, übergehet den Sophokles mit Stillschweigen. Verdiente Sophokles weniger gekannt zu werden? War weniger Merkwürdiges von ihm zu sagen, als von jenen seinen Mitbewerbern um den tragischen Thron? Gewiß nicht.« Mit diesen rhetorischen Fragen beginnt Lessing seine Fragment gebliebene Abhandlung, für die er »viel Unnützes« habe lesen müssen, aber »keine Mühe ist vergebens, die einem andern Mühe ersparen kann«.50 Mit nicht geringen Erwartungen (»ich werde Dank verdienen«) kündigt Lessing eine gelehrte Untersuchung an, für die es nur wenige Vorbilder gab.51 Doch sein Interesse gilt nicht nur dem philologischen 47 48 49 50 51
Ter-Nedden (Anm. 44), S. 343 Anm. 41. Unter Verweis auf die neuere Forschung zur attischen Tragödie, etwa Altmeyer (Anm. 43), S. 250: »Wie im Aias erscheint auch im Philoktet die Welt der Politik als unheroisch.« Arnaldo Momigliano: Wege in die Alte Welt. Übers. von Horst Günther. Frankfurt am Main 1995, S. 161. Lessing: Leben des Sophokles (Anm. 41), S. 3 u. 5 (Hervorhebungen nicht berücksichtigt). 9JO,JQiF.RQW/HVVLQJHWO¶antiquité. eWXGHVXUO¶KHOOpQLVPHHWODFULWLTXHGRJPDWLTXHHQ allemagne au XVIIIe siècle. Paris 1894, S. 109f.: »Tel quel, ce fragment est la meilleure biogUDSKLH GH 6RSKRFOH TXH O¶pUXGLWLRQ DOOHPDQGH DLW SURGXLW DX ;9,,,e VLqFOH >«@ ,O
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Detail, sondern auch aktuellen dramaturgischen Fragen, wie er sie in den von ihm gleichzeitig übersetzten Entretiens sur le Fils naturel von Denis Diderot behandelt findet, vorzüglich am Beispiel des Philoktet: »cette tragédie de Sophocle trouva un grand admirateur dans Diderot, qui oppose le naturalisme de la tragédie grecque au caractère conventionnel des pièces françaises.«52 Lessings deutsche Version erschien zur Ostermesse 1760. Das von Diderot gegen die klassizistische Grunddoktrin der ¾bienséance½ verteidigte Theater des Sophokles wird dabei zum Prüfstein der modernen Mitleidsästhetik: Ich will unsern Franzosen unablässig zurufen: die Wahrheit! die Natur! die Alten! Sophokles! Philoktet! Der Dichter hat ihn vor dem Eingange seiner Höhle liegend und mit zerrissenen Lumpen bedeckt auf der Bühne gezeigt. Er läßt ihn sich herumwälzen. Er läßt ihn einen Anfall seiner Schmerzen bekommen. Er läßt ihn schreien. Er läßt ihn unartikulierte Töne von sich geben. Die Verzierung war wild; keine von den artigen Ausstaffierungen in dem ganzen Stücke. Wahre Kleider; wahre Reden; eine einfache und natürliche Verwicklung. Unser Geschmack müßte sehr verderbt sein, wenn uns dieser Anblick nicht weit mehr rührte, als der Anblick einer reichgekleideten, ausgeschmückten 3HUVRQí53
In Diderots Entretiens hat Lessing Überlegungen zur Affektdarstellung (auch Philoktet schreit) und ihrer Wirkung gefunden, zu charakterlichen Dispositionen, Menschlichkeit und Mitleid, die seine im Laokoon entwickelten kunsttheoretischen Fragestellungen illustrieren und vertiefen konnten. Erkennbar werden diese Bezüge in einer Passage, die zeigt, wie Lessing bestimmte Handlungszüge der sophokleischen Tragödie zur Erklärung seiner wirkungsästhetischen Grundannahmen einsetzt: Nur wenn beyde Fälle zusammen kommen, wenn der Einsame auch seines Körpers nicht mächtig ist, wenn dem Kranken eben so wenig jemand anders hilft, als er sich selbst helffen kann, und seine Klagen in der öden Luft verfliegen: alsdann sehen wir alles Elend, was die menschliche Natur treffen kann, über den Unglücklichen zusammen schlagen, und jeder flüchtige Gedanke, mit dem wir uns an seiner Stelle denken, erreget Schaudern und Entsetzen. Wir erblicken nichts als die Verzweiflung in ihrer schrecklichsten Gestalt vor uns, und kein Mitleid ist stärker, keines zerschmelzet mehr die ganze Seele, als das, welches sich mit Vorstellungen der Verzweiflung mischet. Von dieser Art ist das Mitleid, ZHOFKHVZLUIUGHQ3KLORNWHWHPSILQGHQ>«@
(UQHXWZLUGKLHUíDQDORJ]XGHUDOV ¾verzweiflungsvoll½ beschriebenen Scham des Aias (s. o. S. 181 í GHU PLW GHU 6QGHQWKHRORJLH YHUEXQGHQH %HJULII GHU ¾desperatio½ eingeführt. Lessing betont die Verzweiflung des Individuums, die ein anderes als nur das sympathetische Mitleid weckt und nach einer Erklärung verlangt, die nicht allein aus der aktuellen Rousseau-Rezeption oder dem moral
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discute, en vrai philologue, les sources anciennes; il démontre les erreurs des commentateurs et égaye de temps en temps la discussion par une de ces saillies qui nous font oublier la sécheresse du sujet. &¶HVWXQWUDYDLOWUqVWRXIIX>«@« Ebd., S. 116. Das Theater des Herrn Diderot. Aus dem Französischen übers. von Gotthold Ephraim Lessing. Hg. von Klaus-Detlef Müller. Stuttgart 1986, S. 125f.
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sense-Diskurs der Zeit zu gewinnen ist; an der zitierten Stelle wird die affekttheoretische »Speculation« von Adam Smith zwar erwähnt, aber abgelehnt, da sich die Gefühlsäußerungen der antiken Dramenfigur durch sie nicht angemessen erklären lassen. Um das theaterpolitische Anliegen seiner Interpretation zu verdeutlichen, stellt Lessing der griechischen Tragödie (und damit implizit der Laokoon-Deutung Winckelmanns) die Philosophie der römischen Stoa und das Theater Senecas gegenüber: »Ich bekenne, daß ich an der Philosophie des Cicero überhaupt wenig Geschmack finde; am allerwenigsten aber an der, die er in dem zweyten Buche seiner Tusculanischen Fragen über die Erduldung des körperlichen Schmerzes auskramet. Man sollte glauben, er wolle einen Gladiator abrichten, so sehr eifert er wider den äusserlichen Ausdruck des Schmerzes.« Nach dieser polemischen Einstimmung wird die Tauglichkeit Philoktets für die bürgerliche Bühne in dem einprägsamen Halbsatz zusammengefaßt: »ein Theater ist keine Arena«. (39) In seiner Sophokles-Abhandlung hat Lessing die hier am Rande angesprochene Frage nach der künstlerischen Freiheit im Umgang mit den antiken Stoffen und Stücken ohne Umschweife beantwortet: »Ich erzähle die Geschichte nicht völlig so wie sie sich zugetragen haben soll [...]; sondern so, wie ich sie zu brauchen gedächte.«54 Und im Laokoon verlängert er die negative Beispielreihe noch mit dem Hinweis, daß die Stücke Senecas den »frostig grausamen« (39) Gladiatorenspielen Roms viel zu verdanken haben, die jedes Mitgefühl negieren, also die »Natur verkennen« (40) und dadurch »unser Herz kalt« lassen. Die eher beiläufig formulierte Kritik an Seneca sollte nicht überbewertet werden;55 auch ist daran zu erinnern, daß Lessing wenig später ein SpartacusDrama konzipiert hat, bei der Wahl seiner Stoffe also dem »blutigen Amphitheater« (40) selbst nahegekommen ist.56 Entscheidend ist jedoch der so auffallend betonte Kontrast zwischen dem Gladiator, der für die Stoiker ein moralisches Vorbild darstellte, und der Wirkung des tragischen Mitleids, womit Lessing einen Topos aus den Theaterschriften der Kirchenväter aufnimmt. Diesen Texten dürfte er bei seinem Studium der patristischen Autoren in Breslau begegnet sein, also kurz bevor er die Arbeit an der kunsttheoretischen Schrift aufgenommen hat, in die er seine nun anders akzentuierte Mitleidstheorie integrierte. In diese sind offenbar »Bestimmungen der christlichen misericordia und compassio«57 eingegangen, verstärkt durch das Thema der Verzweiflung, das
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Lessing: Leben des Sophokles (Anm. 41), S. 142. Vgl. Wilfried Barner: Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas. München 1973, S. 91. =X GLHVHP ¾DQWLW\UDQQLVFKHQ½ 7UDJ|GLHQHQWZXUI YJO Emilio Bonfatti: Vom Fechter zu Spartacus. Überlegungen zu Lessings »Spartacus«-Fragment. In: Engel/Ritterhof (Anm. 33), S. 59±68, bes. S. 66f. Dirk Westerkamp: Eleos oder misericordia? Lessings Poetik des Mitleids und die patristische Tragödienkritik. In: DVS 83 (2009), S. 521±556, hier S. 553; vgl. auch Ursula Rombach und Peter Seiler: Eleos ± misericordia ± compassio. Transformationen des Mitleids in
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eine ebenso lange theologisch-literarische Vorgeschichte kennt.58 Exemplifiziert wird sie an den griechischen Dramenhelden Aias und Philoktet (»le type de O¶KpURwVPH VRXIIUDQW«59) sowie der Laokoon-Skulptur, ohne daß durch die unYHUKOOWH'DUVWHOOXQJGHUN|USHUOLFKHQ4XDOHQXQGGHUODXWHQ.ODJHVFKUHLHHLQí wie in der Nachfolge Herders behauptet worden ist60 í :LGHUVSUXFK ]X GHU vorausgehenden Konzeption der Mitleidstheorie oder dem in der Hamburgischen Dramaturgie entwickelten Begriff entsteht; hier werden in Stück 74 die verschiedenen Modifikationen des Mitleids diskutiert, wobei Lessing noch einmal auf die Tragödie des Sophokles Bezug nimmt: Was wir bei den Schmerzen des Philoktets fühlen, ist gleichfalls Mitleiden, aber von einer etwas andern Natur; denn die Qual, die dieser Tugendhafte auszustehen hat, ist gegenwärtig und überfällt ihn vor unsern Augen. Wenn aber Oedip sich entsetzt, indem das große Geheimnis sich plötzlich entwickelt; wenn Monime erschrickt, als sie den eifersüchtigen Mithridates sich entfärben sieht; wenn die tugendhafte Desdemona sich fürchtet, da sie ihren sonst zärtlichen Othello so drohend mit ihr reden höret: was empfinden wir da? Immer noch Mitleiden! Aber mitleidiges Entsetzen, mitleidige Furcht, mitleidiges Schrecken. Die Bewegungen sind verschieden, allein das Wesen der Empfindungen ist in allen diesen Fällen einerlei. Denn, da jede Liebe mit der Bereitwilligkeit verbunden ist, uns an die Stelle des Geliebten zu setzen: so müssen wir alle Arten von Leiden mit der geliebten Person teilen, welches man sehr nachdrücklich Mitleiden nennet. Warum sollten also nicht auch Furcht, Schrecken, Zorn, Eifersucht, Rachbegier, und überhaupt alle Arten von unangenehmen Empfindungen, sogar den Neid nicht ausgenommen, aus Mitleiden entstehen können?61
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Text und Bild. In: Pathos, Affekt, Emotion. Transformationen der Antike. Hg. von Martin Harbsmeier und Sebastian Möckel. Frankfurt am Main 2009, S. 250±276, bes. S. 256f. Dazu ausführlich Friedrich Ohly: Desperatio und Praesumptio. Zur theologischen Verzweiflung und Vermessenheit [1978]. In: Ders.: Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung. Hg. von Uwe Ruberg und Dietmar Peil. Stuttgart, Leipzig 1995, S. 176±216. Kont (Anm. 51), S. 116. Zuletzt von Lydia Butt: Mitleid ex machina. Die Disproportion der Affekte in 6RSKRNOHV¶ Philoktet im Spiegel von Lessings Theorie der Tragödienwirkung. In: Gefühllose Aufklärung. Anaisthesis oder die Unempfindlichkeit im Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Katja Battenfeld u. a. Bielefeld 2012, S. 117±140. Die Vf. geht davon aus, daß Lessing das in seinem Sophokles-Exkurs diskutierte »Problem des ausbleibenden Mitleids« (S. 131) nicht habe lösen können, da Leid und Mitleid in einem »disproportionalen Verhältnis« (S. 133) zueinander stünden und eine »Grunddifferenz« (S. 136) erzeugten, die Lessing mit dem Verweis auf die Illusionsbildung beim Zuschauer nicht habe beseitigen können. Dieser Verweis ist, was die Kritik übersieht, auf den Ko- und Kontext der gesamten Abhandlung, nicht allein auf den Exkurs zu beziehen; im übrigen hat Lessing auf diesen Einwand mit der Bemerkung reagiert, daß manches »in der Theorie unwidersprechlich scheinen [würde], wenn es dem Genie nicht gelungen wäre, das Widerspiel durch die That zu erweisen.« (31) Vgl. auch Rüdiger Singer: Das Brüllen des Philoktet. Herders kathartische Poetik der unartikulierten Töne. In: Herder Jahrbuch 8 (2006), S. 61±82. FA 6, S. 555. Die Figuren der antiken Mythologie stehen in »jener langen Kette heroischtragischer Experimente«, mit denen Lessing nach dem Erfolg der Miß Sara Sampson neue Muster der Mitleiderregung erkundete; vgl. hierzu Wilfried Barner: »Vaterland« und
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Daß Lessing die Zentralbegriffe seiner Mitleidspoetik, also Natur, Empfindung oder Geselligkeit, ganz selbstverständlich auf die illusionsauslösende Darstellung des Schmerzes beziehen konnte, hatte sicher auch mit einem Bestseller des 18. Jahrhunderts zu tun, der das Publikum auf eine solche Philoktet-Adaptation vorbereitet hatte: In François de Salignac de la Mothe Fénelons Télémaque wird eine Begegnung zwischen dem Titelhelden und der Figur aus der griechischen Mythologie inszeniert, bei der Philoktet seine Lebensgeschichte erzählt, die Fénelon »im Sinne seines christlichen Bildungsromans abwandelt«.62
V Lessing formuliert seine Winckelmann-Kritik zu einem Zeitpunkt, an dem er sich erneut mit Problemen der theatralischen Wirkung befaßt, praktisch und theoretisch: in den 1760er Jahren entsteht fast gleichzeitig mit dem Laokoon auch die Hamburgische Dramaturgie. Die Beziehungen zwischen diesen Werken sind nicht auf Anhieb erkennbar, gleichwohl aber vorhanden und aufschlußreich, achtet man auf die Fragen der mitleidsbasierten Ethik. Wir kennen Lessings Anleihen bei Francis Hutcheson, dessen System of Moral Philosophy er in der Zeit übersetzt hat, als er den Briefwechsel über das Trauerspiel führte. Die universale Wirkung des Mitleids entspricht jenem moral sense, den Hutcheson aus einem Schöpfungsakt Gottes ableitet. Unsere sinnlichen Vermögen sind für ihn ein Teil der in der Natur erkennbaren Ordnung, sie bestätigen den großen Plan der Dinge, der sich gutheißen läßt im Vertrauen auf die Vorsehung. Wie die Kritik Kants später zeigen sollte, ist Hutcheson mit dieser spekulativen Beweisführung gescheitert, was der Wirkung der schottischen Ethik ± auch auf Kant selbst ± keinen Abbruch tat.63 Nur in Parenthese sei hier bemerkt, daß mit dem Hinweis auf Hutcheson nicht die kontrovers diskutierte Frage nach den Quellen von Lessings Ethik wiederaufgenommen oder gar der Streit zwischen den Rousseau-Anhängern und den Vertretern der moral sense-These entschieden werden soll. Lessing benötigte keine vorgefertigten Theoreme, um diese in ein Tragödienmodell einzufügen, vielmehr hat er sich verschiedene Ideen kreativ angeeignet, diese reorganisiert und auf aktuelle Fragen der Wirkungsästhetik bezogen.64 Wenn Gewichtungen vorgenommen werden sollen, dann ist mit der neueren Forschung auf die Bedeutung der englischen Vorbilder hinzuweisen. Wer den Hutcheson-Spuren bei Lessing noch einmal nachgeht, wird auf den doppelten Wert der Tragödie bei
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»freywilliges Elend«. Über Lessings Alcibiades,Q3RHWLNXQG*HVFKLFKWH9LNWRUäPHJDþ zum 60. Geburtstag. Hg. von Dieter Borchmeyer. Tübingen 1989, S. 22±36, bes. S. 27. Korzeniewski (Anm. 32), S. 507. Vgl. Dieter Henrich: Hutcheson und Kant. In: Kant-Studien 49 (1957/58), S. 49±69. Vgl. hierzu Thomas Martinec: Lessings Theorie der Tragödienwirkung. Humanistische Tradition und aufklärerische Erkenntniskritik. Tübingen 2003 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 116).
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der sittlichen Verbesserung des Individuums aufmerksam: »essa offre al senso morale la possibilità di esercitarsi, ma al tempo stesso dimostra assiomaticamenWH O¶HVLVWHQ]D GL TXHO PRWR RULJLQDULR FKH +XWFKHVRQ GLIHQGH FRQ WXWWH OH forze dalle idee di Hobbes e Mandeville: la benevolenza.«65 In der Hamburgischen Dramaturgie wird es dem Tragödiendichter zur Aufgabe gemacht, dieses subjektive Telos des moralischen Fühlens aufzudecken und zu vermitteln. Um diesen Anspruch zu verwirklichen, sollte der Schauspieler über einen »individualisierenden Gestus« verfügen, der bis »in das Malerische« gehen darf, da jede Moral versinnlicht werden muß, um nicht »ein allgemeiner Satz«, also abstrakt und kalt zu bleiben.66 Um das zu erläutern, bedient sich Lessing der im Laokoon eingeführten Unterscheidung von natürlichen und konventionellen Zeichen. Wie er nach dem Abschluß der Dramaturgie in einem Brief an Friedrich Nicolai in ähnlicher Weise resümieren sollte, ist »die höchste *DWWXQJ GHU 3RHVLH >«@ GLH ZHOFKH GLH ZLOONKUOLFKHQ =HLFKHQ JlQ]OLFK ]X natürlichen Zeichen macht. Das ist aber die dramatische; denn in dieser hören die Worte auf willkührliche Zeichen zu seyn, und werden natürliche Zeichen willkührlicher Dinge«. (271) Den Schauspieler zur Individualisierung zu befähigen, beschreibt nur eine Seite der Theaterarbeit, die mit pragmatischen, auf den Effekt zielenden Regeln zu tun hat. Der Autor ist jedoch zugleich dazu verpflichtet, dem »ewigen unendlichen Zusammenhange aller Dinge« Ausdruck zu verleihen, sein Werk »sollte ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers sein«.67 Mit diesen Theodizee-Stellen hat die Forschung ihre Schwierigkeiten, weshalb sie nicht selten für überflüssig erklärt werden. Die finalistischen Denkfiguren seien »kalkulierte Sorge« und Einbruch von »Angst« in ein »Gedankennetz, das ersonnen ist, um zu zeigen, daß wir diese Legitimation nicht brauchen«.68 Wir brauchen sie vielleicht nicht, aber Lessing? Läßt sich der Aufbau seiner Mitleidsethik ohne diesen Rahmen verstehen? Wie bedeutsam war für Lessing der Gedanke eines ineinandergreifenden Universums? Eine frühe, in vieler Hinsicht aufschlußreiche Antwort findet sich in einer Besprechung aus dem Jahr 1753.69 Lessing stellt hier eine Anthologie christlicher und apologetischer Schriften vor, eine ± wie der Titel ankündigt ± Bibliothek für unstudirte Religionsliebhaber, die anspruchsvoller ist als andere populäre Sammlungen dieser Art. Das nimmt der Rezensent zum Anlaß, über das Lesepublikum und den sich rasch vollziehenden Geschmackswandel nachzu65 66
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Francesca Tucci: Le Passioni allo Specchio. »Mitleid« e sistema degli affetti nel teatro di Lessing. Roma 2005, S. 127. FA 6, S. 203f.; vgl. dazu Daniel Krochmalnik: Zeichen der Kunst, Zeichen der Moral, Zeichen der Religion. Zur Religionsästhetik und -semiotik der Aufklärung. In: ZeichenKunst. Zeichen und Interpretation. Hg. von Werner Stegmaier. Frankfurt am Main 1999, S. 68±111, bes. S. 93f. FA 6, S. 577. -DQ3KLOLSS5HHPWVPD/HVVLQJLQ+DPEXUJíMünchen 2007, S. 70f. Vgl. Bernd Meyer: Lessing als Leibnizinterpret. Ein Beitrag zur Geschichte der Leibnizrezeption im 18. Jahrhundert. Diss. Erlangen-Nürnberg 1967, S. 48.
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denken. Gefragt ist Unterhaltung, nicht ein wissenschaftliches Lehrgebäude, bei dem man seine »Gedanken anstrengen« muß. Auf der Strecke bleibt dabei das wichtigste Erbauungsbuch des Zeitalters, die 1710 erschienenen Essais von Leibniz: »Daher kommt es, daß diese [sc. die Leibnizianer] nur diejenigen zu Lesern bekommen, die sich unterrichten wollen; jene aber alle die, welche zum Zeitvertreibe lesen; so daß allezeit das kritische Wörterbuch hundert Leser, und die Theodicee einen hat.«70 Bemerkenswert ist zweierlei. Zum einen scheint Lessing die abnehmende Wirkung der Leibnizschen Lehre von der besten Welt gespürt zu haben. In der Tat erreicht diese in den 1750er Jahren einen »Endpunkt«; in den beiden folgenden Jahrzehnten verzeichnen die Bibliographien »zum Stichwort Theódicée keinen einzigen Titel«.71 Zum anderen spricht Lessing hier in eigener Sache, wie sein auf den ersten Blick irritierender Vergleich mit dem Dictionnaire Pierre Bayles zeigt. Die so wirkungsvolle deutsche Übersetzung war ein Jahrzehnt zuvor erschienen, zusammen mit einer ebenfalls von Johann Christoph Gottsched bearbeiteten Neuausgabe der Théodicée, aus welcher der Herausgeber Auszüge in das Baylesche Wörterbuch einfügte, in der sicheren Gewißheit, daß die LeibnizWolffsche Philosophie den Skeptizismus widerlegen könne.72 Dieses Gefühl der Überlegenheit ± die bei Gottsched auch eine nationale Färbung hatte ±, teilte Lessing nicht. Er gehörte, wie ausführlich gezeigt worden ist, zu den Bewunderern Bayles. Dabei ist auf Lessings Neigung zur Skepsis hinzuweisen, besonders im Spätwerk sind »seine Anschauungen entschieden provisorisch«73 í GRFK auch nur mit Einschränkungen, wenn er über seine »Gesinnung von der historischen Wahrheit« am Beginn der Duplik (1777/78) schreibt, daß diese »weder aus Scepticismus entstehet, noch auf Scepticismus leitet«.74 In diesen Jahren intensiviert Lessing zugleich sein Leibniz-Studium. Bayle und Leibniz ± wie ist das zu erklären? Bei dieser Frage wäre weit auszuholen und auf eine Reihe von verstreuten Theodizee-Stellen hinzuweisen, besonders auf die Hiob-Deutung in der Szene IV 7 von Nathan dem Weisen.75 Auch deshalb, weil Kant wenig später in seiner Abhandlung Ueber das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (1791) am Beispiel des Hiob-Buches seine Unterscheidung einer »doktrinalen«, das heißt zum Scheitern verurteilten, und einer »authentischen Theodizee« erläuterte, deren Elemente im Text des Alten Testaments 70 71 72
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FA 2, S. 478. Wolfgang Hübener: Sinn und Grenzen des Leibnizischen Optimismus [1978]. In: Ders.: Zum Geist der Prämoderne. Würzburg 1985, S. 133±152, hier S. 138. Vgl. Günter Gawlick: Johann Christoph Gottsched als Vermittler der französischen Aufklärung. In: Zentren der Aufklärung III: Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit. Hg. von Wolfgang Martens. Heidelberg 1990 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 17), S. 179± 204, bes. S. 186f. Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Karl S. Guthke. München 2008, S. 868. FA 8, S. 519f. Vgl. hierzu die Untersuchungen von Ingrid Strohschneider-Kohrs, zuletzt: Lessings HiobDeutungen im Kontext des 18. Jahrhunderts. In: Edith-Stein-Jahrbuch 2002, S. 255±268.
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allegorisch ausgedrückt sind. Es wäre reizvoll, die Kantische Verteidigung dieses moralisch-praktischen Vernunftglaubens76 auf Lessings Hiob-Adaptation und seine ¾authentischen½, das heißt poetischen Versuche in der Theodizee zu beziehen, was ebenfalls unterbleiben muß. Zurück zur Hamburgischen Dramaturgie. Im 79. Stück wird über den »ewigen unendlichen Zusammenhange aller Dinge« weiter ausgeführt: In diesem ist Weisheit und Güte, was uns in den wenigen Gliedern, die der Dichter herausnimmt, blindes Geschick und Grausamkeit scheinet. Aus diesen wenigen Gliedern sollte er ein Ganzes machen, das völlig sich rundet, wo eines aus dem andern sich völlig erkläret, wo keine Schwierigkeit aufstößt, derenwegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plane finden, sondern sie außer ihm, in dem allgemeinen Plane der Dinge, suchen müssen; das Ganze dieses sterblichen Schöpfers sollte ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers sein; sollte uns an den Gedanken gewöhnen, wie sich in ihm alles zum Besten auflöse, werde es auch in jenem geschehen [...].77
Selten ist der Zusammenhang von Tragödie und Theodizee so subtil durchdacht worden. Um das wichtigste Moment noch einmal hervorzuheben: Der Dichter soll gerade nicht den Versuch unternehmen, die Vollkommenheit der göttlichen Schöpfung abzubilden, sondern sich auf die ¾wenigen Glieder½ beschränken, die sich in einem Drama so zusammenfügen lassen, daß diese mit dem umfassenden Ganzen korrespondieren, ohne allegorische Deutungen zu veranlassen. Die »unbegreiflichen Wege der Vorsicht«, heißt es in dem zitierten Stück weiter, dürfen in diesen »kleinen Zirkel« nicht mit eingeflochten werden.78 Dieser soll vielmehr ganz aus sich selbst begreifbar werden. Das tragische Schicksal der handelnden Personen muß sich aus deren moralischer Fehlbarkeit auch dann erklären, wenn der tragische Held ganz ohne Schuld unterzugehen scheint. Nur so gewinnen wir »Einsicht in die conditio humana«79 und stärken so unsere Disposition zum Mitleiden. Ausgeschlossen ist folglich eine nur Grauen erreJHQGHUHLQYHUEUHFKHULVFKHXQGYHUUXFKWH7DWȝȚĮȡȩȢ¾blutbefleckt½), eben das miarón der aristotelischen Poetik80 im Unterschied zu der gewünschten hamartía. Ein allein fremdbestimmtes Unglück würde die Vorstellung von der besten aller Welten in Frage stellen. Theodizee heißt für Lessing wie auch sonst: »mehr Varietät bei noch verläßlicher Ordnung«. Dafür müssen die allzu einfachen Unterscheidungen von Gut und Böse, Glück und Leid, Schuld und Strafe »entkoppelt werden«.81 Lessing hat eben dies in einer Abhandlung versucht, die 76
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Volker Dieringer: Kants Lösung des Theodizeeproblems. Eine Rekonstruktion. StuttgartBad Cannstatt 2009 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung II/22), S. 121ff. FA 6, S. 577f. Ebd., S. 578. Anke-Marie Lohmeier: Tragödie und Theodizee. Neues Altes über Lessings Trauerspielpoetik. In: Resonanzen. Festschrift für Hans Joachim Kreutzer. Hg. von Sabine Doering, Waltraud Maierhofer und Peter Philipp Riedl. Würzburg 2000, S. 83±98, hier S. 90. Vgl. FA 6, S. 577. Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft. Hg. von André Kieserling. Frankfurt am Main 2000, S. 180.
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dem größten Theodizee-Denker des Jahrhunderts gewidmet ist. Ihr Titel lautet: Leibnitz von den ewigen Strafen (1773).
VI Bei seinem Abschied aus Hamburg war Lessing bereits im Begriff, eine neue Position gegenüber dem aufklärerischen Rationalismus einzunehmen. Auf dem Weg dahin hat er in der genannten Schrift Fragen der Ethik behandelt, wobei er sich Leibnizsche Grundsätze wie folgt aneignete: »Genug, daß jede Verzögerung auf dem Wege zur Vollkommenheit in alle Ewigkeit nicht einzubringen ist, und sich also in alle Ewigkeit durch sich selbst bestrafet.«82 Der Übergang zwischen Gut und Böse ist für ihn als »unzertrennte Fortschreitung« im Rahmen des Leibnizschen Systems zu begreifen: »wenn es wahr ist, daß der beste Mensch noch viel Böses hat, und der schlimmste nicht ohne alles Gute ist«, so müssen wir uns Himmel und Hölle als »durch unendliche Stufen« verbunden vorstellen, getrennt durch »eine Kluft von Nichts«.83 Diese Formulierung ist QLFKWOHLFKW]XYHUVWHKHQ'DV:RUWȤȐıȝĮ¾Kluft½) wird zwar an einer prominenten Stelle des Lukas-Evangeliums eingeführt (16, 26) und später mit den Eigenschaften der Hölle in Verbindung gebracht, was jedoch nicht die erhoffte Erläuterung bringt.84 Eine mögliche Erklärung ergibt sich überraschenderweise aus dem mit den Laokoon- und Sophokles-Studien verbundenen Kontext. Denn bei der Parteinahme für Leibniz hat Lessing, wie er zugibt, bisweilen etwas subtil argumentiert, ohne sich dabei ± wie es in einem Brief an den Bruder Karl aus dem Jahr 1773 heißt ± von der »Hauptsache« abbringen zu lassen, »nemlich davon: die Hölle«, welche die Aufklärung abschaffen will, »ist gar nicht, und die, welche wirklich ist, ist ewig«.85 Was in der bildlichen Sprache der Religion den Zusammenhang von Sünde und Verdammung illustrieren, zur Buße auffordern und zur Besserung anleiten sollte, wird als unvermeidlicher Konflikt (»ewig«) dem individuellen Handeln zugerechnet. Auch wenn sich bei Luther 82 83
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FA 7, S. 493. Ebd., S. 496. Vgl. dazu ausführlicher Friedrich Vollhardt: Lessings Lektüre. Anmerkungen zu den Rettungen, zum Faust-Fragment, zu der Schrift über Leibnitz von den ewigen Strafen und zur Erziehung des Menschengeschlechts. In: Euphorion 100/3 (2006), S. 359±393, bes. S. 386f. Wenn etwa Justus Georg Schottel in seiner Grausamen Beschreibung und Vorstellung der Hölle (1676) eine Lokalisierung »nach Anweisung der Schrifft / und mit Zustimmung der Gottseligen alten Väter« versucht und »dafür [hält] / daß zwischen Himmel und Hölle eine grosse Kluft befestiget«; zit. nach Jörg Jochen Berns: Himmelsmaschinen / Höllenmaschinen. Zur Technologie der Ewigkeit. Berlin 2007, S. 77. FA 11/2, S. 567. Zur Radikalität der Umdeutung christlicher Lehrsätze (»Heaven and Hell become reduced to states of mind«) vgl. Henry E. Allison: Lessing and the Enlightenment. His Philosophy of Religion and Its Relation to Eighteenth-Century Thought. Ann Arbor 1966, bes. S. 89 und Lewis White Beck: Early German Philosophy. Kant and His Predecessors. Cambridge (Mass.) 1969, S. 345.
Laokoon, Aias, Philoktet
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bereits die Vorstellung der Hölle als Gewissenserfahrung86 findet, so wird bei Lessing dieser intramentale Ort doch anders gefaßt und die Sündenstrafe als kausal zu erklärende Folge der Verfehlung naturalisiert.87 Vielleicht ist ihm hier neben Leibniz Thomas Browne vorausgegangen, dessen Traktat Religio Medici (1642) von dem Gottsched-Schüler Georg Venzky ins Deutsche übersetzt und während Lessings Studienzeit in Leipzig gedruckt wurde; hier heißt es: »Das menschliche Herz ist der Ort, worin der Teufel wonet. Ich füle zuweilen in mir VHOEVW HLQH +|OOH >«@ (V VLQG VR YLHOH +|OOHQ DOV VLFK $QD[DJRUDV :HOWHQ vorgestellet hat.« Und dann fügt Browne einen Gedanken an, der über die übliche Buß- und Sündentheologie hinausführt: »Wer mus nicht mit der erbärmlichen Absicht solcher Leute, die selbst an sich Hand anlegen und sich umbringen, Mitleiden haben?«88 Das führt noch einmal zurück auf das Äußerste, in das Aias, aber auch Laokoon und Philoktet JHUDWHQ VLQG í GLH 9HU]ZHLIOXQJ ZHOFKH HLQH »Steigerung der Schuld«89 bedingt, aus der aber zugleich Erkenntnis erwachsen kann. Das Schicksal der mythischen Helden läßt nämlich begreifen, wie in dem SchuldStrafe-Konnex die Vergeltung durch eine göttliche oder menschliche Instanz in dem Maße überflüssig wird, als der Schuldige an sich selbst zu leiden gezwungen ist. Hier wird im Individuum eine Dissonanz aufgedeckt, eine Störung der Ordnung, »welche die Realisierung der eigenen Vollkommenheit verhindert«.90 Selbstverfehlung als Selbstbestrafung ± das ist ein vielleicht (noch) nicht lexikonfähiger Begriff, sicher aber eine sowohl literarisch als auch bildnerisch zu gestaltende Vorstellung. In der Un-Tat vergißt der Mensch seine eigentliche Pflicht: »nihil fiunt homines cum peccant«, nichts tun die Menschen, wenn sie sündigen, heißt es scharfsinnig in De Civitate Dei von Augustinus (XII 8) und den ihm folgenden Abhandlungen der europäischen Moralistik. Lessings merkwürdiges Diktum (»Kluft von Nichts«) könnte sich hieraus erklären. Vielleicht am eindringlichsten ist der paradoxe Gedanke in Baltasar Graciáns Kritikon aufgenommen worden. Bei der Betrachtung der Höhle des Nichts, in die sich Ströme von Menschen stürzen und die doch in gähnender Leere zurückbleibt,
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Vgl. Heinz D. Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt am Main 1995, S. 132. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Lessings origenistische Eschatologie. In: Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Hg. von Christoph Bultmann und Friedrich Vollhardt. Berlin, New York 2011 (Frühe Neuzeit 159), S. 138±153, bes. S. 151. [Thomas Browne:] Religion eines Arztes, aus dem Original von neuem übersezt, und nebst dem Kern aller vorigen Vorreden und Anmerkungen, wie auch nebst einigen abermaligen =XVlW]HQ>«@KHUDXVJHJHEHQYRQ*HRUJ9HQ]N\. Prenzlau, Leipzig 1746, S. 143. Ohly (Anm. 58), S. 186. Henry Deku: Selbstbestrafung. Marginalien zu einem sehr alten, aber noch nicht ganz lexikonreifen Begriff. In: Archiv für Begriffsgeschichte 21 (1977), S. 42±58, hier S. 42.
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wird gefragt: »Was wird aber aus all denen?« Die Antwort lautet: »Was sie aus sich gemacht haben.«91
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Baltasar Gracián: Das Kritikon. Aus dem Spanischen übers. von Hartmut Köhler. Zürich 2001, S. 811.
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Abb. 1:
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Torso vom Belvedere, Rom, Vatikanische Museen, Inv.-Nr. 1192. Photo © Musei Vaticani, Archivio Fotografico, Rom, Vatikan.
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Abb. 2:
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Torso und Ergänzung des Torso als sinnender Aias, Gipsabgüsse. Photo © Staatliche Antikensammlungen und Glyptothek München / Renate Kühling.
Jörg Robert Jörg Robert »Rettung des Virgils«. Nachahmungspoetik und Paragone in Lessings Laokoon
»Rettung des Virgils« Nachahmungspoetik und Paragone in Lessings Laokoon »Rettung des Virgils«
1. Idole und Ideale Die Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst (1755) stellen einen Wendepunkt innerhalb der Querelle des Anciens et des Modernes dar, deren Autoren ± wie v. a. Élisabeth Décultot gezeigt hat ± Winckelmann intensiv rezipierte.1 Winckelmanns Haltung zwischen Anciens und Modernes ist dabei von Eklektizismus geprägt. »Es scheint, als habe Winckelmann in den Jahren vor der Niederschrift der Gedancken ständig geschwankt zwischen beiden Positionen, beide genau studierend, keine für sich akzeptierend.«2 Einerseits tritt er schon im Titel seiner Denkschrift als entschiedener Ancien auf, der betont, dass »man das Vollkommene nicht einfach hervorbringen, sondern nur wiedererreichen, mithin auch die Kunst der Antike nur übertreffen könne, wenn man sie nachahme«3. Gegen den moderne Perrault, den er in den Exzerpten aus der Parallèle des anciens et des modernes heftig befehdet, betont er mit La Bruyere den Stand-
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Élisabeth Décultot: Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert. Aus dem Französischen übersetzt von Wolfgang von Wangenheim und René Mathias Hofter. Ruhpolding 2004, bes. S. 55±61; Peter Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 1981. Die wichtigsten Dokumente und weiterführende Kommentare bietet die Sammlung Frühklassizismus. Position und Opposition: Winckelmann, Mengs, Heinse. Hg. von Helmut Pfotenhauer. Frankfurt am Main 1995 (Bibliothek der Kunstliteratur); vgl. ders.: Winckelmann, der deutsche Klassizismus und die europäische Kunstliteratur. In: Connections. Essays in honour of Eda Sagarra on the occasion of her 60th birthday. Hg. von Peter Skrine. Stuttgart 1993 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 281), S. 197±209; ders.: Winckelmanns ¾Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst½: ein Kommentar. In: Il confronto letterario 12 (1995), S. 23±40. Décultot (Anm. 1), S. 56. Hans 5REHUW-DXVVbVWKHWLVFKH1RUPHQXQGJHVFKLFKWOLFKH5HIOH[LRQLQGHU¾4XHUHOOHGHV $QFLHQVHWGHVPRGHUQHV½Einleitung zu: Charles Perrault: Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences. München 1964 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 2), S. 8±64, hier S. 26.
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punkt der Anciens, für welche die Alten den »point de perfection« repräsentieren.4 Die Provokation der Gedancken liegt nun darin, dass die Position des Ancien in den 1750er Jahren mehr als umstritten ist. Sie steht in einer Spannung zur Abwertung und Ablösung des Nachahmungskonzepts bei den Modernes. Schon vier Jahre später wird sie mit Edward Youngs Conjectures on Original Composition (1759) einen ersten, auch in Deutschland viel beachteten Höhepunkt erreichen.5 Youngs Kritik an der imitatio entspringt dem Geist aufklärerischer auctoritas-Kritik, die im Nach-Schreiben nur die hörige, »zaghaft«6 machende Gefolgschaft, also gewissermaßen poetischen Kadavergehorsam, erblickt. Youngs Nachahmungskritik ist ± im Gefolge Francis Bacons7 ± Vorurteilskritik, Kritik am sog. »praeiudicium classicum« oder »praeiudicium antiquitatis«.8 Indem das große Genie über alle Heerstraßen hinweg in frische unbetretene Felder gehet, wadet jener tief im Alterthume, und betritt die heiligen Fußstapfen der großen Vorgänger mit der blinden Ehrerbietung eines Abergläubischen, der die Päbstische Zehe küsset, und zu seinem Troste, völlige Vergebung der Sünden seines Verstandes, durch die mächtige Zauberkraft, zu erhalten hoffet, wenn er die Unfehlbarkeit seines Abgottes berühret.9
Youngs Nachahmungskritik schöpft nicht nur aus dem Reservoir rationalistischer, von Bacon inspirierter Präjudizien- und Idolenlehre.10 Nachahmungskritik ist Religions- und Konfessionskritik aus protestantischem Geist. Blinde Nachahmung (imitatio servilis) ist ästhetischer Ultramontanismus, denn die
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Jauss (Anm. 3), S. 27. Gedanken über die Original=Werke. In einem Schreiben des D. Youngs an den Verfasser des Grandison. Leipzig 1760. Aus dem Englischen von H. E. von Teubern. Heidelberg 1977 (Deutsche Neudrucke). Zu Youngs Bedeutung für die Entwicklung der Geniedebatte in Deutschland. Günter Blamberger: Das Geheimnis des Schöpferischen oder: ingenium est ineffabile. Studien zur Literaturgeschichte der Kreativität zwischen Goethezeit und Moderne. Stuttgart 1991, S. 60±65, hier S. 60f.: »Auf die Frage nach dem Schaffensgrund antwortet Young weniger als Musenenthusiast denn als Aufklärer«. Zum Rahmen noch immer grundlegend Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik (1750±1945). 2 Bde. Bd. 1: Von der Aufklärung zum Idealismus. Darmstadt 1985. Young (Anm. 5), S. 21. Ebd., S. 60. Kapitza (Anm. 1), S. 349±366. Young (Anm. 5), S. 49f. Kapitza (Anm. 1), S. 349±357; vgl. den locus classicus bei Francis Bacon: Neues Organon. 2 Bde. Hg. und mit einer Einleitung von Wolfgang Krohn. 2. Auflage. Hamburg 1999 (zuerst 1990). Bd. 1, S. 118 (§ 56): »Reperiuntur ingenia alia in admirationem antiquitatis, alia in amorem et amplexum Novitatis effusa; pauca vero ejus temperamenti sint ut modum tenere possint, quin aut quae recte posita sunt ab antiquis convellant, aut ea contemnant quae recte afferuntur a Novis.« (»Es finden sich ferner Geister, die in der Bewunderung des Altertums, andere, die in der Liebe und Zuneigung zum Neuen aufgehen; nur wenige in der Tat haben ein Temperament, daß sie maßhalten können, ohne entweder das von den Alten recht Erarbeitete zu bestreiten, noch das von den Neueren richtig Vorgelegte gering zu schätzen.«)
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»wahre Poesie verabscheut gleich der wahren Religion, die Abgötterey«.11 Daraus folgt eine doppelte Verpflichtung für den mündigen Autor: »Die erste ist: Erkenne dich selbst. Die zweyte: Habe für dich selbst Ehrfurcht.«12 Originalität wird zur Gewissensfrage, aber auch zu einem paradoxen Geschehen, das auf höhere Affinitäten und Ähnlichkeiten setzt: »ie weiter ihr von ihnen an Aehnlichkeit entfernt seyd desto näher kommt ihr ihnen an Vortrefflichkeit; dadurch erhebt ihr euch zum Originale; dadurch werdet ihr ein edler Seiten=Verwandter, nicht ein niedriger Abkömmling von ihnen«.13 Die Filiationsmetapher, seit der rinascimentalen Debatte um die imitatio geläufig14, wird ins Soziale hinübergespielt. Die ästhetische bildet sich in einer sozialen Hierarchie und Opposition ab. In der Spannung zu Youngs radikalaufklärerischer Nachahmungskritik wird das »Unzeitgemäße« von Winckelmanns Gedancken über die Nachahmung deutlich: das Nachahmungsverbot wird hier durch ein Nachahmungsgebot ersetzt, das Idol wird wieder zum Ideal. Wo Young Originalität gegen Nachahmung stellt, fordert Winckelmann Originalität aus Nachahmung, etwa in dem ± nur scheinbar paradoxen ± Satz: »Der eintzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich LVWXQQDFKDKPOLFK]XZHUGHQLVWGLH1DFKDKPXQJGHU$OWHQ>«@0DQ muß mit ihnen, wie mit einem Freund, bekannt, geworden seyn, um den Laocoon eben so unnachahmlich als den Homer zu finden.«15 Hier beginnen die 3DUDGR[LHQ GHV :LQFNHOPDQQ¶VFKen Ansatzes. Ziel der Nachahmung ist das Ende von Nachahmung. Der Klassizismus trägt schon in seinem Gründungsdokument das Bewusstsein seines provisorischen und instrumentellen Charakters in sich ± einerseits. Andererseits überrascht, dass die eben noch geforderte imitatio Graecorum schon im nächsten Moment verurteilt wird. Laokoon sei ebenso unnachahmlich wie Homer, daher wird Vergils Homer-imitatio mit harscher Kritik bedacht: »Eine Bildsäule von einer alten Römischen Hand wird sich gegen ein Griechisches Urbild allemahl verhalten, wie Virgils Dido in ihrem Gefolge mit der Diana unter ihren Oreaden verglichen, sich gegen Homers Nausicaa verhält, welche jener nachzuahmen gesuchet hat«.16 Der Widerspruch zwischen Nachahmungsgebot und -verbot scheint sich nur aufzulösen, wenn man den unterschiedlichen Status und die verschiedenen Funktionen bedenkt, die Winckelmann der imitatio zuweist: Nachahmung ist in den Gedancken propädeutisch gerechtfertigt, wo sie als praktisch-poietische 11 12 13 14
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Young (Anm. 5), S. 59. Ebd., S. 47. Ebd., S. 24. Paolo Cortesi: Brief an Angelo Poliziano. In: Prosatori latini del Quattrocento. Hg. von Eugenio Garin. Mailand/Neapel 1952, S. 906: »Similem volo, mi Politiane, non ut simiam hominis, sed ut filium parentis«. Zum Kontext Vf.: Die Ciceronianismus-Debatte. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Hg. von Herbert Jaumann. Berlin/New York 2011, S. 1±54, hier S. 14±17. Johann Joachim Winckelmann: Kleine Schriften ± Vorreden ± Entwürfe. Hg. von Walther Rehm. 2. Auflage. Berlin/New York 2002, S. 30. Ebd.
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Hermeneutik dem analytischen Verständnis und der Anverwandlung der griechischen Kunst durch Übung dient. Sie steht unter didaktischen Vorzeichen, sie dient dem ästhetischen Training in Akademien und als Durchgangsstadium auf dem Weg zu einer schulmäßig generierten »Unnachahmlichkeit«, die am Ende dieses Prozesses stehen muss. Diesen Weg erleichtern die kurfürstlichen Kunstsammlungen mit ihren griechischen Originalen, die ± wie es eingangs heißt ± »den Künstlern zur Nachahmung sind gegeben worden« und in dieser Funktion ein »gedungenes Modell« ersetzen. Eine Kunst aus Nachahmung ± Intertextualität oder Interpikturalität ± liegt Winckelmann dagegen fern. Nachahmung ist abzulehnen, wo sie konstitutives Prinzip und Ziel des Produktionsprozesses ist, wie dies in Vergils Aeneis im Verhältnis zu Homers Epen der Fall ist.17 Überhaupt wird römische Dichtung und Kunst in toto als eine Kunst zweiten Grades abgewertet. Der Gegensatz von Kopie und Original wird national(literarisch) spezifiziert und unterscheidet nun wesenhaft griechische (d. h. originale) von römischer (d. h. kopierender) Kunst. Dieses Verdikt richtet sich nun vor allem gegen den wichtigsten römischen Autor, Vergil. Damit nähern wir uns jenem Passus, mit dem Lessing seinen Laokoon eröffnen wird. Winckelmann betont zunächst als »das allgemeine vorzügliche Kenn]HLFKHQ GHU *ULHFKLVFKHQ 0HLVWHUVWFNH >«@ HLQH HGOH (LQIDOW XQG HLQH VWLOle Grösse«, kommt sodann auf das Beispiel der Laokoon-Gruppe zu sprechen. Laokoon, so heißt es hier, »erhebt kein schreckliches Geschrey, wie Virgil von seinem Laocoon singet« und weiter: »Laocoon leidet, aber er leidet wie des Sophocles Philoctetes«.18 Winckelmann deutet also die Differenz zwischen Vergils Laokoon und der Gruppe als einen Abfall von und ein Verkennen der griechischen Originale ± sowohl in der Literatur als auch in der Kunst. Das Horazische ut pictura poesis-Argument wird dazu verwendet, einen Keil zwischen griechische und römische Kunstübung zu treiben. Dies führt zu einem nur scheinbar paradoxen Befund im Hinblick auf Klassizität und Kanonizität. Nachzuahmen sind nur solche Werke und Texte, die nicht schon selbst nachahmen. Diese Singularisierung des Ursprungstextes führt in der Literatur jedoch zu einer Restriktion des Kanons, die Edward Young vier Jahre später bereits reflektiert. Er sieht, dass die radikale Originalitätsforderung »die meisten von den Lateinischen Classischen Schriftstellern, und alle die Griechen, ausgenommen vielleicht Homer, Pindar und Anakreon« unter die Zahl der »Nachahmer« einreiht und damit disqualifiziert.19 Youngs Lösung des Dilemmas ist verblüffend. Er rettet die Originalität = Kanonizität der lateinischen Autoren, indem er sie zu 17
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Vgl. dazu noch immer die exakten Hinweise von Georg Knauer: Die Aeneis und Homer. Studien zur poetischen Technik Vergils mit Listen der Homerzitate in der Aeneis. Göttingen 1964 (Hypomnemata 7). Winckelmann steht damit am Ende des traditionsreichen Streits um die Priorität Homers oder Vergils in der epischen Dichtung. Im Überblick Gregor Vogt-Spira: Warum Vergil statt Homer? Der frühneuzeitliche Vorzugsstreit zwischen Homer und Vergil im Spannungsfeld von Autorität und Historisierung. In: Poetica 34 (2002), S. 323±344. Winckelmann (Anm. 15), S. 43. Young (Anm. 5), S. 19.
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»zufällige[n] Originale[n]« ernennt. Autorität geht aus der Kontingenz der Überlieferung hervor, die nur die Kopien nicht die Originale und Prätexte selbst erhalten habe. Young erfindet so die merkwürdige Kategorie »erblicher« oder »ererbter« Originalität: Sie nehmen nach ihrer Väter Absterben, als rechtmäßige Erben, Besitz von ihren Gütern der Ehre. Aber die Väter unserer Copisten sind noch immer selbst im Besitze, und sie werden darinnen trotz den Gothen und den Flammen, durch die verewigende Macht der Presse erhalten.20
Die Einlassungen Winckelmanns und Youngs zur Nachahmungsfrage bilden den widerspruchsvollen Ausgangs- und Ansatzpunkt für Lessings Schrift, die hier unter einem neuen Blickwinkel vorgestellt wird. Der Laokoon ist eine Auseinandersetzung mit dem Problem der Nachahmung (imitatio veterum). Er entwirft eine Theorie des Originalen, die am Ende weder das Genie noch die Nachahmung, sondern die Kompromissformel einer inspirierten Nachahmung hervorbringt. Lessing teilt gewiss nicht Youngs emphatischen Aufruf zum poetologischen »Erkenne und ehre dich selbst«. Schon Max Kommerell hat dies betont, wenn er schreibt: dieser Appell, der »auf theoretischem Weg den DichWHUQ GHQ $EJUXQGGHU 6XEMHNWLYLWlW DOV 2UDNHO HU|IIQH >«@«, sei Lessing letztlich »fremd« geblieben.21 Dieser Befund erhärtet sich, blickt man auf den Abschluss der Hamburgischen Dramaturgie (101.±104. Stück, datiert auf den 19. April 1768). Zwei Jahre nach dem Laokoon reagiert Lessing hier allergisch auf die grassierende Genie-Emphase und betont korrigierend Standpunkt und Funktion vernünftiger Kontrolle, d. h. »Critik«: »Ich bin daher immer beschämt oder verdrüßlich geworden, wenn ich zum Nachteil der Critik etwas las oder hörte. Sie soll das Genie ersticken: und ich schmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie sehr nahe kömmt.«22 Der Ausfall richtet sich auch gegen den theoretischen Begründer der Genielehre, gegen Young. Dessen Ausspruch: »Regeln sind wie Krücken, eine nothwendige Hülfe für den Lahmen, aber ein Hinderniß für den Gesunden«23, kehrt Lessing sarkastisch um, wenn er betont: »Ich bin ein Lahmer, den eine Schmähschrift auf die Krücke unmöglich erbauen kann«.24 Lessing betreibt zwei Jahre nach dem Laokoon eine »Rückkehr zur rationalen Kontroll-Instanz der »Kritik«, überhaupt die »Rettung von Normen«.25 Diesen Prozess spiegelt auch der Laokoon wider. Einerseits zeigt sich eine »Tendenz zur Ablösung der mehr innerlichen Dichtung von einem engen 20 21 22
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Young (Anm. 5), S. 19. Max Kommerell: Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie. 5. Auflage. Frankfurt am Main 1984 (zuerst 1940), S. 237. Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985±2003 (im Folgenden zitiert als FA für ¾Frankfurter Ausgabe½ mit Band- und Seitenzahl), hier Bd. 6, S. 680. Young (Anm. 5), S. 29. FA 6, S. 681. Dass dies zugleich eine skeptische Rücknahme Young¶scher wie eigener Positionen in der Geniefrage darstellt, ist von Jochen Schmidt (Anm. 5), S. 93 betont worden.
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Nachahmungsgebot«26. Dies trifft jedoch nur zum Teil zu. Einerseits wird der aristotelische Mimesisbegriff (imitatio naturae) nicht einfach verabschiedet,27 sondern konsequent aufgegriffen, semiotisch reformuliert und in eine »Poetik der Repräsentation« überführt.28 Im Hinblick auf den Paragone der Künste29 ist jedoch weniger der aristotelische als der rhetorische Nachahmungsbegriff (imitatio veterum) zentral. Daraus ergeben sich vier Perspektiven. Der Laokoon ist zu verstehen 1. als Beitrag zur Nachahmungs- bzw. Geniedebatte (die eben auch eine Debatte um ästhetische »Sekundärtugenden« und -prozesse wie die Nachahmung, Übung, Kopie etc. darstellt). In diesem Zusammenhang revidiert Lessing 26
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Jochen Schmidt (Anm. 5), S. 75. Fast wörtlich sprechen Wilfried Barner, Gunter E. Grimm, Helmuth Kiesel und Martin Kramer: Lessing: Epoche ± Werk ± Wirkung. 5. Auflage. München 1987, S. 246 von einer »Tendenz zur Verinnerlichung des Dichtungsverständnisses«. Dies die Auffassung von Schmidt (Anm. 5), S. 77: »Zusammenfassend läßt sich sagen, daß GLH.ULWLNDP3ULQ]LS¾XWSLFWXUDSRHVLV½GHQ%HJULIIGHU1DWXU-Nachahmung selbst erheblich verändert, ja den Begriff der Nachahmung, im strengen Sinn, für den Bereich der Dichtung auflöst.« Diese weit verbreitete Auffassung lässt sich so am Text nicht belegen. So betont Lessing immer wieder, dass »das ganze unermeßliche Reich der Vollkommenheit seiner [des Dichters; Anm. d. Vf.] Nachahmung offen stehet«. FA 5/2, S. 34 (Kap. 4). Noch entschiedener ebd., S. 132 (Kap. 18): »Gleiche Nachsicht verdienet der Dichter. Seine fortschreitende Nachahmung erlaubet ihm eigentlich, auf einmal nur eine einzige Seite, eine einzige Eigenschaft seiner körperlichen Gegenstände zu berühren«. Lessings Laokoon versucht gerade ± dies soll an anderer Stelle gezeigt werden ± die Aristotelischen Voraussetzungen neu, d. h. semiotisch, zu rechtfertigen. Andreas Kablitz: Mimesis versus Repräsentation. Die Aristotelische Poetik in ihrer neuzeitlichen Rezeption. In: Aristoteles Poetik. Hg. von Otfried Höffe. Berlin 2009, S. 215± 232, hier S. 225. Zum semiotischen Aspekt dieses Vorgangs noch immer grundlegend die 6WXGLH YRQ 'DYLG :HOOEHU\ /HVVLQJ¶V /DRFRRQ 6HPLRWLFV DQG DHsthetics in the Age of Reason. Cambridge 1984, die jedoch in der Konzentration auf die Linie WolffBaumgarten-Zeichentheorie vollkommen von Lessings (poetischem) Aristotelismus absieht. Aristoteles wird von Wellbery nur ein einziges Mal beiläufig (S. 260 Anm. 75), die Poetik gar nicht erwähnt. Auch Kommerells Studie (Anm. 21) geht nicht systematisch auf den Laokoon ein. Ähnliches gilt für die im Übrigen informative Überblicksstudie von EunAe Kim: Lessings Tragödientheorie im Licht der neueren Aristoteles-Forschung. Würzburg 2002, der S. 86 betont: »Zur Eigenart der dichterischen Nachahmung (mimesis) äußert sich Lessing fast ausschließlich in der Hamburgischen Dramaturgie.« Auch der aristotelische Nachahmungsbegriff hat zuletzt wieder verstärkte Aufmerksamkeit gefunden. Vgl. Joachim Küpper in dem von Otfried Höffe herausgegebenen Sammelband zur Poetik, S. 29±46; Stephen Halliwell: The Aesthetics of Mimesis: Ancient Texts and Modern Problems. Princeton 2002, S. 151±259; Manfred Fuhrmann: Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles ± Horaz ± ¾/RQJin½ $XIODJH 'DUPVWDGW 6 1±110, hier bes. S. 82±89; Werner Söffing: Deskriptive und normative Bestimmungen in der Poetik des Aristoteles. Amsterdam 1981, S. 38±46. Vgl. den Beitrag von Eric Achermann in diesem Band sowie ders.: Das Prinzip des Vorrangs. Zur Bedeutung des Paragone delle arti für die Entwicklung der Künste. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Hg. von Herbert Jaumann. Berlin/New York 2011, S. 179±209.
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2. die »Polarisierung ¾der Alten½«30, die Winckelmann so folgenreich etabliert hatte: den Gegensatz von originaler griechischer und kopierender lateinisch-römischer Dichtung. Die Seneca-Kritik (»Klopffechter im Kothurne«) bedeutet eben noch keine grundsätzliche »Degradierung der Römer zu dekadenten Imitatoren«31 ± im Gegenteil: der zentrale Impuls der Schrift ist die »Rettung des Virgils«32. Denn schon frühzeitig hegt Lessing »die Vermutung, daß sie [die Meister der Gruppe, Anm. d. Vf.] den Vergil nachgeahmt haben können.«33 3. Indem Lessing die chronologischen Prioritäten zwischen LaokoonGruppe und Vergilischer Darstellung umkehrt, wird auch die neue, in sich durchaus zirkuläre34 kunsthistorische Ursprungserzählung Winckelmanns negiert. Damit verlagert und generalisiert Lessing 4. den Gegensatz von Genie und Kopisten. Dieser wird in paragonaler Tendenz nicht nur innerhalb der Dichtung selbst verhandelt (wie noch im 17. Literaturbrief), sondern auch zwischen Dichtung und bildender Kunst. Diese Argumentation gipfelt in Kapitel 12, wo die »Erfindung und Neuheit des Vorwurfs« (inventio) der Dichtung zugesprochen wird, während die Kunst allein auf die Seite der formalen Ausführung verwiesen wird.35 Insofern ± und nur insofern ± lässt sich mit Jochen Schmidt von einer »Rangerhöhung der Dichtung zur spezifisch schöpferischen Kunst« sprechen.36 Grundlegend für die gesamte paragonale Ebene der Schrift ist dabei ein Nachahmungsbegriff, der mit Youngs Unterscheidungen gegen Winckelmanns Nachahmungstheorie angeht. Die Unterscheidung einer »doppelten Nachahmung«, die im 7. Kapitel getroffen wird, also einer Unterscheidung zwischen imitatio und Mimesis, setzt die Antinomien der Conjectures ± Original vs. Kopie ± voraus, um daraus die Aufwertung der Naturnachahmung als allgemeine Aufgabe jeder Kunst zu begründen. Der Laokoon hat also
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Nicola Kaminski: Art. Imitatio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Bd. 4. Tübingen 1998, Sp. 235±285, hier Sp. 278. Wilfried Barner: Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas. München 1973, S. 90. Ebenso pauschal und verkürzend Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. Aus dem Englischen übers. von Karl S. Guthke. München 2008, S. 407 (auf Winckelmann): »Und wie Lessing ± oder wenigstens wie der Lessing der sechziger Jahre ± sah er ferner die Kunst und Kultur Roms als zweitrangig, ja degeneriert im Vergleich zur griechischen.« FA 5/2, S. 254 (Paralipomenon 7). Ebd., S. 255. Nisbet (Anm. 31), S. 414: »Seine Argumentation war im Grunde ein Zirkelschluß: die besten Kunstwerke müssen aus der besten Periode stammen, und die beste Periode ist die, die die besten Kunstwerke hervorbrachte.« FA 5/2, S. 98: »Bei dem Artisten dünket uns die Ausführung schwerer, als die Erfindung; bei dem Dichter hingegen ist es umgekehrt, und seine Ausführung dünket uns gegen die Erfindung das Leichtere.« Schmidt (Anm. 5), S. 75.
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5. noch nicht jene skeptische Volte gegenüber der Geniedebatte vollzogen, wie sie das Ende der Hamburgischen Dramaturgie spiegelt. Lessing befindet sich auf halber Strecke dorthin, und aus diesem »spaziergängerischen« Unterwegssein erklären sich auch die Widersprüche, das Changieren zwischen einer Rehabilitierung des Nachahmungs- und einer Einschränkung des Geniekonzepts.
2. Aporien der Priorität Im ersten Kapitel des Laokoon, unmittelbar im Anschluss an das einleitende Winckelmann-Zitat, benennt Lessing den doppelten Impuls seiner Winckelmann-Kritik und damit seiner Schrift insgesamt. Neben der »Vergleichung mit dem Philoktet« habe ihn jener »mißbilligende Seitenblick, welchen er [Winckelmann] auf den Virgil ZLUIW>«@]XHUVWVWXW]LJJHPDFKW«37. Diese doppelte Winckelmann-Kritik ± also die Frage des sog. »clamor Philocteteus«38 und die Apologie Vergils ± bestimmen nacheinander die Struktur jenes ersten Teils der Schrift, der bekanntlich erst sekundär, also nach den systematischdeduktiven Abschnitten (Kapitel 16 und ff.), entstanden ist.39 Die Struktur der folgenden Kapitel ist also keineswegs zufällig, die Überlegungen erst zu Philoktet dann zu Vergil keineswegs »in eben der Ordnung nieder(geschrieben), in welcher sie sich bei mir entwickelt«40. Es handelt sich, wie gesagt, um eine Apologie, Paralipomena 7 nennt das Stichwort: »Rettung des Virgils«. Der Laokoon gehört demnach in den systematischen Zusammenhang einer »typisch Lessingsche(n) Form«41 und Gattung, der »Rettungen« (Vindicationes).42 Der zweite und dritte Teil der Ausgabe der Schrifften (von 1753 bzw. 1754) enthielt mehrere Beispiele dieser Gattung, u. a. die Rettungen des Horaz, des Girolamo Cardano oder des Simon Lemnius. Mit diesen Spezimina teilt die Rettung Vergils »die Durchdringung von sachlicher Kritik, Polemik und Sinnstiftung«43 im Dienste eines übergeordneten Problemzusammenhangs, aber auch die tendenziöse Zuspitzung im Dienste aktueller Argumentation.44 37 38 39 40 41 42
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FA 5/2, S. 18. FA 5/2, S. 352 (Paralipomenon 7) Barner: Nachwort, in: FA 5/2, S. 631±650. Hinweis auf Hugo Blümner und Emil Grosse S. 637. FA 5/2, S. 18. Barner: Nachwort, in: FA 5/2, S. 641. Dazu auch Friedrich Vollhardt: Nachwort zu G. E. Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Studienausgabe. Hg. von Friedrich Vollhardt. Stuttgart 2012, S. 441: »Es handelt sich [bei den Rettungen; J. R.] um die Prüfung der historischen Urteilsbildung.« Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben ± Werk ± Wirkung. 2. Auflage Stuttgart 2004, S. 117. Zu den Rettungen Fick (Anm. 43) S. 114±121; Friedrich Vollhardt: Lessings Lektüre. Anmerkungen zu den Rettungen, zum Faust-Fragment, zu der Schrift über Leibnitz von den
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Lessings Beweisführung »stellt vor das Problem der ¾Priorität½ im doppelten Sinne«45. Das heißt: die chronologische Priorität muss die ästhetische, die antiquarische Evidenz die ästhetische Wertung begründen. Das Argument der Anciennität wird damit entscheidend. Der Vergleich der Künste wird zu einer Frage der Datierung. Lessing geht dazu von einer Minderheitsmeinung aus, die eine Spätdatierung der Laokoon-Gruppe in die Kaiserzeit (unter Titus, 39±81 n. Chr.) vertritt. Dies hat zur Folge, dass nicht der bildenden Kunst, sondern der Dichtung Vergils die Priorität und damit die inventio des Themas und seine Ausführung zukäme.46 Die Stoßrichtung ist klar: gelingt die Beweisführung, ergibt sich daraus eine dreifache ¾Rettung½ mit polemischer Stoßrichtung gegen Winckelmann: 1. wird Vergil gegenüber den Künstlern der Gruppe gerechtfertigt, damit 2. die römische gegenüber der griechischen Kunst, und 3. generell die Poesie gegenüber der Plastik (Malerei). Die Argumentation belegt einmal mehr das Zusammenspiel von antiquarischer Methode und ästhetischer Theoriebildung im Laokoon. Die Methode ist zunächst ganz die der philologischen recensio: Es geht um Einflüsse, Genealogien und Verwandtschaften, Stemmata der Originalität, die Frage nach einem »Archetyp«. Lessing diskutiert zunächst (Kapitel V) die Möglichkeit, dass beide Laokoon-Darstellungen gleichermaßen »aus einerlei älteren Quelle geschöpft« sind, möglicherweise aus Peisandros (6. Jh. v. Chr.), dessen Texte jedoch verloren sind.47 Lessing verneint diese These, indem er Vergils Originalität reklamiert: »Der römische Dichter muß die griechische Tradition völlig nach seinem Gutdünken umgeschmolzen haben. Wie er das Unglück des Laokoon erzehlet, so ist es seine eigene Erfindung.«48 Lessing begründet dies mit unterschiedlichen Darstellungstraditionen in griechischer und lateinischer Kunst, gleichsam mit einer Ethnologie der Ikonographie: »Virgil ist der erste und einzige, welcher sowohl Vater als Kinder von den Schlangen umbringen läßt.«49 Aus der zeitlichen Nachordnung wird bei Lessing eine kreative Sukzession im Sinne von imitatio. Dies wird suggeriert, wenn Lessing betont, dass »sie [die Künstler der
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ewigen Strafen und zur Erziehung des Menschengeschlechts. In: Euphorion 100 (2006), S. 359±393. Barner: Nachwort, in FA 5/2, S. 668. Die neueste kunsthistorische Forschung lässt die Frage der Priorität offen. Christian Kunze: Zwischen Pathos und Distanz ± Die Laokoongruppe im Vatikan und ihr künstlerisches Umfeld. In: Laokoon in Literatur und Kunst. Hg. von Dorothee Gall und Anja Wolkenhauer. Berlin/New York 2009 (Beiträge zur Altertumskunde 254), S. 32±53, hier S. 41f. Anm. 37: »Die Laokoongruppe wurde also etwa in derselben Zeit geschaffen, in der Vergil seine Aeneis verfaßte (postum publiziert bald nach 19 v. Chr.). Die Frage, ob die Skulpturengruppe von dieser Dichtung angeregt sein könnte, ist wohl zu verneinen.« Vgl. ders.: Zur Datierung des Laokoon und der Skyllagruppe aus Sperlonga. In: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 111 (1996), S. 139±223. FA 5/2, S. 49. Ebd., S. 50. Ebd., S. 51.
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Gruppe] es auf Veranlassung des Virgils getan« hätten, möglicherweise sogar einen »ausdrücklichen Auftrag gehabt hätten, nach ihm zu arbeiten«.50 Damit ist die Winckelmann¶VFKH 4XHOOHQHU]lKOXQJ VDPW LKUHQ NXQVW- und geschichtsphilosophischen Voraussetzungen desavouiert. Die griechischen Bildhauer sind alles andere als originell, der Laokoon kein Originalwerk, 1. weil die griechische Kunst als ein traditionales Gefüge und Gehäuse angesprochen ist, in dem bestimmte Darstellungsschemata normativ-stabil bewahrt werden, 2. weil sie abhängig ist von lateinischer Dichtung, und 3., weil sie nicht »autonom« ist, aus eigenem Antrieb, hervorgeht, sondern nach »ausdrücklichen Auftrag«51. Auftragskunst ist jedoch für Lessing keine Kunst in einem emphatischen Sinn: Kapitel IX wird die Spannung zwischen der »völlige[n] Freiheit« und dem »äußerlichen Zwang«, zwischen Autonomie und Heteronomie der Kunst weiter im Hinblick auf die Religion bedenken.52 Das folgende sechste Kapitel setzt die These, »dass die Künstler dem Dichter nachgeahmet haben«, fort, »rettet« dabei jedoch die Eigenständigkeit der Bildhauer; diese hätten sich nicht durch das »Vorbild« Vergils »verführen lassen«, sondern bei der Übersetzung von einer Kunst in die andere »Gelegenheit [gefunden], selbst zu denken«53. Wir denken an Youngs Ideal einer aufgeklärten und mündigen Kunst des Genies. Was wie ein Zugeständnis erscheint, erweist sich jedoch als Argument innerhalb des Paragone: Die bildenden Künstler hätten klug aus Vergils Behandlung der Szene geschöpft; ihre Darstellung nehme nur einige Momente daraus auf. Dies legt den Schluss nahe, dass »das Kleinere das Größere nicht fassen kann« und mithin »das Kleinere in dem Größern enthalten sein« muss ± konkret also: die Darstellungsmöglichkeiten der bildenden Kunst sind in der Poesie Vergils bereits enthalten, nicht umgekehrt. Dies wiederum wird zum Argument im Rahmen des Paragone. Es beweist einmal mehr die »weiter[e] Sphäre der Poesie« und die »Geistigkeit ihrer Bilder, die in größter Menge und Mannigfaltigkeit neben einander stehen können, ohne dass eines das andere deckt oder schändet«54. Das bedeutet nicht, dass eine Beeinflussung der Dichtung durch die Kunst nicht auch denkbar wäre. Lessing räumt ausdrücklich ein, dass Vergils Darstellung noch »malerischer gekommen wäre, wenn ein sichtbares Vorbild seine Phantasie befeuert hätte«55. Es gibt also eine Nötigung 50 51
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Ebd., S. 51 bzw. S. 50. Ebd., S. 50. Die Fußnote, die Vergil und Petron nebeneinander stellt, gibt einen Exkurs in Sachen Nachahmung: »Ist der Nachahmer ein Mann, der sich etwas zutrauet, so ahmet er selten nach, ohne verschönern zu wollen; und wenn ihm dieses Verschönern, nach seiner Meinung, geglückt ist, so ist er Fuchs genug, seine Fußtapfen, die den Weg, welchen er hergekommen, verraten würden, mit dem Schwanze zuzukehren. Aber eben diese eitle Begierde zu verschönern, und diese Behutsamkeit Original zu scheinen, entdeckt ihn. Denn sein Verschönern ist nichts als Übertreibung und unnatürliches Raffinieren.« (Ebd., S. 53). Ebd., S. 84: »Ein solcher äußerlicher Zwang war dem alten Künstler öfters die Religion«. Vgl. dazu den Beitrag von Norbert Christian Wolf in diesem Band. FA 5/2, S. 59. Ebd., S. 60. Ebd., S. 65.
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durch ästhetische Qualität: das Original übt nicht nur auf den Betrachter, sondern auch auf den nachgeborenen Künstler einen unwiderstehlichen Zwang zur Nachahmung aus. Die allgemeine Wirkungsästhetik wird hier zum Teil der Produktionsästhetik. Der nachahmende Künstler unterliegt der illudierenden Wirkung des Vorbildes, verfällt er seinem Bann. Den umgekehrten Einfluss beschreibt Lessing in Kapitel 22. In der Auseinandersetzung mit dem Grafen Caylus und seinen 7DEOHDX[ WLUpV GH O¶,OLDGH (1757) kommt Lessing ein weiteres Mal auf Fragen der intermedialen Inspiration und Imitation zurück. Wieder wird die Priorität der Dichtung (Homer) vor der bildenden Kunst behauptet ± hierin greift Lessing den Ansatz des Grafen auf. Die Anlage des Buches, das sich als Materialsammlung und Entwurf (»canevas«)56 für die Adepten der bildenden Künste versteht, sieht Homer als Quelle der Inspiration für die »jeunes peintres«, die sich nicht der eigenen Lektüre der alten Dichter widmen könnten. Imitatio hat auch hier katalysatorische Funktion. Sie dient wie bei Winckelmann der akademischen Ausbildung, der exercitatio aestethica, wie Baumgarten prägnant schreibt.57 In der Nachfolge des großen Genies Homer liegt der »Vorteil der Malerei« (»O¶DYDQWDJH GH OD Peinture«), wie Caylus im Avertissement angibt. Sein Buch ist daher kein Dokument des Paragone, sofern es die Musterhaftigkeit Homers auch für die Künstler ausdrücklich zum Ausgangspunkt macht. Die Maler sollten sich von diesem »großen Genie« erheben lassen, der als »der vielseitigste Maler [gelten müsse], den die Natur je hervorgebracht habe« (»le Peintre le plus étendu que la Nature ait produit«).58 Auch Caylus generalisiert diese Priorität der Dichtung gegenüber der Malerei und formuliert dabei eine territoriale Überlegenheit, deren Elemente ± Sukzession, »fruchtbarer Mo-ment« ± Lessing beinahe wörtlich von hier übernehmen wird: Au reste la Poésie plus ancienne que la Peinture, a de grands avantages sur elle. Un choix heureux & juste de peu de mots, lui suffit pour rendre les plus grandes & les plus vastes idées, pour les lier à celles qui les précedent & qui les suivent, & les faire sentir clairement & sans aucun équivoque. Elle fait plus, elle peint la succession des tems; elle exprime le PRXYHPHQWOHVQXDQFHVSDVVDJHUHV O¶HQFKDvQHPHQWGHVDFWLRQV/D3HLQWXUHSOXVERUQpH dans ses moyens, plus lente dans ses opérations, plus gênée dans ses ressources, ne peut SUpVHQWHUDX[\HX[TXHO¶LQVWDQWKHXUHX[G¶XQH1DWXUHIUDSSDQWH59
Lessing folgt dieser Aussage, er zitiert sie geradezu, um dann doch zu einer Unterscheidung zu gelangen, die ganz im Zeichen einer recht verstandenen 56
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[Comte de Caylus@ 7DEOHDX[ WLUpV GH O¶,OLDGH GH O¶2G\VVpH G¶+RPqUH HW GH O¶(QHLGH GH Vigile. Paris 1757, S. XXXij: »$O¶pJDUGGHV$UWLVWHVF¶HVWXQFDQHYDVTXLOHXUHVWRIIHUW comme une esquisse très-informe, de laquelle il sera du moins plus aisé de partir que du texte. « Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik. Übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern. Hg. von Dagmar Mirbach. 2 Bde. Lateinisch-deutsch. Hamburg 2007, Bd. 1, S. 38±48. Caylus (Anm. 56), S. XV. Ebd., S. xxxiii.
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Nachahmung steht. Statt sklavisch Bilder aus Homer zu kopieren, nimmt sie Maß am schöpferischen Geist des Autors und lässt sich von diesem inspirieren: Sie nährten sich dafür mit dem Geiste des Dichters; sie füllten ihre Einbildungskraft mit seinen erhabensten Zügen; das Feuer seines Enthusiasmus entflammte den ihrigen; sie sahen und empfanden wie er: und so wurden ihre Werke Abdrücke der Homerischen, nicht in dem Verhältnisse eines Portraits zu seinem Originale, sondern in dem Verhältnisse eines Sohnes zu seinem Vater; ähnlich aber verschieden.60
Man sieht: auch die Auseinandersetzung mit dem Grafen Caylus61 steht im Zeichen einer Reflexion über Prinzipien der Nachahmung, der Priorität und des Genie-Gedankens. Einerseits betont Lessing mit dem Grafen, dass »die Homerischen Meisterstücke der Poesie älter waren, als irgend ein Meisterstück der Kunst«62, andererseits wird das Prinzip einer sklavischen Ausrichtung der Künste an Homers Text abgelehnt. Im Übrigen jedoch verläuft der Einfluss auch hier ± wie im Falle Vergils ± von der Dichtung zur bildenden Kunst: »Was Phidias aus dem Homer lernte, lernten die andern Künstler aus den Werken des Phidias.«63 Nachahmung wird hier zu einem konstitutiven Moment für Tradition und Perfektion der Künste, sie konstituiert geistige Nachkommenschaft und Genealogie. Das Kontinuum der Kunstgeschichte ist ein Stammbaum, bestehend aus imaginären Vater- und Sohnschaften. Damit greift Lessing die oben bereits zitierte Theoriefiliation von Cortesi bis Young seinerseits auf. Lessings Bezugspunkt innerhalb der Nachahmungsdebatte ist jedoch ein anderer. Dies zeigt der Versuch, Inspiration und Imitation in der Idee einer inspirierten Nachahmung zu verbinden. Mit Youngs Abstieg in den »Abgrund der Subjektivität als Orakel« (s. o. Kommerell) hat sie nichts zu tun; wohl aber mit einem Autor und einem Text, der insbesondere im Laokoon ein wichtiger Bezugspunkt für die Theorie des Erhabenen und seiner Gegensätze ± des Hässlichen, Niedrigen und Ekligen ± ist, ich meine die Schrift Über das Erhabene des Pseudo-Longinus (Lessing liest sie in der Edition von Tanneguy Le Fèvres von 1663).64 Dort wird in Abschnitt 13 ein weiterer Weg zur Erhabenheit diskutiert, der über die imitatio (Mimesis) und aemulatio (zelosis) führt: »Viele nämlich werden durch fremden Anhauch mit Gott erfüllt, ganz so, wie man von der 3\WKLDEHULFKWHW>«@6RVWU|PHQYRP*HQLXVGHU$OWHQZLHDXVKHLOigem Quell geheimnisvolle Einflüsse in die Seele ihrer Bewunderer; durch sie werden auch nicht gerade enthusiastische Naturen angehaucht und sind begeisterte Genossen fremder Größe.«65 Dieser Synenthusiasmus musste Lessing zusagen, war er 60 61 62 63 64
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FA 5/2, S. 161. Vgl. dazu in diesem Band den Beitrag von Élisabeth Décultot. FA 5/2, S. 161. Ebd., S. 162f. Dionysii Longini Philosophi et Rhetoris peri? uÄyouw libellus cum Notis, Emendationibus, & Praefatione Tanaquilli Fabri. Salmurii 1663, S. 39 (Abschnitt 12, in modernen Ausgaben Abschnitt 13). Longinus: Vom Erhabenen. Griechisch / Deutsch. Übers. und hg. von Otto Schönberger. Stuttgart 1988, S. 41. In diesem Sinne später auch bei Johann Georg Sulzer: Allgemeine
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doch ein Enthusiasmus nicht gegen, sondern aus Tradition. Ich deute dies als Kompromissformel: An Stelle der absoluten Diskontinuität des Genies, das Ursprung und Quelle seiner selbst ist, stiftet inspirierte Tradition Nachfolge und Genealogie. Gleichzeitig führt sie Lessings Reserve gegen das Genie als ¾Abgrund von Subjektivität½ deutlich vor Augen.
3. »Doppelte Nachahmung« und Kunst des Vergessens Die »Rettung des Virgils« führt zu einer letzten Facette in Lessings Nachahmungstheorie. Sie betrifft das Verhältnis zwischen der Nachahmung von Vorbildern (imitatio) zur Nachahmung der Natur (imitatio naturae). Hier ist noch einmal auszugehen von Jochen Schmidts These, wonach Lessing im Laokoon zu einer »Ablösung vom Nachahmungsgebot« gelange.66 Das wenig beachtete siebte Kapitel des Laokoon widerlegt diese Ansicht in doppelter Weise. 1. geht es ± wie gezeigt ± Lessing primär um die Nachahmung im Sinne von imitatio. 2. wird die Nachahmung der Natur in diesem Zusammenhang gegen eine verfehlte Nachahmung in Stellung gebracht, aufgewertet und als »Wesen seiner Kunst« bezeichnet.67 Kapitel 7. nähert sich zunächst einer prekären, bislang ausgesparten Frage im Kontext der »Rettung des Virgils«, nämlich der Frage nach Vergils Abhängigkeit / Unabhängigkeit von Homer. Lessing setzt ein mit einer Unterscheidung: Wenn man sagt, der Künstler ahme dem Dichter, oder der Dichter ahme dem Künstler nach, so kann dieses zweierlei bedeuten. Entweder der eine macht das Werk des andern zu dem wirklichen Gegenstand der Nachahmung, oder sie haben beide einerlei Gegenstände der Nachahmung, und der eine entlehnet von dem andern die Art und Weise es QDFK]XDKPHQ>«@%HLGHUHUVWHQ1DFKDKPXQJLVWGHU'LFKWHU2ULJLQDOEHLGer andern ist er Copist. Jene ist Teil der allgemeinen Nachahmung, welche das Wesen seiner Kunst ausmacht, und er arbeitet als Genie, sein Vorwurf mag ein Werk anderer Künste, oder der Natur sein. Diese hingegen setzt ihn gänzlich von seiner Würde herab; anstatt der Dinge
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Theorie der Schönen Künste. In einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Leipzig. Bd. 1. 1771; Bd. 2. 1774, hier Bd. 2, S. 797 (Art. Nachahmung): »Der freye, edle Nachahmer erwärmet sein eigenes Genie an einem fremden so lange, bis es selbst angeflammt, durch eigene Wärme fortbrennt, da der ängstliche Nachahmer, ohne eigene Kraft sich ins Feuer zu sezen, oder darin zu unterhalten, nur so lange warm bleibet, als das fremde Feuer auf ihn würket. Darum können Künstler von Genie, wenn sie auch wollten, nicht lange bey der knechtischen Nachahmung bleiben; sie werden durch ihre eigenen Kräfte in der ihnen eigenen Bahn fortgerissen; aber ohne Genie kann man nicht anders, als knechtisch nachahmen; weil der Mangel eigener Kraft alles Fortgehen unmöglich macht, so bald man sein Original aus dem Gesichte verliehret.« Schmidt (Anm. 5), S. 75. FA 5/2, S. 67.
