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German Pages 143 Year 2011
Einführungen Germanistik Herausgegeben von Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal
Stefanie Stockhorst
Einführung in das Werk Gotthold Ephraim Lessings
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Abbildung: Symbolische Darstellung der Durchbrechung des mittelalterlichen Weltbildes, 1888. Aus: Camille Flammarion: L’atmosphère, et la météorologie populaire, Paris 1888. i akg-images.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2011 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-22984-0 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-72242-6 eBook (epub): 978-3-534-72243-3
Inhalt I. Lessings Präsenz und Aktualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Forschungsbericht
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III. Lessing in seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Lessings Werdegang (Herkunft, Vita, Umfeld) . . . . . . . . 2. Entwicklungsphasen seines Werks im Kontext der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Themen und Formen in Lessings Werk . . . . . . . . . . . . . . 1. Charakteristische Schreibweisen (Polemik und Apologie) . . 2. Literaturkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Poetik und Ästhetik (Anmerkungen über das Epigramm, Laokoon) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Programmatisches zu Drama und Theater (Komödientheorie, Briefwechsel über das Trauerspiel, Hamburgische Dramaturgie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgewählte Gedichte (Lehrdichtung, Oden, Anakreontik, Epigrammatik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der junge Gelehrte (1754) . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Philotas (1759) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fabeln und Fabelabhandlung (1759) . . . . . . . . . . . . 5. Minna von Barnhelm (1767) . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Emilia Galotti (1772) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Nathan der Weise (1779) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Rezeptionsgeschichte von Lessing und seinem Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VII. Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kommentierte Bibliographie
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sachregister
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I. Lessings Präsenz und Aktualität Ein Schriftsteller, Philosoph und beharrlicher Streiter für Toleranz, Menschlichkeit und für das Streiten selbst – Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) gehört zu den schillerndsten Lichtgestalten der deutschen Aufklärung. Doch sein Vermächtnis ist keineswegs nur ein historisches, das Philologen und andere spezialisierte Geisteswissenschaftler bewegt: In seinen Texten und Gedanken, aber auch als Person begegnet Lessing bis auf den heutigen Tag noch immer in zahlreichen, ganz unterschiedlichen Zusammenhängen. An vielen Orten ist er sogar im Stadtbild gegenwärtig, etwa durch Straßen und Plätze, die nach ihm benannt wurden, sowie durch einige Denkmäler. Die ersten Statuen wurden bereits im 19. Jahrhundert errichtet, so beispielsweise am Lessingplatz in Braunschweig (1853), auf dem Gänsemarkt in Hamburg (1881) und in der Lennéstraße in Berlin-Tiergarten (1890). Lessings ursprünglich schlichter Grabstein auf dem Braunschweiger MagniFriedhof wurde 1874 im Zuge der wilhelminischen Dichterverehrung gegen ein wesentlich prächtigeres Denkmal ausgetauscht, das ein Relief mit dem Portrait des Aufklärers ziert. Einzelne seiner Texte tauchen ebenfalls im Kontext der öffentlichen Memorialkultur auf, so etwa im Berliner Stadtteil Moabit, wo sich an der 1903 eingeweihten Lessing-Brücke vier Bronzeplatten befinden, auf denen jeweils die Schlussszenen seiner bekanntesten Dramen, Miß Sara Sampson (1753), Minna von Barnhelm (1767), Emilia Galotti (1772) und Nathan der Weise (1779) abgebildet sind. Die originalen Darstellungen wurden 1939 von den Nationalsozialisten zerstört und 1983 durch Kopien ersetzt. Auch in Wien wurde 1939 ein erst vier Jahre zuvor auf dem Judenplatz aufgestelltes Lessing-Denkmal eingeschmolzen. Ein neues Bronzestandbild kam 1963 zunächst an den Ruprechtsplatz, wurde aber 1981 auf den Judenplatz verbracht. Diese Ereignisse dürfen als bezeichnend gelten für die Rezeptionsgeschichte Lessings (vgl. Kap. VI) im 20. Jahrhundert: Er wird in erster Linie als Dramatiker wahrgenommen, dessen weltbürgerlicher Widerspruchsgeist ihn erst zum Feindbild der NS-Ideologie und danach zur Integrationsgestalt der Nachkriegszeit werden ließ. So überrascht es kaum, wenn gerade seiner Nathan-Figur als Verkörperung des Toleranzgedankens 1961 in Wolfenbüttel als der Stätte ihrer Entstehung ein Denkmal gesetzt wurde. Während etliche seiner Zeitgenossen nur noch dem engen Kreis der Fachwissenschaft vertraut sind, gehört Lessing, dessen Werk gern an den Beginn der neueren deutschen Literaturgeschichte gestellt wird, nach wie vor unbestritten zum literaturgeschichtlichen Minimalstandard. Seine außergewöhnlich lange und intensiv anhaltende Wirkung hängt nicht nur mit den Gegenständen und Problemstellungen seiner Werke zusammen, von denen einige selbst über rund 250 Jahre hinweg wenig an Eindringlich-
Lessing im öffentlichen Raum
Aktualität der Denkweisen
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I. Lessings Präsenz und Aktualität
Schulkanon und Universität
Präsenz auf dem Theater
keit und Aktualität verloren haben, sondern auch mit seiner übergreifenden Zielsetzung, unter den Menschen einen Dialog zu stiften, bei dem es nicht auf das Ergebnis ankommt, sondern auf seine fortwährende Entfaltung. In diesem Sinne stellte die Philosophin Hannah Arendt (1906–1975) in ihrer Rede Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten (1959) anlässlich ihrer Auszeichnung mit dem Lessing-Preis der Stadt Hamburg zutreffend fest: „Nicht nur die Einsicht, daß es die eine Wahrheit innerhalb der Menschenwelt nicht geben kann, sondern die Freude, daß es sie nicht gibt und das unendliche Gespräch zwischen den Menschen nie aufhören werde, solange es Menschen überhaupt gibt, kennzeichnet die Größe Lessings.“ (in Steinmetz 1969, 491) Darüber hinaus besticht Lessings Sprache ebenso wie seine Gedankenführung immer noch durch Klarheit und Witz, so dass sich seine Werke besonders gut eignen, um die Leitthemen, die Gattungs- und Stilentwicklungen sowie die thematischen Kontroversen der Aufklärung exemplarisch nachzuvollziehen. Deshalb bildet eine Reihe seiner Texte einen unentbehrlichen Bestandteil der schulischen Lehrpläne für das Fach Deutsch. In den Curricula für die Sekundarstufe I werden neben ausgewählten Fabeln (vgl. Kap. V.4) mitunter auch amüsante und dabei sowohl in der Form als auch in der Aussage leicht verständliche Gedichte wie z.B. das satirische Lob der Faulheit (1747) aufgelistet. Die Leseempfehlungen für die Sekundarstufe II enthalten immer wieder die Palastparabel aus dem freimaurerisch grundierten Lehrgespräch Ernst und Falk (1778–80) über Selbstaufklärung und Emanzipation, die Ringparabel aus Nathan der Weise (vgl. Kap. V.7) sowie dieses Stück insgesamt, außerdem die Komödie Minna von Barnhelm (vgl. Kap. V.5) und das bürgerliche Trauerspiel Emilia Galotti (vgl. Kap. V.6). Zur theoretischen Einführung in Lessings Literaturverständnis werden neben dem 17. der Briefe, die neueste Litteratur betreffend (1759–65; vgl. Kap. IV.2) auch einzelne Stücke aus der Hamburgischen Dramaturgie (1767–69, vgl. Kap. IV.4) vorgeschlagen. Hinzu kommen in manchen Bundesländern der patriotismuskritische Einakter Philotas (1759; vgl. Kap. V.3), Auszüge aus der ästhetiktheoretischen Schrift Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766; vgl. Kap. IV.3)) sowie das religionsphilosophische Traktat Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780). Nicht zuletzt aufgrund seiner Verankerung im Schulstoff ist Lessing auch im Germanistikstudium als Seminar- und Prüfungsthema überaus beliebt. Denn zum einen bringen die Studierenden meistens schon gewisse Vorkenntnisse mit an die Universität, was ihnen den Zugang zu Lessing und seinem Werk erleichtert, und zum anderen halten sie die akademische Beschäftigung mit einem kanonisierten Autor zu Recht für besonders praxisrelevant in Berufsfeldern mit Bildungs- oder Theaterbezug. Mindestens ebenso fest wie in der Schule ist Lessing nämlich im Repertoire der Schaubühne etabliert. Seine Dramen besitzen weitgehend unabhängig von Modeerscheinungen wie dem Regietheater eine „nur wenig schwankende Dauerpräsenz“ (Bayerdörfer 2008, 67) auf den Spielplänen der deutschen Bühnenlandschaft. In jeder Saison erfolgen durchschnittlich rund 20 Neuinszenierungen, was insofern bemerkenswert erscheint, als es
I. Lessings Präsenz und Aktualität
dabei – von gelegentlichen Ausnahmen abgesehen – nur um fünf Stücke geht, die vier, die auch in der Schule dominieren, dazu Miß Sara Sampson. Was die Häufigkeitsverteilung angeht, stehen dabei Minna von Barnhelm und Emilia Galotti an erster Stelle, gefolgt von Nathan der Weise und Miß Sara Sampson, während Philotas zumindest bis vor kurzem etwas weniger oft gespielt wurde. Für die jüngste Vergangenheit lässt sich gegenüber den ohnehin beachtlichen Erfolgen eine Zunahme von Lessing-Aufführungen feststellen, was sicherlich durch das Jubiläumsjahr 2004 mit begünstigt wurde, in dem sich Lessings Geburtstag zum 275. Mal jährte. Zu einem sprunghaften Anstieg kam es allerdings bereits seit dem Terroranschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001, in dessen Folge die für eine friedliches Zusammenleben von Islam und westlicher Welt richtungweisenden Fragen von Fanatismus, Interkulturalität und religiöser Toleranz eine historisch neuartige Tragweite erlangt haben. Auffällig erscheint dabei die geradezu programmatische Vorliebe für Nathan der Weise (vgl. ebd.). Offensichtlich unterbreitet dieses Stück mit seinem Entwurf einer universellen Menschheitsfamilie auf der Grundlage von Vernunft und Humanität (vgl. Kap. V.7) immer noch Sinnangebote, die sich in besonderem Maße als gegenwartstauglich erweisen, selbst wenn manche Inszenierungen die versöhnliche Schlussgeste mit desillusionierenden Schock-Effekten durchkreuzen (vgl. Bayerdörfer 2008, 74). Zwei weitere Dramen Lessings – Minna von Barnhelm und Philotas – wurden in letzter Zeit bevorzugt aufgeführt, die mit der Kriegsheimkehrerproblematik bzw. mit den Erwägungen über den Heldentod im Zeichen globaler Konflikte ebenfalls an Aktualität gewinnen. Nicht von ungefähr bildet das Theater einen Schwerpunkt der Dauerausstellung, die man im Lessing-Museum in Kamenz, also am Herkunftsort des Autors, besichtigen kann. Gezeigt werden dort neben Theatermodellen, Bühnenbildentwürfen und Kostümen auch weitere Gegenstände, die mit Lessings Leben und Werk zu tun haben, sowie Auszüge aus zeitgenössischen Quellen, darunter z.B. die Lebensbeschreibung, die Karl Gotthelf Lessing (1740–1812) über seinen Bruder anfertigte. Neben zahlreichen Theaterzeugnissen, Büchern und Kunstwerken umfasst der Sammlungsbestand auch Handschriften, Nachlässe und Materialien, welche die Geschichte der Familie Lessing in Kamenz dokumentieren. In Sonderausstellungen zu bestimmten Themenkomplexen werden immer wieder auch solche Exponate dargeboten, die den Besuchern nicht regulär zugänglich gemacht werden können. Das 1931 eröffnete Museum befindet sich in einem eigens dafür errichteten repräsentativen Zweckbau, da Lessings Geburtshaus 1842 abgebrannt ist. Ein weiteres Lessing-Museum mit 15 Schauräumen gibt es in dem barocken Wohnhaus in Wolfenbüttel, in dem Lessing seine letzten vier Lebensjahre zubrachte. Ausgehend von der Schaffensperiode zwischen 1770 und 1781, während derer Lessing als Bibliothekar des Herzogs von Braunschweig tätig war, widmet sich die Ausstellung seinem Werdegang als Schriftsteller im Zusammenhang mit der Literatur-, Sozialund Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts.
Lessing-Museen
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I. Lessings Präsenz und Aktualität Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption
Lessing-Akademie Wolfenbüttel
Lessing Society
In Kamenz ist neben dem Museum auch die Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption angesiedelt, die in ihrer jetzigen Organisationsform seit 2006 besteht. Zu den Aufgaben dieser Forschungseinrichtung gehört zum einen die Erschließung und Dokumentation von Lessings Wirkungsgeschichte. Zum anderen besteht ihre Zielsetzung in der öffentlichkeitswirksamen Aufbereitung von Lessings Werk und seinen Deutungen im geschichtlichen Wandel für das kulturelle Leben der Gegenwart. Zu diesem Zweck wird Lessing sowohl in verschieden Veranstaltungstypen wie Vorträgen, Lesungen und Ausstellungen als auch in Publikationen greifbar gemacht, wobei historische (z.B. das Dritte Reich), institutionelle (z.B. die Schule) oder auch mediale (z.B. der Film) Wirkungskontexte gleichermaßen berücksichtigt werden. Auf der teilweise noch im Wachsen begriffenen Internet-Seite der Arbeitsstelle werden aktuelle Publikationen zu Lessing zusammengetragen, darunter neben Textausgaben und Forschungsliteratur auch populärwissenschaftliche Darstellungen. Zusätzlich bietet ein bundesweit angelegter Veranstaltungskalender eine Übersicht der Termine für laufende Inszenierungen von Lessings Bühnenstücken sowie für Vorträge, Tagungen, Ausstellungen und Lehrveranstaltungen, die sich mit Lessing befassen. Eine stärkere Forschungsorientierung kennzeichnet die satzungsmäßigen Ziele der 1971 gegründeten Lessing-Akademie mit Sitz in Wolfenbüttel, wenngleich sich ihr Veranstaltungsprogramm mit Ausstellungen, Vorträgen, Lesungen, szenischen Darbietungen und Filmvorführungen ausdrücklich auch an ein weiteres Publikum wendet. Des Weiteren verleiht eine Jury aus den Reihen der Mitglieder den Lessing-Preis für Kritik, mit dem alle zwei Jahre – ein Schriftsteller, Wissenschaftler oder Essayist für besonders gelungene publizistische Stellungnahmen zu gesellschaftlich relevanten Themen ausgezeichnet wird. Die wissenschaftlichen Aktivitäten der Lessing-Akademie finden nicht nur im Rahmen von Konferenzen und Fachvorträgen statt, sondern werden auch in eigenen Schriftenreihen und Katalogpublikationen dokumentiert. Zu den Angeboten auf der Internet-Seite der Lessing-Akademie gehören neben einem nützlichen Figuren-Lexikon zu Lessings Werken und einem Lessing-Quiz vor allem Digitalisierungsprojekte, so etwa eine Online-Ausgabe der als solcher unübertroffenen historischkritischen Lessing-Edition von Karl Lachmann und Franz Muncker, die im Druck erstmals 1886 bis 1924 erschien. Lessings Übersetzungen sowie ein sehr umfangreiches Konvolut von Quellenmaterialien zu seiner Wirkungsgeschichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, das sich im Besitz der Lessing-Akademie befindet, werden derzeit ebenfalls digital erschlossen. Als wissenschaftliche Gesellschaft übernimmt schließlich auch die 1966 an der University of Cincinnati ins Leben gerufene Lessing Society wichtige Vernetzungs- und Forschungsaufgaben, die sich sachlich auf Lessing und seine Stellung im weiteren Epochenkontext richten. Unter dem Dach der Gesellschaft entstehen nicht nur Studien zu Lessings Leben und Werk sowie zur deutschsprachigen Aufklärung insgesamt, sondern auch Berichte über den aktuellen Stand der Forschung. Hinzu kommen Vortragsreihen sowie international besetzte Konferenzen, die bislang an verschiedenen Universi-
I. Lessings Präsenz und Aktualität
täten in Deutschland und Nordamerika stattfanden. Darüber hinaus versucht die Gesellschaft durch die fachliche Zusammenarbeit mit den Forschungseinrichtungen in Kamenz und Wolfenbüttel eine Plattform zu schaffen, auf der wissenschaftliche Ergebnisse ausgetauscht und diskutiert werden können. Seit 1969 gibt die Gesellschaft außerdem das Lessing Yearbook heraus, das sich zwar in erster Linie an eine wissenschaftliche Leserschaft richtet, jedoch auch für Studierende durchaus von Interesse sein kann. Denn dieses Jahrbuch enthält sowohl neueste Aufsätze, in denen eine große Bandbreite von unterschiedlichen Aspekten in Lessings Werk erkundet wird, als auch einen umfassenden Rezensionsteil, der kritisch über wissenschaftliche Neuerscheinungen zu dem Autor und seiner Zeit informiert.
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II. Forschungsbericht Lessings zentrale Stellung in der Literaturwissenschaft
Spezialisierung und Methodenvielfalt seit den 1950er Jahren
Werkimmanenz
Am Beispiel Lessings ließe sich ohne Weiteres eine durchaus repräsentative Disziplinen- und Methodengeschichte der germanistischen Literaturwissenschaft schreiben, stellte dieser Autor doch seit ihrer Etablierung als wissenschaftlicher Disziplin zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen Forschungsgegenstand von herausragender Bedeutung dar. So bildete er bereits im 19. Jahrhundert einen zentralen Bezugspunkt für die nationalliterarische, um das Ausfindigmachen von Grundlagen und Gemeinsamkeiten einer deutschsprachigen Kulturtradition bemühte Germanistik. Im Laufe nachfolgender Entwicklungen der Fachwissenschaft dienten Lessings Werke als Projektionsfläche für so unterschiedliche Ideologien wie die des wilhelminischen Kaiserreiches, der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und der DDR (vgl. Kap. VI). Aber auch jenseits ideologischer Vereinnahmungen erweist sich die Lessing-Forschung als ein überaus weitläufiges Terrain. Denn zum einen bietet allein schon die Themen- und Formenvielfalt in Lessings Werk etliche Möglichkeiten für historische oder systematische Untersuchungen. Und zum anderen wurden nahezu alle literaturwissenschaftlich relevanten Schulen und Theorien, darunter etwa – um nur einige Beispiele zu nennen – die Werkimmanenz, die Sozialgeschichte bzw. die Literatursoziologie, die Psychoanalyse, die Semiotik, der Feminismus oder die literarische Anthropologie, erprobt, um den Strukturen und Funktionen seiner Texte auf die Spur zu kommen. Angesichts einer solchen Fülle von Forschungsansätzen, die sich mit Lessing beschäftigt haben, können die nachfolgenden Ausführungen lediglich den Anspruch erheben, eine schlaglichtartige Zusammenschau der wichtigsten Arbeitsgebiete und Tendenzen vorzunehmen. Das Augenmerk liegt dabei auf den letzten rund 60 Jahren, weil in früheren Zeiten noch eine weitgehende Verschränkung von akademischer und populärer Rezeption bestand (vgl. Kap. VI), die sich erst seit der Nachkriegszeit aufgrund von erhöhter fachwissenschaftlicher Spezialisierung und Methodenvielfalt auflöste. Aus diesem Grund werden zunächst die wesentlichen Entwicklungslinien seit den 1950er Jahren des vergangenen Jahrhunderts rekapituliert, um schließlich auf aktuelle Ergebnisse und Perspektiven der letzten zehn Jahre hinzuweisen. Die Zielsetzung einer solchen Überblicksdarstellung besteht darin, eine grundlegende Orientierung auf dem Gebiet der Lessing-Forschung zu geben, die es ermöglicht, einzelne Forschungsbeiträge im Rahmen einer weitergehenden Beschäftigung mit Lessing selbständig in den Forschungskontext einzuordnen. Nach den fatalen Erfahrungen mit der NS-Ideologie (vgl. Kap. VI) wandte sich die Germanistik der 1950er Jahre mehrheitlich von allen gesellschaftlich-historischen Einflüssen auf die Literatur ab. Die Texte sollten nun vor-
II. Forschungsbericht
zugsweise werkimmanent, d.h. als reine, gleichsam frei schwebende Kunstwerke gelesen werden. Während es galt, ihren sprachkünstlerischen Gehalt durch Auslegung und Einfühlung allein aus sich selbst heraus zu erschließen, wurde die Person des Autors ebenso außer Acht gelassen wie der kulturelle, gesellschaftliche und politische Entstehungs- und Wirkungszusammenhang seiner Werke. Eine derart starke Betonung der künstlerischen Autonomie brachte es allerdings mit sich, dass Lessing in der Forschung etwas weniger Beachtung zu Teil wurde als beispielsweise Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) oder Friedrich Schiller (1759–1805). Denn diese Autoren traten ausdrücklich für die Zweckfreiheit der Kunst ein und entsprachen somit in ihrer Ästhetik dem autonomen Kunstverständnis der Werkimmanenz eher als Lessing, der in seinen Texten gezielt menschliche und gesellschaftliche Schwächen vorführte, um sie zu entlarven. Als Gegenreaktion auf diese im philologischen Detail zwar sehr genaue, aber letztlich einseitige Herangehensweise kamen – im Anschluss an richtungweisende Arbeiten aus dem Bereich der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften – seit den 1960er Jahren und verstärkt in den 1970er Jahren sozialhistorische bzw. literatursoziologische Ansätze auf. Entscheidende Impulse für die literaturwissenschaftliche Aufklärungsforschung gingen dabei etwa von Jürgen Habermas und Reinhart Koselleck aus, die sowohl das gesellschaftliche Rahmengefüge als auch das Selbstverständnis der bürgerlichen Emanzipationsbestrebungen untersucht hatten. Ohne Fragen der Gattungs-, Stil- oder Motivgeschichte völlig aus dem Blick zu verlieren, widmete sich die Literaturwissenschaft nun zunehmend der Produktions- und Wirkungsästhetik. Die Rückbindung von Lessings Werken an ihre geschichtlichen Voraussetzungen wurde beispielhaft durch Wilfried Barner, Gunter E. Grimm und Helmuth Kiesel vorangetrieben (vgl. Barner u.a. 1998). Dabei ging es nicht nur darum, insbesondere Lessings Dramen auf ihren historischen Realitätsgehalt hin abzuklopfen, sondern auch um literarische Strategien, mit denen aufklärerische Problemlagen und Wertediskurse verhandelbar gemacht wurden. Außerdem verhalfen Rezeptionsstudien etwa anhand von Spielplänen sowie der Vergleich mit dem dramatischen Schaffen seiner Zeitgenossen zu der Einsicht, dass es sich bei Lessing um einen Ausnahmedramatiker handelte, dessen bürgerliche Trauerspiele einen ästhetischen Höhenkamm darstellten, während ansonsten erheblich schlichtere Stücke mit eindeutigen Belohnungs- und Vergeltungsstrukturen vorherrschten (vgl. Mönch 1993). Feministische Forschungsansätze, die – wiederum ausgehend von den Sozialwissenschaften – in den Philologien seit den 1980er Jahren verstärkt an Bedeutung gewonnen haben, verfolgen das hauptsächliche Anliegen, unterschiedliche, oftmals vergessene oder verschwiegene Formen von Weiblichkeit in der Literaturgeschichte sichtbar zu machen. Sie untersuchen unter anderem die Darstellung von weiblichen und männlichen Figuren in den Texten auf die literarische Konstruktion von Geschlechterrollen (engl.: gender) hin. In geradezu mustergültiger Weise lassen sich die Geschlechterverhältnisse im bürgerlichen Trauerspiel nachvollziehen, das von Lessing als Gattung im deutschen Sprachraum maßgeblich geprägt wurde
Sozialhistorische Ansätze
Feministische Ansätze
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II. Forschungsbericht
Literarische Anthropologie und Literaturpsychologie
Vom Kontext zum Text
(vgl. Kap. V.6). Während Trauerspiele bis dahin üblicherweise von historisch-politischen Themen handelten, kommen im bürgerlichen Trauerspiel vorrangig Konflikte aus dem Bereich des Privatlebens zur Sprache, so dass die Konstellationen von Ehe und Familie hier eine zentrale Bedeutung erlangen. So analysieren einschlägige Forschungsarbeiten, darunter etwa diejenigen von Karin A. Wurst (vgl. Wurst 1988) und Brita Hempel (vgl. Hempel 2006) die Umsetzung geschlechtsspezifischer Machtpositionen sowie patriarchalisch kodierter Verhaltensmuster und Normen in Lessings Dramen. Auf dieser Grundlage tragen sie dazu bei, literarische Reflexe historischer gender-Konstruktionen und der aus ihnen erwachsenden gesellschaftlichen Handlungsspielräume aufzudecken. In den ausgehenden 1980er Jahren kamen ferner erstmals Arbeiten auf, die ihre Aufmerksamkeit im Zeichen einer anthropologischen Wende auf den ,ganzen Menschen‘ (Hans-Jürgen Schings) richteten. Diese diskursgeschichtlich orientierte Strömung, die in den 1990er Jahren außerordentlich einflussreich geworden ist, interessiert sich – vereinfacht gesagt – dafür, wie nach dem einseitigen Rationalismus der Frühaufklärung in der Folgezeit ein weiter dimensioniertes Menschenbild entstand. Berücksichtigt wurden dabei nun auch die Konsequenzen von Körperlichkeit und Sinnlichkeit für alle menschlichen Lebensbereiche, darunter nicht zuletzt die ästhetischen Ausdrucksformen der Künste (vgl. Alt 2007). Durch entsprechende Fragestellungen konnten in der Lessing-Forschung z.B. von Karl S. Guthke und anderen bereits seit Mitte der 1960er Jahre, wenngleich noch nicht eingebettet in ein umfassendes Forschungsprogramm (vgl. KoÐenina1995), entscheidende Einsichten gewonnen werden. Gezeigt werden konnte dabei etwa, dass zum einen sowohl Lessings Mitleidsästhetik (vgl. Kap. IV.4) als auch seine vergleichende Theorie der Künste auf der Vorstellung einer anschauenden Erkenntnis gründet, die nicht in erster Linie über Begriffe, sondern über Sinneseindrücke vermittelt ist (vgl. Kap. IV.3). Zum anderen lässt sich auch die Figurenkonzeption in seinen großen Dramen, in der höchst vielschichtige und teils sogar widersprüchliche Haltungen erkennbar werden, vor dem Hintergrund einer komplexeren Auffassung menschlicher Gefühlswelten historisch genauer plausibilisieren. Durch literaturpsychologisch ausgerichtete Studien, die sich punktuell mit der literarischen Anthropologie berühren, erfolgten daher ebenfalls Hinweise auf Strukturen von unterdrückter Sinnlichkeit in Lessings Werken. Erste systematische Untersuchungen zum Verhältnis von Vernunft- und Triebnatur in Lessings Dramen stellte insbesondere Albert M. Reh an (vgl. Reh 1981). Parallel zu den fortgesetzten sozial- und diskursgeschichtlichen Studien wächst bereits seit den 1980er Jahren das wissenschaftliche Interesse an der Literarizität von Lessings Texten, d.h. an ihren spezifisch ästhetischen Eigenheiten. Diese Akzentverschiebung vom Kontext zurück zum Text mag zum einen als Reaktion auf die mitunter recht textfern argumentierende Literatursoziologie verstanden werden, hat aber zum anderen möglicherweise auch zu tun mit der Wiederentdeckung der Rhetorik als Gestaltungs- und Wirkungsprinzip für die Literatur bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Jedenfalls wurde durch die genaue Untersuchung textueller Strategien das tradi-
II. Forschungsbericht
tionelle Vorurteil von Lessing als ,unpoetischem Autor‘, eine Zuschreibung, die sich schon in den Einschätzungen der Romantiker abgezeichnet (vgl. Kap. VI) und seither hartnäckig gehalten hatte, erfolgreich hinterfragt. Infolge dieser Neubewertung beobachtet Monika Fick zutreffend, dass zu Lessing nunmehr „eine ausgesprochen lebendige Tradition philologischer Forschung, Erschließung neuer Quellen und Rekonstruktion historischer Kontexte“ bestehe (Fick 2010, 11). Über Lessings eigene Ästhetik konnte darüber hinaus ein Zugang über die Semiotik näheren Aufschluss geben. So wies namentlich David E. Wellbery in seiner Studie zu Laokoon (vgl. Wellbery 1984) darauf hin, dass Lessing zur Abgrenzung der Künste mit einem zeichentheoretischen Modell arbeitet, welches sowohl das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit als auch das Verhältnis der Künste untereinander beschreibt. Die Lessingforschung der 1990er Jahre bis in die Gegenwart kennzeichnet sich zum einen durch die Pluralisierung von Erkenntnisinteressen und Methoden sowie zum anderen durch eine Hinwendung zur „Detailforschung“ (Fauser 2006, 14). Besondere Aufmerksamkeit erfahren dabei grenzüberschreitende Aspekte in Lessings Werk, sei es in transdisziplinärer oder interkultureller Hinsicht. So wurden in jüngster Zeit vermehrt Texte wie beispielsweise die Rettungen oder die theologiekritischen Schriften (vgl. Vollhardt 2002; Bultmann/Vollhardt 2011), aber auch Lessings Verhältnis zur Haskala, d.h. zur jüdischen Aufklärung (vgl. Lauer 1998), untersucht. Gegenstände, die sich schon länger im Blickfeld der Forschung befinden, gewinnen durch neuere Arbeiten ebenfalls an Tiefenschärfe. So beleuchtete etwa Daniel Fulda den hohen Stellenwert des Ökonomischen in den Lustspielen Lessings und anderer Autoren im Bedingungsgefüge der neuzeitlichen Marktgesellschaft (vgl. Fulda 2005, 481–509), während Lessings Fabeln sowohl gattungsgeschichtlich als auch poetologisch immer genauer verortet wurden (vgl. von Treskow 2000; Ter-Nedden 2010). Darüber hinaus wird Lessings Übersetzertätigkeit seit einiger Zeit nicht nur analytisch (vgl. Glowski-Braungart 2005; von Bertold 2008), sondern auch editorisch bearbeitet. In einem umfangreichen, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt mit dem Titel „Lessings sämtliche Übersetzungen und ihre Originale“ werden an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel derzeit nach und nach Lessings Übersetzungen in absatzweiser synoptischer Gegenüberstellung mit den fremdsprachigen Vorlagen erschlossen und im Internet zugänglich gemacht. Als gemeinsame Tendenz zahlreicher Arbeiten der jüngsten Lessingforschung – Hugh B. Nisbets vielbeachtete Analyse der Verschränkung von Lessings Biographie mit seinem Œuvre (vgl. Nisbet 2008) eingeschlossen – lässt sich eine Abkehr von der stillschweigend vorausgesetzten, latent angestaubten Klassikerverehrung feststellen. Stattdessen wird die Aussagekraft der Imperfektionen und Risse in Lessings Leben und Werk erkundet. Stellvertretend kann einerseits der von Ulrike Zeuch herausgegebene Sammelband mit dem Titel Lessings Grenzen (2005) angeführt werden. Im Fokus stehen dort „zum einen die von ihm selbst markierten Grenzen, zum anderen die seiner Zeit als verbindlich geltenden Grenzen sowie schließlich die
Aktuelle Entwicklungen
,Grenzen‘ und ,Skandale‘
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II. Forschungsbericht
Grenzen seiner Position im Sinne begrenzter Gültigkeit“ (in Zeuch 2005, 7). Andererseits ist die von Jürgen Stenzel und Roman Lach herausgegebene Aufsatzsammlung Lessings Skandale (2005) zu nennen. Die darin gewählte Herangehensweise habe, wie im Vorwort versichert wird, „nichts mit Bilderstürmerei, Kammerdienerperspektive und Entmythologisierung zu tun“. Vielmehr gehe es darum, anhand besonders aussagekräftiger Einzelfälle, eben anhand seiner ,Skandale‘, die Dominanzverhältnisse, Konfliktpotentiale und Interessenlagen deutlich zu machen, die Lessings Schaffen prägten. Denn: „Was Anstoß erregt und als öffentliches Ärgernis wahrgenommen wird, verdeutlicht meistens die Frontlinien, welche die beteiligten Parteien trennen, und zeigt Rivalitäten und Machtkämpfe; die damit verbundenen Kontroversen, der Ruf nach der Zensur oder dem Staatsanwalt erregen Emotionen und stacheln die polemische Argumentation an.“ (Stenzel/Lach 2005, VIII). Bei den in diesem Sammelband untersuchten Gesichtspunkten handelt es sich um Lessings streitlustiges Eintreten für Außenseiter (Hugh Barr Nisbet), um seine Fluchten (Wilfried Barner; vgl. Kap. III.1), um den Fragmentenstreit (Burckhardt Dücker; vgl. Kap. IV.1) sowie um seine Spielsucht (Roman Lach, Nicola Kaminski; vgl. Kap. III.1).
III. Lessing in seiner Zeit 1. Lessings Werdegang (Herkunft, Vita, Umfeld) Obgleich Lessing vor allem als Dramatiker, Literaturkritiker und Altertumswissenschaftler große Anerkennung fand, verlief sein Leben im persönlichen Bereich überaus glücklos (vgl. Fick 2010, 43f.), war es doch geprägt durch ständige Geldnot, häufige, mitunter fluchtartige Ortswechsel (vgl. Barner in Stenzel/Lach 2005, 69–78), hypochondrische Neigungen, Unzufriedenheit und enttäuschte Hoffnungen. Zeitlebens bemühte er sich vergeblich um materielle Unabhängigkeit, denn er hatte, wie er seinem Vater am 3. April 1760 brieflich gestand, „nicht die geringste Lust, der Sklave eines Amts zu werden“ (B 11/1, 346). Seine fortwährende Überschuldung lag nicht nur daran, dass er nur über ein geringes, oft unregelmäßiges Einkommen verfügte, sondern vor allem an einer Mischung aus Großzügigkeit und Leichtsinn in Geldangelegenheiten sowie an seinem leidenschaftlichen Hang zum Glücksspiel. Am 22. Januar 1729 wurde Lessing in Kamenz (Oberlausitz) als drittes von zwölf Geschwistern geboren, von denen fünf bereits im Kindesalter starben. Er entstammte einer protestantischen Pastorenfamilie, also einem typischerweise finanziell eingeschränkten, aber zutiefst pflicht- und bildungsorientierten Milieu: Seine Mutter, Justina Salome Lessing, geb. Feller (1703–1777), war die Tochter des damaligen Kamenzer Oberpfarrers, dessen Amtsnachfolge sein Vater, Johann Gottfried Lessing (1693–1770) im Jahr 1733 antrat. Für das bürgerliche Selbstverständnis, das im 18. Jahrhundert verstärkt aufkam, stellte Bildung eine wichtige Legitimationsgrundlage dar, ermöglichte sie doch gesellschaftliche Mobilität und Abgrenzung. So besuchte Lessing die Lateinschule in Kamenz, durfte aber nicht beim Schultheater mitwirken, weil sein Vater diese Einrichtung als Theologe sittlich beargwöhnte. Mit zwölf Jahren bestand Lessing die Aufnahmeprüfung für die renommierte sächsische Fürstenschule St. Afra in Meißen. Der Lehrplan umfasste dort neben Religion vor allem den altsprachlichen Unterricht (Latein, Griechisch und Hebräisch). Als moderne Fremdsprachen lernte Lessing Französisch und etwas Englisch, hinzu kamen Rhetorik, Mathematik, Geschichte und Geographie sowie am Rande ein wenig Naturkunde und Gegenwartsphilosophie. Aufgrund seiner herausragenden Leistungen erhielt Lessing ein Stipendium und durfte die Schule bereits ein Jahr früher als üblich abschließen. Als Stipendiat der Stadt Kamenz nahm Lessing 1746 das Studium der Theologie in Leipzig auf, wo er sich mit seinem entfernten Verwandten Christlob Mylius (1722–1754) sowie mit dem jungen Schriftsteller Christian
Eine schwierige Biographie
Elternhaus und Schulbesuch
Studium
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III. Lessing in seiner Zeit
Missverständnis um ein VoltaireManuskript
Berliner Literatenkreise
Gescheiterte Europareise
Felix Weiße (1726–1804) anfreundete. Mit besonderem Interesse widmete er sich fachfremden Gegenständen wie der Altertumskunde, der Epigrammatik und vor allem dem zu dieser Zeit in Leipzig florierenden Theater, für das er Übersetzungen und erste eigene Stücke anfertigte. Als seine Eltern von dieser Neigung, infolge derer Lessing erstmals Schulden machte, erfuhren, riefen sie ihn unter dem Vorwand, seine Mutter liege im Sterben, zurück nach Kamenz. Im Jahr 1748 wechselte Lessing zum Medizinstudium, das er erst in Leipzig aufnahm, dann aber kurzfristig in Wittenberg fortführte, weil er sich in Leipzig durch eine Bürgschaft für Schauspieler, mit denen er bekannt war, erneut verschuldet hatte. Letztlich beglich er die ausstehenden Forderungen mit dem Rest seines Stipendiums, hatte danach aber nicht mehr genügend Geld, um sein Studium fortsetzen zu können. Er ging nach Berlin, wo er zusammen mit Mylius wohnte und sich in der lebendigen Schriftsteller- und Verlegerszene als freier Kritiker und Übersetzer verdingte. Gemeinsam gründeten die beiden 1750 die Theaterzeitschrift Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters, von der zwar nur vier Hefte erschienen, was aber auf dem schnelllebigen Zeitschriftenmarkt der damaligen Zeit keineswegs unüblich war. Unter anderem arbeitete Lessing nun als Übersetzer für den französischen Philosophen Voltaire (1694–1778), durch dessen Sekretär Richier de Louvain er 1751 die Korrekturabzüge zu Voltaires großer, noch streng geheim gehaltener Geschichtsstudie Le siècle de Louis XIV. (1751; dt.: Das Zeitalter Ludwigs XIV.) erhielt. Unvorsichtigerweise verlieh er den Text nicht nur weiter, sondern reiste auch noch sehr plötzlich aus Berlin ab, um sein Studium in Wittenberg zu beenden, wobei er vergaß, das Werk zurückzugeben. Dieser Vorfall kostete Richier seine Anstellung und Lessing seinen guten Ruf, denn Voltaire nahm an, er habe die vermeintlich gestohlenen Bögen für einen Raubdruck oder für eine nicht autorisierte Übersetzung nutzen wollen (vgl. Nisbet 2008, 129ff.). Nach dem Magisterabschluss im Frühjahr 1752, vermutlich mit einer nicht überlieferten Arbeit über die Charakterlehre des spanischen Arztes Juan Huarte (um 1529–1588), hielt Lessing sich wieder in Berlin auf, wo er in Wirtshäusern und intellektuellen Zirkeln wie dem sog. Montagsklub zahlreiche Bekanntschaften schloss. Zu seinen engeren Freunden zählten der Schriftsteller Karl Wilhelm Ramler (1725–1798), der Philosoph Moses Mendelssohn (1729–1786), der Verleger, Literaturkritiker und Satiriker Friedrich Nicolai (1733–1786) sowie der Schriftsteller und Offizier Ewald Christian von Kleist (1715–1759). Auch den Anakreontiker (vgl. Kap. V.1) Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803) lernte Lessing während dieser Berliner Zeit kennen. Recht plötzlich gab er 1755 seine durch Mylius vermittelte Stelle als Redakteur der Berlinischen privilegierten Zeitung (nach ihrem Herausgeber Christian Friedrich Voß auch: Vossische Zeitung) auf, um nach Leipzig aufzubrechen. Aus Mangel an beruflichen Alternativen erklärte er sich vertraglich bereit, den Leipziger Kaufmannssohn Gottfried Winkler (1731–1795) bei festem Gehalt und Erstattung der Aufwendungen auf eine vierjährige Tour durch Europa zu begleiten. Die 1756 angetretene Reise führte über verschiedene
1. Lessings Werdegang
norddeutsche Städte bis nach Amsterdam, musste dort jedoch bei Beginn des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) vorzeitig abgebrochen werden. Als freier Übersetzer kehrte Lessing nach Leipzig zurück, bekam jedoch die angefallenen Reisekosten erst durch ein langwieriges, kostspieliges Gerichtsverfahren zugesprochen. Ab 1758 wohnte Lessing abermals in Berlin, wo er in geselligem Umfeld einige gemeinsame publizistische Unternehmungen vor allem mit Ramler, Mendelssohn und Nicolai verwirklichte. Allerdings folgte bereits 1760, kurz nach der Ernennung zum auswärtigen Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften, ein weiterer abrupter Aufbruch, dieses Mal nach Breslau. Lessing trat eine Stelle als Sekretär des preußischen Generalleutnants Bogislaw Friedrich von Tauentzien (1710–1791) an und nahm in dieser Funktion am Siebenjährigen Krieg teil. Seine ständige Unzufriedenheit mit sich und seinen Verhältnissen hielt unverändert an. Eine kurze, aber heftige Fiebererkrankung, die Lessing im Jahr seines 35. Geburtstags durchmachte, erklärte er in einem Brief an Ramler vom 5. August 1764 zum Wendepunkt seines Lebens, habe er doch „in diesem hitzigen Fieber den letzten Rest“ seiner „jugendlichen Torheiten verraset“ (B 11/1, 415). An seiner Lage änderte sich durch diese Feststellung freilich wenig: Nach der Kündigung bei Tauentzien ließ er sich 1765 abermals in Berlin nieder, wieder ohne festes Gehalt. Zudem hatte sein Diener, den er mit seinen Habseligkeiten vorausgeschickt hatte, ihn nicht nur bestohlen, sondern auch in seinem Namen Schulden gemacht (vgl. Nisbet 2008, 434). Während seine Versuche, eine Anstellung als königlicher Bibliothekar in Berlin, bei den Kunstsammlungen in Dresden oder beim Antiken- und Münzkabinett in Mannheim zu erlangen, allesamt erfolglos blieben, seufzte Nicolai im Mai 1765 in einem Brief an Ramler über Lessings „gute Gewohnheit, das, was seine Freunde glauben, daß er thun werde, gerade nicht zu thun“ (in Dvoretzky 1971, 44). Im Jahr 1767 ging Lessing auf das vielversprechende Angebot ein, das in Hamburg neu gegründete Nationaltheater als Dramatiker und Rezensent zu unterstützen. Dieses Projekt kam seinen Fähigkeiten und Neigungen durchaus entgegen, scheiterte aber bereits im Folgejahr (vgl. Kap. IV.4). Parallel dazu kaufte Lessing sich auf Kredit als Teilhaber in die Verlagsdruckerei seines Hamburger Freundes Johann Bode (1730–1793) ein, in der die theaterkritische Zeitschrift Hamburgische Dramaturgie (vgl. Kap. IV. 4) erschien. Eine Buchreihe mit dem Titel Deutsches Museum blieb im Stadium der Planung stecken, weil sich die Druckerei letzten Endes als Verlustgeschäft erwies. Lessing sah sich gezwungen, in drei Auktionen nach und nach fast seine gesamte Bibliothek zu veräußern, die mit rund 6.000 Bänden für eine Privatsammlung dieser Zeit außerordentlich umfangreich war. Zu Lessings Hamburger Freundes- und Bekanntenkreis gehörten neben den Schriftstellerkollegen Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) und Matthias Claudius (1740–1815) auch der Theologe Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) und seine Familie sowie der Kaufmann Engelbert König (1728–1769) und seine Frau Eva Katharina, geb. Hahn (1736–1778). Hoch verschuldet übernahm Lessing Ende 1769 die Position des Bibliothekars an der herzoglichen Bibliothek in Wolfenbüttel, die über einen
Breslau und Berlin
Das Hamburger Nationaltheaterprojekt
Bibliotheksdienst in Wolfenbüttel
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III. Lessing in seiner Zeit
weithin berühmten Bestand verfügte. Mitte 1770 begann er einen Briefwechsel mit der im Vorjahr verwitweten Eva König; er stellt mit zusammengerechnet 193 Briefen den ausgedehntesten dar, den Lessing, der seinen Freunden sonst oftmals Antworten schuldig blieb, jemals führte (vgl. Nisbet 2008, 573). Trotz anregender Bekanntschaften, etwa mit dem Theologen Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789) und dem Literaturund Philosophieprofessor Johann Joachim Eschenburg (1743–1820) in Braunschweig, klagte Lessing über einen Mangel an Geselligkeit. Überhaupt wurde er, bei anhaltenden finanziellen Sorgen, der neuen Tätigkeit rasch überdrüssig, obwohl sie mit 600 Reichstalern vergleichsweise gut bezahlt war und ihm viel Zeit für das eigene schriftstellerische Schaffen ließ. Unmissverständlich schrieb er am 30. April 1774 an Ramler: „Es ist nie mein Abb. 1: Gotthold Ephraim Lessing (1770). Ölgemälde von Anton Wille gewesen, an einem Orte, wie Graff [alte Kopie oder Original]. Herzog August BiblioWolfenbüttel, von allem Umgange, thek Wolfenbüttel, B 119. Werk-Verzeichnis Nr. 870 (aus Raabe 1981, nach 18). wie ich ihn brauche, entfernt, Zeit meines Lebens Bücher zu hüten.“ (B 11/2, 641) Im Spätsommer 1771 bat Lessing um eine Beurlaubung für Reisen nach Verlobung und Freimaurertum Berlin und Hamburg. Er verlobte sich mit Eva König und wurde in die Hamburger Freimaurer-Loge „Zu den drei Rosen“ aufgenommen, nachdem er schon länger die Nähe zum Freimaurertum gesucht hatte. Als einflussreiche Geheimbünde, die sich bereits im Großbritannien des 17. Jahrhunderts zu formieren begannen, richteten sich die Ziele der aufklärerischen Logen in ganz Europa auf die Selbstvervollkommnung (Perfektibilität) des Individuums, auf die gelebte Menschlichkeit jenseits von ständischen und konfessionellen Grenzen sowie auf das Engagement in den Künsten, in der Politik und im Gemeinwesen. Die tatsächlichen Abläufe, Regularien und Systemstreitigkeiten ernüchterten Lessing indes so sehr, dass er nicht mehr an den Aktivitäten der Loge teilnahm und die Absicht einer Logengründung in Wolfenbüttel aufgab. Für weitere Reisen nach Leipzig, Berlin, Dresden und Wien ließ sich LesSpäte Reisen sing 1775 nochmals beurlauben. Als berühmter Dramatiker wurde er mit den größten Ehren von Kaiser Joseph II. (1741–1790) empfangen. Unterdes-
1. Lessings Werdegang
sen traf Prinz Leopold von Braunschweig (1752–1785) in Wien ein, der Lessing ersuchte, ihn auf eine Reise nach Italien zu begleiten. Damit erfüllte sich für Lessing eigentlich ein langgehegter Wunsch, hatte er doch nach dem Zusammenbruch der Nationaltheaterunternehmung in Hamburg ernsthaft über eine Flucht nach Rom nachgedacht, wo er sich aufgrund der verklärenden Schwärmereien etlicher Schriftstellerkollegen sowohl finanziell als auch geistig angenehmere Lebensbedingungen erhoffte. In der biographischen Situation jedoch, die er mittlerweile erlangt hatte, kam ihm die Reise, nun keine Gelehrtenfahrt, sondern eine adlige Cavaliertstour, äußerst ungelegen. Nach seinen brieflichen Auskünften stand die Reise, die Lessing trotzig in einer Kutsche mit zugezogenen Vorhängen absolvierte, im Zeichen von Verzögerungen, zeremoniellen Verpflichtungen und der Sorge um Eva König, deren Briefe nicht an ihn weitergeleitet wurden. Mit längeren Stationen in Mailand, Venedig, Bologna, Florenz, Rom und Neapel verbrachte Lessing deshalb mehr als sieben Monate in Italien, ohne einen nennenswerten Ertrag für sich daraus ziehen zu können (vgl. Nisbet 2008, 587f.). Auch hinterließ er im Unterschied zu vielen Schriftstellern seiner Zeit keinen literarisierten Reisebericht, sondern lediglich ein vergleichsweise schmales Notizheft, in dem er allerdings weder die Kunstschätze noch die Naturschönheiten beschrieb, sondern lediglich ein trockenes, beinahe listenartiges Inventar der italienischen Gelehrtenrepublik anlegte (vgl. Wiedemann 1997, 217). Zurück in Wolfenbüttel, erhielt Lessing 1776 den Titel eines braunschweigischen Hofrats sowie eine Gehaltserhöhung. Des Weiteren wurde er zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Mannheim ernannt. Dort sollte er außerdem beim Aufbau eines Nationaltheaters mitwirken, aber seine Entwürfe, die er vor Ort präsentierte, führten letztlich nicht zu einem Vertragsabschluss. Am 8. Oktober 1776 heiratete er Eva König. Am 25. Dezember 1777 kam der gemeinsame Sohn Traugott zur Welt, starb jedoch innerhalb eines Tages an den Folgen einer schwierigen Zangengeburt, welche auch die Mutter nur bis zum 10. Januar 1778 überlebte. Am 31. Dezember 1778, während seine Frau im Sterben lag, schrieb Lessing an Eschenburg einen der traurigsten Briefe der deutschsprachigen Literaturgeschichte: „Ich ergreife den Augenblick, da meine Frau ganz ohne Besonnenheit liegt, um Ihnen für Ihren gütigen Anteil zu danken. Meine Freude war nur kurz: Und ich verlor ihn so ungern, diesen Sohn! denn er hatte so viel Verstand! so viel Verstand! – Glauben Sie nicht, daß die wenigen Stunden meiner Vaterschaft, mich schon zu so einem affen von Vater gemacht haben! Ich weiß, was ich sage. – War es nicht Verstand, daß man ihn mit eisern Zangen auf die Welt ziehen mußte? daß er sobald Unrat merkte? – War es nicht Verstand, daß er die erste Gelegenheit ergriff, sich wieder davon zu machen? – Freilich zerrt mir der kleine Ruschelkopf auch die Mutter mit fort! – Denn noch ist wenig Hoffnung, daß ich sie behalten werde. – Ich wollte es auch einmal so gut haben, wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen.“ (B 12, 116)
Glück und Unglück der letzten Jahre
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III. Lessing in seiner Zeit
Während Lessing schwer unter dem persönlichen Verlust seines Sohnes und seiner Frau litt, kamen noch weitere Rückschläge in anderen Bereichen hinzu. So löste seine Veröffentlichung von Texten aus dem Nachlass von Reimarus einen erbitterten Streit mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze (1717–1786) aus (vgl. Kap. IV.1), durch den Lessing 1777 die Zensurfreiheit für seine seit 1773 erscheinende Zeitschrift Zur Geschichte und Litteratur verlor. Seit dem Winter 1779/80 verschlechterte sich überdies sein Gesundheitszustand dergestalt, dass es ihm häufig Mühe bereitete, wach zu bleiben und sich zu konzentrieren. Er starb am 15. Februar 1781, mutmaßlich an einer schon länger vorhandenden Herzerkrankung (vgl. Nisbet 2008, 842) im Haus eines Bekannten in Braunschweig.
