Unendlich Gebildet: Schleiermachers Kritischer Religionsbegriff Und Seine Inklusivistische Religionstheologie Anhand Der Erstauflage Der Reden 9783161548369, 9783161549021, 3161548361

Jeder religiose Mensch ist nach Schleiermacher unmittelbar durch das Unendliche gebildet. Ausgehend von dessen allgemein

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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Titel
2. Methode
1.1. Polemische Darstellung
1.2. Beschreibende Darstellung
1.3. Argumentative Darstellung
1.4. Hermeneutische Darstellung
1.5. Verbindung von argumentativer und hermeneutischer Darstellung
3. Inhalt
1.1. Einordnung in die Forschungslage zum Religionsbegriff der ‚Reden‘
1.2. Einordnung in die Forschungslage zur Vielfalt der Religionen in den ‚Reden‘
Erster Teil: Schleiermachers kritischer Religionsbegriff der ‚Reden‘
Erstes Kapitel: Neubesinnung auf das Religionsphänomen
§ 1 Schleiermachers allgemeine Bildungstheorie
1. Schleiermachers frühe Seelenlehre
2. Die Realgestalt des menschlichen Bildungsprozesses
3. Die Funktion der Mittler im menschlichen Bildungsprozess
§ 2 Vorbegriff der Religion
Zweites Kapitel: Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via negationis
§ 3 Hermeneutische Voraussetzungen
§ 4 Triebtheoretische Kritik am gemeinen Religionsbegriff der direkten Verächter
1. Kritik am gemeinen Religionsbegriff der direkten Verächter
1.1. Triebtheoretische Präzisierung der direkten Religionsverachtung
1.2. Die wahre triebtheoretische These der direkten Religionsverachtung
1.3. Triebtheoretische Kritik an der direkten Religionsverachtung
2. Kritik am gemeinen Religionsbegriff der indirekten Verächter
2.1. Triebtheoretische Präzisierung der indirekten Religionsverachtung
2.2. Die wahre triebtheoretische These der indirekten Religionsverachtung
2.3. Triebtheoretische Kritik an der indirekten Religionsverachtung
3. Zusammenfassung von Schleiermachers triebtheoretischer Kritik am gemeinen Religionsbegriff
§ 5 Gemütstheoretische Kritik am gemeinen Religionsbegriff
1. Die gemütstheoretische Inkonsistenz des gemeinen Religionsbegriffs
2. Die gemütstheoretische Inkohärenz des gemeinen Religionsbegriffs
3. Die „hohe Absicht“ des gemeinen Religionsbegriffs in den „Autographa“ der Religion
Drittes Kapitel: Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva
§ 6 Hypothese
1. Vermögenstheoretische Koordination der Religion mit Metaphysik und Moral
1.1. Die formale Eigenständigkeit von Metaphysik, Moral und Religion
1.2. Die formale Ergänzung der Metaphysik und Moral durch die Religion
1.3. Zwei grundsätzliche Folgerungen aus der vermögentheoretischen Koordination der Religion mit Metaphysik und Moral
2. Funktionstheoretische Superordination der Religion gegenüber Metaphysik und Moral
2.1. Die menschliche Subjektivität als vermittelte Einheit ihrer Gemütsvermögen
2.2. Der „höhere Realismus“ der Religion
2.3. Zusammenfassung der vermögentheoretischen Koordination und funktionstheoretischen Superordination der Religion
§ 7 Begründung
1. Das sinnliche Bewusstseinsleben
1.1. Die notwendige Reflexivität der sinnlichen Bewusstseinstätigkeit
1.2. Die unvermeidliche Scheidung der sinnlichen Bewusstseinsprodukte
1.3. Einheitsgrund und Struktur des sinnlichen Bewusstseinslebens insgesamt
2. Das religiöse Bewusstseinsleben
2.1. Die formale Strukturanalogie zwischen dem sinnlichen und dem religiösen Bewusstseinsleben
2.2. Die inhaltliche Bestimmtheit des religiösen Selbstbewusstseins
2.2.1. Der Inhalt des unmittelbaren religiösen Selbstbewusstseins
2.2.2. Schleiermachers Universumsverständnis in den ‚Reden‘
3. Das menschliche Bewusstseinsleben insgesamt
§ 8 Entfaltung
1. Der Inhalt der religiösen Anschauung
1.1. Die formale Analyse der allgemeinen Formel des religiösen Anschauungsinhalts
1.2. Schleiermachers konkrete Beschreibung des religiösen Anschauungsinhalts
1.2.1. Die religiöse Naturanschauung
1.2.1.1. Der Gegenstand der religiösen Naturanschauung
1.2.1.2. Der Inhalt der religiösen Naturanschauung
1.2.2. Die religiöse Menschheitsanschauung
1.2.2.1. Der Gegenstand der religiösen Menschheitsanschauung
1.2.2.2. Der Inhalt der religiösen Menschheitsanschauung
1.3. Das Defizit der allgemeinen Formel des religiösen Anschauungsinhalts
1.4. Das vollständige Anschauungsbild der Religion
1.4.1. Das vollständige religiöse Anschauungsbild von der Natur
1.4.2. Das vollständige religiöse Anschauungsbild von der Menschheit
1.5. Zwei zentrale Folgerungen für den Inhalt der religiösen Anschauung in den ‚Reden‘
2. Die Form der religiösen Anschauung
2.1. Holzwege der Forschung
2.1.1. Schleiermachers Konzeption der religiösen Anschauung im Unterschied zur intellektuellen Anschauung und der ‚scientia intuitva‘
2.1.2. Ontologische und epistemologische Möglichkeit der religiösen Anschauung
2.1.3. Die Einseitigkeit offenbarungs- und deutungstheoretischer Interpretationen
2.1.3.1. Die Grundzüge der Deutungstheorie
2.1.3.2. Die drei essentiellen Irrtümer der religiösen Deutungstheorie
2.2. Die drei Dimensionen der religiösen Bewusstseinstätigkeit: Schleiermachers Bildtheorie der religiösen Anschauung
2.2.1. Die unmittelbar-unwillkürlichen religiösen Anschauungen und Gefühle
2.2.2. Die religiöse Fantasie
2.2.2.1. Die Bedeutung des Ausdrucks „Gott“
2.2.2.2. Die Wertindifferenz der religiösen Gottesvorstellung
2.2.2.3. Grund und Grenze der religiösen Fantasie
2.2.2.4. Der kritische Theismus bzw. kritische Pantheismus des religiösen Bewusstseins
2.2.3. Die Möglichkeitsbedingungen wissenschaftlicher Theologie
Zweiter Teil: Schleiermachers inklusivistische Religionstheologie der ‚Reden‘
Einleitung
Viertes Kapitel: Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen
§ 9 Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Religionsbegriff
1. Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Kirchenbegriff
2. Ableitung der Religionsvielfalt aus dem religiösen Anschauungsbegriff
2.1. Die einschlägige Textstelle
2.2. Formanalyse
2.3. Das zentrale Argument
§ 10 Das religionstheologische Individuationsprinzip
1. Die religiöse Zentralanschauung
1.1. Abgrenzung von falschen Kandidaten
1.2. Das wahre Individuationsprinzip der Religion
1.3. Nähere Bestimmungen der religiösen Zentralanschauung
2. Die individuelle religiöse Persönlichkeit
2.1. Das Setting
2.2. Die Argumentation
2.2.1. Positive Religionen und die Möglichkeit individueller religiöser Persönlichkeitsbildung
2.2.2. Positive Religionen und die Wirklichkeit individueller religiöser Persönlichkeitsbildung
2.3. Das freiheitstheoretische Defizit der natürlichen Religion
§ 11 Religionstheologische Einteilung
1. Religiöse Entwicklungsstufen und Religionsarten
2. Das religionstheologische Einteilungsschema
Fünftes Kapitel: Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte
§ 12 Judentum
1. Die religiöse Zentralanschauung des Judentums
2. Religiöser Stoff und religiöse Form des Judentums
3. Religionstheologischer Grund für die „kurze Dauer“ der jüdischen Religion
§ 13 Christentum
1. Die religiöse Zentralanschauung des Christentums
2. Religiöser Stoff des Christentums
3. Religiöse Form des Christentums
4. Die Sonderstellung des Christentums in der Religionsgeschichte
Schluss: Zusammenfassung und kritische Würdigung
1. Der kritische Religionsbegriff der ‚Reden‘
2. Die inklusivistische Religionstheologie der ‚Reden‘
2.1. Die prinzipielle Vielfalt der Religionen
2.2. Die Dynamik der Religionsgeschichte
2.3. Die unüberbietbare religiöse Höchstform
Literaturverzeichnis
1. Quellen und Hilfsmittel
2. Sekundärliteratur
Register
1. Sachregister
2. Personenregister
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Unendlich Gebildet: Schleiermachers Kritischer Religionsbegriff Und Seine Inklusivistische Religionstheologie Anhand Der Erstauflage Der Reden
 9783161548369, 9783161549021, 3161548361

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Collegium  Metaphysicum Herausgeber / Editors

Thomas Buchheim (München) · Friedrich Hermanni (Tübingen) Axel Hutter (München) · Christoph Schwöbel (Tübingen) Beirat / Advisory Board

Johannes Brachtendorf (Tübingen) · Jens Halfwassen (Heidelberg) Douglas Hedley (Cambridge) · Johannes Hübner (Halle) Anton Friedrich Koch (Heidelberg) · Friedrike Schick (Tübingen) Rolf Schönberger (Regensburg) · Eleonore Stump (St. Louis)

16

Christian König

Unendlich gebildet Schleiermachers kritischer Religionsbegriff und seine inklusivistische Religionstheologie anhand der Erstauflage der Reden

Mohr Siebeck

Christian König, geboren 1978; Studium der Philosophie, Geschiche, Soziologie und der Ev. Theologie; 2007 MA; seit 2008 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Systematische Theologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen; 2015 Promo­ tion; 2016 Ordination.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Evangelischen Kirche in Baden. e­ISBN PDF 978­3­16­154902­1 ISBN 978-3-16-154836-9 ISSN 2191-6683 (Collegium Metaphysicum) Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ biblio­g raphie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abruf bar. © 2016 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Ver­wer­ t­u ng außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustim­mung des Verlags unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Verviel­fälti­g ungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verar­bei­tung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen gesetzt, auf alterungsbeständiges Werk­d ruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebun­ den.

„Prius est enim esse quam operari, prius autem pati quam esse. Ergo fieri, esse, operari se sequuntur“ (Martin Luther) „There are more things in heaven and earth, Horatio, Than are dreamt of in your philosophy. But come...“ (William Shakespeare)

Vorwort Ganz zu Anfang danke allen, die die Entstehung dieser Doktorarbeit auf viel­ fache Weise unterstützt und begleitet haben. Ohne Sie, ohne Euch wäre diese Arbeit nicht entstanden! Ich danke ganz herzlich meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Friedrich Her­ manni für die geistreichen Gespräche, präzisen Rückmeldungen und die ge­ währte Freiheit, eigene Wege gehen zu können. Ich danke Frau Prof. Dr. Fried­ rike Schick für die vielen guten Gespräche und anregenden Diskussionen. Prof. Dr. Christoph Schwöbel danke ich herzlich für das Zweitgutachten. Darüber hinaus danke ich Herrn Prof. Eilert Herms, der mich für Schleier­ machers Theologie begeistert hat. Der DFG danke ich, dass sie das Projekt „Pluralität und Wahrheitsansprüche der Religionen bei Schleiermacher, Hegel und Schelling“ gefördert hat, in des­ sen Rahmen die Arbeit entstanden ist. Der Zimmermann-Stiftung danke ich, dass sie mich in der letzten Arbeitsphase unterstützt und so den Abschluss der Arbeit ermöglicht hat. Ich danke den Herausgebern der Reihe Collegium Metaphysicum für die Aufnahme in die Reihe und bei Frau Dr. Stephanie Warnke-De Nobili und Frau Daniela Zeiler vom Mohr Siebeck Verlag für die gute und freundliche Zusammenarbeit. Ich danke sehr der Evangelischen Kirche in Baden für die finanzielle Unterstützung der Publikation dieser Arbeit. Ganz besonders danken möchte ich allen theologischen Weggefährtinnen und Weggefährten während der Zeit des Überlegens, Forschens und Schreibens für alle Ermutigungen, die inspirierenden Gespräche und unersetzliche freund­ schaftliche Unterstützung. Vielen herzlichen Dank an: Prof. Dr. Christoph ­Seibert, Pfr. Dr. Frank Dettinger, Georg Hardecker, Pfr. Dr. Joachim Krause, Jonathan Henken, Miriam Kudella, Julia Meister, Pfr. Dr. Jeremias Gollnau, PD Dr. Burkhard Nonnenmacher, PD Dr. Paul Peterson und Martin Schöne­ werk. Auf ganz besondere Weise danke ich meiner Familie: meiner Schwester, ­Sophie Steiner, die mich ermutigt hat und immer für mich da ist. Meiner Oma, Helga Stürwoldt, die mit ihrer herzlich-bestimmten Art täglich der Beendi­ gung der Arbeit entgegengefiebert hat und mich finanziell in der Zeit unter­ stützt hat. Meinen Eltern, Karin und Peter Steiner, die mir das Studium und die Promotion mit allen Mitteln ermöglicht haben. Meinem Vater gebührt ein ganz

VIII

Vorwort

besonderer Dank für seine Unermüdlichkeit, mit der er die Arbeit begleitet, das Manuskript gelesen und korrigiert hat und mich immer wieder angespornt hat, fertig zu werden. Vor allem bin ich meiner Frau Pfr. Dr. Katrin König dankbar. Sie hat mich durch die Tiefen dieser Zeit geführt und auf den Höhen gemeinsam mit mir gefeiert. Wegen ihres stärkenden Zuspruchs konnte ich diesen Weg gehen. Und wegen der gemeinsamen Freude an theologischen Diskussionen bin ich diesen Weg gerne gegangen. Tübingen, im Juli 2016

Christian König

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Titel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2. Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.1. Polemische Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.2. Beschreibende Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.3. Argumentative Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.4. Hermeneutische Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.5. Verbindung von argumentativer und hermeneutischer Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 3. Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.1. Einordnung in die Forschungslage zum Religionsbegriff der ‚Reden‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.2. Einordnung in die Forschungslage zur Vielfalt der Religionen in den ‚Reden‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

Erster Teil: Schleiermachers kritischer Religionsbegriff der ‚Reden‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Erstes Kapitel:  Neubesinnung auf das Religionsphänomen . . . . . . 47 §  1 Schleiermachers allgemeine Bildungstheorie . . . . . . . . . . 48 1. Schleiermachers frühe Seelenlehre . . . . . . . . . . . . . . 49 2. Die Realgestalt des menschlichen Bildungsprozesses . . . . . 58 3. Die Funktion der Mittler im menschlichen Bildungsprozess . . 62 §  2 Vorbegriff der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Zweites Kapitel: Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via negationis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 §  3 Hermeneutische Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . 72 §  4 Triebtheoretische Kritik am gemeinen Religionsbegriff der direkten Verächter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 1. Kritik am gemeinen Religionsbegriff der direkten Verächter . 82

X

Inhaltsverzeichnis

1.1. Triebtheoretische Präzisierung der direkten Religionsverachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 1.2. Die wahre triebtheoretische These der direkten Religions­verachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 1.3. Triebtheoretische Kritik an der direkten Religionsverachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2. Kritik am gemeinen Religionsbegriff der indirekten Verächter 94 2.1. Triebtheoretische Präzisierung der indirekten Religionsverachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2.2. Die wahre triebtheoretische These der indirekten Religions­verachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 2.3. Triebtheoretische Kritik an der indirekten Religionsverachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3. Zusammenfassung von Schleiermachers triebtheoretischer Kritik am gemeinen Religionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . 103 §  5 Gemütstheoretische Kritik am gemeinen Religionsbegriff . . . . 104 1. Die gemütstheoretische Inkonsistenz des gemeinen Religionsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2. Die gemütstheoretische Inkohärenz des gemeinen Religionsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3. Die „hohe Absicht“ des gemeinen Religionsbegriffs in den „Autographa“ der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Drittes Kapitel: Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 §  6 Hypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 1. Vermögenstheoretische Koordination der Religion mit Metaphysik und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 1.1. Die formale Eigenständigkeit von Metaphysik, Moral und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 1.2. Die formale Ergänzung der Metaphysik und Moral durch die Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1.3. Zwei grundsätzliche Folgerungen aus der vermögentheoretischen Koordination der Religion mit Metaphysik und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2. Funktionstheoretische Superordination der Religion gegenüber Metaphysik und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2.1. Die menschliche Subjektivität als vermittelte Einheit ihrer Gemütsvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2.2. Der „höhere Realismus“ der Religion . . . . . . . . . . 145 2.3. Zusammenfassung der vermögentheoretischen Koordination und funktionstheoretischen Superordination der Religion . 157

Inhaltsverzeichnis

XI

§  7 Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 1. Das sinnliche Bewusstseinsleben . . . . . . . . . . . . . . . 161 1.1. Die notwendige Reflexivität der sinnlichen Bewusstseinstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 1.2. Die unvermeidliche Scheidung der sinnlichen Bewusstseins­produkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 1.3. Einheitsgrund und Struktur des sinnlichen Bewusstseinslebens insgesamt . . . . . . . . . . . . . . 173 2. Das religiöse Bewusstseinsleben . . . . . . . . . . . . . . . 179 2.1. Die formale Strukturanalogie zwischen dem sinnlichen und dem religiösen Bewusstseinsleben . . . . . . . . . . 180 2.2. Die inhaltliche Bestimmtheit des religiösen Selbstbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 2.2.1. Der Inhalt des unmittelbaren religiösen Selbstbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . 184 2.2.2. Schleiermachers Universumsverständnis in den ‚Reden‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 3. Das menschliche Bewusstseinsleben insgesamt . . . . . . . . 204 §  8 Entfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 1. Der Inhalt der religiösen Anschauung . . . . . . . . . . . . . 217 1.1. Die formale Analyse der allgemeinen Formel des religiösen Anschauungsinhalts . . . . . . . . . . . . . . 218 1.2. Schleiermachers konkrete Beschreibung des religiösen ­A nschauungsinhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 1.2.1. Die religiöse Naturanschauung . . . . . . . . . . 224 1.2.1.1. Der Gegenstand der religiösen Naturanschauung . . . . . . . . . . . . 225 1.2.1.2. Der Inhalt der religiösen Naturanschauung 227 1.2.2. Die religiöse Menschheitsanschauung . . . . . . 229 1.2.2.1. Der Gegenstand der religiösen Menschheits­anschauung . . . . . . . . . 230 1.2.2.2. Der Inhalt der religiösen Menschheitsanschauung . . . . . . . . . . . . . . . 235 1.3. Das Defizit der allgemeinen Formel des religiösen ­A nschauungsinhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 1.4. Das vollständige Anschauungsbild der Religion . . . . . 242 1.4.1. Das vollständige religiöse Anschauungsbild von der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 1.4.2. Das vollständige religiöse Anschauungsbild von der Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . 246 1.5. Zwei zentrale Folgerungen für den Inhalt der religiösen Anschauung in den ‚Reden‘ . . . . . . . . . . . . . . . 250

XII

Inhaltsverzeichnis

2. Die Form der religiösen Anschauung . . . . . . . . . . . . . 253 2.1. Holzwege der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . 254 2.1.1. Schleiermachers Konzeption der religiösen Anschauung im Unterschied zur intellektuellen ­A nschauung und der ‚scientia intuitva‘ . . . . . . 254 2.1.2. Ontologische und epistemologische Möglichkeit der religiösen Anschauung . . . . . . . . . . . . 260 2.1.3. Die Einseitigkeit offenbarungs- und deutungstheoretischer Interpretationen . . . . . . . . . . . 265 2.1.3.1. Die Grundzüge der Deutungstheorie . . . 270 2.1.3.2. Die drei essentiellen Irrtümer der religiösen Deutungstheorie . . . . . . . . . . . . . 278 2.2. Die drei Dimensionen der religiösen Bewusstseinstätigkeit: Schleiermachers Bildtheorie der religiösen Anschauung . 296 2.2.1. Die unmittelbar-unwillkürlichen religiösen Anschauungen und Gefühle . . . . . . . . . . . 297 2.2.2. Die religiöse Fantasie . . . . . . . . . . . . . . . 309 2.2.2.1. Die Bedeutung des Ausdrucks „Gott“ . . 309 2.2.2.2. Die Wertindifferenz der religiösen Gottes­vorstellung . . . . . . . . . . . . 311 2.2.2.3. Grund und Grenze der religiösen Fantasie . 313 2.2.2.4. Der kritische Theismus bzw. kritische Pantheismus des religiösen Bewusstseins . 319 2.2.3. Die Möglichkeitsbedingungen wissenschaftlicher ­Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322

Zweiter Teil:  Schleiermachers inklusivistische Religionstheologie der ‚Reden‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen . 334 §  9 Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Religionsbegriff . . . . 334 1. Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Kirchenbegriff . . . . 334 2. Ableitung der Religionsvielfalt aus dem religiösen Anschauungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 2.1. Die einschlägige Textstelle . . . . . . . . . . . . . . . . 337 2.2. Formanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 2.3. Das zentrale Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

Inhaltsverzeichnis

XIII

§  10 Das religionstheologische Individuationsprinzip . . . . . . . . . 351 1. Die religiöse Zentralanschauung . . . . . . . . . . . . . . . 352 1.1. Abgrenzung von falschen Kandidaten . . . . . . . . . . 352 1.2. Das wahre Individuationsprinzip der Religion . . . . . . 360 1.3. Nähere Bestimmungen der religiösen Zentralanschauung 364 2. Die individuelle religiöse Persönlichkeit . . . . . . . . . . . 372 2.1. Das Setting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 2.2. Die Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 2.2.1. Positive Religionen und die Möglichkeit individueller religiöser Persönlichkeitsbildung . . . 376 2.2.2. Positive Religionen und die Wirklichkeit individueller religiöser Persönlichkeitsbildung . . 378 2.3. Das freiheitstheoretische Defizit der natürlichen Religion 383 §  11 Religionstheologische Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . 388 1. Religiöse Entwicklungsstufen und Religionsarten . . . . . . 389 2. Das religionstheologische Einteilungsschema . . . . . . . . . 394 Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte . 395 § 12 Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 1. Die religiöse Zentralanschauung des Judentums . . . . . . . 395 2. Religiöser Stoff und religiöse Form des Judentums . . . . . . 402 3. Religionstheologischer Grund für die „kurze Dauer“ der jüdischen Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 §  13 Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 1. Die religiöse Zentralanschauung des Christentums . . . . . . 416 2. Religiöser Stoff des Christentums . . . . . . . . . . . . . . . 421 3. Religiöse Form des Christentums . . . . . . . . . . . . . . . 427 4. Die Sonderstellung des Christentums in der Religionsgeschichte 434 Schluss:  Zusammenfassung und kritische Würdigung . . . . . . . . 439 1. Der kritische Religionsbegriff der ‚Reden‘ . . . . . . . . . . 439 2. Die inklusivistische Religionstheologie der ‚Reden‘ . . . . . . 450 2.1. Die prinzipielle Vielfalt der Religionen . . . . . . . . . 450 2.2. Die Dynamik der Religionsgeschichte . . . . . . . . . . 455 2.3. Die unüberbietbare religiöse Höchstform . . . . . . . . 459 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 1. Quellen und Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 2. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470

XIV

Inhaltsverzeichnis

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 1. Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 2. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492

Einleitung Die vorliegende Schrift Unendlich gebildet bezieht sich maßgeblich auf Schleiermachers Werk Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern.1 Ziel meiner Untersuchung ist es, sowohl Schleiermachers kritischen Religionsbegriff als auch seine inklusivistische Religionstheologie der Reden herauszuarbeiten und kritisch zu würdigen. In dieser Einleitung wird erstens anhand des Titels der vorliegenden Arbeit das Grundanliegen von Schleiermachers Religionskonzeption der Reden aufgezeigt (1.). Zweitens wird die verfolgte Methode in Auseinandersetzung mit alternativen Zugängen aus der Forschung zu den Reden begründet (2.). Drittens erfolgt die inhaltliche Einordnung der vorliegenden Untersuchung in die gegenwärtige Forschungs- und Debattenlage (3.).

1. Titel Der titelgebende Ausdruck unendlich gebildet bringt drei zentrale Sachverhalte der Reden zum Ausdruck: Erstens zeigt er auf, dass Schleiermachers Religionskonzeption in den Reden grundsätzlich in den Rahmen einer allgemeinen Bildungstheorie hineingestellt ist. Schleiermacher teilt nicht die Ansicht seiner vermeintlich gebildeten Zeitgenossen, denen zufolge ein Zuwachs an Bildung mit dem sukzessiven Untergang der Religion einhergeht. Im Gegenteil nimmt er sich vor, nachzuweisen, dass wahrhafte Bildung notwendigerweise ein religiöses Bewusstsein voraussetzt und beinhaltet. Diese Bildung im eigentlichen Sinne erfolgt nicht über das enzyklopädische Wissen von Einzelsachverhalten in der Welt, sondern stellt sich dadurch ein, dass sich das menschliche Bewusstsein in der Religion unmittelbar vom Grund der Wirklichkeit ergreifen lässt: dem lebendigen Universum bzw. dem wahren Unendlichen. Dieses Bildungserlebnis eröffnet ein Bewusstsein für die durch das Universum vorgegebenen Bedingungen und Grenzen des menschlichen Lebens insge1  Schleiermacher, F. D. E., Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), KGA I/2, Schriften aus der Berliner Zeit 1796–1799, hrsg. v. G. Meckenstock, Berlin/New York 1984, 185–326.

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Einleitung

samt und bestimmt die Religion näher als unmittelbares Selbstbewusstsein des endlichen Geistes. Das religiöse Bewusstsein wirkt sich im Menschen folglich durch eine redliche Bescheidenheit aus, die sich klar von jeder philosophiegeschichtlichen Selbstüberschätzung in der Absolutsetzung des menschlichen Geistes unterscheidet, als auch deutlich von einem religiösen Fanatismus in der Absolutsetzung menschlicher Glaubensinhalte abgrenzt. Schleiermachers Religionsbegriff erweist sich demnach als kritisch, weil er so­wohl nach außen gegen geistesgeschichtliche Tendenzen seiner Zeit die konstitutive Bedeutung der Religion für den menschlichen Bildungsprozess verteidigt als auch nach innen eine Selbstbeschränkung der religiösen Zuständigkeit nachweist. Religion ist als Bewusstsein von der unverfügbaren Selbsterschließung des Unendlichen im Endlichen ihrem Wesen nach somit unendlich gebildet. Zweitens zeigt der titelgebende Ausdruck auf, dass die Religion nach Schleiermacher nicht allein ein wesentliches Element des allgemeinen menschlichen Bildungsgeschehens darstellt, sondern auch selbst einen Bildungsprozess durchläuft. Das klare Bewusstsein für das wahre Unendliche erschließt sich der Religion nicht auf einen Schlag, sondern sie durchläuft vielmehr in Form nebeneinander existierender und einander ablösender positiver Religionsgestalten einen Entwicklungsprozess. In diesem Entwicklungsprozess wird sich das religiöse Bewusstsein mit zunehmender Klarheit und Deutlichkeit des wahren Unendlichen als Totalität und Grund allen Seins bewusst. Die Religion wird folglich durch das Unendliche selbst auf unendlich vielgestaltige Weise sukzessive gebildet. Die Vielheit der faktisch existierenden Religionen ist demnach weder zufällig noch äußerlich, sondern entspringt vielmehr aus dem Wesen der Religion selbst. Die Religionsgeschichte stellt sich nach Schleiermacher wesentlich als Bildungsgeschichte des menschlichen Bewusstseins durch das wahre Unendliche dar und erweist sich darin ihrerseits als unendlich gebildet. Drittens wird mit dem Ausdruck unendlich gebildet auf Schleiermachers Beschreibung des Christentums Bezug genommen. Schleiermacher zufolge besitzen zwar sämtliche Religionen, weil sie jeweils eine eigentümliche Manifesta­ tion des Wesens der Religion darstellen, Anteil an der religiösen Wahrheit. Aber in der christlichen Religion zeigt sich dem Menschen das wahre Unendliche auf die klarste und deutlichste Weise. Die Voraussetzungen der unendlichen Religionsbildung werden im Christentum selbst zum Thema der Religion erhoben. Hiermit schließt sich in Schleiermachers Reden der religionstheologische Kreis: Wie die Religion im allgemeinen Bildungsgeschehen der Menschheit das Selbst­bewusstsein des endlichen Geistes darstellt, so bildet das Christentum in der Bildungsgeschichte der Religionen das Selbstbewusstsein der Religion. Die Höchstform des Christentums in der Religionsgeschichte gründet folglich nicht in der Abwertung der anderen Religionen, sondern basiert vielmehr auf seinem klaren und deutlichen Bewusstsein von den vorgegebenen und unverfügbaren

2. Methode

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Bedingungen der geschichtlichen Religionsbildung durch das Unendliche. Die ausschließende Höchstgeltung des Christentums schließt seine Hochschätzung der anderen Religionen konstitutiv mit ein. In diesem Sinne ist Schleiermachers Religionstheologie grundsätzlich inklusivistisch angelegt. Als Selbstbewusstsein der unendlich gebildeten Religion in einer unendlich gebildeten Religionsgeschichte stellt sich das Christentum im eminenten Sinne dar als unendlich gebildet.

2. Methode Eine zentrale Frage in der Interpretation der Reden besteht darin, herauszu­ bekommen, um welche Textgattung es sich bei diesem Werk handelt. Unterschiedliche, sogar einander sich ausschließende Auffassungen wurden im Lauf der Forschungsgeschichte vertreten. Von religiöser Homilie2 über die Beschreibung als „organische Sequenz von literarisch fingierten Predigten“3 bis hin zur Einschätzung als eines „beseelten Lebensausdrucks“ in der Form eines religionstheoretischen Traktats4 reichen die Einschätzungen. Eine Bestimmung der Textgattung soll dabei unter anderem Auskunft darüber geben, welchen Zweck Schleiermacher mit seinen Reden verfolgt. Sind die Reden entweder im Stile eines Bekenntnisses formuliert und besitzen daher „überhaupt keinen außer ihnen liegenden Zweck“, sondern sind rein selbstzweckhafte Äußerungen eines religiösen Menschen? 5 Oder greift diese Beschreibung zu kurz, weil die Reden zugleich mit ihrem Bekenntnischarakter auch einen Erkenntnischarakter besitzen? 6 2  Piper, O., Das religiöse Erlebnis. Eine kritische Analyse der Schleiermacherschen Reden über die Religion, Göttingen 1920. 3  Timm, H., Die heilige Revolution. Das religiöse Totalitätskonzept der Frühromantik. Schleiermacher-Novalis-Friedrich Schlegel, Frankfurt a. M. 1978, 58. 4  Lehnerer, T., „Kunst und Bildung. Schleiermachers Reden über die Religion“, in: W. Jaeschke/H. Holzhey (Hgg.), Früher Idealismus und Frühromantik. Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795–1805), Hamburg 1990, 190–200, hier: 191. 5  Piper, Das religiöse Erlebnis, 1. Vgl. auch Albrecht, Ch., Schleiermachers Theorie der Frömmig­ keit. Ihr wissenschaftlicher Ort und ihr systematischer Gehalt in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik, Berlin/New York 1993, 118: „Der Antrieb des Redners ist völlig unabhängig von allen die Verständigungschancen taxierenden Berechnungen gewohnter argumentativer Auseinandersetzungen, sondern der Antriebsgrund liegt in der Sache selbst: Die zur Rede treibende himmlische Gewalt ist stärker als alle rationalen Realisierungserwägungen der Ermöglichungsbedingungen des projektierten Unternehmens.“ Vgl. zu dieser Einschätzung KGA I/2, „Ich rede nicht aus einem vernünftigen Entschluße, auch nicht aus Hoffnung oder Furcht, noch geschieht es einem Endzwecke gemäß oder aus irgendeinem willkürlichen oder zufälligen Grunde; es ist die innerste Notwendigkeit meiner Natur, es ist ein göttlicher Beruf “. 6  Otto, R., (Hg.), Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, zum Hundertjahr-Gedächtnis ihres ersten Erscheinens in ihrer ursprünglichen Gestalt, Göttingen 1899, hier: VII–X.

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Einleitung

Schleiermacher nimmt es sich in den Reden nicht allein vor, sein Innerstes nach außen zu tragen. Dem widerspricht, dass er sich ausschließlich einer ganz bestimmten Adressatengruppe zuwendet: den deutschen gebildeten Religionsverächtern. Schleiermacher strebt mit der Darstellung seines Innenlebens danach, im Außen eine spezifische Wirkung,7 eine konkrete Bekehrung,8 eine bahnbrechende religiöse Wiedergeburt9 bei einer bestimmten Gruppe hervorzurufen. Dazu müssen ihm zufolge zunächst die irrtümlichen Begriffe, die zeitgeschichtlich von Religion unter den deutschen Gebildeten herrschen, apologetisch-argumentativ überwunden werden.10 Erst ein auf diese Weise von begrifflichen Fehleinschätzungen gereinigter und vorbereiteter Geist seiner gebildeten Leser ist nach Schleiermacher überhaupt in der Lage sich einerseits auf den Bekenntnischarakter der Reden einzulassen und andererseits adäquate Begriffe der Religion selbst bilden zu können.11 Einschränkungen der Reden auf die sich ausschließenden Alternativen von nur Bekenntnisschrift oder allein Erkenntnisschrift greifen demnach zu kurz. Die Reden, wie es Schleiermacher auch in dem Motto zu seiner späteren Glaubenslehre mit Anselm von Canterbury festhält, sind ihrem Wesen nach fides quaerens intellectum.12 Sie beschreiben den Weg der Selbstvergewisserung des religiösen Bewussteins im Modus von Bekenntnis und Erkenntnis. Damit ist Birkner zuzustimmen, der auf die Verbindung von theologisch-philosophischer Fragestellung und Methodik in den Reden hinweist.13

7  KGA I/2, 294,12 f.: „[…] ich bin der Kraft des Gegenstandes gewiß der nur frei gemacht werden durfte, um auf Euch zu wirken.“ 8  KGA I/2, 235,18 ff.: „Hättet Ihr nur erst die Religion, die Ihr haben könnt und wäret Ihr Euch nur erst derjenigen bewußt, die Ihr wirklich schon habt!“ 9  KGA I/2, 264,29–33: „Das größte Kunstwerk ist das, deßen Stof die Menschheit ist welches das Universum unmittelbar bildet und für dieses muß Vielen der Sinn bald aufgehn. Denn es bildet jezt eben mit kühner und kräftiger Kunst, und Ihr werdet die Neokoren sein, wenn die neuen Gebilde aufgestellt sind im Tempel der Zeit.“ 10  KGA I/2, 198,24–27: „Von welcher Seite habt Ihr nun dieses große geistige Phänomen betrachtet, daß Ihr auf jene Begriffe gekommen seid, welche Ihr für den gemeinschaftlichen Inhalt alles dessen ausgebt, was man je mit dem Namen der Religion benennet hat?“ 11  KGA I/2, 206,22–207,4: „Nur wenn Ihr vor den heilgen Kreisen stehet, mit der unbefangensten Nüchternheit des Sinnes, die jeden Umriß klar und richtig auffaßt, und, voll Verlangen das Dargestellte aus sich selbst zu verstehen, weder von alten Erinnerungen verführt, noch von vorgefaßten Ahndungen bestochen wird, kann ich hoffen, daß Ihr meine Erscheinung wo nicht liebgewinnen doch wenigstens Euch über ihre Gestalt mit mir einigen, und sie für ein himmlisches Wesen erkennen werdet.“ 12 Vgl. Anselm von Canterbury, Prosl. 1, „Neque enim quaero intelligere ut credam, sed credo ut intelligam. – Nam qui non crediderit, non experietur, et qui expertus non fuerit, non intelliget.“ (Anselm von Canterbury, Proslogion, lat.-dt., hrsg. v. F. S. Schmitt, ND Stuttgart-Bad Cannstatt 2.  Aufl. 1984) 13  Birkner, H.-J., Theologie und Philosophie. Einführung in Probleme der Schleiermacher-Interpretation, München 1974.