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Jörg Robert selbst ahmet er ihre Nachahmungen nach, und giebt uns kalte Erinnerungen von Zügen eines fremden Genies, für ursprüngliche Züge seines eigenen.68
Beispiel für die erstere Nachahmung ist die Schildbeschreibung der Aeneis im Verhältnis zur Homerischen Beschreibung des Schilds des Achill. Hier beziehe sich Vergil nur »auf das Kunstwerk, nicht [auf] das was auf dem Kunstwerke vorgestellet worden«.69 Nachahmung zielt hier auf das materiale (reale) Objekt, nicht auf die dargestellten Inhalte und Handlungen, die ja bei Vergil tatsächlich völlig andersartig sind. Nachgeahmt wird die Darstellung eines Schildes, nicht dieses Schildes (mit seinen Szenen aus dem Leben einer Gemeinschaft). Anders der Fall, hätte Vergil die Laokoon-Gruppe nachgeahmt; darin wäre diese nicht als reales »Objekt« nachgeahmt, sondern als ein Zeichengefüge (»das, was die Gruppe vorstellet«). Vergil folgt Homer darin, dass auch er einen realen Schild nachahmt. Dies wäre, schreibt Lessing, »Teil einer allgemeinen Nachahmung, welche das Wesen seiner Kunst ausmacht«. Obwohl Vergil das Element Schildbeschreibung von Homer entlehnt, also offensichtlich imitatio betreibt, bleibt er so Genie und »Original«, denn seine Beschreibung richtet sich primär auf einen Gegenstand der sichtbaren Welt ± eben einen Schild. Lessing verschiebt die Akzente und Gewichte zwischen den beiden Spielarten von Nachahmung, die sich im epischen Element der Schildbeschreibung durchkreuzen. Was zunächst primär als imitatio erscheint (Vergil imitiert Homer in der Ekphrasis eines Schildes), erweist sich in Wahrheit als imitatio naturae. Die Tatsache, dass Vergil diesem episch-narrativen Topos im Gefolge Homers einführt, ist ihm keiner Diskussion wert. Es scheint für Lessing in der allgemeinen Logik geordneter und inspirierter Tradition zu liegen. Würde Vergil jedoch die LaokoonGruppe nachahmen, wäre er nichts als ein »Kopist«, weil sein Blick sich nicht auf Natur, sondern auf »Kunst« richtet: »Anstatt der Dinge selbst ahmet er ihre Nachahmungen nach, und giebt uns kalte Erinnerungen von Zügen eines fremden Genies, für ursprüngliche Züge der eigenen.«70 Lessing bringt diesen Gegensatz in Kapitel 11 auf die griffige Formel von der »doppelte[n] Nachahmung«71. Beide Pole dieser »doppelten Nachahmung« ± imitatio veterum und imitatio naturae ± treten in einen Gegensatz, der sich aus der Opposition von ars und natura speist. »Ein Genie«, so hatte Lessing im 17. Literaturbrief geschrieben (16.2.1759), »kann nur von einem Genie entzündet werden; und am leichtesten von so einem, das alles bloß der Natur zu danken zu haben scheinet, und durch die mühsamsten Vollkommenheiten der Kunst nicht abschrecket.«72 Nachahmung, die auf andere Kunst statt auf Natur blickt, sorgt für eine Entfremdung von der Natur, die statt der Sache selbst ihr Medium, d. h. ihre artistische Repräsentation, setzt. Diese führt einerseits zur »Erkaltung« des Lesers,
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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 97. FA 4, S. 500.
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andererseits zum Verlust jener dynamischen Präsenz- und Unmittelbarkeitsillusion, auf die Lessing alles ankommt.73 Was sich zeigt in der misslungenen imitatio artis, ist die Dichte des Mediums, seine Materialität und immanente Historizität, mit Renate Lachmann gesprochen: das »Gedächtnis« des Textes.74 Dies entspricht einem Lessing¶schen Grundimpuls, einer Poetik der Präsenz, die auf ihrer Kehrseite eine »Kunst und Kritik des Vergessens« enthält.75 Das Vergessen der Kunst oder die Kunst des Vergessens wird von hier aus zum Signum GHV /HVVLQJ¶VFKHQ *HQLHV 8QIlKLJNHLW XQG 8QZLOOHQ ]XU (ULnnerung kennzeichnen eine Art ästhetische Anti-Mnemonik, auch in der folgenden Hamburgischen Dramaturgie. Gegen den poeta doctus tritt hier die docta ignorantia, mit der zugleich Lessings selektiver Umgang mit den Quellen im Laokoon charakterisiert ist. Die Stelle lautet: Dem Genie ist es vergönnt, tausend Dinge nicht zu wissen, die jeder Schulknabe weiß; nicht der erworbene Vorrat seines Gedächtnisses, sondern das, was es aus sich selbst, aus seinem eigenen Gefühl, hervor zu bringen vermag, macht seinen Reichtum aus; was es gehört oder gelesen, hat es entweder wieder vergessen, oder mag es weiter nicht wissen, als insofern es in seinen Kram taugt.76
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Mit Wellbery (Anm. 28), S. ªD SUHGRPLQDQFH RI ¾*HGlFKWQL½ PHPRU\ RYHU ¾(LQELOGXQJ½LPDJLQDWLRQ © Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt am Main 1990. Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. 3. Auflage. München 2000, S. 71±74 diskutiert Lessings Übersetzung von Juan Huartes Examen de ingenios (1575), bei Lessing Prüfung der Köpfe. FA 6, S. 347 (34. Stück).
Luca Giuliani Luca Giuliani Lessing & Hitchcock ± Versuch einer Engführung
Lessing & Hitchcock ± Versuch einer Engführung Lessing & Hitchcock
Zu Lessing und zum Laokoon bin ich auf Umwegen gekommen. Mein Interesse zielte primär weder auf die Person des Autors noch auf den Text als ein Dokument der Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. Ich bin weder Literaturwissenschaftler noch Philosoph, sondern Archäologe. Bei Lessing suchte ich nach einem Instrument, um das Verhältnis von Bildern zu Texten in Griechenland zwischen dem 8. und dem 2. Jh. v. Chr. zu überdenken. In diesem Zusammenhang allerdings hat sich die Auseinandersetzung mit dem Laokoon nicht bloß als nützlich, sondern als unverzichtbar erwiesen. So luzid der Laokoon auch zu sein scheint, so weist er doch zugleich paradoxe Dunkelheiten auf. Der ganzen Schrift liegt eine Theorie über den medialen Unterschied zwischen Poesie und Malerei zu Grunde, die in Kap. XVI ± und damit ungefähr in der Mitte des Buches ± überhaupt erst skizziert wird; selbst diese verspätete Skizze fällt eigentümlich wortkarg aus: Lessing hat einzelne Schritte seines Gedankenganges eher versteckt, als dass er sie in expliziter Form entfaltet hätte. Fast gewinnt man den Eindruck, dass er während der Arbeit seiner eigenen Theorie schon wieder überdrüssig geworden wäre. Wenn man heute versucht, die Argumentation in ihrer ganzen Stringenz nachzuvollziehen, tut man jedenfalls gut daran, auch die Fragmente aus früheren Entwürfen heranzuziehen, die Lessing aus der Endfassung ausgeschlossen hat (die sog. Paralipomena) ± und die in den meisten Ausgaben des Textes gar nicht enthalten sind.1 Das theoretische Grundgerüst des Laokoon liegt demnach nicht offen zu Tage, sondern bedarf einer gewissen Rekonstruktionsarbeit. Diese ist verblüffend spät, nämlich erst in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts geleistet worden. Die entscheidenden Impulse dazu kamen interessanterweise nicht aus der deutschen Germanistik: Sie waren Tzvetan Todorov und David Wellbery zu verdanken.2 Deren Beiträge haben die Diskussion über den berühmten Text auf eine völlig neue Grundlage gestellt.
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Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon / Briefe, antiquarischen Inhalts. Text und Kommentar. Hg. von Wilfried Barner. Frankfurt am Main 1990, S. 11±206 (Laokoon), S. 209±321 (Paralipomena). Weitere Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe mit Seitenangabe im laufenden Text. Tzvetan Todorov: Esthétique et sémiotique au XVIIIe siècle. In: Critique 308 (1973), S. 26±39; ders.: Théories du symbole. Paris 1977; David E. Wellbery: Lessing¶s Laocoon. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge 1984.
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Ich habe vor Jahren einmal versucht, die Grundzüge von Lessings Theorie in einer Tabelle zum Ausdruck zu bringen:3 Gegenstand: Handlung, nacheinander in der Zeit Modus: Erzählen
Gegenstand: Körper, nebeneinander im Raum Modus: Beschreiben
Medium: Sprache (willkürliche Zeichen nacheinander in der Zeit)
Narrative Poesie
Deskriptive Poesie (= Prosa)
Medium: Malerei (natürliche Zeichen nebeneinander im Raum)
Narrative Malerei (?)
Deskriptive Malerei
Poesie und Malerei stimmen überein in ihrem grundsätzlichen Ziel: Gegenstände nachzuahmen und Illusion zu bewirken: beide stellen »abwesende Dinge als gegenwärtig, den Schein als Wirklichkeit vor; beide täuschen, und beider Täuschung gefällt« (13). Es ist gerade die Herstellung der Illusion, die Kunst von Nicht-Kunst unterscheidet. Freilich werden in beiden Medien ganz unterschiedliche Mittel eingesetzt: »Die Malerei braucht Figuren und Farben in dem Raume. Die Dichtkunst artikuliert Töne in der Zeit. Jener Zeichen sind natürlich, dieser ihre sind willkürlich« (209: Paral.1 und 219: Paral.3, II). Dabei rekurriert Lessing auf eine Unterscheidung, die ihm und den zeitgenössischen Lesern geläufig, ja selbstverständlich ist: Als natürlich gelten solche Zeichen, bei denen die Verbindung zum Bezeichneten sich aus natürlicher Gesetzmäßigkeit ergibt (z. B. äußerliche Symptome als Zeichen einer bestimmten Krankheit) oder auf einer Ähnlichkeitsrelation beruht, die ihrerseits als naturbedingt aufgefasst wird. Um willkürliche Zeichen handelt es sich hingegen dann, wenn die Relation zum Bezeichneten durch menschliche Satzung festgesetzt ist; Paradebeispiel sind die unterschiedlichen menschlichen Sprachen. Dazu kommt ein zweiter Aspekt: die Zeichen der Sprache (man denke nun an Phoneme, Silben, Worte oder Sätze) verketten sich, indem sie eine Folge in der Zeit bilden; die Zeichen der Malerei (Muster, Farben oder Figuren) artikulieren sich nebeneinander im Raum. Den beiden Medien entsprechen zwei Sorten von Gegenständen, die potentiell von Künstlern zur Darstellung gebracht werden können: »Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren, heißen Körper. [...] Gegenstände, die aufeinander, oder deren Teile aufeinander folgen, heißen Handlungen« (116). Diesen beiden Kategorien entsprechen wiederum zwei 3
Luca Giuliani: Laokoon in der Höhle des Polyphem. Zur einfachen Form des Erzählens in Bild und Text. In: Poetica 28 (1996), S. 1±47, bes. S. 13.
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unterschiedliche Darstellungsmodi, die sich zueinander gegensätzlich und komplementär verhalten: das Beschreiben schildert das Nebeneinander von Körpern im Raum, das Erzählen entwickelt das Nacheinander einer Handlung in der Zeit. Das sind die Elemente der Theorie. Aus ihnen ergeben sich folgerichtig sowohl a) das grundlegende ästhetische Problem als auch b) dessen Lösung. Kunst unterscheidet sich von Nicht-Kunst dadurch, dass sie Illusion bewirkt. Illusion wiederum setzt eine Ähnlichkeitsrelation zwischen dem Zeichen und dem bezeichneten Gegenstand voraus. Hier ist die Malerei im Vorteil: deren Zeichen sind natürlich, die Ähnlichkeitsrelation ist von vornherein gegeben. Der Dichter hingegen operiert mit willkürlichen Zeichen, die per definitionem nicht auf einer Ähnlichkeitsrelation beruhen; wie kann er dennoch eine Ähnlichkeit zu seinem Gegenstand erreichen? Lessings Antwort lautet: indem der Dichter nicht Körper, sondern Handlungen zu seinem Gegenstand macht; indem er nicht beschreibt, sondern erzählt. Nur im Modus des Erzählens kann ein sprachliches Gebilde Ähnlichkeit zu seinem Gegenstand erreichen, indem eine Folge von Wörtern und Sätzen zum Abbild der Folge einer Handlung gemacht wird. Fazit: eine rein beschreibende, auf eine narrative Struktur verzichtende Poesie ist eine contradictio in adjecto, denn sie verfehlt die Herstellung von Illusion und damit das primäre Ziel von Kunst, in Lessings Terminologie ist sie nicht Poesie, sondern Prosa. Etwas komplizierter verhält es sich bei der Malerei. Da es in ihrem Zeichensystem kein zeitliches Nacheinander, sondern nur das räumliche Nebeneinander gibt (und geben kann), ist ihr eigentlicher Modus der der Beschreibung; Handlungen vermag sie nicht eigentlich zu schildern, sondern allenfalls anzudeuten, indem sie Körper darstellt, die in einer Handlung begriffen sind; dabei kann sie von der ganzen Handlung nur einen einzigen Moment vor Augen führen: umso wichtiger ist es, diesen so zu wählen, dass die Einbildungskraft des Betrachters dadurch angeregt wird (vgl. v. a. 32: Kap. III). Soweit Lessing; dessen Ansinnen war bekanntlich normativer Natur und gegen eine Poesie gerichtet, die sich weniger narrativer als vielmehr deskriptiver Darstellungsformen bediente. Mein Interesse geht dahin, Elemente dieser Theorie als Instrumentarium für eine nicht normative, sondern analytische Beschreibung der Phänomene zu nutzen. Allerdings möchte ich zuvor zwei Punkte ansprechen, die z. T. schon von den Zeitgenossen, etwa von Herder, als problematisch angesehen worden sind.4 Das erste Problem betrifft die möglichen Gegenstände künstlerischer Mimesis. Davon gibt es für Lessing nur zwei Sorten, die er nach der Art ihrer syntaktischen Relation unterscheidet: Gegenstände nebeneinander im Raum (diese nennt er Körper); und Gegenstände nacheinander in der Zeit (diese nennt er 4
Vgl. die fulminante Besprechung des Laokoon, die der junge, damals noch unbekannte Herder 1769 anonym vorgelegt hat: Erstes kritisches Wäldchen. In: Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Hg. von Martin Bollacher u. a. Frankfurt am Main 1985±2000, Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767±1781. Hg. von Gunter E. Grimm (1993), S. 57±245.
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Handlungen). Ein beliebiges Phänomen, das zum Gegenstand einer nachahmenden Darstellung taugt, muss entweder der einen oder der anderen Kategorie zuzurechnen sein: es gibt nur Körper und Handlungen ± aliud non datur. Das ist von eleganter Radikalität ± aber ist es auch befriedigend? Bereits Herder hat gesehen, dass nicht alles, was nacheinander in der Zeit abläuft, sinnvollerweise als Handlung angesehen werden kann: Ich leugne es [...], dass Gegenstände, die aufeinander [...] folgen, deswegen überhaupt Handlungen heißen [...]. Der Begriff des Sukzessiven ist zu einer Handlung nur die halbe Idee: es muss eine Sukzession durch Kraft sein: so wird Handlung. Ich denke mir ein in der Zeitfolge wirkendes Wesen, ich denke mir Veränderungen, die durch die Kraft einer Substanz auf einander folgen: so wird Handlung.5
Jede Handlung setzt ein handelndes Subjekt voraus, das ein bestimmtes Telos verfolgt; fehlt diese teleologische Spannung, so fehlt genau das, was das Wesen einer Handlung ausmacht.6 Alles in unserer Umgebung ist in unaufhörlichem Wandel begriffen, aber die meisten dieser Prozesse laufen ohne Beteiligung handelnder Subjekte ab: Die Schwingungen einer Lichtwelle oder die Bewegungen der kontinentalen Platten auf der Erdoberfläche sind beides Prozesse in der Zeit, die sich indessen nicht erzählen, sondern nur beschreiben lassen. Der zweite Punkt betrifft einen Unterschied, den Lessing zwischen den Zeichen der Sprache und jenen der Malerei ausmacht: die der Sprache würden sukzessiv wahrgenommen, die der Malerei simultan. Beides lässt sich bezweifeln. Auf der einen Seite wird man die Wahrnehmung von Sprache schwerlich auf reine Sukzessivität reduzieren können. Was zeitlich aufeinanderfolgt, sind ja zunächst nur die einzelnen Phoneme; deren Sukzessivität schlägt aber um in die Simultaneität des Wortes; und die Sukzessivität der Worte wiederum in die Simultaneität des Satzes. Zwar folgen auch die Sätze aufeinander: und doch kann jeder einzelne nicht von sich aus, sondern nur im Horizont einer zusammenfassenden Synthese verstanden werden, die der Zuhörer durch fortschreitende Erinnerungsarbeit zu leisten hat: Bedeutungen werden, bei aller Sukzessivität der Rede, immer auf der Ebene der Simultaneität hergestellt. Wie verhält es sich auf der anderen Seite mit der Wahrnehmung eines Bildes? Über den konkreten Prozess wissen wir seit etwa hundert Jahren ganz gut Bescheid. Der Bereich, in dem das menschliche Auge scharf sehen kann, ist vergleichsweise winzig: Der Winkel optimaler Sehschärfe beträgt etwa zwei Grad. Diese Beschränkung wird durch permanente Bewegung kompensiert: Der Blick bleibt nur für den Bruchteil einer Sekunde auf einen bestimmten Punkt fixiert, um dann ruckartig zum nächsten zu springen. Dabei erfolgen kleine Sprünge unwillkürlich und bleiben unbewusst, lediglich die größeren unterliegen einer bewussten Steuerung. Wir meinen also nur, unsere Augen auf einem Bild ruhen 5 6
Ebd., S. 196. So übrigens auch Lessing selbst in den Paralipomena zum Laokoon: »Eine Reihe von Bewegungen, die auf einen Endzweck abzielen, heißet Handlung«, Lessing (Anm. 1), S. 251.
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zu lassen: in Wirklichkeit ist unser Blick dabei permanent auf dem Sprung und in Bewegung, auf der Suche nach auffälligen Gestaltmerkmalen und aufschlussreicher Information. Das Hören und Verstehen einer sprachlichen Äußerung beruhen demnach auf einer komplexen Dialektik von Sukzessivität und Simultaneität; und auch das Betrachten eines Bildes erweist sich als ein Prozess in der Zeit. Aber ist das ein hinreichender Grund, die von Lessing getroffene Unterscheidung zwischen Text und Bild wieder fallen zu lassen?7 Ich glaube, dass wir umgekehrt gut daran tun, Lessings Unterscheidung unter etwas veränderten Bedingungen beizubehalten. Wenn verschiedene Betrachter mit ein und demselben Bild konfrontieren und deren Sehpfade miteinander vergleichen, dann werden diese untereinander zwar eine gewisse Ähnlichkeit aufweisen, aber im Einzelnen doch deutlich differieren.8 Der Rezeptionsvorgang verläuft jedes Mal unterschiedlich, eine einheitliche Steuerung durch das Bild findet nicht statt. Das hat kaum einer deutlicher formuliert als Paul Klee: Der abtastende Blick eines Beschauers gleiche einem weidenden Tier, und ihm seien im Kunstwerk Wege eingerichtet.9 Die Formulierung ist von wunderbarer Paradoxie: Wo eine Weide ist, wird man normalerweise keine Wege erwarten, und umgekehrt; vor allem aber kann man auf solchen Wegen ebenso vorwärts wie zurück laufen, und sie gegebenenfalls auch ohne Schwierigkeiten verlassen. Ganz anders verhält es sich bei einem Text: Hier gibt es eine scharfe Grenze zwischen dem, was der Rezipient schon erfahren hat und dem, was er noch erfahren wird; diese Grenze verschiebt sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit und in eine bestimmte Richtung: beides unterliegt nicht dem Belieben des Rezipienten, sondern wird durch den Text selbst gesteuert. Und genau daraus ergibt sich auch die Möglichkeit, Spannung aufzubauen. Spannung setzt notwendigerweise eine verzögerte, schrittweise Erweiterung des Sinnhorizontes voraus, die mit der Erwartung eines bevorstehenden, erhofften oder befürchteten Endes verbunden ist. Einer Erzählung (sofern sie auch nur halbwegs gelungen ist) fällt es leicht, den Rezipienten in einen solchen Zustand zu versetzen; bei Bildern ergeben sich an dieser Stelle gewaltige Probleme. Die Folgerungen, die sich aus unserer Modifikation von Lessings Grundtheorie ergeben, lassen sich abermals in Form einer Tabelle zusammenfassen:
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So etwa Ernst H. Gombrich: Der fruchtbare Moment. Vom Zeitelement in der bildenden Kunst (1964). In: Ders.: Bild und Auge. Neue Studien zur Psychologie der bildlichen Darstellung. Stuttgart 1984, S. 40±61. Alfred L. Yarbus: Eye Movements and Vision. New York 1967, S. 171±196. Paul Klee: Kunst-Lehre. Aufsätze, Vorträge, Rezensionen und Beiträge zur bildnerischen Formenlehre. 2. Auflage. Leipzig 1991, S. 63.
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Luca Giuliani Modus: Erzählen Gegenstand: Begebenheiten, auf handelnde Subjekte zentriert
Medium: Sprache (starke Steuerung des Rezeptionsvorgangs) Medium: Malerei (schwache Steuerung des Rezeptionsvorgangs)
Modus: Beschreiben Gegenstand: Gegebenheiten, »alles, was der Fall ist«
Erzählung zielt auf Spannung
Beschreibung zielt auf Anschaulichkeit, »Enargeia«
Narrative Malerei (von sprachlicher Erzählung abhängig)
Deskriptive Malerei (von sprachlicher Erzählung unabhängig)
Grundlegend bleibt die Unterscheidung der beiden Darstellungsmodi Erzählen und Beschreiben. Deren Gegenstandsbereiche haben sich etwas verschoben. Das Spektrum des Erzählens ist enger, das des Beschreibens weiter geworden. Gegenstand des Erzählens sind Begebenheiten, die auf handelnde bzw. leidende Subjekte fokussiert sind. Das Erzählen kann gar nicht anders, als bestimmte Stränge zu verfolgen und damit das, was außerhalb des jeweiligen Stranges liegt, als gegeben vorauszusetzen. Jede erzählte Handlung (und das gilt für das antike Epos genauso wie für den neuzeitlichen Roman) spielt sich in einem Horizont ab, der seinerseits als gegeben vorausgesetzt wird: Dieser kann eo ipso nicht erzählt, sondern nur beschrieben werden. Daraus folgt, dass der Bereich des Beschreibens keineswegs nur auf das Nebeneinander im Raum zu beschränken ist, sondern auch Vorgänge in der Zeit betreffen kann. Potentieller Gegenstand des Beschreibens ist schlechterdings (um mit Wittgenstein zu sprechen) »alles, was der Fall ist« und somit, im Extremfall, nichts Geringeres als die Welt. Ebenso grundlegend bleibt der Gegensatz zwischen den beiden Medien Sprache und Malerei. Den zentralen Unterschied zwischen ihnen sehe ich allerdings weniger in ihrem Verhältnis zur Zeit als in der unterschiedlichen Möglichkeit, den Rezeptionsvorgang zu steuern: Der starken Rezeptionssteuerung im Bereich der Texte steht eine schwache Steuerung im Bereich der Bilder gegenüber. Dieser Unterschied ist insofern grundlegend, als die Rezeptionssteuerung die entscheidende Voraussetzung ist für das Erzeugen von Suspense. Das sprachliche Medium hat zur Spannungserzeugung ein Verhältnis, das Lessing als ein bequemes bezeichnet hätte. Bilder hingegen haben es sehr viel schwerer, Spannung zu erzeugen: das Verhältnis ist ein denkbar unbequemes. Das gilt freilich nur bis zur Erfindung des Films: indem die Bilder laufen lernten, haben sie enorme Steuerungsmöglichkeiten dazugewonnen, und der Film ist denn auch das Medium geworden, in dem die Erzeugung von Suspense am intensivsten
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praktiziert wurde. Kein zweiter hat dieses Mittel so souverän beherrscht wie Alfred Hitchcock.10 Aber bis zur Erfindung des Films schien das Erzeugen von Spannung im Wesentlichen eine Sache der sprachvermittelten Erzählung zu sein und nicht der Bilder. Unter den Künstlern des 20. Jahrhunderts gibt es kaum einen, der das Verhältnis von Malerei und Sprache so explizit zu seinem Gegenstand gemacht hat wie René Magritte (1898±1967). Ein geradezu klassisches Beispiel dafür ist ein Bild von 1929 mit dem Titel La trahison des images: 11 Es zeigt eine Pfeife, unter der in musterhafter Schulschrift geschrieben steht: »FHFL Q¶HVW SDV XQH pipe«. Ungefähr ein Jahr früher entstanden ist ein Bild, das weniger berühmt ist, allerdings präziser in unseren Zusammenhang gehört: Lectrice soumise (Abb. 1).12 Die geläufige Übersetzung (Fügsame Leserin) wirkt verharmlosend; angemessener schiene mir: Gefesselte Leserin. Eine Frau hält mit beiden Händen ein offenes Buch empor; ihre Augen (und was für Augen!) sind auf den Text fixiert, ihre ganze Mimik bringt ein Höchstmaß an Erregung zum Ausdruck ± und diese Spannung wird lange andauern, es sind noch viele Seiten zu lesen. Dabei hat die Leserin anscheinend keine Gelegenheit gehabt, sich eine bequeme Ruhelage auszusuchen; der Drang zu Lesen scheint sie mit einer gewissen Plötzlichkeit überkommen zu haben, und so steht sie eher labil, mit dem Rücken gegen eine Wand gelehnt. Eine solche Fesselung durch Suspense kann nur von einem Text ausgehen, nicht von einem Bild. Aber veranschaulicht werden kann ein solcher Ausdruck von Spannung wiederum nur in einem Bild, nicht in einem Text. Das Bild führt genau das vor Augen, was es selbst nicht zu bewirken vermag. So bringt Magritte die ganze Antinomie von Text und Bild auf den Punkt. Und damit komme ich endlich zu meinem eigentlichen Gegenstand. Es handelt es sich um vier attische Vasenbilder, die alle dem Kirke-Abenteuer des Odysseus gewidmet sind. Das älteste ist bald nach der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. entstanden, das jüngste gehört ins zweite Viertel des 5. Jahrhunderts. Aber bevor wir uns auf diese Bilder einlassen, müssen wir uns die Geschichte vergegenwärtigen. Im zehnten Buch der Odyssee wird erzählt, wie Odysseus und seine Gefährten durch einen Sturm auf eine unbekannte Insel verschlagen werden. Sie landen unversehrt, haben aber nichts mehr zu essen und sind am Ende ihrer Kräfte. Odysseus teilt die Mannschaft in zwei Hälften: Er selbst bleibt mit der einen beim Schiff; die andere, von Eurylochos angeführt, zieht los, um die Insel zu 10 11
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François Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München 1973, S. 62±64 und S. 264. Öl auf Leinwand, 60x81 cm. (1929): Los Angeles, County Museum of Art; David Sylvester, Sarah Whitfield: René Magritte, Catalogue Raisonné I: Paintings 1916±1930. London 1992, S. 331f., Nr. 303. Der Titel La trahison des images scheint mir weniger eindeutig, als man auf Anhieb meinen möchte: Ist der Genitiv als subjectivus oder objectivus zu verstehen? Begehen die Bilder einen Verrat oder sind sie dessen Opfer? Öl auf Leinwand, 92x73 cm. (1928): Privatsammlung; Sylvester/Whitfield (Anm. 11), S. 281 Nr. 230.
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erkunden. Sie wissen nicht, dass hier die zaubermächtige Kirke wohnt, die Tochter des Sonnengottes Helios. Als die Gefährten auf Kirkes Palast stoßen, tritt ihnen die Herrin entgegen und bittet sie freundlich ins Innere; alle folgen ihr ± mit Ausnahme des Eurylochos, der eine Falle befürchtet. Kirke bewirtet ihre Gäste mit einem Zaubertrank, schlägt sie mit einer Gerte und verwandelt sie allesamt in Schweine. Eurylochos, als einziger übrig geblieben, flieht in Panik zurück zum Schiff und beschwört Odysseus, die Insel so schnell wie möglich zu verlassen. Aber Odysseus will die verzauberten Gefährten nicht im Stich lassen; er bittet Eurylochos, ihn zum Palast zu führen; Eurylochos weigert sich, und Odysseus nimmt das mit Fassung zur Kenntnis: »Bleibe denn also du, Eurylochos, hier an dem Platze; >«@ DEHU LFK VHOEVW PX JHKHQ GHQQ KDUWHU =ZDQJEHUNRPPWPLFK´13 So spricht der wahre Held, nimmt sein Schwert und macht sich alleine auf den Weg. Unterwegs trifft er den Gott Hermes, der ihn über Kirkes Zaubermacht aufklärt und ihm ein Kraut schenkt, das Kirkes Zauber zu vereiteln vermag. Als Odysseus nun zum Palast kommt, empfängt Kirke ihn wie die anderen, reicht ihm denselben Trank; aber ihr Zaubermittel bleibt diesmal wirkungslos, und Odysseus zückt sein Schwert. Kirke erkennt schlagartig, mit wem siH HV ]X WXQ KDW GHQQ 2G\VVHXV¶ $QNXQIW ZDU LKU SURSKH]HLW worden; kurzentschlossen fordert sie ihn auf: »Stecke das Schwert in die Scheide und lasse uns beide dann unser Lager besteigen, auf daß wir, in Lager und Liebe miteinander vereint, uns gegenseitig YHUWUDXHQ´14 Odysseus schläft mit ihr, badet, nimmt ein reiches Mahl zu sich; schließlich gedenkt er auch der Gefährten und veranlasst seine Gastgeberin dazu, ihren Zauber wieder rückgängig zu machen ± was denn auch prompt geschieht. Soweit die Geschichte. Eine Schale in Boston zeigt auf ihrer einen Außenseite eine der frühesten Darstellungen der Episode (Abb. 2).15 In der Mitte sehen wir die Zauberin Kirke und einen der Gefährten, der von ihr gerade den Zaubertrank verabreicht bekommt; Kirke ist von Kopf bis Fuß nackt; das war im ursprünglichen Zustand noch auffälliger, weil ihr ganzer Körper in weißer Farbe (die inzwischen weitgehend abgeblättert ist) gemalt war und dadurch aus dem Bild herausstrahlte. Im Rahmen archaischer Ikonographie sind Männer zwar häufig nackt, Frauen aber stets bekleidet. Die Nacktheit der Kirke ist ganz und gar ungewöhnlich; sie hat nichts mit ihrer augenblicklichen Tätigkeit zu tun, sondern weist voraus auf die Liebesverbindung mit Odysseus. Das Bild zeigt Handlungsmomente, die chronologisch nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Das beginnt bereits mit der Verwandlung selbst. Einerseits sehen wir Kirke beim Mischen des Zaubertrunks: Sie hält eine Schale 13 14 15
Odyssee 10, 271ff. (Übersetzung von Roland Hampe. Stuttgart 1979). Odyssee 10, 333ff. Boston, Museum of Fine Arts, Inv. 99518; John D. Beazley: Attic Black-figure Vasepainters. Oxford 1956, S. 198; Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae. Hg. von Lilly Kahil u. a. München/Zürich 1981±1997 (im Folgenden zitiert als LIMC), hier Bd. 6, S. 52 s. v. Kirke Nr. 14*; Luca Giuliani: Bild und Mythos. Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst. München 2003, S. 187±190.
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in der Hand, die exakt der Schale entspricht, auf der das Bild dargestellt ist. Andererseits sind aber auch schon die Auswirkungen des Zaubers zu sehen. Nicht nur der unmittelbare Empfänger, sondern ebenso auch alle übrigen Opfer sind als Mischgestalten dargestellt: Ihr Körper ist menschlich, der Kopf und die Vorderläufe tierisch (mit Ausnahme des Gefährten gegenüber von Kirke: er braucht seine menschlichen Hände, um die Trinkschale zu ergreifen). Zwei Gestalten fliehen entsetzt: links ein Mann, der gerade in einen Löwen (das mutigste aller Tiere!) verwandelt worden ist; rechts ein anderer, der dem Zauber entronnen zu sein scheint, denn er hat seine menschliche Gestalt behalten: Das kann nur Eurylochos sein. In der Erzählung muss Eurylochos erst das Lager erreichen und dem Odysseus berichten, bevor dieser sich zum Palast der Kirke aufmacht: Dennoch sehen wir im Bild Odysseus bereits mit gezücktem Schwert von links heranstürmen. Wo alle fliehen, eilt er unerschrocken herbei. Der Maler hat sich an der Ungleichzeitigkeit der Handlungen nicht gestört. Sein Ziel bestand in einer möglichst prägnanten Charakterisierung der beiden Hauptdarsteller: Er zeigt Odysseus als heldenhaften Draufgänger und Kirke als mächtige Hexe von unwiderstehlicher erotischer Ausstrahlung. Ich nenne ein solches Bild polychron, weil es verschiedene Momente der Handlung vor Augen führt, die zeitlich nicht miteinander kompatibel sind. Lessing hat eine solche Art der Darstellung nicht nur für unstatthaft, sondern schlechterdings für unmöglich gehalten. Für ihn war Malerei von ihrem Wesen her an das räumliche Nebeneinander gebunden, das zeitliche Nacheinander bleibt ihr verwehrt. Der archaische Maler weiß von einer solchen Unmöglichkeit nichts. Dennoch: polychrone Bilder laufen im späten 6. Jahrhundert aus; die Maler gehen dazu über, sich in der Tat ± als ob sie Lessing gelesen hätten ± auf einen Augenblick der Handlung zu konzentrieren. Dieser Wechsel ist ein auffälliges und erklärungsbedürftiges Phänomen. Was hat die spätarchaischen Maler dazu veranlasst? Um das zu verstehen, muss man sich klar machen, dass das polychrone Bild neben evidenten Stärken auch gewisse Schwächen aufweist. Die auffälligste besteht bei unserem Beispiel wohl darin, dass es zwischen den Hauptprotagonisten zu keinem Zusammenstoß kommt. Kirke ist ganz mit ihrem Zauber beschäftigt und nimmt von Odysseus, der in ihrem Rücken naht, keinerlei Notiz. Damit konnten sich die Maler auf Dauer kaum zufrieden geben: macht das Aufeinanderprallen von Odysseus und Kirke doch gerade den dramatischen Wende- und Höhepunkt der Geschichte aus. Symptomatisch für die spätere Entwicklung sind zwei Lekythoi aus dem frühen 5. Jahrhundert: eine schwarzfigurige in Athen (Abb. 3)16 und eine rotfigurige in Erlangen (Abb. 4a±b).17 Beide konzentrieren sich auf die Gegenüber16
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Athen, Nationalmuseum Inv. 1133: C. H. Emilie Haspels: Attic Black-Figured Lekythoi. Paris 1936, S. 256, 49 Taf. 45,6; LIMC (Anm. 15) Bd. 6, S. 52 s. v. Kirke Nr. 17*; Giuliani (Anm. 15), S. 190±194. Erlangen, Universitäts-Sammlung Inv. 261; John D. Beazley: Attic Red-Figure VasePainters. 2. Auflage. Oxford 1963, S. 651,21; LIMC (Anm. 15) Bd. 6, S. 53 s. v. Kirke Nr. 22*; Giuliani (Anm. 15), S. 190±194.
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stellung des Helden und der Zauberin. Auf der Athener Lekythos sehen wir Kirke in der gleichen Haltung wie auf der archaischen Schale, allerdings nicht mehr nackt, sondern völlig korrekt in einen langen Chiton gekleidet. Ihr gegenüber sitzt Odysseus auf einem Felsen. Hinter Kirkes Rücken schreitet ein Mann mit Eberkopf aus dem Bild: offenkundig einer, der schon bei früherer Gelegenheit einen ähnlichen Trank genossen hat wie der, den Kirke gerade dem Odysseus anbietet; dadurch wird die Gefahr augenfällig, in der dieser schwebt; gleichzeitig wird deutlich, dass der Ebermann dem Helden nicht helfen kann, und dass dieser nun ganz auf sich selbst gestellt ist. In der Erzählung verwenden beide Protagonisten ein Zaubermittel. Nun besteht die Eigenart von Zaubermitteln gerade darin, dass sie eine Macht besitzen, die man ihnen nicht ansieht. Der Trank, den Kirke anbietet, hat eine Wirkung, die kein normaler Trank hat; und das Kraut, das Odysseus von Hermes geschenkt bekommen hat, ist alles andere als ein gewöhnliches Kraut. All das lässt sich leicht und mit wenigen Worten erzählen; aber wie soll man es darstellen? Sehen wir zu, wie der Maler der Lekythos dieses Problem löst: Zunächst führt er, durch den Auftritt einer Mischgestalt, die Wirkung des Zaubers vor Augen. Dazu kommt eine Einzelheit, die man auf den ersten Blick leicht übersehen könnte. Im Skyphos, den Kirke dem Odysseus entgegenhält, würde der Betrachter zunächst Wein vermuten, wäre da nicht das Stöckchen in Kirkes rechter Hand, mit dem sie gerade umgerührt hat. Wein aber wird niemals umgerührt. Das Detail genügt, um ± gerade bei weinkundigen Betrachtern ± die Vorstellung verderblicher Giftmischerei heraufzubeschwören. Und schließlich hat der Maler DXI GHQ $XVGUXFN YRQ 2G\VVHXV¶ *HElUGHQVSUDFKH JHVHW]W 'HU +HOG VLW]W PLW übergeschlagenen Beinen, seine ganze Haltung wirkt ebenso selbstsicher wie gelassen; die erhobene Rechte ist auf zwei Speere gestützt, die Linke ruht entspannt auf dem Oberschenkel: Odysseus blickt Kirke geradewegs in die Augen, ohne auch nur im Geringsten auf die Gebärde zu reagieren, mit der sie ihm den Skyphos anbietet; ganz im Gegenteil: Sein ganzer Oberkörper ist nach hinten bewegt, vom Skyphos weg; deutlicher lässt sich Ablehnung kaum zum Ausdruck bringen. Die etwas spätere Erlanger Lekythos (Abb. 4a±b) zeigt die Situation nach dem Umschwung. Die Darstellung verwendet das geläufige und für unterschiedliche mythologische Themen geeignete Bildschema einer Frau, die von einem bewaffneten Mann verfolgt wird. Die Deutung auf Odysseus und Kirke ergibt sich in unserem Fall einzig und allein daraus, dass die Frau mit den traditionellen Attributen der Zauberin ausgestattet ist. In der geschlossenen Linken hält sie noch die Gerte, mit der sie ihre Opfer zu schlagen pflegte: nun eine völlig wirkungslose Waffe im Vergleich mit OdysseXV¶JH]FNWHP6FKZHUW,QGHP.LUNH sich zu ihrem Verfolger umwendet, öffnet sie die rechte Hand zu einer Gebärde des Flehens; dabei entgleiten ihr Skyphos und Stöckchen, die in freiem Fall dargestellt sind: ein höchst effektvolles Mittel, um dem Betrachter die Geschwindigkeit und den abrupten Charakter dessen zu veranschaulichen, was sich vor seinen Augen abspielt.
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Der Vergleich mit der Bostoner Schale macht eine gewisse Aporie deutlich. Dort gab es eine starke Charakterisierung von Odysseus und Kirke, aber keine direkte Konfrontation zwischen ihnen und keine Zuspitzung der Handlung auf einen Höhepunkt. Die zwei Lekythenbilder verfahren genau umgekehrt. Beide konzentrieren sich auf die Wechselwirkung zwischen den Protagonisten und auf einen einzigen, entscheidenden Moment der Handlung. Aber lässt sich dieser Moment wirklich als ein Höhepunkt bezeichnen? Die Athener Lekythos zeigt Odysseus, wie er den angebotenen Trank zurückweist: aber das ist auch alles, was an Dramatik entwickelt wird; der Held, der auf der Bostoner Schale als heroischer Draufgänger präsentiert wurde, erfährt hier eine höchst zurückhaltende Charakterisierung. Die Erlanger Lekythos betont den Kontrast zwischen Aktion und Reaktion; aber das Bild-Schema, das der Darstellung zugrunde liegt, ist weitgehend aspezifisch. Odysseus ist nur noch ein schwertbewehrter Mann, Kirke nur noch eine fliehende Frau. Diese fliehende Frau wäre gar nicht mehr zu benennen, wären ihr nicht die traditionellen Attribute der Zauberin beigegeben: Gerte, Skyphos und Stöckchen ± auch wenn ihr letztere bereits aus der Hand fallen. Von dieser Zauberin geht keine Gefahr mehr aus: die zwischen Grausamkeit und Erotik schillernde Hexe aus der Odyssee ist auf der Lekythos kaum wieder zu finden. Bei beiden Lekythenbildern geht die temporale Zuspitzung der Handlung einher mit einem bemerkenswerten Verlust an Prägnanz und an Erzählsubstanz. Gibt es keine Möglichkeit, die Hauptpersonen interagieren zu lassen, ohne auf die Fülle der Charaktere zu verzichten? Die Umsetzung der Geschichte in das Medium der Bilder ist offenkundig mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden: vor allem dann, wenn man nur ein einziges Bild zur Verfügung hat. Wenn man über mehrere Bilder disponieren kann, dann ergeben sich ± wie wir gleich sehen werden ± doch andere und vielfältigere Möglichkeiten. Die bei weitem aufwendigste Darstellung des Kirke-Abenteuers findet sich auf einer Schale in Athen (Abb. 5: 490±480 v. Chr.), die dem Brygos-Maler zugeschrieben ist.18 Sie beansprucht das Innenbild ebenso wie beide Außenseiten; wir haben es daher auf einem einzigen Gefäß mit drei thematisch eng verknüpften Bildern zu tun. Von der Schale ist weniger als die Hälfte erhalten: dennoch lässt sich eine Vorstellung der ursprünglichen Komposition wiedergewinnen. Das Innenbild (Abb. 5) beschränkt sich auf Odysseus und Kirke; deren Palast wird durch kannelierte Säulen bezeichnet. Kirke bewegt sich nach rechts, den Skyphos mit dem Stöckchen in der Linken, von Odysseus dicht bedrängt: direkt vor ihrer rechten Achsel ist zwischen den Falten des Chitons noch die Spitze seines Schwertes zu sehen; dieses allerdings scheint Kirke nicht wesentlich zu beeindrucken: anders als auf der Erlanger Lekythos hat sie den Blick nicht gesenkt, sondern schaut dem Angreifer aus unmittelbarer Nähe gerade18
Athen, Akropolis-Museum Inv. 293; Botho Graef / Ernst Langlotz: Die antiken Vasen der Akropolis zu Athen. Bd. 2. Berlin 1933, S. 25 Nr. 293 Taf. 17f.; Beazley (Anm. 17), S. 369,5; LIMC (Anm. 15) Bd. 6, S. 51 und S. 53 s. v. Kirke Nr. 6 und 20; Giuliani (Anm. 15), S. 194±202 und S. 297f.
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wegs in die Augen; gerade diese Betonung der Nähe verleiht der Szene eine Note von Intimität, die mit der unmittelbaren Situation einer bewaffneten Bedrohung kaum in Einklang zu bringen ist; der Maler erzeugt dadurch eine Ambivalenz, die hervorragend zum weiteren Verlauf der Geschichte passt. Die Außenseite der Schale gliedert sich in zwei Bilder, die durch die beiden Henkel getrennt waren und die wir im Folgenden als A und B bezeichnen.19 Auf dem Außenbild A (oben) sehen wir links einen bärtigen Mann, der neben einem Haufen Gepäck in leicht gebeugter Haltung auf einem Felsen sitzt; er ist ± ganz ähnlich wie Odysseus im Innenbild ± als Reisender gekennzeichnet. Rechts von ihm standen zwei Gestalten, deren Oberkörper verloren ist; beide tragen ganz ähnliche Schuhe wie der Sitzende; der eine stützte sich auf einen Knotenstock, der andere auf zwei Speere: Es muss sich um Gefährten des Odysseus handeln. Überschnitten werden die beiden stehenden Gefährten von einem Eber und einem Panther, die sich nebeneinander in geduckter Haltung nach rechts bewegen. Hinter deren Vorderläufen erkennt man den bloßen rechten Fuß, die Chitonfalten und den Mantelsaum einer nach rechts eilenden Frau sowie die rechteckige Basis einer Säule, von der auch ein Rest des kannelierten Schaftes erhalten ist. Wenn die Gefährten ebenso wie Eber und Panther zu einem Außenraum gehören, so wird man erwarten, dass die Säule die Schwelle zu einem Innenraum markiert. Erhalten ist von diesem Teil des Bildes eine einzige Scherbe: Sie zeigt die hintere Hälfte eines Stuhles, der von einem netzartig gemusterten Überwurf mit langen Fransen bedeckt ist; oberhalb der Lehne hängt eine weibliche Haube an der Wand. Links davon bewegt sich eine Frau in Chiton und Mantel mit weitem Schritt nach links, zur Bildmitte hin; rechts vom Stuhl steht, dem Betrachter frontal zugewandt, eine weitere Frau mit einer Oinochoe in der gesenkten Rechten ± offensichtlich eine Dienerin. Das merkwürdigste Element im Bild sind zweifellos der Panther und der Eber. Einträchtig und im Gleichschritt nähern sie sich wie wohldressierte Haustiere der Schwelle, nicht ohne sich zu ducken und zum Gruß den linken Vorderlauf zu heben: So benehmen sich keine wilden Tiere. Eine unmittelbare Parallele dazu findet sich in der epischen Erzählung. Die Gefährten kommen zum Palast der Kirke ± und wundern sich: »Ringsum trieben sich Löwen herum und Wölfe der Berge; diese hatte sie selbst mit bösen Mitteln verzaubert; und sie stürmten nicht los auf die Männer, sondern sie standen auf und umwedelten sie mit ihren Schwänzen, den langen.«20 Auch das Schalenbild zeigt wilde Tiere, die sich artfremd benehmen. Deren absonderliches Verhalten wirkt, im Bild ebenso wie im Text, als Hinweis darauf, dass es an diesem Ort nicht ganz geheuer ist. Der Text liefert die narrative Erklärung gleich dazu (»diese hatte sie selbst mit bösen Mitteln verzaubert«); das Bild hingegen bleibt wortlos und
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Eine Abbildung der Außenseite der Schale ist zu finden bei Giuliani (Anm. 15), S. 198f., Abb. 39 c. Odyssee 10, 212±215.
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überlässt die Erklärung dem kundigen Betrachter, der allerdings kaum Mühe haben wird, Panther und Eber als Opfer von Kirkes Zauber zu identifizieren. Wenn die wilden Tiere im Bild den Kopf senken und gleichzeitig zum Gruß die Pfote heben, so gilt dies offenkundig einer Person, die aus dem Inneren des Palastes erwartet wird. Das erlaubt eine Identifizierung der Figuren, obwohl diese nur zum geringsten Teil erhalten sind. Die weibliche Gestalt, die an der Schwelle nach rechts eilt, kann kaum die Hauptperson sein, denn nicht vor ihr ducken sich Panther und Eber; es muss sich um eine Dienerin handeln, die gerade dabei ist, der Herrin die Ankunft der Gefährten zu melden. Kirke ist vielmehr in der zweiten Frau zu erkennen, die ± vom Stuhl überschnitten ± sich der meldenden Dienerin mit beschwingtem Schritt entgegenbewegt. Man braucht nicht viel Vorstellungskraft, um sich in ihrer linken Hand ± der angewinkelte Ellbogen ist unter dem Mantel deutlich zu sehen ± den Skyphos mit dem Zaubermittel zu ergänzen: ganz ähnlich, wie es auch im Innenbild der Schale zu sehen ist. Mit dem Zaubermittel in der Hand wird sie im nächsten Augenblick den vor dem Palast wartenden Fremden gegenübertreten. Der Maler hat also den Motor der Erzählung gedrosselt und die Handlung einen Augenblick vor dem Höhepunkt angehalten. Er zeigt nicht mehr die Verwandlung selbst, sondern die Situation unmittelbar davor. Von den Strapazen der Seefahrt sichtlich etwas mitgenommen aber ansonsten gelassen warten die Gefährten vor dem Palast auf das Erscheinen der Herrin des Hauses. Sie ahnen gar nicht, dass es sich bei Eber und Panther um verzauberte Menschen handelt, und dass ihnen selbst ein ähnliches, wenn möglich sogar noch schlimmeres Schicksal bevorsteht. Die ganze Spannung des Bildes lebt vom Gegensatz zwischen dem Vorwissen des Betrachters und der Ahnungslosigkeit der Protagonisten. Spärlicher sind die Reste von Außenbild B (unten). Die Gesamtstruktur scheint dabei die gleiche gewesen zu sein wie bei Außenbild A. In der linken Hälfte des Bildes ist ein Außenraum, in der rechten ein Innenraum dargestellt; als Trennung zwischen beiden Bereichen können wir auch in diesem Fall eine Säule vermuten ± von der allerdings nichts erhalten ist. Von der rechten Bildhälfte besitzen wir lediglich eine einzige Scherbe mit dem Rest eines Stuhles. Die Holzmaserung des Stuhlbeins sowie der Fransenüberwurf mit dem äußerst feinen, aufwendigen Netzmuster finden eine genaue Entsprechung im Stuhl von Außenbild A. Die aufwendige und arbeitsintensive Ausgestaltung dieses Sitzmöbels hat im Bild eine eigene Funktion: sie macht den Stuhl unverwechselbar und signalisiert, dass wir auf beiden Außenbildern exakt denselben Gegenstand erblicken, dass sich in beiden Bildern dieselbe Kulisse wiederholt: Hier wie dort ist der Innenraum von Kirkes Palast dargestellt ± wobei sich in diesem Innenraum jeweils eine ganz unterschiedliche Handlung abspielt. Für deren Rekonstruktion liefert das erwähnte Fragment von Außenbild B nur spärliche Anhaltspunkte. Links vom Stuhlbein ist lediglich noch der Rest einer weiblichen Figur in Chiton und Mantel zu sehen, deren Fuß nach rechts weist: Die Frau scheint eher auf das Innere des Palastes als auf den Schwellenbereich orientiert gewe-
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sen zu sein; die heftige Bewegung, die bei Außenbild A vom Palast ausging, findet hier keinerlei Entsprechung. Die linke Szene des Bildes ist allem Anschein nach wiederum draußen zu lokalisieren. Gerahmt wird sie links von zwei Zuschauern: Der eine sitzt, der andere steht in entspannter Haltung, die rechte Hand in die Hüfte gestemmt, die (verlorene) Linke auf zwei Speere gestützt; die Ähnlichkeit mit den wartenden Gefährten in der linken Partie von Außenbild A liegt auf der Hand; offenkundig handelt es sich auch bei diesen Zuschauern um Odysseus-Gefährten. Was nun aber rechts folgt, ist etwas völlig Neues. Wir sehen Odysseus (inschriftlich bezeichnet) in Ausfallstellung nach rechts, die Schwertscheide in der Linken; in der verlorenen Rechten muss er die gezückte Waffe gehalten haben, deren Spitze sich auf Höhe des Oberarms gerade noch erhalten hat; seine zwei Speere hat er, um freie Hand zu haben, vor sich in den Boden gestoßen. Vor Odysseus flieht eine Frau in Chiton und Mantel nach rechts; dabei ist der Chiton in Unordnung geraten und eine Brust aus dem Gewand herausgeglitten. Bei Kirke wäre ein solcher Mangel an Selbstbeherrschung kaum zu erwarten: Es wird sich hier also einmal mehr um eine Dienerin handeln. Die Herrin des Hauses ist eher in der rechten Bildpartie, im Inneren des Palastes zu vermuten. Dort scheint vorderhand noch Ruhe zu herrschen: Der Angriff des Odysseus kommt, so scheint es, völlig unerwartet. Es fällt auf, dass der Brygos-Maler die Episode ganz anders inszeniert, als man es aufgrund der Odyssee-Erzählung erwarten würde. Dort kommt Odysseus als scheinbar harmloser Besucher zu Kirke; diese geht zunächst nach ihrer üblichen Routine vor, aber der Zauber verfehlt diesmal seine Wirkung: Odysseus springt auf, zieht das Schwert und geht zum Angriff über. Das alles lässt sich wunderbar erzählen, aber nur schwer als dramatische Handlung ins Bild setzen: Das Anbieten eines Getränks ist nun einmal kein Vorgang, der sich dazu eignen würde, das Aufeinanderprallen von Kraft und Gegenkraft zu veranschaulichen. Der Brygos-Maler hat sich für eine ganz andere Art der Bildgestaltung entschieden. Nicht zufällig hat er für die Figur des Odysseus das gleiche Motiv gewählt, das wir bereits von der archaischen Schale in Boston her kennen. Odysseus erscheint als heroischer Einzelkämpfer, der sich mit gezücktem Schwert Zugang zu Kirke verschafft: Diese scheitert nicht wegen der Wirkungslosigkeit ihres Zaubers, sondern sie wird durch OdyVVHXV¶$QJULIIEHUUXPSHOW Dabei fallen einige narrative Pointen der epischen Erzählung unter den Tisch, aber das Bild gewinnt an anschaulicher Dramatik. Die beiden Außenbilder sind einander in formaler Hinsicht überaus ähnlich. Diese Ähnlichkeit ist umso reizvoller, als sie vom dargestellten Inhalt her in einem Verhältnis der spiegelsymmetrischen Umkehrung zueinander stehen. Außenbild A zeigt eine Situation, bei der die Aktion ganz und gar von Kirke und ihren Frauen ausgeht; die Gefährten des Odysseus bleiben passiv und driften einer ungeahnten Katastrophe entgegen. Genau umgekehrt ist es beim Außenbild B: hier hat Odysseus mit gezücktem Schwert die Initiative ergriffen; die Passivität liegt auf Seiten der Palast-Bewohnerinnen. Die Ruhe, die dort noch
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herrscht, beruht auf Ahnungslosigkeit: Kirke weiß noch nichts von der Ankunft des Odysseus und wird von dessen Angriff überrascht. Der archaische Maler der Bostoner Schale (Abb. 2) hatte unterschiedliche Momente der Handlung zu einem einzigen Bild zusammengefasst. Die polychrone Darstellung liefert eine Synopse der ganzen Geschichte, erreicht eine prägnante Charakterisierung der Protagonisten, vermag aber keine Spannung aufzubauen: Damit verpasst sie genau das, was einen entscheidenden Reiz der epischen Erzählung ausmacht. Wenn man umgekehrt Spannung erzeugen will, ist es sinnvoll, sekundäre Handlungsmomente zu vernachlässigen und sich auf die Interaktion der Protagonisten zu konzentrieren, ohne das Vorher und Nachher zu berücksichtigen; das führt beinahe zwangsläufig zum monochronen Bild. Aber die Konzentration auf einen Handlungsmoment beschneidet fast unvermeidlicherweise die Möglichkeiten zu einer ausgiebigen Charakterisierung der Protagonisten. Die Athener Lekythos (Abb. 3) z. B. zeigt den Augenblick, in dem Kirke dem Odysseus den Zaubertrunk anbietet; das ist ein spannender 0RPHQW DEHU GLH EHLGHQ 3URWDJRQLVWHQ EOHLEHQEODVV 9RQ 2G\VVHXV¶ +HOGHnmut und von Kirkes dämonischen Reizen ist nichts zu sehen. Es ist im Bildmedium außerordentlich schwierig, Spannung aufzubauen und zugleich die Hauptpersonen prägnant zu charakterisieren. Einen virtuosen Lösungsversuch hat der Brygos-Maler mit seiner Athener Schale unternommen (Abb. 5). Den Stoff der Erzählung hat er mit leichten Veränderungen auf drei monochrone Bilder verteilt, die zusammen eine Sequenz bilden. Durch diese zielgerichtete Folge ergeben sich ganz neue Suspense- und Überraschungseffekte. Das eine Außenbild folgt auf das andere; beide zusammen führen den Umschwung der Handlung vor Augen und bereiten gleichzeitig deren Kulmination im Innenbild vor. Hier findet der eigentliche Showdown statt, hier messen Odysseus und Kirke von Angesicht zu Angesicht ihre Kräfte. Der Betrachter ist dazu aufgefordert, die Dramatik der einzelnen Momente auszukosten und ihre Sequenz nachzuvollziehen: Dieser Aufforderung folgend, wird er sich ganz ähnlich verhalten wie jemand, der mit gefesselter Aufmerksamkeit einer spannenden Erzählung lauscht. Lessing hätte das nicht für möglich gehalten.
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Abb. 1:
René Magritte, Lectrice soumise (1928). Privatsammlung.
Abb. 2:
Attische schwarzfigurige Schale (550±540 v. Chr.). Boston, Museum of Fine Arts.
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Abb. 3:
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Attische schwarzfigurige Lekythos (490±480 v. Chr.). Athen, Nationalmuseum.
Abb. 4 a / b:
Attische rotfigurige Lekythos (470±460 v. Chr.). Erlangen, UniversitätsSammlung.
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Abb. 5:
Luca Giuliani
Attische rotfigurige Schale (490±480 v. Chr.). Athen, Nationalmuseum: Innenbild.
Bildnachweise: Abb.1 nach Sylvester (Anm. 11), S. 171. Abb. 2±5 nach Giuliani (Anm. 15), Abb. 37, 38, 39b und 39c.
III.
ÄSTHETISCHE THEORIEBILDUNG
Eric Achermann Eric Achermann Intensive Täuschung. Zur Ökonomie der Seelenkräfte in Lessings Laokoon
Intensive Täuschung Intensive Täuschung Zur Ökonomie der Seelenkräfte in Lessings Laokoon*
Es ist eine grundlegende Paradoxie, die Lessing im ehrwürdigen Präskript des ut pictura poesis zu entdecken glaubt. Seit Baumgartens Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, die wir mit einigem Recht als Gründungsdo0kument der Ästhetik bezeichnen können, favorisiert diese die Dichtung ± und damit die Sprache, die in ihrer Unnatur zur ästhetischen, sensitiven Erfahrung so gar nicht passen will. Falls ein Gedicht in den Worten Baumgartens eine vollkommen sinnliche Rede sein soll, dann erscheint die Frage durchaus sinnvoll, ob sich willkürliche, sprachliche Mittel überhaupt zu einer solchen Aufgabe eignen, oder ob es nicht klüger wäre, das Feld vollkommener Sinnlichkeit und sinnlicher Vollkommenheit ein für alle Mal den natürlichen Zeichen von Malerei, Bildhauerei und Musik zu überlassen. Bodmers und Breitingers Poetik einer malenden Dichtung, dies steht fest, gilt Lessing nicht als Lösung des Problems, sondern als missratener Kompensationsversuch, den Verlust an Sinnlichkeit durch mühsame Simulation einzuholen. Und auch die musikalische Einfärbung des sprachlichen Ausdrucks stellt keine wirkliche und wirksame Option dar. Lessing besteht vielmehr darauf, die spezifische Eignung der Mittel und deren ebenso spezifische Wirkung vorab zu bestimmen. Geeignete Mittel heißen bei Lessing »bequem«. Dass sprachliche Mittel unbequem sind, vielteilige und gleichzeitig klare Anschauungen zu bewirken, liegt für ihn auf der Hand: Das Übersetzen von Symbolen in Anschauungen bedeutet die Transformation von Zeichenerfahrungen in Erfahrung der bezeichneten Sachen und damit eine seelische Tätigkeit, die kräfteraubend ist. Die seelischen Kräfte zu überfordern aber, zerstört die Illusion und mit ihr die Wirkung von Kunst. Die Eignung einer Kunst, gewisse Gegenstände nachzuahmen, hängt von den Grenzen der psychischen Leistungsfähigkeit ab. Es geht im Laokoon also nicht primär um ein semiotisches Problem, sondern um eines der Psychologie. Nicht die Leistungsfähigkeit willkürlicher Mittel, sinnliche Gegenstände zu bezeichnen, wird in Frage gestellt, sondern das Vermögen der Seele, unbequeme Verhältnisse zu regeln und dort Wohlgefallen und Lust zu finden, wo Müh-
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Für Anregungen und Korrekturen danke ich Nadine Lenuweit und Marco Bunge-Wiechers.
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Eric Achermann
sal gefordert ist. Die Kunst aber besteht darin, räumliche und zeitliche AusdehnunJDOVHLQ*DQ]HVXQGDXIHLQHQ¾%OLFN½ überschaubar zu machen.
1. Grenzen der Kritik Trotz des prononciert essayistischen Duktus, der Lessings Laokoon von der ersten Seite an prägt, stehen hinter den antiquarischen und den etwas selteneren theoretischen Argumenten philosophische Überzeugungen, deren systematischer Anspruch nicht höher sein könnte. Bereits die Vorrede des Laokoon greift mit ihrer scharfsinnigen Positionierung des »Kunstrichters« zwischen den Polen »Liebhaber« und »Philosoph«1 auf eine Vorstellung zurück, die den Zeitgenossen aus kunsttheoretischen und ästhetischen Arbeiten durchaus geläufig ist: Dem Kunstrichter oder Criticus kommt es zu, die allgemeine Regel auf den besonderen Fall zu applizieren und mitunter die Geltungsansprüche von Regeln und Gesetzen durch besondere Fälle zu validieren. 2 Dies ist, wie gesagt, weder neu, noch sonderlich bemerkenswert. Bei genauerem Hinsehen überrascht jedoch, dass Lessing diese sowohl mittlere als auch vermittelnde Tätigkeit dezidiert in die Nähe zu derjenigen des Definierens rückt: Zwischen den allgemeinen Gesetzen jener Schönheit, die allen »Handlungen«, »Gedanken« und »Formen« einer Gattung der schönen Künste zukommt, und dem gefühlhaften Erleben des einzelnen Werkes ist es Aufgabe des Kunstrichters, die spezifischen Regeln einer jeweiligen Kunst auszumachen. Diese doch recht singuläre Ansicht von der Aufgabe eines Kunstrichters macht ± wie die Folge uns lehrt ± aus dem kritischen Geschäft ein heikles; es setzt nicht nur Kenntnis der Fakten sowie Erkenntnis der Prinzipien voraus, sondern verlangt darüber hinaus eine 1
2
Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Erster Teil, Vorrede. Studienausgabe. Hg. von Friedrich Vollhardt. Stuttgart 2012, S. 7. ± Alle Zitate nach dieser Ausgabe, die in Orthographie und Interpunktion dem Erstdruck folgt. Da sich hier nicht alle Paralipomena finden, da zudem alle übrigen Texte nach der Frankfurter Ausgabe zitiert werden, folgWGHU6HLWHQDQJDEHGHU$XVJDEH¾Vollhardt½ eine weitere Seitenangabe: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985±2003 (im Folgenden zitiert als FA für ¾Frankfurter Ausgabe½ mit Band- und Seitenzahl), hier Bd. 5/2, S. 13. Kapitel (lateinisch) bzw. Paralipomenon (arabisch). Vgl. Werner Strube: .XU]H*HVFKLFKWHGHV%HJULIIV¾Kunstrichter½. In: Archiv für Begriffsgeschichte 19 (1975), S. 50±82; zu Lessings Position ebd. S. 60±64. Was ¾Kritik½ betrifft, so handelt es sich um ein Lehnwort aus dem Französischen; betrachten wir den Eintrag im 'LFWLRQQDLUHGHO¶$FDGpPLHIUDQoRLVH des Jahres 1694 (Bd. I, S. 286f.), so finden wir hier bereits die gesamte BedeutungsZHLWHGLHDXFKKHXWHQRFKIU¾critique½ geläufig ist, d. h.: ein prüfendes Vermögen, eine prüfende Untersuchung, eine prüfende Disposition, ein Prüfer etc. Der große Erfolg von Dubos¶ Reflexions critiques aus dem Jahre 1719 dürfte zur Popularität des Begriffs im deutschsprachigen Raum beigetragen haben, wie er durch Gottscheds und Breitingers Critische Dichtkunst dokumentiert wird. Bekanntlich übersetzt Lessing Auszüge aus dem dritten Teil von Dubos¶ Hauptwerk in der Theatralischen Bibliothek.
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gesunde und geübte »Beurteilungs-« oder »Unterscheidungskraft« in der Anwendung der Regel auf den Einzelfall. Mehr noch steht diese Tätigkeit unter dem ständigen Verdacht, beim Fällen eines Schiedsspruchs »einen unrechten Gebrauch« von der Urteilskraft zu machen.3 Das Urteil aber trifft nicht primär das einzelne Werk, sondern dient der Präzisierung einer allgemeinen Regel im Hinblick auf deren spezifischen Geltungsbereich. Wie Titel und Vorrede des Laokoon in aller Deutlichkeit anzeigen, geht es um Grenzen. Wer sich anschickt, Grenzen zu ziehen, setzt Felder oder Räume voraus, die es ± anhand recht oder schlecht gewählter Kriterien ± zu bemessen gilt. Bezogen auf die »Grenzen der Mahlerey und Poesie« findet der Kunstrichter ein gemeinsames Feld vor, das durch Nachahmung (d. h. »abwesende Dinge als gegenwärtig, den Schein als Wirklichkeit« vorstellen) und »ähnliche Wirkung« (d. h. »Täuschung« und Gefallen)4 konstituiert wird. Der Kunstrichter im Lessingschen Verständnis setzt das Geschäft des Philosophen fort und dieses ipso facto voraus: Eine allgemeine Theorie, die auf dem sicheren Grund unzweifelhafter Prinzipien und demonstrativer »Schlüsse« baut, wird aufgrund und trotz der Ähnlichkeit der Wirkung, die von den genannten Darstellungen ausgeht, auf das Verhältnis von Darstellungsmittel und Wirkung hin untersucht, genauer: auf das Verhältnis sowohl der Materie als auch der Verwendungsweise nachahmender Mittel und deren Wirkung. 5 Und auch hierin sind uns »die Alten« vorausgegangen, »vergassen sie [doch] nicht einzuschärfen, daß, ohngeachtet der vollkommenen Ähnlichkeit dieser Wirkung, sie dennoch, sowohl in den Gegenständen als in der Art ihrer Nachahmung, (Ulh# kai tropoiw mimhsevw) verschieden wären.«6 Tatsächlich bildet seit den ersten Skizzen die allgemeine Theorie ästhetischer Wirkung sowie deren medienspezifische Ausdifferenzierung wenn nicht geradewegs das Herzstück, so doch zumindest das etwas nonchalant geknüpfte Band, das die bisweilen disparat wirkenden Kapitel des Laokoon zusammenhält.7 Auch sollte Lessings lässige Bemerkung, dass er »die methodische Entwickelung allgemeiner Grundsätze« nicht beabsichtige, sondern das Ganze vielmehr »unordentliche Collectanea zu einem Buche, als ein Buch« seien,8 uns nicht dazu verführen, das Fehlen solcher Grundsätze sowie daraus zu ziehender 3
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Vgl. Laokoon (VII), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 77f.; FA 5/2, S. 81, wo die Begriffe »Beurteilungs-« und »Unterscheidungskraft« miteinander sowie »verderbten Geschmack« korreliert werden und als geradezu austauschbar erscheinen. Laokoon (Vorrede), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 7; FA 5/2, S. 13. Ebd. Laokoon (Vorrede), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 8; FA 5/2, S. 14. Es handelt sich um ein Zitat aus Plutarch (De gloria Athenensium, 356F), das bei Plutarch direkt auf die ebenfalls von Lessing (ebd.) zitierte Aussage Simonides¶ »daß die Mahlerey eine stumme Poesie, und die Poesie eine redende Mahlerey sei«) folgt. Vgl. hierzu den genauen Vergleich zwischen den Entwürfen und dem gedruckten Text bei Hugo Blümner: Einleitung zu Lessings Laokoon. Hg. und erläutert von dems. Berlin 21880, S. 75±118. Laokoon (Vorrede), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 9; FA 5/2, S. 15.
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Schlüsse zu vermuten. Die eigentliche kunstrichterliche Tätigkeit besteht nämlich weder in der Untersuchung der Einzelwerke, noch einzelner Beiträge zu diesen Werken; sie erfordert vielmehr eine Prüfung der Reichweite oder des Geltungsbereichs der Regeln, die sich aus Prinzipien und Gesetzen ableiten lassen. Diese kritische Prüfung wählt sich den Essay als Form und nicht die systematische Abhandlung, da einzig »Beispiele«, die »nach der Quelle schmecken«,9 einen sicheren Erfahrungsgrund für die Differenzierung der allgemeinen Theorie liefern. Wer der Quelle folgt, der läuft aber nicht immer schnurstracks, sondern mäandert bisweilen durchs Gelände.10 Um die Originalität der kritischen Bemühungen im Laokoon genauer zu erfassen, lohnt sich ein Blick auf den Anfang eines Textes, der in einem engen Zusammenhang11 zu den ursprünglichen theoretischen Einsichten und Absichten des Laokoon steht: Die schönen Künste und Wissenschaften sind für den Virtuosen eine Beschäftigung, für den Liebhaber eine Quelle des Vergnügens, und für den Weltweisen eine Schule des Unterrichts. In den Regeln der Schönheit, die das Genie des Künstlers empfindet, und der Kunstrichter in Vernunftschlüsse auflöset, liegen die tieffsten Geheimnisse unsrer Seele verborgen. Jede Regel der Schönheit ist zugleich eine Entdeckung in der Seelenlehre. Denn da sie eine Vorschrift enthält, unter welchen Bedingungen ein schöner Gegenstand die beste Wirkung in unser Gemüth thun kann; so muß sie auf die Natur des menschlichen Geistes zurückgeführt, und aus dessen Eigenschaften erklärt werden können. Wenn also der Weltweise die Spuren der Empfindungen auf ihrem dunkeln Wege verfolgt; so müssen
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Ebd.; vgl. auch Laokoon (XXVI), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 187; FA 5/2, S. 183: »Blos aus allgemeinen Begriffen über die Kunst vernünfteln, kann zu Grillen verführen, die man über lang oder kurz, zu seiner Beschämung, in den Werken der Kunst widerlegt findet.« Laokoon (XX), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 145; FA 5/2, S. 144: »Ich lenke mich vielmehr wieder in meinen Weg, wenn ein Spatziergänger anders einen Weg hat.« Es handelt sich hierbei um einen Erz-Topos essayistischen Schreibens, dem wir prominent bereits bei Montaigne begegnen, vgl. Jutta HeiQ]¾Gedanken½ über Gott und die Welt. Die Erprobung der Anthropologie im Essay bei Meier, Krüger und Nicolai. ,Q¾Vernünftige Ärzte½. Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung. Hg. von Carsten Zelle. Tübingen 2001 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 19), S. 140±155, hier S. 144±146; Eric Achermann: Verbriefte Freiheiten. Zu Epistolarität und Essayistik bei Hamann. In: Acta des zehnten Internationalen HamannKolloquiums. Hg. von Manfred Beetz und Johannes von Lüpke. Tübingen [im Druck]. Blümner (Anm. 7), Einleitung zu Lessings Laokoon, S. 61: es handle sich um »diejenige Schrift Mendelssohns [«], welche gewissermaßen das Fundament geschaffen, worauf Lessing seinen Prachtbau errichtet, die Schrift, ohne welche vielleicht der Laokoon nie geschrieben worden wäre, oder wenigstens nicht in dieser Gestalt.« In seiner bemerkenswerten Untersuchung Moses Mendelssohn und die deutsche Ästhetik (Königsberg 1904, S. 205) fasst Ludwig Goldstein die Übereinstimmungen zwischen Ueber die Hauptgrundsätze und dem Laokoon zusammen: »die Einteilung der Künste nach natürlichen und nach willkürlichen Zeichen;/ die Unterscheidung von Zeichen, die neben einander im Raume, und solchen, die neben einander in der Zeit wirken; ferner die [...] Folgerung, daß sich jede Kunst auf das Gebiet zu beschränken habe, das sie vermöge ihrer Zeichen beherrscht, und die zweite Folgerung, daß die Wahl eines möglichst günstigen Augenblicks, der das Vergangene und Zukünftige erraten läßt, ein Haupterfordernis jeder Darstellung der bildenden Kunst sei.«
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sich ihm neue Aussichten in der Seelenlehre aufthun, die er sonst durch Vernunftschlüsse XQG (UIDKUXQJHQ QLH HQWGHFNW KDEHQ ZUGH >«@ 0DQ ZLUG DOVR GLH (UVFKHLQXQJHQ EH\ welchen die Triebfedern unsrer Seele in der größten Bewegung sind, sorgfältig zergliedern, und mit der Theorie vergleichen müssen, um auf diese ein neues Licht zu verbreiten, und ihre Grenzen durch neue Entdeckungen zu erweitern. Bey welchen Erscheinungen sind aber wohl alle Triebfedern der menschlichen Seele mehr in Bewegung, als bey den Wirkungen der schönen Künste?12
Die Trias »Virtuose«, »Liebhaber«, »Weltweise«, die Mendelssohn in seinem Ueber die Hauptgrundsätze der schönen Wissenschaften und Künste gut zehn Jahre vor Erscheinen des Laokoon entwickelt, erinnert stark an Lessings eigene Begriffstriplette. Mendelssohn setzt beim Virtuosen und somit bei der Kunstproduktion oder -ausübung an,13 Lessing hingegen lässt ihn unerwähnt. An seine Stelle tritt der Kunstrichter, dessen Gegenstände zwar ebenfalls Regeln sind, wobei er diese jedoch nicht bloß empfindet, sondern als bestimmte Verhältnisse von Mittel und Wirkung auf ihre Angemessenheit hin untersucht. Nichtsdestoweniger, und zahlreiche Beispiele des Laokoon belegen es, besteht die Aufgabe des Kunstrichters darin, das feine und richtige Gefühl des Virtuosen für Wirkung zu ergründen, um sich aus diesen Erkenntnissen einen Faden zur Erkundung der verworrenen Gänge der Seele zu spinnen. Wie ein relativ
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Moses Mendelssohn: Ueber die Hauptgrundsätze der schönen Wissenschaften und Künste. In: Ders.: Philosophische Schriften. Zweyter Theil. Berlin 1761, S. 69f. Die Abhandlung erscheint ein erstes Mal 1757 als Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften in Nicolais Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (Leipzig 1757, 1. Bd., 2. Stück, S. 231±268). Die divergierende Erstfassung findet sich unter diesem Titel in: Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Hg. von Ismar Elbogen, Julius Guttmann, Eugen Mittwoch, fortgesetzt von Alexander Altmann. Bd. I. Schriften zur Philosophie und Ästhetik. Bearbeitet von Fritz Bamberger. Stuttgart-Bad Canstatt 1971, S. 167. Hier und im Folgenden wird nach der Ausgabe 1761 zitiert. ± Auf die Ähnlichkeit des Anfangs der Hauptgrundsätze mit der Vorrede des Laokoon hat bereits Monika Schrader (Laokoon ± ¾eine vollkommene Regel GHU.XQVW½. Ästhetische Theorien der Heuristik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Winckelmann, (Mendelssohn), Lessing, Herder, Schiller, Goethe. Hildesheim, Zürich 2005, S. 39) aufmerksam gemacht. [Zedler] Grosses und vollständiges Universal-Lexicon. Bd. 48. Leipzig, Halle 1746, Sp. 1789: »Virtuosen, It. Virtuosi, heissen im sittlichen Verstande tugendhaffte Personen; im politischen Verstande aber solche Leute, die in einer gewissen Kunst und Wissenschafft, als in der Musick, Mahlerey, Bildhauerey u. d. g. fürtreflich sind, und andere übertreffen.« Mit Shaftesbury HQWZLFNHOW VLFK ¾virtuoso½ zu einem Modewort, das der Bezeichnung für einen durch Tugend und schöne Künste veredelten Weltmann dient; vgl. etwa Anthony Ashley-Cooper, Earl of Shaftesbury: Soliloquy: Or Advice to an Author, III, 3. In: Ders.: Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times. Bd. I. London 61737, S. 383f.: »I am persuaded that to be a Virtuoso (so far as befits a Gentleman) is a higher step towards the becoming a Man of Virtue and good Sense, than the being what in this Age we call a Scholar.« In unserem Zusammenhang erscheint aber die engere, auch heute noch gängige Bedeutung »Meister seiner Kunst« naheliegender, vgl. Moses Mendelssohn: Ueber die Empfindungen (Fassung 1771), 4. Brief. In: Jubiläumsausgabe (Anm. 12), Bd. I, S. 247.
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ausgefeilter, nichtsdestoweniger für die Endversion verworfener Passus belegt,14 ist es dabei Lessing nicht primär um ein präskriptives Einwirken auf die eigentliche Kunstproduktion zu tun. Mit einiger Skepsis bestimmt Lessing das Verhältnis zwischen Virtuose und Kunstrichter, was dessen Beitrag zur Verbesserung der Kunstfertigkeit betrifft ± ein Beitrag, der ja bei der einmal gewählten Prämisse höchst zirkulär wäre: Ob der Virtuose selbst aus diesen Untersuchungen einigen Nutzen ziehen kann, die ihn das nur deutlich denken lehren, worauf ihn sein bloßes Gefühl bei der Arbeit unbewußt führen muss: dieses will ich nicht entscheiden. Wir sind darin einig, daß die Critik für sich eine Wissenschaft ist, die alle Cultur verdienet; gesetzt, daß sie dem Genie auch zu gar nichts helffen sollte.15
Im Gegensatz zu so manchem Zeitgenossen hat die Kritik hier weder der Verbesserung der Kunst, noch ± wie sich plausibel daraus folgern lässt ± des Geschmacks zu dienen; sie ist selbst auch keine Kunst, sondern erscheint vielmehr als erkenntnisorientierte »Wissenschaft«. Aus den Wirkungen künstlerischer Produktion schließt der Kritiker auf die intuitiven Entscheidungen, die diese Produktion leiten, und versteht diese bei großen Künstlern als privilegierten Ausdruck der Regeln. Insbesondere Mendelssohns Einsicht, dass »jede Regel GHU 6FK|QKHLW >«@ ]XJOHLFK HLQH (QWGHFNXQJ LQ GHU 6HHOHQOHKUH« sei, da sie »eine Vorschrift enthält, unter welchen Bedingungen ein schöner Gegenstand die beste Wirkung in unser Gemüth« tut, scheint ± mit einem noch zu erläuternden Vorbehalt ± ziemlich genau Lessings Vorhaben zu entsprechen. Entschieden also, vielleicht gar noch entschiedener als jener Mendelssohns, ist Lessings Kunstrichter Seelenkundler. Denn auch die mitunter mikrologischen Antiquitäten sind nicht Selbstzweck, sondern versuchen primär die Produktions- und Rezeptionsbedingungen freizulegen, um unter diesen mitbedachten Bedingungen den Vergleich zwischen Dichter und Maler zu ermöglichen. 16 Der Kunstrichter schlüpft also in die Rolle des empirischen Psychologen.17 Er empfindet als Liebhaber die Wirkung, die von den Werken ausgeht, und 14
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Vermutlich aus dem Jahre 1763; zur Datierung vgl. Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Hg. von Karl LachmannDXI¶VQHXH GXUFKJHVHKHQH XQG YHUPHKUWH $XIODJH besorgt durch Franz Muncker. Bd. 14. Leipzig 1898, S. 342. [Laokoon, Paralipomenon 3 (I)] FA 5/2, S. 218f. Lessing wird diese Anmerkung in der ausgearbeiteten Version auf Einspruch Mendelssohns hin fallen lassen; vgl. Blümner (Anm. 7), S. 78. Dennoch hält Lessing auch in der Druckfassung einzig an dem negativen Einfluss der Kritik auf die Kunstausübung fest; Laokoon (Vorrede), Ed. Vollhardt (Anm. 1) S. 9; FA 5/2, S. 15: »Ja diese Aftercritik hat zum Theil die Virtuosen selbst verführet.« Laokoon (IX), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 80; FA 5/2, S. 83f.: »Wenn man in einzeln Fällen den Mahler und Dichter mit einander vergleichen will, so muß man vor allen Dingen wohl zusehen, ob sie beyde ihre völlige Freyheit gehabt haben, ob sie ohne allen äußerlichen Zwang auf die höchste Wirkung ihrer Kunst haben arbeiten können.« Diese Absicht erkennt Nicolai, der in einer Anmerkung zu Laokoon, Paralipomenon 3 (I), FA 5/2, S. 218 die Kritik nach Wolffscher Manier »wie die Psychologie in rationalem et empyricam [sic!]« unterschieden sehen möchte.