2. Entwicklungsphasen seines Werks im Kontext der Aufklärung Schaffensphasen als Methodenproblem
Aufklärung als Epoche
So nützlich eine Phasengliederung einerseits als Orientierungshilfe ist, um sich dem literarischen Schaffen eines Autors überblicksartig anzunähern, so problematisch wird sie andererseits, wenn man ihre Erklärungskraft überschätzt. Denn bei zeitlichen Schnitten und begrifflichen Etikettierungen handelt es sich oftmals weit weniger um historische Tatsachen als um nachträgliche Zuschreibungen durch die Literaturwissenschaft: Aus dem ,jungen‘ Lessing wird nicht von heute auf morgen der ,mittlere‘ oder der ,späte‘, manche Eigenheiten (z.B. die Begeisterung für Kritik und Polemik) und Interessen (z.B. am Drama, an der Fabel und am Epigramm) ziehen sich durch sein gesamtes Werk, und spätere Überlegungen gehen oft aus früheren hervor, so dass sie sich schwerlich isoliert verstehen lassen. Eine kurze, schematische Darstellung der Entwicklung Lessings als Schriftsteller im Kontext seiner Epoche kommt mithin nicht ohne erhebliche Vereinfachungen aus. Sie bedarf daher einer Differenzierung und Ergänzung durch die zusätzliche Lektüre tiefergreifender Forschungsarbeiten zu den einzelnen hier angerissenen Themen. Lessings Werk steht im Zeichen der Aufklärung, einer denkgeschichtlichen Epoche, die sich bei einer zeitlichen Ausdehnung etwa von den 1680er Jahren bis ins ausgehende 18. Jahrhundert mit verschiedenen, teils sogar gegenläufigen Strömungen durch bestimmte, überwölbende Annahmen über den Menschen und seine Stellung in der Welt kennzeichnet. Die elementaren Forderungen der Aufklärung brachte der Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) in seinem vielzitierten Aufsatz mit dem programmatischen Titel Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) auf den Punkt. Ausgehend von der Annahme einer prinzipiellen Vernunftbegabung des Menschen, die es zu entfalten gilt, heißt es dort: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ (Kant 1784, 481) Diese Mündigwerdung gelinge allein durch die furchtlose Entschlossenheit eines jeden Individuums: „Sapere aude! Habe Mut dich
2. Entwicklungsphasen seines Werks im Kontext der Aufklärung
deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (ebd.) Als Zeitalter der Glaubens- und Aberglaubenskritik wies die Aufklärung kirchliche Lehren von der göttlichen Vorherbestimmung des Schicksals (Prädestination) und volkstümliche Weltdeutungen zurück. Der Mensch wurde zunehmend als aktiv gestaltendes Subjekt der Geschichte verstanden, wobei sich sowohl fortschrittsoptimistische als auch zivilisationskritische Tendenzen feststellen lassen. Nicht zuletzt markiert die Aufklärung den Beginn der bürgerlichen Emanzipation, in der absolutistische Herrschaftsansprüche mit naturrechtlichen Argumenten hinterfragt wurden, so dass leistungsethische Maßstäbe das Gottesgnadentum als Legitimationsgrundlage für weltliche Macht zurückdrängten. Im Vertrauen auf einen menschlichen Gemeinsinn (lat.: sensus communis) bzw. auf ein natürliches Moralempfinden (engl.: moral sense) bestand ein zentrales Anliegen der Aufklärung darin, den Menschen zu eigenverantwortlichem und rational begründetem Handeln sowie zur Kritik als öffentlicher Form des Vernunftgebrauchs zu erziehen. Für das literarische Leben des 18. Jahrhunderts führten die Bildungs- und Diskussionsbestrebungen der Aufklärung zu einschneidenden Veränderungen in der Medien- und Kommunikationslandschaft, zu einem Strukturwandel der Öffentlichkeit, wie Jürgen Habermas dieses Phänomen 1962 in einer Studie gleichen Titels bezeichnete. Gemeint ist damit das Aufkommen einer bürgerlichen, d.h. allgemein zugänglichen Öffentlichkeit im Unterschied zu der repräsentativen, also auf eine jeweils recht enge Personengruppe beschränkte Öffentlichkeit früherer Zeiten, wie sie sich beispielsweise im höfischen, universitären und akademischen oder kirchlichen Umkreis manifestierte. Obwohl Habermas oft und auch durchaus berechtigt kritisiert wurde, bleibt an seiner Beobachtung festzuhalten, dass im 18. Jahrhundert ein fundamentaler Umbruch der Kommunikationsverhältnisse stattfand. Er lässt sich insofern als Demokratisierung des öffentlichen Diskurses kennzeichnen, als ein immer größerer Anteil der Bevölkerung an der Meinungsbildung in politischen und kulturellen Zusammenhängen partizipierte und dementsprechend auch zunehmend eine Teilhabe an der staatlichen Macht verlangte. Vor diesem Hintergrund geriet die Zensur, die bis dahin als legitime Kontrollinstanz der Obrigkeit zur Aufrechterhaltung von Herrschaft und öffentlicher Ordnung anerkannt war, in die Kritik, beschnitt sie doch den kritischen Austausch über aktuelle Fragen mit den Mitteln der Publizistik bisweilen ganz erheblich. Dementsprechend gehörte die Meinungs- und Pressefreiheit, deren erreichtes Ausmaß als Gradmesser für politische Fortschrittlichkeit gelten konnte, zu den grundlegenden Voraussetzungen und Forderungen der Aufklärung. So liest man bei Kant über die Notwendigkeit eines freien, öffentlichen Räsonnements: „Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich. Denn da werden sich immer einige Selbstdenkende sogar unter den eingesetzten Vormündern des großen Haufens finden, welche, nachdem sie das Joch der
Programmwerte der Aufklärung
Strukturwandel der Öffentlichkeit
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III. Lessing in seiner Zeit
Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und des Berufs jedes Menschen selbst zu denken um sich verbreiten werden. […] Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.“ (Kant 1784, 483f.) Leseverhalten in der Aufklärung
Frühe Schaffensphase: 1745 bis 1755
Publizistische Vielseitigkeit
Durch bessere Bildungsvoraussetzungen und den allmählichen Anstieg der Lesefähigkeit in der Bevölkerung von rund 5% auf rund 15% im Laufe des 18. Jahrhunderts wuchs der Markt für Druckerzeugnisse nicht nur quantitativ erheblich an, sondern er brachte auch eine historisch neuartige Vielfalt an Lesestoffen hervor. Es erfolgte ein Übergang vom sog. intensiven Lesen, also von der wiederholten Lektüre von einzelnen, vorzugsweise erbaulichen Büchern, hin zum sog. extensiven Lesen, also zur einmaligen Lektüre von vielen, durchaus verschiedenartigen Schriften: Der Buchmarkt expandierte, und dazu erschienen neben zahlreichen Zeitungen auch Moralische Wochenschriften, Almanache und Kalender, Literaturzeitschriften und andere Blätter, die sich speziellen Themenfeldern oder Publikumsgruppen widmeten, um einen kritischen Informations- und Meinungsaustausch zu ermöglichen. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts kamen Lesezirkel auf, in denen Bücher und Zeitschriften zum einen kostengünstig erhältlich waren und zum anderen mit Gleichgesinnten diskutiert werden konnten. Erst im letzten Jahrhundertviertel entstanden vermehrt auch Lesekabinette und öffentliche Leihbibliotheken gegründet. Mitte der 1740er Jahre, als die rationalistisch geprägte Frühaufklärung bereits stark durch sensualistische und empiristische Tendenzen der Hochaufklärung zurückgedrängt wurde (vgl. Alt 2007, 7f.), setzte Lessings literarische Produktivität ein. Noch als Schüler unternahm er im Alter von 16 Jahren seine ersten lyrischen Experimente, die sowohl Modisches wie die Anakreontik als auch Altmodisches wie die Lehrdichtung umfassten (vgl. Kap. V.1). Eine frühe, nicht überlieferte Fassung seiner Typenkomödie Der junge Gelehrte (vgl. Kap. V.2) stammt ebenfalls bereits aus dieser Zeit. Während der Leipziger Studienjahre, in denen Lessing Übersetzungen für die Schauspieltruppe der Theaterreformerin Friederike Caroline Neuber (1697–1760) anfertigte, folgten weitere Lustspiele, die sich vorerst noch recht konventionell mit aufklärerisch geprägten Problemen beschäftigten, darunter das Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt, Fragen der Humanität und Selbstverwirklichung, die oft erhobene, aber selten eingelöste Toleranzforderung sowie alltägliche Laster und Tugenden. Neben Damon oder die wahre Freundschaft, das 1747 als erstes von Lessings Dramen im Druck erschien, wurden auch Der Misogyn, Die Juden, Der Freigeist, Die alte Jungfer und Der Schatz vollendet. Weitere dramatische Versuche wie Der Leichtgläubige, Die Matrone von Ephesus und das Zeitgeschichtsstück Samuel Henzi blieben hingegen fragmentarisch. Etwa gleichzeitig entstanden auch Lessings älteste Fabeldichtungen (vgl. Kap. V.4). Als Herausgeber der Zeitschriften Ermunterungen zum Vergnügen des Gemüts und Der Naturforscher veröffentlichte Christlob Mylius (1722–1754),
2. Entwicklungsphasen seines Werks im Kontext der Aufklärung
mit dem Lessing weitläufig verwandt und eng befreundet war, ab 1747 auch dessen Lieder und Gedichte. Außerdem etablierte sich Lessing schnell als ebenso stilsicherer wie streitbarer Literaturkritiker, der mit zahlreichen Rezensionen, kritischen Briefen und sog. Rettungen (vgl. Kap. IV.1) an die Öffentlichkeit trat. Um 1750 werden erstmals theologische Neigungen erkennbar, denn er verfasste ein unveröffentlichtes Aufsatzfragment mit dem Titel Gedanken über die Herrnhuter, in dem er die Lebens- und Glaubenspraxis des Pietismus, einer protestantischen Frömmigkeitsbewegung, verteidigte. Seine Fähigkeiten als Altphilologe erprobte Lessing im selben Jahr mit einer Abhandlung über Leben und Werk des römischen Komödiendichters Plautus (ca. 254–184 v. Chr.), mit dem er sich intensiv auseinandersetzte. Nachdem schon 1751 die erste Gedichtsammlung in selbständiger Buchform unter dem Titel Kleinigkeiten erschienen war, zog spätestens die zwischen 1753 und 1755 erschienene Ausgabe seiner Schriften eine Bilanz aus dem Frühwerk. Die sechs Bände enthielten Gedichte, Fabeln, Kritiken, Jugendkomödien sowie das erste bürgerliche Trauerspiel Miß Sara Sampson (1755), mit dem Lessing den Weg zum Ausnahmedramatiker einschlug. Die nächste Schaffensphase, die sich aufgrund von unsteten Lebensverhältnissen mit „Wanderjahre“ (Fick 2010, 44) bezeichnen lässt, erwies sich als publizistisch außerordentlich ertragreich, insbesondere in der Verbindung mit Mendelssohn, Nicolai und später Ramler. So schrieb Lessing über seine Aktivitäten am 8. Juli 1758 an Gleim: „Herr Rammler und ich, machen Projecte über Projecte. Warten Sie nur noch ein Vierteljahrhundert, und Sie sollen erstaunen, was wir alles werden geschrieben haben. Besonders ich!“ (B 11/1, 293) Hatte Lessing bereits 1755 gemeinsam mit Mendelssohn die methodenkritische Schrift Pope ein Metaphysiker! (vgl. Kap. IV.3) geschrieben, so lieferte er in den Jahren 1757 und 1758 einige Artikel für die von Mendelssohn und Nicolai herausgegebene Zeitschrift Bibliothek der schönen Wissenschaften und freien Künste. Zu dritt verfassten die Freunde von 1759 bis 1765 die literaturkritischen Briefe, die neueste Literatur betreffend (vgl. Kap. IV.2). Mit Ramler gab er 1759 eine Auswahl der Epigramme des Barockdichters Friedrich von Logau (1605–1655; vgl. Kap. V.1) heraus, zu der er die theoretische Vorrede und ein Glossar beisteuerte, das Besonderheiten des älteren Sprachgebrauchs verzeichnet und damit seinen ursprünglichen Plan eines Deutschen Wörterbuchs zumindest teilweise verwirklicht. Sein Fabelbuch, das neben Fabeldichtungen auch ausführliche theoretische Erläuterungen zu dieser Gattung enthält (vgl. Kap. V.4), erschien ebenfalls 1759. Im Bereich des Dramas versuchte sich Lessing während der zweiten Hälfte der 1750er Jahre an verschiedenen Stoffen, die mehrheitlich auf das Ziel, ein heroisches Trauerspiel zu schaffen, hindeuten. Als Fragemente wurden die antikisierenden Dramen Codrus und Kleonnis skizziert. Außerdem interessierte Lessing sich für den antiken Virginia-Stoff, woraus 1757 die Fragmente Das befreite Rom und Virginia sowie 1772 Emilia Galotti hervorgingen (vgl. Kap. V.6), und 1758 bis 1760 arbeitete er an einem Faust-Drama, das er allerdings trotz großer Anstrengungen nicht fertigzustellen vermoch-
Mittlere Schaffensphase: 1756 bis 1769
Theorie und Praxis des Dramas
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III. Lessing in seiner Zeit
Altertumskunde
Späte Schaffensphase: 1770 bis 1781
Dogmatismus vs. Toleranz
te. Auch ein zweiter Anlauf zu Die Matrone von Ephesus gelang ihm nicht. Abgeschlossen wurde das einaktige Trauerspiel Philotas (1759; vgl. Kap. V.3), in dem der Krieg ebenso problematisiert wird wie in dem 1767 nach dreijähriger Bearbeitungszeit uraufgeführten Lustspiel Minna von Barnhelm (vgl. Kap. V.5). Hinzu kommt die Übersetzung zweier Komödien des französischen Aufklärers Denis Diderot (1713–1784), die 1760 unter dem Titel Das Theater des Herrn Diderot erschien. Im selben Jahr ging auch der erste Teil einer Biographie über den griechischen Tragödiendichter Sophokles (um 497–405 v. Chr.) in den Druck, dem jedoch keine weiteren Teile folgten. Mit der Hamburgischen Dramaturgie (1767–69) lieferte Lessing einen maßgeblichen Beitrag zur Dramentheorie (vgl. Kap. IV.4). Einen zweiten Schwerpunkt der mittleren Schaffensphase bildet die Altertumskunde. Hatte Lessing sich schon 1754 in seinem Vade mecum für den Herrn Samuel Gotthold Lange etwas rechthaberisch zu Fragen der klassischen Philologie geäußert, so entfachte er nach der Publikation des ersten und einzigen Teils seiner von großer Gelehrsamkeit zeugenden Ästhetiktheorie Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766; vgl. Kap. IV.3) den sog. antiquarischen Streit (vgl. Kap. IV.1) mit dem Philologen Christian Adolf Klotz (1738–1771), gegen den sich seine Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet (1768) sowie die Briefe, antiquarischen Inhalts (1768/69) richteten. Neben der Übersiedlung nach Wolfenbüttel markiert auch der Anlauf zu einer weiteren Werkausgabe den Beginn von Lessings letztem produktiven Jahrzehnt, in dem die Beschäftigung mit der Religions- und Geschichtsphilosophie in den Vordergrund tritt. Der erste Band seiner Vermischten Schriften, in denen die Anmerkungen über das Epigramm (vgl. Kap. IV.3) sowie eigene Epigramme und Gedichte (vgl. Kap. V.1) enthalten sind, erschien 1771, während die noch fehlenden Bände Nr. 2 bis 14 erst postum durch Lessings Bruder Karl und den Braunschweiger Philologen Johann Joachim Eschenburg (1743–1820) in den Druck gegeben wurden. Zeitgleich erstellte Lessing die Endfassung seines bürgerlichen Trauerspiels Emilia Galotti (vgl. Kap. V.6), das im Folgejahr uraufgeführt wurde. Im Jahr 1776 veröffentlichte er die Philosophischen Aufsätze Karl Wilhelm Jerusalems (1747–1772), um eine kritische Relativierung von Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774) vorzunehmen, dessen Titelheld Jerusalem zum Vorbild hatte. Als herzoglicher Bibliothekar gab Lessing die Schriftenreihe Zur Geschichte und Literatur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel (1773–81) heraus. Darin veröffentlichte er in den Jahren von 1774 bis 1778 unter dem Titel Fragmente eines Ungenannten eine Reihe von theologisch brisanten Abhandlungen aus dem Nachlass von Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), was den sog. Fragmentenstreit mit Johann Melchior Goeze (1717–1786) auslöste (vgl. Kap. IV.1). Allein 1778 feuerte er eine Salve von 15 Streitschriften gegen den Hamburger Hauptpastor ab. Die Kontroverse nahm derart skandalöse Ausmaße an, dass Lessing ein herzogliches Verbot erhielt, sich weiter publizistisch zu theologischen Fragen zu äußern. Da Lessing an die Grenzen einer diskursiven Öffentlichkeit
2. Entwicklungsphasen seines Werks im Kontext der Aufklärung
aufklärerischer Prägung stieß, verlegte er sein letztes Wort in dieser Angelegenheit auf die Bühne. Denn vor diesem Hintergrund geht es in dem 1779 erschienenen Nathan der Weise (vgl. Kap. V.7) nicht nur um religiöse Toleranz, sondern auch um hartleibigen Dogmatismus. In diesem thematischen Zusammenhang entstanden schließlich auch Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer (1778/80) sowie Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780), die sich bei einem skeptischen Grundzug im Kern für ein vernunftgeleitetes Humanitätsideal starkmachen. Während seiner letzten Schaffensphase skizzierte Lessing seine Selbstbetrachtungen und Einfälle, eine Reihe von autobiographisch gefärbten Fragmenten, die zu Lebzeiten unveröffentlicht blieben. Mit kurzen, teilweise zu Aphorismen (d.h. zu sinnspruchartigen Einfällen mit philosophischem Anklang) verknappten Momentaufnahmen umreißt er darin sein Selbstverständnis sowie Einsichten, die er über sich und seine Zeit gewonnen hat. Bei allem anekdotischen Unterhaltungswert müssen derartige Äußerungen von Autoren aus literaturwissenschaftlicher Sicht müssen immer mit einer gewissen Vorsicht ausgewertet werden. Wenn nämlich Lessing über sich selbst Auskunft gibt, so kann man daraus nur sehr bedingt weiteres ersehen, welche Beweggründe und Absichten sein schriftstellerisches Handeln geleitet haben oder was für einen Charakter er gar als Mensch besaß. Gerade bei einem rhetorisch und textstrategisch so überaus geschickten Autor wie Lessing muss man davon ausgehen, dass es sich bei seinen Selbstzeugnissen in nicht zu unterschätzendem Maße um Stilisierungen handelt im Interesse der Rezeptionslenkung handelt. Was sich also jedenfalls daraus ablesen lässt, ist, wie Lessing sich selbst sah bzw. wie er von der Mit- und Nachwelt gesehen werden wollte. Auch im Zusammenhang der Selbstbetrachtungen und Einfälle betont er seine religiöse Toleranz, wobei sich seine Bekundungen über sein Verhältnis zum Christentum wiederum recht konfliktträchtig ausnehmen, denn was Lessing zu diesem Punkt vorbringt, zeugt von derselben nüchternen Zurückweisung aller kirchlichen Überlegenheitsdogmen, durch die sich auch die Titelfigur seines dramatischen Spätwerks Nathan der Weise kennzeichnet. So schreibt er: Ich habe gegen die christliche Religion nichts: ich bin vielmehr ihr Freund, und werde ihr Zeitlebens hold und zugetan bleiben. Sie entspricht der Absicht einer positiven Religion, so gut wie irgend eine andere. Ich glaube sie und halte sie für wahr, so gut und so sehr man nur irgend etwas historisches glauben und für wahr halten kann. Denn ich kann sie in ihren historischen Beweisen schlechterdings nicht widerlegen. Ich kann den Zeugnissen, die man für sie anführt, keine andere entgegen setzen: es sei nun, daß es keine andere gegeben, oder daß alle andere vertilgt oder geflissentlich entkräftet worden.“ (G V, 789) Wie seine Nathan-Figur billigt Lessing die positiven Religionen – gemeint sind damit Christentum, Judentum und Islam als große monotheistische Offenbarungsreligionen im Gegensatz zu den Naturreligionen – und bleibt demjenigen Bekenntnis, in das er hineingeboren wurde aus Gewohnheit
Lessing über sich selbst
Gleichwertigkeit der Religionen
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III. Lessing in seiner Zeit
Hintergründige Bescheidenheitsgesten
Spiel statt Gedankentiefe
und Mangel an objektivierbaren Gegenargumenten treu. Dass es ihm mit der Absage an die dogmatische Engstirnigkeit überaus ernst war, belegt das beharrliche Eintreten für seine Überzeugungen im Fragmentenstreit, welches ihn persönlich in erhebliche Schwierigkeiten brachte (vgl. Kap. IV.1). Lessing gehörte nicht nur zu den brillantesten und dabei streitlustigsten Köpfen der deutschen Aufklärung, sondern wusste den hohen Rang seiner intellektuellen Leistungen auch durchaus einzuschätzen. Gleichwohl war er kein ,Gelehrter‘ im traditionellen Verständnis, also kein Universitätsprofessor, sondern ein akademisch Gebildeter, der sich allerdings die meisten seiner hauptsächlichen Arbeitsgebiete eigenständig und jenseits von universitären Strukturen erschlossen hat. In seinen Selbstbetrachtungen und Einfällen entwirft er sich als selbstgenügsamer Nutzer anderweitig betriebener Gelehrsamkeit, der zumindest augenscheinlich keine eigenen Ambitionen auf diesem Gebiet verfolgt: „Ich bin nicht gelehrt – ich habe nie die Absicht gehabt gelehrt zu werden – ich möchte nicht gelehrt sein, und wenn ich es im Traume werden könnte. Alles, wornach ich ein wenig gestrebt habe, ist, im Fall der Not ein gelehrtes Buch brauchen zu können.“ (G V, 788) Etwas anders stellt sich diese Äußerung freilich dar, wenn man den unmittelbar darauffolgenden Passus mit hinzuzieht, in dem er mitteilt: „Eben so möchte ich um vieles nicht reich sein, wenn ich allen meinen Reichtum in barem Gelde besitzen und alle meine Ausgaben und Einnahmen in klingender Münze vorzählen und nachzählen müßte.“ (ebd.) Da Lessing beinahe ständig in Geldnot lebte, überrascht die Zurückweisung von Reichtümern ein wenig. Es lohnt sich deshalb, genauer auf das konditionale Gefüge zu achten: Offenbar lehnt er Bargeld ab, aber keineswegs einen anderen Reichtum, der nicht in zählbarem Besitz liegt. Lässt sich diese Hierarchisierung von immateriellen Gütern vor den materiellen womöglich auf Lessings verschlungenen Karriereweg mit langen Phasen ohne festes Beschäftigungsverhältnis hin ausdeuten, so mag sich hinter dem vermeintlichen Demutsgeste vor dem Gelehrtentum eine massive Kritik an der überkommenen Buchgelehrsamkeit (vgl. auch Kap. V.2) verbergen, wie die nachstehende Engführung beider Sphären, Gelehrsamkeit und Reichtum, aus demselben Kontext nahelegt: „Der aus Büchern erworbne Ruhm fremder Erfahrung heißt Gelehrsamkeit. Eigne Erfahrung ist Weisheit. Das kleinste Kapitel von dieser, ist mehr wert, als Millionen von jener.“ (G V, 188) Bemerkenswert erscheinen Lessings abweisende Feststellungen über das Spielen, war er doch bekanntermaßen spielsüchtig: „Ich werde nicht eher spielen, als bis ich Niemanden finden kann, der mir umsonst Gesellschaft leistet.“ (ebd.) Als Begründung führt er an, das Spiel diene lediglich als Ersatz für eine gehaltvolle Konversation: „Das Spiel soll den Mangel der Unterredung ersetzen. Es kann daher nur denen erlaubt sein, die Karten beständig in Händen zu haben, die nichts als das Wetter in ihrem Munde haben.“ (ebd.) Seine eigene Neigung zum Kartenspiel, vorzugsweise zu dem im 18. Jahrhundert weit verbreiteten Kartenspiel Faro oder Pharao, müsste in diesem Licht als verzweifelt gepflegter Zeitvertreib eines chronisch unterforderten Genius erscheinen. Eine ganz ähnliche Abneigung gegenüber der allzu leichten Geselligkeit, die freilich traditionell eher mit hö-
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fischen als mit bürgerlichen Formen der sozialen Interaktion in Verbindung gebracht wird, kommt auch in der folgenden Bemerkung zum Ausdruck: „Das Wort Zeitvertreib sollte der Name einer Arznei, irgendeines Opiats, eines Schlafmachenden Mittels sein, durch das uns auf dem Krankenbette die Zeit unmerklich verstreicht: aber nicht der Name eines Vergnügens. Doch kommen wir denn nicht auch öfters in Gesellschaften in welchen wir aushalten müssen, und in welchen uns die Zeit eben so unerträglich langweilig wird, als auf dem Krankenlager?“ (G V, 792) Auf welche ,Gesellschaften‘ Lessing hier genau anspielt, lässt sich nachträglich kaum mehr erschließen, kann es doch dabei ebenso um seine Breslauer Zeit im Dienst des Generals Tauentzien gehen wie etwa um die als lästig empfundene Italienreise, um seinen Bekanntenkreis in Braunschweig sowie vielleicht auch um ganz andere Situationen der Berliner oder Hamburger Jahre.
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IV. Themen und Formen in Lessings Werk 1. Charakteristische Schreibweisen (Polemik und Apologie) Lessing als ,Wahrheitssucher‘
Während der rund 35 Jahre, in denen Lessing publizistisch aktiv war, versuchte er sich an zahlreichen, keineswegs nur literarischen Genres. Spezielle Vorlieben entwickelte er für die Bühnendichtung, für die lehrhafte Prosa in Form von Fabeln und Erzählungen, für die Epigrammatik sowie außerhalb der Dichtkunst für die Literaturkritik und für die Streitschrift. Seine theoretischen Abhandlungen, etwa zur Poetik, zur Ästhetik sowie zur Geschichts- und Religionsphilosophie, stehen trotz großer Sachkenntnis und argumentativer Treffsicherheit formal etwas außerhalb der gängigen Konventionen für die akademische Traktatrhetorik. Anders als diese gehen sie nicht nur unsystematisch und sprunghaft vor, sondern weisen auch einen hohen Grad an sprachlicher Durchformung auf, etwa durch die Wahl von Bildern und Vergleichen sowie durch spitzfindige rhetorische Winkelzüge, so dass Lessing als Vorreiter der deutschsprachigen Essayistik angesehen werden kann. Ferner darf es als typisch für ihn gelten, wenn er in seinen Texten regelmäßig dialogische Redesituationen schafft, sei es durch die Verwendung mehrstimmiger Genres wie dem literarisierten Briefwechsel und dem fiktiven Gespräch oder durch die intensive Auseinandersetzung mit referierten Gedanken und – oft frei aus dem Gedächtnis – zitierten Wendungen zeitgenössischer bzw. historischer Schriftsteller und Theoretiker (vgl. Feinäugle 1969, 130 u. 147). Dabei verkündet er seine eigenen Ansichten nicht als feststehende Überzeugungen, sondern begibt sich nach seinem erklärten Anspruch auf eine allmählich fortschreitende Wahrheitssuche, die in einer ständigen Abwägung des Für und Wider verschiedener Positionen stattfindet: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz –“ (G VIII, 32f.)
Dialog und Streit
In erheblichem Kontrast zu dieser Selbstauskunft, die lange Zeit das idealisierende Lessing-Bild des Wahrheitssuchers prägte, steht jedoch Lessings
1. Charakteristische Schreibweisen
vielfach geradezu bornierte Beharrlichkeit in seinen Ansichten, war ihm doch oft nicht darum zu tun, sich „auf der Ebene gemeinsamer Vernunftvorstellungen argumentativ mit anderen zu messen, sondern darum, seiner Auffassung und Einschätzung von Vernunft als der einzig vertretbaren Geltung zu verschaffen“ (Mauser 1986, 276). So oder so mutet es geradezu bekenntnishaft an, wenn Lessing gleich im ersten seiner Freymäurer-Gespräche (1778–80) schreibt: „Nichts geht über das laut denken mit einem Freunde.“ (G VIII; 452)
Abb. 2: Johann Caspar Lavater und Gotthold Ephraim Lessing bei Moses Mendelssohn [Streitszene um 1770]. Kupferstich von S. Maier nach Moritz Daniel Oppenheims Ölgemälde Lavater und Lessing bei Moses Mendelssohn (aus Die Gartenlaube 8 (1860), H. 25, 389).
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IV. Themen und Formen in Lessings Werk Scharfsinn und Pointiertheit
Manipulation durch Rhetorik
Streitlust
Parteinahme für Schwächere
Begriff der Polemik
Als augenfälligste Merkmale von Lessings Stil, die sich in seinem literarischen Werk ebenso durchgängig wiederfinden wie in seinen theoretischen Schriften, in seinen Rezensionen und nicht zuletzt in seiner Korrespondenz, lassen sich Scharfsinn und pointierter Witz benennen. Diese Stilzüge spielt Lessing auf der Grundlage einer großen Expertise aus, die sich auf verschiedenste Wissensgebiete erstreckt, darunter allen voran Literaturgeschichte, Poetologie, Dramaturgie und Ästhetik, aber auch die bildende Kunst und Archäologie sowie die Religions- und Geschichtsphilosophie. Da Lessing durchaus um seine intellektuelle und sprachliche Brillanz wusste, manifestiert sich in seinen Texten ein ausgesprochen selbstbewusstes, gelegentlich sogar selbstgefälliges Auftreten. Allerdings nutzte er seine rhetorische Gewandtheit keineswegs nur dazu, mit Hilfe von besonders luziden und stichhaltigen Argumentationen zu überzeugen. Vielmehr setzte er sie oftmals wohlkalkuliert und hintergründig dazu ein, sein Publikum im Interesse von Zwecken, die er für übergeordnet erachtete, zu beeinflussen. Mit solchen Manipulationen verstieß Lessing ganz offensichtlich gegen das seit der antiken Rhetorik gültige Ideal des vir bonus, also des redlichen Mannes, der kraft seiner Tugendhaftigkeit glaubwürdig aufzutreten vermag. Stattdessen pflegte er eine angriffslustige „Kultur der Teilwahrheiten“ (Stenzel in B II, 1283). Für diese Herangehensweise dürften bei Lessing hauptsächlich zwei Beweggründe verantwortlich sein. Zum einen prägte ihn eine leidenschaftliche Streitlust, welche deutlich über das genuin aufklärerische Interesse an einer lebendigen Diskussionskultur im Rahmen einer kritischen Öffentlichkeit hinausgeht; er selbst nennt diesen Zug kokettierend seine „Irascibiliät“ (G VIII, 350), also seine Erregbarkeit. Die Freude am Experimentieren mit inhaltlichen Argumenten und textuellen Strategien veranlasste ihn zeitlebens zu ebenso geistreichen wie impulsiven Einmischungen in laufende oder längst abgeschlossene Debatten, oft auch aus einer Laune heraus, über die sein Freund Moses Mendelssohn bemerkte: „In dieser Laune war Lessing im Stande alles zu behaupten, was seine Gegner reitzen konnte, blos um den Streit lebhafter zu machen.“ (Mendelssohn 1977, 123) Zum anderen kennzeichnet sich Lessing durch eine notorische Parteinahme für Schwächere, deren Meinungen, Leistungen und Ansehen er immer wieder nach Kräften zu verteidigen suchte, wenn er den Eindruck hatte, dass sie aus ungerechtfertigten Gründen verkannt wurden und es mithin galt, den „Vorurtheilen die Stirne zu bieten“ (G III, 592). Gerade bei solchen Vorstößen zeigt sich die für Lessing charakteristische Respektlosigkeit gegenüber der Deutungshoheit namhafter Autoritäten, denen er beherzt, schonungslos und mitunter auch zu seinem persönlichen Nachteil widersprach. Was dabei anstößig wirkte, lag oftmals mindestens ebenso sehr in einer recht ausgeprägten Tendenz zu verbalen Ausfällen im Umgang mit seinen Kontrahenten begründet wie in seinen inhaltlichen Ansichten. Unter dem Begriff der Polemik wurde in der Rhetorik der Antike weitgehend wertneutral die Streitkunst (gr. polemos: Krieg) als legitime Form der Austragung von Meinungsverschiedenheiten, insbesondere unter Gelehr-
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ten, verstanden. Es handelte sich dabei zunächst einmal um einen Wettstreit, in dem es galt, die Durchsetzungskraft von Argumenten zu demonstrieren. Spätestens in der Frühen Neuzeit fand ein dahingehender Begriffswandel statt, dass nunmehr scharfe, direkte und nicht mehr notwendig sachliche Angriffe bis hin zur persönlichen Schmähung als polemisch bezeichnet wurden. Der Zweck einer derartigen Schreib- oder Redeweise lag darin, nicht allein die Stichhaltigkeit der gegnerischen Beweisführung anzufechten, sondern auch die persönliche Integrität des Kontrahenten selbst in Frage zu stellen. Beliebte rhetorische Mittel dafür waren z.B. neben Ironie, Sarkasmus, Übertreibung und Satire auch das vorsätzliche Missverstehen und die gezielte Verzerrung der gegnerischen Sichtweise. Obgleich derartige Manöver einen schwerwiegenden ethischen Verstoß gegen den gelehrten Umgangston des sine ira et studio (lat.: ohne Zorn und Eifer) darstellten, bildete die Verbindung von zulässigen Angriffen in der Sache (ad rem) mit unzulässigen Angriffen gegen die Person (ad personam) in der Praxis oft eher die Regel als die Ausnahme. Dies trifft nicht zuletzt auf Lessing zu, neigte er doch zu nachgerade feindseligen Invektiven, also zu persönlichen Beleidigungen, wenn es galt, eigene oder für zutreffend befundene Ansichten in seinen unter den Augen der Gelehrtenrepublik ausgetragenen Streitigkeiten durchzusetzen. Derartiges findet sich vor allem in seinen Literaturkritiken, mit denen er die laufenden Geschmacksdebatten merklich belebte. Darüber hinaus lassen sich drei größere Schauplätze anführen, auf denen Lessing seiner Polemik freien Lauf ließ: Im Jahr 1754 erschien erstens sein Vade mecum für den Herrn Samuel Gotthold Lange, eine philologische Stellungnahme, in der er den im Titel bezeichneten Laublinger Pastor als Horaz-Übersetzer auf geradezu schulmeisterliche Weise maßregelt. Ungewöhnlich erbitterte Attacken unternahm er zweitens im sog. antiquarischen Streit mit der Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet (1768) und den Briefen, antiquarischen Inhalts (1768/69) gegen den Hallenser Professor Christian Adolf Klotz (1738–1771). Inhaltlich ging es dabei zunächst um in Lessings Laokoon (1766) aufgeworfene Probleme der Altertumskunde, die im Verhältnis zum betriebenen Aufwand geringfügig erscheinen, jedoch eskaliert die Angelegenheit bis zum Plagiatsvorwurf. Von Zeitgenossen wie Johann Gottfried Herder und Johann Wolfgang Goethe wurde die haßerfüllte Fehde als befremdlich wahrgenommen, zumal Lessings Kontrahent im Zuge der Auseinandersetzungen starb, wenngleich fraglich ist, ob die erstaunliche Schärfe der Auseinandersetzung dazu beigetragen hat (vgl. Barner 1993, 16f.). Drittens focht er in der zweiten Hälfte der 1770er Jahre den sog. Fragmentenstreit mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze (1717–1786) aus, in dem es um eine zeitgemäße Religionsauffassung unter aufklärerischen Vorzeichen ging. Diese letzte große Kontroverse soll im Folgenden als Beispiel herangezogen werden, um Lessings Streitverhalten zu illustrieren, weil sie nicht zuletzt einen wichtigen Erfahrungshintergrund für die Entstehung von Nathan der Weise (vgl. Kap. V.7) abgibt. Den Anlass für die folgenschweren Streitigkeiten bot eine aus Gründen der Vorsicht von ihrem Verfasser zu Lebzeiten unveröffentlichte Abhand-
Lessings große Streite
Gegenstand des Fragmentenstreits
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IV. Themen und Formen in Lessings Werk
Reaktionen auf die Reimarus-Fragmente
lung des Hamburger Gymnasialprofessors Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Dieser hatte mit seinen Abhandlungen von den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (1754) bereits als progressiver Gelehrter von sich reden gemacht, indem er die biblische Offenbarungslehre hinterfragte. Sein ebenso ehrgeiziges wie heikles Ziel bestand darin, ein theologisches Lehrgebäude ganz ohne Denkfiguren der Offenbarung allein mit Hilfe der Vernunft herzuleiten und zu begründen. Damit stellte sich Reimarus in die Tradition des Deismus, d.h. einer aus England stammenden rationalistischen Religionssauffassung, die sich in der Aufklärung europaweit verbreitete. Sie kennzeichnet sich insbesondere durch zwei Kerngedanken: Zum einen ersetzte sie aus Gründen der Plausibilität die bis dahin weitgehend ungebrochen gültige Annahme einer dreifachen Wesenseinheit Gottes (Trinität) als Vater, Sohn und Heiliger Geist durch die Vorstellung eines einzigen Gottes (Unitarismus). Zum anderen wird Gott nicht mehr als Schöpfer und Lenker, sondern nur noch als Schöpfer verstanden, der nicht in die somit vollends durch die Menschen zu verantwortenden Vorgänge im Diesseits eingreift. Nicht zuletzt, weil daraus eine massive Bedrohung für die traditionelle Machtstellung der Kirche erwachsen konnte, begegneten zumindest deren konservative Vertreter dem Deismus mit größtem Argwohn und strengen Religionsedikten. Lessing erhielt aus Reimarus’ Nachlass als Freund der Familie die Abschrift eines umfangreichen Manuskripts mit dem Titel Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, aus der er zwischen 1774 und 1778 mehrere Auszüge als anonyme Fragmente eines Unbekannten in den Druck gab. Er wollte damit, ganz im Sinne der Aufklärung, das ohnehin längst verbreitete, aber kirchlicherseits verbotene deistische Gedankengut zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion und Meinungsbildung machen. So teilt er mit: „[D]enn eben darum zog ich ihn [sc. den ungenannten Verfasser] an das Licht, damit ihn recht viele prüfen, recht viele widerlegen könnten.“ (G VIII, 160) In der Apologie geht Reimarus nun allerdings insofern über das gängige Maß der deistischen Religionskritik hinaus, als er beispielsweise die Auferstehung als vernunftwidrige Illusion bloßstellt, die Jünger der Scharlatanerie bezichtigt und sogar die Person Jesu in Zweifel zieht. Dementsprechend lösten die Fragmente eine erregte Debatte mit mehr als 50 Gegenschriften aus, welche den vormals angesehenen Reimarus noch postum in Verruf brachten, da seine Verfasserschaft bald zum offenen Geheimnis wurde. Lessing selbst gab Reimarus’ Namen nicht preis, sondern maskierte die Fragmente in seiner Zeitschrift Zur Geschichte und Litteratur als Fundsachen aus dem Bestand der Bibliothek in Wolfenbüttel und legte falsche Fährten hin zu Johann Lorenz Schmidt (1702–1749), der für seine radikal von jeglicher Wunderfrömmigkeit befreite Bibelübersetzung, die sog. Wertheimer Bibel, im Jahr 1737 verhaftet, später aber in den Wolfenbütteler Bibliotheksdienst übernommen worden war. Am härtesten traf die Empörung über die Fragmente Lessing als Herausgeber. Sie fand einen einflussreichen Wortführer in dem harnäckigen Protestanten Goeze, der die Veröffentlichung weiterer Teile unterbinden wollte.
1. Charakteristische Schreibweisen
Mit einer raschen Folge von 15 Streitschriften aus dem Jahr 1778, von denen er elf als unmissverständliche Kampfansage mit Anti-Goeze überschrieb, setzte er sich jedoch gegen seinen Widersacher energisch zur Wehr. Neben den behandelten Gegenständen sorgte auch die Tatsache, dass der Federkrieg nicht im engeren Gelehrtenkreis auf Lateinisch, sondern in einer weiteren Öffentlichkeit auf Deutsch ausgetragen wurde, für eine erhebliche Brisanz. Während Goeze sein Anliegen mit unerbittlichem Dogmatismus nach den Regeln der akademischen Disputierkunst vorträgt und Lessing der „Theater-Logik“ (G VIII, 289) bezichtigt, lehnt dieser die Einhaltung dieser formalen Gepflogenheiten rundheraus ab: „Ich will mich auf jene Kathederetiquette, welche eben so wohl für mich, als für ihn zu erklären ist, nicht einlassen. Wer beweisen kann, läßt sich nicht lange nötigen, zu beweisen. Ich will nur sogleich den Nagel auf den Kopf zu treffen suchen […].“ (G VIII, 335) Seine Erwiderungen weisen vielfach Züge einer kriegerischen Polemik auf, wie sie sich nicht zuletzt in der Fecht-Metaphorik spiegelt, die er gebraucht, um Goeze mangelhafte Fertigkeiten im verbalen Waffengang vorzuhalten: „Endlich scheinet der Herr Hauptpastor Goeze, nach so langen ärgerlichen Aufheben, welches nur bei der schlechtesten Art von Klopffechtern im Gebrauch ist, zur Klinge kommen, und bei der Klinge bleiben zu wollen.“ (G VIII, 309) Ganz anders hört es sich jedoch an, wenn Lessing sich in seinem ersten Anti-Goeze auf die Rolle des unschuldig Angeklagten zurückzieht, der seine vorgeblich nur widerstrebend angetretene Verteidigung so knapp wie möglich zu halten wünscht. So lautet der Untertitel der Streitschrift: D[as] i[st] Notgedrungener Beiträge zu den freiwilligen Beiträgen des Hrn. Past. Goeze Erster (Gott gebe, letzer!). Der gegenüber Goeze angeschlagene Tonfall erscheint auf den ersten Blick friedfertig, wenn nicht gar ein wenig betulich: „Lieber Herr Pastor, Poltern Sie doch nicht so in den Tag hinein: ich bitte Sie.“ (G VIII, 160) Jedoch folgt unmittelbar darauf eine Absichtserklärung, deren fast bedrohlicher Gestus keinen Zweifel an Lessings entschlossener Frontstellung aufkommen lässt: „Ich gehe ungern daran, daß ich meiner Absage schon bald nachleben muß. Aber Sie glaubten wohl sonst, es sei mein Ernst nicht. Sehen Sie also, welchen Plan zu meiner Fehde gegen Sie, ich hiermit anlege. Auch schließen Sie auf den Ton aus dem Lemma des Tertullian, und den fernern Worten, die bei ihm folgen. Überschreien können Sie mich alle acht Tage: Sie wissen, wo. Überschreiben sollen Sie mich gewiß nicht.“ (ebd.) Während Lessing hier zugesteht, dass Goeze ihn in seinen Sonntagspredigten womöglich übertönen könne, vertraut er offenbar darauf, im Feld der Publizistik ohne Weiteres bestehen zu können. Mit dem Hinweis auf den umstrittenen frühchristlichen Schriftsteller Tertullian, dessen Multa sunt sic digna revinci, ne gravitate adorentur (lat.: viele Dinge sind deshalb wert, widerlegt zu werden, damit sie nicht ernstlich bewundert werden) er seinem eigenen Text als Motto voranstellt, gibt er die bedingungslose Stoßrichtung seiner Kampagne zu erkennen. Entrüstet kehrt er daraufhin in einer Verkettung von rhetorischen Fragen mit einem bildhaften Vergleich die tatsächliche Rollenverteilung von Kläger und Beklagtem um: „Wie?
Streitschriften gegen J.M. Goeze
Verhärtung der Fronten
Rhetorische Strategien
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IV. Themen und Formen in Lessings Werk
weil ich der christlichen Religion mehr zutraue, als Sie, soll ich ein Feind der christlichen Religion sein? Weil ich das Gift, das im Finstern schleichet, dem Gesundheitsrate anzeige, soll ich die Pest in das Land gebracht haben?“ (ebd.) Diese Strategie treibt Lessing noch weiter, indem er sich mit kalkulierter Anmaßung als kritischer Reformator in der Tradition Martin Luthers (1483–1546) in Szene setzt. Damit führt er zugleich ausgerechnet den wackeren Lutheraner als Verräter seiner eigenen Grundsätze vor, weil er den allein in ungehinderten Debatten zu gewinnenden Erkenntnisfortschritt verbieten wolle, wodurch er selbst überzeugte Protestanten wie Lessing in den Katholizismus zurückzutreiben drohe: „Der wahre Lutheraner will nicht bei Luthers Schriften, er will bei Luthers Geiste geschützt sein; und Luthers Geist erfordert schlechterdings, daß man keinen Menschen, in der Erkenntnis der Wahrheit nach seinem eigenen Gutdünken fortzugehen, hindern muß. Aber man hindert alle daran, wenn man auch nur Einem verbieten will, seinen Fortgang in der Erkenntnis andern mitzuteilen. Denn ohne diese Mitteilung im Einzeln, ist kein Fortgang im Ganzen möglich. Herr Pastor, wenn Sie es dahin bringen, daß unsere Lutherschen Pastores unsere Päbste werden; – daß diese uns vorschreiben können, wo wir aufhören sollen, in der Schrift zu forschen; – daß diese unserm Forschen, der Mitteilung unsers Erforschten, Schranken setzen dürfen: so bin ich der erste, der die Päbstchen wieder mit dem Pabste vertauscht.“ (G VIII, 162) Plädoyer für die freie Meinungsäußerung
Abgesehen von dem rhetorischem Verfahren wird aus diesem Passus ersichtlich, dass es Lessing gleichermaßen um theologische Probleme wie um die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung ging, die er allgemein in seiner Zeit und speziell in der Auseinandersetzung mit Goeze vermisste. Bereits in seinen noch vor dem ersten Anti-Goeze erschienenen Axiomata beschuldigt Lessing daher den unbeirrbaren Geistlichen in einem fiktiven Dialog der vollkommenen Unfähigkeit zu einer argumentativen Auseinandersetzung. Sein Borniertheitsvorwurf geht so weit, dass er Goeze als mechanisch sprechende Automatenfigur vorführt. So klagt die Sprecherfigur Lessings über die Goezes: „Man höre nur. Ich will des Hrn. Pastors vermeinte Widerlegung, und meine Antwort, in eine Art von Dialog bringen, welcher der Kanzeldialog heißen könnte. Nämlich; ich unterbreche den Hrn. Pastor: aber der Hr. Pastor hält sich nicht für unterbrochen. Er redet fort, ohne sich zu bekümmern, ob unsere Worte zusammen klappen, oder nicht. Er ist aufgezogen, und muß ablaufen. Also: ein Dialog und kein Dialog.“ (G VIII, 150)
Aufhebung der Zensurfreiheit
Der heftige Schlagabtausch, der nach Einschätzung beider Parteien keinerlei Ergebnis in der Sache erbrachte, führte letztlich zu den wohl schwerwie-
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gendsten Sanktionen, die Lessing infolge seiner polemischen Publizistik jemals trafen. Denn die Auseinandersetzung mit Goeze wurde nicht inhaltlich, sondern obrigkeitlich beendet, indem Lessing im Juli 1778 ein Publikationsverbot für weitere Streitschriften mit theologischem Hintergrund und wenig später auch Zensurauflagen von der Braunschweiger Regierung erhielt. Da sich Lessing nicht auf diese Weise zum Schweigen bringen lassen wollte, entschied er sich dafür, seine religionsphilosophischen Überzeugungen nun ersatzweise in dramatisierter Form, gemeint ist Nathan der Weise, zu Gehör zu bringen (vgl. Guthke 2006b), wie er Reimarus’ Tochter Elise (1735–1805) am 6. September 1778 brieflich mitteilt: „Ich muß versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen.“ (B XII, 193) Neben dem Angriff gehörte auch die Verteidigung, also die Apologie, zu Lessings bevorzugten publizistischen Betätigungsfeldern, auf dem er freilich, darin den Konventionen des Genres vollauf entsprechend, nicht minder polemisch auftrat. Ursprünglich stammt das in der akademischen Streitkultur der Frühen Neuzeit weithin geläufige Verfahren der Apologie, obwohl nirgends begrifflich genau definiert, aus der forensischen Rhetorik, d.h. aus der Gerichtsrede der Antike. In diesem Zusammenhang diente sie zunächst der Verteidigung von Angeklagten. In der frühchristlichen Literatur kam als weitere Aufgabe die Rechtfertigung des Christentums gegenüber der Kritik durch Vertreter der etablierten Religionen hinzu. Allgemein gesagt, besteht die Funktion apologetischer Stellungnahmen darin, Personen, Institutionen, Schriften, Lehrmeinungen oder eben auch Glaubenshaltungen vor Angriffen durch Dritte zu schützen. Methodisch stellt die Apologie ein Verfahren der Beweisführung dar, das sich zwar formal auf die Überzeugungskraft der rationalen Logik stützt, dabei aber grundsätzlich in enger Verwandtschaft mit der Polemik steht. Prominente Beispiele für diese Schreibweise wären etwa Platons Apologie des Sokrates (ca. 395–390 v. Chr.), in der Platon für seinen wegen Gottlosigkeit und Jugendgefährdung angeklagten Lehrmeister eintritt, Philipp Melanchthons Apologia Confessionis Augustanae (1531) oder auch Philipp Sidneys Apologie for Poetry (1595). In den mit diesen drei Texten verbundenen Themenbereichen, namentlich in der Philosophie, in der Religionsgeschichte und in der Dichtungslehre, sind auch Lessings apologetische Beiträge angesiedelt. Er selbst verwendete für seine dahingehenden Bemühungen allerdings nicht den Terminus der Apologie, sondern den der Rettung (lat.: vindicatio), obschon er bei weitem nicht alle seine Texte, die einen apologetischen Grundzug besitzen, so überschreibt. Als Gattungsmodell dienten ihm insbesondere die Artikel, die der französische Frühaufklärer Pierre Bayle (1647–1706) in seinem Dictionnaire historique et critique (1695–97) über berühmte Persönlichkeiten zusammengestellt und mit vielfältigen, durch Quellenstudien gestützten Anmerkungen versehen hatte, um eine unvoreingenommene Neubewertung anzuregen, verhärtete Denkmuster aufzubrechen und Vorurteile zu korrigieren. Dieselbe Absicht verfolgte Lessing, wenn er versuchte, sinnstiftend im Hinblick auf Probleme seiner Gegenwart zu wirken, indem er sich
Apologie
Modelle für die ,Rettungen‘
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IV. Themen und Formen in Lessings Werk
kritisch, provokant und parteilich mit zweifelhaften Einschätzungen von älteren Autoren auseinandersetzte (vgl. Nisbet 1978, 16f.). Er selbst schätzte dieses Unternehmen nicht ohne Grund als waghalsig ein: „Und wen glaubt man wohl, daß ich darinne gerettet habe? Lauter verstorbne Männer, die es mir nicht danken können. Und gegen wen? Fast gegen lauter Lebendige, die mir vielleicht ein sauer Gesichte dafür machen werden. Wenn das klug ist, wo [!] weiß ich nicht, was unbesonnen sein soll.“ (G III, 522) Die ,Rettungen‘ in den Schriften
Ziele der ,Rettungen‘
Eine Sammlung von fünf ,Rettungen‘ nahm Lessing bereits 1753/54 in den zweiten und dritten Band der Ausgabe seiner Schriften auf. Sie beziehen sich auf den römischen Dichter und Dichtungstheoretiker Horaz (65–8 v. Chr.), auf die Reformationsgegner Simon Lemnius (1511–1550) und Johannes Cochlaeus (1479–1552), auf den Naturwissenschaftler und Philosophen Hieronymus Cardanus (1501–1576) sowie auf eine Theologensatire mit dem Titel Ineptus Religiosus (1652; lat.: Der törichte Gottesgelehrte), deren Verfasser bis heute nicht ermittelt wurde. In den Rettungen des Horaz (1754) verteidigt Lessing den antiken Autor gegen die Vorwürfe der Feigheit, Gottlosigkeit und Homosexualität, indem er für eine Trennung des Werks von der Biographie bei der ästhetischen Beurteilung eintritt. Das allgemeine Interesse, welches im Grunde genommen seinen sämtlichen Rettungen programmatisch zugrunde liegt, gibt er zu Beginn dieses Textes bekannt. Zunächst einmal diagnostiziert er eine unter Gelehrten verbreitete Überschätzung des eigenen Urteils, welche die nach seinem Dafürhalten höchst wünschenswerte Anerkennung gegenläufiger Meinungen verhindere: „Die Gabe sich widersprechen zu lassen, ist wohl überhaupt eine Gabe, die unter den Gelehrten nur die Toten haben. Nun will ich sie eben nicht für so wichtig ausgeben, daß man, um sie zu besitzen, gestorben zu sein wünschen sollte: denn um diesen Preis sind vielleicht auch größre Vollkommenheiten zu teuer. Ich will nur sagen, daß es sehr gut sein würde, wann auch noch lebende Gelehrte, immer im voraus, ein wenig tot zu sein lernen wollten.“ (G III, 591) Neben der Duldung von Widerspruch fordert Lessing auch eine Einsicht in die Relativität von Werturteilen, deren Bestandsfähigkeit sich nicht unmittelbar, sondern erst auf lange Sicht erweise, indem sie entweder immer wieder bestätigt oder aber dauerhaft revidiert würden: „Ungerecht wird die Nachwelt nie sein. Anfangs zwar pflanzt sie Lob und Tadel fort, wie sie es bekömmt; nach und nach aber bringt sie beides auf ihren rechten Punkt. Bei Lebzeiten, und ein halb Jahrhundert nach dem Tode, für einen großen Geist gehalten werden, ist ein schlechter Beweis, daß man es ist; durch alle Jahrhunderte aber hindurch dafür gehalten werden, ist ein unwidersprechlicher. Eben das gilt
2. Literaturkritik
bei dem Gegenteile. Ein Schriftsteller wird von seinen Zeitgenossen und von dieser ihren Enkeln nicht gelesen; ein Unglück, aber kein Beweis wider seine Güte; nur wann auch der Enkel Enkel nie Lust bekommen, ihn zu lesen, alsdann ist es gewiß, daß er es nie verdient hat, gelesen zu werden.“ (ebd.) Schließlich legt er dar, mit welchem Selbstverständnis er seine eigenen Interventionen in diesen historischen Prozess der Urteilsfindung betreibt. Mit demonstrativer Bescheidenheit erklärt er sich zum bloßen Verwalter eines Bildersaals, dessen Aufgabe darin bestehe, für die nötige Sauberkeit zu sorgen. Allerdings entspringt diese vermeintlich objektive Pflicht letztlich abermals einem subjektiven Urteil, nämlich seinem eigenen, das er zumal recht kategorisch vertritt:
Relativität der Urteile
„Ich selbst – – denn auch ich bin in Ansehung derer, die mir vorangegangen, ein Teil der Nachwelt, und wann es auch nur ein Trillionteilchen wäre – – Ich selbst kann mir keine angenehmere Beschäftigung machen, als die Namen berühmter Männer zu mustern, ihr Recht auf die Ewigkeit zu untersuchen, unverdiente Flecken ihnen abzuwischen, die falschen Verkleisterungen ihrer Schwächen aufzulösen, kurz alles das im moralischen Verstande zu tun, was derjenige, dem die Aufsicht über einen Bildersaal anvertrauet ist, physisch verrichtet.“ (G III, 592) Stellen wie diese lassen anschaulich erkennen, dass in Lessings Texten, und dies gilt mitnichten allein für seine Streitschriften und Rettungen, den zuweilen perfiden rhetorischen Strategien mindestens eine ebenso große Bedeutung zukommt wie den sachlich fundierten Analysen von ihm fragwürdig erscheinenden Tatsachenbehauptungen historischer oder philologischer Art (vgl. Göbel 1980).