2. Methode

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Somit lassen sich die Reden ganz Allgemein als eine Verbindung von gegenseitig sich ergänzender Philosophischer Theologie und Homilie bezeichnen. Sie haben prinzipiell apologetisch-kerygmatischen Charakter. Bedeutsamer als die Frage nach der Textgattung der Reden ist allerdings der forschungsgeschichtliche Umgang mit dem Text der Reden selbst. Im Hintergrund der Favorisierung einer bestimmten Textgattung steht zumeist weniger die Suche nach einer korrekten Antwort, als vielmehr die eigene Rechtfertigung des theoretischen Umgangs mit den Reden. Zeigt man sich besonders empfänglich für ihre poetische Dimension und sieht sie hauptsächlich für einen poetischen Text an, dann ist es einerseits erlaubt und geboten ihn assoziativkrea­t iv auszulegen und andererseits verfehlt und irregeleitet in ihm auf die Suche nach tragfähigen Vernunftargumenten zu gehen. Das gilt selbstverständlich auch für die umgekehrte Einschätzung.14 In gewisser Weise entgeht kein Interpretierender der Reden dem Umstand, mit seiner bzw. ihrer interpretierenden Einstellung erst das spezifische Sinngefüge zu schaffen, den sie bzw. er daraufhin als „die Reden“ analysiert und erforscht. In der theologischen Forschung zeigen sich im Allgemeinen vier unterschiedliche methodische Interpretationsweisen: 1.  Polemische Darstellung Schleiermachers Reden haben bei ihrem Erscheinen nicht nur begeisterten Zuspruch erfahren,15 sondern sie waren ebenso von Beginn an Gegenstand heftigster Kritik.16 Am Schärfsten entlud sich diese Kritik in dem zweischneidigen 14 

Im Gegensatz zu großen Teilen der heutigen Foschungsliteratur haben zeitgenössische Interpreten Schleiermachers wie Hegel und Schelling die Reden nicht für ein hauptsächlich poetisches, sondern vielmehr ein philosophisch-theologisches, d.h. mit Argumenten operierendes Werk angesehen. Vgl. dazu einschlägig: Hegel, G. W. F., Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie, in: ders., Jenaer kritische Schriften [=GW 4], hrsg. v. H. Buchner/O. Pöggeler, Hamburg 1968, 313–414, hier: 134 ff.: „[…] in den Reden über die Religion ist diese Potenzierung geschehen: da in der Jacobischen Philosophie die Vernunft nur als Instinct und Gefühl, die Sittlichkeit nur in der empirischen Zufälligkeit und als Abhängigkeit von Dingen, wie sie die Erfahrung und Neigung und des Herzens Sinn gibt, das Wissen aber nur als ein Bewußtseyn von Besonderheiten und Eigenthümlichkeiten, es seye äußerer oder innerer, begriffen wird, so ist in diesen Reden hingegen die Natur als eine Sammlung von endlichen Wirklichkeiten vertilgt, und als Universum anerkannt, dadurch die Sehnsucht aus ihrem über Wirklichkeit Hinausfliehen nach einem ewigen Jenseits zurückgeholt, die Scheidewand zwischen dem Subject, oder dem Erkennen und dem absoluten unerreichbaren Objecte niedergerissen, der Schmerz im Genuß versöhnt, das endlose Streben aber im Schauen befriedigt.“ 15  Vgl. etwa Johann Wilhelm Ritter, der nach dem Bericht von Dorothea Veit urteilte: „[…] mit den Reden geht eine neue Zeitrechnung […] an“ (KGA V/4, Nr.  935,20 f.). 16  Zu einer detaillierten Darstellung dieser ambivalenten Reaktionen vgl. Dilthey, W., Das Leben Schleiermachers, hrsg. v. M. Redeker, Bd.  1,1, Berlin 3.  Aufl. 1970, 442–458; Lommatsch, S., Schleiermacher’s Lehre vom Wunder und vom Uebernatürlichen im Zusammenhange seiner Theologie und mit besonderer Berücksichtigung der Reden über die Religion und der Predigten,

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Einleitung

polemischen Vorwurf, der Verfasser der Reden vertrete „eine geistvolle Apologie des Pantheismus“ und liefere nicht mehr als „eine rednerische Darstellung des Spinozistischen Systems.“17 Seit dieser Beurteilung der Reden durch Schleiermachers Vertrauten, dem neologisch-rationalistisch geprägten Friedrich Wilhelm Sack, hängen diese beiden Vorwürfe des Pantheismus’ und des Spinozismus’ wie ein Damoklesschwert über ihnen. Die in diesen Vorwürfen enthaltene polemische Kritik ist dabei umfassend gemeint. Sie besagt, dass die Reden, wie Sack sich ausdrückt, erstens ihrem Begriff nach „allem dem, was mir bisher Religion geheißen hat, und gewesen ist, ein Ende […] machen, und ich die dabei zum Grunde liegende Theorie für die trostloseste und verderblichste halte“, zweitens direkt dem Christentum widersprechen „[…] denn keine Kunst der Sophistik und der Beredsamkeit wird irgendeinen vernünftigen Menschen jemals überzeugen können, daß der Spinozismus und die christliche Religion mit einander bestehen könnten“ und drittens der Gesinnung nach überhaupt nicht religiös genannt zu werden verdienen, denn „[w]as ist ein Prediger, der das Universum für die Gottheit hält, dem Religion nichts weiter ist, als Anschauung des Universums […] – – – was ist ein solcher Prediger für ein bedauernswerter Mensch!“18 Diese von Schleiermacher ausführlich kommentierte und bestrittene Kritik19 ist dennoch zur Grundlage eines polemischen Umgangs mit Schleiermachers Reden geworden. Exemplarisch sind hier in der Forschungsliteratur insbesondere A. Ritschl 20 und Brunner 21 zu nennen. Nach A. Ritschl steht unzweideutig fest, „daß seine [Schleiermachers, C. K.] Auffassung der Religion als einer Abart des musikalischen Sinnes keine andere Weltanschauung ertragen konnte, als die pantheistische.“22 Außerdem besteht nach A. Ritschl, die notwendige Folge davon, dass Schleiermacher „das Weltall als System […] denkt“, darin, dass er in den Reden „nichts weniger vorträgt als directen Spinozismus.“23 Das Defizit dieser Methode eines polemisch-kritischen Umgangs mit den Reden, welche A. Ritschl selbst so charakterisiert, dass er „zum Zweck ihres Verständnisses [der Reden, C. K.] fast auf jedem Schritte auch die Kritik zur Berlin 1872, 99–120; Meckenstock, G., „Historische Einführung des Herausgebers“, in: F. D. E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hrsg. v. G. Meckenstock, Berlin/New York 2001, 1–52; hier: 12–52. 17  Vgl. KGA V/5, Nr.  1005,16–75. 18  Ebd. (kursiv, C. K.) 19  Vgl. seinen Antwortbrief an Sack in: KGA V/5, Nr.  1065,64–174. 20  Ritschl, A., Schleiermachers Reden über die Religion und ihre Nachwirkungen auf die evangelische Kirche Deutschlands, Bonn 1874. 21  Brunner, E., Die Mystik und das Wort. Der Gegensatz zwischen moderner Religionsauffasung und christlichem Glauben dargestellt an der Theologie Schleiermachers, Tübingen 1924. Nach Brunner wiederholt sich bei Schleiermacher eine sog. Dionysos-Mystik der alten Thraker, für die eine „Verkennung des Logos“ geradezu charakteristisch ist (a.a.O., 79–146). 22 A. Ritschl, Schleiermachers Reden, 33. 23  A.a.O., 34.

2. Methode

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Aufzeigung der gemachten Fehler“ präsentiert, ist offenkundig zweifacher Natur. Ihr Defizit besteht zum einen darin, dass die Kritiker eigene Begrifflichkeiten und favorisierte Religionskonzeptionen extern an die Reden herantragen und unkritisch zum Maßstab der Beurteilung der Reden anwenden. Zum anderen besteht das methodische Defizit darin, dass diese vorschnelle Beurteilung von einem externen Standpunkt evidentermaßen dem Eigengehalt der Reden nur auf sehr begrenzte Weise gerecht zu werden vermag, geschweige denn, dass sie dazu beitragen kann, die Forschung um tiefere, positive Einsichten in die Religionskonzeption der Reden zu bereichern.24 2.  Beschreibende Darstellung Eine andere Methode im Umgang mit den Reden macht aus dem Versäumnis der polemischen Kritiker eine Tugend, indem sie vor aller Beurteilung zunächst einmal deutlich beschreibt, was Schleiermacher selbst in Bezug auf seine Religionskonzeption vorbringt. Diese Methode der beschreibenden Darstellung zielt auf den Eigengehalt der Reden und arbeitet zentrale Motive von Schleiermachers Religionskonzeption heraus. Exemplarisch sind hier die Darstellungen von Dilthey25, O. Ritschl 26 , Wehrung 27, Hirsch 28 , Beisser 29 Scholtz 30, Timm 31, Blackwell 32 , Glatz 33 oder Huber 34 zu nennen. Diesen beschreibenden Darstellun­ gen gelingt es allein aufgrund sorgfältiger Lektüre der Reden sowohl gewichtige Gegenargumente zu der kritischen Polemik des Spinozismus’35 und des Pantheismus’36 ins Feld zu führen, als auch die Frage nach dem Verhältnis Schleier­ 24  Sicherlich eine Sonderstellung in der Forschungsliteratur nehmen in diesem Rahmen die Ausführungen Wendlands ein, der aufzuzeigen versucht, inwiefern die, von ihm allerdings nur sehr rudimentär erfasste, Freudsche Sexualtheorie auf Schleiermacher als Autor der Reden angewendet werden darf (siehe hierzu Wendland, J., Die religiöse Entwicklung Schleiermachers, Tübingen 1925, 12–15). 25  Dilthey, Leben Schleiermachers, 349–441. 26  Ritschl, O., Schleiermachers Stellung zum Christentum in seinen Reden über die Religion. Ein Beitrag zur Ehrenrettung Schleiermachers, Gotha 1888. 27  Wehrung, G., Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, Gütersloh 1927. 28  Hirsch, E. Geschichte der neueren evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd.  4, Gütersloh 1952, 490–542. 29  Beißer, F., Schleiermachers Lehre von Gott. Dargestellt nach seinen Reden und seiner Glaubenslehre, Göttingen 1970. 30  Scholtz, G., Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, 78–85. 31  Timm, Die heilige Revolution, 23–73. 32  Blackwell, A., Schleiermacher’s Early Philosophy of Life. Determinism, Freedom and Phantasy, Harvard 1982. 33  Glatz, U., Religion und Frömmigkeit bei Schleiermacher. Theorie der Glaubenskonstitution, Stuttgart 2010, 145–272. 34  Huber, E., Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher, Leipzig 1901, ND Aalen 1972. 35  Vgl. einschlägig Hirsch, Geschichte IV, 503; Dilthey, Leben Schleiermachers, 323–341; E. Huber, Entwicklung, 24. 36  Beißer, F., Schleiermachers Lehre von Gott, 32–43.

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Einleitung

machers zu früheren oder zeitgleichen Religions- bzw. Philosophiekonzep­ tionen neu zu beleben.37 Bei dieser Methode der beschreibenden Darstellung ergibt sich ein zwei­ faches Defizit: Zum einen werden die Reden zwar ihrem Eigengehalt nach beschrieben, die begriffliche Analyse der von Schleiermacher äußerst durchdachten argumentativen Struktur bleibt jedoch unscharf. Dies mag daran liegen, dass von den genannten Interpreten die Reden zumeist als Ausdruck einer „anschaulichen“38 bzw. „poetisierenden“39 Weltsicht aufgefasst werden, deren systematischer Gehalt vornehmlich in der poetischen Kraft ihrer beim Leser erzeugten Bilder besteht.40 Ein Vorgehen, welches im Unterschied hierzu die Reden als systematisch-theologischen Text ernst nimmt, erfährt meines Erachtens seine Rechtfertigung durch deren beständigen impliziten Bezug auf Gedanken aus Schleiermachers Frühschriften, die sich zweifelsfrei durch ihre strenge Argumentationsweise auszeichnen.41 Zum anderen werden zwar von den genannten Autoren Verhältnisbestimmungen zwischen Schleiermacher und früheren oder zeitgleichen Autoren hergestellt,42 allerdings in einer hermeneutisch zu allgemeinen Weise, so dass die Relevanz für das Verständnis bestimmter Argumentationen der Reden selbst nicht weiter ersichtlich wird.43 Einen Übergang zu einer methodischen Verbindung von immanent-argumentativer und historisch-kontextualisierender hermeneutischer Fragestellung stellt die Arbeit von Huber dar. Trotz des poetischen Stils der Reden will er in seiner beschreibenden Darstellung dennoch, „nicht darauf verzichten, in den Reden eine Religionstheorie zu finden. Dem bildlichen Ausdruck liegt ein eigentlicher Sinn zu Grunde. Die Verschiedenartigkeit der Definitionen erscheint bei näherem Zusehen meist nicht als zufällig.“44 Huber bleibt jedoch bei der Durchführung seiner geschilderten Zielvorstellungen im Rahmen einer beschreibenden Darstellung der Reden befangen,45 was sich auch in seiner nur beschreibenden Zusammenstellung der unterschiedlichen Redenauflagen zeigt46.

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Vgl. insbesondere Dilthey, Leben Schleiermachers, 319–382. Dilthey, Leben Schleiermachers, VI. 39  Scholtz, Philosophie Schleiermachers, 78. 40  Nach dem Urteil O. Ritschls sind die Reden prinzipiell nicht darauf angelegt, argumentativ zu verfahren: „Die Reden sind nicht eine systematische Darstellung“ (O. Ritschl, Stellung, 28). 41  Vgl. hierzu einschlägig: Meckenstock, G., Deterministische Ethik und kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza 1789–1794, Berlin/New York 1988; Oberdorfer, B., Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit. Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799, Berlin/New York 1995. 42 Vgl. Dilthey, Leben Schleiermachers, 334–382. 43  Vgl. exemplarisch Hirsch, Geschichte IV, 504 ff. 44 E. Huber, Entwicklung, 13. 45  A.a.O., 15–20. 46  A.a.O., 9–72. 38 Vgl.

2. Methode

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Die im Folgenden darzustellenden vornehmlich immanent-argumentativen und die vornehmlich historisch-kontextualisierenden hermeneutischen Interpretationsmethoden unternehmen es, die soeben aufgezeigten Defizite der beschreibenden Darstellung auf ihre Weise zu beheben. 3.  Argumentative Darstellung Die Monographien von Braasch47, Bender48 , Fuchs49, Piper50, Seifert 51 und Albrecht 52 verfolgen in ihren Interpretationen der Reden eine vornehmlich immanent-argumentative Methode. Das schließt zum einen die Kritik vorangehender Methoden ein.53 Es bedeutet zum anderen, dass im Rahmen der Auseinander­ setzung mit den Reden der Versuch unternommen wird, „Schleiermachers Gedanken so viel wie möglich klar [zu, C. K.] legen, um einen festen Ort zu gewinnen, von dem aus man sich die Entwicklung der späteren Zeit klar machen kann.“54 Im Zentrum dieser Methode steht nicht die beschreibende Darstellung, sondern die gedankliche Durchdringung und begriffliche Klärung des in den Reden zur Sprache gebrachten. Dabei geht es auch um die Frage nach der Kontinuität bzw. Diskontinuität der unterschiedlichen Auflagen der Reden selbst 55 und um das Verhältnis derselben zur Glaubenslehre, wobei in der Schleier­ macherforschung zumeist eine Inferiorität der Reden gegenüber der Glaubens­ lehre angenommen wird.56 Eine Sonderstellung innerhalb dieser Gruppe nimmt Albrechts Position ein. Zum einen hält er die Reden und die Glaubenslehre für gleichwertige, sich gegen47  Braasch, E. F., Comparative Darstellung des Religionsbegriffs in den verschiedenen Auflagen der Schleiermacherschen „Reden“, Diss. Univ. Jena 1883. 48  Bender, W., Schleiermachers Theologie mit ihren philosophischen Grundlagen dargestellt. Teil 1: Die philosophischen Grundlagen der Theologie Schleiermachers, Nördlingen 1876. 49  Fuchs, E., Schleiermachers Religionsbegriff und religiöse Stellung zur Zeit der ersten Auflage der Reden (1799–1806), Gießen 1901. 50  Piper, Das religiöse Erlebnis. 51  Seifert, P., Die Theologie des jungen Schleiermacher, Gütersloh 1960. 52  Albrecht, Frömmigkeit. 53  Fuchs, Schleiermachers Religionsbegriff, 2 f.; 36–44. 54  A.a.O., 1. 55  Fuchs, E., „Wandlungen in Schleiermachers Denken zwischen der ersten und zweiten Ausgabe der Reden“, Theologische Studien und Kritiken 76 (1903), 71–99; Hirsch, Geschichte IV, 559–565; Süskind, H., Der Einfluß Schellings auf die Entwicklung von Schleiermachers System, Tübingen 1909, 131 ff., Albrecht, Frömmigkeit, 132; 136; 182–192. 56 Vgl. Haym, R., Romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes, Berlin 1870, 426; E. Huber, Entwicklung, 287–292; Lipsius, R., „Schleiermachers Reden über die Religion“, Jahrbücher für protestantische Theologie 1 (1875), 134–184; 269–315, hier: 173; O. Ritschl, Stellung, 50; Ebeling, G., „Zum Religionsbegriff Schleiermachers“, in: H. Mül­ler/D. Rössler (Hgg.), Reformation und praktische Theologie. Festschrift für Werner Jetter zum 70. Geburtstag, Göttingen 1983, 61–81, hier: 78–81. Eine Höherbewertung der Reden findet sich bei Otto, R., West-Östliche Mystik. Vergleich und Unterscheidung zur Wesensdeutung, Gotha 1926, 336–341 und bei Bender, Grundlagen, 171–173.

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Einleitung

seitig auslegende Gestalten der einen Religionstheorie Schleiermachers.57 Zum anderen vertritt er bei seiner Interpretation der Reden einen sog. „paradoxalen Ansatz“.58 Dieser ist durch die Ablehnung eines begriffsanalytischen Verfahrens und die Anwendung eines phänomenologischen Verfahrens charakterisiert. Nach Albrecht besteht das Problem jeder Redeninterpretation grundsätzlich darin, dass der wissenschaftliche Diskurs nach einem begriffsanalytischen Verfahren verlangt, „diese in der Tat unhintergehbare Ermöglichungsbedingung jedes wissenschaftlichen Diskurses versagt nun aber gerade im Falle der Reden-Interpretation ihren konstitutiven Dienst.“59 Nach Albrecht ist hingegen das Ziel der Reden „der ihrem Gegenstand angemessene, einerseits phänomenologisch überzeugende, aber andererseits keinesfalls begriffsanalytisch deduktiv vorgehende Erweis der Faktizität und Positivität der Religion.“60 Das Defizit von Albrechts Ansatz besteht in der Kontrastierung von begrifflicher und phänomenologischer Methode. Albrecht ist Recht zu geben, dass zwar nach Schleiermacher das religiöse Bewusstsein nicht auf einem diskursiv-­ begrifflichen Denken gründet und auch nicht durch ein solches anderen Menschen quasi andemonstriert werden kann. In seinem Ansatz übersieht er, dass aus dem religiösen Bewusstsein selbst, weil es auf einem unmittelbaren Evidenzgeschehen beruht,61 ein begrifflich-diskursives Wissen über die Religion entwickelt werden kann. Religiöses Bewusstsein ist nach Schleiermacher zwar kein Wissen, es kann aber Gegenstand des Wissens und damit des begrifflichen Diskurses werden. Anders als Albrecht meint, stehen somit begriffliche und phänomenologische Methode keineswegs in einem Widerstreit miteinander, sondern die phänomenologische Beschreibung wird von Schleiermacher in den Reden vielmehr durch begriffliche Bestimmungen ergänzt und vertieft.62 Dies ist nach Schleiermachers Selbstaussage das Vorgehen in seiner Dar­ stellung des Religionsbewusstseins vor den gebildeten Religionsverächtern.63 57  Albrecht, Frömmigkeit, 307–309, hier insbesondere 309: „Die übereinstimmende Pointe des in den Reden und in der Glaubenslehre entfalteten Wesens der Frömmigkeit – nämlich: die den identischen Grund aller Korrelativität abbildende, selbst nicht duplizitär verfaßte Funktion des Bewußtseins zu sein – kommt in den je unterschiedlichen und sich wechselseitig ergänzenden Textfassungen um so deutlicher zum Ausdruck.“ 58  A.a.O., 119. 59  A.a.O., 117. 60  A.a.O., 119. 61  Vgl. KGA I/2, 221,20–222,13. 62  Vgl. zur Kritik an Albrechts Ansatz auch Grove, P., Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin/New York 2004, 255–258. 63  Schleiermacher kritisiert einerseits mit argumentativen Mitteln den „gemeinen Begriff “ (KGA I/2, 211,25) der gebildeten Religionsverächter von Religion. Das bedeutet in den Reden jedoch keineswegs eine grundsätzliche Kritik an einem begriffstheoretischen Ver­ fahren. Vielmehr hält Schleiermacher andererseits unerschütterlich daran fest, dass sich ein adäqua­ter Religionsbegriff bilden lässt: „[…] sie [die Religion, C. K.] muß doch etwas eigenes sein, was in der Menschen Herz hat kommen können, etwas denkbares, wovon sich ein Begriff aufstellen läßt, über den man reden und streiten kann“ (KGA I/2, 210,18 ff.).

2. Methode

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Eine Einsicht, die auch später noch in der Glaubenslehre zentral zum Ausdruck kommt.64 Das grundsätzliche Defizit der immanent-argumentativen Methode besteht des Weiteren darin, dass sie die Bedeutung des zeitgenössischen Kontextes sowie einschlägiger Frühschriften Schleiermachers nur marginal zur Interpreta­ tion der Reden heranzieht. Hierdurch bleiben mit dieser Methode bedeutende und klärende Bezüge zu externen Quellen ungenutzt. Einen Übergang zu der historisch-kontextualisierenden hermeneutischen Methode stellen exemplarisch die Arbeiten des Troeltsch-Schülers Süskind dar. In seinem Werk verbindet sich das Ringen um argumentative Präzision einerseits mit hermeneutischer Kontextualisierung der Reden andererseits.65 4.  Hermeneutische Darstellung Die historisch-kontextualisierende hermeneutische Methode zeichnet sich durch den Versuch aus, Schleiermachers Religionskonzeption in die geistesgeschichtliche Situation seiner Zeit einzubinden und einschlägige Konstellationen zwischen beiden aufzuzeigen. Hier sind die Arbeiten von Herms66 , Lamm67, Grove68 und Ellsiepen69 die bedeutendsten. Dabei können sich die neueren Arbeiten auf ausführlichen Vorarbeiten zu den Frühschriften Schleiermachers stützen.70 Die Gefahr der historisch-kontextualisierenden hermeneutischen Methode besteht naturgemäß darin, in der strukturellen Gemengelage der Konstella­ tionsforschung die charakteristische Eigenständigkeit von Schleiermachers Ansatz zu übersehen. Die interpretatorischen Vorteile gegenüber der immanent-­ argumentativen Methode können auf diese Weise im anderen Extrem verloren 64  Vgl. Schleiermacher, F. D. E., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31). Teilband 1.–2., KGA I/13.1–2., hrsg. v. R. Schäfer, Berlin/New York 2003, hier: KGA I/13.1, 29,2–7 (kursiv, C. K.): „Soll aber doch das Wissen […] sich auf die Frömmigkeit beziehn: so erklärt sich dies am natürlichsten wol so, daß die Frömmigkeit allerdings der Gegenstand jenes Wissens ist, daß aber dieses nur, sofern den Bestimmungen des Selbstbewußtseins eine Gewißheit einwohnt, kann entwikkelt werden.“ 65 Vgl. Süskind, Einfluß Schellings. 66  Herms, E., Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleier­ macher, Gütersloh 1974. 67  Lamm, J. A., The Living God. Schleiermacher’s Theological Appropriation of Spinoza, Pennsylvania 1996. 68  Grove, P., Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, Berlin/New York 2004. 69  Ellsiepen, Ch., Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva. Die spinozistische Grundlage von Schleiermachers früher Religionstheorie, Berlin/New York 2006. 70  Meckenstock, Deterministische Ethik; Oberdorfer, Geselligkeit. Bereits aufgrund seines Ansatzes hingegen problematisch Quapp, E. H., Christus im Leben Schleiermachers. Vom Herrnhuter zum Spinozisten, Göttingen 1972.

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Einleitung

gehen. Schleiermachers kritische Religionskonzeption, die seit der Veröffent­ lichung der Reden selbst von Gegnern als innovativ-inspirierender Epochen­ beginn moderner Theologie angesehen wurde,71 schrumpft im Lichte der h istorisch-kontextualisierenden Interpretationsrichtung auf eine originelle ­ ­eklektizistische Gewandtheit im Umfeld zeitgenössisch-geistesgeschichtlicher Konstellationen zusammen.72 Aus dem „Prince of the Church“73 wird ein weiterer „Exponent des deutschen Idealismus“.74 Es steht in dieser Sache meines Erachtens so, wie es bereits Kant im Blick auf die Interpreten seiner Transzendentalphilosophie prägnant festgehalten hat: „[…] allein wie viele für neu gehaltene Entdeckungen sehen nicht jetzt geschickte Ausleger klar in dem Alten, nachdem ihnen gezeigt worden, wornach sie sehen sollen.“75 5.  Verbindung von argumentativer und hermeneutischer Darstellung Eine Sonderstellung innerhalb der Schleiermacherforschung nimmt Herms mit seinem Werk Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher ein.76 Bei Herms verschränken sich die argumentative und die hermeneutische Zugangsweise fruchtbar miteinander. Hierdurch gelingt es ihm 71  Barth, K., Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 4. Auflage 1981, 379–424, hier 411 f.: „Was Schleiermacher aufrichtete mit seiner Bewußtseinstheologie, mit seinem Fußfassen in dem Zentrum, das für die Reforma­ toren Nebenzentrum war, konnte die reine Theologie des heiligen Geistes sein […]. Wenn sie das war, so war sie als Theologie grundsätzlich ebenso gerechtfertigt, wie die entgegengesetzt orientierte, theozentrische reformatorische Theologie.“ Vgl. auch ders., Nachwort zu: Schleiermacher-Auswahl, hrsg. v. H. Bolli, Gütersloh 1968, 290–312. 72 Exemplarisch Grove, Deutungen, 615: „Allerdings kann Schleiermachers Begriff des unmittelbaren Selbstbewußtseins nicht als eigentlich innovativ gelten. Vielleicht bezieht er sich darauf als auf einen ihm vorgegebenen, bekannten Begriff. Jedenfalls hat Fichte lange vor ihm ähnliche Bestimmungen öffentlich vorgetragen. Insofern sollte Schleiermachers Beitrag zur Subjektivitätstheorie […] nicht überschätzt werden […]. Schleiermachers tatsächlicher Leistung eher gerecht werdend: Er führt verschiedene mehr oder weniger bekannte und vielversprechende Ansätze in der Theorie der Subjektivität, die ihn unter anderem mit Kant und Fichte verbinden, auf eigenständige Weise weiter. […] Die eigene, zugleich subjektivitätstheoretische und religionstheoretische Hauptpointe Schleiermachers […] besteht darin, daß auch in unserem klarsten Selbstbewußtsein ein Moment der Undurchsichtigkeit und Opakheit ist, daß wir uns überall, selbst in unserer höchsten Selbsttätigkeit und Freiheit, in einer nur hinzunehmenden Bestimmtheit vorfinden.“ 73  So der Buchtitel von Gerrish (Gerrish, B. A., A Prince of the Church. Schleiermacher and the Beginnings of Modern Theology (The Rockwell Lectures 1981), Philadelphia 1984). 74  Grove, Deutungen, 2. Nach Grove steht fest: Schleiermachers „theologisch-philosophische Konzeption liegt mehr oder weniger auf der Linie der Gedankengänge, die in dieser Periode auch sonst in der philosophischen Avantgarde in Deutschland verbreitet waren“ (Ebd.). 75  Kant, I., Über eine Entdeckung nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll, in: Kants Werke. Akademieausgabe [=AA], AA VIII, 185–252, hier: BA 4 (kursiv, C. K.). 76  Siehe Fußnote 66.

2. Methode

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den gedanklichen Zusammenhang von Schleiermachers Frühschriften und frühen theologischen Hauptschriften aufzuzeigen und den spezifischen Beitrag der Geistesgeschichte zur innovativen Theoriebildung Schleiermachers nachzuweisen. Herms behandelt die Reden gemäß seiner Fragestellung inhaltlich allerdings nur lemmatisch und übersichtshaft. Die vorliegende Arbeit folgt methodisch dem Weg von Herms. Dies ist aus der Sache selbst gerechtfertigt. Schleiermachers Reden verlangen von sich aus nach einer Interpretation, die textnah ihre Argumente analysiert und kritisch überprüft. Weil Schleiermachers Argumente aufgrund des apologetisch-kerygmatischen Stils seines Werks häufig nur angedeutet oder stark verkürzt vorgetragen werden, müssen weitere Schriften zur Klärung herangezogen werden. Dies sind auf der einen Seite Frühschriften Schleiermachers in denen sich die Grundanliegen seiner Bildungstheorie und Religionstheorie niedergeschlagen haben, z.B. die Monologen77, die Spinozaschriften78 , Über den Wert des Lebens 79 und Über die Freiheit 80. Zugleich werden spätere Schriften Schleiermachers herangezogen, inklusive der weiteren Auflagen der Reden 81 selbst, die in sachlicher Kontinuität zu den Reden stehen und das Anliegen Schleiermachers zu verdeutlichen helfen, z.B., Psychologie 82 , Brouillon 83, Ethik,84 Pädagogik 85, Dialektik 86 und die Glaubenslehre 87. Auf der anderen Seite richtet sich Schleiermacher in den Re­ den des Öfteren implizit gegen Philosophie- und Religionsauffassungen seiner Zeit, insbesondere gegen Kant, Fichte und Schelling, aber auch gegen den aufklärerischen Deismus und neologische Ansichten. Diese impliziten Auseinan77  Schleiermacher, F. D. E., Monologen. Eine Neujahrsgabe, KGA I/3, Schriften aus der Berliner Zeit 1800–1802, hrsg. v. G. Meckenstock, Berlin/New York 1988, 1–61. 78  Ders., Spinozismus, KGA I/1, Jugendschriften 1787–1796, hrsg. v. G. Meckenstock, Berlin/New York 1984, 511–558; Ders., Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems, KGA I/1, 559–582. 79  Ders., Über den Wert des Lebens (1792/93), KGA I/1, Jugendschriften 1787–1796, hrsg. v. G. Meckenstock, Berlin/New York 1984, 391–472. 80  Ders., Über die Freiheit (zwischen 1790 und 1792), KGA I/1, 217–356. 81  Ders., Über die Religion (2.–)4.   Aufl., Monologen (2.–)4.  Auf l., KGA I/12, hrsg. v. G. Meckenstock, Berlin/New York 1995. 82  Ders., Psychologie. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, SW III/6, hrsg. v. L. George, Berlin 1862. 83  Ders., Brouillon zur Ethik (1805/06), in: ders., Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. II, hrsg. v. O. Braun, Leipzig 2. Auflage 1927, ND Aalen 1981. 84  ders., Ethik (1812/13), mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre. Auf der Grundlage der Ausgabe Otto Braun, hrsg. u. eingel. v. H.-J. Birkner, Hamburg 1981. 85  Ders., Pädagogik. Die Theorie der Erziehung von 1820/21 in einer Nachschrift, hrsg. v. Ch. Ehrhardt/W. Virmond, Berlin/New York 2008. 86  Ders., Dialektik, KGA II/10.1.–2., hrsg. v. A. Arndt Berlin/New York 2002; Ders., Dialektik (1822) (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1529), hrsg. u. eingel. v. M. Frank, Bd. 2., Baden-Baden 2001. 87  Ders., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31). Teilband 1.–2., KGA I/13.1–2., hrsg. v. R. Schäfer, Berlin/New York 2003.

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dersetzungen werden unter Berücksichtigung der jeweils einschlägigen Werke dieser Autoren explizit gemacht. Zudem gewinnt Schleiermacher Anregungen zu seiner eigenen Konzeption von Religion und Religionsgeschichte aus geistesgeschichtlichen Vorgängern wie z.B. Jacobi, Goethe, Schiller, Spinoza, Lessing oder der Bibel. Auch dieser hermeneutische Kontext der Reden wird aufgezeigt und an den Quellen selbst herausgearbeitet. Dabei ist festzuhalten: Die hermeneutische Verortung Schleiermachers in den Kontext der Geistesgeschich­ te stellt keinen Selbstzweck dar, sondern ist der Klärung der innovativen Sachanliegen der Reden funktional zugeordnet. Immanent-argumentative Methode und historisch-kontextualisierende hermeneutische Methode sollen auf diese Weise durch ihre gegenseitige fruchtbare Ergänzung zu einer systematisch-theologischen Verdeutlichung von Schleiermachers spezifischem Anliegen in der Darstellung seines kritischen Religionsbegriffs und seiner inklusivistischen Religionstheologie in der Erstauflage der Reden beitragen.