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somit empfindet er den Künstler nach, der die Regeln der Schönheit empfindet. Diese Empfindung unterzieht er einer Analyse, indem er sie gegen allgemeine Regeln hält, um diese zu bestätigen, zu korrigieren oder zu verwerfen. Der Nutzen des kritischen Geschäfts liegt sowohl in der Erforschung der Menschennatur als auch ± und hauptsächlich negativ ± in der Einschränkung des fehlgeleiteten Imperativs, der dem ut pictura poesis entspringt. Diese »Einschränkung der Kunst«, die nur angeblich eine »Verkümmerung unsers Vergnügens, zu seyn scheinet«, entpuppt sich bei näherer Betrachtung »als eine weise und uns selbst nützliche Enthaltsamkeit«.18 Die Grenze, die Lessing zu ziehen beabsichtigt, ist nicht zuletzt eine Schutzgrenze, welche Dichtung und Malerei vor Übergriffen bewahren sollte.19 Die Regeln gehen bei beiden frei aus ihrer Natur hervor; sie bedeuten Selbstbestimmung statt Fremdherrschaft, die sich aus einem allzu einfachen Prinzip und dessen Verabsolutierung ergibt. Gegen einen solchen Absolutismus, der künstlerische Mimesis unter das Diktat einer malerischen Anschauung stellt, setzt Lessing regionale Unterschiede. Sie bemessen ein gerechtes und billiges Urteil am jeweiligen Gesetz, das von alters her und natürlicherweise herrscht. Es handelt sich also um eine HLJHQVWlQGLJH 9RUVWHOOXQJ YRQ ¾Kritik½, die zwar der »Critic in der weitern Bedeutung« eines Baumgarten oder der »theoretischen Beurtheilungskunst« eines Georg Friedrich Meiers entspricht,20 mit ihrem Fokus auf den spezifischen Regeln jedoch den Ort einer künftigen Kunsttheorie genauer zu umreißen versucht. Auf alle Fälle ist Lessing mehr um Entdeckung der Regeln als um deren Applikation bekümmert, ja, sein Richter scheint paradoxerweise mehr der Jurisprudenz als der Jurisdiktion verpflichtet. Geht es aber um den Nutzen dieser Wissenschaft, die »alle Cultur« verdient, so scheint das eigentümliche Wechselspiel zwischen kunstvoller Polemik und akribischer Philologie, das die Mehrzahl der Kapitel des Laokoon prägt, eher im Dienste des Anwalts zu stehen, der in eigentlichen Ehrenprozessen die mustergültigen Leistungen der Alten gegen die falschen Einsichten der modernen Kunstrichter in ihrer falsch verstandenen Rolle als Kläger verteidigt. 18 19
20
Laokoon (XI), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 97f.; FA 5/2, S. 100. Vgl. Laokoon, Paralipomenon 3 (VIII), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 215; FA 5/2, S. 228, wo Lessing die Metapher eigentlicher Hoheitsgebiete bemüht, die »Eingriffe« ins Nachbargebiet nur im Grenzverkehr mit »Nachsicht« behandeln. Baumgarten unterscheidet zwischen einer weiteren und einer allgemeinen Kritik; Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysik, § 452. Übers. von Georg Friedrich Meier. Hg. von Dagmar Mirbach. Jena 2004, S. 140: »Ein Kunstrichter in der weitern Bedeutung (criticus significatu latiori) ist derjenige, welcher die Fertigkeit hat, von den Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten deutlich zu urtheilen. Die Wissenschaft ist die Critic in der weitern Bedeutung (critica signifactu generali).« Entspricht Metaphysica (§ 607, S. 220f.), wo Baumgarten den Begriff »aesthetica critica« verwendet. ± Georg Friedrich Meier: Abbildung eines Kunstrichters, § 5. Halle im Magdeburgischen 1745, S. 10: »Die theoretische Beurtheilungskunst soll, die Vollkommenheit und Unvollkommenheit der Dinge, entdecken. >«@ Die Wissenschaft, in welcher diese Fragen beantwortet werden, ist der erste Theil der theoretischen Beurtheilungskunst, und man kann sie die Instrumental=Critik oder die Logik der Critik nennen.«
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2. Seelische Wirkung Dass der BeJULIIGHU¾Wirkung½ in Lessings Überlegung eine prominente Rolle spielt, ist unbestritten, ja häufig LVW JDU YRQ HLQHU HLJHQWOLFKHQ ¾Wirkungsästhetik½ die Rede. Die Bezeichnung ist begründet ± solange wir uns bewusst sind, dass sie im Grunde genommen alternativlos ist: Eine Ästhetik, die keine Wirkungsästhetik wäre, erschiene den Zeitgenossen als eine contradictio in terminis.21 Die vordringliche Frage ist nicht, ob Lessing wirkungsästhetisch, sondern ob er überhaupt ästhetisch, das heißt in der Traditionslinie eines Baumgarten, Meier, Abbt, Mendelssohn, Eberhard etc. argumentiert.22 Für die ge21
22
Schmidt etwa behauptet in seiner gelungenen Darstellung der Ästhetik Baumgartens, diese argumentiere produktionsästhetisch: »[M]it der Übernahme der ars-Konzeption bleibt die %DXPJDUWHQVFKH ¾Aesthetica½ ± wie auch ihre poetologische [sic!] Vorgängerinnen ± bei GHU¾produktions-ästhetischen½ Problemstellung stehen und zwar im Sinne einer normativdeduktiv verfahrenden Kunst-Lehre; welche Konsequenzen dies für Status und Funktion VLQQOLFKHU(UIDKUXQJKDWOLHJW>«@DXIGHU+DQG,KUH7KHPDWLVLHUXQJVHW]WQLFKWEHLPLndividuellen Rezeptions- bzw. Apperzeptionsakt an, d. h. bei der subjektiven Erfahrung sinnlich-anschaulich gegebHQHU6DFKYHUKDOWHLP0RGXVGHU¾Anschauung½, sondern bei der Bestimmung jener Erfahrungs- und Urteilsschemata, durch die die Erkenntnispraxis der ¾freien Künste½ im allgemeinen definiert ist.« Horst-Michael Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand. Zur philosophischen und poetologischen Begründung von Erfahrung und Urteil in der deutschen Aufklärung. Leibniz, Wolff, Gottsched, Bodmer und Breitinger, Baumgarten. München 1982, S. 202. ± Genau besehen heißt dies jedoch bloß, Baumgarten argumentiert in Sachen Poetik präskriptiv und zwar auf den Grundlagen seiner Wissenschaft von der Ästhetik. Diese Wissenschaft hat allgemeine Grundsätze, die deduktiv entwickelt und durch Erfahrung befördert, gefestigt und illustriert werden. Ähnliches gilt auch für die Mendelssohn nicht selten pejorativ attribuierte »Vollkommenheitsästhetik« (Belege bei Wolfgang Vogt: Moses Mendelssohns Beschreibung der Wirklichkeit menschlichen Erkennens. Würzburg 2005, S. 177f.), bedeutet doch »Vollkommenheit« nicht einfach das Festhalten an überkommenen Idealen, sondern vorerst nichts anderes als die Einheit in der Mannigfaltigkeit, die als überschaubares Ganzes eben jene ideale Disposition mitbringt, welche die psychische Wirkung der Lust ermöglicht. Unter den zahlreichen Studien zur Verbreitung der Baumgartenschen Ästhetik vgl. Hans 5HLVV 7KH ¾1DWXUDOL]DWLRQ½ RI WKH 7HUP ¾Ästhetik½ in Eighteenth-Century German. Alexander Gottlieb Baumgarten and his Impact. In: The Modern Language Review 89/3 (1994), S. 645±658; ders.: Georg Friedrich Meier (1718±77) und die Verbreitung der Ästhetik. In: Geschichtlichkeit und Gegenwart. FS für Hans Dietrich Irmscher. Hg. von Hans Esselborn und Werner Keller. Weimar, Köln 1994, S. 13±34. ± Zur Bedeutung Wolffs für Lessing vgl. Ursula Goldenbaum: Lessing ein Wolffianer? In: Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses. Hg. von Jürgen Stolzenberg und Oliver-Pierre Rudolph. Bd. 4. Hildesheim, Zürich 2008 (Christian Wolff: Gesammelte Werke, Materialien und Dokument. Hg. von Jean École, Hans Werner Arndt u. a. Bd. 104), S. 267±281, wobei hier die sehr schematische Parteieinbildung zu bemängeln ist. So werden nicht nur die beiden Baumgarten, sondern auch noch Bodmer und Breitinger der anti-Wolffschen Partei zugeordnet (S. 268f.). Die Dinge dürften hier etwas schwieriger sein; vgl. etwa Mario Casula: La metafisica di A. G. Baumgarten. Mailand 1973, vor allem S. 39±56 und S. 72± &DUVWHQ =HOOH ¾Vernünftige Gedanken von der Beredsamkeit½ ± Bodmers und Breitingers ästhetische Schriften und Literaturkritik. In: Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Hg. von Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer. Göttingen 2009, S. 25±41,
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nannten Autoren nämlich ist Ästhetik eine Wissenschaft der seelischen Wirkung, und sie kann gar nichts anderes sein, insofern Ästhetik seit Baumgartens Bestimmung des Begriffs per definitionem eben dieses Ziel verfolgt. Sie bildet denjenigen Teilbereich einer allgemeinen Erkenntnislehre (gnoseologia), der sich der Entstehung, Natur und Funktion sinnlicher Vorstellungen widmet,23 wobei Vorstellungen als Veränderungen oder Bewegungen der Seele verstanden werden. Wer von den Wirkungen in der Seele auf die Kräfte, welche die seelischen Veränderungen verursachen, schließt, der bewegt sich in der von Wolff begründeten psychologischen Erkenntnistheorie, genauer in der empirischen oder experimentellen Psychologie. 24 Betrachten wir die Übersetzungen, Rezensionen und Kommentare, welche die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Theorien der Kunst dokumentieren, so stellen wir fest, dass nicht nur Mendelssohn, sondern auch Lessing mit großer Selbstverständlichkeit und einem gehörigen Maß kritischer Distanz sowohl die französischen als auch englischen Beiträge ± handle es sich nun um Du Bos, Shaftesbury, de Pouilly, Batteux, Hutcheson, u. a. m. ± am Vorbild der ihrer Meinung nach systematischeren und gründlicheren deutschen Philosophie eines Leibniz und Wolff bemessen.25
23
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hier S. 26±28; Hanspeter Marti: Die Schule des richtigen Denkens. Logikunterricht und Disputation an der Zürcher Hohen Schule und der Einfluß Johann Jakob Breitingers. In: Ebd, S. 149±171, hier S. 158±160. Für eine kurze und klare Darstellung dieser gnoseologia inferior vgl. Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten. Wiesbaden 1972 (Studia Leibnitiana. Supplement 9), S. 42±46. Zu dieser Synonymie und ihrer Bedeutung vgl. das anonyme Kompendium zur Wolffschen 3V\FKRORJLH 3V\FKRORJLH RX WUDLWp VXU O¶DPH &RQWHQDQW OHV &RQQRLVVDQFHV TXH QRXV HQ GRQQHO¶([SpULHQFH Par M. Wolf. Amsterdam 1745. (Ndr.: Christian Wolff: Gesammelte Werke, Materialien und Dokument. Hg. von Jean École, Hans Werner Arndt u. a. Bd. 46. Hildesheim, Zürich, New York 1998, S. 42f. ± Zu Umfang und Bestimmung von Wolffs Psychologia empirica vgl. Norbert Hinske: Wolffs empirische Psychologie und Kants pragmatische Anthropologie. Zur Diskussion über die Anfänge der Anthropologie im 18. Jahrhundert. In: Die Bestimmung des Menschen. Hg. von dems. Hamburg 1999 (Aufklärung 11/1), S. 97±&KDUOHV $&RUU&KULVWLDQ:ROII¶V'LVWLQFWLRQEHWZHHQ(PSLULFDO and Rational Psychology. In: Akten des II. Internationalen Leibniz-Kongresses. Hg. von Kurt Müller, Heinrich Schepers und Wilhelm Totok. Bd. III. Metaphysik, Ethik, Ästhetik, Monadenlehre. Wiesbaden 1975, S. 195±215. Zu Mendelssohns Wolffianismus vgl. Lorenzo Lattanzi: Die ¾SRSXOlUH½ Wolff-Rezeption am Beispiel von Moses Mendelssohns Besprechungen in Nicolais Zeitschriften. In: Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Teil 5. Hg. von Jürgen Stolzenberg und OliverPierre Rudolph. Hildesheim, New York 2010 (Christian Wolff: Gesammelte Werke, Materialien und Dokument. Hg. von Jean École, Hans Werner Arndt u. a. Bd. 105), S. 124±144. Dass es hauptsächlich die essayistische Form ist, die Mendelssohn an den französischen und englischen Autoren fasziniert, hält bereits Barsch fest; vgl. Moritz Barsch: Einleitung zu: Moritz Mendelssohns Schriften zur Philosophie, Aesthetik und Apologetik. Hg. von dems. Bd. I. Leipzig 1880, S. XX. Dass natürlich zahlreiche Übereinstimmungen zwischen der angelsächsischen und der kontinentalen Erkenntnistheorie zu finden sind, zeigt der Vergleich zwischen Lockescher und Wolffscher Psychologie; hierzu Davide Poggi: /¶¾(VVD\½GL/RFNH HOD¾3V\FKRORJLDHPSLULFD½GL:ROIIIn: Christian Wolff tra psicologia empirica e psicologia razionale. Atti del seminario internazionale di studi. Hg. von Ferdinando Luigi Marcolungo. Hildesheim, New York 2007 (Christian Wolff: Gesammelte
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Zustimmung erfahren diese Autoren in der Regel dann, wenn ihre kunsttheoretischen Ansichten in die eigene schulphilosophisch geprägte Lexik gebracht und so auf das Fundament der nach-Wolffschen Ästhetik und Psychologie gestellt sind. Die Kenntnis derjenigen philosophischen Tradition, deren Anhänger sich selbst als »Harmonisten« bezeichnen,26 ist für das Verständnis des Laokoon unabdingbar.27 Dabei ist nicht in erster Linie entscheidend, ob die metaphysischen Implikationen der Leibnizschen Monadologie in toto übernommen werden,28 sondern vielmehr, dass eine geregelte Beziehung zwischen körperlichen Bewegungen und seelischen Vorstellungen als fruchtbare Hypothese die Entwicklung einer wissenschaftlichen Psychologie ermöglicht. 29
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Werke, Materialien und Dokumente. Hg. von Jean École, Hans Werner Arndt u. a. Bd. 106), S. 63±94, hier vor allem S. 74±77. Und auch ein Einfluss Wolffs auf die französischen Debatten darf nicht ausgeschlossen werden; vgl. Thierry Arnauld, Wolf Feuerhahn, Jean-François Goubet und Jean-Marc Rohrbasser: Introduction zu: Christian Wolff: Discours préliminaire sur la philosophie en général. Paris 2006, S. 7±56, hier S. 25±29. Vgl. Baumgarten: Metaphysik, § 329, S. 98; Georg Friedrich Meier: Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt, § 105. Halle 1744. Neudruck: Frankfurt am Main 1971, S. 154±156; Mendelssohn nimmt Baumgartens Begriff auf und schematisiert die divergierenden Ansichten zum commercium mentis et corporis ganz nach dessen Metaphysik; Moses Mendelssohn: Ueber die Wahrscheinlichkeit. In: Ders.: Schriften zur Philosophie und Ästhetik, S. 510; eben diese Darstellung teilt er Lessing in einem Brief vom 19. November 1755 mit (FA 11/1, S. 70f.). 6R UHVXOWLHUHQ GLH ]DKOUHLFKHQ :LGHUVSUFKH GLH (YD 0 .QRGW ¾1HJDWLYH 3KLORVRSKLH½ und dialogische Kritik. Zur Struktur poetischer Theorie bei Lessing und Herder. Tübingen 1988, S. 65±121) im Laokoon zu finden glaubt, hauptsächlich aus der Nicht-Beachtung der Grundannahmen des Leibniz-Wolffschen Repräsentationalismus. Wolffs eigene Position zu Leibniz¶ Monadologie und prästabilierter Harmonie ist durchaus ambivalent; sie neigt von einer gewissen agnostischen Skepsis, die nichtsdestoweniger /HLEQL]¶ Überlegungen Plausibilität zuerkennt, bis zur Entwicklung seiner Theorie der vis repraesentativa, welche die prästabilierte Harmonie auf ein psychologisches und erkenntnistheoretisches Theorem reduziert; vgl. Hans Poser: Zum Begriff der Monade bei Leibniz und Wolff. In: Müller/Schepers/Totok (Anm. 24), S. 383±395; Mario Casula: Die Lehre von der prästabilierten Harmonie in ihrer Entwicklung von Leibniz bis A. G. Baumgarten. In: Ebd., S. 397±414; ders.: A. G. Baumgarten entre G. W. Leibniz et Chr. Wolff. In: Archives de Philosophie 42 (1979), S. 547±574, mit wichtigen Präzisierungen zum zeitlichen Verlauf insbesondere S. 551±556. Für die Wolff-Rezeption derjenigen Autoren, um die es hier geht, scheint mir entscheidend, dass Wolff gegen den Okkasionalismus und gegen den influxus realis Partei bezieht, erlaube ersterer keine geregelte Beziehung zwischen Geist und Körper, während die materialistischen Implikationen des letzteren dem Prinzip der Krafterhaltung widersprechen; vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, § 762. Leipzig 71738, S. 472±475. Zur Inventionskunst Wolffs und der Bildung fruchtbarer Analogien vgl. Caroline TorraMattenklott: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert. München 2002, S. 56±62. ± Mendelssohn schließt sich Wolffs Position, in der prästabilierten Harmonie eine plausible und fruchtbare Hypothese zu erkennen, an: »Sie wissen, daß Leibniz, Wolf, und Baumgarten mein täglicher Umgang sind, und daß ich die Lehre von den Monaden für die vernünftigste Hypothese in der Metaphysik halte.« Moses Mendelssohn: Briefe die Neueste Literatur betreffend, V. Theil, 90. Brief. In: Ders.: Jubi-
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In der Terminologie eines Leibniz und Wolff EH]HLFKQHW ¾Vorstellung½ eine jegliche Form mentaler Repräsentation, sei deren Inhalt nun eine gegenwärtige oder vergangene Empfindung, sei es eine entwickelte Vorhersehung, sei es eine abstrakte Größe. Erstere Vorstellungen werden, insofern sie ins Bewusstsein treten, anschauende Erkenntnisse (cognitiones intuitivae) genannt, letztere symbolische (symbolicae). Für Wolff sind es zwei Quellen, auf welche anschauende Erkenntnis zurückgeführt werden kann: Empfindung (sensatio) und Einbildung (imaginatio). Den Unterschied begründet er zeitlich: Die Empfindung setzt die Gleichzeitigkeit von physischem Eindruck und mentalem Ausdruck voraus, die Einbildungskraft aber vergegenwärtigt eine vergangene Empfindung. Beide stehen in einem bestimmten Konkurrenzverhältnis zueinander: Den sinnlichen Vorstellungen (ideae sensuales), die durch einen gegenwärtigen sinnlichen Eindruck bewirkt werden, spricht Wolff eine größere Stärke zu, die von den imaginierten Vorstellungen (phantasmata) als Produkte einer vergegenwärtigenden seelischen Tätigkeit im besten Fall erreicht, nicht aber übertroffen werden kann. Die Stärke, von der hier die Rede ist, bemisst sich am Grad der Klarheit einer solchen Vorstellung, so dass Klarheit Ausdruck der Herrschaft einer gewissen Wirkung im Bewusstsein ist.30 Die Wirkung wird so zumindest relativ bestimmbar. Die Stärke sinnlicher Eindrücke hängt vom Grad des Bewusstseins innerer Vorstellungen ab und kann durch den Vergleich mit anderen Eindrücken graduiert werden.31 Ein Eindruck
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läumsausgabe (Anm.12), Bd. V/1. Rezensionsartikel in Briefe, die neueste Literatur betreffend (1759±1765). Bearbeitet von Eva J. Engel. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 156. Christian Wolff: Psychologia empirica, methodo scientifica petractata, qua ea, quae de anima humana indubia experientiae fide constant, continentur et ad solidam universae philosophiae practicae ac theologiae naturalis tractationem via sternitur, §§ 96±99. Frankfurt, Leipzig 1732, S. 57f. Baumgarten: Metaphysik, § 393, S. 179f. Die Vorstellung geht auf Leibniz zurück, der bekanntlich die Vorstellung präsenter, unterbewusster Wahrnehmungen in die Psychologie einführt; am deutlichsten in der Vorrede zu den Nouveaux Essai (Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux essais sur l¶HQWHQGHPHQWKXPDLQVorrede. In: Die philosophischen Schriften. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. Bd. V. Berlin 1882, S. 46f.): »'¶DLOOHXUVLO\DPLOOH PDUTXHVTXLIRQWMXJHUTX¶LO\DjWRXWPRPHQWXQHLQILQLWpGH perceptions en nous, mais sans apperception et reIOH[LRQ F¶HVW-à-dire des changements dans O¶kme même dont nous ne nous appercevons pas, parce que ces impressions sont ou trop petites et en trop grand nombre RXWURSXQLHVHQVRUWHTX¶HOOHVQ¶RQWULHQG¶DVVH]GLVWLQJXDQWjSDUWPDLVMRLQWHVj G¶DXWUHV, elles ne laissent pas de faire leur effet et de se faire sentir au moins confusement GDQVO¶DVVHPEODJH« [Im Übrigen sind da tausende von Merkmalen, woraus wir schließen können, dass zu jedem Zeitpunkt eine Unendlichkeit von Wahrnehmungen in uns ist, jedoch ohne Bewusstsein und Reflexion, das heißt Veränderungen in der Seele selbst, deren wir uns nicht bewusst werden, weil die Eindrücke entweder zu klein oder von zu großer Zahl sind, oder zu stark miteinander verbunden, so dass sie als Teil nichts Deutliches haben, hingegen mit anderen verbunden unterlassen sie es nicht, ihre Wirkung zu entfalten und sich zumindest verworren in der Verbindung empfinden zu lassen.] ± Auf die Nähe oder gar den Einfluss dieser Vorstellung auf Lessings Emilia Galotti macht Fick aufmerkVDP0RQLND)LFN9HUZRUUHQH3HU]HSWLRQHQ/HVVLQJV¾(PLOLD*DORWWL½ ,Q-DKUEXFKGHU deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 139±163, hier S. 143f. und S. 151f.
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überblendet einen anderen, ein Geruch löscht einen anderen aus ± und sie tun dies aufgrund ihrer jeweiligen Kraft und Klarheit: So ist die Klarheit in der Wahrnehmung des Mondlichtes schwächer als des Sonnenlichtes, das heißt jene ist schwächer als diese. Ähnlich ist die Klarheit in der Wahrnehmung des Geruchs zerriebener Lilien kleiner als in der Wahrnehmung des Geruchs von Asa foetida, weil jene schwächer als diese ist.32
Als Korrelat zum Begriff der Klarheit erscheint seit Descartes¶ Discours de la méthode, mehr noch seit der systematischen Entfaltung der Begriffe in Leibniz¶ Meditationes de cognitione, veritate et ideis und Wolffs Psychologia empirica der Begriff der Deutlichkeit (distinctio).33 Die wohlbekannte und auch oft erwähnte Dichotomie gilt es im Sinn zu behalten, wenn es um seelische Wirkung geht: Klarheit resultiert aus der Einfachheit und Gegenwärtigkeit einer Sache in der Vorstellung, während die Distinktion in der vollständigen Erfassung sämtlicher Elemente einer Sache besteht. Hauptsächlich im ersten Fall ist von Kraft, Stärke, Lebhaftigkeit u. ä. m. die Rede; Distinktion hingegen zeichnet sich vielmehr durch Tugenden wie Vollständigkeit und Reichtum aus. Dennoch haben wir es nicht etwa mit einem exklusiven Verhältnis zu tun: Jede distinkte Erkenntnis ist auch klar und jede klare Erkenntnis einer primitiven, nicht zusammengesetzten Sache ist distinkt.34 Was nun den Laokoon betrifft, so wirft das Verhältnis von sinnlicher Wahrnehmung oder Empfindung und Einbildungskraft wesentliche Fragen für die Wirkung auf, die von Werken der bildenden Kunst bzw. von poetischen Werken 32
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Wolff: Psychologia empirica , § 75, S. 40f.: »Ita minor est claritas in perceptione luminis lunaris, quam solaris, adeoque illa debilior hac altera. Similiter in perceptione foetoris asae foetidae, adeoque illa hac altera debilior est.« Wolff selbst bekennt zum Schluss der Vorrede seiner Vernünfftigen Gedancken Von den Kräfften des menschlichen Verstandes Und ihrem Richtigen Gebrauche In Erkäntnis der Wahrheit (Halle 1713, [unpag.]): »Endlich muß ich auch bekennen/ daß/ wie ich im Anfange meines Nachsinnens über die Kräffte des Verstandes mich in vieles nicht recht finden konte/ auch in einigen Stücken ohne Noth auff Umbwege gerathen war/ mir des Herrn von Leibnitz sinnreiche Gedancken von der Erkäntnis/ der Wahrheit und den Begriffen in den Leipziger=Actis An. 1684 p. 537 unverhofft ein grosses Licht gegeben/ so daß mich wundert/ warum andere/ die von dergleichen Materie nach der Zeit zu schreiben sich unterwunden/ nicht darauff acht gegeben.« ± Zu den Veränderungen Leibnizscher Theoreme bei Wolff und Baumgarten YJO$[HO%KOHU¾Zeichen½ bei Wolff, Baumgarten und Meier. In: Signum. IX Colloquio Internationale. Hg. von Massimo Luigi Bianchi. Florenz 1999, S. 379±389; Clemens Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten ± ein intellektuelles Porträt. Studien zur Metaphysik und Ethik von Kants Leitautor. Stuttgart 2011, S. 70; zur Rezeption von Leibniz¶Meditationes bei Wolff vgl. Gerold Ungeheuer: Sprache und symbolische Erkenntnis bei Wolff. In: Christian Wolff (1679±1754). Interpretationen zu seiner Philosophie und der Wirkung. Hg. von Werner Schneiders. Hamburg 1983, S. 89±112. Georg Friedrich Meier: Metaphysik, § 524. Bd. III, Halle 1755, S. 82: »Da nun eine verworrene Erkenntniß eine klare Erkenntniß ist, deren Theile und Merkmale dunkel sind; eine deutliche Erkenntniß aber eine solche klare Erkenntniß ist, deren Theile und Merkmale klar sind: so besteht die Verwirrung in der Dunkelheit, und die Deutlichkeit in der Klarheit der Merkmale.«
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ausgeht. Der Betrachter eines Bildes nimmt dieses sinnlich wahr; er betrachtet es mit den Augen und die Wirkung ist von unmittelbarer Art, insofern die auf einem Bild dargestellten Körper im Innern der Seele anschaulich repräsentiert werden. Bei der Aufnahme dichterischer Werke hingegen ist dieser Grad an Unmittelbarkeit des Innen-Außen-Verhältnisses, das die Empfindung bestimmt, nicht gegeben; auf die optische oder akustische Wahrnehmung der sprachlichen Zeichen folgt die Vorstellung nicht unmittelbar, sondern vermittels der vorgängigen Kenntnis der jeweiligen Sprache. Wir können die Aufgabe, die dem Kunstrichter in der Vorrede zum Laokoon beschieden wird, also auf die Wirkung bezogen neu formulieren: Wo verläuft die Grenze, die in Bezug auf die sinnliche Wirkung Malerei von Dichtung trennt? Wo liegt das gemeinsame Feld, das in Bezug auf die sinnliche Wirkung Malerei und Dichtung vergleichbar macht? Beginnen wir mit derjenigen Unterscheidung, die alles andere als neu, jedoch für die theoretische Argumentation des Laokoon zentral ist. Lessing kommt bekanntlich in Kapitel XVII auf die Dichotomie von natürlichen und willkürlichen Zeichen zu sprechen, indem er die Definition willkürlicher Zeichen als mögliches Gegenargument gegen die eigene Behauptung anführt, sprachliche Zeichen seien zur Darstellung zeitlicher Abfolge geeignet, zur Darstellung räumlicher Körper hingegen ungeeignet.35 Mögen die Begriffe auch noch so sehr zum festen Bestand spätantiker und scholastischer Terminologie gehören, so ist ihre Bedeutung gerade im Zuge der Herausbildung eines ästhetischen Denkens alles andere als banal.36 Ganz nach gängiger Manier lassen Wolff und die Wolffianer natürliche Zeichen auf einem »nothwendigen Zusammenhange«37 beruhen. Dieser Zusammenhang besteht entweder, »wenn alle zwey Dinge beständig mit einander zugleich sind, oder eines beständig auf das andere erfolget; so ist allzeit eines ein Zeichen des anderen.«38 Als Beispiel dient der Rauch, der ja seit Augustinus als natürliches Zeichen des Feuers zu 35
36
37 38
Laokoon (XVII), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 122; FA 5/2, S. 123. ± Der Einwand wird von Mendelssohn in einer Anmerkung zu Laokoon, Paralipomenon 3 (II); FA 5/2, S. 219, Anm. 3 und 5 formuliert. Überhaupt dürfte die Behandlung der Dichotomie im Laokoon Mendelssohns Anregungen viel verdanken, hatte dieser sie doch bereits in Ueber die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften (S. 87f.) auf die Unterscheidung von »beaux arts & belles lettres« angewandt. Nach Todorov ist es Dubos, der als erster eine semiotische Typologie der Künste auf der Grundlage der Unterscheidung von natürlichen und willkürlichen Zeichen unternimmt; vgl. Tzvetan Todorov: Théories du symbole. Paris 1977, S. 162f. ± Zur Transformation der angestammten Dichotomie bei Leibniz vgl. Stephan Meier-Oeser: Die Spur des Zeichens. Das Zeichen und seine Funktion in der Philosophie des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Berlin, New York 1997, S. 384±425. Zur Bedeutung der Dichotomie natürlicher und willkürlicher Zeichen in der Wolff-Rezeption vgl. Dieter Kimpel: Christian Wolff und das aufklärerische Programm der literarischen Bildung. In: Christian Wolff (1679±1754). Interpretation zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hg. von Werner Schneiders. Hamburg 1983, S. 203±236, hier S. 217±221. Georg Friedrich Meier: Metaphysik, § 274. Bd. I. Halle 1755, S. 442f. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, § 293, S. 161.
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fungieren hat. Willkürliche Zeichen hingegen wirken als Elemente einer eigenen Kunst, die durch den Willen desjenigen, »der das Zeichen zu einem Zeichen macht«, gegründet sind und durch Unterricht oder wiederholte Erfahrung (Gewohnheit) erworben werden.39 Folgenreicher als die schulmäßige Behandlung ist jedoch die Analogie dieser an sich schon bedeutungsschwangeren semiotischen Begriffstradition zu einem Begriffspaar der Leibnizschen Erkenntnistheorie. Zeichen stehen hier für Vorstellungen, die ihrerseits konkrete oder abstrakte Entitäten repräsentieren. Vorstellungen und Zeichen ist also gemeinsam, dass sie als Ausdrücke (expressiones) fungieren, was heißt, dass sie die beiden Seiten eines geregelten Verhältnisses bilden.40 Dieses allgemeine Verweisverhältnis kann nun seinerseits natürlich oder arbiträr genannt werden.41 Wie das Verhältnis zwischen einem natürlichen Zeichen und seiner Bedeutung motiviert ist, so kann auch das Verhältnis zwischen einer Vorstellung und einem Ding motiviert sein, das heißt auf Ähnlichkeit oder struktureller Entsprechung beruhen. Liegt eine solche Motivation vor, so sprechen Leibniz, Wolff und die Wolffianer von einer anschauenden Erkenntnis (cognitio intuitiva), im anderen Fall aber von einer symbolischen (cognitio symbolica): ein anschauendes [Erkenntniß], wenn wir uns die Begriffe oder Abbildungen der Dinge selbst vorstellen: es geschehe nun solches durch die sinnliche Empfindung, oder durch die Einbildungskraft, oder durch den Verstand. Hernach ein symbolisches; wann wir uns an statt der Dinge, nur ihre Zeichen, z. E. die Wörter, womit man sie benennet, vorstellen.42
Ein willkürliches Zeichen kann also selbst zum Gegenstand einer Vorstellung werden und somit ohne Anschauung repräsentieren; die Rückführung in eine anschauende, intuitive Erkenntnis setzt die Tätigkeit der Einbildungskraft voraus, die dem Symbol eine sinnliche Erfahrung recht eigentlich hinzufügt.43 Und 39 40
41
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Meier: Metaphysik, § 274, S. 442f. Gottfried Wilhelm Leibniz: Brief an Arnauld von September 1687. In: Ders.: Die philosophischen Schriften. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. Bd. II. Berlin 1879, hier S. 112: »Une chose exprime XQHDXWUHGDQVPRQODQJDJHORUVTX¶LO\DXQUDSSRUWFRQVWDQWHWUHJOp HQWUHFHTXLVHSHXWGLUHGHO¶XQHHWGHO¶DXWUH« >,QPHLQHU6SUDFKH¾drückt½HLQH6DFKHHLQH DQGHUH¾aus½, wenn es ein beständiges und geregeltes Verhältnis gibt zwischen demjenigen, was von der einen, und demjenigen, was von der anderen Sache ausgesagt werden kann.] Gottfried Wilhelm Leibniz: Quid sit Idea. In: Ders.: Die philosophischen Schriften. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. Bd. VII. Berlin 1890, hier S. 264: »Patet etiam expressiones alias fundamentum habere in natura, alias vero saltem ex parte fundari in arbitrio>«@© [Es steht nämlich fest, dass einige Ausdrücke ihr Fundament in der Natur haben, andere aber wenigsten teilweise in der Willkür begründet sind.] Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit. Theoretischer Theil, § 921. Leipzig 71762, S. 493. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, § 296, S. 162: »Indem man aber das Wort und die Sache, die dadurch angedeutet wird, sich öfters zugleich vorstellet; so darf man nach diesem entweder die Sache empfinden oder sich einbilden; so kommet einem auch das Wort vor, und man erkennet, daß dieses Worte der Name des Dinges ist.« ± Zum nexus indissolubilis inter cognitionem intuitivam et symbolicam
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auch bei dieser Unterscheidung zwischen anschauender und symbolischer Erkenntnis haben wir es mit einem skalierbaren Wirkungsverhältnis zu tun, je nachdem, ob die Vorherrschaft einer vorgestellten Bedeutung oder einem vorgestellten Zeichen zukommt.44 Die Ausdrücke »natürlich« und »willkürlich« sind also nicht einfach zu verstehen, charakterisieren sie doch zum einen die Beziehung eines materiellen Zeichens zu einem Ding, zum anderen aber die Beziehung eines materiellen Zeichens zu einer Vorstellung. Diese Mehrdeutigkeit gilt es zu bedenken, dürfte sie doch Grund für merkwürdig anmutende Aussagen Lessings sein: Da Figuren und Farben natürliche Zeichen sind, die Worte hingegen, durch welche wir Figuren und Farben ausdrücken nicht, so müssen die Wirkungen der Kunst, welche jene braucht unendlich geschwinder und lebhafter sein, als die einer, die sich mit diesen begnügen muss.45
Da Farben und Figuren Farben und Figuren sind, erscheint es schwierig, oder auch bloß tautologisch, sie als Zeichen für Farben und Figuren zu verstehen. Da Lessing jedoch Bilder als Zeichen versteht, genauer als nachahmende Zeichen, so stehen Farben und Figuren der Bilder in einem Ähnlichkeitsverhältnis bzw. einer strukturellen Entsprechung zu den nachgeahmten Dingen. Die Wirkung in der sinnlichen Empfindung von Farben und Figuren aber besteht in der anschauenden Erkenntnis nicht des Bildes, sondern der darauf dargestellten Dinge. Die willkürlichen Zeichen hingegen erscheinen als Zeichen zweiter Ordnung, deren Mittelbarkeit sich in verminderter Lebhaftigkeit und Geschwindigkeit äußert. Sind diese nun gering, so tritt die Anschauung in unserer Vorstellung hinter das Zeichen zurück. Genau darin aber besteht die inkriminierte »Allegoristerey«, nämlich in der Verwandlung der Bilder in eine »willkührliche[] Schriftart«.46
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als Voraussetzung des Verstehens vgl. Matteo Favaretti Camposampiero: connaissance symbolique chez Wolff. In: Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses. Hg. von Jürgen Stolzenberg und OliverPierre Rudolph. Bd. 2. Hildesheim, Zürich 2007 (Christian Wolff: Gesammelte Werke, Materialien und Dokumente. Hg. von Jean École, Hans Werner Arndt u. a. Bd. 102), S. 153±172, hier S. 161±165 sowie Pietro Pimpinella: Symbolische Erkenntnis bei Christian Wolff. In: Ebd., S. 339±354. Meier: Metaphysik, § 623. Bd. III. Halle 1757, S. 245f.: »die anschauende Erkenntniß einer Sache besteht darin, wenn wir sie entweder ohne Zeichen erkennen, oder doch eine grössere und stärkere Vorstellung von ihr haben, als von ihrem Zeichen, welches wir uns zugleich neben ihr vorstellen>«@Die symbolische Erkentniß einer Sache im Gegentheil besteht darin, wenn wir uns die Zeichen in einem höhern Grade vorstellen, als die Bedeutungen.« [Laokoon, Paralipomenon 1] FA 5/2, S. 211. Laokoon (Vorrede), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 9; FA 5/2, S. 15.
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3. Kompensation Der Nachteil, welcher der Dichtung aufgrund ihrer willkürlichen Mittel hinsichtlich der Wirkung erwächst, erscheint beträchtlich.47 Es mag daher naheliegen, diesen Nachteil dadurch ausgleichen zu wollen, dass etwa auf den Erkenntnisgewinn durch die erleichterte Überführung klarer in deutliche Vorstellungen oder auf die malerische Qualität poetischen Wortgebrauchs verwiesen wird. Dass Lessing die zweite Strategie verwirft, liegt auf der Hand, bildet die Kritik an einer malerischen Poesie doch das Hauptthema des Laokoon. Doch auch von der ersten Strategie verspricht er sich keinen Erfolg. Leibniz und seine Nachfolger erkennen die Funktion symbolischer Erkenntnis in der annähernd reinen Instrumentalität ihrer willkürlichen Zeichenmittel, die nicht nur die Einbildungskraft bei komplexen Anschauungen, sondern auch den Verstand bei der weiteren Verwendung anschaulicher Vorstellungen in komplizierten Denkvorgängen (cogitationes) entlasten sollen. Dadurch ermögliche sie dort noch Deutlichkeit, wo bei anschauender Erkenntnis die Vorstellungskräfte (vires repraesentativae) nicht hinreichen. Doch, fragt Lessing, was bliebe der Dichtung, wenn derart von allem Sinnlichen befreite Vorstellungen zu ihrem Darstellungsideal erhoben würden? Gegen die Vereinnahmung der Dichtung durch Aufgaben der Philosophie, nämlich deutliche Vorstellungen zu gewinnen und allgemeine Schlüsse zu ziehen, hatten sich Lessing und Mendelssohn bereits ein gutes Jahrzehnt zuvor in Pope ein Metaphysiker! verwahrt: Ein System metaphysischer Wahrheiten also, und eine sinnliche Rede; beides in einem ± ± Ob diese wohl einander aufreiben? Was muß der Metaphysiker vor allen Dingen tun? ± ± Er muß die Worte, die er brauchen will, erklären; er muß sie nie in einem andern Verstande, als in dem erklärten anwenden; er muß sie mit keinen, dem Scheine nach gleichgültigen, verwechseln. Welches von diesen beobachtet der Dichter? Keines.48
Das Urteil ist apodiktisch, der Grund nicht minder: »Ein Gedicht ist eine vollkommene sinnliche Rede.«49 Mit Baumgarten also wird der ganzen Gattung des Lehrgedichtes eine Absage erteilt, weil die philosophische Sprache der dichterischen wesensfremd sei. Und auch der Lessing des Laokoon erhebt keine Forderungen, Dichtung auf eine terminologische, geschweige denn logische Präzision
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Bereits Dubos fragt nach den Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks, den Mangel an Stärke zu kompensieren; vgl. hierzu Joachim Jacob: Die Schönheit der Literatur. Zur Geschichte eines Problems von Gorgias bis Max Bense. Tübingen 2007, S. 216. Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn: Pope ein Metaphysiker! In: FA 3, S. 617f. Ebd. Es handelt sich um die Übersetzung von »Oratio sensitiua perfecta est Poema«, dem IX. § aus Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus/ Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes. Übers. und hg. von Heinz Paetzold. Hamburg, 1983, S. 10.
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festzulegen. Mehr noch, und dies erscheint etwas überraschender, sind auch die anschauenden Erkenntnisse, wie sie Bilder hervorbringen, durchaus deutlich: 50 Wie gelangen wir zu der deutlichen Vorstellung eines Dinges im Raume? Erst betrachten wir die Theile desselben einzeln, hierauf die Verbindung dieser Theile, und endlich das Ganze. Unsere Sinne verrichten diese verschiedene Operationen mit einer so erstaunlichen Schnelligkeit, daß sie uns nur eine einzige zu seyn bedünken, und diese Schnelligkeit ist unumgänglich nothwendig, wann wir einen Begriff von dem Ganzen, welcher nichts mehr als das Resultat von den Begriffen der Theile und ihrer Verbindung ist, bekommen sollen. 51
Nicht bloß der Dichter, ja sogar der Maler soll seine Vorstellungen »klar und deutlich«52 ausdrücken, denn wer die Teile wiedererkennt, erkennt diese klar, und wer alle Teile klar erkennt, der hat per definitionem eine deutliche Vorstellung. Wie bedeutend, gleichzeitig aber auch umstritten diese Forderung erVFKHLQW ZLUG DXV GHP *HJHQDUJXPHQW 7KHRNOHV¶53 dem alter ego Mendelssohns in den Briefen Ueber die Empfindungen, deutlich. Vehement vertritt hier Euphranor in der Nachfolge Meiers die Ansicht, die »6FK|QKHLWEHUXKHW>«@LQ der undeutlichen Vorstellung einer Vollkommenheit«, denn sie bewirke eine »VH >«@ :DOOXQJ«, eine »holde Bewegung«, die ihrerseits als »Tochter des Affects [und] nothwendig mit einer dunkeln Vorstellung verknüpft« sei.54 Dagegen hält Theokles, es sei zwar richtig, dass »kein deutlicher auch kein völlig GXQNOHU%HJULII>«@VLFKPLWGHP*HIKOHGHU6FK|QKHLW« vertrage, dass nichts50
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Laokoon (VI), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 61; FA 5/2, S. 65: »So sehr dem Auge diese Vertheilung gefällt, so lebhaft ist das Bild, welches in der Einbildung davon zurück bleibt. Es ist so deutlich und rein, daß es sich durch Worte nicht viel schwächer darstellen läßt, als durch natürliche Zeichen.«, wobei einzuräumen ist, dass es einer Anmerkung Mendelssohns bedurfte, um den Verdacht zu beheben, Lessing behaupte einfach, die Malerei sei klar, die Dichtung deutlich (vgl. Laokoon, Paralipomenon 3 [I]; FA 5/2, S. 217). Laokoon (XVII), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 123; FA 5/2, S. 124. Lessing greift hier im Wesentlichen eine Anmerkung Mendelssohns (Laokoon, Paralipomenon 3 [III], FA 5/2, S. 220f.) zu einem seiner Entwürfe auf: »Wenn wir ein im Raume befindliches Ganze uns deutlich vorstellen wollen; so betrachten wir 1) die Theile einzeln, 2) ihre Verbindung, 3) das Ganze. Unsere Sinne verrichten dieses mit einer so erstaunlichen Geschwindigkeit, daß wir alle diese Operationen zu gleicher Zeit zu verrichten glauben. Wenn uns daher alle einzelne Theile eines im Raume sich befindenden Gegenstandes durch willkührliche Zeichen angedeutet werden; so wird uns die dritte Operation das Zusammenhalten aller Theile, allzu beschwehrlich. Wir müssen unsere Einbildungskraft allzusehr anstrengen, wenn sie so zertrennte Stücke in ein raumerfüllendes Ganze zusammenfassen soll.« Laokoon (XVII), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 123; FA 5/2, S. 124. In der ersten Fassung heißt Theokles in Anspielung auf Shaftesburys Moralists (Treatise viz. The Moralists, a Philosophical Rhapsody. In: Ders.: Characteristicks, Bd. II, S. 177± 443) noch ¾Palemon½; die Ausgabe in den Philosophischen Schriften von 1771 ändert diesen Namen. Zu dieser Namenswahl vgl. Mark-*HRUJ'HKUPDQQ'DV¾Orakel der Deisten½. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung. Göttingen 2008, S. 247f. Moses Mendelssohn: Ueber die Empfindungen, Zweiter Brief. In: Ders. Jubiläumsausgabe (Anm. 12), Bd. I, S. 48. Die Ausgabe 1771 (ebd. S. 240) schreibt bezeichnenderweise (wie sich noch zeigen wird) »unentwickelten Vorstellung«. Vgl. Meier: Metaphysik, § 659, Bd. III, S. 299: »Allein man nennt eine Vollkommenheit nicht eher schön, bis man sie nicht sinnlich sich vorstelt, und eine verworrene innerliche Empfindung davon hat.«
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destoweniger Deutlichkeit bei der Vorbereitung zu dem Genuss einer Schönheit durchaus ihren Dienst verrichte: Höre nun, edler Jüngling! wie ich mich zu dem Genusse eines Vergnügens vorbereite. Ich betrachte den Gegenstand des Vergnügens, ich überdenke alle seine Theile, und bestrebe mich sie deutlich zu fassen. Alsdenn richte ich meine Achtsamkeit auf ihre allgemeine Beziehung; ich schwinge mich von den Theilen zum Gantzen. Die besonderen deutlichen Begriffe weichen gleichsam in eine dunkle Ferne zurück. Sie wirken alle auf mich, aber sie wirken in einem solchen Ebenmaße und Verhältnisse gegen einander, daß nur das Gantze aus ihnen hervorstrahlt, und mein Ueberdenken hat mir die Mannigfaltigkeit nur fasslicher gemacht.55
Hintergrund der Präzisierung ist eine dreistufige Theorie des Vergnügens. Mendelssohn erkennt zwischen dem sinnlichen Genuss der Wollust, dem sensitiven Genuss der Schönheit und dem vernünftigen Genuss der Vollkommenheit eine aufsteigende Linie, wobei es letztlich die Ausrichtung auf die göttliche Erkenntnis ist, die zur Veredelung des Genusses der unteren Seelenvermögen führt.56 Für das Laokoon-Problem gilt es, die verschiedenen Formen der Zeitlichkeit festzuhalten, die der aufmerksamen Betrachtung der einzelnen Teile einerseits und dem intuitiven Akt des Erfassens des Ganzen andererseits zukommen. Gesetzt den Fall nämlich, dass der Genuss der Schönheit sich auf den einen und einzigen Akt der Intuition beschränken sowie Ziel und Zweck künstlerischer Tätigkeit bilden sollte, so könnten weder Vorstellung noch Genuss vervollkommnet werden, das heißt, sie blieben notwendig bei nämlicher Wahrnehmung die nämlichen. Die Spontaneität und Plötzlichkeit der intuitiven Wahrnehmung würde all das Graduieren und kontinuierliche Überführen, all das Fließen und Vermischen, das als eigentliches Signum sowohl der Leibnizschen Physik als auch Erkenntnistheorie zu gelten hat, durch arbiträre Sprünge und Diskontinuitäten ersetzen.57 Die vorbereitende Kontemplation der einzelnen Teile ermöglicht so durch das genaue Studium der einzelnen Empfindungen bei wiederholter Betrachtung die Vollkommenheit der Zusammensetzung erneut und zwar in gesteigerter Form wahrzunehmen. Diese Theorie der vorbereitenden Kontemplation findet sich in Lessings Laokoon wieder: Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick, und der Mahler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur aus einem einzigen Gesichtspunkte, brauchen; sind aber ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederhohlter maassen betrachtet zu werden: so
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Ebd., Dritter Brief, S. 51 bzw. ebd. S. 243, mit der bedeutenden Variante »wie in Schatten« statt »in eine dunkle Ferne«. Vgl. Alexander Altmann: Moses Mendelssohns Frühschriften zur Metaphysik. Tübingen 1969, S. 110±126. Zum Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität in der ästhetischen Diskussion vgl. Eric Achermann: Im Spiel der Kräfte. Bewegung, Trägheit und Ästhetik im Zeitalter der Aufklärung. In: Natur, Naturrecht und Geschichte. Aspekte eines fundamentalen Begründungsdiskurses der Neuzeit (1600±1900). Hg. von Simone de Angelis, Florian Gelzer und Lucas Marco Gisi. Heidelberg 2010, S. 287±320, hier S. 307±312.
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ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblickes, nicht fruchtbar genug gewählet werden kann. Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freyes Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können.58
Es ist also nicht etwa ein intuitiver Raptus, der für sich genommen die spezifische Rezeptionshaltung von bildender Kunst bestimmt, sondern das Zusammenspiel von Intuition mit verlänger- und erneuerbarer Kontemplation. Stellt der Gegenstand einen »fruchtbar« gewählten Augenblick dar, so vermag die Kontemplation gar über den ersten Genuss körperlicher Schönheit hinaus lebhafter zu wirken. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf Teile, die mit Hilfe der Einbildungskraft aus einer verworrenen Empfindung hinaus entwickelt werden können. Gewiss, wer der Empfindung Nahrung gibt, der lässt die Einbildung darben, doch kann dieses Grundgesetz dadurch überwunden werden, dass die natürlichen Zeichen nicht bloß den Dingen ähneln, die sie darstellen, sondern zudem Ursachen oder Wirkungen der Dinge mitbezeichnen. Wie sich zeigen wird, werden letztere als mittelbar natürliche Zeichen bestimmt; sie sind es, die der Einbildungskraft trotz zunehmender Deutlichkeit der Empfindung freies Spiel im Reich der Nachahmung gewähren. Nichtsdestotrotz ist die Ganzheitsvorstellung als Vorstellung einer geordneten Vollkommenheit der Teile dasjenige, was aufgrund der Übereinstimmung der Teile die Klarheit über die Deutlichkeit obsiegen lässt. Und diese Ganzheitsvorstellungen werden ausnahmslos mit dem »mit einmal« bzw. »auf einmal« charakterisiert, das den Moment der Intuition zum Ausdruck bringt. 59 Es sind ästhetische Zwischenergebnisse in einer Skala von Vorstellungen, deren Grad an Vollkommenheit durch das Verhältnis von Vielheit der Teile zur Klarheit des Ganzen bemessen wird. Die Selbsttätigkeit der Seele erscheint hierbei durch eben dieses Verhältnis bestimmt, das als stetig erneuerter Druck (sollicitatio) zum Antrieb (impetus) wird, von einer toten Kraft zu einer lebendigen.60 Die Zahl der Empfindungen (»je mehr wir sehen«) erhöht die Zahl der Assoziationen (»desto mehr müssen wir hinzu denken«), die zu den Leistungen der Einbildungskraft gehören, und hält diese an, den »consensus in varietate«61 als
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Laokoon (III), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 25f.; FA 5/2, S. 32. Laokoon (XVII), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 123, FA 5/2, S.124. Gottfried Wilhelm Leibniz: Specimen dynamicum, I, 6. Hg. von Hans Günter Dosch, Glenn W. Most und Enno Rudolph. Hamburg 1982, S. 12±15. Vgl. Christian Wolff: Philosophia prima sive ontologia methodo scientifica petractata, qua omnis cognitionis humanae principia continentur, § 503. Frankfurt, Leipzig 21736, S. 390: »Perfectio est consensus in varietate, seu plurium a se invicem differentium in uno. Consensum vero appello tendentiam ad idem aliquod obtinendum. Dicitur perfectio a Scholasticis bonitas transcendentalis.« [Vollkommenheit ist Übereinstimmung in Vielfalt, das heißt Übereinstimmung von vielem unter einander verschiedenem in einem. Die Vollkommenheit aber nenne ich ein Streben, ein Identisches zu erhalten. Von den Scholastikern wird die 9ROONRPPHQKHLWHLQH¾transzendentale Güte½ genannt.]
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Ausdruck der Vollkommenheit und Anlass des Vergnügens zu suchen. 62 Den Menschen drängt es nach Wollust, Schönheit, Vollkommenheit; diese aufsteigende Trias setzt aber ein Streben voraus, dass ohne das freie Spiel nicht vorstellbar erscheint. Für Lessing ist es das »andeutungsweise«, das ebenso über die Starrheit des Bildes als über die Blindheit der Dichtung hinaus verweist und so den zeitlichen bzw. räumlichen Rahmen der Werke sprengt. 63 Die Gleichzeitigkeit von Klarheit und Verworrenheit bestimmt das Wechselspiel von Empfindung und Einbildungskraft, wobei die Empfindung die Gegenwärtigkeit eines Ganzen vorstellt, während die Einbildungskraft zu einem übergeordneten Ganzen hindrängt. Jede Empfindung eines Ganzen kann als perfektible Zwischenstufe verstanden werden, das heißt als Empfindung eines Teils, der seinerseits andeutungsweise über die Einbildungskraft auf ein übergeordnetes Ganzes verweist. Es gilt also zu unterscheiden zwischen einer objektiven und einer subjektiven Vorstellung von Vollkommenheit, insofern erstere auf die Vollkommenheit des Gegenstandes, letztere hingegen auf die Vollkommenheit der Vorstellung selbst bezogen ist. Und ebenso gilt es zwischen den Arten der Schönheit als Erscheinung solcher Vollkommenheiten zu unterscheiden, auch wenn Lessing den Unterschied nicht immer explizit macht: 64 Da die Malerei als natürlicher Zeichenausdruck stärker an die dargestellten Gegenstände gebunden ist, kann ihre spezifische Schönheit als körperliche bezeichnet werden, während die willkürlichen Sprachzeichen der Dichtung von Anfang an eine erhebliche Tätigkeit der Einbildungskraft voraussetzen, die jedes Zeichen mit einer Bedeutung zu verbinden hat.65 Diese selbsttätige, produktive Rezeption zielt auf einen anderen, ins Geistige erweiterten Schönheitsbegriff, der am Beispiel körperli-
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Eine detaillierte Schilderung, die phasenweise den Prozess der Herausbildung eines starken Vergnügens von der Empfindung über die Einbildungskraft, die Aufmerksamkeit und den Geschmack in Anbetracht der Vorsehung darstellt, findet sich in Meier: Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen, § 73, S. 93±95. Laokoon (XVI), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 115; FA 5/2, S. 116f.: »Doch alle Körper existiren nicht allein in dem Raume, sondern auch in der Zeit. Sie dauern fort, und können in jedem Augenblicke ihrer Dauer anders erscheinen, und in anderer Verbindung stehen. Jede dieser augenblicklichen Erscheinungen und Verbindungen ist die Wirkung einer vorhergehenden, und kann die Ursache einer folgenden, und so nach gleichsam das Centrum einer Handlung seyn. Folglich kann die Mahlerey auch Handlungen nachahmen, aber nur andeutungsweise durch Körper. Auf der andern Seite können Handlungen nicht für sich selbst bestehen, sondern müssen gewissen Wesen anhängen. In so fern nun diese Wesen Körper sind, oder als Körper betrachtet werden, schildert die Poesie auch Körper, aber nur andeutungsweise durch Handlungen.« Zu diesem begrifflichen Problem vgl. die hervorragende Analyse von Jacob (Anm. 47), insb. S. 254. Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, § 297, S. 162 f.: »Wir empfinden nehmlich die Dinge und hören ihren Nahmen öfters zugleich. Dadurch werden wir vermögend uns durch die Einbildungs=Krafft den Nahmen wieder vorzustellen, indem wir das dadurch bedeutete Ding uns vorstellen, und hingegen dieses uns vorzustellen, wenn wir jenen hören oder daran gedencken.«
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cher Schönheit nicht mehr erklärt werden kann 66 und ± was schwerer wiegt ± auch mit dem Begriff der »Anschauung« nicht mehr kompatibel scheint.
4. Die Ökonomie der Kräfte Eng ist also das begriffliche Netz, das sich zwischen Lessings Argumentation und zentralen Begriffspaaren der ästhetischen Terminologie (natürlich/willkürlich, sensitiv/imaginativ, anschaulich/symbolisch, körperlich/geistig u. a. m.) entfaltet. Einige Argumentationsfäden scheinen sich aber zu verheddern; einen großen Knoten bildet die Frage, inwiefern Dichtung anschaulich sein kann. Dass sie es sein muss, daran lässt Lessing keinen Zweifel. Kunst kann weder auf Nachahmung, noch auf Täuschung verzichten, diese aber besteht in nichts anderem als der Vorherrschaft des Anschaulichen über das Symbolische in unserer Vorstellung. Und so spricht Lessing ± ganz im Duktus der französischen Salonkultur ± von »Frostigkeit«, um das Scheitern der Täuschungsabsicht zu bezeichnen.67 Wie aber kann Dichtung anschaulich werden, da ihre Zeichen doch ganz offensichtlich über die Grenzen der Bildhaftigkeit hinaus zu bedeuten vermögen? Von solchen entgrenzten Bildern spricht Lessing in einer schwierigen Passage des VI. Kapitels. Es geht um die Leistungsfähigkeit sprachlicher und malerischer Mittel, konkret um die Behauptung, dass das freiere und weitere Feld der Dichtung »unendlich« sei. Er spricht von der »Geistigkeit« der »Bilder« der Einbildungskraft, die eine freie Kombinatorik jenseits der Gesetze von Raum und Zeit ermöglichen, im Gegensatz zu den »Dinge[n] selbst, oder d[en] natürlichen Zeichen derselben in den engen Schranken des Raumes oder der Zeit«.68 Umgekehrt scheint es ihm ausgemacht, dass eine malerische Darstellung dichterisch geäußert werden kann, gilt doch:
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Laokoon (VIII), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 75; FA 5/2, S. 79: »Daß die Poesie die weitere Kunst ist; daß ihr Schönheiten zu Gebothe stehen, welche die Mahlerey nicht zu erreichen vermag; daß sie öfters Ursachen haben kann, die unmahlerischen Schönheiten den mahlerischen vor zu ziehen: daran scheinet er [Spence@JDUQLFKWJHGDFKW]XKDEHQ>«@« Wie nahe Lessing auch hierin Mendelssohn steht, vgl. Laokoon (IV), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 29; FA 5/2, S. 35: »Ohne hier zu untersuchen, wie weit es dem Dichter gelingen kann, körperliche Schönheit zu schildern: so ist so viel unstreitig, daß, da das ganze unermeßliche Reich der Vollkommenheit seiner Nachahmung offen stehet, diese sichtbare Hülle, unter welcher Vollkommenheit zu Schönheit wird, nur eines von den geringsten Mitteln seyn kann, durch die er uns für seine Personen zu intereßiren weiß.« Laokoon (VII), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 64; FA 5/2, S. 68: dem Leser, durch Verweis auf Statuen und Gemälde, »GLH VFK|QVWH 6WHOOH >«@ ZHQQ *RWW ZLOO VHKU GHXWOLFK DEHU auch trefflich frostig« machen; Laokoon (XVII), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 128; FA 5/2, S. 128: »frostiges Spielwerk«; Laokoon (XVIII), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 130; FA 5/2, S. 130: »sollte selbst Homer in diese frostigen Ausmahlungen körperlicher Gegenstände verfallen seyn?« Laokoon (VI), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 56; FA 5/2, S. 60f.
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Eric Achermann Das nehmliche Bild mag also in unserer Einbildungskraft durch willkührliche oder natürliche Zeichen wieder erregt werden, so muß auch jederzeit das nehmliche Wohlgefallen, ob schon nicht in dem nehmlichen Grade, wieder entstehen.69
Die Grenzen des Wohlgefallens und der Täuschung sind nicht die Grenzen der Nachahmung. Was nachgeahmt wird, ist vielmehr eine extensive Größe, nämlich die Menge desjenigen, was in der Einbildungskraft gegenwärtig ist; den Grad der Lust hingegen bemisst die Intensität der Vorstellung.70 Wie so viele vor und nach ihm, hatte sich Mendelssohn der täuschenden Wirkung in einer kurzen fragmentarischen Abhandlung angenommen, die erst 1820 im Anhang zu )ULHGULFK1LFRODL¶s Leben und literarischer Nachlass unter dem Titel Von der Herrschaft über die Neigungen erschienen ist.71 Die Schrift aber ist Lessing wohlbekannt. Sie bildet die Briefbeilage zu der engagiert geführten Debatte über Bewunderung und Mitleid, welche die Freunde gemeinsam mit Nicolai ausfechten und die unter dem Namen Briefwechsel über das Trauerspiel in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Die »neue[n] Gedanken von dem Streite der untern und obern Seelenkräfte«,72 die Mendelssohn in seinem bedeutenden Brief von Dezember 1756 Lessing in Aussicht stellt, stehen in einem direkten Zusammenhang mit dem Laokoon.73 Einen Monat später, und zwar anlässlich der Diskussion um Lessings Insistieren auf der erforderlichen »Grenzscheidung« zwischen den Gattungen Tragödie und Epos, legt Mendelssohn dann seine Gedanken tatsächlich dem Schreiben bei.74 Nach Ansicht Lessings sind sie »vortrefflich«,75 einzig die Ausführungen über die Illusion nimmt er aus dem allgemein gehaltenen Lob aus. Stein des Anstoßes ist, wie Lessings Kritik deutlich macht, ganz offensichtlich Mendelssohns Hypothese zum Verhältnis von Illusion und Reflexion als Steigerung des Vergnügens: Soll eine Nachahmung schön seyn, so muß sie uns ästhetisch illudiren; die obern Seelenkräfte aber müssen überzeugt seyn, daß es eine Nachahmung, und nicht die Natur selbst sey.
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Laokoon (VI), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 56; FA 5/2, S. 61. %HL ¾Grad½ KDQGHOW HV VLFK XP HLQHQ terminus technicus der Wolffschen Psychologie, welcher der Bestimmung der Qualität (intensiver Größen also) dient: »Gradum appellamus id, quo qualitates eaedem salva identitate differre possunt, scilicet vel tempore eodem in diversis subjectis, vel tempore diverso in eodem subjecto.« [Als ¾*UDG½ bezeichnen wir dasjenige, worin sich Qualitäten unbeschadet ihrer Identität unterscheiden können, das heißt entweder zur gleichen Zeit in verschiedenen Subjekten, oder zu verschiedener Zeit in demselben Subjekt.]; Wolff: Philosophia prima sive ontologia, § 746, S. 545. Friedrich Nicolai¶V /HEHQ XQG OLWHUDULVFKHU 1DFKODVV +J YRQ />HRSROG@ )>ULHGULFK@ G[ünther] von Göcking. Berlin 1820, S. 174±184. Vgl. Moses Mendelssohn: Brief an Lessing von Mitte Dezember 1756. In: FA 11/1, S. 139. Mendelssohn erwähnt in diesem Schreiben Winckelmanns Laokoon-Interpretation ein erstes Mal. Zur Bedeutung dieses Briefes vgl. Blümner (Anm. 7), S. 70f. Der Titel findet sich namentlich erwähnt; Moses Mendelssohn: Brief an Lessing von Januar 1757 (FA 11/1, S. 162). Lessing: Brief an Mendelssohn vom 2. Februar 1757 (FA 11/1, S. 165).
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Denn das Vergnügen, das uns die Nachahmung gewährt, besteht in der anschauenden Erkenntniß der Uebereinstimmung desselben mit dem Urbilde. Es gehören also folgende beide Urtheile dazu, wenn wir an einer Nachahmung Vergnügen finden wollen: »dieses Bild gleichet dem Urbilde.« ± »Dieses Bild ist nicht das Urbild selbst.«76
Lessing begegnet Mendelssohn mit einem eigenen Kalkül, das auf der Differenz zwischen der Empfindung einer für wirklich erachteten Sache und der Empfindung des durch die Wahrnehmung hervorgebrachten Affekts basiert. Bereitet ein illusionärer Gegenstand Lust (Verlangen, Liebe, Bewunderung), so wird die Entdeckung, dass er bloß nachgeahmt sei, sich negativ auswirken, während umgekehrt die Enttäuschung bei einem Gegenstand, der eine »unangenehme Leidenschaft« (Furcht, Ekel, Abscheu) bewirkt, nur die positive Lust des Affekts übriglässt, der aus der geglückten Täuschung hervorging. Die positive Lust des Affekts veranschlagt er zehn Mal geringer als den »Grad der Unlust« der enttäuschten quasi-Empfindung. Das Simulacrum der Natur wird sich also lohnen, wenn die Enttäuschung von der Unlust der Empfindung zu Lust des Affekts führt, sie wird sich im Gegenteil rächen, wenn von der Lust der Empfindung einzig die Lust des Affekts übrigbleibt, der die eigentliche Empfindung begleitet. Lessings Buchhaltung in Sachen Lustgewinn mag verschroben erscheinen, sie ist aber Beispiel für eine im 18. Jahrhundert verbreitete Praxis, die dem heutigen Numerical Rating Scale nicht ganz unähnlich ist.77 Auf den Laokoon bezogen vermag sie u. a. das Verhältnis der Zeit zur Wahrnehmung der malerischen Darstellung abstoßender Gegenstände zu erhellen.78 Die andauernde und wiederholte Betrachtung, die bei Bildern nun mal möglich ist, verspricht lange währende und beliebig oft erneuerbare Unlust und so überwiegt diese bald den positiven Affekt, der aus der mutmaßlich einmaligen Enttäuschung resultiert. In unserem Zusammenhang noch wichtiger aber ist, dass Lessing mit diesem Kalkül im Fahrwasser von Wolffs empirischer Psychologie segelt. Nicht nur graduiert er wie dieser die Kraft der Empfindung und stellt sie über diejenige der
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Moses Mendelssohn: Von der Herrschaft über die Neigungen, § 12. In: Ders.: Jubiläumsausgabe (Anm. 12), Bd. II. Schriften zur Philosophie und Ästhetik. Bearbeitet von Fritz Bamberger und Leo Strauß. Stuttgart-Bad Cannstatt 1972, S. 154. Zum Skalenproblem in der Psychologie des 18. Jahrhunderts vgl. Thomas Sturm: Is There a Problem with Mathematical Psychology in the Eighteenth Century? A Fresh Look at Kant¶V 2OG $UJXPHQW ,Q -RXUQDO RI WKH +LVWRU\ RI WKH %HKDYLRUDO 6FLHQFHV (2006), S. 353±377. Laokoon (III), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 26f.; FA 5/2, S. 33; zum Problem der Hässlichkeit aber vor allem ebd. XXIV, (Ed. Vollhardt), S. 172±175; FA 5/2, S. 169±182. ± Lessings Beurteilung des Hässlichen scheint mir weder aus moralischer Ablehnung noch aus der angeblichen Antipathie gegen die plastischen Künste zu entspringen, wie dies David E. Wellbery (The Pathos of Theory. ¾/DRNRRQ½5HYLVLWHGIn: Intertextuality. German Literature and Visual Art from the Renaissance to the Twentieth Century. Hg. von Ingeborg Hoesterey and Ulrich Weisstein. Columbia 1993, S. 47±63, vor allem S. 56) behauptet, sondern vielmehr aus seiner Illusionstheorie zu resultieren.
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Einbildung, nein, er geht gar soweit, diese Empfindung zu quantifizieren und die Größen in proportionale Verhältnisse zu bringen. Sicher, in ihrer mathematischen Form sind Lessings Berechnungen ein direktes, vielleicht gar etwas ironisches Echo auf Mendelssohns Ausführungen. Im ersten, von Lessing ausdrücklich gelobten Abschnitt entwickelt der Freund nämlich ein Argument, das auf ein Kernproblem sowohl von Leibniz¶ und Baumgartens Ethik als auch der Meierschen Ästhetik eine Antwort zu geben sucht. Den Ausgangspunkt bildet die Frage, wie der »Bewegungsgrund« für eine sittliche Entscheidung, für »das Wollen des Guten und Tun des Besten«,79 gestärkt werden kann. Bereits Leibniz hatte wiederholt darauf hingewiesen, dass eine moralische Überzeugung, die einzig auf einem Vernunftschluss beruhe, unter Umständen zu schwach sein könne, Menschen tatsächlich zum Guten zu bewegen.80 Für Wolff handelt es sich bei solchen Anschauungen, seien es nun Exempel, moralische Wochenschriften, Fabeln oder gar Romane, um Darstellungen, die zwar nicht durch Beweise feste Entschlüsse erzwingen, dafür aber eine »lebhafte« und somit »überführende Erkäntniß«81 bewirken. Aus der eigentlichen Verlegenheitslösung, die aus der Schwäche der Vernunft heraus eine
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Clemens Schwaiger: Das Problem des Handelns wider besseres Wissen bei Wolff, Baumgarten und Meier. In: Christian Wolff tra psicologia empirica e psicologia razionale. Atti del seminario internazionale di studi. Hg. von Ferdinando Luigi Marcolungo. Hildesheim, New York 2007 (Christian Wolff: Gesammelte Werke, Materialein und Dokument. Hg. von Jean École, Hans Werner Arndt u. a. Bd. 106), S. 167±175, hier S. 167. Im Gegensatz zu Meier trennt Baumgarten aber seine Ästhetik von der Ethik scharf ab; vgl. Reiss: Georg Friedrich Meier (Anm. 22), S. 14 und S. 28. Leibniz untersucht das Problem am eingehendsten in den Nouveaux Essais (Nouveaux HVVDLV VXU O¶HQWHQGHPHQW KXPDLQ ,, [[L S. 171f.), die jedoch erst 1765 von Raspe ein erstes Mal vollständig herausgegeben werden. In einer sehr dichten Argumentation erklärt er hier die Schwäche des Willens aus dem Mangel an lebendiger Empfindung (sentiment vif), der seinerseits aus deutlicher, jedoch symbolischer Erkenntnis resultiere. Durch Liebe, Schönheit, mehr noch aber durch die Veranschaulichung deutlicher symbolischer Erkenntnis könne die Willenskraft vermehrt werden. Am eindringlisten stellt Wolff seine Vorstellung der sinnlichen Überzeugungskraft von literarischen u. ä. Werken dar in Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, Zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. Halle im Magdeburgischen 41752, §§ 167±170 und § 373f., S. 100±109 und S. 246f.; im Zusammenhang mit der reductio der symbolischen in die intuitive Vorstellung vgl. ders.: Philosophia practica universalis, methodo scientifica petractata. Bd. II. Pars posterior, praxin complectens, qva omnis praxeos moralis principia inconcussa ex ipsa animae humanae natura a priori demonstrantur, § 310. Frankfurt, Leipzig 1739, S. 282; vgl. auch Hans Poser: Die Bedeutung der Ethik Christian Wolffs für die deutsche Aufklärung. In: Theoria cum praxi. Zum Verhältnis von Theorie und Praxis im 17. und 18. Jahrhundert. Akten des III. Internationalen Leibnizkongresses. Bd. I. Theorie und Praxis, Politik, Rechts- und Staatsphilosophie. Wiesbaden 1980 (Studia Leibnitiana. Supplement 19), S. 206±217, hier S. 212f. ± Wie nahe Lessing in seiner Behandlung der moralischen Funktion von Literatur qua Anschauung mit explizitem Verweis Wolffs Vorstellung von der reductio folgt, belegt seine Abhandlungen zur Fabel, I (Von dem Wesen der Fabel) und V (Von einem Besondern Nutzen der Fabeln in den Schulen). In: FA 4, S. 372f. und S. 407±409.
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zusätzliche affektive Kraft rechtfertigt, wird durch die erkenntnistheoretische Aufwertung der ästhetischen Erfahrung bei Baumgarten und Meier ein Moment, das den Bewegungsgrund als Triebfeder des Handelns stärker noch an die ästhetische Erfahrung bindet. Bedeutet nämlich »Schönheit«, wie Baumgarten in seiner Metaphysik definiert, »die Vollkommenheit in so ferne sie eine ErscheiQXQJ LVW RGHU LQ VR IHUQH VLH GXUFK GHQ *HVFKPDFN >«@ EHPHUNW ZHUGHQ kann«,82 dann begegnen sich im Moment der Schönheit subjektive Erfahrung, die der Selbsttätigkeit der Seele in der Vorstellung bedarf, und objektive Vollkommenheit, die als Prädikat jedem an sich Seienden zukommt. 83 Sowohl Ästhetik als auch Ethik gründen in der Lehre vom objektiv Seienden (Ontologie) und dieses ist für Schüler Leibniz¶ und Wolffs selbstredend gut und verbindlich; sie gründen aber auch in der Seelenlehre (Psychologie, Pneumatologie) und unterliegen somit den Begrenzungen seelischer Kräfte. 84 Dieser Leistungsfähigkeit der Ästhetik als Bewegungsgrund moralischen Handelns nimmt sich Mendelssohn an, indem er die beiden Seiten in eine Formel bringt: § 2. Je mehr Gutes in der Vorstellung einer Sache enthalten ist, je deutlicher wir das Gute einsehen, und je weniger Zeit erfordert wird, es völlig zu übersehen, desto größer ist die Begierde, desto angenehmer der Genuß. a) Die Quantität der Motive verhält sich also zusammengesetzt, wie die Menge des Guten, wie seine Deutlichkeit, und umgekehrt wie die Zeit, welche zum Überdenken erfordert wird. b) Man setze die Menge des Guten = m. die Deutlichkeit = p. die Zeit = t. So ist die Quantität des Beweggrundes
=
PS W
.
§ 3. Eine Vorstellung kann also weniger deutlich sein, und dennoch eine größere Gewalt haben, in unsern Willen zu wirken: 1) wenn sie eine größere Menge des Guten enthält; 2) wenn diese Menge geschwinder überdacht werden kann. § 4. Ja, wenn die Zeit, die zum Überdenken erfordert wird, sehr geringe ist, so können die Begriffe so dunkel werden, daß sich die Seele weder des Bewegungsgrundes, noch ihrer eigenen Entschließung bewußt ist, und dennoch in dem Körper solche Bewegungen hervor bringen, die zu einer andern Zeit einen überlegten Ratschluß erfordert hätten. Denn obgleich die Kürze der Zeit die Deutlichkeit vermindert, dergestalt, daß öfters gar das Be-
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Baumgarten: Metaphysik, § 488, S. 154. ± Zu Lessings Abhandlung in Bezug auf die mediale Spezifik der sprachlichen Mittel vgl. David E. Wellbery: Das Gesetz der Schönheit. Lessings Ästhetik der Repräsentation. In: Was heißt ¾Darstellen½? Hg. von Christiaan Hart Nibbrig. Frankfurt am Main 1994, S. 175±204, hier S. 183f. Zu Mendelssohns Haltung gegenüber Leibniz¶ Optimismus vgl. Stefan Lorenz: De Mundo Optimo. Studien zu Leibniz¶ Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland (1710±1791). Stuttgart 1997, S. 207f. =XUhEHUWUDJXQJYRQ¾sensitiv½ aus dem Bereich der Willenslehre in denjenigen der Ästhetik bei Baumgarten vgl. Friedhelm Solms: Disciplina Aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder. Stuttgart 1990, S. 34f.
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Eric Achermann wußtsein aufhört; so bleibt dennoch die Quantität der Motiven einerlei, weil an der Zeit gewonnen wird, was von der Deutlichkeit abgeht.85
Die Analogie zu den aus der Physik bekannten Formeln zur Berechnung der Bewegungsquantität bzw. Kraft sind offensichtlich. Die für die psychologische Theoriebildung bezeichnende Verhältnisbestimmung von Deutlichkeit als Klarheit der Teile (Intension) und Menge der vorgestellten Dinge (Extension) wird nun dadurch bestimmt, dass der kognitiv gewichtige Verlust an Deutlichkeit der Erkenntnis durch die affektiv gewichtige Zunahme an Geschwindigkeit derselben aufgewogen wird, denn es gilt bei gleichbleibender Größe des Bewegungsgrundes: Was an Menge bzw. Deutlichkeit gewinnt, verliert an Geschwindigkeit, und umgekehrt. Und weiter können wir aus der offensichtlichen Analogie zur Cartesischen Bestimmung der Bewegungsquantität, ¾Masse mal Geschwindigkeit½ (mv), oder naheliegender der Leibnizschen KrafWGHILQLWLRQ¾Masse mal Geschwindigkeit im Quadrat½ (mv2),86 folgern, dass ± da Geschwindigkeit (v) bekanntlich die Zeit (t) ist, die für eine bestimmte Strecke (s) aufgewendet wird (v=s/t) ± bei Mendelssohn Deutlichkeit (p) an die Stelle der Strecke (s) tritt. Eine plausible Interpretation scheint also zu sein: Der Fortschritt des erkennenden Geistes auf der Skala der Deutlichkeit einer Vorstellung ist analog zu einer Strecke, über welche die Menge des Guten transportiert wird, wobei die Kraft, die dazu erforderlich ist, sich proportional zur Menge, umgekehrt proportional aber zur Zeit verhält. Mendelssohn liefert nicht nur einen der zahlreichen Versuche,87 die psychischen Kräfte nach Maßgabe der physikalischen Kräftelehre zu berechnen, sondern auch einen sehr entschiedenen. Wie wichtig ihm diese Entdeckung ist, 85
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Mendelssohn: Von der Herrschaft über die Neigungen (Anm. 76), S. 149f. ± Auf die Bedeutung von Mendelssohns kurzer Abhandlung für den Laokoon hat bereits David E. Wellbery/HVVLQJ¶V/DRFRRQSemiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge 1984, hier S. 54±57) aufmerksam gemacht, der auch die zitierte Stelle englisch wiedergibt. Natürlich findet auch die vis viva-Kontroverse ihren Niederschlag in der psychologischen Literatur, so etwa, wenn Druck (vis mortua) und Stoß (vis viva) einer Sinnesempfindung anhanGGHU)RUPHOQ¾mv½ und ¾mv2½ voneinander unterschieden werden. Dies tun Johann Gottlob Krüger und sein Schüler Johann August Unzer; vgl. Wolf Feuerhahn: Die Wolffsche DeQNVFKXOH LQ GHU ¾Psychometrie½. In: Christian Wolff und die europäische Aufklärung, Teil 5 (Anm. 25), S. 69±85, hier S. 75±77. Wichtig für die folgenden Überlegungen ist die vis viva, da sie zu einem beliebigen Zeitpunkt die Gesamtbewegung eines Körpers antizipiert, das heißt die Kraft an der noch zu erbringenden Wirkung berechnet. Es handelt sich also nicht um das Maß für eine Bewegung, sondern für den Grund einer Bewegung hinsichtlich der Wirkung; vgl. hierzu Stephen Gaukroger: The Collapse of Mechanism and the Rise of Sensibility. Science and the Shaping of Modernity 1680±1760. Oxford 2010, S. 115±125. Weitere Beispiele finden sich bei Wolf Feuerhahn: Die Wolffsche Psychometrie. In: Die Wolffsche Psychologie. Systematischer Ort, Konstitution und Wirkungsgeschichte. Hg. von Jean-François Goubet und Oliver-Pierre Rudolph. Tübingen 2004, S. 227±236; Entre métaphysique, mathématique, optique et physiologie. La psychométrie au XVIIIe siècle. ,Q 5HYXH SKLORVRSKLTXH GH OD )UDQFH HW GH O¶pWUDQJHU S. 279±292; Sturm (Anm. 77).
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verraten die einleitenden Sätze zu demselben Kalkül in der vier Jahre später erschienen Rhapsodie, oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen: Ich werde suchen, die Gewalt der Triebfedern, vermittelst einer Hypothese, mathematisch zu bestimmen, und aus dieser genauern Bestimmung eine Menge von psychologischen Erscheinungen zu erklären, die für viele Weltweisen ein Stein des Anstoßes gewesen sind.88
Spätestens seit Erscheinen des ersten Teils von Leibniz Système nouveau sowie des Specimen dynamicum im Jahre 1695 wird darüber gerätselt, wie die vis primitiva, die eine jede Monade als unteilbaren Kraftpunkt metaphysisch konstituiert, mit denjenigen vires derivativae, welche einerseits die Naturvorgänge mechanistisch, andererseits die Vorstellungen unter Vorbehalt ihrer Freiheit regeln, ins Verhältnis gebracht werden kann. Wenn die Monade kraftbegabt und eins ist, so bedarf es einer Erklärung, wie eine Kommunikation zwischen der kausal wirkenden physischen Kraft und der final wirkenden Vorstellungskraft möglich ist.89 Allen voran ist es Wolff, der aus der umfassenderen Lehre der harmonia praestabilitata im Wesentlichen das Theorem der vis repraesentativa zurückbehält und zu einem zentralen Bestandteil seiner eigenen Psychologia rationalis und empirica macht.90 Wie in allen Bereichen seines Wirkens, ist es Wolff auch hier um den Erweis zu tun, dass philosophische Prinzipien einen wissenschaftlichen Anspruch in der behandelten Domäne zu garantieren vermögen. Von der Psychologie aber hängt einiges ab: Als ein zentraler Bestandteil der Metaphysik liefert sie das Fundament für praktische Philosophie und Logik.91 Für Wolff gilt es vordringlich zu erklären, wie sich seelische Wirkungen zu Bewegungen der Außenwelt verhalten, sei es, indem sie auf äußere Bewegungen reagieren, sei es, indem sie als Leidenschaften oder Entschlüsse in körperli88
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Es handelt sich inhaltlich um die gleichen Größen und Proportionen; Mendelssohn verzichtet aber weitgehend auf die Formelsprache; Moses Mendelssohn: Rhapsodie, oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen. In: Ders.: Jubiläumsausgabe (Anm. 12), Bd. I, S. 414. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Tentamen Anagocium. In: Ders.: Die philosophischen Schriften, Bd. VII, S. 273; ders.: Brief an Bierling vom 12. August 1711. In: Ebd., S. 501. Zur psychologischen Uminterpretation oder Verkürzung von Leibniz¶ prästabilierter Harmonie bei Wolff siehe Wolf Feuerhahn: Comment la psychologie empirique est-elle née? In: Wolff et la métaphysique. Archives de philosophie 65/1 (2002), S. 47±64; Hans-Jürgen Engfer: Von der Leibnizschen Monadologie zur empirischen Psychologie Wolffs. In: Nuovi studi sul pensiero di Christian Wolff. Hg. von Sonia Carboncini und Luigi Cataldi Madonna. Il cannocchiale 2/3 (1989) (Christian Wolff: Gesammelte Werke, Materialien und Dokument. Hg. von Jean École, Hans Werner Arndt u. a. Bd. 31), S. 193±215. ± Zur seelischen Kräftelehre bei Wolff im Allgemeinen vgl. Jean-Francois Goubet: Force et facultés GH O¶kPH GDQV OD ¾0pWDSK\VLTXH DOOHPDQGH½ de Wolff. In: Revue philosophique de la )UDQFHHWGHO¶pWUDQJHU 128/3 (2003), S. 337±350. Vgl. hierzu Thierry Arnaud: Le Critère du métaphysique chez Wolff. Pourquoi une Psychologie empirique au sein de la métaphysique? In: Archives de philosophie 65/1 (2002), S. 35±46.