2. Literaturkritik Für die Darstellung von Lessing als Kritiker erscheint es geboten, einen weiten und engen Begriff von Kritik zu unterscheiden. Im weiteren Sinne ist unter ,Kritik‘ (gr. krinein: unterscheiden, trennen) eine intellektuelle Methode zu verstehen, die in der Hoch- und Spätaufklärung nicht nur bei Lessing, sondern in der gesamten gelehrten Öffentlichkeit einen zentralen Stellenwert erlangte. Sie besteht in der detailgenauen Überprüfung, Differenzierung und Verdeutlichung insbesondere von historischen Überlieferungsbefunden und philologischen Interpretationen. Nach dem engeren Verständnis, um das es im Folgenden gehen soll, meint ,Kritik‘ die Anwendung eben dieser Methode im Bereich des literarischen Rezensionswesens, also die Literaturkritik, die Lessing in so verschiedenartigen Genres wie Vorreden, Briefen, Streitschriften oder Lehrgedichten, vor allem aber in expliziten Buchbesprechungen für Zeitungen und
Kritik als aufklärerische Praxis
Literaturkritik
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IV. Themen und Formen in Lessings Werk
Lessings Erfolg als Kritiker
Anfänge der Literaturkritik
Zeitschriften unternahm. Bei der Kritik als literarischer Wertung kommen üblicherweise drei, im Einzelfall unterschiedlich gewichtete Dimensionen zum Tragen. Einerseits fließt unvermeidlich die Subjektivität des Kritikers ein, die sich in Form von individuellen Wahrnehmungen, Vorlieben und Urteilsgewohnheiten äußert. Andererseits bietet die Objektivität des rezensierten Textes, also seine sprachlich-stilistische, bildliche, motivische und thematische oder auch argumentative Beschaffenheit, den sachlichen Ausgangspunkt für die Bewertung. Um die Gemengelage daraus für eine literarische Öffentlichkeit nachvollziehbar und überzeugend vermitteln zu können, muss schließlich auch ein Mindestmaß an Intersubjektivität durch transparente Wertmaßstäbe und Kriterien hergestellt werden. Obgleich Lessing sein literarisches Debüt bereits als Schüler und Student mit kleinen Gedichten und Epigrammen, Fabeldichtungen und frühen Versuchen auf dem Gebiet der Komödie bestritt, legte er den Grundstein zu seinem Erfolg als maßgeblicher aufklärerischer Intellektueller im Bereich der Literaturkritik. Während seiner Berliner Jahre (1748–55) widmete er sich weit mehr der literaturkritischen als der literarischen Tätigkeit, nicht zuletzt, weil er die Einkünfte aus seinen Rezensionen für den Lebensunterhalt benötigte. Sein Vetter – gemeint ist damit nach damaligem Sprachgebrauch ein weitläufiger Verwandter – Christlob Mylius, der in Berlin an zahlreichen Zeitschriftenunternehmungen beteiligt war, half ihm durch die Vermittlung erster Publikationsmöglichkeiten beim Einstieg in einen Literaturbetrieb, in dem die Kritik einen historisch neuartigen Aufschwung erlebte. Als Redakteur für den Rezensionsteil der Berlinischen privilegierten Zeitung und freier Mitarbeiter anderer Zeitschriften profilierte Lessing sich in dem durchaus aggressiven publizistischen Klima dieser Zeit außerordentlich schnell (vgl. Barner 1977, 333). Indem er weit eher eine kritische „Literaturpolitik“ statt „objektive[r] Kritik“ (Grimm 1998, 234) betrieb, avancierte er zu einem der führenden Literaturkritiker seiner Zeit. Eine wertende Auseinandersetzung mit Literatur erfolgte schon lange vor dem Aufkommen einer literaturkritischen Publizistik im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts. Dabei ging es üblicherweise um die Auswahl herausragender Werke aus der Fülle der Überlieferung im Hinblick auf eine literarhistorisch oder auch nationalliterarisch motivierte Kanonbildung. Diese Vorformen der Literaturkritik fanden nicht in periodisch erscheinenden Printmedien statt, sondern in Literaturgeschichten, Poetiken, Vorreden und Anthologien. Mit der Frühaufklärung formierte sich allmählich eine Literaturkritik, welche dem heutigen Begriffsverständnis entspricht. Neben der Öffentlichkeit des Räsonnements über Literatur spielte insofern auch zunehmend die Aktualität eine Rolle, als sich das Interesse nicht mehr nur auf Werke von überzeitlicher Größe richtete, sondern auch auf literarische Neuerscheinungen, deren Qualität es zu prüfen galt. Als Wegbereiter für diese Entwicklungen fungierte vor allem Christian Thomasius (1655–1728), dessen Freymütige Jedoch Vernunfft- und Gesetzmäßige Gedancken / Uber allerhand / fürnemlich aber Neue Bücher (1688/89), aufgrund ihrer monatlichen Erscheinungsweise besser bekannt unter dem Kurztitel Monatsgespräche, als erstes deutschsprachiges Periodikum dezidiert literaturkritischen In-
2. Literaturkritik
halts gelten. In einem teils monologisch, teils durch die Einbeziehung fremder Meinungen dialogisch angelegten Gestus bespricht Thomasius darin sowohl gelehrte als auch unterhaltende Literatur jüngeren Datums, wobei sich die Länge seiner recht umfangreichen Rezensionen jeweils auf ein ganzes Heft beläuft. Mit der allmählichen Ausbildung eines literarischen Marktes wurde eine öffentliche Diskussion über Druckerzeugnisse, die von berufenen Kritikern in speziellen, wöchentlich oder monatlich erscheinenden, oft sehr kurzlebigen Literaturzeitschriften ausgetragen wurde, nicht nur möglich, sondern auch immer lebhafter betrieben. Denn mit dem Ansteigen der Lesefähigkeit wuchs auch das Bedürfnis nach Orientierungshilfe auf dem expandierenden Buchmarkt. So wandte sich bereits die frühe Literaturkritik, deren regionale Zentren in Halle, Leipzig und Zürich lagen, nicht mehr nur an Gelehrte, sondern auch an die weiter gefasste Zielgruppe einer gebildeten, außerakademischen Leserschaft. Ihre Absichten richteten sich zunächst einmal auf die Wissensvermittlung und Unterhaltung, außerdem jedoch mehr und mehr auch auf die kritische Meinungsäußerung, auf die Verständigung über verallgemeinerbare poetologisch-ästhetische Standards sowie ganz besonders auf die Geschmacksbildung und -lenkung beim Publikum: Geschmack ließ sich zwar nur recht vage bestimmen, setzte sich aber zunehmend als Goldstandard der aufklärerischen Literaturdebatten durch. Wenige Jahre bevor Lessing anfing, sich als Rezensent einen Namen zu machen, erlangte die Literaturkritik im deutschsprachigen Raum eine neuartige Schärfe, welche daraus hervorging, dass die Kritiker ihrem Selbstverständnis nach häufig als ,Kunstrichter‘ auftraten, deren Urteil keinen Widerspruch duldete. Herrschte in der Literaturkritik wie in der Satire traditionell das ungeschriebene Verbot persönlicher Angriffe, so kann der sog. LeipzigZürcher Literaturstreit, ausgetragen zunächst zwischen Johann Christoph Gottsched (1700–1766) auf der einen Seite und den Schweizern Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und Johann Jakob Breitinger (1701–1776) auf der anderen, gewissermaßen als Sündenfall der Literaturkritik angesehen werden, da die zunächst inhaltlich veranlasste Kontroverse zunehmend auf polemischer Ebene ausgetragen wurde. Gottsched hatte mit seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730; 4., erw. Aufl. 1754) einen Zentraltext der deutschsprachigen Aufklärungspoetik vorgelegt. Er entwarf darin eine rationalistisch fundierte Dichtungslehre, in der die Regelhaftigkeit sowohl beim Verfassen literarischer Texte helfen als auch die Richtwerte für das kritische Geschmacksurteil bieten sollte. Seine theoretischen Vorgaben entwickelte er in Anlehnung an Aristoteles und vor allem an Horaz, dessen Verspoetik De arte poetica er in deutscher Übersetzung seiner eigenen Poetik mottoartig voranstellte. Die horazische Forderung, die Dichtkunst solle nützen und unterhalten (lat.: prodesse et delectare), bildete die Grundlage für den von ihm vertretenen moralischen Belehrungsanspruch. Darüber hinaus stellte er harte Plausibilitätskriterien für die literarische Produktion auf, welche im Zeichen der Naturnachahmung (lat.: imitatio naturae) die wirk-
Literaturkritik im 18. Jahrhundert
Leipzig-Zürcher Literaturstreit
J. Ch. Gottscheds Rationalismus
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Gegenpositionen der Schweizer
Zulässigkeit des Wunderbaren
Zugespitzte Streitkultur
liche Welt der wissenschaftlich-empirischen Erfahrung mit der möglichen Welt der Poesie in Einklang zu bringen hatte. Vor diesem Hintergrund forderte er nicht nur einen klaren und nüchternen Stil, sondern schloss vor allem auch alles Irrationale und rein Unterhaltsame strikt aus der Dichtkunst aus. Im Unterschied dazu stützten Bodmer und Breitinger ihre Dichtungsauffassung nicht allein auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Modelle, sondern orientierten sich zudem am britischen Sensualismus, wie er in der Dichtung beispielsweise von John Milton (1608–1674) vertreten wurde. Daraus ergab sich eine entschiedene Aufwertung der Sinnlichkeit gegenüber der Vernunft, der Gemütserregung gegenüber der rationalen Belehrung, der schöpferischen Phantasie gegenüber der bloßen Naturnachahmung und damit letztlich auch des Angenehmen gegenüber dem nur Nützlichen in der Dichtung. Anders als Gottsched propagierten die Schweizer eine Loslösung der poetischen von der wissenschaftlich-rational begründbaren Wahrheit, wobei innovative und originelle Züge erstmals ausdrücklich einen Wert zugesprochen bekamen. Anstelle von Klarheit und Deutlichkeit bevorzugten Bodmer und Breitinger das Stilideal einer bilderreichen Poesie. Die Differenzen zwischen Gottsched und den Schweizern entzündeten sich an der Frage der Zulässigkeit des ,Wunderbaren‘, gemeint sind damit übernatürliche Erscheinungen, in der Dichtkunst, für die Bodmer mit seiner Critischen Abhandlung vom Wunderbaren in der Poesie (1740) ebenso nachdrücklich eingetreten war wie mit seinen Übersetzungen von Miltons Bibelepos Paradise Lost (1667), die er ab 1732 in mehreren Fassungen vorlegte. Zugleich bezichtigte er Gottscheds rationalistische Vorschriften der schulmeisterlichen Pedanterie. Entsprechend verstimmt reagiert dieser in einer Rezension der Abhandlung vom Wunderbaren auf Bodmers MiltonÜbersetzung. Entrüstet über die Herabsetzung der deutschsprachigen Dichtungstradition, die er in der Übersetzung eines englischen Epos sieht, verlangt er von Breitinger entweder die Wiederentdeckung von Stoffen aus der eigenen muttersprachlichen Überlieferung oder aber eine Originaldichtung mit Blick auf eine schweizerische Mythologie. Neben der für übersättigt befundenen Bildersprache bemängelt er vor allem die Anhäufung von vernunftwidrigen Fantasien im Text, die er als das „Ungeheure und Gräßliche“ bezeichnet, welches die Einbildungskraft seiner Leser „recht in Erstaunen“ (Gottsched 1989, 245) versetze. Vom Gelehrtenstreit eskalierte die theoretische Meinungsverschiedenheit zwischen Gottsched und den Schweizern zu einer regelrechten Literaturfehde, an der sich etliche Autoren mit satirischen Schriften beteiligten, darunter z.B. Immanuel Jakob Pyra mit seinem Erweis, daß die Gottschedianische Sekte den Geschmack verderbe (1743) und der Fortsetzung dieses Erweises (1744). Nicht zuletzt fand in der Folgezeit des Leipzig-Zürcher Literaturstreits ein erheblicher Zuwachs an literaturkritischen Publikationen statt. In diesem Klima schonungsloser Kritik lag das Bestreben der jungen Schriftstellergeneration darin, sich von Gottscheds Ansichten zu emanzipieren (vgl. Baasner 1993, 130). Lessing, der dieser Generation angehörte,
2. Literaturkritik
machte folgende Kampfansage: „Ernsthafte gesetzte Männer müssen zweifeln; und wir, wir jungen Gelehrten, müssen entscheiden. Wer würde es auch sonst wagen, gebilligten Meinungen die Stirne zu bieten, wenn wir es nicht wären, die wir noch alle unser Feuer beisammen haben.“ (G III, 532) Was die Leipzig-Zürcher Querelen anging, verzichtet er allerdings auf ein Bekenntnis zu der einen oder anderen Seite. Indem er beide Überzeugungen gleichermaßen für kritikwürdig befindet, lässt er eine Tendenz zum Ausgleich erkennen (vgl. Guthke 1975): „Herr Bodmer klagt über Herrn Gottscheden, daß dieser mit seinen Anhängern zu niedrig, zu fließend, zu kalt, und zu unpoetisch schriebe [!]. Dieser hingegen seufzet über jenen, und will beweisen, Herr Bodmer gehe zu weit […]: Er übertreibe die Gedanken und Ausdrücke, daß sie unnatürlich würden; Er habe sich in die Schwulst des Miltons kindisch verliebet […]. (B I, 703f.) Um 1750 begann Lessing, sich mit seinen Freunden Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai in Berlin für eine neue literaturkritische Diskussionskultur starkzumachen. Nicolai erklärte: „Jeder von uns war dogmatisch in seinen Principien, oder wenn ich modischer reden soll, kritisch, denn wahrlich, wir hatten unsere Principien ernstlich untersucht und geprüft.“ (in Daunicht 1971, 72) Die aufstrebenden Literaten forderten neben der sachlichen Information über das Werk erstens die Überzeugung durch stichhaltige Argumente, zweitens die rücksichtslose Schärfe gegenüber dem Werk ungeachtet seines Verfassers sowie drittens die Erziehung zur ästhetischen Urteilsfähigkeit, damit sich, so Lessing, letztlich das „Publikum als Richter“ (G VI, 371) selbst eine Meinung bilden könne. Als Wertungskriterium galt nun nicht mehr die Regelbefolgung, sondern die Erzeugung einer moralisch-belehrenden Wirkung. Des Weiteren erfolgte die Urteilsfindung nach wie vor oft im Vergleich mit Modelltexten, die für besonders gelungen erachtet wurden. Um eine Meinungslenkung durch das Prestige des Rezensenten zu vermeiden, wurden die Besprechungen nicht selten anonym oder unter erfundenen Namenskürzeln veröffentlicht. Für Lessings frühe Kritiken, die in Blättern wie der Berlinischen privilegierten Zeitung, dem Gelehrten Artikel sowie in den Monatsbeilagen zu Das Neueste aus dem Reiche des Witzes und zu den Kritischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit erschienen, wirft diese Gepflogenheit erhebliche Schwierigkeiten in der Echtheitsfrage auf, denn seine Verfasserschaft kann nur in wenigen Ausnahmefällen mit Sicherheit nachgewiesen werden. Ältere Zuordnungsversuche, die sich auf stilistische Merkmale stützten, erweisen sich als unzuverlässig, weil das vermeintlich Lessing-Typische eine ganze Gruppe von zeitgenössischen Jungkritikern kennzeichnet (vgl. Stenzel in B II, 736–739). Noch 1766 grollte Bodmer, der sich angegriffen fühlte: „Es ist ein Complot zwischen Nicolai, Hamann, Kant, Weiße, Klotz, Michaelis, Lessing, daß sie die Zürcher in die Vergessenheit lachen und spotten wollen. Ihr Geschmack ist Gottscheds und ihr Witz Satans.“ (in Dvoretzky 1971, 48)
Prinzipien einer neuen Literaturkritik
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IV. Themen und Formen in Lessings Werk ,Parteilosigkeit‘ und ,Weg der Mitte‘
Ausschnitthaftes Verfahren
Schärfe und Genauigkeit
Lessings Rollenverständnis als Kritiker erweist sich als überaus anfällig für Stilisierungen durch ihn selbst, aber auch durch die Nachwelt, die seine Vorgehensweise häufig durch Schlagwörter wie ,Parteilosigkeit‘ und ,Weg der Mitte‘ charakterisiert, hatte Lessing doch mitgeteilt: „Wer vernünftig urteilen will, muß es mit keiner Partei halten; oder er muß schmeicheln.“ (B I, 704) Derartige Neutralitätsversicherungen dürften zwar als symptomatisch für den von Lessing vertretenen Standpunkt gelten, aber die „Kritiken selbst sind nicht unbedingt ihre Verwirklichung“ (Grimm 1998, 236), denn tatsächlich herrscht darin doch meistens eine kompromisslos tendenziöse Schreibweise vor, zumal es nie allein um inhaltliche Interessen geht, sondern immer auch um die „Selbstbehauptung des Polemikers auf dem literarischen Markt“ (Berghahn 1993, 178). Hinzu kommt, dass Lessing in seinen Rezensionen höchst ausschnitthaft verfährt, indem er Teilaspekte eines Werkes herausgreift, um ausgehend vom konkreten Beispiel verallgemeinerbare Beobachtungen anzustellen, Grundsatzfragen zu diskutieren und – freilich immer unsystematische – Theoriebildungen zu erproben. Außerdem schloss sich Lessing zuweilen der seinerzeit durchaus verbreiteten Gewohnheit an, auf die eigene Lektüre der besprochenen Werke zu verzichten, um stattdessen deren Vorworte als Stichwortgeber für die Rezensionen zu nutzen. Dabei wird eine kritische Untersuchung der Texte zwar vorgespiegelt, findet aber tatsächlich bestenfalls punktuell statt (vgl. Guthke 1993). Deswegen ist es durchaus nicht bloß scherzhaft zu verstehen, wenn Lessing in einem Brief vom 19. Oktober 1758 an seinen Dichterkollegen Gleim über dessen gerade erschienene Anakreon-Übersetzungen bemerkt: „O ich kann sie kritisieren, ohne sie gelesen zu haben.“ (B XI/1, 301) Zu den Eigenheiten von Lessings literaturkritischen Schriften zählt neben der selbstbewussten Einmischung in aktuelle Kontroversen des literarischen Lebens bei ausgeprägter Vorliebe für Fragen der dramatischen Literatur die stilistische Scharfzüngigkeit, verbunden mit einer bis zur Akribie reichenden Detailverliebtheit. In dieser setzt sich zwar womöglich eine „emanzipatorische Kraft der Pedanterie“ (Reifenberg 1995, 87) frei, aber zugleich lässt sie vielfach die Entfaltung übergreifender gedanklicher Linien derart in den Hintergrund treten, dass Lessing oft als „Kritiker des Details“ (Michelsen 1990, 70) aufgefasst wird. Verstärkt tritt dieser Zug hervor, wenn Lessing bei Übersetzungen aus dem Englischen, Französischen oder Lateinischen größten Wert darauf legt, möglichst viele Fehler aufzuspüren, obwohl es nach den damaligen Standards im deutschen Sprachraum völlig legitim war, frei zu übersetzen. Ausgehend von den Beobachtungen, die er anlässlich seiner kritischen Lektüre einzelner Texte oder auch nur einzelner Textpassagen anstellt, vertritt er mit Nachdruck eigene literaturtheoretische Haltungen und Maßstäbe, die allerdings weder regelförmig noch systematisch, sondern meist nur zwischen den Zeilen formuliert werden (vgl. Kap. IV.3). Konflikte mit zeitgenössischen oder historischen Autoritäten scheut er dabei keineswegs, verlangt er doch vom Rezensenten, sich bei der Auseinandersetzung mit einem bestimmten Text prinzipiell „nur auf dieses Werk allein einzuschränken; an keinen Verfasser dabei zu denken“ (G V, 280).
2. Literaturkritik
Aus diesem Anspruch heraus gründete Lessing gemeinsam mit Nicolai und Mendelssohn eine literaturkritische Wochenschrift, die den Titel Briefe, die neueste Litteratur betreffend (1759–65) trug. In diesem Publikationsorgan erschienen insgesamt knapp 350 Beiträge, von denen allerdings nur 55 von Lessing selbst stammen. Die Literaturbriefe reagieren zeitnah auf Neuerscheinungen im Bereich der schönen Literatur sowie auf die damit verbundenen Streitgespräche, die im Berliner Literatenkreis der Herausgeber geführt wurden und einer weiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten. Die Form des Briefes kam Lessings bevorzugter Arbeitsweise in mehrfacher Hinsicht entgegen. Denn zum einen verzichtet der Brief auf systematische Vollständigkeit, so dass er größere Freiheiten im Ausdruck und in der Gedankenführung gewährt als das starre Schema einer akademischen Abhandlung (vgl. Michelsen 1990, 71f.). Zum anderen besitzt er eine tendenziell dialogische Anlage, die es ermöglicht, ein Problem aus verschiedenen Blickwinkeln auszuleuchten, um letztlich die eigene Position stark zu machen. Nicht von ungefähr unterschreibt Lessing, der in den Literaturbriefen einen äußerst scharfen Ton anschlägt, einige seiner Texte mit den erfundenen Namenskürzeln ,Fll.‘, ,A.‘, ,G.‘, ,E.‘, ,L.‘ und ,O.‘, welche aufzulösen sind als flagello (lat.: ich peitsche aus; vgl. Seiffert 1969, 77). Die Literaturbriefe lassen sich in ihrer gnadenlosen Verurteilung des Mittelmäßigen nachgerade als literarisches Pendant zum Schlachtgeschehen des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) lesen. Sie verbinden Sachkenntnis, Polemik und rhetorische Findigkeit, um die Gegner nach scheinbar objektiven Kriterien möglichst mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, nämlich durch Zitate und deren zuweilen nicht ganz rechtschaffene Auslegung. Die Literaturbriefe haben einen konkreten Adressaten in Ewald Christian von Kleist (1715–1759), der seit 1758 als Offizier am Siebenjährigen Krieg teilnahm und von seinen Freunden Lessing, Nicolai und Mendelssohn über die neueste Literatur auf dem Laufenden gehalten werden sollte. In der Vorrede, die mit Hilfe einer Herausgeberfiktion den Ursprung der Briefe zusätzlich verdunkelt, werden diese Hintergründe leicht anonymisiert bekanntgegeben, wobei jedoch der Nutzen für die allgemeine Leserschaft als Rechtfertigung für den Druck der vorgeblichen Privatbriefe herausgestellt wird. Lessing beschäftigt sich im Rahmen der Literaturbriefe mit philosophischen Neuerscheinungen aus Frankreich, etwa von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) und Denis Diderot (1713–1784), mit literarischen Übersetzungen, mit zeitgenössischen Tendenzen wie der Anakreontik (vgl. Kap. V.1) und der Empfindsamkeit sowie mit einzelnen Autoren, die er nicht selten hemmungslos anfeindet. Seine literaturgeschichtliche Zwischenstellung als Kritiker lässt sich beispielsweise an Lessings Umgang mit Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) und seinem Bibelepos Der Messias ablesen, das ab 1748 erschien. Zunächst lobt Lessing die empfindsame Sprachgestaltung des Textes, wodurch er sich vordergründig den ästhetischen Vorlieben der Schweizer anzuschließen scheint. In den philologischen Einzelheiten verrät er jedoch eine überraschend große Nähe zu Gottscheds Rationalismus (vgl. Michelsen 1990, 90), wenn er feststellt, dass Klopstock „zuweilen seine Wortfügungen dermaßen verwirre, daß sich die Beziehung der Begriffe auf
Briefe, die neueste Litteratur betreffend (1759–65)
Gegenstände der Literaturbriefe
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IV. Themen und Formen in Lessings Werk
Kritik an Ch.M. Wieland
Vergeltungsschlag gegen J.J. Dusch
Abgrenzung gegen J. Ch. Gottsched
einander verliere“ (G V, 77), um zu dem letztlich vernichtenden Gesamturteil zu gelangen: „Doch so muß ich Ihnen leider sagen, daß dem Herrn Klopstock, ich weiß nicht welcher Geist der Orthodoxie, oft anstatt der Kritik vorgeleuchtet hat.“ (G V, 82) Lessings markante Rücksichtslosigkeit hingegen zeigt sich sehr deutlich in seiner Schmähung Christoph Martin Wielands (1733–1813), die er über nicht weniger als zehn Briefe ausdehnte, weil er ihn irrtümlich für den anonymen Verfasser einer gegen ihn gerichteten Rezension hielt. Dabei setzt er sich nicht auf sachlicher Ebene zur Wehr, sondern wettert über Wielands persönliches Betragen, er „brauchte so hämische Waffen; verriet so viel Haß, einen so verabscheuungswürdigen Verfolgungsgeist, daß einen ehrlichen Mann Schauder und Entsetzen darüber befallen mußte“ (G V, 43). Überhaupt unternimmt Lessing in den Literaturbriefen gern regelrechte Vergeltungsschläge (vgl. Seiffert 1969, 76), so etwa im Falle von Johann Jakob Dusch (1725–1787), der sich öffentlich mit einer Mängelliste zu Lessings Trauerspiel Miß Sara Sampson zu Wort gemeldet hatte (vgl. Grimm 1998, 231f. u. 234). Im Gegenzug führt Lessing die von Dusch verfassten Schilderungen aus dem Reiche der Natur und der Sittenlehre (1757/58) im 41. Literaturbrief als gänzlich banal vor. Er nennt seinen Widersacher ironisch „eine der fruchtbarsten Federn unsrer Zeit“ (G V, 126), um sodann über das Gliederungsprinzip des Textes zu spotten: „Herr Dusch ist ein großer Liebhaber des Neuen, des Selbsterfundenen; er wählt also die Verbindung nach den Monaten. Nach den Monaten! Ein kühner, glücklicher Einfall!“ (G V, 127) Ferner unterstellt er ihm, keine eigenen Gedanken hervorgebracht zu haben: „Ich wenigstens kann seine Schilderungen für nichts anders, als einen beständigen Cento [sc. Flickwerk], aus Pope, Thomson, Hervey, Young, Kleist, Haller und zwanzig andern halten.“ (G V, 129) Anhand zahlloser Beispiele führt er im Folgenden „Ungereimtheiten“ (G V, 131) und „seltsame Vorstellungen“ (G V, 133) vor, die er in den Schilderungen erblickt, bis er in einer Fortsetzung des Briefes vernichtend resümiert: „Herr Dusch hat nicht Witz und Erfindungskraft genug, ein Dichter zu sein; und ein Philosoph zu sein nicht genug Scharfsinn und Gründlichkeit.“ (G V, 144). Während hier das Moment der persönlichen Abrechnung im Vordergrund steht, erlangt die Polemik gegen Gottsched, welche im 16. und insbesondere im 17. Literaturbrief stattfindet, insofern eine weitergehende Relevanz, als Lessing damit den Doyen der Aufklärungspoetik in programmatischer Hinsicht überwindet. Gottsched hatte 1757 eine umfangreiche Zusammenstellung von Dramen aus den vergangenen 400 Jahren unter dem Titel Nöthiger Vorrath zur Geschichte der deutschen dramatischen Dichtkunst publiziert, um ein künstlerisch anspruchsvolles Repertoire für die deutsche Schaubühne verfügbar zu machen. Lessing behagte die Auswahl offenbar ebenso wenig wie ihr Herausgeber, den er als „patriotischen Kopqouoqx [gr.: Mistträger]“ (G V, 70) beschimpfte, wobei er davon ausgehen musste, dass der fremdsprachige Kraftausdruck von dem größten Teil seiner Leserschaft problemlos verstanden wurde.
2. Literaturkritik
Im 17. Literaturbrief weist Lessing einerseits Gottscheds Regelfixierung zurück, beruft sich aber andererseits wie dieser auf Aristoteles als antiken Gewährsmann in Fragen der Dichtungstheorie. Da er sich auf dieselbe Bezugsgröße stützt wie sein Kontrahent, gelingt es ihm nicht immer widerspruchsfrei, dessen Verdienste um das deutsche Theaterwesen herabzusetzen, obgleich er sich nach Kräften darum bemüht (vgl. Michelsen 1990, 75f.). Wo die Argumente versagen, greift er kurzerhand zur unbegründeten Herabwürdigung: „Es wäre zu wünschen, daß sich Herr Gottsched niemals mit dem Theater vermengt hätte. Seine vermeinten Verbesserungen betreffen entweder entbehrliche Kleinigkeiten, oder sind wahre Verschlimmerungen.“ (G V, 70) Zwar gesteht Lessing zu, dass sich die deutsche Schaubühne während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hinsichtlich der Regelmäßigkeit, Plausibilität, Sprache und Inszenierung in beklagenswertem Zustand befunden habe, meint aber, dies zu diagnostizieren sei keine bemerkenswerte Leistung: „Dieses Verderbnis einzusehen, brauchte man eben nicht der feinste und größte Geist zu sein.“ (G V, 71) Konkret beanstandet er mehrere Punkte, darunter erstens, Gottsched habe zweifelhaften Übersetzungen Vorschub geleistet. Zweitens habe er sich durch die Aufführung einer Theaterposse blamiert, deren Ziel darin nur bestand, die komische Figur demonstrativ von der Bühne zu jagen, weil sie zwar belustige, aber nicht belehre. Drittens zeichne sich seine Mustertragödie Sterbender Cato (1731) durch akademische Blutleere aus. Insbesondere aber habe er viertens die Bedürfnislage des deutschen Publikums mit seiner übertriebenen Wertschätzung der französischen Dramatik völlig verfehlt:
Der 17. Literaturbrief
Gottsched-Kritik
„Er verstand ein wenig Französisch und fing an zu übersetzen; er ermunterte alles, was reimen und Oui Monsieur verstehen konnte, gleichfalls zu übersetzen; er verfertigte, wie ein Schweizerischer Kunstrichter sagt, mit Kleister und Schere seinen ,Cato‘; […] er legte einen Fluch auf das extemporieren; er ließ den Harlekin feierlich vom Theater vertreiben, welches selbst die größte Harlekinade war, die jemals gespielt worden; kurz, er wollte nicht sowohl unser altes Theater verbessern, als der Schöpfer eines ganz neuen sein. Und was für eines neuen? Eines Französierenden; ohne zu untersuchen, ob dieses französierende Theater der deutschen Denkungsart angemessen sei, oder nicht.“ (ebd.) Lessing selbst empfiehlt durchaus polemisch die bis dahin in Deutschland noch nicht sonderlich anerkannte genialische Schaffenskraft William Shakespeares (1564–1616) als Gegenmodell zu dem regeltreuen französischen Klassizismus, den er in Pierre Corneille (1606–1684) und Jean Racine (1639–1699) verkörpert sieht: „Erstlich würde das Volk an jenem [sc. Shakespeare] weit mehr Geschmack gefunden haben, als es an diesen [sc. Pierre Corneille u. Jean Racine] nicht finden kann; und zweitens würde jener ganz andere Köpfe unter uns erweckt haben, als man von diesen zu rühmen weiß. Denn ein Genie kann nur von einem Genie entzündet werden; und am leichtesten
W. Shakespeare als Gegenmodell
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IV. Themen und Formen in Lessings Werk
von so einem, das alles bloß der Natur zu danken zu haben scheinet, und durch die mühsamen Vollkommenheiten der Kunst nicht abschrecket.“ (G V, 72) Von der Regel zum Genie
In dieser Shakespeare-Aufwertung wird im 17. Literaturbrief ein von Lessing maßgeblich mitgetragener Umbruch von der normativen Regelpoetik zur Genieästhetik greifbar, welcher die Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts in grundstürzender Weise veränderte. Bei Lessing werden die Regeln freilich noch nicht vollends zurückgewiesen, denn, so zeigt das Zitat ebenfalls, die Mühelosigkeit des Genies ist nur scheinbar naturgegeben, während sie in Wirklichkeit auf vollendete Kunstfertigkeit zurückgeht. Für die unmittelbare Dramenpraxis empfiehlt Lessing außerdem den Rückgriff auf Stoffe aus der deutschsprachigen Überlieferung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Dies nimmt er zum Anlass, sein eigenes Faust-Fragment anzupreisen, indem er an den 17. Literaturbrief einen Auszug daraus anhängt, den er als Werk eines Freundes ausgibt, um das vorwitzige und für Lessing mitnichten untypische Selbstlob, das auch in den Schauspielbesprechungen der Hamburgischen Dramaturgie (1767–69; vgl. Kap. IV.4) wieder aufscheint, im Rahmen seiner Gottsched-Kritik noch hemmungsloser aussprechen zu können: „Was sagen Sie zu dieser Szene? Sie wünschen ein deutsches Stück, das lauter solche Szenen hätte? Ich auch!“ (G V, 73)
3. Poetik und Ästhetik (Anmerkungen über das Epigramm, Laokoon) Verzicht auf Systematik
Obwohl Lessing nicht nur mit vielfältigen theoretischen Überlegungen an die Öffentlichkeit getreten ist, sondern auch manchen theoretischen Diskurs des 18. Jahrhunderts tonangebend mitbestimmt hat, spricht sein Selbstverständnis ebenso wie die Struktur seiner Schriften dagegen, ihn als einen zunftgemäßen Theoretiker zu bezeichnen. Die Ablehnung einer systematischen Organisation seiner Abhandlungen nimmt für Lessing einen geradezu programmatischen Stellenwert ein, wie etwa die gemeinsam mit seinem Freund Moses Mendelssohn verfasste Preisschrift Pope ein Metaphysiker! (1755) belegt. Lessing stellt darin die verschiedenartigen Methoden des Dichters und des Philosophen gegenüber. Was die Frage der Struktur angeht, hält er über den Philosophen fest: „Er geht, in beständigen Schlüssen, immer von dem leichtern, zu dem schwerern fort; er nimmt sich nichts vorweg; er holet nichts nach.“ (G III, 637) Über die Arbeitsweise des Dichters hingegen teilt er mit: „Allein Ordnung! Was hat der Dichter damit zu tun? Und noch dazu eine so sklavische Ordnung. Nichts ist der Begeisterung eines wahren Dichters mehr zuwider.“ (ebd.) In diesem Sinne bleibt Lessing auch als Theoretiker immer Dichter, denn seine theoretischen Texte entsprechen keineswegs den akademischen Standards. Vielmehr setzen sie wie die Streitschriften und die Rezensionen lediglich ausgewählte
3. Poetik und Ästhetik
Schlaglichter, unterziehen bestehende Positionen der kritischen Überprüfung und neigen mehr als nur ansatzweise zur Polemik (vgl. Berghahn 1992, 32). Dass Lessing keine geschlossenen theoretischen Abhandlungen schrieb, hat freilich nicht nur mit seinen individuellen Neigungen zu tun, sondern liegt auch ganz im Trend seiner Zeit, in der die regelförmige Dichtungstheorie herkömmlichen Zuschnitts erheblich an Einfluss verlor. Traditionell bildet die Poetik einen Spezialbereich der Rhetorik, und zwar denjenigen, der sich mit der in Versen gebundenen Rede, also mit der Dichtkunst (lat.: ars poetica) im Unterschied zur freien Prosarede (lat.: ars oratoria) beschäftigt. Erst seit der Mitte des 17. Jahrhunderts wurden allmählich auch sprachliche Kunstwerke, die nicht in Versen stehen, also beispielsweise Romane, von der Poetik erfasst. Mit den Vorgaben der Poetik, verband sich von der Antike bis ins 18. Jahrhundert hinein ein Anspruch auf Verbindlichkeit für die gesamte literarische Produktion. Dabei wandelten sich zwar im Laufe der Poetikgeschichte die Interessenschwerpunkte, aber die übergreifenden Darstellungs- und Wirkungsabsichten der Dichtkunst wurden ebenso wie Detailaspekte der Metrik, Stilistik und Gattungslehre oder auch Fragen der Sprachreinheit, Wortbildung, Rechtschreibung und Grammatik grundsätzlich auf normative Art und Weise vermittelt. Erst die Aufklärungspoetik, für die im deutschsprachigen Raum Johann Christoph Gottsched mit seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) exemplarisch stehen kann, stellte nach dem Vorbild des französischen Klassizismus den regelhaften Literaturbegriff der vorangegangenen Jahrhunderte radikal in Frage. Die eigentümliche künstlerische Güteklasse, die bis dahin durch einfallsreiche Übersteigerung (lat.: aemulatio) und geschickte Wiederverwertung (lat.: ars combinatoria) von vorhandenem sprachlichem Material erzeugt wurde, das (kunst-)handwerkliche Dichtungsverständnis sowie die aus der Regelhaftigkeit der Dichtung abgeleitete Lehr- und Lernbarkeit der Dichtkunst erschienen nunmehr als Mangel an Originalität und Natürlichkeit, als stilistische Überfrachtung und Geschmacklosigkeit. Trotzdem machte auch die Aufklärungspoetik nach wie vor umfassende Normenbestände geltend, die sie sogar auf allgemeine Gesetze zurückzuführen versuchte. Nach aufklärerischen Vernunft- und Sittlichkeitskriterien wurden der Dichtkunst nach Maßgabe französischer Standards nunmehr unbedingte Wahrscheinlichkeit (frz.: vraisemblance), Schicklichkeit (frz.: bienséance) und Ehrenhaftigkeit (frz.: honnÞteté) abverlangt. Stilistische Orientierung bot nicht mehr eine rhetorisch ausgeklügelte Bildersprache, sondern die gehobene Alltagssprache. Inhaltliche Zielsetzungen bestanden in der moralischen Belehrung, im typisierten Gefühlsausdruck sowie in der ganzheitlichsinnlichen Erkenntnis von Natur und Gesellschaft. Diese Errungenschaften der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden von intensiv und kontrovers ausgetragenen Theoriedebatten begleitet, infolge derer nicht nur Gottscheds nüchterner Rationalismus, sondern auch die normative Dichtungslehre insgesamt überwunden wurde. Nicht mehr allgemeingültige Regelwerke, sondern die ganz individuelle, freie Schöpfungskraft des Künstlers sollte den
Geschichte der Poetik
Neuerungen der Aufklärungspoetik
Poetologische Standards
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IV. Themen und Formen in Lessings Werk
Lessings theoretische Schriften
Anmerkungen über das Epigramm (1771)
Epigrammatik im 18. Jahrhundert
Gattungsmerkmale
Schaffensprozess bestimmen, der, angeregt durch europaweit richtungweisende Abhandlungen wie William Sharpes Dissertation upon Genius (1755) oder Edward Youngs Conjectures on Original Composition (1759) zunehmend im Zeichen von Genie und Originalität stand. Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, wenn Lessing seine literaturtheoretische Aufmerksamkeit nur auf einige ausgewählte Fragestellungen richtete, von denen er jedoch einige über Jahrzehnte hinweg mit anhaltendem Enthusiasmus verfolgte. Dazu gehört an erster Stelle der Bereich von Drama und Theater, zu dem er sich immer wieder – insbesondere 1756/57 im Briefwechsel über das Trauerspiel und 1767–69 in der Hamburgischen Dramaturgie (vgl. Kap. IV.4) – progammatisch äußerte, allerdings nie in Form einer umfassenden Poetik. Hinzu kommen gattungsbezogene Schriften zur Fabel und zum Epigramm sowie der Bereich der Wirkungsästhetik, der Lessings gesamtes Schaffen prägt. Als systematischster von Lessings dichtungstheoretisch angelegten Texten wird gemeinhin seine Fabelabhandlung angesehen, die er 1759 zusammen mit seinen Fabeldichtungen veröffentlichte, von denen sie poetologisch schwerlich zu entkoppeln ist (vgl. Kap. V.4), zumal Lessing selbst darauf hinwies, dass Fabeln und Fabeltheorie „als Dinge, die zu einer Zeit in einem Kopfe entsprungen, allzuviel von einander [entlehnen], als daß sie einzeln und abgesondert noch eben dieselben bleiben könnten“ (G V, 353). Seine Zerstreuten Anmerkungen über das Epigramm (1771), die systematisch bei weitem genauer ausgearbeitet sind, als es der Titel vermuten lässt, stehen ebenfalls in enger Beziehung zu Lessings Dichtungspraxis, in der das Epigramm einen recht hohen Stellenwert einnimmt (vgl. Kap. V.1). Gleichwohl lassen sie sich noch eher gesondert als Theorie lesen, weil Lessings Epigramme zwar durchaus die Eitelkeiten seiner Dichterkollegen satirisch aufs Korn nehmen, aber im Unterschied zu den Fabeln kaum poetologische Fragestellungen behandeln. Viele Autoren des 18. Jahrhunderts schätzten das Epigramm, galt es doch nicht nur als Probierstein für die geistreiche Kürze im Ausdruck, sondern bot auch Raum für spitzfindige Beobachtungen und Belehrungen, was die deutschsprachige Gattungsbezeichnung ,Sinngedicht‘ zu erkennen gibt. Verstanden als „Gattung intellektueller Schönheit“ (G V, 514), besaß das Epigramm auch für Lessing einen besonderen Reiz. In seinen Anmerkungen über das Epigramm trägt er mit kategorischer Geste eine Reihe von Merkmalen zusammen, welche die Gattung nach seiner Auffassung definieren. Von der Tradition der frühneuzeitlichen Regelpoetik setzt sich seine Herangehensweise allerdings insofern deutlich ab, als er nicht die herkömmlichen Normenbestände für die Gegenwart aufarbeitet, sondern von der Gattung selbst ausgeht, deren „Wesen“ (G V, 424) er zu bestimmen sucht. Ihm geht es darum, die inneren Gesetzmäßigkeiten festzustellen, welche das Epigramm jenseits von historisch wandelbaren Form- und Stilvorgaben ausmachen, ohne dabei die konkrete Textüberlieferung aus dem Blick zu verlieren. Dieser schwierige Spagat zwischen normativer Definition und historischer Erscheinungsvielfalt des Epigramms, den Lessing sich zur Aufgabe
3. Poetik und Ästhetik
macht, treibt ihn mitunter in gewisse Unstimmigkeiten. So beruft er sich einerseits auf zahlreiche unterschiedliche Quellen aus der Geschichte der Epigrammatik, darunter vor allem die griechische Sammlung Anthologia Graeca, den römischen Dichter Martial (1. Jh. n. Chr.), die neulateinische Epigrammatik des 16. Jahrhunderts sowie die deutschsprachige des Barock, vertreten vor allem durch Friedrich von Logau (1605–1655). Andererseits verengt er seinen Gattungsbegriff in der Theorie vollkommen auf den von Martial geprägten Typus, der zwar überaus scharfe Konturen aufweist, aber keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann. So zeichnen sich beispielsweise die Epigramme der Anthologia Graeca überwiegend durch (relative) Kürze aus, während eine unerwartete Wendung zwar häufig vorkommt, aber keineswegs zwingend erforderlich ist. Lessing hingegen fordert neben der Kürze nicht nur eine Pointe, sondern auch eine Zweiteilung des Aufbaus in „Erwartung“ und „Aufschluß“ (G V, 427), auf deren Verbindung das Epigramm beruhe. Er schreibt sich das Verdienst zu, als erster diese Notwendigkeit erkannt zu haben, während zuvor alle namhaften Gelehrten diesen grundlegenden Umstand übersehen hätten. In der kritischen Auseinandersetzung mit Julius Caesar Scaliger (1484–1558), François Vavasseur (1605–1681), Nicolas Boileau (1636–1711) und Charles Batteux (1713–1780) beanstandet er immer wieder die angeblich einseitige Definition der Gattung durch ihre Kürze. Indes gibt Lessing die Theorien seiner Vorgänger höchst unzuverlässig wieder (vgl. Woessner 1978, 75f.), denn tatsächlich findet sich der Gedanke einer zweigliedrigen Struktur auch in früheren Texten, in denen er nur anders bezeichnet wird. In Scaligers einflussreicher Dichtungslehre etwa, den Poetices libri septem (1561), spielt die Scharfsinnigkeit (lat.: argutia) eine zentrale Rolle, aus der sowohl die Bauweise (lat.: forma) als auch der Geist (lat.: anima) des Epigramms hergeleitet wird. Auch in etlichen Poetiken des 17. Jahrhunderts gilt die unverhoffte Wendung als gattungskonstituierend. Freilich ignoriert Lessing diese Tatsache nicht nur, um seine eigene Leistung bedeutsamer wirken zu lassen, sondern vor allem auch, weil ihm das überkommene argutiaIdeal für die Erklärung der epigrammatischen Pointe in seiner Zeit nur noch bedingt nützt. Gleichwohl scheint in seinem Umgang mit den „Quellen des Sinnreichen“ (G V, 451) noch die rhetorische Tradition durch, die unter anderem dabei hilft, Pointen zu gewinnen. Zu den bewährtesten Mitteln zählen z.B. das Aufmachen von Gegensätzen, Widersprüchen und Vergleichen, die Nutzung von Analogiebildungen und Doppeldeutigkeiten sowie nicht zuletzt der Rückgriff auf Wortspiele. Die bis dahin gängige Erzeugung neuer Sinnzusammenhänge durch erfinderische Zusammenfügungen von sprachlichen oder gedanklichen Versatzstücken wurde in der Aufklärungspoetik abgelehnt. Anstelle der kunstfertigen Herstellung von Bezügen in der Wirklichkeit wurde nunmehr deren anschauendes Erkennen zur Richtschnur für die Epigrammatik erhoben. So heißt es bereits in Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst, das Epigramm müsse „etwas Sinnreiches in sich haben, das dem Leser ein angenehmes Nachsinnen erwecket“ (Gottsched 1962, 681).
Aufarbeitung der Tradition
Rhetorische Mittel
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IV. Themen und Formen in Lessings Werk Funktion der Pointe
Moral und Unterhaltungswert
Sinnliche Erfahrung
Lessing, der sich diesem Verständnis anschließt, sieht in der überlebten Kombinatorik „bloß das Werk des Witzes“ (G V, 452). Gleichwohl hält er an dem Konzept der Pointe fest, was abermals zu argumentativen Spannungen in seiner Darstellung führt, verlangt er doch zum einen die ausgewogene Zusammenfügung der „Erwartung“ mit dem „Aufschluß“ und zum anderen eine verblüffende und damit gerade nicht übergangslos integrierbare Pointe. Er empfiehlt außerdem, die Erwartung gezielt in eine bestimmte Richtung zu lenken, um sie dann mit einem unverhofften Aufschluss zu durchkreuzen, und sei es nur um des rhetorischen Effektes willen – den er doch eigentlich zurückweist: „Wenn es denn aber nur selten in des Dichters Vermögen steht, seinen Leser mit einem wirklich neuen Aufschlusse zu überraschen: wer kann es ihm verdenken, wenn er seinem gemeinen Einfalle eine solche Wendung zu geben sucht, daß er wenigstens diese Eigenschaft des Neuen, das Überraschende, dadurch erhält?“ (G V, 453) Im Unterschied zu Gottsched, bei dem ein Epigramm „entweder jemandem zum Lobe, oder zum Tadel“ (Gottsched 1962, 685) gereichen sollte, weist Lessing der Moraldidaxe einen untergeordneten Stellenwert zu, denn das „Moralisieren“ sei „des Martials Sache gar nicht“ (G V, 429). Durch „allgemeine Lehrsätze“ und „kahle Moral“ in Versform lasse sich kein „wahres Sinngedicht“ erzeugen, das ein „Bild voller Leben und Seele“ (G V, 427) abgebe, sondern nur ein „gereimter Sinnspruch“ (G V, 428). Didaktische Ziele verfolgt das Epigramm als das „sinnreichste von allen kleinen Gedichten“ (G V, 451) freilich auch nach Lessings Verständnis, regt es doch durch seine Pointe zum Nachdenken an (vgl. Barner et al. 1998, 160ff.). Im Vordergrund steht dabei jedoch mehr der gedankliche Kitzel, der unverhofft zu interessanten Einsichten führt, als die gar zu ernsthafte Belehrung: „[D]as Sinngedicht ist ein Gedicht, in welchem, nach Art der eigentlichen Aufschrift, unsere Aufmerksamkeit und Neugierde auf irgend einen einzelnen Gegenstand erregt, und mehr oder weniger hingehalten werden, um sie mit eins zu befriedigen.“ (G V, 424) Demnach beruht die eigentümliche Wirkung des Epigramms auf einer dreistufigen „Folge von Empfindungen“ (G V, 427), namentlich Interesse, Anspannung und Genugtuung, was der Gattung eine gleichsam dramatische Qualität (vgl. Neumann 1969, 297f.) verleiht und zugleich eine Dynamisierung der Pointe mit sich bringt (vgl. Barner 1985, 365). Zur Wirkung des Epigramms gehört bei Lessing nicht zuletzt das Moment der sinnlichen Erfahrbarkeit, denn er setzt nicht nur „Aufschluß“ und „Erwartung“ in dasselbe Verhältnis wie ein Denkmal und seine Inschrift, sondern führt die Gattung insgesamt auf eine materielle Verankerung zurück: „Die eigentliche Aufschrift ist ohne das, worauf sie steht oder stehen könnte, nicht zu denken.“ (G V, 423) Aus der ursprünglichen Funktion als Inschrift auf Denkmälern und Kunstwerken folgert er, dass die Annäherung an das Epigramm zunächst nicht über den Verstand erfolge, sondern vielmehr mit einem „schmeichelhaften Eindrucke des schönen sinnlichen Gegenstandes“ beginne, der erst im Zusammenwirken mit dem „Vergnügen der befriedigten Wißbegierde“ in ein „drittes angenehmes Gefühl“ (G V, 426) münde. In diesem Modell einer durch sinnliche Erfahrungen gestützten Er-
3. Poetik und Ästhetik
kenntnis liegt ein hochgradig innovatives Verdienst von Lessings Theorie des Epigramms (vgl. Brenner 2000, 46), die in ihrer Normativität ansonsten etwas altmodisch anmutet. Als die Anmerkungen über das Epigramm erschienen, waren regelförmige Anleitungen zur Herstellung von Dichtkunst eigentlich schon längst aus der Mode gekommen. Denn bereits durch den Leipzig-Zürcher Literaturstreit (vgl. Kap. IV.2) erfolgte eine Werteverschiebung von vernunftgeleiteter Regelpoetik und Geschmacksurteil, wie Gottsched sie propagiert hatte, hin zur bis dahin wenig beachteten Ästhetik (gr. aisthesis: Wahrnehmung), die nach und nach die Rolle der kunsttheoretischen Leitdisziplin übernahm. Baute im Grunde schon Gottscheds Konzept des Geschmacksurteils auf ästhetischen Vorstellungen auf, so waren es Mendelssohn und allen voran Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762), welche wenig später die Aufwertung der Ästhetik zu einer eigenständigen philosophischen Disziplin so weit vorantrieben, dass man für den Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geradezu von einer ästhetischen Wende sprechen kann. Baumgartens in lateinischer Sprache geschriebene Abhandlung mit dem Titel Aesthetica (1750–58) stellt insofern einen Schlüsseltext für diesen Neuansatz dar, als die Ästhetik darin systematisch als eine vollgültige Philosophie der Kunst entworfen wird. Von dem frühaufklärerischen Philosophen Christian Wolff (1679–1754) übernahm Baumgarten die Unterscheidung zwischen einem niederen Erkenntnisvermögen, das über die Eindrücke der Sinnesorgane stimuliert werde, und einem oberen Erkenntnisvermögen, das auf der Verstandestätigkeit beruhe. Zwar ergibt sich aus der Einteilung in ,obere‘ und ,niedere‘ Erkenntnisschichten eine klare hierarchische Anordnung von sinnlicher und verstandesmäßiger Erkenntnis. Dessen ungeachtet vertritt Baumgarten jedoch die Ansicht, dass auch der Ästhetik im Sinne einer Logik der niederen Erkenntnisschichten große wissenschaftliche Bedeutung zukomme, weil metaphysische Wahrheit nur in der Verbindung beider Erkenntnisvermögen zugänglich werde. Aus diesem Grund begreift er die Ästhetik als „scientia cognitionis sensitivae“ (Baumgarten 2007, 10), d.h. als die Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis. Seine Zielsetzung bestand allerdings nicht in der Schaffung eines erkenntnistheoretisch gestützten Regelwerks zur Verfertigung von Kunstwerken, sondern darin, eine beschreibende Phänomenologie des Kunstschönen zu entwickeln. Indem er die Schönheit als „perfectio cognitionis sensitivae“ (lat.: Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis; Baumgarten 2007, 20) definiert, macht er ihre Erschaffung zur Aufgabe eines ästhetisch geschulten Publikums, durch dessen Wahrnehmung sie erst verwirklicht werde. Baumgartens Thesen stießen in den literaturtheoretischen Debatten der Folgezeit auf große Resonanz, galt es doch nun auszuloten, wie sich durch nicht-begriffliche Vorstellungen vollkommene Anschauungen im ästhetischen Medium bewirken ließen. Die literarischen Reflexe der neuen Sinnlichkeit reichen von der obligaten Genussbereitschaft in der anakreontischen Lyrik (vgl. Kap. V.1) bis hin zur Gefühlskultur der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang. Nicht zuletzt kommt der Ästhetik auch in Les-
Ästhetik als philosophische Disziplin
Ch. Wolff und A.G. Baumgarten
Folgen der neuen Sinnlichkeit
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IV. Themen und Formen in Lessings Werk
sings Schaffen eine zentrale Bedeutung zu, denn nicht nur seine spezifischen Neuerungen auf den Gebieten von Drama und Theater (vgl. Kap. IV.4) verdanken sich wirkungsästhetischen Erwägungen, sondern auch
Abb. 3: Die Laokoon-Gruppe im Restaurierungszustand, wie Lessing sie in Rom wahrscheinlich gesehen hat. Chromotafel von einem unbekannten Künstler (aus Brockhaus Konversations-Lexikon, 14. Aufl., Leipzig, Berlin u. Wien 1902, Bd. 10, nach 964).
3. Poetik und Ästhetik
seine Abgrenzung der Künste, die er in Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) unternimmt – modern ausgedrückt, könnte man diesen Text als komparative Medientheorie bezeichnen. Der Titel Laokoon bezieht sich auf eine antike Marmorskulptur (1. Jh. n. Chr.), die zwar ihrerseits nur die Kopie einer älteren Bronzeplastik (2. Jh. v. Chr.) darstellt, aber in den kunsttheoretischen Debatten des 18. Jahrhunderts großes Aufsehen erregte. Sie zeigt den trojanischen Priester Laokoon und seine beiden Söhne im Todeskampf mit einer Giftschlange, welche die griechische Kriegsgöttin Athene geschickt hatte, um den Priester dafür zu strafen, dass er den Betrug des Trojanischen Pferdes aufgedeckt hatte. Die Marmorskulptur befindet sich seit 1506 in den Vatikanischen Museen, wo sie seither von zahlreichen Bildungsreisenden in Augenschein genommen wurde, und in Deutschland besaß jede ernst zu nehmende Antikensammlung einen Gipsabguss oder wenigstens eine Zeichnung davon. Ob Lessing bereits vor dem Verfassen seines Laokoon eine Abbildung der Statuengruppe gesehen hat oder sie nur sekundär aus Beschreibungen kannte, ist nicht bekannt. Nach Rom selbst kam er jedenfalls erst rund ein Jahrzehnt nach dem Erscheinen seiner Abhandlung (vgl. Kap. III.1), mit dem damals verbindlichen, kunst- und altertumsorientierten Reiseführer Historisch-kritische Nachrichten von Italien (3 Bde., 1770/71) von Johann Jacob Volkmann (1732–1803) im Gepäck. Eine etwaige Besichtigung der für seine Arbeit überaus relevanten Skulptur erwähnt er in seinen Reisenotizen allerdings mit keiner Silbe. Für diese Merkwürdigkeit konnte die Lessing-Forschung bislang noch keine abschließend zufriedenstellende Erklärung finden – es wurde sogar schon spekuliert, Lessing habe möglicherweise sehr wohl entsprechende Aufzeichnungen angefertigt, die aber verloren gegangen seien (vgl. Wiedemann 1997, 217). Für die Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts wurde die Deutung der Skulptur im Vergleich mit der literarischen Überlieferung derselben Episode in Vergils Heldenepos Aeneis (1. Jh. v. Chr.) zum Musterfall für das Problem der Naturnachahmung (lat.: imitatio, gr.: mimesis), welche der Dichtung und der bildenden Kunst gleichermaßen abverlangt wurde. Die Tragweite der einschlägigen Kontroversen reicht weit über die Altertumswissenschaft hinaus, denn der „Streit um die Antike“ war insofern ein „Stellvertreterkrieg um das richtige Verständnis von Aufklärung“ (Brenner 2000, 160), als darin die Geltung der antiken Normenbestände für die künstlerische Produktion der Gegenwart auf den Prüfstand gestellt wurde. Daher lässt sich Lessings Laokoon, bei dem es sich nicht zuletzt um eine Reaktion auf die Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst (1755) des Archäologen Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) handelt, auf mehrere unterschiedliche Weisen lesen: als antiquarische Abhandlung, als Streitschrift, als sprachliches Kunstwerk sowie als medientheoretischer Entwurf, von dessen ursprünglich geplanten drei Teilen jedoch nur einer veröffentlicht wurde. Lessing setzt zu der im Laokoon unternommenen Grenzziehung zwischen bildender Kunst und Poesie an, indem er zunächst die Wirkungsweisen beider Kunstsparten auf ihre gemeinsamen Prinzipien zurückführt, na-
Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766)
Antiquarische Debatten
Lessings Wirkungsästhetik
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IV. Themen und Formen in Lessings Werk
Mediale Grenzen der Darstellbarkeit
Zeit und Raum in den Künsten
mentlich auf die Illusion als Leistung der Einbildungskraft sowie auf das Gefallen an der Illusion als Leistung der ästhetischen Urteilskraft: „Beide […] stellen uns abwesende Dinge als gegenwärtig, den Schein als Wirklichkeit vor; beide täuschen, und beider Täuschung gefällt.“ (G VI, 9) Demnach treffen sich die Künste in der Wirkung, „und ihre Werke werden einander alsdenn am ähnlichsten, wenn die Wirkung derselben gleich lebhaft ist“ (G VI, 125). Jenseits der Wirkungsabsicht, in der er bildende Kunst und Poesie auf einen Nenner bringt, bestimmt Lessing die Berührungspunkte, Möglichkeiten und Grenzen der Künste mit Blick auf deren spezifische mediale Bedingungen, d.h. er untersucht, was die Sprache einerseits sowie Farben und Formen andererseits als ästhetische Ausdrucksmittel jeweils besonders gut zu leisten vermögen. Ausgehend von einem Vergleich antiker Schmerzdarstellungen in der Poesie und in der bildenden Kunst versucht er zu erklären, warum Laokoon als Marmorfigur nicht schreit, sondern den Mund nur leicht öffnet. Wurde diese erstaunliche Tatsache sonst zumeist durch die Beherrschung der menschlichen Leidenschaften begründet, die man einem edlen Charakter zuschrieb, so entkräftet Lessing die ethische Lesart mit dem Hinweis darauf, dass extreme Gefühlswerte bei antiken Heldenfiguren in der Dichtung durchaus anzutreffen seien. Er macht vielmehr das Medium selbst für den verhaltenen Gefühlsausdruck des Bildwerks verantwortlich. In der Plastik nämlich verbinde sich die Nachahmung eines Schreis rein materialbedingt mit allzu großer Hässlichkeit, weil ein dunkles Loch im Bildnis entstehe: „Die bloße weite Öffnung des Mundes […] ist in der Malerei ein Fleck und in der Bildhauerei eine Vertiefung, welche die widrigste Wirkung von der Welt tut.“ (G VI, 23) Ausgehend von der grundlegenden Materialverschiedenheit der Künste fordert Lessing eine formale Abstimmung der Darstellungsmedien und des darzustellenden Gegenstandes, um die stärksten ästhetischen Wirkungen zu erzielen. Da sprachliche Kunstwerke aus einer Aneinanderreihung von Wörtern bestünden, eigneten sie sich in besonderer Weise dazu, die zeitliche Struktur von Handlungen auszudrücken, während die bildende Kunst nur Momentaufnahmen zu bieten vermöge, so dass sie vor allem die räumliche Anordnung von Objekten abbilden könne. So heißt es im Laokoon: „Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nämlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen.“ (G VI, 102f.)