3. Inhalt In der Auseinandersetzung der Forschung mit inhaltlichen Fragestellungen der Reden lässt sich gemäß dem Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit zwischen Themen im Bereich des Religionsbegriffs (1.) und Themen im Bereich der Reli­g ionstheologie (2.) unterscheiden. 1.  Einordnung in die Forschungslage zum Religionsbegriff der ‚Reden‘ Schleiermacher entfaltet in seinen Reden einen kritischen Religionsbegriff sowohl nach außen (1.1.) als auch nach innen (1.2.). 1.1.  Nach außen arbeitet er, in kritischer Abgrenzung gegen die zeitgenössische Ansicht der deutschen gebildeten Religionsverächter gewendet, die Bedeutung der Religion im menschlichen Bildungsprozess heraus.88 Im Zentrum dieses bildungstheoretischen Entwurfs der Reden steht für Schleiermacher die Frage, worin der intelligible Zweck des menschlichen Lebens besteht 89 und auf welche Weise es dem Menschen möglich ist, diesen Zweck zu erfüllen.90 Das Ziel seiner Bildungstheorie der Reden besteht darin, durch das Aufzeigen der wesentlichen Grundaspekte des Religionsphänomens, die Religion als essen­ tielles Element des menschlichen Bildungsprozesses überhaupt herauszustellen. Die wesentlichen Zusammenhänge zwischen Schleiermachers Bildungstheorie der Reden und ihrem Religionsbegriff hat Ebeling herausgearbeitet.91 Dabei 88 

KGA I/2, 191,10–194,13. KGA I/2, 192,4–12. 90  KGA I/2, 192,26 ff. 91 Vgl. Ebeling, G., „Beobachtungen zu Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis“, in: 89 

3. Inhalt

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weist er nachdrücklich darauf hin, dass nach Schleiermacher der Religion eine konstitutive Bedeutung für die menschliche Bildung insgesamt zukommt. Aus diesem Grund bestehe auch für das Anliegen der Reden, Frömmigkeit und moderne Bildung versöhnlich miteinander zu verbinden, ein hohes aktuelles In­ teresse. Eine Einsicht Ebelings, die auch seit dem Erscheinen seines Aufsatzes nicht an Bedeutung verloren hat.92 Das spezifische Bildungsverständnis Schleiermachers in den Reden charakterisiert Riemer unter anderem durch drei grundlegende Bestimmungen: 93 Erstens zeigt er auf, dass wahrhafte Bildung nach Schleiermacher das Bewusstsein zweier Momente umfasst, einerseits das Individualitätsbewusstsein und andererseits das Bewusstsein der Einbezogenheit der Individualität in eine umfassende Ganzheit. Diese beiden Inhalte des menschlichen Bewusstseins stellten in ihrer organischen Bezogenheit aufeinander den Grundstein jeder wahrhaften Bildung dar, denn erst in ihrer gegenseitigen Durchdringung erkenne sich der Mensch als unverwechselbare Modifikation und spezifischen Ausdruck der Menschheit insgesamt. Diese Polarität von Ganzheit bzw. Menschheit und Individualität prägt auch Schleiermachers Monologen und hat dementsprechend in der Forschung zu der Diskussion um die genaue Verhältnisbestimmung zwischen den Monologen und den Reden geführt.94 Nach beiden ders., Wort und Glaube. Bd. III: Beiträge zur Fundamentaltheologie, Soteriologie und Ekklesiologie, Tübingen 1975, 96–115; Ders., „Zum Religionsbegriff Schleiermachers“, 61–81. 92 Vgl. ausführlich Fischer, H., „Schleiermachers Theorie der Bildung“, in: J. Ochel (Hg.), Bildung in evangelischer Verantwortung auf dem Hintergrund des Bildungsverständnisses von F. D. E. Schleiermacher, Göttingen 2001, 129–150. 93  Riemer, M., Bildung und Christentum. Der Bildungsgedanke Schleiermachers, Göttingen 1989. Vgl. zu Schleiermachers allgemeinem Bildungsbegriff auch einschlägig Wintsch, H., Religiosität und Bildung. Der anthropologische und bildungsphilosophische Ansatz in Schleiermachers Reden über die Religion, Zürich 1967. 94  Eine enge Beziehung zwischen den Reden und den Monologen weisen einschlägig nach: Eck, S., Ueber die Herkunft des Individualitätsgedankens bei Schleiermacher, Gießen 1908, 48 ff., Flückinger, F., Philosophie und Theologie bei Schleiermacher, Zürich 1947, 64 ff. In der neueren Forschung hat Scholtz allerdings gezeigt, dass die von den genannten Autoren vertretene Ähnlichkeit oder gar Identität zwischen dem Universumsbegriff der Reden und dem Menschheitsbegriff der Monologen zu kurz greift. Scholtz hält fest: „Die Reden zeigen, daß Natur und ‚Weltgeist‘/Menschheit verschiedene Erscheinungs- und Offenbarungsweisen des einen Universums, nicht aber dieses selbst sind. Die Monologen setzten diesen Rahmen voraus und nehmen ihren Stand ganz im Gebiet des Geistes.“ (Scholtz, Philosophie, 88) Auch weist auf die spezifische Differenz zwischen den Reden und den Monologen hin, die sie als eine „Aporie […] des Gegenstandes, der Argumentationsweisen und der Ergebnisse“ bewertet (Ehrhardt, Ch., Religion, Bildung und Erziehung bei Schleiermacher. Eine Analyse der Beziehungen und des Widerstreits zwischen den „Reden über Religion“ und den „Monologen“, Göttingen 2005, 144). Allerdings greifen auch diese Interpretationen zu kurz. Ehrhardt ist der Ansicht, dass Schleiermacher mit den Reden und den Monologen zwei „nebeneinander gestellte Positionen“ quasi unabhängig voneinander vertritt, ohne sich um die Widersprüche zwischen beiden Schriften zu kümmern. Vielmehr würde von Schleiermacher in der „Beschäftigung mit der einen Seite die andere ausgeblendet“ (a.a.O., 150). Die Religionskonszeption und die Konzeption der Sittlichkeit stehen ihrzufolge in einem Dualismus zueinander, aus welchem ein

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konstituiert das Zusammenspiel von Individual- und Ganzheitsbewusstsein die Möglichkeit eines wahrhaften menschlichen Selbstbewusstseins. Der Ausdruck „Bildung“ bezieht sich demnach in den Reden nicht etwa auf ein Wissen von einzelnen endlichen Sachverhalten, sondern vielmehr auf die Klarheit und Deutlichkeit des menschlichen Selbstbewusstseins. Zweitens zeigt Riemer, dass nach Schleiermacher die Entwickung des menschlichen Selbstbewusstseins bzw. der wahrhaften Bildung im Rahmen eines ­geschichtlichen Prozesses verläuft.95 Dieser Prozess kann als gegenseitiger Vergleichsprozess der Menschen beschrieben werden, in welchem sie durch die wechselseitige Bestimmung ihrer spezifischen Charaktere zu einem deutlichen Bewusstsein ihrer Individualität im Rahmen der Menschheitscharaktere insgesamt heranreifen. Drittens stellt Riemer die Bedeutung der Religion für das Bildungsgeschehen insgesamt und darin eingeschlossen für das gebildete Selbstbewusstsein jedes einzelnen Menschen heraus. Hierbei weist er auf die konstitutive Bedeutung doppelter Bildungsbegriff erwächst (a.a.O., 191). Ehrhardt übersieht dabei allerdings die von Schleiermacher in den Reden selbst vorgenommene Verhältnisbestimmung zwischen religiöser und sittlicher Bildung, die exemplarisch an den beiden Mittlertypen, dem religiösen und dem sittlichen Mittler, vorgenommen wird (KGA I/2, 193,4–194,3). Sowohl in den Reden als auch den Monologen zeigt sich folglich das organische Zusammenspiel von religiöser und sittlicher Bildung, wobei nach Schleiermacher das religiöse Bildungsgeschehen den formalen Rahmen abgibt, innerhalb dessen die sittliche Bildung adäquat zu erfolgen vermag (KGA I/2, 212,35–213,9). Präzisierend gegenüber Scholtz ist festzuhalten, dass Schleiermacher die Ausdrücke „Weltgeist“ und „Menschheit“ keineswegs synonym verwendet. Vielmehr bezeichnen auf der einen Seite „Natur“ und „Menschheit“ in den Reden die beiden Bereiche endlicher teleologischer Prozessualität, während auf der anderen Seite der Ausdruck „Weltgeist“ denjenigen unendlichen Bereich bezeichnet, der diese beiden Prozesse umgreift, initiiert und lenkt (vgl. KGA I/2, 234,33–235,11). Vgl. prägnant hierzu auch Ellsiepen, Anschauung, 356–365. Die gegenüber den Reden stark abwertende Beurteilung der Monologen durch Haym und Dilthey hat sich in der Forschungsgeschichte als unhaltbar erwiesen. Nach Dilthey hat Schleier­ macher in den Monologen „tiefsinnige Absichten in ein schwaches Buch“ gebracht. Dementsprechend kritisiert er die Monologen als ein Werk, welches Schleiermacher nicht würdig sei (Diltey, Leben Schleiermachers, 515). Vgl. auch Haym, Die romantische Schule, 519–530. Vgl. auch einschlägig Barth, U., „Der ethische Individualitätsgedanke beim frühen Schleier­ macher“, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 291–327. 95 Der Forschungsdissenz, ob Schleiermachers Individualitätskonzeption ontologisch (Neubauer, E., „Die Begriffe Individualität und Gemeinschaft im Denken des jungen Schleiermacher“, in: Theologische Studien und Kritiken 95 (1923), 1–77) oder geschichtlich (Eck, Herkunft des Individualitätsgedankens, 41) verfasst ist, kann dahingehend aufgehoben werden, dass nach Schleiermacher Ontologie und Geschichtlichkeit keine sich gegenseitig ausschließende Sachverhalte darstellen, sondern vielmehr sachlogisch aufeinander bezogen sind. In den Reden wird deutlich: Der ontologisch jedem Menschen vorgegebene individuelle Seelencharakter kann sich nur in einem geschichtlichen Prozess verwirklichen. Diese Verwirklichung durch gegenseitige Vergleichung umfasst sowohl das klare Bewusstsein des eigenen Seelencharakters bei jedem Menschen als auch das deutliche Bewusstsein jener der Menschheit insgesamt möglichen Seelencharaktere und kann daher als Selbstbewusstseins­ geschichte des endlichen Geistes beschrieben werden (KGA I/2, 192,1–13).

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der sog. Mittler im Bildungsgeschehen hin.96 Im Mittler werden die beiden grundsätzlich antagonistischen Seelenkräfte des Menschen, sein Individualitätsstreben und sein Ganzheitsstreben, jeweils unter der Dominanz einer der beiden Triebe miteinander versöhnt und auf diese Weise das Bildungsgeschehen der Menschheit ermöglicht und geschichtlich initiiert.97 Riemer weist in diesem Zusammenhang deutlich auf die Unterscheidung zwischen einem ethischen und einem religiösen Mittlertypus in den Reden hin. Gegenstimmen, die wie Hörisch annehmen, dass die hohe Bedeutung der Mittler bei Schleiermacher keineswegs konstitutiv, sondern allenfalls als ironisch abwertend aufzufassen ist,98 erweisen sich vor dem Hintergrund des Argumentationsgangs der Reden als nicht haltbar und wurden von der Forschung als „bizarre Konstruktion“ zurückgewiesen.99 Andere Ansichten, denen zufolge Schleiermacher nicht etwa zwei unterschiedliche, sondern bloß den sittlichen Mittlertypus in den Reden thematisiere, sind vom Text der Reden aus betrachtet ebenso unhaltbar.100 Das Defizit bei Riemers Darstellung liegt darin, dass die Verhältnisbestimmung zwischen Religion und den anderen menschlichen Gemütskräften allgemein benannt, aber nicht deutlich genug spezifisch herausgearbeitet wird. Die offene Frage bleibt: Was bedeutet es für die Religion im Verhältnis zur Metaphysik und Moral, dass sie konstitutiv ist für die menschliche Bildung? Bedeutet es, dass Religion die anderen Gemütsvermögen begründet, oder meint es, dass sie diese kritisch begleitet? Dieser Frage in der Forschung wird im nächsten Abschnitt nachgegangen. 1.2.  Nach innen stellt Schleiermacher in kritischer Abrenzung die spezifische Bedeutung der Religion im Ensemble der menschlichen Gemütskräfte insgesamt dar (1.2.1) und beschreibt den immanenten Religionsvollzug im menschlichen Bewusstsein (1.2.2). 1.2.1.  Schleiermachers Beschreibung des Verhältnisses zwischen der Reli­ gion und den höheren Gemütsvermögen, worunter er explizit einerseits Moral 96 

Riemer, Bildung, 145: „Die religiöse Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses ist an einen solchen Mittler gebunden, der selbst ein durch Religion gebildeter ist.“ 97  Vgl. dazu auch Frost, U., Einigung des geistigen Lebens. Zur Theorie allgemeiner und religiö­ ser Bildung bei Schleiermacher, Paderborn 1991, 136; Nowak, K., Schleiermacher und die Früh­ romantik. Eine literaturgeschichtliche Studie zum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland, Weimar/Göttingen 1986, 164 und Sommer, W., „Cusanus und Schleiermacher“, Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 12 (1970), 85–102. 98 Vgl. Hörisch, J. „Der Mittler und die Wut des Verstehens. Schleiermachers Früh­ romantische Anti-Hermeneutik“, in: E. Behler/J. Hörisch (Hgg.), Die Aktualität der Früh­ romantik, Paderborn/München/Wien/Zürich 1987, 19–32. 99  Scholtz, G., Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1995, 95. 100 Vgl. Ehrhardt, Religion, Bildung und Erziehung, 166: „Eine Übertragung des Mittlergedankens auf die Rolle von Religion ist von Schleiermacher nicht intendiert. So liegt es ihm fern, diesen Gedanken etwa für eine Verbindung von Religion und Bildung ins Spiel zu bringen. Dies sei hier als abschließendes Beispiel vermerkt.“

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bzw. sittliche Gesinnung und sittliches Handeln und andererseits Metaphysik bzw. spekulatives Denken versteht, ist seit Beginn der Redenrezeption Gegenstand von Kritik gewesen. Bereits Schleiermachers symphilosophischer Freund Friedrich Schlegel kritisiert in seiner Rezension der Reden, dass es dem Redner nicht gelungen sei „die lebendige Harmonie der verschiedenen Theile der Bildung und Anlagen der Menschheit, wie sie sich göttlich vereinigen und trennen“101, deutlich zur Darstellung gebracht zu haben.102 Gegen diese Kritik an den Reden kann erwidert werden, dass Schleiermacher bereits in seinen frühen Gedankenheften eine Trennung der Gemütsvermögen mit dem Hinweis ausschloss: „Im Ich bildet sich alles organisch und alles hat seine Stelle.“103 Auch in den Reden greift Schleiermacher diesen Gedanken zentral auf.104 In der jüngeren Schleiermacherforschung hat sich die beschriebene Kritik auf die Alternative zugespitzt, dass in den Reden entweder eine von Schleiermacher ungewollte „Provinzialisierung“ der Gemütsvermögen vertreten wird,105 oder es wurde versucht, die angebliche Trennung der Religion von den übrigen Gemütsvermögen dadurch zu erklären, dass man sie als Hinweis deutete, Schleiermacher würde die Religion als Letztbegründungsinstanz der Gemütsvermögen insgesamt verstehen.106

101  Schlegel, F., Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe [=KFSA], hrsg. v. E. Behler unter Mitwirkung v. J.-J. Anstett/H. Eichner, München/Paderborn/Wien/Zürich 1958 ff., KFSA II, 280. 102 Vgl. auch Arndt, der sogar einen absichtlichen Täuschungsversuch Schleiermachers annimmt. Ihm zufolge gilt: Schleiermacher „misslingt auch die angestrebte Abgrenzung von Religion und Philosophie, die schon in der Vagheit der Ausdrücke ‚Anschauung‘, ‚Gefühl‘, ‚Welt‘ und ‚Universum‘ in den Reden und Monologen selbst in sich zusammenzusinken begann. Da Schleiermacher auch später eine solche Abgrenzung postuliert, sie aber nur in Metaphern der Analogie zwischen Frömmigkeit und philosophischem Selbstbewußtsein exponiert, ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, er habe die Trennung und zugleich Entsprechung von Philosophie bzw. Theologie durch eine massive Ausbeutung einer begrifflichen Unklarheit zustandegebracht, die – jedenfalls philosophisch – darin begründet ist, daß er sich des Begriffs enthält.“ (Arndt, A., „Kommentar“, in: Friedrich Schleiermacher: Schriften, hrsg. v. A. Arndt, Frankfurt a. M. 1996, 993–1349, hier: 1073 f.) 103  KGA I/2, 109,1 f. 104  KGA I/2, 207,17–27. 105  Meckenstock, G., „Schleiermachers Auseinandersetzung mit Fichte“, in: S. Sorrentino, Schleiermacher’s Philosophy and Philosophical Tradition, Lewiston 1992, 27–46, hier: 35 (kursiv, C. K.). Vgl. auch Ringleben, J., „Die Reden über die Religion“, in: D. Lange (Hg.), Friedrich Schleiermacher 1768–1834. Theologe – Philosoph – Pädagoge, Göttingen 1985, 236–258, hier: 240. 106  Graf, F., „Ursprüngliches Gefühl unmittelbarer Koinzidenz des Differenten. Zur Modifikation des Religionsbegriffs in den verschiedenen Auflagen von Schleiermachers ‚Reden über die Religion‘“, Zeitschrift für Theologie und Kirche 75 (1978), 147–186, hier: 168; 177.

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Im ersten Fall stünde Schleiermachers Religionskonzeption der Reden vor dem äußerst gravierenden Problem, wie mit ihr die Einheitlichkeit des menschlichen Subjekts verträglich wäre. Hierzu kann einerseits gesagt werden, dass die Religion nach den Reden tatsächlich formal ein kritisches Korrektiv zu den anderen Gemütsvermögen bildet.107 Zugleich wehrt Schleiermacher eindeutig eine inhaltliche Einmischung der Religion in die autonomen Vollzüge der anderen Gemütsvermögen ab.108 Dieses bipolare Vorgehen Schleiermachers ist nicht wie Graf vermutet, auf eine inkonsistente Überdetermination des Religionsbegriffs der Reden selbst zurückzuführen,109 und ist auch nicht Ausdruck dafür, dass Schleiermacher die Religion als das höhere Dritte darstellt, welches Metaphysik und Moral allererst verbindet.110 Vielmehr stellt es das Ergebnis einer differenzierten Wahrnehmung Schleiermachers für die inhaltliche Koordination und formale Superordination der Religion im menschlichen Gemütsleben dar. Diese These wird in der vorliegenden Arbeit weiter begründet. In diesem Zusammenhang muss auch hervorgehoben werden, dass Schleiermacher nicht nur von einer Bedeutung der Religion für die anderen Gemütsvermögen spricht, sondern vielmehr eine wechselseitige Bedeutung der Gemütsvermögen füreinander annimmt.111 1.2.2.  In Bezug auf Schleiermachers immanente Beschreibung der Religion in den Reden haben drei einschlägige, miteinander verbundene Diskussionen die Forschung nachhaltig beschäftigt: Erstens die Frage nach dem Verständnis des Universums bzw. der Konsistenz von Schleiermachers Universumsbegriff. Zweitens die Frage nach dem Bewusstsein des Menschen vom Universum bzw. nach dem epistemologischen Status der sog. „Liebesszene“ in den Reden. Drittens die Analyse zu Wesen, Bedeutung und Herkunft von Schleiermachers Bestimmung der religiösen Anschauungen und Gefühle. Erstens: Nach der Interpretation von Lipsius identifiziert Schleiermacher in der Erstauflage der Reden im Universumsbegriff Welt und Gott miteinander, weshalb eine dezidiert pantheistische Konzeption vorliegt, die erst in späteren Auflagen der Reden überwunden wird.112 Hirsch verweist diesbezüglich gegen Lipsius auf den Einfluss Shaftesburys bei Schleiermacher, der hierdurch von der 107  KGA I/2, 212,22–26; 213,22. Vgl. auch Arndt, A., Friedrich Schleiermacher als Philosoph, Berlin/New York 2013, 252. 108  „Auch herrschen möchte sie nicht in einem fremden Reiche; denn sie ist nicht so eroberungssüchtig das ihrige vergrößern zu wollen. Die Gewalt, die ihr gebührt, und die sie sich in jedem Augenblik aufs neue verdient, genügt ihr, und ihr, die alles heilig hält, ist noch vielmehr das heilig, was mit ihr gleichen Rang in der menschlichen Natur behauptet.“ (KGA I/2, 204,2–7) 109  Graf, „Koinzidenz“, 180 f. 110  Lipsius, „Schleiermachers Reden“, 156 ff.; Otto, Über die Religion, XI. 111  KGA I/2, 207,17–27. 112  Lipsius, „Schleiermachers Reden“, 301.

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pantheistischen bzw. spinozistischen Bestimmung des Universums abweicht und dieses vielmehr als göttliches Kunstwerk begreift.113 In der neueren Forschung wurde diese Einschätzung von Boyer bekräftigt.114 Lamm zeigt auf, dass Schleiermacher mit seiner Universumskonzeption eines sog. „organic mo­ nism“115 dem Pantheismusvorwurf entgeht, ohne ein dezidiert personal bestimmtes Universum anzunehmen. Zu dieser Forschungsdiskussion ist festzuhalten, dass Schleiermacher in den Reden einerseits grundsätzlich keinen Pantheismus, sondern einen Panentheismus vertritt, indem er klar zwischen der Totalität alles endlichen Seins und dem Grund dieser Totalität, d.h. zwischen Welt und Weltgrund unterscheidet.116 Die Pointe des Universumsbegriffs ist also darin zu suchen, dass in ihm Welt und Weltgrund weder identifiziert noch voneinder getrennt werden, sondern vielmehr in ihrer konstitutiven Bezogenheit aufeinander verbunden sind.117 Herms bezweifelt, dass es Schleiermacher auf diese Weise gelingt einen konsistenten Religionsbegriff zu präsentieren und hält fest: „Diese Spannung zwischen einer kritischen Grenzziehung zwischen Endlichem und Unendlichem und ihrer Verwischung prägt exemplarisch den von den Reden zur Bezeichnung des Unendlichen gewählten Ausdruck ‚Universum‘“.118 Im Unterschied zu Herms stellen allerdings Ringleben119 und Ellsiepen120 die Stärke des Schleiermacherschen Universumsverständnisses in den Reden heraus. 113 

Hirsch, Geschichte IV, 302. Boyer, E., „Schleiermacher, Shaftesbury, and the German Enlightenment“, The Harvard Theological Review 96/2 (2003), 181–204. 115  Lamm, Living God, 31–44; 55. 116 Vgl. einschlägig Cramer, K., „‚Anschauung des Universums‘. Schleiermacher und Spinoza“, in: U. Barth/C. Osthövener (Hgg.), 200 Jahre „Reden über die Religion“. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft, Halle 14.–17. März 1999 (Schleiermacher-Archiv 19), 118–141. 117 Vgl. Ellsiepen, Anschauung, 364 f.: „Das ‚Unendliche‘ legt sich […] in die beiden Funktionen auseinander, einerseits die Ganzheitssphäre zu den endlichen Einzeldingen als dem Partikularen auszumachen, andererseits den Konstitutionsgrund zu den darin gesetzten Relationen selbst abzugeben.“ 118 Gegen Herms, Herkunft, 211 f.; Seifert, Theologie, 77–80 und Eckert, M., „Das Verhältnis von Unendlichem und Endlichem in Friedrich Schleiermachers Reden über die Religion“, Archiv für Religionsphilosophie 16 (1983), 22–56, hier: 51; 56. 119  Ringleben, „Die Reden über die Religion“, 244: „Diese Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit wird von Schleiermacher genuin dialektisch gedacht: beides sind nicht zwei Welten, wie man sich Diesseits und Jenseits vorstellt, sondern das Eine im Andern selbst, das Andere als Selbstunterschied des Ersten.“ 120  Ellsiepen, Anschauung, 364 f. (kursiv, C. K.): „[S]o kann man sagen, daß der Universumsbegriff der ‚Reden‘ der programmatische Verzicht einer terminologischen Distinktion von Einheitsdimension und Ganzheitsdimension des Unendlichen, von Gottesidee und Weltidee ist. Die sachlichen Äquivalente zu Gottes- und Weltidee lassen sich am Universumsbegriff […] bereits in der ersten Auflage der ‚Reden‘ durchaus festmachen, aber nur […] in deren ursprünglicher Korrelation. Gottesidee und Weltidee trotz terminologischer Distinktion stets als Korrelate zu fassen, daran hält Schleiermacher unerachtet aller Abgrenzungsversuche 114 

3. Inhalt

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In der vorliegenden Arbeit wird das soeben beschriebene Problem durch eine Analyse des Universumsbegriffs näher bestimmt. Es wird gezeigt, dass und inwiefern es Schleiermacher im Rahmen seiner Konzeption des wahren Unendlichen bereits in der Erstauflage der Reden gelingt, einen konsistenten Universumsbegriff zu präsentieren. Andererseits zeigt sich in den Reden eindeutig, dass Schleiermacher das Universum sowohl a-personal als auch personal beschreibt (KGA I/2, 244,18– 245,13). Die in der Forschung anzutreffende ausschließende Bestimmung des Universums entweder als „organic monism“ (Lamm) oder aber als göttliches Kunstwerk (Hirsch, Boyer) interpretiert den Text folglich zu eng. Vielmehr ist aufällig, dass Schleiermacher die a-personale bzw. personale Bestimmung des Universums an die willkürliche Tätigkeit der menschlichen Fantasie bindet und prinzipiell beide als adäquate Bestimmungen, genauer: als die beiden gleichwertigen Anschauungsarten des einen lebendigen Universums versteht.121 Ob die religiöse Anschauung des lebendigen Universums nun entweder personal oder a-personal durch die religiöse Fantasie vorgestellt wird, liegt nach Schleier­ macher an der jeweiligen Präferenz für den endlichen Bereich zur Wahr­ nehmung des Universums. Ist es die Natur, dann präferiert die Fantasie die a-personale Vorstellung einer schöpferischen Natur bzw. eines „organic monism“. Bildet sich die religiöse Anschauung eines Menschen im Rahmen einer Menschheitserfahrung, dann ist die Universumsvorstellung mit Zwecken und Absichten verbunden und manifestiert sich in der religiösen Fantasie als personales göttliches Wesen. Zweitens wird in der Forschung intensiv Schleiermachers Beschreibung des religiösen Bewusstseins vom Universum bzw. der epistemologische Status der sog. „Liebesszene“ in KGA I/2, 221,31–222,6 diskutiert. Grundsätzliche Einigkeit besteht darin, dass die „Liebesszene“ im Sachkontext von Schleiermachers Darstellung des „geheimnisvollen Augenblicks“ in KGA I/2, 220,29–223,19 steht. Wie Schleiermacher in der Beschreibung des „geheimnisvollen Augenblicks“ den unverfügbaren und lebendigen Grund des menschlichen Bewusstseinslebens insgesamt thematisiert,122 so beschreibt er in der „Liebesszene“ den genealogischen und sachlogischen Grund des religiösen Bewussteinslebens im Speziellen.123 In der „Liebesszene“ stellt Schleiermacher phänomenologisch sowohl die unmittelbare Entstehung des religiösen Bewusstseins als auch die sich darauf hin eingegen Spinoza-Vorwürfe über die Revision seiner ‚Reden‘ in den nachfolgenden Auflagen und die Glaubenslehre bis zu den Vorlesungen zur Dialektik fest.“ 121  Die Lebendigkeit des Universums ist nach Schleiermacher das entscheidende Charaktermerkmal seiner Unendlichkeit. In der Religion gelangt der Mensch zum Bewusstsein des Universums als des „ursprünglichen Unendlichen und Lebendigen“ (KGA I/2, 262,28 (kursiv, C. K.)). 122  KGA I/2, 221,20–24. 123  Vgl. KGA I/2, 222,8–14.

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Einleitung

stellende unmittelbare Ausdifferenzierung dieses religiösen Bewussteins in religiöse Anschauungen und Gefühle dar. Einige Interpreten fassen Schleiermachers darstellungstheoretische Problematisierung zu Beginn dieses Abschnitts, dass ein Reden über die Religion nur die religiösen Anschauungen und Gefühle getrennt benennen, nicht aber den ihnen vorausgehenden Einheitsgrund des religiösen Bewusstseins selbst direkt aufzeigen kann124, in einem starken Sinne als sachlogische Unmöglichkeit auf. Am schroffsten urteilt hierbei Huber, der in Schleiermachers Darstellung ein „Nest von Unklarheiten und Widersprüchen“125 findet: „Wie kann die Religion Anschauung und Gefühl sein und doch zugleich vor allem Gefühl und Anschauen liegen? Unmöglich kann beides im selben Mass und Umfang richtig sein; denn beide Seiten stehen in ausschließendem Gegensatz.“126 Andere Interpreten sehen zwar keinen Widerspruch in Schleiermachers Darstellung, halten aber fest, dass seine Beschreibung in der „Liebesszene“ keinem originär religiösen Erlebnis entspringen kann, sondern eine abstrakte, nachträgliche Konstruktion bilden muss.127 Überzeugendere Interpretationen verweisen auf die Konzeption und Aussagen der Reden selbst bezüglich der „Liebesszene“.128 Sie halten dementsprechend fest, dass zwar der unmittelbare Ursprung des religiösen Bewusstseins darstellungstheoretisch nicht eingefangen zu werden vermag, dies jedoch seine reale Existenz im religiösen Subjekt keineswegs ausschließt.129 Vielmehr entspringt gerade die Möglichkeit zur geschilderten darstellungstheoretischen Problematisierung einzig aus dem realen Bewusstsein eines ursprünglichen ungetrennten Beisammenseins von religiöser Anschauung und religiösem Gefühl im mensch­ lichen Bewusstsein.130 Die Problematik der notwendigerweise getrennten externen Darstellung von religiösen Anschauungen und Gefühlen muss folglich aus der notwendigen internen Wesensverfassung des religiösen Bewusstseins selbst erklärt werden. Es handelt sich in der „Liebesszene“ nicht bloß um ein darstel124 

Vgl. KGA I/2, 220,29–35. Huber, Entwicklung, 33. 126 A.a.O., 35. Vgl. ähnlich auch Kirn, O., Schleiermacher und die Romatik, Basel 1895, 29 f. 127  Flückinger, Theologie und Philosophie, 55; Siegfried, T., Das romantische Prinzip in Schleiermachers Reden über die Religion, Jena 1916. Vgl. auch Seifert, Theologie, 64. 128  Vgl. insbesondere KGA I/2, 222,13–29. 129  Otto, Über die Religion, 47; Fuchs, E., Vom Werden dreier Denker. Was wollten Fichte, Schelling und Schleiermacher in der ersten Periode ihrer Entwicklung?, Tübingen/Leipzig 1904, 371–373; Albrecht, Frömmigkeit, 127. 130 Vgl. Piper, Das religiöse Erlebnis, 49: „Der einheitliche religiöse Vorgang ist es, der das ‚Wesen der Religion‘ ausmacht. Von ihm aus ist überhaupt erst zu verstehen, was Schleiermacher unter Religion begreift. Er ist der eigentliche Mittelpunkt, um den alle Erörterungen der Reden kreisen, erst von hier aus bekommen alle Aussagen ihren rechten Sinn, an ihm sind sie zu prüfen. Anschauung und Gefühl waren ja noch in ihrer Vereinzelung Abstraktionen, hier steht das lebendige religiöse Erleben vor uns, das ja Ausgangspunkt und Ziel der Reden sein soll.“ 125 E.