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che Bewegung umgesetzt werden. Unter den verschiedenen Optionen, welche die Philosophie im ausgehenden 17. Jahrhundert zur genaueren Erfassung des psychophysischen Parallelismus entwirft, favorisiert Wolff eine Position, die wir als harmonistische bezeichnen können.92 Er tut es jedoch mit Vorbehalten. So bekundet er bezüglich der Möglichkeit, die Kraftgesetze der Seele in eine Form zu bringen, die der mathematischen Erfassung physischer Bewegungsgesetze entspricht, grundlegende Zweifel.93 Gewiss seiner eigenen Hypothesen jedoch, ja der Ausblick auf eine Seelenmesskunst (Psycheometria),94 die als Teilgebiet einer allgemeinen Dynamik die mathematische Bestimmung psychischer Größen zum Gegenstand hätte,95 haben ihn und nicht wenige Zeitgenossen zu aufregenden Spekulationen verleitet, die intensiven und extensiven Dimensionen unserer Vorstellungswelt zu vermessen. Die Herausforderung an die Psychometrie ist vor diesem Hintergrund eine doppelte: Einerseits gilt es zu zeigen, dass sowohl die Körper- als auch die Geisteswelt Kraftgesetzen unterliegt, andererseits dürfen die Größen, die der physikalischen Kräfteberechnung zukommen, nicht mit denjenigen der Körperwelt identisch sein, kennt die Seele doch weder räumliche noch zeitliche Ausdehnung. An die Stelle dieser Dimensionen müssen andere treten, deren Maß zu bestimmen ungemein schwierig erscheint. Eine Vorstellung kann zwar als »geschwind« oder »stark« bezeichnet werden, solange wir uns im Klaren bleiben, dass die Vorstellung keine räumliche Strecke zurücklegt und unmittelbar keine körperliche Wirkung entfaltet, sondern GDPLWYLHOPHKUHLQEHVWLPPWHU¾LOOXGLHrWHU½ Grad an Gleichzeitigkeit, Unmittelbarkeit oder Spontaneität einer Vorstellung ausgedrückt wird.96 Nebst diesen methodologischen Problemen, die im Übrigen der Physik nicht unbekannt sind (Licht, Wärme, Kraft), steht eine allzu direkte Gleichsetzung der Größen der physikalischen Kraft-Formel mit menta92
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Vgl. Christian Wolff: Psychologia rationalis methodo scientifica petractata, qua ea, quae de anima humana indubia experientiae fide innotescunt, per essentiam et naturam animae explicantur, et ad intimiorem naturae ejusque autoris cognitionem profutura proponuntur, § 63. Frankfurt, Leipzig 21740, S. 42f. Wolff: Psychologia rationalis, § 79, S. 56: »Vis perceptiva animarum a vi motrice corporum prorsus diversa est.« [Die Wahrnehmungskraft der Seelen ist von der Bewegungskraft der Körper gänzlich verschieden.]; ebd., § 79, S. 58: »patet vim motricem substitui minime posse vi perceptivae, nec vim perceptivam vi motrici salvis modificationum regulis. Diversae adeo sunt vires.« [Es liegt auf der Hand, dass unbeschadet der Regeln der Veränderung die Bewegungskraft ganz und gar nicht durch die Wahrnehmungskraft ersetzt werden kann, noch die Wahrnehmungskraft durch die Bewegungskraft. Ganz und gar verschieden sind die Kräfte.] ± Zu Wolffs psychophysischen Parallelismus und seinen Bedenken vgl. TorraMattenklott (Anm. 29), S. 70±75 und S. 107±117. Wolff: Psychologia empirica, § 522, S. 403f. Zu den wissenschaftlichen Anforderungen, die eine solche Mathesis stellt, vgl. die präzise Darstellung von Antonio Moretto: Matematica e psicologia empirica in Wolff. In: Christian Wolff tra psicologia empirica e psicologia razionale. Atti del seminario internazionale di studi. Hg. von Ferdinando Luigi Marcolungo. Hildesheim, New York 2007 (Christian Wolff: Gesammelte Werke, Materialien und Dokumente. Hg. von Jean École, Hans Werner Arndt u. a. Bd. 106), S. 145±165. Wolff: Psychologia rationalis, § 30, S. 22.
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len Größen zudem in dem Verdacht, demjenigen Materialismus Tür und Tor zu öffnen, den die Harmonisten als unstatthafte Transformation mentaler in kinetische Kräfte ja hauptsächlich auszumerzen versuchen. Die Kluft nämlich, die Harmonisten zwischen Welt und Vorstellung behaupten, könnte tiefer nicht sein. Körper existieren in Raum und Zeit, bilden Raum und Zeit und sind räumlich und zeitlich beschränkt, während Vorstellungen nur insofern von Raum und Zeit beschränkt sind, als sie von der räumlichen und zeitlichen Lage des Körpers 97 und der Beschaffenheit der Sinnesvermögen der vorstellenden Seele abhängen.98 Doch nicht nur Wahrnehmungsfeld (campus perceptionum) und Beschaffenheit der Sinnesorgane unterliegen gewissen Einschränkungen,99 sondern auch die Kraft, die der Seele zukommt. Kurz, die Seele ist zwar kein Körper, dennoch eine eingeschränkte Substanz.100 Es sind diese Grenzen, die es letztlich ermöglichen, der Wissenschaft von der Seele Gesetze zu geben, das heißt den geregelten Zusammenhang zwischen sinnlichem Eindruck und seelischem Ausdruck zu erfassen. 101 Darüber hinaus ermöglichen sie es, von einer seelischen Veränderung auf eine andere zu schließen, sei es von der Empfindung auf den Sinneseindruck, 102 von den Einbildungen auf vorausgehende Empfindungen,103 vom Gedächtnis auf vergangene
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Wolff: Psychologia rationalis, § 259±263, S. 210±213; eine hervorragende Darstellung der Beschränkungen der Seele findet sich bei Mariano Campo: Cristiano Wolff e il razionalismo precritico. Mailand 1939. (Ndr.: Christian Wolff: Gesammelte Werke, Materialien und Dokumente. Bd. 9), hier S. 327±346. Vgl. hierzu Lessings Ausdrücke »Gesichtspunkte« und »Augenblick«; Laokoon (III), Ed. Vollhhardt (Anm. 1), S. 25; FA 5/2, S. 32. Wolff: Psychologia rationalis, § 66, S. 45: »Essentia animae consistit in vi repraesentativa universi situ corporis organici materialiter & constitutione organorum sensoriorum formaliter limitata.« [Das Wesen der Seele besteht in der Vorstellungskraft des Universums, die durch die Lage des organischen Körpers materialiter und durch die Beschaffenheit der Sinnesorgane formaliter limitiert ist.] Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica, § 531: »Anima mea est vis repraesentatiua vniuersi pro positu sui« [Meine Seele ist eine vorstellende Kraft des Universums nach Maßgabe ihrer Lage]), bezeichnend Meiers Übersetzung (Baumgarten: Metaphysik, § 396, S. 120): »Meine Seele ist eine Kraft welche vorstellt diese Welt nach der Stellung meines Körpers.« Wolff: Psychologia rationalis, § 264, S. 213: »Anima est substantia finita.« Ebd., § 76, S. 54: »Vis animae in actuandis iis, quae per facultates ipsius possibilia sunt, certas observat leges. Quando enim anima ideas sensuales producit, legem tenet sensationum. Quando phantasmata producit, legem sequitur imaginationis. Memoriae quid mandatura certa tenetur lege; nec minus ad legem sese componere debet, ubi cujusdam reminsicitur.« [Die Kraft der Seele beachtet bei der Ausführung desjenigen, was durch ihre eigenen Vermögen möglich ist, bestimmte Gesetze. Wenn nämlich die Seele sinnliche Ideen hervorbringt, so hält sie sich an das Gesetz der Empfindungen. Wenn sie Phantasmen hervorbringt, so hält sie sich an das Gesetz der Einbildungskraft. Was dem Gedächtnis aufgetragen wird, wird durch ein bestimmtes Gesetz erhalten; und nicht weniger wird ein Gesetz befolgt, wo an etwas zurückgedacht wird.] Wolff: Psychologia empirica, § 85, S. 49. Ebd., § 117, S. 76.
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wiederholte Empfindungen oder Einbildungen,104 und schließlich vom Wiedererinnerungsakt auf die Umstände dieser Empfindungen und Einbildungen, die das Vergessene in die Erinnerung zurückholen. Denn wie der naturwissenschaftliche Gesetzesbegriff nicht bloß das Mögliche in seinen Grenzen, sondern auch die Realisierbarkeit von Prozessen bestimmt, so erfassen diese psychologischen Gesetze auch etwas, das wir die Produktivität der Seele nennen können: Ja, es entstehen in der Seele neue Wahrnehmungen aus anderen Dingen nicht bloß durch die Einbildungskraft und des mit ihr verbundenen Erfindungsvermögens, sondern auch durch die Kraft der Operationen des Intellekts; es entstehen auch Neigungen und Abneigungen, Willen und Unwillen aus den Wahrnehmungen. Dadurch wird die Lage des Körpers durch den Entschluss der Seele verändert, so dass andere Körper auf das Sinnesorgan wirken und die Empfindungen verändert werden. 105
Einbildungskraft, mehr noch Vernunft garantieren die Produktion von Neuem, dass nicht bloß rezeptiv auf die Welt reagiert, sondern mit dieser interagiert. Bei all deP*HZLFKWGDVGHP$XVGUXFN¾Vorstellung½ bzw. »repraesentatio« in der Leibnizschen und Wolffschen Philosophie zukommt, darf nicht vergessen werden, dass die Wiedergabe der äußeren Welt nur einen Teil der seelischen Leistung darstellt. Daneben »entwickelt« die Seele aus den verworrenen Vorstellungen Vergangenes und Künftiges, kombiniert Neues und Unerhörtes, imaginiert alternative Welten106 und verfällt zudem in Irrtümer, die in der Wirklichkeit trivialerweise keine Entsprechung haben. Wolffs ambivalente Position gegenüber der Psycheometria dürfte mit dieser Freiheit zusammenhängen. Gegen den stets lauernden Verdacht des Determinismus sind er und seine Anhänger darauf bedacht, die Freiheit der Gedanken sowie die Freiheit des Willens nachdrücklich zu betonen. Und dennoch lehrt uns die GesFKLFKWH GDVV GHU $XVGUXFN GHU ¾6HHOHQNUDIW½ weder bei Wolff noch seinen Nachfolgern zu einem äquivoken verkommt. Die Freiheit verhindert die gesetzhafte Bestimmung letztlich nicht. Die Individualität seelischer Leistungsfähigkeit, Verschiedenheit der Stellung in der Welt, ja, gar die Möglichkeit übernatürlicher Inspiration werden vielmehr als Imponderabilien von den eigentlichen Gesetzen abstrahiert, diese ihrerseits als Ermöglichungsgrund der Freiheit und nicht als deren Beherrscherin apostrophiert.107 104 105
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Ebd., § 179, S. 126. Ebd., § 79, S. 57: »Enimvero nascuntur in anima perceptiones aliae ex aliis non modo vi imaginationis & eidem sese adjungentis facultatis fingendi, verum etiam vi operationum intellectus; nascuntur etiam appetitiones & aversationes, volitiones ac nolitiones ex perceptionibus. Ideo animae decreto mutatur situs corporis ut alia in organum sensorium agant corpora sensationesque mutentur.« Zu den modallogischen Grundlagen der Möglichen Welten bei Wolff und Gottsched vgl. Eric Achermann: Was Wunder? Gottscheds Modaltheorie von Fiktion. In: Gottsched. Philosophie, Poetik, Wissenschaft. Hg. von dems. Berlin [im Druck] (Werkprofile 4). Zum Begriff des Gesetzes vgl. Wolff: Psychologia empirica, § 84, S. 49: »Denominatio fit ad imitationem regularum & legum motus. >«@4XHPDGPRGXPHQLPLQSKLORVRSKLDQDWurali absque regulis motus explicari nequit, quomodo corpora pro arbitrio nostro movere valeamus; ita quoque in philosophia practica absque regulis perceptionum doceri non
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So greift Georg Friedrich Meier, ein Autor, der weder eines gottlosen Determinismus, noch eines seelenlosen Mechanizismus verdächtigt werden kann, im Jahr 1744 die Leibnizsche und Wolffsche Vorstellung der allgemeinen Dynamik auf und behandelt ihre psychische Seite in seiner Theoretischen Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt: Wenn die Würckung eines Körpers groß seyn soll, so muß entweder seine Masse groß seyn, oder seine Geschwindigkeit, oder beydes zugleich. Wenn ich nun die Kraft zu begehren für die Masse der Seele annehme, so erhellet, daß in den Leidenschaften ein grosser Grad dieser Kraft gebraucht werde, folglich ist die Masse groß. Gleich jetzo habe ich erwiesen, daß auch die Geschwindigkeit sehr groß sey. Man sieht also die Uebereinstimmung der Körper mit der Seele in diesem Stücke, und ich bin in der Meinung bestärckt worden, daß die Bewegungsgesetze, mit den Gesetzen der Veränderungen der Seelen übereinstimmen, und also aus einerley entferntern Gründen können erwiesen werden. Diese Gründe würden, meinem Bedüncken nach, einen schönen Theil der allgemeinen Dynamic ausmachen. Doch das ist nur im Vorbeygehen gesagt.108
Die etwas gar unglückliche Annahme der »Masse der Seele« als eine »Kraft zu begehren« erfährt im Verlaufe der Abhandlung mehrfach Präzisierungen. In Analogie zur körperlichen Bewegung109 setzt Meier die Wirkkraft der Seele ins Verhältnis zu den »Theilen« der Vorstellung oder »Merckmaalen«, die zusammengenommen diese Masse ausmachen. Dieser extensiven Größe setzt er eine intensive entgegen. Sie besteht in der Klarheit, das heißt genauer in der Klarheit der Teile. Kurz, je klarer und teilreicher eine Erkenntnis, umso stärker ist ihre Bewegungskraft,110 desto »lebhafter« ist die Vorstellung.111 Am Beispiel der Dichtungskraft belegt Meier, wie die Erhöhung des Grades in einer der beiden Dimensionen es ermöglicht, dass eine Einbildung an Stärke gar eine Empfindung superiert: Allein, da die Einbildungskraft, vermöge ihrer Natur, immer andere und mehrere Vorstellungen erwecken und verbinden kan. Ja, da die Dichtungskraft aus tausend Einbildungen, eine seltsam vermehrte Vorstellung erschaffen kan, so darf man sich nicht
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potest quomodo actiones nostras liberas pro arbitratu nostro dirigamus.« [Die Benennung geVFKLHKWDQDORJ]XGHQ5HJHOQXQG*HVHW]HQGHU%HZHJXQJ>«@:LHQlPOLFKLQGHU1aturphilosophie ohne Bewegungsregeln nicht erklärt werden kann, wie wir Körper nach unserem Gutdünken zu bewegen vermögen, so können wir auch in der praktischen Philosophie ohne Regeln nicht erfahren, wie wir unsere freien Handlungen nach unserem Ermessen zu lenken haben.] Meier: Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen, § 105, S. 154±156. Ebd. § 222, S. 394f.: »Eine Bewegung des Körpers ist groß, wenn viele Theile desselben sehr geschwinde bewegt werden. Folglich müssen, in den Leidenschaften, viele Theile des Körpers, mit einer grossen Geschwindigkeit, bewegt werden.« Ebd., § 48, S. 55: »Die Klarheit kan auf eine doppelte Art vermehrt werden. Einmal der Ausdehnung nach, wenn sie sehr viele Merckmaale enthält, oder aus vielen Theilen besteht; und zum andern durch die grössere Klarheit der Merckmaale. In dem letzten Falle, kan eine Vorstellung klärer werden, ohne daß ein einziges Merckmaal, oder ein neuer Theil, hinzukommt. Die vorigen Theile der Vorstellung werden alsdenn nur entwickelt, und wenn sich so reden soll sichtbarer gemacht.« Ebd., S. 56.
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Eric Achermann wundern, daß die Vorstellung, woher das erstemal die Leidenschaft entstanden, überaus sehr vermehrt seyn kan, wenn sie zum andernmale durch die Einbildungskraft in der Seele erweckt wird.112
Just dieser Substitution von Masse mit Menge der Teile begegnen wir im Laokoon, wobei jedoch Lessing den Akzent der Fragestellung, die den erwähnten Kalkülen zugrundeliegt, verschiebt: Er kalkuliert nicht die Größe der Wirkungskraft, sondern setzt bei der Grenze der seelischen Kraft an, von wo aus er die spezifische Leistungsfähigkeit der Mittel bestimmt. 113 Als einer der wichtigsten Begriffe, die das Gelingen einer ästhetischen Erfahrung anzeigen, erscheint ¾Illusion½. Wie wir gesehen haben, definiert Mendelssohn sie als eine »Nachahmung«, die »so viel ähnliches mit dem Urbilde hat, daß sich unsre Sinne wenigstens einen Augenblick bereden können, das Urbild selbst zu sehen.« Dieser »Betrug« ist aber nur von kurzer Dauer, wird er doch gleichsam durch Reflexion enttarnt und dem bereits geschilderten Wechselspiel von intuitiver Ganzheitsvorstellung und symbolischer Reflexion überantwortet. Die Täuschung ist dabei das Erlangen der Vorherrschaft der intuitiven über die symbolische Kraft, die Enttäuschung hingegen die Rückeroberung der Herrschaft durch die symbolische: Man siHKWOHLFKWGDMHQHV8UWKHLO>¾dieses Bild gleichet dem Urbilde½] vorangehen muß, daher muß die Ueberzeugung von der Ähnlichkeit intuitive, oder vermittelst der Intuition, die Ueberzeugung hingegen, dass es nicht das Urbild selbst sey, kann etwas später erfolgen, und daher mehr von der symbolischen Erkenntiß abhangen.114
Lessing scheint sich weder mit der Berechnung der Größe der Vorstellungskraft noch mit Mendelssohns Begriff der Illusion schwer zu tun, sondern einzig mit der Behauptung, dass das Wechselspiel von Illusion und Reflexion in jedem Fall eine Steigerung der Lust bewirke. Im Gegensatz zu Mendelssohn und Meier, um nur diese zwei zu nennen, geht es Lessing aber primär darum, nach der möglichen seelischen Wirkung gewisser Mittel zu fragen, und nur sekundär treten damit verbundene Fragen auf, wie etwa nach der ethischen Auswirkung starker Vorstellungen auf die 112 113
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Ebd., § 79, S. 106. Dass die menschliche Erkenntnis beschränkt ist, mehr noch, dass die ästhetische Erfahrung von dieser Beschränktheit her zu definieren ist, bildet für Baumgarten und Meier die unabdingbare Prämisse, die sie Leibniz¶(UNHQQWQLVWKHRULHYHUGDQNHQYJO0LFKDHO-lJHU'LH Ästhetik als Antwort auf das kopernikanische Weltbild. Die Beziehungen zwischen den Naturwissenschaften und der Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens und Georg Friedrich Meiers. Hildesheim, Zürich 1984, S. 225±244. Nichtsdestoweniger geht es Baumgarten und Meier um die nicht selten mühevolle, Grenzen überwindende Optimierung der Erkenntniskraft, während Lessing nach GHP¾EHTXHPHQ½GDVKHLWGHQ*UHQ]HQDQJHSDVVWHQ Verhältnis fragt und so die Leichtigkeit der Rezeption zur Voraussetzung des Genusses erklärt. Entgegen Eva M. Knodt (Anm. 27, S. 73) trifft es nicht zu, dass Lessings »bequemes Verhältnis« sich »zunächst also ganz im Einklang mit der zeitgenössischen Zeichentheorie« befinde, und zwar weder zunächst, noch zuletzt. Mendelssohn: Von der Herrschaft über die Neigungen (Anm. 76), S. 154.
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Begehrungskraft,115 nach der pathologischen Auswirkung auf den Körper, nach der produktiven Auswirkung auf die Dichtungskraft etc. Das kritische Programm beschränkt sich eben gerade darauf, das »bequeme Verhältnis« an den Grenzen des Möglichen zu bemessen. Gesetzt den Fall also, dass die Kraft beschränkt ist, gilt es zu fragen, welche Mittel es dem jeweiligen seelischen Vermögen erlauben, mit diesem vorbestimmten Quantum Kraft täuschende Vorstellungen zu bewirken. In der Täuschung liegt also die Leistung; die Täuschung aber besteht in der Verdrängung der Zeichen durch die Vorstellung des bezeichneten Gegenstands aus dem Bewusstsein: Der Poet will nicht bloß verständlich werden, seine Vorstellungen sollen nicht bloß klar und deutlich seyn; hiermit begnügt sich der Prosaist. Sondern er will die Ideen, die er in uns erwecket, so lebhaft machen, daß wir in der Geschwindigkeit die wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden glauben, und in diesem Augenblicke der Täuschung, uns der Mittel, die er dazu anwendet, seiner Worte bewußt zu seyn aufhören. 116
Der Augenblick der Täuschung bildet den Moment, in welchem analog zur Bewegungsformel die Zeit (t) gegen Null tendiert, die Geschwindigkeit (s/t) entsprechend als enorm erscheint. Dasjenige aber was »auf einmal« als Ganzes erfasst wird, wird aufgrund der Menge der Teile als Masse (m) betrachtet, während der Syntheseprozess, das Zusammenfügen der Teile zu einem Ganzen als einer klaren Vorstellung, als Analogon der Strecke (s) erscheint, den der Geist im Vorstellungsakt zurücklegt. Die extensive Dimension, also der Reichtum der Vorstellungen, wird mit der intensiven, dem Verhältnis von Klarheit und Geschwindigkeit, multipliziert. Bei »erstaunlicher Geschwindigkeit« erscheint die zeichenhafte Vermittlung als eigentliche Empfindung eines gegenwärtigen Gegenstandes, das natürliche Zeichen wird durch die Geschwindigkeit gleichsam ausgelöscht. Die Arbeit der Einbildungskraft dagegen erscheint als mühsam: Sie holt aus dem Gedächtnis hervor, was die Zeichen von ihr fordern. Will sie dies mit einiger Hurtigkeit leisten, so darf sie nicht überfordert werden, da ansonsten die QuasiPlötzlichkeit der täuschenden Wirkung verpufft, was Lessing am Beispiel von Hallers Enzianbeschreibung demonstriert: Gesetzt nun also auch, der Dichter führe uns in der schönsten Ordnung von einem Theile des Gegenstandes zu dem andern; gesetzt, er wisse uns die Verbindung dieser Theile auch noch so klar zu machen: wie viel Zeit gebraucht er dazu? Was das Auge mit einmal übersiehet, zählt er uns merklich langsam nach und nach zu, und oft geschieht es, daß wir bey dem letzten Zuge den ersten schon wiederum vergessen haben. Jedennoch sollen wir uns aus diesen Zügen ein Ganzes bilden: dem Auge bleiben die betrachteten Theile beständig gegenwärtig; es kann sie abermals und abermals überlaufen: für das Ohr hingegen sind die vernommenen Theile verloren, wann sie nicht in dem Gedächtnisse zurückbleiben. Und bleiben sie schon da zurück: welche Mühe, welche Anstrengung kostet 115
116
0RQLND )LFN ¾/DRkoon½ zwischen Diskursanalyse und Präsenzdebatte. In: Lessing Yearbook 37 (2006/2007), S. 113±124, hier S. 120) spricht von einer eigentlichen »Entmoralisierung der Schönheit«. Laokoon (XVII), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 123; FA 5/2, S. 124.
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Eric Achermann es, ihre Eindrücke alle in eben der Ordnung so lebhaft zu erneuern, sie nur mit einer mäßigen Geschwindigkeit auf einmal zu überdenken, um zu einem etwanigen Begriffe des Ganzen zu gelangen!117
Es bleibt der wesentliche Unterschied zwischen Malerei und Dichtung der Unterschied zwischen natürlichen und arbiträren Zeichen; die Selbsttätigkeit der Seele ist bei der Einbildungskraft, die Vorstellungen aktualisiert, höher als bei der Empfindung, die auf einen äußeren Einfluss reagiert. Da die eine nicht gegenwärtige Anschauung Mühe bereitet, besteht die Eignung der symbolischen Vorstellung in deren Funktion, die Seele zu entlasten. Damit aber verliert die Vorstellung an Klarheit und Reichtum, ohne dass ersichtlich wird, welche Vorteile sie sich gemessen am Ziel der Täuschung verschafft.
5. Gegenwärtigkeit und Unmittelbarkeit Es dürfte kODUJHZRUGHQVHLQGDVVHVGHQ¾ästhetLVFKHQ5HSUlVHQWDWLRQDOLVPXV½, von welchem im Zusammenhang mit dem Laokoon häufig die Rede ist, nicht primär als semiotischen zu verstehen gilt, sondern als psychologischen.118 Und es dürfte vielleicht QRFKNODUHUJHZRUGHQVHLQZDV¾5HSUlVHQWDWLRQ½XQG¾VorVWHOOXQJ½ nicht bedeuten, nämlich die einfache Widerspiegelung von Welt in ihrer Erscheinung, denn auch das von Leibniz VRJHUQHYHUZHQGHWH¾speculum½ darf nicht als Instrument oder Ergebnis eines optischen Kopiervorgangs verstanden werden, mögen wir einer solchen Interpretation auch noch so oft begegnen. Vorstellungen nämlich sind auch, aber nicht nur, Empfindungen einer gegenwärtigen Welt, und diese sind auch, aber nicht nur, optischer Art, denn bekanntlich kriegt man die Welt zu spüren, bisweilen auch zu hören und zu riechen.119 117 118
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Ebd. (Ed. Vollhardt [Anm. 1], S. 123f.). In seiner bekannten Untersuchung zum Laokoon begeht Wellbery, der am intensivsten die Beziehung zwischen der Zeichentheorie der Wolffianer und derjenigen Lessings untersucht hat, soweit ich sehe, diesen Fehler nicht. Fatal für die Rezeption seines Buches dürfte jedoch sein ansonsten recht folgenloses Zitieren von Foucault gewesen sein. Nicht nur stimmt er dem erstklassigen historischen Nonsens, »[c]lassical philosophy, from Malebranche to Ideology, was through and through a philosophy of the sign« (Anm. 85, S. 36) zu, sondern er behauptet auch, dass »the aesthetic experience is always rooted in an historically specific codification of the relations between signs and their users« (ebd., S. 2), eine Äußerung, welche den Vorzug hat, biologische Metaphorik mit radikalem Verzicht auf Falsifizierbarkeit zu kombinieren. In seiner Darstellung der historischen Sachverhalte setzt Wellbery selbst (ebd., S. 43±68), aber bei der Ästhetik als Teilgebiet der Psychologie an, um auf deren Hintergrund die Funktion der Zeichen zu bestimmen. Vgl. den wichtigen Schlussabschnitt von Leibniz¶ Meditationes zur Streitfrage, »ob wir alle Dinge in Gott sehen«: »etsi omnia in DEO videremus, necesse tamen esse ut habeamus et ideas proprias, id est non quasi icunculas quasdam, sed affectiones sive modificationes mentis nostrae, respondentes ad id ipsum quod in DEO perciperemus: utique enim aliis atque aliis cogitationibus subeuntibus aliqua in mente nostra mutatio fit; rerum vero actu a nobis non cogitatarum Ideae sunt in mente nostra, ut figura Herculis in rudi marmore.«
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Dass der Mensch über mehrere äußere Sinne verfügt, dass also nicht nur Auge, sondern auch Ohr, Nase, Zunge und Haut Dinge als natürliche Zeichen empfinden können, ist ein oft gehörter Einwand gegen die Reduktion natürlicher Zeichen auf malerische. Wir begegnen ihm bereits in den Anmerkungen, die Mendelssohn den Entwürfen zum Laokoon beifügt. Er ergänzt das bereits erwähnte Argument, dass willkürliche Zeichen aufgrund ihres symbolischen Charakters zur Bezeichnung sowohl räumlicher als auch zeitlicher Vorkommnisse gleichermaßen fähig sind, und auch ein dritter Einwand scheint mit diesen beiden in Zusammenhang zu stehen, wenn Mendelssohn die Verwendung von »Handlung« für eine zeitliche Folge von Ereignissen moniert und diese durch »Bewegung« ersetzt sehen möchte:120 Bewegungen heißen sie eigentlich, denn es giebt Handlungen, die aus nebeneinander existirenden Theilen bestehen, und diese sind mahlerisch. Aber die Bewegung besteht bloß aus Theilen, die auf einander folgen. Wir haben also Bewegungen und Handlungen. Die Musik drückt Handlung durch die Bewegung und die Mahlerey Bewegung durch die Handlung aus. Jene vermittelst natürlicher Töne, diese vermittelst der Räume. Die Poesie hat Bewegungen und Handlungen vermittelst der willkührlichen Zeichen.121
Dass Mendelssohn »Bewegung« vorschlägt, Lessing ihm hierin jedoch nicht folgt, ist zumindest ein Indiz dafür, dass Mendelssohn zwar die Analogie von Lessings Überlegungen mit der Kalkulation der Kräfte, die vollständige Absicht Lessings jedoch nicht recht erkannt zu haben scheint. Dieser beharrt wohl aus mehreren Gründen auf »Handlung«. Zuerst ist da mal der direkte Bezug zu $ULVWRWHOHV¶ Bestimmung der Dichtung als Nachahmung von Handlung.122 Für Aristoteles ist der Mythos eine Zusammensetzung (synthesis) von Gescheh-
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[selbst wenn wir alle Dinge in Gott sähen, so ist es dennoch notwendig, auch eigene Ideen zu haben, das heißt nicht etwa eine Art von Bildchen, sondern Eindrücke und Modifikationen unseres Geistes, die demjenigen entsprechen, was wir in Gott wahrnehmen, zumal nämlich ± da durch andere Gedanken auch andere Gedanken entstehen ± eine Veränderung in unserem Geist geschieht. Es sind aber in unserem Geist Ideen von Dingen, die wir nicht aktuell denken, wie die Figur des Herkules im rohen Marmor.] Direkt im Anschluss kommt Leibniz auf die undeutlichen Vorstellungen von Farben und Gerüchen, von kleinsten Figuren und Bewegungen zu sprechen; Gottfried Wilhelm Leibniz: Meditationes de cognitione, veritate et ideis. In: Ders.: Die philosophischen Schriften. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. Bd. IV. Berlin 1880, S. 426=X/HLEQL]¶$XVHLQDQGHUVHW]XQJPLW0DOHEUDQFKH, die den Hintergrund zu dieser Stelle bildet, vgl. Christian Barth: Gottfried Wilhelm Leibniz. In: Ideen. Repräsentationalismus in der Frühen Neuzeit. Bd. 2. Kommentare. Hg. von Dominik Perler und Johannes Haag. Berlin, New York 2010, S. 287±338, hier S. 296f. Eine gute Darstellung der diesbezüglich differierenden Meinungen gibt Dirk Oschmann: Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist. München 2007, hier S. 111±118. [Laokoon, Paralipomenon 3 (III)] FA 5/2, S. 220. Aristoteles, Poetik, 6, 1450a4: »eästin dh? thqw me?n praßcevw oÖ muqjow hÖ mißmhsiw.« [Mythos ist Mimesis von Handlung.] ± Diese Bestimmung schlägt auch bei Harris durch, der in seiner Vergleichung der Künste die Nachahmung von »actions« zum Hauptgeschäft von Dichtung erhebt; auf Harris als Vorlage verweist Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. München 2008, S. 400f.
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nissen zu einer Einheit123 und die finale Bestimmung (telos) des dichterischen Stoffes (mythos) wesentlich,124 ermöglicht diese doch die Einheitsvorstellung, die das poetische Ganze begründet: Ein Ganzes hat, wie sich Aristoteles ausdrückt, einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss,125 oder eben eine Ursache, ein Mittel und ein Ziel. Lessing erkennt also nicht in der reinen Sukzessivität das Spezifikum der Dichtung, sondern überführt die Abfolge von der rein physischen Bewegung kausaler Determination in eine praktischen Handlungen eignende finale Bestimmung.126 Durchaus in die gleiche Richtung geht Lessings Widerstand gegen die Einbeziehung der Musik. Dies ist umso bemerkenswerter, da Lessing auch hierin gegen einen breiten Konsens antritt. Schon fast ein halbes Jahrhundert zuvor hatte Jean-Baptiste Dubos in seinen epochemachenden Reflexions critiques sur la Poesie et sur la Peinture, auf deren Titelseite das »ut pictura poesis« prangt, die Musik zur dritten nachahmenden Kunst erklärt, 127 da sie durch natürliche Zeichen Leidenschaften zum Ausdruck bringe.128 Diese Ansicht findet auch noch ein Vierteljahrhundert später prominente Verfechter. So erfährt sie in Diderots /HWWUHVXUOHVVRXUGVHWPXHWVjO¶XVDJHGHFHX[TXLHQWHQGHQWHWTXL parlent eine eindrückliche Demonstration, wo Dido ihren pathetischen Tod im Zeichen musikalischer Intervalle stirbt.129 Wollte man schließlich den Einfluss französischer Überlegungen, wie die eines Batteux, auf Lessing klein halten, so begegnen wiULQ+DUULV¶ einflussreichen Three Treatises dem dezidiertesten Versuch, die alte Paragone-Debatte130 in einen Vergleich zu übertragen, der den Fokus auf drei »mimetische oder nachahmende« Künste richtet, nämlich Musik, 123 124 125 126
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Aristoteles, Poetik, 6, 1450a5. Ebd., 1450a24. Ebd., 7, 1450b26. Die Ausdrücke »aörxhß«, »meßsow« und »teleujhß« erlauben m. E. eine solche handlungs-theoretische Übersetzung. Oschmann (Anm. 120, S. 126) bestimmt Lessings Vorstellung von Handlung mit den Begriffen »Bewegung« und »Prozessualität«. Eine hervorragende Darstellung der Implikationen des Lessingschen Handlungsbegriffs findet sich bei Luca Giuliani: Laokoon in der Höhle des Polyphem. Zur einfachen Form des Erzählens in Bild und Text. In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 28 (1996), S. 1±47, hier S. 19±24. [Jean-Baptiste, abbé Dubos]: Reflexions critiques sur la poesie et sur la peinture, I, 42. Bd. I. Paris 1719, S. 653. Zu Lessing und Dubos vgl. Wolfgang Bender: Lessing, Dubos und die rhetorische Tradition. In: Nation und Gelehrtenrepublik. Lessing im europäischen Zusammenhang. Hg. von Wilfried Barner und Albert M. Reh. Detroit 1984, S. 53±66. Ebd., S. 637 Denis Diderot: /HWWUHVXUOHVDYHXJOHVjO¶XVDJHGHFHX[TXLYRLHQW/HWWUHVXUOHVVRXUGVHW PXHWVjO¶XVDJHGHFHX[TXLHQWHQGHQWHWTXLSDUOHQW Hg. von Marian Hobson und Simon Harvey. Paris 2000, S. 127±131. ± Zu Diderots Lettre, auch im Verhältnis zu Lessings Laokoon, vgl. Karlheinz Stierle: Das bequeme Verhältnis. Lessings Laokoon und die Entdeckung des ästhetischen Mediums. In: Das Laokoon-Projekt. Hg. von Gunter Gebauer. Stuttgart 1984, S. 23±58, hier S. 30±37 und S. 42. Zu Geschichte und Inhalt dieser Debatte vgl. Eric Achermann: Das Prinzip des Vorrangs. Zur Bedeutung des Paragone delle arti für die Entwicklung der Künste. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Hg. von Herbert Jaumann. Berlin, New York 2011, S. 179±209.
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Malerei und Dichtung, wobei Musik und Malerei als natürliche Medien verstanden werden.131 Trotz dieser gewichtigen Autoritäten, die sich leicht vermehren ließen, ahmt für Lessing Musik weder Körper, noch Handlung nach; sie bewirkt vielmehr Affekte: Die unangenehmen Affekten in der Nachahmung gefallen deswegen, weil sie in uns ähnliche Affekten erwecken, die auf keinen gewissen Gegenstand gehen. Der Musikus macht mich betrübt; und diese Betrübnis ist mir angenehm, weil ich diese Betrübnis bloß als Affekt empfinde, und jeder Affekt angenehm ist. Denn setzen Sie den Fall, daß ich während dieser musikalischen Betrübnis wirklich an etwas Betrübtes denke, so fällt das Angenehme gewiß weg. 132
Wie Mendelssohn in seinen Anmerkungen geht auch Herder im Ersten kritischen Wäldchen, das ganz dem Laokoon gewidmet ist, von drei nachahmenden Künsten aus. Das Zeugnis hat Gewicht. Unter den zahlreichen Reaktionen, die dem Erscheinen des Laokoon folgen, ist es vor allem diese eine, die Lessing besonders heraushebt: Noch hat sich keiner, auch nicht einmal Herder, träumen lassen, wo ich hinaus will. Aber Herder will ja die kritischen Wälder nicht geschrieben haben! Sagen Sie mir doch, wie ich seine Protestation desfalls nehmen soll. Der Verfasser sei indes, wer er wolle: so ist er doch der einzige, um den es mir der Mühe lohnt, mit meinem Krame ganz an den Tag zu kommen.133
Von welchem Ziel des Laokoon sich keiner, nicht einmal Herder etwas träumen lässt, bleibt leider unausgesprochen; und auch Moses Mendelssohns von Karl Lessing übermittelte Versicherung, dass Herder »so wenig eingesehen, wohin Du [G. E. Lessing] gewollt«,134 verstärkt bloß den Verdacht, dass die Divergenzen prinzipieller Natur seien. Tatsächlich weicht Herder von den Grundannahmen Lessings, was die systematische Begründung der Grenzen der Künste betrifft, ganz entschieden ab.135 Dabei unterstellt er Lessing die naheliegende Ansicht, dass es die Zeitdauer der
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James Harris: Three Treatises. (1744/ 21765). The Second Treatise on Music, Painting and Poetry, I, § 2f. London 21765, S. 55±60. Lessing: Brief an Moses Mendelssohn vom 2. Febr. 1757. In: FA 11/1, S. 167. ± Im Ausschluss asemantischer Künste aus dem Korpus der nachahmenden Künste folgt Lessing Baumgarten; YJO KLHU]X 6WHIDQLH %XFKHQDX %DXPJDUWHQV ¾$LVWKHVLV½ 6LQQOLFKNHLW DOV Dichtungsvermögen. In: Kunst und Empfindung. Zur Genealogie einer kunsttheoretischen Fragestellung in Deutschland und Frankreich im 18. Jahrhundert. Hg. von Elisabeth Décultot und Gerhard Lauer. Heidelberg 2012, S. 67±80, hier S. 74. Lessing: Brief an Friedrich Nicolai vom 13. April 1769. (FA 11/1, S. 603). Karl Lessing: Brief an G. E. Lessing vom 9. März 1769. (FA 11/1, S. 596). Zu Herders Verhältnis zu der hier berücksichtigten ästhetischen Tradition, namentlich Baumgarten, vgl. Hans Adler: Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie, Ästhetik, Geschichtsphilosophie bei J. G. Herder. Hamburg 1990 (Studien zum Achtzehnten Jahrhundert 13), hier S. 49±87, vor allem aber Wolfgang Proß: Anmerkungen zu: Johann Gottfried Herder. Werke. Hg. von Wolfgang Proß. Bd. II. Herder und die Anthropologie der Aufklärung. München, Wien 1987, S. 847±868.
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Äußerung sei ± die »Folge ihrer artikulierten Töne«136 ± die letztlich die Differenz zwischen Malerei und Dichtung begründe. Woraus denn der ebenso naheliegende Vorwurf folgt, Lessing spreche willkürlichen Zeichen die Fähigkeit ab, Gegenwärtiges und Koexistierendes zum Ausdruck zu bringen, mehr noch, er mache aus einer sekundären Eigenschaft sprachlicher Zeichen eine natürliche: Malerei wirkt ganz im Raume, neben einander, durch Zeichen, die die Sache natürlich zeigen. Poesie aber nicht so durch die Sukzession, wie jene durch den Raum. Auf der Folge ihrer artikulierten Töne beruhet das nicht, was in der Malerei auf dem Nebeneinandersein der Theile beruhete. Das Sukzessive ihrer Zeichen ist nichts als conditio, sine qua non, und also bloß einige Einschränkung: das Koexsistiren der Zeichen in der Malerei aber ist Natur der Kunst, und der Grund der malerischen Schönheit. Poesie, wenn sie freilich durch auf einander folgende Töne, das ist, Worte wirkt: so ist doch das Aufeinanderfolgen der Töne, die Sukzession der Worte nicht der Mittelpunkt ihrer Wirkung.137
Soll Lessings mediale Differenzierung Bestand haben, so muss Herder zufolge danach gefragt werden, welchem Zeichen natürlicherweise Sukzession zukommt: »Hier kann ich sagen: Malerei wirkt ganz durch den Raum, so wie Musik durch die Zeitfolge.«138 Die Gleichsetzung von Malerei und Musik mit den Hauptdimensionen physischer Erfahrung veranlasst Herder nun seinerseits ein Kalkül vorzuschlagen, das durch Einfachheit besticht: [S]o, wie in der Metaphysik Raum, Zeit und Kraft drei Grundbegriffe sind, wie die mathematischen Wissenschaften sich alle auf einen dieser Begriffe zurückführen lassen; so wollen wir auch in der Theorie der schönen Wissenschaften und Künste sagen: die Künste, die Werke liefern, wirken im Raume; die Künste, die durch Energie wirken, in der Zeitfolge; die schönen Wissenschaften, oder vielmehr die einzige schöne Wissenschaft, die Poesie, wirkt durch Kraft.139
Ganz unabhängig davon, wie begründet oder begründbar die Herdersche Position uns heute erscheinen mag, Lessing zeigt sich unbeeindruckt. Dem Vorwurf, die nebensächliche Eigenschaft der Sukzessivität zu einem konstitutiven Moment sprachlicher Zeichen erhoben zu haben, begegnet er in den Entwürfen zum geplanten dritten Teil des Laokoon. Nicht nur gehen musikalische Zeichen auf »keinen gewissen Gegenstand«, nein sie haben »keine Bedeutung« und ein ganz anderes Verhältnis zur Zeit als sprachliche Zeichen: daß beyder Zeichen zwar in der Folge der Zeit wirken, aber das Maaß der Zeit welches den Zeichen der einen und den Zeichen der andern entspricht, nicht einerley ist. Die einzeln Töne in der Musik sind keine Zeichen, sie bedeuten nichts und drucken nichts aus; sondern
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Mit Bezug auf Laokoon (XVI), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 115; FA 5/2, S. 116. Johann Gottfried Herder: Erstes Kritisches Wäldchen, XVI. In: Ders.: Werke. Hg. von Günter Arnold, Martin Bollacher u. a. Bd. 2. Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767± 1787. Hg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt am Main 1993, S. 193. Ebd. Ebd., S.194. ± Etwas vereinfachend und in anachronistischer Terminologie gesagt, verwendet Herder ¾(QHUJLH½ LQ GHU $ULVWRWHOLVFKHQ %HGHXWXQJ IU HLQH ZLUNHQGH .UDIW RGHU %HZHJXQJ¾.UDIW½KLQJHJHQLPLeibnizschen Sinne für kinetische Energie.
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ihre Zeichen sind die Folgen der Töne, welche Leidenschaft erregen und bedeuten können. Die willkührlichen Zeichen der Worte hingegen bedeuten vor sich selbst etwas, und ein einziger Laut als willkührliches Zeichen kann so viel ausdrücken, als die Musik nicht anders als in einer langen Folge von Tönen empfindlich machen kann.140
Die Zeit um die es Lessing, nicht aber Herder geht, ist die Zeit, die notwendig aus der Tätigkeit der Einbildungskraft in der Bedeutungserschließung willkürlicher Zeichen erfolgt: Nochmals also: ich spreche nicht der Rede überhaupt das Vermögen ab, ein körperliches Ganze nach seinen Theilen zu schildern; sie kann es, weil ihre Zeichen, ob sie schon auf einander folgen, dennoch willkührliche Zeichen sind: sondern ich spreche es der Rede als dem Mittel der Poesie ab, weil dergleichen wörtlichen Schilderungen der Körper das Täuschende gebricht, worauf die Poesie vornehmlich gehet; und dieses Täuschende, sage ich, muß ihnen darum gebrechen, weil das Coexistirende des Körpers mit dem Consecutiven der Rede dabei in Collision kömmt, und indem jenes in dieses aufgelöset wird, uns die Zergliederung des Ganzen in seine Theile zwar erleichtert, aber die endliche Wiederzusammensetzung dieser Theile in das Ganze ungemein schwer, und nicht selten unmöglich gemacht wird.141
Es geht also weder um die Äußerungszeit, noch um die Wahrnehmungszeit, weder um die Zeit, die ich mir nehme, ein Bild zu malen oder zu betrachten, noch um die Zeit, die ich brauche, ein Buch zu schreiben oder zu lesen, sondern einzig um die geschilderte quasi-Zeit, die einer täuschenden Anschauung eignet, also um Gegenwärtigkeit. Und hierin besteht denn auch die größte Schwierigkeit: Gebricht dem Künstler das Täuschende, so hat er versagt; da die Sprache aber sukzessiv wirkt und diese Sukzession der Zeit bedarf, so scheint die Krux darin zu bestehen, wie denn die behauptete Zeitdauer mit der reinen Gegenwärtigkeit übereinkommen kann. Wenn Lessing das bequeme Verhältnis im Nebeneinanderstehen bzw. Nacheinanderfolgen der natürlichen bzw. arbiträren Zeichen begründet sieht, so erkennt er darin die Art der Verbindung, die Raum und Zeit konstituieren.142 Die Verbindung im Raum ist spezifisch für den Körper und dieser wird durch Empfindung wahrgenommen; die Verbindung in der Zeit ist spezifisch für Handlung und bleibt der Einbildungskraft vorbehalten, die das Vergangene und Künftige, die beide dem Gegenwärtigen innewohnen,143 zu entwickeln vermag. Empfindung, so könnten wir sagen, ist die gegenwärtige Vorstellung eines Gegenwärtigen, das sich auf das Gegenwärtige beschränkt, während Einbildung
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[Laokoon, Paralipomenon, 27, S. 264] FA 5/2, S. 314. Laokoon (XVII), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 126; FA 5/2, S. 127. Auch darin scheint Lessing in der Tradition Leibniz¶ und nicht Newtons zu stehen, dass er unter ¾Raum½ und ¾Zeit½ nicht den ¾absoluten Raum½ und die ¾absolute Zeit½, sondern die Dimensionen, die aus dem Nebeneinander und Nacheinander von Körpern resultieren, versteht. In dem berühmten Wort von Leibniz (Monadologie, § 22. In: Ders.: Die philosophischen Schriften. Hg. von Carl Immanuel Gerhardt. Bd. VI. Berlin 1885, hier S. 610) ist es die »Gegenwart, die mit der Zukunft schwanger geht«.
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die gegenwärtige Vorstellung eines Gegenwärtigen ist, das über das Gegenwärtige hinausverweist. Vorstellungen nämlich sind gegenwärtig oder sie sind nicht;144 die Vorstellung einer vergangenen Sache ist selbst nicht vergangen, die Vorstellung eines künftigen Ereignisses liegt selbst nicht in der Zukunft und die Vorstellung eines andauernden Zustandes hat selbst keine auch nur annähernd vergleichbare Dauer. Nichtsdestotrotz drücken die Vorstellungen mittelbar Zeitverhältnisse aus, nämlich Ursache und Folge, die in einer wohlgefestigten Welt zureichender Gründe der Vorstellung als Ganzes sowie einem jeden vorgestellten Teil einer Vorstellung innewohnen. Die Gegenwärtigkeit der Vorstellung ist also nicht die Gegenwärtigkeit der vorgestellten Dinge.145 Vorstellungen nämlich sind nichts Teilbares, sondern Modifikationen der einen, notwendig unteilbaren Seele. Sie haben also weder räumliche, noch zeitliche Ausdehnung. Und auch die seelischen Vermögen sind nicht eigentlich Teile der Seele, sondern bezeichnen vielmehr die Modi der Vorstellungen: Eine gegenwärtige Sache ist in meiner Vorstellung gegenwärtig ± Empfindung; eine vergangene Empfindung ist in meiner Vorstellung gegenwärtig ± Einbildung; eine vergangene Empfindung ist in meiner Vorstellung erneut gegenwärtig ± Erinnerung. Diese zeitlichen Verhältnisse zwischen Vorstellungen und vorgestellten Dingen dürfen nicht mit dem Grade an Unmittelbarkeit einer Vorstellung verwechselt werden. Dieser bemisst Klarheit. 146 So ist in einer symbolischen Vorstellung, wir haben es nun zur Genüge gesehen, die Sache nicht unmittelbar ausgedrückt, da eine symbolische Vorstellung anstelle der Anschauung dieser Sache ein willkürliches Zeichen setzt. Die Vorstellung kann erst dann klar genannt werden, wenn das Symbol in eine Anschauung übersetzt wird. Doch auch in einer Anschauung werden Dinge mittelbar bedeutet, so etwa Ursachen und Folgen einer vorgestellten Sache. 147 144 145
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Baumgarten: Metaphysik, § 534, S. 120: »Ich denke meinen gegenwärtigen Zustand, folglich stelle ich mir denselben vor, das ist ich empfinde.« Wolff: Psychologia empirica, § 61, S. 236: »Non confundenda est praesentia in dato aliquo loco cum ea, quae corpori alicui tribuitur respectu nostri. Praesentia terminus relativus est, qui objecti unius existentis ad coexistens aliud relationem involvit. Ideo objectum in eodem loco constitutum diverso respectu & praesens dici potest, & absens. Ita campana, cujus sonum percipio, praesens mihi est; non autem praesens est in eo loco, ubi ego sum, nisi quando turrim conscendens ibidem commoror, ubi campana suspensa conspicitur.« [Es darf die Gegenwärtigkeit an einem gegebenen Ort nicht mit derjenigen verwechselt werden, die einem Körper in Hinsicht auf uns zugesprochen wird. ¾Gegenwärtigkeit½ ist ein relativer Ausdruck, der das Verhältnis eines existierenden Körpers zu einem anderen koexistierenden impliziert. Daher kann eine bestimmte Sache an einem Ort in verschiedener Hinsicht sowohl gegenwärtig als auch abwesend genannt werden. So ist etwa die Glocke, deren Klang ich vernehme, mir gegenwärtig; sie ist aber nicht an dem Ort, wo ich bin, indes ich ± wenn ich vom Turm heruntergestiegen bin ± sie ebendort zu sein erinnere, wo ich die Glocke aufgehängt gesehen habe.] Wolff: Psychologia rationalis, § 196, S. 163: »quae clare percipiuntur, immediate pericipuntur.« [Was klar wahrgenommen wird, wird unmittelbar wahrgenommen.] Ebd., § 195, S. 163: »Jam ea, quae fibrillis nerveis motum non imprimunt, nec per se imprimere possunt, plane non percipiuntur, per se scilicet. Quoniam tamen in ideis sensualibus, adeoque in perceptionibus immediatis per demonstrata, involvuntur mediantibus iis,
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Das Laokoon-Problem lässt sich so als Problem der Bestimmung von Gegenwärtigkeit und Unmittelbarkeit in Beziehung auf Malerei und Dichtung bestimmen. Natürliche Zeichen nämlich zeichnen sich insofern durch Gegenwärtigkeit aus, als sie sich aufgrund täuschender Ähnlichkeit empfinden lassen. Lessings Originalität besteht nun darin, eine eigentliche Funktion natürlicher Zeichen von einer uneigentlichen zu trennen. So zeichnet sich »die höhere Malerei« dadurch aus, dass sie sich in der Darstellung auf diese Gegenwärtigkeit beschränkt. Die malerischen Mittel können aber auch uneigentlich wirken, nämlich »andeutungsweise«.148 Nur diejenigen natürlichen Mittel sind unmittelbar, die nicht über sich selbst hinaus verweisen, während der Verweis auf eine Folge oder Ursache als Hieroglyphe, 149 der künstliche Verweis auf einen allgemeinen Begriff als Allegorie150 stets mit Einschränkung, häufig auch mit unverhohlener Ablehnung behandelt wird. Versucht die Malerei also eine Handlung auszudrücken, so wirkt sie notwendig mittelbar, weil ihre Zeichen dadurch auf etwas anderes als sich selbst verweisen, sich also nicht selbst bedeuten. Da Raum konstitutiv durch Kopräsenz, durch relationale Gleichzeitigkeit definiert wird, bedeutet die mittelbare Verwendung natürlicher räumlicher Zeichen einen Verlust an Eigentlichkeit. Das heißt jedoch nicht, und darin besteht die Schwierigkeit, dass uneigentliche malerische Zeichen notwendig willkürlich sind, denn auch natürliche Zeichen verweisen, wie etwa der Rauch auf das Feuer. Sehe ich aber Rauch, dann sehe ich das Feuer nicht klar, sondern nur verworren, als eine zu entwirrende oder zu entwickelnde Ursache. Diese Mittelbarkeit verleitet dazu, die Vorstellung vom Gegenwärtigen abzuziehen und Vorstellungen zu klaren und deutlichen zu machen, die nun in der Einbildung und nicht mehr in der Empfindung liegen. Die »höhere Poesie« hingegen stellt Handlung durch Handlung dar. Sie findet ihre reinste Form im Drama, das Handelnde auf die Bühne bringt, die durch Sprache, Gebärde und Mimik Handlung als gegenwärtige vor Augen führen und die Illusion erwecken, die Handlung selbst, die sie darstellen, zu empfinden. Ihre Wirkung aber gründet nicht primär und einzig in der Unmittelbarkeit, ist doch jeder dramatische Augenblick von Wissen der Vorgeschichte und der
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quae immediate percipiuntur, una percipiuntur. Atque adeo patet, quae in immediate perceptis involvuntur, nonnisi mediate percipi.« [Ferner wird dasjenige, was die Nervenfibern durch Bewegung nicht eindrückt, noch durch sich selbst eindrücken kann, nicht wahrgenommen, das heißt durch sich selbst. Da es nun aber in den sinnlichen Ideen, insofern sie in den unmittelbaren Wahrnehmung durch Beweis eingewickelt ist, so wird es durch Vermittlung desjenigen, was in dem unmittelbar Wahrgenommen eingewickelt ist, als eines wahrgenommen. Und so steht fest, dass dasjenige, was im unmittelbar Wahrgenommen eingewickelt ist, nur mittelbar wahrgenommen wird.] Und Wolff fügt als Beispiel einen Baum an, der unmittelbar wahrgenommen wird, der aber mittelbar Schlüsse hinsichtlich der Ursache seines Zusammenhanges, seines Gewichtes etc. erlaubt. Vgl. hierzu die Ausführung zur »eigentlichen Mahlerey« in Laokoon (XV), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 114; FA 5/2, S. 115f. Laokoon (XII), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 105; FA 5/2, S. 107. Laokoon (X), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 90; FA 5/2, S. 92f.
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Eric Achermann
Ahnung der Folge bestimmt. Nur in ihrer uneigentlichen Form versucht die Poesie sich in Unmittelbarkeit, indem sie sich als körperliche gibt: Die Poesie muß schlechterdings ihre willkürlichen Zeichen zu natürlichen zu erheben suchen; und nur dadurch unterscheidet sie sich von der Prose, und wird Poesie. Die Mittel, wodurch sie dieses tut, sind der Ton [der] Worte, die Stellung der Worte, das Sylbenmaß, Figuren und Tropen, Gleichnisse u. s. w. Alle diese Dinge bringen die willkürlichen Zeichen den natürlichen näher; aber sie machen sie nicht zu natürlichen Zeichen: folglich sind alle Gattungen, die sich nur dieser Mittel bedienen, als die niedern Gattungen der Poesie zu betrachten; und die höchste Gattung der Poesie ist die, welche die willkürlichen Zeichen gänzlich zu natürlichen macht. Das ist aber die dramatische: denn in dieser hören die Worte auf, willkürliche Zeichen zu sein und werden natürliche Zeichen willkürlicher Dinge. Daß die dramatische Poesie die höchste, ja die einzige Poesie ist, hat schon Aristoteles gesagt, und er gibt der Epopee nur insofern die zweite Stelle, als sie größtenteils dramatisch ist, oder sein kann.151
Wie Lessing in dem oft zitierten Brief an Nicolai ausführt, können die Worte weder durch lautliche oder metrische Mittel analog zur Musik, noch durch rhetorische Mittel der Versinnlichung (enargia) analog zur Malerei dem Ideal höherer Poesie entsprechen. Die Darstellung von Handlungen geschieht natürlicherweise nur durch Handlung. Da das willkürliche Zeichen konstitutiv unmittelbar wirkt, ist es für die Darstellung von Handlung natürlicherweise geeignet, gesetzt den Fall, es ist Teil der Handlung (Drama) oder es bezeichnet Handlungen (Epos). Täuschung ist Klarheit als gegenwärtige Anschauung eines Ganzen. Denken wir die Teile als Elemente von Verbindungen, so bezeichnen die Dimensionen des vorgestellten Raums und der vorgestellten Zeit nichts anderes als das Maß der Distanz zwischen den Teilen. Malerei erfordert die Zusammenziehung von Teilen im Raum zu einem gegenwärtigen Ganzen in der Vorstellung, Dichtung aber von Teilen in der Zeit. Der limitierte Verstand ist unfähig, die räumliche Mannigfaltigkeit einer sinnlichen EmpfindXQJ JOHLFK]HLWLJ PLW GHU GDULQ ¾eingewickelten½ zeitlichen Mannigfaltigkeit gegenwärtig zu halten, ganz ebenso ZLHHUHVQLFKWYHUPDJGLH¾entwickelte½ zeitliche Dimension eines jeden Teiles in räumlicher Mannigfaltigkeit zu repräsentieren. Und so fordert Lessing ganz konsequent bei der Dichtung nicht die Vermehrung der sinnlichen Vorstellungen eines jeden Augenblicks, sondern deren Verminderung zugunsten der notwendigen Vervielfältigung der Teile in der repräsentierten Folge.152 Will die in ihrer Vorstellungskraft beschränkte Seele eine Folge gegenwärtig halten, so muss sie eine Zeit »überschauen«.153 Die Dichtungskraft äußert sich hier also 151 152
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Lessing: Brief an Friedrich Nicolai vom 26. Mai 1769 (FA 11/1, S. 610). Die eingeklammerte Emendation ist von mir. Gemeint ist hier »die Regel von der Einheit der mahlerischen Beiwörter, und der Sparsamkeit in den Schilderungen körperlicher Gegenstände«; Laokoon (XVI), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 116; FA 5/2, S. 117. Es fällt auf, dass Lessing auch für die Darstellung von Handlung schließlich auf den Ausdruck »Gemählde« rekurriert, um deren Anschauung als Ganzes zu bezeichnen; Laokoon (IV), Ed. Vollhardt (Anm. 1), S. 29; FA 5/2, S. 35: »Nichts nötiget hiernächst den Dichter
Intensive Täuschung
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nicht durch eine Einbildung, die Tausenderlei bereit hält, sondern dem Geist eine Anschauung von Ursache-Folge-Relationen als Ganzen ermöglicht.
sein Gemälde in einen einzigen Augenblick zu concentrieren. Er nimmt jede seiner Handlungen, wenn er will, bei ihrem Ursprunge auf, und führet sie durch alle mögliche Abänderungen bis zu ihrer Endschaft.«
Norbert Christian Wolf Norbert Christian Wolf Skizziert Lessings Laokoon eine Theorie der Kunstautonomie? Das Kapitel IX im ästhetikgeschichtlichen Kontext
Skizziert Lessings Laokoon eine Theorie der Kunstautonomie? Skizziert Lessings ¾Laokoon½ eine Theorie der Kunstautonomie? Das Kapitel IX im ästhetikgeschichtlichen Kontext
Unter ¾ästhetischer Autonomie½ wird heute gemeinhin negativ die »Freiheit der künstlerischen Produktivität oder des aus ihr hervorgegangenen Werks oder der Kunst/Literatur als ganzer von äußeren Zweckbestimmungen«1 und Rücksichten verstanden, positiv sämtliche Formen künstlerischer »Selbstbestimmung, Selbstgesetzgebung« bzw. »Eigengesetzlichkeit«.2 Die kritische Phase der epochalen Durchsetzung dieser säkularen Vorstellung, die der modernen Produktions- und Rezeptionspraxis von Kunst insgesamt zugrunde liegt, setzt man für den deutschen Sprachraum bekanntlich im späten 18. Jahrhundert an ± signifikant früher als etwa in England oder Frankreich, wo ältere Ansätze zu einer Formulierung des ästhetischen Autonomiegedankens vorerst noch nicht in eine konsistente Konzeptualisierung mündeten.3 Gewissermaßen als Gründungsurkunde vor Kants fortan maßgeblicher Systematisierung gilt Karl Philipp Moritzens Ver1
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Friedrich Vollhardt: Autonomie. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1: A±G. Hg. von Klaus Weimar u. a. Berlin, New York 1997, S. 173±176, hier S. 173. Rosmarie Pohlmann: Autonomie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter u. a. Bd. 1: A±C. Basel, Stuttgart 1971, Sp. 701±719, hier Sp. 701; Friedrich Wolfzettel und Michael Einfalt: Autonomie. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. von Karlheinz Barck u. a. Bd. 1: Absenz±Darstellung. Stuttgart, Weimar 2000, S. 431±479, hier S. 431; vgl. auch Wolfhart Henckmann: Autonomie. In: Lexikon der Ästhetik. Hg. von dems. und Konrad Lotter. München 1992, S. 30±31, hier S. 30; Eberhard Ortland: Autonomie. In: Metzler Lexikon Ästhetik. Kunst, Medien, Design und Alltag. Hg. von Achim Trebeß. Stuttgart, Weimar 2006, S. 50±53, hier S. 50. Vgl. etwa Jerome Stolnitz: On the Origins of »Aesthetic Disinterestedness«. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 20/2 (1961), S. 131±143; Werner Strube: »Interesselosigkeit«. Zur Geschichte eines Grundbegriffs der Ästhetik. In: Archiv für Begriffsgeschichte 23 (1979), S. 148±174, hier S. 149±$QQLH%HFT*HQqVHGHO¶HVWKpWLTXH française moderne. 'H OD 5DLVRQ FODVVLTXH j O¶,PDJLQDWLRQ FUpDWULFH ±1814. Paris 1994, S. 5±787. Zur Vorgeschichte vgl. Reimund B. Sdzuj: Adiaphorie und Kunst. Studien zur Genealogie ästhetischen Denkens. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 107), der allerdings desillusioniert feststellt: »Von einem Stand der Forschung, über den zu berichten wäre, kann [...] eigentlich nicht gesprochen werden, auch deshalb nicht, weil die bisherigen Untersuchungen, zumindest diejenigen im deutschsprachigen Raum, in der Regel keine Notiz voneinander nehmen.« (S. 45) Sdzuj bestätigt ± wohl unfreiwillig ± diesen lamentablen Zustand, der sicherlich auch mit der schwierigen bibliografischen Erfassbarkeit entsprechender Arbeiten zusammenhängt, indem er etwa von Strubes Aufsatz keine Notiz nimmt.
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Norbert Christian Wolf
such einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des ¾in sich selbst Vollendeten½ ± ein kleiner Aufsatz, der verstreute BeobachWXQJHQLQVEHVRQGHUH%DWWHX[¶ und Mendelssohns zusammenführte und im März 1785 ± also drei Jahre vor der größeren und wirkungsmächtigeren Abhandlung Ueber die bildende Nachahmung des Schönen4 ± in der Berlinischen Monatsschrift erschien.5 (UVWH 5HIOH[H GHV 0RULW]¶VFKHQ $XWRQRPLHpostulats sind etwa gut anderthalb Jahre später in Goethes frühen Briefen aus Rom nach Weimar nachweisbar.6 Der erste deutsche Kunsttheoretiker ± so zumindest die zwar nicht allzu verbreitete, doch unter Experten gängige Ansicht ±, der den Gedanken einer produktions- bzw. wirkungstheoretischen Autonomie des Ästhetischen formulierte, war indes nicht Moritz (oder Goethe), sondern Friedrich Just(us) Riedel mit seiner kaum näher erforschten Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. Ein Auszug aus den Werken verschiedener Schriftsteller.7 Es handelt sich bei dieser eklektischen Abhandlung um die 1767 in Buchform veröffentlichte Überarbeitung einer in Erfurt gehaltenen Vorlesungsreihe des heute mancherorts verschrienen,8 insgesamt aber weitgehend vergessenen Universitätsprofessors
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Vgl. Karl Philipp Moritz: Ueber die bildende Nachahmung des Schönen. Braunschweig 1788. Berlinische Monatsschrift 5/3 (1785), S. 225±236. Vgl. Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. IV. Abt.: Goethes Briefe. Bd. 8: Italiänische Reise. August 1786 ± Juni 1788. Weimar 1890; darin etwa den (unten auszugsweise zitierten) Brief an die Herzogin Louise, 12.±23.12.1786 (S. 96), sowie jene an Charlotte von Stein, 29.12.1786 (S. 105), und an den Weimarer Freundeskreis, 13.1.1787 (S. 130f.). Mehr dazu in Norbert Christian Wolf: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771±1789. Tübingen 2001 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 81), S. 474±499. Vgl. Strube (Anm. 3), S. 158±163. Die oft übersehene ästhetikgeschichtliche Bedeutung des philosophischen Eklektikers F. J. Riedel liegt auch darin begründet, dass er intensiv von Jacob Friedrich Abel rezipiert wurde, dessen Karlsschulunterricht seinerseits für die Herausbildung der philosophischen Ansichten des jungen Schiller von Bedeutung war; vgl. dazu Jacob Friedrich Abel: Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773±1782). Mit Einleitung, Übersetzung, Kommentar und Bibliographie hg. von Wolfgang Riedel. Würzburg 1995; zu F. J. Riedel vgl. ebd., S. 383f., 447f. u. 473f. Vgl. etwa den Kommentar zu Herders Viertem Kritischen Wäldchen von Wolfgang Pross, wo unter Berufung auf Franz Gräffers Anekdotensammlung »Kleine Wiener Memoiren und Wiener Dosenstücke« darauf hingewiesen wird, dass »Riedel in Wien zur versoffenen Figur verkommen sollte« (Johann Gottfried Herder: Werke. Hg. von Wolfgang Pross. Bd. 2: Herder und die Anthropologie der Aufklärung. München, Wien 1987, S. 864±876, hier S. 869) ± ohne zu erwähnen, dass der 1771 an die Wiener Kunstakademie berufene Ästhetikprofessor einer gegenaufklärerischen Intrige zum Opfer gefallen war und nach seiner Entlassung »in Wien von literarischer und journalistischer Tagelöhnerei sowie den Geldgeschenken einiger loyaler Gönner« leben musste; vgl. Dietmar Till: Einleitung. In: Friedrich Just[us] Riedel: Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. Mit einer Einleitung und einem Register von Dietmar Till. Hildesheim u. a. 2010 (Historia Scientiarum, Fachgebiet Kulturwissenschaften), S. V±XXIV, hier S. VII. Dieser kürzlich erschienene Reprint zeugt von einem neu erwachten Interesse an Riedel.
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für Philosophie.9 Indem Riedel darin die Orientierung an der »Schönheit« zum entscheidenden Kriterium in Sachen der Kunst erklärte 10 und die Empfindung des »Schönen« als ein »bloße[s] an sich unintereßirte[s] sinnliche[s] Wohlgefallen«11 definierte, begründete er sie über die Kategorie der Interesselosigkeit, 12 ohne aber dem somit inaugurierten, aufmerksamkeitspsychologisch bzw. wirkungsästhetisch hergeleiteten Autonomiegedanken auch schon eine Tendenz ins Werkästhetische mit auf den Weg zu geben: »Schön ist also, was ohne intereßirte Absicht sinnlich gefallen und auch dann gefallen kan, wenn wir es nicht besitzen; Häßlich, was auch dann misfällt, wenn wir uns nicht vor dem Besitze desselben fürchten.«13 Diese Definition, die einen statischen Unterschied zwischen ¾Schönem½ und ¾Häßlichem½ impliziert, entspricht in ihrem zentralen Argument einem Gedanken aus Moses Mendelssohns später religionsphilosophischer Schrift Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes (1785), worin neben dem »Erkenntnißvermögen« und dem »Begehrungsvermögen« der Seele ein eigenes »Billigungsvermögen« eingeführt wird, »um es dadurch sowohl von der Erkenntniß der Wahrheit, als von dem Verlangen nach dem Guten, abzusondern«: [M]ich dünkt, zwischen dem Erkennen und Begehren liege das Billigen, der Beyfall, das Wohlgefallen der Seele, welches noch eigentlich von Begierde weit entfernt ist. Wir betrachten die Schönheit der Natur und der Kunst, ohne die mindeste Regung von Begierde, mit Vergnügen und Wohlgefallen. Es scheinet vielmehr ein besonderes Merkmal der Schönheit zu seyn, daß sie mit ruhigem Wohlgefallen betrachtet wird; daß sie gefällt, wenn wir sie auch nicht besitzen, und von dem Verlangen, sie zu besitzen, auch noch so weit entfernt sind. Erst alsdann, wann wir das Schöne in Beziehung auf uns betrachten, und den Besitz desselben als ein Gut ansehen; alsdann erst erwacht bey uns die Begierde zu haben, an uns zu bringen, zu besitzen: eine Begierde, die von dem Genuße der Schönheit sehr weit unterschieden ist.14
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Vgl. Till (Anm. 8), S. V; daneben Gunter E. Grimms Kommentar zu Herders Viertem Kritischen Wäldchen (Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767±1781. Hg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt am Main 1993, S. 962±975, hier S. 964f.). Friedrich Just Riedel: Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. Ein Auszug aus den Werken verschiedener Schriftsteller. Jena 1767, S. 15f. Ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 16: »Wenn eine Schönheit mich vergnügt; so ist es mir natürlich, daß ich wünsche, dieses Vergnügen noch weiter zu geniessen, und wenn ich glaube, daß dieses ohne den Besitz des Objekts nicht möglich sey, so entstehet alsdann aus dem bloßen Wohlgefallen auch ein intereßirtes Verlangen. Nur unter zwo Bedingungen kann das Wohlgefallen allein statt finden; einmahl, wenn wir die Erlangung des Objekts vor unmöglich halten und dann, wenn wir uns immer an den [sic] Objekte vergnügen und es empfinden können, ohne es zu besitzen.« Ebd., S. 17. Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Hg. von I[smar] Elbogen u. a. Fortgesetzt von Alexander Altmann. Bd. 3/2: Schriften zur Philosophie und Ästhetik. Bearb. von Leo Strauss. Stuttgart-Bad Cannstatt 1974, S. 1±175, hier S. 61f.
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Den hier umständlich formulierten Gedanken, der ± wie schon in Riedels Definition ± kategorisch zwischen ¾Schönem½ und ¾Häßlichem½ unterscheidet,15 hat Moritzens Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des ¾in sich selbst Vollendeten½ fast zeitgleich in folgende konzisere Formel gebracht, die nunmehr auf eine statische Gegenüberstellung von ¾Schönem½ und ¾Häßlichem½ verzichtet: »Ein Ding kann [...] nicht deswegen schön sein, weil es uns Vergnügen macht, sonst müßte auch alles Nützliche schön sein; sondern was uns Vergnügen macht, ohne eigentlich zu nützen, nennen wir schön.«16 Es handelt sich hierbei um eine Formulierung, die ästhetikgeschichtlich Epoche machen sollte. Gleichwohl war der Autonomiegedanke nicht damit, sondern schon mit Riedels (zwar nicht sonderlich stringenter) Definition des ¾Schönen½ 18 Jahre vor Moritz in den ästhetischen Diskurs eingeführt worden, wenn auch noch nicht wirkungsmächtig verankert und vor allem noch nicht auf sämtliche Ebenen ästhetischer Kommunikation bezogen: Im Zentrum der Bemühungen Riedels stand die Autonomie der Wirkung, keineswegs aber bereits jene der künstlerischen Produktion oder gar des Werks. Die Autonomie der künstlerischen Produktion wurde allerdings ebenfalls schon lange vor Moritz, Goethe, Kant und Schiller postuliert, ja noch früher als die der Wirkung, und das von keinem Geringeren als Lessing, der in den ästhetikgeschichtlichen Rekonstruktionen der Genese von Konzepten der Kunstautonomie nach wie vor ein merkwürdiges Schattendasein fristet. Von zentraler Bedeutung für diese Fragestellung ist sein großer Essay Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766), der in den vergangenen Jahren zwar intensivst hinsichtlich seiner medien- und vor allem zeichentheoretischen Implikationen untersucht worden ist, während die darin angestellten Überlegungen zur ästhetischen Autonomie offenbar bisher keine Beachtung gefunden haben. Lessing bezieht sich übrigens zwei Jahre nach Veröffentlichung des Laokoon ± das sei hier nur im Vorübergehen erwähnt ± im achten seiner Briefe, antiquarischen Inhalts (1768) ausdrücklich, aber in anderem Zusammenhang (es geht um die Darstellung von Furien auf antiken Münzen) auf Riedel, den er just aus dessen Theorie der schönen Künste und Wissenschaften »als einen jungen Mann« kennen gelernt habe, »der einen trefflichen Denker verspricht; verspricht, indem er sich in vielen Stücken bereits als einen solchen zeigt. Ich traue ihm zu, daß er in den folgenden Teilen ganz Wort halten wird«.17 Mit dieser anerkennenden Konzession wird Lessing sich zwar das Missvergnügen Herders 15
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Vgl. ebd., S. 61: »Das Schöne, das Gute, das Erhabene wird von der Seele mit Lust und Wohlgefallen erkannt. Das Häßliche, Böse und Unvollkommene hingegen erregt Unlust und Widerwillen.« Karl Philipp Moritz: Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste unter dem Begriff des ¾in sich selbst Vollendeten½. In: Ders.: Werke in zwei Bänden. Hg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Bd. 2: Popularphilosophie. Reisen. Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1997, S. 943±949, hier S. 946. Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert u. a. 8 Bde. München 1970±1979 (im Folgenden zitiert unter der Sigle G mit Band- und Seitenzahl), hier Bd. 6, S. 209.
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zuziehen,18 der schon zu diesem Zeitpunkt dem auch späterhin bekämpften Autonomiegedanken wenig abgewinnen konnte19 und (freilich nicht allein) deshalb der Widerlegung Riedels sein ganzes Viertes kritisches Wäldchen widmete. Trotz seiner eigenen Argumentation gegen Riedel in den folgenden Partien des Achten Antiquarischen Briefs spricht aus Lessings Worten jedoch eine prinzipielle Wertschätzung, die augenfällig absticht von seiner harschen Polemik gegen Christian Adolf Klotz, mit dem Riedel seinerseits intensiv kooperiert hat und von dem er umgekehrt protegiert wurde.20 Der damals in Erfurt und später in Wien lehrende Ästhetiker verweist in seinem Buch wiederholt auf Klotz und wurde auch daher häufig pauschal als dessen »Parteigänger«21 wahrgenommen. Lessings Postulat einer Autonomie der künstlerischen Produktion findet sich tatsächlich bereits 1766 in der großen Laokoon-Abhandlung, ist von ihm mithin ein Jahr vor Riedels Theorie der schönen Künste und Wissenschaften erhoben worden. Im IX. Kapitel des Laokoon fordert Lessing ausdrücklich die »völlige Freiheit« der Künste ± bzw. der Malerei und der Dichtung ± von heteronomen Zwängen und Rücksichten, insbesondere seitens der Religion: Wenn man in einzeln Fällen den Maler und Dichter mit einander vergleichen will, so muß man vor allen Dingen wohl zusehen, ob sie beide ihre völlige Freiheit gehabt haben, ob sie ohne allen äußerlichen Zwang auf die höchste Wirkung ihrer Kunst haben arbeiten können. Ein solcher äußerlicher Zwang war dem alten Künstler öfters die Religion. Sein Werk zur Verehrung und Anbetung bestimmt, konnte nicht allezeit so vollkommen sein, als wenn er einzig das Vergnügen des Betrachters dabei zur Absicht gehabt hätte. Der Aberglaube überladete die Götter mit Sinnbildern, und die schönsten von ihnen wurden nicht überall als die schönsten verehret. 22
Als kunstgefährdende ¾Sinnbilder½ werden hier ± in einer Vorwegnahme entsprechender Argumentationen Goethes23 ± sinnlich nicht vermittelbare mythologische Gehalte verstanden, indem Lessing etwa die Hörner des Bacchus als »Schändung der menschlichen Gestalt« kritisiert. Als Kriterium dient ihm dabei die durchaus illusionistisch verstandene ¾Natürlichkeit½ der Darstellung, deren Ausbleiben oder Hintanstellung ihm zufolge ein inadäquates Bedingungsgefüge künstlerischen Schaffens indiziert: »Nur der freie Künstler, der seinen Bacchus für keinen Tempel arbeitete, ließ dieses Sinnbild weg«.24 Wenn Lessing dabei unmissverständlich »die Religion« als den auf die Kunst wirkenden ¾äußerli18 19
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Vgl. Grimm (Anm. 9), S. 965. Vgl. Johann Gottfried Herder: Viertes Kritisches Wäldchen. In: Herder (Anm. 9), S. 247± 442, hier S. 291, Anm. 1. Vgl. Till (Anm. 8), S. V±VII. So Pross (Anm. 8), S. 869. G 6, S. 73. Vgl. etwa Johann Wolfgang Goethe: Über die Gegenstände der bildenden Kunst. In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter u. a. Bd. 4/2: Wirkungen der Französischen Revolution 1791±1797. Hg. von Klaus H. Kiefer u. a. München, Wien 1986, S. 121±124. G 6, S. 73.
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chen Zwang½ identifiziert, dann schwächt er die kaum versteckte Polemik allein durch die Einschränkung des Befundes auf den »alten Künstler« ab, woraus man eine (allerdings nicht explizit gemachte) Unterscheidung zwischen antiker und moderner (d. h. christlicher) Religion ableiten kann. Für jeden kritischen Leser lag und liegt die Anwendung dieses Satzes auf Erfahrungen der eigenen Schreibgegenwart ± und damit die Bezugnahme auf eine der christlichen Kirchen ± jedoch durchaus nahe, zumal eben keineswegs von der ¾alten½ Religion im Besonderen gehandelt wird.25 In diesem aktualisierenden Sinne könnte man etwa eine implizite polemische Anspielung auf den fünf Jahre älteren Zeitgenossen und Konkurrenten Friedrich Gottlieb Klopstock und dessen episches Hauptwerk Der Messias (1748±1773) vermuten. Weiter in die hier eingeschlagene Richtung wird Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie (1767/68) und in der Untersuchung Wie die Alten den Tod gebildet (1769) gehen.26 Lessing postuliert des Weiteren ± wie wenig später Riedel ± eine nicht näher erläuterte Orientierung an der »Schönheit« als maßgebliches Kriterium der Kunst, welche nie bloßes Hilfsmittel einer außerkünstlerischen Instanz (insonderheit der Religion und ihrer kultischen Zwecke) sein dürfe, sondern allein »um ihrer selbst willen gearbeitet« sein müsse: Er drückt seinen Wunsch aus, daß man den Namen der Kunstwerke nur denjenigen beilegen möchte, in welchen sich der Künstler wirklich als Künstler zeigen können, bei welchen die Schönheit seine erste und letzte Absicht gewesen. Alles andere, woran sich zu merkliche Spuren gottesdienstlicher Verabredungen zeigen, verdienet diesen Namen nicht, weil die Kunst hier nicht um ihrerselbst willen gearbeitet, sondern ein bloßes Hülfsmittel der Religion war, die bei den
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Die Polemik gegen eine fatale Wirkung der Religion auf die Künste war damals keineswegs so beispiellos, als es scheinen mag; sie begegnet in versteckter Weise etwa schon in Anne Claude Philippe Caylus: Avertissement. ,Q7DEOHDX[WLUpVGHO¶,OLDGHGHO¶2G\Vsée G¶+RPHUHHWde O¶(Qeide de Virgile, avec des observations générales sur le Costume. Paris 1757, S. I±XXXVI, hier S. VI±VIII: Caylus bemängelt an der ¾modernen½ christlichen Poesie nach Dantes Modell, dass sie arm an »Tableaux« sei, die als Vorlagen für die Malerei tauglich wären. Damit kritisiert er allerdings nicht die ¾antike½ Religion, sondern ± zwar ebenfalls verhüllt, gleichwohl viel direkter als Lessing, der ihn ja intensiv studiert hat ± die christliche. Diesen Hinweis verdanke ich Elisabeth Décultot. Vgl. etwa das 11. Stück (5.6.1767) der Hamburgischen Dramaturgie, worin Lessing an Voltaires Verteidigung des eigenen Trauerspiels Semiramis kritisiert: »Vor allen Dingen wünschte ich, die Religion hier aus dem Spiele zu lassen. In Dingen des Geschmacks und der Kritik, sind Gründe, aus ihr genommen, recht gut, seinen Gegner zum Stillschweigen zu bringen, aber nicht so recht tauglich, ihn zu überzeugen. Die Religion, als Religion, muß hier nichts entscheiden sollen; nur als eine Art von Überlieferung des Altertums, gilt ihr Zeugnis nicht mehr und nicht weniger, als andere Zeugnisse des Altertums gelten« (G 4, S. 281). Als Abschluss der Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet heißt es dann spezifisch auf die christliche Religion gemünzt: »Nur die mißverstandene Religion kann uns von dem Schönen entfernen: und es ist ein Beweis für die wahre, für die richtig verstandene wahre Religion, wenn sie uns überall auf das Schöne zurückbringt« (G 6, S. 462). Damit ist zumindest der erste Schritt in Richtung jener Kunstreligion getan, die dann ab 1785 von Moritz und Goethe entfaltet werden wird.