Handlungen statt Beschreibungen
Auch wenn die Sprache ihrer Beschaffenheit nach am besten dazu tauge, Ereignisfolgen auf der Zeitachse abzubilden, sei es, so führt Lessing weiter
3. Poetik und Ästhetik
aus, mit ihrer Hilfe in der Poesie sehr wohl möglich, die Illusion des Gleichzeitigen zu erwecken. Denn die rezipientenseitige Einbildungskraft, deren theoretische Modellierung in der Forschung wiederholt als Hauptthema des Laokoon hervorgehoben wurde (vgl. Wellbery 1984, 218; Mülder-Bach 1992, 29), sei in der Lage, das Nacheinander der Wörter geistig zu einem Gesamteindruck zusammenzufügen. Das besondere darstellerische Vermögen der Poesie liegt nach Lessing in der „Verbindung mehrerer Züge, durch die uns der Dichter seinen Gegenstand so sinnlich macht, daß wir uns dieses Gegenstandes deutlicher bewußt werden, als seiner Worte“ (G VI, 100). Gleichwohl empfiehlt er für die Dichtkunst, in erster Linie Handlungen darzustellen, aber auf langwierige Beschreibungen zugunsten der Nennung weniger charakteristischer Eigenschaften zu verzichten. Damit weist er ein verbreitetes Missverständnis der Horazischen Formel des ut pictura poesis (lat.: die Poesie ist wie ein Gemälde) zurück, die keineswegs bildhafte, also ausführlich beschreibende Qualitäten in der Dichtkunst vorschreibt, sondern nur die Wirkungsweisen von Bildern und Gedichten vergleicht (vgl. Buch 1972, 26–63). Da die bildende Kunst im Unterschied zur Poesie nur einen einzigen Augenblick einfangen könne, müsse dieser besonders sorgfältig ausgewählt werden, weil nur ein bestimmter, „fruchtbarer“ Augenblick anschaulich wirke: „Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben.“ (G VI, 25f.) Um der Einbildungskraft freien Raum zu lassen, kann deshalb nach Lessing auch die Zurücknahme des Gefühlsausdrucks ästhetische Spannung erzeugen, so dass das „Sehen zum Denken anregt“ (Allert 2000, 379). Denn als fruchtbar erweise sich nicht unbedingt der Augenblick des höchsten Affekts, sondern vielmehr derjenige, der die Einbildungskraft am stärksten anrege: „Wenn Laokoon also seufzet, so kann ihn die Einbildungskraft schreien hören; wenn er aber schreiet, so kann sie von dieser Vorstellung weder eine Stufe höher, noch eine Stufe tiefer steigen, ohne ihn in einem leidlichern, folglich uninteressantern Zustande zu erblicken.“ (G VI, 26) Im Unterschied zum Maler und zum Bildhauer sei der Dichter durch sein Ausdrucksmedium nicht auf die Darstellung eines ausgewählten Moments beschränkt (vgl. Wellbery 1984, 168f.), da er vollständige Handlungssequenzen wiedergebe, in denen auch Darstellungen von Zügen möglich seien, welche einzeln die „Einbildung des Zuhörers beleidigen“ (G VI, 29) würden. Infolge der Einbettung in eine fortlaufende Handlung würde ein derartiger Zug jedoch „entweder durch das Vorhergehende so vorbereitet, oder […] durch das Folgende so gemildert und vergütet, daß er seinen einzeln [!] Eindruck verlieret, und in der Verbindung die trefflichste Wirkung von der Welt tut“ (ebd.). Trotz ihrer produktiven Offenheit tritt in Lessings Argumentation eine gewisse Voreingenommenheit zutage, zielt sie doch unter anderem darauf, die Poesie als höherwertige Kunst herauszustellen und ihr dementsprechend einen größeren Wirkungsbereich beizumessen als der bildenden Kunst. Während bei der bildenden Kunst, die eine unmittelbare sinnliche
Der ,fruchtbare Augenblick‘
Die Poesie als ,weitere Kunst‘
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IV. Themen und Formen in Lessings Werk
Wahrnehmung des Dargestellten erlaube, überwiegend die äußere Anschauung gefordert werde, rege die Poesie aufgrund ihrer abstrakteren Form der Täuschung vor allem die innere Einbildungskraft an. Daher zieht Lessing aus der „Geistigkeit ihrer Bilder, die in größter Menge und Mannigfaltigkeit neben einander stehen können […], wie es wohl die Dinge selbst, oder die natürlichen Zeichen derselben in den engen Schranken des Raumes oder der Zeit tun würden“ (G VI, 52), die Schlussfolgerung, dass „die Poesie die weitere Kunst ist; daß ihr Schönheiten zu Gebote stehen, welche die Malerei nicht zu erreichen vermag“ (G VI, 68) und bricht damit eine Lanze für sein eigenes Metier – eine kalkulierte Parteilichkeit, die ebenso typisch für Lessings theoretischen Schriften ist wie deren überaus selektive Argumentationsstrukturen.
4. Programmatisches zu Drama und Theater (Komödientheorie, Briefwechsel über das Trauerspiel, Hamburgische Dramaturgie) Lessings Innovationen
Rührende Lustspiele
Obgleich Lessings Schriften zu Drama und Theater ebenso unsystematisch aufgebaut sind wie seine übrigen theoretischen Beiträge, kommt gerade diesem Bereich ein besonders hoher Stellenwert zu, weil darin richtungweisende Neuerungen für die deutschsprachige Bühne des 18. Jahrhunderts zur Sprache kommen, darunter vor allem die gemischten Charaktere, der Bruch mit der Ständeklausel und das bürgerliche Trauerspiel insgesamt. War Lessing mit seinen frühen Stücken, darunter z.B. Der junge Gelehrte (vgl. Kap. V.2) noch dem Modell der nach ihrem Entstehungsort im Leipziger Umfeld Gottscheds als ,sächsisch‘ bezeichneten Typen- oder Verlachkomödie gefolgt, so entwickelte er mit seinen späteren Stücken und Abhandlungen eine selbständige Lustspielauffassung. Sie überwand sowohl das regelhafte Lustspiel der 1730er Jahre als auch das sog. rührende Lustspiel, das in Deutschland während der 1740er Jahre nach dem Vorbild der französischen comédie larmoyante (frz.: weinerliches Lustspiel) in Mode gekommen war. Mit Stücken wie Das Loos in der Lotterie (1746) oder Die Zärtlichen Schwestern (1747) führte vor allem Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769) diesen Lustspieltypus in Deutschland ein. Er kennzeichnet sich durch bürgerliches Personal, durch Verhaltensweisen, die als Tugendexempel dienen können, sowie durch ihre sentimentale Affektwirkung. Im Unterschied zur Typenkomödie zielt das rührende Lustspiel nicht so sehr auf die Vernunfterkenntnis als vielmehr darauf, Mitgefühl zu erzeugen (vgl. Alt 2007, 232ff.). Aus Interesse an diesem Gegenentwurf zur Typenkomödie fertigte Lessing deutschsprachige Übersetzungen von zwei programmatischen Texten über das rührende Lustspiel an, die er mit Anmerkungen versah und 1754 in seiner Zeitschrift Theatralische Bibliothek veröffentlichte. Dabei handelt es sich zum einen um die Reflexions sur le Comique-larmoyant (1749; frz.: Reflexionen über die weinerliche Komik) von Pierre Mathieu Martin de
4. Programmatisches zu Drama und Theater
Chassiron und zum anderen um die Untersuchung Pro comoedia commovente (1751; lat.: für das rührende Lustspiel) von Gellert. Letzterer bot außerdem den Anlass für Lessings Schrift Des Hrn. Prof. Gellerts Abhandlung für das rührende Lustspiel (1754), in der es um die Wirkungsmöglichkeiten des rührenden Lustspiels geht, das, so Lessing, „so zu rühren und so anzutreiben“ vermöge, dass es den Zuschauern „so gar Tränen auspresse“ und daher als „abgeschmackte Nachäffung des Trauerspiels getadelt“ (G IV, 37) werde. Um die an sich regelwidrige Verbindung von Komik und Tragik für seinen Gebrauch rechtfertigen zu können, holt er aus bis zu dem antiken Dichtungstheoretiker Aristoteles (384–322 v. Chr.). Zwar ist nur dessen Buch über die Tragödie überliefert, aber manches lässt sich daraus mittelbar auch für die Komödie erschließen. Lessing versucht dies für die prinzipielle Frage, welche Art von moralischen Fehlern zum Gegenstand des Lustspiels gemacht werden soll, dem traditionell die Aufgabe zu kommt, menschliches Fehlverhalten zu maßregeln: „Es erhellt nämlich daraus, daß sie [sc. die Komödie] sich mit solchen Lastern beschäftigen müsse, welche niemandem ohne Schande, obschon ohne seinem und ohne andrer Schaden, anhängen können; kurz, solche Laster, welche Lachen und Satyre, nicht aber Ahndung und öffentliche Strafe verdienen […].“ (G IV, 38) In diesem Punkt deckt sich Lessings Lustspielverständnis mit dem Gottscheds, der denselben Gedanken vorbringt: „Die Bestrafung der Spitzbuben nämlich, ist kein Werk der Poeten, sondern der Obrigkeit. Die Komödie will nicht grobe Laster, sondern lächerliche Fehler der Menschen verbessern.“ (Gottsched 1962, 645) Aus Lessings begrifflichen Unterscheidungen wird ersichtlich, dass er sich zunächst weniger gegen die hergebrachte moraldidaktische Belehrungsabsicht wendet als gegen allzu tränenselige Erscheinungsformen des rührenden Lustspiels. Auf die Gewichtung der tragischen Anteile im Verhältnis zu den komischen kommt es ihm daher bei der Bestimmung der Komödie an: „Will man eine solche darunter verstanden haben, welche hier und da rührende und Tränen auspressende Szenen hat; oder eine solche, welche aus nichts als dergleichen Szenen besteht?“ (G IV, 54) Die zweite dieser beiden Ausprägungen weist Lessing rundheraus zurück, weil man darin weder lachen noch lächeln könne, sondern nur „durchgängig weich gemacht“ (ebd.) werde, was nicht dem ursprünglichen Sinn der Komödie entspreche:
Moraldidaxe in der Komödie
Lachen und Weinen
„Man kann fragen, ist ein solches Stück dasjenige, was man von je her unter dem Namen Komödie verstanden hat? Und darauf antwortet Hr. Gellert selbst Nein. Ist es aber gleichwohl ein Schauspiel, welches nützlich und für gewisse Denkungsarten angenehm sein kann? Ja; und dieses kann der französische Verfasser [sc. Chassiron] selbst nicht gänzlich in Abrede sein.“ (G IV, 55) Über die erste, tragikomische Spielart hingegen behauptet er, sie sei völlig unstreitig anerkannt, womit er freilich eine bis in die Antike zurückreichen-
Die ,wahre‘ Komödie
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IV. Themen und Formen in Lessings Werk
de Debatte über dramatische Mischformen ungeniert verschweigt: „Wider die erste Gattung, in welcher Lachen und Rührung, Scherz und Ernst abwechseln, ist offenbar nichts einzuwenden. Ich erinnere mich auch nicht, daß man jemals darwider etwas habe einwenden wollen.“ (G IV, 54) Ähnlich apodiktisch wie in seiner Bestimmung des Epigramms (vgl. Kap. IV.3) geht Lessing auch in seiner Lustspieltheorie vor, wenn er den Anspruch erhebt, festlegen zu können, worin eine ,wahre‘ Komödie bestehe: „Ja, ich getraue mir zu behaupten, daß nur dieses allein wahre Komödien sind, welche so wohl Tugenden als Laster, so wohl Anständigkeit als Ungereimtheit schildern, weil sie eben durch diese Vermischung ihrem Originale, dem menschlichen Leben, am nächsten kommen.“ (G IV, 55) Gemischte Charaktere
Mitlachen statt Verlachen
Bei aller Vollmundigkeit liegt in diesem Passus die wirkungsästhetische Sprengkraft von Lessings Komödienauffassung begründet, nach der die Stücke ein moralisches Abbild der vielschichtigen Erfahrungswirklichkeit sein sollen, damit sie für den Zuschauer plausibel werden. Da eine „Gesellschaft von lauter Toren, beinahe eben so unwahrscheinlich, als eine Gesellschaft von lauter Klugen“ (G IV, 55) sei, könne das nur Tugendhafte auf der Bühne ebenso wenig wirken wie das nur Lasterhafte. Damit rückt Lessing in zweierlei Hinsicht von Gottsched und seinem strengen Schematismus von Tugenden und Lastern ab. Zum einen zielt er nicht mehr auf moralische Eindeutigkeit ab, sondern fordert gemischte Charaktere, die den Zuschauer nicht nur belehren, sondern auch berühren. Zum anderen wertet er die Erheiterung, die Gottsched nur als Mittel zum Zweck gelten lässt, zum Wesensmerkmal der Komödie auf: „[D]as Possenspiel will nur zum Lachen bewegen; das weinerliche Lustspiel will nur rühren; die wahre Komödie will beides.“ (G IV, 56) Im 28. und 29. Stück der Hamburgischen Dramaturgie (1767) arbeitet Lessing diesen Ansatz weiter aus, indem er sich von der sächsischen Verlachkomödie, nach der man „nur über verbesserliche Untugenden lachen sollte“ (G IV, 362) loslöst zugunsten einer Komödie, die zum Mitlachen über jedweden „Kontrast von Mangel und Realität“ (ebd.) einlädt. Damit schult die Komödie zwar nach wie vor das moralische Empfinden, darüber hinaus aber vor allem die zwischenmenschliche Aufmerksamkeit: „Ihr wahrer allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen selbst; in der Übung unserer Fähigkeit das Lächerliche zu bemerken; es unter allen Bemäntelungen der Leidenschaft und der Mode, es in allen Vermischungen mit noch schlimmern oder mit guten Eigenschaften, sogar in den Runzeln des feierlichen Ernstes, leicht und geschwind zu bemerken […].“ (G IV, 363) Als Dramatiker erprobte Lessing diese Überlegungen mit seiner Komödie Minna von Barnhelm (vgl. Kap. V.5) aus demselben Jahr, was insbesondere in der ambivalenten und dadurch lebensnahen Figurenzeichnung greifbar wird (vgl. Hinck 1965, 299). Allerdings erscheint es nicht sinnvoll, seine Theorie bis ins letzte an der Praxis messen zu wollen, weil Lessing zwar klare Positionen vertrat, denen er sich jedoch nicht gänzlich verpflichtet fühlte, was sich durch seine Stellung am Übergang von der Regel- zur Genieästhetik erklären lässt.
4. Programmatisches zu Drama und Theater
Die Nachvollziehbarkeit für den Zuschauer stellt auch für Lessings Tragödienauffassung einen Kerngedanken dar, der sich bereits in der für damalige Verhältnisse außergewöhnlichen Machart seines frühen Trauerspiels Miß Sara Sampson (1755) abzeichnet. So verkörpert keine der Figuren ausschließlich gute oder schlechte Eigenschaften, und der Konflikt ergibt sich anders als zuvor nicht aus sog. Haupt- und Staatsaktionen, d.h. aus historisch-politischen Stoffen, sondern aus einem bürgerlich-privaten Wertediskurs. Dieses Vorgehen erforderte einigen Erklärungsaufwand, den Lessing über etliche Jahre in der üblichen disparaten Weise betrieb. Wichtige Impulse dafür boten Moses Mendelssohns Briefe über die Empfindungen (1755) und Friedrich Nicolais Abhandlung vom Trauerspiele (1757), die sich beide mit wirkungsästhetischen Aspekten der Tragödie befassen. Während seine Freunde die Wirkung auch in dem zu dritt geführten Briefwechsel über das Trauerspiel (1756/57) wieder vorrangig an den Kategorien der Fallhöhe und der Bewunderung festmachen, hält Lessing ihnen entgegen, es komme einzig und allein auf das Mitleid an, das am leichtesten empfunden werde, wenn die Figuren den Zuschauern nach ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihren Problemlagen nicht allzu fern stünden. Als menschlicher Zentralaffekt diene das Mitleid nicht nur dem ästhetischen Genuss, sondern auch dem gemeinen Nutzen, was aus der folgenden, vielzitierten Äußerung hervorgeht: „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes tut, tut auch dieses, oder – es tut jenes, um dieses tun zu können.“ (G IV, 163) Genauere Einlassungen zur Mitleidsästhetik finden sich in der Hamburgischen Dramaturgie (1767–69), die als theaterbezogene Form der Literaturkritik (vgl. Kap. IV.2) freilich nur versprengte Erörterungen von poetologisch relevanten Teilaspekten enthält. Diese lassen sich zwar benennen, aber schwerlich zu einer geschlossenen Theorie zusammensetzen. Zudem fließen zahlreiche gedankliche Versatzstücke in die Argumentation ein – häufig, ohne dass Lessing ihre Herkunft bekanntgeben würde. Zu den wichtigsten Fremdanleihen gehört zum einen das rationalistisch grundierte, dabei jedoch um empfindsame, insbesondere mitleidsfähige Seiten erweiterte Menschenbild, wie es allen voran von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) vertreten wurde (vgl. Schings 1980, 38). Zum anderen werden in Lessings Konzept der Mitleidsfähigkeit Haltungen erkennbar, die sich aus der schottischen Moralphilosophie um Shaftesbury (Anthony Ashley Cooper, 3rd Earl of Shaftesbury; 1671–1713) und Francis Hutcheson (1694–1747) speisen. Im diesem Kontext wurde die Annahme eines angeborenen Seelenvermögens (moral sense) vertreten, welches dazu befähige, moralische Urteile zu fällen. Weil dieser moralische Sinn wie alle anderen Sinneswahrnehmungen auf Erfahrungen beruhe und nicht auf Wertungen, träfen verschiedene Menschen oft dieselben moralischen Urteile, aus denen ein verallgemeinerbares Tugendempfinden erwachse. Um diese aktuellen anthropologischen Errungenschaften der Aufklärung dramenästhetisch fruchtbar machen zu können, erläutert Lessing, wie er
Figurenkonzeption im Trauerspiel
Mitleidsästhetik
Nachahmung im Drama
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IV. Themen und Formen in Lessings Werk
das Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit verstanden wissen möchte, das traditionell durch die Nachahmung (gr. mimesis) bestimmt wird. Er schränkt ein, dass die Schauspielkunst nicht danach streben solle, die Wirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität abzubilden, denn das überfordere den Zuschauer. Vielmehr gelte es, einzelne aussagekräftige Bereiche herauszugreifen: „In der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem, alles verändert sich eines in das andere. Aber nach dieser unendlichen Mannichfaltigkeit ist sie nur ein Schauspiel für einen unendlichen Geist. Um endliche Geister an dem Genusse desselben Anteil nehmen zu lassen, mußten diese das Vermögen erhalten, ihr Schranken zu geben, die sie nicht hat; das Vermögen abzusondern, und ihre Aufmerksamkeit nach Gutdünken lenken zu können.“ (G IV, 557) Die ,poetische‘ Wahrheit
Ständeklausel und Fallhöhe
Damit biete das Drama eigene, gewissermaßen poetische Wahrheit, die nicht den historisch genauen Einzelfall wiedergibt, sondern eine übergeordnete Abstraktion, die mit künstlerischen Mitteln das Allgemeine im Besonderen sichtbar macht: „Wir sehen also, daß der Dichter, indem er sich von der eigenen und besondern Wahrheit entfernet, desto getreuer die allgemeine Wahrheit nachahmet.“ (G IV, 663) Mit dieser Wahrheit verbinden sich bei Lessing noch herkömmliche moralische Belehrungsabsichten, die er allerdings schon in einen zukunftweisenden Geniebegriff einbindet. So schreibt er, „mit Absicht dichten, ist das, was das Genie von den kleinen Künstlern unterscheidet, die nur dichten um zu dichten“, namentlich mit der „Absicht uns zu unterrichten, was wir zu tun oder zu lassen haben“ (G IV, 388f.). Entscheidend für die Wirkung der Tragödie ist für Lessing die Nähe zum Zuschauer. Während der Begriff ,tragisch‘ umgangssprachlich oft gleichbedeutend mit ,schlimm‘ verwendet wird, meint er im engeren Sinne, dass der sittlich makellose Held trotz bester Absichten in eine ausweglose Situation gerät, die letztlich in die Katastrophe, d.h. in seinen Untergang, führt. Der Zuschauer vollzieht diese Eskalation nach, kann aber hinterher erleichtert aufatmen, weil er selbst diesem Schicksal entgeht. Ausgehend von diesem Tragikverständnis lehnt Lessing die Ständeklausel ab, nach der nur gesellschaftlich herausgehobenes Personal die nötige Fallhöhe für die Tragödie biete, und fordert gemischte Charaktere anstelle von moralisch idealisierten Helden, was er 1772 in Emilia Galotti (vgl. Kap. V.6) auch praktisch umsetzte. Mitleid könne, so begründet er, nur empfunden werden, wenn man es für möglich halte, dass einen das tragische Verhängnis auch selbst treffen könnte: „Diese Möglichkeit aber finde sich alsdenn, und könne zu einer großen Wahrscheinlichkeit erwachsen, wenn ihn [sc. den Helden] der Dichter nicht schlimmer mache, als wir gemeiniglich zu sein pflegen, wenn er ihn vollkommen so denken und handeln lasse, als wir in seinen Umstän-
4. Programmatisches zu Drama und Theater
den würden gedacht und gehandelt haben, oder wenigstens glauben, daß wir hätten denken und handeln müssen: kurz, wenn er ihn mit uns von gleichem Schrot und Korne schildere. Aus dieser Gleichheit entstehe die Furcht, daß unser Schicksal gar leicht dem seinigen eben so ähnlich werden könne, als wir ihm zu sein uns selbst fühlen: und diese Furcht sei es, welche das Mitleid gleichsam zur Reife bringe.“ (G IV, 580f.) Die Doppelung von Mitleid und Furcht, mit der Lessing vor allem im 74. bis 78. Stück der Hamburgischen Dramaturgie argumentiert, führt er auf Aristoteles als wichtigste Autorität für die neuzeitliche Dramentheorie zurück. Dieser beschreibt die Wirkung der Tragödie auf den Zuschauer als Katharsis (gr.: Reinigung), die aus einer Erregung der Affekte von eleos und phobos im Bühnengeschehen hervorgehe. Aus dem Griechischen lassen sich diese Begriffe am ehesten übersetzen durch ,Jammer‘ und ,Schaudern‘, wovon Lessing, der an sich über profunde altphilologische Kenntnisse verfügte, gezielt abwich, um seine eigene Theorie der Katharsis begründen zu können. Seiner Meinung nach gingen alle bisherigen Deutungen auf Übersetzungsfehler zurück und seien mithin unzutreffend. Für ihn stellt das Mitleid den zentralen tragischen Affekt dar, dem er die Furcht, verstanden als (hypothetisches) Selbstmitleid, unterordnet:
Furcht und Mitleid
„Er [sc. Aristoteles] spricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und seine Furcht ist durchaus nicht die Furcht, welche uns das bevorstehende Übel eines andern, für diesen andern, erweckt, sondern es ist die Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es ist die Furcht, daß die Unglücksfälle, die wir über diese verhänget sehen, uns selbst treffen können; es ist die Furcht, daß wir der bemitleidete Gegenstand selbst werden können. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.“ (G IV, 578f.) Wurde die aristotelische Katharsis je nach Auslegungstradition als Befreiung von den Affekten oder als Läuterung der immer noch vorhandenen Affekte verstanden, deutet Lessing das Konzept radikal um in eine „Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten“ (G IV, 595), die durch das Mitleid als schlechthin tugendhafte Empfindung bewerkstelligt würde. Lessings Interesse an der Bühne richtete sich nicht nur auf das Drama, also auf spiel- und lesbare Texte und ihre theoretische Begründung, sondern auch auf die Schauspielkunst und auf das Theater als Aufführungsort. Sein Engagement für ein deutsches Nationaltheater knüpft an die Bemühungen Gottscheds an, der sich bereits im Leipzig der 1730er Jahre in enger Zusammenarbeit mit der Theatertruppe von Friederike Caroline Neuber (1697–1760) für eine regelmäßige deutsche Schauspielkunst eingesetzt hatte. Gottsched bemängelte damals ein Auseinanderklaffen von künstlerisch anspruchsvoller Bühnendichtung einerseits und einer bis zur Beliebigkeit freien Aufführungspraxis andererseits. Er forderte textgetreue Aufführungen
Katharsis
Theaterreformen
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IV. Themen und Formen in Lessings Werk
J.E. Schlegel
Das Hamburger Nationaltheater
in metrisch exakten Versen anstelle von Stegreifimprovisationen sowie die Einhaltung der im Text vorgesehenen Akt- und Szenenzahlen anstelle von beliebigen Erweiterungen. Weil die Bühne nicht der vordergründigen Unterhaltung, sondern in erster Linie der Erziehung dienen sollte, verbot er außerdem sowohl spektakuläre Greuelszenen als auch die als Hanswurst oder Pickelhering bekannte Figur, deren situationskomische Späße beim breiten Publikum großen Anklang fanden. Während es z.B. in Frankreich mit der 1680 in Paris eingerichteten Comédie Française längst ein stehendes Theater gab, dominierte in Deutschland außerhalb des Hoftheaters nach wie vor das Spiel der Wanderbühne. In der Folgezeit artikulierten auch deutsche Theaterleute zunehmend das Bedürfnis nach einem institutionalisierten Rahmen für die nationale Bühne. Denn das Hoftheater bot keinen geeigneten Raum zur Austragung genuin bürgerlicher Wert- und Gewissenskonflikte, und die Wanderbühne passte sich nach Spielplan und Inszenierungsgepflogenheiten allzu sehr den Erwartungen und Wünschen des zahlenden Publikums an. Somit galt es, stehende Theater mit festen Ensembles zu etablieren, die aus öffentlichen Geldern finanziert werden und unter der künstlerischen Leitung von fachkundigen Gelehrten statt von Prinzipalen stehen sollten, denen es vorrangig auf die wirtschaftliche Seite des Theaterbetriebs ankam. Ziel war es, auf diese Weise eine von Landes- und Standesgrenzen unabhängige Bühne mit nationalem Spielplan zu schaffen. Johann Elias Schlegel (1718–1749) verfasste mit seinem Schreiben von Errichtung eines Theaters in Kopenhagen und den Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters (beide 1747) zwei wichtige Programmschriften für das deutsche Nationaltheater. Diese Texte blieben zwar damals ungedruckt, wurden aber rund zwei Jahrzehnte später für das Hamburger Nationaltheater ausgewertet, denn auch Mitte der 1760er Jahre hatte sich die Situation kaum verändert. Die sog. ,Hamburgische Entreprise‘, an der Lessing sich mit großen Hoffnungen maßgeblich beteiligte, sollte Abhilfe schaffen. In der Winterspielzeit gründete der Prinzipal Conrad Ackermann (1712–1771) ein Schauspielhaus am Gänsemarkt in Hamburg. Als die Besucherströme nach anfänglichen Erfolgen nachließen, verfasste der Bühnendichter und Dramentheoretiker Johann Friedrich Löwen (1727–1771) eine Streitschrift mit dem Titel Vorläufige Nachricht von der auf Ostern 1767 vorzunehmenden Veränderung des Hamburgischen Theaters (1766), mit der er sich programmatisch für ein Nationaltheater aussprach. Er brachte ein Konsortium von finanzkräftigen Hamburger Bürgern zusammen, welches das marode Ackermannsche Theater im Oktober 1766 übernahm. Die Aufgaben der Intendanz wurden aufgeteilt zwischen Löwen einerseits, der für künstlerische Fragen zuständig war, und dem Schauspieldirektor Abel Seyler (1730–1800) andererseits, der die kaufmännische Verwaltung übernahm. Löwen gewann Lessing als Aushängeschild für dieses Projekt. Da sich Lessing ebenfalls an den offensichtlichen Missständen im Theaterwesen störte, schien ihm die Gelegenheit günstig, zur allgemeinen Schulung des kritischen Geschmacksurteils beizutragen. So schreibt er in der Ankündigung seiner eigens dafür ins Leben gerufenen Wochenschrift, eben der Ham-
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burgischen Dramaturgie: „Indes ist es gut, wenn das Mittelmäßige für nichts mehr ausgegeben wird, als es ist; und der unbefriedigte Zuschauer wenigstens daran urteilen lernt. Einem Menschen von gesundem Verstande, wenn man ihm Geschmack beibringen will, braucht man es nur auseinander zu setzen, warum ihm etwas nicht gefallen hat.“ (G IV, 233) Die Aufführungen der ersten vierzehn Spielwochen flankierte Lessing mit kritischen Besprechungen, bis sich seine Hamburgische Dramaturgie aufgrund der Befangenheit als Kritiker gegenüber dem eigenen Theatervorhaben inhaltlich verselbständigte. Zunehmend befasste sich Lessing mit grundsätzlichen dramentheoretischen Überlegungen, die er anhand von Bühnenstücken aus ganz anderen Zusammenhängen erörterte, wodurch die Textfolge zwar einen hohen Stellenwert innerhalb der deutschsprachigen Dramentheorie des 18. Jahrhunderts erlangen konnte, aber dem Nationaltheater in Hamburg nur noch bedingt nützte. Bei Schlegel und Löwen wurde die Notwendigkeit einer nationenspezifischen Ausprägung der deutschen Bühne allein damit begründet, dass das deutsche Publikum mit Dramenübersetzungen aus dem Französischen weitaus weniger anfangen könne als mit originalen Stücken, in denen die Stoffe, Konflikte und Sentenzen passend zur deutschen Mentalität gewählt werden könnten (Krebs 1985, 134–142). Demgegenüber zeichnet sich bei Lessing
Abb. 4: Das Schauspielhaus am Gänsemarkt in Hamburg. Aquarell eines unbekannten Künstlers (aus Wölfel 1967, Abb. Nr. 187).
Hamburgische Dramaturgie (1767–69)
Ablehnung des französischen Dramas
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IV. Themen und Formen in Lessings Werk
eine verschärfte, durchaus prinzipielle Abwehrhaltung gegenüber der französischen Dramatik ab, deren Vorherrschaft auf der deutschen Bühne er entschieden zurückweist. In diesem Sinne spottet er beispielsweise wie folgt über Voltaires Dissertation sur la tragédie ancienne et moderne (1748; dt.: Dissertation über die alte und die moderne Tragödie): „O freilich; was ist von den Franzosen nicht alles zu lernen! Hier und da möchte zwar ein Ausländer, der die Alten auch ein wenig gelesen hat, demütig um Erlaubnis bitten, anderer Meinung sein zu dürfen. Er möchte vielleicht einwenden, daß alle diese Vorzüge der Franzosen auf das Wesentliche des Trauerspiels eben keinen großen Einfluß hätten; daß es Schönheiten wären, welche die einfältige Größe der Alten verachtet habe.“ (G IV, 279) Ursachen für das Scheitern
Nationaltheater ohne Nation
Auf dem Hamburger Nationaltheater konnte diese ,andere Meinung‘ über das Wesen des Trauerspiels indes nicht verwirklicht werden, musste doch das ehrgeizige Unternehmen, das die Verluste der ersten Saison noch durch ein auswärtiges Gastspiel in Hannover ausgleichen konnte, nach nur zwei Spielzeiten seinen Betrieb wieder einstellen. Als Ursachen für das Scheitern lassen sich die mäßig seriöse privatwirtschaftliche Finanzierung anstelle einer städtischen, verschiedene Schauspielerintrigen und Löwens Eitelkeit anführen. Hinzu kommen sittliche Bedenken der Kirche gegenüber dem Theater, eine generelle Theaterträgheit der Hamburger sowie auch die mangelnde Abwechslung im Repertoire, das in weiten Teilen immer noch dem alten Ackermannschen entsprach. Bei alledem handelt es sich jedoch nur um äußerliche Symptome des eigentlichen Problems, das Horst Steinmetz auf eine „Diskrepanz zwischen dem Wollen der Theatergründer und den tatsächlichen Gegebenheiten“ (Steinmetz 1996, 142) zurückführt. Bei diesen Gegebenheiten handelt es sich nicht nur um spezifische Probleme im Umfeld von Theater und Stadt in Hamburg. Vor allem fehlte es dem genuin bürgerlich verfassten Nationaltheater an einer genuin bürgerlich verfassten Nation, was Lessing in seinem Abgesang auf das Nationaltheater im letzten Stück der Hamburgischen Dramaturgie zu einem bitterbösen Lachen veranlasst, und zwar: „Über den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind! Ich rede nicht von der politischen Verfassung, sondern bloß von dem sittlichen Charakter. Fast sollte man sagen, dieser sei: keinen eigenen haben zu wollen.“ (G IV, 684) Was anschließend in den 1770er Jahren als Nationaltheater bezeichnet wurde, hatte kaum noch etwas mit dem Gründungsgedanken zu tun: Im Jahr 1776 benannte Kaiser Joseph II. die Wiener Hofbühne um in ,Nationaltheater‘, 1776 wurde eine fürstliche Nationalschaubühne in Mannheim gegründet, 1786 ein königliches Nationaltheater in Berlin, weitere folgten. Die Nationaltheater des aufgeklärten Absolutismus waren allerdings weder national noch ständeübergreifend, und ihr Zweck lag keineswegs in der zukunftsfrohen Verbesserung von Sitten und Gesellschaft, sondern in der Stabilisierung bestehender Verhältnisse. Als Medium der bürgerlichen Emanzipation erlitt die deutsche
4. Programmatisches zu Drama und Theater
Schaubühne damit institutionengeschichtlich einen Rückschlag, der Lessing auch in seinen persönlichen Hoffnungen als Aufklärer schwer traf, zumal seine eigentlich vorgesehene Mitwirkung an den Mannheimer Nationaltheaterplänen ebenfalls scheiterte.
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke 1. Ausgewählte Gedichte (Lehrdichtung, Oden, Anakreontik, Epigrammatik) Lessing als Lyriker
Lehrdichtung
Nicht allein aufgrund seiner Interessenlagen, sondern auch nach seinen innovativen Leistungen und seinem handwerklichen Talent machte Lessing weitaus stärker als Dramatiker denn als Lyriker von sich reden. Gleichwohl umfasst hauptsächlich sein Frühwerk eine durchaus nennenswerte Reihe von lyrischen Dichtungen verschiedener Genres, die er ganz selbstverständlich in den beiden zu Lebzeiten veranstalteten Sammelausgaben seiner Schriften (1753 und 1771) mit abdruckte. Von 1747 an publizierte er neben seinen Literaturkritiken auch einige, teils noch während seiner Schulzeit geschriebene Gedichte in Berliner Zeitschriften wie den Ermunterungen zum Vergnügen des Gemüts und Der Naturforscher. In einer eigenständigen Publikation zusammengestellt erschienen diese frühen Texte im Jahr 1751 unter dem Titel Kleinigkeiten, der nicht nur einen gewissen Bescheidenheitsgestus markiert, sondern auch einen Traditionsbezug. Denn schon die römischen Dichter Martial und Catull, welche Lessing als Vorbilder insbesondere für seine Epigrammatik dienten, hatten ihre Gedichte in diesem Sinne als nugae (lat.: Tändeleien) bezeichnet. Eine redigierte Auswahl seiner Gedichte nahm Lessing in den ersten Band der Schrifften (1753) auf und arrondierte damit insofern sein lyrisches Œuvre, als in späteren Jahren im Wesentlichen nur noch Epigramme folgten. Zu den Gegenständen der Lyrik in der Aufklärung gehörten hauptsächlich lehrhafte, religiöse und erbauliche Themen, dazu – vor allem im Zusammenhang mit dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763) – Patriotismus und Krieg, außerdem Liebe und Freundschaft, Satire und Gesellschaftskritik, die verschiedenen Anlässe der Gelegenheitsdichtung sowie die zunehmend empfindsame Naturdarstellung. Bis auf den letzten Punkt findet sich alles dies, freilich mit eigenen Schwerpunktsetzungen, auch in Lessings Gedichten wieder. Seine frühesten lyrischen Versuche sind im Bereich der Lehrdichtung angesiedelt, d.h. es handelt sich dabei um gedichtförmige Bearbeitungen theoretisch-abstrakter Fragestellungen, welche für gewöhnlich die Naturwissenschaften, Theologie, Philosophie und Dichtungslehre berühren. Derartige Texte, die eine didaktische Zielsetzung besaßen, waren infolge der rationalistischen Dichtungsauffassung aufklärerischer Prägung in der Zeit von 1730 bis etwa um 1760 recht verbreitet, wurden dann jedoch durch gesellige und empfindsame Strömungen zurückgedrängt (vgl. Siegrist 1974, 238). Zu den bekanntesten Vertretern der deutschsprachigen Lehrdichtung gehörte der Arzt und Botaniker Albrecht von Haller (1708–1777), der in
1. Ausgewählte Gedichte
den 49 Strophen des Lehrgedichts Die Alpen (1729) eine dichterische Engführung sinnlicher Natureindrücke mit wissenschaftlich orientierten Bestandsaufnahmen der schweizerischen Pflanzen- und Gesteinswelt unternahm. Weil die Lehrdichtung besondere Herausforderungen mit sich brachte, die darin bestanden, begrifflich exakte Kenntnisse in einen poetischen Ausdruck zu übersetzen, galt sie unter aufklärerischen Gelehrtendichtern als Prüfstein für ihre Kunstfertigkeit. Lessings Versuche auf diesem Gebiet stehen wie diejenigen Hallers in Alexandrinern, d.h. in sechshebigen, jambisch alternierenden Versen mit einer Zäsur nach der dritten Hebung, die im Barock bevorzugt wurden, jedoch in der Lyrik des 18. Jahrhunderts außerhalb der in ihrem Selbstverständnis akademischen Lehrdichtung längst als nicht mehr zeitgemäß galten. Sie befassen sich mehrheitlich mit dichtungstheoretischen Problemen, die sich aus dem Zusammenhang des Leipzig-Zürcher Literaturstreits ergaben. Die poetologische bzw. literaturkritische Stoßrichtung seiner Lehrgedichte lässt sich bereits anhand von Titeln wie Aus einem Gedichte an den Herrn M** (1748), An den Herrn Marpurg über die Regeln der Wissenschaften zum Vergnügen; besonders der Poesie und Tonkunst (1749) oder auch Aus einem Gedichte über den jetzigen Geschmack in der Poesie (1749) ersehen (vgl. Fick 2009, 81). In dem Literaturstreit, der maßgeblich zwischen Johann Christoph Gottsched (1700–1766) einerseits sowie den Schweizern Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und Johann Jakob Breitinger (1701–1776) andererseits ausgetragen wurde, ging es nicht nur um die Zulässigkeit des Wunderbaren in der Poesie (vgl. Kap. IV.2), sondern auch um die Frage, inwieweit die antike Dichtungstheorie noch für die Gegenwartsliteratur verbindlich sein könne. Eine ähnlich gelagerte Kontroverse, die als Querelle des Anciens et des Modernes (frz.: Streit der Alten und der Neuen) bekannt geworden ist, war in Paris bereits im Jahr 1687 dadurch ausgelöst worden, dass Charles Perrault (1628–1703) an der Académie Française ein Gedicht vorgetragen hatte, in dem er die antike Dichtungstradition als zwar ehrenwert, aber nicht mehr maßgeblich darstellte. Lessing wägt diese Problematik in Aus einem Gedichte an den Herrn M** ab, indem er eine überzeitliche Position einnimmt: „Der lobt die Neuern nur, und der lobt nur die Alten. Freund, der sie beide kennt, sprich, mit wem soll ichs halten? Die Weisheit, war sie nur verfloßner Zeiten Ehr? Ist nicht des Menschen Geist der alten Größe mehr? Wie? oder ward die Welt zu unserer Zeit nur weise? Und stieg die Kunst so spät bis zu dem höchsten Preise? Nein, nein; denn die Natur wirkt sich stets selber gleich, Im Wohltun stets gerecht, an Gaben allzeit reich. An Geistern fehlt es nie, die aus gemeinen Schranken Des Wissens sich gewagt, voll schöpfrischer Gedanken; Nur weil ihr reger Sinn nicht allzeit ein geliebt, Ward von der Kunst bald der, bald jener Teil geübt.“ (G I, 159)
Poetologie und Literaturkritik
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke Theologische Reflexionen
Eine anders gelagerte Thematik bearbeitet Lessing in einem unvollendeten Lehrgedicht mit dem Titel Die Religion (1751), wenn er dort das Theodizee-Problem, d.h. die theologische Frage nach der Vereinbarkeit der irdisch erfahrbaren Nöte mit der Güte Gottes untersucht. Sein Text bricht, womöglich mit skeptischen Hintergedanken, nach der Darstellung des Übels ab, ohne ihm Sinn in einem göttlichen Heilsplan zugesprochen zu haben. Dementsprechend ist der Text durchgängig von rationalistischem Zweifel getragen: „Was ist der Mensch? Sein Glück? Die Erd, auf der er irrt? Erklärt mir, was ihr nennt; dann sagt auch, was er wird; Wenn schnell das Uhrwerk stockt, das in ihm denkt und fühlet? Was bleibt von ihm, wann ihn der Würmer Heer durchwühlet, Das sich von ihm ernährt, und bald auf ihm verreckt? Sind Wurm und Mensch alsdann gleich hoffnungslos gestreckt? Bleibt er im Staube Staub? Wird sich ein neues Leben, Auf einer Allmacht Wink, aus seiner Asche heben? Hier schweigt die Weisheit selbst, den Finger auf den Mund, Die Einfalt hört ihm zu, mit starrverwandten Blicken, Mit gierig offnem Mund, und Beifallsreichen Nicken.“ (G I, 173)
Bruch mit der Tradition
Gelegenheitsdichtung
Überhaupt ist Lessings Lehrgedichten gemeinsam, dass sie allesamt unvollendet blieben und lediglich als Fragmente in den Druck gegeben wurden. Sie bieten keine fest gefügten Belehrungen, sondern offene Fragen, die häufig sogar bekenntnishaft mit persönlicher Sinnsuche verbunden sind. Damit durchbricht Lessing zum einen die überkommene geschlossene Form des Lehrgedichts, zum anderen jedoch auch den aufklärerischen Vernunftoptimismus, den er mit seinen Lehrgedichten nicht nur fortschreibt, sondern zugleich auch an seine Grenzen treibt (vgl. Brenner 2000, 52). Demgegenüber übernahm Lessings Gelegenheitsdichtung (auch: Kasualpoesie) weder belehrende Aufgaben noch nutzte er sie zur Demonstration besonderer Kunstfertigkeit, da dieses Genre als literarische Zweckform in erster Linie der repräsentativen Vergegenwärtigung von hierarchischen oder geselligen Beziehungen diente. Zu den Anlässen, bei denen üblicherweise Gelegenheitsgedichte überreicht oder vorgetragen wurden, zählen vor allem Hochzeiten, Beerdigungen und Geburtstage sowie Ankunft und Abreise, Genesung, diplomatische, militärische oder akademische Erfolge, Jubiläen und höfisch-dynastische Ereignisse. Mit der zunehmenden Verbürgerlichung des anfangs auf adlige und gelehrte Kreise beschränkten Genres weitete sich die Gelegenheitsdichtung im 18. Jahrhundert zu einem derartigen Massenphänomen aus, dass vereinzelt sogar obrigkeitliche Verbote ausgesprochen wurden. Zentrale Einwände betrafen die massenhafte Herstellung, die Formelhaftigkeit des Gefühlsausdrucks und die handwerkliche Unzulänglichkeit vieler Gelegenheitsgedichte. Deshalb unternahm beispielsweise Johann Christoph Gottsched eine Untersuchung, ob es einer Nation schimpflich sey, wenn ihre Poeten kleine und sogenannte Gelegen-
1. Ausgewählte Gedichte
heitsgedichte verfertigen (1746), in der er urteilt, solche Texte seien sehr wohl nützlich, da sie auch solche Leser erreichten, die sich sonst nicht für Lyrik interessierten. Lessing hingegen, der ohnehin jedes rührselige Pathos zurückwies, nahm die Kasualdichtung wiederholt satirisch aufs Korn, so etwa in dem folgenden, 1753 gedruckten Spottgedicht Auf einen gewissen Leichenredner, das möglicherweise auf ihn selbst gemünzt ist, weil er in Wittenberg eine solche Gefälligkeit abzuleisten hatte (vgl. G II, 591). Neben der ins Komische gewendeten Dilettantismuskritik bestünde dann die Pointe des Gedichts auch darin, dass er, ob nun erbärmlich oder nicht, naturgemäß unmöglich seine eigene Grabrede halten könnte:
Satirische Züge
„O Redner! dein Gesicht zieht jämmerliche Falten, Indem dein Maul erbärmlich spricht. Eh du mir sollst die Leichenrede halten, Wahrhaftig, lieber sterb’ ich nicht!“ (G I, 32) Wenn Lessing allerdings seine Gelegenheitsdichtung ernst meinte, weisen seine Texte teilweise überaus konventionelle Züge auf, wie etwa in der nachstehenden Schlussstrophe eines Geburtstagsgedichts auf den preußischen König Friedrich II. (,der Große‘) aus dem Jahr 1752. Seine aus hergebrachten Versatzstücken formulierte Panegyrik, d.h. sein Fürstenlob, lässt keinerlei individuelle Gestaltung erkennen:
Konventionelle Panegyrik
„O ihr, die Friedrich liebt, weil er geliebt will sein, Ihr Völker jauchzt ihm zu! Der Himmel stimmet ein. Auf! strebt, daß er mit diesem Jahre, Wenn er sie jetzt nicht schon erfährt, Die wicht’ge Botschaft froh erfahre: Ihr wäret eures Friedrichs wert.“ (G I, 132) Das Strophenmaß, welches Lessing hier gebraucht, besteht aus zwei paargereimten jambischen Sechshebern und vier kreuzgereimten jambischen Vierhebern. Dabei handelt es sich um eine Odenstrophe, die jedoch nach zeitgenössischen Standards überaus schlicht gestaltet ist. Was genau unter einer Ode zu verstehen ist, unterliegt einer gewissen terminologischen Unschärfe, denn zum einen diente ,Ode‘ (gr. odein: singen) traditionell als Sammelbezeichnung für alles Sangbare und wurde deswegen oft weitgehend synonym mit ,Lied‘ (lat.: carmen) und Lyrik überhaupt verwendet. Im engeren Sinne meint ,Ode‘ einen Bestand an Strophenformen antiken Ursprungs, deren Versbindung nicht durch Endreime sowie durch die Abwechslung von Hebungen und Senkungen erfolgt, sondern durch eine sehr genau regulierte Abfolge von Längen, Kürzen und Zäsuren. Da die deutsche Sprache keine langen und kurzen Silben besitzt, sondern lediglich betonte und unbetonte, bereitete die Umsetzung der antiken Odenmaße im Deut-
Odenstrophen im Deutschen
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Gelungene Nachbildungen
schen einige Probleme. Von der Lyrik des 17. Jahrhunderts bis hin zu Gottsched wurden daher die komplizierten Einzelheiten des Versbaus zunächst außer Acht gelassen. Obwohl die Ode wegen ihrer vielseitigen Verwendbarkeit äußerst beliebt war, gelang es erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts, die überlieferte Versgestalt im Deutschen nachzuahmen, indem für jede Länge im antiken Schema eine Hebung (X) im Deutschen eingesetzt wurde und für jede Kürze eine Senkung (x). Zugleich wurde der Reimzwang aufgehoben, da es ihn in den antiken Modellen nicht gab. Ein prominentes Beispiel für diese neuartige, antikisierende Odendichtung stellt Friedrich Gottlieb Klopstocks Der Zürchersee (1750) dar, ein Text, der sich nach dem Muster der sog. asklepiadeischen Ode richtet. Der Anschaulichkeit halber wurden im nachstehenden Auszug (Klopstock 2010, 95) daraus die Zäsuren eingetragen und die betonten Silben durch Kursivierung hervorgehoben: „Schön ist, Mutter Natur, | deiner Erfindung Pracht Auf die Fluren verstreut, | schöner ein froh Gesicht, Das den großen Gedanken Deiner Schöpfung noch Einmal denkt.“
Formale Schlichtheit
Obwohl Lessing diese metrikgeschichtlich nicht anders denn als bahnbrechend zu bezeichnenden Entwicklungen kannte, versuchte er in keiner Weise, sich ihnen anzuschließen. So erscheint eine Odenstrophe wie etwa die folgende aus dem Abschied eines Freundes für Gottlob Samuel Nicolai (1725–1765), der Lessing 1752 auf der Durchreise in Wittenberg besuchte, in der direkten Gegenüberstellung mit Klopstock erstaunlich bieder. Mit solchen kreuzgereimten Jamben hätte man auch schon ein Jahrhundert zuvor ohne weiteres eine Ode verfassen können. Die inhaltliche Aussage der Strophe zeigt freilich, dass die formale Schlichtheit durchaus beabsichtigt ist, da sprachliche Mittel ohnehin vor dem gebotenen Gefühlsausdruck versagen müssten. Lessing spielt also den Topos der Unsagbarkeit aus, wobei seine stilistisch ungelenk anmutende Wortschöpfung ,unausposaunt‘ den plakativen Gestus der Gelegenheitsdichtung verspottet: „Erwarte nicht ein täuschend Wortgepränge, Für unsre Freundschaft viel zu klein. Empfindung haßt der Reime kalte Menge, Und wünscht unausposaunt zu sein.“ (G I, 135)
Anakreontik
XxXxxX|XxxXxX XxXxxX|XxxXxX XxXxxXx XxXxxXxX
x X x X x X x X x X x (a) x X x X x X x X (b) x X x X x X x X x X x (a) x X x X x X x X (b)
Einer zweiten, während der 1740er Jahre aufgekommenen Modeerscheinung in der Lyrik hingegen, nämlich der Anakreontik, schloss sich Lessing mit etlichen seiner eigenen Texte an. Typischerweise geht es in dieser heiteren Liebesdichtung, welche sich mit der Aufwertung der Sinnlichkeit gegen die lehr- und regelhaften Tendenzen der Frühaufklärung wandte, um ein galantes Ideal geselliger Weltabkehr, das getragen ist von der stets maßvollen Vergnügung durch Liebe, Wein, Tanz, Gesang und die blühende Natur (vgl.