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lungstheoretisches Scharnierstück131, sondern um den bewusstseinstheoretischen Wesenskern von Schleiermachers Religionsbegriff. Auf den Punkt bringt es Ringleben: „Da, wo Religion sich ausspricht, bezeugt sie ihre Erfahrung in Anschauungen und Gefühlen. Für beides gibt der Redner auch Beispiele. Aber die eigentliche Wirklichkeit der Religion liegt dieser Doppelheit reflektierter Unterscheidung voraus: unmittelbar erfahren wird etwas, in dem Anschauung und Gefühl, Ich und Universum ‚ursprünglich Eins und ungetrennt‘ sind“.132 Auf die Frage, was nach Schleiermachers Beschreibungen in den Reden der wesentliche Bewusstseinsinhalt der Religion ist, gibt es wiederum eine Variation an Antworten: Eine mögliche inhaltliche Interpretation der sog. „Liebeszene“ besteht darin, dass sich der Mensch, weil er in ihr von Schleiermacher als Seele und das Universum als Leib dieser Seele bezeichnet wird, in der Religion als absolute Macht erfährt, nach dessen Willen sich das ohnmächtige Universum zu fügen hat. Eine solche auf Genderüberlegungen beruhende Interpretation wurde von Beißer bereits angedeutet.133 Hartlieb hat sie ausgearbeitet und vertritt sie konsequent und exemplarisch in der neueren Schleiermacherliteratur.134 Genau das gegenteilige Verständnis der „Liebesszene“ hat sich allerdings in der Forschung als Konsens etabliert, nämlich als Beschreibung des religiösen Bewusstseinsinhalts als Gewissheit der radikalen Abhängigkeit des Menschen vom souverän handelnden Unendlichen.135 Dieses Verständnis kann sich sowohl auf eine gewichtige Stelle der Reden selbst stützen136 als auch darüber hinaus einschlägige Überlegungen aus Schleiermachers Frühschriften integrieren137. Piper und Albrecht halten hingegen fest, dass der Inhalt des religiösen Bewusstseins nach den Reden in einer bloßen Formbestimmung des Bewusstseins

131 

KGA I/12, XX,5 f. Ringleben, „Die Reden über die Religion“, 248. 133  Vgl. z.B. Beißer, Schleiermachers Lehre von Gott, 23. 134  Hartlieb, E., Geschlechterdifferenz im Denken Friedrich Schleiermachers, Berlin 2006, 262 f. 135 Deutlich Otto, West-Östliche Mystik, 327: „Frömmigkeit ist […] das Gegenteil von Souveränitätsgefühl. Frömmigkeit ist Andacht und Demut“. Nach Otto bildet das Bewusstsein dieser Demut bei Schleiermacher den „Fichteschen Stimmungsgegensatz“ (Ebd.). Vgl. auch Wehrung, Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, 127; Herms, Herkunft, 213; Beißer, Schleiermachers Lehre von Gott, 43; Albrecht, Frömmigkeit, 132; 177 f.; Claussen, J., „Ehrfurcht. Über ein Leitmotiv protestantischer Theologie und Frömmigkeit in der Neuzeit“, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie 48 (2006), 321–340. 136  „[…] die Religion athmet da, wo die Freiheit selbst schon wieder Natur geworden ist, jenseits des Spiels seiner besondern Kräfte und seiner Personalität faßt sie den Menschen, und sieht ihn aus dem Gesichtspunkt, wo er das sein muß was er ist, er wolle oder wolle nicht.“ (KGA I/2, 212,12–15) Vgl. auch KGA I/2, 236,22–237,18; 251,43. 137  Vgl. dazu insbesondere aus Spinozismus Schleiermachers Beschreibung der unendichen Substanz als göttlicher Kraft, die kategorial von jeder endlichen Kraft unterschieden ist, weil sie deren Grund bildet (einschlägig hier: KGA I/1, 554,30–556,4). 132 

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besteht.138 Das Charakteristische am religiösen Bewusstsein ist nach Albrecht nicht sein spezifischer Inhalt, sondern vielmehr, dass in ihm die formale Korrelativität von Subjekt und Objekt fundamental allererst ermöglicht wird.139 Hieraus schließt Albrecht mit Blick auf die Reden: „Das Wesen der Religion besteht darin, dass die für alles Wissen und Wollen fundamentalen Kategorien der Objektivität und der Subjektivität im religiösen Akt begründet und im religiösen Leben beansprucht werden.“140 Das Defizit dieses Ansatzes besteht nicht allein darin, dass mit dem Begriff der sog. „Uraffektion“141 die Einmaligkeit in der Bildung des religiösen Bewusstseins angenommen und damit die Kontinuität des Bildungsgeschehens des religiösen Bewusstseins vernachlässigt wird. Gravierender ist noch, dass Albechts Ansatz verkennt, dass Schleiermachers Beschreibung des geheimnisvollen Augenblicks sowohl für das sinnliche als auch für das religiöse Bewusstsein Geltung beansprucht.142 Die Korrelativität zwischen Subjekt und Objekt, d.h. das von Schleiermacher beschriebene Einssein zwischen menschlichem Sinn und seinem Gegenstand besteht nach den Reden folglich bereits im sinnlichen Bewusstseinsleben und wird nicht erst durch die Religion konstituiert. Hätte Albrecht mit seiner These Recht, dann würde Schleiermacher außerdem einen unüberbietbar starken Letztbegründungs138 Vgl. Piper, Das religiöse Erlebnis, 62: „Religion [ist, C. K.] freigemacht von jeder inhaltlichen Bestimmtheit – eine Thatsache, die noch lange nicht beachtet worden ist –, aber auf der anderen Seite ist doch durch diesen Formalcharakter viel gewonnen. An Stelle inhaltlicher Bestimmungen oder transzendentaler Begründungen macht dieser Formalismus Religion zu einem lebendigen Geschehen seelischen Lebens. Religion ist nicht Anschauen des Universums überhaupt oder Fühlen des Universums überhaupt, sondern Anschauen und Fühlen in der Form dieses Vorgangs.“ Piper richtet sich mit seinen Äußerungen explizit gegen Otto, Über die Religion, XXVI. 139  Albrecht, Frömmigkeit, 193: „Fassen wir nun abschließend die hier vorgelegte Interpretation von dem in den Reden ausgedrückten Wesen der Religion zusammen, so ist zu sagen: Das von Schleiermacher ins Auge gefaßte Wesen der Religion liegt nicht in einem partikularen Gegenstandsbereich der Religion oder in partikularen religiösen Inhalten, es ist auch nicht in speziellen begrifflichen Bildern oder in speziellen Reflexionsgestalten zu Hause. Auch in den kirchlichen oder gemeinschaftlichen Organisationsformen der Religion drückt es sich nur vermittelter Weise aus. Vielmehr muß man das Wesen der Religion in demjenigen Formprinzip suchen, das in allem überhaupt Seienden das wesenhaft voneinander Unterschiedene stabil aufeinander bezieht.“ 140  Albrecht, C., „Die Ermöglichung von Korrelativität: Religion als ‚Anschauung und Gefühl‘ in Schleiermachers zweiter Rede“, in: N. F. M. Schreurs (Hg.), „Welche unendliche Fülle offenbart sich da…“. Die Wirkungsgeschichte von Schleiermachers „Reden über die Religion“, Papers read at the Symposium of The Theological Faculty Tilburg, Tilburg 15 April 1999, Assen 2003, 45–60, hier: 55 (kursiv, C. K.). 141  Albrecht, Frömmigkeit, 131; 148; 142  „Jener erste geheinnisvolle Augenblick, der bei jeder sinnlichen Wahrnehmung vorkommt, ehe noch Anschauung und Gefühl sich trennen, wo der Sinn und sein Gegenstand gleichsam in einander gefloßen und Eins geworden sind […] ich wollte aber Ihr könntet ihn festhalten und auch in der höheren und göttlichen religiösen Thätigkeit des Gemüths ihn wieder erkennen.“ (KGA I/2, 221,20–26 (kursiv, C. K.))

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anspruch der Religion vertreten. Denn als Ermöglichungsbedingung von Korrelativität überhaupt, würde die Religion nicht etwa bloß den Vollzug der anderen Gemütsvermögen kritisch begleiten, sondern vielmehr letzgültig begründen. Dies steht in direktem Widerspruch zu Schleiermachers Religionskonzeption der Reden, demzufolge ein Mensch „alles mit Religion thun, nichts aus Reli­ gion“143 tun soll. Überzeugendere Ansätze unternehmen es, den Inhalt des religiösen Bewusstseins über die Entfaltung von Schleiermachers allgemeiner Anschauungsformel „alles Einzelne [hinzunehmen, C. K.] als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen “144 zu bestimmen. Dabei geht auf der einen Seite z.B. Eckert davon aus, dass für die religiöse Anschauung das Teil-Ganze-Verhältnis ausschlaggebend ist und es Schleier­ macher mit seiner Anschauungsformel grundsätzlich um die Beschreibung des Inhärenzverhältnisses des Endlichen im Unendlichen geht.145 Auf der anderen Seite vertreten z.B. Süskind und Dilthey die Ansicht, dass gerade nicht das Teil-Ganze-Verhältnis bei Schleiermacher das Entscheidende sei, sondern vielmehr komme dem Gedanken der endlichen Individualität als Darstellung des Unendlichen der Primat zu,146 und es Schleiermacher primär um Beschreibung des Manifestationsverhältnisses des Unendlichen im Endlichen geht.147 Cramer schließlich stellt Schleiermachers allgemeine Anschauungsformel unter einen generellen Sinnlosigkeitsverdacht,148 indem er die Frage aufwirft: Wenn mit dem Universum Gott gemeint ist, wie soll derselbe in den einzelnen Dingen sein?149 Meines Erachtens sind die aufgezeigten Ansichten als einseitig zu beurteilen: Die These der vorliegenden Arbeit besteht darin, dass Schleiermacher mit seiner allgemeinen Formel zwei unterschiedliche, jedoch zusammengehörende Sachverhalte beschreibt.150 Die zweite Aussage, dass „alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen“ erfahren wird, zeigt nur den spezifischen Modus des in der ersten Aussage prädizierten Teil-Ganze-Verhältnisses an. Das Verhältnis zwischen den beiden Teilaussagen auf den Punkt gebracht, kann man festhalten: In der religiösen Anschauung ist jedes Endliche ein Teil des Ganzen, indem es eine Darstellung des Ganzen bildet. Die ausführliche Entfaltung dieser Hin­ weise wird in vorliegender Arbeit geliefert. 143 

KGA I/2, 219,23 f. KGA I/2, 214,14 f. 145 Vgl. Eckert, „Das Verhältnis“, 39. 146  Süskind, Einfluß Schellings, 160 f. 147  A.a.O., 23; Dilthey, Leben Schleiermachers, 322 f. Vgl. auch Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 116. 148  Cramer, „Anschauung des Universums“, 134 f. 149  Ders., „Schleiermacher, Jacobi, Goethe und Spinoza“ in: V. Weibel (Hg.), Affektenlehre und armor Dei intellectualis. Die Rezeption Spinozas im Deutschen Idealismus, in der Frühromantik und in der Gegenwart, Hamburg 2012, 33–45, hier: 42. 150  Vgl. in Andeutungen auch Beißer, Schleiermachers Lehre von Gott, 41. 144 

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Drittens: Schleiermacher zeigt in den Reden auf, dass aus dem geheimnisvollen Augenblick im menschlichen Bewussstsein unmittelbar religiöse Anschauungen und Gefühle erwachsen. Das grundsätzliche Verhältnis zwischen religiöser Anschauung und Gefühlen wird in der Forschung ganz unterschiedlich bestimmt. Eine sachlich höhere Bedeutung der religiösen Anschauung gegenüber dem religiösen Gefühl betonen exemplarisch Flückinger151, Süskind152 und Fuchs153. Eine sachlich höhere Bedeutung des religiösen Gefühls betont hingegen Herms. Nach seiner Interpretation bezieht sich in den Reden das religiöse Gefühl auf einen anderen Gegenstands- bzw. Kategorienbereich als die religiöse Anschauung. Während es in der Anschauung um sinnliche Gegenstände geht und sie daher von Herms als „vermitteltes Gegenstandsbewusstsein“154 beschrieben wird, so bezieht sich das Gefühl auf den „Möglichkeitsgrund“ des Gegenstandsbezugs, weshalb es dementsprechend als „unmittelbares Realitätsbewußtsein“ beschrieben wird.155 Auf diese Weise ist das Gefühl laut Herms das grundlegende Einheitsbewusstsein aller reagierenden und rezipierenden Bewusstseinsakte und wird näher als „Gefühl der Anschauung“156 bestimmt. Diesen unterschiedlichen Interpretationsansätzen ist gemeinsam, dass sie die prinzipielle Gleichursprünglichkeit von religiöser Anschauung und religiösem Gefühl verkennen.157 Es geht Schleiermacher in den Reden nicht um die Darstellung eines Primats einer der beiden religiösen Bewusstseinsvollzüge, sondern vielmehr um ihr notwendiges Zusammenspiel im religiösen Bewusstseins­leben.158 Albrecht drückt es adäquat so aus, dass religiösen Anschauungen und Gefühle in einem sachlich notwendigen „Korrelatsverhältnis“159 zueinander stehen. Allerdings beinhaltet die Gleichursprünglichkeit und demenstprechende Gleichwertigkeit von religiöser Anschauung und religiösem Gefühl gleichwohl eine methodische Bevorzugung des religiösen Anschauungsbegriffs in den Reden.160 Prägnant ist dies von Adams benannt worden, der in diesem Fall von der 151 

Flückinger, Philosophie und Theologie bei Schleiermacher, 49. Süskind, Einfluß Schellings, 153. 153  Fuchs, Schleiermachers Religionsbegriff, 9. 154  Herms, Herkunft, 181. 155  A.a.O., 182. 156  Herms, E., „Religion, Wissen und Handeln bei Schleiermacher und in der Schleiermacher-Rezeption“, in: 200 Jahre „Reden über die Religion“, 142–166, hier: 161 f. 157  Nach Schleiermacher gilt jedoch eindeutig: „Anschauung ohne Gefühl ist nichts und kann weder den rechten Ursprung noch die rechte Kraft haben, Gefühl ohne Anschauung ist auch nichts“ (KGA I/2, 221,16–18). 158  Nach Schleiermacher steht fest: „[…] beide [d.h. Anschauung und Gefühl, C. K.] sind nur dann etwas, wenn und weil sie ursprünglich Eins und ungetrennt sind.“ (KGA I/2, 221,18 f.) 159  Albrecht, Frömmigkeit, 189. 160  „Anschauen des Universums, ich bitte Euch befreundet Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion, woraus Ihr jeden Ort in derselben finden könnt, woraus sich ihr Wesen und ihre Gränzen aufs genaueste bestimmen laßen.“ (KGA I/2, 213,34–37) 152 

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religiösen Anschauung als dem „senior partner“ 161 in Schleiermachers Reli­ gionskonzeption der Erstauflage der Reden spricht. Weitere Diskussionen bestehen in der Thematisierung der Veränderungen zwischen Anschauungsbegriff und Gefühlsbegriff in späteren Redenauflagen. Hierbei werden im Allgemeinen der sukzessive Rückgang des Anschauungs­ begriffs gegenüber dem Gefühlsbegriff in Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewusstseins benannt und dessen Gründe diskutiert.162 Eine weitere Fragestellung ergibt sich aus der Diskussion um die mögliche geistesgeschichtliche Abhängigkeit von Schleiermachers religiösem Anschauungsbegriff. In diesem Zusammenhang werden insbesondere die Konzeptionen der intellektuellen Anschauung von Schelling und Fichte auf der einen Seite163 und auf der anderen Seite Spinozas scientia intuitiva als systematische Vorbilder ins Feld geführt164. Diese Versuche werden in der Forschung von Beginn an kritisch rezipiert.165

161  Adams, R. „Faith and religious knowledge“, in: J. Mariña (Hg.), The Cambridge Companion to Friedrich Schleiermacher, Cambridge 2005, 35–52, hier: 36. 162  Vgl. E. Huber, Entwicklung, 55–59; 64–66; Hirsch, Geschichte V, 559; Otto, West-Östliche Mystik, 339; Schultz, W., „Schleiermachers Theorie des Gefühls und ihre theologische Bedeutung“, Zeitschrift für Theologie und Kirche 53 (1956), 75–103, hier: 78; Graf, „Koinzidenz“, 158–177. 163 Vgl. Lipsius, „Schleiermachers Reden“, 147; E. Huber, Entwicklungen, 36–38; Fuchs, Stellung, 49; Hirsch, Geschichte IV, 504–517; Grove, Deutungen, 202–204; Ders., „‚Immer schaue in dich selbst, wisse was du tust‘. Intellektuelle Anschauung bei Schleiermacher“, in: D. Schmid/M. Pietsch (Hgg.), Geist und Buchstabe. Interpretations- und Transformationsprozesse innerhalb des Christentums. Festschrift für Günter Meckenstock, Berlin/Boston 2013, 179–198. 164  Dierken, J., „‚Daß eine Religion ohne Gott besser sein kann als eine andre mit Gott‘. Der Beitrag von Schleiermachers ‚Reden‘ zu einer nichttheistischen Konzeption des Absoluten“, in: 200 Jahre „Reden über die Religion“, 668–684, hier: 675 f.; Adriaanse, H., „Schleiermachers ‚Reden‘ als Paradigma der Religionsphilosophie“, in: 200 Jahre „Reden über die Religion“, 100–117, hier: 112; Barth, U., „Die Religionstheorie der ‚Reden‘. Schleier­ machers theologisches Modernisierungsprogramm“, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 259–270 (siehe aber auch Barths neue Beurteilung in: Barth, U., „Was heißt ‚Anschauung des Universums‘?. Spinozanische Hintergründe von Schleiermachers ­Jugendschrift“, in: ders., Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 222–244, hier: 238); Ellsiepen, Anschauung, 419 f. und Timm, H., Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit, Bd. 1: Die Spinozarenaissance, Frankfurt a. M. 1974, 275–338. 165  Vgl. gegen die intellektuelle Anschauung Fichtescher oder Schellingscher Provenienz: Hertel, F., Das theologische Denken Schleiermachers untersucht an der 1. Auflage seiner „Reden über die Religion“, Zürich/Stuttgart 1965, 183–198; Süskind, Einfluß Schellings, 51–56; 104 f.; Herms, Herkunft, 252–256; Meckenstock, „Auseinandersetzung“, 33; Ellsiepen, Anschauung, 289–291; Seysen, C., „Die Rezeption des Atheismusstreits bei F. Schleiermacher“, in: K. Kodalle/M. Ohst (Hgg.), Fichtes Entlassung. Der Atheismusstreit vor 200 Jahren, Würzburg 1999, 175–190. Vgl. auch allgemein Link, H., „Zur Fichte-Rezeption in der Frühromantik“, in: R. Brinkmann (Hg.), Romantik in Deutschland. Ein interdisziplinäres Symposion, Stuttgart 1978, 355–368. Gegen die Abhängigkeit des Schleiermacherschen Anschauungsbegriffs von Spinozas scientia intuitiva einschlägig: Süskind, Einfluß Schellings, 103; Cramer, „Anschauung des Universums“, 140 f.

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Einleitung

Gegen beide Versuche spricht grundsätzlich, dass die Konzeption der intellektuellen Anschauung auf die Grundbedingung bzw. die Urform jeder vernünftigen Einsicht abzielt, mit Spinozas scientia intuitiva hingegen die Höchstform vernünftiger Einsicht thematisiert wird. Beide Versuche der geistesgeschichtlichen Rückführung von Schleiermachers Anschauungsbegriff führen zu einer Intellektualisierung der Religion und damit gerade zu dem, was Schleiermacher am Dringlichsten verhindern wollte – zu einer Reduktion der Religion auf Metaphysik. Einschlägiger als die Frage nach der geistesgeschichtlichen Abhängigkeit des Religionsbegriffs der Reden erweist sich die Diskussion, ob Schleiermachers Konzeption der religiösen Anschaung deutungstheoretisch oder offenbarungstheoretisch aufzufassen ist. Hier stehen sich in der Forschung zwei unnachgiebige Ansichten gegenüber. Im Zentrum stehen dabei die prima facie einander sich gegenseitig ausschließenden Alternativen, ob man bei der religiösen Anschauung entweder deren vom Eindruck unabhängige Eigenaktivität betont und sie dementsprechend als autonom verfahrende Interpretationsleistung bzw. deutende Tätigkeit des Subjekts auffasst,166 oder, ob man ihre Abhängigkeit vom geheimnisvollen Augenblick im menschlichen Bewusstsein hervorhebt und sie demgemäß als ein passives Widerfahrnis begreift.167 Ob also eine deutende Tätigkeit des religiösen Subjekts konstitutiv ist zur Entstehung von religiösen Anschauungen, oder ob sich das Universum durch sein Offenbarungshandeln im religiösen Subjekt selbst zur Anschauung bringt. Ein zentrales Ziel der vorliegenden Arbeit ist es dabei zu zeigen, dass sowohl der offenbarungstheoretische als auch der deutungstheoretische Ansatz an sich genommen beschränkt einseitig ist. Die unversöhnliche Front zwischen beiden Interpretationsansätzen soll durch die Darstellung der bei Schleiermacher im166 O. Ritschl, Stellung, 46–59; Fuchs, Schleiermachers Religionsbegriff, 37–41; Barth, U., „Was ist Religion? Sinndeutung zwischen Erfahrung und Letztbegründung“ und „Theoriedimensionen des Religionsbegriffs“, jeweils in: ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 3–28; 29–88; Ders., „Was heißt ‚Anschauung des Universums‘?“, 240–244; Grove, Deutungen, 343–349; Glatz, Religion und Frömmigkeit, 188; Ellsiepen, Anschauung, 369–381; eine Extremposition in dieser Hinsicht vertritt sicherlich: Brandt, R., The Philosophy of Schleiermacher: The Developement of his Theory of Scientific and Religious Knowledge, New York 1941, insbesondere: 101–117. 167  Vgl. in Auswahl: E. Huber, Entwicklung, 23–25; Piper, Das religiöse Erlebnis, 65; Redeker, Friedrich Schleiermacher, 58 f.; Welker, K. E., Die grundsätzliche Beurteilung der Religionsgeschichte durch Schleiermacher, Leiden/Köln 1965 (zugl. Diss. Univ. Bonn), 9; 41–99; Crouter, R. E., „Introduction“, in: ders. (Hg.), F. D. E. Schleiermacher, On Religion: Speeches to its Cultural Despisers, Cambridge 2.  Aufl. 1996, xi–xxxix; Wenz, G., Sinn und Geschmack fürs Unendliche. F. D. E. Schleiermachers Reden über Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. 3), München 1999, 12; 39; 42; 50; Andrejc, G., „Bridging the Gap between Social and Existen­t ialMystical Interpretations of Schleiermacher’s ‚Feeling‘“, in: Religious Studies 48/3 (2012), 377–401.

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plizit vorliegenden Bildtheorie aufgebrochen und beide Ansätze in ihrem relativen Geltungsanspruch miteinander versöhnt werden. Die Leitthese ist dabei, dass der Ursprung der religiösen Anschauung sich der bildhaften Selbstmanifestation des Universums im menschlichen Subjekt verdankt und sich zugleich jede dieser passiv empfangenen religiösen Anschauungen dem aktiv-deutenden Zugriff des Subjekts gegenüber als offen erweist. Dass also das ursprüngliche Offenbarungshandeln des Universums in sich selbst bereits die Möglichkeiten und Grenzen einer sich daran anschließenden Deutung durch das religiöse Subjekt birgt. Die aufgezeigte Thematik leitet zu dem nächsten Themenkomplex der Forschung über: Wie verhalten sich die religiösen Anschauungen zur religiösen Fantasie und den religiösen Dogmen? Im Zentrum stehen bei der Behandlung der religiösen Fantasie die Frage nach dem Stellenwert der Gottesanschauung in den Reden und damit zusammenhängend die Verhältnisbestimmung von reli­ giöser Anschauung und religiöser Vorstellung, sowie Schleiermachers Problematisierung des personalistischen Gottesbegriffs.168 Deutlich wird, dass die religiöse Fantasie sich sowohl von der religiösen Anschauung als auch von der religiösen Reflexion nach Schleiermacher unterscheidet. Sie nimmt eine Mittelstellung ein. Die religiöse Anschauung ist ein unmittelbar-unwillkürlicher Inhalt des religiösen Bewusstseins, während die religiöse Fantasie ein unmittelbar-willkürliches Produkt des religiösen Bewusstseins darstellt. In Bezug auf die religiösen Dogmen handelt es sich nach Piper um der Reli­ gion wesensfremde, wenn nicht gar verfälschende Produkte des menschlichen Wissens.169 Seine Interpretation verwechselt allerdings Schleiermachers Beschreibung der religiösen Dogmen als sekundärer religiöser Phänomene mit seiner prinzipiellen Kritik an einer Selbstüberschätzung menschlicher Spekula­ tion, die sich für religiös hält, ohne es zu sein.170 In den Reden vertritt Schleiermacher keineswegs eine grundsätzliche Ablehnung der religiösen Dogmen, die von ihm vielmehr als Funktion des religiösen Bewusstseins für „notwendig 168  Lipsius, „Schleiermachers Reden“, 173; E. Huber, Entwicklung, 46; 66–68; Fuchs, Schleiermachers Religionsbegriff, 45–51; Seifert, Theologie, 80–82; Christ, F., Menschlich von Gott reden. Das Problem des Anthropomorphismus bei Schleiermacher, Einsiedeln/Köln/Gütersloh 1982; Grove, Deutungen, 358–367. 169  Piper, Das religiöse Erlebnis, 70: Nach Schleiermacher „ergibt sich vom Erlebnis her sogleich die Notwendigkeit, alle Dogmen, Lehrsätze und Begriffe aus der Religion hinauszuweisen […]. Sie sind ja nichts Unmittelbares […]. Wenn er gewisse Elemente der Dogmatik, wie Wunder, Eingebungen und Gnadenwirkungen in der Religion gelten lassen will, so doch nicht als Begriffe, sondern als persönliche Akte.“ Piper urteilt abschließend, dass vom religiösen „Erlebnis aus die Dogmen auf hören, als solche irgend eine Bedeutung zu behalten.“ (A.a.O., 71) Vgl. auch a.a.O., 73. 170  Auch Seiferts Ansicht, dass Schleiermacher in den Reden eine vollständige Abwendung „von aller metaphsischen Spekulation“ vollzieht (Seifert, Theologie, 80) verfehlt das von Schleiermacher anvisierte differenzierte Verhältnis zwischen der religiösen Anschauung als dem inhaltlichen Grund und der wissenschaftlichen Spekulation als der spezifischen Form der religiösen Dogmen.

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erachtet“ werden.171 Hertel ist insofern Recht zu geben, wenn er zeigt, dass die Religionstheorie der Reden zwar nicht philosophisch begründet ist,172 aber dennoch in sich selbst die Möglichkeit zur Entfaltung mittels philosophischer Begriffe bietet.173 Allein gegen eine sich als religiös missverstehende oder ihre eigenen Erkenntnisgrenzen unwissend überschreitende Spekulation des menschlichen Denkens richtet sich Schleiermacher mit seiner Polemik gegen eine sog. „leere Mythologie“174. Die religiösen Dogmen sind nach Schleiermacher ihrem Wesen nach Ausdruck einer „freien Reflexion“175 im religiösen Bereich. Religiöse Dogmen sind demnach als das Ergebnis mittelbar-willkürlicher religiöser Begriffsbildungen aufzufassen und sowohl von den unmittelbar-unwillkürlichen religiösen Anschauungen als auch von den willkürlich-unmittelbaren religiösen Vorstellungen der menschlichen Fantasie spezifisch zu unterscheiden. Die vorliegende Arbeit soll zeigen, dass es sich bei der Konzeption religiöser Dogmen in den Reden um den Vorgang der reflexiven Selbstthematisierung der Religion im Rahmen der endlichen Begriffsbestimmungen und auf der Grundlage religiöser Anschauungs- und Vorstellungsinhalte handelt. Die Thesen dieses Abschnitts zusammengefasst: Schleiermachers Religionsbegriff wurzelt in seinem Bildungsverständnis menschlicher Subjektivität. Im menschlichen Bildungsgeschehen nimmt die Religion einen Sonderstatus ein, der nicht darin besteht, die anderen Gemütsvermögen inhaltlich zu begründen, sondern formal kritisch zu begleiten. Dieser gemütsinterne Sonderstatus gründet auf dem Inhalt des religiösen Bewusstseins, der von Schleiermacher epistemologisch als Koinzidenz von Anschauen und Fühlen des Unendlichen im Endlichen näher beschrieben wird. Ontologisch wird diese Erfahrung des Universums im Endlichen möglich, weil das Universum von Schleiermacher als wahre Unendlichkeit, d.h. als in sich differenzierte Einheit seiner selbst und des Endlichen bestimmt wird. Der religiösen Anschauung kommt dabei eine methodische Vorrangstellung vor dem religiösen Gefühl zu. Bei ihr handelt es sich um keinen menschlichen Deutungsvorgang, sondern um eine bildhafte Selbstmanifestation des Universums im menschlichen Bewusstsein. Von der religiösen Anschauung sind auf unmittelbar-willkürliche Weise die religiöse Fantasie und auf mittelbar-willkürliche Weise die religiöse Begriffsbildung unterschieden.

171 

KGA I/2, 214,34–215,3. Gegen Flückinger, Philosophie und Theologie, 49–63. 173  Hertel, Denken, 21. 174  KGA I/2, 214,36; 215,1. 175  KGA I/2, 239,34 (kursiv, C. K.). 172 

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2.  Einordnung in die Forschungslage zur Vielfalt der Religionen in den ‚Reden‘ Die bisherige Diskussionslage bezog sich auf den kritischen Religionsbegriff bzw. das Wesen der Religion in den Reden. Die folgenden Forschungsdebatten laufen entlang der Frage: Wie tritt dieses Wesen in Erscheinung bzw. auf welche Weise manifestiert sich der Religionsbegriff nach Schleiermacher in Zeit und Geschichte? Hierbei sind drei Forschungsschwerpunkte einschlägig: Erstens die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Religionsbegriff und religiöser Vielfalt (2.1.). Zweitens Schleiermachers religionstheologische Beschreibung der positiven Religionen (2.2.) und drittens die Thematisierung der Religionsgeschichte in den Reden anhand von Judentum und Christentum (2.3.). 2.1.  Mit seiner 5. Rede tritt Schleiermacher in eine neue Auseinandersetzung mit den gebildeten Religionsverächtern. Ihm zufolge gilt es dabei „ein neues Geschäft auszurichten, und einen neuen Widerstand zu besiegen.“176 Denn, so fährt er fort: „Ich will Euch gleichsam zu dem Gott, der Fleisch geworden ist hinführen; ich will Euch die Religion zeigen, wie sie sich ihrer Unendlichkeit entäußert hat, und in oft dürftiger Gestalt unter den Menschen erschienen ist; in den Religionen sollt ihr die Religion entdeken“.177 In der Forschung wird diese Ankündigung Schleiermachers zum Anlass genommen nicht allein das sachlogische Verhältnis zwischen dem Religionsbegriff und seinen endlichen Erscheinungen, sondern auch, um den innertextlichen Zusammenhang zwischen Schleiermachers 2. und 5. Rede zu untersuchen. Dabei ergeben sich drei mögliche Zuordnungen: Entweder wird ein unbestimmtes Nebeneinander von beiden Reden kritisch konstatiert,178 oder es wird hervorgehoben, dass die 2. Rede sachliche Priorität besitzt, da sie als geistiges Zentrum der Reden die 5. Rede begründet. Exemplarisch ist hier das Urteil Bleeks, demzufolge die 5. Rede in begründungstheoretischer Abhängigkeit von der 2. Rede steht und dieser folglich unterzuordnen ist. Das Wesen der Religion werde in der 2. Rede bestimmt und von Schleiermacher in der 5. Rede in Form einer allgemeinen, natürlichen Religion wieder eingeführt.179 Ähnlich kritisch urteilt in diesem Zusamenhang auch Gundolf.180 Umgekehrt bildet nach A. Ritschl181 und O. Ritschl die 5. Rede das geistige Zentrum der Reden, von welchem die 2. Rede sachlogisch abhängig ist. Der Sinn der Reden besteht nach O. Ritschl für Schleiermacher in der Darstellung des Christentums. Deshalb 176 

KGA I/2, 294,14 ff. KGA I/2, 294,15–18 (kursiv, C. K.). 178  Wehrung, Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, 117. 179  Bleek, A., Die Grundlagen der Christologie Schleiermachers, Freiburg 1898, 125 ff.; 130 ff. 180  Gundolf, F., „Schleiermachers Romantik“, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur und Geisteswissenschaft 2 (1924), 418–509, hier: 450. 181  A. Ritschl, Schleiermachers Reden, 4. 177 

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müsse die 2. Rede konsequent von der 5. Rede her gedeutet werden.182 Kritik an O. Ritschls Position hat bereits Wendland geäußert.183 Das fundamentale Problem aller dieser Darstellungen besteht darin, dass sie eine der beiden Reden exklusiv als Zentrum der Redeninterpretation ansehen und von diesem Standpunkt aus die jeweils andere Rede und den mit ihr verbundenen sachnotwendigen Aspekt von Schleiermachers Religionskonzeption für untergeordnet oder gar unbedeutend erklären. Differenzierter und die heutige Forschungslage stärker prägend ist hier Seiferts Position. Ihm zufolge sind die 2. und die 5. Rede gleichwertig, indem ihnen jeweils eine spezifische Bedeutung für Schleiermachers Religionskonzeption insgesamt zukommt. Beide Reden thematisierten unterschiedliche aber sachnotwendig zuammengehörende Momente des einen Religionskonzepts der Reden. Die 2. Rede behandelt das spekulative Wesen der Religion, die 5. Rede die historische Erscheinung dieses Wesens. Spekulation und Historie gehören bei Schleiermacher aber notwendigerweise zusammen und bilden erst gemeinsam die adäquate Herangehensweise zur Beschreibung der religiösen Wirklichkeit.184 Eine Argumentation der auch Ringleben und Glatz folgten.185 Seifert hält hingegen fest, dass der Interpretation der 5. Rede methodisch ein höheres Gewicht zukommt. Der gemeinsame Zielpunkt beider Reden ist nach Seifert die Wirklichkeit der Religion und diese wird ihm zufolge prägnanter in der 5. Rede behandelt.186 182 

O. Ritschl, Stellung, 29–36. Wendland, Entwicklung Schleiermachers, 149: „[…] als ob die Reden erst von der 5. Rede aus zu verstehen seien und alles Vorhergehende nur als Vorbereitung für die Rede über das Christentum gemeint sei.“ 184  „Die Besonderheit der Methode, welche der Redner anwendet, liegt in der Verbindung von zwei verschiedenen Wegen, die nicht nebeneinander herlaufen, sondern konvergieren. Beide Arten der Betrachtung, die spekulative wie die historische, haben ihre notwendige Bedeutung für die gesamte Argumentation, und so stehen auch die Zweite und Fünfte Rede als typischer Art für die Anwendung der einen bzw. der anderen Methode zunächst völlig geleichberechtigt nebeneinander im Rahmen des Gesamtwerks.“ (Seifert, Theologie, 186). Vgl. dazu KGA I/2, 198,16–24: „Jede Äußerung, jedes Werk des menschlichen Geistes kann aus einem doppelten Standpunkte angesehen und erkannt werden. Betrachtet man es von seinem Mittelpunkte aus nach seinem innern Wesen, so ist es ein Produkt der mensch­ lichen Natur […] betrachtet man es von seinen Gränzen aus, nach der bestimmten Haltung und Gestalt, die es hie und dort angenommen hat, so ist es ein Erzeugniß der Zeit und der Geschichte.“ 185  Ringleben, „Die Reden über die Religion“, 258; Glatz, Religion und Frömmigkeit, 241. 186  „Die Deutung muß ausgehen von dem Konvergenzpunkt der beiden Linien, die Religion als Idee (das Wesen) und Religion als Geschichte (die Erscheinung) genannt wurden. Dieser Konvergenzpunkt: Religion als Bestimmtheit (die Wirklichkeit) liegt dem rhetorischen Auf bau des Buches entsprechend in der Fünften Rede am deutlichsten zutage. Insofern hat diese ihr besonderes Gewicht – sie enthält das Deutungszentrum als Ziel der beiden Wege. Dies Ziel ist Schleiermachers Verständnis des Christentums“. (Seifert, Theologie, 187) Vgl. auch Ringleben, „Die Reden über die Religion“, 253–255. 183 