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sinnlichen Vorstellungen, die sie ihr aufgab, mehr auf das Bedeutende als auf das Schöne sahe [...].27
Die gängigen Stellenkommentare zum Laokoon schweigen sich über diese in mancher Hinsicht bemerkenswerte Passage und ihre ästhetikgeschichtliche Brisanz weitgehend aus: Während Albert von Schirnding im Rahmen des Kommentars der Hanser-Edition einfach darüber hinweggeht, kommentiert Wilfried Barner in der Studienausgabe des Deutschen Klassiker Verlags zur Formulierung »Kunst [...] um ihrer selbst willen« lapidar: »Im Wortsinne: Absetzung gegenüber l¶art pour l¶art.«28 Welches l¶art pour l¶art hier gemeint sein könnte, von dem Lessing sich angeblich absetzt ± wenn denn ein solches zu Lessings Zeiten überhaupt existiert hat ±, bleibt unerfindlich. Tatsächlich konstituiert sich die Autonomie der Kunst bzw. künstlerischer Produktion der Formulierung Lessings zufolge in deren Unabhängigkeit und innerer Eigenwertigkeit gegenüber der Religion und ihrer universitären Magd, der Theologie. Mit der produktionsästhetisch auf Autonomie pochenden Rede von einer »um ihrer selbst willen« geschaffenen Kunst, die Lessing auch im außerästhetischen Diskurs ähnlich verwendet,29 inauguriert er nun eine Formel, die zwanzig Jahre später in den Gründungstexten der klassischen Autonomieästhetik in völlig anderem Kontext aufgegriffen werden wird, so zuerst Anfang 1785 in Moritzens Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste, wo es wiederum in wirkungsästhetischer Perspektive ± hier allerdings mit erheblichen werkästhetischen Implikationen ± heißt: Bei der Betrachtung des Schönen [...] wälze ich den Zweck aus mir in den Gegenstand selbst zurück: ich betrachte ihn, als etwas, nicht in mir, sondern in sich selbst Vollendetes, das also in sich ein Ganzes ausmacht, und mir um sein selbst willen Vergnügen gewährt; indem ich dem schönen Gegenstande nicht sowohl eine Beziehung auf mich, als mir vielmehr eine Beziehung auf ihn gebe.30
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G 6, S. 74. Wilfried Barner: Kommentar. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 5/2: Laokoon. Briefe, antiquarischen Inhalts. Hg. von Wilfried Barner. Frankfurt am Main 1990, S. 627±916, hier S. 781. Vgl. etwa folgenden Ausruf Saras zu Mellefont in Miß Sara Sampson, 1. Aufzug, 7. Auftritt: »Ich will mit Ihnen, nicht um der Welt Willen, ich will mit Ihnen um meiner selbst Willen verbunden sein« (G 2, S. 20). In einer strukturellen Analogie dazu, aber in moralphilosophischem Kontext heißt es in Die Erziehung des Menschengeschlechts, § 80, dass der »Verstand [...] diejenige Reinigkeit des Herzens hervorbringen soll, die uns, die Tugend um ihrer selbst willen zu lieben, fähig macht« (G 3, S. 507). Moritz (Anm. 16), S. 943; Hervorhebungen im Original. An dieser Stelle sei kursorisch auf zwei Definitionen hingewiesen, die in ihrer Bestimmung des Schönen der Moritz¶schen Formel schon relativ nahe kommen und die Moritz beide nachweislich gekannt hat: Charles Batteux: Les Beaux-Arts réduits à un même principe [1746]. Édition critique. Hg. von Jean-5pP\ 0DQWLRQ 3DULV &ROOHFWLRQ 7KpRULH HW FULWLTXH j O¶kJH FODVVLTXH S. 134: »Pour que les objets plaisent à notre esprit, il suffiWTX¶LOV VRLHQWSDUIDLWV HQ HXxPrPHV ,O OHV HQYLVDJH VDQV LQWpUrW HW SRXUYX TX¶LO \ WURXYH GH OD UpJXODULWp GH Oa harGLHVVHGHO¶pOpJDQFHLOHVWVDWLVIDLW,OQ¶HQHVWSDVGHPrPHGXFRHXU,OQ¶HVWWRXFKpGHV
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Mit anderen Worten: »Der wahre Künstler wird die höchste innere Zweckmäßigkeit oder Vollkommenheit in sein Werk zu bringen suchen; und wenn es GDQQ %HLIDOO ILQGHW ZLUG¶V LKQ IUHXHQ DEHU VHLQHQ HLJHQWOLFKHQ =ZHFN KDW HU schon mit der Vollendung des Werks erreicht.«31 Ganz ähnlich und ebenfalls noch auf wirkungsästhetischer Grundlage, doch bereits mit werkästhetischer Stoßrichtung fordert anderthalb Jahre später Goethe in einem Brief an die Herzogin Louise vom 12.±23. Dezember 1786, es komme bei der Betrachtung der römischen Kunstdenkmäler darauf an, »die Sachen um ihrer selbst willen zu sehen, den Künsten aufs Marck zu dringen, das Gebildete und Hervorgebrachte nicht nach dem Effeckt den es auf uns macht, sondern nach seinem innern Werthe zu beurtheilen«.32 Der diskursive Kontext der Argumentation stellt sich um 1785 freilich anders dar als zu Lessings Zeiten: Hat sich die Kunst noch 1766 vor allem gegenüber den kultischen Zwecken der Religion behauptet, spielt dieser ¾Gegner½ um 1785 nicht mehr die entscheidende Rolle. Zur heterogenen, kunstfremden Instanz, angesichts deren Einflussnahme sich die ästhetische Autonomie erst als solche konstituiert, ist nun vielmehr der literarische Markt geworden, dessen Mechanismen auf längere Sicht die Grundlage jeder Wirkungsästhetik aushebeln und die Theoretiker zwingen sollten, eine intrinsische Wertigkeit des Kunstwerks zu statuieren, um nicht mehr vom schnelllebigen Gefallen einer zunehmend amorphen und sozial disqualifizierten Masse von Leserinnen und Lesern abzuhängen:33 Daher das ungeduldige Verlangen, daß alles dem Schönen huldigen soll, welches wir einmal dafür erkannt haben: je allgemeiner es als schön erkannt und bewundert wird, desto mehr Wert erhält es auch in unsern Augen. Daher das Mißvergnügen bei einem leeren Schauspielhause, wenn auch die Vorstellung noch so vortrefflich ist.34
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REMHWV TXH VHORQ OH UDSSRUW TX¶LOs ont avec son avantage propre.« Moses Mendelssohn: Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften [1777]. In: Ders.: Ästhetische Schriften in Auswahl. Hg. von Otto F. Best. 3. Auflage. Darmstadt 1994 (Texte zur Forschung 14), S. 173±197, hier S. 177: »Das Wesen der schönen Künste und Wissenschaften besteht in einer künstlichen sinnlich-vollkommenen Vorstellung, oder in einer durch die Kunst vorgestellten sinnlichen Vollkommenheit« (Hervorhebungen im Original). Vgl. auch die knappere Formel in der ursprünglichen Fassung: Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften [1757]. In: Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 1: Schriften zur Philosophie und Ästhetik. Bearb. von Fritz Bamberger. Berlin 1929, S. 165±190, hier S. 171. Zum ideengeschichtlichen Zusammenhang vgl. Martha Woodmansee: The Interests in Disinterestedness. Karl Philipp Moritz and die Emergence of the Theory of Aesthetic Autonomy in Eighteenth-Century Germany. In: Modern Language Quaterly 45 (1984), S. 22±47, hier S. 25±30. Moritz (Anm. 16), S. 948. Goethes Werke (Anm. 6), S. 96. Zum sozialgeschichtliche Hintergrund vgl. Woodmansee (Anm. 30), S. 33±47. Moritz (Anm. 16), S. 945.
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Aus der skizzierten Situation leitet Moritz folgende produktionsästhetische Maxime für den schaffenden Künstler ab: Ist [...] die Vorstellung des Beifalls dein Hauptgedanke, und ist dir dein Werk nur in so fern wert, als es dir Ruhm verschafft; so tu Verzicht auf den Beifall der Edlen. Du arbeitest nach einer eigennützigen Richtung: der Brennpunkt des Werks wird außer dem Werke fallen, du bringst es nicht um sein selbst willen, und also auch nichts Ganzes, in sich Vollendetes, hervor. Du wirst falschen Schimmer suchen, der vielleicht eine Zeitlang das Auge des Pöbels blendet, aber vor dem Blick des Weisen wie Nebel verschwindet.35
Wenig später, im Gefolge der Französischen Revolution, gerät dann neben dem zunehmend nach kapitalistischen Prinzipien organisierten literarischen und künstlerischen Markt auch die nachrevolutionäre Politik zu einem solchen negativen Bezugspunkt künstlerischen Autonomiestrebens, wie sich an Schillers ästhetischen Schriften ± insbesondere den ebenfalls wirkungsästhetisch argumentierenden Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) ± zeigen wird. Um nun Lessings und Riedels frühe und spezifische Formulierungen des ästhetischen Autonomieanspruchs ideen- bzw. diskursgeschichtlich adäquat einordnen und bewerten zu können, müsste man sie konsequent in einen Bezug zu ihren konzeptionellen und begrifflichen Vorläufern setzen. Zu observieren wären dabei nicht allein westeuropäische Theoretiker wie Shaftesbury, Hutcheson, Addison, Burke, Gerard, Dennis, Dubos, Batteux oder Caylus, sondern auch Vertreter der deutschen Schul- und Popularphilosophie wie Leibniz, Wolff, Baumgarten, Meier oder eben Mendelssohn. Dies kann im gegenwärtigen Zusammenhang aus thematischen und Platzgründen nicht geleistet werden und bleibt einer ausführlicheren Untersuchung vorbehalten. Stattdessen scheint es angebracht, abschließend zu diskutieren, weshalb Lessings unleugbare Bestrebungen in Richtung einer Kunstautonomie so lange nicht gewürdigt, ja nicht einmal als solche wahrgenommen wurden. Um diese Frage zu klären, muss zunächst gemustert werden, ob und inwiefern sich der im Laokoon formulierte Autonomiegedanke tatsächlich konsequent in den allgemeinen Argumentationsgang des Essays einfügt oder ob er im Verhältnis zu den anderen zentralen Maximen des Textes vielmehr theoretische Inkonsequenzen hervortreibt, die plausibel machen, dass man die darin erhobene Forderung nach Autonomie der künstlerischen Produktion bisher so geflissentlich übersehen hat. Zu diesem Zweck eignet sich ein Blick auf eine Passage aus dem Kapitel II des Laokoon: Wir lachen, wenn wir hören, daß bei den Alten auch die Künste bürgerlichen Gesetzen unterworfen gewesen. Aber wir haben nicht immer recht, wenn wir lachen. Unstreitig müssen sich die Gesetze über die Wissenschaften keine Gewalt anmaßen; denn der Endzweck GHU :LVVHQVFKDIW LVW :DKUKHLW >«@ 'HU (QG]ZHFN GHU .QVWH KLQJHJHQ LVW 9Hrgnügen; und das Vergnügen ist entbehrlich. Also darf es allerdings von dem Gesetzgeber abhangen, welche Art von Vergnügen, und in welchem Maße er jede Art desselben verstatten will. 35
Ebd., S. 948.
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Norbert Christian Wolf Die bildenden Künste insbesondere, außer dem unfehlbaren Einflusse, den sie auf den Charakter der Nation haben, sind einer Wirkung fähig, welche die nähere Aufsicht des Gesetzes heischet.36
Zunächst einmal fällt auf, dass Lessing hier im Gegensatz zu den oben analysierten Stellen aus dem Kapitel IX nicht produktionsästhetisch, sondern wirkungsästhetisch argumentiert. In dieser Hinsicht kann er sich also durchaus mit einer gewissen Einschränkung künstlerischer Freiheit und Selbstgesetzgebung anfreunden, ja die sämtlich auf das »Vergnügen« zielenden »Künste« sogar insgesamt als »entbehrlich« erklären. Aussagen solcher Art wird man bei den immer äußerst kunstemphatisch argumentierenden späteren Theoretikern ästhetischer Autonomie schwerlich finden; sie stehen auch in einem gewissen Spannungsverhältnis zu Lessings eigenen Überlegungen aus dem Kapitel IX ± und zwar insofern, als dort ja die Kunst stets »um ihrer selbst willen gearbeitet« und niemals »ein bloßes Hülfsmittel der Religion« sein darf, weil sonst »mehr auf das Bedeutende als auf das Schöne« geachtet werde. Wenn Lessing hingegen hier eine Bevormundung der Kunst durch den »Gesetzgeber« ± und das heißt damals: durch den absolutistischen Staat ± durchaus akzeptiert, nimmt er eine Differenzierung zwischen der Religion und dem Staat als Instanzen vor, die künstlerischer Produktion und Rezeption von außen Grenzen zu setzen vermögen. Nur der Staat ist ihm zufolge dazu auch berechtigt, nicht aber die Religion, womit er bei aller Religionskritik eine überraschende und nicht unproblematische Staatsgläubigkeit an den Tag legt, die in der weiteren historischen Entwicklung Deutschlands noch gefährliche Blüten treiben sollte. Lessings künstlerischer Autonomieanspruch beschränkt sich offenbar gänzlich auf die produktionsästhetische Forderung nach Unabhängigkeit von ¾äußerlichen Zwängen½ seitens der Religion. Und dies ist nicht sein einziges ¾Defizit½: Von der rezeptionsästhetischen Kategorie der ¾Interesselosigkeit½ (Riedel) hat er noch genauso wenig einen Begriff wie von der Vorstellung des ¾in sich selbst vollendeten½ Kunstwerks (Moritz). Doch erst wenn alle diese Aspekte ± wie dann 1785 von Moritz ± in einem veritablen Konzept zusammengeführt und theoretisch integriert werden, kann man tatsächlich von einem umfassenden und in sich schlüssigen ästhetischen Autonomiepostulat sprechen, das eine Chance auf intersubjektive Durchsetzung hat; und erst wenn ihm außertextuelle bzw. überindividuelle Tendenzen korrespondieren, ist das auch diskurshistorisch von Bedeutung. Solange all dies wie im Laokoon nicht der Fall ist, bleibt der zwar hörbar artikulierte autonomieästhetische Anspruch isoliert und kommt einer singulären Meinungsäußerung gleich, nicht aber dem Ausdruck eines diskursgeschichtlich relevanten epochalen Umbruchs. Berücksichtigt man indes, dass fast zeitgleich mit Lessing und Riedel auch nichtdeutsche Autoren wie Denis Diderot im Salon de 1767 (etwa im Abschnitt 71) Ähnliches gefordert haben,37 36 37
G 6, S. 19. Den Hinweis auf diese bemerkenswerte Stelle verdanke ich Markus Hien. Diderot argumentierte freilich wiederum aus einer anderen Perspektive, nämlich aus jener des überkommenen Mimesispostulats; vgl. Denis 'LGHURW ¯XYUHV (VWKpWLTXHV Hg. von
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dann zeichnet sich zumindest das Bild einer überindividuellen und übernationalen Tendenz der säkularen Autonomisierungsbewegung ab. Nicht einmal hypothetisch beantwortet werden kann im gegenwärtigen Rahmen allerdings die wichtige Frage, ob Lessings (noch vergleichsweise verhaltene) autonomieästhetische These ± etwa mittels einer produktiven Adaptation durch Riedel, Moritz und Kant ± auf die Ästhetiken Goethes und Schillers gewirkt und damit schließlich in langfristig und international wirkungsmächtige poetologische Konzeptionen und poetische Schreibverfahren eingegangen ist.
Paul Vernière. Paris 1959, S. 599f.: »Mais la nature étant une, comment concevez-vous [...] TX¶LO \ DLW WDQW GH PDQLqUHV GLYHUVHV GH O¶LPLWHU HW TX¶RQ OHV DSSURXYH WRXWHV" Cela ne viendrait-LOSDVGHFHTXHGDQVO¶LPSossibilité reconnue et peut-être heureuse de la rendre avec une préFLVLRQDEVROXHLO\DXQHOLVLqUHGHFRQYHQWLRQVXUODTXHOOHRQSHUPHWjO¶DUWGH se promener; de ce que, dans toute production poétique, il y a toujours un peu de mensonge dont la limite Q¶HVW HW QH VHUD MDPDLV GpWHUPLQpH" /DLVVH] j O¶DUW OD OLEHUWp G¶XQ pFDUW DpSURXYp SDU OHV XQV HW SURVFULW SDU G¶DXWUHV 4XDQG RQ D XQH IRLV DYRXp TXH OH VROHLO GX SHLQWUHQ¶HVWSDVFHOXLGHO¶XQLYHUVHWQHVDXUDLWO¶rWUHQHV¶HVW-on pas engagé dans un autre DYHXGRQWLOV¶HQVXLWXQHLQILQLWpGHFRQVpTXHQFHV"ODSUHPLqUHGHQHSDVGHPDQGHUjO¶DUW au delà de ses ressources; la seconde, de prononcer avec une extrême circonspection de toXWHVFqQHRWRXWHVWG¶DFFRUG©
Joachim Jacob Joachim Jacob Das Schöne als Herausforderung einer literarischen Ästhetik in Lessings Laokoon
Das Schöne als Herausforderung einer literarischen Ästhetik in Lessings Laokoon Das Schöne als Herausforderung einer literarischen Ästhetik LQ/HVVLQJV¾/DoNRRQ½
I. Lessings Schrift Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie ist zweifellos ein bedeutender Impuls für die ästhetische Theoriebildung gewesen. Dies gilt nicht nur historisch betrachtet für das 18. Jahrhundert, dessen spezifischen literatur- und kunsttheoretischen Debatten und Problemlagen sich ihre Entstehung verdankt. Sondern der Laokoon bleibt bis in die Gegenwart ein kritischer Ausgangs- und Bezugspunkt für die Diskussion der grundlegenden Fragen nach dem Verhältnis von Text und Bild, Raum und Zeit in ästhetischer Darstellung und nach den spezifischen Darstellungsweisen, die sich jeweils durch die medialen Bedingungen der einzelnen Künste ergeben.1 Die Frage bleibt, ob Lessings Abhandlung über einen Impuls hinaus auch ästhetische Theorie gebildet hat. Lessing selbst gibt sich in dieser Hinsicht, wie bekannt, zunächst bescheiden. Eine Reihe von »Aufsätze[n]« lege er vor, so heißt es in der Vorrede zum Laokoon, die nicht »durch die methodische Entwickelung allgemeiner Grundsätze angewachsen« seien, sondern »zufälliger Weise entstanden, und mehr nach der Folge meiner Lectüre«, sodass das Vorgelegte schließlich »mehr unordentliche Collectanea zu einem Buche, als ein Buch« ergeben habe.2
1
2
Ich nenne hier nur: Luca Giuliani: Laokoon in der Höhle des Polyphem. Zur einfachen Form des Erzählens in Bild und Text. In: Poetica. Zeitschrift für Sprache und Literaturwissenschaft 28 (1996), S. 1±47; Inge Baxmann, Michael Franz und Wolfgang Schäffner (Hgg.): Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert. Berlin 2000 (Historische und systematische Studien zu einer vergleichenden Zeichentheorie der Künste 2); Imke Kreiser: Laokoon im einundzwanzigsten Jahrhundert oder die Neurobiologie der Ästhetik. Bochum 2002 (Kommunikationsforschung aktuell 7); Antoinette Roesler-Friedenthal und Johannes Nathan (Hgg.): The enduring instant. Time and the spectator in the visual arts. A section of the XXXth International Congress for the History of Art, London. Der bleibende Augenblick. Berlin 2003. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766). In: Ders.: Werke und Briefe. Bd. 5/2: Werke 1766±1769. Hg. von Wilfried Barner. Frankfurt am Main 1990, S. 11±206, hier S. 15. Weitere Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe mit Seitenangabe im laufenden Text.
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Doch der Leser, der Lessing durch seine Vorrede folgt, erfährt schon im nächsten Absatz eine bemerkenswerte Verschiebung der Motive. Die ¾zufälligen½, unmethodisch an äußeren Anlässen sich entzündenden Notizen, die es noch nicht zum Buch gebracht haben, werden doch »auch als solche nicht ganz zu verachten« sein, insofern sie einer Überfülle an vorliegenden »systematischen Büchern« gegenüber stehen, in denen ein abstraktes Denken »[a]us ein Paar angenommenen Worterklärungen in der schönsten Ordnung alles, was wir nur wollen, herzuleiten« vermag (15). Beliebig ist damit die definitorische Strenge geworden, die aus »ein Paar angenommenen Worterklärungen« herleitet, was sie möchte. Die Aufgabe, »die Grenzen der Malerei und Poesie« zu bestimmen, scheint ein solches Vorgehen abstrakter »Worterklärungen« jedoch nicht hinreichend zu lösen, sondern dazu scheint es einer ± ohne das der Begriff fällt ± ¾Sacherklärung½ zu bedürfen, die sich nicht mit Bedeutungsherleitungen, sondern mit der Sache selbst beschäftigt.3 Die so angedeutete kritische Opposition von Wort und Sache findet ihre Fortsetzung in der Bestimmung des Verhältnisses der eigenen Untersuchung zu dem einzigen unter den »systematischen Büchern«, das Lessing an dieser Stelle namentlich der Rede wert hält, zur Aesthetica Alexander Gottlieb Baumgartens (1750/1758). Der Verfasser dieser ersten philosophischen Ästhetik, wie Lessing hintersinnig erinnert, »bekannte, einen großen Teil« seiner »Beispiele« einem »Wörterbuche schuldig zu sein« (15). Baumgartens ¾Bekenntnis½ in der Praefatio zum ersten Band seiner Aesthetica, auf das Lessing damit anspielt, ist aufschlussreich; es verdient im Zusammenhang zitiert zu werden: Nun gibt es eines, was mein dankbarer Geist mich ermahnt, öffentlich zu bezeugen: Daß, gleichwie unter anderem die Schriften von Werenfels und Vossius, mir, als ich wiederum das einst Geschriebene durchdachte, der Thesaurus des überaus berühmten Gessner [sic] von großer Hilfe war, den ich nicht nur hinsichtlich der Sprache, sondern auch hinsichtlich der Sachen, die zur wahren Schönheit beitragen, als einen überaus großen Reichtum erfahren habe.4
Interessant ist nicht nur, dass Lessing, nicht ganz fair, die höflich gelehrte öffentliche Dankbezeugung Baumgartens gegenüber Johann Mathias Gesners Novus linguae et eruditionis Romanae thesaurus (1749) in ein Schuldbekenntnis des Autors verwandelt. Sondern an Baumgartens Beschreibung, was er Gesner verdanke, wird indirekt auch sehr anschaulich, worauf Lessings be3
4
/HVVLQJYHUZHQGHWGHQ$XVGUXFN¾:RUWHUNOlUXQJ½DXFKDQDQGHUHU6WHOOHLPUKHWRULVFKHQ Sinne einer Gegenüberstellung von res und verbum SHMRUDWLY DOV ¾EORH½ :RUWHUNOlUXQJ die die Sache selbst nicht berührt, vgl. so auch Hamburgische Dramaturgie, 72. Stück. Nach der Begrifflichkeit der zeitgenössischen schulphilosophischen Logik haben allerdings VRZRKO ¾:RUWHUNOlUXQJHQ½ DOV DXFK ¾6DFKHUNOlUXQJHQ½ HLQH HQJH 6DFKELQGXQJ YJO HWZD Georg Friedrich Meier: Vernunftlehre. Halle 1752, § IIJHJHQGLHYHUPHLQWOLFKH¾:LOOkürOLFKNHLW½YRQ:RUWHUNOlUXQJHQVLHKHHEG 316. Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik. Lat./dt. Übers., mit einer Einführung, Anmerkungen und Register hg. von Dagmar Mirbach. 2 Bde. Hamburg 2007, hier Bd. 1, S. 5 (Vorrede).
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rühmte Formulierung, dass gegenüber dem ¾bündigen Raisonnement½ Baumgartens seine eigenen »Beispiele mehr nach der Quelle schmecken« würden (15), eigentlich zielt. Methodisch distanziert sich Lessing von einem Verfahren, das ± zugespitzt formuliert ± zuerst denkt und sich dann mit passenden Beispielen für das Gedachte versorgt (»als ich wiederum das einst Geschriebene durchdachte«). Lessing dagegen will von den ¾Quellen½ her, ¾schmeckend½ denken, vom konkreten Gegenstand ästhetisch-sinnlicher Erfahrung seinen Ausgang nehmen. Um die »Grenzen der Malerei und Poesie« zu bestimmen, ist vom konkreten Werk der bildenden Kunst und der Sprachkunst auszugehen. Die LaokoonPlastik in ihrer konkreten ästhetischen Gestalt ist kein Beleg, sondern methodisch der Ausgangspunkt und das Zentrum des Gedankengangs, in dem »ich von dem Laokoon gleichsam aussetzte, und mehrmals auf ihn zurückkomme«; darum verdient er es auch, zum Titel der ganzen Schrift erhoben zu werden: »so habe ich ihm auch einen Anteil an der Aufschrift lassen wollen.« (15)5 Systematisch lässt sich damit Lessings auf die »Quelle« zurückgehende Erörterung gegenüber Baumgarten, der mit der unvollendet gebliebenen Aesthetica allein eine Theorie der ästhetischen Erkenntnis vorgelegt hatte6 und eine noch in Aussicht gestellte ästhetische Semiotik nicht mehr hatte erarbeiten können, als Versuch einer Tilgung eben dieses Desiderats begreifen. Mit anderen Worten, Lessings beispielgeleitete, nicht beispielbereicherte, Untersuchung erweitert die vorliegende Theorie der ästhetischen Erkenntnis um eine erfahrungs- und werkbasierte Exploration der Darstellungsleistungen des künstlerischen Gegenstands. So betrachtet bereitet Lessing mit dem Laokoon im Unterschied zu anderen zeitgenössischen Baumgarten-Kritikern, die sich am systematisch-objektivierenden Zugriff des Philosophen stören,7 tatsächlich systematisch eine sich auf die konkrete Gestalt der Kunst einlassende ästhetische Theoriebildung vor, die nicht nur Johann Gottfried Herder in seiner kritischen Kommentierung des Laokoon fortsetzt,8 sondern auch Friedrich Schillers Kallias-Briefe9
5
6
7
8
Ähnlich führt bezeichnenderweise schon das methodisch in dieser Hinsicht vielleicht wichtigste Vorbild für Lessings Schrift, Shaftesburys Abhandlung A Notion of the Historical Draught or Tablature of the Judgement of Hercules (1713), das Demonstrationsobjekt der bildkünstlerischen Darstellungstheorie in ihrem Titel. Vgl. Baumgarten (Anm. 4), S. 11: »Die Ästhetik [...] ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis.« (§ 1) Zu Baumgartens Ästhetik als Theorie der sinnlichen Erkenntnis, die freilich auch Überlegungen zur künstlerischen Darstellung impliziert, siehe die einführenden Bemerkungen der Herausgeberin, ebd., S. XXXIIff., zu Letzterem bes. S. LIX±LXV. Wie etwa die Gesprächspartner im XX. Brief in Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur (1767): »Sie wollen doch keine Aesthetik erfinden? ¾)UFKWHQ 6LH QLFKWV >@½© +HLQULFK :LOKHOP YRQ *HUVWHQEHUJ %ULHIH EHU 0HUNwürdigkeiten der Litteratur. Nachdruck der Ausgaben Schleswig und Leipzig 1766±1767 und Bremen 1770. Hildesheim, New York 1971, S. 393). Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maßgabe neuerer Schriften. Erstes Wäldchen (1769). In: Ders.: Werke. Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767±1781. Hg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt am Main 1993, S. 57±245.
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und schließlich Hegels Philosophie der Kunst aufnehmen werden. Letzterer, wenn auch nicht sehr freundlich gegenüber dem Laokoon gesinnt, konzediert Lessings Schrift immerhin, ein Anfang zu sein: »Die Hauptsache darin ist [im Laokoon; Anm. d. Verf.], daß die Poesie die Gegenstände in der Succession, die Malerei aber neben einander darstellt. Dies ist nun freilich sehr oberflächlich, und zeugt von den Anfängen der Untersuchungen über Kunst.«10
II. Lessings herausfordernde Absicht, eine bereits bestens ¾bündig raisonnierte½ Theorie des Ästhetischen noch einmal dem Urteil der Quellen auszusetzen, lässt sich, so die hier vorzustellende These, besonders gut am Begriff des Schönen verfolgen.11 In der zeitgenössischen ästhetischen Theoriebildung ist dieser bekanntlich ein Schlüsselbegriff ± nicht nur Baumgarten interessiert sich für die »Sachen, die zur wahren Schönheit beitragen«. Von zentraler Stellung und metaphysisch stark in Anspruch genommen, bleibt er jedoch in praktischer Hinsicht immer prekär und vielleicht sogar ein dürftiger Begriff. In Johann Jakob Breitingers Critischer Dichtkunst (1740) etwa erscheint das »poetische Schöne« im Kapitel »Von dem Neuen«12 nur am Rande des offensichtlich einschlägigeren Themas ästhetischer Innovation. Das Schöne umfasse, so Breitinger, neben den »poetischen Schildereyen« des harmonisch Geordneten im Reich des Sichtbaren und des Unsichtbaren überhaupt alles, »was das Gemüthe des Lesers durch die poetische Vorstellung entzücket, und mit einem süssen Ergetzen erfüllet; diese Würckung aber führen [...] alle Dinge mit sich, die in der Wahrheit gegründet und dabey neu und verwundersam sind«.13 In der Tat ¾bündiger½ hatte gegenüber dieser Umschreibung Baumgarten dann im einschlägigen § 14 der Aesthetica Schönheit als »Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis« hergeleitet: »Der Zweck der Ästhetik ist die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis als solcher. Dies aber ist die Schönheit.«14 9
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13 14
Schillers Laokoon-Rezeption ist darüber hinaus intensiv, vgl. die Übernahme des für Lessing zentralen Aspekts der sukzessiven Darstellungsform der Literatur in Über das Pathetische (1793) oder Über Matthissons Gedichte (1794); Genaueres aber auch im Folgenden. Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Vorlesung über Ästhetik. Berlin 1820/21. Eine Nachschrift. Hg. von Helmut Schneider. Frankfurt am Main u. a. 1995, S. 229. Das habe ich eingehender zu zeigen versucht in: Joachim Jacob: Die Schönheit der Literatur. Zur Geschichte eines Problems von Gorgias bis Max Bense. Tübingen 2007 (Studien zur deutschen Literatur 183), S. 185±286. Johann Jakob Breitinger: Critische Dichtkunst. 2 Bde. Nachdruck der Ausgabe Zürich 1740. Hg. von Wolfgang Bender. Stuttgart 1966 (Deutsche Neudrucke. Reihe Texte des 18. Jahrhunderts), hier Bd. 1, S. 106±127. Ebd., S. 122f. Baumgarten (Anm. 4), S. 21. Zum Begriff der Schönheit bei Baumgarten siehe Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander
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Für Lessing wird jedoch gerade angesichts der Quellen das Schöne wieder problematisch. Diese Behauptung mag gerade in Bezug auf den Laokoon verwundern, insofern in ihm das Schöne thematisch, wie es den Anschein hat, keine besonders auffällige Rolle spielt. Das Schöne ist vielmehr im Laokoon gerade nicht sehr prominent, weil es nach Lessings eigener Beobachtung in der Kunst der Gegenwart nur noch einen »kleine[n] Teil« ausmache: [...] die Kunst hat in den neuern Zeiten ungleich weitere Grenzen erhalten. Ihre Nachahmung, sagt man, erstrecke sich auf die ganze sichtbare Natur, von welcher das Schöne nur ein kleiner Teil ist. Wahrheit und Ausdruck sei ihr erstes Gesetz; und wie die Natur selbst die Schönheit höhern Absichten jederzeit aufopfere, so müsse sie auch der Künstler seiner allgemeinen Bestimmung unterordnen, und ihr nicht weiter nachgehen, als es Wahrheit und Ausdruck erlauben. (31)
So ist auch der jüngeren wissenschaftlichen Forschung mehr als das Schöne Lessings behutsame Anerkennung des Hässlichen im XXIII. und XXIV. Kapitel des Laokoon als möglicher Gegenstand der Kunst, zumindest der Dichtkunst, bedeutsam geworden.15 In der eben zitierten Passage geht es dagegen nicht um eine explizite Aufwertung des Hässlichen, sondern darum, dass das Schöne einerseits als Gegenstand aus dem Reich der sichtbaren Natur »nur ein kleiner Teil« dessen sei, was Kunst ¾nachahmen½, d. h. zum Gegenstand ihrer Darstellung machen könne, und dass andererseits für die Kunst auf der Ebene der Darstellung Schönheit nicht mehr das oberste Ziel, sondern der »Wahrheit« und dem »Ausdruck« der künstlerischen Darstellung unterzuordnen sei. Die Natur gibt auch in dieser Hinsicht die Regel vor, insofern sie selbst »die Schönheit höhern Absichten jederzeit aufopfere«. Lessing steht damit in einem noch an der Naturnachahmung orientierten kunsttheoretischen Diskurs, für den die schöne Gestalt seiner Objektgebung aber bereits sekundär geworden war. Charles Batteux beispielsweise hatte in diesem Sinne zur »schönen Natur« in seiner die Naturnachahmung als »einzigen Grundsatz« gelten lassenden Schrift Les Beaux-Arts réduits à un même principe (1746; in deutscher Übersetzung 11751, 21759, 31770) ausgeführt:
15
Gottlieb Baumgarten. Wiesbaden 1972 (Studia Leibnitiana Suppl. IX), S. 3±5, 76±87; und jetzt, auch mit Rücksicht auf die sprachlich-literarische Darstellung, Frauke Berndt: Poema = Gedicht. Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750. Berlin, Boston Mass. 2011 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 43), S. 78±84. Siehe dazu Herbert Dieckmann: Das Abscheuliche und Schreckliche in der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts. In: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. Hg. von Hans Robert Jauß. München 1968 (Poetik und Hermeneutik 3), S. 271±317; Carsten Zelle: »Angenehmes Grauen.« Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert. Hamburg 1987 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 10), S. 395±412; Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt am Main 2002, S. 90±99. Mit dem Schönen in Lessings Laokoon beschäftigt sich repräsentationskritisch und psychoanalytisch inspiriert David E. Wellbery: Das Gesetz der Schönheit. Lessings Ästhetik der Repräsentation. In: Was heißt »Darstellen«? Hg. von Christiaan L. Hart Nibbrig. Frankfurt am Main 1994, S. 175±204.
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Joachim Jacob Die Beschaffenheit des Gegenstandes kömmt dabey nicht in Betrachtung. Dasjenige, was man abschildert, sey ein vielköpfichter Drache, ein Geizhals, ein Scheinheiliger, ein Nero! So bald es mit allen den Zügen vorgestellt wird, welche sich für dasselbe schicken, so hat man die schöne Natur geschildert.16
Einer solchen Forderung nach wahrhaftiger Darstellung auf Kosten von Schönheit verschließt sich auch Lessing nicht. So ist die auffällige sprachliche Distanzierung, die sein Referat der zeitgenössischen Auffassung begleitet (»Ihre Nachahmung, sagt man [...] Wahrheit und Ausdruck sei ihr [...]«), auch nicht durch einen Vorbehalt gegenüber dem Sachgehalt der Ansicht motiviert, dass die Schönheit der Wahrheit und dem Ausdruck unterzuordnen sei, sondern durch die Art und Weise ihrer Begründung, warum dennoch auch im Ausdruck ein gewisses Maß einzuhalten sei: Gesetzt, man wollte diese Begriffe vors erste unbestritten in ihrem Werte oder Unwerte lassen: sollten nicht andere von ihnen unabhängige Betrachtungen zu machen sein, warum dem ohngeachtet der Künstler in dem Ausdrucke Maß halten, und ihn nie aus dem höchsten Punkte der Handlung nehmen müsse. (31)
Es sind »unabhängige Betrachtungen zu machen«, und zwar, weil die Darstellungsregeln der Künste, ungeachtet der hehren Ziele von Wahrheit, Schönheit und Ausdruck, zunächst von den materialen Strukturen ihrer Darstellungsmittel her zu betrachten sind, bevor man sich über den »Werte oder Unwerte« allgemeiner ästhetischer Zielvorstellungen verständigen kann.17 Eben eine Reihe solcher »unabhängige[n] Betrachtungen« stellt Lessing im Laokoon im Blick auf das Schöne an. Es geht ihm dabei konsequent nicht um eine Erörterung seines Begriffes oder Werts, seiner Erkenntnis oder seiner moralischen Bedeutung, sondern um eine systematische Betrachtung der Bedingungen dafür, Schönes in den verschiedenen Künsten konkret und d. h. erfahrbar zur Darstellung zu bringen. Das vermeintliche »Spezialproblem der Nachahmung ¾körperlicher Schönheit½«18 ist dabei keineswegs ein solches, sondern führt in das Zentrum dieses Vorhabens hinein, systematisch vom Gegenstand ausgehend die Möglichkeiten der Darstellung von erscheinender Schönheit in den einzelnen Künsten zu diskutieren. Schönheit wird darum für Lessing zu einem zentralen Problem, weil sie ungeachtet ihrer Randständigkeit als Thema der modernen Kunst die spezifischen 16
17
18
Zitiert nach: Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt [von Johann Adolf Schlegel], und mit einem Anhange einiger eignen Abhandlungen versehen. 2. Auflage. Leipzig 1759, S. 20. Eine solche Kritik, die spezifische Medialität der verschiedenen Künste zu vernachlässigen, hatte schon Denis Diderot an Batteux¶6\VWHPJHEWVLHKH'HQLV'LGHURWLettre sur OHVVRXUGVHWPXHWVjO¶XVDJHGHFHX[TXLHQWHQGHQWHWTXLSDUOHQWDGUHVVpj0RQVLHXU
Paris 1751. Vgl. Lessings lobende Besprechung in Das Neueste aus dem Reiche des Witzes. Monat Junius 1751. So Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der »Darstellung« im 18. Jahrhundert. München 1998, S. 134, in ihrer ansonsten überaus konzisen Darstellung der »Poetik des Laokoon«, ebd., S. 103±148.
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Darstellungsbedingungen der bildenden Kunst auf der einen und der Literatur auf der anderen Seite in besonders deutlicher Weise hervor treibt. In einer für ein kritisch-aufgeklärtes Denken von den ¾Grenzen½ der Künste her nicht untypischen Weise bietet sich für Lessing insbesondere das Schöne dafür an, gerade auch die Grundlinien einer literarischen Ästhetik herauszuarbeiten, weil das Schöne, so die verblüffende Entdeckung Lessings, der literarischen Darstellung nicht problemlos zugänglich, der schöne Gegenstand mit literarischen Mitteln nicht ¾bequem½ (116)19 zu repräsentieren ist.
III. Der Grundkonflikt zwischen dem Schönen und seiner literarischen Darstellung ergibt sich aus der allgemeinen Schwierigkeit, die Lessing im Laokoon für die poetische Darstellung von Gegenständlichkeit diagnostiziert. Ist es nach Lessing die Aufgabe aller Kunst, »uns abwesende Dinge als gegenwärtig, den Schein als Wirklichkeit vor[zustellen]« (13), oder genauer: »Ideen«, die der Künstler »in uns erwecket, so lebhaft [zu] machen, daß wir in der Geschwindigkeit die wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden glauben« (124), sieht sich der Sprachkünstler bei der möglichst schnellen, lebhaften Darstellung von Körpern, bei Vermittlung einer »deutlichen Vorstellung eines Dinges im Raume« vor ein gravierendes Problem gestellt: Wie gelangen wir zu der deutlichen Vorstellung eines Dinges im Raume? Erst betrachten wir die Teile desselben einzeln, hierauf die Verbindung dieser Teile, und endlich das Ganze. Unsere Sinne verrichten diese verschiedene Operationen mit einer so erstaunlichen Schnelligkeit, daß sie uns nur eine einzige zu sein bedünken, und diese Schnelligkeit ist unumgänglich notwendig, wann wir einen Begriff von dem Ganzen, welcher nichts mehr als das Resultat von den Begriffen der Teile und ihrer Verbindung ist, bekommen sollen. Gesetzt nun also auch, der Dichter führe uns in der schönsten Ordnung von einem Teile des Gegenstandes zu dem andern; gesetzt, er wisse uns die Verbindung dieser Teile auch noch so klar zu machen: wie viel Zeit gebraucht er dazu? Was das Auge mit einmal übersiehet, zählt er uns merklich langsam nach und nach zu, und oft geschieht es, daß wir bei dem letzten Zuge den ersten schon wiederum vergessen haben. (124)
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»[...] wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen.« $XFKGHU%HJULIIGHV¾%HTXHPHQ½VWHOOWLQDXIIlOOLJHU:HLVHZHQLJHUDXIGHILQLWRUische Präzision als auf das konkrete Darstellungsverfahren ab, auf mehr oder weniger günstige Passungsverhältnisse im Bezeichnungsprozess, nicht auf ein ausschließendes Entweder-Oder=XU¾%HTXHPOLFKNHLW½VLHKHDXFK.DUOKHLQ]6WLHUOH'DVEHTXHPH9HUKlOtnis. Lessings Laokoon und die Entdeckung des ästhetischen Mediums. In: Das LaokoonProjekt. Pläne einer semiotischen Ästhetik. Hg. von Gunter Gebauer. Stuttgart 1984, S. 23± 58, hier S. 40.
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Auch die »schönste [...] Ordnung« in der Darstellung eines Dings (man erinnere sich an die Beliebigkeit der »Worterklärungen in der schönsten Ordnung« in der Vorrede) kann also nicht verhindern, dass sie, wenn sie um ¾Deutlichkeit½ bemüht ist, auf die es Lessing als ästhetischem Realisten ankommt, zu langsam ist. Im Gegensatz zum verzögernden Nachbuchstabieren der Dinge im Lesen »übersiehet« das Auge des Betrachters eines Bildes oder einer Skulptur dagegen »mit einmal«, was ihm der bildende Künstler als simultane Zeichenanordnung zu sehen geben kann. Der häufig vorgebrachte Einwand gegen diese Analyse Lessings, dass sich auch Bilder tatsächlich nicht ¾mit einmal übersehen½ lassen, sondern in einem zeitlichen Vollzug wahrgenommen werden,20 soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden.21 Im Kontext des hier interessierenden Schönheitsproblems ist vielmehr entscheidend, dass sich Lessings Grundthese, dass die Repräsentation von Dingen für die bildende Kunst bequemer ist als für die Sprachkunst, nun am schönen Gegenstand ihre Zuspitzung erfährt: Was ich von körperlichen Gegenständen überhaupt gesagt habe, das gilt von körperlichen schönen Gegenständen um so viel mehr. (144)
Denn Schönheit und Dinglichkeit (in Lessings Sprachgebrauch ¾Körperlichkeit½) sind als »übereinstimmende [...] Wirkung mannigfaltiger Teile, die sich auf einmal übersehen lassen«, strukturell verwandt: Körperliche Schönheit entspringt der übereinstimmenden Wirkung mannigfaltiger Teile, die sich auf einmal übersehen lassen. Sie erfodert also, daß diese Teile neben einander liegen müssen; und da Dinge, deren Teile neben einander liegen, der eigentliche Gegenstand der Malerei sind; so kann sie, und nur sie allein, körperliche Schönheit nachahmen. (144)
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21
Vgl. etwa die Lessing-Kritik bei Gottfried Boehm: Bild und Zeit. In: Kunst und Zeit. Zeitmodelle in der Gegenwartskunst. Hg. von Hannelore Paflik. München 1997, S. 1±23, hier S. 6. Richtig und z. B. gegen neuroästhetische Homologien festzuhalten bleibt bei alldem meines Erachtens Lessings Auffassung, dass sich Bilder gegenüber Texten phänomenal in grundsätzlich anderer Weise einem Betrachter bzw. einem Leser darbieten. Vgl. dagegen Kreiser (Anm. 1), S. 204: »Dabei ist die ästhetische Wahrnehmung weitgehend unabhängig von der physikalischen Beschaffenheit des realen Objekts, was diese Objekte prinzipiell gleichstellt, egal ob es sich um Werke der bildenden Kunst, der Musik oder der Dichtung handelt.« Ähnlich Olaf Breidbach: Das Anschauliche oder über die Anschauung von Welt. Ein Beitrag zur neuronalen Ästhetik. Wien, New York 2000, S. 116: »Text und Bild sind [...] nur Variationen in der Präsentation eines Wahrnehmungsgefüges. Gestalt ist das der Bedeutung Vorgeordnete, und Gestalt ist genau das, was im Bild instantan erfahren und dann im Text diskursiv erläutert wird.« Nach Lessing wären gerade innerhalb einer ¾QHXURQDOHQbVWKHWLN½GLHªVariationen in der Präsentation eines Wahrnehmungsgefüges« JHQDXHU]XEHREDFKWHQVWDWWVLHDXIGLHHLQIDFKH'LFKRWRPLHYRQ¾LQVWDQWDQHU(UIDKUXQJ½ XQG¾GLVNXUVLYHU(UOlXWHUXQJ½]XUFN]XIKUHQ Siehe dazu Jacob (Anm. 11), S. 249±252.
Das Schöne als Herausforderung einer literarischen Ästhetik in Lessings Laokoon
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Die klassische, auf alle Kunstarten übertragene aristotelische Forderung nach Fasslichkeit und Überschaubarkeit des Schönen22 konkretisiert Lessing zu einer Erfahrung schöner Dinge. Und für die sinnlich-ästhetische Erfahrung von Schönheit als »der übereinstimmenden Wirkung mannigfaltiger Teile, die sich auf einmal übersehen lassen«, sind die Werke der bildenden Kunst am besten, am ¾bequemsten½ disponiert. Am Schönen als der höchsten Auszeichnung visibler Gebilde, wie sie Johann Joachim Winckelmann in der bildenden Kunst der klassischen Antike gefeiert und zu sehen gelehrt hatte,23 zeigt sich damit das Problem der literarischen Repräsentation von Gegenständlichkeit und Schönheit in seiner vollen Schärfe. Am Schönen erfährt die literarische Darstellung ihre Grenze. Um es einzuholen, muss sie sich entweder auf die Darstellung der Wirkung von Schönheit verlegen (vgl. 154) oder sie in Reiz als »Schönheit in Bewegung« verwandeln, in »ein transitorisches Schönes«, das »kömmt und geht« (155). D. h. in beiden Fällen muss es dem Sprachkünstler darum gehen, Schönheit in Handlungsverläufe aufzulösen, deren Darstellung nach Lessing die besondere Stärke der sukzessiv organisierten Dichtkunst ist. Auch wenn Lessing damit die Poesie im Weiteren reichlich für ihr Unvermögen entschädigt, ja im Blick auf die Lebhaftigkeit der von ihr ausgelösten Empfindungen der Malerei sogar für überlegen hält, 24 sollte man den Entzug der Gegenständlichkeit und des Schönen für die literarische Darstellung doch schwerer nehmen, als dies mitunter bei der Interpretation des Laokoon geschieht.25 Denn er verdeutlicht prägnant, dass es grundsätzlich ein spezifisches Darstellungsproblem in der Literatur gibt, d. h. dass das sprachliche Zeichen gerade nicht so allvermögend ist, wie es die zeitgenössische rationalistische Semiotik behauptet hatte,26 und wie es bis in die spätidealistische Ästhetik des 22
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Vgl. Aristoteles: Poetik, 7. Kapitel (1450b±1451a). Die Forderung wird als Norm für die bildnerische Darstellung u. a. auch in Shaftesburys A Notion of the Historical Draught or Tablature of the Judgement of Hercules aufgenommen, dort jedoch ohne direkten Bezug auf die Schönheit. Vgl. z. B. mit Hinweis auf die besagte Formel: »Das Schöne bestehet in der Mannigfaltigkeit im Einfachen: dieses ist der Stein der Weisen, den die Künstler zu suchen haben, und welchen wenige finden« (Johann Joachim Winckelmann: Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst [1759]. In: Ders.: Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe. Hg. von Walter Rehm. 2. Auflage. Berlin, New York 2002, S. 149±156, hier S. 152). »Der Maler kann die Bewegung nur erraten lassen, in der Tat aber sind seine Figuren ohne Bewegung. Folglich wird der Reiz bei ihm zur Grimasse. Aber in der Poesie bleibt er, was er ist; ein transitorisches Schönes, das wir wiederholt zu sehen wünschen. Es kömmt und geht; und da wir uns überhaupt einer Bewegung leichter und lebhafter erinnern können, als bloßer Formen oder Farben: so muß der Reiz in dem nemlichen Verhältnisse stärker auf uns wirken, als die Schönheit.« (155) Vgl. z. B. Wellbery (Anm. 15), S. 190: »Weit davon entfernt, eine absolute Vollkommenheit zu sein, ist die Schönheit für Lessing lediglich die relative (beschränkte) Vollkommenheit, auf die sich die Malerei auf Grund ihrer semiotischen Verfassung beschränken muß.« Siehe etwa Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (1748± 1750). Nachdruck der Ausgabe Halle 1754±1759. Hildesheim, New York 1976, Bd. 3,
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19. Jahrhunderts hinein fortgeschrieben werden wird, wenn noch Friedrich Theodor Vischer die Sprache im Status eines »bloßen Vehikels« der Dichtkunst ansieht.27 Lessing zeigt am Beispiel der körperlichen Schönheit vielmehr, dass das sprachliche Zeichen kein ¾bloßes Vehikel½, sondern ein Vehikel ist, das, wenn es denn doch die Vorstellung von Schönheit transportieren soll, in ziemlich aufwändiger Weise gehandhabt werden muss.
IV. Die Beispiele, die Lessing als »unordentliche Collectanea« aufliest, um die besondere Herausforderung der literarischen Darstellung durch Schönheit und vor allem, um eine erfolgreiche Lösung dieser Herausforderung zu veranschaulichen, sind gleichwohl mit Bedacht gewählt. So gibt nicht von ungefähr das ewige Vorbild der homerischen Ilias das erste Beispiel, wie körperliche Schönheit ins literarische Medium transformiert werden sollte: Und auch hier ist Homer das Muster aller Muster. Er sagt: Nireus war schön; Achilles war noch schöner; Helena besaß eine göttliche Schönheit. Aber nirgends läßt er sich in die umständlichere Schilderung dieser Schönheiten ein. Gleichwohl ist das ganze Gedicht auf die Schönheit der Helena gebauet. Wie sehr würde ein neuerer Dichter darüber luxuriert haben! (145)
Helenas Schönheit, Motiv unzähliger Erörterungen und künstlerischer Darstellungen, auf das auch die ganze Ilias »gebauet« ist, insofern es Helenas Schönheit war, die den trojanischen Krieg auslöste, muss sich in der Vergegenwärtigung durch den Dichter auf eine spröde Aussage zusammenziehen: »Helena besaß eine göttliche Schönheit«.28 Dem bildenden Künstler ist dagegen
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§ 708, S. 333: »Horaz hat volkommen Recht, wenn er sagt: daß derjenige, welcher nur erst schön genung gedacht hat, niemals von der Beredsamkeit werde verlassen werden. Es ist demnach, die Lehre von der aesthetischen Bezeichnung der Gedanken, die allerleichteste.« Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, zum Gebrauche für Vorlesungen. Hg. von Robert Vischer. 2. Nachdruck der 2. Auflage München 1923. Hildesheim u. a. 1996, Bd. 6, § 836, S. 6. Wellberys Rekonstruktion der Lessingschen Semiotik referiert insofern eher diese sprachidealistische Position: »Die Superiorität der Poesie beruht auf der Intellektualität der semiotischen Mittel, derer sie sich bedient. Da sie nämlich mit willkürlichen Zeichen operiert, [...] Zeichen, die sich gleichsam in der Bezeichnung auslöschen, ermöglicht sie eine Autonomie der Gegenstandskonstitution, die der Malerei, unauflöslich an die Materialität ihres Zeichenvehikels gebunden, unerreichbar ist« (Wellbery [Anm. 15], S. 189). Eine »Autonomie der Gegenstandskonstitution«, das sollte deutlich werden, ist dem Laokoon zufolge auch der Poesie nicht gegeben. Auch Homer hält sich in ihrer Beschreibung zurück, vgl. Ilias III 158±160: »Einer unsterbOLFKHQ*|WWLQIUZDKUJOHLFKWMHQHYRQ$QVHKQ'HQQRFKNHKU¶DXFKPLWVROFKHU*HVWDOW sie in Schiffen zur Heimat, / Ehe sie uns und den Söhnen hinfort noch Jammer bereitet!« Zitiert nach Homer: Ilias. Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. Vollständ. Ausgabe nach dem Text der Erstausgaben, mit einem Nachwort von Wolf Hartmut Friedrich. 18. Auflage. München 1987, S. 50. Das Beispiel ist topisch und dient beispiels-
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ihre anschauliche Darstellung erlaubt, wie etwa in der zeitgenössischen, ebenfalls ihr Medium reflektierenden Version von Angelika Kauffmann, Zeuxis komponiert das Bildnis der Helena (um 1775; siehe Abb. 1), deren Thema den Gipfelpunkt der bildnerischen Darstellung des Schönen auch in Lessings Laokoon bezeichnet: Zeuxis malte eine Helena, und hatte das Herz, jene berühmten Zeilen des Homers, in welchen die entzückten Greise ihre Empfindung bekennen, darunter zu setzen. Nie sind Malerei und Poesie in einen gleichern Wettstreit gezogen worden. Der Sieg blieb unentschieden, und beide verdienten gekrönet zu werden. Denn so wie der weise Dichter uns die Schönheit, die er nach ihren Bestandteilen nicht schildern zu können fühlte, bloß in ihrer Wirkung zeigte: so zeigte der nicht minder weise Maler uns die Schönheit nach nichts als ihren Bestandteilen, und hielt es seiner Kunst für unanständig, zu irgend einem andern Hülfsmittel Zuflucht zu nehmen. Sein Gemälde bestand aus der einzigen Figur der Helena, die nackend da stand. Denn es ist wahrscheinlich, daß es eben die Helena war, welche er für die zu Crotona malte. (157)
Gegenüber Zeuxis¶ »nackend« da stehender Darstellung der Helena verhüllt Kauffmann allerdings nicht nur, was nach zeitgenössischem Geschmack zu verhüllen ist, sondern bricht die Aura der »einzigen Figur« durch die Thematisierung der künstlerischen Arbeit, die zu ihrer Herstellung führt. Zugleich zeigt die im Licht erstrahlende, im Zentrum der Darstellung bleibende Helena-Figur, was nach Lessing nur die bildende Kunst zeigen kann: ihre Schönheit. Als einen eigenen Diskussionsbeitrag zu den ihr als höchst belesener Künstlerin vermutlich nicht unbekannt gebliebenen Thesen Lessings 29 kann man Kauffmanns Darstellung insofern auffassen, als die Pose, die Zeuxis stellt, offensichtlich darauf abzielt, den ¾fruchtbaren Augenblick½ (auf den sich bekanntlich nach Lessing Malerei und Bildhauerkunst beschränkt sehen; vgl. 31f.) einer »Schönheit in Bewegung« einzufangen, mithin genau das als Absicht des Malers vorzuführen (und als Malerin des Malers darzustellen), was Lessing ausdrücklich der Dichtung vorbehält und aus der bildenden Kunst ausgeschlossen sehen möchte: Erhält dieser einzige Augenblick durch die Kunst eine unveränderliche Dauer: so muß er nichts ausdrücken, was sich nicht anders als transitorisch denken läßt. Alle Erscheinungen, zu deren Wesen wir es nach unsern Begriffen rechnen, daß sie plötzlich ausbrechen und plötzlich verschwinden, daß sie das, was sie sind, nur einen Augenblick sein können; alle
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weise auch Quintilian (vgl. Institutio oratoria VIII 4, 21) zum Beleg für das sprachliche Verfahren der Steigerung. Bettina Baumgärtel weist jedoch vor allem auf die Bedeutung Shaftesburys hin (siehe oben, Anm. 5), vgl. dies. (Hg.): Angelika Kauffmann. Ostfildern-Ruit 1998, S. 236. Helfrich Peter Sturz, der sich in Kauffmanns Londoner Atelier als Freund Friedrich Gottlieb Klopstocks einführte und zugleich ein genauer Leser des Laokoon gewesen ist, deutet im vierten Brief vom 15.9.1768 seiner Briefe, im Jahre 1768 auf einer Reise im Gefolge des Königs von Dänemark geschrieben die gelungene Wahl des dargestellten Augenblicks in Angelika Kauffmanns Gemälde Hektors Abschied von Andromache (1768) jedenfalls vor GHP +LQWHUJUXQG YRQ /HVVLQJV ¾VFKDUIVLQQLJHU½ $QDO\VH ªLP /DRFRRQ© +HOIULFK 3HWHU Sturz: Schriften. Erste Sammlung. Leipzig 1779, S. 32±37, hier S. 36).
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Joachim Jacob solche Erscheinungen, sie mögen angenehm oder schrecklich sein, erhalten durch die Verlängerung der Kunst ein so widernatürliches Ansehen, daß mit jeder wiederholten Erblickung der Eindruck schwächer wird, und uns endlich vor dem ganzen Gegenstande ekelt oder grauet. (32f.)
Abb. 1:
Angelika Kauffmann, Zeuxis komponiert das Bildnis der Helena (um 1775), Providence (Rhode Island), Annmary Brown Memorial Collection. Foto © Annmary Brown Memorial, Brown University Library, Providence.
Johann Gottfried Herder, der in der Diskussion mit Lessing die Einschränkung der bildenden Kunst auf das Intransitorische zurückweist, verlangt von dieser stattdessen die Darstellung einer »sich gleichsam ankündigende[n] Bewegung«.30 Kauffmanns Zeuxis komponiert das Bildnis der Helena löst diese Forderung in ihrem in mehrerer Hinsicht programmatischen Gemälde ein.31
30 31
Herder (Anm. 8), S. 138. Siehe eingehender zum reflexiven Charakter dieses Bildes vor allem auch als Manifest weiblicher Künstlerschaft Angela Rosenthal: Angelika Kauffmann. Bildnismalerei im 18. Jahrhundert. Berlin 1996, S. 40±51. Zu Kauffmanns Auseinandersetzung mit Formen narrativer Darstellung siehe am Beispiel des für die Schönheitsdiskussion ebenfalls einVFKOlJLJHQ¾$PRUXQG3V\FKH½-Mythos Christiane Holm: Amor und Psyche. Die Erfindung eines Mythos in Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur (1765±1840). München, Berlin 2006, S. 147±151.
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Lessing breitet im Anschluss an seine Empfehlung an die Dichter, sich »nirgends« auf »die umständlichere Schilderung« von »Schönheiten« einzulassen (145), im XX. Kapitel des Laokoon in gelehrter Fülle Beispiele gelungener und misslungener literarischer Versuche aus, Helenas Schönheit, ja Schönheit überhaupt, mit sprachlichen Mitteln evozieren zu wollen. Die Exempel aus byzantinischer Geschichtsschreibung, Vergils Aeneis,32 Anakreons, Lukians und Ariosts sollen dabei immer wieder nur die eine einzige Grundthese stützen. Sie wollen die Sprachkünstler zu einer literarästhetisch reflektierten Darstellungsökonomie erziehen und dazu anhalten, sich auf Reiz und Wirkung ihrer Gegenstände zu konzentrieren. Wenn Lessing, wie zitiert, als allgemeine Aufgabe der Kunst angegeben hatte, ihre Rezipienten in einen Zustand zu versetzen, in dem sie »die wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden glauben« (124), kann dies im Falle des Schönen in der Literatur nur über die doppelte Vermittlung der Darstellung von Eindrücken von Eindrücken erfolgen.
V. Lessing findet im Laokoon auf die Frage nach der Erfahrung der Schönheit bzw. der Erfahrbarkeit des Schönen in der Kunst gegen den Trend der zeitgenössischen philosophischen Ästhetik keine systematische Lösung, aber ihre Problematisierung hat System. Gerade weil Schönheit nach Lessings Intuition literarisch nicht einfach zu repräsentieren, sondern im Gegenteil besonders schwer ¾täuschend½ zu vergegenwärtigen ist, führt die Reflexion ihrer Darstellbarkeit auf Elemente einer systematisch aus ihren Darstellungsbedingungen begründbaren literarischen Ästhetik. Dass Lessing hier weder das erste, noch das letzte Wort gesprochen hat, ist klar. Es lag vielleicht auch nicht in seiner Absicht; 1776 notiert er: »Ich denke nur zu meiner eigenen Belehrung. Befriedigen mich meine Gedanken am Ende: so zerreiße ich das Papier. Befriedigen sie mich nicht: so lasse ich es drucken. Wenn ich besser belehrt werde, nehme ich eine kleine Demütigung schon vorlieb.«33 Aber die inspirierende und provozierende Konsequenz seiner Thesen zeigt sich im Folgenden an der mit Herder beginnenden und danach in der literaturtheoretischen und ästhetischen Reflexion zum Thema nicht mehr abgerissenen Laokoon-Rezeption. Wenn Luca Giuliani in seiner Studie Bild und Mythos. Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst die Geschichte der ¾Bilderzählung½ mit Lessings Laokoon als eine Problemgeschichte begreift, in der eine narrative Darstellung im Medium des Bildes immer wieder auf bildspezifische Probleme gestoßen sei, die jeweils mit
32 33
ª$XFKVHLQH'LGRLVWLKPZHLWHUQLFKWVDOV¾SXOFKHUULPD'LGR½© Gotthold Ephraim Lessing: Über eine zeitige Aufgabe [...]. In: Ders.: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert u. a. Bd. 8: Theologiekritische Schriften III. Philosophische Schriften. Hg. von Helmut Göbel. München 1979, S. 548±556, hier S. 549.
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Joachim Jacob
eben solchen Mitteln gelöst werden mussten,34 so kann man analog auch die Geschichte literarischer Schönheit als eine Problemgeschichte begreifen, in der die literarische Darstellung auf unterschiedlichste Weise herausgefordert war, eigene, an ihrer eigenen Ästhetik orientierte Lösungen zu entwickeln. Weil die körperliche Schönheit nur ein besonderer, wenn auch ein mitunter hochgeschätzter Fall von Anschaubarem überhaupt ist, leitet das Schönheitsproblem, so wie es Lessing im Laokoon fasst, zum Problem literarischer Anschaulichkeit im Ganzen über. Dass es möglicherweise überhaupt nicht das Ziel von literarischen Texten sein kann, ¾Anschauung½ zu stiften, weil die Konzentrationskraft des menschlichen Einbildungsvermögens zu schwach sein könnte, aus der »Enumeration« von Teilvorstellungen ein ganzes ¾Bild½ erstehen zu lassen (144), wie Lessing meint ± dies ist eine noch sehr viel weitergehende Überlegung, die sich aus der Auseinandersetzung mit der Darstellung visibler Schönheit ableiten lässt und der sich etwa im 20. Jahrhundert die phänomenologische Erforschung der Gegenstandskonstitution im literarischen Kunstwerk und seiner Rezeption gestellt hat.35 Für die Seite der bildenden Kunst lässt sich aus Lessings im Laokoon vorgetragenen, zu häufig nur restriktiv verstandenen Analysen über das Dargelegte hinaus unter anderem schließen, dass sich ihre Gebilde überhaupt immer nur behelfsmäßig auf sprachlichem Wege veranschaulichen lassen. Für eine Abhandlung, die verspricht, dass ihre »Beispiele mehr nach der Quelle schmecken« werden als bei anderen, scheinen damit auch in dieser Hinsicht neue Maßstäbe auf, die sich schließlich gegen den Verfasser selbst wenden können. So urteilt der in der bildenden Kunst bewanderte Helfrich Peter Sturz unter der Decke des Lobes in einem häufiger zitierten Brief an den Verfasser des Laokoons ambivalent: [...] ein meisterhaftes Werk [...]. Man kann nicht schöner über die Kunst vernünfteln, Sie sind tief in das Heiligtum gedrungen, und das ferne von den Werken der Kunst, bloß durch ein richtiges Gefühl, durch ein mit Gelehrsamkeit genährtes Urteil, und den Ihnen eigenen Forsch-Geist welcher Sie auf allen Ihren Spaziergängen im Reiche der Wissenschaften begleitet. Was würden Sie nicht leisten wenn Sie in dem Palazzo Albani mit Winckelmann lebten?36
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Luca Giuliani: Bild und Mythos. Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst. München 2003, S. 24. Mit Rückgriff auf Lessing siehe z. B. Theodor A. Meyer: Das Stilgesetz der Poesie (1901). Mit einem Vorwort von Wolfgang Iser. Frankfurt am Main 1990. Des Weiteren verweise ich hier nur auf die Analysen Roman Ingardens: Das literarische Kunstwerk. Mit einem Anhang von den Funktionen der Sprache im Theaterschauspiel. 4. Auflage. Tübingen 1972, bes. S. 229ff.; ders.: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Hg. von Rolf Fieguth und Edward M. Swiderski. Tübingen 1997, bes. S. 105ff. Helfrich Peter Sturz an Gotthold Ephraim Lessing, 23.9.1767. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Bd. 11/1: Briefe von und an Lessing 1743±1770. Hg. von Helmuth Kiesel unter Mitwirkung von Georg Braungart und Klaus Fischer. Frankfurt am Main 1987, S. 477±481 (Nr. 390), hier S. 477.
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Angesichts von Lessings Ansprüchen ist das Kompliment, »nicht schöner über die Kunst vernünfteln« ]X N|QQHQ HLQ KDUWHU 6FKODJ 'DVV GLHV QDFK 6WXU]¶ Befund dem Umstand geschuldet war, dass Lessing sich »ferne von den Werken der Kunst« aufhalten musste, heißt nichts anderes, als dass »Gefühl« und »Gelehrsamkeit« die eigene Anschauung nicht ersetzen können und der Eindruck eines Kunstwerks nicht durch seine Repräsentation in einem anderen Medium substituierbar ist. Eben dies ist das leitende Argument des Laokoon.
Lothar van Laak Lothar van Laak »Seine vor sich selbst arbeitende Phantasie«. Zum Stellenwert der Einbildungskraft in Lessings Laokoon
»Seine vor sich selbst arbeitende Phantasie« »Seine vor sich selbst arbeitende Phantasie« Zum Stellenwert der Einbildungskraft in Lessings Laokoon
1. Geläufigerweise, und vielleicht allzu geläufig, gilt das 18. Jahrhundert als Jahrhundert der »Rehabilitation der Sinnlichkeit«, aber vor allem als Jahrhundert der Aufwertung der Einbildungskraft. Sie wird als das zentrale anthropologische Vermögen gesehen, das zwischen Verstand und Sinnlichkeit zu vermitteln vermag; und so zu vermitteln vermag, dass der Mensch als ¾ganzer Mensch½ wahrnehmbar und sich selbst umfassend erfahrbar wird. 1 Welches Konzept der Einbildungskraft liegt Lessings zentraler Abhandlung über den Laokoon2 zugrunde, welchen Stellenwert räumt er darin der Einbildungskraft ein und welche Perspektiven eröffnet dies für Lessings Ästhetik insgesamt? Antworten auf diese Fragen müssen in mehreren Schritten und sehr sorgfältig entwickelt werden. Denn Lessing benutzt neben dem Begriff der Einbildungskraft auch den Begriff der Phantasie, wie z. B. im Zitat des Titels dieses Beitrags,3 und den Begriff der Imagination. Dieser ist in der systematischen Debatte heute der gängigste Begriff in diesem Themenfeld, neben dem Begriff der Kreativität.4 Bevor sich Lessings Konzept der Einbildungskraft näher be1
2
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6LHKH]XU.RQ]HSWLRQGHV¾JDQ]HQ0HQVFKHQ½XQGGHU%HGHXWXQJLP.RQWH[WGHU6SlWDXfklärung den grundlegenden Sammelband: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart, Weimar (LQHQhEHUEOLFNEHUGLHQHXHUHQ'HEDWWHQ]XP¾JDQ]HQ0HQVFKHQ½ELHWHW$OH[Dnder Kosenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin 2008. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 5/2: Werke 1766±1769. Hg. von Wilfried Barner. Frankfurt am Main 1990, S. 11±321. Zitiert wird im Folgenden nach dieser Ausgabe mit Seitenangaben im laufenden Text. ± Die neueren Diskussionen zum Laokoon bezieht Friedrich Vollhardt im Nachwort seiner Neuedition intensiv mit ein (Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Studienausgabe. Hg. von Friedrich Vollhardt. Stuttgart 2012). Er betont auch die besondere Bedeutung der Einbildungskraft (ebd., S. 458±460) und rückt wieder stärker den Bezug auf Mendelssohn in den Blick (ebd., S. 461±466). Das Zitat findet sich in Abschnitt VI und ist im Blick auf Vergil formuliert (61f.). Zur genaueren Deutung im Kontext der Einbildungskraft siehe unten. Vgl. u. a. Thomas Dewender und Thomas Welt (Hgg.): Imagination, Fiktion, Kreation. Das kulturschaffende Vermögen der Phantasie. München u. a. 2007; Bernadette Malinowski: Theorien des Imaginären. Fragmente einer Geschichte der Einbildungskraft. In: Theorien
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stimmen lässt, ist also zu überprüfen, wie es sich zu den anderen Begriffen und Begriffsverwendungen verhält, wo es Bedeutungsüberschneidungen gibt und wo unterschiedliche Sprachverwendungen auf grundlegende begriffliche Unterschiede hinweisen. Festzuhalten bleibt dafür auch: In der Mitte des 18. Jahrhunderts bietet sich die konzept- wie problemgeschichtliche Situation, dass sich diese drei Begriffe bzw. Konzepte von Einbildungskraft, Imagination und Phantasie überlagern bzw. noch in einer wenig differenzierten Weise nebeneinander stehen. Erst gegen Ende des Jahrhunderts lassen sich mit den unterschiedlichen Begriffen auch andere Konzepte verbinden bzw. andere Perspektiven auf den Problemzusammenhang beschreiben.5
2. So gibt es z. B. in Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysica von 1739 noch eine nähere Bestimmung der Einbildungskraft, die eher von der Einbildung ausgeht und die verschiedenen Konzepte, nach denen bzw. mit denen die Einbildung erwirkt bzw. erfahren und wahrgenommen wird, nur nebeneinander reiht: § 557 Conscius sum status mei, hinc status mundi praeteriti [...]. Repraesentatio status mundi praeteriti, hinc status mei praeteriti, [...] est PHANTASMA (imaginatio, visum, visio). [Ich bin mir meines Zustands bewußt, und daher der Welt in der Vergangenheit. Die Vorstellung des Zustands der Welt in der Vergangenheit, daher des Zustands von mir in der Vergangenheit, ist eine EINBILDUNG (ein Gesicht, eine Vision).] 6
Dieses Nebeneinanderstellen von Phantasma und Phantasie, von Einbildung und Einbildungskraft findet sich ganz ähnlich auch in Baumgartens Bestimmung des Gedichts von 1735.7
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der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. 1. Hg. von Hans Vilmar Geppert und Hubert Zapf. Tübingen 2003, S. 51±88. Einen guten Überblick bietet: Jochen Schulte-Sasse: Art. »Einbildungskraft/Imagination«. In: Ästhetische Grundbegriffe. Hg. von Karlheinz Barck u.a., Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2001, S. 88±120; Art.: »Phantasie«. In: Ästhetische Grundbegriffe. Hg. von Karlheinz Barck u.a., Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2002, S. 778±798. Als jüngsten Beitrag zur Begriffsund damit implizierten Problemgeschichte siehe: Ulrich Dierse: »Einbildungskraft« im 17. und 18. Jahrhundert. In: Phantasie und Intuition in Philosophie und Wissenschaften. Historische und systematische Perspektiven. Hg. von Gudrun Kühne-Bertram und Hans Ulrich Lessing. Würzburg 2011, S. 12±48. Zit. nach dem Anhang in: Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik. Übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern hg. von Dagmar Mirbach. 2 Bde. Lateinischdeutsch. Hamburg 2007, S. 1080. Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes. Hg. von Heinz Paetzold. Hamburg 1993.
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In seinen Aesthetica von 1750, beschreibt Baumgarten dann bereits differenzierter, wie er die »dispositio naturalis ad imaginandum« begreift. Hier lösen sich Einbildungen und Einbildungskraft voneinander ab. Und Einbildungen in einem ästhetisch positiven Sinn werden nun unterschieden von Phantasmata, die in einem ästhetisch unbefriedigenden Sinn gedeutet werden. So heißt es in § 31 der Aesthetica über die Einbildungskraft: Die natürliche Veranlagung, sich etwas in der Einbildung vorzustellen [imaginandum], durch die der schöne Geist phantasievoll [euphantasíoton] sein möge, weil 1) oft vergangene Dinge schön gedacht werden müssen, 2) gegenwärtige Dinge oft schon vorher vergehen, bevor das schöne Denken derselben abgeschlossen ist, und weil 3) nicht allein aus gegenwärtigen, sondern auch aus vergangenen zukünftige Dinge erkannt werden. Damit die Einbildungskraft [imaginatio] je mit den übrigen Vermögen zusammenwirkt [conspiret], möge sie in einem schönen Geist in einem solchen Maße vorhanden sein, daß sie nicht immer und überall mit ihren Einbildungen [phantasmatibus] alle übrigen Empfindungen verdunkelt [obscuret], die als einzelne natürlicherweise schwächer sind als einzelne Einbildungen [imaginationibus]. Wenn man zur Einbildungskraft [phantasiam] auch die Gabe zu dichten [facultas fingendi] rechnet, wie dies bei den Alten geschah, dann besteht eine doppelte Notwendigkeit, daß sie in einem anmutigen Geist in höherem Maße vorhanden ist.8
Etwas zugespitzt: Phantasmata also tendieren dazu, zu obskur zu sein und dadurch Gefahr zu laufen, die Empfindungen zu verdunkeln. Demgegenüber sind Einbildungen, Imaginationen, die aus dem schönen und geistvollen Zusammenwirken mit den anderen Erkenntnisvermögen des felix aestheticus resultieren, reicher, stärker und klarer bzw. aufgeklarter (und aufgeklärter) als die einzelnen Empfindungen. Der ästhetische Prozess der Anreicherung und Aufklärung der Empfindungen hält diese aber als ästhetische, weiterverarbeitete und reflektierte perceptiones phantasievoll [euphantasíoton] bewusst. Die produktionsästhetische und d. h. genauer, die Rhetor-Qualität, die in der Figur des felix aestheticus liegt, ist auch dieses euphantasíoton-Sein. Dieser Begriff ist dem 6. Buch, 2.30, von Quintilians Institutio entlehnt.9 Das wirkungsästhetische und vor allem rhetorische Vermögen von Baumgartens felix aestheticus liegt in der phantasia, das er mit der antiken Bestimmung der Dichtungsgabe, der facultas fingendi, korreliert. Die imaginatio, im abstrahierenden Singular, ist dabei in gewisser Weise das Ideal, nach dem die Einbildungen »mit den übrigen Vermögen« ästhetisch gemäß zusammen erwirkt werden. ± Übrigens ein schönes Beispiel dafür, wie sehr Baumgartens Ästhetik rhetorisch
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Baumgarten: Ästhetik (Anm. 6), § 31, S. 29. Die lateinischen und griechischen Originalbegriffe Baumgartens sind in eckige Klammern gesetzt, um die folgende Argumentation am Text leichter nachvollziehbar zu machen. Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. 12 Bücher. Hg. und übers. von Helmut Rahn. 3. Auflage. Darmstadt 1995, I. Teil, S. 711.
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formatiert und konfektioniert ist, dann aber eben doch über eine nur rhetorische Argumentation hinauszureichen beginnt.10 Baumgarten leistet also eine Differenzierung von Einbildungen als Einzelphänomenen und von Einbildung als Möglichkeit, sie im ästhetischen Zusammenwirken mit den übrigen Vermögen zu erwirken. Er unterscheidet also Einbildungen und die Einbildungs-Kraft. Diese Auffassung der Einbildungskraft bei Baumgarten umfasst einerseits eine Dimension von imaginatio, als einem Erwirkungsvermögen im Vorstellungshaushalt, andererseits aber auch von phantasia als rhetorisch geprägtem Verständnis der Produktionslogik. Es ist hier schon fraglich, ob all diese Facetten und Aspekte so überein zu bringen sind, wie Baumgarten dies nahe legt. Kant wird später wirkmächtig in produktive und reproduktive Einbildungskraft unterscheiden. 11 Damit wird erstens die Grenze zwischen Phantasma und Einbildung noch verschärft. Zweitens wird sich dann die Imagination (als entscheidendes Vermögen der Einbildungskraft) von der phantasia abgrenzen, ja absetzen, soweit, dass sie für die Romantiker ± fast wie eine Ironie der Problemgeschichte ± als freier, von der rhetorischen Dimension ganz entledigter, Begriff wieder zur Verfügung steht und für die Freiheit des freien Spiels der Einbildungskraft stehen kann. 12 Damit wird die anthropologische Dimension, die der Begriff bei Kant noch hat (stärker übrigens noch bei Herder hat),13 ebenfalls ganz abgelegt zugunsten einer rein ästhetischen. Mit Baumgartens Begriffsunterscheidungen sind diese Entwicklungen im Prinzip alle schon angelegt, aber noch nicht entfaltet.
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Ausführlicher ist dies entwickelt in: Lothar van Laak: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 2003, S. 122±130. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. von Raymund Schmidt. Hamburg 1976. Wichtig ist u. a. § 24, B 152. Vgl. Caroline Welsch: Die Physiologie der Einbildungskraft um 1800. Zum Verhältnis von Physiologie und Autonomieästhetik bei Tieck und Novalis. In: Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800. Hg. von Maximilian Bergengruen und Roland Borgards. Würzburg 2001, S. 113±134; sowie ebenfalls zu Ludwig Tieck: Lothar van Laak: Selbstgefühl und literarische Imagination. Überlegungen zu einer Mediengeschichte der Einbildungskraft um 1800 (Goethe, Moritz, Tieck). In: Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. 5. Hg. von Günter Butzer und Hans Vilmar Geppert. Tübingen, Basel 2010, S. 217±233. Vgl. hierzu die Hinweise in: Hans Adler: Fundus Animae ± der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung. In: DVS 62 (1988), S. 197±220. Siehe auch: Ders.: Ästhetische und anästhetische Wissenschaft. Kants Herder-Kritik als Dokument moderner Paradigmenkonkurrenz. In: DVS 68 (1994), S. 66±76. Siehe auch: Wolfgang Düsing: Wandlungen des Literaturbegriffs in der Laokoon-Debatte zwischen Lessing und Herder. In: Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Hg. von Peter-André Alt u. a. Würzburg 2002, S. 63±78.
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3. Dass auch Lessing im Laokoon alle drei Begriffe und Konzepte verwendet, lässt sich mit dem an Baumgarten skizzierten begriffsgeschichtlichen und konzeptuellen Problemstand um 1750 parallel sehen. Nach dessen Problematisierung gibt es aber umso mehr Anlass, Lessings Konzept genauer in den Blick zu nehmen. Denn das konkrete Zusammenspiel der einzelnen Vorstellungen in Lessings Konzeption der Einbildungskraft und die weiteren Verknüpfungen, die er zu ihr herstellt, sind überaus aufschlussreich. Die zentralen Textstellen, an denen im Laokoon von Einbildungskraft, Einbildung, Phantasie und Imagination die Rede ist, sind die Abschnitte III (vom fruchtbaren Augenblick) und VI (über die Nachahmung der Literatur durch die Bildenden Künstler oder umgekehrt und damit den Paragone von Literatur und Kunst und das Problem der Mimesis), zwei sehr entscheidende Passagen der ganzen Abhandlung, sowie dann auch noch die Abschnitte XII, XIV, XVIII und XX. Zu ihnen allen legt der Kommentar Wilfried Barners folgende Spuren, denen es nachzugehen lohnt:14 In Abschnitt III werde Phantasie »[h]ier offenbar zunächst gleichbedeutend [...] mit ¾Einbildungskraft½ verwendet, auf den Betrachter (und nicht primär auf den Künstler) bezogen« (748). In Abschnitt VI, in dem am dichtesten und über mehrere Seiten von Phantasie, Einbildung und Einbildungskraft die Rede ist, wird Lessings Auffassung der Phantasie ± im Blick auf das Zitat im Titel dieses Beitrags ± so bestimmt: »Hier deutlich [als] die des Dichters [Vergil], im Gegensatz zur ¾Einbildungskraft½, die in den vorangehenden Absätzen auf den Zuschauer oder Leser bezogen wird.« (769) Phantasie und Einbildungskraft werden damit also plötzlich von Lessing höchst divergent verwendet. In einer Anmerkung zu einer Textstelle des gleichen Abschnitts, in dem Lessing das Problem des Schönen verhandelt, wird eine »[r]ezeptionsästhetische(n) Verlagerung des ¾Schönen½ in die Einbildungskraft des Zuschauers« (767) gesehen. Damit entsteht der Eindruck, die Phantasie sei (nur) eine produktionsästhetische Kategorie, nach der der Dichter seine rhetorische Phantasie ¾vor sich hin arbeiten½ lasse. Die Einbildungskraft hingegen sei die rezeptionsästhetische Kategorie, die die ästhetischen Wahrnehmungen adäquat aufnehmen und verarbeiten lasse. Dem widerspricht aber ganz klar eine Formulierung Lessings in Abschnitt XII, die der Kommentar gänzlich übergeht. Denn hier heißt es bei Lessing nun über die Einbildungskraft gleichermaßen von Produktions- und Rezeptionsseite her gedacht: so gehet bei dem Dichter [Homer] dieser ganze Kampf unsichtbar vor, und diese Unsichtbarkeit erlaubet der Einbildungskraft die Scene zu erweitern, und läßt ihr freies Spiel, sich
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Der folgenden Kommentierung des Kommentars ist vor allem an der Differenzierung der herausgearbeiteten Problemlage gelegen.