1. Ausgewählte Gedichte
Kimmich 1995, 160f.). Zu ihrer räumlichen Verortung dienen Andeutungen einer lieblichen Landschaft (locus amoenus) abseits von Alltagssorgen und höfischen Intrigen. Neben Rollenfiguren mit zumeist schäferlichen Namen wie Phyllis, Chloris oder Damon begegnen in dieser Lyrik häufig auch Gottheiten aus der antiken Mythologie, so z.B. Amor als Liebesgott oder Zephyr als Personifikation des lauen Frühlingswindes. Formal kennzeichnet sich die Anakreontik einerseits durch ihre leichte, scherzhafte Stillage, die gelegentlich frivole Anklänge erlaubt, sowie andererseits durch einfache, liedhafte Strophen. Die Bezeichnung ,Anakreontik‘ bezieht sich auf den griechischen Dichter Anakreon (6. Jh. v. Chr.), dem im 16. Jahrhundert – wie sich später herausstellte: irrtümlich – ein Korpus von rund 60 Liedern mit geselliger Thematik zugeschrieben wurde. Lessings großenteils bereits während der Meißner Schulzeit entstandene Anakreontik umfasst sowohl freie Übersetzungen aus diesem Quellenfundus als auch eigene Dichtungen, bewegt sich jedoch weitgehend in den Bahnen, die etwa durch Friedrich von Hagedorn (1708–1754) und Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803) als den bekannteren Vertretern dieser breiten Strömung vorgezeichnet worden waren. Ein markanter Zug in Lessings Anakreontik liegt jedoch darin, dass er darin konventionswidrig öfters einen ironischen Unterton anschlägt und die Gedankenführung geistreich zuspitzt, was sonst eher für die Epigrammatik kennzeichnend ist. Das Zentralthema der sinnlichen Freuden durch Wein, Liebe und Gesang kommt in der folgenden Strophe aus Lessings Phyllis lobt den Wein ebenso mustergültig vor wie das charakteristische Versmaß der sog. anakreontischen Trochäen – gemeint sind damit drei- oder vierhebige Verse mit fallender Alternation von Hebungen und Senkungen:
Ironie und Pointen
„Seht, mein Damon tanzt und springet! Seht, wie wiegt er Leib und Fuß! Seht, mein Damon lacht und singet, Singt von Ruhe, Wein und Kuß. Seht, wie Mund und Augen glühn! Wir beleben uns durch ihn.“ (G I, 101) Anders als in den bisher vorgestellten lyrischen Genres verfolgte Lessing in der Epigrammatik, die ihn zeitlebens faszinierte, einen selbständigen Zugang, den er sowohl mit theoretischen Überlegungen (vgl. Kap. IV.3) als auch mit einer gemeinsam mit Karl Wilhelm Ramler (1725–1798) veranstalteten Auswahlausgabe des damals weitgehend in Vergessenheit geratenen Epigrammatikers Friedrich von Logau (1605–1655) flankierte. Für seine deutschsprachige Epigrammatik gebrauchte Lessing den Terminus ,Sinngedichte‘, während er zur sprachlichen Unterscheidung seine lateinischen Versuche auf diesem Gebiet mit ,Epigrammata‘ (gr. epigramma: Aufschrift) betitelte. Grundsätzlich beziehen sich jedoch beide Termini auf dieselbe Art von Gedichten, die sich zum einen durch ihre pointierte Kürze (lat.: brevitas) und zum anderen durch eine scharfsinnige, oftmals satirische Wen-
Epigrammatik
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Metrik und Thematik
dung (lat.: argutia) am Schluss auszeichnet. Gerade letzteres kam Lessing durchaus entgegen, bot es ihm doch beträchtliche Entfaltungsmöglichkeiten für seine ausgeprägte polemische Neigung (vgl. Kap. IV.1), welcher er mit rund 150 einschlägigen Gedichten nachging. Antike und antikisierende Epigramme besitzen für gewöhnlich die Form eines Distichons, d.h. einer Verbindung eines metrisch streng regulierten sechshebigen Verses (Hexameter) mit einem fünfhebigen (Pentameter). In der deutschsprachigen Epigrammatik des Barock und der Aufklärung begegnen jedoch überwiegend zwei- oder auch mehrzeilige Texte mit frei gewähltem Versmaß. So herrschen beispielsweise in Logaus Sammlung Deutscher Sinn-Getichte Drey Tausend (1654), die Lessing als Musterbeispiel für die Eignung der deutschen Sprache zur Epigrammatik wertet, die barocktypischen Alexandriner vor. Thematisch richtet sich der bedeutendste Anteil von Logaus Epigrammatik auf Fragen der Zeit- und Gesellschaftskritik, deren Machart ein Textbeispiel verdeutlichen soll. Während im ersten Vers vordergründig die aktuelle Damenmode beanstandet wird, erweisen sich die für allzu tief befundenen Dekolletés im zweiten Vers lediglich als Symptom eines viel gravierenderen Missstandes, der im Sittenverfall unter den Frauen gesehen wird. Durch die unmissverständliche Bildersprache erhält die Schlusspointe eine handfeste erotische Anzüglichkeit: „Von den entblösten Brüsten Frauen-Volck ist offenhertzig; so wie sie sich kleiden jetzt geben sie vom berg ein Zeichen / daß es in dem Thale hitzt.“ (Logau 1984, 129)
,Angemessenheit‘
Nach eigenem Bekunden im 36. Literaturbrief schätzt Lessing an Logaus Epigrammen, dass sie „zwar weiter nichts, als moralische Sprüche; aber mit einer meisterhaften Kürze, und selten ohne eine sinnreiche Wendung ausgedrückt“ (G V, 111) waren. Jenseits dieser Charakterisierung legt Lessing seiner Bewertung zutiefst rhetorische Maßstäbe zugrunde, wenn er im 44. Literaturbrief sowie in der Vorrede zu seiner Ausgabe der Logauschen Sinngedichte (1759) deren Angemessenheit (lat.: aptum) im sprachlichen Ausdruck für die behandelten Gegenstände lobt: „Seine Worte sind überall der Sache angemessen: nachdrücklich und körnicht, wenn er lehrt; pathetisch und vollklingend, wenn er straft; sanft, einschmeichelnd, angenehm tändelnd, wenn er von Liebe spricht; komisch und naiv, wenn er spottet; possierlich und launisch, wenn er bloß Lachen zu erregen sucht.“ (G V, 155 u. 342) Um eine derartige Vielseitigkeit bemühte Lessing sich offensichtlich auch in seinen eigenen Epigrammen, bei denen es sich teilweise um Martial-Übersetzungen und teilweise um Originaldichtungen handelt. Eine große Rolle spielt dabei die eigentlich unerlaubte Personalsatire, welche nicht zuletzt auf Kollegen abzielte. Das bekannteste Beispiel dafür, mit dem Lessing 1753 die Rubrik Sinngedichte in seinen Schrifften eröffnete, befasst sich mit
1. Ausgewählte Gedichte
Klopstock, dem er unterstellt, es fehle ihm zwar nicht an Bewunderung, wohl aber an Lesern: „Die Sinngedichte an den wird nicht einen Klopstock loben? Doch wird ihn jeder lesen? – Nein. Wir wollen weniger erhoben, Und fleißiger gelesen sein.“ (G I, 9) Allerdings besitzt dieser Text gleichsam einen doppelten Boden, denn tatsächlich spricht hier keineswegs eine von der Person Lessings abgeleitete Textfunktion, die Klopstock aufgrund seiner womöglich mangelhaften Rezeption verunglimpft. Vielmehr melden sich die Sinngedichte selbst zu Wort, und zwar mit einer Abgrenzung ihrer eigenen Gattung, also des Epigramms mit seiner geistreichen Kürze, gegenüber dem erhabenem Pathos der langatmigen Ependichtung, mit der Klopstock berühmt geworden war (vgl. Jens 1983, 158). Der Grundgedanke einer solchen Gattungsprofilierung findet sich bereits bei dem römischen Epigrammatiker Martial, den Lessing übrigens ausdrücklich als seinen „Lehrmeister“ (G V, 518) anführt. Über Gottsched hingegen machte sich Lessing wirklich in einigen seiner Epigramme lustig. So hatte die graue Eminenz der Aufklärungspoetik im Jahr 1757 von König Friedrich II. von Preußen nach einem längeren Gespräch eine kostbare Tabaksdose geschenkt bekommen. Lessing kommentierte dies mit einem epigrammatischen Vierzeiler, dessen boshafte Zuspitzung darin liegt, dass der auch als Helleborus bezeichnete Nieswurz „in der Antike als Mittel gegen Dummheit und Irrsinn galt“ (Guthke in G II, 589):
Epigramm vs. Epos
GottschedVerspottung
„Im Namen eines gewissen Poeten, dem der König von Preußen eine goldene Dose schenkte Die goldne Dose, – denkt nur! denkt! – Die König Friedrich mir geschenkt, Die war – was das bedeuten muß? – Statt voll Dukaten, voll Helleborus.“ (G I, 15) Neben Schmähungen namhafter Persönlichkeiten erfolgt in Lessings Epigrammen auch die Bloßstellung von allgemeinen Untugenden, wobei die angeprangerten Laster – wie etwa im folgenden Beispiel der Geiz – durch komische Kontrastwirkungen entlarvt werden: „An einen Geizigen Ich dich beneiden? – Tor! Erspar’, ererb’, erwirb, Hab’ alles! – Brauche nichts, laß alles hier und stirb!“ (G I, 16)
Gesellschaftssatire
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Manche der Epigramme, in denen moralisches Fehlverhalten thematisiert wird, erwecken den Eindruck, dass sie auf bestimmte, vielleicht sogar entschlüsselbare Personen anspielen. Allerdings gibt Lessing den Bezug auf den Einzelfall oft nur vor, um dieselbe Wirklichkeitsnähe zu erzeugen, die er auch einer Fabeldichtung abverlangte (vgl. Kap. IV.3). Auch hierfür ein Beispiel: „An den Doktor Sp** Dein Söhnchen läßt dich nie den Namen Vater hören: Herr Doktor ruft es dich. Ich dankte dieser Ehren! – Die Mutter wollt’ es wohl so früh nicht lügen lehren?“ (G I, 12) ,Erwartung‘ und ,Aufschluß‘
Außerdem tritt in diesem Text besonders augenfällig das Zusammenspiel von „Erwartung“ und „Aufschluß“ (G V, S. 427) in einer überraschenden Pointe hervor, in dem nach Lessing das wichtigste Merkmal des Epigramms bestand (vgl. Kap. IV.3). Denn vordergründig scheint es hier um die Dünkelhaftigkeit eines Gelehrten zu gehen, der sich selbst von seinem eigenen Sohn mit seinem akademischen Titel anreden lässt, bis mit dem Hinweis auf das Lügen klar wird, dass es sich gerade nicht um seinen Sohn handelt und der Doktor mithin nicht eitel, sondern gehörnt ist.
2. Der junge Gelehrte (1754) Die Typenkomödie als Modell
Für sein dramatisches Debüt mit einer kleinen Typenkomödie, die erstmals 1754 im 4. Teil der Schriften gedruckt wurde, erhielt Lessing bereits überraschend große Anerkennung. Er schrieb das Stück im Jahr 1747 als Student in der damaligen Theatermetropole Leipzig, wo es durch die Schauspieltruppe Friederike Caroline Neubers (1697–1760) uraufgeführt wurde. Damit gelangte es unmittelbar ins Zentrum der aufklärerischen Dramenkultur, die von Johann Christoph Gottsched (1700–1766) vor allem durch theoretische Normen und von Luise Adelgunde Victorie Gottsched (1713–1762) durch zahlreiche selbstverfasste oder übersetzte Musterstücke gepflegt wurde. Über seinen Erfolg bei der Neuberin hielt Lessing mit merklichem Stolz fest: „Auch ihr Urteil verlangte ich; aber anstatt des Urteils erwies sie mir die Ehre, die sie sonst einem angehenden Komödienschreiber nicht leicht zu erweisen pflegte; sie ließ ihn aufführen.“ (G II, 638) Auch beim Publikum kam das Stück offenbar recht gut an, wie Lessing mit durchschaubarer Untertreibungsgeste ebenfalls vermerkte: „Wann nach dem Gelächter der Zuschauer und ihrem Händeklatschen die Güte eines Lustspiels abzumessen ist, so hatte ich hinlängliche Ursache das meinige für keines von den schlechtesten zu halten.“ (ebd.) In weiten Teilen orientiert sich Lessing in Der junge Gelehrte noch an den Formkonventionen der Gottschedschen Komödienästhetik, die wegen ihrer Ursprünge in Leipzig auch als ,sächsische Typenkomödie‘ und wegen ihrer scherzhaft eingekleideten Moraldidaxe als ,Verlachkomödie‘ bezeichnet wird.
2. Der junge Gelehrte (1754)
Gottscheds normative Komödienauffassung kennzeichnet sich zunächst einmal dadurch, dass das Personal keine individuellen Züge besitzt, sondern exemplarisch für eine bestimmte Eigenschaft oder Verhaltensweise steht, z.B. für Stand, Alter, Beruf, Vorlieben oder Fehlverhalten. Beliebte Rollenfächer, die auf romanische Schauspieltraditionen zurückgehen, sind beispielsweise der Geizige, der Hypochonder, der gehörnte Ehemann, der Schürzenjäger, der Aufschneider, die naive Jungfrau, die Kupplerin, oder der gewinnsüchtige Kaufmann. In der Typenkomödie erfolgt eine satirische Überzeichnung der von den Figuren verkörperten Merkmale, so dass sie durch die ständige Wiederholung in verschiedenen Handlungssituationen als lächerlich entlarvt werden. Dabei findet keine Charakterentwicklung in einem modernen, psychologischen Sinne statt, sondern lediglich die Vermittlung eindeutig feststehender Werthaltungen von Tugend und Laster, indem die dargestellten moralischen Schwächen schablonenhaft vorgeführt werden. Denn nach Gottscheds Definition besteht die Hauptaufgabe des Lustspiels darin, bestimmte Fehler auf letztlich wohlwollende Art und Weise bloßzustellen:
Figurentypen ohne Charakterentwicklung
„Die Komödie ist nichts anders, als eine Nachahmung einer lasterhaften Handlung, die durch ihr lächerliches Wesen den Zuschauer belustigen, aber auch zugleich erbauen kann. […] Es ist also wohl zu merken, daß weder das Lasterhafte, noch das Lächerliche für sich allein, in die Komödie gehöret; sondern beydes zusammen, wenn es in einer Handlung verbunden angetroffen wird.“ (Gottsched 1962, 643) Was die komödientauglichen Laster angeht, schreibt Gottsched vor, sich auf harmlose Torheiten zu beschränken, da die Auseinandersetzung mit schwerwiegenden Verbrechen nicht in die Zuständigkeit der Dichtkunst, sondern in die der Gerichte falle (vgl. Gottsched 1962, 645). Für das Personal der Komödie gilt bei Gottsched nach wie vor die Ständeklausel, d.h. Götter, Helden und Regenten dürfen in diesem Genre nicht als Protagonisten auftreten: „Die Personen, die zur Komödie gehören, sind ordentliche Bürger, oder doch Leute von mäßigem Stande […].“ (Gottsched 1962, 647) Dementsprechend empfiehlt er die mittlere Stillage für die Komödie, die sich nach aufklärerischem Geschmack durch eine „natürliche Schreibart“ – meist in Prosa statt in Versen – sowie durch die „gemeinsten [d.h. allgemein gängigen] Redensarten“ auszeichne (Gottsched 1962, 652). Im Unterschied zur Tragödie führt die Komödie regelmäßig zu einem guten Ausgang, der zumeist durch eine oder mehrere Hochzeiten besiegelt wird. Die Stoffe der Typenkomödie sind nicht historisch, sondern fiktiv. Sie behandeln Problemlagen aus dem Bereich des Privatlebens, die meistens einen Gegenwartsbezug besitzen. Eine spezifisch aufklärerische Qualität der Komödie liegt in der rationalen Lösung der für das Genre charakteristischen Intrigen, Missverständnisse und Verwechslungen, so dass am Ende nicht nur die Tugend über das Laster, sondern auch die Vernunft gegen Narrheit, Verblendung und Aberglauben siegt. Diesem Muster folgen Texte wie z.B. Luise Adelgunde Victorie Gottscheds Die Pietisterey im Fischbein-
Personal und Stil
Tugend und Vernunft
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Sprechende Namen
1. Aufzug
2. Aufzug
Rocke (1736) und Der Witzling (1745), Christian Fürchtegott Gellerts Die Betschwester (1745), Johann Elias Schlegels Der geschäftige Müßiggänger (1743) oder Johann Theodor Quistorps Der Hypochondrist (1745). Auch zu Lessings dramatischem Frühwerk gehören neben dem Jungen Gelehrten noch weitere Typenkomödien wie Damon, oder die wahre Freundschaft (1747), Der Misogyn (1748) und Der Freigeist (1750). Die Typisierung lässt sich häufig bereits aus der Titelgebung der Stücke ablesen, die den Haupthandlungsträger auf seine zu verspottende Eigenschaft reduziert. Dafür gibt es zahlreiche Vorbilder aus der italienischen commedia dell’arte sowie aus dem französischen Klassizismus, für den stellvertretend Molière mit Stücken wie L’avare (1668) (dt.: Der Geizige) und Le malade imaginaire (1673) (dt.: Der eingebildete Kranke) genannt werden kann. So weckt auch Lessing mit dem Titel Der junge Gelehrte bei dem mit einschlägigen Stücken vertrauten Publikum eine klare Erwartungshaltung, die sich auf eine dramatische Demaskierung falsch verstandener Gelehrsamkeit richtet. Die Figurenkonstellation seines Stückes setzt sich zusammen aus dem geschäftstüchtigen Kaufmann Chrysander, seinem leiblichen Sohn Damis, der ein höchst fragwürdiges Verständnis von Gelehrsamkeit vertritt, seiner Pflegetochter Juliane und ihrem Geliebten Valer, einem früheren Freund von Damis, und schließlich aus dem Dienerpaar Anton und Lisette. Die Figuren werden teilweise durch sprechende Namen charakterisiert, d.h., ihre hauptsächliche Eigenschaft wird durch den Namen angedeutet. So erweist sich Chrysander (gr. chryseos: golden) als ein von wirtschaftlichen Interessen geleiteter Kaufmann, während Valer (lat.: valere: gelten, vermögen, stark sein) als tüchtiger Mann und Gegenbild zu Damis gezeigt wird. Im ersten Aufzug des Stückes brüstet sich Damis mit lebensfernem Spezialwissen vor seinem Diener Anton, während er auf einen Brief von der Berliner Akademie wartet. Unterdessen überlegt sein Vater Chrysander, wie er ihn mit Juliane vermählen könne, die aber ihrerseits Valer heiraten möchte. Überdies soll Damis nach dem Wunsch seines Vaters „bald ein öffentliches Amt“ (I,5; G I, 295) annehmen. Damis, für den beides nicht in Frage kommt, weist bereits den Gedanken zurück mit Frauen umzugehen: „O Herr Vater, wenn das jemand hörte, was würde er von meiner Gelehrsamkeit denken?“ (I,2; G I, 289) Chrysander teilt Anton mit, dass Juliane durch einen Gerichtsprozess ein größeres Erbe zuteil würde, welches durch einen Eheschluss in die Familie gelangen könnte. Lisette hört dies Gespräch und warnt Juliane, dass Chrysander allein auf den materiellen Vorteil bedacht ist, der aus dem Eheschluss erwachsen würde: „[N]icht aus Freundschaft für Sie, sondern aus Freundschaft für Ihr Vermögen, will er diese Verbindung treffen.“ (I,8; G I, 305) Trotzdem gesteht Juliane Valer im zweiten Aufzug, dass sie sich verpflichtet fühle, den Heiratsplänen ihres Ziehvaters Folge zu leisten: „Ich bin ihm zu viel schuldig; er hat durch seine Wohltaten das größte Recht über mich erhalten. Es koste mir was es wolle; ich muß die Heirat eingehen, weil es Chrysander verlangt. Oder soll ich etwa die Dankbarkeit der Liebe aufopfern?“ (II,1; G I, 306) Valer hält ihr entgegen, dass ihre moralische Bindung
2. Der junge Gelehrte (1754)
angesichts der wirtschaftlichen Interessen Chrysanders hinfällig sei: „Wohltaten hören auf Wohltaten zu sein, wenn man sucht, sich für sie bezahlt zu machen.“ (ebd.) Um Chrysanders wahre Motive zu entlarven, schlägt Lisette Valer vor, Chrysander mit einem gefälschten Brief vorzuspielen, dass der Prozess gegenstandslos und damit auch das Erbe hinfällig geworden sei. Außerdem versucht sie, Juliane vor Damis schlecht zu machen, damit er keinesfalls auf den Gedanken kommen solle, Juliane doch etwa zur Frau nehmen zu wollen. Anton, der in Lisette verliebt ist, missfällt dies, weil er vermutet, Lisette habe vor, Damis für sich zu gewinnen. Damis selbst plant unterdessen eine gelehrte Abhandlung über die Schlechtigkeit der Frauen. Zu diesem Zweck möchte er seine Pflegeschwester unbedingt als Studienobjekt in seiner Nähe wissen und erwärmt sich ganz entgegen der Absicht Lisettes für eine Heirat mit Juliane. Auf Lisettes Bitten und Geldversprechen hin liefert Anton im dritten Aufzug den gefälschten Brief an Chrysander aus. Dieser will daraufhin die Hochzeit absagen, was Damis jedoch aus Forscherdrang ablehnt. Juliane durchschaut Lisettes Betrug, stellt diese zur Rede und informiert Chrysander, der nun erneut den alten Hochzeitsplan befürwortet. Juliane verzichtet nun zugunsten Chrysanders auf ihr Vermögen, um Valer guten Gewissens heiraten zu können. Dieser bekundet die Aufrichtigkeit seiner Zuneigung: „Ich liebe sie auch noch, ohne die geringste eigennützige Absicht.“ (III,18; G I, 373) Der Kaufmann willigt in diesen Handel ein: „Juliane ist Ihre! Und wenn das Dokument meine [!] sein soll; so ist sie um so mehr die Ihre.“ (ebd.) Valer gibt Anton die versprochene Belohnung, durch die es ihm finanziell möglich wird, Lisette zu heiraten. Damis hingegen erhält mit dem zwischenzeitlich eingetroffenen Brief aus Berlin anstelle des erhofften Preises eine vernichtende Kritik: „Man nennt Sie ein junges Gelehrtchen, welches überall gern glänzen möchte, und dessen Schreibsucht –“ (III,15; G I, 369). Das Stück endet mit seinem erbitterten Beschluss, Deutschland zu verlassen. Das hauptsächlich verspottete Laster im Stück ist die Eingenommenheit eines jungen Mannes von seinem vermeintlich überragenden Intellekt, der sich tatsächlich als weltfremde Pedanterie erweist. So kontert der schlagfertige Diener Anton die philologische Aufschneiderei gleich zu Beginn des Stückes mit der spitzbübischen Andeutung, er beherrsche eine Sprache, die Damis nicht verstehe: „DAMIS. Kannst du etwa Koptisch? ANTON. Foptisch? Nein, das kann ich nicht. DAMIS. Chinesisch? Malabarisch? Ich wüßte nicht woher. ANTON. Wie Sie herumraten. Haben Sie meinen Vetter nicht gesehn? Er besuchte mich vor vierzehn Tagen. Der redte nichts als diese Sprache. DAMIS. Der Rabbi, der vor kurzen zu mir kam, war doch wohl nicht dein Vetter?
3. Aufzug
Pedanterie-Kritik
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
ANTON. Daß ich nicht gar ein Jude wäre! Mein Vetter war ein Wende; ich kann Wendisch; und das können Sie nicht. DAMIS (nachsinnend). Er hat Recht. – Mein Bedienter soll eine Sprache verstehen, die ich nicht verstehe? Und noch dazu eine Hauptsprache? […] – – Das Ding fängt mir an, im Kopfe herum zu gehen! ANTON. Sehen Sie! – Doch wissen Sie was? Wenn Sie mir meinen Lohn verdoppeln, so sollen Sie bald so viel davon verstehen, als ich selbst. Wir wollen fleißig mit einander wendisch parlieren, und – – Kurz, überlegen Sie es.“ (I,1; G I, 285) Quellen und Traditionszusammenhänge
Nutzlose Buchgelehrsamkeit
Vor dem Hintergrund der Leipziger Universitätserfahrungen besitzt Lessings Stück möglicherweise autobiographisch lesbare Züge, in denen auch eine Spur von Selbstironie des aufstrebenden Jungakademikers enthalten sein mag. Intertextuell gesehen, steht Der junge Gelehrte insbesondere unter dem Einfluss von Molières Les femmes savantes (1672; dt.: Die gelehrten Frauen) sowie von Ludvig Holbergs Gelehrtenkomödie Erasmus Montanus (1722), die seit 1743 in deutscher Übersetzung zugänglich war. Dabei setzt Lessing eine frühaufklärerisch geprägte Tradition der Gelehrtensatire fort (vgl. Wiedemann 1967, 231ff.), galten doch seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert die Wissenschaftskonzepte von zweckfreiem Universalgelehrtentum und Polyhistorismus zunehmend als überholt (vgl. Grimm 1998, 225f.). Er verleiht seiner Komödie insofern einen ungemein aktuellen und zugleich repräsentativen Charakter, als er darin die wissenschaftsgeschichtlichen Umbruchphänomene seiner Zeit in einer komödiantischen Positionsbestimmung auf die Bühne bringt. Im Sinne der bürgerlichen Wissenschaftskritik benennt die gewitzte Dienerin Lisette präzis die Grundspannung des Stückes: „Die Bücher, die toten Gesellschafter! Nein, ich lobe mir das Lebendige; und das ist auch Mamsell Julianens Geschmack.“ (I,4; G I, 291f.) Die zentrale Kritik der Komödie zielt auf die leerlaufende Rhetorik sowie auf die nutzlose, teils sogar angemaßte Buchgelehrsamkeit, wie Damis sie unbeirrbar an den Tag legt. Exemplarisch für die zahlreichen Passagen, in denen er stur über das ganze Stück hinweg mit halbverdauten Fremdwortkenntnissen prahlt, kann folgende Wechselrede mit Anton stehen: „DAMIS. Ich mache – – ein Epithalamium – – ANTON. Ein Epithalamium? Potz Stern, das ist ein schwer Ding! Damit können Sie wirklich zu rechte kommen? Da gehört Kunst dazu – – Aber, Herr Damis, im Vertrauen, was ist denn das ein Epith – pitha – thlamium? DAMIS. Wie kannst du es denn schwer nennen, wenn du noch nicht weißt, was es ist?
2. Der junge Gelehrte (1754)
ANTON. Ei nun, das Wort ist ja schon schwer genug. Sagen Sie mir nur ein wenig mit einem andern Namen, was es ist. DAMIS. Ein Epithalamium ist ein Thalassio. ANTON. So, so! nun versteh ichs; ein Epithalamium ist ein – – wie hieß es? – DAMIS. Thalassio. ANTON. Ein Thalassio; und das können Sie machen? Wenigstens werden Sie viel Zeit dazu brauchen – – Aber, hören Sie doch, wenn mich nun jemand fragt, was ein Thalassio ist, was muß ich ihm wohl antworten? DAMIS. Auch das weißt du nicht, was ein Thalassio ist? ANTON. Ich für mein Teil weiß es wohl. Ein Thalassio ist ein – – wie hieß das vorige Wort? DAMIS. Epithalamium. ANTON. Ist ein Epithalamium. Und ein Epithalamium ist ein Thalassio. Nicht wahr, ich habe es gut behalten? Aber das möchte nur andern Leuten nicht deutlich sein, welche beide Worte nicht verstehen. DAMIS. Je nun, so sage ihnen, Thalassio sei ein Hymenaeus. ANTON. Zum Henker! das heißt Leute vexieren. Ein Epithalamium ist ein Thalassio, und ein Thalassio ist ein Hymenaeus. Und so umgekehrt, ein Hym – – Hym – – Die Namen mag sonst einer merken! DAMIS. Recht! recht! ich sehe doch, daß du anfängst einen Begriff von Sachen zu bekommen. ANTON. Ich einen Begriff hiervon? so wahr ich ehrlich bin! Sie irren sich. […] Sagen Sie mir doch ihren deutschen Namen; oder haben sie keinen? DAMIS. Sie haben zwar einen, allein er ist lange nicht von der Annehmlichkeit und dem Nachdrucke der griechischen oder lateinischen. Sage einmal selbst, ob ein Hochzeitgedichte nicht viel kahler klingt, als ein Epithalamium, ein Hymenaeus, ein Thalassio.“ (III,15; G I, 362f.) Aufgrund seiner Verblendung merkt Damis nicht, wie er sein Wortgepränge selbst bloßstellt. Genauso trifft er unversehens auch seine eigenen Verhaltensweisen, indem er zu Anton über seinen Vater bemerkt: „Hast du ihm die alberne Gewohnheit nicht angemerkt, daß er bei aller Gelegenheit ein lateinisches Sprüchelchen mit einflickt?“ (I,1; G I, 283) Geradezu als Karikatur erscheint Damis, wenn er abschätzig über Valers Haltung urteilt: „Er hat seit einigen Jahren die Bücher bei Seite gelegt; er hat sich das Vorurteil in den Kopf setzen lassen, daß man sich vollends durch den Umgang, und
Valer als Gegenentwurf
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Geld und Besitz
Sprachliche Komik
Uneindeutigkeit Valers
durch die Kenntnis der Welt, geschickt machen müsse, dem Staate nützliche Dienste zu leisten. Was kann ich mehr tun, als ihn betauern?“ (II,12; G I, 331f.) Tatsächlich ist Valer der Hoffnungsträger des Stücks, der die jeweils vereinseitigten Interessenlagen von gehaltloser Schriftverklärung bei Damis und merkantiler Nutzenprogrammatik bei Chrysander in einem neuen, weltzugewandten Bildungsideal zu überwinden sucht (vgl. Wiedemann 1967, 235), das als Lebensklugheit zum Nutzen für das Gemeinwohl beiträgt (vgl. Grimm 1998, 162–181; Zimmermann 1992). Darüber hinaus geht es in Der junge Gelehrte, wie immer in Lessings Lustspielen, auch um Fragen von Geld und Besitz (vgl. Fulda 2005, 481–509). In diesem Punkt wird eine gewisse Nähe zu dem römischen Komödiendichter Plautus (ca. 254–ca. 184 v. Chr.) erkennbar, dessen Aulularia (lat. etwa: der goldene Topf), Mercator (lat.: der Kaufmann) und Trinummus (lat. etwa: drei Silberstücke) ihre ökonomische Problematik schon im Titel andeuten. Denn nicht nur Chrysander ist auf das materielle Vermögen bedacht, sondern auch Lisette, die Anton eine Belohnung durch Valer in Aussicht stellt, um ihn zur Komplizenschaft zu bewegen. Im Unterschied zu dem Kaufmann strebt sie jedoch nicht nach Reichtum, sondern nach privatem Glück: „Dich würde er auch nicht leer ausgehen lassen, wann du mir behülflich wärest. Ich hätte alsdenn Geld; du hättest auch Geld: könnten wir nicht ein allerliebstes Paar werden?“ (III,1; G I, 339) Obgleich es sich bei dem Jungen Gelehrten aufs Ganze gesehen um eine beinahe mustergültige Typenkomödie handelt, bleiben doch einzelne Abweichungen von Gottscheds Vorschriften zu vermerken. Zwei Aspekte fallen besonders ins Auge. Zum einen soll die Komik den Gottschedschen Anweisungen zufolge durch die konsequente Typisierung der Figuren erzielt werden, nicht aber durch Körperlichkeit, Situationskomik oder Wortwitz, damit sie allein aus den Gegenständen heraus erwachse (vgl. Gottsched 1962, 652). Lessing hingegen erzielt komische Effekte durchaus mit sprachlichen Mitteln, z.B. durch geistreiche Dialogsequenzen, die oft in Stichomythien, d.h. in der zeilenweisen Abwechslung von Rede und Gegenrede, an Tempo gewinnen. Schlagfertig wirken auch etliche variierende Wiederholungen, wie sie beispielsweise in einem pointierten Gespräch zwischen Damis und Lisette begegnen. Während er beharrlich sein eitles Selbstverständnis vorträgt, bemerkt sie immer wieder mit gespielter Bewunderung, er sei doch erst zwanzig Jahre alt, bis sie die Geduld verliert und ihn schließlich für vollkommen unreif erklärt: „Hören Sie recht zu, Herr Damis: Sie sind noch nicht klug, und sind schon zwanzig Jahr alt!“. (III,3; G I, 343) Zum anderen besitzt die Figur Valers eine gewisse Ambivalenz, mit der Lessing das strenge Tugend-Laster-Schema der Typenkomödie zugunsten gemischter Charaktere aufbricht, die er später auch dramentheoretisch begründet (vgl. Kap. IV.4). Denn trotz seiner grundsätzlich positiven Rolle lässt sich Valer auf Lisettes Betrügerei als Mittel zum Zweck ein. Die moralische Zweifelhaftigkeit seines Vorgehens wird in der Kontrastierung mit Juliane herausgestellt, als diese den berechtigten Verdacht schöpft, Lisette könnte hinter Chrysanders Sinneswandel stecken. Valer spielt die Angelegenheit herunter: „Welche Einbildung, liebste Juliane! Sie weiß es ja, daß
3. Philotas (1759)
Ihre Tugend in diesen kleinen Betrug nicht willigen wollen. […] Wenn es nun auch wäre, wollten Sie denn deswegen – –“. (III,9; G I, 354) Nachdem Juliane die hinzugekommene Lisette zur Rede gestellt hat, empört sie sich: „Das hast Du getan? und ich sollte mein Glück einer Betriegerin zu danken haben? Es mag mir gehen, wie es will; Chrysander soll es den Augenblick erfahren – –“ (ebd.) Valer indes stört sich keineswegs an der Tatsache des Betrugs, sondern lediglich an seinem vorzeitigen Auffliegen: „Zu was für einer ungelegnen Zeit kamst du aber auch, Lisette? Ich hatte es dir gesagt, daß Juliane in diesen Streich nicht willigen wollte. Hättest du nicht noch einige Zeit schweigen können?“ (ebd.) Gegenüber Chrysander leugnet er nicht nur sein Komplott mit Lisette, sondern weist ihr auch die alleinige Schuld zu: „Ich habe es Ihnen schon beschworen, daß einzig und allein Lisette diesen Betrug hat spielen wollen […]“. (III,18; G I, 372) Nachdem alle Verwicklungen geklärt sind, steht am Ende des Stücks der Entwurf einer „Synthese von Bürgerlichkeit, Gelehrtheit und Moral“ (Jørgensen 1998, 41) in der Paarkonstellation von Valer und Juliane als Gegenbild zu der fruchtlosen Studienversessenheit des Titelhelden. Allerdings erscheint der Schluss ebenfalls etwas ungewöhnlich, da die versöhnliche Herstellung einer guten Ordnung nicht für alle Figuren erfolgt. Zwar steht eine komödienübliche Doppelhochzeit in Aussicht, und Chrysander bekommt das von ihm begehrte Vermögen, aber der Protagonist selbst gelangt weder zu besserer Einsicht noch zu einem tauglichen Platz im sozialen Gefüge des Stückes. Vielmehr kehrt er seiner Heimat den Rücken: „Ich bin es längst überdrüssig gewesen, länger in Deutschland zu bleiben; in diesem nordischen Sitze der Grobheit und Dummheit; wo es alle Elemente verwehren, klug zu sein; wo kaum alle hundert Jahr ein Geist meines gleichen geboren wird – –“ (III,17; G I, 371). Was auf den ersten Blick als Konstruktionsfehler erscheinen kann, eröffnet letztlich eine Entwicklungsperspektive nach Maßgabe des aufklärerischen Menschenbildes. Denn mit dem Verlassen der heimischen Studierstube erhält Damis die Chance, seine Kenntnisse nunmehr in der Welt zu erweitern, um seine Realitätsferne abzulegen.
Kein guter Ausgang für alle
3. Philotas (1759) Entstanden mitten im Siebenjährigen Krieg (1756–1763), weist Lessings kleines heroisches Trauerspiel Philotas einige Bezüge zum zeitgeschichtlichen Kontext auf (vgl. Wiedemann 1967, 389), obwohl es im antiken Griechenland angesiedelt ist. Von Lessing selbst sind weder Deutungshinweise überliefert noch hat er sich über mögliche Anregungen und Vorbilder geäußert. Dennoch lassen sich gewisse motivische Verwandtschaftsbeziehungen zu anderen Stücken feststellen: durch den Gefangenenaustausch zu den Captivi (lat.: Die Gefangenen) des römischen Komödiendichters Plautus (um 254–184 v. Chr.), durch die beharrliche Standhaftigkeit des Titelhelden zu Pedro Calderón de la Barcas (1600–1681) Trauerspiel El príncipe con-
Bezüge und Vorbilder
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Patriotismus bei Th. Abbt und J.W.L. Gleim
stante (span.: Der standhafte Prinz; 1629) sowie durch seine Raserei mit anschließendem Suizid an die Tragödien Aias des Sophokles (497/96–406/05 v. Chr.) und Hercules furens (lat.: Der rasende Herkules) des jüngeren Seneca (ca. 1–65 n. Chr.). Vor dem Hintergrund des aktuellen politischen Klimas in Preußen, geprägt einerseits durch Kriegsverdrossenheit und andererseits durch patriotische Propaganda (vgl. Bohnen 1986, 35), wirft das Stück die Frage nach dem Verhältnis von Heldentum und Moral auf. Während Lessing eine für ihn auch sonst durchaus charakteristische Skepsis an den Tag legt, bekennen sich andere Autoren aus seinem persönlichen Umfeld lautstark zum Patriotismus. Beispielhaft dafür ist zum einen Thomas Abbt (1738–1766) zu nennen, der sich in seiner Schrift Vom Tode für das Vaterland (1761) sowohl mit rationalen Begründungen als auch durch emotionale Appelle für Krieg und Heldentod ausspricht (vgl. Bohnen 1986, 30ff.). Zwar erschien dieser Text erst zwei Jahre nach dem Philotas, fängt aber eben jene Tendenzen ein, mit denen der Patriotismus in aufklärerischen Kreisen diskutiert wurde. Zum anderen verfasste Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803) eine teils hochgradig chauvinistische Gedichtsammlung mit dem Titel Preußische Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier, welche den Preußenkönig Friedrich II. und seine Kriegsführung verherrlicht. Diese Texte, die als anonyme Soldatenlyrik publiziert wurden, gab Lessing ab 1757 in mehreren Heften heraus. Die Beteiligung an einer derartigen Unternehmung, die so wenig zu Lessings sonstigen Haltungen passt, mag aufgrund der Freundschaft und Bewunderung, die er wie Gleim dem preußischen Offizier Ewald Christian von Kleist (1715–1759) entgegenbrachte, zustande gekommen sein. Sie hat aber auch damit zu tun, dass Lessing in Gleims Liedern Anklänge der nordischen Heldendichtung sah, die er als Modell gegenüber der im deutschen Sprachraum vorherrschenden romanischen Dichtungstradition stark machen wollte (vgl. Nisbet 2008, 309ff.). Als jedoch der vaterländische Enthusiasmus in den Gedichten für Lessings Geschmack überhandnahm, kritisierte er Gleim in einem Brief vom 16. Dezember 1758 scharf: „Der Patriot überschreiet den Dichter zu sehr, und noch dazu so ein soldatischer Patriot, der sich auf Beschuldigungen stützet, die nichts weniger als erwiesen sind! Vielleicht zwar ist auch der Patriot bei mir nicht ganz erstickt, obgleich das Lob eines eifrigen Patrioten, nach meiner Denkungsart, das allerletzte ist, wonach ich geizen würde; des Patrioten nemlich, der mich vergessen lehrt, daß ich ein Weltbürger sein sollte.“ (B 11/1, 305)
Gleims Versfassung
Als Gleim 1760 den ursprünglich in Prosa geschriebenen Philotas in Blankverse, d.h. in reimlose jambische Fünfheber, umschrieb, ahnte er nicht, dass er einen Lessing-Text vor sich hatte, weil das Stück 1759 anonym veröffentlicht worden war. Er änderte nicht nur die Form, sondern nahm auch erhebliche Kürzungen und eine völlig andere Gewichtung der Aussage vor. An die widersprüchliche Haltung des Titelhelden treten in seiner Fassung
3. Philotas (1759)
unverhohlene Kriegsbegeisterung und frohgemute Selbstaufopferung für König und Vaterland. Augenfällig erscheint dabei die leitmotivische Wiederkehr des Wortes „Vaterland“, welches bei Lessing äußerst zurückhaltend verwendet wird (vgl. Nisbet 2008, 325f.). Lessing reagierte gegenüber Gleim am 12. Mai 1759 in einer Weise, die ebenso als Zustimmung wie als Distanzierung gelesen werden kann: „Empfangen Sie vor allen Dingen meinen Dank für ihren Philotas. Sie haben ihn zu dem ihrigen gemacht, und der ungenannte prosaische Verfasser kann sich wenig oder nichts davon zueignen.“ (B 11/1, 321f.) Allerdings fiel Gleims schrille Bearbeitung unmittelbar auf Lessing zurück, gegen den sich denn auch eine boshafte Parodie Johann Jakob Bodmers (1698–1783) richtete, die den Titel Polytimet, ein Trauerspiel. Durch Lessings Philotas, oder ungerathenen Helden veranlasset (1760) trägt. Lessings Stück besteht aus acht Aufzügen, von denen drei aus Selbstgesprächen des Titelhelden bestehen. Der erste Auftritt zeigt den fast noch kindlichen, aber äußerst kampfbereiten Königssohn Philotas, der gleich auf dem ersten Feldzug, an dem er sich beteiligt hatte, leicht verletzt worden und in Gefangenschaft des feindlichen Königs Aridäus geraten ist. Er nimmt seine Lage als höchst unwürdigen Beginn seiner „kriegerischen Lehrjahre“ wahr, weil er sich zumindest lieber durch den Heldentod als Mann bewiesen hätte:
Erster Auftritt
„Und nur eine Wunde, nur eine! – Wüßte ich, daß ich sie tödlich machte, wenn ich sie wieder aufriß, und wieder verbinden ließ, und wieder aufriß – Ich rase, ich Unglücklicher! – Und was für ein höhnisches Gesicht – itzt fällt mir es ein – mir der alte Krieger machte, der mich vom Pferde riß! Er nannte mich: Kind!“ (G II, 103). Auch durch die komfortablen Haftbedingungen, die Aridäus ihm bietet, fühlt er sich in seiner Kriegerehre gedemütigt: „Und anstatt bewacht zu werden, werde ich bedienet. Hohnsprechende Höflichkeit! –“ (ebd.) Im zweiten Auftritt kommt Strato, ein Feldherr des Aridäus, hinzu, den Philotas bewundern kann, weil er einmal eine siegreiche Schlacht gegen seinen Vater geschlagen hatte, ihm später aber unterlegen war. Ihm berichtet er ausführlich, wie er sich gefreut habe, endlich ein Krieger sein zu dürfen, was ihn zu einem leichtsinnigen Fehler verleitet habe: „Ich war zu weit vorausgeeilt; ich ward verwundet, und – gefangen!“ (G II, 106) Er gesteht Strato seine Sorge, der Vater könne ihn womöglich auslösen, was zugleich die Niederlage im Krieg bedeuten würde: „Ich fürchte, ich fürchte; er liebt mich mehr, als er sein Reich liebt! Wozu wird er sich nicht verstehen, was wird ihm dein König nicht abdringen, mich aus der Gefangenschaft zu retten!“ (ebd.) Strato hingegen erachtet die Lage keineswegs für hoffnungslos: „Dein Schicksal ist so grausam noch nicht; der König nähert sich, und du wirst aus seinem Munde mehr Trost hören.“ (ebd.) Äridäus begegnet Philotas im dritten Auftritt mit größter Freundlichkeit, weil er mit seinem Vater als junger Mann eng befreundet war. Daher beruhe seine Kriegsgegnerschaft lediglich auf seiner Rolle als Monarch, nicht aber
Zweiter Auftritt
Dritter Auftritt
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Vierter Auftritt
auf menschlichen Gründen: „Kriege, die Könige unter sich zu führen gezwungen werden, sind keine persönliche Feindschaften.“ (G II, 107) Philotas weist solche Gedanken zurück: „Der Haß, den man auf verloschne Freundschaft pfropfet, muß, unter allen, die tödlichsten Früchte bringen; – oder ich kenne das menschliche Herz noch zu wenig. –“ (ebd.) Als er zu hören verlangt, wie hoch der Preis sein solle, den Aridäus „als der Monarch, der den Nebenbuhler seiner Größe, ganz in seiner Gewalt hat“ (ebd.), für seine Freilassung verlangen würde, erfährt er, dass gleichzeitig auch Polytimet, der Sohn des Aridäus, in die Hände seines Vaters gefallen sei. Daher sei nur ein Austausch der beiden geplant: „[I]ch kann deinen Vater seinen Sohn nicht teurer erkaufen lassen, als – durch den meinigen.“ (G II, 108) Diese Pattsituation hält Aridäus für eine glückliche Fügung eines wohlmeinenden Schicksals: „Aus gleichen Waagschalen nahm es auf einmal gleiche Gewichte, und die Schalen blieben noch gleich.“ (ebd.) Philotas soll unter den Gefangenen einen auswählen, der vor seinem Vater als Zeuge für seinen wohlbehaltenen Zustand auftreten könne; er benennt den Soldaten Parmenio. Für sich allein grübelt Philotas im Entscheidungsmonolog des vierten Auftritts über die Bedeutung der von Aridäus vorgeschlagenen Lösung, die er wie dieser zunächst auf einen wohlmeinenden Ratschluss der Götter zurückführt. Völlig unvermittelt ändert er seine Ansicht: „Ich bin zu gütig gegen mich. Darf ich mir alle Fehler vergeben, die mir die Vorsicht zu vergeben scheinet? Soll ich mich nicht strenger richten, als sie und mein Vater mich richten? Die Allzugütigen!“ (G II, 110) Daraufhin überlegt er, wie er durch ein Selbstopfer doch noch den Sieg für die Seite seines Vaters herbeiführen könnte: „Denn mein Vater hätte alsdenn einen gefangenen Prinzen, für den er sich alles bedingen könnte; und der König, sein Feind, hätte – den Leichnam eines gefangenen Prinzen, für den er nichts fordern könnte; den er – müßte begraben oder verbrennen lassen, wenn er ihm nicht zum Abscheu werden sollte.“ (ebd.) So kommt er zu dem Schluss: „Gut! das begreif ich! Folglich, wenn ich, ich elender Gefangener, meinem Vater den Sieg noch in die Hände spielen will, worauf kömmt es an? Aufs Sterben. Auf weiter nichts? – O fürwahr; der Mensch ist mächtiger, als er glaubt, der Mensch, der zu sterben weiß.“ (G II, 110f.) Neben dem Sieg erhofft er außerdem letztlich noch das Heldentum für sich erlangen zu können, welches er im Sinne seines Vaters zu bestimmen versucht: „Alles, was ich werden können, muß ich durch das zeigen, was ich schon bin. Und was könnte ich, was wollte ich werden? Ein Held. – Wer ist ein Held? – O mein abwesender vortrefflicher Vater, itzt sei ganz in meiner Seele gegenwärtig! – Hast du mich nicht gelehrt, ein Held sei ein Mann, der höhere Güter kenne, als das Leben? Ein Mann, der sein Leben dem Wohle des Staats geweihet; sich, den einzeln, dem Wohle vieler? Ein Held sei ein Mann – Ein Mann?“ (G II, 111)
Fünfter Auftritt
Im fünften, mit Abstand längsten Auftritt bespricht Philotas mit Parmenio, was dieser dem Vater ausrichten solle. Der alte Soldat, der markig über sei-
3. Philotas (1759)
ne zahlreichen eigenen Kriegsverletzungen scherzt, spielt dabei zum Verdruss des Prinzen immer wieder auf die jugendliche Unerfahrenheit und Heftigkeit des Königssohnes an: „PHILOTAS. Das ist wacker! – Aber nun – was willst du meinem Vater sagen? PARMENIO. Was ich sehe; daß du dich wohl befindest. Denn deine Wunde, wenn man mir anders die Wahrheit gesagt hat, – PHILOTAS. Ist so gut als keine. PARMENIO. Ein kleines liebes Andenken. Dergleichen uns ein inbrünstiges Mädchen in die Lippe beißt. Nicht wahr, Prinz? PHILOTAS. Was weiß ich davon? PARMENIO. Na, nu; kömmt Zeit, kömmt Erfahrung. – Ferner will ich deinem Vater sagen, was ich glaube, daß du wünschest – – PHILOTAS. Und was ist das? PARMENIO. Je eher, je lieber wieder bei ihm zu sein. Deine kindliche Sehnsucht, deine bange Ungeduld – PHILOTAS. Mein Heimweh lieber gar. Schalk! warte, ich will dich anders denken lehren! PARMENIO. Bei dem Himmel, das mußt du nicht! Mein lieber frühzeitiger Held, laß dir das sagen: Du bist noch Kind! Gib nicht zu, daß der rauhe Soldat das zärtliche Kind so bald in dir ersticke. Man möchte sonst von deinem Herzen nicht zum besten denken; man möchte deine Tapferkeit für angeborne Wildheit halten. Ich bin auch Vater, Vater eines einzigen Sohnes, der nur wenig älter als du, mit gleicher Hitze du kennst ihn ja.“ (G II, 113) Als Sohn lässt sich Philotas vorgeblich von Parmenio überzeugen, stützt sich dann aber auf seine Stellung als Prinz, aufgrund derer er Parmenio befiehlt, dem Vater auszurichten, er solle ihn erst am nächsten Tag auslösen. Parmenio widerstrebt es so sehr, diesen Befehl ohne Angabe von Gründen auszuführen, dass Philotas sich bei ihm scheinbar einsichtig entschuldigt, ihm wegen seiner treuen Dienste schmeichelt und sich schließlich sogar auf ihre „Freundschaft“ (G II, 116) beruft. Er gewinnt Parmenio für seine Zwecke, ohne ihn einzuweihen, verlangt ihm aber trotzdem noch einen Treueschwur auf die Ehre seines Sohnes ab. Wieder allein, spricht Philotas sich selbst Mut zu, sein Vorhaben auszuführen, wenn nicht durch die „Standhaftigkeit des Alters“, so doch wenigstens durch die „Hartnäckigkeit des Jünglings“ (G II, 118). Er stellt sich vor, wie er tot aufgefunden würde: „Ha! es muß ein trefflicher, ein großer Anblick sein: ein Jüngling gestreckt auf den Boden, das Schwerd in der Brust! –“
Sechster Auftritt
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Siebenter Auftritt
(G II, 118f.) In diesen narzistischen Tagträumen wird ihm allerdings plötzlich bewusst, dass er als Gefangener die dringend benötigte Waffe überhaupt nicht bei sich hat. Aridäus kommt im siebenten Auftritt noch einmal mit großer Herzlichkeit zu Philotas, den er seinen Feldherren vorstellen möchte. „Liebenswürdige Kinder sind schon oft die Mittelspersonen zwischen veruneinigten Vätern gewesen. Folge mir also in mein Zelt, wo die besten meiner Befehlshaber deiner warten.“ (G II, 119) Philotas beharrt im anschließenden Wortwechsel auf der Berechtigung des väterlichen Angriffskrieges, indem er sich gegenüber rationalen Argumenten ausdrücklich verschließt: „PHILOTAS. […] Ich weiß weiter nichts, als daß du und mein Vater in Krieg verwickelt sind; und das Recht – das Recht, glaub’ ich, ist auf Seiten meines Vaters. Das glaub’ ich, König, und will es nun einmal glauben – wenn du mir auch das Gegenteil unwidersprechlich zeigen könntest. Ich bin Sohn und Soldat, und habe weiter keine Einsicht, als die Einsicht meines Vaters und meines Feldherrn. ARIDÄUS. Prinz, es zeiget einen großen Verstand, seinen Verstand so zu verleugnen. Doch tut es mir leid, daß ich mich also auch vor dir nicht soll rechtfertigen können. – Unseliger Krieg! PHILOTAS. Ja wohl, unseliger Krieg! – Und wehe seinem Urheber! ARIDÄUS. Prinz! Prinz! erinnere dich, daß dein Vater das Schwerd zuerst gezogen. Ich mag in deine Verwünschung nicht einstimmen. Er hatte sich übereilt, er war zu argwöhnisch – PHILOTAS. Nun ja; mein Vater hat das Schwerd zuerst gezogen. Aber entsteht die Feuersbrunst erst dann, wenn die lichte Flamme durch das Dach schlägt? […] – Bedenke, – denn du zwingst mich mit aller Gewalt von Dingen zu reden, die mir nicht zukommen – bedenke, welch eine stolze, verächtliche Antwort du ihm erteiltest, als er – Doch du sollst mich nicht zwingen; ich will nicht davon sprechen! Unsere Schuld und Unschuld sind unendlicher Mißdeutungen, unendlicher Beschönigungen fähig. Nur dem untrieglichen Auge der Götter erscheinen wir, wie wir sind; nur das kann uns richten. Die Götter aber, du weißt es, König, sprechen ihr Urteil durch das Schwerd des Tapfersten. Laß uns den blutigen Spruch aushören! Warum wollen wir uns kleinmütig von diesem höchsten Gerichte wieder zu den niedrigern wenden? Sind unsere Fäuste schon so müde, daß die geschmeidige Zunge sie ablösen müsse?“ (G II, 119f.) Aridäus versteht weder diese blutrünstige Haltung noch die rätselhafte Andeutung, die Philotas über die Zukunft Polytimets macht. Philotas stellt sich ahnungslos und beruft sich auf den „Vater der Götter und Menschen“ (G II, 121), was Aridäus versöhnt: „Was ist ein Held ohne Menschenliebe! Nun erkenne ich auch diese in dir, und bin wieder ganz dein Freund!“ (ebd.)