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Allerdings erfolgt bei Seifert mit seiner starken Fokussierung auf Schleiermachers Beschreibung des Christentums eine Inhaltsreduktion der 5. Rede. Dadurch übersieht er die religionstheologische Dimension von Schleiermachers Ansatz. Schleiermacher geht es in den Reden eben nicht allein um das Christentum, sondern präzise um die Darstellung und Verortung des Christentums im Zusammenhang der Religionsgeschichte. Nach den Reden stellt nicht allein das Christentum die Religion in ihrer Wirklichkeit dar,187 sondern vielmehr bildet die prozessuale Teleologie der positiven Religionen insgesamt, d.h. die Religions­ geschichte, die Verwirklichungsdimension des Religionsbegriffs. Ein weiteres Defizit der Darstellung von Seifert besteht darin, dass ihm, indem er das Wesen der Religion mit dem Christentum selbst gleichsetzt, der Blick für Schleiermachers Begründung der Religionsvielfalt aus dem Religionsbe­g riff verstellt ist.188 Damit entgeht seinem Ansatz eine entscheidende Pointe der 5. Rede. Schleiermachers Ansatz, demzufolge man in den Religionen die Religion entdecken soll, beinhaltet ein Zweifaches: Erstens soll gezeigt werden, dass die Vielfalt der Religionen ein konstitutives Moment des Religionsbegriffs selbst darstellt. Zweitens zeigt Schleiermacher auf, dass sich die ganze Religion nur in Form sämtlicher positiver Religionen zu manifestieren vermag.189 Andere Interpreten sind in diesen beiden Punkten präziser als Seifert. So hält z.B. Rohls fest, dass Schleiermacher „die Pluralität der geschichtlichen Religionen als Inkarnation der Religion überhaupt interpretiert. Die Notwendigkeit der Pluralität der Religionen ergibt sich dabei aus der Annahme, daß die Religion unendlich, der Mensch aber endlich ist, so daß kein Mensch die Religion ganz haben kann, sondern sie sich notwendigerweise individualisieren muß.“190 Ebenso wie Rohls untersuchen auch exemplarisch Süskind191 und Welker192 die Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Religionsbegriff, wobei sie in diesem Zusammenhang stärker auf die fundamentale Bedeutung des religiösen Anschauungsbegriffs rekurrieren. Die ganze Religion bzw. der Religionsbegriff kann ihnen zufolge nach Schleiermacher nur in der Totalität der religiösen Anschauungen existieren. Diese Menge ist Schleiermacher zufolge aber ihrem Wesen nach unendlich.193 Denn die religiösen Anschauungen können als bestimmte Anschauungen des Unendlichen im Endlichen für sich das Unendliche nicht vollständig erfassen. Religion manifestiert sich folglich notwendigerweise 187  A.a.O.,

183–186. A.a.O., 183. 189  KGA I/2, 303,36 f. 190  Rohls, J., „‚Das Christentum‘. Die Religion der Religionen?“, in: A. Arndt/U. Barth/ W. Gräf (Hgg.), Christentum – Staat – Kultur. Beiträge des Schleiermacher-Kongresses 26.–29.3. 2006, Berlin/New York 2008, 62 f. 191  Süskind, H., Christentum und Geschichte bei Schleiermacher. Die geschichtsphilosophischen Grundlagen der Schleiermacherschen Theologie, Tübingen 1911, 20 ff. 192  Welker, Beurteilung, 110; 133 f. 193  Vgl. auch Piper, Das religiöse Erlebnis, 96 f. 188 

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plural. Hinzu kommt, dass nach Schleiermacher die Religion eines Menschen kein bloßes Aggregat religiöser Anschauungen darstellt,194 sondern sich um eine religiöse Zentralanschauung gruppiert, welche den Einzelanschauungen allererst Ordnung und Zusammenhang verleiht.195 Die ganze Religion existiert somit nur vollständig, wenn sämtliche religiöse Anschauungen in jeder möglichen Ordnung unter allen möglichen religiösen Zentralanschauungen manifestiert sind. Der von Süskind für die Reden insgesamt festgehaltene allgemeine „Gedanke der unendlichen Individualisation des Unendlichen in seinen endlichen Erscheinungen“196 findet in Schleiermachers Religionstheologie dahingehend seine spezifische Ausprägung, dass sich die ganze Religion sachnotwendig in der Totalität wahrer Religionsindividuen manifestiert.197 Mit dieser Beschreibung sind in der Forschung insbesondere zwei weitere Diskussionsbereiche eng verknüpft: Zum einen stellt sich die Frage nach der Entstehung der religiösen Zentral­ anschaungen. Der Forschungsmainstream fasst Schleiermachers Beschreibung, derzufolge die religiösen Zentralanschauungen das Ergebnis einer „freien Willkür“198 darstellen, in dem Sinne auf, dass sie durch eine nachträgliche produktive Konstruktion des religiösen Subjekts gebildet werden und „einen Akt der Wahl“199 darstellen.200 Diese konstruktivistischen Ansichten übersehen, dass Schleiermachers religionstheologischem Konzept zufolge erstens die religiöse Zentralanschauung keineswegs nachträglich, sondern vielmehr notwendigerweise allen einzelnen reli­ giösen Anschauungen vorausgeht.201 Deswegen entgeht ihnen zweitens, dass Schleiermacher mit der „freien Willkür“ nicht etwa eine produktive Konstruktionsleistung des religiösen Subjekts meinen kann, sondern sich zwingend auf eine objektive Willkür beziehen muss.202 Allein eine durch das Universum selbst hervorgebrachte Zentralanschauung vermag die vom Menschen nicht erfassbare ganze Religion in eine wahrhafte Individualform zu bringen.203 194 

KGA I/2, 299,26–301,32. KGA I/2, 303,23–304,15. Vgl. Hirsch, Geschichte IV, 531. Grundsätzliche Kritik gegen Schleiermachers Vorgehen bringt A. Ritschl vor (A. Ritschl, Schleiermachers Reden, 10 f.). 196  Süskind, Christentum und Geschichte, 13. 197  KGA I/2, 303,36–304,15. 198  KGA I/2, 303,25. 199  Ricken, F., Religionsphilosophie (Grundkurs Philosophie 17), Stuttgart 2003, 187. 200  Dilthey, Leben Schleiermachers, 421; Wehrung, Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, 181; Piper, Das religiöse Erlebnis, 74 f.; Flückinger, Philosophie und Theologie, 47 f.; Ellsiepen, Anschauung, 396; Schröder, M., „Das ‚unendliche Chaos‘ der Religion. Die Pluralität der Religionen in Schleiermachers Reden“, in: 200 Jahre „Reden über die Religion“, 585–608, hier: 601; Beckmann, K., Die fremde Wurzel. Altes Testament und Judentum in der Evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2002, 35; Glatz, Religion und Frömmigkeit, 244. 201  Vgl. auch Hirsch, Geschichte IV, 532 f.; Seifert, Theologie, 157 202  KGA I/12, 265,12–14. 203  Vgl. KGA I/2, 301,7 f. Vgl. auch Piper, Das religiöse Erlebnis, 74 f.; Seifert, Theologie, 157. 195 

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Zum anderen muss nach Schleiermacher zwischen der religiösen Zentralanschauung selbst und dem Umstand und Zeitpunkt ihrer geschichtlichen Entstehung unterschieden werden. Diese Unterscheidung hat in der Forschungsliteratur dazu geführt, Schleiermacher eine strikte Trennung beider Sachverhalte zu unterstellen. Der Vorwurf lautet, Schleiermacher setze die geschichtliche ­Dimension der Entstehung einer religiösen Zentralanschauung gegenüber ihrem ideellen Gehalt herab. Exemplarisch können hier die Interpretationen von A. Ritschl, Bleek und Haym angeführt werden. Ihnen zufolge führt diese Unterschlagung in den Reden letztlich zu einer indirekten Aufwertung der natür­ lichen Religion.204 Nach Haym müssen in den Reden „die so, unter Beisetzung des Historischen, unternommenen Beschreibungen der verschiedenen positiven Religionen […] nothwendig unklar und willkürlich bleiben.“205 Auch Schröder sieht ein Problem darin, dass Schleiermacher in seiner Beschreibung des Christentums „weitgehend von der historischen Dimension“ „[a]bstrahiert“ und dadurch die Gefahr droht, „das Christentum zu einer zeitlosen Idee“ zu machen.206 Gegen diese Ansichten ist festzuhalten, dass Schleiermachers benannte Unterscheidung keineswegs als eine Trennung von Gedanke und Geschichte bzw. ideellem Gehalt und ursprünglicher historischer Gestalt der religiösen Zen­ tralanschauung anzusehen ist. Vielmehr bildet jede positive Religion ihm zufolge gerade die in sich differenzierte Einheit einer notwendigen Bezogenheit ihres historischen Ursprungs bzw. ihres äußeren impulsstiftenden Anfangspunkts und dem inneren religiösen Gehalt dieses historischen Urimpulses. Denn nach Schleiermacher existiert jede positive Religion in dem lebendigen Zusammenspiel ihrer äußeren Einheit bzw. ihrer „Schule“ in Bezug auf ihren historischen Ursprung und ihrer inneren Einheit in Bezug auf eine bestimmte religiöse Zen­ tralanschauung.207 Weitgehende Einigkeit herrscht in der Forschung hingegen bezüglich Schleiermachers Kritik an der natürlichen Religion, wobei die mit den Reden religionsgeschichtlich einsetzende Hochschätzung der positiven Religionen als lobenswert herausgestrichen wird.208 204 

A. Ritschl, Schleiermachers Reden, 6; Bleek, Christologie, 124. Haym, Die Romantische Schule, 439. 206  Schröder, „Das ‚unendliche Chaos‘“, 607. Vgl. auch Wehrung, Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, 185 f.; Beißer, Schleiermachers Lehre von Gott, 51 f. 207  KGA I/2, 313,6–13. 208 Vgl. KGA I/2, 308,33–311,23. Prägnant Seifert, Theologie, 152 f.: „Damit wendet Schleiermacher […] die Betrachtung seiner Zeit in ihr genaues Gegenteil. In Lessings Satz über die Vernunftwahrheit und Geschichtswahrheit, in Kants Religionsphilosophie und noch in Fichtes bekannter späterer These über das Verhältnis des Metaphysischen zum Historischen, wo es die Seligkeit gilt, geht eine einheitliche Linie durch die Religionsansicht der Zeit. Der Gedanke dominiert über die Geschichte. Charakteristischer Ausdruck dieser Tendenz ist die Konstruktion der ‚natürlichen Religion‘, die mit dem ‚vernünftigen Christentum‘ identifiziert wird. Will der Redner daher das Verhältnis von Gedanke und Geschichte in der Religion neu bestimmen, sieht er sich genötigt, dieser Tendenz entgegenzutreten. 205 Gegen

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2.2.  Im Zusammenhang mit Schleiermachers Bestimmungen der positiven Religionen in den Reden wurde in der Forschungsgeschichte die zentrale Frage erörtert, ob nach diesen Bestimmungen eine Hierarchisierung der geschichtlichen Religionen überhaupt möglich ist. Wenn die ganze Religion sich nur in der Totalität sämtlicher positiver Religionen zu verwirklichen vermag, sind dann nicht zwangsläufig alle positiven Religionen gleichwertig und deren Geltungsansprüche folglich nicht hierarchisierbar? Prägnanz gewann dieses Problem durch die forschungsgeschichtliche Unterscheidung zwischen einer sog. ästhetischen und einer sog. teleologischen Auffassung der Religionsgeschichte in den Reden.209 Man sah in den Reden beides am Werk: Die ästhetische Auffassung begreift die Religionsgeschichte als einen horizontalen Verwirklichungsprozess aller möglichen positiven Religionen. Religionsgeschichte in ästhetischer Auffassung ist quasi die quantitative Auffächerung des Religionsbegriffs. Ihre Vertreter betonen daher insbesondere die Bedeutung von religiöser Individualität. Die teleologische Auffassung begreift die Religionsgeschichte hingegen als einen vertikalen Bildungsprozess des religiösen Bewusstseins. Religionsgeschichte ist nach teleologischer Auffassung quasi die qualitative Klärung und Verdeutlichung des Religionsbegriffs. Ihre Vertreter stellen die Bedeutung von unterschiedlichen religiösen Wertigkeiten heraus. Wie sich diese beiden Auffassungen der Religionsgeschichte in den Reden zueinander verhalten, darüber herrscht seit Beginn der Forschung Dissens. So hält Scholtz fest: „Es macht eine der wesentlichen Verständnisschwierigkeiten der ‚Reden‘ aus, daß sowohl die Gleichwertigkeit wie eine Stufenfolge und Rangordnung der einzelnen Religionen, sowohl die notwendige Gleichzeitigkeit verschiedener Religionsindividuen wie ein Evolutionsschema behauptet wird.“210 Diese Schwierigkeiten werden auf unterschiedliche Weise zu lösen gesucht: Nach E. Huber stehen die ästhetische und die teleologische Auffassung der Reli­ g ionsgeschichte in den Reden friedlich nebeneinander. Schleiermacher selbst vertrete einen religionstheologischen Standpunkt, der über alle Geschichte hinausweist.211 Schultz betont andererseits den grundsätzlichen und Daher nimmt Schleiermacher […] programmatisch gegen die ‚natürliche‘ für die ‚positive Religion‘ Partei.“ Vgl. auch A. Ritschl, Schleiermachers Reden, 4 f.; Dilthey, Leben Schleiermachers, 420–422; Wehrung, Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, 176–186; Piper, Das religiöse Erlebnis, 66 ff.; Seifert, Theologie, 151–155; Ricken, Religionsphilosophie, 184 f.; Glatz, Religion und Frömmigkeit, 241; Rohls, J., Offenbarung, Vernunft und Religion. Ideengeschichte des Christentums Bd. I, Tübingen 2012, 558. 209  Vgl. dazu Süskind, Christentum und Geschichte, 11–20. 210  Scholtz, Philosophie, 82. Vgl. auch Wehrungs scharfe Kritik an Schleiermacher, der einen ungelösten Widerspruch zwischen ästhetischer und teleologischer Auffassung der Religionsgeschichte in den Reden statuiert (Wehrung, G., Der geschichtsphilosophische Standpunkt Schleiermachers zur Zeit seiner Freundschaft mit den Romantikern, Straßburg 1907, 52 f.) 211  „Das Charakteristische der Theorie Schleiermachers scheint uns gerade in dem friedlichen Nebeneinander des teleologischen und ästhetischen Gesichtspunkts zu liegen; beiden

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ungelösten Konflikt in Schleiermachers Bescheibung der Religionsgeschichte.212 Eine Dominanz des ästhetischen Standpunkts, d.h. eine besondere Betonung der religiösen Individualität in der Religionsgeschichte, stellen exemplarisch Piper 213, Ellsiepen 214 und Schröder 215 heraus. Schröder zufolge vertritt Schleiermacher in den Reden im Unterschied zur Glaubenslehre „auch noch nicht ein Stufungsverhältnis […] von Religion“.216 Vielmehr schließt Schleiermachers Verständnis von religiöser Individualität in den Reden sachlich eine Hierarchisierung der positiven Religionen aus.217 Auch nach Albrecht trägt die Frage nach einer möglichen Stufung der positiven Religionen nichts Entscheidendes zum Verständnis von Schleiermachers Religionsbegriff bei, sondern befasst sich mit eher weniger fundamentalen „Binnenpointen“ der Reden.218 Eine Dominanz des teleologischen Standpunkts bzw. eine grundsätzliche ­H ierarchisierung der Religionen in den Reden wird hingegen exemplarisch von Hirsch 219, Fuchs220 oder Wagner 221 vertreten. Wobei grundsätzlich umstritten bleibt, nach welchem Maßstab sich die Stufung der positiven Religionen vollzieht. E. Huber hält mehrere Gliederungsprinzipien für möglich,222 nach Fuchs erfolgt die Hierarchisierung der Religionen anhand eines sittlichen Bewertungsmaßstabs.223 Weiterführend ist hier der Gedanke, dass Schleiermacher in den Betrachtungsweisen bricht er die Spitzen ab; seine eigene liegt jenseits von diesem Gegensatz.“ (E. Huber, Entwicklung, 32 f.) 212  Schultz, W., „Das griechische Ethos in Schleiermachers Reden und Monologen“, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 10 (1968), 261–288. 213  Piper, Das religiöse Erlebnis, 92–104. 214  Ellsiepen, Anschauung, 407: „Schleiermachers Deutung der Religionsgeschichte rückt […] jede individuelle Religion, sofern sie nämlich ein Teil der sukzessiven Darstellung der ganzen Religion in der Geschichte ist, unter einen Ewigkeitsaspekt. Schleiermachers Fortschreibung spinozistischer Grundgedanken gipfelt in einer Deutung der Individualität in der Religionsgeschichte sub specie aeternitatis.“ 215  Schröder, „Das ‚unendliche Chaos‘“, 585–608. 216  A.a.O., 600. 217  „Während in der ‚Glaubenslehre‘ eine prinzipielle Grenze der Pluralität dadurch gegeben ist, daß alle Religionen dazu bestimmt sind, schließlich ‚in das Christentum überzugehen‘, kann in den ‚Reden‘ die Realisierung von Religion als deren universale Diversifizierung gedacht werden.“ (A.a.O., 604) 218  Albrecht, Frömmigkeit, 117. 219 Vgl. Hirsch, Geschichte IV, 529 f. 220  Fuchs, Schleiermachers Religionsbegriff, 51–57. 221  Wagner, F., Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986, 69 f. 222  E. Huber sieht zwar mehrere religionstheologische Gliederungsprinzipien in den Reden am Werk. Er hält jedoch fest: „[…] zu festen Resultaten kommt er [Schleiermacher, C. K.] nicht, noch weniger bemüht er sich, die Anwendung auf den empirischen Thatbestand zu machen.“ (E. Huber, Entwicklungen, 50) 223  „Für Schleiermacher schauen nun die verschiedenen Religionen nicht verschiedene Prinzipien im Universum, sondern sie schauen alle dasselbe mit grösserer oder geringerer Klarheit. Desshalb [sic!] gibt es trotz der Verschiedenartigkeit eine aufsteigende Stufenord-

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Reden den Maßstab zur Bewertung der positiven Religionen keinesfalls extern an die positiven Religionen angelegt, sondern ihn vielmehr intern im Religionsbegriff bereits als gegeben ansieht. Die Klarheit und Deutlichkeit des religiösen Bewusstseins entscheidet ihm zufolge über die Entwicklungsstufe einer posi­ tiven Religion.224 Die Religionsgeschichte kann daher grundsätzlich als Selbstbewusstseinsgeschichte des religiösen Bewusstseins aufgefasst werden.225 Die Reden bringen die religionstheologische Stufung in der Weise zum Ausdruck, dass sie die Religionen danach hierarchisieren, ob in ihnen das Universum als verworrene Einheit, als bestimmte Vielheit oder als systematische Allheit angeschaut wird.226 Darüberhinaus lassen sich die so eingeteilten Stufen Schleiermacher zufolge wiederum nach Arten spezifizieren, wodurch die Religionen einer bestimmten gemeinsamen Stufe koordiniert werden können. Das Kriterium zur Arteinteilung der Religionen ergibt sich daraus, auf welche Weise mittels der religiösen Fantasie das lebendige Universum selbst vorgestellt wird: Entweder als beseelt, dann stellt sich die Religionsgemeinschaft einen Gott vor und ist personalistisch oder aber als unbeseelt, dann stellt sie sich das Universum im Sinne einer natura naturans vor und gehört der pantheistischen Art an.227 Schleiermachers religionstheologisches Einteilungsschema stellt also ein Sechsfächer-Schema dar, in welches alle positiven Religionen eingeordnet werden können.228 Auf einen möglichen Weg, um den oben geschilderten Dissens zwischen ästhetischer und teleologischer Interpretationslinie der Reden zu schlichten, hat bereits früh Süskind in seiner Auseinandersetzung mit Mulert 229 hingewiesen.230 Nach Süskind lassen sich die berechtigten Ansichten beider Interpretationsansätze verbinden, indem man festhält, dass einerseits jede Religion als ein notwendiger Teil der ganzen Religion und damit als ein wahres Religionsindividuum dargestellt wird. Andererseits muss zugleich erkannt werden, dass die Religionen in den Reden nicht als gleichwertig aufgefasst werden, sondern sich ihr religiöser Wert daran bemisst, in welcher Klarheit in ihnen das religiöse Bewusstsein entwickelt ist. Die religiöse Pluralität steht nach Süskind also in keinem Widerspruch zu einer Hierarchisierung der Religionen.231 Vielmehr nung der Religionen. […] dieses einheitliche Prinzip [ist, C. K.] für Schleiermacher ein sittliches.“ (Fuchs, Schleiermachers Religionsbegriff, 51) 224  Vgl. KGA I/2, 219,6–15. 225  Diesen Gedanken hat für das Spätwerk insbesondere Gräb herausgestellt (Gräb, W., Humanität und Christentumsgeschichte. Eine Untersuchung zum Geschichtsbegriff im Spätwerk Schleiermachers, Göttingen 1980, 11–62). 226  KGA I/2, 244,18–245,13. 227  KGA I/2, 245,11–30. 228  Vgl. einschlägig dazu Seifert, Theologie, 154–156. Eine etwas andere Einteilung ergibt sich nach Scholtz, Philosophie, 80 f. 229  Mulert, H., Schleiermachers geschichtsphilosophische Ansichten in ihrer Bedeutung für seine Theologie, Gießen 1907. 230  Süskind, Christentum und Geschichte, 11–20. Vgl. ähnlich auch Seifert, Theologie, 167 f. 231  Vgl. auch hierzu Lange, D., Historischer Jesus oder mythischer Christus. Untersuchungen zu

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setzt die Hierarchisierung der Religionen einen Religionspluralismus notwendigerweise voraus. Nach Süskind stellt der Religionspluralismus allerdings keinen Selbstzweck dar, sondern dient der evolutionär verlaufenden Entfaltung des Religionsbegriffs. Im Anschluss an Süskind soll in der vorliegenden Arbeit gezeigt werden, dass Schleiermacher in den Reden keineswegs eine religiöse Individuation um jeden Preis vertritt, sondern er diese vielmehr sachnotwendig auf eine teleologische Prozessualität hingeordnet versteht. 2.3.  In Schleiermachers Thematisierung der Religionsgeschichte sind in der Forschung seine Darstellung der jüdischen und christlichen Zentralanschauung, seine Begründung für die religionstheologische Begrenztheit der jüdischen Religion und die Frage nach seinem Verständnis vom Status des Christentums in der Religionsgeschichte von zentralem Interesse gewesen. In der Forschung wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass Schleiermacher das Judentum allgemein als unmittelbare Vergeltungsreligion bestimmt.232 Grundsätzliche Einigkeit besteht auch darüber, dass nach Schleiermacher der religionstheologische Wendepunkt der jüdischen Religion mit dem religiösen Messianismus eintritt.233 In der Literatur finden sich allerdings verschiedene Ansichten darüber, was der spezifische Grund für Schleiermachers Ansicht ist, derzufolge es sich beim Judentum um eine „schon lange […] todte Religion“234 handeln soll. Beckmann und Ehrhardt vertreten hier eine Vermischungsthese. Sie gehen davon aus, dass nach Schleiermacher das Judentum als Religion deswegen untergehen musste, weil in ihm das religiöse Bewusstsein niemals rein, sondern stets unter Vermischung mit politisch-moralischen Anliegen und Gesinnungen auftritt.235 dem Gegensatz zwischen Friedrich Schleiermacher und David Friedrich Strauß, Gütersloh 1975, hier insbesondere 29: „Unbeschadet […] der grundsätzlichen Gleichberechtigung aller religiösen Phänomene läßt sich die Religionsgeschichte als eine Entwicklung begreifen, die nicht nur die einzelnen Religionen auf verschiedenen, höheren oder niederen Stufen erscheinen läßt, sondern auch auf eine einzige Spitze ausläuft.“ 232  Vgl. KGA I/2, 315,10–14. Siehe hierzu: A. Ritschl, Schleiermachers Reden, 13; Wehrung, Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, 186 f.; Dilthey, Leben Schleiermachers, 422 f.; Hirsch, Geschichte IV, 534; Hertel, Denken, 141 f.; Seifert, Theologie, 163 f.; Lange, Historischer Jesus, 30; Beckmann, Die fremde Wurzel, 35–39; Blum, M., Ich wäre ein Judenfeind? Zum Antijudaismus in Friedrich Schleiermachers Theologie und Pädagogik, Köln/Weimar/Wien 2010, 16–30, hier: 25–28 233  Vgl. KGA I/2, 316,9 f. Siehe hierzu: A. Ritschl, Schleiermachers Reden, 13; Wehrung, Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, 186 f.; Dilthey, Leben Schleiermachers, 423; Hirsch, Geschichte IV, 534 f.; Kubik, A., Die Symboltheorie bei Novalis. Eine ideengeschichtliche Studie in ästhetischer und theologischer Absicht, Tübingen 2006, 323 f.; Beckmann, Die fremde Wurzel, 38; 43; 46; von Scheliha, A., „Schleiermachers Deutung von Judentum und Christentum in der fünften Rede ‚Über die Religion‘ und ihre Rezeption bei Abraham Geiger“, in: R. Barth/U. Barth/C. Osthövener (Hgg.), Christentum und Judentum. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Halle (Saale) März 2009 (Schleiermacher-Archiv 24), Berlin/New York 2012, 210–224, hier: 217 f. 234  KGA I/2, 314,37. 235  Beckmann, Die fremde Wurzel, 37; Ehrhardt, Ch., „‚Erwachsen‘ oder ‚kindlich‘?

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Einleitung

Kritisch ist gegen diese Vermischungsthese anzuführen, dass sie Schleiermachers Angaben zu dem immanenten Grund des Niedergangs der jüdischen Religion mit seiner Beschreibung der äußeren Folgen dieses Niedergangs verwechselt.236 Einen derartigen immanenten Grund gibt von Scheliha mit seiner Kanonisierungsthese an.237 Weil das Judentum nach Schleiermacher durch die Fixierung auf einen abgeschlossenen Buchkanon keine Aufgeschlossenheit mehr gegenüber neuen, innovativen göttlichen Offenbarungen besaß, verkümmerte der lebendige Dialog mit seinem Gott auf eine bloß formale Gesetzeskonformität. Die Kanonisierung der heiligen Schriften führt auf diese Weise im Judentum zu einem starren Legalismus der Frömmigkeit. Hiergegen ist einzuwenden, dass auch der Hinweis auf die Kanonisierung der heiligen Schriften nicht zureichend ist für Schleiermachers Ansicht vom Untergang der jüdischen Religion. Denn Schleiermacher hat beim Christentum, welches er als untergangsresistent ansieht,238 eine solche Kanonbildung ausdrücklich wertgeschätzt und als adäquaten Ausdruck wahrer Frömmigkeit gewürdigt.239 Die Kanonbildung ist Schleiermacher zufolge also nicht an sich das Defizitäre am Judentum, sondern vielmehr, dass der Kanon im Judentum und mit ihm die legalistische Gesetzesobservanz zum Selbstzweck erhoben wurden. Einen Weg zur Beantwortung der offenen Frage bietet die in der vorliegenden Arbeit vertretene religionstheologische Partikularitätsthese. Sie bezieht sich im Unterschied zur Vermischungs- und zur Kanonisierungsthese direkt auf die von Schleiermacher in den Reden beschriebene jüdische Zentralanschauung. Nach Schleiermachers Beschreibung ist es ganz eindeutig: Der wahre Grund, weshalb das Judentum sowohl eine Affinität zu Moral und Politik besitzt als auch den eigenen Schriftenkanon auf legalistische Weise zum Selbstweck erhebt, liegt an der Partikularität seiner religiösen Zentralanschauung selbst.240 Schleiermacher zufolge basiert die kurze Dauer der jüdischen Religion darauf, dass ihre Zen­ tralanschauung des göttlichen Vergeltungshandelns einen zu „eingeschränkten Gesichtspunkt“241 besaß, um dauerhaft existieren zu können. Letztlich zerbrach die jüdische Zentralanschauung an der Realität der modernen, komplexen Welt. Die „kurze Dauer“242 der jüdischen Religion als Religion geht nach den Reden darauf zurück, dass ewige und endliche Ursachen, d.h. göttliches und menschliches Handeln, noch nicht adäquat voneinander unterschieden, sondern Religionspädagogische Aspekte des Verhältnisses Christentum/Judentum bei Schleiermacher“ in: Christentum und Judentum, 368–384, hier: 374 f. 236  Vgl. KGA I/2, 316,20–25. 237  Von Scheliha, „Schleiermachers Deutung“, 218. 238  KGA I/2, 324,15–19. 239 KGA I/2, 323,17–20. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Beckmann, Die fremde Wurzel, 58. 240  Vgl. hierzu auch Hirsch, Geschichte IV, 534; Süskind, Christentum und Geschichte, 23. 241  KGA I/2, 316,19. 242  KGA I/2, 316,20.

3. Inhalt

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vielmehr noch miteinander verworren vorgestellt werden. Dies ist der entscheidende Grund, weshalb Schleiermacher das Judentum, übrigens explizit nicht alleine das Judentum,243 als „kindische Religion“244 bzw. als „kindlich“245 charakterisiert. Das Judentum ist demnach laut Schleiermacher bloß eine partikular-­ systematische Religion. Schleiermachers Beschreibung des Judentums insgesamt und seine religionstheologische Behauptung seiner „kurzen Dauer“ als Religion haben zu Recht massive Kritik hervorgerufen.246 Daher dienen die in der vorliegenden Arbeit präsentierten Beschreibungen zum Judentum ausschließlich zur Darstellung von Schleiermachers religionstheologischer Auffassung des Geschichtsprozesses, sie wollen keineswegs eine objektiv-adäquate Beschreibung des jüdischen Glaubens darstellen.247 Welchen religionstheologischen Status nimmt aber das Christentum nach den Reden in der Religionsgeschichte ein? Einerseits ist unbestritten, dass es nach Schleiermacher in keiner direkten religionsgeschichtlichen Abhängigkeit zum Judentum steht.248 Andererseits wird der Status des Christentums in der Reli­ gionsgeschichte im Blick auf die Reden unterschiedlich beurteilt. Die Interpreten der dialektischen Theologie sehen Schleiermacher überhaupt nicht als christlichen Theologen an, sondern ausschließlich als romantischen Philosophen, der mit den Reden nicht das Christentum, sondern eine neue Religion verkünden möchte.249 Dagegen hat Seifert gezeigt, dass Schleiermacher seine Reden aus einem dezidiert christlich geprägten religiösen Bewusstsein heraus verfasst hat.250 Forstmann sieht gerade den Unterschied Schleiermachers zur Romantik darin, dass er keine neue Religion begründen wollte oder erwartete, sondern sich ihm zufolge bereits im Christentum das Unendliche im Endlichen manifestiere.251 A. Ritschl konstatiert hier einen bleibenden „ungelösten Widerspruch“ in den Reden, zwischen Schleiermachers Absicht „einer neuen 243 

KGA I/2, 324,11 f. Ebd. (kursiv, C. K.) 245  KGA I/2, 314,34; 315,38 f. (kursiv, C. K.) 246 Vgl. A. Ritschl, Schleiermachers Reden, 13 f.; Blum, M., Ich wäre ein Judenfeind?, 16–30; Smend, „Kritik am Alten Testament“, 106–128; Crouter, R. E., Friedrich Schleiermacher: Between Enlightenment and Romanticism, Cambridge 2008, 123 ff.; Brumlik, M., „Die Duldung des Vernichteten. Schleiermacher zu Toleranz, Religion und Geselligkeit – eine Fallstudie zur Dialektik der Anerkennung“, in: R. Kloepfer/B. Dücker (Hgg.), Kritik und Geschichte der Intoleranz, Heidelberg 2000, 41–56, hier einschlägig: 43. 247  Vgl. auch Beckmann, Die fremde Wurzel, 36: „Die Geschichte des Judentums ist für Schleiermacher das Paradebeispiel für den Niedergang einer Religion.“ 248  KGA I/2, 314,41–44: „[…] ich haße in der Religion diese Art von historischen Beziehungen, ihre Nothwendigkeit ist eine weit höhere und ewige, und jedes Anfangen in ihr ist ursprünglich“. 249 Vgl. Flückinger, Philosophie und Theologie, 49–63. 250  Seifert, Theologie, 181–187. 251  Forstmann, J., A Romantic Triangle. Schleiermacher and Early German Romanticism, Missoula 1977. 244 

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Einleitung

Religionsstiftung und der wissenschaftlichen Erkenntnis des gegenseitigen Verhältnisses der in der Geschichte gegebenen Religionen.“252 Timms Einschätzung, die Reden unternähmen den Versuch eine „johanneisch-spinozistische Liebes-Religion“253 zu verkünden, welche die Spannungen zwischen Christentum und philosphischer Romantik überwinden und in einer Synthese zusammenzuführen bestrebt ist, trägt aufgrund ihrer begrifflichen Unschärfe nur marginal zur Klärung von Schleiermachers religionstheologischem Christentumsverständnis bei. Weiterführend ist die sich in der neuen Forschung durchsetzende Feststellung, dass Schleiermacher in den Reden dem Christentum einen religionstheologischen Sonderstatus einräumt.254 Einschlägig hält Wagner in diesem Zusammenhang fest: „Fußen die positiven Religionen auf einer bestimmten Anschauung des Unendlichen im Endlichen, so wird mit dem Christentum die grundlegende Voraussetzung jener Anschauung thematisiert, die die bestimmten Religionen unbesehen in Anspruch nehmen.“255 Rohls ergänzt diese Ansicht: „Das Wesen der Religion, die Vermittlung des Endlichen mit dem Unendlichen, wird im Christentum selbst zur Zentralanschauung, weshalb [es, C. K.] als Religion der Religionen bezeichnet werden kann.“256 Unklar bleibt in der Forschung, was aus dieser Bestimmung des Christentums für seine religiösen Geltungsansprüche gegenüber den anderen Religionen folgt: Nach E. Huber sind die positiven Religionen den Reden zufolge alle „gleichwertig und koordiniert, und schon aus diesem Grunde kann dem Christentum […] nicht die Bedeutung der wahren und ganzen Religion, sondern höchstens die Rolle der prima inter pares vindizirt werden.“257 Süskind stellt in der Frage nach der sog. Absolutheit des Christentums heraus,258 dass dem Christentum nach Schleiermacher eine faktische Höchstgeltung in der Religionsgeschichte zukommt. 259 Lange kritisiert hierin Süskind und hält fest, dass Schleiermacher in den Reden nicht allein auf die faktische Höchstgeltung des Christentums abzielt, sondern vielmehr dessen prinzipielle Höchstgeltung behauptet.260 Hierbei kann Lange sich überzeugend sowohl auf eine immanente Analyse der christlichen 252 

A. Ritschl, Schleiermachers Reden, 7 f. Timm, Die heilige Revolution, 70. 254  Vgl. KGA I/2, 316,29–34. 255  Wagner, Was ist Religion?, 70. 256  Rohls, „Das Christentum“, 41–89, hier: 73. 257 E. Huber, Entwicklung, 50. 258 Zur Thematik der sog. „Absolutheit“ des Christentums vgl. auch Bernhard, R., „Schleiermachers christologische Fassung der ‚Absolutheit‘ des Christentums“, in: Christentum und Judentum, 325–343. 259  Süskind, Christentum und Geschichte, 25–30. 260  Lange, Historischer Jesus, 30. Vgl. auch Seifert, Theologie, 168: „Das Christentum ist die absolute Religion.“ 253 