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Lothar van Laak die Personen der Götter und ihre Handlungen so groß, und über das gemeine Menschliche so weit erhaben zu denken, als sie nur immer will. (103)
Das aber macht nur dann einen Sinn, wenn auch der Dichter über die Einbildungskraft verfügen kann ± und gestaltend verfügt. In Abschnitt XIV, in dem es um die für Lessing problematische Redeweise vom poetischen Gemälde geht, grenzt Lessing in einer gelehrten Anmerkung im Blick auf Longin und auf das enargeia-Konzept das Gemälde und seine Wirkung ab von der antiken Rede von den Phantasieen: »Poetische Phantasieen würde kein Mensch so leicht den Schranken eines materiellen Gemäldes unterworfen haben; aber sobald man die Phantasieen poetische Gemälde nannte, so war der Grund zur Verführung gelegt.« (114) Dies so zu kommentieren, dass in der antiken Vorstellung von Vorstellung, phantasia, der Inhalt der Vorstellung dominiere, »nicht ± wie dann vor allem seit der Romantik ± die Fähigkeit dazu« (796), heißt dann aber auch, dass Phantasie in diesem Kontext bei Lessing eher als Einbildung, nicht als Einbildungskraft, nicht als Imagination gesehen wird. Demnach würde der Dichter, wenn er seine Phantasie so ¾vor sich hinarbeiten½ lässt, eher als rhetorischer Dichter gedacht, der vom autonomieästhetischen Postulat Kants, Schillers und der Romantiker, aber auch problemgeschichtlich von diesen sehr weit entfernt anzusehen wäre. Problemgeschichtlich aber ist die Nähe tatsächlich größer, als es eine autonomieästhetisch-moderne Position für sich beansprucht ± oder diese rhetorischer, Rhetorik-näher, als sie es wahrhaben will.15 Die Heterogenität der Begriffsverwendung bei Lessing bzw. deren Ausdeutung im Kommentar Barners werden aber noch unübersichtlicher, wenn in Abschnitt XVIII des Laokoon nun auch noch der dritte Begriff des Begriffsfeldes Verwendung findet und von der Imagination die Rede ist. Lessing verwendet sie nicht im Sinne von Einbildungskraft, sondern von Phantasie: Mehrere Teile oder Dinge, die ich notwendig in der Natur auf einmal übersehen muß, wenn sie ein Ganzes hervorbringen sollen, dem Leser nach und nach zuzählen, um ihm dadurch ein Bild von dem Ganzen machen zu wollen: heißt ein Eingriff des Dichters in das Gebiete des Malers, wobei der Dichter viel Imagination ohne allen Nutzen verschwendet. (130)
Imagination in Beziehung »[z]u lat. imaginatio ¾Einbildungskraft½, ¾Vorstellungskraft½ [...], hier zunächst auf den Dichter bezogen« (808), zu setzen, spräche dann entweder für eine nochmalige Verschiebung in Lessings Argumentation vom Rezipienten wieder zurück zum Produzenten bzw. ± wieder ± für eine synonyme Verwendung von Einbildungskraft, Phantasie und Imagination. Schließlich eine letzte Stelle, aus Abschnitt XX, zur Wirkung der Schönheit in der Einbildung, der Imaginationsleistung der Dichtung:
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Zur Vorgeschichte dieser überaus komplexen Prozesse vgl. Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004.
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Der Dichter der die Elemente der Schönheit nur nach einander zeigen könnte, enthält sich daher der Schilderung körperlicher Schönheit, als Schönheit, gänzlich. Er fühlt es, daß diese Elemente nach einander geordnet, unmöglich die Wirkung haben können, die sie, neben einander geordnet, haben; daß der concentrierende Blick, den wir nach ihrer Enumeration auf sie zugleich zurück senden wollen, uns doch kein übereinstimmendes Bild gewähret; daß es über die menschliche Einbildung gehet, sich vorzustellen, was dieser Mund, und diese Nase, und diese Augen zusammen für einen Effect haben, wenn man sich nicht aus der Natur oder Kunst einer ähnlichen Composition erinnern kann. (144f.)
Wenn Einbildung hier als »rezeptive Einbildungskraft« (817) bestimmt und auf die anderen Stellen des Kommentars verwiesen wird, wird nachgerade überspielt, dass an diesen anderen Stellen die Einbildungskraft mehr und mehr von der Produktion in Richtung des Prozesses der Rezeption verschoben wird, während die mehr oder minder vor allem noch rhetorisch gefasste Phantasie dem Dichter zugesprochen worden ist. Zusammenfassend lassen sich daraus zwei Tendenzen des Kommentars von Barner ableiten: Erstens verschiebt sich die Argumentationslogik von einer produktionsästhetischen zu einer rezeptionsästhetischen Bestimmung der Imagination, und zwar von der Phantasie des vorwiegend rhetorisch verstandenen Dichters hin zur Einbildungskraft des Rezipienten.16 Deren Höhe kann, nach diesem Modell, auch der Dichter quasi wieder erreichen, wenn er selbst zum Rezipienten der Leistungen der Einbildungskraft wird. Die Einbildungskraft wird damit zum doppelten Fluchtpunkt der ästhetischen Erfahrung, vom Rezipienten, aber eben auch vom Produzenten aus. Die zweite Tendenz dieser Verschiebung der Argumentationslogik hat aber auch zwei nicht unproblematische Aspekte. Denn entweder fehlt Lessing die Schärfe in seiner Begriffsverwendung, wenn er je nach argumentativem Bedarf oder je vollzogener Volte mal von Phantasie, mal von Einbildung, mal von Einbildungkraft und mal von Imagination spricht. Oder, noch gravierender, Lessing fällt hinter seine eigenen Begriffsbestimmungen zurück, die er ja früh in Abschnitt III, und hinter seine Begriffsdifferenzierung, die er in Abschnitt VI leistet. In der Tat also nicht nur »unordentliche Collectanea«, sondern auch noch unstimmige!
4. In Anlehnung an das von Baumgarten Entwickelte und in Differenz zu Barners Lessingdeutung könnte man aber den ganzen Prozess hin zur Rezeptionsperspektive als eine Entrhetorisierung der Phantasie auffassen, und zwar genauer: als eine Entrhetorisierung der Phantasie, die dazu führt, vielleicht sogar von Lessing auch ganz gewollt dazu führen soll, die Imagination ± im Sinne von 16
Diese Perspektive findet sich auch schon in der älteren Gesamtdeutung Lessings in: Wilfried Barner u. a.: Lessing. Epoche ± Werk ± Wirkung. 5., neubearb. Auflage. München 1987.
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Einbildungskraft ± als anthropologisches Vermögen freizulegen und dabei zugleich als ästhetische Grundstruktur freizusetzen. Blicken wir also noch einmal genauer auf diese beiden Abschnitte. Über den »fruchtbaren Augenblick« sagt Lessing in Abschnitt III:17 »Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt.« (32) Diese Bestimmung leuchtet ein. Über die folgende Staffel kann man sich aber auch wundern, wenn man sie nicht nur als Erläuterung des vorherigen Satzes versteht, die die Dynamik des freien Spiels nur veranschaulicht. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben. [...] dem Auge das Äußerste zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden, und sie nötigen, da sie über den sinnlichen Eindruck nicht hinaus kann, sich unter ihm mit schwächern Bildern zu beschäftigen, über die sie die sichtbare Fülle des Ausdrucks als ihre Grenze scheuet. (32)
Lessing baut hier eine Staffel vom Sehen über das Denken hin zum Glauben des Sehens, und das ist die sich selbst glaub-würdig machende Einbildung: Phantasma bzw. Phantasie im alten Wortsinn oder auch visio, visum, die bzw. das zur Einbildung, imaginatio, wird, dabei als transparent auf die Sinnlichkeit zu sehen ist und sie zugleich als ästhetische perceptio reflektiert. Wir gelangen also von der Phantasie über die Reflexion zur Schau, von ihr aber auch wieder zurück zu anderen Bildern, die schwächer sein müssen, aber doch weitere Stärke ermöglichen sollen, die in der Fülle des Ausdrucks gesehen wird.18 Glaub-würdig werden diese anderen Bilder durch die Verbindung von Freiheit der Einbildungskraft und der Einschränkung, durch die »die sichtbare Fülle des Ausdrucks« nicht mehr als Begrenzung erfahren, sondern als Möglichkeit gesehen, erahnt, vielleicht sogar diviniert werden kann, dialektische Bilder. So wird der prägnante Augenblick zum Augenblick, der sich noch entfaltet, der geboren werden und in die Welt hinein treten kann. Es ist nicht der äußerste Augenblick, sondern der Augenblick davor, den man sich verwirklichen sieht. Er verwirklicht sich im freien Spiel der Einbildungskraft. Mit der Orientierung am fruchtbaren Augenblick wird der Rezipient mit in die Verantwortung genommen, um das Kunstwerk imaginativ zu vervollkommnen. Das ist das besondere Potenzial, das in diesem Augenblick liegt: Dass der Mensch das Kunstwerk erst zu einem ¾ganzen½ Kunstwerk macht und dass das Kunstwerk wiederum dem Menschen Potenziale bereitstellt, sich als Mensch ganz zu verwirklichen, indem es seine Einbildungskraft in Tätigkeit setzt. Lessing sieht das ähnlich rhetorisch und technisch wie Baumgarten. Aber das Moment der Entrhetorisierung der Phantasie zeigt sich dabei als ästhetische Anthropologisierung der Einbildungskraft. Schiller wird das dann ganz emphatisch entfalten und für seine ästhetische Konzeption nutzbar machen. 17 18
Siehe zur Deutung dieser Konzeption auch Friedrich Vollhardt im Nachwort zu seiner Laokoon-Edition (Anm. 2), insbesondere S. 459±461. Die Fülle, d. h. der Reichtum, die ubertas, ist auch eine zentrale und zu wenig beachtete Kategorie der Ästhetik Baumgartens.
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Wenn Lessing die freigesetzte und in die allgemein anthropologisch gedachte Rezeption entlassene Imagination (Einbildungskraft) im Abschnitt VI des Laokoon erneut in den dichterischen Prozess hineinzieht ± und als solche argumentative re-entry-Figur lässt sich der Abschnitt grundsätzlich deuten ±, ist es in der Tat sinnvoll, ja zwangsläufig, zwischen Phantasie und Einbildungskraft zu unterscheiden und dann dabei von der Einbildungskraft aus zu denken. Das Resultat davon ist aber nun noch viel gravierender. Denn aus dem besonderen Stellenwert, den die Einbildungskraft in der Argumentation erhält, mit den skizzierten Weiterungen und wirklich bedeutenden Konsequenzen, wird nun, wenn man es genau nimmt, sogar die fundierende Position für Lessings weitere Argumentation der Abgrenzung der Künste, ihrer zeichentheoretischen Bestimmung und der Aufwertung der Poesie gegenüber der Malerei. So heißt es in Abschnitt VI: Man ist geneigt diese Einschränkung [daß eine gute poetische Schilderung auch ein gutes wirkliches Gemälde geben müsse, und daß der Dichter nur in so weit gut geschildert habe, als ihm der Artist in allen Zügen folgen könne] zu vermuten, noch ehe man sie durch Beispiele erhärtet sieht; bloß aus Erwägung der weitern Sphäre der Poesie, aus dem unendlichen Felde unserer Einbildungskraft, aus der Geistigkeit ihrer Bilder, die in größter Menge und Mannigfaltigkeit neben einander stehen können, ohne daß eines das andere deckt oder schändet, wie es wohl die Dinge selbst, oder die natürlichen Zeichen derselben in den engen Schranken des Raumes oder der Zeit tun würden. (60f.)
Der besondere Bild-Charakter in der Einbildungskraft, mit der »Geistigkeit ihrer Bilder« erscheint hier als argumentatives Fundament für die Auszeichnung der willkürlichen Zeichen, als Super-Zeichen analog dem Bild der Einbildung, der imaginatio, bei Baumgarten, aber mit Folgerungen, die dieser noch nicht zieht, weil er von der Rhetor-Position des felix aestheticus her denkt. Bei Lessing wird der Prozess von den Zeichen her gedacht ± Zeichen, die nicht nur den Raum, sondern auch die Zeit überschreiten. Die Poesie ist im Blick auf sie der fruchtbare Moment, Augen-Blick, der die Geistigkeit der Bilder in der Imagination zur Entfaltung bringt. Die sinnlichen und sinnreichen, die phantasievollen Bilder der poetischen Einbildungskraft sind also die Grundstrukturen, die die wahre Fülle des Ausdrucks erschließen, indem sie die Formen des Ausdrucks bereitstellen, begrenzen, im Wortsinn formieren und formatieren. Die poetische Einbildungskraft wird so zum Medium, das die Grenzen der Dinge und der natürlichen Zeichen, die Schranken von Raum und Zeit überwindet.
5. Lessing teilt den neuen Primat der Kunst über die Natur; wie Winckelmann geht er an diesem Punkt über Baumgarten und dessen »dispositio naturalis ad imaginandum« hinaus.
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Doch muss man zu dieser Formulierung aus dem Laokoon eine Formulierung aus der Hamburgischen Dramaturgie hinzunehmen. Dort sagt Lessing im 70. Stück, vom 1.1.1768: In der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, alles verändert sich eines in das andere. Aber nach dieser unendlichen Mannigfaltigkeit ist sie nur ein Schauspiel für einen unendlichen Geist. Um endliche Geister an dem Genusse desselben Anteil nehmen zu lassen, mußten diese das Vermögen erhalten, ihr Schranken zu geben, die sie nicht hat; das Vermögen abzusondern und ihre Aufmerksamkeit nach Gutdünken lenken zu können. Dieses Vermögen üben wir in allen Augenblicken des Lebens; ohne dasselbe würde es für uns gar kein Leben geben; wir würden vor allzuverschiedenen Empfindungen nichts empfinden; wir würden ein beständiger Raub des gegenwärtigen Eindruckes sein; wir würden träumen, ohne zu wissen, was wir träumten.19
Das göttliche Vermögen der absoluten Weltsicht wird anthropologisiert im Vermögen des Segmentierens von Wahrnehmung, der Schulung der Aufmerksamkeit. Durch sie können wir träumen und zugleich wissen, dass und was wir träumen. Dieses Vermögen aber kann nur die Einbildungskraft selbst sein. Und ihr Ort nur die Kunst. So heißt es weiter: Die Bestimmung der Kunst ist, uns in dem Reiche des Schönen dieser Absonderung zu überheben, uns die Fixierung unserer Aufmerksamkeit zu erleichtern. Alles, was wir in der Natur von einem Gegenstande, oder einer Verbindung verschiedener Gegenstände, es sei der Zeit oder dem Raume nach, in unsern Gedanken absondern, oder absondern zu können wünschen, sondert sie wirklich ab und gewährt uns diesen Gegenstand, oder diese Verbindung verschiedener Gegenstände, so lauter und bündig, als es nur immer die Empfindung, die sie erregen sollen, verstattet.20
Interessant ist hier nicht zuletzt die Einbeziehung und Reflexion der Empfindung. Während sie in Baumgartens Konzeption Gefahr läuft, obskur zu bleiben oder gemacht zu werden, wenn der felix aestheticus sie nicht in Bilder der ästhetischen Imagination transformiert, wird die Empfindung bei Lessing zum anthropologischen Richtmaß, das das Spiel der Einbildungskraft »verstattet«. Die Empfindung ± und wir haben im Mitleid das Muster dieser Empfindung zu sehen ± macht den Menschen aber zugleich auch durch das Maß der Kunst zum höheren, geistreichen Naturwesen, das die Fülle der Welt in ihren Bildern anzuschauen vermag. Hier wird dann schließlich eine allerletzte Valenz deutlich, die in das nun so unproblematisch wirkende Titelzitat von der »vor sich selbst arbeitende[n] Phantasie« hinein scheint: Die Teilhabe an dem quasi-göttlich anmutenden, enthusiastischen Bildprozess der Einbildungskraft sieht nicht nur vom Produzenten als Dichter-Rhetor ab, ist nicht nur eine Entrhetorisierung der Phantasie. Es ist eine prozessuale, mediale Freisetzung der Imagination, die ¾vor sich selbst½ 19 20
Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. Hg. von Kurt Wölfel. Frankfurt am Main 1986, S. 333. Ebd.
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wirkt, kreatives Arbeiten an sich und für sich selbst ist, an dem die Rezipienten mit ihrem anthropologischen Vermögen der Einbildungskraft auch wiederum teilhaben können. Das ist eine Konzeption, die nicht nur die Rezeption aufwertet und in den Vordergrund rückt. Das ist nun anthropologische Selbstbestimmung des Menschen und Auffindung wie Freilegung einer elementaren ästhetischen Struktur in und durch die Einbildungskraft als dem ausgezeichneten Medium des Menschen.
Elisabeth Décultot Elisabeth Décultot Winckelmann neu gelesen. Zu Lessings polemischer Lektüre der Gedancken über die Nachahmung und der Geschichte der Kunst des Alterthums
Winckelmann neu gelesen Winckelmann neu gelesen Zu Lessings polemischer Lektüre der Gedancken über die Nachahmung und der Geschichte der Kunst des Alterthums
Allem Anschein nach gehört die Auseinandersetzung mit Winckelmanns Schriften zu den Grundmotiven, ja zu den eigentlichen Anlässen von Lessings Laokoon, wie es zahlreiche Leser und Interpreten seit der Erscheinung des Textes festgestellt haben.1 Schon die Struktur der Abhandlung weist auf diese Schlüsselstellung hin. Eingehend werden Winckelmanns Texte im ersten und in den letzten Kapiteln der in ihrem unvollendeten Zustand veröffentlichten Schrift untersucht, was der Figur des deutsch-römischen Antiquars eine regelrecht umrahmende Dimension in Lessings Abhandlung verleiht. Dabei fällt der trotz aller Respektbekundungen polemische Ton dieser Auseinandersetzung auf. Unter den zahlreichen Punkten, an denen Lessing seine Differenz zu Winckelmann deutlich zu machen versucht, nehmen drei Themen eine herausragende Stelle ein. Zunächst einmal geht es um die kunsttheoretische Frage der Abtrennung von Poesie und Malerei, die am Beispiel von Winckelmanns Besprechung des Laokoon in den Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke eingeleitet wird. Winckelmann habe als Anhänger der traditionellen horazischen Formel »Ut pictura poesis« die beiden Gattungen der Poesie und der Malerei irrtümlich vermengt, was dazu geführt habe, dass er die plastische Figur des Laokoon, wie sie im Cortile des Belvedere in Rom zu sehen war, etwa mit der poetischen Figur des Laokoon in Vergils Aeneis (2, 222) oder mit Sophokles¶ leidendem Philoktet ohne weiteres vergleiche. Aus dieser Differenz in der Re1
Walther Rehm: Winckelmann und Lessing. Vortrag gehalten am 9. Dezember 1940 zum 100. Winckelmannsfest der Archäologischen Gesellschaft zu Berlin. Berlin 1941 (wiederabgedruckt in: Walther Rehm: Götterstille und Göttertrauer. Aufsätze zur deutsch-antiken Begegnung. Bern 1951, S. 183±201); Wilfried Barner, Gunter E. Grimm, Helmuth Kiesel und Martin Kramer: Lessing: Epoche ± Werk ± Wirkung. 6. Auflage. München 1998 (erste Auflage: München 1975), S. 235±247; Hugh Barr Nisbet: Laocoon in Germany: The Reception of the Group since Winckelmann. In: Oxford German Studies 10 (1979), S. 22±63; Thomas Höhle: Anschauung und Begriff oder Wirkung ohne Gegenwirkung. Anmerkungen zum Thema »Lessing und Winckelmann«. In: Winckelmanns Wirkung auf seine Zeit: Lessing ± Herder ± Heyne. Hg. Jürgen Kraeff. Stendal 1988 (Schriften der WinckelmannGesellschaft 7), S. 7±27 (erste Auflage: Halle 1980); Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben ± Werk ± Wirkung. 3. Auflage. Stuttgart, Weimar 2010 (erste Auflage: Stuttgart, Weimar 2000), S. 257±288, vor allem S. 259f.
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flexion über die mediale Beschaffenheit der Künste leitet Lessing eine weitere ab. Nicht wegen seiner Fähigkeit, die Sensibilität für das körperliche Leiden zu überwinden, also nicht wegen der »Stärke seines Geistes«, um Winckelmanns Worte wiederaufzunehmen, enthalte sich Laokoon des Schreiens, sondern wegen der Gesetze der Bildhauerei selbst. Das Schreien, das Winckelmann der leidenden Vaterfigur der Laokoon-Gruppe abspricht, sei »der natürliche Ausdruck des körperlichen Schmerzes« und die Sensibilität für diesen Schmerz eine hervorragende Eigenschaft des griechischen Menschen.2 Nur weil die bildenden Künste die Darstellung von paroxystischen Momenten nicht zulassen würden, hätten die Urheber der Gruppe dem Laokoon das Schreien untersagt. Zur Untersuchung dieser Differenzen stützt sich Lessing im ersten Kapitel seiner Schrift einzig auf die 1755 erschienene Schrift der Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Malerei und Bildhauerkunst und sieht von der ± in einigen wichtigen Punkten überarbeiteten ± Laokoon-Beschreibung ab, die Winckelmann in seiner Geschichte der Kunst des Alterthums etwa neun Jahre später publizierte. Erst in den letzten Kapiteln seiner Schrift kommt er dazu, das laut Titelblatt auf 1764 datierte, aber eigentlich schon Ende 1763 erschienene Geschichtswerk Winckelmanns zu besprechen, das ihm den Stoff zum dritten Hauptstreitpunkt bietet: Wann wurde die Laokoon-Gruppe hergestellt? Seit der Wiederentdeckung der Skulptur in Rom im Jahre 1506 war diese Frage eifrig debattiert worden und hatte immer noch keine endgültige Antwort bekommen. 3 Mit der sukzessiven Besprechung dieser beiden Schriften wird Winckelmann in seiner Eigenschaft als Kunsttheoretiker und als Kunsthistoriker kritisch kommentiert, wobei zu bemerken ist, dass der abschließende Kommentar der Geschichte der Kunst viel weniger scharf ausfällt als die anfängliche Besprechung der Gedancken über die Nachahmung. Damit spielt für Lessing die Orientierung an Winckelmanns Figur nicht nur theoretisch, sondern auch wissenschaftsstrategisch eine bedeutende Rolle. Seit der Erstausgabe der Gedancken über die Nachahmung, die schon 1756 in einer erweiterten Fassung neu aufgelegt wurden und über die sogleich erschienenen französischen Übersetzungen großen Widerhall in ganz Europa fanden,4 erfreute sich die Altertumskunde und ganz 2
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Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985±2003 (im Folgenden zitiert als FA für ¾Frankfurter Ausgabe½ mit Band- und Seitenzahl), hier Bd. 5/2, S. 19. Salvatore Settis: Laocoonte. Fama e stile, con un apparato documentario di Sonia Maffei. Rom 1999; Le Laocoon. Histoire et réception. Hg. von Élisabeth Décultot, Jacques Le Rider und François Queyrel. Paris 2003 (Revue Germanique Internationale19). Johann Joachim Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst. Erste Auflage: Friedrichstadt 1755. In: J. J. Winckelmann: Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe. Hg. von Walther Rehm, unter Mitwirkung von Hellmut Sichtermann. Berlin 1968, S. 27±59; 2. vermehrte Auflage: Dresden/Leipzig 1756, ebd. S. 60±144 (für die Zusätze). Zu den frühen französischen Übersetzungen: J. J. Winckelmann: Pensées sur l¶imitation des Grecs dans les ouvrages de peinture et de sculpture. In: Nouvelle bibliothèque germanique 17, Amsterdam, Okt.±Dez. 1755, S. 302±329; 18, Amsterdam, Jan.±März 1756, S. 72±100; Réflexions sur l¶LPLWDWLRQ des ouvrages des Grecs en fait de peinture et de sculpture. In: Journal étranger. Paris, Jan.
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speziell die Untersuchung der antiken Kunst eines wachsenden Interesses beim deutschen Publikum. Nachdem er sich als Theaterschriftsteller und Literaturkritiker bekannt gemacht hatte, wollte Lessing nun auch auf diesem Gebiet seine Kompetenz beweisen und damit den alten Streit zwischen einer auf den Texten und einer auf den (Kunst)-Gegenständen beruhenden Wissenschaft um eine neue Episode bereichern. Der Laokoon-Aufsatz ist der Auftakt zu einer Reihe von Schriften, die ± vor allem mit den Briefen, antiquarischen Inhalts (1768± 69) und der Schrift Wie die Alten den Tod gebildet (1769) ± sein Interesse für dieses neue Betätigungsfeld dokumentieren. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es nun nicht, die Genese und Entwicklung von Lessings Position zu Winckelmann innerhalb des Lessingschen Werkes selbst nachzuvollziehen, was in der Lessing-Forschung seit der Ausgabe von Hugo Blümner bis hin zu Wilfried Barners Edition schon ausführlich gemacht wurde.5 Es geht vielmehr darum, die Stichhaltigkeit der Lessingschen Winckelmann-Kritik an den Texten Winckelmanns selbst zu erproben. Wie hat sich Winckelmann zum Ut pictura poesis-Prinzip eigentlich verhalten? Welche Rolle spielen für ihn Ausdruck und Fühlen? Zu welchem Schluss kommt er in der Datierung der Laokoon-Gruppe? Damit soll nicht nur Winckelmanns kunsttheoretische und -historische Position beleuchtet, sondern auch Lessings Strategie als Leser und Polemiker näher umrissen werden.
Winckelmann und das Ut pictura poesis-Prinzip Dass Winckelmann ein prominenter Vertreter der Konfusion von Dichtung und bildender Kunst ist, will Lessing im ersten Kapitel seiner Schrift darin sehen, dass er in den Gedancken über die Nachahmung einen Vergleich zwischen dem plastischen Laokoon und zwei dichterischen Figuren aufstellt, nämlich Vergils Laokoon und Sophokles¶ Philoktet.6 Dieser Vorwurf, der eher in der Form einer indirekten Unterstellung formuliert wird, muss zunächst einmal vor dem Hintergrund von Winckelmanns Text näher untersucht werden. Winckelmann hatte behauptet, dass die plastische Figur des Laokoons im Gegensatz zu Vergils Laokoon nicht schreie. »Er erhebet kein schreckliches Geschrey, wie Virgil von
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1756, S. 104±163. Es erschienen weitere französische Übersetzungen der Gedancken über die Nachahmung: Réflexions sur l¶imitation des artistes grecs dans la peinture et la sculpture. In: Gazette littéraire de l¶(XURSH'H]S. 114±121; 4, Feb. 1765, S. 209±231 und S. 365±379; 5, März 1765, S. 105±121; Réflexions sur l¶LPLWDWLRQ GHV DUWLVWHV JUHFV dans la peinture et la sculpture. In: J. J. Winckelmann: Recueil de différentes pièces sur les arts. Paris 1786, S. 1±62. Hugo Blümner: Einleitung. In: Lessings Laokoon. Zweite verbesserte und vermehrte Auflage. Hg. von Hugo Blümner. Berlin 1880 (erste Auflage: Berlin 1876), S. 1±140; FA 5/2, S. 207±321 (Paralipomena), S. 627±916 (Kommentar). FA 5/2, S. 18: »Ich bekenne, daß der mißbillingende Seitenblick, welchen er [= Winckelmann] auf den Virgil wirft, mich zuerst stutzig gemacht hat; und nächst dem die Vergleichung mit dem Philoktet«.
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seinem Laokoon singet«, hebt er in deutlicher Abgrenzung von Vergils Versen hervor: »Clamores simul horrendos ad sidera tollit« (Aeneis, 222, 2).7 Damit hatte Winckelmann also vielmehr eine Unähnlichkeit als eine Ähnlichkeit zwischen Plastik (Malerei) und Dichtung hervorgehoben ± was logisch betrachtet mit Lessings These durchaus vereinbar war. Aus dieser möglichen Nähe zu Winckelmann muss Lessing nun eine deutliche Opposition machen und legt im ersten Kapitel seiner Schrift deshalb den Akzent vielmehr auf Winckelmanns zweiten Vergleich, der diesmal in positiver Form eine Ähnlichkeit zwischen plastischem und dichterischem Medium formuliert, oder vielmehr nahelegt: »Laocoon leidet, aber er leidet wie des Sophocles Philoktetes«. 8 Allerdings war dieser positive Vergleich in seiner Beschaffenheit viel weniger aussagekräftig als der erste, denn hier wird die plastische Laokoon-Figur eben nicht mit ihrem exakten dichterischen Pendant ± Vergils Laokoon ± verglichen, sondern mit einer anderen tragischen Figur. Dass der erste negative Vergleich zwischen der plastischen Figur des Laokoon und Vergils dichterischer Gestalt als »mißbilligende[r] Seitenblick« auf Vergil nur beiläufig erwähnt9 und nicht weiter kommentiert wird, zeugt von Lessings offenkundiger Absicht, vor allem die Unterschiede zwischen seiner Position und derjenigen Winckelmanns hervorzuheben und dabei die möglichen Gemeinsamkeiten in den Hintergrund zu stellen. An dieser ersten Diskussion sieht man, welchen Aufwand an polemischer Kunst Lessing ausbreiten musste, um aus der Frage der vermeintlichen Konfusion von Poesie und Malerei den Ansatzpunkt seiner kritischen Auseinandersetzung mit Winckelmann zu machen. Denn eine Reflexion über die Stichhaltigkeit des Ut pictura poesis-Prinzips und über die mediale Abtrennung der Künste lag Winckelmann in seiner Erstlingsschrift fern und lässt sich in seinem gesamten Werk bis hin zu den Monumenti antichi inediti nur schwer nachvollziehen. Zwar wird man etliche Anspielungen auf Simonides¶ Bezeichnung der Malerei als stumme Poesie in einigen seiner Schriften finden können. So schreibt Winckelmann im ersten Kapitel seines Versuchs einer Allegorie, besonders für die Kunst vom Herbst 1766, dass »die Kunst, und vornehmlich die Mahlerey eine stumme Dichtkunst ist, wie Simonides sagt«, und dass sie deshalb »erdichtete Bilder haben« soll, »das ist, sie soll die Gedanken persönlich machen in Figuren«.10 Auf eine ähnliche Formel greift Winckelmann ein Jahr später im Trattato preliminare der Monumenti antichi inediti zurück.11 Solche topischen, ja fast sprichwörtlich anmutenden Formeln vertragen sich allerdings nicht schlecht mit Winckelmanns grundlegend idealistischer Auffassung der Entstehung von Kunstwerken. Einer platonisch gefärbten Tradition zufolge sieht Winckelmann den Ursprung aller Kunstwerke ± egal ob bildender oder dichterischer Art ± in der Vorstellung einer »Idee«, von ihm oft auch als »Vor7 8 9 10 11
Winckelmann: Gedancken (Anm. 4), S. 43. Ebd.; zitiert durch Lessing FA 5/2, S. 17. FA 5/2, S. 18. J. J. Winckelmann: Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst. Dresden 1766, S. 2. J. J. Winckelmann: Monumenti antichi inediti. 2 Bde. Rom 1767, Bd. 1, S. V.
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wurf« oder »Absicht« bezeichnet, die dem Künstler oder Dichter bei der Herstellung seines Werkes vorschwebe. Das Postulat dieser allen Künsten gemeinsamen Idee macht den Übergang von einem Kunstmedium zum anderen und damit auch deren Vergleichbarkeit möglich. So kann ein Maler oder Bildhauer einen von einem Dichter ausgeführten »Vorwurf« übernehmen und in »sinnliche« Bilder übersetzen. Als bevorzugte Quelle für die Maler und Bildhauer biete sich dafür Homers Dichtung, die Winckelmann über alles verehrte. »Es wäre zu wünschen, daß alle homerische [sic] Bilder sinnlich und figürlich zu machen wären«, schreibt er in dem Versuch einer Allegorie.12 Auch Winckelmanns Vorliebe für die Allegorie ± eine in seiner Zeit ungewöhnliche Position, denkt man etwa an die Einwände, die Dubos gegen diese zur Unverständlichkeit tendierende Gattung einige Jahrzehnte zuvor erhob13 ± könnte sich mit der Ut pictura poesis-Tradition ohne weiteres verbinden. Als höchsten Gegenstand der bildenden Künste empfiehlt Winckelmann seit seinen frühen Arbeiten die Darstellung eben jener abstrakten »Ideen« oder »Begriffe«, die sowohl dem Maler und Bildhauer als auch dem Dichter zum »Vorwurf« dienen. »Die Mahlerey erstreckt sich auch auf Dinge, die nicht sinnlich sind; diese sind ihr höchstes Ziel, und die Griechen haben sich bemühet, dasselbe zu erreichen, wie die Schriften der Alten bezeugen«, heißt es in den letzten Seiten der Gedancken über die Nachahmung.14 Dazu fordert er sogar die Fertigstellung eines Buches, »welches aus der gantzen Mythologie, aus den besten Dichtern alter und neuerer Zeiten, aus der geheimen Weltweißheit vieler Völcker, aus den Denckmählern des Alterthums auf Steinen, Müntzen und Geräthen diejenige sinnliche Figuren und Bilder [enthalten würde], wodurch allgemeine Begriffe dichterisch gebildet worden«.15 Gerade ein solches Buch wird Winckelmann mit seinem elf Jahre später veröffentlichten Versuch einer Allegorie dem Publikum zur Verfügung stellen. Bei all diesen Ansätzen lässt sich aber bei weitem noch keine konsequente Ut pictura poesis-Theorie aus Winckelmanns Schriften ableiten, und dies schon gar nicht in den Veröffentlichungen vor der Ostermesse 1766. Um Lessings Kritik im Kontext der Entstehung von Winckelmanns Schriften richtig einschätzen zu können, muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass die vorhin besprochenen wenigen expliziten Rückgriffe auf die Simonides-Formel gerade in den Schriften Winckelmanns zu finden sind, die nach dem Publikationsdatum von Lessings Laokoon, d. h. nach März 1766 erschienen sind, und 12 13
14 15
J. J. Winckelmann: Versuch (Anm. 10), S. 8. Jean-Baptiste Dubos: Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture (11719, 21733, 3 1740). Hg. von Dominique Désirat (nach der dritten Auflage von 1740). Paris 1993, S. 62±72, vor allem S. 63. Deutsche Übersetzung: J.-B. Dubos: Kritische Betrachtungen über die Poesie und Mahlerey, aus dem Französischen des Herrn Abtes Dü Bos. Übers. von G. Funcke. 3 Bde. Kopenhagen 1760±1761. Zur Kritik der Allegorie, wie sie etwa bei Shaftesbury und Jonathan Richardson vertreten war, vgl.: Blümner: Einleitung (Anm. 5), S. 24ff. J. J. Winckelmann: Gedancken (Anm. 4), S. 55. Ebd., S. 57.
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zwar im Versuch einer Allegorie vom Herbst 1766 und im Tratatto preliminare der Monumenti antichi inediti aus dem Jahre 1767. Sowohl in diesen späteren, als auch in den früheren Schriften sind aber sowieso Winckelmanns Überlegungen zum Verhältnis der Kunstmedien untereinander zu flüchtig und spärlich verstreut, um zu einem System zusammengebunden zu werden. Bei näherem Hinsehen lässt sich sogar an zahlreichen Stellen eine gewisse Skepsis gegenüber der Verschwisterung von Poesie und Malerei in Winckelmanns Schriften erkennen. Ein Indiz dafür könnte schon der ± von Lessing selbst erwähnte ± Umstand sein, dass Winckelmann alle Hinweise auf einen Vergleich zwischen Vergils Laokoon oder Sophokles¶ Philoktet und der Laokoon-Statue in der zweiten Fassung der Laokoon-Beschreibung gestrichen hat, die er in der Geschichte der Kunst des Alterthums veröffentlichte.16 Vergleiche zwischen Kunstwerken gibt es zwar in seinen Schriften, aber hauptsächlich zwischen Kunstwerken ein und derselben Kunstgattung. Typisch für solche Vergleiche ist folgende Formulierung aus den Gedancken: »Eine Bildsäule von einer alten Römischen Hand wird sich gegen ein Griechisches Urbild allemahl verhalten, wie Virgils Dido in ihrem Gefolge mit der Diana unter ihren Oreaden verglichen, sich gegen Homers Nausicaa verhält, welche jener nachzuahmen gesuchet hat«.17 Rein logisch gesehen lässt sich dieser Vergleich auf folgende Formel zurückbringen: A ist zu B wie C zu D, wobei A und B Skulpturen und C und D Gedichte sind. Nur das Verhältnis von A zu B wird mit dem Verhältnis von C zu D verglichen. Aber Gedicht und Skulptur selbst werden nicht direkt miteinander gepaart. Ähnliche Denkfiguren findet man in Winckelmanns Schriften häufig.18 Darüber hinaus ist zu bemerken, dass Winckelmann in der konkreten Kunstpraxis den Übergang von der poesis zur pictura als höchst schwierig sah. In der Geschichte der Kunst hebt er nachdrücklich hervor, dass nur der Apollo vom Belevedere sich »der Größe nähert, in welcher er sich dem Verstande des Göttlichen Dichters [= Homer] offenbarete«.19 Mit anderen Worten sind mit Ausnahme des Apollo vom Belvedere alle Apollo-Bilder, seien sie von Bildhauern oder Malern ausgeführt worden, der poetischen Beschreibung Homers deutlich unterlegen. Vor diesem Hintergrund lässt sich vielleicht besser erklären, 16
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FA 5/2, S. 183: »Es ist sehr nach meinem Geschmacke, daß er von einer gegenseitigen Nachahmung gänzlich schweiget«. Zu Winckelmanns Unterlassung der Anspielungen auf Vergils Laokoon oder Sophokles¶ Philoktet in der späteren Laokoon-Beschreibung der Geschichte der Kunst, vgl. J. J. Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums. Hg. von Adolf H. Borbein, Thomas W. Gaehtgens, Johannes Irmscher und Max Kunze. Mainz 2002, S. 347±349 (Seitenanzahl nach der ersten Auflage von 1764). J. J. Winckelmann: Gedancken (Anm. 4), S. 30. J. J. Winckelmann: Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst. Dresden 1763 (erste Auflage). In: J. J. Winckelmann: Kleine Schriften (Anm. 4), S. 211±233, hier S. 222: »>«@GLH&RSLHLP.OHLQHQLVWQXUGHU6FKDWWHQQLFKWGLH:DKrheit, und es ist vom Homerus auf dessen beste Uebersetzungen kein größerer Unterschied, als von der Alten und des Raphaels Werken auf deren Abbildungen: diese sind todte Bilder, und jene reden.« J. J. Winckelmann: Geschichte der Kunst (Anm. 16), S. 393 (Seitenanzahl nach der ersten Auflage von 1764).
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dass Caylus¶ berühmte, von Lessing erwähnte und ausgewertete Tableaux tirés de l¶Iliade, de l¶Odyssée d¶Homère aus dem Jahre 1757 weder in Winckelmanns veröffentlichtem Werk, noch in seinem Briefwechsel erwähnt werden.20 Es ist, als hätte Winckelmann diese Schrift, die gerade den Übergang von Dichtung zur Malerei als höchst empfehlenswert postuliert, gar nicht berücksichtigen, ja zur Kenntnis nehmen wollen ± im Unterschied zu anderen Werken von Caylus wie z. B. das Recueil d¶antiquités, das von ihm weitgehend gelesen und häufig, wenn auch nicht unkritisch, zitiert wurde.21 Vielleicht war letztendlich diese ausgeprägte Zurückhaltung im Rückgriff auf das Ut pictura poesis-Denken mit der eigenen Erfahrung als Kunstschriftsteller verbunden. Winckelmanns Praxis der Bildbeschreibung selbst, die ja in höchstem Maße eine poetische war, mag ihm vielmehr die Distanz als die Nähe zwischen Skulptur und Poesie fühlbar gemacht haben. Nach seinen handschriftlichen Entwürfen zu urteilen, scheint die Arbeit an den literarischen Beschreibungen der Laokoon-Gruppe oder des Apollo vom Belvedere recht mühselig gewesen zu sein. Immer wieder entwirft er neue Beschreibungen, bindet frühere und spätere Fassungen zusammen, feilt an seinen Metaphern, schafft neue Bilder, als sollte ihn der Versuch, das plastische Meisterwerk wörtlich wiederzugeben, immer unzufrieden lassen. Für diesen schwierigen Übergang von der pictura zu poesis liefern die in Florenz und Paris aufbewahrten handschriftlichen Entwürfe zur Beschreibung des Apollo vom Belvedere oder des Laokoon ein aufschlussreiches Zeugnis.22 20
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22
Anne Claude Philippe de Thubières, comte de Caylus 7DEOHDX[ WLUpV GH O¶,OLDGH GH O¶2G\VVpHG¶+RPqUHHWGHO¶eQpLGHGH9LUJLOH; avec des observations sur le costume. Paris 1757. Im langen »Verzeichnis angeführter Bücher«, das am Anfang der Geschichte der Kunst angegeben wird und die im Werk zitierten Titel der Sekundärliteratur beinhaltet, wird Caylus¶ Recueil d¶antiquités erwähnt. Jedoch sind dessen Tableaux tirés de l¶Iliade, de l¶Odyssée d¶Homère in dieser Liste nicht zu finden. Vgl. J. J. Winckelmann: Geschichte der Kunst (Anm. 16), S. XLII.22 Diese handschriftlichen Entwürfe sind in der Handschriftenabteilung der Bibliothèque nationale de France in Paris (Cabinet des manuscrits, Fonds allemand, Bd. 57, fol. 70±79 v°) und in der Bibliotheca della Società Colombaria in Florenz aufbewahrt. Sie wurden in verschiedenen Etappen ediert. Vgl. Carl Justi: Ein Manuskript über die Statuen im Belvedere. In: Preußische Jahrbücher 28 (1871), S. 595±597; Hans Zeller: Winckelmanns Beschreibung des Apollo im Belvedere. Zürich 1955; Il manoscritto fiorentino di J. J. Winckelmann/Das Florentiner Winckelmann-Manuskript. Hg. von Max Kunze. Florenz 1994. Zu einer Übersicht über diese Entwürfe, vgl. Helmut Pfotenhauer, Markus Bernauer und Norbert Miller (Hgg.): Frühklassizismus. Position und Opposition. Winckelmann, Mengs, Heinse. Frankfurt am Main 1995. S. 149ff. Diese handschriftlichen Entwürfe sind in der Handschriftenabteilung der Bibliothèque nationale de France in Paris (Cabinet des manuscrits, Fonds allemand, Bd. 57, fol. 70±79 v°) und in der Bibliotheca della Società Colombaria in Florenz aufbewahrt. Sie wurden in verschiedenen Etappen ediert. Vgl. Carl Justi: Ein Manuskript über die Statuen im Belvedere. In: Preußische Jahrbücher 28 (1871), S. 595±597; Hans Zeller: Winckelmanns Beschreibung des Apollo im Belvedere. Zürich 1955; Il manoscritto fiorentino di J. J. Winckelmann/Das Florentiner Winckelmann-Manuskript. Hg. von Max Kunze. Florenz 1994. Zu einer Übersicht über diese Entwürfe, vgl. Helmut Pfotenhauer, Markus Bernauer und Norbert Miller (Hgg.): Frühklassizismus. Position und Opposition. Winckelmann, Mengs, Heinse. Frankfurt am Main 1995. S. 149ff.
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Übrigens lässt sich Winckelmanns mangelndes Interesse an der Ut pictura poesis-Theorie auch in seinen Lektüren nachweisen. Auffällig ist in seinen Exzerptheften, dass er als Leser gerade jene Grundtexte beiseite lässt, die in der Geschichte der Kunsttheorie seit der Renaissance gewöhnlich als Pfeiler des Ut pictura poesis-Prinzips gelten.23 Lodivco Dolces Ausführungen über die Ähnlichkeit von Linien und Farben einerseits und Wörtern andererseits im Dialogo della Pittura (1557), Lomazzos Bermerkungen über die Konformität von Poesie und Malerei im Trattato dell¶arte della pittura (1585) oder wichtige neuere Quellen zur Ut pictura poesis-Theorie wie Charles Du Fresnoys De arte graphica (1667), Belloris L¶Idea del pittore (1672) und Roger de Piles¶ Cours de peinture par principes (1708) sind in seinem immensen Exzerptenmagazin nicht zu finden, wobei all diese Autoren mit anderen Texten in seiner handgeschriebenen Bibliothek durchaus vertreten sind.24 Dabei sind die beiden zuletzt erwähnten Quellen besonders kennzeichnend. Aus Roger de Piles¶ Cours de peinture exzerpiert er lange Passagen, lässt aber gerade den letzten Teil der Schrift beiseite, der dieser Frage gewidmet ist. Das Gleiche gilt für Belloris IdeaSchrift, die als Einleitung zu den Vite de¶ pittori 1672 erschien. Aus diesem Aufsatz zieht Winckelmann mehrere Seiten von Exzerpten, übersieht aber genau die Passagen zum Ut pictura poesis-Prinzip, die dort enthalten sind.25
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Zur diesen Grundschriften der Ut pictura poesis-Theorie, vgl. u. a.: Rensselaer W. Lee: Ut pictura poesis. The Humanistic Theory of Painting. New York 1967; Hans Christoph Buch: »Ut Pictura Poesis«: Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács. München 1971; Norman Bryson: Word and Image. French Painting of the Ancien Régime. Cambridge 1981; Svetlana Alpers: The Art of Describing. Dutch Art in the Seventeenth Century. Chicago 1983; Wolfgang Harms (Hg.): Text und Bild, Bild und Text. DFGSymposion 1988. Stuttgart 1990; Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer (Hgg.): Beschreibungskunst ± Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München 1995. Lodovico Dolce'LDORJRGHOODSLWWXUDLQWLWRODWRO¶$UHQWLQRVenedig 1557 (erste Auflage). In: Trattati d¶arte del Cinquecento fra manierismo e controriforma. Hg. Paola Barocchi. Bari 1960±1962, 3. Bde., Bd. 1 (1960), S. 152; Giovanni Paulo Lomazzo: Trattato dell¶arte della pittura, scoltura et architettura. Milano 1585 (erste Auflage). In: Giovanni Paolo Lomazzo: Scritti sulle arti. Hg. von Roberto Paolo Ciardi. 2 Bde. Florenz 1973± 1974, Bd. 2 (1974), S. 486; Charles Alphonse Du Fresnoy: De Arte Graphica liber, sive Diathesis, Graphidos, et Chromatices, trium picturae partium, Antiquorum ideae Artificum, Nova restitutio. Paris 1667, Verse. 1±IU]hEHUVHW]XQJ/¶DUWGHSHLQWXUHGH&KDUOHV$lphonse Du Fresnoy, traduit par Roger de Piles. Paris 1668; Reprint Genf 1973); Giampietro Bellori /¶,GHD GHO SLWWRUH GHOOR VFXOWRUH H GHOO¶DUFKLWHWWR ]XP HUVWHQ 0DO YRrgetragen). In: Ders.: Le Vite de¶ Pittori, Scultori e Architetti moderni (erste Auflage: Rom 1672). Hg. von Evelina Borea. Torino 1976, S. 13±25; Roger de Piles: Cours de peinture par principes. Paris 1708, S. 420ff. Winckelmann-Nachlaß, Paris, Bibliothèque Nationale de France, Département des manuscrits, Fonds allemand, Bd. 62, fol. 52 v°±54 v° (Exzerpte aus G. Belloris /¶,GHDGHOSLWWRUH und dessen Vite de¶ Pittori) und Bd. 62, fol. 22± ([]HUSWH DXV 5 GH 3LOHV¶ Cours de peinture par principes).
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Zu einer chronologischen Fiktion: Lessings Winckelmann-Lektüren Zurück nun zu Lessings Winckelmann-Kritik im ersten Kapitel des Laokoon. Dass Lessing sich dafür entscheidet, die Gedancken über die Nachahmung und die Geschichte der Kunst getrennt und sukzessive, jeweils im ersten und in den letzten Kapiteln seiner Schrift zu besprechen, macht erst diese Kritik möglich. Die spärlichen expliziten Anhaltspunkte zu einer Verschwisterung von Poesie und Malerei, die in Winckelmanns Gedancken über die Nachahmung noch zu lesen waren ± so der Vergleich zwischen Vergils Laokoon und der LaokoonGruppe ± wurden ja in der Geschichte der Kunst gestrichen. Dank eingehenden historisch-kritischen Arbeiten, die schon mit Karl Lessings Edition im Jahre 1788 einsetzten, durch die Hempelsche Ausgabe von 1869 ergänzt und in Hugo Blümners nach wie vor maßgeblicher Laokoon-Ausgabe von 1880 zu ihrer Vollendung gebracht wurden26, ist nachgewiesen, daß Lessing mehrere Jahre lang an seinem Laokoon-Aufsatz schrieb, und daß er erst im Laufe dieses langen Schreibprozesses die von ihm besprochenen Autoren ± Caylus, Spence, Jonathan Richardson, Paolo Alessandro Maffei, Winckelmann usw. ± eingehend zur Kenntnis nahm. Winckelmanns Gedancken über die Nachahmung hatte Mendelssohn schon im Dezember 1756 in seinem Briefwechsel mit Lessing besprochen und als Grundlage für einen Vergleich zwischen dichterischer und plastischer Behandlung des Laokoon-Motivs genutzt.27 Für Lessing selbst fiel allerdings die eigentliche Arbeit am Laokoon-Aufsatz und die intensive Auseinandersetzung mit Winckelmann in die Breslauer Jahre (1760±1765). Erst in dieser Zeit machte er sich mit Winckelmanns Schriften eng vertraut und las die lang erwartete, Ende 1763 erschienene Geschichte der Kunst des Alterthums wahrscheinlich kurz nach ihrer Erscheinung. Ein Entwurf, den Blümner als den dritten von Lessings fünf Laokoon-Entwürfen einordnet, zeugt von dieser frühen Kenntnisnahme der Geschichte der Kunst.28 Allerdings scheint Lessing nach der Lektüre von Winckelmanns Kunstgeschichte darauf verzichtet zu haben, die aus der näheren Auseinandersetzung mit diesem Buch gewonnenen Erkenntnisse gleich im ersten Kapitel seiner Schrift zu verarbeiten. Er entscheidet sich vielmehr dafür, im ersten Teil seines Laokoon nur die Gedancken über die Nachahmung zu berücksichtigen, d. h. von der Geschichte der Kunst einfach zu abstrahieren, und entwirft einen vierten Plan, in dem die Geschichte der Kunst erst im zweiten Abschnitt ± allerdings etwas früher als in der später veröffentlichten Fassung, denn der erste Abschnitt dieses vierten Entwurfs enthält
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Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie mit beyläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte. Hg. Karl Gotthelf Lessing. Berlin 1788; G. E. Lessing: Laokoon. Berlin: Hempel >@/HVVLQJ¶V Werke, 6. Teil); Lessings Laokoon. Hg. von Blümner (Anm. 5). Blümner: Einleitung (Anm. 5), S. 70f.; FA 11/1, S. 141. G. E. Lessing: Entwurf 3. In: Blümner (Anm. 5), S. 389 (und Blümners Kommentar dazu in der Einleitung, S. 99f.).
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nur neun Kapitel ± zum ersten Mal zu erwähnen.29 Bei der Lektüre dieser verschiedenen Laokoon-Entwürfe gewinnt man den Eindruck, als habe Lessing nach der Erscheinung der Geschichte der Kunst die Erwähnung und Besprechung des Winckelmannschen Geschichtswerkes im Grundriss seiner Schrift immer verzögert. In der 1766 veröffentlichten Fassung des Laokoon verlegt er die Kenntnisnahme der Geschichte der Kunst, die er eigentlich spätestens seit Anfang 1764 kannte, fiktiv auf das 26. Kapitel und inszeniert diese Entdeckung mit großer theatralischer Kunst: »Des Herrn Winkelmanns [sic] Geschichte der Kunst des Altertums, ist erschienen. Ich wage keinen Schritt weiter, ohne dieses Werk gelesen zu haben.«30 Diese Inszenierung kann nicht nur als ein Meisterstück gelehrter Täuschung angesehen werden, sondern auch als ein notwendiges Kunststück, um die Grundlage seiner Schrift, nämlich die Darstellung Winckelmanns als konsequenter Anhänger des Ut-pictura-poesis-Prinzips im ersten Kapitel zu retten. Ohne diese fingierte verspätete Entdeckung der Geschichte der Kunst wäre die gesamte Architektur der Schrift nicht aufrechtzuerhalten gewesen. Dabei ist hervorzuheben, dass Lessings Verschärfung dieser vermeintlichen Differenz in der Ut-pictura-poesis-Frage es ihm erlaubt, wichtige Gemeinsamkeiten mit Winckelmann zu verhüllen. In der Frage des Ausdrucks in den bildenden Künsten stehen sich z. B. beide Autoren auffällig nahe: Lessings philologische Kritik an Winckelmanns fehlerhafter Anwendung des Parenthyrsos-Begriffs auf die »Malerei« darf darüber nicht hinwegtäuschen, dass beide die Darstellung höchster Leidenschaften in Malerei und Bildhauerei gleichermaßen verwerfen.31
»Heldenmut«, »Humanität« und die Ästhetik der französischen Klassik Im ersten Kapitel des Laokoon ist die von Lessing hervorgehobene Differenz in der Ut pictura poesis-Frage mit einer weiteren Differenz verbunden, die auf der Vorstellung des griechischen Menschen und der Rolle des Fühlens überhaupt beruht. »Heldenmut« oder, um an Winckelmanns Worte anzuknüpfen, »Stärke des Geistes« können nicht der Grund sein, weshalb Laokoon nicht schreie, denn dem Griechen als Inbegriff der Humanität schlechthin sei das Schreien »der natürliche Ausdruck des körperlichen Schmerzes«. Der griechische Mensch »fühlte und furchte sich; er äußerte seine Schmerzen und seinen Kummer; er schämte sich keiner der menschlichen Schwachheiten«.32 Nur dem Barbaren schrieben die Griechen die schillernde Eigenschaft der heldenhaften Überwindung, ja Verneinung des Schmerzes zu, wie Homers Ilias oder Sophokles¶ Tragödien deutlich zeigen. »Bei dem Barbaren war der Heroismus eine helle fres29 30 31 32
G. E. Lessing: Entwurf 4. In: Blümner (Anm. 5), S. 392. FA 5/2, S. 183. Ebd., S. 201f. Ebd., S. 19f.
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sende Flamme«.33 Hauptzielscheibe dieser Ausführungen scheint zwar weniger Winckelmann selber zu sein, als die Befürworter der Anstandsregeln des französischen siècle classique, wie sie auf der Bühne etwa durch Corneille oder Racine vertreten wurden. Daraus, dass seine Kritik auf diese als »französisch« bezeichnete Ästhetik zielt, macht allerdings Lessing keinen Hehl: »Dank sei unsern artigen Nachbarn, diesen Meistern des Anständigen, daß nun mehr ein winselnder Philoktet, ein schreiender Herkules, die lächerlichsten unerträglichsten Personen auf der Bühne sein würden«, bemerkt er ironisch.34 Dabei muss aber hervorgehoben werden, dass die Nebeneinanderstellung der Kritik an der Winckelmannschen Laokoon-Beschreibung und der Vorwürfe gegen die heroische Ästhetik der französischen Klassik de facto eine Verbindung zwischen diesen beiden Zielscheiben nahelegt. Suggeriert wird damit, dass Winckelmann ein Erbe, wenn nicht ein Befürworter der Ästhetik des siècle de Louis XIV sei. Aus Achtung vor irrtümlichen Anstands- und Höflichkeitsregeln, wie sie im französischen klassischen Theater vertreten sind, habe Winckelmann dem Laokoon das Schreien abgesprochen. Wenn man nun an die verbissene Kritik denkt, der Winckelmann die französische Kultur unter der Herrschaft Ludwigs XIV. unterzog, kommt Lessings Kunst als Polemiker hier in ihrer ganzen Kraft zum Vorschein. Frankreich und Griechenland macht Winckelmann gerne zu den unversöhnlichen Polen eines Gegensatzpaares. Bereits in den Erläuterungen der Gedancken über die Nachahmung weist er abschätzig auf die unerhörte Überheblichkeit des Pierre Cureau de la Chambre hin, der als Mitglied der Académie française es am Ende des 17. Jahrhunderts gewagt hatte, zu behaupten, »in allen Franzosen« gäbe es bedeutend mehr zu finden, »als die Griechen in ihrem Alcibiades gefunden haben«.35 Die Pole dieses Gegensatzpaares werden mit der Arbeit an der Geschichte der Kunst immer schärfer entgegengesetzt und umfassen nicht nur ästhetische, sondern auch politische Aspekte, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.36
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Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. J. J. Winckelmann: Erläuterung der Gedancken von der Nachahmung der griechischen Wercke in der Malerey und Bildhauerkunst und Beantwortung des Sendschreibens über diese Gedancken. Dresden, Leipzig 1756 (erste Auflage). In: J. J. Winckelmann: Kleine Schriften (Anm. 4), S. 97±144, hier S. 108. Élisabeth Décultot: Johann Joachim Winckelmann. (QTXrWHVXUODJHQqVHGHO¶KLVWRLUHGH O¶DUW Paris 2000, S. 179±186 (deutsche Übersetzung: Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert, übers. von Wolfgang von Wangenheim und René Mathias Hofter. Ruhpolding 2004, S. 107±111).
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Winckelmanns Reaktion auf Lessings Vorwürfe: zur Rivalität zwischen Philologie und Kunstgeschichte Öffentlich hat Winckelmann auf Lessings Schrift nicht antworten wollen. Diese Weigerung könnte man dadurch erklären, dass er dessen Kritik als völlig unangemessen, ja verfehlt empfand und sich daher wenig betroffen fühlte. Allerdings entsteht beim näheren Hinsehen ein etwas differenzierteres Bild. Zwar weist Winckelmann Lessings Kritik als nicht fundiert zurück und verzichtet darauf, ihm eine öffentliche Antwort zu geben: »Lessings Buch habe ich gelesen; es ist schön geschrieben, obgleich nicht ohne bekannte Fehler in der Sprache: dieser Mensch aber hat so wenig Kenntniß, da ۃdaß? ۄihn keine Antwort bedeuten würde und es würde leichter seyn, einen gesunden Verstand aus der Uckermark zu überführen als einen UniversitätsWitz [sic], welcher mit Paradoxen sich hervorthun will. Also sey ihm die Antwort geschenkt. Dieses aber bleibet unter uns«.37 Allerdings hatte er allem Anschein nach doch eine direkte Antwort erwogen,38 ließ aber dieses Projekt beiseite, weil er »mit keinem Deutschen Gelehrten von [Italien] aus« Lanzen brechen wollte. »Je weniger Briefwechsel nach Deutschland je besser«.39 Das Ausbleiben einer öffentlichen Antwort hindert Winckelmann aber nicht daran, die grundlegende Differenz zu nennen, die ihn in seinen Augen von Lessing trennt: Italien habe Lessing »nur im Traume« gesehen, was im Jahre 1766 allerdings richtig war.40 »Über seine Zweifel und Entdeckungen hat er viel Unterricht nöthig«, mahnt er bei der Lektüre des Laokoon und fügt hinzu: »Er komme nach Rom, um auf dem Ort mit ihm zu sprechen«.41 Damit knüpft Winckelmann an eines seiner Lieblingsthemen an. In seinen Werken und Briefen stilisiert er sich gerne als denjenigen modernen Antiquar, der die römischen Antiken im wahrsten Sinne des Wortes gesehen habe. »Ich kam nach Rom, nur um zu sehen«, pflegt er in den Briefen zu schreiben, die er kurz nach seiner Ankunft in Italien an seine in Deutschland verbliebenen Freunde sendet.42 Gegen Christian Ludwig von Hagedorn, der »Italien selbst nicht gesehen hat« oder Adam Friedrich Oeser, der nur soviel wisse, was man »außer Italien wißen kann«, versucht Winckelmann sich hartnäckig als den ersten deutschen Antiquar zu stilisieren, der die Schätze des Altertums in Rom
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41 42
J. J. Winckelmann: Briefe. Hg. von Walther Rehm unter Mitwirkung von Hans Diepolder. 4 Bde. Berlin 1952±1957, Bd. 3, S. 220 (an Philipp von Stosch, 15. Nov. 1766). Ebd., Bd. 3, S. 199 (an Friedrich Wilhelm von Schlabbrendorff, 16. Aug. 1766). Ebd., Bd. 3, S. 222 (an F. W. von Schlabbrendorff, 10. Dez. 1766). Ebd., Bd. 3, S. 195 (an F. J. Goessel, 6. Aug. 1766). Lessing unternahm erst im Jahre 1775 eine Italienreise, die ihn über Venedig, Bologna, Florenz und Rom bis nach Neapel führen sollte. Zu diesem Vorwurf, vgl. Rehm: Winckelmann und Lessing (Anm. 1), S. 190ff. J. J. Winckelmann: Briefe (Anm. 37), Bd. 3, S. 204 (an Johann Michael Francke, 10. Sept. 1766). Ebd., Bd. 1, S. 226 (an Christian Wilhelm Ernst Dieterich [?], 1. Juni 1756); vgl. ebd., Bd. 1, S. 224 (an Konrad Friedrich Uden, 1. Juni 1756).
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in ihrem ganzen Ausmaß und mit eigenen Augen erblickt habe.43 Noch mehr als eine biographische Resonanz hat diese Selbststilisierung für ihn allerdings eine grundlegende epistemologische Bedeutung. Sie erlaubt es ihm, sich als Erfinder einer neuen historischen Methode und damit auch als Begründer der Kunstgeschichte hinzustellen.44 Der Diskurs über die antike Kunst sei bis dahin vorwiegend auf das schriftliche Erbe der Antike gegründet worden. In der Geschichte der Kunst stütze er sich hingegen auf die direkte Beobachtung der Kunstwerke. Damit sieht sich Winckelmann als Urheber einer tiefgreifenden wissenschaftlichen Umwälzung, die eine Abkehr vom philologischen Paradigma in sich birgt. Das Wissen über die Kunst beruhe nicht mehr primär auf dem Lesen von Texten, sondern auf dem Betrachten von Kunstwerken. Mit dem Vorwurf mangelnder empirischer Kenntnis der Kunst trifft Winckelmann allerdings auf einen grundlegenden epistemologischen Unterschied, den Lessing ebenfalls ermessen zu haben scheint und zum Gegenstand der letzten Kapitel seiner Schrift macht. Wie Lessing im fünften und sechsten Kapitel seines Laokoon zeigt, hatte die Frage nach der Datierung der LaokoonGruppe die antiquarischen Kreise seit 1506 immer wieder beschäftigt und im Laufe der Jahrhunderte sehr unterschiedliche Antworten bekommen. In den neueren Zeiten hatten sich vornehmlich zwei Positionen geltend gemacht. Für die einen, zu denen so angesehene Antiquare wie Bernard de Montfaucon und Bartolomeo Marliani gehörten, war die Skulptur griechischen Bildhauern aus kaiserlicher Zeit zu verdanken, die sich auf Vergils poetische Beschreibung stützten. Für die anderen, zu denen Paolo Alessandro Maffei und Jonathan Richardson zählten, war sie das Werk eines Schülers von Polyklet, das Vergil als plastische Vorlage für die Aeneis-Passage gebraucht hatte. Ein wichtiger Grund für diese variable Datierung lag in der Unzulänglichkeit der schriftlichen Quellen: Plinius¶Historia naturalis waren in diesem Punkt keine näheren Angaben zu entnehmen. Seinen eigenen Beitrag zu dieser Diskussion hatte Winckelmann im zweiten Teil der Geschichte der Kunst der Alterthums geliefert und dabei schon dadurch eine eigentümliche Position bezogen, dass er von der bisher heftig diskutierten Frage des chronologischen Bezugs der Skulptur zu Vergils Gedicht ganz und gar absah. Die Laokoon-Gruppe sei ein Werk aus dem Ende der besten Zeit der griechischen Kunst, aus jener Zeit also, in der Lysippus und seine Schüler tätig waren.45 Allerdings muss hervorgehoben werden, dass seine Ausführungen in diesem Punkt etwas vage blieben und er an einer näheren Datierung wenig interessiert zu sein schien. Für ihn war also der Lao43 44
45
Ebd., Bd. 2, S. 298 (an Leonhard Usteri, 18. März 1763), S. 307 (an Caspar Füssli, 9. April 1763, S. 307). J. J. Winckelmann: Geschichte der Kunst (Anm. 16), Vorrede, S. X (Seitenanzahl nach der ersten Auflage von 1764): »Es sind einige Schriften unter dem Namen einer Geschichte der Kunst an das Licht getreten; aber die Kunst hat einen geringen Antheil an denselben: denn ihre Verfasser haben sich mit derselben nicht genug bekannt gemachet, und konnten also nichts geben, als was sie aus Büchern, oder von sagen hören, hatten.« J. J. Winckelmann: Geschichte der Kunst (Anm. 16), S. 344±347 (Seitenanzahl nach der ersten Auflage von 1764).
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koon irgendwann kurz vor, unter oder sogar unmittelbar nach der Herrschaft Alexanders des Großen entstanden. Trotz der Knappheit seiner Argumente zu dieser Frage ist allerdings seine Position in ihrer Methode bemerkenswert. Zunächst einmal stellt er in einer Fußnote die Unzulänglichkeit von Plinius¶ Text fest: »Plinius meldet kein Wort von der Zeit, in welcher Agesander und die Gehülfen an seinem Werk gelebet haben«.46 Von den Mängeln der schriftlichen Quellen ausgehend, stützt er seine eigene Datierung der Gruppe einzig auf die Analyse der plastischen Merkmale der Skulptur und kommt zum Schluss, dass dieses Meisterwerk der Bildhauerei aufgrund seiner außergewöhnlichen Schönheit »nach aller Wahrscheinlichkeit« nur ein Werk »aus dieser Zeit« ± d. h. aus der Zeit Alexanders des Großen ± sein könne.47 Für die »Fackel der Geschichte« bekundet zwar Lessing allem Anschein nach Respekt, versucht aber, gegen diesen dezidiert kunsthistorischen, im Sinne von kunstinternen Ansatz die höheren Rechte der Philologie zu behaupten. Gegen Winckelmann, der den Laokoon in Rom mit eigenen Augen untersucht hatte, gelingt es ihm, der die Skulptur noch nie gesehen hat, unter großem Aufwand an philologischem Können zu einer Datierung der Gruppe zu kommen, die von der Winckelmannschen deutlich abweicht und darüber hinaus viel präziser als diese anmutet. Nach einer langen philologischen Beweisführung, die Pausanias, Plinius und viele andere antike Autoren bemüht, kommt er zum Schluss, dass der Laokoon mit höchster Wahrscheinlichkeit ein Werk der beginnenden römischen Kaiserzeit sei, das vielleicht Vergils Freund Asinius Pollio oder sogar Titus hätten herstellen lassen.48 Dabei muss hervorgehoben werden, dass Lessing es offenkundig unterlässt, sich auf andere Mittel zu stützen, als auf die überlieferten Texte und Inschriften. Der sogenannte, von Winckelmann ebenfalls besprochene, Borghesische Fechter gibt ihm im 28. Kapitel einen weiteren Anlass, die Vorteile dieser ausgesprochen philologischen Methode zu behaupten. Auf der Grundlage einer genauen ± wenn auch kurz danach von ihm selbst als irrtümlich zurückgeworfenen ± Lektüre der Vita des Chabrias von Cornelius Nepos will Lessing zeigen, dass die gewöhnlich als Borghesischer Fechter bezeichnete Skulptur eigentlich gar keinen »Fechter« darstelle, sondern den heldenhaften athenischen Feldherrn Chabrias. 49
Winckelmanns Statuenbeschreibungen und Lessings Zeichenlehre Nach dem 29. Kapitel, das als »Ende des ersten Teiles« bezeichnet wird, hat Lessing den geplanten zweiten Teil des Laokoon bekanntlich nicht ver-
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Ebd., Fußnote 2. Ebd., S. 347. FA 5/2, S. 190. Ebd., S. 198. Diese Interpretation zog Lessing allerdings schon im 38. seiner Briefe, antiquarischen Inhalts von 1768±1769 zurück (vgl. FA 5/2, S. 482±484).
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öffentlicht und damit seine Arbeit unvollendet gelassen. Unter den zahlreichen Umständen, die diesen plötzlichen Abbruch erklären können, mag die Auseinandersetzung mit Winckelmanns Schriften und vor allem mit der in den letzten Kapiteln kommentierten Geschichte der Kunst keinen geringen Anlass gebildet haben. Es ist zu vermuten, dass Lessing bei der Lektüre der Geschichte der Kunst die schließlich recht distanzierte Beziehung Winckelmanns zur Ut pictura poesis-Tradition richtig ermessen und dabei einen Teil seiner ersten Vorwürfe gegen den Autor der Gedancken über die Nachahmung als gegenstandslos erkannt hat. Über diese ausdrücklichen Auseinandersetzungen mit Winckelmanns epistemologischen Positionen hinaus soll nun der Frage nachgegangen werden, welche Rolle Winckelmanns berühmte Statuenbeschreibungen in Lessings Überlegungen zur Zeichenlehre gespielt haben, die einen zentralen Teil seiner Schrift ausmachen. Eine solche Fragestellung wird sicherlich beim ersten Anblick etwas überraschen, bedenkt man, dass Winckelmanns Name in den grundlegenden Kapiteln des Laokoon zur semiotischen Unterscheidung von Poesie und Malerei und zur Kritik der »Schilderungssucht« (d. h. in den Kapiteln XV bis XVIII) unerwähnt bleibt. Gerade diese Abwesenheit muss aber hinterfragt werden. Inwiefern vertragen sich Winckelmanns berühmte, in höchstem Maße poetische Beschreibungen der Statuen des Belvedere ± Laokoon, Apollo, Antinoüs usw. ± in ihrer Gestaltung und Wirkung mit den impliziten Hierarchien von Lessings Zeichenlehre?50 Bekanntlich zieht Lessing unter mehrfachem Rückgriff auf wichtige Quellen der europäischen Kunstliteratur eine scharfe Trennungslinie zwischen Poesie und Malerei. Die Malerei gebrauche »Figuren und Farben in dem Raume«, die Poesie »artikulierte Töne in der Zeit«.51 Die bevorzugten, ja eigentlich einzig erlaubten Gegenstände der Malerei seien daher nebeneinander stehende Körper im Raum, während der bevorzugte Gegenstand der Poesie in der Erzählung von Handlugen bestehe, die nacheinender dargestellt werden. Nun weist dieses semiotische System der von Winckelmann besonders beliebten poetischen Gattung der »Beschreibung« einen durchaus schillernden, ja deutlich ungünstigen Platz zu. Zwar spricht Lessing der Poesie das Recht nicht ab, so wie die Malerei Körper im Raum mittels der Wörter zu beschreiben. Jedoch hebt er die semiotische Unangemessenheit und daher die grundlegende Schwäche solcher Beschreibungen deutlich hervor, die er »wörtliche Schilderungen« nennt: Nochmals also: ich spreche nicht der Rede überhaupt das Vermögen ab, ein körperliches Ganzes nach seinen Teilen zu schildern; sie kann es, weil ihre Zeichen, ob sie schon aufeinander folgen, dennoch willkürliche Zeichen sind: sondern ich spreche es der Rede als dem Mittel der Poesie ab, weil dergleichen wörtliche Schilderungen der Körper das Täuschende gebricht, worauf die Poesie vornehmlich geht; und dieses Täuschende, sage ich, muß ihnen darum gebrechen, weil das Coexistierende des Körpers mit dem 50 51
J. J. Winckelmann: Geschichte der Kunst (Anm. 16), S. 347f., 392ff., 409f. (Seitenanzahl nach der ersten Auflage von 1764). FA 5/2, S. 116.
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Elisabeth Décultot Consekutiven der Rede dabei in Kollision kömmt, und indem jenes in dieses aufgelöst wird, uns die Zergliederung des Ganzen in seine Teile zwar erleichtert, aber die endliche Wiederzusammensetzung dieser Teile in das Ganze ungemein schwer, und nicht selten unmöglich gemacht wird.52
Überall, wo es »auf das Täuschende nicht [ankomme]«, wo man »nur mit dem Verstande seiner Leser zu tun [habe]«, dürfen zwar solche Schilderungen der Körper »gar wohl Platz haben«. Wenn es aber darum gehe, auf die Einbildungskraft des Lesers zu wirken, dann sei »Sparsamkeit in den Schilderungen körperlicher Gegenstände« höchst empfohlen.53 Spätestens seit Hugo Blümners historisch-kritischer Edition des Laokoon ist in der Forschungsliteratur immer wieder betont worden, dass Lessings Angriffe gegen die poetische »Schilderungssucht«, wie sie schon in der Vorrede angekündigt werden, vor allem gegen die an Naturbeschreibungen überaus reichen poetischen Werke von Albrecht von Haller, Ewald von Kleist, Salomon Gessner oder von den Engländern Milton, James Thomson und Alexander Pope ausgerichtet waren.54 Nun kann man die Hypothese aufstellen, dass Winckelmanns Statuenbeschreibungen bei dieser semiotischen Kritik der poetischen Schilderungssucht Lessing einige Schwierigkeiten bereitet haben dürften. Obwohl diese Statuenbeschreibungen ausdrücklich plastische, d. h. leblose Körper darstellen und stets die Ruhe bzw. majestätische Gelassenheit der dargestellten Figur betonen, haben sie allem Anschein nach eine starke Wirkung auf die Einbildungskraft der zeitgenössischen Leser ausgeübt und zu Winckelmanns europäischem Ruhm erheblich beigetragen. Darüber hinaus weisen Winckelmanns Schilderungen antiker Plastiken eine Mischung von deskriptiven und narrativen Elementen auf und entkräften daher einige der grundlegenden Oppositionen von Lessings Semiotik (narrative vs. deskriptive Poesie, erzählen vs. beschreiben, Spannung vs. Anschaulichkeit, usw.). Winckelmanns Beschreibung des Apollo vom Belvedere oder der Laokoon-Gruppe ist sowohl eine »Schilderung« als auch eine »Erzählung« in dem spezifischen Sinne, den Lessing diesen beiden Bezeichnungen gibt. Dass Winckelmanns Statuenbeschreibungen in Lessings Kapiteln zur poetischen »Schilderungssucht« unerwähnt bleiben, kann als Zeichen dafür interpretiert werden, dass sie mit seinen Kategorien nicht recht in Einklang zu bringen waren. Von der Ut pictura poesis-Frage bis hin zur näheren Bestimmung des Schilderungsbegriffs haben damit Winckelmanns Schriften dem Autor des Laokoon eine Reihe von Schwierigkeiten bereitet, die zum Abbruch der Arbeit an der Publikation nicht unwesentlich beigetragen haben dürften.
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Ebd., S. 127. Ebd., S. 117, S. 127. Ebd., S. 15. Zu Lessings Kritik der Schilderungssucht, vgl. u. a. Blümner: Einleitung (Anm. 5), S. 19f.; Barner/Grimm (Anm. 1), S. 242f.
Helmut Pfotenhauer Helmut Pfotenhauer Winckelmann und Lessing lesen Jonathan Richardson jun.
Winckelmann und Lessing lesen Jonathan Richardson jun. Winckelmann und Lessing lesen Jonathan Richardson jun.
Ich will hier keinen großen Überblicksvortrag liefern, sondern nur einen kleinen Beitrag, eine Textlektüre, eine Mikrolektüre weniger Zeilen aus der Kunstliteratur des frühen 18. Jahrhunderts bzw. deren Aufnahme durch zwei andere Autoren, durch Winckelmann und Lessing. Der Text stammt von Jonathan Richardson junior, keinem der großen Autoren, aber einem großen Kompilator und Anreger, gerade was die LaokoonDeutung anbelangt. Der Autor ist heute so unbekannt, daß er fast immer verwechselt wird. Nicht nur früher mit Samuel Richardson, dem Romanautor, sondern auch, bis in die neueren Lessing-Ausgaben hinein,1 mit seinem Vater, dem Maler und Kunstkritiker Jonathan Richardson senior. Dessen Traité de la peinture et de la sculpture (1715) war 1728 in drei Bänden neu herausgegeben worden, erweitert um eine Description de divers fameux tableaux, desseins, statues, bustes, bas-reliefs, etc., qui se trouvent en Italie (Band 3)2 seines gleichnamigen Sohnes, ebenfalls Maler und Kunstkritiker, eine Übersetzung des bereits 1722 englisch erschienenen Account of some of the Statues, Bas-reliefs, Drawings and Pictures in Italy. Dieser Bericht über Italiens Galerien war für alle diejenigen, denen die eigene Anschauung fehlte, eine der wichtigsten Quellen, wenn es um die in Italien aufbewahrten Statuen und Gemälde ging. Aber Richardson beschreibt die Kunstwerke nicht nur, er diskutiert sie auch, kritisiert sie und bewertet sie. Dabei bedient er sich eines Sets von ästhetischen Kriterien, der in nuce bereits alle Argumentationsansätze für künftige Debatten enthält. Es sind dies auf der einen Seite die klassizistischen Normen, das Ideal vollkommener Schönheit und ihrer noblen, gedämpften Affekte und der Ver1
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Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert u. a. Bd. 6: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften. Hg. von Albert von Schirnding. München 1974, S. 1083 (weitere Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe mit Seitenangabe im laufenden Text); ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985±2003, hier Bd. 5/1, S. 461, und Bd. 5/2, S. 769. Amsterdam 1728, Reprint Genf 1972. Vgl. Frühklassizismus. Position und Opposition: Winckelmann, Mengs, Heinse. Hg. von Helmut Pfotenhauer u. a., Frankfurt am Main 1995 (Bibliothek der Kunstliteratur 2), 362ff. und passim. ± Vgl. auch Élisabeth Décultot: Untersuchungen zu Winckelmanns Exzerptheften. Ein Beitrag zur Genealogie der Kunstgeschichte im 18. Jahrhundert. Aus dem Franz. übers. von Wolfgang von Wangenheim und René Mathias Hofter. Ruhpolding [2004] (Stendaler Winckelmann-Forschungen 2), S. 146, 190f. u. ö., sowie Johann Joachim Winckelmann: De la description. Introduction, traduction et notes de Élisabeth Décultot. Paris 2006, S. 158 und passim.