3. Philotas (1759)
Um, wie er sagt, vor den Feldherren würdevoll auftreten zu können, erbittet Philotas von Aridäus ein Schwert, das zu holen jedoch ohnehin schon veranlasst worden war. Da der Soldat, der Philotas gefangen genommen hatte, das Schwert des Prinzen als Schlachttrophäe behalten wollte, erhält Philotas von Strato ein anderes Schwert aus der Sammlung des Aridäus. Philotas prüft es, indem er es zieht und wie von Sinnen durch die Luft schlägt:
Achter Auftritt
„Nein, mein Vater, nein! Heut sparet dir ein Wunder das schimpfliche Lösegeld für deinen Sohn; künftig spar’ es dir sein Tod! Sein gewisser Tod, wenn er sich wieder umringt siehet! – Wieder umringt? – Entsetzen! – Ich bin es! Ich bin umringt! Was nun? Gefährte! Freunde! Brüder! Wo seid ihr? Alle tot? Überall Feinde? – Überall! – Hier durch, Philotas! Ha! Nimm das, Verwegner! – Und du das! – Und du das! (um sich hauend)“ (G II, 124) Nachdem Philotas sich mit dem Schwert tödlich verwundet hat, hält Strato den Krieg für beendet, während Aridäus ihn fortsetzen möchte: „Was liegt mir an meinem Sohne? Und denkst du daß er nicht eben sowohl zum Besten seines Vaters sterben kann, als du zum Besten des deinigen?“ (G II, 125) Strato erinnert ihn, daß Polytimet noch lebe und weint um den sterbenden Philotas, dessen Standhaftigkeit ihn beeindruckt. Berührt von der menschlichen Geste, den Feind zu beklagen, entscheidet sich Aridäus für die Rettung seines Sohnes und den Verzicht auf den Thron. Spätestens in der Abdankung zeigt sich ein deutliches Auseinandertreten von Politik und Moral (vgl. Fink 1998, 67). So lautet das Schlusswort des Äridäus: „Beweine ihn nur! – Auch ich! – Komm! Ich muß meinen Sohn wieder haben! Aber rede mir nicht ein, wenn ich ihn zu teuer erkaufe! – Umsonst haben wir Ströme Bluts vergossen; umsonst Länder erobert. Da zieht er mit unserer Beute davon, der größere Sieger! – Komm! Schaffe mir meinen Sohn! Und wenn ich ihn habe, will ich nicht mehr König sein. Glaubt ihr Menschen, daß man es nicht satt wird?“ (G II, 126) Wie der Krieg ausgeht, bleibt ebenso offen wie die Frage, wer als eigentlicher Held aus dem Konflikt hervorgeht. Denn traditionswidrig ist Philotas als Protagonist durch sein halsstarriges Kriegspathos negativ belegt, während sich Aridäus, eigentlich der Feind, sich als durchaus positive Kontrastfigur erweist, deren „Bekenntnis zur Humanität“ (Sørensen 1984, 73) weit eher zu überzeugen vermag als die Ideale vom Krieg und Sterben für das Vaterland (vgl. Bohnen 1986, 35). Lessings Abweichungen von der herkömmlichen Trauerspielpraxis reichen indes noch viel weiter. Sie lassen sich sowohl an formalen Auffälligkeiten als auch an der konzeptionellen Anlage des Helden festmachen. Zwar gab es bereits seit den 1680er Jahren einzelne Trauerspiele in Prosa, aber die Versform dominierte noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Lessing verzichtet im Philotas nicht nur auf eine metrische Gliederung, son-
Experimente mit dem heroischen Trauerspiel
Formale Besonderheiten
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Fragwürdige Tragik
Fragwürdige Tugendhaftigkeit
dern nähert die Sprache auch sonst dem alltäglichen Gebrauch an, obwohl im Trauerspiel das genus grande (lat.: hoher Stil), das eine starke Rhetorisierung und oft auch Bilderreichtum mit sich bringt, durchaus üblich war. Als Neuerung darf auch die Reduktion auf einen einzigen Akt gelten, welche einen zentralen Konflikt anstelle einer komplexen Handlungsentwicklung in den Blickpunkt rückt. Einakter wurden zuvor lediglich im Bereich der Schwank- und Lustspiele sowie für unterhaltsame Vor-, Zwischen- oder Nachspiele verwendet, aber nicht für tragische Stoffe, die nach aristotelischer Norm üblicherweise in einem fünfaktigen Schema präsentiert wurden. Und schließlich behandelt das Stück keinen authentischen Stoff aus der Geschichte, sondern ein moralisches Dilemma, das gleichsam als dramatische Versuchsanordnung aufgebaut wird. Nur zwei Namen entlehnte Lessing aus dem Umfeld des makedonischen Königs Alexanders des Großen (356–323 v. Chr.), der einen Feldherrn namens Philotas hatte, dessen Vater Parmenion hieß. Diese Verwandtschaftsbeziehung steht freilich wie auch die übrigen Umstände des historischen Philotas in keinem Zusammenhang mit der völlig fiktiven Dramenhandlung. Als Königssohn ist Philotas nach der Ständeklausel, die im Trauerspiel nur hohes Personal erlaubt, grundsätzlich tragödienfähig. Echte Tragik beschränkt sich jedoch für gewöhnlich nicht allein darauf, dass der tugendhafte Held am Ende eines Stückes stirbt. Vielmehr muss sein Untergang in einer unaufhaltsamen Katastrophe erfolgen, die entweder durch höheres Schicksal, moralische Schuld oder einen unauflöslichen Konflikt herbeigeführt wird. Der Suizid des Philotas hingegen ist nicht nur politisch sinnlos, sondern auch moralisch zweifelhaft, weil er dramenintern keine Rechtfertigung etwa durch ein verallgemeinerbares Sittengesetz erfährt, sondern nur auf einem spontanen Sinneswandel gründet, mit dem sich Philotas eigenmächtig über das Schicksal erhebt (vgl. Ehrich-Haefeli 1993, 230f. u. 236). So erfolgt seine Tat weder im Interesse des Vaterlands, das den Thronfolger verliert, noch in dem seines Vaters, von dem er doch annimmt, dass ihm die Rettung des Sohne mehr bedeute als der Sieg. Als ausschlaggebend erweist sich lediglich der „egozentrische Drang, ein heroisches Opfer zu bringen“ (Nisbet 2008, 319). Die merkwürdige Egozentrik des Helden wird unterstrichen durch häufige Verwendung des Personalpronomens „ich“ sowie durch seine überwiegend monologisch ausgerichtete Rede, selbst im Gespräch mit anderen Figuren (vgl. Pütz 1985, 102). Außerdem lässt sich Philotas allenfalls bedingt als tugendhaft bezeichnen. Vordergründig besitzt seine Haltung eine gewisse Ähnlichkeit mit der noch von Gottsched erneut geforderten constantia (lat.: Standhaftigkeit) als höchster Tugendleistung des Helden, die darin besteht, Unabänderliches gelassen zu ertragen. Da jedoch zum Zeitpunkt seines Suizids gar kein Konflikt mehr vorliegt, offenbart die Verhaltensweise des Philotas letztlich nur die Borniertheit, ein bereits gelöstes Problem um jeden Preis wieder verkomplizieren zu wollen. Aus gutem Grund bescheinigte eine Zürcher Rezension vom 19. September 1759 dem jugendlichen Helden patriotische Leidenschaft und Mutwillen anstelle von mustergültiger Tugendhaftigkeit: „Des Philotas Leichtsinnigkeit, seine Niederträchtigkeit, sein schwindlichter
4. Fabeln und Fabelabhandlung (1759)
Kopf, fallen ins Komische und Abenteuerliche, sein Selbstmord, den der Einfall verursachet, daß er so seinen Überwinder des Lösegeldes berauben wolle, […] ist nicht nur unexemplarisch, und lasterhaft, sondern ungereimt und ausschweifend.“ (in G II, 699) In diesem Punkt nimmt das Stück bisweilen Züge der Typenkomödie an, wenngleich Philotas als Figur ungleich vielschichtiger gestaltet ist als beispielsweise Damis in Der junge Gelehrte (vgl. Kap. V.2; Norton 1992, 460f.). Lessing entwirft ein „vollständiges und überzeugendes Bild eines verstörten Heranwachsenden“ (Nisbet 2008, 320), dessen Beziehung zu seinem übermächtigen Vater zu psychologisierenden Deutungen einlädt (vgl. Schneider 1990; Ehrich-Haefeli 1993). Was Lessing mit diesem unheroischen Helden gelingt, ist die wirkungsästhetische Abkehr vom Affekt der Bewunderung (vgl. Wiedemann 1967, 383f.), für die er sich anders als Mendelssohn und Nicolai theoretisch bereits in dem zu dritt verfassten Briefwechsel über das Trauerspiel (1756/57; vgl. Kap. IV.4) ausgesprochen hatte. Allerdings nimmt sich sein Held auch zu wenig sympathisch aus, um den von Lessing bevorzugten Affekt des Mitleids erregen zu können, auch wenn Strato ihn mit seinen Tränen am Schluss womöglich als intendierte Zuschauerreaktion vorgibt. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurde das Stück von der Forschung ungeachtet der offensichtlichen Brüche im Charakter des Philotas und der auf Vernunft, Erfahrung und Menschlichkeit gründenden Gegenentwürfe, die von Aridäus, aber auch von den gestandenen Kriegern Parmenio und Strato vorgetragen werden, üblicherweise als patriotische Agenda missverstanden (vgl. Ter-Nedden 2007, 362–370). Seit der richtungweisenden Studie von Wiedemann (vgl. Wiedemann 1967) gilt es jedoch als Konsens, dass Lessing mit der verblendeten Kriegswut des jungen Titelhelden vielmehr den Patriotismus seiner Zeit kritisch hinterfragt. In diesem Sinne wurde Philotas trotz gewisser Deutungsoffenheiten sogar regelrechter Lehrstückcharakter attestiert (vgl. Ter-Nedden 2010, 179f.).
Deutungswandel
4. Fabeln und Fabelabhandlung (1759) Das achtzehnte Jahrhundert, das oft als ,pädagogisches Jahrhundert‘ bezeichnet wird, verbindet sich in hohem Maße mit dem Anspruch, Bildung zu vermitteln, sei sie nun wissenschaftlicher, religiöser, philosophischer oder sittlich-moralischer Natur. Die Fabel, die zuvor oft verächtlich als Literatur für Frauen, Kinder und Ungebildete gescholten wurde, gewann mit der Aufwertung ihrer moraldidaktischen Nutzenprogrammatik als „didaktische Gattung par excellence“ (Barner u.a. 1998, 224), teils aber auch als Medium verdeckter gesellschaftlicher oder politischer Kritik, vor allem während der ersten Jahrhunderthälfte außerordentliche Beliebtheit. Maßgeblich für die neuzeitliche Fabeldichtung wirkten vor allem Jean de la Fontaine (1621–1692) und Antoine Houdar de la Motte (1672–1731), dessen vielzitierte Formel der philosophie déguisée (frz.: versteckte Philosophie) – bei Lessing ist die Rede vom „gemeinschaftlichen Raine der Poesie
Fabeln in der Aufklärung
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Deutschsprachige Fabeldichtung
Doppelter Fabel-Begriff
Zulässigkeit der Tierfabel
und Moral“ (G V, 353) – das aufklärerische Fabelverständnis auf den Punkt bringt. Auch im deutschsprachigen Raum gehörte es gleichsam zum guten Ton der Aufklärung, sich als Fabeldichter zu betätigen. Namhafte Autoren wie z.B. Johann Jakob Bodmer (1698–1783), Johann Jakob Breitinger (1701–1776), Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769), Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803) oder Friedrich von Hagedorn (1708–1754) sowie noch rund vier Dutzend weitere, heute außerhalb der Fachwissenschaft in Vergessenheit geratene Fabeldichter legten entsprechende Sammlungen vor. Mit seinem Fabelbuch von 1759 (2. Aufl. 1777), dessen vollständiger Titel Fabeln. Drei Bücher. Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungsart verwandten Inhalts lautet, trug Lessing ebenfalls zu diesem Modephänomen bei. Seine Beschäftigung mit der Fabel, der er sich als Dichter, Theoretiker, Kritiker und Philologe (vgl. Eichner 1974,14) widmete, begann in seiner Studienzeit und dauerte bis in die Zeit als herzoglicher Bibliothekar in Wolfenbüttel an. In dieser Funktion gab er eine Publikationsreihe mit dem Titel Zur Geschichte und Literatur heraus, die er 1773 mit einer überlieferungsgeschichtlichen Untersuchung zu Ulrich Boners Fabelsammlung Der Edelstein aus dem 14. Jahrhundert eröffnete. Eine begriffliche Klarstellung, die Lessing in seiner Fabelabhandlung trifft (vgl. G V, 355), erscheint nach wie vor hilfreich: Ganz allgemein wird mit ,Fabel‘ oder lat. fabula seit der antiken Dichtungslehre die Handlung eines literarischen Textes, insbesondere die eines Dramas, bezeichnet. Im engeren, gattungspoetischen Sinne, um den es bei Lessings Fabeldichtung geht, meint ,Fabel‘ demgegenüber einen kurzen, lehrhaften Erzähltext ohne Nebenhandlungen, der in Versen oder – wie es mehrheitlich in Lessings Fabelbuch der Fall ist – in Prosa verfasst sein kann. Hauptsächlich verbreitet ist der nach dem griechischen Sklaven Äsop (6. Jh. v. Chr.) benannte, von Lessing ausdrücklich als traditioneller Bezugspunkt genannte Typus der äsopischen Fabel (vgl. G V, 355), in der menschliche Schwächen meistens von Tieren verkörpert werden. Dabei werden in der Regel zwei oder mehr Positionen zu einer beispielhaft vorgeführten Konfliktfrage so gegeneinander ausgespielt, dass am Schluss eine eindeutige Wertung (lat.: moralisatio) möglich wird, die nicht selten ausdrücklich in Form eines vor- oder nachgestellten Lehrsatzes (Pro- bzw. Epimythion) kundgetan wird. In der auf strenge Rationalitätskriterien verpflichteten Theoriediskussion der Aufklärung, die sich erstmals um eine theoretisch genaue Grundlegung bemühte, sorgte das gattungsübliche Vorkommen sprechender Tiere freilich für Zündstoff, weil sich derartiges nicht ohne weiteres mit dem empirischen Wahrscheinlichkeitspostulat (lat.: verisimilitudo) vereinbaren lässt. Gellert löst das Problem in seiner lateinischen Dissertation De poesi apologorum eorumque scriptoribus (1744), die 1773 in einer anonymen Übersetzung postum unter dem Titel Von denen Fabeln und deren Verfassern erschien, ganz pragmatisch. Tierfabeln erklärt er für zulässig, weil darin lediglich bestimmte Verhaltenszuschreibungen von Tieren auf menschliche Kommunikationsweisen übertragen würden, was sich als Denkmodell ohne Weiteres vernünftig nachvollziehen lasse. Lessing, der diese Ansicht teilt, hält den
4. Fabeln und Fabelabhandlung (1759)
Gebrauch von tierischem Personal auch insofern für zweckmäßig, als es die Affektwirkungen zugunsten der verstandesmäßigen Erkenntnis verringere: „Nichts verdunkelt unsere Erkenntnis mehr als die Leidenschaften. Folglich muß der Fabulist die Erregung der Leidenschaften so viel als möglich vermeiden. Wie kann er aber anders, z.B. die Erregung des Mitleids vermeiden, als wenn er die Gegenstände desselben unvollkommener macht, und anstatt der Menschen Tiere oder noch geringere Geschöpfe annimmt?“ (G V, 394f.) Weitere Standards für das aufklärerische Gattungsverständnis finden sich bei Gottsched, der in seiner Critischen Dichtkunst (1751) erstens einen moralischen Lehrsatz, zweitens dessen Einkleidung in Begebenheiten aus der Tier- oder Pflanzenwelt, drittens die Kürze und viertens die ungekünstelte Schlichtheit des sprachlichen Ausdrucks als Merkmale der Fabel festlegt (vgl. Gottsched 1962, 446–449). Lessings Gattungsdefinition, die er in seiner Abhandlung über die Fabel (1759) vornimmt, weist zumindest auf den ersten Blick einen ganz ähnlichen Zuschnitt auf, denn im Zentrum steht bei ihm – wie bei allen aufklärerischen Fabeltheoretikern – das Bestreben, einen moralischen Lehrsatz zu illustrieren: „Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besonderen Fall zurückführen, diesem besonderen Falle die Wirklichkeit erteilen, und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt: so heißt diese Erdichtung eine Fabel.“ (G V, 385) Im Unterschied zu Gottsched bietet Lessing jedoch keine regelförmigen Anleitungen zur Fabeldichtung. Stattdessen bedient er sich eines für ihn typischen schlaglichtartigen Verfahrens (vgl. Kap. IV.1), wenn er sich, im Gestus oft beinahe in der Art eines Streitgespräches, mit zahlreichen antiken und neuzeitlichen Autoritäten auf dem Gebiet der Fabeldichtung auseinandersetzt. Anstatt deren Theorien systematisch auszuwerten, möchte er, wie er selbst mitteilt, lediglich ausschnitthaft ihre „vornehmsten Erklärungen prüfen“ (G V, 357). Im begriffskritischen Widerspruch zu seinen Vorgängern (vgl. Villwock 1986, 64), darunter insbesondere La Motte, David Henri Richer, Abbé Charles Batteux und Breitinger, entwickelt er seine theoretischen Vorstellungen, über die er sich freilich in den eigenen Fabeldichtungen mit der künstlerisch souveränen Begründung, dass das „Genie seinen Eigensinn hat; daß es den Regeln selten mit Vorsatz folget“ (G V, 354) immer wieder nonchalant hinwegsetzt. Lessings Überlegungen kreisen in weiten Teilen um das Verhältnis von empirischem Einzelfall und allgemeiner Moral, von Metapher und Vernunft und damit letztlich auch um das Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit. Besonders große Bedeutung erhält dabei das Moment der lebendigen Anschauung, die zu einer „anschauenden Erkenntnis“ (G V, 361) führen solle. Sein Verständnis dieser cognitio intuitiva entwirft Lessing in gedanklicher Anlehnung an den Philosophen Christian Wolff (1679–1754), aus dessen Philosophia practica universalis (1739) er sogar einzelne Passagen in direkter Übersetzung aufgreift. Indes wurde die Frage nach Art und Grad seiner Abhängigkeit von Wolff in der Forschung mit jeweils guten Gründen unterschiedlich beurteilt (vgl. Eichner 1974 vs. Hartl 1978), was nicht zu-
Gattungsmerkmale
Keine Regeln für das Genie
Einzelfall und allgemeine Moral
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Besonderheiten Lessings
Funktion der Quellenangaben
Verzicht auf den Lehrsatz
Die poetologischen Fabeln
letzt auch Lessings nie streng akademischen und daher mitunter deutungsoffenen Darstellungsweisen geschuldet sein mag. Festzuhalten bleibt für Lessings Fabeltheorie jedenfalls eine „philosophische Grundlegung des Gattungsbegriffs“ (Schrader 1991, 107) durch die hochaktuelle wirkungsästhetische Verbindung von poetischer und rationaler Erkenntnis. Besonderen Wert legt Lessing auf die Transferleistung vom konkreten Einzelfall hin zu einer Einsicht ins Allgemeine. Dabei insistiert er mit größtem Nachdruck „auf der Erhebung des einzeln [!] Falles zur Wirklichkeit“ (G V, 399) als Wesensmerkmal der Gattung. Demnach dürfe die Fabelepisode keinesfalls als bloß möglich dargeboten werden, d.h. es kann nach Lessing weder um einen beliebigen Raben, Fuchs oder Adler noch um diese Tierarten im allgemeinen gehen, sondern das Geschehen muss unbedingt als tatsächliches Erlebnis eines ganz bestimmten Raben, Fuchses oder Adlers erzählt werden. Weitere Eigenschaften, die er der Fabel abverlangt (vgl. Schrader 1991, 105), bestehen in der Kürze sowie in der schmucklosen Schlichtheit des Ausdrucks, die er den spielerisch-eleganten Versfabeln La Fontaines mit ihrer „lustigen Schwatzhaftigkeit“ (G V, 408) entgegensetzt. Als prägend für Lessings Fabeldichtungen erweist sich darüber hinaus die produktive Anverwandlung der Gattungstradition, die er in seinen eigenen Texten teils nur leicht, zumeist aber erheblich variiert fortschreibt. In seinem Fabelbuch stattet er genau die Hälfte seiner Texte mit expliziten Quellenangaben aus, wenngleich diese nicht immer präzis zutreffen (vgl. Rölleke 2002, 253). Vor allem beruft er sich auf Äsop, auf dessen lateinischen Bearbeiter Phädrus (um 20 v. Chr.–um 50. n. Chr.) sowie auf den spätantiken Fabeldichter Claudius Aelianus (2./3. Jh. n. Chr.). Wenn er seine Quellen offenlegt, so geschieht dies weniger aus philologischer Pflichtschuldigkeit denn aus kunstfertigem Geschick, durch das er zum Vergleich mit der Vorlage anregt. Auf diese Weise werden nicht nur Parallelen sichtbar, sondern vor allem auch Lessings dezidiert gestalterischer Umgang mit dem überlieferten Material. Der Punkt, in dem sich Lessing mit seinen Fabeln prinzipiell von allen seinen Zeitgenossen unterscheidet, besteht im Verzicht auf eine klare, eindeutig festgelegte Deutung. Obwohl er dem Lehrsatz einen sehr hohen Stellenwert zumisst, geht es ihm offenbar weniger um die klare moralische Unterweisung als vielmehr um eine intellektuelle Versuchsanordnung (vgl. Eichner 1974, 22), die auf eine für dringend nötig befundene Ermunterung zu geistiger Aktivität abzielt. Daher sieht er in vielen Fällen davon ab, seinen Fabeln ein explizites fabula docet (lat.: die Fabel lehrt), d.h. eine lehrsatzförmige Moral, hinzuzufügen. In seiner Fabelabhandlung klagt er: „Warum fehlt es in allen Wissenschaften und Künsten so sehr an Erfindern und selbstdenkenden Köpfen?“ (G V, 416) Mit diesem Stoßseufzer, der auf die Forderung nach selbständiger Gedankenarbeit hinausläuft, nimmt er inhaltlich im Grunde Immanuel Kants epochemachendes Diktum von der Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant 1784, 481) um Jahrzehnte vorweg. Einige zentrale Aspekte seiner Gattungsauffassung trägt Lessing nicht nur theoretisch vor, sondern macht sie außerdem in den poetologisch angele-
4. Fabeln und Fabelabhandlung (1759)
gten Eröffnungs- und Schlussfabeln der drei Bücher seiner Fabelsammlung von 1759 zum Thema (vgl. Spitz 1976). Gleich am Anfang werden Fabeln in Die Erscheinung zu „Orakelsprüchen einer göttlichen Erscheinung“ (G I, 231) erklärt, worin Lessings besondere, eben nicht unmittelbar eindeutige Belehrungsabsicht zum Ausdruck kommt. In Aesopus und der Esel kommt die Charakterspezifik der Tiere zur Sprache, die es einzuhalten gelte: Der Esel verlangt von Äsop, er möge ihn doch einmal etwas Kluges sagen lassen, was Äsop naturgemäß für unpassend befindet: „Würde man nicht sprechen, du seist der Sittenlehrer, und ich der Esel?“ (G I, 243) Mit Die eherne Bildsäule führt Lessing seine Einstellung zum Traditionsverhalten plastisch vor Augen. In dieser Fabel erschafft ein Künstler aus einem alten Standbild, das bei einem Brand zerschmolzen ist, ein neues Werk, was er, wie der Neid zugesteht, nicht geschafft hätte, „wenn ihm nicht die Materie der alten Bildsäule dabei zu Statten gekommen wäre“ (G I, 244). Für Lessings Stilvorgabe der ungekünstelten Schlichtheit steht die Fabel Der Besitzer des Bogens, deren namenlose Titelfigur so lange Dekorationen in seinen hölzernen Bogen schnitzt, bis er zerbricht, was dichtungstheoretisch dahingehend zu verstehen ist, dass eine rhetorisch allzu ausgefeilte Fabel wie der Bogen unbrauchbar werde. Ein häufig untersuchtes Beispiel für Lessings Rückgriff auf bekannte Fabeldichtungen und deren Umgestaltung stellt Der Rabe und der Fuchs dar. In Äsops Version, die zum Modell für zahlreiche Nachdichtungen wurde, lobt ein Fuchs die Größe und Schönheit eines Raben, der mit einem gestohlenen Stück Fleisch im Schnabel auf einem Baum sitzt. Er verheißt, wenn der Rabe zu seiner äußerlichen Pracht auch noch singen könne, stünde ihm die Herrschaft über die Vögel zu. Der geschmeichelte Rabe will den Beweis seiner Stimmkraft antreten, wobei er das Fleisch fallenlässt. Als der Fuchs es erbeutet, stellt er fest: „Ach, Rabe, wenn du auch noch Vernunft besäßest, hätte deiner Herrschaft über alle nichts im Wege gestanden.“ (Äsop 2005, 127) Am Schluss der antiken Fabel steht die Anregung, diesen Sachverhalt auf menschliche Verhältnisse zu übertragen: „Die Geschichte passt gut auf einen Mann ohne jede Vernunft.“ (ebd.) Bei Lessing hingegen ist der Rabe kein Dieb, sondern hat unwissentlich einen ausgelegten Giftköder mitgenommen. Da er das Fleisch nicht im Schnabel hält, sondern in den Krallen, kann die Gesangsprobe nicht funktionieren. Ersatzweise drängt ihn der Fuchs zu einer großherzigen Geste, indem er vorgibt, ihn für einen Mächtigeren zu halten, von dem er ein Almosen zu bekommen gewohnt ist. Bald nachdem er das erschmeichelte Fleisch gefressen hat, stirbt er an einer Vergiftung. Dazu wird ausnahmsweise eine explizite Moral mitgeliefert: „Möchtet ihr euch nie etwas anders als Gift erloben, verdammte Schmeichler!“ (G I, 251) Anders als bei Äsop, La Fontaine und etlichen anderen richtet sich Lessings Bearbeitung nicht auf die „Konsequenzen aristokratischer Eitelkeit“, sondern erstmals auf diejenigen von „Berechnung und Heuchelei“ (von Treskow 2000, 19), was Lessing zugleich durch Todesstrafe für den Fuchs und Verfluchung aller Schmeichler beträchtlich radikalisiert. Zuweilen wurde versucht, einzelne von Lessings Fabeln politisch auszulegen, etwa als „Widerspruch gegen die Ideologie der Oberen“ (Bauer
Umdichtung traditioneller Stoffe
Politische Deutungen
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1973, 32), was allerdings zum einen in Lessings Fabeltheorie keine Rolle spielt (vgl. Barner u.a. 1998, 230) und sich zum anderen auch in seinen Fabeldichtungen aufgrund ihres merkwürdig schillernden Aussagegehaltes allenfalls unterschwellig nachweisen lässt. Besonders häufig wird in diesem Zusammenhang Der Tanzbär diskutiert. Die Nuancen lassen sich prägnant im Vergleich mit Gellerts Fassung des Stoffes von 1746 darstellen, in der ein dressierter Bär in den Wald zu den wilden Bären zurückkehrt, von seinen Abenteuern erzählt und seine tänzerischen Fähigkeiten vorführt. Während der Tanzbär immer neue Kunststücke vollführt, scheitern seine Artgenossen kläglich beim Versuch, ihm nachzueifern. Als die anfängliche Bewunderung in Groll umschlägt, muss der Tanzbär fliehen. Aus dieser Bärenepisode leitet Gellert in einem erklärenden Epimythion den folgenden allgemeinen Ratschlag für das soziale Verhalten ab: „Sey nicht geschickt, man wird dich wenig hassen, Weil dir dann jeder ähnlich ist; Doch ie geschickter du vor vielen andern bist: Je mehr nimm dich in Acht, dich prahlend sehn zu lassen. Wahr ists, man wird auf kurze Zeit Von deinen Künsten rühmlich sprechen; Doch traue nicht, bald folgt der Neid, Und macht aus der Geschicklichkeit Ein unvergebenes Verbrechen.“ (Gellert 2000, 61) Wendung ins Gesellschaftskritische
Während dieser Text auf Missgunst und Imponiergehabe als allgemein menschliche Schwächen abzielt, wird der Stoff in Lessings Bearbeitung, die wie viele seiner frühen Fabeln noch in Versen vorliegt, weitaus stärker gesellschaftskritisch fokussiert. So löst hier die Vorführung des Tanzbären unter den wilden Artgenossen keinerlei Neid auf seine Kunstfertigkeit aus, sondern lediglich ein brüskes Urteil über seine Unterwerfung unter die Dressur: „,Seht, schrie er, das ist Kunst; das lernt man in der Welt. Tut mir es nach, wenns euch gefällt, Und wenn ihr könnt!‘ Geh, brummt ein alter Bär, Dergleichen Kunst, sie sei so schwer, Sie sei so rar sie sei, Zeigt, deinen niedern Geist und deine Sklaverei.“ (G I, 198)
Kritik in Frageform
Gleichwohl fällt die Belehrung in dieser Fabel alles andere als eindeutig aus, zumal sie nicht als Lehrsatz, sondern als frageförmiger Denkanstoß vorgetragen wird, der keineswegs nur rhetorisch zu verstehen ist. Denn der Höfling, der mit dem Bären parallelisiert wird, verhält sich innerhalb seines gesellschaftlichen Umfeldes vollkommen korrekt, auch wenn die Verstellung bürgerlichen Tugendidealen eklatant zuwiderläuft:
4. Fabeln und Fabelabhandlung (1759)
„Ein großer Hofmann sein, Ein Mann, dem Schmeichelei und List Statt Witz und Tugend ist; Der durch Kabalen steigt, des Fürsten Gunst erstiehlt, Mit Wort und Schwur als Komplimenten spielt, Ein solcher Mann, ein großer Hofmann sein, Schließt das Lob oder Tadel ein?“ (ebd.) Anders als bei Lessing enthält die Tanzbär-Fabel von Gottlieb Konrad Pfeffel (1736–1806) aus dem Revolutionsjahr 1789 eine unmissverständliche politische Botschaft. Pfeffels Text schildert detailreich, wie ein junger Bär gefangen und unter Qualen zum Tanzbären dressiert wird, bis er nach drei Jahren fliehen und in die Wildnis zurückkehren kann. Von den anderen Bären wird er dieses Mal nicht verstoßen, sondern fürsorglich aufgenommen:
Politisierung im Kontext der Französischen Revolution
„Mit frohen Küssen Empfängt ihn seiner Brüder Chor. Der eine reicht ihm leckre Speisen, der andrere hilft ihm von dem Eisen An Hals und Schnautze zu befreyn.“ (Pfeffel 1987, 117) Der Begriff ,Brüder‘ meint hier nicht nur die Verwandtschaft unter Artgenossen, sondern auch ein zivilgesellschaftliches Bündnis, in das der Tanzbär feierlich aufgenommen wird: „Und weihet ihn zum Bürger ein.“ (ebd.) Im Kontrast zu den bürgerlich verfassten Bären steht die Politik der Menschen, „[w]o man nichts kennet als Despoten / Mit ehrnen Zeptern und Heloten [sc. Staatssklaven im antiken Sparta]“ (Pfeffel 1987, 116). Die Handlung endet damit, dass der Tanzbär seinen ehemaligen Besitzer „gleich dem Höllendrachen“ (Pfeffel 1987, 117) im Wald erkennt und ihn „mit wilder Lust“ (ebd.) tötet. Dementsprechend folgt als moralisatio eine regelrechte Drohung: „Ihr Zwingherrn, bebt! Es kömmt der Tag, An dem der Sklave seine Ketten Zerbrechen wird, und dann vermag Euch nichts vor seiner Wuth zu retten.“ (ebd.) Ein zweiter Text Lessings, der politisierende Interpretationen nahelegt, ist Die Wasserschlange, deren Stoff bereits bei Äsop und Phädrus begegnet. In der antiken Überlieferung bitten die Frösche um einen Herrscher, worauf sie von Zeus eine Wasserschlange erhalten, welche indes die Frösche ungeachtet ihres ängstlichen Flehens auffrisst. Als Lehre wird hinzugesetzt, man solle ein bestehendes Übel ertragen, damit an seine Stelle kein größeres trete. Im Unterschied dazu lehnen sich die Frösche bei Lessing beherzt gegen die Gewaltherrschaft der Schlange auf, die sich jedoch im Recht wähnt,
Die Fabel als Fürstenspiegel
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Gesellschaftssatire
weil die Frösche darum gebeten hätten. Als ein Frosch erklärt, das habe er nicht getan, erwidert die Schlange: „Desto schlimmer! So muß ich dich verschlingen, weil du nicht um mich gebeten hast.“ (G I, 250) Indem das Problem des Machtmissbrauchs aufgeworfen wird, erlangt der Fabelstoff in dieser Bearbeitung eine durchaus eindringliche politische Dimension. Gleichwohl unternimmt Lessing weniger eine „prinzipielle Kritik an politischer Herrschaft oder gar am Absolutismus“ (Barner u.a. 1998, 234) als dass er in der beratenden Tradition des Fürstenspiegels, d.h. der literarischen Verhaltenslehre für Regenten, eine tadelhafte Herrscherqualität zur Sprache bringt. Dass sein Augenmerk eher der übergeordneten Frage einer „Metaphysik des Bösen“ (Eichner 1974, 338) gilt, zeigt sich besonders eingängig in Der Dornstrauch, in dem es um den bloßen Mutwillen geht. Auf die Frage, was er mit der Kleidung des vorübergehenden Menschen anfangen wolle, nach der er so begehrlich greife, antwortet nämlich der Dornstrauch: „Nichts! […] Ich will sie ihm auch nicht nehmen; ich will sie ihm nur zerreißen.“ (G I, 256) Während alle Versuche, Lessings Fabeln eindeutig auf systemkritische Aussagen festzulegen, regelmäßig an der Ambivalenz der Texte scheitern, fällt die Entlarvung von menschlichen Charakterschwächen und Sozialtypen in den Texten ungleich greifbarer aus. In Der Adler und der Fuchs argwöhnt der Fuchs, dass der Adler seine Höhenflüge nur anstelle, um seine Beute besser erspähen zu können. Als gesellschaftssatirische Übertragung fügt Lessing hinzu: „So kenne ich Männer, die tiefsinnige Weltweise geworden sind, nicht aus Liebe zur Wahrheit, sondern aus Begierde zu einem einträglichen Lehramte.“ (G I, 271) Da eine von Lessings stilistischen Vorlieben im Bereich des epigrammatischen Witzes liegt, verwundert es kaum, wenn er derartige Zuspitzungen auch in seinen Fabeln betreibt. Ein prägnantes Beispiel dafür bietet die Versfabel Die eheliche Liebe, in der sechs Wochen nach Klorindes Tod auch deren Mann stirbt. Als Petrus ihm an der Himmelspforte einen Platz an Klorindes Seite anbietet, entgegnet er: „Was? Meine Frau im Himmel? wie? Klorinden habt Ihr eingenommen? Lebt wohl! habt Dank für Eure Müh’! Ich will schon sonst wo unterkommen.“ (G I, 201)
Mehrdeutigkeit
Ungeachtet ihrer geistreichen Treffsicherheit erweisen sich auch Lessings Verhaltenslehren in der Fabel letztlich oftmals als mehrdeutig, wie etwa im Falle von Die Eiche und das Schwein (G I, 237). Die Eiche fordert Dankbarkeit vom Schwein, das die herumliegenden Eicheln begierig frisst. Das Schwein weist dieses Ansinnen nach kurzem Überlegen zurück, weil die Eicheln kein spezielles Geschenk seien, sondern sowieso herabfallen würden. Üblicherweise wird dieser Text dahingehend verstanden, dass einerseits die maßlose Gefräßigkeit des Schweins und andererseits die herablassende Arroganz der Eiche (vgl. Doderer 1970, 30) und damit die Egozentrik beider Akteure (vgl. Fick 2010, 232) bloßgestellt werden sollen. Demgegen-
5. Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück (1767)
über spekuliert Rölleke vor dem Hintergrund verschiedener frühneuzeitlicher Variationen desselben Fabelstoffes, dem Schwein werde mit dem letzten Wort zugleich auch die sittliche Deutungshoheit erteilt. So sei es „ungerechtfertigt oder sogar unsinnig, von jemandem für etwas Dank abzufordern, was man nicht um dessentwillen, sondern gleichsam naturnotwendig leistet“ (Rölleke 2002, 255). Die verschiedenartigen Auffassungen innerhalb der Forschung, die eine literaturwissenschaftliche Sehnsucht nach Vereindeutigung reflektieren, bestätigen in der Zusammenschau einmal mehr den bei aller Beobachtungsschärfe zutiefst schillernden Charakter der Fabeln, der es rechtfertigt, Lessing eine Mittlerstellung zwischen „frühaufklärerisch moralisierend kritischer und spätaufklärerisch politisierend kritischer Fabeldichtung“ (Albrecht 1997, 39) zuzuweisen.
5. Minna von Barnhelm (1767) Als Kriegsheimkehrerkomödie reflektiert Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück die historische Umbruchsituation nach Ende des Siebenjährigen Krieges (1756–1763), angefangen vom Stoff über die Handlungsstruktur bis hin zu Einzelheiten der sprachlichen Ausdrucksweise (vgl. Pütz 1986, 203–220). Mit diesem „Zeitstück“ (Dombrowski 1997, 7) legte Lessing zugleich ein Musterbeispiel für seine Lustspielauffassung vor, die er in der theoretischen Auseinandersetzung mit älteren Modellen entwickelt hatte (vgl. Kap. IV.4). Inhaltlich geht es um die sozialen, finanziellen und territorialen Grenzen der Liebe zwischen Major von Tellheim, der als gebürtiger Kurländer in preußischen Diensten überaus folgenschwere Demütigungen erlitten hat, und Minna von Barnhelm, die ihn als „sächsisches verlaufenes Fräulein“ (V,9; G I, 696) ungeachtet der widrigen Umstände im Feindesland mit offenen Armen empfängt. In den formalen Grundzügen basiert Minna von Barnhelm in verschiedener Hinsicht auf traditionellen Gattungsmerkmalen. So werden unter anderem die drei aristotelischen Einheiten von Ort, Zeit und Handlung erfüllt. Denn der einzige Schauplatz ist das Berliner Wirtshaus „König von Spanien“, das einem realen Wirtshaus mit Namen „König von Portugal“ nachempfunden ist. Zeitlich legt Lessing die Ereignisse des Stückes auf einen Tag fest, und zwar auf den 22. August 1763, der als realhistorisches Datum für die Finanzmisere Tellheims relevant ist, weil Friedrich II. an diesem Tag eine Kommission zur Unterbindung von inflationären Wechsel- und Spekulationsgeschäften einsetzte (vgl. Saße 1993, 88ff.). Und die Haupthandlung beschränkt sich auf die Wiedervereinigung eines durch äußere Umstände und deren ungünstige Deutung getrennten Paares. Darüber hinaus weist das Stück bewährte Komödienmerkmale auf, darunter insbesondere typenhaft gezeichnete Nebenfiguren wie z.B. den geschäftstüchtigen Wirt, die Handlungsverwirrung und -auflösung durch eine Intrige sowie die Doppelhochzeit von Minna und Tellheim sowie von Minnas vertrauter Dienerin Franziska und Tellheims Freund Werner. Auch die an alltäglichen Aus-
Minna als Musterkomödie
Traditionelle Merkmale
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Innovative Abweichungen
Einbindung gattungsfremder Züge
drucksweisen orientierte Prosasprache entspricht vollauf den formalen Gepflogenheiten der Aufklärungskomödie. In entscheidenden Punkten weicht Lessing allerdings in Minna von Barnhelm programmatisch von dem hergebrachten Modell der Typenkomödie ab, das er selbst während seiner dramatischen Anfangsphase noch erfolgreich verwendet hatte (vgl. Kap. V.2). Zunächst einmal erfolgt gegen die Gattungskonvention eine Anbindung des Konfliktes an das historisch-politische Zeitgeschehen des Siebenjährigen Krieges und seiner unmittelbaren Auswirkungen in Preußen nach der Beendigung durch den Hubertusburger Frieden. Im Hintergrund des Dramengeschehens wirkt dabei sogar Friedrich II. mit, denn Tellheim, der über weite Teile des Stückes annehmen muss, er habe sein Vermögen und seine Ehre verloren, wird durch ein königliches Handschreiben rehabilitiert. Des weiteren deutet bereits der Titel insofern auf Neuerungen in der Figurenkonzeption hin, als die Hauptfigur zum einen weiblich ist und zum anderen durch die Namensnennung individualisiert wird, während traditionell im Komödientitel auf männliche und typisierte Protagonisten verwiesen wird, so etwa in Der Geizige oder Der eingebildete Kranke bei Molière oder in Der junge Gelehrte, Der Misogyn oder Der Freigeist im Frühwerk Lessings (vgl. Kap. V.2). Der unverkennbaren Signalwirkung des Titels entspricht die Anlage der Hauptfiguren im Stück, die sich nicht durch rein typisierte Verhaltensweisen kennzeichnen, sondern durch psychologisierte Interessenlagen und Entscheidungsstrategien. Als sog. gemischte Charaktere verkörpern Minna und Tellheim anstelle der überkommenen Schwarz-Weiß-Malerei von Tugend und Laster nunmehr komplexe, entwicklungsfähige und keineswegs mehr eindeutige Einstellungen zur menschlichen Wirklichkeit. Eine weitere Besonderheit des Stückes, die ebenfalls aus Lessings theoretischem Lustspielverständnis resultiert, besteht in der Kombination von komischen, tragischen und rührenden Elementen (vgl. Hinck 1965, 300f.; sowie Kap. IV.4). Ein prägnantes Beispiel für die Einbindung von rührenden Elementen bietet das Pudelgleichnis. Der finanziell ruinierte Tellheim versucht in dieser Szene, seinen Diener Just zu entlassen, weil er ihn nicht mehr entlohnen kann. Just weist dieses Ansinnen von sich, indem er erzählt, wie er unfreiwillig zum Hundebesitzer geworden sei. Im vorigen Winter habe er einen Pudel vor dem Ertrinken gerettet, der ihm seither beharrlich folge. Die sentimentalen Parallelen zu seiner Verbindung mit Tellheim liegen auf der Hand: „Noch hat er keinen Bissen Brod aus meiner Hand bekommen; und doch bin ich der einzige, dem er hört, und der ihn anrühren darf. Er springt vor mir her, und macht mir seine Künste unbefohlen vor. Es ist ein häßlicher Budel, aber ein gar zu guter Hund. Wenn er es länger treibt, so höre ich endlich auf, den Budeln gram zu sein.“ (I,8; G I, 618)
Tellheims Misere
Für Major von Tellheim macht die Zahlungsunfähigkeit gegenüber seinem Diener freilich nur den geringsten Teil seiner Misere aus. Als er zu Beginn
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des Stückes nach Kriegsende aus Sachsen nach Berlin zurückkehrt, hat er nicht nur eine schwere Armverletzung erlitten, sondern ist wegen eines Korruptionsvorwurfes und damit wegen Treuebruchs gegenüber dem König unehrenhaft aus dem preußischen Militär entlassen worden. Zudem hat er sein Vermögen eingebüßt, liegt doch der Anlass für die dienstrechtlichen Ermittlungen gegen ihn darin, dass er den Ständen im besetzten Sachsen – ausgerechnet den besiegten Feinden also – eine beträchtliche Geldsumme gegen einen Wechselbrief als Kredit zur Verfügung gestellt hat, an dem ihm das Eigentum streitig gemacht wird. Diese kläglichen Umstände werden allerdings zunächst nur angedeutet, während sich ihre volle Tragweite erst kurz vor dem Ende des vierten Aufzugs erschließt. Unter dramaturgischen Gesichtspunkten verhindert Lessing mit der eigenartig verzögerten Aufdeckung der Vorgeschichte das Abrutschen seines Lustspiels ins Tragische. Unschuldig und damit beinahe tragisch ins Elend geraten, findet Tellheim sein gutes Zimmer im Gasthaus zugunsten einer fremden Dame – seiner Verlobten Minna, wie er bald erfahren wird – in seiner Abwesenheit durch den Wirt geräumt vor, weil er diesen genauso wenig wie seinen Diener bezahlen kann. Allerdings beweist er große Selbstlosigkeit, wenn er der Witwe seines ehemaligen Stabsrittmeisters und Freundes noch ausstehende finanzielle Verbindlichkeiten erlässt, obwohl er das Geld selbst dringend bräuchte. Er schwindelt: „Marloff ist mir nichts schuldig geblieben. Ich wüßte mich auch nicht zu erinnern, daß er mir jemals etwas schuldig gewesen wäre.“ (I,6; G I, 615). Vorsorglich zerreißt er den Schuldschein, um auch in größerer Not seinen hochherzigen Entschluss nicht mehr zurücknehmen zu können: „Wer steht mir dafür, daß eigner Mangel mich nicht einmal verleiten könnte, Gebrauch davon zu machen?“ (ebd.) Die Geldnot zwingt ihn nun jedoch, seinen kostbaren Verlobungsring beim Wirt gegen Bargeld versetzen zu lassen. Während sie zu Beginn des zweiten Aufzugs mit ihrer Dienerin Franziska die Anmeldeformalitäten im Gasthaus über sich ergehen lässt, entdeckt Minna an der Hand des Wirtes Tellheims Ring, den sie kurzerhand zurückkauft. Als sie mit Tellheim zusammentrifft, teilt er ihr seine Absicht mit, das Verlöbnis aufzuheben. Er folgt dabei den zeitgenössischen sozialen Konventionen. Als adeliger Offizier muss er nämlich annehmen, keine passende Partie mehr für Minna zu sein, da nicht nur seine Reputation, sondern auch seine materielle Absicherung durch ein Dienst-Lohn-Verhältnis gegenüber dem König beschädigt ist (vgl. Kagel 2007, 306f.). Somit zieht er nicht aus „Wirklichkeitsferne“ (Seeba 1973, 69), sondern vielmehr aus treffsicherem Realitätssinn – er selbst nennt es „Vernunft und Notwendigkeit“ (II,9; G I, 639) – die unter den Bedingungen der ständischen Gesellschaftsordnung einzig mögliche Konsequenz aus seiner Lage, auch wenn es seinen Gefühlen für Minna widerstrebt. In seiner Zerrissenheit zwischen Pflicht und Neigung vermag er Minna nicht zu überzeugen, zumal sie ihm mit verhörartiger Eindringlichkeit das Geständnis seiner anhaltenden Liebe abringt. Diese lässt sie als einzigen Beweggrund gelten: „Eine Vernunft, eine Notwendigkeit, die Ihnen mich zu vergessen befiehlt? – Ich bin eine große Liebhaberin von Vernunft, ich habe
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sehr viel Ehrerbietung für die Notwendigkeit. – Aber lassen Sie doch hören, wie vernünftig diese Vernunft, wie notwendig diese Notwendigkeit ist.“ (II,9; G I, 640) Durch eine Gegenüberstellung seiner früheren Ambitionen und Möglichkeiten mit seiner gegenwärtigen Aussichtslosigkeit versucht er, Minna den Verlust seiner Standesmäßigkeit vor Augen zu führen: „Sie nennen mich Tellheim; der Name trifft ein. – Aber Sie meinen, ich sei der Tellheim, den Sie in Ihrem Vaterlande gekannt haben; der blühende Mann, voller Ansprüche, voller Ruhmbegierde; der seines ganzen Körpers, seiner ganzen Seele mächtig war; vor dem die Schranken der Ehre und des Glückes eröffnet standen; der Ihres Herzens und Ihrer Hand, wann er schon ihrer noch nicht würdig war, täglich würdiger zu werden hoffen durfte. – Dieser Tellheim bin ich eben so wenig, – als ich mein Vater bin. Beide sind gewesen. – Ich bin Tellheim, der verabschiedete, der an seiner Ehre gekränkte, der Krüppel, der Bettler. – Jenem, mein Fräulein, versprachen Sie sich; wollen Sie diesem Wort halten? –“ (III,9; G I, 642f.) 3. Aufzug
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Da es Tellheim im Gespräch nicht gelingt, die Verlobung zu lösen, lässt er im dritten Aufzug durch Just über Franziska einen Brief an Minna ausliefern, in dem er sich nochmals ausführlich erklärt. Empört über seine hartleibigen Ehrbegriffe schickt Minna den Brief mit aufgebrochenem Siegel als angeblich ungelesen zurück. Sie plant, „ihn wegen dieses Stolzes mit ähnlichem Stolze ein wenig zu martern“ (III,12; G I, 663). Unterdessen schlägt Tellheim ein finanzielles Hilfsangebot seines ehemaligen Hauptmannes und treuen Freundes Paul Werner aus, der sich in der Nebenhandlung des dritten Aufzugs in Franziska verliebt. Wie Minna mit der Liebe bringt er mit der Freundschaft eine sentimentale Kategorie gegen die zuweilen geradezu selbstzerstörerisch anmutende Ehrbeflissenheit des Majors vor. Im vierten Aufzug erhält Minna unangemeldeten Besuch von dem Spieler Riccaut, der sich eigentlich auf der Suche nach Tellheim befindet. Er setzt Minna darüber in Kenntnis, dass im Kabinett zu Tellheims Gunsten entschieden worden sei. Im Übrigen bittet er Minna um Geld für ein Glücksspiel, das sie ihm gibt, obwohl sie erkennt, es mit einem Betrüger zu tun zu haben, der seine Praktiken lediglich schönzureden versteht. Im entscheidenden Passus aus dem Gespräch der beiden heißt es: „RICCAUT. Comment, Mademoiselle? Vous appellés cela betrügen? Corriger la fortune, l’enchainer sous ses doits, etre sûr de son fait, das nenn die Deutsch betrügen? betrügen! O, was ist die deutsch Sprak für ein arm Sprak! für ein plump Sprak! DAS FRÄULEIN. Nein, mein Herr, wenn Sie so denken – RICCAUT. Laissés-moi faire, Mademoiselle, und sein Sie ruhik! Was gehn Sie an, wie ik spiel? – Genug, morgen entweder sehn mik wieder Ihro Gnad mit hundert Pistol, oder seh mik wieder gar nit – Votre trèshumble, Mademoiselle, votre très-humble – Eilends ab.
5. Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück (1767)
DAS FRÄULEIN die ihm mit Erstaunen und Verdruß nachsieht. Ich wünsche das letzte, mein Herr, das letzte!“ (IV,2; G I, 670) Der geistreiche Wortverdreher stellt weit mehr als nur eine Nebenrolle des Stückes dar, obwohl er nur in einer einzigen Szene vorkommt. Lessing aktualisiert mit Riccaut einen Figurentypus aus der commedia dell’arte. Es handelt sich dabei um den für sein notorisches Maulheldentum bekannten Charakter des capitano spavente (it. etwa: der schreckliche Hauptmann), der hier in Gestalt eines französischen Glücksritters erscheint. Riccauts voller Name, den er blasiert zum Besten gibt, verrät einiges über seine zweifelhafte Eigenart, lautet er doch Chevalier Riccaut de la Marliniere, Seigneur de Pret-au-vol (frz. etwa: Herr von Flugbereit), de la branche de Prensd’or (frz. etwa: aus der Linie der Goldnehmer). Wenn Riccaut als Bote das baldige Eintreffen guter Nachrichten für Tellheim ankündigt, so deutet er auf den glücklichen Ausgang des Stückes hin – eine Vorwegnahme kommender Ereignisse, die Lessing mehrfach dramatisch nutzt (vgl. Pütz 1986, 186–189). Für den Handlungsgang übernimmt Riccaut damit einen durchaus günstigen Part. Dramaturgisch entschärft er des weiteren als zumindest vordergründig komische Figur das alsbald folgende Krisengespräch zwischen Minna und Tellheim, das dem Stück sonst allzu tragische Züge verleihen könnte. Außerdem fungiert er als „Parallelund Kontrastfigur“ (Martini 1968, 392) zu den Protagonisten, indem er als Falschspieler Minnas eigene List spiegelt und als Zerrbild des höfischen honnÞte homme Tellheims Ehrverständnis karikiert. Sein verharmlosender Ausspruch des ,corriger la fortune‘ verdient dabei insofern besondere Aufmerksamkeit, als die Mittel, Möglichkeiten und Berechtigungen, dem Schicksal auf die Sprünge zu helfen, einen Kerngedanken des Stückes darstellen. Die Tatsache, dass ausgerechnet ein Franzose diese höchst ambivalente Rolle übernimmt, verweist weniger auf eine etwaige anti-französische Haltung Lessings als vielmehr auf tatsächliche soziale Zustände. Denn nach dem Krieg waren „[f]ranzösische Habenichtse und Spekulanten […] in Berlin an der Tagesordnung“ (vgl. Grimm 1996, 394). Vor diesem Hintergrund richtet sich die satirische Spitze nicht nur gegen den gewitzten Umgang der gestrandeten Franzosen mit der Not des Krieges, sondern mindestens ebenso sehr gegen Friedrich II. als dessen Urheber. Während das avisierte Rehabilitationsschreiben bereits auf dem Wege nach Berlin ist, findet eine zweite Begegnung zwischen Minna und Tellheim statt. Abermals geht es um die Ehrproblematik, die Minna als engstirnige Verblendung bezeichnet: „O, über die wilden, unbiegsamen Männer, die nur immer ihr stieres Auge auf das Gespenst der Ehre heften! für alles andere Gefühl sich verhärten!“ (IV,6; G I, 679) Tellheim beharrt indes auf seinem Standpunkt: „Ich wollte sagen: wenn man mir das Meinige so schimpflich vorenthält, wenn meiner Ehre nicht die vollkommenste Genugtuung geschieht; so kann ich, mein Fräulein, der Ihrige nicht sein.“ (IV,6;
Riccaut als Maulheld
Funktionen Riccauts
Minnas Intrige
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
5. Aufzug
Patriotische Deutungen
Die Ehrproblematik
G I, 680) Im letzten Versuch greift Minna zu einer Intrige, um ihren Verlobten nicht nur zurückzugewinnen, sondern ihm zugleich noch eine Lehre zu erteilen. Sie gibt Tellheim den Verlobungsring zurück, wobei sie ihn glauben macht, es handele sich um ihren Ring – tatsächlich ist es seiner. Weiter gibt sie vor, durch ihren Oheim und Vormund, den Grafen von Bruchsall, enterbt worden zu sein, und lässt Franziska scheinbar hinter ihrem Rücken mit einem Hilfsgesuch an seine Ehre appellieren. Sie spiegelt Tellheims Verhalten, indem sie sein Unterstützungsangebot ablehnt. Versuchsweise wurde Minnas Streben nach der Erfüllung ihrer Liebe durch Herzensgüte und Überredungskunst ebenso wie durch Manipulation und Intrige im Zeichen einer weiblich-erotischen „Begehrenssubjektivität“ (Prutti 1996, 196f.) interpretiert, wenngleich sich für einen triebhaften Subtext kaum stichhaltige Belegstellen beibringen lassen. Im fünften Aufzug trifft der Brief ein, der Tellheims Status wieder herstellt. Minna widersetzt sich seinen dadurch erneuerten Heiratswünschen, wenngleich ihr Spiel nur bedingt aufgeht, weil sie Tellheim als Frau rechtlich nicht gleichgestellt ist. Aus diesem Grund beeindruckt der von ihr inszenierte Statusverlust Tellheim nur mäßig: „So entehrt sich das schwächere Geschlecht durch alles, was dem stärkern nicht ansteht? So soll sich der Mann alles erlauben, was dem Weibe geziemet? Welches bestimmte die Natur zur Stütze des andern?“ (V,9; G I, 697) Als Tellheim ihr den Ring aus seinem Besitz geben möchte, um die Verlobung wieder in Kraft zu setzen, klärt Minna den Ringtausch auf. Tellheim billigt zwar das Ergebnis ihrer Intrige, stellt aber deren moralische Fragwürdigkeit heraus: „O boshafter Engel! – mich so zu quälen!“ (V,12; G I, 701) Mit dem Eintreffen des Oheims wird eine sächsisch-preußische Hochzeit besiegelt, die nicht auf Äußerlichkeiten gründen soll: „Ich bin sonst den Offizieren von dieser Farbe (auf Tellheims Uniform weisend), eben nicht gut. Doch Sie sind ein ehrlicher Mann, Tellheim; und ein ehrlicher Mann mag stecken, in welchem Kleide er will, man muß ihn lieben.“ (V,13; G I, 702) In der älteren Forschung wurde Minna von Barnhelm gelegentlich als patriotisches Stück interpretiert, obgleich sich letztlich weder eine pro-preußische (E. Schmidt) noch eine anti-preußische (F. Mehring) Stoßrichtung stichhaltig nachweisen lässt. Lessing selbst belustigte sich 1777 in einem Brief an seinen Freund Nicolai darüber, dass er in Leipzig für einen „Erzpreußen“, in Berlin aber für einen „Erzsachsen“ gehalten worden sei, obwohl er „keines von beiden war, und keines von beiden sein mußte – wenigstens um die Minna zu machen“ (B XII, 78). Den preußischen Zensurbehörden jedenfalls erschien das Stück hinreichend brisant, um die Uraufführung auf dem Hamburger Nationaltheater am 30. September 1767 verhindern zu wollen und die Berliner Premiere ein halbes Jahr hinauszuzögern, wobei unklar ist, ob politische oder moralische Bedenken vorlagen (vgl. Steinmetz 1993, 92–96). Im Wertediskurs des Stückes wird ein höfisch geprägter Ehrbegriff mit den genuin bürgerlichen Tugenden bedingungsloser Treue, Zuneigung und Liebe kontrastiert, die, vertreten durch Tellheim einerseits und Minna andererseits, zugleich auch geschlechtlich kodiert werden (vgl. Saße 1993). Die
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zentrale Stellung der Ehre im Konflikt zwischen Minna und Tellheim gab berechtigten Anlass, das Stück im Sinne einer Überwindung ständischer Ehrbegriffe zu deuten, denen Tellheim unterliegt, ohne sie einleuchtend bestimmen zu können. Die Rhetorik der Protagonisten vermittelt eine bezeichnende Ratlosigkeit, wenn Tellheims negative Definitionsversuche in einen Satzabbruch (Aposiopese) münden („Die Ehre ist nicht die Stimme unsers Gewissens, nicht das Zeugnis weniger Rechtschaffenen – –“), während sich Minna auf eine Tautologie zurückzieht und damit die Ehre als Selbstzweck entlarvt: „Die Ehre ist – die Ehre.“ (IV,6; G I, 680). Als höfischer Verhaltensmaßstab büßt die Ehre angesichts des mit der Aufklärung entstandenen autonomen Subjektverständnisses offenbar erheblich an Leistungsfähigkeit ein. Hinzu kommt jedoch, dass sie für Tellheim mitnichten ein bloß sittliches Ideal begründet, sondern vor allem zu einem Karriereinstrument im „Dienste der Großen“ (V,9; G I, 695) degradiert ist. Er spricht diese Zweckrationalität mit einiger Verbitterung aus: „Die Großen haben sich überzeugt, daß ein Soldat aus Neigung für sie ganz wenig; aus Pflicht nicht viel mehr: aber alles seiner eignen Ehre wegen tut.“ (IV,6; G I, 675) Außerdem hängt die Dynamik des Handlungsgangs mit ihren zahlreichen Geldangeboten und -forderungen stark an materiellen Verhältnissen. Tellheims Glück ist daher nicht nur eine Frage der Ehre, sondern auch des Geldes (vgl. Seeba 1973, 81). Zündstoff für literaturwissenschaftliche Deutungskontroversen bietet auch der Ausgang des Stückes, obgleich sich dort ordnungsgemäß eine doppelte Komödienhochzeit abzeichnet. Strittig bleibt, ob der glückliche Ausgang nun durch das Handeln der Figuren, etwa durch Minnas Betrug, herbeigeführt wird, oder vielmehr durch Friedrich II., der mit seinem Brief gleichsam als deus ex machina von außen in das Geschehen eingreift (vgl. Michelsen 1973, 242ff.), wobei schwerlich entschieden werden kann, ob Lessing den König damit verklären oder kritisieren will, da sich, je nach Auswahl, Textbelege für beides anführen lassen (vgl. Brenner 2000, 123). Wenn augenscheinlich die Wiederherstellung von Tellheims Ausgangslage das gute Ende bedingt, so lässt sich ferner fragen, ob er im Verlauf des Stückes zu neuen Einsichten für den Umgang mit der Ehre gelangt oder aber mit seinen durchweg vorgetragenen Bedenken schlechterdings ins Recht gesetzt wird. Die Möglichkeit einer Abkehr von dem alten Ehrverständnis klingt jedenfalls insofern an, als Tellheim nach der Wiederherstellung seines finanziellen und gesellschaftlichen Ansehens vorschlägt, „in der ganzen weiten bewohnten Welt den stillsten, heitersten, lachendsten Winkel“ (V,9; G I, 694) aufzusuchen, um sich dem Privatleben zu widmen. Letztlich bleibt das Stück jedoch im Grunde ergebnislos (Brenner 2000, 122), weil die Protagonisten nicht von ihren fehlerhaften Verhaltensweisen – übertriebener Ehrenkodex und Neigung zum Betrug – kuriert werden, sondern durch ihren jeweiligen Erfolg sogar noch darin bestärkt werden. Der Konflikt wird weder durch ein Laster ausgelöst noch durch dessen Verlachen bewältigt, und die Ereignisse liegen letztlich nicht in der Hand der Figuren. Daher entsteht trotz des glücklichen Ausgangs der Eindruck von individueller Ohnmacht gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen.