3. Inhalt

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Zentralanschauung als auch auf Aussagen Schleiermachers zur sog. ewigen „Palingenesie“ des Christentums in der Religionsgeschichte stützen.261 Damit zusammenhängend steht auch weiterhin die Frage im Raum, welche Form von Religionstheologie Schleiermacher in seinen Reden vertritt? 262 Blum wirft den Reden eine exklusivistische Religionstheologie vor.263 Schröder und Huber sehen die Reden als Ausdruck eines religionstheologischen Pluralismus an.264 Glatz sieht hingegen die Reden als eine umfassende Mischung aus plura­ listischen, exklusivistischen und inklusivistischen religionstheologischen An­ sätzen an.265 Nach Schleiermachers Darstellung läuft die Höchstgeltung des Christentums keineswegs auf ein Streben nach religiöser Einförmigkeit hinaus, sondern beinhaltet und fordert die Vielfalt real existierender positiver Religionen neben dem Christentum.266 Die ausschließende Vortrefflichkeit des Christentums beinhaltet folglich nicht den Anspruch auf exklusive Wahrheit, womit eine exklusivistische Religionstheologie auszuschließen ist.267 Zugleich wird in der vorliegenden ­A rbeit auch gegen eine pluralistische Religionstheologie argumentiert. Nach 261 

Vgl. KGA I/2, 325,1. Vgl. zum gesamten Zusammenhang KGA I/2, 323,36–325,19. moderne religionstheologische Standardmodell gliedert sich dabei erstens in den religionstheologischen Exklusivismus, welcher die Annahme vertritt, dass die Geltungsansprüche nur einer einzigen Religion berechtigt sind. Zweitens in den religionstheologischen Inklusivismus, welcher der Ansicht ist, dass die Geltungsansprüche von mehr als einer Religion berechtigt sind, jedoch im höchsten Maße nur in einer einzigen alle anderen überbietenden Weise. Drittens in den religionstheologischen Pluralismus, demzufolge die Geltungsansprüche von mehr als einer Religion in höchstem Maße berechtigt sind. Vgl. dazu einschlägig: Hermanni, F., „Der unbekannte Gott. Plädoyer für eine inklusivistische Religionstheologie“ in: C. Danz/F. Hermanni (Hgg.), Wahrheitsansprüche der Weltreligionen. Konturen gegenwärtiger Religionstheologie, Neukirchen-Vluyn 2006, 149–169, hier: 150; Schmidt-­ Leukel, P., Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen, Güters­ loh 2005, 34 ff. 263  Nach Blum teilt Schleiermacher die Auffassung von einem „gleichwertigen wahren Kern aller monotheistischen Religionen […] gerade nicht, weil für ihn nur das Christentum die einzige wahre und damit akzeptable Religion darstellt.“ (Blum, Ich wäre ein Judenfeind?, 59. Vgl. auch ebd., 29 f.) 264  Schröder, „Das ‚unendliche Chaos‘“, 604; Huber, F., „Die eine Religion und die Vielfalt der Religionen“, in: ders. (Hg)., Reden über die Religion – 200 Jahre nach Schleiermacher. Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Schleiermachers Religionskritik, Wuppertal 2000, 164–182, hier insbesondere: 176 f. Vgl. auch Piper, Das religiöse Erlebnis, 92–104 und Kubik, A., „Warum konvertieren? Anmerkungen zur Taufe von Dorothea Veit und Schleiermachers Haltung dazu“, in: Christentum und Judentum, 405–416, hier: 411 f. 265  „Schleiermacher entfaltet eine pluralistische Religionstheorie, die insofern inklusivistisch ist, als sie jeder Form positiver Religion ihre Exklusivität zugesteht.“ (Glatz, Religion und Frömmigkeit, 253) Unentschieden auch Ricken, Religionsphilosophie, 190 f. 266  Vgl. einschlägig KGA I/2, 325,15–19. 267  Vgl. hierzu KGA I/2, 325,3–8: „Wenn es nun aber immer Christen geben wird, soll deswegen das Christenthum auch seiner allgemeinen Verbreitung unendlich und als einzige Gestalt der Religion in der Menschheit allein herrschend sein? Es verschmäht diesen Despotismus, es ehrt jedes seiner eignen Elemente genug um es gern auch als den Mittelpunkt eines eignen Ganzen anzuschauen“. 262  Das

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Einleitung

Schleiermacher sind die positiven Religionen nämlich keineswegs gleichwertig.268 Obwohl jede von ihnen eine eigentümliche Manifestation des Wesens der Religion darstellt und demzufolge Anteil an der religiösen Wahrheit besitzt, tritt diese Wahrheit den Reden zufolge bei den außerchristlichen Religionen noch mit einem Irrtum vermischt auf, was sich an der Partikularität ihrer religiösen Zentralanschauungen zeigt. Schleiermacher vertritt in den Reden folglich eine inklusivistische Religionstheologie. Die Religionsgeschichte ist ihm zufolge auf das Christentum hingeordnet. Das Besondere dieses Inklusivismus besteht allerdings darin, dass er sich nicht als dogmatischer, sondern vielmehr als kritischer Inklusivismus präsentiert. D.h. er setzt die Wahrheit der christlichen Position nicht einfach voraus und bemisst die Wertigkeit der anderen Religionen an der Nähe zu dieser, sondern er beurteilt die Religionen danach, inwiefern sie dem für alle Religionen gültigen allgemeinen Religionsbegriff gerecht zu werden vermögen.

268  Vgl.

auch Wolfes, M., Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit, Bd. 2, Berlin 2004, 330.

Erster Teil

Schleiermachers kritischer Religionsbegriff der ‚Reden‘

Erstes Kapitel

Neubesinnung auf das Religionsphänomen Bevor Schleiermacher am Ende seiner ersten Rede zu der Neubestimmung eines kritischen Religionsbegriffs ansetzt, welchen er insbesondere in seiner zweiten Rede vertiefend ausarbeitet, beginnt er damit, sein erneutes Reden von Religion überhaupt zu rechtfertigen. Dabei speist sich sein Vorgehen aus der Einsicht, dass einer adäquaten Neubestimmung des Religionsbegriffs zunächst eine angemessene Neubesinnung auf das diesem Begriff zugrunde liegende Religionsphänomen vorausgehen muss.1 Meines Erachtens hat sich Schleiermacher eine solche vorausgehende Neubesinnung auf das Religionsphänomen explizit in dem Abschnitt KGA I/2, 191,10–194,13 seiner ersten Rede vorgenommen, indem er dort die Bedeutung der Religion im menschlichen Bildungsprozess herausarbeitet. Dieser Abschnitt stellt einen äußerst komprimierten Entwurf zu einer allgemeinen Bildungstheorie dar und bildet dementsprechend eine Vorstufe zu Schleiermachers späteren bildungstheoretischen Schriften, wie z.B. den Monologen,2 dem Brouillon,3 der Ethik4 sowie der Psychologie5. Die Einsichten die­ses Abschnitts stellen bildlich gesprochen folglich eine Keimzelle seiner späteren bildungstheoretischen Überlegungen dar und können wegen ihrer fundamentalen Bedeutung für den Gesamtauf bau der Reden, obwohl sie sicherlich ein „höchst schwerfälliges Stück“ darstellen, keineswegs wie Otto es lapidar festhält „getrost fehlen“.6 Im Zentrum dieses bildungstheoretischen Entwurfs der Reden steht für Schleiermacher die Frage, worin der intelligible Zweck des menschlichen Lebens besteht 7 und auf welche Weise es dem Menschen möglich ist, diesen Zweck zu erfüllen.8 Im Zusammenhang dieser spezifischen Fragestellungen findet seine Neubesinnung auf das Religionsphänomen statt. Das Ziel seiner allgemeinen 1 

KGA I/2, 201,32–38. KGA I/3, 1–61. 3  Schleiermacher, F. D. E., Brouillon zur Ethik (1805/06), in: ders., Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. II, hrsg. v. O. Braun, Leipzig 2. Auflage 1927, ND Aalen 1981, 75–239. 4  Ders., Ethik (1812/13), mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre. Auf der Grundlage der Ausgabe Otto Braun, hrsg. u. eingel. v. H.-J. Birkner, Hamburg 1981. 5  Ders., Psychologie. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, SW III/6, hrsg. v. L. George, Berlin 1862. 6  Otto, Über die Religion, 20. 7  KGA I/2, 192,4–12. 8  KGA I/2, 192,26 ff. 2 

48

Erstes Kapitel:  Neubesinnung auf das Religionsphänomen

Bildungstheorie besteht darin, durch das Aufzeigen der wesentlichen Grund­ aspekte des Religionsphänomens die Religion als essentielles Element des mensch­lichen Bildungsprozesses überhaupt herauszustellen und seiner These Plausibilität zu verschaffen, derzufolge die Religion „als ewig und im Wesen der Menschheit nothwendig gegründet“9 anzusehen ist. Somit kann die von Schleiermacher in der ersten Rede präsentierte allgemeine Bildungstheorie als Rahmenkonzeption seiner Neubesinnung auf das Religionsphänomen insgesamt angesehen werden. Sie dient in der Folge dazu, anhand der in ihr enthaltenen wesentlichen Grundaspekte der Religion, den hermeneutischen und sachlichen Horizont von Schleiermachers Neubestimmung eines kritischen Religionsbegriffs präzise abzustecken und zu analysieren. Im Folgenden wird in zwei Schritten verfahren: Zunächst wird Schleiermachers Beschreibung des Religionsphänomens im Rahmen seiner allgemeinen Bildungstheorie in den Reden herausgearbeitet (§  1). Im Anschluss daran werden die von Schleiermacher aufgezeigten zentralen Grundaspekte der Religion systematisiert und auf diese Weise ein Vorbegriff der Religion erstellt, welcher die weitere Vorgehensweise in der Darstellung von Schleiermachers kritischem Religionsbegriff thematisch gliedert (§  2 ).

§  1  Schleiermachers allgemeine Bildungstheorie Das spezifische Vorgehen Schleiermachers in der Darstellung seiner allgemeinen Bildungstheorie im Abschnitt KGA I/2, 191,10-194,13 stellt sich wie folgt dar: In einem ersten Schritt stellt er in gedrängter Form die Grundzüge seiner frühen Seelenlehre dar. Aus dem Wesen der menschlichen Seele schlussfolgert er, dass das intelligible Ziel der Menschen auf Erden in dem Selbstbewusstsein der Menschheit besteht, welches nur durch einen gemeinschaftliche Bildungsprozess aller Menschen erreicht werden kann (1.). Im zweiten Schritt problematisiert er die realen Bedingungen eines derartigen gemeinschaftlichen Bildungsprozesses anhand der Beschreibung von in sich verschlossenen und sozial sich isolierenden extremen Seelencharakteren (2.). Im dritten Schritt zeigt er auf, dass ausschließlich durch das Auftreten so genannter Mittler die extremen Seelencharaktere zur Teilnahme am gemeinschaftlichen Bildungsprozess der Menschheit gebracht werden können. Folglich kann laut Schleiermacher nur durch das Eingreifen der Mittler in den menschlichen Bildungsprozess das intelligible Ziel der Menschheit erreicht werden (3.).10 9 

KGA I/2, 197,7 ff. zu diesem Sachkomplex auch die detaillierte Darstellung von Wittekind, V. „Die Vision der Gesellschaft und die Bedeutung religiöser Kommunikation. Schleiermachers Kritik am Atheismusstreit als Leitmotiv der ‚Reden‘“, in: 200 Jahre „Reden über die Reli­gion“, 397–415, insbesondere: 400–408. 10 Vgl.

§  1  Schleiermachers allgemeine Bildungstheorie

49

1.  Schleiermachers frühe Seelenlehre Schleiermacher geht zu Beginn seiner ersten Rede, der sog. „Apologie“, von einer Entsprechung zwischen den Prinzipien der biophysischen Natur und dem menschlichen Seelenleben aus. So wie die gesamte biophysische Natur als Bereich zweier entgegengesetzter „Urkräfte der Natur“11 geschaffen ist, welche sich in den irdischen Lebewesen in Form der Wechselwirkung einer aneignenden und einer abstoßenden Kraft manifestieren, ebenso ist auch die menschliche Seele das Produkt einer Wechselwirkung von zwei entgegengesetzten Grundkräften, einem sog. Aneignungs- und einem Durchdringungstrieb:12 Es scheint als ob auch die Geister, sobald sie auf diese Erde verpflanzt werden, einem solchen Geseze folgen müssten. Jede menschliche Seele […] ist nur ein Produkt zweier entgegengesezter Triebe. Der eine ist das Bestreben alles was sie umgiebt an sich zu ziehen, in ihr eigenes Leben zu verstriken, und wo möglich in ihr innerstes Wesen ganz einzusaugen. Der andere ist die Sehnsucht ihr eigenes inneres Selbst von innen heraus immer weiter auszudehnen, alles damit zu durchdringen, allen mitzutheilen, und selbst nie erschöpft zu werden.13 11 

KGA I/2, 191,21. I/2, 191,23–193,7. Schleiermacher übernimmt hierbei, wie in der Forschungs­ literatur allgemein festgehalten wird, seinen Triebbegriff von Reinhold (vgl. Reinhold, K. L., Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens (1789), Teilband 2, hrsg. v. E. Onnasch, Hamburg 2012, 560 f.) Allerdings modifiziert er das Reinholdsche Triebverständnis spezifisch. Schleiermacher unterscheidet den menschlichen Trieb von dem menschlichen Begehrungsvermögen. Diese Modifikation wird deutlich in seiner Frühschrift Über die Freiheit (KGA I/1, 217–356). Dort heißt es: „HErr Reinhold hat sehr recht, daß man das, was in dem Subjekt Vorstellungsvermögen ist nicht verwechseln müsse mit dem, was in ihm Kraft ist, aber die Art wie er aus Kraft und Vermögen den Begrif des Triebes ableitet scheint mir nicht klar genug. Ich verstehe unter dem Trieb im allgemeinen: die in der Natur des vorstellenden Subjets gegründete Thätigkeit desselben zur Hervorbringung von Vorstellungen; so fern nun dieser aus irgend einem Gesichtspunkt in verschiedne Arten getheilt gedacht wird entstehn einzelne Triebe, und das Vermögen in irgend einem Theil der Existenz den Trieb im allgemeinen für ein Objekt eines einzelnen Triebes zu bestimmen heißt das Begehrungsvermögen.“ (KGA I/1, 223,8–18) Folglich bezeichnet Schleiermacher mit dem Ausdruck „Trieb“ diejenigen polaren Grundkräfte der menschlichen Existenz, von denen ausgehend sämtliche konkreten Einzeltriebe gebildet werden. Das Vermögen diese polaren Grundkräfte als Einzeltriebe auf ein bestimmtes Objekt zu beziehen, d.h. die Fähigkeit die allgemeine Triebstruktur des Menschen in einer bestimmten zeitlichen Situation wirksam zu konkretisieren, bezeichnet Schleiermacher im Unterschied zu Reinhold als das „Begehrungsvermögen“. Zur allgemeinen Interpretation der beiden Grundtriebe der menschlichen Existenz in den Reden vgl. auch Kasprzik, W., Art.: „Schleiermachers Theologie“, in: Evangelisches Kirchenlexikon 4 (3.  Aufl. 1997), Sp.  71–81 und Arndt, A., „Kommentar“, in: Schleier­ macher, F. D. E., Schriften, hrsg. v. A. Arndt, Frankfurt am Main 1996, 993–1279. Zum Vergleich mit Schellings Triebtheorie insbesondere in dessen Werk Ideen zu einer Philosophie der Natur (Schelling, F. W. J., Ideen zu einer Philosophie der Natur. Als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft (1797 und 1803), in: Sämmtliche Werke, hrsg. v. K. F. A. Schelling, 1. Abt.: 10 Bde. [=SW I–X], 2. Abt.: 4 Bde. [=SW XI–XIV], Stuttgart/Augsburg 1856–1861, ND München 1979, SW I, 653–723) siehe auch Süskind, Einfluß Schellings, 58 ff.; 111–121. 13  KGA I/2, 191, 27–32 (kursiv, C. K.). 12  KGA

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Erstes Kapitel:  Neubesinnung auf das Religionsphänomen

Im weiteren Verlauf seiner Darstellung werden diese beiden Triebe näher charakterisiert: Der Aneignungstrieb des Menschen ist darauf aus, sich aller ihn umgebenden Dinge zu bemächtigen. Dazu reißt er die Gegenstände seiner Begierde aus ihrem Beziehungsgefüge heraus, um die auf solche Weise vereinzelten Dinge in sein individuelles Wesen „einzusaugen“14 und sie zu genießen15. Das Ziel des menschlichen Aneignungstriebs besteht darin, das eigene, individuelle Selbst zu erhalten und sich dem allgemeinen „Zusammenhange des Ganzen“16 gegenüber als etwas Eigenständiges zu behaupten. Die späteren Auflagen der Reden fassen diesen Charakter des Aneignungstriebs dementsprechend allgemein als „ein Streben, für sich zu bestehen“17 zusammen. Der Durchdringungstrieb der menschlichen Seele zielt umgekehrt darauf ab, sämtliche Eigenständigkeiten, inklusive der besonderen Individualität seines menschlichen Trägers, aufzulösen, indem er bestrebt ist, die einzelnen Dinge und Sachverhalte in einen nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten geregelten Zusammenhang zu stellen.18 Spätere Auflagen der Reden charakterisieren den Durchdringungstrieb daher sachgemäß als „ein Streben, in das Ganze zurückzukehren“.19 Seelischer Aneignungs- und Durchdringungstrieb stehen nach Schleiermacher folglich konträr zueinander.20 Prinzipiell ist der Durchdringungstrieb dar14 

KGA I/2, 191,29. KGA I/2, 191,32. 16  KGA I/2, 192,17. 17  KGA I/12, 60,13 f. 18  KGA I/2, 191,34–192,1. 19  KGA I/12, 60,13. 20  Bereits in Schleiermachers Frühschriften kann man Vorformen dieser antagonistischen Seelentriebe ausmachen. So, z.B. in: KGA I/1, 91,31 ff.; 131,31 ff.; 199,3–20; 200,35–202,11; 209,10 ff. Es herrscht in der Forschungsliteratur indes Uneinigkeit, ob Schleier­m acher seine Konzeption der antagonistischen Seelentriebe selbständig entwickelt, oder aus anderen Werken seiner Zeit entlehnt hat. Allgemein lässt sich in diesem Zusammenhang mit Timm zunächst festhalten: „Wer in den 80er Jahren [des 18. Jahrhunderts, C. K.] emphatisch Leben sagt, meint in erster Linie Polarität.“ (Timm, Gott und die Freiheit, 278). Vgl. zu diesem Themenkomplex auch Ellsiepen, Anschauung, 332 f. Weiterführend sind in diesem Zusammenhang die Darstellungen von Süskind und Grove. Süskind hat auf das Verhältnis von Schleiermachers Konzeption mit der Schellingschen Auffassung hingewiesen (Süskind, Einfluß Schellings, 116–119). Als Ergebnis hält er fest: „Somit stellt sich also jene Theorie, durch welche Schleiermacher am Anfang der Reden die individuellen Unterschiede in der intellektuellen Welt zu erklären sucht, dar, als eine Verbindung zweier Schellingscher Gedanken: des Gesetzes der allgemeinen Polarität, wie es die Schrift von der Weltseele entwickelt hatte, und der Lehre der ‚Ideen‘ von den unendlich vielen möglichen Bindungen der beiden dynamischen Grundkräfte in verschiedenen quantitativen Verhältnissen. In der Anwendung dieser letzteren Lehre auf die Erklärung der Individualisation ist Schleiermacher gegenüber den Ideen und der Weltseele selbständig.“ Im Unterschied zu Süskind hat Grove darauf hingewiesen, dass die Wurzel von Schleiermachers Vorstellung zweier antagonistischer Seelentriebe in der sog. Vereinigungsphilosophie, insbesondere bei Hemsterhuis und Herder, zu finden ist (vgl. Grove, Deutungen, 274). Als 15 

§  1  Schleiermachers allgemeine Bildungstheorie

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auf aus, das Besondere in einem allgemeinen Zusammenhang, der Aneignungscharakteristischen Unterschied zwischen beiden Konzeptionen hält Grove allerdings fest: „Keiner der beiden Vorgänger nimmt zwei Weisen menschlichen Strebens an: Hemsterhuis geht von dem einen Verlangen nach völliger Vereinigung aus, das von Herder modifiziert, aber eben nicht um ein zweites, entgegengesetztes Streben ergänzt wird. Es scheint beinahe, als ob die Duplizität bei Schleiermacher dadurch gebildet sei, daß er die jeweiligen Hauptmotive der Vorgänger, die Vereinigung und die Selbstheit, auf der Ebene des Strebens des Menschen unverkürzt miteinander verbindet.“ (Grove, Deutungen, 277) Ergänzend zu den Darstellungen Süskinds und Groves kann jedoch hinzugefügt werden, dass auch ein Einfluss Schillers auf Schleiermacher auszumachen ist. Dieser bedient sich in seiner ästhetischen Erziehung des Menschen von 1795 eines explizit triebtheoretischen Modells, welches in wesentlichen Punkten mit demjenigen Schleiermachers übereinstimmt (Vgl. Schiller, F., Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795), in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, hrsg. v. G. Fricke und H. Göpfert in Verbindung mit H. Stubenrauch, München 3.  Aufl. 1962, 570–669). Erstens geht es Schiller in seiner Schrift nicht nur um den menschlichen Kunsttrieb, sondern vielmehr behandelt er die prinzipiellen Lebenstriebe, welche sich auch in der Kunst manifestieren. Zweitens zeigt er die Analogie zwischen den zwei wesentlichen Charaktereigenschaften seines platonischen bzw. neuplatonischen Gottesbegriffs mit den zwei Grundtrieben der menschlichen Seele auf. Schiller beschreibt zum einen das autarke, unveränderliche und vollkommene Wesen und zum anderen den zur Tat drängenden Schöpfer, der nach unbegrenzter Ermöglichung alles Wirklichen in der Zeit drängt. An diesen beiden Charaktereigenschaften der Gottheit hat der Mensch als Ebenbild Anteil. Deshalb gibt es nach Schiller entsprechend der zwei antagonistischen Fundamentalgesetze des Universums auch zwei konträre Triebe in der menschlichen Seele. Drittens besitzt auch die Charakterisierung dieser beiden Triebe selbst eine hohe Ähnlichkeit mit Schleiermachers Beschreibung. Der eine ist nach Schiller der Formtrieb, welcher nach Einheit strebt und „nie etwas anders fodern [kann], als was er in alle Ewigkeit fodern muß“ (a.a.O., 605). Der andere ist der Stofftrieb bzw. der „sinnliche Trieb“. Er strebt nach Mannigfaltigkeit, sinnlicher Fülle und individuellem Gehalt. Sein Wesen ist bestimmt durch den beständigen Drang zum Wechsel und zur Bereicherung der Erfahrung durch die Aufnahme von Neuem, der Bewirkung von Veränderung und der Wahrnehmung von Vielheit (a.a.O., 604 f.). Viertens: Die Vollkommenheit des menschlichen Seelencharakters wird nur erreicht durch die innige Verbindung beider Triebe, d.h. nicht durch die „Ausschließung gewisser Realitäten“, sondern vielmehr durch die „absolute Einschließung aller“ (a.a.O., 626). Dies gelingt nach Schiller erst im „Spieltrieb“, der zu einer harmonischen Verbindung beider konträrer Triebe zu führen vermag (a.a.O., 612 f.). Dies ist jedoch nie vollständig möglich. Das Gleichgewicht von Form- und Stofftrieb bleibt „immer nur Idee, die von der Wirklichkeit nie ganz erreicht werden kann.“ Denn „[i]n der Wirklichkeit wird immer ein Übergewicht des einen Elements über das andere übrig bleiben, und das Höchste, was die Erfahrung leistet, wird in einer Schwankung zwischen beiden Prinzipien bestehen“ (a.a.O., 619). Auch dieser Schwankungsbegriff wird von Schleiermacher aufgenommen. Er meint bei ihm jedoch im Unterschied zu Schiller keine permanente Unentschiedenheit, sondern wird im Schlegelschen Sinne einer unendlichen Approximation verstanden. Dass Schleiermacher sich sowohl intensiv mit Schillers theoretischen Schriften im Allgemeinen als auch mit der Ästhetischen Erziehung im Besonderen auseinandergesetzt hat, zeigt sowohl sein Brief an Alexander von Dohna vom 24.11.1795 (KGA V/1, Nr.  303,63 ff.) als auch die spätere Würdigung Schillers in seiner eigenen Ästhetik: „Ich habe hier besonders Schiller im Auge, namentlich seine Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen.“ (Schleiermacher, F. D. E., Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32), hrsg. v. T. Lehnerer, Hamburg 1984, 10) Zu Schleiermacher

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trieb das Allgemeine im vereinzelten Besonderen „aufzulösen“21. Umgekehrt formuliert: Der Durchdringungstrieb ist bestrebt, das Allgemeine gegenüber dem Besonderen und der Aneignungstrieb das Besondere gegenüber dem Allgemeinen „auszudehnen“22 . Aus diesem Grunde können der Aneignungstrieb auch als Individuationstrieb und der Durchdringungstrieb als Totalitätstrieb 23 der menschlichen Seele bezeichnet werden. Laut Schleiermacher sind der Individuations- und Totalitätstrieb aber nicht nur die konträren Grundbestimmungen der menschlichen Seele im Allgemeinen, sondern ihr spezifisches Verhältnis zueinander begründet auch die eigentüm­ liche Bestimmtheit der konkreten Individualseele jedes Menschen. Denn, gleichwie jedes bestimmte biophysische Dasein seine Eigentümlichkeit aus dem spezifischen Mischungsverhältnis seiner beiden natürlichen Urkräfte erlangt, so wird auch die Eigentümlichkeit der menschlichen Individualseele durch das ihr jeweils zugrunde liegende Mischungsverhältnis von Individuations- und Totalitätstrieb konstituiert. Die qualitative Differenz zwischen den menschlichen Individuen geht nach Schleiermacher folglich auf die in den Individualseelen sich und Schiller siehe auch Wehrung, Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, 157: „Das Merkwürdige ist, daß in der Begründung und dem sie leitenden Gesichtspunkt, zwischen Schiller und Schleiermacher völlige Übereinstimmung besteht. Was dieser von der Religion ausführt, nimmt jener für die Kunst in Anspruch.“ Grundsätzlich muss allerdings festgehalten werden: Trotz der Ähnlichkeiten von Schleiermachers Konzeption mit denen von Hemsterhuis, Herder, Schelling oder Schiller besteht bei ihm eine prinzipielle Eigenständigkeit in der frühen Seelenlehre. Die Idee, dass die menschlichen Seelencharaktere sich aus den quantitativen Mischungsverhältnissen zweier elementarer Grundkräfte ergeben, hat Schleiermacher bereits in seiner Frühschrift An Cecilie von 1790 (KGA I/1, 189–212) vorweggenommen. Hier finden sich bereits die für die Seelenlehre der Reden einschlägigen Überlegungen (siehe dazu KGA I/1, 200,35–203,3). In An Cecile führt Schleiermacher grundsätzlich unterschiedliche Menschentypen vor, deren Seelencharaktere sich durch das jeweilige graduelle Mischungsverhältnis einer individuellen „Empfänglichkeit des Gefühls“ (KGA I/1, 200,36) einerseits und dem allgemeinen „Bewußtseyn des Vernunftprincips“ (KGA I/1, 200,36–201,1) andererseits voneinander unterscheiden. Hinzu kommt, dass Schleiermacher im Zuge seiner weiteren Darstellung der menschlichen Seelencharaktere bereits in Ansätzen die in den Reden aufgestellte Typologie von Mittlercharakteren (KGA I/1, 200,35–202,7) und extremen Seelencharakteren (KGA I/1, 202,7–22; 202,23–3) vorwegnimmt. Schon 1790 in An Cecile hat Schleiermacher also wesentliche Grundzüge seiner späteren Seelenlehre aus den Reden durchdacht. Die Frage nach der historisch-systematischen Abhängigkeit Schleiermachers von anderen zeitgenössischen Konzeptionen lässt sich somit abschließend beantworten: Den Ausgangspunkt zu seiner Seelenlehre bilden eigenständige Einsichten Schleiermachers in das menschliche Wesen. Diese Einsichten werden jedoch durch die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Konzeptionen spezifisch präzisiert und weiter vertieft. 21  KGA I/12, 17,17 ff. 22  KGA I/2, 191,30. 23  Dies wird von Schleiermacher in späteren Auflagen der Reden noch verdeutlicht, wenn er den Durchdringungs- bzw. Totalitätstrieb folgendermaßen umschreibt: „Der andere [Trieb, C. K.] hingegen ist die bange Furcht, vereinzelt dem Ganzen gegenüber zu stehen; die Sehnsucht, hingegeben sich selbst in einem größeren aufzulösen, und sich von ihm ergriffen und bestimmt zu fühlen.“ (KGA I/12, 17,17–20)

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eigentümlich manifestierende quantitative Zusammensetzung ihrer beiden konträren seelischen Grundtriebe zurück. In den Monologen verdeutlicht er dieses, indem er festhält, dass das eigentümliche Mischungsverhältnis einer menschlichen Seele den sog. „inneren Menschen“24 bildet, d.h. den individuellen und unverwechselbaren Seelencharakter jedes Einzelnen.25 In späteren Auflagen der Reden ergänzt Schleiermacher diese Darstellung, indem er für die ontologische Grundstruktur des menschlichen Lebens insgesamt festhält, dass diese allgemein aufzufassen ist als: […] ein Werden eines Seins für sich, und ein Werden eines Seins im Ganzen, beides zugleich; ein Streben in das Ganze zurükzugehn, und ein Streben, für sich zu bestehn, beides zugleich; das sind die Ringe, aus denen die ganze Kette zusammengesezt ist; denn Euer ganzes Leben ist ein solches im Ganzen Seiendes für sich Sein.26

Aus dieser psychologischen und ontologischen Grundstruktur des menschlichen Lebens zieht Schleiermacher den kühnen und für die gesamte weitere Interpretation der Reden bedeutsamen Schluss: […] die Vollkommenheit der intellektuellen Welt besteht darin, daß alle möglichen Verbindungen dieser beiden [Seelen-]Kräfte zwischen den entgegengesetzten Enden, […] nicht nur wirklich in der Menschheit vorhanden seien, sondern auch ein allgemeines Band des Bewußtseins sie alle umschlinge, so daß jeder Einzelne, ohnerachtet er nichts sein kann als er sein muß, dennoch jeden anderen ebenso deutlich erkenne als sich selbst und alle einzelne Darstellungen der Menschheit vollkommen begreife.27

Diese Äußerungen Schleiermachers sind keineswegs unmittelbar verständlich.28 Sie setzen meiner Ansicht nach implizit zwei zentrale Ansichten seiner frühen Seelenlehre voraus, die in den Reden selbst nicht ausführlich thematisiert werden und deswegen im Folgenden unter Zuhilfenahme von einschlägigen Argumenten aus den Monologen herausgearbeitet werden: 29 Erstens: Schleiermacher thematisiert in seiner frühen Seelenlehre die Notwendigkeitsdimension menschlicher Existenz bzw. die ontologische Lebensbedingung jeder Einzelseele. In diesem Zusammenhang geht er von einem metaphysischen Grund der Einzelseele aus. Dementsprechend entstammt ein individueller Seelencharakter seines Erachtens nicht etwa der freien Handlung eines Menschen selbst, sondern er rührt vielmehr von einer ursprünglichen Handlung des allgemeinen Seinsgrundes, dem Universum her. Weil das Universum laut Schleier24 

KGA I/2, 343,22. KGA I/2, 344,15–25. 26  KGA I/12, 60,11–16 (kursiv, C. K.). 27  KGA I/2, 192,5–13. 28  Seifert spricht in diesem Zusammenhang von dem „Gedanke[n] dieser etwas eigenartigen ‚Vollkommenheit‘.“ (Seifert, Theologie, 61) 29  Für die Nähe der Reden zu den Monologen vgl. auch Seifert, Theologie, 64: „Man sieht jedoch den Standpunkt Schleiermachers erst dann deutlich, wenn man Reden und Monologe dialektisch aufeinander bezieht.“ 25 

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macher als „das Unendliche“ bzw. „das Ganze“30 den zureichenden Grund der endlichen Existenz überhaupt bildet, begründet es sowohl das Sein als auch das Sosein jeder Einzelexistenz.31 Folglich ist es für einen Menschen ebenso unmöglich, den eigenen Seelencharakter zu erzeugen, als sich selbst aus eigener Kraft ins Dasein zu bringen. Diese Ansicht von einem metaphysischen Seelencharakter wird in dem obigen Zitat aus den Reden mit der Formulierung Ausdruck verliehen, dass „jeder Einzelne […] nichts anderes sein [kann] als was er sein muß“32 . Zweitens beschreibt Schleiermacher in seiner frühen Seelenlehre die Freiheitsdimension menschlicher Existenz, welche im Rahmen der soeben aufgezeigten Notwendigkeitsdimension liegt. In der ontologischen Vorgegebenheit der menschlichen Lebensbedingungen ist zugleich die Freiheitsdimension menschlicher Existenz bzw. die ontologische Lebensaufgabe des Menschen enthalten, nämlich, und hier paraphrasiere ich Schleiermacher, „immer mehr zu werden, was man bereits ist“.33 Diese ontologisch vorgegebene Lebensaufgabe erklärt sich im Anschluss an die Monologen aus einer für den Menschen charakteristischen Diskrepanz zwischen seinem metaphysischen Seelencharakter und seinem empirischem Bewusstsein von diesem Seelencharakter. Zwar ist es einem Menschen unmöglich gegen seinen ihm vorgegebenen Seelencharakter zu handeln, da jedes zeitliche Handeln in der Welt bereits den vorzeitlich und außerweltlich konstituierten Seelencharakter voraussetzt.34 Aus dem gleichen Grund kann nach Schleiermacher kein Mensch willkürlich verändernd auf seinen Seelencharakter einwirken, denn jede seiner Handlungen bildet bloß einen bestimmten Ausdruck seines metaphysischen Seelencharakters im Ganzen.35 Jedoch beinhaltet die menschliche Unmöglichkeit gegen seinen eigenen Seelencharakter zu handeln keineswegs, dass ein Mensch auch unmittelbar ein deutliches Bewusstsein seines eigenen Seelencharakters besitzt.36 Vielmehr kann 30 