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gleich der Darstellungsweise des Bildhauers mit der des Dichters im Hinblick auf den Laokoon-Mythos auf der anderen Seite. Beides ist bei Richardson eher hingeworfen als schlüssig ausgeführt und regt deshalb zur Präzisierung an. Richardson berichtet zunächst über den Erhaltungszustand der LaokoonGruppe: Der rechte Arm sei abgebrochen und durch Terracotta schlecht ersetzt; einen besseren Arm habe Michelangelo aus Bescheidenheit unvollendet gelassen.3 Nach Angaben über die Künstler des Werkes und seine Wiederauffindung im Jahr 1506 kommt der Autor auf einen seiner Vorgänger in der Kunstliteratur, auf Paolo Alessandro Maffei und dessen Raccolta di statue antiche e moderne von 1704 zu sprechen. Maffei sage, die Beschreibung von Laokoons Todeskampf im zweiten Buch der Aeneis sei so genau, daß Vergil die Skulptur vor Augen gehabt haben müsse. Darauf entgegnet Richardson, es sei wahr, daß die Werke in vielem übereinstimmten, doch an einer entscheidenden Stelle weiche der Dichter von den Künstlern ab: »clamores simul horrendos ad sidera tollit« heißt es im berühmten Vers 222 bei Vergil ± »le Poëte fait faire à Laocoon des cris éfroïables«.4 Warum? Weil er es aus Kunstbewußtsein wollte. Die bildenden Künstler stellten die Szene vor Augen und wählten deshalb den Moment, der einen schönen, rührenden Ausdruck mache und die Zuschauer nicht schockiere. Deshalb sei dieser Laokoon »plus noble«5 als der literarische. Der Dichter spricht nicht die Augen an und erzeugt ± frei nach Horaz6 ± deshalb einen schwächeren Eindruck, welcher auch den Ausdruck des größten Schmerzes erträglich mache. Vergil nämlich wollte gar nicht das Interesse an Laokoon allein wecken, sondern mit ihm auf die Schrecken der Trojaner verweisen, der diese schließlich veranlasse, das Pferd in die Stadt zu holen. Richardson kontextualisiert also Vergils Darstellung, er betrachtet Laokoon als ein Element der Handlung. Man sieht, wie klassizistische Norm-Ästhetik und medientheoretische Differenzierung ± zumindest im Ansatz ± hier ineinander gehen und sich überlagern. Die Stelle hat also das Zeug, in alle Richtungen ausgedeutet zu werden; sie kann als eine Art Keimzelle der ästhetischen Debatten des Jahrhunderts gelten. Winckelmann kennt sie, greift aber nur den klassizistischen Aspekt auf ± sein Begriff der edlen Einfalt, der »noble simplicité« stammt von Richardson; die mediologische Rechtfertigung Vergils unterschlägt er. Weshalb? Lessing kennt sie, kritisiert aber die mediologische Differenzierung, indem er sie sich, zumindest partiell, zu eigen macht. Weshalb? Für Winckelmann ist Richardson wichtig insbesondere in der Zeit, bevor er Ende 1755 nach Rom kommt. Er weiß natürlich von der ästhetischen Bedeutung
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Jonathan Richardson jun.: Traité de la peinture et de la sculpture. Bd. 3/2: Description de divers fameux tableaux, desseins, statues, bustes, bas-reliefs, etc., qui se trouvent en Italie. Amsterdam 1728, S. 509f. Ebd., S. 514. Ebd. Vgl. auch Jonathan Richardson sen.: Essai sur la théorie de la peinture. In: Richardson jun. (Anm. 3), Bd. 1, S. 4. De arte poetica 180f.: »segnius irritant animos demissa per aurem, Quam que sunt oculis VXEMHFWDILGHOLEXV>«@©
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der Laokoon-Gruppe, hat aber 1754/55, zur Zeit seiner Dresdner Erstlingsschrift, den Gedancken über die Nachahmung,7 noch kaum eine Anschauung davon. Einen Gipsabguß hat er nicht gesehen. Wahrscheinlich lag ihm nur eine Illustration aus Joachim von Sandrarts Teutscher Academie vor, die allein den Priester selbst, nicht seine Söhne zeigt. Auch die Abbildung aus Maffeis Raccolta8 könnte er gekannt haben. Deshalb war Richardson, der Ersatz für den Augenschein schlechthin in dieser Zeit, für ihn zunächst so wichtig. In der späteren, römischen Zeit speisen sich seine Schilderungen und Reflexionen vor allem aus dem Anblick. Die Gesichtspunkte der Kunstliteratur treten zurück. Aber auch aus jener frühen Zeit haben wir keine expliziten Äußerungen Winckelmanns zu Richardson in seinen Texten. Um so wichtiger sind die indirekten Hinweise, die Lektürespuren, die sich aus seinen Exzerpten ergeben. Sie werden heute in der Pariser Bibliothèque Nationale aufbewahrt. 9 Und auch der locus classicus selbst in den Gedancken zeigt, wenn auch unausgesprochen, die Auseinandersetzung mit Richardson überdeutlich. Von der »noble simplicité« war bereits die Rede. »Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der Griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe, so wohl in der Stellung als im Ausdruck«,10 heißt es bei Winckelmann respondierend, die nüchterne Sprache der Richardsons ins ästhetisch Gesetzgeberische steigernd, die Sprache über die Statuen gleichsam selbst wie in Stein gemeißelt. Auch die »grandeur« findet sich schon im »Traité de la peinture«. Aber eine andere Modifikation fällt hier sofort auf: Bei Richardson jun. ist das Noble, der »Caractère Sacerdotal«, an die »belle Expression«,11 also an das Schöne gebunden; bei Winckelmann geht der Ausdruck »einer so grossen Seele« »weit über die Bildung der schönen Natur« hinaus.12 In der Stille steckt eine Überwindung der Menschennatur und ihrer Schmerzen. Das Schöne ist spannungsvoller und wird ins Erhabene gesteigert. Winckelmann ist Richardsons Klassizismus wohl zu flach, zu wenig agonal, um ihn unbesehen übernehmen zu können. Alle Diskussionen über das Pathetische im klassisch Schönen ± bis hin zu Moritz und Hirt ± haben hier ihren Ursprung.13 Deshalb wohl, so meine These, hat Winckelmann auch die nun bei Richardson jun. folgende Mediendifferenzierung nicht aufgenommen. Es geht ihm um 7
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Vgl. auch Helmut Pfotenhauer: 250 Jahre Winckelmanns »Gedancken über die Nachahmung«. Ein Klassiker des Klassizismus? Stendal 2006 (Flugblätter der WinckelmannGesellschaft. Akzidenzien 16). Dort und in meinem Kommentar zu Pfotenhauer (Anm. 2) alle weiteren Literaturangaben. Vgl. Winckelmann: De la description (Anm. 2), S. 19. Vgl. André Tibal: Inventaire des Manuscrits de Winckelmann déposés à la Bibliothèque Nationale. Paris 1911, S. 104ff., und neuerdings Décultot (Anm. 2). Hier zitiert nach Pfotenhauer (Anm. 2), S. 30. Richardson jun. (Anm. 3), S. 514. Pfotenhauer (Anm. 2), S. 31. Vgl. die Studie von Dönicke, die diesen Weg weiterverfolgt: Martin Dönike: Pathos, Ausdruck, Bewegung. Zur Ästhetik des Weimarer Klassizismsus 1796±1806. Berlin, New York 2005.
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eine Vertiefung des Begriffes bildender Kunst: Erst wenn man das Gebot der Erhebung über die Leidenschaft zum obersten Gesetz aller Kunst macht, nicht aus Leidenschaftslosigkeit, sondern aus einem Überschuß an Leidenschaft, die bezwungen werden will, wird man ihr gerecht. Die bildende Kunst ist dafür der Maßstab. Mit diesem Changieren zwischen Schönem und Erhabenem weist Winckelmann unverkennbar auf die doppelte Ästhetik Schillers voraus, der dies auch dankbar gesehen hat. Im Gegensatz zu Schiller aber ist Winckelmann an einer Einbeziehung der Literatur in die ästhetische Gesetzgebung nicht ernsthaft interessiert. Deshalb, zumindest auch deshalb, die nun bei Winckelmann in den Gedancken folgenden Ausfälle gegen Vergil; deshalb auch die Suche nach einem weiteren Kronzeugen, einem Literaten, der Vergil in der Darstellung des Schmerzes widerlegen könnte und den er bekanntlich in Sophokles und dessen Philoktet zu finden glaubt. In Italien entstanden weitere Laokoon-Beschreibungen Winckelmanns.14 In ihnen spielt Richardson keine Rolle mehr, da ja nun der Anblick der Gruppe den Bericht des Italienreisenden ersetzt. In einem in der Florentiner Biblioteca Colombaria aufbewahrten, undatierten Manuskript tritt die Schönheit der Expression wieder mehr in den Vordergrund. Die Alten hätten gesucht, »DOOH]HLW>«@ die schönsten Theile zu weisen und die Expression auf zartere und weniger schreckliche Art als wir zu zeigen«.15 Die Dramatisierung des klassisch Schönen, die in der vollkommenen Gestaltung noch den siegreichen Kampf gegen das Grauen sieht und damit den düsteren Untergrund alles Schönen, wäre also, so könnte man das verstehen, ein Effekt moderner Erfahrung der Zerrissenheit, die sentimentalisch auf das Alte zurückprojeziert wird. Solche Selbstthematisierungen des Sentimentalischen in der klassizistischen Betrachtung antiker Kunstwerke finden sich bei Winckelmann häufiger, man denke etwa an das Ende der Torso-Beschreibung von 1762.16 ± Der von Richardson her reflektierte Gegensatz der Laokoon-Skulptur und der Darstellung Vergils in der Aeneis, der in den Gedancken noch zentral war, hat in diesem Florentiner Manuskript kaum mehr Platz. Wenn Vergil von einem schrecklichen Geschrei spreche, so sei das durch die Autopsie, die jetzt allein zählt, weder zu bestätigen, noch zu widerlegen, denn sowohl Schreien als auch Stöhnen sei durch den halbgeöffneten Mund, den der Betrachter sieht, möglich. In der Geschichte der Kunst des Alterthums von 1764 schließlich tritt das Agonale wieder stärker hervor. »Die linke Seite, in welche die Schlange mit dem wütenden Bisse ihren [!] Gift ausgießet, ist diejenige, welche durch die nächste Empfindung zum Herzen am heftigsten zu leiden scheint, und dieser Theil des Körpers kann ein Wunder der Kunst genennet werden.«17 Kein Teil sei in Ruhe; Bewegung und Erstarrung kämpfen in Winckelmanns spätester 14 15 16 17
Vgl. die Zusammenstellung aller überlieferten Fassungen in: Pfotenhauer (Anm. 2), S. 495ff., und die Textauswahl, S. 186ff. Ebd., S. 187. Ebd., S. 179. Ebd., S. 191.
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Darstellung der Skulptur. Vergils Darstellung des schreienden Laokoon und mit ihm Richardsons Mediendifferenzierung treten nun ganz in den Hintergrund. Lessing geht im VI. Kapitel der 1766 erschienenen Druckfassung seines Laokoon auf Richardson jun. näher ein. Eigentlich scheint Lessing Richardson im argumentativen Kampf gegen Winckelmann gut gebrauchen zu können. Denn dieser gibt ja Vergil als Dichter gegenüber dem bildenden Künstler ein Eigenrecht. Um so überraschender daher zunächst, daß Lessing hier den Engländer, den auch er in der französischen Übersetzung von 1728 liest, nur anführt, um ihn zu kritisieren. Bei näherem Hinsehen zeigt sich der Grund dafür. Richardson ist Lessing in medienästhetischer Hinsicht nicht konsequent genug. Er zeigt zwar in Lessings Sicht, daß Vergils Laokoon schreien muß, aber er kann nicht ganz plausibel machen, weshalb. Richardson sagt, der Dichter wolle nicht Mitleid mit Laokoon erregen, sondern durch den Hinweis auf seinen Schmerz Schrecken und Entsetzen bei den Trojanern, um ihr Handeln plausibel erscheinen zu lassen. Sie sehen in Laokoon den grausam bestraften Frevler und fühlen sich aufgerufen, der Gottheit zu folgen und das Pferd in die Stadt zu lassen. Deren dann dadurch erfolgende Zerstörung sei das eigentliche Telos von Vergils Darstellung. »Allein«, so Lessing darauf, »das heißt die Sache aus einem malerischen Augenpunkte betrachten zu wollen, aus welchem sie gar nicht betrachtet werden kann. Das Unglück des Laokoon und die Zerstörung sind bei dem Dichter keine Gemälde nebeneinander; sie machen beide kein Ganzes aus, das unser Auge auf einmal übersehen könnte oder sollte; und nur in diesem Fall wäre es zu besorgen, daß unsere Blicke mehr auf den Laokoon, als auf die brennende Stadt fallen dürften. Beider Beschreibungen folgen auf einander, und ich sehe nicht, welchen Nachteil es der folgenden bringen könnte, wenn uns die vorhergehende auch noch so sehr gerührt hätte.« (55f.) Richardson spricht in seinem Text von einer »3HLQWXUHG¶XQSHWLWPDOKHXUG¶XQ3DUWLFXOLHU«,18 die vom Hauptzweck der Handlung ablenken könnte. In diesem Wort »Peinture« steckt nach Lessing offenbar der ganze Fehler. Er ist so erstaunlich spitzfindig und wortklauberisch, weil er in seiner eigenen Argumentation, in seiner endgültigen Widerlegung des medien-indifferenten Winckelmann, die mediologische Zuspitzung braucht. Man darf sich die Abfolge der Vorstellung, welche die Poesie erzeugt, nicht als Gemälde, als mit dem äußeren Auge sichtbare Bilder vorstellen. Sonst würde jedes Bild für sich wirken und das andere verdrängen oder beeinträchtigen. Man muß der Literatur eine Eigenlogik zuschreiben; und das ist die der willkürlichen Zeichen. Lessing verstärkt seine mediologische Argumentation semiotisch. Die willkürlichen Zeichen zwingen nicht zum Verweilen. Sie erlauben es der Einbildung weiterzugehen, ja sie fordern es von ihr. Die Dichtung ist damit freier und letztlich auch überlegen, weil durch den Augenschein nicht gefesselt, nicht gebannt. Auch ein Argument für den Vorrang der Dichtung resultiert also letztlich aus jener mediologisch und semiologisch instrumentierten Argumentation. 18
Richardson jun. (Anm. 3), S. 517.
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Lessing gibt dafür ein Beispiel. »Bis medium amplexi, bis collo squamea circum / Terga dati, superant capite et cervibus altis«, heißt es bei Vergil (Aeneis II 218f.). In der Übersetzung: »Doppelt umstricken sie [die Schlangen] seinen [Laokoons] Leib, doppelt ringeln sich die schuppigen Rücken um seinen Hals, und sie überragen ihn mit dem Kopf und dem hohen Nacken.« (887) Lessing erläutert dazu: »Diese Züge erfüllen unsere Einbildungskraft allerdings; aber sie muß nicht dabei verweilen, sie muß sie nicht aufs reine zu bringen suchen, sie muß itzt nur die Schlangen, itzt nur den Laokoon sehen, sie muß sich nicht vorstellen wollen, welche Figur beide zusammen machen.« (56) So spricht der Schrift-Mensch Lessing, der es begrüßt, wenn die inneren Bilder der Einbildungskraft nicht so evident sind, daß sie uns im Augenblick festhalten und uns zwingen, alle sichtbaren Züge gleichzeitig wahrzunehmen. Lessing plädiert für eine gleichsam überanschauliche19 Ästhetik des Dichterischen, die dieses im Grunde nicht nur gleich gültig mit dem Bildkünstlerischen, sondern sogar überlegen macht. Der Augenmensch Winckelmann wird damit ins Unrecht gesetzt. Richardson, der zwischen beiden steht, wird vernachlässigbar.
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Ich verwende hier einen Begriff von Theodor A. Meyer: Das Stilgesetz der Poesie. Stuttgart 1901, S. 60ff. (Neuauflage mit einem Vorwort von Wolfgang Iser. Frankfurt am Main 1990).
IV. (NACH-)WIRKUNGEN
Frieder von Ammon Frieder von Ammon Laokoon oder Über die Grenzen der Musik und Poesie. Bemerkungen zu Paralipomenon 27 und zur musikästhetischen Wirkungsgeschichte des ungeschriebenen dritten Teils
Laokoon oder Über die Grenzen der Musik und Poesie Laokoon oder Über die Grenzen der Musik und Poesie Bemerkungen zu Paralipomenon 27 und zur musikästhetischen Wirkungsgeschichte des ungeschriebenen dritten Teils
Im Jahr 1865 erscheint bei Breitkopf & Härtel in Leipzig der erste vollständige Klavierauszug von Richard Wagners Walküre, deren Uraufführung damals noch gar nicht stattgefunden hatte, erst fünf Jahre später sollte es dazu kommen. Neugierig auf Wagners neuestes Musikdrama, über das im Vorfeld bereits viel spekuliert worden war, erwirbt ein 21jähriger Student der Altphilologie in Leipzig den Klavierauszug und beginnt damit, die Walküre am Klavier durchzuarbeiten. Er ist fasziniert, aber auch irritiert und fängt an, seine Eindrücke schriftlich niederzulegen, offenbar denkt er an eine Rezension. Folgendermaßen leitet er sie ein: Die musikalische Aesthetik liegt im Argen: es fehlt ein Lessing, der ihre Grenzen gegenüber der Poesie absteckte. Nirgends fühlt man dies deutlicher als bei dem sonderbaren Dichtercomponisten, dessen jüngstes Werk hier vor uns liegt.1
Der Student nun, der sich zu einer Stellungnahme herausgefordert fühlt und dabei bemerkt, dass die Musikästhetik der Zeit angesichts jenes »sonderbaren Dichtercomponisten« an ihre Grenzen stößt, ist kein anderer als Friedrich Nietzsche, der zu diesem Zeitpunkt noch kein Parteigänger Wagners ist, sondern, geprägt durch seinen Bonner Lehrer, den Altphilologen und Mozart-Biographen Otto Jahn und die Abhandlung Vom Musikalisch-Schönen des Wiener Musikkritikers Eduard Hanslick, eher auf der anderen, der klassizistischen Seite steht und sich dementsprechend befremdet fühlt von der grenzüberschreitenden, von der romantischen Musikästhetik und Schopenhauer beeinflussten Musikdramatik Wagners. Hanslick war in seiner zuerst im Jahr 1854 erschienenen Abhandlung vehement für die Autonomie der Musik eingetreten, was von Wagner aber nun programmatisch über den Haufen geworfen wurde: In seinem ¾Kunstwerk der Zukunft½, dessen neueste Realisierung die Walküre war, sollten alle Künste im Dienste des Dramas zusammenwirken. Kein Wunder also, dass der junge Nietzsche irritiert war. Und es ist auch nicht überraschend, dass seine Rezension der Walküre ein Fragment blieb; bis es ihm gelingen würde, die Ästhetik Wag1
Zitiert nach: Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung. Hg. von Dieter Borchmeyer und Jörg Salaquarda. 2 Bde. Frankfurt am Main, Leipzig 1994, Bd. 1, S. 318.
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ners ganz zu durchdringen und sie ± in der Geburt der Tragödie ± weiterzudenken, sollten noch sieben Jahre vergehen. Nicht auf diese ± wohlbekannten ± Zusammenhänge kommt es hier freilich an, sondern auf ein Detail des Rezensions-Fragments: auf die Tatsache nämlich, dass Nietzsche in dieser Situation auf Lessing und seinen Laokoon zu sprechen kam, genauer: darauf, dass Lessing den dritten Teil seiner Abhandlung, in dem es, wie man weiß, auch um die Musik hätte gehen sollen, nicht geschrieben hat. Denn diese Tatsache gehört zu den großen Versäumnissen in der Geschichte der Musikästhetik: Hätte Lessing den dritten Teil des Laokoon geschrieben, dann wäre der Diskurs über die Musik in Deutschland sicherlich völlig anders verlaufen. Dann hätte es mit großer Wahrscheinlichkeit auch einen musikalischen ¾Laokoon-Streit½ gegeben, und dann hätte Nietzsche bei seiner Beschäftigung mit der Walküre wohl wirklich auf einen oder sogar mehrere grundlegende Traktate zum Thema zurückgreifen können. Doch dazu ist es leider ja eben nicht gekommen. Nietzsche war im Übrigen nicht der erste, der beklagte, dass Lessing sich im Laokoon nicht auch mit der Musik beschäftigt hatte. Bei dieser Klage handelt es sich geradezu um einen Topos. Der erste ± und wohl früheste ± Beleg findet sich in einem Brief Herders an Johann Georg Scheffner, geschrieben im Herbst 1766, also genau hundert Jahre vor Nietzsches Fragment. Nachdem er berichtet hat, den Laokoon, dessen Erscheinen damals noch nicht lange zurücklag, »recht heisshungrig 3 mal nacheinander durchgelesen« zu haben,2 fragt Herder rhetorisch: Und wer hat Poesie u. Musik zusammengehalten, mit einem Philosophischen u. aesthetischen Kopf? Keiner, als K r a u s e , und das blos als Morgenstern; Marpurg ist ein Stümper; Rammler in seinem Batteux hat Goldkörner gelesen ± hier lebe noch ein L e s s i n g auf, der uns einen P l a t o über die Gränzen der Musik u. Poesie gebe.3
Auch Herder hatte also bemerkt, welch empfindliche Lücke dadurch entstanden war, dass Lessing im Laokoon nicht auch die Grenzen von Musik und Poesie behandelt hatte, dass es hier also gewissermaßen Nachholbedarf gab. Und er hatte ja Recht: Während nach dem Erscheinen des Laokoon ± um Goethes berühmte Formulierung aufzugreifen ± »[d]as so lange mißverstandene: ut pictura SRHVLV>«@DXIHLQPDOEHVHLWLJWGHU8QWHUVFKLHGGHUbildenden und Redekünste klar« war,4 blieb das Verhältnis von musica und poesis weiterhin ungeklärt. Es gab damals auf diesem Gebiet eben keinen Theoretiker vom Schlage Lessings. Ohne sie zu unterschätzen, muss man Herder Recht geben, wenn er die von ihm
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Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausgabe. 1763±1803. Unter Leitung von KarlHeinz Hahn hg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv). 10 Bde. Weimar 1977±2001, Bd. 1, S. 62. Herder (Anm. 2), Bd. 1. S. 64f. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Hendrik Birus u. a. 40 Bde. Frankfurt am Main 1985±1999, Bd. 14, S. 346.
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genannten ± die Berliner Musikschriftsteller Christian Gottfried Krause5 und Friedrich Wilhelm Marpurg6 sowie Karl Wilhelm Ramler7 ± im Hinblick auf die Systematisierungsleistung und die Brillanz der Darstellung für Lessing unterlegen hält. Herder hat später selbst versucht, diese Lücke zu schließen; zunächst im vierten Kritischen Wäldchen von 1769, vor allem dann aber im Zusammenhang mit seinem Opern-Libretto Brutus, das 1774 in der Vertonung von Johann Christian Friedrich Bach in Bückeburg uraufgeführt wurde und in dem das Bemühen erkennbar ist, die Grenzen von Musik und Poesie völlig neu zu bestimmen. Wohl unzufrieden mit der Vertonung des Bach-Sohnes, schrieb Herder noch im selben Jahr einen Brief an Christoph Willibald Gluck, in dem er ihn dazu aufforderte, sein Libretto erneut zu vertonen und dabei seine opernästhetischen Vorstellungen ± die denen Glucks freilich diametral entgegenstanden ± zu berücksichtigen. Wenig überraschend, hat Gluck ihm nicht geantwortet. Später, in der Adrastea, hat Herder seine Auffassungen dann revidiert, und zwar schon mit Bezug auf die in der Zwischenzeit publizierten Laokoon-Paralipomena, die er aufmerksam studiert zu haben scheint.8 Ein zweiter Beleg findet sich in Friedrich Schlegels Lyceums-Fragmenten, wo man liest: »Es bedürfte eines neuen LAOKOON, um die Grenzen der Musik und der Philosophie zu bestimmen. Zur richtigen Ansicht mancher Schriften fehlt es noch an einer Theorie der grammatischen Tonkunst.«9 Schlegel setzte also einen etwas anderen Akzent, in dem es ihm auf die Grenzen von Musik und Philosophie ankam, doch auch er ging davon aus, dass auf dem Gebiet der Musikästhetik bzw. Musiktheorie eine einschlägige, dem Laokoon ebenbürtige Abhandlung noch nicht geschrieben worden sei. Und wieder möchte man ihm nicht widersprechen.
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Herder spielt an auf Krauses Abhandlung Von der musikalischen Poesie aus dem Jahr 1752. Zu Krause vgl. Karsten Mackensen: Art. Krause, Christian Gottfried. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik begründet von Friedrich Blume. Zweite, neubearbeitete Auflage hg. von Ludwig Finscher. 29 Bände in zwei Teilen. Kassel u. a. 1994±2008, Personenteil 10, Sp. 629±632. Zu Marpurg vgl. Laurenz Lütteken: Art. Marpurg, Friedrich Wilhelm. In: MGG² (Anm. 5), Personenteil 11, Sp. 1125±1131. Herder bezieht sich auf Ramlers Übersetzung von Charles Batteux¶Les beaux-arts réduits à un même principe und Cours de belles lettres, die in den Jahren von 1756 bis 1758 erschienen war. Zu Ramler im Kontext der Musikästhetik vgl. Herbert Lölks: Art. Ramler, Karl Wilhelm. In: MGG² (Anm. 5), Personenteil 13, Sp. 1251f. und die entsprechenden Beiträge in: Urbanität als Aufklärung. Karl Wilhelm Ramler und die Kultur des 18. Jahrhunderts. Hg. im Auftrag des Gleimhauses von Laurenz Lütteken, Ute Pott und Carsten Zelle. Göttingen 2003 (Schriften des Gleimhauses Halberstadt Bd. 2). Vgl. dazu Jörg Krämer: Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung. 2 Bde. Tübingen 1998 (Studien zur deutschen Literatur Bd. 149), Bd. 1, S. 261±292, Bd. 2, S. 742±750. Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe. Hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von JeanJacques Anstett und Hans Eichner. Bisher 28 Bde. München u. a. 1958ff., Bd. 2, S. 155, [64].
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Ein dritter Beleg stammt aus dem Jahr 1819. In diesem Jahr schreibt Grillparzer Folgendes in sein Tagebuch: Ein Gegenstück zu schreiben zu Lessings Laokoon: Rossini, oder über die Gränzen der Musick und Poesie. Es müßte darin gezeigt werden, wie unsinnig es sey, die Musick bei der Oper zur bloßen Sklavin der Poesie zu machen und zu verlangen, daß erstere, mit Verläugnung ihrer eigenthümlichen Wirksamkeit, sich darauf beschränke der Poesie unvollkommen nachzulallen mit ihren Tönen, was diese deutlich spricht mit ihrer Begriffen.10
Grillparzer beklagte also nicht nur das Fehlen eines musik- bzw. opernästhetischen »Gegenstück[s]« zum Laokoon, er projektierte es sogar, einschließlich des Titels. Und dass darin der Komponist Gioachino Rossini an die Stelle der Laokoon-Gruppe tritt, ist signifikant: Grillparzer hat sich mit diesem ¾Napoleon der Musik½, als den ihn Stendhal in seiner Vie de Rossini wenig später darstellen sollte,11 einen Gegenstand gewählt, der, anders als die LaokoonGruppe, zwar nicht schon seit Jahrhunderten, dafür aber in der Zeit umso heißer diskutiert wurde. Grillparzer hat seinen »Rossini« dann zwar nicht geschrieben, aber er ist in seinem Tagebuch immer wieder auf damit verbundene Fragen zurückgekommen, sodass sich sukzessive doch eine zusammenhängende opernästhetische Position ergibt,12 eine Position, deren Wirkungen sich bis zu Nietzsche verfolgen lassen; es wird darauf zurückzukommen sein. Schließlich ist ein musikästhetisches »Gegenstück« zum Laokoon dann tatsächlich geschrieben worden, und zwar von dem österreichischen Musikwissenschaftler August Wilhelm Ambros. Seine Abhandlung Die Gränzen der Musik und Poesie. Eine Studie zur Aesthetik der Tonkunst erschien 1856 in Prag, und bereits der Titel markiert den Bezug auf Lessings Laokoon mit programmatischer Deutlichkeit. Ambros löste das Desiderat eines »musikalischen Laokoon« nun also ein,13 allerdings fragten sich bereits die Zeitgenossen, ob er seinem Anspruch gerecht geworden ist; auch darauf wird noch zurückzukommen sein. Bevor diesen Fragen jedoch weiter nachgegangen werden kann, ist vorläufig festzuhalten, dass es ± paradoxerweise ± eine musikästhetische Wirkungs10 11
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Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Im Auftrage der Stadt Wien. Hg. von August Sauer und Reinhold Backmann. 42 Bde. Wien 1909±1948, Bd. 27 (Tagebücher 1), S. 242, 618. In der Vorrede heißt es: »Seit Napoleons Tod gibt es einen anderen Mann, dessen Name jeden Tag in Moskau wie in Neapel, in London wie in Wien, in Paris wie in Kalkutta in aller Munde ist. Der Ruhm dieses Mannes kennt keine anderen Grenzen als die der zivilisierten Welt ± und dabei ist er noch nicht einmal zweiunddreißig Jahre alt!« (Stendhal: Rossini. Aus dem Französischen von Barbara Brumm. Frankfurt am Main 1988, S. 9.) Zu Grillparzer im Kontext der Musik vgl. Claudia Albert: Art. Grillparzer, Franz. In: MGG² (Anm. 5), Personenteil 8, Sp. 39f. Zu seiner Musikästhetik vgl. auch Cord-Friedrich Berghahn: »Ein Gegenstück zu schreiben zu Lessings Laokoon«. Grillparzers mediale Ästhetik der Musik. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift. Neue Folge 61 (2011), S. 407-430. Diese Bezeichnung stammt von dem Philosophen Robert von Zimmermann, der so seine Rezension von Ambros¶6FKULIWEHUVFKULHEHQKDWGD]XV u.
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geschichte des ungeschriebenen dritten Laokoon-Teils gibt. Obwohl er nicht geschrieben wurde, hat dieser Teil ein ganzes Jahrhundert lang auf die Musikästhetik gewirkt. Wie es scheint, hat gerade die Tatsache, dass Lessing ihn nicht geschrieben hat, seine Nachfolger besonders herausgefordert. Die Tatsache hingegen, dass es in den Paralipomena des Laokoon ja durchaus Äußerungen zur Musik gibt, hat ± wiederum paradoxerweise ± im Grunde keine Rolle gespielt. Die Nachfolger Lessings (außer Herder) scheinen dies schlicht nicht bemerkt zu haben, obwohl das entscheidende Paralipomenon 27 seit 1788 gedruckt vorlag. Man beklagte also das Fehlen eines »musikalischen Laokoon«, ohne Lessings Entwürfe dazu zur Kenntnis genommen zu haben. Und somit gibt es eine musikästhetische Wirkungsgeschichte des ungeschriebenen dritten Teils, aber keine des geschriebenen Paralipomenons 27. Doch wie dem auch sei: In jedem Fall hat eine Reihe von Autoren auf verschiedene Weise versucht, die von Lessing hinterlassene Lücke zu schließen. Und die Folge dieser Versuche bildet einen eigenen, hochinteressanten Strang in der Geschichte der Musikästhetik: einen Strang, der Einblicke in verschiedene Konstellationen der Musikgeschichte, vor allem der Operngeschichte, gewährt und der als Teil der reichen Wirkungsgeschichte des Laokoon unbedingt berücksichtigt werden sollte. Im Folgenden soll dieser Strang in ausgewählten Ausschnitten dargestellt werden. Aber nicht, ohne vorher einen Blick auf jenes Paralipomenon 27 geworfen zu haben: Denn zu diesem Text ist noch keineswegs alles gesagt, 14 und vor gewissen Tendenzen der Forschung möchte man ihn geradezu in Schutz nehmen.15 Aus diesem Grund gliedert sich dieser Beitrag in zwei Abschnitte. Im ersten Abschnitt wird es um Paralipomenon 27 gehen, bevor im zweiten Abschnitt dann die musikästhetische Wirkungsgeschichte des ungeschriebenen dritten Teils fokussiert wird. Um eine weitere Vorbemerkung kommt man in diesem Zusammenhang allerdings nicht herum: Es geht um Lessings Verhältnis zur Musik, das ± wie zu Recht angemerkt wurde ± notorisch »schwierig zu bestimmen« ist,16 ja das ± um noch eine zweite Stimme zu Wort kommen zu lassen ± »a matter of dispute« 14
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Vgl. dazu etwa Peter Horst Neumann: Einige Bemerkungen über Oper und Volkslied und die Idee der Einheit von 0XVLNXQG'LFKWXQJYRQ/HVVLQJV¾/DRNRRQ½-Fragmenten bis zu Richard Wagner und Heinrich Heine. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 7 (1972), S. 103±123 und Gloria Flaherty: Opera in the Development of German Critical Thought. Princeton, New Jersey 1978, S. 217±221. Aus den letzten Jahren sind zu nennen Simon 5LFKWHU ,QWLPDWH 5HODWLRQ 0XVLF LQDQG DURXQG /HVVLQJ¶V Laokoon. In: Poetics Today 4 (1999), S. 155±173 und John Pizer: Confusion or Transcendent Illumination? Lessing and Wieland in Music and its Interface with Poetry. In: Lessing Yearbook 33 (2001), S. 97± 113. Vor nicht allzu langer Zeit wurde etwa behauptet, Lessing habe darin eine schwule Opernsemiotik entwickelt. Vgl. Richter (Anm. 14), S. 159. Anett Lütteken: Art. Lessing, Gotthold Ephraim. In: MGG² (Anm. 5), Personenteil 11, Sp. 13±15, hier Sp. 14.
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ist.17 Am Entschiedensten für ein weitgehendes Desinteresses Lessings an der Musik eingetreten ist Walther Siegmund-Schultze.18 Doch immer wieder gab es auch Versuche, Lessing in diesem Punkt zu verteidigen, indem man auf die Stellen hinwies, an denen er sich eben doch kompetent und produktiv mit Musik beschäftigt hat, wie zum Beispiel in den beiden Stücken der Hamburgischen Dramaturgie, in denen er eine Theorie der Schauspielmusik entwickelt. 19 Gegenwärtig scheint in dieser Frage eine skeptische Haltung zu überwiegen. Paradigmatisch dafür ist Hugh Barr Nisbet, der in seiner Biographie Folgendes über Lessings Studienzeit in Leipzig schreibt: (LQH=HLWODQJZRKQWH/HVVLQJ>«@LQGHU%XUJVWUDHYRQZRVHLQ:HJ]XU8QLYHUVLWlWLKQ direkt an der Thomas-Kirche und der daneben gelegenen Thomas-Schule vorbeiführte. Für Musik hatte er wenig Sinn, so wird er auf seinem Weg wohl nicht stehengeblieben sein, um zuzuhören, wenn der Thomas-Kantor und Musikdirektor [Johann Sebastian Bach; FvA] mit seinem Chor probte oder auf der Orgel improvisierte.20
Was aber, wenn Lessing ± der ja auch sonst gerne die üblichen Wege verlassen hat ± doch stehengeblieben wäre? Und der Musik Bachs, mit dessen Sohn Carl Philipp Emanuel er sich später befreunden sollte, gelauscht hätte? Oder sogar mit dem Thomaskantor ± der durchaus Beziehungen zum literarischen Leipzig unterhielt21 ± gesprochen hätte, möglicherweise sogar über Musikästhetik? Natürlich gibt es dafür keinerlei Beweise, aber man sollte auch nicht voreilig davon ausgehen, dass es nicht immerhin so gewesen sein könnte. Die Prämisse Nisbets, Lessing habe »wenig Sinn« für Musik gehabt, wird aus diesem Grund im Folgenden nicht gelten. Andererseits soll und kann aber auch nicht einfach das Gegenteil behauptet werden. Stattdessen wird der Versuch unternommen, das Paralipomenon 27 möglichst unvoreingenommen in den Blick zu nehmen und dabei die zeitgenössischen Kontexte stärker zu berücksichtigen, als dies bisher geschehen ist.
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Richter (Anm. 14), S. 157. »Gotthold Ephraim Lessing steht in der deutschen Aufklärung und Klassik im Hinblick auf seine Musik-Beziehung einigermaßen isoliert da; keiner hat sie so wenig besungen, keiner kam ihr mit seiner Kunst so wenig entgegen.« (Walther Siegmund-Schultze: Lessing und die Musik. In: Lessing-Konferenz Halle 1979. 2 Bde. Halle 1980, Bd. 1, S. 327±332, hier S. 327.) Vgl. etwa Flaherty (Anm. 14 ), S. 201±232. Vgl. jetzt auch Cord-Friedrich Berghahn: »Töne in der Musik sind keine Zeichen«. Lessing und die Musik. Wolfenbüttel 2012 (Wolfenbütteler Vortragsmanuskripte 15). Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Karl S. Guthke. München 2008, S. 40. Dazu vgl. Hans Joachim Kreutzer: Johann Sebastian Bach und das literarische Leipzig der Aufklärung. In: Ders.: Obertöne. Literatur und Musik. Neun Abhandlungen über das Zusammenspiel der Künste. Würzburg 1994, S. 9±40.
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I. Denn wenn man so vorgeht, wird man unweigerlich zu dem Schluss kommen, dass das, was Lessing in Paralipomenon 27 ausführt, durchaus bemerkenswert ist, ja sogar »in hohem Grade bemerkenswert«, wie das Peter Horst Neumann bereits 1972 formuliert hat,22 ohne dies freilich selbst in jedem Punkt zeigen zu können und ohne damit ein größeres Echo in der Lessing-Forschung auszulösen. Inwiefern Neumanns Einschätzung berechtigt war, wird nun herauszuarbeiten sein. Das Paralipomenon 27 schließt zum einen an das zentrale XVI. Kapitel des Laokoon an, zum anderen an die Anmerkungen, die Mendelssohn zu Lessings Entwürfen gemacht hatte. Ausgehend von einer komparativen Semiotik der Künste entwirft Lessing darin eine Art Kombinatorik der Künste, die er typologisch und hierarchisch ordnet. Das Ziel wäre es wohl gewesen, einen systematischen Überblick über alle möglichen Kombinationen zu geben: eine Systematik der ± in heutiger Terminologie ± Medienmischungen. Da in diesem Beitrag Lessings Ausführungen zur Musik im Zentrum stehen, muss dies hier nicht weiter erläutert werden. Festzuhalten ist jedoch, dass diese Ausführungen bereits insofern bemerkenswert sind, als Lessing sich eben nicht für die Musik als Einzelkunst interessiert, sondern für die Musik in Verbindung mit der Poesie. Es ging ihm also gar nicht ± wie Herder, Schlegel, Grillparzer, Ambros und Nietzsche in Unkenntnis des Paralipomenons dachten ± um die Grenzen von Musik und Poesie, sondern eben um deren Verbindung, die Lessing sogar an die oberste Stelle seiner Hierarchie der verschiedenen möglichen KunstKombinationen setzt: Denn die Verbindung von Musik und Poesie sei »unstreitig unter allen möglichen [Vereinigungen] die vollkommenste«.23 (S. 312f.) Lessing begründet dies unter anderem mit der semiotischen Ähnlichkeit von Musik und Poesie: Beide seien Zeitkünste, hinzu komme, »daß beiderlei Zeichen nicht allein für einerlei Sinn sind, sondern auch von eben demselben Organo zu gleicher Zeit gefaßt und hervorgebracht werden können.« (S. 313) Wie Lessing weiter ausführt, seien Musik und Poesie ursprünglich sogar identisch miteinander gewesen: »die Natur selbst« scheine »sie nicht sowohl zur Verbindung, als vielmehr zu einer und eben derselben Kunst bestimmt zu haben«. (S. 313) Lessing geht also von einer Art Naturzustand aus, in dem Musik und Poesie eine Einheit gebildet hätten. Daraufhin sei es jedoch zu einer »Trennung« von Musik und Poesie gekommen, und zwar aus »natürlich[en]« Gründen (S. 313); die ehemals vereinten Künste hätten sich voneinander gelöst und als Einzelkünste unabhängig weiterentwickelt. Dies habe zu dem gegenwärtigen 22 23
Neumann (Anm. 14), S. 108. Das Paralipomenon wird nach der Ausgabe von Barner zitiert: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1989±1994, Bd. 5/2. Weitere Zitate werden im Folgenden nach dieser Ausgabe mit Seitenangabe in den Text integriert. Zu Datierung, Zählung und Benennung der Paralipomena vgl. aber den Beitrag von Christine Vogl in diesem Band.
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Zustand geführt, den Lessing als defizitär beschreibt: Zwar kritisiert er nicht, dass man die beiden Künste für sich ausübt ± also in Form von Instrumentalmusik einerseits und in Form von nicht mehr zum Singen gedachter literarischer Texte andererseits ±, was er jedoch beklagt, ist, dass die ursprüngliche Einheit der beiden Künste aufgrund ihrer Ausdifferenzierung und zunehmenden Emanzipation in Vergessenheit geraten sei. Was Lessing implizit fordert, ist also eine restitutio ad integrum, eine Wiederherstellung des Zustandes vor der Trennung von Musik und Poesie. In einem Satz: Er fordert eine Wiedervereinigung der beiden Einzelkünste, die Werke mit einer »gemeinschaftlichen Wirkung, welche beide zu gleichen Teilen hervorbringen« ermöglicht (S. 313). Mithin postuliert Lessing sowohl die Re-Union als auch die Gleichberechtigung beider Künste, ihm geht es um die Egalität von Musik und Poesie in ihrer erneuerten Verbindung. Um die Signifikanz dieser Position einschätzen zu können, ist es erforderlich, sie in die zeitgenössischen Debatten einzuordnen. Bei Gottsched etwa, darauf hat schon Neumann hingewiesen,24 ist eine völlig konträre Auffassung zu finden. Sehr anschaulich wird sie im Opern-Kapitel seiner Dichtkunst, wo Gottsched zur Untermauerung seiner eigenen Argumentation einen allegorischen Disput zwischen Musik und Poesie von Boileau zitiert. Darin fragt die Poesie ihre »Schwester«, die sie allerdings mit großer Herablassung behandelt: »Was? glaubst du durch eitle Accorden und ohnmächtige Töne alles das auszudrücken, was ich sage?« Daraufhin entgegnet die Musik: »Ja, ich glaube, daß ich in die süßen Entzückungen, womit dich Apollo begeistert, die Süßigkeiten meiner Melodien einmischen könne.« Doch die Poesie weist sie voller Hohn zurück: »Ach Schwester! genug; wir müssen uns trennen. Ich will mich entfernen: und dann laß einmal sehen, was du ohne mich ausrichten wirst.«25 Im Vergleich damit wird die Besonderheit von Lessings Position deutlich: Während bei Boileau/Gottsched die Vorbehalte der rationalistischen Ästhetik gegenüber der Musik mit großer Deutlichkeit zum Ausdruck kommen, ist bei Lessing eine entschiedene Aufwertung der Musik zu beobachten. Wie es scheint, nimmt er sogar Bezug auf die Passage bei Gottsched: Denn er beklagt ja genau das, was dort begrüßt wird, nämlich die Trennung von Musik und Poesie. Aussagekräftig ist auch ein Vergleich mit dem Discourse on Music, Painting, and Poetry von James Harris, der ja zu den Prätexten des Laokoon gehört. Im sechsten Kapitel seines Traktats äußert Harris sich ebenfalls über die Vereinigung (»union«) von Musik und Poesie, doch wiederum dezidiert anders als Lessing. Zitiert sei der dritte Paragraph: »Yet must it be remembered, in this Union, that Poetry ever have the Precedence; its Utility, as well as Dignity,
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Vgl. Neumann (Anm. 14), S. 105. Johann Christoph Gottsched9HUVXFKHLQHU&ULWLVFKHQ'LFKWNXQVW>«@4. Auflage. Leipzig 1751, S. 745f.
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being by far the more considerable.«26 Auch Harris beharrt also auf dem Primat der Poesie. Von Lessings Postulat der Egalität der beiden Künste ist er weit entfernt. Wenn man verstehen will, wie es zu dieser auffälligen Aufwertung der Musik bei Lessing kommen konnte, ist es hilfreich, seine Argumentation in den Kontext der musikästhetischen Debatten zu stellen, die im Berlin der Zeit geführt wurden und an denen sich ja nicht zuletzt auch Nicolai und vor allem Mendelssohn beteiligt haben. Denn wenn man dies tut, wird erkennbar, dass es bei ihnen durchaus Parallelen zu Lessings Position gibt: Nicolai war etwa in seinen Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland von 1755 vehement gegen Gottsched und für die Musik eingetreten,27 und Mendelssohn hatte unter anderem mit seinen Betrachtungen über die Quellen und Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften von 1757 einen wertvollen Beitrag zur Diskussion geleistet, bei dem seine Hochschätzung der Musik überdeutlich wird.28 Diese Parallelen sind nun sicher kein Zufall, vielmehr liegt es nahe, hier einen Zusammenhang zu vermuten. Warum sollte man zum Beispiel nicht annehmen, dass es zwischen den drei Freunden damals einen Trialog auch über Musik und Musikästhetik gegeben hat, und dass Lessing hinter Mendelssohn und Nicolai nicht zurückstehen und im dritten Teil des Laokoon einen eigenen Beitrag zu den Debatten leisten wollte? Dafür spricht unter anderem, dass Mendelssohn in seinen Anmerkungen zu den Entwürfen des Laokoon die Musik ins Spiel gebracht hatte;29 er hatte Lessing also geradezu herausgefordert, sich dazu äußern. Man könnte die Kreise aber auch noch weiter ziehen und etwa die Berliner Musikpublizistik um Marpurg ± mit dem Lessing ja befreundet war30 ± miteinbeziehen; möglicherweise könnte man auf diese Weise weitere Diskussi-
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James Harris: Three Treatises. The First Concerning Art. The Second Concerning Music Painting and Poetry. The Third Concerning Happiness. The Second Edition Revised and Corrected. London 1765, S. 102. Vgl. dazu Vf.: Kampfplätze der Literatur. Friedrich Nicolai und die Streitkultur des 18. Jahrhunderts. In: Friedrich Nicolai im Kontext der kritischen Kultur der Aufklärung. Hg. von Stefanie Stockhorst. Göttingen 2013 (Schriften des Frühneuzeitzentrums Potsdam Bd. 2), S. 23±49, hier S. 36±38. Zu dem Thema ¾Nicolai und die Musik½ vgl. außerdem Gudula Schütz: Art. Nicolai, (Christoph) Friedrich. In: MGG² (Anm. 5), Personenteil 12, Sp. 1049f. und dies.: Vor dem Richterstuhl der Kritik. Die Musik in Friedrich Nicolais ¾Allgemeiner deutscher Bibliothek½ 1765±1806. Tübingen 2007. Zu Mendelssohns Musikästhetik vgl. Laurenz Lütteken: Zwischen Ohr und Verstand: 0RVHV0HQGHOVVRKQ-RKDQQ3KLOLSS.LUQEHUJHUXQGGLH%HJUQGXQJGHV¾UHLQHQ6DW]HV½LQ der Musik. In: Musik und Ästhetik im Berlin Moses Mendelssohns. Hg. von Anselm Gerhard. Tübingen 1999, S. 135±163, Ders.: Moses Mendelssohn und der musikästhetische Diskurs der Aufklärung. In: Moses Mendelssohn im Spannungsfeld der Aufklärung. Hg. von Michael Albrecht und Eva J. Engel. Stuttgart-Bad Canstatt 2000. S. 159±193 sowie Ders.: Art. Mendelssohn, Moses. In: MGG² (Anm. 5), Personenteil 11, Sp. 1530±1534. Vgl. etwa Lessing (Anm. 23), S. 219, Anm. 3, S. 237, Anm. 27 und S. 250, Anm. 39. Vgl. etwa Lessings Gedicht An den Herrn Marpurg, über die Regeln in den Wissenschaften zum Vergnügen; besonders der Poesie und Tonkunst (Lessing [Anm. 23], Bd. 1, S. 29±35.)
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onszusammenhänge aufdecken. Allerdings ist dabei das hohe »Maß an informeller Verflechtung innerhalb der berlinischen Musikkultur« zu bedenken, auf das Laurenz Lütteken aufmerksam gemacht hat; bereits die damaligen Kommunikationswege sind heute nicht mehr vollständig rekonstruierbar. 31 In jedem Fall sollte man Lessings Position aber mit einem Text in Verbindung bringen, der erschienen ist, als er noch am Laokoon schrieb: dem Essai sur O¶XQLRQ GH OD SRpVLH HW GH OD PXVLTXH von dem französischen Militär und Schriftsteller François-Jean de Chastellux. Denn auch Chastellux tritt der Unterordnung der Musik entgegen: »Pourquoi« ± so fragt er einleitend ± »Pourquoi par une prédilection injuste & tyranique avons ± nous rendu la Musique esclave de la Poësie?«32 Sein Ziel ist es dementsprechend, »de rendre les Poëtes Musiciens, & les Musiciens Poëtes.«33 Allerdings geht seine Argumentation dann in eine ganz andere Richtung als die Lessings: Chastellux ist ein Verfechter der italienischen Oper und sieht in ihr den Höhepunkt der Musikgeschichte. Damit im Einklang bildet die Musik für ihn letztlich »O¶REMHWSULQFLSDO« in der Oper.34 Es ging ihm also gar nicht um eine grundsätzliche Egalität von Musik und Poesie, sondern um das Primat der Musik in der Oper. Wie gesagt, ist Chastellux¶Essai erschienen, als Lessing gerade am Laokoon schrieb. In der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste wurden die deutschen Leser sogar auf das Erscheinen dieses Textes hingewiesen.35 Es ist also durchaus möglich, dass Lessing den Essai zur Kenntnis genommen hat, wenn es dafür auch keine konkreten Belege gibt. Doch wie dem auch sei: Die Tatsache, dass Lessing sich zur selben Zeit mit ähnlichen Problemen beschäftigte wie Chastellux, zeigt, wie aktuell seine diesbezüglichen Überlegungen waren, und zwar auch über Deutschland hinaus. Wie es scheint, wollte Lessing mit dem dritten Teil seines Laokoon einen Beitrag zu den musikästhetischen Debatten liefern, der nicht nur innerhalb der Berliner Diskussionszusammenhänge relevant gewesen wäre. Damit zurück zu Paralipomenon 27, wo Lessing seine Kritik an der musikalisch-poetischen Praxis der Gegenwart fortsetzt und vertieft: In der Gegenwart gebe es zwar durchaus Beispiele für die Verbindung von Musik und Poesie, doch bei diesen wären die Künste eben niemals gleichberechtigt. Immer werde »die eine Kunst nur zu einer Hilfskunst der andern« gemacht. (S. 313) Die Kunstform, bei der Lessing dies ± wie Chastellux ± im Anschluss näher verfolgt, ist die Oper. In dieser Gattung sei »die Dichtkunst die helfende Kunst«. (S. 313) Lessing sieht ± anders als Chastellux ± das Primat der Musik in der 31 32
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Laurenz Lütteken: Zwischen Berlin und Hamburg. Ramler in der Musikkultur des 18. Jahrhunderts. In: Ders./Pott (Anm. 7), S. 175±194, hier S. 187. [François-Jean De Chastellux@(VVDLVXUO¶XQLRQGHODSRpVLHHWGHODPXVLTXHParis 1765, S. 2. Zu Chastellux vgl. Elisabeth Schmierer: Art. Chastellux, François-Jean. In: MGG² (Anm. 5), Personenteil 3, Sp. 782±784. Chastellux (Anm. 32), S. 21. Ebd., S. 45. [Anonymus]: Neue witzige Schriften aus Frankreich. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 1 (1766), S. 397.
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Oper also als kritikwürdig an. »[D]ie Verbindung aber, wo die Musik die helfende Kunst wäre« ± so fährt er fort ±, habe man »noch unbearbeitet gelassen«. (S. 313) Eine interessante Bemerkung: Woran genau er dabei dachte, ist schwer zu rekonstruieren. Eines jedoch ist sicher: Das Ungenügen an dem ungleichen Verhältnis von Musik und Poesie in der Oper teilten viele Zeitgenossen mit Lessing, was dazu führte, dass ungefähr zur selben Zeit, als er sein Paralipomenon schrieb, eine neue Gattung des Musiktheaters erfunden wurde, und zwar von keinem Geringeren als Rousseau: das Melodram, also die Kombination von gesprochenem Wort und Musik. Gerade im Deutschland der 1770er Jahre sollte dies eine Modegattung werden, von der viele sich eine Lösung der durch die Oper aufgeworfenen ästhetischen Probleme versprachen.36 Lessing hat in Paralipomenon 27 also etwas theoretisch skizziert, was im weiteren Verlauf der Musikgeschichte dann (wenn auch ohne dichten Bezug zu ihm) in die Praxis umgesetzt worden ist. In einer einzigen Fußnote, die es aber in sich hat, stellt Lessing daraufhin einen Vergleich zwischen der französischen und der italienischen Oper an. Er greift damit ein in der zeitgenössischen Opernästhetik strittiges Thema auf, die sogenannte Querelle des Bouffons, die in den 1750er Jahren die Debatten beherrscht hatte und in den 1760er Jahren noch immer aktuell war; auch Chastellux¶ Essai steht in diesem Zusammenhang. Interessant ist jedoch die Position, die Lessing in diesem Streit bezieht. Denn anders als Rousseau, Diderot et alii schlägt er sich auf die Seite der französischen Oper und übt Kritik an der Oper der Italiener. Und zwar mit der folgenden Begründung: »In der Französischen 2SHULVWGLH3RHVLHZHQLJHUGLH+OINXQVW>«@,QGHULWDOLlQLVFKHQKLQJHJHQLVW alles der Musik untergeordnet.« (S. 313, Anm. 75) Er konkretisiert diese Kritik an Pietro Metastasio, also dem ± auch in Deutschland ± berühmtesten, meist vertonten und meist gedruckten Librettisten der Zeit,37 den intensiv zu studieren auch Chastellux empfahl.38 Bei Lessing wird er jedoch zum Negativ-Exempel: Denn selbst in seinen Libretti könne man die Degradierung der Poesie zur »Hülfkunst« der Musik beobachten. Als positives Gegenbeispiel führt Lessing den Komponisten Jean-Baptiste Lully an, also den Begründer der tragédie lyrique und damit der französischen Operntradition im 17. Jahrhundert; Lullys Librettisten Philippe Quinault hingegen nennt er nicht. Von Lullys Opern verweist er auf Armide und ± auffälligerweise ± auf Atys, die sogenannte opéra du roi, die diesen Beinamen führt, weil Ludwig XIV. sie besonders liebte und sogar daran mitkomponiert haben soll. Dieses Lob des ein gutes Jahrhundert zuvor verstorbenen Lully auf Kosten des Zeitgenossen Metastasio nun ist nicht nur bemerkenswert, sondern auch merkwürdig, und zwar vor allem deshalb, weil Lully der zentrale Komponist 36 37
38
Vgl. dazu Krämer (Anm. 8), Bd. 1, S. 293±353, hier S. 300. Zur deutschen Metastasio-Rezeption im 18. Jahrhundert vgl. Laurenz Lütteken und Gerhard Splitt (Hgg.): Metastasio im Deutschland der Aufklärung. Bericht über das Symposium Potsdam 1999. Tübingen 2002 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung Bd. 28). Chastellux (Anm. 32), S. 78f.
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der französischen Klassik, ja geradezu deren Inbegriff im Bereich der Musik war, und Lessing die französische Klassik ansonsten bekanntlich bekämpft hat. Hier zeigt sich also ein deutlicher Widerspruch zu seiner sonstigen Dramenästhetik: Die Tradition, die er im Kontext des Sprechtheaters geradezu perhorreszierte, nobilitierte er im Kontext des Musiktheaters. Will man diesen Widerspruch erklären, ist einerseits zu bedenken, dass Metastasio sich in seinen Libretti an den Dramen Corneilles orientierte, und dies so sehr, dass sogar Plagiatsvorwürfe gegen ihn erhoben wurden.39 Wer ± wie Lessing ± gegen Corneille war, musste also auch gegen Metastasio sein. Lessings Kritik an ihm war teilweise somit wohl von Gesichtspunkten beeinflusst, die mit der Oper wenig zu tun hatten. Dafür spricht auch, dass er das von ihm angeführte MetastasioLibretto Zenobia offenbar nur oberflächlich kannte, denn die Vorwürfe, die er dagegen erhebt, sind nur partiell haltbar.40 Darüber hinaus ist einzuwenden, dass Lessing einen Aspekt wohl nicht reflektiert hat: die Divergenz von Opern-Theorie und Opern-Praxis, die Tatsache also, dass von den Komponisten, die die Libretti Metastasios vertonten, dessen Intentionen oft schlicht ignoriert wurden. Denn hätte Lessing dies bedacht, hätte er merken müssen, dass seine Postulate weitgehend mit denen Metastasios übereinstimmten: Auch Metastasio war gegen das Primat der Musik in der Oper, und er bekundete dies auch öffentlich, so zum Beispiel in einem Brief an Chastellux, der 1766 in deutscher Übersetzung publiziert wurde, den Lessing also durchaus hätte wahrnehmen können.41 Seine Kritik an Metastasio ist somit teilweise unberechtigt und nicht frei von Tendenziosität. Andererseits ist ihm aber Recht zu geben, wenn er schreibt, in der französischen Oper habe die Poesie einen höheren Stellenwert als in der italienischen. Dies ist eine treffende Einschätzung: Französische Opern waren seit Lully eher vertonte Tragödien als vertonte Opern-Libretti, daher auch die Gattungsbezeichung tragédie lyrique bzw. tragédie en musique.42 Wenn Lessing mit diesem Argument der französischen Oper den Vorzug vor der italienischen gibt, ist ihm also durchaus zuzustimmen. Das Besondere ist nun, dass es in diesem Punkt Übereinstimmungen gibt zwischen Lessings Vorstellungen und den zeitgenössischen Versuchen, die italienische Oper zu reformieren. Als er das Paralipomenon schrieb, lag die Wiener Uraufführung von Glucks erster Reformoper Orfeo ed Euridice ja bereits mehrere Jahre zurück, und bei dieser Oper war es unter anderem darum 39
40 41 42
Dazu vgl. Stéphane Pesnel: Présences de Pierre Corneille GDQV O¶°XYUH GUDPDWLTXH GH Pietro Metastasio,Q3LHUUH&RUQHLOOHHWO¶$OOHPDJQH/¶°XYUHGUDPDWLTXHGH3LHUUH&Rrneille dans le monde germanique (XVIIe ±XIXe siècles). Sous la direction Jean-Marie Valentin avec la collaboration de Laure Gauthier. Paris 2007, S. 272±291. So besteht das Personal der Oper, wie üblich, aus sechs Figuren. Lessing hingegen spricht von einer »unnötigen Häufung der Personen« (S. 313, Anm. 75). Vgl. dazu Laurenz Lütteken: Metastasio im Spannungsfeld der deutschsprachigen Opernkritik des 18. Jahrhunderts. In: Ders./Splitt (Anm. 37), S. 141±155. Vgl. dazu Herbert Schneider: Tragédie lyrique. In: Ders. und Reinhard Wiesend (Hgg.): Die Oper im 18. Jahrhundert. Laaber 2006 (Geschichte der Oper Bd. 2), S. 161±271.
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gegangen, eine Synthese von italienischer und französischer Oper herzustellen. Hier zeigt sich also eine wirklich bemerkenswerte Konvergenz: Die Postulate, die Lessing in Paralipomenon 27 aufstellt, stehen denen der Opernreformer nahe. Und dies offenbar ohne dass er Glucks Orfeo und auch ohne dass er den wichtigsten Traktat zur Opernreform ± Francesco Algarottis Saggio sopra O¶opera in musica von 1755, die theoretische Grundlage Glucks ± gekannt hätte; zumindest finden sich bei ihm keine Spuren davon. Wie es scheint, ist Lessing also unabhängig von Algarotti auf ähnliche Gedanken gekommen. Allerdings ist auch nicht auszuschließen, dass er durch das erwähnte hohe »Maß an informeller Verflechtung innerhalb der berlinischen Musikkultur« eben doch Kenntnis von Algarottis Traktat erhalten haben könnte; immerhin war Algarotti der Berliner Hofoper eng verbunden, und in Berlin war auch der Saggio zum ersten Mal gedruckt worden.43 Derart auf der Höhe der Zeit, ja sogar zukunftsweisend argumentiert Lessing auch bei dem nächsten Thema, dem er sich zuwendet: Nach seiner Kontrastierung von italienischer und französischer Oper führt er aus, dass auch innerhalb der Oper unterschiedliche Hierarchisierungen von Musik und Poesie zu beobachten seien, nämlich in Arie und Rezitativ. Während in der Arie die Musik das Primat innehabe, sei es im Rezitativ genau umgekehrt ± wiederum eine zutreffende Beschreibung. Doch auch an dieser Praxis übt Lessing Kritik, und zwar mit dem Argument, dass »diese vermischte Verbindung, wo um die Reihe die eine Kunst der andern subservieret« werde, »in einem und eben demselben Ganzen« unnatürlich sei (S. 314). Dies ist nun in der Tat »in hohem Grade bemerkenswert«: Denn impliziert ist hier ja die Vorstellung von einer einheitlichen Opernform, die ohne die strikte Unterscheidung zwischen Rezitativ und Arie oder sogar ganz ohne diese beiden Formen auskäme; zumal letzteres war im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts eine geradezu visionäre Vorstellung. Wiederum also hat Lessing etwas theoretisch skizziert, was im Lauf der Musikgeschichte dann Realität wurde: die Überwindung der Nummernoper. Ansätze dazu lassen sich zwar ebenfalls bei zeitgenössischen Opernreformern wie Algarotti und ± in der Praxis ± bei Komponisten wie Tommaso Traetta, Niccolò Jommelli und eben Gluck finden, doch geht das, was Lessing hier offenbar im Sinn hat, weit darüber hinaus. Nicht ohne Grund hat Hugo Blümer in seinem Laokoon-Kommentar von 1880 ± Wagner war damals noch am Leben ± darauf hingewiesen, dass die Verbindung von Musik und Poesie, die Lessing vorschwebte, »eigentlich zusammenfällt mit dem von Richard Wagner angestrebten Musikdrama.«44 43
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Zu Algarotti vgl. Roberto Di Benedetto: Art. Algarotti, Francesco. In: MGG² (Anm. 5), Personenteil 1, Sp. 463±465 und die Beiträge in: Hans Schumacher und Brunhilde Wehinger (Hgg.): Francesco Algarotti. Ein philosophischer Hofmann im Jahrhundert der Aufklärung. Hannover 2007 (Aufklärung und Moderne Bd. 16). Lessings Laokoon. Hg. und erläutert von Hugo Blümner. Zweite verbesserte und vermehrte Auflage. Mit drei Tafeln. Berlin 1880, S. 117. Zu Blümners Kommentar vgl. den Beitrag von Wolfgang Adam in diesem Band.
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Bemerkenswert ist schließlich auch, worüber Lessing im Laufe seiner Ausführungen über die Oper nicht spricht: Hier ist an erster Stelle Gottscheds Opern-Kritik zu nennen. Gottsched war ja bekanntermaßen der größte Gegner, den die Oper im Deutschland des 18. Jahrhunderts hatte. Seine (teilweise von anderen europäischen Opern-Kritikern übernommenen) Verdikte waren sehr umstritten und wurden viel zitiert. Dies gilt vor allem für die beiden Sätze, die Oper sei das »ungereimteste Werk, das der menschliche Verstand jemals erfunden« und die Vernunft müsse »man zu Hause lassen, wenn man in die Oper geht«.45 Auch Lessing hatte diese Sätze zitiert und sich über sie und ihren Verfasser lustig gemacht.46 Doch jetzt würdigte er Gottsched keiner Silbe mehr. Das war ein deutliches Signal: Gottsched und seine Opern-Kritik ± hieß das ± waren nunmehr passé, erledigt, nicht mehr der Rede Wert. Und tatsächlich spielen sich Lessings Reflexionen über die Oper im Vergleich zu denen Gottscheds ja auf einem ganz anderen Niveau ab. Allem Anschein nach ist dies ± neben dem Interesse, Gottsched ein weiteres Mal vorzuführen ± auch dem Ehrgeiz geschuldet, im Bereich der Opernästhetik neue Maßstäbe zu setzen. Nach seinen Ausführungen zur Oper spricht Lessing noch eine semiotische Differenz zwischen Musik und Poesie an: Obwohl beide Zeitkünste seien, hätten sie doch ein unterschiedliches Zeitmaß. Ein »einziger Laut als willkürliches Zeichen« könne »so viel ausdrücken, als die Musik nicht anders als in einer langen Folge von Tönen empfindlich machen« könne (S. 314). Kurz: Die Poesie sei schneller als die Musik. Zwar könne man die Zeitmaße einander annähern, und auch die verschiedenen Sprachen unterschieden sich in dieser Hinsicht, doch eine vollständige Synchronie zwischen Musik und Poesie könne es gar nicht geben. Zweifellos ist dies ein origineller Gedanke. Wie es scheint, hat Lessing in diesem Punkt keine Vorgänger. Interessant sind auch die Folgerungen, die er daraus zieht: Zu vertonende Texte dürften nicht so »gedrängt und gepreßt« sein wie die »bloße« ± d. h. die nicht zur Vertonung gedachte ± Poesie (S. 315). Stattdessen müssten sie »jedem Gedanken durch die längsten geschmeidigsten Worte so viel Ausdehnung geben >«@DOVGLH0XVLNEUDXFKWHWZDVlKQOLFKHVKHUYRUEULQJHQ]XN|QQHQ« (S. 314) Lessing trifft im Hinblick auf das Zeitmaß also eine klare Unterscheidung zwischen »bloßer« und musikalischer Poesie. Auch dieser Gedanke ist im musikästhetischen Diskurs der Zeit keine Selbstverständlichkeit. So weit Lessings Ausführungen zu Musik und Poesie in Paralipomenon 27. Es müsste deutlich geworden sein, dass diese Ausführungen durchaus originell sind und Lessing keineswegs nur zusammenfasst, was bereits an anderer Stelle geschrieben worden wäre. Im Gegenteil: Er setzt eigene, neue Akzente, und teilweise weisen seine Überlegungen sogar in die Zukunft.
45 46
Gottsched (Anm. 25), S. 739 und S. 743. In seiner Critik über die Gefangnen des Plautus von 1750 (Lessing [Anm. 23], Bd. 1, S. 821±878, hier S. 824). Vgl. auch das fragmentarische Opern-Libretto Tarantula (ebd., S. 340±347).
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Auf die Frage eines Skeptikers, wie dies bei einem Autor, dessen MusikInteresse ansonsten ja vergleichsweise wenig dokumentiert ist, möglich sei, könnte man dreierlei antworten. Erstens: Dass man Lessings Interesse an Musik und Musikästhetik eben nicht unterschätzen darf; bei anderen Wissensgebieten tut man dies schließlich auch nicht. Zweitens: Dass man den zeitgenössischen Kontexten seiner Überlegungen, zumal den Zusammenhängen mit den musikästhetischen Reflexionen Nicolais und Mendelssohns, mehr Beachtung schenken muss. Andernfalls entgehen einem die Selbständigkeit und Signifikanz der Position Lessings. Und drittens: Dass offenbar gerade die Tatsache, dass Lessing kein ausgesprochener Musikkenner war, dass er den Gegenstand nicht ± wie beispielsweise Rousseau, der ja selbst komponierte ± gleichsam von innen kannte, dass gerade diese Tatsache es ihm ermöglicht hat, beim Nachdenken über Musik zu neuen Gesichtspunkten zu gelangen. Er ist bei seinen Überlegungen deduktiv und zum Teil eben ohne eine eingehendere Kenntnis der Materie vorgegangen und konnte genau aus diesem Grund Ideen entwickeln, auf die ein Musikspezialist wahrscheinlich gar nicht gekommen wäre. In diesem Zusammenhang sei an das 26. Kapitel des Laokoon erinnert, in dem Lessing schreibt: »Bloß aus allgemeinen Begriffen über die Kunst vernünfteln, kann zu Grillen verführen, die man über lang oder kurz, zu seiner Beschämung in den Werken der Kunst widerleget findet.« (S. 183) Es kann aber auch, so möchte man ergänzen, zu »Grillen« verführen, die im Laufe der Geschichte bestätigt werden. Und dass dies bei Lessings Überlegungen über Musik und Poesie teilweise der Fall ist, wurde deutlich. In jedem Fall ist es äußerst bedauerlich, dass Lessing den dritten Teil des Laokoon nicht geschrieben hat. Zweifellos hätte dies die Geschichte der Musikästhetik wirklich verändert. Und damit zur musikästhetischen Wirkungsgeschichte des ungeschriebenen dritten Teils.
II. Wie gesagt, gewährt diese Wirkungsgeschichte Einblicke in verschiedene musik- und zumal operngeschichtliche Konstellationen. Die Konstellation, um die es zuerst gehen wird, unterscheidet sich von derjenigen, in der Lessing sein Paralipomenon schrieb, insofern, als sie sich nun nicht mehr um den Konflikt von italienischer und französischer, sondern um den Konflikt von italienischer und deutscher Oper dreht. In der Kernproblematik unterscheiden sich die Konstellationen jedoch nicht: Denn nach wie vor geht es um die Frage, ob das Primat der Musik oder der Poesie zuerkannt werden solle. Auf der Seite der deutschen Oper steht ± um nur den prominentesten Vertreter zu nennen ± Carl Maria von Weber, der mit seinem 1821 in Berlin uraufgeführten Freischütz bekanntlich einen entscheidenden Beitrag zur Konsolidierung der deutschen Oper geleistet hatte. In dem für seine Musikästhetik zentralen Romanfragment Tonkünstlers Leben hatte er die Oper, und zwar bezeichnenderweise diejenige, »die der Deut-
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sche und Franzose will«, als ein »in sich abgeschlossene[s] Kunstwerk[]« bezeichnet, »wo alle Teile und Beiträge der verwandten und benutzten Künste ineinanderschmelzend verschwinden und auf gewisse Weise untergehend eine neue Welt bilden.«47 Es ist unschwer zu erkennen, dass Weber in nuce hier bereits skizziert, was bei Wagner dann das ¾Kunstwerk der Zukunft½ heißen wird. Entscheidend im Kontext der hier angestellten Überlegungen ist jedoch die partielle Übereinstimmung dieser Vorstellung mit dem, was Lessing in Paralipomenon 27 ausgeführt hatte. Denn sowohl der Gedanke der Egalität von Musik und Poesie und der »gemeinschaftlichen Wirkung, welche beide zu gleichen Teilen hervorbringen« als auch die damit verbundene besondere Wertschätzung der französischen Oper liegen ja auch Webers Opernästhetik zugrunde. Ob Weber das Paralipomenon kannte, sei einmal dahingestellt; denkbar wäre es bei einem derart literaturaffinen Komponisten durchaus. Diese Opernästhetik löste nun jedoch auch Widerspruch aus, erbitterten sogar. In diesem Zusammenhang ist Grillparzers eingangs zitierter Tagebucheintrag entstanden, der an dieser Stelle noch einmal wiedergegeben sei: Ein Gegenstück zu schreiben zu Lessings Laokoon: Rossini, oder über die Gränzen der Musick und Poesie. Es müßte darin gezeigt werden, wie unsinnig es sey, die Musick bei der Oper zur bloßen Sklavin der Poesie zu machen und zu verlangen, daß erstere, mit Verläugnung ihrer eigenthümlichen Wirksamkeit, sich darauf beschränke der Poesie unvollkommen nachzulallen mit ihren Tönen, was diese deutlich spricht mit ihrer Begriffen.48
Wie daraus hervorgeht, sprach Grillparzer das Primat in der Oper eindeutig der Musik zu, alles andere (natürlich auch Webers Position) erschien ihm »unsinnig«. Und wie es scheint, ging Grillparzer davon aus, dass er bei Lessing Argumente für seine Sichtweise gefunden hätte. Dies war freilich ein Irrtum. Denn Lessing war ja gerade nicht für die italienische Oper mit ihrem absoluten Primat der Musik eingetreten, sondern für die französische Oper mit ihrer relativen Egalität von Musik und Poesie. Doch Grillparzer hatte das Paralipomenon 27 offenbar eben nicht gelesen. Das Thema ließ ihn nicht los, ja es beschäftigte ihn so sehr, dass er drei Jahre später noch einmal ein »Gegenstück« zum Laokoon skizzierte.49 In der Zwi-
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Carl Maria von Weber: Kunstansichten. Ausgewählte Schriften. Wilhelmshaven 1977 (Taschenbücher zur Musikwissenschaft Bd. 23), S. 51. Grillparzer (Anm. 10), Bd. 27 (Tagebücher 1), S. 242, 618. »Drei Hauptunterschiede im Wesen der Musick und Poesie müßen nothwendig auch eine große Verschiedenheit in den Gesetzen ihrer beiderseitigen Hervorbringungen veranlassen. Diese sind: 1tens daß eine Verbindung von Tönen gefallen, ja sogar auf das Gemüth wirken kann, ohne daß man sich etwas dadurch Ausgedrücktes dabei bestimmt zu denken braucht; was bei Worten nicht der Fall ist, die immer nur durch ihren Sinn wirken. 2 tens daß die Worte zunächst auf den Verstand und höchstens durch ihn auf die Sinne; die Töne aber zunächst auf die Sinne und nur durch sie und höchst entfernt auf den Verstand wirken. 3tens daß Töne nur höchst allgemein und vag bezeichnen und zwar fast allein Gefühle, nie Sachen; indeß das Wort mit der Schärfe des Begriffes bezeichnet. Ich möchte ein Gegenstück
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schenzeit hatte sich seine Position weiter zugespitzt. Nachdem er 1823 die Uraufführung der Euryanthe ± also Webers erster Oper nach dem Freischütz ± in Wien besucht hatte, schrieb er in sein Tagebuch: Was ich schon bei Erscheinung des Freischützen geahndet hatte, scheint sich nunmehr zu bestättigen. Weber ist allerdings ein poetischer Kopf, aber kein M u s i k e r . Keine Spur YRQ 0HORGLH QLFKW HWZD EORV YRQ JHIlOOLJHU VRQGHUQ YRQ 0HORGLH EHUKDXSW >«@ Abgerißene Gedanken, bloß durch den Text zusammengehalten und ohne innere (musikalische) Konsequenz.50
Kurze Zeit später verschärfte er den Ton seiner Polemik nochmals: Gestern wieder in der Euryanthe gewesen. Diese Musik ist s c h e u s l i c h . Dieses Umkehren des Wohllautes, dieses Nothzüchtigen des Schönen würde in den guten Zeiten Griechenlands mit Strafen von Seite des Staates belegt worden seyn. Solche Musik ist p o l i z e i w i d r i g , sie würde Unmenschen bilden, wenn es möglich wäre, daß sie nach und nach allgemeinen Eingang finden könnte. Als ich die Oper zum erstenmale hörte, half ich mir über die ärgsten Stellen durch Unaufmerksamkeit weg. Gestern ließ mich der Wunsch, dem Tonsetzer nicht Unrecht zu thun, genau Acht geben. Anfangs gieng es ganz leidlich; theils ist der Eingang weniger verschroben, theils war die Kraft zu dulden in mir noch ungeschwächt, aber von Stufe zu Stufe stieg das innere Grausen und gieng zuletzt bis zur körperlichen Übelkeit. Wenn ich am Schluß des zweiten Aufzuges nicht das Theater verließ, hätte man mich im Verlauf des dritten villeicht hinaus t r a g e n müßen. Diese Oper kann nur Narren gefallen, oder Blödsinnigen oder Gelehrten, oder Straßenräubern und Meuchelmördern.51
Ein Kommentar erübrigt sich. Im Übrigen war Grillparzer nicht der einzige, der in dieser Frage so heftige Töne anschlug: Stendhal ± ein glühender Verehrer der italienischen Oper ± zum Beispiel schrieb in seiner im Jahr darauf erschienenen Rossini-Biographie, er sei zwar parteiisch, aber aufhängen lassen wolle er niemanden, »nicht einmal Carl Maria Weber, den Komponisten des ¾Freischütz½«.52 Die Wirkung von Grillparzers fragmentarischem musikalischen »Gegenstück« zum Laokoon war nicht unbedeutend: Der eingangs erwähnte Eduard Hanslick knüpfte direkt daran an, indem er Grillparzers Tagebücher ± nachdem sie postum bekannt geworden waren ± in den späteren Auflagen seiner Abhandlung Vom Musikalisch-Schönen ausgiebig zitierte.53 Insofern stand auch der junge Nietzsche, als er sich mit dem Klavierauszug der Walküre beschäftigte, indirekt noch unter dem Einfluss Grillparzers.
50 51 52 53
zu Lessings Laokoon, über die Gränzen der Musik und Poesie schreiben«. Grillparzer (Anm. 10), Bd. 28 (Tagebücher 2), S. 21, 1036. Ebd., S. 128, 1315. Grillparzer (Anm. 10), Bd. 28 (Tagebücher 2), S. 128f., 1316. Stendhal (Anm. 11), S. 105. Zu dem Verhältnis von Grillparzer und Hanslick vgl. Dieter Borchmeyer: Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen. Frankfurt am Main. Leipzig 2002, S. 394±401.
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Und damit zu dem eingangs erwähnten österreichischen Musikwissenschaftler August Wilhelm Ambros,54 der mit seiner Abhandlung Die Gränzen der Musik und Poesie. Eine Studie zur Aesthetik der Tonkunst von 1856 das Desiderat eines »musikalischen Laokoon« schließlich eingelöst hat. Auf diese Abhandlung, die am Ende der musikästhetischen Wirkungsgeschichte des ungeschriebenen dritten Teils steht, sei abschließend noch in aller Kürze eingegangen. Ambros¶ $EKDQGOXQJ IKUW ZLHGHUXP LQ HLQH QHXH PXVLNJHVFKLFKWOLFKH Konstellation: In den sogenannten Parteienstreit zwischen der ¾Neudeutschen Schule½ ± also Komponisten wie Franz Liszt und allen voran Wagner ± und den ¾Traditionalisten½ ± also Komponisten wie Johannes Brahms.55 Ersteren ging es unter anderem um die sogenannte Programmmusik (am Rande sei erwähnt, dass $PEURV¶$EKDQGOXQJHLQe der ersten Schriften ist, in denen dieser Begriff belegt ist56), also um eine dezidiert intermediale, vor allem poetische Musik, letzteren um die sogenannte absolute Musik, also autonome Instrumentalmusik ohne jedwede intermediale Bezüge. Dieser Streit wurde publizistisch vehement ausgefochten; auch Hanslicks Schrift, ein Manifest der Traditionalisten, ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Bezeichnenderweise hat Hanslick die Absolutheit der Musik an einer Stelle mit Bezug auf Lessings Laokoon (aber offenbar in Unkenntnis der Paralipomena) expliziert. Hanslick nutzt die Tatsache, dass Lessing sich im Laokoon ± vermeintlich ± nicht über Musik geäußert hat, sogar für seine Argumentation: L e s s i n g hat mit wunderbarer Klarheit auseinandergesetzt, was der Dichter und was der bildende Künstler aus der Geschichte des Laokoon zu machen vermag. Der Dichter, durch das Mittel der Sprache, giebt den historischen, individuell bestimmten Laokoon, der Maler und Bildhauer hingegen einen Greis mit zwei Knaben (von d i e s e m bestimmten Alter, Aussehen, Costüm u. s. f.) von den furchtbaren Schlangen umwunden, in Mienen, Stellung und Geberden die Qual des nahenden Todes ausdrückend. Vom M u s i k e r sagt Lessing nichts. Ganz begreiflich, denn Nichts ist es eben, was er aus dem Laokoon machen kann.57
Die Rigorosität dieser Abgrenzung der Musik von den anderen Künsten nun scheint Ambros, der der Neudeutschen Schule gegenüber viel offener war als Hanslick, herausgefordert zu haben. In der Vorrede seiner Abhandlung, deren Untertitel so deutlich auf Hanslick anspielt wie ihr Titel auf Lessing, skizziert
54 55 56
57
Zu Ambros vgl. Volker Kalisch: Art. Ambros, August Wilhelm. In: MGG² (Anm. 5), Personenteil 1, Sp. 583±586. Vgl. dazu Detlef Altenburg: Art. Neudeutsche Schule. In: MGG² (Anm. 5), Sachteil 7, Sp. 66±75. August Wilhelm Ambros: Die Gränzen der Musik und Poesie. Eine Studie zur Aesthetik der Tonkunst. Prag 1856, S. 142 und passim. Zeitgleich taucht der Begriff bei Liszt auf (vgl. dazu Detlef Altenburg: Art. Programmusik. In: MGG² [Anm. 5], Sachteil 7, Sp. 1821±1844, hier Sp. 1824). Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst. Unveränderter reprografischer Nachdruck der 1. Auflage Leipzig 1854. Darmstadt 1991 (Bibliothek klassischer Texte), S. 98.
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Ambros zunächst die gegenwärtige, von dem Parteienstreit negativ geprägte Situation: Verkenne niemand, daß wir mit unserer Tonkunst auf einem bedenklichen Punkte angelangt sind. Es weiß kaum noch Einer, was er soll oder nicht soll, kann oder nicht kann. 9RQ GHQ VFKDIIHQGHQ 7RQNQVWOHUQ KDW VLFK HLQ 7KHLO >«@ LQ lOWHUH $QVFKDXXQJHQ XQG Formen zurückgeflüchtet und baut dort seinen bescheidenen Acker nach den Prinzipien der sogenannten ¾klassischen½ =HLW >«@'HU JU|HUH 7KHLO GHU VFKDIIHQGHQ 7RQNQVWOHU DEHU und gerade der begabtere weiß nicht, wo er mit seinen Ideen allen hinsoll. ± Nicht mit m u s i k a l i s c h e n , an denen ist eben kein Uiberfluß, aber mit dichterischen, philosophischen, politischen u. s. w.58
Am Ende der Vorrede greift Ambros dann, wie nicht anders zu erwarten, den bekannten Topos auf: »Es thäte dieser allgemeinen Verwirrung ein musikalischer Lessing noth.«59 Diese Rolle nun übernimmt er in seiner Abhandlung, und er tut dies, indem er den Versuch unternimmt, die Grenzen zwischen Poesie und Musik systematisch (und eben anders als Hanslick) zu bestimmen, und somit das nachholt, was Lessing ± LQ $PEURV¶ 9RUVWHOOXng ± im dritten Teil seines Laokoon auch unternommen hätte. Demnach waren also auch ihm die Paralipomena entgangen. An dieser Stelle können die rund 200 Seiten, auf denen Ambros weit in die Geschichte der Musik und auch der anderen Künste ausgreift und sich zum Teil ± auch darin Lessing folgend ± lange bei einzelnen Details aufhält, nicht zusammengefasst werden. Stattdessen sei gleich zu den »Schlussresultaten« übergegangen, wo es heißt: Die Musik ist ihrem Wesen nach, als eine einerseits architektonische Kunst, eine Kunst symmetrisch geordneter, proportionirter, unter sich correspondirender, construktiver Tonglieder ± andererseits als eine poetische, der Idee dienende Kunst bezeichnet worden. Jenes bildet die Form, dieses den Inhalt ± das formale und das ideale Moment. Die Gränze, welcher der Musik als einer architektonisch=formalen Kunst gesetzt ist, liegt in der Forderung, d a ß j e d e E i n z e l h e i t e i n e s T o n s t ü c k e s s i c h d e r r e i n musikalischen Logik nach, nach dem bloßen formalen M omente v o l l s t ä n d i g a b l e i t e n u n d b e g r ü n d e n l a s s e .60
Ambros versuchte also, eine Position zu finden, die genau in der Mitte zwischen den beiden streitenden Parteien lag. Die von ihm in Abgrenzung zu Hanslick vorgenommene Grenzziehung zwischen Musik und Poesie sollte ± so scheint es beabsichtigt gewesen zu sein ± die Grundlage dafür bilden, dass der Streit zwischen den Neudeutschen und den Traditionalisten endlich beigelegt werden könnte. Doch dem »musikalische[n] Lessing« wurde widersprochen. Der Wiener Philosoph Robert von Zimmermann, ein Freund Hanslicks, veröffentlichte eine
58 59 60
Ambros (Anm. 56), S. II. Ebd., S. VI. Ebd., S. 179.