Ehre als Mittel zum Zweck
Gutes Ende ohne Ergebnis
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke Deutungen der Zufallshäufung
Auffällig erscheint schließlich auch die Handlungsführung durch eine Verkettung zahlreicher Zufälle – Minna trifft zufällig einen Tag vor ihrem Oheim in Berlin ein, zufällig gelangt sie in den Besitz des versetzten Ringes und zufällig kann ausgerechnet ein Feldjäger Tellheim in Sachsen nicht ausfindig machen, so dass der Major sein Rehabilitationsschreiben erst verspätet erhält. Absonderliche Zufälle walten traditionell im Genre der Komödie, aber aufgrund der extremen Zufallsregie der Minna von Barnhelm wurde das Stück wiederholt als „Drama der Theodizee“ (Staiger 1977; Pütz 1986, 230–233; Michelsen 1990; Wittkowski 1991) in einen weiteren Zusammenhang der aufklärerischen Weltsicht gestellt. So lässt sich das Stück einerseits im Sinne der von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) in seinen Essais de theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal (dt.: Versuche der Theodizee über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels; 1710) dargelegten Behauptung lesen, die Menschheit lebe in der ,besten aller möglichen Welten‘, wenn man annimmt, Tellheims Glück sei Teil der Vorsehung, die eintrete, weil er es verdiene (Wittkowski 1991). Andererseits kann es als Reaktion auf das verheerende Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 (Staiger 1977, 74) gedeutet werden, welches das Grundvertrauen der Aufklärung auf eine durch göttliche Güte eingerichtete Welt nachhaltig angeschlagen hatte (vgl. Marquard 2008), wenn man betont, dass die Übermacht schicksalhafter Zufälle ein planvolles Handeln der Figuren vereitelt (vgl. auch Kaminski in Stenzel/ Lach 2005, 174).
6. Emilia Galotti (1772) Das bürgerliche Trauerspiel
,Bürgerliches‘ im bürgerlichen Trauerspiel
Als Paradebeispiel für das bürgerliche Trauerspiel schlechthin gehört die 1772 uraufgeführte und gleich in vierfacher Ausgabe gedruckte Emilia Galotti zu den meistgelesen, -gespielten und -interpretierten Dramen in der deutschsprachigen Literaturgeschichte. Bereits 17 Jahre zuvor hatte Lessing mit seiner Miß Sara Sampson (1755) das erste bürgerliche Trauerspiel in deutscher Sprache abgefasst, das sich an angelsächsischen Vorbildern wie George Lillos The London Merchant (1731; dt. Übers. 1752) und Edward Moores The Gamester (1753) orientierte. Mit Emilia Galotti, einem typischerweise fünfaktigen Prosadrama, erreicht die Gattung insofern neue Standards, als Lessing darin seine zwischenzeitlich in der Hamburgischen Dramaturgie (1767–69) profilierte Tragödientheorie in die Praxis überträgt, wobei vor allem das ästhetische Zusammenwirken der Zentralaffekte von Furcht und Mitleid auf eine Erweiterung der Mitleidsfähigkeit beim Zuschauer zielt (vgl. Kap. IV.4). Die Gattungsbezeichnung verleitet zu dem vordergründigen Missverständnis, dass das bürgerliche Trauerspiel durch sein Personal bürgerlich werde. Tatsächlich wird die Ständeklausel keineswegs aufgehoben, sondern lediglich aufgeweicht. Die Protagonisten sind meist, wie auch im Falle der Titelheldin Emilia, ihrer Eltern Claudia und des freilich hofkritischen
6. Emilia Galotti (1772)
Obersten Odoardo Galotti sowie ihres Verlobten Graf Appiani, im niederen Adel angesiedelt. Spezifisch ,bürgerliche‘ Qualitäten hingegen erlangen diese Stücke vielmehr durch die Wahl der Stoffe und der behandelten Probleme. So geht es nicht mehr, wie früher in der Tragödie üblich, um sog. Haupt- und Staatsaktionen, d.h. um politische und historische Gegenstände aus dem Bereich des öffentlichen Lebens, sondern um Probleme des privaten Lebens, insbesondere Stände- und Wertekonflikte, die weit mehr bürgerlichen als höfischen Erfahrungswirklichkeiten entsprechen. Anstelle von Herrschertugenden steht dabei in der Regel das Ideal der bürgerlichen Familie auf dem Prüfstand, die sich als empfindsames Bollwerk gegen Anfechtungen durch höfische Willkür bewähren muss. Durch die Verortung im familiären Milieu kommen neben der Hofkritik nach moralischen Maßstäben auch rollen- und geschlechtsspezifische Verhaltensmuster zur Sprache. Über diese allgemeinen Gattungsmerkmale hinaus kennzeichnet sich Lessings letztes Trauerspiel durch ein explizit kühles Erscheinungsbild, aus dem allenfalls geringe emotionale Identifikationsangebote erwachsen. Odoardo beispielsweise hält angesichts der drohenden Katastrophe nüchtern fest: „Gut; ich soll noch kälter werden.“ (V,2; G II, 193) Weiter beschließt er: „Weinen konnt’ ich nie; – und will es nun nicht erst lernen […].“ (ebd.) In der zeitgenössischen Presse wird die verhaltene Gefühlskultur durchaus wohlwollend beobachtet, weil sich die dramatische Wirkung ohne modische Rührseligkeit entfalten könne. Stellvertretend lässt sich Karl Wilhelm Ramlers Urteil in der Berlinischen privilegierten Zeitung vom 28. März 1772 anführen: „Unser Dichter giebt ihnen hier eine Emilia, die keinen Strom von Thränen, sondern gleichsam nur Keime von Thränen, und einen heilsamen Schauer von Schrecken erregt.“ Lessings völlig ungewöhnliche gemischte, d.h. nicht eindeutig tugend- oder lasterhafte und zumal psychologisierte Figurenkonzeption überzeugt ihn ebenfalls: „Sie finden darin wahre Charaktere geschildert; nicht solche, die gar keinen Schein von Fehlern haben; auch nicht solche, wie sie die Natur geschaffen hat und noch schaffen kann.“ (G II, 711) Lessing verarbeitet in der Emilia Galotti den Virginia-Stoff aus der Vorgeschichte der römischen Republik, der unter anderem bei Titus Livius in Ab urbe condita (lat.: ,Von der Gründung der Stadt [Rom]‘; 1. Jh. v. Chr.) sowie in den Antiquitates Romanae (lat.: Römische Altertümer; 1. Jh. v. Chr.) des Dionysios von Halikarnassos überliefert ist. Den historischen Kontext dieser Begebenheit bilden die sozialen und politischen Spannungen, die im 5. Jahrhundert v. Chr. zwischen den Patriziern und Plebejern, d.h. zwischen römischer Ober- und Unterschicht, aufbrachen, als das Regierungsgremium der Decemvirn (lat.: zehn Männer) unter der Anführung von Appius Claudius schweren Machtmissbrauch ausübte. Appius Claudius verlangt Virginia, die Tochter des Armeeoffiziers Lucius Verginius, zu besitzen. Da sie mit dem ehemaligen Volkstribun Lucius Icilius verlobt ist, lässt er sie als angebliche Sklavin entführen. Das Volk erzwingt einen Richterspruch in dieser Angelegenheit, der jedoch parteilich ausfällt. Daraufhin wird Virginia von ihrem Vater um ihrer Freiheit willen erstochen. Seine Tat löst einen
Eigenheiten der Figurenkonzeption
Der Virginia-Stoff
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1. Aufzug
Volksaufstand aus, der die Republik wiederherstellt. Der gestürzte Appius Claudius tötet sich im Gefängnis selbst. Mit diesem wahrscheinlich fiktiven Stoff, der vielfach dramatisch bearbeitet wurde, beschäftigte sich Lessing über Jahrzehnte. Er ließ Augustino de Montianos Virginia (1750) in der Berliner Zeitschrift Theatralische Bibliothek (1754) abdrucken, unternahm eine fragmentarische Übersetzung (G I, 708f.) von Samuel Crisps Virginia (1754) und fertigte 1756 den Entwurf zu einem thematisch verwandten Geschichtsdrama mit dem Titel Das befreite Rom (G II, 466ff.) an. In der Emilia versetzt er den römischen Stoff in einen oberitalienischen Kleinstaat der Frühen Neuzeit, den er Guastalla nennt. Es darf als typisch für ihn gelten, wenn er kein politisches, sondern ein moralisches Interesse an dem Stoff verfolgt (vgl. Wiedemann 1967, 382). So teilt er Friedrich Nicolai am 21. Januar 1758 mit, er schreibe „eine bürgerliche Virginia“, die er „von allem dem abgesondert [habe], was sie für den ganzen Staat interessant machte“. Er glaube, dass das „Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werter ist, als ihr Leben, für sich schon tragisch genug, und fähig genug sei, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch gleich kein Umsturz der ganzen Staatsverfassung darauf folgte“ (B 11/1, 267). Unverändert betont er am 1. März 1772 brieflich gegenüber seinem Bruder Karl, dass er eine „modernisierte, von allem Staatsinteresse befreiete Virginia“ (B 11/2, 365) anstrebe. Der Prinz von Guastalla, Hettore Gonzaga, wird im ersten Aufzug von Emilia Galotti als willkürlicher Regent eingeführt, dem seine Begierden mehr bedeuten als das Gemeinwohl. Seine Mätresse, die Gräfin Orsina, weist er zurück, weil er demnächst die Prinzessin von Massa heiraten wird, während der abgefeimte Kammerherr Marinelli seine Bedenken zerstreut: „[W]enn es weiter nichts, als eine Gemahlin ist, die dem Prinzen nicht die Liebe, sondern die Politik zuführet? Neben so einer Gemahlin sieht die Geliebte noch immer ihren Platz.“ (I,6; G II, 136) Allzu bereitwillig unterzeichnet der Prinz ein Todesurteil im Beisein des Malers Conti, der fassungslos reagiert und damit die Perspektive des Mitgefühls öffnet: „Recht gern? – Ein Todesurteil recht gern? – Ich hätt’ es ihn in diesem Augenblicke nicht mögen unterschreiben lassen, und wenn es den Mörder meines einzigen Sohnes betroffen hätte. – Recht gern! recht gern! – Es geht mir durch die Seele dieses gräßliche Recht gern!“ (I,8; G II, 143) Der Prinz verliebt sich ungestüm in ein Porträt Emilias, die von ihrer Mutter mit einem Oxymoron, d.h. selbstwidersprüchlich, als „Furchtsamste und Entschlossenste unsers Geschlechts“ (IV,8; G II, 191) charakterisiert wird. Die ambivalente Einschätzung ist ebenso bezeichnend wie die Repräsentation durch ein bloßes Gemälde, denn die Figur der Emilia bleibt insgesamt recht blass. Als Projektionsfläche für Fremdansprüche (vgl. Prutti 1996, 30–34) wirkt sie eher in der Form „imaginierter Weiblichkeit“ (Bovenschen 1979, 11f.) als durch ihre reale Präsenz im Geschehen, zumal sie nur sechsmal auftritt. Nachdem der Prinz erfahren hat, dass Emilia mit dem Grafen Appiani verlobt ist, den sie noch am selben Abend heiraten soll, gibt er Marinelli freie Hand für „alles, was diesen Streich abwenden kann“ (I,6; G II, 141).
6. Emilia Galotti (1772)
Während Emilias Kirchgang zu Beginn des zweiten Aufzugs zeigt sich Odoardo, der selbst als ein „Muster aller männlichen Tugend“ (II,7; G II, 154) gilt, über Appiani, der als positiver Gegenentwurf (vgl. Grimm 1998, 291–296) zum höfischen Leben gezeichnet wird: „Alles entzückt mich an ihm. Und vor allem der Entschluß, in seinen väterlichen Tälern sich selbst zu leben.“ (II,4; G II, 147) Überdies versucht er Claudia auseinanderzusetzen, dass die von ihr bevorzugte „Stadterziehung“ für Emilia ebenso wenig tauge wie die „Nähe des Hofes“, die seiner „strengen Tugend so verhaßt“ ist, für Appiani: „Was sollte der Graf hier? Sich bücken, schmeicheln und kriechen, und die Marinellis auszustechen suchen? um endlich ein Glück zu machen, dessen er nicht bedarf? um endlich einer Ehre gewürdiget zu werden, die für ihn keine wäre?“ (II,4; G II, 148) Da keine Einigung erzielt werden kann, verlässt Odoardo die Szene. Emilia kehrt aufgewühlt aus der Kirche zurück. Sie berichtet, wie sich der Prinz ihr in der Kirche genähert hat, so dass sie, gefolgt von ihm, aus dem Gottesdienst geflohen sei. Obschon sie der Zudringlichkeit widerstanden hat, bangt sie, dass „fremdes Laster uns, wider unsern Willen, zu Mitschuldigen machen“ (II,6; G II, 150) könne. Trotz bester Absichten auf allen Seiten besteht im Hause Galotti eine geradezu fatale „Identitäts- und Kommunikationsproblematik“ (Eibl 1977, 161). So empfiehlt Claudia, die Ereignisse vor dem Vater geheim zu halten: „Ha, du kennst deinen Vater nicht! In seinem Zorne hätt’ er den unschuldigen Gegenstand des Verbrechens mit dem Verbrecher verwechselt. In seiner Wut hätt’ ich ihm geschienen, das veranlaßt zu haben, was ich weder verhindern, noch vorhersehen können.“ (II,6; G II, 151). Ihre Furcht erscheint berechtigt, hatte Odoardo doch eindringlich moniert: „Aber sie sollte nicht allein gegangen sein.“ (II,2; G II, 145) Emilia schlägt vor, Appiani ins Vertrauen zu ziehen, weil sie „lieber vor ihm nichts auf dem Herzen“ (II,6; G II, 153) behalten möchte. Indem die Mutter auch davon abrät, nimmt sie folgenschwere Weichenstellungen für den Fortgang der Handlung vor. Um Emilia zu entführen, arrangiert Marinelli unterdessen einen Überfall auf die Kutsche, die Emilia, ihre Mutter und Appiani zur Trauung aufs Land bringen soll. Der skrupellose Berufsverbrecher Angelo meldet Marinelli im dritten Aufzug den gelungenen Raub Emilias und ihrer Mutter, während Appiani im Sterben liegt. Für Angelo, der im Scharmützel mit dem Grafen seinen Handlanger verloren hat, zählt einzig der Lohn für seine mörderischen Dienste. Er pervertiert jede Zwischenmenschlichkeit zu einer rein materiellen Größe: „Ich könnte weinen, um den ehrlichen Jungen! Ob mir sein Tod schon das (indem er den Beutel in der Hand wieget) um ein Vierteil verbessert. Denn ich bin sein Erbe; weil ich ihn gerächet habe. Das ist so unser Gesetz: ein so gutes, mein’ ich, als für Treu und Freundschaft je gemacht worden.“ (III,2; G II, 165) Emilia und ihre Mutter, die voneinander getrennt auf dem Lustschloss des Prinzen festgehalten werden, versuchen Einzelheiten der Geschehnisse in Erfahrung zu bringen. Im vierten Aufzug gewärtigt der Prinz im Gespräch mit Marinelli die Unverhältnismäßigkeit der Gewaltintrige: „Wenn Sie mir vorher gesagt hätten, daß es dem [!] Grafen das Leben kosten werde – Nein, nein! und wenn es
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5. Aufzug
Emilias Tötung durch den Vater
mir selbst das Leben gekostet hätte! –“ (IV,1; G II, 174) Die Richtschnur bildet für ihn allerdings weniger das Gewissen als die Diskretion: „Topp! auch ich erschrecke vor einem kleinen Verbrechen nicht. Nur, guter Freund, muß es ein kleines stilles Verbrechen, ein kleines heilsames Verbrechen sein.“ (IV,1; G II, 176) Die verlassene Gräfin Orsina kommt auf das Lustschloss, um sich am Prinzen tätlich zu rächen. Sie informiert Odoardo, der inzwischen ebenfalls eingetroffen ist, über die Machenschaften des Prinzen, wobei sie ihm nicht nur ihren Dolch, sondern auch einen für die Deutung des Stückes zentralen Hinweis gibt: „Und glauben Sie, glauben Sie mir: wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren.“ (IV,7; G II, 187) Odoardo erfährt im fünften Aufzug, dass gerichtliche Ermittlungen wegen des Vorfalls in der Kutsche stattfinden sollen, während derer Emilia nicht ins Elternhaus zurückkehren darf, sondern allein festgehalten wird. Erbittert spielt er mit dem Gedanken, den Prinzen zu töten, wobei Lessing die zerstückelte Syntax nutzt, um Odoardos Affekte zu vermitteln: „Besondere Verwahrung? – Prinz! Prinz! – Doch ja; freilich, freilich! Ganz recht: in eine besondere Verwahrung! Nicht, Prinz? nicht? – O wie fein die Gerechtigkeit ist! Vortrefflich! (Fährt schnell nach dem Schubsacke, in welchem er den Dolch hat)“ (V,5; G II, 198) Da ein Fürstenmord für den gewissenhaften Odoardo letztlich keine Handlungsoption darstellt, hält er sich zurück, wiederholt jedoch resigniert die Worte der Gräfin Orsina: „Wer über gewisse Dinge seinen Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren!“ (V,5; G II, 199) Entsprechend gespenstisch mutet sein anschließendes kurzes Selbstgespräch an: „Warum nicht? – Herzlich gern – Ha! ha! ha! – (Blickt wild umher) Wer lacht da? – Bei Gott, ich glaub’, ich war es selbst. – Schon recht! Lustig, lustig.“ (V,6; G II, 200) Als Emilia endlich zu ihm gelassen wird, verständigen sich die beiden über die zu den Bedingungen des „höllischen Gaukelspiels“ (V,7; G II, 202) verbliebenen Handlungsmöglichkeiten. Unter Verweis auf ihre Willensfreiheit sträubt Emilia sich gegen die geplante Untersuchung: „Reißt mich? bringt mich? – Will mich reißen; will mich bringen: will! will! – Als ob wir, wir keinen Willen hätten, mein Vater!“ (ebd.) Da sie fürchtet, doch noch der herrscherlichen oder erotischen Macht des Prinzen zu erliegen, nimmt sie den Dolch an sich: „Gewalt! Gewalt! wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. – Ich habe Blut, mein Vater; so jugendliches, so warmes Blut, als eine. Auch meine Sinne, sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut.“ (ebd.) Als sie versucht, sich zu erstechen, reißt der Vater ihr den Dolch aus der Hand. Indem sie ersatzweise eine Haarnadel und versehentlich auch eine Rose aus ihrer Frisur löst, entsteht ein Moment der Unsicherheit vor der ungeheuerlichen Tat des liebenden Vaters. Die Rose wurde nicht nur als Attribut der Braut, sondern – wegen des ,Brechens‘ durch den Vater – auch als Inzestsymbol aufgefasst (vgl. Neumann 1977, 49): „EMILIA. O, mein Vater, wenn ich Sie erriete! – Doch nein; das wollen Sie auch nicht. Warum zauderten Sie sonst? – (In einem bittern Tone,
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während daß sie die Rose zerpflückt) Ehedem wohl gab es einen Vater, der seine Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten den besten Stahl in das Herz senkte – ihr zum zweiten das Leben gab. Aber alle solche Taten sind von ehedem! Solcher Väter gibt es keinen mehr! ODOARDO. Doch, meine Tochter, doch! (indem er sie durchsticht) Gott, was hab’ ich getan! (Sie will sinken, und er faßt sie in seine Arme) EMILIA. Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert. – Lassen Sie mich sie küssen, diese väterliche Hand.“ (V,7; G II, 203) Diese Wendung erscheint sowohl in ästhetischer als auch in ethischer Hinsicht heikel, weil der Dialog nicht durch die sinnstiftende Macht des Wortes entschieden wird, sondern durch eine entsetzliche Bluttat auf offener Bühne (vgl. Schröder 1972, 206). Hinzu kommt das aufrichtige Erschrecken als Regung reumütiger Einsicht des hereintretenden Prinzen. Lessing gibt ihm den unverhofft menschlichen Schlusssatz des Dramas, der auf eine „Privatisierung und Humanisierung“ (Sørensen 1984, 89) des Fürsten hindeutet: „Ist es, zum Unglücke so mancher, nicht genug, daß Fürsten Menschen sind; müssen sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen?“ (V,8; G II, 204) Die unabweisliche gesellschaftskritische Dimension des Stücks verleitete immer wieder zu einseitig politisierenden Lektüren (vgl. Guthke 2006a, 79–84), die jedoch angesichts der erklärten Intention Lessings und einer Uraufführung am Braunschweiger Hoftheater zum Geburtstag der Herzogin Philippine Charlotte kaum überzeugen können. So handelt es sich bei Emilia Galotti weniger um ein reines „Ständedrama“ (Meyer 1973, 274f.) als vielmehr um ein Wertedrama. Der Konflikt speist sich aus dem Zusammenprall zweier unterschiedlicher Moralitäten, von denen sich die eine mit den Konzepten von Hof, Öffentlichkeit und Intrige, die andere hingegen mit denen von Bürgertum, Privatsphäre und Tugend verbindet. Allerdings spielt Lessing nicht nur konventionelle Topoi der Hofkritik (vgl. Kiesel 1979, 220–233) im Kontrast zum Lob des Landlebens (lat.: laus ruris) aus, sondern stellt die vorgeführte Eskalation des Scheiterns von sozialen Wechselbeziehungen in einen weiteren Rahmen (vgl. Ter-Nedden 1986, 219). Bezeichnenderweise behält keine der Figuren Recht außer Emilia, welche die Tragödie jedoch nicht überlebt. Zudem scheitern alle Figuren daran, ihre Willensfreiheit und damit ihre Menschlichkeit zu realisieren, weil sie in ihrem Handeln äußeren Zwängen unterliegen. Sogar der Prinz klagt: „Mein Herz wird das Opfer eines elenden Staatsinteresses.“ (I,6; G II, 136) Die Raumkonstellation des Stückes verstärkt den Eindruck einer umfassenden sittlichen Krise, da es zum Hof und Lustschloss des Prinzen „keine Gegenwelten mehr gibt“ (Brenner 2000, 227). Weder das elterliche Haus schützt vor dem Eindringen der Gewalt noch die freie Natur, in der Entführung und Mord stattfinden, und selbst die Kirche vermag keine Sicherheit zu gewähren: „Was ist dem Laster Kirch’ und Altar?“ (II, 6; G II, 150) Seine pessimistische Schlussfolgerung aus dieser Sachlage hatte Lessing schon 1751 in
Problematischer Ausgang
Deutung als Stände- und Wertedrama
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Gründe für Emilias Tod
Gängige Interpretationen
Mehr Fragen als Antworten
einer Rezension für die Berlinische Privilegierte Zeitung formuliert: „Schwachheiten und Laster zu fliehen, muß man nicht den Hof sondern das Leben verlassen.“ (B III, 68) Zu der Frage, warum nun Emilia stirbt, existieren zahlreiche verschiedenartige Auslegungen des Stückes. Mit Blick auf mögliche politische, moralische oder psychologische Motivationen wurde das Stück in allen Einzelheiten auf die philologische Goldwaage gelegt, wobei nahezu jede nur denkbare These samt ihrem Gegenteil so gründlich erprobt wurde, dass Karl S. Guthke einst eine vorübergehende Deutungsabstinenz vorschlug (vgl. Guthke 1975, 33). Rein technisch gesehen bietet sich im Trauerspiel kaum eine Alternative zum Tod der Protagonistin, weil es sich dabei um die gemeinhin übliche Manifestation der tragischen Katastrophe handelt. Diese Antwort greift freilich bei weitem zu kurz, denn entscheidend ist vielmehr, wie die Notwendigkeit ihrer Tötung durch den Vater aus der Handlung heraus plausibilisiert wird. Zu den vorherrschenden Interpretationsansätzen gehört unter anderem die „gnadenlose Fürsorge“ (Pütz 1986, 195) Odoardos, der infolge seines strengen Tugendregiments das Vertrauen seiner Familie verloren hat, sowie auch seine „gnadenlose Verweigerungstugend“, die ihn seine Tochter nicht um ihrer körperlichen oder moralischen Unschuld willen töten lässt, sondern „um seinen Glauben daran zu bewahren“ (Seeba 1973, 96). Unter dem Aspekt der Ehre, die es vor dem Zugriff des Prinzen zu schützen gilt, kann man Emilia durchaus auch in der Tradition der Märtyrertragödie verstehen, so dass sie sich als Christin nicht suizidieren kann, sondern für ihre Überzeugungen durch fremde Hand sterben muss (vgl. Meyer 1973, 333f.; Fick 1993, 141f.). Wenngleich die Verführung nicht stattfindet, so begründet doch Emilias eigenes sexuelles Begehren, ihr „warmes Blut“ (V,7; G II, 202) ausdrücklich ihre Verführbarkeit. Demnach würde Emilia ihren Tod wünschen, weil sie fürchtet, dass ihre „Sinnlichkeit stärker als das Tabu sein könnte“ (Greis 1991, 109). Verallgemeinert man die Tugendproblematik, so lässt sich Emilias Tötung als letzter, hilfloser Ausweg deuten, um das bürgerliche Selbstverständnis nicht der höfischen Machtausübung zum Opfer fallen lassen zu müssen (vgl. Wehrli 1983, 129ff.). Moderater könnte man dabei von einer „Verwirklichung der moralischen Freiheit im Sinne der klassischen Humanität“ (Guthke 1979, 67) sprechen, zugespitzt aber auch von einer „anti-höfische[n] Opposition“, die sich „aus der Fülle der Moral [speist]“ und sich „zur Starrheit [wandelt], die sich jedoch gegen sie selbst wendet und zur Selbstaufgabe führt“ (Sanna 1988, 83). Womöglich liegt aber auch eine freudianische Konstellation avant la lettre vor, in welcher der Vater das regelgebende Über-Ich verkörpert, während Emilia sich in der Begegnung mit dem Prinzen beim Kirchgang ihrem triebhaften Es ausgesetzt sieht (vgl. Neumann 1977, 46). Vielleicht stirbt Emilia aber letztlich aus „keinem vernünftigen Grund“ (Ter-Nedden 1986, 229; Brenner 2000, 230), weil sich auch für gegenläufige Deutungen jeweils passende Textstellen finden. Demnach wirft die Emilia Galotti – darin dem kritischen Impetus der Aufklärung verpflichtet – offenbar weitaus mehr Fragen auf als dass sie verbind-
7. Nathan der Weise (1779)
liche Antworten bietet. Und schließlich lässt sich im Zeichen der Mitleidsästhetik (vgl. Kap. IV.4) diskutieren, wer im Stück zu bemitleiden ist: Odoardo, der Recht fordert, aber keine Gerechtigkeit herstellen kann? Appiani, der zu früh stirbt, um das Unheil abwenden zu können? Gräfin Orsina, die aus enttäuschter Liebe in rasende Eifersucht verfällt? Der Prinz, der am Ende Bestürzung zeigt? Claudia, deren Lebensklugheit den Tod ihrer Tochter nicht verhindert, sondern begünstigt? Emilia, weil sie unschuldig (oder: potentiell schuldig) sterben muss? Selbst Marinelli, der die verbrecherische Intrige in Gang setzt, trägt schwerlich die alleinige Verantwortung für den Ausgang des Stückes, weil er zum einen im Auftrag des Prinzen handelt und zum anderen Odoardos Tat nicht absehen kann. Letztlich begehen alle Figuren Fehler, sie „verhalten sich auf eine unheimliche Weise komplementär, nur alle zusammen führen zur Katastrophe“ (Eibl 1977, 155).
7. Nathan der Weise (1779) Erstveröffentlicht im Mai 1779 und uraufgeführt im Oktober desselben Jahres, schließt Nathan der Weise, ein dramatisches Gedicht nicht nur chronologisch unmittelbar an den für Lessing überaus nachteilig verlaufenen Fragmentenstreit (vgl. Kap. IV.1) mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze an (vgl. Demetz 1984, 195–198). Bereits kurz nach dem herzoglichen Schreibverbot beschloss Lessing, den Konflikt auf die Bühne zu verlagern, um, so schreibt er am 11. August 1778 an seinen Bruder Karl, „den Theologen einen ärgern Possen“ zu spielen „als noch mit zehn Fragmenten“ (G II, 719). Auch andere Briefe aus der Entstehungsphase dokumentieren einen durchaus kriegerischen Geist, der freilich im Stück selbst nicht einmal ansatzweise bemerkbar wird. Lessing stellt mit dem Nathan eine „Art von Analogie mit meinen gegenwärtigen Streitigkeiten“ (B XII, 186) her, sieht in ihm mehr eine „Frucht der Polemik als des Genies“ (B XII, 270) und frohlockt, „dem Feinde auf einer andern Seite damit in die Flanke fallen“ (G II, 720) zu können. Nicht von ungefähr wird das Thema von Nathan der Weise durch zwei weitere, etwa zeitgleich entstandene Texte aufgegriffen (vgl. Bohnen 1979, 415). Zum einen macht Lessing sich in dem kritischen Lehrdialog Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer (1778–80) aus Anlass von Richtungszerwürfnissen unter den Freimaurer-Logen – er selbst war 1771 erwartungsvoll, doch bald enttäuscht Mitglied in der Hamburger Loge ,Zu den drei Rosen‘ geworden – für ein Konzept stark, welches dem Humanitätsgedanken den Vorrang vor äußerlichen Belanglosigkeiten gibt. Zum anderen vertritt Lessing in der Programmschrift Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780) wie schon beim Goeze-Streit im Kampf gegen erstarrte Dogmen eine vernunftgeleitete Selbstvervollkommnung des einzelnen Menschen wie auch der gesamten Menschheit als aufgeklärte Form des Christentums. Trotz dieser Hintergründe handelt es sich bei Lessings Nathan mitnichten um eine bloße Fortsetzung des Fragmentenstreits mit den Mitteln der „Thea-
Dramatische Fortsetzung des Fragmentenstreits
Von der Polemik zur Versöhnung
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Die Gattungsfrage
Metrische Auffälligkeiten
ter-Logik“ (G VIII, 289) – so hatte Goeze den Argumentationsstil Lessings verunglimpft. Denn es wechselt nicht nur das Medium, sondern vor allem auch der Tenor der Stellungnahme, der ungeachtet der privaten Äußerungen Lessings vom Polemischen gänzlich umschwenkt zur „Versöhnung und Verständigung“ (Schneider 1984, 267). Aufgrund der reinen Menschlichkeit jenseits religiöser Überzeugungen, die Nathans Handeln trägt (vgl. Demetz 1984, 201f.), wird der akademische Streitfall in eine ethische Grundsatzangelegenheit überführt (vgl. Schilson 1997, 16–19). Allerdings wäre der stets konfliktfreudige Lessing nicht er selbst, würde er nicht wenigstens vereinzelte Seitenhiebe in seinem Stück einstreuen. So lässt er etwa den Patriarchen, dessen sture Glaubenshaltung unverkennbar Züge Goezes trägt, völlig abgelöst von der historischen Szenerie des Nathan zum Tempelherren sagen: „Ich will den Herrn damit auf das Theater / Verwiesen haben, wo dergleichen pro / Et contra sich mit vielem Beifall könnte / Behandeln lassen.“ (IV,2; G II, 298) Obgleich auch für die Figur des Nathan Parallelen zu einer realen Person, nämlich zu Lessings Freund Moses Mendelssohn, gezogen wurden und Al-Hafi in seinem Hang zur Menschenverachtung (Misanthropie) Lessing selbst ähnelt (vgl. Demetz 1984, 191ff.), würde es bei weitem zu kurz greifen, das Stück nur als Schlüsseldrama zu lesen. Vielmehr betreibt Lessing mit seinem Nathan eine überaus komplexe Ideendramatik im Zeichen von Humanität und Toleranz. Infolge dieser Stoßrichtung fällt sein Stück derart dialoglastig und handlungsarm aus, dass er seinem Bruder Karl gegenüber in einem Brief vom 18. April 1779 deutliche Zweifel an einer Breitenwirkung, zumal auf der Bühne, eingesteht: „Genug, wenn er sich mit Interesse nur lieset, und unter tausend Lesern nur Einer daraus an der Evidenz und Allgemeinheit seiner Religion zweifeln lernt.“ (G II, 723) Das eigenwillige Stück bereitet schon in der Gattungszuordnung gewisse Schwierigkeiten, kann es doch weder als formgerechte Tragödie gelten, weil am Schluss ein utopischer Idealzustand anstelle einer Katastrophe steht, noch als Komödie, weil es nach Thema und Handlungsverlauf entschieden zu ernst dafür erscheint. Gegen eine Klassifizierung als Tragödie spricht außerdem, dass Nathans familiäre Katastrophe – die Tötung seiner Frau und seiner sieben Söhne in einem christlichen Pogrom – bereits vor Beginn des Stücks stattgefunden hat. Indes besteht für den Protagonisten selbst noch die Gefahr einer tragischen Wendung, als der despotische Sultan Saladin ihm eine wahrheitsgemäße Antwort auf die prekäre Frage abverlangt, „[w]as für ein Glaube, was für ein Gesetz“ ihm „am meisten eingeleuchtet“ (III,5; G II, 273f.) habe. Im Wissen um die poetologische Gemengelage des Nathan, welche den dramatischen Konventionen seiner Zeit völlig zuwiderlief, gab Lessing als Gattungsbezeichnung im Untertitel ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen an. Mit diesem kalkulierten Weder-Noch überschreitet er die damals übliche – und maßgeblich sogar durch ihn selbst geprägte – Wirkungsästhetik der Bühne, welche durch Lachen in der Komödie bzw. durch Furcht und Mitleid in der Tragödie auf eine sittliche Vervollkommnung des Publikums abzielt. Besondere Aufmerksamkeit verdient darüber hinaus die Versform, mit der sich der Nathan grundlegend von Lessings ansonsten durchweg in Prosa
7. Nathan der Weise (1779)
verfassten Dramen unterscheidet. Die Darbietung in Blankversen, also in reimlosen jambischen Fünfhebern, unterstreicht den distanzierten Gestus des Lehrstücks, indem sie den Text gezielt aus der Alltagssprache heraushebt. Als bevorzugter Dramenvers William Shakespeares (1564–1616) wurde der Blankvers insbesondere während der Klassik in die deutschsprachige Literatur übernommen, wo sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, nicht zuletzt unter Lessings Mitwirkung, das Prosadrama vollends etabliert hatte. Im Nathan wird das metrische Schema dieses Versmaßes auf verschiedene Arten durchbrochen. So finden sich statt einer Abwechslung von Hebungen und Senkungen oftmals Senkungsausfälle im Wortinneren (Synkopen) oder am Wortende (Apokopen), dazu häufige Enjambements sowie immer wieder Aufteilungen einzelner Verse auf zwei oder mehr Sprecherrollen (Antilabe). Hinzu kommen Ausrufe und unvollständige Sätze als syntaktische Auffälligkeiten, die zu einer affektiven Grundspannung des Stücks beitragen (vgl. Brenner 2000, 281f.; Demetz 1984,182ff.). Zur Veranschaulichung der sprachlichen Gestaltungsmittel im Nathan kann der folgende Passus dienen, in dem sich derartige Kunstgriffe häufen: „TEMPELHERR. Wie das? – Ah, fast errat’ ichs. Nicht? Ihr seid … NATHAN. Ich heiße Nathan; bin des Mädchens Vater, Das Eure Großmut aus dem Feu’r gerettet; Und komme … TEMPELHERR. Wenn zu danken: – sparts! Ich hab‘ Um diese Kleinigkeit des Dankes schon Zu viel erdulden müssen.“ (II,5; G II, 250) In einem Brief an den befreundeten Dichterkollegen Karl Wilhelm Ramler vom 18. Dezember 1778 begründet Lessing die Wahl des Metrums wie folgt: „Denn ich habe wirklich die Verse nicht des Wohlklanges wegen gewählt: sondern weil ich glaubte, daß der orientalische Ton, den ich doch hier und da angeben müsse, in der Prose zu sehr auffallen dürfte.“ (G II, 720f.) Ungeachtet dieser augenscheinlichen Bemühungen um Authentizität konzipiert Lessing den Nathan keineswegs als Geschichtsdrama. Indem er das Stück im Jerusalem des 12. Jahrhunderts zur Zeit des dritten Kreuzzuges verortet, schafft er gewissermaßen eine Versuchsanordnung, in der er die drei monotheistischen Religionen (Christentum, Islam, Judentum) in didaktischer Absicht historisch glaubhaft aufeinandertreffen lassen kann. Die Handlung des Stücks besteht im Wesentlichen darin, die einzelnen Figuren zu charakterisieren und ihre gemeinsame Vorgeschichte aufzudecken. Dementsprechend dient die außerordentlich klare, mitunter schablonenhaft vereinfachte Figurenzeichnung dazu, verschiedene handlungsleitende Standpunkte vorzuführen. Im ersten Aufzug erfährt Nathan, der gleichermaßen als ethisches Vorbild wie als umtriebiger Kaufmann eingeführt wird, bei der Rückkehr von einer
Nathan als Versuchsanordnung
1. Aufzug
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
2. Aufzug
Freundschaftsstiftung durch Menschlichkeit
Geschäftsreise von der Dienerin Daja, dass seine Tochter Recha fast bei einem Hausbrand umgekommen wäre. Ein unbekannter Tempelritter habe sie gerettet, der selbst kurz zuvor durch Begnadigung einem Todesurteil des Sultans Saladin entgangen war, weil dieser in ihm Ähnlichkeiten mit seinem verschollenem Bruder zu sehen glaubte. Recha verehrt ihren Retter als Engel, worauf Nathan sich gegen jeglichen Wunderglauben ausspricht: „dem Menschen ist / Ein Mensch noch immer lieber, als ein Engel“ (I,1; G II, 212). Als Sachwalter der Vernunft erachtet er religiöse Schwärmerei nicht nur für unsinnig, sondern regelrecht für schädlich, weil sie menschlicher Wohltätigkeit entgegenstehe: „Begreifst du aber, / Wie viel andächtig schwärmen leichter, als / Gut handeln ist?“ (I,2; G II, 218) An dieser Stelle zeigen sich die „Grenzen der Lessingschen Toleranz“ (Hillen 1986, 195), denn Nathan ist nur bereit zu dulden, was eine humanitäre Praxis nicht beeinträchtigt. Nathans Freund Al-Hafi, der Schatzmeister Saladins, ersucht Nathan um einen Kredit für die Staatskasse und bietet ihm sogar seinen Posten an. Im Interesse der Freundschaft schlägt Nathan beides aus. Daja lädt den Tempelherrn zu einem Besuch in Nathans Haus ein, der jedoch im Rückgriff auf Stereotypen ablehnt: „Jud’ ist Jude. / Ich bin ein plumper Schwab.“ (I,6; G II, 233) Der zweite Aufzug beginnt mit einer Schachpartie zwischen Sultan Saladin und seiner Schwester Sittah, die sich im Spiel ebenso geschickt zeigt wie in der Politikberatung (vgl. Fulda 2009, 68f.). Ihre schonungslosen Ansichten über ein borniertes Christentum stehen Lessings eigenen erstaunlich nahe (vgl. Kuschel 2004, 109): „Du kennst die Christen nicht, willst sie nicht kennen. / Ihr Stolz ist: Christen sein; nicht Menschen.“ (II,1; G II, 238) Als Nebenthema kommt, wie so oft bei Lessing das „leidige, verwünschte Geld“ (II,2; G II, 239) ins Spiel, welches Saladin fehlt, der Tempelherr verachtet und Al-Hafi flieht. Einzig Nathan legt in seiner bürgerlich geprägten Kaufmannsmentalität ein entspanntes Verhältnis zu materiellen Gütern an den Tag (vgl. Pütz 1986, 267f.), wenngleich er nur gegen finanzielle Abgaben an die Obrigkeit einige gesellschaftliche Rechte erhält, die historisch den meisten Juden verwehrt blieben. Saladin befindet sich in einer kriegsbedingt angespannten Finanzsituation, als Al-Hafi das Ausbleiben einer Geldsendung aus Ägypten meldet. Sittah und Saladin verständigen sich über die kaufmännischen und sittlichen Tugenden Nathans, dem sie eine Falle stellen wollen. Al-Hafi warnt Nathan vergeblich, legt das für ihn unerträglich gewordene Amt nieder und begibt sich in die Emigration. Der von Daja überredete Tempelherr kommt zu Nathan, dem er sich als Curd von Stauffen vorstellt. Infolge seiner Kreuzzugsenttäuschungen zweifelt er an der Überlegenheit des Christentums, kritisiert aber auch die jüdische Überzeugung, das auserwählte Volk zu sein. Nathan gelingt es, diese Voreingenommenheit auszuräumen und den Tempelherrn zum Freund zu gewinnen: „Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, / Als Mensch? Ah! wenn ich einen mehr in Euch / Gefunden hätte, dem es gnügt, ein Mensch / Zu heißen!“ (II,5; G II, 253) Der Tempelherr, der sich von allen Figuren am stärksten entwickelt, indem er von lebensüberdrüssigem Mutwillen zur Einsicht in eine natürliche Verbundenheit der Menschen gelangt, erwidert: „Ja,
7. Nathan der Weise (1779)
bei Gott, das habt Ihr, Nathan! / Das habt Ihr! – Eure Hand! – Ich schäme mich / Euch einen Augenblick verkannt zu haben.“ (II,5; G II, 254) Saladin, der dringlich einen Kredit benötigt, verlangt im dritten Aufzug von Nathan, ihm zu sagen, welches die wahre Religion sei, um ihn zu zwingen, entweder den Islam herabzusetzen oder sein Judentum zu verleugnen. Nathan begreift die Struktur dieser kommunikativen Zwickmühle sofort. Er stellt fest, dass es nicht nur um die Wahrheit selbst gehe, sondern auch um die Gefahr, sie auszusprechen:
3. Aufzug
„Sollt’ er auch wohl Die Wahrheit nicht in Wahrheit fodern? – Zwar, Zwar der Verdacht, daß er die Wahrheit nur Als Falle brauche, wär’ auch gar zu klein! – Zu klein? – Was ist für einen Großen denn / Zu klein?“ (III,7; G II, 275) Er legt sich ein Manöver zurecht, um sich vor dem orientalischen Willkürherrscher zu retten: „Nicht die Kinder bloß, speist man / Mit Märchen ab.“ (III,7; G II, 275) Somit kommt im Stück vor jeder Wahrheitsfindung oder Toleranz zunächst einmal die Technik einer „meisterhaften Gesprächsführung“ (Schneider 1984, 275f.) zur Geltung. Die nachfolgend vorgetragene Ringparabel, eine gleichnishafte Erzählung, deren Moral es auf Saladins Fangfrage zu übertragen gilt, geht lässt sich auf verschiedene literarische Traditionslinien zurückführen. Ihre Überlieferungsgeschichte lässt sich teilweise bis in die spanisch-jüdische Kultur des 11. Jahrhunderts nachverfolgen. Als konkrete Texte sind dabei insbesondere Erzählungen aus dem 1551 veröffentlichten Geschichtswerk Schevet Jehuda (hebr.: Geißel Jehudas) des Rabbi Salomo ibn Verga (2. Hälfte des 15. Jh.s, genaue Lebensdaten unbekannt), aus den religionskritischen Büchern De tribus impostoribus (lat.: Von den drei Betrügern), die bereits im 13. Jahrhundert erwähnt werden, aber vermutlich erst seit dem 17. Jahrhundert im Druck kursieren, sowie aus der Novellensammlung Decamerone (ca. 1350) von Giovanni Boccaccio (1313–1375) zu nennen. Während dieser recht weit gefasste intertextuelle Resonanzraum der Ringparabel überwiegend durch stoffgeschichtliche Vergleiche seitens der Lessing-Forschung ermittelt werden konnten (vgl. Niewöhner 1988), nennt Lessing selbst in einem Brief an seinen Bruder Karl vom 11. August 1778 ausschließlich das Decamerone als Quelle für das gedankliche Kernstück seines Nathan. Von Boccaccio übernimmt Lessing die situative Ausgangskonstellation, in der ein Sultan namens Saladin einen Kredit von einem reichen Juden benötigt, aber davon ausgehen muss, dass dieser ihm aus freien Stücken kein Geld überlassen würde. Daher stellt er ihm eine Falle, indem er ihn fragt, welches Gesetz das wahre sei, das jüdische, das sarazenische oder das christliche, um ihn entweder zu einer inakzeptablen Beleidigung seines Herrschers oder zum offensichtlichen Verrat an seinen Überzeugungen zu zwingen. Der Jude, der bei Boccaccio Melchisedech heißt, antwortet nicht
Die Ringparabel
Anleihen aus dem Decamerone
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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Änderungen gegenüber der Vorlage
mit einer Entscheidung, sondern mit einer Erzählung von einem wertvollen und schönen Ring, der als Erbstück immer wieder vom Vater an den Sohn weitergegeben wurde, bis ein Vater drei Söhne hatte, die ihm alle gleich viel bedeuteten. Da er keinen von ihnen zurücksetzen wollte, ließ er zwei weitere Ringe anfertigen, die sich durch nichts vom ersten unterscheiden ließen. Der Sultan zeigt sich beeindruckt von der geistesgegenwärtigen Antwort des Juden, dem er daraufhin seine hinterhältige Absicht gesteht und ihn als Freund behandelt. Lessing wandelt diese Ringparabel in seiner Version stark ab (vgl. Woesler 1993). Bei ihm ersinnt nicht Saladin die List, sondern vielmehr dessen Schwester Sittah, die ihn zu dem Plan gegen Nathan anstiftet. In der eigentlichen Ringparabel ändert sich zunächst die Bedeutung des Ringes. So hatte ein alter Mann einen Ring zu vererben, der nicht nur schön und wertvoll war, sondern darüber hinaus vor allem die „geheime Kraft“ besaß, „vor Gott / Und Menschen angenehm zu machen, wer / In dieser Zuversicht ihn trug“ (III,7; G II, 276). Über Generationen wurde der Ring immer vom Vater an den Lieblingssohn weitergegeben, bis ein Vater von drei Söhnen keinem von ihnen den Vorzug geben wollte. Damit jeder bedacht würde, ließ er zwei identische Kopien des Ringes anfertigen, was großen Streit auslöste: „Umsonst; der recht Ring war nicht / Erweislich; – “ (III,7; G II, 277) Anders als bei Boccaccio endet die Ringparabel nicht an dieser Stelle, sondern die drei Söhne ziehen vor einen Richter, der feststellen soll, welcher Ring der echte sei. Der Richter versucht, die Echtheit des Ringes an der ihm zugeschriebenen Wirkung fest: „Doch halt! Ich höre ja, der rechte Ring Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen; Vor Gott und Menschen angenehm. Das muß Entscheiden! Denn die falschen Ringe werden Doch das nicht können! – Nun; wen lieben zwei Von euch am meisten?“ (III,7; G II, 279) Da keiner der Söhne darauf diese Probe reagiert, erklärt der Richter alle drei Ringe für Fälschungen. Anstelle einer verbindlichen Entscheidung über die Ringe gibt er ihnen daher schließlich eine Verhaltensempfehlung mit auf den Weg: „Geht nur! – Mein Rat ist aber der: ihr nehmt Die Sache völlig wie sie liegt. Hat von Euch jeder seinen Ring vom Vater: So glaube jeder sicher seinen Ring Den echten. – Möglich; daß der Vater nun Die Tyrannei des Einen Rings nicht länger In seinem Hause dulden wollen! – Und gewiß; Daß er euch alle drei geliebt, und gleich Geliebt: indem er zwei nicht dürcken mögen,
7. Nathan der Weise (1779)
Um einen zu begünstigen. – Wohlan! Es eifre jeder seiner unbestochnen Von Vorurteilen freien Liebe nach!“ (III,7; G II, 280) Die religionsphilosophische Stoßrichtung von Nathans Erzählung zielt darauf, dass der Geltungsanspruch einer Religion nicht von der Wahrheit einer Offenbarung abhänge, sondern allein von ihrer Kraft, die Gläubigen zu ethischer Praxis zu motivieren (vgl. Demetz 1984, 206) – alle anderen Aspekte der Religion seien demgegenüber bloß zufällige und deshalb unwichtige Äußerlichkeiten. In diesem Licht erscheinen alle drei Religionen gleichwertig, woraus ihre Pflicht zur gegenseitigen Duldung hervorgeht (vgl. Schilson 1995, 12). Demnach kommt es nicht auf die Feststellung einer einzigen Wahrheit an, sondern auf den praktischen Umgang mit den konkurrierenden Deutungsansprüchen der Religionen, also um eine gelebte Toleranz, wie Nathan sie mustergültig vorführt. Als einziges Kriterium, nach dem man möglicherweise über die Wahrheit einer Religion entscheiden könnte, wird die Bewährung im Laufe der Geschichte geltend gemacht (vgl. Fuhrmann 1983, 68), denn der Richter, der den echten Ring ermitteln soll, vertagt ein abschließendes Urteil auf die ferne Zukunft: „Da wird / Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen, / Als ich; und sprechen. Geht!“ (III,7; G II, 280) Saladin lässt sich überzeugen und schließt Freundschaft mit Nathan, der ihm nun freiwillig einen Kredit anbietet. Der Tempelherr gesteht Nathan seine Liebe zu Recha, woraufhin sich Nathan zögernd nach seiner Herkunft erkundigt. Daja verrät dem Tempelherrn, daß Recha in Wirklichkeit eine Christin ist, die von Nathan aufgezogen wurde. Im vierten Aufzug fragt der Tempelherr nacheinander um Rat bei dem Klosterbruder, der selbst nach Orientierung sucht, sowie bei dem Patriarchen, der in Nathans Erziehung der Christin Recha ein Verbrechen sieht, für das er ihn am liebsten gleich mehrfach verurteilen würde: „Der Jude wird verbrannt … Ja, wär’ allein / Schon dieserwegen wert, dreimal verbrannt / Zu werden! (IV,2; G II, 299). Überhaupt verleiht die Dreizahl dem Stück gewisse märchenhafte Züge: drei Religionen stehen zur Rede, die in der Ringparabel durch drei ununterscheidbare Ringe symbolisiert werden, und drei gute Taten liegen in der Vorgeschichte, namentlich Rechas Rettung durch den Tempelherrn, dessen Begnadigung durch den Sultan und Nathans Annahme Rechas als Ziehtochter. Der Tempelherr sieht im Gespräch mit Saladin ein, dass er seinen Vorurteilen erlegen ist, als er den Patriarchen ins Vertrauen gezogen hat. Wie seine Schwester befürwortet Saladin die Heirat mit Recha. Nathan legt offen, dass er nach dem Verlust seiner Familie durch ein antisemitisches Massaker Recha, deren Name eigentlich Blanda von Filnek lautet, als Waise von dem Klosterbruder erhalten habe. Trotz persönlicher Verzweiflung habe er die Verantwortung für das Kind übernommen, was den Vergleich mit der alttestamentarischen Figur Hiobs nahelegt, dem der Teufel Familie, Besitz und Gesundheit raubt, um seine Glaubensfestigkeit zu erschüttern. Wie Hiob hält Nathan den Prüfungen stand, sei es nun vorrangig durch Vernunft (vgl.