KGA I/2, 230,28. intellektuelle Wesen bekundet seine geistige Natur und seine Individualität dadurch daß es […] auf jene Vermählung des Unendlichen mit dem Endlichen als auf seinen Ursprung zurükführt“, KGA I/2, 306,35 ff. 32  KGA I/2, 192,10 f. 33  Wörtlich heißt es bei Schleiermacher: „Immer mehr zu werden, was ich bin, das ist mein einziger Wille“, KGA I/3, 42,27 f. 34  „Aber wie könnt ich auch wollen, was jenen ersten Willen, durch den ich bin der ich bin, rückgängig machen müßte! Wem diese Beschränkung als fremde Gewalt erscheint, diese, die seines Daseins, seiner Freiheit, seines Willens Bedingung und Wesen ist, der ist mir wunderbar verwirrt.“ (KGA I/12, 372,19–23) Vgl. auch KGA I/3, 42,12–19. 35  Nach Schleiermacher ist „jede Handlung ist eine besondere Entwiklung dieses Einen Willens“, KGA I/3, 42,28 ff. 36  „Allein nur schwer und spät gelangt der Mensch zum vollen Bewußtsein seiner Eigenthümlichkeit; nicht immer wagt ers darauf hinzusehen […] und erst spät lernt er das höchste Vorrecht schäzen und gebrauchen. So muß das unterbrochene Bewußtsein lange 31 „Jedes

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„nur durch Entgegensezung […] das Einzelne erkannt“ werden.37 Aus diesem Grunde bildet sich einem Menschen das deutliche Bewusstsein seines eigentümlichen Seelencharakters nur mittelbar, durch den Vergleich mit den Seelencharakteren anderer Menschen heraus, oder wie Schleiermacher es formuliert, durch ein wechselseitiges „Geben und Empfangen“ bzw. Erkennen und Darstellen.38 Schleiermachers Verständnis der metaphysischen Individualität führt daher keineswegs zu einer Isolation der Menschen voneinander, sondern sie stellt vielmehr umgekehrt die logische Antezedensbedingung und den motivationalen Grund zu jeder möglichen menschlichen Gemeinschaft überhaupt dar.39 Nach Schleiermacher ist ein deutliches Individualbewusstsein somit prinzipiell nur unter Einschluss des menschlichen Gattungsbewusstseins möglich.40 Der gemeinschaftliche Vergleichsprozess führt nicht zu einer Angleichung bzw. Auflösung der individuellen Seelencharaktere, sondern jeder Mensch bleibt in ihm derselbe metaphysische Individualcharakter, der er gewesen ist. Allerdings wird sich jeder Mensch im Verlauf des Vergleichsprozesses mit zunehmender Deutlichkeit seiner selbst als er selbst bewusst, d.h. er begreift im Vergleich mit den Seelencharakteren anderer Menschen seinen metaphysischen

schwankend bleiben; das eigenste Bestreben der Natur wird oftmals nicht bemerkt“, KGA I/3, 18,36–19,7. Vgl. auch KGA I/12, 345,11–21. 37  Vgl. KGA I/3, 21,38 ff. und KGA I/12, 349,13 ff. 38  KGA I/3, 22,7. 39 Vgl. hierzu Heesch, M., „Transzendentale Individualität? Schleiermacher und sein Schüler Rothe im Streit um das Wesen des Endlich-Gegebenen“, Neue Zeitschrift für systematische Theologie 35/3 (1993), 259–265. Heesch gibt den gleichen Zusammenhang des gegenseitigen Sich-Findens der Individuen in Gemeinschaft folgendermaßen wieder: „Nicht etwa die Auf hebung, sondern die Verwirklichung von Individualität ist für Schleiermacher auch die Keimzelle der Intersubjektivität.“ (Heesch, „Transzendentale Individualität?“, 262). 40 Den Ausdruck „Gattungsbewusstsein“ verwendet Schleiermacher in der ersten Auflage der Reden zwar noch nicht. Gleichwohl ist der Sache nach an dieser Stelle der Reden ein solches Bewusstsein von der menschliche Gattung insgesamt gemeint, welches Schleiermacher in der zweiten Auflage der Glaubenslehre als „das jedem Menschen einwohnende Gattungsbewußtsein“ charakterisiert, das ihm zufolge „seine Befriedigung nur findet in dem Heraustreten aus den Schranken der eigenen Persönlichkeit und in dem Aufnehmen der Thatsachen anderer Persönlichkeiten in die eigene.“ (KGA I/13.1, 55,2 ff.) Vgl. zu einer Charakterisierung des Gattungsbewusstseins, das sich mit der hier berhandelten Stelle aus der Erstauflage der Reden deckt: Jørgensen, T., Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis des späteren Schleiermacher (Beiträge zur Historischen Theologie 53), Tübingen 1977, 45 f.: „Der Mensch existiert also nicht schlechthin wie das Tier, dessen Eigentümlichkeit sich mit innerer Notwendigkeit aus dem Naturzusammenhang ergibt. In dem der Mensch um sich selbst weiß, erfährt er seine Existenz als Gabe und Aufgabe zugleich, denn er hat sich selbst zu verwirklichen. Und da der Mensch nicht im leeren Raum lebt, sondern sein Dasein aus einem Zusammenhang her empfängt, sein Dasein also ein gewordenes ist, besteht das Sichselbstverwirklichen auch in der Wahrnehmung dieses Zusammenhanges, also in der Wahrnehmung des Verhältnisses zur Umwelt und vor allem zu anderen Menschen, da er sich selbst als durch andere Menschen gewordener, d.h. als Teil der Menschheit erfährt. […] Deshalb gehört zu dem Sichselbstsetzen das Setzen anderer neben sich wesentlich dazu.“

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Individualcharakter immer „fester und bestimmter“41. Ausschließlich in dem Vergleichsprozess mit den Seelencharakteren anderer Menschen kann der einzelne Mensch folglich seiner ontologischen Lebensaufgabe nachkommen, immer mehr zu werden, was er bereits ist. Diesen Prozess bezeichnet Schleiermacher in den Monologen als das „sich Bilden“42 des Einzelnen in Gemeinschaft. Und weil in diesem Vergleichsvorgang das deutliche Bewusstsein des eigenen Seelencharakters nur nach Maßgabe des deutlichen Bewusstseins anderer der Menschheit insgesamt möglicher Seelencharaktere zunimmt, bestimmt Schleiermacher diese vergleichende „Wechselanschauung“ der Gemüter43 als das „höher[e] Leben“44 bzw. den gemeinschaftlichen Bildungsprozess der Menschheit insgesamt: Wer sich zu einem bestimmten Wesen bilden will, dem muß der Sinn geöffnet sein für alles, was er nicht ist. […] und nur wenn er von sich beständig fordert die ganze Menschheit anzuschauen und jeder andern Darstellung von ihr sich und die seinige entgegen zu sezen, kann er das Bewußtsein seiner Eigenheit erhalten.45

Die Erfüllung der ontologischen Lebensaufgabe jedes einzelnen Menschen, immer mehr zu werden, was er bereits ist, fällt nach Schleiermacher deswegen mit dem Zielpunkt des Bildungsprozesses der Menschheit insgesamt zusammen, der, wie es im obigen Zitat heißt, als ein „allgemeines Band des Bewußtseins“ sämtliche Seelencharaktere der Menschheit umgreift. Für diese, innerweltlich nur approximativ zu erreichende,46 vollkommene Seelengemeinschaft gilt dann, was Schleiermacher in seiner vierten Rede auch als „Bund von Brüdern“47 bezeichnet. Die Menschen sind in ihr in einem gewissen Sinne „Eins“ 41  „Zwar

schein ich mir derselbe noch zu sein, der ich gewesen bin, als mein besseres Leben anfing, nur fester und bestimmter. Wie sollt auch wohl der Mensch, nachdem er einmal zum unabhängigen und eigenen Dasein gelangt ist, mitten im Werden und sich Bilden plötzlich eine andere Natur annehmen, eine andere Seite der Menschheit ergreifen“, KGA I/3, 19,25–30. 42 Ebd. 43  Vgl. KGA I/3, 50,32 f. 44  KGA I/3, 7,20. 45  KGA I/3, 21,38–22,7. 46  „Unendlich ist was ich erkennen und besizen will, und nur in einer unendlichen Reihe des Handelns kann ich mich selbst ganz bestimmen.“ (KGA I/3, 57,41 ff.) 47 KGA I/2, 291,30. Nach Schleiermachers eigener Logik muss dieser Brüderbund selbstverständlich auch „Schwestern“ einschließen, denn die Geschlechterdifferenz bildet bei ihm ein konstitutives Moment des individuellen Seelencharakters. Und ohne ein Bewusstsein der Geschlechterdifferenz ist ein deutliches Selbstbewusstsein des eigentümlichen Seelencharakters unmöglich. Dies wird auch durch ein Zitat aus Schleiermachers Brouillon bestätigt: „Wie der Geschlechtsunterschied nicht in den Geschlechtsteilen allein liegt, sondern auch durch alle organischen Systeme hindurchgeht, so liegt er auch nicht im Körper allein, sondern auch im Psychischen, und es wäre toll keinen Geschlechtsunterschied der Seele anzuerkennen.“ (Schleiermacher, Brouillon, 131,5–10 (kursiv, C. K.)) Zu Schleiermachers Verständnis von der allgemeinen Bedeutung des Geschlechtlichen in der ethischen Theoriebildung vgl. auch Hartlieb, Geschlechterdifferenz.

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geworden, denn „keiner hat ein Bewußtsein für sich, jeder hat zugleich das des Andern, sie sind nicht mehr nur Menschen, sondern auch Menschheit“.48 Nach dieser Analyse der Monologe kann festgehalten werden, dass Schleier­ machers oben zitierte Feststellung49 aus der „Apologie“ als die präzise Zusammenfassung der beiden Fundamentalansichten seiner frühen Seelenlehre aufzufassen ist. Mit der obig zitierten Aussage, dass „die Vollkommenheit der intellektuellen Welt [darin] besteht, daß „[…] ein allgemeines Band des Bewußtseins sie alle umschlinge, so daß jeder Einzelne […] jeden anderen eben so deutliche erkenne als sich selbst, und alle einzelne Darstellungen der Menschheit vollkommen begreife“, bringt Schleiermacher zum Ausdruck: Die ontologische Lebensbedingung jedes Menschen darin, dass ihn das Universum unabhängig von seinem Willen mit einem metaphysischen Seelencharakter ausstattet. Dieser unveränderliche, innere Seelencharakter ist durch eine eigentümliche Mischung der beiden seelischen Grundtriebe des Menschen, dem Individuations- und dem Totalitätstrieb, charakterisiert. Die ontologische Lebensaufgabe jedes Menschen besteht darin, den ihm vorgegebenen metaphysischen Seelencharakter deutlich zu erfassen und auf diese Weise sich selbst immer fester und bestimmter zu erkennen. Weil sich aber Schleiermacher zufolge ein deutliches Individual- und Gattungsbewusstsein wechselseitig voraussetzen, kann sich die Lebensaufgabe jedes Menschen erst in einem Bildungsprozess des wechselseitigen Vergleichs mit den Seelencharakteren anderer Menschen vollenden. Das höchste Ziel des menschlichen Lebens besteht nach Schleiermacher somit in dem deutlichen Selbstbewusstsein der Menschheit in Form einer „lebendigen Gemeinschaft der Einzelnen“50, deren Inhalt in der Totalität der möglichen Vielheiten im gegenseitigen Bewusstsein besteht. Die dargestellte sachliche Verschränkung von ontologischer Lebensbedingung und ontologischen Lebensaufgabe bildet Schleiermachers eigenen An­ gaben zufolge das Zentrum seiner gesamten frühen Seelenlehre und stellt dementsprechend, wie es in den Monologen heißt, seine „höchste Ansicht“ in dieser Zeit dar: Es genügte mir nicht, die Menschheit in ungebildeten rohen Maßen anzuschaun, welche innerlich sich völlig gleich, nur äußerlich durch Reibung und Berührung vorübergehende flüchtige Phänomene bilden. So ist mir aufgegangen, was jezt meine höchste Anschauung ist, es ist mir klar geworden, das jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sie 48 

KGA I/2, 291,32 ff. (kursiv, C. K.) KGA I/2, 192,5–13. 50 Dieser Ausdruck stammt aus Schleiermachers Weihnachtsfeier in: KGA I/5, 95,19  f. Auch U. Barth sieht hier eine Parallele zwischen der Weihnachtsfeier und den Reden und Monologen (Barth, U., Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 256). Vgl. auch Niebuhr, R. R., Schleiermacher on Christ and Religion, London 1965, 33: „The individual is constituted a person not simply by his participation in Reason but also by his standing forth as a peculiar embodiment of Reason in a community of other persons likewise constituted.“ 49 

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Erstes Kapitel:  Neubesinnung auf das Religionsphänomen

sich offenbare, und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit alles, was aus ihrem Schoß hervorgehen kann.51

Zusammenfassend kann meines Erachtens Schleiermachers frühe Seelenlehre in den Reden und Monologen, weil sie die Freiheitsdimension des menschlichen Lebens und Handelns im Rahmen der Notwendigkeitsdimension eines jedem Menschen metaphysisch vorgegebenen individuellen Seelencharakters thematisiert, allgemein als eine Theorie der endlichen Freiheit charakterisiert werden. Wesentliche Grundzüge zu dieser Theorie wurden von Schleiermacher bereits in den Frühschriften, in der Theorie des geselligen Betragens52 und in Über die Freiheit53 erarbeitet.54 Aber erst in den Reden und den Monologen präsentiert Schleiermacher eine die Grundeinsichten beider Frühschriften verbindende und damit ausgereifte Konzeption von der endlichen Freiheit des Menschen. Somit kann festgehalten werden, dass die von Schleiermacher in seiner ersten Rede vorgetragene allgemeine Bildungstheorie der Menschheit ihre Grundlagen aus seiner frühen Seelenlehre bezieht. 2.  Die Realgestalt des menschlichen Bildungsprozesses Im zweiten Abschnitt seiner Darstellung des menschlichen Bildungsprozesses wechselt Schleiermacher die Perspektive. Nachdem er bislang dessen Idealgestalt beschrieben hat, untersucht er in KGA I/2, 192,13–39, auf welche Weise der Bildungsprozess real erfolgen kann.55 Hierbei konzentriert er sich auf die sog. extremen Seelencharaktere, die sich an den äußeren Rändern des Seelenmischungsspektrums einander unversöhnlich gegenüberstehen. Der Seelencharakter dieser Menschen ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihm einer der beiden seelischen Grundtriebe den anderen in einem derartigen Übermaß dominiert, dass der jeweils unterdrückte unwirksam bleibt: Auf der einen Seite stehen die von einem radikalen Individuationstrieb Beherrschten. Sie sind vom Totalitätstrieb „zu wenig durchdrungen“56 , um etwas 51 

KGA I/3, 18,13–21. KGA I/2, 42–75. 53  KGA, I/1, 217–356. 54 Vgl. hierzu Oberdorfer, Geselligkeit, 495–510 und Meckenstock, Deterministische Ethik, 52–129. 55  Vgl. auch Wittekind, „Die Vision“, 402 f.: „Auf dem Hintergrund des von Schleiermacher vorausgesetzten Existierens lauter verschiedener Individuen, die jeweils eine bestimmte Mischung der beiden Grundkräfte darstellen, ergibt sich die Fragestellung nach der Möglichkeit von menschlicher Kultur als eines sinnvollen Zusammenhangs der einzelnen Menschen.“ Auch die allgemeine Aufgabe, die sich Schleiermacher in diesem Zusammenhang stellt, wird von Wittekind zutreffend festgehalten: „Der angestrebte Zusammenhang der Kultur, der über das Nebeneinander der einzelnen Menschen hinausgeht, ist […] doppelt bestimmt: Einerseits ist Kultur formal eine Verbindung der einzelnen Menschen, andererseits ist diese Verbindung inhaltlich zu bestimmen als eine transindividuelle Vermittlung der beiden Grundkräfte der menschlichen Existenz.“ 56  KGA I/12, 18,7. 52 

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anderes als nur ihre eigene Selbsterhaltung zu erstreben. Aus diesem Grunde gelangen sie nach Schleiermacher zu keinem Bewusstsein von dem gemeinschaftlichen Wesen der Menschheit, sondern bleiben auf die „Wahrnehmungen des Einzelnen“57 beschränkt. Ihr höchstes Ziel stellt dementsprechend die Befriedigung ihrer „unersättlichen Sinnlichkeit“ dar.58 Auf der anderen Seite stehen die von einem bedingungslosen Totalitätsstreben beherrschten Seelencharaktere, von Schleiermacher zugespitzt als „bloß spekulative Idealisten“59 bezeichnet. Sie verfügen über kein Verständnis vom vielfältigen Wesen der Menschheit, weil sie sich nicht des der Menschheit innewohnenden principium individuationis bewusst sind. Ihnen gelingt es weder die Menschheit in sich selbst auf eigentümliche Weise zu bilden, noch auf spezifische Weise äußerlich gestaltend in dieselbe einzugreifen. Stattdessen verlieren sie sich im müßigen Aufstellen „leerer Ideale“60, denen keine Realität zukommen kann, weil sie alles eigentümlich Gebildete verachten. Die Beschreibung zeigt, dass es den beiden extremen Seelencharakteren trotz ihrer inhaltlichen Gegensätzlichkeit nach Schleiermacher wesentlich gemeinsam ist, den in ihnen jeweils dominierenden Seelentrieb nicht nur als relativ dominant, sondern vielmehr als absolut zu setzen. Infolgedessen wird ein ontologisch nur relatives Triebmoment ihres Seelencharakters empirisch zur Totalität erhoben. Dies hat nach Schleiermacher gravierende Konsequenzen: Erstens für die extremen Seelencharaktere selbst. Seines Erachtens fehlt ihnen eine tragfähige Basis, um sich zu andersgearteten Menschen positiv in Beziehung zu setzen. Hierzu müssten sie sich einer Gemeinsamkeit zwischen ihrem eigenen und den fremden Seelencharakteren anderer Menschen bewusst sein. Schleiermacher spricht in diesem Zusammenhang von einem Insichgekehrtsein der extremen Seelencharaktere.61 Weil sie nicht einmal in sich selbst die Wechselwirkung der beiden seelischen Grundtriebe wahrnehmen können, ist es ihnen erst recht unmöglich, ein Verständnis für Menschen mit andersgearteten Seelenmischungen aufzubringen, geschweige denn, sich selbst in den andersgearteten Menschen wieder zu erkennen. Beide extremen Seelencharaktere stehen folglich zu allen anderen Menschen in einem rein negativen Ausschlussverhältnis. Weil aber, wie bereits gezeigt, ohne einen positiven Bezug zu andersgearteten Seelencharakteren für den Menschen keine Möglichkeit besteht, den eigenen Seelencharakter deutlich zu erkennen, können die extremen Seelencharaktere die ihnen vom Universum auferlegte ontologische Lebensaufgabe, immer mehr zu werden, was sie bereits sind, nicht erfüllen.62 57  KGA

I/2, 192,19. KGA I/2, 192,14 f. 59  KGA I/2, 193,18. 60  KGA I/2, 192,24. 61  KGA I/2, 192,14. 62 In Bezug auf die vom radikalen Individuationsprinzip beherrschten Menschen stellt 58 

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Das zweite schwerwiegende Problem im Zusammenhang mit den extremen Seelencharakteren erwächst für den Bildungsprozess der Menschheit insgesamt. Nach Schleiermacher kann die Vollkommenheit der intellektuellen Welt bzw. das Selbstbewusstsein der Menschheit nur unter der Bedingung erreicht werden, dass alle der Menschheit insgesamt mögliche Seelencharaktere sich in einem gemeinschaftlichen Bildungsprozess wechselseitig miteinander erkennend vergleichen. Weil aber die einseitige Bestimmtheit der extremen Seelencharaktere bei ihnen sowohl zu einer empirischen Blindheit gegenüber andersgearteten Seelencharakteren führt, als auch die faktische Abneigung beinhaltet, mit andersgearteten Menschen in eine Darstellungs- und Erkenntnisgemeinschaft einzutreten, gerät folglich das gesamte Bildungsprojekt der Menschheit in Gefahr. Schleiermacher spricht in diesem Zusammenhang von einem Sichvereinzeln der extremen Seelencharaktere.63 Durch ihre Vereinzelung kündigen sie den anderen Menschen die Gemeinschaft auf und berauben diese hiermit der für ein deutliches Selbstbewusstsein notwendigen seelischen Vergleichsmöglichkeiten. Auf diese Weise bleibt der menschliche Bildungsprozess durch das Auftreten der extremen Seelencharaktere zwangsläufig unvollendet und das Selbstbewusstsein der Menschheit defizitär. Deshalb bleibt nach Schleiermacher nicht allein aufgrund ihres Insichgekehrtseins für sie der individuelle Lebenssinn versagt, sondern vielmehr wird auch aufgrund ihres Sichvereinzelns durch sie der „Endzweck der Natur […] gänzlich verfehlt“64. Als Ergebnis dieses zweiten Abschnitts kann festgehalten werden: Schleiermacher hat anhand der Problematik der extremen Seelencharaktere dargestellt, dass der ideal gedachte Bildungsprozess real nur zustande kommen kann, wenn bei jedem Menschen sowohl ein Insichgekehrtsein als auch ein Sichvereinzeln überwunden ist. Der für die weitere Untersuchung entscheidende Punkt besteht für Schleiermacher darin, dass die Überwindung dieser sozialen Isolation ein Verständnis für fremde Seelencharaktere zur Voraussetzung hat. Zu einem derartigen VerSchleiermacher dieses Dilemma in seinen Monologen wie folgt dar: „So sieht der Sinnliche […] Alles einzeln nur und endlich. Er kann sich selbst nicht anders faßen als einen Inbegrif von flüchtigen Erscheinungen, da immer eine die andere auf hebt und zerstört, die nicht zusammen zu begreifen sind; ein volles Bild von seinem Wesen zerfließt in tausend Widersprüchen ihm.“ (KGA I/3, 12,16–21 (kursiv, C. K.)) 63  KGA I/2, 192,15. 64  KGA I/2, 192,35 f. Vgl. dazu auch Schlegel, Ueber die Philosophie. An Dorothea, KFSA VIII, 41–62: „Wo keine unerschütterliche Selbstständigkeit ist, da kann das Streben nach beständigem Fortschreiten den Geist leicht in die Welt zerstreuen, und das Gemüth verwirren, und nur gränzenlose Liebe im Mittelpunkte der Kraft wird die Kreise der menschlichen Thätigkeit bey jedem neuen Ausfluge weiter und mächtiger dehnen.“ Wo es hingegen „an Tugend und an Liebe gebricht, da weiß der Hang zur Verbesserung von keiner Rückkehr in sich selbst […], und entartet in wilde Zerstörungssucht; oder der bildende Trieb zieht sich, wenn er ein äußerstes erreicht hat, in die Enge, und verlischt leise in sich selbst, wie es schon so oft […] geschah.“

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ständnis kann ein Mensch aber nur, wie im vorigen Abschnitt bereits gezeigt, durch ein Gattungsbewusstsein, d.h. ein bereits vorausgehendes Bewusstsein der Menschheit in ihm selbst befähigt werden. Und zwar muss dieses Bewusstsein der Menschheit in einem selbst sowohl das den extremen Individualcharakteren abgehende Bewusstsein der Wesensgleichheit aller Menschen umfassen als auch das den extremen Totalitätscharakteren fehlende Bewusstsein beinhalten, dass sich die Menschheit nicht in einer einzigen Form, sondern ausschließlich in einer unendlichen Vielzahl von seelischen Individualcharakteren real manifestiert. Die erfolgreiche Teilnahme eines Menschen am gemeinschaftlichen Bildungsprozess der Menschheit setzt folglich ein aktual in ihm vorhandenes Selbst- und Gattungsbewusstsein voraus, welches, wie Schleiermacher es in den Monologen formuliert, das „eigentümlich[e] Sein und das Verhältnis desselben zur Menschheit“65 beinhaltet. Fehlt einem Menschen dieses intern differenzierte Selbstbewusstsein, wie im Fall der extremen Seelencharaktere, so bleibt ihm notwendigerweise „das Wesen der übrigen Menschheit unbekannt“66 und der Bildungsprozess der Menschheit unvollendet. Die Thematik der extremen Seelencharaktere bildet folglich kein isoliertes Problemfeld, sondern in ihr präsentiert sich nach Schleiermacher vielmehr die fundamentale Aporie der menschlichen Existenz selbst, dass nämlich die Mensch­ heit, obwohl ihr der Grund und das Ziel des irdischen Daseins vom Universum vorgegeben sind, ihren Zweck aus eigenen Kräften nicht zu erreichen im Stande ist. Zugleich hat Schleiermacher im zweiten Abschnitt allerdings implizit auch auf das Problem der Bildung eines derartigen intern differenzierten Selbstbewusstseins hingewiesen. Auf der einen Seite kann diese Selbstbewusstseinsbildung, da sie die Möglichkeitsbedingung der Teilnahme am gemeinschaftlichen Bildungsprozess darstellt, selbst nicht wiederum vermittels des Bildungsprozesses zustande kommen, sondern muss diesem vielmehr unmittelbar vorausliegen. Auf der anderen Seite können die extremen Seelencharaktere aus sich selbst heraus kein solches Selbstbewusstsein ausbilden, da sie, wie gezeigt, durch metaphysische Blindheit geschlagen sind. Auf diese Weise hat Schleiermacher folglich auch dargelegt, dass ein unmittelbares und intern differenziertes Selbst­ bewusstsein die Möglichkeitsbedingung für jedes vermittelte und deutliche Selbstbewusstsein darstellt. Falls der reale Bildungsprozess der Menschheit dennoch erfolgen und damit die Aporie der menschlichen Existenz aufgelöst werden soll, muss es in der Geschichte einen besonderen Bildungsvorgang geben, bei dem die extremen Seelencharaktere durch eine von außen erfolgende Einwirkung unmittelbar in ihrem

65 

66 

KGA I/3, 26,13 ff. KGA I/2, 192,20 f.

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Erstes Kapitel:  Neubesinnung auf das Religionsphänomen

Selbstbewusstsein gebildet werden. Anhand des höheren Berufs sog. Mittler unternimmt es Schleiermacher ein derartiges Bildungsgeschehen zu beschreiben. 3.  Die Funktion der Mittler im menschlichen Bildungsprozess Aus der aufgezeigten realen Zwangslage werden die Menschen nach Schleiermacher allein durch das Universum bzw. in personalisierter Form durch „die Gottheit“67 selbst befreit, welche die „Mittler“68 auf die Erde sendet, damit diese durch ihr Wesen und ihre Tätigkeit die extremen Seelencharaktere in den Selbstbewusstseinsprozess der Menschheit eingliedern.69 Dieses göttliche Sendungsgeschehen manifestiert sich in dem „höheren Beruf “ der Mittler, in dem sowohl ihre spezifische Lebensbedingung als auch ihre spezifische Lebensaufgabe zum Ausdruck kommen. Demgemäß wird der höhere Beruf der Mittler von Schleier­m acher in zweifacher Hinsicht näher charakterisiert: Erstens: Das Wesen der Mittler besteht darin, dass in ihnen die beiden seelischen Grundtriebe auf „fruchtbarere Weise“70 als bei sämtlichen anderen Menschen aufeinander bezogen sind.71 Zwar ist auch in ihnen einer der beiden seelischen Grundtriebe in einem hohen Grad vorhanden und wirkt dominant. Dennoch führt diese Dominanz bei den Mittlern nicht zu einer empirischen Verabsolutierung eines Seelentriebs, sondern es ergibt sich vielmehr eine wechselseitige Bezugnahme der beiden Seelentriebe aufeinander. Auf der einen Seite nimmt der stärkere Seelentrieb den schwächeren in sich auf und auf der anderen Seite bleibt der schwächere Seelentrieb im stärkeren erhalten, indem er ihn wirksam durchdringt. Die konträren Grundtriebe des 67 

KGA I/2, 192,40. KGA I/2, 193,3. 69  Scholtz weist darauf hin, dass der Messias von Klopstock die literarische Vorlage von Schleiermachers Verständnis des Mittlers abgegeben haben könnte (vgl. Scholtz, G. „Schleiermacher und die Kunstreligion“, in: 200 Jahre „Reden über die Religion“, 515–533, hier: 524). Dies ist sicherlich zu einseitig, da es den neutestamentlichen Hintergrund des Mittlergedankens ausblendet, auf den sich auch Klopstock durchgehend bezieht (vgl. hierzu: Klopstock, F. G., Der Messias, Bd. I: Text, hrsg. v. E. Höpker-Herberg, in: ders., Historisch– Kritische Ausgabe Bd. IV/I, Berlin/New York 1974, 1, V.21; 2, V.44; 3, V.71.). Andere literarische Vorlagen für die Mittlerfigur finden sich neben Klopstock auch einschlägig bei Novalis (Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Historisch-kritische Ausgabe in vier Bänden und einem Begleitand [=HKA], hrsg. v. P. Kluckhorn/R. Samuel in Zusammenarbeit mit H.-J. Mähl/G. Schulz, Stuttgart 1975 ff., hier: HKA 2, Fr. 26 „Blüthenstaub“, 418) und bei Friedrich Schlegel (vgl. Schlegel, Athenaeums-Fragment Nr.  234, KFSA II, 203 f. und Ders., Ideen Nr.  42, KFSA II, 260). Vgl. zu dem Mittlergedanken in der Frühromantik auch einschlägig: Sommer, W., Schleiermacher und Novalis. Die Christologie des jungen Schleiermacher und ihre Beziehung zum Christusbild des Novalis, Frankfurt a. M./Bern 1973, 86–99. 70  KGA I/2, 193,1. 71 Vgl. Wittekind, „Die Vision“, 403: „Die Entstehung einer menschlichen Kultur als einer Verbindung der Menschen untereinander hängt also nicht an dem bloßen Vorkommen der beiden Grundkräfte der menschlichen Seele, sondern stellt eine neue Weise der Verbindung dieser beiden Kräfte dar.“ 68 

§  1  Schleiermachers allgemeine Bildungstheorie

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Menschen sind folglich in den Mittlern miteinander versöhnt, weil ihr Seelencharakter eine in sich differenzierte Einheit bildet, in welcher die beiden seelischen Grundtriebe als relativ aufeinander bezogene Momente in Wechselwirkung miteinander stehen. Auf diese Weise werden beide Seelentriebe auf einer höheren Ebene miteinander „vermählt“72 , wodurch bei den Mittlern eine „Harmonie des Wesens“73 besteht, weil dasjenige, das in dem einen Trieb negiert wird, in dem anderen Trieb enthalten und zufriedengestellt ist.74 Weil Schleiermacher zufolge das Gemüt den Inbegriff der menschlichen Grundtriebe darstellt, bildet erst diese harmonische Beziehung beider seelischer Grundtriebe im eigentlichen Sinne eine einheitliche Gemütskraft. Die Gemütskraft stellt die höhere Entwicklungsstufe der vereinzelten Grundtriebe dar, denn sie enthält dieselben in vergeistigter, d.h. gebildeter Form. Aufgrund ihrer vom Universum vorgegebenen Seelenharmonie sind die Mittler folglich dazu berufen, die „ausgezeichneten und höheren Repräsentanten der Menschheit“ darzustellen.75 Ihre ursprünglich durch das Universum vorgegebene Seelenharmonie führt bei den Mittlern dazu, dass sie sich in ihrem Selbstbewusstsein unmittelbar des eigenen Selbst und des Verhältnisses desselben zur Menschheit klar bewusst sind. Ihr Selbstbewusstsein entspringt nicht aus dem aktiven Vergleichen mit anderen Seelencharakteren, sondern es stellt sich nach Schleiermacher vielmehr durch eine göttliche Berufung 76 bzw. eine „unmittelbare Eingebung von oben“77 ein. Man könnte in Anlehnung an die bei Leibniz78 und Kant 79 getroffene Diffe72 

KGA I/12, 18,19. KGA I/12, 19,12. 74  KGA I/2, 231, 9 f. Vgl. dazu sachlich Schelling: „Enthalten heißt im lateinischen continere, und wir können sagen: quod continet, contentum reddit id quod continet, d.h. was enthält, begnügt das, was in ihm enthalten ist; contentum esse aliqua in re, wirklich durch etwas oder von etwas enthalten seyn, bedeutet so viel als von etwas begnügt, zufrieden sein.“ (Schelling, Philosophie der Mythologie, SW XII, 50,1–5.) 75  KGA I/2, 231,6 f. Gegen Hörisch ist festzuhalten, dass die hohe Bedeutung der Mittler bei Schleiermacher keineswegs als ironisch abwertend aufzufassen ist (vgl. Hörisch, J. „Der Mittler und die Wut des Verstehens. Schleiermachers Frühromantische Anti-Hermeneutik“, in: E. Behler/J. Hörisch (Hgg.), Die Aktualität der Frühromantik, Paderborn/München/Wien/ Zürich 1987, 19–32). Zu Recht hat Scholtz die Argumentation von Hörisch, demzufolge sich Schleiermacher in seiner Darstellung der Mittler an der lächerlichen Figur des Stolz aus ­Goethes Wahlverwandtschaften orientiert, als „bizarre Konstruktion“ zurückgewiesen (vgl. Scholtz, G., Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frank­f urt a. M. 1995, 95). 76  Vgl. dazu auch Bauer, M., Schlegel und Schleiermacher. Frühromantische Kunstkritik und Hermeneutik, Paderborn 2011, 233. 77  KGA I/2, 251,22 ff. und KGA I/2, 232,1 ff. 78  Leibniz, G. W., „Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen“, in: ders., Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Teil I (Philosophische Bibliothek 496), übers. v. A. Buchenau, hrsg. v. E. Cassirer, Hamburg 1996, 22–29. 79  Nach Kant ist „eine Vorstellung […] klar, in der das Bewußtsein zum Bewußtsein des Unterschiedes derselben von anderen zureicht. […] Reicht diese [Vorstellung, C. K.] zwar zur 73 