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Rezension der Abhandlung, in der er Ambros vorwarf, zu kurz gedacht zu haben: Er stellt die Grenzen der Musik und Poesie als leicht zu ziehen dar. Zunächst ist nach ihm ein formales und ein ideales Moment der Musik zu unterscheiden. Die Grenze des ersteren liegt in der Forderung, dass jedes Einzelglied eines Tonstückes sich nach der rein musikalischen Logik, nach dem bloss formalen Moment vollständig begründen, und ableiten lasse. Dass dies keine Grenze gegen die Poesie, sondern lediglich eine innere, übrigens auf jedes Kunstwerk analog anzuwendende Compositionsregel ist, leuchtet ein. In ihrem idealen Moment dagegen hält die sich die Musik innerhalb ihrer natürlichen Grenze, so lang sie QLFKW XQWHUQLPPW ZHLWHU ]X JHKHQ DOV LKUH $XVGUXFNVIlKLJNHLW UHLFKW >«@ :LH ZHLW übrigens diese Ausdrucksfähigkeit geht, wird wol nicht durch irgend eine Grenzcommission zu reguliren sein. So weit der musikalische Laokoon! Wir schlagen um, siehe da, wir befinden uns auf der letzten Seite. Die natürliche Grenze der Musik ist ihre Ausdrucksfähigkeit, die Grenze dieser selbst ist aber nicht zu bestimmen. Man muss gestehen, s o l c h e Grenzen ist es leicht zu ziehen.61
Dem Versuch der Grenzziehung wurde hier also seine eigene Begrenztheit nachgewiesen, an einer Stelle sogar mit Bezug auf das Paralipomenon 27.62 Zimmermann war somit der erste der hier behandelten Autoren seit Herder, der die Paralipomena tatsächlich zur Kenntnis genommen hatte und dementsprechend auch das Fehlen eines »musikalischen Laokoon« nicht mehr beklagte. Allem Anschein nach war die musikästhetische Wirkungsgeschichte des ungeschriebenen dritten Teils damit abgeschlossen.
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Die Rezension wird zitiert nach ihrem Wiederabdruck in: Robert von Zimmermann: Ein musikalischer Laokoon. In: Ders.: Studien und Kritiken zur Philosophie und Aesthetik. 2 Bde. Wien 1870, Bd. 2, S. 254±263, hier S. 263. Zimmermann (Anm. 61), S. 261.
Markus Hien Markus Hien Die ¾Aufhebung½ der Laokoon-Debatte in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik
Die ¾Aufhebung½ der Laokoon-Debatte in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik Die ¾Aufhebung½ der Laokoon-Debatte in Hegels ¾9RUOHVXQJHQEHUGLHbVWKHWLN½
Von Lessing zu Hegel ist der Weg scheinbar unendlich weit. Nicht weniger als die wohl wirkungsmächtigsten Epochen der deutschen Geistes- und Kulturgeschichte liegen zwischen dem 1766 veröffentlichten Laokoon und den erst posthum, 1835 bis 1838, erschienenen, von Heinrich Gustav Hotho wesentlich überarbeiteten Vorlesungen über die Ästhetik. Peter Szondi spricht zu Recht von einer »höchst originelle[n] Synthese der ästhetischen Überlegungen der Goethezeit«.1 Gleich zu Beginn kritisiert Hegel das Wort ¾Ästhetik½ als unpassend für sein eigenes Vorhaben, impliziere es doch eine Wissenschaft des Sinnes und Empfindens und bleibe daher notwendig oberflächlich.2 Hegel geht es nicht wie Lessing um die Wirkung der Kunst, um Effekte wie Furcht und Mitleid, und beinahe ebenso wenig um die technischen Mittel und Prinzipien der Kunstwerke ± er spricht kaum als Kunstkritiker, dafür umso mehr als Kunstphilosoph. Es verwundert daher wenig, dass die Vorlesungen ± Hegels eigener Spur aus dem Kapitel über den »Begriff des Kunstschönen«3 folgend ± beinahe ausschließlich in der Linie Kant, Schiller, Schelling diskutiert wurden.4 Zudem lässt sich der Weg von Lessing zu Hegel über dessen theologisches Denken weitaus leichter beschreiten: sei es die Wirkung, die Jacobis Bericht über Lessings Bekenntnis zu Spinoza hinterließ, oder die triadische Entfaltung der Vernunft, die Verwandlung der Glaubenswahrheiten in Vernunftwahrheiten aus der Erziehung des Menschengeschlechts, welche der junge Hegel genauso wie den Nathan nachweislich begeistert aufnahm.5 In Sachen Ästhetik hingegen betonte Peter 1
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Peter Szondi: Hegels Lehre von der Dichtung. In: Peter Szondi. Studienausgabe der Vorlesungen in 5 Bänden. Bd. 2: Poetik und Geschichtsphilosophie I. Hg. von Senta Metz und Hans-Hagen Hildebrandt. Frankfurt am Main 1974, S. 267±511, hier S. 274. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I±III. In: Werke, Bde. 13± 15. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt am Main 1970 (im Folgenden zitiert als TW für ¾7KHRULH-:HUNDXVJDEH½ mit Band- und Seitenzahl), hier Bd. 13, S. 13. TW 13, S. 40±99. »Die Kantsche Philosophie«, ebd., S. 83ff., »Schiller, Winckelmann, Schelling«, ebd., S. 89ff. Vgl. etwa den bündigen Aufsatz zu Kant und Hegel: Klaus Düsing: Ästhetische Einbildungskraft und intuitiver Verstand. Kants Lehre und Hegels spekulativ-idealistische Umdeutung. In: Hegel-Studien 21 (1986), S. 87±128. Vgl. Wulf Köpke: Der späte Lessing und die junge Generation. In: Humanität und Dialog. Lessing und Mendelssohn in neuer Sicht. Hg. von Ehrhard Bahr, Edward P. Harris und Laurence G. Lyon. Detroit/München 1982, S. 211±222, insbes. S. 215; siehe auch: Hugh Barr Nisbet: The Rationalisation of the Holy Trinity from Lessing to Hegel. In: LVB 31 (1999), S. 65±89.
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Demetz prima vista zu Recht »Lessings Entfremdung von der triumphierenden idealistischen Tradition«: »¾Laokoon½, darüber sollten wir uns heute nicht mehr täuschen, war ein Pyrrhussieg: er hat den Triumph der spekulativen Ästhetik vielleicht verzögert, nicht verhindert«.6 Die von Demetz diagnostizierte »Folgenlosigkeit Lessings« begründet sich nicht zuletzt in eben dieser Opposition der »technomorph und handwerklich« denkenden Ästhetik des Aufklärers gegenüber der angeblich von jeder Erfahrungswirklichkeit losgelösten spekulativen Systematik des Philosophen.7 Freilich: Trotz der Kritik Lessings an den »systematischen Büchern« à la Baumgarten, dem Vorhaben in »unordentlichen Collectanea« mehr nach Quellen zu schmecken als diese,8 ist Lessings Methode bekanntlich doch nicht so unsystematisch, Grillparzer nennt sie »syllogistisch«,9 und in Hegels Vorlesungen darf bei aller Philosophie über das Wesen der Kunst, der scheinbar strengen Systematik, nicht übersehen werden, dass sie ¾Phänomenologie½ der Kunstwerke sein will und Kunsterfahrung, Kunstbeschreibung sowie Kunstkritik durchaus nicht ausschließt. Im Gegenteil. Reichlich unbescheiden, aber angesichts der ungeheuren Materialfülle nicht ganz von der Hand zu weisen, schreibt Hegel: »Ich kenne so ziemlich alles, und man soll es und kann es kennen.«10 Also doch ein Weg von Lessings Laokoon zu Hegels Vorlesungen? Gänzlich unbekannt ist diese Verbindung natürlich nicht, sie spielt jedoch in der gegenwärtigen Lessingforschung, soweit ich sehe, keine Rolle! Hegels Ästhetik dient hier eher als Zitatesteinbruch, genauere Rezeptionslinien werden nicht nachgezeichnet. Anders in der älteren und hier der marxistischen Forschung. Dem bemerkenswerten Buch der polnisch-deutschen Barockforscherin Elida Maria Szarota kommt bei aller problematischen Ausrichtung am sozialistischen Realismus das Verdienst zu, Hegels Ästhetik als Ausbau der »Lessingschen Hauptund Grundbegriffe« angesehen und hierzu wesentliche Hinweise, wenn auch keine eingehende Untersuchung, geliefert zu haben.11 Anders hingegen die neuere Hegelforschung. Im Rahmen der Edition der Nach- und Mitschriften zu Hegels Vorlesungen ist hier der Blick verstärkt auf die entscheidende Rolle gefallen, die Hegel dem Hässlichen und Unschönen beimisst, und in diesem Kontext auf Lessings Ausführungen zum Hässlichen und Ekelhaften in der
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Peter Demetz: Die Folgenlosigkeit Lessings. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 25 (1971), S. 727±741, hier S. 732. Ebd., S. 740f. Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert u. a. Bd. 6: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften. Hg. von Albert von Schirnding. München 1974 (im Folgenden zitiert unter der Sigle G 6 mit Seitenangaben), hier S. 11. Zit. nach Demetz (Anm. 6), S. 732. TW 15, S. 550. Elida Maria Szarota: Lessings ¾Laokoon½. Eine Kampfschrift für eine realistische Kunst und Poesie. Weimar 1959, S. 90. Zu Hegel, ebd., S. 90±95 und S. 109±111.
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Poesie hingewiesen worden.12 Eine eigene Studie zu Hegels Lessingrezeption gibt es jedoch auch von dieser Seite nicht. Zum Thema selbst also. Der Aufsatz besteht aus zwei Teilen. Zuerst möchte ich auf Hegels System der Künste eingehen und schließlich am Beispiel der Plastik aufzeigen, was ich unter dem wenig kreativen Begriff der ¾Aufhebung½ in diesem Falle verstehen möchte. Um das unbescholten tun zu können, muss ich ein paar wenige Überlegungen zu der problematischen Quelle, den Vorlesungen, vorausschicken. In einem zweiten Schritt widme ich mich dem Beispiel der Poesie und verbinde dies, um einen wesentlichen Unterschied der ¾Scheidekunst½ zwischen Hegel und Lessing zu charakterisieren, mit einem in diesem Kontext vielleicht überraschenden Ausblick unter der Überschrift »Der Realismus des Christentums. Von Lessing über Hegel zu Auerbach«.
I. Hegels Scheidekunst als ¾Aufhebung½ der Laokoon-Debatte I. 1. Problematische Quelle Georg Wilhelm Friedrich Hegels Vorlesungen über die Ästhetik entsprechen in der vorliegenden Druckfassung, darin ist sich die Forschung einig, zu großen Teilen weniger Hegels Gedanken als jenen seines Schülers Heinrich Gustav Hotho. Hegel selbst unterlegte ihr, so bezeugen Mit- und Nachschriften anderer Hörer, eine sehr viel offenere Systematik als die streng dialektisch durchkonzipierte Version Hothos. Berühmte und bis heute ungebrochen wirkende Missverständnisse wie die Rede von ¾Hegels Klassizismus½ und die ominöse ¾These vom Ende der Kunst½ entstanden nicht zuletzt aus diesem Grund.13 Will man über eine Ästhetik im genuinen Sinne Hegels sprechen, muss man den Arbeiten Annemarie Gethmann-Sieferts durch das Gesamtwerk des Philosophen und alle Nach- und Mitschriften seiner Vorlesungen folgen und sich gleichsam selbst einen Autographen rekonstruieren.14 Mir geht es jedoch nicht um Hegel, sondern um die Bezüge der Vorlesungen zur Laokoon-Debatte. Es scheint mir angesichts der ungeheuren Wirkmächtigkeit des Textes in der vorliegenden Gestalt ± das Beispiel Auerbach wird noch vorzustellen sein ± legitim, erneut auf ihn und allein auf ihn zu rekurrieren, ihn also von dem ungleich größeren
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Insbesondere Annemarie Gethmann-Siefert: Hegel über das Hässliche in der Kunst. In: Hegels Ästhetik. Die Kunst der Politik ± Die Politik der Kunst. Zweiter Teil. Hg. von Andreas Arndt, Karol Bal und Henning Ottmann. Berlin 2000, S. 21±41; Francesca Iannelli: Das Siegel der Moderne. Hegels Bestimmung des Hässlichen in den Vorlesungen zur Ästhetik und die Rezeption bei den Hegelianern. Paderborn/München 2007, insbesondere S. 137±226. Vgl. Annemarie Gethmann-Siefert: Hegels These vom Ende der Kunst und der ¾Klassizismus½ der Ästhetik. In: Hegel-Studien 19 (1984), S. 205±258. Vgl. Annemarie Gethmann-Siefert: Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Bonn 1984; dies.: Einführung in Hegels Ästhetik. München 2005; Iannelli (Anm. 12).
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Feld der hegelianischen Philosophie zu separieren. Zudem entspricht die verzerrte Lesart der nachfolgenden Generationen schon der Druckfassung nicht.15 Auch dort ist nirgends von einem ¾Ende½ oder gar ¾Tod der Künste½ die Rede. Gewiss, die Kunst, schreibt Hegel, ist »nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes«.16 Sowohl im Falle der christlichen als auch im Falle der sich auflösenden gegenwärtigen Kunstform fügt Hegel seinen Ausführungen aber ein Kapitel bei, das die Frage behandelt, auf welche Weise Kunst noch nötig sei bzw. »von welchem [Standpunkt] aus die Kunst sich noch heutigentags zu betätigen imstande ist.«17 Es geht um einen Wandel ihrer gesellschaftlichen Funktion, nicht um ihr Verschwinden: »wir sind darüber hinaus, Werke der Kunst göttlich verehren und sie anbeten zu können.«18 An dieser Stelle führt Hothos Redaktion allerdings in der Tat zu einem unauflöslichen Widerspruch: Die zentrale Rolle des Kunstschönen der Antike gerät in Konflikt mit einem geistesphilosophischen Kunstbegriff, der Kunstformen genauso wie Religion und Philosophie als Ausdruck der Stufenfolge des Geistes deutet.19 In gewisser Weise wiederholt sich Winckelmanns Diskrepanz zwischen einem normativen Kunstbegriff auf der einen Seite und dem ± hier klimatheoretisch, dort geistesphilosophisch ± relativierenden Blick des Kunsthistorikers auf der anderen Seite.20 Szondis Versuch, diesen immanenten Widerspruch mit einer »doppelten Dialektik« von Kunstschönem und den Stufen des Geistes zu versöhnen, kann kaum über seine Existenz hinwegtäuschen.21 Die 15
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Insofern rechtfertigt die Hegel-Forschung ihre wichtigen Ergebnisse zu Hegels Ästhetik, an die ich hier dankbar anschließe, mit zu weitgetriebener Ablehnung der Druckfassung. Die Neujustierung sollte vielmehr zu einer neuen Lektüre der Druckfassung führen. Vgl. zusammenfassend: Annemarie Gethmann-Siefert: Zur Edition von Kehlers Mitschrift. In: Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler: Philosophie der Kunst oder Ästhetik nach Hegel, im Sommer 1826. Mitschrift. Hg. von ders. München 2004, hier S. XI±XLIX. Mag die Breite der Ausführungen zum Naturschönen auch in der Tat schwerlich Hegels Intention entsprechen (s. die Kritik ebd., S. XXXIVf.), geht sie doch ganz in dessen Sinne vom Vorrang des Kunstschönen aus: »Durch diesen Ausdruck nun schließen wir sogleich das Naturschöne aus«, TW 13, S. 13. Gewiss hat Hothos Formulierung vom Ideal als dem »sinnliche[n] Scheinen der Idee« zu den bekannten Fehllektüren beigetragen (Kritik: GethmannSiefert: Edition [Anm. 15], S. XXXVI), doch auch in der Druckfassung findet sich die nach Gethmann-Siefert korrekte Formulierung vom »Schein des Sinnlichen«, dem Geist also, der im Sinnlichen nicht die »konkrete Materiatur« suche, der nur den »Fuß in die Sinnlichkeit« setze. TW 13, S. 60f. u. S. 207. Dass auch die Hässlichkeit des Edlen in der Vorlesung vorkommt, wenn auch deutlich abgeschwächt, wird weiter unten ausführlich behandelt. TW 13, S. 25. TW 14, S. 222. Vgl. auch das Kapitel »Scheinbare Überflüssigkeit der Kunst«, gefolgt von dem Kapitel über »Notwendiges Eintreten der Kunst«, ebd., S. 149. TW 13, S. 24. Vgl. zu diesem Thema: Walter Jäschke: Philosophie der Kunst. In: Hegel-Handbuch. Leben ± Werk ± Schule. Hg. von dems. 2. Aufl. Stuttgart 2010, S. 418±450, insb. S. 422± 429. Vgl. Peter Szondi: Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. In: Szondi (Anm. 1), S. 11±266, hier S. 21ff. Szondi: Hegels Lehre (Anm. 1), S. 428ff., S. 470.
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wesentliche Argumentationskette der Vorlesung ist allerdings keineswegs klassizistisch, sondern geistesphilosophisch. Hegels Inhaltsästhetik geht es weniger um die Schönheit der Form als um den Gehalt, deren Ausdruck sie ist. Das bezeugt vor allem die Rede von unterschiedlichen Schönheitsbegriffen, ich komme dazu noch im letzten Abschnitt. Die Wandlung der Idee impliziert auch einen Wandel des Ideals und d. h. der Schönheit, die schließlich sogar, wie noch zu zeigen sein wird, selbst Hässlichkeit integrieren kann. Für meine Ausführungen ist vorerst allein von Bedeutung, dass es Hegel gerade aufgrund der Korrelation zwischen den Stufen der Geist- und Kunstentwicklung möglich ist, divergierende Aspekte der Laokoon-Debatte miteinander zu verbinden bzw. im hegelianischen Sinne ¾aufzuheben½.
I. 2. Die Laokoon-Rezeption und Hegels System der Künste Nur ein einziges Mal bezieht sich Hegel in den Vorlesungen ausdrücklich auf die Laokoon-Debatte ± und das, ohne Lessing namentlich auch nur zu erwähnen: Von sonstigen bekannten Werken will ich nur noch der Gruppe des Laokoon Erwähnung tun. Sie ist vor vierzig oder fünfzig Jahren ein Gegenstand vieler Untersuchungen und weitläufigen Besprechens gewesen. Besonders wurde es als ein wichtiger Umstand angesehen, ob Vergil seine Beschreibung dieser Szene nach dem Skulpturwerk oder der Künstler sein Werk nach der Vergilschen Schilderung gemacht habe, ob ferner Laokoon schreie und ob es sich überhaupt schicke, in der Skulptur einen Schrei ausdrücken zu wollen, und dergleichen mehr.22
Es verwundert nicht, dass dieses lapidare Zitat meist als Zeugnis für Hegels Desinteresse an der Laokoon-Debatte angeführt wird.23 Doch der Schein trügt. Kein Zweifel, wenn anschließend von den »Stubengelehrten« die Rede ist, die zum »echte[n] Kunstsinn« Winckelmanns noch nicht durchgedrungen seien, könnte das gut auf Lessing gemünzt sein ± man denke an die rhetorische Einladung durch Winckelmann nach Rom oder den Spott Aloys Hirts.24 Und dennoch referiert Hegel anschließend die Ergebnisse der Debatte ganz im Sinne dieses Stubengelehrten ± das Zurückhalten des Schmerzes vor unansehnlicher Verzerrung und Verrenkung sowie die spätere Datierung des Werks. Von Lessings Medientheorie zur Differenzierung der Künste erwähnt Hegel allerdings auch 22 23
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TW 14, S. 434. Heide Volkening: Schreien, verbissen. Zu Ethos und Pathos bei Lessing und Schiller. In: Pathos. Zur Geschichte einer problematischen Kategorie. Hg. von Cornelia Zumbusch. Berlin 2010, S. 83±97. Johann Joachim Winckelmann an Johann Michael Francke. 10.9.1766, zit. in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe. Hg. von Wilfried Barner. Bd. 5/2. Frankfurt am Main 1990, S. 681. Vgl. Jürgen Dummer: Lessing und die antiken Originale. Präliminarien zum Thema Winckelmann und Lessing. In: Ders.: Philologia sacra et profana. Ausgewählte Beiträge zur Antike und zu ihrer Wirkungsgeschichte. Hg. von Meinolf Vielberg. Wiesbaden 2006, S. 286±307.
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an dieser Stelle nichts, sieht man von der Frage ab, ob sich das Schreien für eine Skulptur schicke. Entgegen der angekündigten Beschränkung auf die Druckfassung sei deshalb ein einziges Mal eine der Mitschriften zu Rate gezogen. Sie bestätigt zweifelsfrei Hegels intime Kenntnis und Wertschätzung des Laokoon. Bei Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler heißt es 1826: [Eine] interessante Frage über die Grenzen von Malerei und Poesie [behandelt] Lessings Laokoon. [Der] Hauptunterschied ist, daß die Malerei nur einen Moment darstellen kann, die Poesie dagegen ganze Handlungen in der Zeitfolge. Der Maler muß einen solchen Punkt auswählen, in welchem das Vorhergehende sich andeutet und das Nachfolgende angekündigt wird. Er hat den Vorteil, daß er den äußeren Eindruck bestimmter darstellen kann als der Dichter. Die Handlung, die der Maler vorstellt, muß etwas Verständliches sein; das Allegorische, weil es einer besonderen Erklärung bedarf, ist unvorteilhaft.25
Hegel nutzt die Erkenntnisse seiner Laokoon-Lektüre sowie der gesamten nachfolgenden Debatte, um sein eigenes System der Künste aufzustellen. Er übernimmt zwar die Scheidung der Künste nach ihren Grenzen und Möglichkeiten, der, wie es bei ihm heißt, »Beschränkung des Materials und der Darstellungsweise«,26 verbindet diese synchrone Argumentation jedoch mit einer an den vielfach zitierten und verehrten Winckelmann gemahnenden Epocheneinteilung und Stilgeschichte. Wie für diesen gibt es bei Hegel für die Stufen der Kunstentwicklung Leitkünste, die das ¾Ideal½ am weitaus besten verwirklichen. Die anderen Künste orientieren sich bei Hegel an diesen jedoch allein nach ihren Grenzen und Möglichkeiten, wie sie allen voran Lessing im Laokoon beschreibt. Der Kritik Herders und anderer folgend differenziert Hegel Lessings Medientheorie weiter, etwa durch die Unterscheidung von Plastik und Malerei, von Musik und Poesie, die bei Lessing nur in den Paralipomena zu finden sind. Auch integriert er, um ein weiteres Beispiel zu geben, Goethes und Schillers Aufsatz Über epische und dramatische Dichtung, differenziert also ferner innerhalb der einzelnen Künste. Der Faden, an welchem all diese Unterscheidungen aufgereiht sind, der es möglich macht, Winckelmann, Lessing, Herder und Goethe27 in ihrer Kunst, Künste zu differenzieren, zusammenzuführen, eben die Laokoon-Debatte im hegelianischen Sinne ¾aufzuheben½, ist die zugrundeliegende Materialtheorie. Während Lessing im Laokoon die wahre Kunst nur dort finden will, wo der »Künstler wirklich als Künstler« ohne den »äußerlichen Zwang« der Religion in »völliger Freiheit« schuf,28 trennt Hegel Kunst nicht von Religion und Philoso25
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Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler: Philosophie der Kunst oder Ästhetik nach Hegel, im Sommer 1826. Mitschrift. Hg. von Annemarie Gethmann-Siefert. München 2004, S. 186. Dazu der Hinweis bei Iannelli (Anm. 12), S. 144. TW 14, S. 355. Hegel entspricht damit der üblichen Traditionslinie Winckelmann-Lessing-Goethe, die Heinses und Moritz¶ Beiträge zur Laokoon-Debatte ignoriert: Ernst Osterkamp: Laokoon in Präromantik und Romantik. In: Jahrbuch des freien deutschen Hochstifts (2003), S. 1± 28, hier S. 22. G 6, S. 73f.
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phie. Sie alle sind Formen des absoluten Geistes. Indem er die Künste mit der Geistesentwicklung verkoppelt, gewinnt er eine historische Dynamik, die Lessings ahistorischer Kunstkritik völlig fehlt. Anders als etwa Herder genügen Hegel die Sinne als Unterscheidungskriterium nicht: »das Kunstwerk aber ist nichts bloß Sinnliches, sondern der Geist als im Sinnlichen erscheinend.«29 Hegels »tiefer greifende Einteilungsweise« richtet sich an dem Verhältnis zum Wahren aus.30 Schiller abwandelnd könnte man sagen, es geht Hegel um die Frage, wie sehr das Material vom Geistigen vertilgt wird.31 Von hier aus ergeben sich die drei Phasen der Kunstgeschichte, von Epochen kann man nicht eigentlich sprechen. Hegel nennt sie die symbolischen, die klassischen und die romantischen Kunstformen. Leitkunst der symbolischen Phase, des alten Orients, Indiens und ÄgypWHQVLVWGLH$UFKLWHNWXU'LH¾ungeistige½, schwere Materie entspricht der abstrakten Vorstellung Gottes dieser archaischen Kulturen. Der klassischen Kunst Griechenlands ist die Skulptur zugeordnet. Zwar auch schweres Material, das aber von dem Künstler über die Naturbedingungen emporgehoben wird und sich zur »reale[n] Lebendigkeit des Geistes«32 wandelt. Geist und Sinnlichkeit befinden sich hier in völliger Harmonie. Die romantische Kunst des Abendlandes, die christliche und moderne Kunst also, überschreitet durch das Selbstbewusstsein des Geistes die Möglichkeiten der Kunst auf ihrem eigenen Gebiet. In zeitlicher Reihenfolge entspricht das den drei Künsten Malerei, Musik und Poesie. Die Malerei benutzt das Material nur noch »als Mittel für die Darstellung« und sorgt damit für die »Aufhebung der realen sinnlichen Erscheinung« im bloßen »Schein der Kunst«.33 In der Musik trennt sich der Gehalt weiter von der Materie, weil es um die »gestaltlose Empfindung« in der Zeit geht.34 Für die Poesie schließlich dient Materie noch mehr lediglich als Mittel, sie macht, um es mit einem Topos der Aufklärungsästhetik zu sagen, die Zeichen in ihrer Vorstellung vergessen.35 Wie sehr sich die Laokoon-Debatte in dieser hegelianischen Systematik wiederfindet, möchte ich nun am Beispiel der Plastik erörtern.
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TW 14, S. 255. Ebd., S. 257. »Darin also besteht das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt«, Friedrich Schiller: Über die Ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Sämtliche Werke. Bd. V. Hg. von Wolfgang Riedel. München 2 2008, 22. Brief, hier S. 639. TW 14, S. 259. Ebd., S. 260. Ebd., S. 261. Ebd., S. 261f.
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I. 3. Idealkunst der Plastik: Winckelmann, Lessing und Goethe Hegels Symbol für den Übergang von der symbolischen zur klassischen Kunst ist die Sphinx.36 Während in der ägyptischen Darstellung noch die »Kraft des Tierischen« mit dem »menschliche[n] Geist« ringt und im Widerspruch liegt, weil von Letzterem noch kein wirklicher Begriff besteht, besiegt Ödipus die Sphinx mit dem Lösungswort: ¾der Mensch½. Geist und Sinnlichkeit, Begriff und Realität, Form und Inhalt versöhnen sich in der Kunst des klassischen Griechenlands zu einer »an sich seienden Einheit«.37 Mehr kann unter den Bedingungen der beschränkten Kunstsphäre nicht erreicht werden. Das ist der Sinn des berühmten Satzes: »Schöneres kann nicht sein und werden«.38 Während Lessing an Winckelmanns Laokoon-Interpretation den Rückschluss von der Körpersprache der Plastik auf den sich in ihr manifestierenden Seelenzustand ablehnte, folgt Hegel Winckelmanns Schilderung der klassischen Skulptur auch hier. Dessen berühmte Worte über den Apollo von Belvedere, der Künstler habe ihn »gänzlich auf das Ideal gebaut« und »nur eben soviel von der Materie dazu genommen, als nötig war«, kommen Hegels Sicht entgegen.39 Er spricht von der »hohen Ruhe und stillen Größe«,40 wohlgemerkt nicht von der »edlen Einfalt«, und begründet, »Pathognomik und Physiognomik«41 zitierend, warum sich gerade in der Skulptur der Griechen die »Selbständigkeit des Göttlichen«, »das klassische Ideal in seinem einfachen Beisichsein« so vollkommen darstellt.42 Hegels Argumente beruhen beinahe vollständig auf Winckelmanns Geschichte des Altertums.43 Er gewichtet sie aber kaum merklich und doch entscheidend neu. Wie der große Kunsthistoriker in der Beschreibung des Torsos lobt auch der Philosoph sogar »die Haut« der göttlichen Skulpturen, sie »scheint weich XQGHODVWLVFKXQGGXUFKGHQ0DUPRUVHOEVWJOKWQRFK>«@GLHIHXULJH/HEHQskraft«.44 Doch ist es Hegel mehr um den Geist als um die Sinnlichkeit zu tun. Die aufrechte Stellung des Menschen lässt genauso wie die freie, nicht steife Haltung die »geistige[n] Bestimmungen hindurchscheinen«.45 Alle leichte Bewegtheit, man denke an Winckelmanns Beschreibung der anmutigen Handbewegung sowie des Verhältnisses von Stand- und Spielbein,46 ist für Hegel »Ge36 37 38 39
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Im Mythos zeigt sich der Übergang nach Hegel im Sieg der olympischen Götter über die Titanen. Ebd., S. 46ff. TW 13, S. 112. TW 14, S. 128. Johann Joachim Winckelmann: Beschreibung des Apollo im Belvedere. In: Winckelmanns Werke in einem Band. Hg. von Helmut Holtzhauer. Berlin/Weimar 1969, S. 62±63, hier S. 62. TW 14, S. 259. Ebd., S. 369. Ebd., S. 259 u. S. 87. Er selbst verweist an vielen Stellen auf das Werk des Kunsthistorikers, vgl. ebd., S. 382ff. Ebd., S. 381. Ebd., S. 398. Z. B. Johann Joachim Winckelmann: Von der Grazie in Werken der Kunst. In: Winckelmanns Werke (Anm. 39), S. 48±55, hier S. 50f.
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bärde des Geistes«.47 Alles Flüchtige und, wie er es nennt, »Mienenhafte« muss dem Ausdruck des ewigen Geistes weichen.48 Wie Winckelmann beschreibt er das »griechische Profil« als Ideal. Durch die fast gerade Linie von Stirn und Nase wird das Hervortreten einer »tierischen Schnauze« vermieden.49 Gegenbild zur Götterstatue ist das Tierische. Im Gegensatz zu den griechischen inkarnierten sich die ägyptischen Götter als Tiere. Möglicherweise animierte Hegel die Diskussion über das Seufzen des Laokoon, von dem leicht geöffneten Mund antiker Statuen zu sprechen: Er stünde nur »etwas offen«, damit »die Zähne« nicht »sichtbar« werden, diese hätten »mit dem Ausdruck des Geistigen nichts zu schaffen«.50 Dass Hegel sich mit den nackten Darstellungen anders als Winckelmann nur schwer abfinden konnte und sich lieber auf dessen Ausführung über Bekleidung und Draperie beruft, verwundert so auch nicht weiter. 51 Und zudem: Was aussieht wie der reinste Winckelmann, integriert doch Lessings Argumente über die Grenzen und Möglichkeiten der bildenden Kunst. Mit Lessing lehnt er die Winckelmannsche Gleichung von bildender Kunst und Poesie ausdrücklich ab. Das »¾Ut pictura poesis erit½« sei, so Hegel, zwar in der »beschreibenden Dichtkunst«, in den »Schilderungen der Jahres- und Tageszeiten« sowie der Blumen und Landschaften, präzise zur Anwendung gebracht worden, habe aber nur trockene Kunst hervorgebracht. Die Poesie müsse »als ein Nacheinander der Vorstellung« das erreichen, »was in der Malerei auf einmal vor der Anschauung steht«. Die Folge der poetischen Funktionsweise sei, »daß wir das Vorhergehende immer vergessen und aus der Vorstellung herausKDEHQ >«@«52 Kein Zweifel, Hegel paraphrasiert hier Lessings Kritik an der beschreibenden Poesie, der »Schilderungssucht« im Stile von Hallers Alpen, die aufgrund der Enumeratio einzelner Teile die Möglichkeit der poetischen Illusion unterbiete. Von Homers Kunstgriff, das »Koexistierende« in ein »Sukzessives« zu verwandeln, ist allerdings in den Vorlesungen nirgends die Rede.53 Hegel nimmt weiter Lessings Unterscheidung in natürliche und künstliche Zeichen, in Raumkunst und Zeitkunst auf, um die Qualität der Plastik für die klassische Kunstform hervorzuheben. Skulpturen nennt er aufgrund ihrer tatsächlichen Körperlichkeit naturgetreu, während Malerei und Poesie »unnatürlich« darstellen würden.54 Umgekehrt folgt daraus, dass die Darstellung des Geistes nur über künstliche Zeichen wirklich erreicht werden kann. Poesie könne zwar die äußere Figur des Menschen beschreiben, ihr fehle es aber an der »Präzision und Genauigkeit der Skulptur«. Die »bloße Vorstellung« bedürfte allerdings »solcher festen« »Bestimmtheit« auch gar nicht, da sie »den Menschen vor 47 48 49 50 51 52 53 54
TW 14, S. 399. Ebd., S. 371f. Ebd., S. 384. Ebd., S. 394. Zur nackten Plastik zwischen Winckelmann und Hegel vgl. Nikolaus Himmelmann: Ideale Nacktheit in der griechischen Kunst. Berlin/New York 1990, S. 1±12. TW 15, S. 90. Vgl. G 6, S. 109ff. TW 14, S. 353.
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allem handelnd«, nach seinen inneren Beweggründen sowie den äußeren Umständen vorführe.55 Dieses vermag die Skulptur entweder gar nicht oder nur in sehr unvollkommener Weise, da sie weder das subjektive Innere in seiner partikularen Innigkeit und Leidenschaft noch wie die Poesie eine Folge von Äußerungen darstellen kann, sondern nur das Allgemeine der Individualität, soweit der Körper es ausdrückt, und etwas Sukzessionsloses in einem bestimmten Moment und dieses bewegungslos ohne lebendige fortschreitende Handlung gibt.56
Von der Plastik als Raumkunst, die Hegel immer mit Rücksicht auf die Stellung innerhalb der architektonischen Umgebung betrachtet wissen will, 57 trennt er, das kann hier nur angedeutet werden, anders als Lessing, aber ähnlich wie Herder, die Malerei als Flächenkunst.58 Für den Begriff der poetischen Handlung dürfte wiederum Lessings Definition aus der Fabeltheorie Pate gestanden haben, nicht die von Mendelssohn und Herder kritisierten Ausführungen im Laokoon.59 Worum es mir hier geht, ist, dass nach Hegel einzig die Möglichkeiten der Plastik dem »Beisichsein« des klassischen Ideals entsprechen können: »Die Poesie läßt Götter handeln, d. h. sich negativ gegen ein Dasein verhalten«, schreibt Hegel. Lessing formuliert mit anderer Stoßrichtung ähnlich, dass »Götter und geistige[] Wesen« bei Künstlern und Dichtern unterschiedliche Verwendung fänden. Während in der bildenden Kunst Götter als »personifizierte Abstracta« aufträten, verwandelten die Dichter dieselben in »wirklich handelnde Wesen«, mit Charakteren, Eigenschaften und Affekten.60 Aus diesem von Lessing angeführten Unterschied beider Künste steht für Hegel fest, dass die Einheit von Göttlichem und Sinnlichem durch »Die Ruhe der Plastik« in ihrer Körperlichkeit und Raumgebundenheit der klassischen Stufe des Geistes allein völlig entspricht und deshalb als vollkommene Verwirklichung des Ideals gelten kann.61 Hegel folgt dabei sowohl Winckelmann als auch Lessing. Natürlich schätzt er die Dichtkunst der Alten, Sophokles¶ Antigone feiert er gar als das wohl größte Werk seiner Art, 62 und dennoch kann sich aufgrund der von Lessing beschriebenen Grenzen und Möglichkeiten der Künste das klassische Ideal allein in der Plastik vollständig realisieren.63 Lessings synchrone Differenzie55 56 57 58 59 60 61 62 63
Ebd., S. 354. Ebd. Ebd., S. 352f. TW 15, S. 26f. Zum Handlungsbegriff: Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. München 2008, S. 421ff. G 6, S. 70f. TW 14, S. 87f. TW 15, S. 550. »In seinen Dichtern und Rednern, Geschichtsschreibern und Philosophen ist Griechenland noch nicht in seinem Mittelpunkte gefaßt, wenn man nicht als Schlüssel zum Verständnis die Einsicht in die Ideale der Skulptur mitbringt und vom Standpunkt der Plastik aus sowohl die Gestalten der epischen und dramatischen Helden als auch der wirklichen Staatsmänner und Philosophen betrachtet.« TW 14, S. 374.
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rung der Künste wird mit einer geistesphilosophisch begründeten Präferenz einer ¾Epoche½ für eine spezifische Kunst verbunden, der ¾Wettstreit der Künste½ verteilt sich gleichsam über die gesamte Zeitachse. Sieger bleibt im dialektischen Modell natürlich die letzte Kunst als Summe aller vorhergehenden: die Poesie! Sie vereinigt im Epos die körperliche Objektivität der Plastik, in der Lyrik die Subjektivität der Musik und führt im Drama alles zu einer gewaltigen Synthese.64 Wie Hegel Winckelmann und Lessing in der allgemeinen Bestimmung der bildenden Kunst verbindet, so versöhnt er auch unterschiedliche Argumente in der Diskussion um den fruchtbaren Augenblick.65 Lessing oder vielleicht präziser: Herders in kritischer Absicht vollzogenen Zuspitzung der lessingschen Abhandlung folgend, verweigert er der Skulptur zunächst alles Transitorische und Extreme. Er spricht sich im Sinne des Ideals für die Darstellung der Ruhe oder des prägnanten Moments aus, differenziert allerdings nicht zwischen affektivem und narrativem Höhepunkt: 66 Die Skulptur muß nicht so darstellen, wie wenn Menschen durch Hüons Horn mitten in Bewegung und Handlung versteinert oder gefroren wären. Im Gegenteil muß die Gebärde, obgleich sie auf ein charakteristisches Handeln allenfalls hindeuten kann, doch nur ein Beginnen und Zubereiten ausdrücken, eine Intention, oder sie muß ein Aufhören und Zurückkehren aus der Handlung zur Ruhe bezeichnen. Die Ruhe und Selbständigkeit des Geistes, der die Möglichkeit einer ganzen Welt in sich schließt, ist das für die Skulpturgestalt Gemäßeste.67
Unter ihr »strenges Prinzip« falle die Plastik aber nur auf ihrem »Gipfel« ± den in sich ruhenden Götterstatuen des klassischen Griechenlands68 ±, während sie anschließend, korrelierend mit dem Fortschritt des Geistes, mehr und mehr innere und äußere Handlung darzustellen sucht ± das Kernelement der romantischen Kunstformen. Wieder verbindet Hegel synchrone und diachrone Argumentation durch noch genauere Differenzierung und Klassifizierung. Bereits Herder hatte die Lessing unterstellte Ablehnung des Transitorischen zugunsten des fruchtbaren Moments mit dem Hinweis kritisiert und anschließend karikiert: »jeder Zustand in der Welt ist so mehr oder minder transitorisch«.69 Goethe betonte wie Herder die Notwendigkeit in der bildenden Kunst, einen transitorischen Moment auszuwählen, unterscheidet aber zwischen geeigneten und ungeeigneten Augenblicken. Geeignet ist der Widerstreit zweier gegenläufiger Be64 65 66
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TW 15, S. 318ff. Vgl. dazu Szarota (Anm. 11), S. 109±111. Dazu Inka Mülder-Bach: Bild und Bewegung. Zur Theorie bildnerischer Illusion in Lessings ¾Laokoon½. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 66 (1992), S. 1±30, hier S. 23ff. TW 14, S. 399f. Ebd., S. 401. Johann Gottfried Herder: Erstes Wäldchen, Herrn Lessings ¾Laokoon½ gewidmet. In: Schriften zur Literatur. Hg. von Regine Otto. Bd. 1: Kritische Wälder. Berlin/Weimar 1990, S. 7±178, hier S. 76.
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wegungen in einem Moment. Ihm, Goethe, geht es anders als dem lessingschen Illusionsmodell und im Widerspruch zur mythologischen Einbettung Winckelmanns und Hegels um den »Marmor in Bewegung«. »Laokoon« ist »ein bloßer Name«, dargestellt wird ein Vater mit seinen zwei Söhnen.70 Zudem war es Goethes Verdienst, in diesem Kontext zwischen einzelnen Statuen und Gruppendarstellungen differenziert zu haben. Während die einzelne Statue einen ruhigen Gegenstand »bloß in seinem Dasein« zeige, »in sich selbst geschlossen«,71 müssen, »wo die einzelnen Gestalten in Bezug auf andere gedacht und gearbeitet sind«, die Bewegung bzw. Ursache mitberücksichtigt werden.72 Hegel schließt daran an: Die einzelne Statue zeige sich in »tatloser Ruhe«, »situationslos«, eben mit den Worten Goethes ¾in sich geschlossen½.73 Es geht hier nicht um den Moment, sondern um das »in sich Trächtige«, die »ruhige gleiche Dauer«,74 mit Lessing zu sprechen: den permanenten Ausdruck.75 Götterstatuen dieser Art sind das idealisierte Individuum, die von Geist durchströmte und bestimmte Materie. »Man muß sich vorstellen können, daß die Göttergestalt in derselben Stellung unvergänglich so dastehen werde.«76 Die einzelne Statue kann aber auch, wie der Apoll von Belvedere, den »Beginn einer Handlung oder das Ende derselben andeuten«.77 Dieses ¾Andeuten½ verweist zwar fraglos auf den fruchtbaren Augenblick, gehört jedoch noch zu sehr der den Dissonanzen des Handelns entgegenstehenden ruhigen ¾Beschlossenheit½ des Gottes an, um Lessings ambivalentem Moment wirklich zu entsprechen. In späterer Zeit allerdings könne ± und hier kommt Goethes Aufwertung des Flüchtigen zur Geltung ± eine Skulptur auch eine Szene innerhalb der »Grenze harmloser Menschlichkeit« herausstellen.78 Nicht der fruchtbare Moment, sondern der transitorische Augenblick ist hier gemeint. Hegels Beispiel, Goethes laufendem Knaben nicht unähnlich, ist etwa der berühmte Dornauszieher. Ein Blick auf die Datierung der Beispiele genügt, um zu sehen, wie sehr es in Hegels System zwischen synchroner Klassifikation und diachroner Kunstentwicklung knirscht. Es gibt wohl zu viele Ausnahmen, um seine philosophisch-kunsthistorisch gewonnenen Regeln zu bestätigen. Wie Goethe unterscheidet er von der Darstellungsweise einzelner Statuen die Konzeption der Gruppen, welche wiederum die Entwicklung von Ruhe zur Bewegung spiegeln. Zunächst beschreibt Hegel Gruppen, die »noch keine eigentliche Handlung oder Folge« ausdrücken.79 Die Rossbändiger auf dem 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79
Johann Wolfgang Goethe: Über Laokoon. In: Sämtliche Werke. Hg. von Karl Richter. Bd. 4, 2. München/Wien 1986, S. 78 und S. 81; vgl. Mülder-Bach (Anm. 66), S. 1ff. Goethe: Über Laokoon (Anm. 70), S. 78. Ebd., S. 78. TW 14, S. 431. Ebd., S. 400. Lessing spricht in den Fragmenten vom permanenten Ausdruck: G 6, S. 632. TW 14, S. 400. Ebd., S. 431. Ebd. Ebd., S. 433.
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Quirinal sind hierfür ein Exempel. Dann aber, und damit sind wir bei der späteren Datierung des Laokoon, gibt es Gruppen, die Situationen darstellen, »welche Konflikte, zwiespältige Handlungen, Schmerz usf. zum Inhalt haben«. Hier nun bezieht sich Hegel eindeutig auf den fruchtbaren Moment Lessings, der das Vorher und Nachher in einem einzigen Augenblick bannt. Die Skulptur fange hier jedoch an, »aus ihrem eigentümlichen und deshalb selbständigen Bereich herauszutreten«.80 Die Laokoon-Gruppe gilt ihm damit anders als bei Winckelmann, Lessing und Goethe als eine Statue, die dem eigentlichen Ideal der Plastik aufgrund ihrer späten Datierung und der dazu passenden Bewegtheit nicht mehr entspricht. Sie verweist qua ihrer Handlung bereits auf die romantischen Kunstformen, die von anderen Gesetzen und daher von anderen Künsten geprägt sind.
II. Der Realismus des Christentums. Von Lessing über Hegel zu Auerbach Ganz im Gegensatz zu Winckelmann und auch im Unterschied zu Lessing ist das Ideal der klassischen Kunstform bei Hegel keine Norm für die eigene Gegenwart.81 Ja, es bleibt aus geistesphilosophischer Sicht sogar unvollkommen. In den Götterbildern selbst spürt Hegel mit Schelling einen »Hauch und Duft der Trauer«82 auf, der wie die Blindheit ihrer lichtlosen Augen, auf die eigene Defizienz verweist.83 Das Ideal, so beschreibt Hegel, setze seinen »Fuß in die Sinnlichkeit und deren Naturgestalt hinein«, ziehe ihn jedoch im gleichen Moment wieder »zu sich zurück«.84 Der absolute Geist erfährt sich im religiösen Kunstwerk des Zeitalters der Poleiswelt als Einheit von Sinnlichkeit und Geist, von Anschauung und Begriff, bleibt sich aber gerade durch die Harmonie in der ästhetischen Äußerlichkeit seiner tieferen Struktur nach unerkannt. Es fehlt das Sich-Selbst-Wissen des Geistes als Rückzug aus der Sinnlichkeit in die unendliche Subjektivität und innere Reflexivität.85 Erst das neuerliche Auseinandertre80 81
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Ebd. Auch in der Phänomenologie des Geistes akzeptiert Hegel bekanntlich das Ende der sittlichen Harmonie des antiken Griechenlands, die Entfremdung der Welt vom Geist, um einer höheren Versöhnung in der Philosophie willen. Vgl. das »Geist«-Kapitel: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. In: Werke. Bd. 3. Frankfurt am Main 1998, S. 324±494. TW 14, S. 85. Statuen also, denen »das Licht des Auges abgeht«, die »blicklos« seien, TW 14, S. 131. Neben dieser Blindheit bezeugt das Defizit der Antike vor allem die Individualität der Götter: die kämpfenden Götter, die das Schicksal als notwendige Allgemeinheit außer sich haben. Es gibt eben zwei Blickwinkel Hegels auf die Antike, einmal erscheint sie als Harmonie und Ruhe, die sittliche Einheit der Poleiswelt, das andere Mal als in sich dissonant, zerfallend. TW 13, S. 207. Der antike Tragödienheld wendet nicht seine subjektive Reflexion gegen die objektive Konsequenz, sondern trägt seine Schuld ohne Widerspruch. Sokrates dringt bereits zur endlichen Subjektivität und Reflexivität vor, nicht aber zur unendlichen Subjektivität. Die
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ten beider Seiten ermöglicht den Schritt zur höheren Einheit auf dem eigenen Gebiet des Geistes bzw. im menschlichen Subjekt. Schillers berühmtes Gedicht Die Götter Griechenlands wertet Hegel deshalb als »durchweg falsch«. Die Götter der Antike hätten ihren Sitz lediglich in »Vorstellung und Phantasie«, während sich das Christentum zum wahren Leben des Göttlichen steigere. 86 In exakter Umkehrung Schillers spricht Hegel vom Ungenügen des künstlichen Anthropomorphismus der Alten für die »höhere Religion«: »Das Christentum hat den Anthropomorphismus viel weiter getrieben«.87 Passion und Auferstehung des menschgewordenen Sohn Gottes belegen für Hegel den Fortschritt des Geistes, den Schritt von der Kunstreligion zur Religion der Offenbarung, und beweisen einmal mehr die theologische Basis der spekulativen Grundfigur seines Denkens:88 Das Göttliche, Gott selber, ist Fleisch geworden, geboren, hat gelebt, gelitten, ist gestorben und auferstanden. Dies ist ein Inhalt, den nicht Kunst erfunden, sondern der außerhalb ihrer vorhanden war und den sie daher nicht aus sich genommen hat, sondern zur Gestaltung vorfindet.89
Nur sehr bedingt können die bildenden Künste den »Prozeß des Geistes«90 darstellen, der doch notwendiger Bestandteil des Absoluten ist. »Zerrissenheit und Dissonanz«91 liegen im toten Winkel der harmonischen Ruhe des klassischen Ideals. Mit der Idee wandelt sich deshalb auch das Ideal.92 Leitkünste der romantischen Zeit müssen, bei aller Bewunderung christlicher Skulpturen wie Michelangelos Pietà,93 daher in abgestufter Reihenfolge die Malerei, die Musik
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Entzweiung von Geist und Sinnlichkeit auf höherem Niveau als der symbolischen Phase zeigt sich zudem in den Komödien des Aristophanes oder der römischen Satire. Vgl. TW 14, S. 135 und S. 117ff. TW 14, S. 114ff. »Darum sind die Dichter und Künstler den Griechen die Schöpfer ihrer Götter geworden, d. h. die Künstler haben der Nation die bestimmte Vorstellung vom Tun, Leben, Wirken des Göttlichen, also den bestimmten Inhalt der Religion gegeben«. Homer und Hesiod, so der bekannte Herodot-Satz, auf den Hegel immer wieder anspielt, schenkt den Griechen ihren Götterhimmel. Vgl. TW 13, S. 140ff. TW 14, S. 23. Vgl. die Zusammenfassung bei Herbert Schnädelbach: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Zur Einführung. 3. Auflage. Hamburg 2007, S. 42ff. TW 14, S. 111. Vgl. zudem: »wie der Mensch ursprünglich Gottes Ebenbild war, ist Gott ein Ebenbild des Menschen, und wer den Sohn siehet, siehet den Vater, wer den Sohn liebt, liebt auch den Vater; in wirklichem Dasein ist der Gott zu erkennen«, »Der Gott der geoffenbarten Religion, dem Inhalt und der Form nach, ist der wahrhaft wirNOLFKH*RWW>«@«, TW 14, S. 112. TW 14, S. 152. TW 13, S. 209. »Das Innere jedoch und Geistige ist ebensosehr nur als tätige Bewegung und Entfaltung, Entfaltung aber ist nicht ohne Einseitigkeit und Entzweiung. >«@ In dieser Entfaltung allein bewährt sich die Macht der Idee und des Ideals, denn Macht besteht nur darin, sich im Negativen seiner zu erhalten«, TW 13, S. 233f. Zu Michelangelos »tote[m] Christus«, TW 14, S. 460. »Die Skulptur gibt deshalb im Romantischen auch nicht den Grundzug für die übrigen Künste und das gesamte Dasein,
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und allen voran die Poesie sein. Erneut stützt sich Hegel in dieser Zuordnung eindeutig auf Lessings Laokoon. Während die Malerei »vollständig als ein Zugleich aller ihrer Einzelheiten vor uns dasteht«, kann die Poesie nur »Sukzession« bieten. Sie sei jedoch in der Lage, so Hegel mit Lessing, diesen »Mangel nach der sinnlichen Seite hin« mittels des Geistes »zu ersetzen«.94 Die Einheit des Geistes ermögliche »das Nacheinander zu tilgen, die bunte Reihe zu einem Bild zusammenziehen und dies Bild in der Vorstellung festzuhalten und zu genießen«. Poesie erreicht damit jene »innerliche Tiefe«, die der Plastik per definitionem abgeht. Geist, so fährt Hegel fort, kann nur »dargestellt werden, wenn er uns als solch ein Verlauf vor die Vorstellung kommt«.95 Wie Lessing spricht Hegel davon, dass die Poesie über ein »unermeßliches und weiteres Feld als die übrigen Künste«96 verfüge. Im Vergleich zu dem Aufklärer weitet er jedoch die Grenzen der Poesie ungemein aus. Auch poetische Gemälde schließt Hegel nicht grundsätzlich aus. Vor allem aber hält er nicht oder nur bedingt an dem Begriff der Kunstschönheit im Sinne der klassischen Antike fest: Die griechische Schönheit zeigt das Innere der geistigen Individualität ganz in deren leibliche Gestalt, Handlungen und Begebnisse hineingebildet, im Äußeren ganz ausgedrückt und selig darin lebend. Für die romantische Schönheit hingegen ist es schlechthin notwendig, daß die Seele, obschon sie im Äußerlichen erscheint, zugleich zeige, aus dieser Leiblichkeit in sich zurückgeführt zu sein und in sich selber zu leben.97
Kurz: Die Schönheit des Äußeren wird zu einer »Schönheit der Innigkeit«98, einer, wie es an anderer Stelle heißt, »geistigen Schönheit«.99 Erst jetzt kann die Kunst, die nun immer schon die Reflexion des Betrachters einschließen muss, zum »an und für sich Inneren als der in sich unendlichen geistigen Subjektivität«100 vordringen, nur »auf dieser Stufe« scheint »das Ideal« daher »vollständig zu Hause zu sein«.101 Die romantische Epoche seit dem Christentum öffnet die Kunst damit in zweierlei Hinsicht: Zum einen erschließt sie sich das »geistige Reich« in seiner ganzen Tiefe, und zum anderen widmet sie sich uneingeschränkt dem »Reich des Äußerlichen«.102 Beides kann die Poesie am weitaus besten leisten. Auf Lessings Ausführungen zum Unsichtbaren in der bildenden
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wie in Griechenland, ab, sondern weicht der Malerei und Musik als den gemäßeren KünsWHQ >«@© Hbd., S. 458. Man wird an dieser Stelle anmerken müssen, dass Hegel diverse Elemente der mittelalterlichen Kunst wie z. B. die frühmittelalterliche Darstellung des Christus triumphans so gut wie vollständig ausklammert. TW 15, S. 225. Ebd., S. 226. Ebd., S. 230. TW 14, S. 144. Ebd., S. 144. Ebd., S. 129. Ebd. Ebd., S. 142. Ebd., S. 140.
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Kunst rekurrierend103 erklärt Hegel es zu den »Hauptschwierigkeiten« von Plastik und Malerei, das »Geistige« darzustellen, das sich der Körperlichkeit entzöge.104 Schon Lessing ordnete »GLH6SKlUH>«@>GHV@LQQHUQ$XJHV« allein der Poesie zu.105 Besonders bedeutsam ist jedoch, dass Lessing bekanntlich der Poesie aufgrund ihrer Auflösung des Koexistenten in Sukzession die eingeschränkte Darstellung von Hässlichem und Ekelhaftem gestattet.106 Hegel betont, dass »allgemeine Bestimmungen«, inwieweit Dissonanz in der Kunst zulässig sei, nicht vorgenommen werden könnten. Jede Kunst folge ihren eigenen Gesetzen: Die Poesie hat deshalb das Recht nach innen fast bis zur äußersten Qual der Verzweiflung und im Äußeren bis zur Häßlichkeit als solcher fortzugehen. In den bildenden Künsten aber, in der Malerei und mehr noch in der Skulptur, steht die Außengestalt fest und bleibend da, ohne wieder aufgehoben zu werden und wie die Töne der Musik flüchtig gleich wieder zu verschwinden. Hier würde es ein Verstoß sein, das Häßliche, wenn es keine Auflösung findet, für sich festzuhalten.107
Gerade an dieser Stelle geht Hegel jedoch weit über Lessing hinaus. Was dieser in Wie die Alten den Tod gebildet verständnislos betrachtete, wird bei Hegel zur künstlerischen Notwendigkeit des Christentums. Am Beispiel der scheußlichen Gerippe beobachtete Lessing den Wandel der Kunst durch das Auftreten der neuen Religion: Sie habe »das alte heitere Bild des Todes aus den Grenzen der Kunst verdrungen«. Er, Lessing, sähe keinen Grund, warum »unsere Künstler« nicht »das scheußliche Gerippe« aufgeben und »sich wiederum in den Besitz jenes besseren Bildes« setzen könnten. Hegel widerspricht nicht Lessings Kritik an der falschen Vorstellung des strafenden Todes, wohl aber der Möglichkeit eines künstlerischen ¾Zurück½: »Mit heiteren Bilden«, so ausdrücklich Hegel, hätten die Alten den Tod nur deshalb ausgemalt, weil sie zu seiner wahren Bedeutung genauso wenig vorgedrungen seien wie zum wahren Subjekt. Erst das Sich-selbst-Wissen des Geistes könne sowohl die Negativität als auch die »affirmative Bedeutung« des Todes entschlüsseln, der Tod wird zur Negation der Negation und damit zur »Auferstehung des Geistes aus seiner bloßen Natürlichkeit«.108 Erst die Passion und Auferstehung Christi eröffnen der Kunst somit all ihre Möglichkeiten. Innige Schönheit und harscher Realismus sind zwei Seiten derselben Medaille. Christus gegeißelt, mit der Dornenkrone, das Kreuz zum Richtplatz tragend, ans Kreuz geheftet, in der Qual eines martervollen, langsamen Todes hinsterbend, läßt sich in den Formen der griechischen Schönheit nicht darstellen, sondern in diesen Situationen ist das Hö-
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G 6, S. 89ff. TW 14, S. 154. G 6, S. 99. Ebd., S. 155. TW 13, S. 268. TW 14, S. 134f.
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here die Heiligkeit in sich, die Tiefe des Inneren, die Unendlichkeit des Schmerzes, als ewiges Moment des Geistes, die Duldung und göttliche Ruhe.109
Nicht nur durch den Mensch gewordenen Sohn Gottes und dessen irdisches Leid, auch durch seine Gefolgschaft verändert sich der Gegenstand der Kunst maßgeblich. Mit dem Christentum treten der gewöhnliche und der innere Mensch sowie das Leiden am Dasein ins Feld der Kunst. Auch die Freunde und Feinde Jesu Christi seien »keine Ideale, sondern dem Begriffe nach partikuläre, Individuen, gewöhnliche Menschen, welche der Zug des Geistes zu Christus führt«. Mit einem Wort: »In allen diesen Beziehungen tritt hier im Vergleich mit der klassischen Schönheit das Unschöne als notwendiges Moment auf.«110 An zahlreichen Stellen führt Hegel weiter aus, warum sich die aus dem Christentum kommende romantische Kunst weder der »Häßlichkeit« und »Unschönheit« noch dem Realismus des Alltags entziehen darf.111 Der Grund liegt in der entscheidenden Umwertung des Verhältnisses von äußerlicher und innerer Schönheit, von gesellschaftlichem Stand und edlem Gemüt, welche das Christentum vornimmt. Die Gleichung der antiken Kalokagathia ist aufgehoben, da Frömmigkeit, so Hegel, »auch in einem der bloß äußeren Gestalt nach, für sich häßlichen Körper wohnen« könne.112 In der Druckfassung der Vorlesungen ist im Vergleich zu anderen Nach- und Mitschriften weit seltener von Hässlichkeit, dafür umso öfter von »Partikularität«, »Zufälligkeit«, »realem Dasein« und »endlicher Mangelhaftigkeit« die Rede.113 Während die Hegel-Forschung gezeigt hat, dass in den unbekannten Manuskripten eine »Ästhetik des Hässlichen« nachgewiesen,114 zeigt sich in der von Hotho veröffentlichten Ästhetik Hegels geradezu eine Begründung des künstlerischen Realismus aus dem Geist des Christentums. Von hier ist der Weg zu Erich Auerbach nicht weit: Wie sehr das Christentum neue Anforderungen an die Kunst stellt, beschreibt der Romanist an vielen Beispielen. Es gelte für die christlichen Künstler eine geistige Bewegung künstlerisch zu bewältigen, die zudem auf die Ständeordnung keine Rücksicht nimmt. Den sermo humilis als christliche Form des Erhabenen stellt Auerbach deshalb an die Wiege des modernen Realismus. Wie Hegel spricht er von der mangelnden »Tiefe« des Altertums, meint allerdings nicht die des Geistes, sondern die des historischen
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Ebd., S. 153. Ebd. TW 13, S. 209. TW 15, S. 101. Vgl. auch Lessings Kritik an Wielands Ideal der Kalokagathia in den Literaturbriefen, dazu Nisbet (Anm. 59), S. 411f. TW 14, S. 139. Die Kunstwerke könnten nun »>«@HEHQVRZHQLJYRQQXULGHDOHU6FK|QKHLW sein, als sie zum Gemein und Häßlichen abirren oder zur bloßen Erhabenheit als solcher sich erheben dürfen. Das Beste wird in betreff auf die äußere Form die Mitte sein zwischen dem partikulär Natürlichen und der idealen Schönheit«, ebd., S. 151. Vgl. Gethmann-Siefert (Anm. 12); Iannelli (Anm. 12), S. 137ff.
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Sinns.115 Nicht von ungefähr erinnert ein wesentliches Zitat aus seinem Buch Mimesis an die oben angeführten Stellen aus Hegels Vorlesungen: Daß der König der Könige wie ein gemeiner Verbrecher verhöhnt, bespien, gepeitscht und ans Kreuz geschlagen wurde ± diese Erzählung vernichtet, sobald sie das Bewußtsein der Menschen beherrschte, die Ästhetik der Stiltrennung vollkommen; sie erzeugte einen neuen hohen Stil, der das Alltägliche keineswegs verschmähte, und der das SinnlichRealistische, ja das Häßliche, Unwürdige, körperlich Niedrige in sich aufnimmt.116
Die Vermutung, dass Auerbach Hegels Vorlesungen über die Ästhetik in dieser Weise verstand, lässt sich philologisch mit einer berühmten Stelle seines Werkes absichern. Auerbach verheimlichte trotz aller gut begründeten Distanz zu dem, was man in seiner Zeit den ¾deutschen Geist½ nannte, nicht, dass sein Buch Mimesis »in keiner anderen Tradition denkbar [wäre] als in der der deutschen Romantik und Hegels«.117 In seiner Marburger Antrittsvorlesung bezieht er sich sowohl auf Schellings Dante-Aufsatz als auch auf Hegels Ästhetik.118 Die Quintessenz folgt Letzterer: Beinahe vollständig zitiert Auerbach Hegels Auslegung der Divina Commedia und pflichtet ihm bei. Seine Worte, so komplimentiert er, drängten den entschiedensten Gedanken des Werks auf einer Seite zusammen. Mehr ließe sich »synthetisch über die Komödie« nicht sagen.119 Hegel sah mit diesem »eigentlichen Kunstepos des christlichen katholischen Mittelalters« die Zweiseitigkeit der romantischen Kunst, die religiöse Innerlichkeit und die darauf bezogene partikuläre Äußerlichkeit, bestmöglich verwirklicht: Hier verschwindet alles Einzelne und Besondere menschlicher Interessen und Zwecke vor der absoluten Größe des Endzweckes und Ziels aller Dinge; zugleich aber steht das sonst Vergänglichste und Flüchtigste der lebendigen Welt objektiv in seinem Innersten ergründet, in seinem Wert und Unwert durch den höchsten Begriff, durch Gott gerichtet, vollständig episch da. Denn wie die Individuen in ihrem Treiben und Leiden, ihren Absichten und ihrem Vollbringen waren, so sind sie hier für immer, als eherne Bilder versteinert, hingestellt. In dieser Weise umfaßt das GediFKWGLH7RWDOLWlWGHVREMHNWLYVWHQ/HEHQV>«@120
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TW 14, S. 24; Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 10. Auflage. Tübingen 2001, z. B. S. 18ff. Ebd., S. 74. Erich Auerbach: Epilegomena zu Mimesis. In: Romanische Forschung 65 (1953), S. 1±18, hier S. 15. Vgl. zu diesem ambivalenten Verhältnis: Gerhart Pickerdodt: Schiller, Goethe und die Folgen. Erich Auerbachs Kritik der deutschen Literatur. In: Wahrnehmen Lesen Deutschen. Erich Auerbachs Lektüre der Moderne. Hg. von Walter Busch und Gerhardt Pickerodt. Frankfurt am Main 1998, S. 249±263. Vgl. Erich Auerbach: Entdeckung Dantes in der Romantik. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Bern/München 1967, S. 176±183, vor allem S. 181ff. Zu Unterschieden zwischen modernen Deutungen Dantes und Auerbachs Lesart: Paul Geyer: Subjektivität in Dantes ¾Divina Commedia½. In: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Hg. von Reto Luzius Fetz, Roland Hagenbüchle und Peter Schulz. Berlin 1998, S. 434±459, hier S. 436. Auerbach: Entdeckung Dantes (Anm. 118), S. 182. TW 15, S. 406f.
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Wie sehr sich Hegel auch auf den Spuren Lessings einer Theorie des literarischen Realismus im Abendland nähert, er bleibt doch vor allem Philosoph: Für ihn verweist die Philosophie der eigenen Gegenwart die Kunst121 auf einen hinteren Rang, ohne dass er deshalb ihren Tod prophezeien würde. Hegel kritisiert an der gegenwärtigen Kunst die Einseitigkeit des subjektiven Humors und der ¾porträtartigen½ Nachahmung der Realität, erkennt jedoch durchaus deren ästhetische Leistung an. Insbesondere die holländische Malerei würdigt er ganz im Gegensatz zu Lessing ausdrücklich in ihrer kunstgeschichtlichen Bedeutung.122 Vor allem aber sieht er eine zukunftsträchtige Perspektive heranwachsen, die der Kunst eine neue Daseinsfunktion in der Vermittlung der Menschen untereinander zuweist.123 Dem Hinausgehen der Kunst über sich selbst in der Abhängigkeit von Reflexion entspreche das künstlerische »Zurückgehen des Menschen in sich selbst, ein Hinabsteigen in seine eigene Brust«. Die Kunst mache nun »den Humanus« »zu ihrem neuen Heiligen«124, »die Tiefen und Höhen des menschlichen Gemüts als solche, das Allgemeinmenschliche in seinen Freuden und Leiden, seinen Bestrebungen, Taten und Schicksalen«.125 Auch darin würde Auerbach wohl mit Hegel und auch weitgehend mit Lessing übereinstimmen, wiewohl dem Literaturwissenschaftler selbstverständlich eine ganz andere Literatur vor Augen steht, die Literatur in seinem Denken auch einen ganz anderen Stellenwert einnimmt und sich die Weltlage kaum verglei121 122 123
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TW 13, S. 143f. TW 14, S. 223ff. »Drittens bleibt uns zum Schluß nur noch übrig, den Standpunkt anzudeuten, von welchem aus die Kunst sich noch heutigentags zu betätigen imstande ist«, TW 15, S. 222. »Die Kunst«, fasst Paetzold diesen Gedanken zusammen, »wird demzufolge zum Organ, welches die Menschen mit allen Bestrebungen des Menschengeschlechts vertraut macht, so daß ihnen nichts mehr fremd bleibt, was je die Menschenbrust beweg und innerlich berührt hat«, Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhetischer Rationalität bei Baumgarten, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer. Wiesbaden 1983, hier S. 271. Die Ausführungen zum ¾neuen Heiligen½, dem Menschen selbst, bleiben allerdings in der Druckfassung recht oberflächlich. Ursprung dieser Formulierung ist Goethes Epenfragment Die Geheimnisse. Ausführlich dazu mit Blick auf Hegels Wertschätzung der Dramatik Schillers als Verwirklichung der reflexiven Anschaulichkeit des Selbstbewusstseins siehe: Gethmann-Siefert: Funktion (Anm. 14), S. 319±329; Gethmann-Siefert: Hässliche (Anm. 12), S. 29ff. »Durch den Übergang zum weltlichen Inhalt ändert sich die Rolle der Kunst für die Religion. Die Kunst ist nicht mehr auf die ¾zweckmäßige Verschönerung½, also auf ihre Dienste im Rahmen der Kultur, zu beschränken. Indem der Mensch zum ¾neuen Heiligen½ der Kunst wird, untersteht sie wieder dem Letztzweck, den sie im Rahmen der ¾schönen Religion½ durch die Stiftung der Göttergestalten bereits realisiert hat. Ihr Zweck ist nicht mehr die Illustration der geoffenbarten Gottesvorstellung, sondern weiterhin die Vermittlung eines geschichtlichen Selbstverständnisses des Menschen als vernünftiges und freies, zu sittlichem Handeln befähigtes Wesen«, Gethmann-Siefert: Einführung (Anm. 14), S. 167; siehe auch: Ursula Franke: Der neue Heilige. Hegel über die Darstellung Gottes. In: Kulturpolitik und Kunstgeschichte. Perspektiven der Hegelschen Ästhetik. Hg. von Ursula Franke, Annemarie Gethmann-Siefert. Hamburg 2005, S. 105±118. TW 14, S. 238; zwar sei »kein Homer, Sophokles usf. kein Dante, Ariost oder Shakespeare >«@LQXQVHUHU=HLW« denkbar, aber es gelte dennoch der Grundsatz: »Nur die Gegenwart ist frisch, das andere fahl und fahler«, Ebd., S. 238.
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chen lässt. Auf der letzten Seite seines Buches sieht Auerbach jedoch in der auf beliebige »Lebensaugenblick[e]« zielenden Literatur des frühen 20. Jahrhunderts, die in dem tiefen Innenleben der Protagonisten ihr eigentliches Fundament besitzt, die bei allem Pluralismus also das Allgemeinmenschliche zu ihrer Basis nimmt, ein Anzeichen für eine neues, »gemeinsame[s] Leben der Menschen auf Erden«.126
126
Auerbach: Mimesis (Anm. 115), S. 514.
Namenregister Namenregister Abbt, Thomas 244 Addison, Joseph 68, 111, 289 Aischylos 188 Algarotti, Francesco 111, 357 Alighieri, Dante 286, 382f. Ambrogi, Antonio Maria 62, 81 Ambros, August Wilhelm 348, 351, 362±364 Anakreon 204, 305 Apuleius von Madaura 102 Ariosto, Lodovico 305, 383 Aristophanes 378 Aristoteles 4f., 14±16, 33f., 109f., 187, 205f., 271f., 278, 301 Arktinos von Milet 157 Athanadoros 161 Augustinus 197, 249 Bach, Carl Philipp Emanuel 350 Bach, Johann Christian Friedrich 347 Bach, Johann Sebastian 23, 129, 298, 347, 350, 375f. Bacon, Francis 202 Basedow, Johann Bernhard 118 Batteux, Charles 111, 245, 272, 282, 287, 289, 297f., 346f. Baudelaire, Charles 111 Baumgarten, Alexander Gottlieb 1±3, 10f., 17f., 20, 22, 113, 123f., 129, 136f., 141, 182, 206, 211, 237, 243±248, 252, 260f., 265, 268, 273, 276, 289, 294± 296, 310±318, 366, 383 Bayle, Pierre 188, 194 Beaulieu-Marconnay, Carl von 30 Bellori, Giovanni Pietro 328 Bembo, Pietro 164, 170f. Bernhard, Herzog zu SachsenWeimar 43, 48 Beroaldo, Filippo 164
Bismarck, Otto Eduard Leopold von 102 Bodmer, Johann Jakob 10, 26, 187, 237, 244 Boileau, Nicolas 352 Brahms, Johannes 362 Breitinger, Johann Jakob 10, 26, 237f., 244, 296 Browne, Thomas 197 Brunn, Heinrich 109 Büchner, Karl Georg 54, 82, 149 Cardano, Girolamo 208 Caylus, Anne-Claude-Philippe de Tubières, Comte de 21, 26, 29, 61, 65, 107, 120, 211f., 286, 289, 327, 329 Chabrias 47±50, 107, 334 Chambre, Pierre Cureau de la 331 Chastellux, François-Jean de 354± 356 Cicero, Marcus Tullius 33, 190 Cleyn, Franz 39 Corneille, Pierre 331, 356 Cornelius, Peter von 110, 334 Dacier, Anne 61, 65 De Piles, Roger 111 Descartes, René 176, 248 Diderot, Denis 111, 189, 272, 290, 298, 355 Dilthey, Wilhelm 109, 122, 175± 178 Dolce, Lodovico 328 Dubos, Jean-Baptiste 136, 141, 238, 249, 252, 272, 289, 325 Duchesne, Léger 164±168 Eberhard, Johann August 244, 281 Engel, Johann Jakob 45, 118, 185, 190, 247, 353 Ernesti, Johann August 23
386
Eschenburg, Johann Joachim 63, 187 Euphorion 156f. Euripides 188 Eurylochos 223, 225 Fénelon, François de Salignac de la Mothe 192 Feuerbach, Anselm 109 Fèvres, Tanneguy Le 212 Fichte, Johann Gottlieb 2, 24 Francke, Johann Michael 19, 332, 369 Fresnoy, Charles Alphonse du 328 Freytag, Gustav 111 Friederichs, Carl 107 Friedländer, Julius 42±45, 50, 67 Friedrich II. von Preußen 43, 48 Garve, Christian 103, 118, 127f. Gellert, Christian Fürchtegott 125±127 Genelli, Bonaventura 110 Gentili, Scipione 61 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 5, 75, 295 Gesner, Johann Matthias 18, 123, 294 Gessner, Salomon 294, 336 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 74, 160, 187 Gluck, Christoph Willibald 347, 356f. Goethe, Johann Wolfgang 1, 14, 23, 30, 43, 48, 73, 79, 111, 122, 127, 241, 282, 284±288, 291, 312, 346, 370, 372, 375f., 382f. Goeze, Johann Melchior 9 Gorgias 149, 252, 296 Gottsched, Johann Christian 2, 9, 10, 27, 194, 197, 238, 244, 250, 266, 352f., 358 Gracián, Baltasar 197f. Grillparzer, Franz 348, 351, 360f., 366 Grosley, Pierre-Jean 61 Grove, Emanuel Siegmund 63 Gruter, Jan 164±166, 171
Namenregister
Hagedorn, Christian Ludwig von 332 Haller, Albrecht von 4, 13, 26, 147, 269, 336, 373 Hamann, Johann Georg 43, 48 Hamann, Johann Michael 43, 48 Harris, James 107, 141, 271±273, 352f., 365 Hartley, David 126 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 2, 24f., 188, 296, 365±383 Heinse, Wilhelm 101, 178, 201, 327, 337, 370 Hempel, Gustav 45, 47, 50, 57, 58, 60, 64, 67±69, 72, 80, 84, 329 Heraklit 9 Herder, Johann Gottfried 23, 74, 108f., 182, 191, 219f., 241, 246, 261, 273±275, 282±285, 295, 304f., 312, 321, 346±349, 351, 364, 370f., 374f. Herodot 378 Hesychios von Alexandria 106 Hettner, Hermann Julius Theodor 109 Heyne, Christian Gottlob 23, 75, 107, 321 Hirt, Aloys 339, 369 Hißmann, Michael 119±121, 126 Hölderlin, Friedrich 24, 122 Homer 4, 12f., 22, 47, 61, 65, 73, 75, 111, 148f., 160, 203f., 211± 214, 257, 302f., 313, 325f., 330, 373, 378, 383 Horatius Flaccus, Quintus 204, 206, 208, 302, 338 Höre, Johann Gottfried 184f., 254 Hotho, Heinrich Gustav 365, 367f., 381 Hume, David 117, 121, 126, 128 Hutcheson, Francis 121, 192, 245, 289 Huysum, Jan van 138 Hyginus 156 Iselin, Isaak 118
Namenregister
Iunius, Franciscus 19 Jacobi , Friedrich Heinrich 115, 365 Jahn, Otto 101, 104, 109, 345 Jerusalem, Karl Wilhelm 64, 119 Jordan, Carl Friedrich Wilhelm 111 Kant, Immanuel 2, 4, 17, 24, 38, 116±118, 122±124, 131, 192, 194±196, 245, 248, 259, 281, 284, 291, 312, 314, 365, 383 Kaulbach, Wilhelm von 110 Kehler, Friedrich Carl Hermann Victor von 368, 370 Keller, Gottfried 101, 111, 244 Kleist, Ewald von 13, 336 Klopstock, Friedrich Gottlieb 286, 303 Klotz, Christian Adolph 9, 23, 74, 107, 285 Körner, Christian Gottfried 17 Krabinger, Johann Georg 165 Krause, Christian Gottfried 346, 347 Krüger, Johann Gottlob 12, 240, 262 Lachmann, Karl 29f., 41, 43±47, 50, 59, 67, 70, 74, 76, 78, 80± 82, 84, 104, 215, 242 Laclos, Pierre-Ambroise-François Choderlos de 127 Lange, Samuel Gotthold 9 Leibniz, Gottfried Wilhelm 10, 31, 115, 118f., 126, 131, 193f., 196, 244±255, 260±263, 266, 268, 270, 274f., 289 Lemnius, Simon 208 Lessing, Carl Robert 42f., 45, 48 Lessing, Johann Gottfried 58, 184f., 219, 273f., 282f., 285, 295, 304, 346, 375 Lessing, Karl Gotthelf 50f., 63f., 66f., 69, 71f., 76, 83f., 329 Linné, Carl von 31 Liszt, Franz 362 Locke, John 117f., 126, 245
387
Lomazzo, Giovanni Paolo 328 Longinus 36, 206, 212, 314 Lukian von Samosata 101, 305 Lully, Jean-Baptiste 355f. Luther, Martin 106, 196 Lykophron 157 Lysippus 333 Macrobius, Ambrosius Theodosius 158 Maffei, Paolo Alessandro 171, 322, 329, 333, 338f. Malebranche, Nicolas 270f. Markart, Hans 110 Marliani, Bartolomeo 333 Marpurg, Friedrich Wilhelm 346f., 353 Meier, Georg Friedrich 12, 118, 129, 185, 240, 243f., 246, 248± 251, 253, 256, 260f., 265, 267f., 284, 289, 294, 301 Meiners, Christoph 118 Mendelssohn, Moses 11, 23, 30, 51, 67, 115f., 123, 129, 130f., 133±149, 184, 240±246, 249, 252±254, 257±263, 268, 271, 273, 282f., 288f.,309, 329, 351, 353, 359, 365, 374 Mengs, Anton Raphael 178, 201, 327, 337 Metastasio, Pietro 355f. Michelangelo Buonarroti 140, 178, 338, 378 Milton, John 336 Montaigne, Michel Eyquem de 12, 117, 126, 240 Montfaucon, Bernard de 333 Moritz, Karl Philipp 106, 245, 281f., 284, 286±290, 312, 339, 370 Naogeorg, Thomas 185 Nepos, Cornelius 334 Nicolai, Ernst Anton 12, 30f., 38, 51, 71, 74, 84, 144, 193, 240± 242, 245, 258, 273, 278, 353, 359
388
Nietzsche, Friedrich 188, 345f., 348, 351, 361 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 16, 23, 26, 122, 312 Oeser, Adam Friedrich 249, 332 Opitz, Martin 15 Overbeck, Johannes Adolph 107, 109 Pausanias 102, 334 Perrault, Charles 201 Petrarca, Francesco 24 Petronius, Titus 102, 153, 158, 162f., 210 Phidias 212 Pindar 204 Platon 140, 176f., 346 Plautus, Titus Maccius 358 Plinius der Ältere 19, 161, 164, 166, 168, 333f. Plutarch 4, 16, 33, 36, 102, 239 Poliziano, Angelo 203 Polydoros 161 Polygnotos 33 Pope, Alexander 14, 252, 336 Pouilly, Louis-Jean Lévesque de 245 Priestley, Joseph 126 Quinault, Philippe 355 Quintilianus, Marcus Fabius 18, 303, 311 Quintus von Smyrna 153, 157, 162f. Ramler, Karl Wilhelm 346f., 354 Reimarus, Elise 11, 30, 115, 118 Reimarus, Hermann Samuel 11, 30, 115, 118 Richardson, Jonathan 107, 111, 325, 329, 333, 337, 338±342 Riedel, Friedrich Justus von 120f., 282±286, 289f. Rosenkranz, Johann Karl Friedrich 20, 109 Rossini, Gioachino Antonio 348, 360f.
Namenregister
Rousseau, Jean-Jacques 189, 192, 355, 359 Rubens, Peter Paul 110 Sadoleto, Jacopo 39f., 153, 155, 164±172 Sallustius Crispus, Caius 170 Sandrart, Joachim von 339 Scaliger, Julius Caesar 10, 15 Scheffner, Johann Georg 346 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 24f., 365, 377, 382f. Schiller, Friedrich 2, 4, 14f., 17, 23±25, 38, 188, 241, 271, 282, 284, 289, 291, 295f., 314, 316, 340, 346, 365, 369, 370f., 378, 382f. Schlegel, Friedrich 23, 25f., 298, 347, 351 Schmettau, Woldemar Hermann Graf von 47±50 Schottel, Justus Georg 196 Seneca, Lucius Annaeus 190, 207 Shaftesbury, Anthony AshleyCooper, 3. Earl of 111, 241, 245, 253, 289, 295, 301, 303, 325 Simonides 33, 113, 239, 324f. Smith, Adam 149, 190 Sophokles 3, 12, 26, 73, 154, 156f., 175, 184±191, 196, 321, 323, 326, 330, 340, 374, 383 Spence, Joseph 26, 29, 120, 257, 329 Spinoza, Baruch de 119, 122, 365 Stendhal 348, 361 Stosch, Philipp von 47, 332 Strozzi, Ercole 171 Sulzer, Johann Georg 128, 212 Tauentzien, Friedrich Bogislav von 27±29, 52, 59 Tebaldeo, Antonio 171 Tetens, Johann Nicolaus 119 Theophrast 106f. Thomasius, Christian 17f. Thomson, James 14, 336 Tieck, Johann Ludwig 312
Namenregister
Titus 168, 209, 334 Trivulzio, Cesare 164 Venzky, Georg 197 Vergilius Maro, Publius 4, 12f., 39, 61f., 71, 75, 81, 108, 125, 153±165, 171, 173, 182, 201, 203f., 207±214, 305, 309, 313, 321, 323, 326, 329, 333f., 338, 340±342, 369 Villedary, Jean 53, 92 Vischer, Friedrich Theodor 109, 302 Volkmann, Johann Jacob 109 Voß, Christian Friedrich 24, 75, 302 Wagner, Richard 345, 349, 357, 360±362 Weber, Carl Maria von 359±361 Wieland, Christoph Martin 349, 381
389
Winckelmann, Johann Joachim 3, 5, 11±13, 17±20, 23±26, 29, 39, 57±59, 61, 73, 103, 106±109, 113, 117, 120, 125, 140, 154, 165±168, 175±184, 190, 192, 201, 203±205, 207±211, 241, 258, 301, 306, 317, 321±342, 365, 368±377 Wolff, Christian 3, 10f., 31, 115, 118, 124, 128, 130±133, 137f., 149, 206, 242, 244±250, 255f., 258±266, 276f., 289 Wouwer, Johan van 61 Young, Edward 202±207, 210, 212 Zeuxis 148, 303f. Zimmermann, Robert von 348, 363f.