Toleranz statt absoluter Wahrheit
4. Aufzug
Aufdeckung der Vorgeschichte
119
120
V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
Saße 1988, 228f.) oder durch Gottvertrauen (vgl. Strohschneider-Kohrs 1991, 100f.): „Doch nun kam die Vernunft allmählig wieder. Sie sprach mit sanfter Stimm’: ,und doch ist Gott! Doch war auch Gottes Ratschluß das! Wohlan! Komm! übe, was du längst begriffen hast; Was sicherlich zu üben schwerer nicht, Als zu begreifen ist, wenn du nur willst. Steh auf!‘ – Ich stand! und rief zu Gott: ich will! Willst du nur, daß ich will!“ (IV,7; G II, 316f.) 5. Aufzug
Vereinigung durch Humanität
Wirkungen einer höheren Vernunft
Toleranz und soziale Utopie
Saladin erhält im fünften Aufzug durch eine ankommende Karawane Geld, so dass sein Verhältnis zu Nathan von finanziellen Abhängigkeiten bereinigt werden kann (vgl. Seeba 1973, 81). Mit Hilfe eines Buches, in dem Rechas Abstammung notiert ist, werden die übrigen Verwandtschaftsverhältnisse geklärt. Der christliche Tempelherr erweist sich als Bruder Rechas, der ursprünglich Leu von Filnek hieß. Ihr Vater ist Saladins verstorbener Bruder Assad, der aus Liebe zum Christentum konvertiert war und den Namen Wolf von Filnek angenommen hatte. Recha und der Tempelherr können zwar als Geschwister nicht heiraten, aber dafür gedeiht ein weiterer Bund zwischen den Hauptfiguren, die beinahe alle blutsverwandt sind. Allein Nathan gehört nicht zu dieser Familie, was jedoch die harmonische Konfliktlösung nicht in Zweifel zieht, sondern auf eine höhere Ebene projiziert. Denn entscheidend ist offenbar nicht die leibliche Verwandtschaft, sondern die humane Zusammengehörigkeit, die mit einer vielzitierten Bühnenanweisung besiegelt wird: „Unter stummer Wiederholung allerseitiger Umarmungen fällt der Vorhang.“ (V,8; G II, 347) Die große Menschheitsfamilie entsteht somit weder durch tränenselige Affekte noch durch rationalisierende Sprachverwendungen (vgl. Gustafson 1986, 14ff.). Vielmehr mündet bezeichnenderweise gerade die „Utopie der Verständigung“ (Schröder 1972, 268) in eine wortlose Verabsolutierung unverfälschter Humanität durch Gebärden (vgl. Schneider 1995, 101ff.). Als unverbesserlicher, aber letztlich machtloser Dogmatiker bleibt der Patriarch gänzlich von der großen Menschheitsfamilie ausgeschlossen. Ausgerechnet ihm spricht Nathan seinen Dank dafür aus, dass „wir nun wissen, wem Sie“ – gemeint ist Recha – „anverwandt; nun wissen, wessen Händen / Sie sicher ausgeliefert werden kann“ (V,5; G II, 331). Indem er entgegen seiner Absicht Gutes bewirkt, macht der Patriarch das Walten einer höheren, grundgütigen Vernunft greifbar, deren Wirken den gesamten Handlungsablauf bestimmt. Mit nachgerade mechanischer Präzision läuft die ursächliche Verkettung von Zufällen und guten Taten auf die Wahrheitsfindung und Familienzusammenführung in der Bühnenanweisung am Ende des Stückes hinaus (vgl. Strohschneider-Kohrs 1991, 55ff.). Im Unterschied zu allen anderen Dramendichtungen Lessings wird der Nathan vollkommen einhellig auf der Folie von religiöser Toleranz und sozialer Utopie gelesen. Konsens besteht auch über seinen „Lehrstückcharak-
7. Nathan der Weise (1779)
ter“ (Ter-Nedden 1986, 247) sowie über die didaktische „Konstruiertheit des Humanen“ (Müller 1995, 304). Genauso ausgezirkelt wirkt das Toleranzideal, das sich wie ein roter Faden durch Lessings Gesamtwerk zieht und in diesem Stück kulminiert (vgl. Schultze 1969, 14ff.). Was die Quintessenz aller gängigen Nathan-Interpretationen ausmacht, hatte Lessing bereits knapp dreißig Jahre vor der Entstehung des Dramas in völlig anderem Zusammenhang auf den Punkt gebracht: „Nicht die Übereinstimmung in den Meinungen, sondern die Übereinstimmung in tugendhaften Handlungen ist es, welche die Welt ruhig und glücklich macht.“ (G III, 55) Mit seiner optimistischen Verklärung der Humanität entwirft Lessing im Nathan ein „Gegenbild einer Gesellschaft“, die „immer erst zu schaffen ist“ (Bohnen 1979, S. 415). Denn für den empfindsamen Augenblick des Schlusstableaus erlangt sie nur eine poetische Wahrheit, während die anhaltende Faszination durch das sowohl sprachlich als auch dramaturgisch recht spröde Stück aus seiner geradezu entwaffnend hoffnungsfrohen Perspektive auf die Wirklichkeit erwächst. Anlass zur Diskussion gibt dabei die Frage, ob die vorgestellte Harmonie nur im Drama Bestand haben kann (vgl. Kröger 1979, 113ff.) oder ob sich mit der offenkundig fiktiven, vielleicht nur utopischen Sinnstiftung (vgl. Strohschneider-Kohrs 1984, 291) etwa doch ein weitergehender Auftrag für die Geschichte verbinde. In der Ankündigung (1778) des Nathan befindet Lessing selbst jedenfalls, dass die Verwirklichung seines dramatischen Modells einer besseren Welt durchaus in menschlicher Hand liege: „[D]ie Welt, wie ich sie mir denke, ist eine eben so natürliche Welt, und es mag an der Vorsehung wohl nicht allein liegen, daß sie nicht eben so wirklich ist.“ (G II, 749) Das schwierige Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit lässt sich an drei Stimmen aus der Rezeptionsgeschichte des Dramas illustrieren. Während Moses Mendelssohn sich für das „herrliche Lobgedicht auf die Vorsehung“ (in Steinmetz 1969, 143) begeistert, nennt Friedrich Schlegel das Stück angesichts der Rückschläge durch die Französische Revolution ein „dramatisirtes Elementarbuch des höheren Zynismus“ (in Steinmetz 1969, 187). Und Theodor Fontane vermisst nach rund hundertjähriger Auslegungstradition immer noch ein greifbares „Resultat“ aus dem vielgepriesenen „Evangelium der Toleranz“ (in Steinmetz 1969, 382).
Anspruch und Wirklichkeit
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VI. Rezeptionsgeschichte von Lessing und seinem Werk Zeitgenössische Reaktionen
Lob und Tadel als Korrektiv der Selbsteinschätzung
Lessing gehörte zu den bekanntesten Autoren seiner Epoche, erntete aber mit seinen stilistischen Eigenheiten, gattungsgeschichtlichen Innovationen und thematischen Präferenzen keineswegs nur Beifall von seinen Zeitgenossen. Drei ausgewählte Beispiele mögen die Bandbreite der Reaktionen auf Lessing zu Lebzeiten vergegenwärtigen. Als seine erste Werkausgabe erschien, brachte Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803), mit dem Lessing an sich auf freundschaftlichem Fuße stand, in einem Brief vom 30. Januar 1754 an seinen Dichterkollegen Johann Peter Uz (1720–1796) eine ganze Reihe von Einwänden vor: „Haben Sie Leßings Schriften gelesen? Er wendet gar zu wenig Fleiß auf die Ausarbeitung; drückt sich nicht kurz genug aus, geht dem Witz nach, und fält oft ins Niedrige, oft ins Pöbelhafte […].“ (in Dvoretzky 1971, 10) Ganz anders hingegen hörte sich das Urteil an, das Christoph Martin Wieland (1733–1813) knapp zwei Jahrzehnte später über Lessing fällte. Hellauf begeistert teilte er Gleim am 4. Mai 1772 mit: „Leßings Emilia Galotti, die ich in Weimar zuerst in die Hände bekam, hat mir so außerordentlich wohl gefallen, daß ich ihm auf der Stelle eine Art Huldigungs-Brief schrieb; den ersten, den ich in meinem Leben an diesen großen Mann geschrieben habe. Ich bin begierig zu sehen, wie er ihn aufgenommen hat.“ (in Dvoretzky 1971, 32) Fünf Jahre danach, am 17. Mai 1779 berichtete Luise Mejer (1746–1786), die spätere Ehefrau des Dichters Heinrich Christian Boie (1744–1806), in einem Brief an ihre Freundin Luise von Pestel (1752–1805) von dem tiefen Eindruck, den Nathan der Weise (vgl. Kap. V.7) auf sie gemacht hat. Aus ihrem Wunsch nach Diskretion lässt sich erkennen, wie skandalträchtig Lessings Toleranzideal seinerzeit wahrgenommen wurde: „Boie kam gestern Nachmittag und hat vier Stunden gelesen. Sag niemand etwas davon, denn die orthodoxen Patriarchen werden schreien. Aber laß sie fluchen, es ist schön, herrlich, für Kopf und Herz geschrieben.“ (in Dvoretzky 1971, 77) Lessing selbst kommentierte die zahlreichen, höchst unterschiedlichen Einschätzungen seiner Person wie auch seines Werks, die er über die Jahrzehnte seines Schaffens hinweg zur Kenntnis genommen hatte, mit durchaus selbstironischer Distanz. So notierte er, vermutlich nach 1770, in seinen zu Lebzeiten unveröffentlichten Selbstbetrachtungen und Einfällen: „Ich wünschte, daß ich mir, vom Anfange an, alle Lobsprüche und alle Tadel und Schmähungen, die ich und meine Schriften im Druck erhalten habe, jede in ein besonders Buch zusammengetragen hätte: um das eine zu lesen, wenn ich mich zu übermütig, und das andre, wenn ich mich zu niedergeschlagen fühle.“ (G V, 791f.)
VI. Rezeptionsgeschichte von Lessing und seinem Werk
Im Laufe der rund 230 Jahre seit seinem Tod diente Lessing als Projektionsfläche für zahlreiche verschiedenartige Deutungen, die sich aufgrund ideologischer Interessen mindestens ebenso sehr auf die jeweils vorangegangenen Deutungen bezogen wie auf Lessing selbst und seine Werke (vgl. Nisbet 2008, 860). Bei allen Neu- und Umdeutungen haben sich einige Züge im Lessing-Bild herausgebildet, die im historischen Wandel relativ gleichbleibend benannt werden. So gelten erstens die Wahrheitssuche und der Kampf gegen herrschende Vorurteilsstrukturen gemeinhin als Grundantriebe in Lessings Werk. Zweitens wird das Streben nach einem fortwährenden Dialog im Rahmen einer kritischen Öffentlichkeit hervorgehoben. Dabei komme es drittens mehr auf die Prozesse des Denkens und Argumentierens an als auf das Resultat, weil das Publikum zum selbständigen Denken und zur Mündigkeit angeleitet werden soll. Viertens wird er stets durch die Verbindung von geistiger Schärfe und sprachlicher Leichtigkeit, von Witz und Leidenschaft sowie von Gelehrsamkeit und Polemik charakterisiert. Diese Grundzüge finden sich bereits in den öffentlichen und privaten Stellungnahmen zu Lessings Tod, unter denen der Nekrolog mit dem Titel G.E. Leßing. Gebohren 1729, gestorben 1781, den Johann Gottfried Herder (1744–1803) im Teutschen Merkur veröffentlichte, besonders großen Einfluss erlangte. Herder betonte Lessings „Witz“ und „Gelehrsamkeit“, seine „Gelenkigkeit des Ausdrucks“ und seinen „philosophischen Scharfsinn“ (in Steinmetz 1969, 123f.). Außerdem lobte er die Verbindung von Geschmack und Sachkenntnis, die sich in vielseitigen Beiträgen zur Dichtkunst, Poetik und Ästhetik sowie zur Geschichte und Theologie zeige. Er kennzeichnete Lessing mit der eingängigen Drillingsformel „Wahrheitssucher, Wahrheitskenner, Wahrheitsverfechter“ (ebd., 133), die in der Lessing-Rezeption bis heute immer wieder aufscheint. Allerdings besaß der Begriff ,Wahrheitssucher‘ damals einen Beiklang des Unorthodoxen, da Lessing in konservativen Kirchenkreisen als durchaus gefährlicher religiöser Abweichler galt, zumal der Fragmentenstreit (vgl. Kap. IV.1) immer noch fortwirkte. Lessings übergreifende Leistung besteht nach Herder darin, dass er als Feind der „täglichen Halblüge und Halbwahrheit“ sowie der „falschen Höflichkeit“ seinen „Kampf tapfer gekämpfet“ habe, seien doch seine Werke „voll männlichen, festen Gefühls, voll goldner ewiger Güte und Schönheit“ (in Steinmetz 1969, 134). Die analytisch recht unscharfe Kategorie des ,Männlichen‘ hielt sich kurioserweise hartnäckig bis in literaturwissenschaftliche Studien des ausgehenden 20. Jahrhunderts hinein (vgl. Fick 2010, 2). Mit Herder setzte insofern auch schon eine nationalliterarische Deutungstradition ein, als er erklärte, niemand schreibe „ursprünglich deutscher als Luther oder Lessing“ (ebd., 124). Lessings Tod wurde von vielen Zeitgenossen als Einschnitt für das deutsche Geistesleben gewertet. So grübelte der Göttinger Mathematiker und Epigrammatiker Abraham Gotthelf Kästner (1719–1800) noch am 11. Februar 1786 in einem Brief an Friedrich Nicolai: „Warum der liebe Gott Lessinge und Mendelssohne wegnimmt u. soviel andere hie lässt? Gewiß nicht zum Besten der Aufklärung.“ (in Dvoretzky 1971, 35)
Konsensuelle Züge in der Rezeptionsgeschichte
Lessing als „Wahrheitssucher, Wahrheitskenner, Wahrheitsverfechter“
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VI. Rezeptionsgeschichte von Lessing und seinem Werk Der ,unpoetische‘ Schriftsteller
Lessing als Gründungsfigur der deutschen Nationalliteratur
Zwischen Patriotismus und Jugendgefährdung
Autor der Macht und ,Lessing-Legende‘
Um 1800 wurde zunehmend die Frage nach der Ästhetik und Literarizität von Lessings Werk aufgeworfen. Romantiker wie Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), Novalis (1772–1801) und insbesondere Friedrich Schlegel (1772–1829) sahen in ihm einen ,unpoetischen‘ Schriftsteller, der aufgrund von Wortgewandtheit, Sittlichkeit und Scharfsinn eher als Philosoph und Kritiker denn als Literat von Interesse war (vgl. Nisbet 2008, 852f.). Daher würdigten sie vor allem die ,poetische‘ Qualität seiner philosophischen Urteile sowie die Technik seiner Wahrheitssuche insgesamt. Heinrich Heine (1707–1856) spöttelte in Die Romantische Schule (1833) zwar über Lessings „nüchterne Aufklärungssucht“, befand aber die bei Herder schon angedeutete nationale Dimension für höchst aktuell: „Mehr, als man ahnte, war Lessing auch politisch bewegt, eine Eigenschaft, die wir bei seinen Zeitgenossen gar nicht finden; wir merken jetzt erst, was er mit der Schilderung des Duodezdespotismus in ,Emilia Galotti‘ gemeint hat.“ (in Steinmetz 1969, 260f.) Mit den Bestrebungen nach einer einheitlichen Verfassung für Deutschland wurde Lessing während des 19. Jahrhunderts zum Begründer der deutschen Nationalliteratur stilisiert. Im Dienste politischer Zwecke rückten nun verstärkt Momente des Deutschen, des Sozialkritischen, des Bürgerlichen und des Kämpferischen in den Vordergrund. So liest man etwa in der 1840 veröffentlichten Neueren Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen des nationalliberalen Historikers Georg Gottfried Gervinus (1805–1871): „Lessing aber war das eigentliche Revolutionsgenie […]. In diesem Geschäfte, die Nation von dem zu befreien, was die Keime ihrer Bildung drückte, ließ er sich nicht durch den Widerstand seiner Eltern, seiner Freunde, seines Volkes selber irren, und seine Tätigkeit ward von Erfolgen gekrönt, die wir mit Neid und Freude nach einem Jahrhundert überblicken […].“ (in Steinmetz 1969, 295) Die hier erkennbare Richtung spitzte sich nach dem Scheitern der Revolution von 1848 weiter zu. Für den Sozialdemokraten Ferdinand Lassalle (1825–1864) beispielsweise war Lessing „der siegreiche Revolutionär im Reiche des Geistes, der Rächer und Wiederhersteller der untergegangenen Präsenz des lebendigen Selbstbewußtseins in Literatur, Kunst, Religion, Ethik, Geschichte“ (in Steinmetz 1969, 351). Unter diesen Vorzeichen entwickelte sich auf der Bühne und in der Schule eine Vorliebe für patriotisch lesbare Dramen wie Minna von Barnhelm (1767) oder auch Philotas (1759). Nathan der Weise hingegen erregte mit seiner programmatischen Gleichstellung der Religionen das Missfallen sowohl geistlicher als auch antisemitischer Kreise, so dass der Text, der mitunter als regelrecht jugendgefährdend eingestuft wurde, im Schulkanon nicht vorkam (vgl. Barner u.a. 1998, 407). Infolge der Reichsgründung von 1871 erfuhr Lessing eine Umdeutung vom Rebellen zum Autor der Macht, indem seine intellektuellen Errungenschaften mit den politischen und militärischen des Preußenkönigs Friedrich II. (1712–1786) parallelisiert wurden. Im Aufschwung des nationalen Selbstbewusstseins blieben dabei die früheren patriotischen Interpretationsmuster bestehen. Allerdings vereinnahmten auch Kritiker des Kaiserreiches
VI. Rezeptionsgeschichte von Lessing und seinem Werk
wie der marxistisch orientierte Sozialdemokrat Franz Mehring (1846–1919) Lessing für ihre politischen Absichten, teilweise ebenfalls unter willkürlichen oder spekulativen Auslegungen seiner Werke und vor allem seiner Biographie. In seiner Untersuchung mit dem Titel Die Lessing-Legende (1893) denunzierte Mehring die gesamte bisherige Lessing-Philologie als parteiisch im Dienste obrigkeitlicher Interessen. Man habe Lessings Sozialkritik verschwiegen, um eine borussianische Integrationsfigur zu erschaffen. Mit dem Ziel, Lessing in die Vorgeschichte eines revolutionären Proletariats einzuordnen, unternahm er eine Totalrevision der Deutungen, die er für bourgeoise Verzerrungen hielt. Seine Wertschätzung Lessings richtete sich vielmehr auf die „Ehrlichkeit und Mannhaftigkeit, eine unersättliche Begierde des Wissens, die Lust mehr noch am Trachten nach der Wahrheit als an der Wahrheit selbst, die unermüdliche Dialektik, die jede Frage kehrte und wandte, bis ihre geheimsten Falten offenlagen, die Gleichgültigkeit gegen die eigene Leistung, sobald sie einmal vollbracht war, die großartige Verachtung aller weltlichen Güter, der Haß gegen alle Unterdrücker und die Liebe zu allen Unterdrückten, die unüberwindliche Abneigung gegen die Großen der Welt, die stete Kampfbereitschaft gegen das Unrechte, die immer bescheidene und immer stolze Haltung in dem verzehrenden Kampfe mit dem Elend der politischen und sozialen Zustände“ (in Steinmetz 1969, 403). Zu den patriotischen und sozialkritischen Lesarten traten seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch expressionistische, vitalistische und spiritualistische Strömungen, die bemüht waren, Lessing als Wegbereiter der Moderne zu verstehen. Da das Irrationale in diesen Kreisen als Quelle des Poetischen galt, erschien es fraglich, ob der rationalistische Aufklärer ein wirklicher ,Dichter‘ oder doch wenigstens ein „Überwinder der Aufklärung“ (Barner et al. 1998, 405) war. Anlässlich des 200. Geburtstags Lessings sprach sich Thomas Mann (1875–1955) in dem Essay Zu Lessings Gedächtnis (1929) gegen den laut werdenden Vorwurf der vernünftelnd-optimistischen Naivität aus: „Zum erstenmal in Deutschland verkörpert er den europäischen Typus des großen Schriftstellers, welcher, ein Mann des freien und glänzenden, sachlich-übersachlichen Wortes, eine geist- und kunstumleuchtete Persönlichkeit, seiner Nation zum Bildner und Erzieher wird.“ (in Steinmetz 1969, 450f.) Als nationaler Erzieher kam Lessing freilich im Nationalsozialismus nicht in Frage, denn allzu viele Aspekte in seinem Leben und Werk standen der faschistischen ,Weltanschauung‘ entgegen. Zu nennen wären da vor allem seine Lust am öffentlichen Streiten, sein kritischer Rationalismus, sein Eintreten für Toleranz und Humanität, die Aufwertung der Privatsphäre gegenüber dem Politischen im bürgerlichen Trauerspiel und nicht zuletzt seine enge, lebenslang anhaltende Freundschaft mit dem jüdischen Aufklärer Moses Mendelssohn. Auch gewinnen manche seiner Formulierungen wie beispielsweise folgende Verse aus dem Jahr 1749, die eigentlich auf die schul-
Irrationalistische Deutungen
Konflikte mit der NS-Ideologie
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VI. Rezeptionsgeschichte von Lessing und seinem Werk
meisterliche Regelbefolgung in der Dichtkunst gemünzt sind, vor dem Hintergrund der NS-Ideologie einen ungemein subversiven Klang: „Dem Führer allzutreu, und folgte wie das Vieh; Und täuschte nur das Ohr mit künstlichem Geklimper: Wie nennt Apollo den? Wenns hoch kommt: einen Stümper.“ (G I, 168f.) Philologische Gleichschaltung
Nachdem man zunächst versuchte, den unbequemen Autor zu marginalisieren, erfolgte später die ideologische ,Gleichschaltung‘ des Lessing-Bildes. Dabei wurde Nathan der Weise sowohl aus den schulischen Leselisten als auch von der Bühne verbannt. Hinzu kamen weit hergeholte, oftmals logisch brüchige Deutungen seitens der nationalsozialistischen Philologie, die allerdings in den einschlägigen Quellensammlungen zu Lessings Rezeptionsgeschichte (Steinmetz 1969; Dvoretzky 1972) kaum repräsentiert ist. So sollten beispielsweise in Anlehnung an die völkisch-nationale Literaturgeschichtsschreibung, die schon im Kaiserreich entstand, ,nordische‘ Stilmerkmale Lessings nachgewiesen werden. Um Nathan in antisemitischem Sinne lesen zu können, wurde erklärt, das Jüdischsein des Protagonisten diene lediglich als negative Kontrastfolie, um die erhebende Kraft der Toleranz schärfer hervortreten zu lassen (vgl. Barner u.a. 1998, 416f.). Den durchaus typischen Konflikt zwischen Lessing-Verehrung und Antisemitismus überbrückte Mathilde Ludendorff (1877–1966) in einer mit Lessings Geisteskampf und Lebensschicksal (1937) betitelten Studie durch die Behauptung, Lessing sei von „Juden und künstlichen Juden“ verleumdet und von den Freimaurern durch einen Giftanschlag ermordet worden (in Steinmetz 1969, 466f.). Max Kommerell (1902–1944) hingegen verstand Lessing gar nicht erst als Schriftsteller, sondern als reinen Theoretiker, dessen poetologische Leistungen er mit rassenideologisch anmutender Begrifflichkeit umschreibt: „In allem wirkt die Einsicht, daß die Kunst schwer ist. Darum kann die Theorie gar nicht genug vertieft und verfeinert werden; ihr Besitz gar nicht gründlich geprüft, nicht bewußt genug sein. So läßt sich für Lessing das Verhältnis, wie es gewöhnlich gefaßt wird, umkehren. Was ist Praxis? Theorie, nichts anderes als Theorie: angewandte Einsicht in das Lebensgesetz der Gattung.“ (Kommerell 1940, 28)
Lessing als kulturelles ,Erbe‘ in der DDR
Weil Lessing sich schwerlich vom Nationalsozialismus vereinnahmen ließ, bot er nach dem Kriegsende 1945 vielfältige Anknüpfungspunkte im Osten wie im Westen Deutschlands. Maßgeblich für die Lessing-Rezeption in der DDR waren das Geschichtsbild und die Literaturtheorie marxistischer Prägung. So verstand man die Literatur vergangener Zeiten als kulturelles ,Erbe‘, das es zu pflegen galt, um die gesellschaftliche Gegenwart zu legitimieren. Dem Literaturwissenschaftler Hans-Georg Werner (1931–1996) zufolge kam es deswegen darauf an, dass „die aus dem Kampf um den Fortschritt hervorgegangenen Traditionen in ihrer aktivierenden Kraft bewußt-
VI. Rezeptionsgeschichte von Lessing und seinem Werk
gehalten werden“ (Werner 1984, 432). Vor diesem Hintergrund sah er Lessings besonderes Verdienst darin, „alle ihn bewegenden Probleme auf die sozialen Grundfragen der Klassenauseinandersetzungen seiner Zeit zu beziehen“ (ebd., 411). Um Lessing als adelskritischen Vorkämpfer von Demokratie und Fortschritt verfügbar zu machen, wurden die Begründungszusammenhänge der sog. ,Lessing-Legende‘, die Franz Mehring bereits im Kaiserreich formuliert hatte, erneut aufgegriffen. Im Gegensatz dazu entstand in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit der Nachkriegszeit ein weitgehend unpolitisches Lessing-Bild. Im Blickpunkt der Aufmerksamkeit stand vorzugsweise sein Engagement für ethische und ästhetische Werte, unter denen insbesondere der Toleranzgedanke eine identitätsstiftende Funktion übernahm, weil er eine programmatische Abkehr vom Nationalsozialismus ermöglichte. Dabei werden nicht selten gewisse Idealisierungen erkennbar, wie beispielsweise in der Abhandlung Was bleibt? (1953) des Schriftstellers Hermann Kesten (1900–1996), in der Lessing ungeachtet seiner zuweilen aggressiven und sogar unredlichen Streitpraxis als ein „vorurteilsloser edler Mensch“ bezeichnet wird, „mit aller sittlichen Kampflust jener erbittert guten Menschen, die so gerne die Erziehung der Menschheit fortschreiten sähen“ (in Dvoretzky 1972, 489). Für die Folgezeit lässt sich im Grunde keine einheitliche oder auch nur vorherrschende Tendenz der Rezeption mehr feststellen, zumal sich die populäre und die wissenschaftliche Rezeption mit zunehmender Ausdifferenzierung der letzteren (vgl. Kap.II) immer weiter voneinander entfernten. Angeregt durch den bereits 1947 erschienenen Essay Dialektik der Aufklärung der Sozialphilosophen Max Horkheimer (1895–1973) und Theodor W. Adorno (1903–1969) wurden die Grenzen der Aufklärung insgesamt zum Gegenstand öffentlicher Debatten (vgl. Nisbet 2008, 862). Strittig erschien in diesem Zusammenhang die Frage, ob ein direkter Weg vom Rationalismus der Aufklärung, der dazu freilich vereinseitigt als Zweckrationalismus ausgelegt wurde, zum Faschismus und Holocaust führe. Reflexe dieser Debatten finden sich insofern auch in der Lessing-Rezeption, als gelegentlich auf die Effekte von historischer Distanz und Traditionsbrüchen sowohl in ästhetischer als auch in gesellschaftlicher Hinsicht aufmerksam gemacht wurde. In diesem Sinne betitelte der Literaturwissenschaftler Peter Demetz (*1922) im Jahr 1971 einen Aufsatz mit Die Folgenlosigkeit Lessings. Während Lessings Beliebtheit als Schul- und Bühnenautor von derartigen Historisierungsversuchen weitgehend unberührt blieb (vgl. Kap. I), wurden seit den 1970er Jahren bis in die Gegenwart hinein immer wieder Unkenrufe und dramatische Abgesänge auf Lessing und das Projekt der Aufklärung laut. So bezeichnete der Schriftsteller und Dramatiker Botho Strauß (*1944) Lessing in einem Zeitungsartikel als den „politisch korrekteste[n] Klassiker der Deutschen“ (Strauß 2001), meinte damit aber keineswegs ein besonderes Verdienst, sondern vielmehr die Signatur äußerster Belanglosigkeit. Zu den Theaterstücken, die sich kritisch mit Lessings (literatur)geschichtlicher Bedeutung auseinandersetzen, zählt etwa Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei. Ein Greuelmärchen von Heiner Mül-
Unpolitische Idealisierung in der BRD
Dialektik der Aufklärung
Anhaltende Präsenz und wiederholte Abgesänge
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VI. Rezeptionsgeschichte von Lessing und seinem Werk
ler (1929–1995) aus dem Jahr 1976. Weil Lessings Werke keine gesellschaftlichen Veränderungen bewirken könnten, sondern, wie Müller nahelegt, nur aus leeren Phrasen bestünden, liest eine Figur mit einer Lessingmaske vor: „Mein Name ist Gotthold Ephraim Lessing. Ich bin 47 Jahre alt. Ich habe ein/zwei Dutzend Puppen mit Sägemehl ausgestopft, das mein Blut war, einen Traum vom Theater in Deutschland geträumt und öffentlich über Dinge nachgedacht, die mich nicht interessierten.“ (Müller 1983, 34) Zu nennen wären als weitere Beispiele Nathans Tod (1991) von George Tabori (1914–2007), der den Humanitätsgedanken hoffnungslos an der Wirklichkeit scheitern lässt, oder auch Lessings Traum von Nathan dem Weisen (2002) von Elmar Goerden (*1963), ein Performanceexperiment, in dem die aus Lessings Stück bekannten Figuren aus ihrer Rolle fallen, um sich selbst zu hinterfragen. Diskussionswürdig bleibt jedoch bei alledem, ob es Lessing wirklich zum Vorwurf gereichen kann, wenn er eher für die Gegebenheiten seiner Zeit schrieb als für die des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Womöglich spricht es vielmehr für die ethische Souveränität, den glänzenden Witz und die literarhistorische Strahlkraft seiner Werke, wenn Lessing als Repräsentant der Aufklärung noch in der Theaterlandschaft der Gegenwart ein so starkes Bedürfnis erzeugt, sich produktiv gegen ihn abzugrenzen.
VII. Zeittafel 1729
Geburt am 22. Januar als Sohn des lutherischen Theologen Johann Gottfried Lessing und der Pastorentochter Justine Salome, geb. Feller, in Kamenz
1737
Besuch der Lateinschule in Kamenz
1741
Aufnahme in die Fürstenschule St. Afra in Meißen
1746
Theologiestudium in Leipzig, Übersetzungen für die Bühne
1747
erste Lyrikpublikationen (Anakreontik und Lehrdichtung), Der junge Gelehrte
1748
Medizinstudium in Leipzig und Wittenberg; Tätigkeit als freier Publizist und Übersetzer in Berlin; Der Misogyn (gedruckt 1755)
1749
Die Juden, Der Freigeist, Die alte Jungfer, Samuel Henzi (Fragment)
1750
Gedanken über die Herrnhuter
1751
Redakteur der Berlinischen privilegierten Zeitung; Magisterexamen in Wittenberg; Gedichtsammlung Kleinigkeiten
1752
Des Herrn von Voltaire kleine historische Schriften (Übersetzungen von Voltaire-Essays)
1753
bis 1755 Publikation der Schriften (Gedichte, Fabeln, Rettungen, Kritiken, frühe Lustspiele, Miß Sara Sampson)
1754
Vade mecum für den Herrn Samuel Gotthold Lange
1755
Pope ein Metaphysiker! (mit Moses Mendelssohn)
1756
Aufenthalte in Dresden und Hamburg; Abbruch einer geplanten Englandreise in Amsterdam bei Beginn des Siebenjährigen Krieges; bis 1757 Briefwechsel über das Trauerspiel (mit Mendelssohn und Friedrich Nicolai)
1757
Vorarbeiten zu Emilia Galotti
1758
Rückkehr nach Berlin, Arbeit am Faust-Fragment, Plan eines Deutschen Wörterbuches
1759
Fabeln […] Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungsart verwandten Inhalts; bis 1765 Briefe, die neueste Literatur betreffend (gemeinsam mit Mendelssohn und Nicolai); Philotas; Ausgabe der Sinngedichte von Friedrich von Logau (mit Karl Wilhelm Ramler)
1760
Anstellung als Sekretär des Generalleutnants Bogislaw Friedrich von Tauentzien in Breslau; Wahl zum auswärtigen Mitglied der
130
VII. Zeittafel
Berliner Akademie der Wissenschaften; Das Theater des Herrn Diderot (Übersetzung); Sophokles (biographisches Fragment) 1762
Teilnahme am Siebenjährigen Krieg (Belagerung von Schweidnitz)
1765
Rückkehr nach Berlin
1766
Aufenthalte in Pyrmont, Göttingen und Kassel; Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie
1767
Dramaturg und Theaterkritiker in Hamburg; Minna von Barnhelm; bis 1769 Hamburgische Dramaturgie
1768
Wie die Alten den Tod gebildet; bis 1769 Briefe antiquarischen Inhalts
1770
Stellenantritt als herzoglicher Bibliothekar in Wolfenbüttel
1771
Verlobung mit der Hamburger Kaufmannswitwe Eva König, geb. Hahn; Mitglied der Hamburger Freimaurer-Loge ,Zu den drei Rosen‘; erster Band der Vermischten Schriften (die übrigen erst postum)
1772
Emilia Galotti
1773
bis 1781 Zur Geschichte und Literatur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel
1774
bis 1778 Publikation der Fragmente eines Ungenannten aus dem Nachlass von Hermann Samuel Reimarus
1775
Reise nach Leipzig, Berlin, Dresden und Wien; Audienz bei Kaiser JosephII.; Italienreise mit Prinz Leopold von Braunschweig
1776
Heirat mit Eva Katharina König, geb. Hahn; Mitglied der Mannheimer Akademie der Wissenschaften; Herausgabe von Karl Wilhelm Jerusalems Philosophischen Aufsätzen
1777
Streitigkeiten um eine eventuelle Übernahme der Mannheimer Theaterleitung; Tod des einzigen Sohnes Traugott kurz nach der Geburt; Eine Duplik; Eine Parabel; Axiomata; Die Bitte; Absagungsschreiben; Anti-Goeze
1778
Tod der Ehefrau im Kindbett; Publikationsverbot im Fragmentenstreit und Aufhebung von Lessings Zensurfreiheit; Nötige Antwort, bis 1780 Ernst und Falk. Gespräche für Freymäurer
1779
Nathan der Weise
1780
Die Erziehung des Menschengeschlechts
1781
Tod am 15. Februar in Braunschweig
Kommentierte Bibliographie 1. Gängige Werkausgaben Sämtliche Schriften. Hg. v. Karl Lachmann. 3., aufs neue durchges. u. verm. Aufl., besorgt durch Franz Muncker. 23 Bde., Stuttgart, [ab Bd. 12] Leipzig, [ab Bd. 22] Leipzig u. Berlin 1886–1924 [Reprints Berlin 1968 u. Berlin, New York 1979] [historischkritische Ausgabe]. Werke. Hg. v. Herbert G. Göpfert in Zusammenarb. m. Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Gerd Hillen, Albert von Schirnding u. Jörg Schönert. 8 Bde., München 1970–1979 [hier zitiert mit entsprechender Band- und Seitenangabe unter der Sigle G]. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Wilfried Barner in Zusammenarb. m. Klaus Bohnen, Gunter E. Grimm, Helmuth Kiesel, Arno Schilson, Jürgen Stenzel u. Conrad Wiedemann. Frankfurt a.M. 1985–2003 [hier zitiert mit entsprechender Bandund Seitenangabe unter der Sigle B].
2. Weitere zitierte Quellen Äsop: Fabeln. Griechisch-deutsch. Hg. u. übers. v. Rainer Nickel. Düsseldorf, Zürich 2005. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Ästhetik. 2 Bde. Lateinisch-deutsch. Übers. u. hg. v. Dagmar Mirbach. Hamburg 2007. Gellert, Christian Fürchtegott: Fabeln und Erzählungen. Gesammelte Schriften Bd. I. Hg. v. Ulrike Bardt u. Bernd Witte unter Mitarb. v. Tanja Reinlein. Berlin, New York 2000. Gottsched, Johann Christoph: Rezension über Johann Jacob Bodmers Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie [1740]. In: ders.: Schriften zur Literatur. Hg. v. Horst Steinmetz. Stuttgart 1989, S. 239–252. Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst [Reprint der 4., vermehrten Aufl. von 1751]. Darmstadt 1962. Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist
Aufklärung. In Berlinische Monatsschrift 12 (1784), S. 481–494. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. I, Bd. 1: Oden. Hg. v. Horst Gronemeyer u. Klaus Hurlebusch. Berlin, New York 2010. Kommerell, Max: Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie. Frankfurt a.M. 1940. Logau, Friedrich von: Sinngedichte [1654]. Hg. v. Ernst-Peter Wieckenberg. Stuttgart 1984. Mendelssohn, Moses: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 13: Briefwechsel, III. Hg. v. Alexander Altmann. Bad Cannstatt 1977. Müller, Heiner: Herzstück. Berlin 1983. Pfeffel, Gottlieb Konrad: Politische Fabeln und Erzählungen in Versen. Hg. v. Helmut Popp. Nördlingen 1987. Strauß, Botho: Der Erste, der Letzte. Warum uns der große Lessing nicht mehr helfen kann. In: Die Zeit 37 (2001).
3. Dokumentationen und Zeittafeln zu Lessings Leben und Werk Albrecht, Wolfgang: Lessing. Chronik zu Leben und Werk. Hg. v. Dieter Fratzke. Kamenz 2008. Hillen, Gerd: Lessing-Chronik. Daten zu Leben und Werk. München, Wien 1979. Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen. Hg. v. Richard Daunicht. München 1971. Lessing im Urtheile seiner Zeitgenossen. Zeitungskritiken, Berichte und Notizen […], gesammelt u. hg. v. Julius W. Braun. 3 Bde., Berlin 1884–1897 [Reprint 1969]. Lessings Leben und Werk in Daten und Bildern. Zusammengestellt u. erläutert v. Bodo Lecke. Hg. v. Kurt Wölfel. Frankfurt a.M. 1967. Raabe, Paul: Gotthold Ephraim Lessing 1729–1781. Ausstellungskatalog zum Lessinghaus. Wolfenbüttel 1981.
132
Kommentierte Bibliographie Rudloff-Hille, Gertrud: Die authentischen Bildnisse Gotthold Ephraim Lessings. Zusammenfassende Darstellung der bis heute bekannt gewordenen Lessing-Porträts. 2. Aufl., hg. v. Wolfgang Albrecht u. Dieter Fratzke. Kamenz 1991.
2010 [gut lesbare Kurzeinführung, streckenweise identisch mit Jung 2001]. Nisbet, Hugh Barr: Lessing. Übers. v. Karl S. Guthke. München 2008 [aktuelle, umfangreiche und kritische Biographie].
4. Einführungs- und Überblicksliteratur
5. Forschungsliteratur zu speziellen Aspekten
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Personenregister Abbt, Thomas 84 Ackermann, Conrad 64 Adorno, Theodor W. 127 Alexander III., König von Makedonien 90 Ammon, Frieder von 31 Anakreon 73 Arendt, Hanna 8 Aristoteles 41, 47, 59, 63, 90, 99 Äsop 92, 94f., 97 Barner, Wilfried 13 Batteux, Charles 51, 93 Baumgarten, Alexander Gottlieb 53 Bayle, Pierre 37 Boccaccio, Giovanni 117f. Bode, Johann 19 Bodmer, Johann Jakob 41ff., 45, 69, 85, 92 Boie, Heinrich Christian 122 Boileau, Nicolas 51 Breitinger, Johann Jakob 41, 45, 69, 92f. Calderón de la Barca, Pedro 83 Cardanus, Hieronymus 38 Catull 68 Chassiron, Pierre Mathieu Martin de 58f. Claudius Aelianus 94 Cochlaeus, Johannes 38 Corneille, Pierre 47 Crisp, Samuel 108 Demetz, Peter 127 Diderot, Denis 26, 45 Dionysios von Halikarnassos 107 Dusch, Johann Jakob 46 Eschenburg, Johann Joachim 20f., 26 Fichte, Johann Gottlieb 124 Fick, Monika 15 Fontane, Theodor 121 Friedrich II., König von Preußen 71, 75, 84, 99f., 103, 124 Fulda, Daniel 15
Gellert, Christian Fürchtegott 58f., 78, 92, 96 Gervinus, Georg Gottfried 124 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 18, 25, 44, 73, 84f., 92, 122 Goerden, Elmar 128 Goethe, Johann Wolfgang 13, 26, 33 Goeze, Johann Melchior 26, 33–37, 113f. Gottsched, Johann Christoph 41ff., 45–49, 51ff., 58ff., 63, 69f., 75ff., 82, 90, 93 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie 76f. Grimm, Gunter E. 13 Guthke, Karl S. 14, 112 Habermas, Jürgen 13, 23 Hagedorn, Friedrich von 73, 92 Haller, Albrecht von 68f. Heine, Heinrich 124 Hempel, Brita 14 Herder, Johann Gottfried 33, 123 Holberg, Ludvig 80 Horaz 38, 41, 57 Horkheimer, Max 127 Huarte, Juan 18 Hutcheson, Francis 61 Ismer, Roland 12 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm 20 Jerusalem, Karl Wilhelm 26, 130 Joseph II., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 20, 66 Kant, Immanuel 22f., 94 Kästner, Abraham Gotthelf 123 Kesten, Hermann 127 Kiesel, Helmuth 13 Kleist, Ewald Christian von 18, 45, 84 Klopstock, Friedrich Gottlieb 19, 45, 72, 75 Klotz, Christan Adolf 26, 33 Kommerell, Max 126 König, Engelbert 19 König, Eva Katharina 19ff., 130 Koselleck, Reinhart 13
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Personenregister La Fontaine, Jean de 91, 95 La Motte, Antoine Houdar de 91, 93 Lach, Roman 16 Lange, Samuel Gotthold 33 Lassalle, Ferdinand 124 Lavater, Johann Caspar 31 Leibniz, Gottfried Wilhelm 106 Lemnius, Simon 38 Leopold, Prinz von Braunschweig-Wolfenbüttel 21 Lessing, Johann Gottfried 17, 128 Lessing, Justina Salome 17f., 129 Lessing, Karl Gotthelf 9, 26, 108, 113f., 117 Lessing, Traugott 21, 130 Lillo, George 106 Logau, Friedrich von 25, 51, 73f. Louvain, Richier de 18 Löwen, Johann Friedrich 64ff. Ludendorff, Mathilde 126 Luther, Martin 36 Mann, Thomas 125 Martial 51, 68, 74f. Mehring, Franz 125f. Mejer, Luise 122 Melanchthon, Philipp 37 Mendelssohn, Moses 18f., 25, 31f., 43, 45, 48, 61, 114, 121, 125, 129 Milton, John 42 Molière 78, 80, 100 Montiano, Augustino de 108 Moore, Edward 106 Müller, Heiner 127f. Mylius, Christlob 17f., 24, 40 Neuber, Friederike Caroline 24, 63, 76 Nicolai, Friedrich 18f., 25, 43, 45, 61, 108, 123, 129 Nicolai, Samuel Gottlob 72 Nisbet, Hugh Barr 15 Perrault, Charles 69 Pestel, Luise von 122 Pfeffel, Gottlieb Konrad 97 Phädrus 94, 97 Philippine Charlotte, Herzogin von BraunschweigWolfenbüttel 111 Platon 37 Plautus 25, 82f. Pyra, Immanuel Jakob 42 Quistorp, Johann Theodor 78
Racine, Jean 47 Ramler, Karl Wilhelm 18f., 20, 25, 73, 107, 115, 129 Reh, Albert M. 14 Reimarus, Elise 37 Reimarus, Hermann Samuel 19, 22, 26, 34, 130 Rousseau, Jean-Jacques 45, 61 Scaliger, Julius Caesar 51 Schiller, Friedrich 13 Schings, Hans-Jürgen 14 Schlegel, Friedrich 121, 124 Schlegel, Johann Elias 64f., 78 Schmidt, Johann Lorenz 34 Seneca d. J. 84 Seyler, Abel 64 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, 3rd Earl of 61 Shakespeare, William 47f., 115 Sharpe, William 50 Sidney, Philipp 37 Sophokles 26, 84 Steinmetz, Horst 66 Stenzel, Jürgen 16 Strauß, Botho 127 Tabori, George 128 Tauentzien, Bogislaw Friedrich von 19, 129 Thomasius, Christian 40f. Titus Livius 107 Uz, Johann Peter 122 Vavasseur, François 51 Verga, Salomo ibn 117 Vergil 55 Volkmann, Johann Jacob 55 Voltaire 18, 66 Voß, Johann Heinrich 18 Weiße, Christian Felix 17f. Wellbery, David E. 15 Werner, Hans-Georg 126 Wieland, Christoph Martin 46, 122 Winckelmann, Johann Joachim 55 Winkler, Gottfried 18 Wolff, Christian 53, 93 Wurst, Karin A. 14 Young, Edward 50 Zeuch, Ulrike 15
Sachregister Affekte 56ff., 61, 63, 90f., 93, 106, 110, 115, 120 Akademie der Wissenschaften (Berlin) 19, 130, 78 Akademie der Wissenschaften (Mannheim) 19, 21, 130 Alexandriner 69, 74 Altertumskunde 17f., 26, 33, 55 Altphilologie 25, 63 Anakreontik 24, 45, 53, 72f., 129 Anthropologie 12, 14, 61, 83 Apologie 15, 25, 34, 37ff. Ästhetik 15, 26, 30, 53, 123 Aufklärung 22f. Augenblick, fruchtbarer 57 Autonomieästhetik 13 Bewunderung 61, 91 Bibliothek 15, 19, 24 Bildung 23f., 82, 91 Blankvers 84, 115 Buchmarkt 4, 24, 41 Christentum 27, 37, 113, 116 Commedia dell’arte 78, 103 DDR 12, 126 Deismus 34 Denkmäler 7 Deutungen, politische 91, 95ff., 111 Dialogizität 30, 45, 93 Dichtung und Wirklichkeit, Verhältnis von 62, 93 Distichon 74 Dichtungstheorie s. Poetik Dogmatismus 26ff., 35, 120 Dramatik 7, 13, 17, 19f., 22, 25, 47, 50, 54, 60, 66 Dramentheorie 26, 63, 65, 82 Einbildungskraft 42, 56ff. Emanzipation, bürgerliche 13, 23, 66 Empfindsamkeit 45, 53, 68 Epigramm, Epigrammatik 18, 22, 25f., 30, 40, 50–53, 60, 68, 73–76, 98 Erdbeben von Lissabon 106 Essayistik 30
Fabel, Fabeldichtung 8, 15, 22, 24f., 30, 40, 50, 76, 91, 94–99 Fabeltheorie 25, 50, 92ff., 96 Fallhöhe 61f. Feminismus 12 Figur, komische 64, 103 Figurenkonzeption 14, 60f., 77f., 100, 107, 115 Fragment 25, 70 Fragmentenstreit 26, 28, 33–37, 113, 130 Freimaurer 20, 113, 126 Fürstenspiegel 98 Furcht 63, 106, 114 Geld 17–20, 28, 79, 82, 101f., 105, 116f., 120 Gelegenheitsdichtung 70ff. Gelehrsamkeit 28, 80 Genie, Genieästhetik 47f., 50, 60, 62, 93, 113 Germanistik, Geschichte der 12 Geschichte 23 Geschichtsdrama 108, 115 Geschichtsphilosophie 26, 30, 32 Geschmack, Geschmacksurteil 33, 41f., 43, 53, 64f., 77, 123 Gesellschaftskritik 68, 74, 96, 111, 125 Glücksspiel 17, 28 Grabstein 7 Haupt- und Staatsaktion 61, 107 Heldentum 84ff. Hoftheater 64f., 111 Holocaust 127 Humanität 9, 24, 27, 88f., 91, 109, 111–114, 116, 120f., 125, 128 Hypochondrie 17 Ideologie 12, 95, 123 Inszenierungen 8f., 128 Judentum 27, 115, 117 Kaiserreich 12, 126 Katastrophe 62, 90, 107, 112f., 114 Katharsis 63 Klassik 15, 115
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Sachregister Klassizismus, französischer 47, 49, 78 Kombinatorik 52 Komödientheorie 58ff., 76f., 99f. Krankheit 19, 22 Krieg 26 Krieg, Siebenjähriger 45, 68, 83, 99f., 130 Kritik 18, 22f., 25, 28, 37, 39, 96, 98, 107, 111 Künste, Theorie der 14, 55 Lehrdichtung, Lehrgedicht 24, 68ff. Lehrsatz 93ff. Lehrstück 91, 120 Leidenschaften s. Affekte Leseverhalten 24 Lessing Society 10f. Lessing-Akademie 10 Lessing-Legende 125, 127 Lessing-Museum 9f. Literarizität 14, 124 Literaturkritik 25, 30, 39–48, 69 Literaturpsychologie 12, 14, 91, 112 Literatursoziologie 12f. Literaturstreit, Leipzig-Zürcher 41ff., 53, 69 Lustspiel, rührendes 58 Lustspieltheorie s. Komödientheorie Manipulation 32 Männlichkeit 123 Märtyrertragödie 112 Medizin 18, 129 Meinung 23f., 32, 34, 36, 38, 41ff., 121 Menschlichkeit s. Humanität Mitleid, Mitleidsästhetik 14, 61ff., 91, 93, 106, 113f. Montagsklub 18 Moral 23, 52, 60f., 84, 89f., 92, 104, 107f., 111ff., 117 Moraldidaxe 41, 43, 49, 52, 59, 62, 75f., 77, 91, 94 Moralphilosophie 61 Museen, Vatikanische 55 Nachahmung 41f., 55f., 61f., 77 Nachkriegszeit 7, 126f. Nation 67 Nationalliteratur 123f. Nationalsozialismus 12, 125f. Nationaltheater 19, 21, 63–67, 104 NS-Ideologie 7, 125 Ode, Odenstrophe 71f. Offenbarung 27, 34, 119
Öffentlichkeit 23, 26, 32, 35, 39f., 45, 111, 123, 127 Originalität 49f. Parodie 85 Parteilichkeit 58 Parteinahme für Schwächere 32 Pathos 71, 75, 89 Patriotismus 8, 46, 68, 84, 90f., 104, 124f. Pedanterie 42, 44, 79 Pietismus 25 Plausibilität s. Wahrscheinlichkeit Poetik 30, 40f., 43, 46–49, 50f., 53, 60, 69, 75, 92, 123 Pointe 51f., 71, 73f., 76 Polemik 22, 32f., 35, 37, 41, 44–47, 49, 74, 113f., 123 Polyhistorismus 80 Privatsphäre 14, 61, 77, 82, 105, 107, 111, 125 Produktionsästhetik 13 Publizistik 19, 23–26, 35, 37, 40 Quellen und Vorbilder 37, 51, 68, 73, 78, 80, 83f. 94f., 106f., 117 Querelle des Anciens et des Modernes 69 Rationalismus 45, 49, 92, 125, 127 Reichsgründung 124 Reisen 18–21, 55 Relativität der Urteile 39 Religion 34, 37 Religionsphilosophie 26, 30, 32, 37, 119 Rettung s. Apologie Revolution (1848) 124 Revolution (1789) 121 Rhetorik 14, 17, 27, 30, 32f., 35ff., 39, 45, 49, 51f., 74, 80, 90, 95, 105 Ringparabel 8, 117f. Romantik 15 Satire 8, 33, 38, 41f., 50, 68, 71, 73ff., 77, 80, 98, 103 Scharfsinn 32, 46, 51, 73, 123f. Schulkanon 8, 127 Selbstzeugnisse 27 Semiotik, Zeichentheorie 12, 15 Sinnlichkeit 14, 42, 49, 52f., 57, 72f., 112 Sittlichkeit 49, 62, 66, 99, 105, 111, 114, 116, 124 Sozialgeschichte s. Literatursoziologie Spielplan 8, 13, 64 Ständeklausel 58, 62, 77, 90, 106
Sachregister Standhaftigkeit 89f. Stichomythien 82 Stil 32, 42, 44, 49f., 72f., 77, 90, 95, 98, 115 Stilisierung 27, 44 Streit, antiquarischer 33 Streitkultur 37, 42 Streitlust 16, 28, 32 Streitschrift 26, 30, 35, 37, 39, 48, 55, 64 Sturm und Drang 53 Suizid 84, 91 Theater 18, 24, 47, 50, 54, 63, 76 Theodizee 70 Theologie 17, 129 Toleranz 7, 9, 24, 26f., 114, 116f., 119–122, 125ff. Tragödientheorie 59, 61ff., 106, 114 Trauerspiel, bürgerliches 8, 13f., 25f., 58, 106f., 125 Trauerspiel, heroisches 25, 83, 89f. Trauerspieltheorie s. Tragödientheorie Trochäen, anakreontische 73 Tugend 32, 63, 90, 108, 116, 121 Tugend und Laster 24, 60, 75, 77, 82, 100, 107 Tugend, bürgerliche 58, 61, 96, 104, 107ff., 111f., 116
Typenkomödie 24, 58, 60, 76ff., 82, 91, 100 Übersetzung 10, 15, 18f., 24, 26, 42, 44f., 47, 58, 63, 65, 73f., 80, 92f., 108, 129 Utopie 120f. Verlachkomödie s. Typenkomödie Vernunft 9, 14, 22ff., 27, 31, 34, 42, 49, 53, 58, 70, 77, 91, 93, 95, 191f., 113, 116, 119f. Wahrheit 8, 32, 53, 62, 117, 119f. Wahrheit, poetische 42, 62, 121 Wahrheitssuche 30, 117, 123f. Wahrscheinlichkeit 41, 47, 49, 62, 92 Wanderbühne 64 Weimarer Republik 12 Werkimmanenz 12f. Wirkungsästhetik 13, 50, 54–57, 59ff., 91, 94, 114 Witz 32, 43, 46, 48, 52, 82, 98, 123, 128 Zeitschrift 18f., 22, 24f., 34, 40f., 43, 58, 68, 108 Zensur 22f., 26, 36f., 104, 130 Zufall 106 Zulässigkeit des Wunderbaren 42, 69
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