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Erstes Kapitel:  Neubesinnung auf das Religionsphänomen

renzierung zwischen einem „dunklen“, „klaren“ und „deutlichen“ Bewusstsein von Vorstellungen, Schleiermachers Wesensbeschreibung der Mittler dahin­ gehend präzisieren, dass bei ihnen zum einen im Unterschied zu den extremen Seelencharakteren kein unmittelbar dunkles Selbstbewusstsein vorherrscht und zum anderen im Unterschied zum allgemeinen Bildungsprozess der Menschheit kein vermitteltes deutliches Selbstbewusstsein besteht, sondern bei ihnen vielmehr ein unmittelbares klares Selbstbewusstsein der Menschheit vorliegt. Die Mittler bestimmen somit das Individual- und Menschheitsbewusstsein in ihrer Person nicht vollständig. Dazu bedarf es des wechselseitigen Vergleichs mit den Seelencharakteren anderer Menschen.80 Bei dem unmittelbar klaren Selbstbewusstsein der Mittler handelt es sich demgemäß um das bereits im letzten Abschnitt beschriebene und gesuchte intern differenzierte Selbstbewusstsein, welches die extremen Seelencharaktere nicht besaßen und daher nicht am gemeinsamen Bildungsprozess der Menschheit partizipieren konnten. Offen bleibt allerdings noch die Frage, wie dieses unmittelbar klare Selbst­ bewusstsein der Mittler dazu führen kann, in den extremen Seelencharakteren dem Insichgekehrtsein und Sichvereinzeln entgegenzuwirken. Mit dieser Frage beschäftigt sich Schleiermacher in seiner Beschreibung der den Mittlern eigentümlichen Berufstätigkeit. Zweitens: Die auf ihre Berufung zurückgehende spezifische Berufstätigkeit der Mittler fasst Schleiermacher unter dem Topos der Mitteilung bzw. der Gemütskraftübertragung zusammen.81 Sie besitzen die Fähigkeit ihr unmittelbar klares Selbstbewusstsein anderen mitzuteilen, wodurch diese zur nachahmenden Selbstbildung angeregt werden. Die Mittler stellen also im gewissen Sinne Vorbilder dar, anhand deren sich die extremen Seelencharaktere selbstständig nachzubilden vermögen.82 Ermöglicht wird dieses Geschehen dadurch, dass die Seelenharmonie der Mittler nach Schleiermacher nicht bloß ein einförmiges Triebgleichgewicht Unterscheidung, aber nicht zum Bewußtsein des Unterschiedes zu, so müßte diese Vorstellung noch dunkel genannt werden. […] Dasjenige aber, wodurch auch die Zusammensetzung der Vorstellung klar wird, heißt Deutlichkeit.“ Kant, I., Kritik der reinen Vernunft. Zweite Auflage, in: Kants gesammelte Schriften [=AA], hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff., hier: AA III, B 414 f. 80  Die in den Reden noch implizite Unterscheidung zwischen einem klaren und deutlichen Selbstbewusstsein wird von Schleiermacher später in der Glaubenslehre durch die explizite Unterscheidung zwischen der „Klarheit und Vollständigkeit“ (KGA I/13.1, 28,23 f.) des Selbstbewusstseins aufgegriffen und begrifflich geschärft. 81  KGA I/2, 193,2. Vgl. auch KGA I/13.1, 83,5. 82 Vgl. Wittekind, „Die Vision“, 404: „Diese Mittler vermögen sich auf den extremen Standpunkt der bloß Sinnlichen ebenso zu versetzen wie auf den der ‚spekulativen Idealisten‘ […] und können dadurch eine kommunikative Verbindung zu diesen herstellen, sie können aber eben von diesen Standpunkten aus jeweils das fehlende Element erreichen und die Notwendigkeit seiner Ergänzung zur vollendeten Bildung dartun.“

§  1  Schleiermachers allgemeine Bildungstheorie

65

darstellt, sondern es sich bei ihr vielmehr um einen „lebendigen Verein“83 der beiden seelischen Grundtriebe handelt. Der harmonische Seelencharakter der Mittler stellt folglich nicht etwa eine tote und „zur Ruhe gebrachte Mischung“84 dar, sondern er erweist sich als überaus reaktionsfreudig, denn trotz der gegenseitigen Wechselwirkung seiner beiden seelischen Grundtriebe wird das Gemüt der Mittler von einem Seelentrieb relativ dominiert bzw. von einer spezifischen Gemütskraft durchdrungen. Demgemäß gibt es nach Schleiermacher zwei Mittlertypen: einen sittlichen und einen religiösen.85 Diesen beiden Typen ordnet Schleiermacher jeweils einen inneren Beruf bzw. eine höhere Berufstätigkeit zu. Im Fall der sittlichen Mittler ist es der „moralische Beruf “86 , bei dem religiösen Mittler dagegen der „göttliche Beruf “87. Und weil diese beiden Mittlertypen gemeinsam das Spektrum möglicher harmonisch ausgebildeter Seelencharaktere der Menschen bilden, stellen ihre Lebensaufgaben folglich zusammengenommen den höheren „zwiefache[n] Beruf der Menschen auf der Erde“88 dar. Im Detail charakterisiert Schleiermacher die Berufstätigkeit beider Mittlertypen wie folgt: In den sittlichen Mittlern ist der Totalitätstrieb in den dominanten Individuationstrieb integriert. Aufgrund ihrer sittlichen Gemütskraft sind diese Mittler im Unterschied zu den Seelencharakteren der extremen Genusssucht nicht darauf aus, die sinnlichen Einzelgegenstände aus dem Zusammenhang des Ganzen herauszureißen und das Allgemeine im Besonderen aufzulösen, sondern sie sind vielmehr darum bemüht, in einem gewissen Rahmen Ordnung und Gestaltung in die sinnlichen Einzeldinge hineinzubringen, d.h. das Allgemeine in das Beson-

83  KGA

I/12, 18,31. KGA I/2, 192,36 f. 85  Anders sieht dies Ehrhardt, Religion, Bildung und Erziehung, 166: „Eine Übertragung des Mittlergedankens auf die Rolle von Religion ist von Schleiermacher nicht intendiert. So liegt es ihm fern diesen Gedanken etwa für eine Verbindung von Religion und Bildung ins Spiel zu bringen.“ Gegen diese Ansicht ist anzuführen, dass der Gedanke eines Mittlers bei Schleiermacher erstens nicht bloß irgendeine Bedeutung, sondern vielmehr die zentrale Bedeutung in der religiösen Bildung einnimmt (vgl. KGA I/2, 242,3–6: „Jeder Mensch […] bedarf allerdings eines Mittlers, eines Anführers der seinen Sinn für Religion aus dem ersten Schlummer weke und ihm eine erste Richtung gebe“). Damit zusammenhängend muss zweitens festgehalten werden, dass Schleiermacher die religiöse Bildung durch religiöse Mittlergestalten als eine notwendige Bedingung adäquater menschlicher Bildung überhaupt ansieht, die ohne eine zumindest „dunkle Ahndung des Universums“ (KGA I/2, 261,20) ihm zufolge nicht erfolgreich erworben werden kann (vgl. auch KGA I/2, 212,22–213,26). Vgl. auch Braungart, C., Mitteilung durch Darstellung. Schleiermachers Verständnis der Heilsvermittlung, Marburg 1997, hier: 269–282; 311–316; 325–337. 86  KGA I/2, 288,30. 87  KGA I/2, 191,6. 88  KGA I/3, 19,37 f. 84 

66

Erstes Kapitel:  Neubesinnung auf das Religionsphänomen

dere zu integrieren.89 Der moralische Beruf der sittlichen Mittler ist folglich die Hervorbringung des vernünftigen „Werks“90 und ihr Ziel ist „die Bildung der Erde“ durch die Vernichtung „der Herrschaft der Naturkräfte über den Menschen“91. Die sittlichen Mittler bilden nach Schleiermacher den Grundtypus des vernünftigen menschlichen Handelns und Wirkens in der Welt und werden in seiner Ethik als Repräsentanten des „organisierenden Handelns“92 bezeichnet. Dementsprechend bestimmt Schleiermacher die sittlichen Mittler auch als „Helden Gesezgeber Erfinder Bezwinger der Natur, gute Dämonen“93. Aufgrund ihrer sittlichen Gemütskraft können diese Mittler auf die Menschen mit einem extremen Totalitätstrieb anregend wirken. Man kann nach Schleiermacher sagen, dass durch ihre vorbildhafte Darstellung dieses Zugleich von Überschuss des Individualstrebens einerseits und der Integration des Totalitätstriebs andererseits überhaupt erst für die extremen Totalitätscharaktere die Möglichkeit besteht, in sich selbst auf den Individuationstrieb aufmerksam zu werden. Die sittlichen Mittler wecken das Selbstbewusstsein der extremen Totalitätscharaktere zur Wahrnehmung des ihnen vorgegebenen principiium individuationis. Hierdurch wird diesen bewusst, dass sie die Menschheit nicht in leeren Idealen manifestieren sollen, sondern in Form des ihnen vorgegebenen individuellen Seelencharakters. In Schleiermachers eigenen Worten werden folglich die extremen Totalitätscharaktere durch die sittlichen Mittler zur Bildung ihrer eigenen sittlichen Gemütskraft angeregt und auf diese Weise sowohl mit der Erde ausgesöhnt als auch mit ihrem individuellen „Plaze auf derselben.“94 In den religiösen Mittlern ist hingegen im dominanten Totalitätstrieb der Individuationstrieb wirksam integriert.95 Im Unterschied zu den Menschen mit extremem Totalitätstrieb sind diese Mittler aufgrund ihrer religiösen Gemütskraft nicht darauf aus, das Besondere in einem unbestimmten Allgemeinen aufzulösen, sondern vielmehr streben sie danach, den sich ihnen bietenden allgemeinen Zusammenhang aller Dinge „als einen mittheilbaren Gegenstand in Bildern und Worten“96 außer sich hinzustellen. Auf diese Weise bilden sie nach Schleier­ macher das „Unendliche“97 auf endliche Weise ab bzw. stellen im Endlichen das Unendliche dar. Der göttliche Beruf der religiösen Mittler besteht demgemäß in „begeisterten Reden“98 und ihr Ziel ist das allgemeine „Priesterthum der

89 

KGA I/2, 193,4–15. KGA I/12, 18,22. 91  KGA I/2, 224,4 f. 92  Schleiermacher, Ethik (1812/16), 35. Vgl. auch Wittekind, „Die Vision“, 404. 93  KGA I/2, 193,13 f. 94  KGA I/2, 193,19 f. 95  KGA I/2, 193,37–194,3. 96  KGA I/2, 193,32. 97  KGA I/2, 193,31. 98  KGA I/2, 194,11. 90 

§  1  Schleiermachers allgemeine Bildungstheorie

67

Menschheit“99, in welchem jeder Mensch ein „empfängliches Gemüt“100 für das Universum besitzt. Die religiösen Mittler bilden nach Schleiermacher den Grundtypus des individuell-vernünftigen Redens in der Welt, das er später in seiner Ethik als individuell-symbolisierendes Handeln bezeichnet.101 Dementsprechend bestimmt er sie als „Dichter oder Seher, als Redner oder als Künstler“102 . Aufgrund ihrer spezifischen Gemütskraft können die religiösen Mittler auf die Menschen mit einem extremen Individuationstrieb anregend wirken. Indem sie in ihren begeisterten Reden den Individuationstrieb als wirksam im Totalitätstrieb präsentieren, zeigen sie auf, dass zwischen beiden Trieben kein trennender Gegensatz besteht. Damit eröffnen sie den extremen Individualcharakteren die Möglichkeit, den Totalitätstrieb in sich als wirksam zu erfahren und ihrerseits die religiöse Gemütskraft in sich auszubilden. In diesem Mitteilungsgeschehen werden die religiösen Mittler damit zu „Dolmetschern“103 des göttlichen Willens, weil sie das dunkle Selbstbewusstsein der extremen Individualcharaktere zu einer Wahrnehmung des gemeinsamen menschlichen Wesens und zu der einheit­ lichen Ordnung der Wirklichkeit insgesamt anregen. Dadurch wird diesen bewusst, dass sie nicht als isolierte Einzelwesen existieren, sondern vielmehr ein konstitutives Element im allgemeinen Ganzen bilden. Auf diese Weise werden durch die Mitteilung der religiösen Gemütskraft die „Söhne der Erde“ sowohl mit dem Himmel ausgesöhnt als auch ihre „schwerfällige Anhänglichkeit […] an den gröberen Stoff “ überwunden.104 Indem somit beide Mittlertypen ihr unmittelbar klares Selbstbewusstsein in Form einer spezifisch ausgebildeten Gemütskraft in endlichen Handlungen manifestieren, vermögen sie von außen bei den extremen Seelencharakteren in jeweils spezifischer Hinsicht den Sinn für die bisher in ihnen bloß dunkel vor­ liegende Wechselwirkung der beiden seelischen Grundtriebe anzuregen und derart den Grundstein für eine selbständige Nachbildung der jeweiligen Gemütskraft zu legen. Auf diese Weise können die extremen Seelencharaktere ihr dunkles Selbstbewusstsein überwinden und ihnen geht das klare Bewusstsein für ihr „eigentümliches Sein und das Verhältnis desselben zur Menschheit“105 auf. Hierdurch kann folglich das Insichgekehrtsein der extremen Seelencharaktere aufgebrochen werden.106 99 

KGA I/2, 194,15. KGA I/2, 194,12. 101  Schleiermacher, Ethik (1812/16), 70. 102  KGA I/2, 193,36 f. 103  KGA I/2, 193,3. 104  KGA I/2, 194,4 ff. 105  KGA I/3, 26,13 ff. 106  „[…] nur wenn er [der Mensch, C. K.] von sich beständig fordert die ganze Menschheit anzuschauen und jeder andern Darstellung von ihr sich und die seinige entgegen zu setzen, kann er das Bewußtsein seiner Eigenheit erhalten.“ (KGA I/3, 22,4–7) 100 

68

Erstes Kapitel:  Neubesinnung auf das Religionsphänomen

Wenn es bei den extremen Seelencharakteren tatsächlich zu einer verinnerlichten Nachbildung des von den Mittlern dargestellten unmittelbar klaren Selbstbewusstseins kommt, und sich die bislang bloß äußerlich aufgeregten Gemütskräfte auch in ihnen selbst unmittelbar einstellen, dann werden sie nach Schleiermacher wie die Mittler von Sehnsucht nach Mitteilung und Gemeinschaft durchdrungen. Ihre vormalige Abneigung gegen andere Seelencharaktere weicht der „Liebe“107 zur Menschheit und dem Verlangen, ihr unmittelbar klares Selbstbewusstsein durch den wechselseitig sich ergänzenden Vergleich mit anderen Menschen in einer Gemeinschaft zu verdeutlichen. Dadurch wird das Sichvereinzeln der extremen Seelencharaktere überwunden und sie besitzen in Form ihrer aktiv regen Gemütskraft die Fähigkeit, ihrerseits an dem allgemeinen Bildungsprozess der Menschheit teilzunehmen.108 Insgesamt wird somit durch die höhere Berufstätigkeit der Mittler bei den extremen Seelencharakteren sowohl der allgemeine Sinn für die Menschheit als auch die Liebe zu ihr geweckt und dadurch ihr Insichgekehrtsein und Sichvereinzeln aufgehoben.109 Deshalb gibt es nach Schleiermacher auch grundsätzlich ­„ [k]eine Bildung ohne Liebe, und ohne eigne Bildung keine Vollendung in der Liebe; Eins das Andere ergänzend wächst beides unzertrennlich fort.“110 Bei dem im letzten Abschnitt gesuchten besonderen unmittelbaren Bildungs­ prozess, der nach Schleiermacher dem vermittelten Bildungsprozess der Menschheit notwendigerweise vorausgehen muss, handelt es sich folglich um die Berufstätigkeit der Mittler, bei welcher die sittliche bzw. die religiöse Gemütskraft von den Mittlern auf äußerlich-unmittelbare Weise auf die extremen Seelencharakter übertragen wird. Hiermit schließt sich der argumentative Kreis von Schleiermachers allgemeiner Bildungstheorie, der seinen Ausgangspunkt bei der Theorie der endlichen Freiheit in seiner frühen Seelenlehre genommen hat. Schleiermacher sieht das höchste Ziel des menschlichen Bildungsprozesses, das Selbstbewusstsein der Menschheit, durch das Auftreten von extremen Seelencharakteren gefährdet. Anhand des höheren Berufs bzw. der Berufstätigkeit der Mittler konnte gezeigt werden, weshalb und auf welche Weise sich diese Aporie der menschlichen Existenz als überwindbar erweist. Denn die den Mittlern aufgrund ihrer Berufung vom Universums vorgegebene sittliche bzw. religiöse Gemütskraft wird von ihnen in ihrer Berufstätigkeit auf die extremen Seelencharaktere übertra107  „Sein eigenthümlich Sein und das Verhältniß desselben zur Menschheit, ist es, was ich suche: so viel ich jenes finde und dieses verstehe, so viel Liebe habe ich für ihn“, KGA I/3, 26,13 ff. 108 Vgl. auch Schleiermachers Ausspruch in seinen Lucindebriefen, wonach die Liebe, „wenn sie recht tief in den Menschen hineingegangen ist, auch wieder weit aus ihm herausgehen muß“, KGA I/3, 164,10 f. 109  „Die höchste Bedingung der eigenen Vollendung im bestimmten Kreise ist allgemeiner Sinn. Und dieser, wie könnt er wohl bestehen ohne Liebe?“ (KGA I/3, 22,8 f.) 110  KGA I/3, 22,23 ff.

§  2  Vorbegriff der Religion

69

gen, wodurch ein real existierendes, „allgemeines Band des Bewusstseins“ aller Menschen möglich wird und sich das Selbstbewusstsein der Menschheit als prinzipiell erreichbar erweist.

§  2  Vorbegriff der Religion Aus Schleiermachers Darstellung seiner allgemeinen Bildungstheorie lassen sich drei zentrale Grundaspekte seines kritischen Religionsbegriffs ableiten: Erstens hat Schleiermacher im Rahmen seiner allgemeinen Bildungstheorie gezeigt, dass es sich seines Erachtens bei der Religion um ein wesentliches Gemütsvermögen des Menschen handelt. Ohne die Religion verfehlt ihm zufolge der Mensch notwendigerweise seine ontologische Lebensaufgabe, die darin besteht, sich mit seinem vorgegebenen inneren Seelencharakter als eine unverzichtbare Darstellung und als einen konstitutiven „Theil des Ganzen“111 zu begreifen. Schleiermachers weitere Erörterung dieses Grundaspekts seines Reli­ gionsbegriffs erfolgt in Reden nun nicht direkt, sondern zunächst im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit den gebildeten Religionsverächtern seiner Zeit. Dies hat einen grundlegend hermeneutischen Hintergrund: Schleiermacher ist aus hermeneutischen Gründen der Ansicht, dass er ausschließlich bei den deutschen gebildeten Religionsverächtern eine lebendige religiöse Empfänglichkeit voraussetzen kann, die mit seiner religiösen Mitteilungsabsicht in den Reden korrespondiert. Denn sie verfügen seines Erachtens sowohl über die entsprechende religiöse Affinität, derer es bedarf, damit er selbst in ihnen die bislang unbewusst vorhandene Religionsanlage in einen bewussten Zustand überführen kann als auch über die wissenschaftliche Befähigung, um die durch ihn geweckte Religion ihrem Wesen nach begrifflich klar erfassen zu können. Der von Schleiermacher im Rahmen seiner allgemeinen Bildungstheorie aufgezeigte kritische Grundaspekt des Religionsphänomens, demzufolge es sich bei der Religion um ein wesentliches Gemütsvermögen des Menschen handelt, wird folglich zunächst im Horizont seiner Auseinandersetzung mit dem sog. „gemeinen Begriff “112 der gebildeten Religionsverächter weiter vertieft („Zweites Kapitel: Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via negationis“). Zweitens hat Schleiermacher im Rahmen seiner allgemeinen Bildungstheorie aufgezeigt, dass der Religion zwar eine wesentliche Bedeutung im mensch­ lichen Bildungsgeschehen zukommt, sie diese Bedeutung jedoch mit anderen Gemütsvermögen teilt. In der ersten Rede wird dies durch das bildungstheoretische Zusammenspiel des sittlichen und religiösen Geistestriebes herausgear111 

112 

KGA I/2, 214,14 (kursiv, C. K.). KGA I/2, 211,25.

70

Erstes Kapitel:  Neubesinnung auf das Religionsphänomen

beitet. Im Fortgang der Reden ergänzt Schleiermacher das Ensemble der höheren Gemütskräfte um die Metaphysik. Dieser zweite kritische Grundaspekt seines Religionsbegriffs besitzt drei Dimensionen: Zum einen ordnet Schleiermacher die Religion in das Ensemble der höheren Gemütsvermögen des Menschen insgesamt ein. In diesem Sinne wird die Religion als eine eigenständige „Provinz im Gemüthe“113 auf vermögenstheoretischer Ebene den anderen höheren Gemütsvermögen der Wertigkeit nach gleichgestellt. Demzufolge darf sich laut Schleiermacher keines der menschlichen Gemüts­ vermögen inhaltlich in die Belange und Aufgaben der jeweils anderen eigenstän­ digen und nicht aufeinander reduzierbaren Gemütsvermögen einmischen. Zugleich besitzt die Religion auf funktionstheoretischer Ebene gegenüber den anderen Gemütsvermögen eine herausragende Sonderstellung, indem es ihr zukommt, sich als kritisches Korrektiv des formalen Spielraums bewusst zu sein, innerhalb dessen die anderen Gemütsvermögen ihrer inhaltlichen Aufgabe adäquat nachkommen können. Dieses in Schleiermachers allgemeiner Bildungstheorie bereits angelegte Zugleich von vermögenstheoretischer Gleichwertigkeit und funktionstheoretischer Sonderstellung der Religion wird von ihm präzise durch die Aussage aus der zweiten Rede auf den Punkt gebracht, derzufolge vom Menschen gilt: „er soll alles mit Religion thun, nichts aus Religion“.114 Zum anderen ist diese gemütstheoretische Beschreibung Schleiermachers ­a llerdings zunächst nur als eine Hypothese zu nehmen, die erst in der bewusstseinstheoretischen Darstellung der Gemütsvermögen ihre eigentliche Begründung erfährt. Denn hier erst gelingt es Schleiermacher sein Verständnis vom immanenten Zusammenspiel von Religion, Moral und Metaphysik, anhand seiner Beschreibung des sog. „geheimnisvollen Augenblicks“ im menschlichen Bewusstsein adäquat auf den Begriff zu bringen. Dabei arbeitet er anhand einer aufgezeigten formalen Strukturanalogie sein Konzept von der grundlegenden Bezogenheit des sinnlichen und des religiösen Bewusstseins heraus und präsentiert mittels der Beschreibungen der religiösen Bewusstseinserweiterung und Bewusstseinserhebung seine Auffassung von der Bedeutung des Ausdrucks „Universum“, welches er als phänomenales Transphänomenalbewusstsein des wahren Unendlichen bestimmt. Dabei erfährt Schleiermachers Religionstheorie ihre Entfaltung innerhalb des wirklichen Bewusstseins im Rahmen seiner Anschauungs- und Gefühlskonzeption. Religiöse Anschauungen und Gefühle verdanken sich genealogisch und sachlogisch dem geheimnisvollen Augenblick im menschlichen Bewusstsein bzw. dem unmittelbaren Selbstbewusstsein. Deswegen sind sie in ihrem Geltungs­ anspruch vom menschlichen Wissen und Wollen eindeutig unterschieden und in

113  114 

KGA I/2, 204,35. KGA I/2, 219,22 ff.

§  2  Vorbegriff der Religion

71

ihrer Entstehung nicht als das Ergebnis menschlicher aktiver Deutungsleistungen aufzufassen. Dieses kritische Moment von Schleiermachers Religionsbegriff soll im Anschluss an die Ergebnisse seiner Auseinandersetzung mit dem gemeinen Reli­ gionsbegriff der Verächter näher untersucht und in seiner Bedeutung für das Verhältnis von Metaphysik, Moral und Religion in den Reden herausgearbeitet werden („Drittes Kapitel: Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva“). Drittens hat Schleiermacher im Rahmen seiner allgemeinen Bildungstheorie aufgezeigt, dass Religion grundsätzlich eine soziale und geschichtliche Gemeinschaftsdimension besitzt. Zum einen wurde dies daran deutlich, dass die extremen Seelencharaktere zur Weckung ihrer religiösen Gemütsanlage eines Mittlers bedurften und dass zum anderen die Mittler von sich aus auf eine religiöse Mitteilung aus sind, um durch den Vergleich mit anderen religiös erweckten Seelencharakteren das in ihnen bislang nur klare religiöse Bewusstsein zu einem deutlichen Bewusstsein der Religion insgesamt zu erweitern. Diese beiden Belege aus der erste Rede können bereits als ein Hinweis dafür angesehen werden, dass sich nach Schleiermacher der Religionsvollzug nicht nur auf die individuelle Religionsentfaltung beschränkt oder sich ausschließlich in einem abgegrenzten Bezirk elitärer religiöser Zirkel bewegt, sondern vielmehr seinem Wesen nach auf das religiöse Handeln in den geschichtlich entstandenen positiven Religionen und auf deren Zusammenhang in der Geschichte insgesamt bezogen ist (II. Schleiermachers inklusivistische Religionstheologie der ‚Reden‘). Das Besondere an Schleiermachers Religionsbegriff besteht darin, dass er in sich selbst bereits die Vielfalt der Religionen konstitutiv enthält. Die Gesetzmäßigkeiten dieser Vielfalt ergeben sich folglich aus dem Religionsbegriff selbst. Im Rahmen seiner methodischen Aufforderung die Religionen mit Religion anzuschauen, zeigt sich, dass sich die positiven Religionen zueinander verhalten wie wahre Individuen zu dem Inbegriff der ganzen Religion und dass die Religionsgeschichte in einem teleologischen Prozess begriffen ist („Viertes Kapitel: Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen“). Daran wird deutlich, dass sich Schleiermachers Religionstheologie weder exklusivistisch noch pluralistisch präsentiert. Vielmehr zeigt sich in der Religionstheologie der Reden deutlich, dass die Geltungsansprüche von mehr als einer Religion berechtigt sind, jedoch im höchsten Maße nur in einer einzigen alle anderen überbietenden Weise, nämlich dem Christentum als Religion der Religionen („Fünftes Kapitel: Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte“). Dieser anhand der ersten Rede gewonnene Vorbegriff der Religion, wird im Folgenden entfaltet.

Zweites Kapitel

Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via negationis Bevor Schleiermacher seinen kritischen Religionsbegriff in negativer Abgrenzung zu der Religionsauffassung der deutschen gebildeten Religionsverächter darstellt, rechtfertigt er in KGA I/2, 195,3–198,5 zunächst sein Vorhaben, sich mit seinen Reden explizit an diese Adressatengruppe zu wenden. Dies geschieht in Form einer Analyse zu den hermeneutischen Voraussetzung der Reden selbst (§  3 ). Hieran knüpft Schleiermacher in KGA I/2, 198,5–211,26 in Form einer apologetischen Argumentation an, deren Inhalt eine Präzisierung und Kritik des sog. „gemeinen Religionsbegriffs“1 der gebildeten Religionsverächter darstellt: Erstens weist er nach, dass die gebildeten Religionsverächter aufgrund einer oberflächlichen Betrachtung des Religionsphänomens bei der Bildung ihres gemeinen Religionsbegriffs in Vorurteilen der Auf klärungsphilosophie befangen sind. An diesem gemeinen Religionsbegriff unternimmt es Schleiermacher „Zweifel“2 wachzurufen, indem er ihn triebtheoretisch in Frage stellt (§  4 ). Zweitens geht Schleiermacher den Gründen nach, die diese triebtheoretischen Vorurteile bei den gebildeten Religionsverächtern bewirkt haben und stellt fest, dass ihre Religionsverachtung letztendlich auf einer simplifizierenden Gemütstheorie beruht. Seine gemütstheoretische Kritik an den religiösen Vorurteilen der gebildeten Religionsverächter gilt ihm folglich als die „[V]ernicht[ung]“3 des gemeinen Religionsbegriffs insgesamt (§  5).

§  3  Hermeneutische Voraussetzungen Schleiermacher hat sich mit seinen Reden nicht allein das Ziel gesetzt, die wesentlichen Elemente seines kritischen Religionsbegriffs darzustellen, sondern darüber hinaus strebt er an, die Religion selbst in seinen Adressaten mittels der Reden zu wecken.4 Wie bereits im Rahmen seiner allgemeinen Bildungstheorie 1 

KGA I/2, 199,3. KGA I/2, 208,31. 3  KGA I/2, 208,32. 4  „Nicht einzelne Empfindungen will ich aufregen, die vielleicht in ihr Gebiet gehören, nicht einzelne Vorstellungen rechtfertigen oder bestreiten; in die innersten Tiefen möchte 2 

§  3  Hermeneutische Voraussetzungen

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deutlich geworden ist, kann eine derartige religiöse Erweckung nur im Rahmen eines besonderen hermeneutischen Verfahrens gelingen. Die Religion kann nicht auf direktem Wege, wie z.B. bei der Vermittlung von objektivem Wissen, geweckt werden, sondern muss, obzwar von außen angeregt, von den Adressaten der religiösen Mitteilung unmittelbar nachempfunden werden.5 In seiner dritten Rede baut Schleiermacher diesen hermeneutischen Ansatz zu einer Theorie der indirekten religiösen Bildung weiter aus. Im Zuge dieser Überlegungen stellt er eine zweifache Pointe heraus: Einerseits erweitert er die Bedeutung der Mittler im religiösen Bildungsgeschehen, indem er aufzeigt, dass nicht allein die extremen Seelenscharaktere, sondern ausnahmslos jeder Mensch, obwohl von Natur aus mit einer religiösen „Anlage“6 im Gemüt versehen, zur bewussten Entwicklung dieser religiösen Anlage eines Mittlers bedarf. Folglich können auch umgekehrt die Mittler die religiöse Gemütsanlage nicht von Grund auf anerschaffen bzw. ursprünglich „einimpfen“7 oder im Sinne eines „Lehrens und absichtlichen Bildens“8 die Religion andemonstrieren.9 Sondern vielmehr besteht die Aufgabe der Mittler im religiösen Bildungsgeschehen darin, auf „rhetorisch[em]“10 Wege die bereits vorhandene Gemütsanlage ihrer Adressaten von einem bislang unbewussten in einen bewussten Zustand maieutisch zu überführen. Das Proprium ich Euch geleiten, aus denen sie [die Religion, C. K.] zuerst das Gemüt anspricht; zeigen möchte ich Euch aus welchen Anlagen der Menschheit sie hervorgeht, und wie sie zu dem gehört was Euch das Höchste und Theuerste ist; auf die Zinnen des Tempels möchte ich Euch führen, daß Ihr das ganze Heiligthum übersehen und seine innersten Geheimnisse entdeken möget.“ (KGA I/2, 197,12–19) Vgl. auch Borgman, E., ten Laurens, K., Philipsen, B., „A Triptych on Schleiermacher’s ‚On Religion‘“, in: Literature and Theology 21/4 (2007), 381– 416, hier: 394; Wenz, G., „An die Gebildeten unter ihren Verächtern. Zu Schleiermachers Reden über die Religion von 1799“, in: Kerygma und Dogma 58 (2012), 21–53, hier: 21–23; Ringleben, „Die Reden über die Religion“, 236–258, hier: 236 f.: „In begeisterter Sprache, an ihren Höhepunkten von hinreißender Eloquenz, stellen sich diese religiösen Reden als eigenartig oszillierende Verbindung von begrifflicher Distinktion und evokativer Stimmung dar. Sie sind gleichsam philosophisch angelegt wie verkündigend.“ Jüngel hat Schleier­ machers Absichten pointiert zusammengefasst: „Schleiermachers Reden [sind] weit mehr noch als nur auf klärende Informationen über die Religion. Sie sind religiöse Sprachereignisse.“ (Jüngel, E., „‚Häresis – Ein Wort das wieder zu Ehren gebracht werden sollte‘. Schleier­ macher als Ökumeniker“, in: 200 Jahre „Reden über die Religion“, 11–38, hier: 13) 5 Vgl. Borgman, ten Laurens, Philipsen, „A Triptych“, 386; 388 f. 6  KGA I/2, 252,9. 7  KGA I/2, 249,39. 8  KGA I/2, 251,9 f. 9 „Alles was, wie sie [die Religion, C. K.], ein Continuum sein soll im menschlichen Gemüth, liegt weit außer dem Gebiet des Lehrens und Anbildens. Darum ist jedem, der die Religion so ansieht, Unterricht in Ihr ein abgeschmaktes und sinnleeres Wort.“ (KGA I/2, 250,21–24) Vgl. dazu auch Proudfoot, W., Religious Experience, Berkeley 1985, hier: 7: „Words can only be used to indicate the direction toward the reader must look in his own experience. Schleiermacher attempts to awaken his readers to the moment of piety in their own consciousness“. 10  KGA I/2, 211,18.

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Zweites Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via negationis

der rhetorischen Mitteilung besteht darin, einem Anderen nicht etwa eine Ansicht oder einen fremden Gemütszustand „aufzuzwingen“, sondern vielmehr nur darin, „durch die natürliche Äußerung des eignen Lebens […] das Ähnliche auf[zu]regen“11. Andererseits beschränkt Schleiermacher in seinen Ausführungen zur indirekten Religionsbildung aber auch die Reichweite des religiösen Bildungsgeschehens durch einen Mittler, indem er gegenüber der ersten Rede präzisierend aufzeigt, dass nicht ausnahmslos jeder Mittler für jeden Menschen zum Initiator des religiösen Bildungsgeschehens werden kann, sondern vielmehr nur dort ein erfolgreiches religiöses Bildungsgeschehen möglich ist, wo der mitteilenden religiösen Selbstdarstellung eines Mittlers eine lebendige religiöse Empfänglichkeit von Seiten der Adressaten korrespondiert.12 Weil Schleiermacher sich in den Reden selbst als religiösen Mittler präsentiert,13 sieht er sich folglich vor die Aufgabe gestellt, eine seiner besonderen religiösen Mitteilung gegenüber aufgeschlossenen Adressatengruppe zu lokalisieren. Diese aufgeschlossene Adressatengruppe meint Schleiermacher gerade in den deutschen gebildeten Religionsverächtern seiner Zeit gefunden zu haben.14 Im Zuge einer zeitgeschichtlichen und gesellschaftskritischen Analyse weist er nach, dass in den Wirren der Französischen Revolution15 sich ausschließlich in 11 

KGA I/2, 248,16 f. (kursiv, C. K.). I/2, 251,13–17. Diese dialektische Beziehung von Sprechendem und Hörendem hat Schleiermacher bereits in seinem Gedankenheft von 1796–1799 thematisiert: „Wechselwirkung ist nur da wo jede Thaetigkeit des einen Wirkung des anderen ist. Also auch die Thae­ tigkeit des Hörers während des Hörens; er muß also bloß vernehmen – nun soll aber seine Thaetigkeit eine freie Entwicklung seiner Humanität seyn: ich muß ihn also in den Zustand versezen daß er nichts anders kann als vernehmen, und auch in den daß er nichts anders will als vernehmen.“ (KGA I/2, 34,8–13) Damit spricht sich Schleiermacher in den Reden gegen Albrechts simplifizierende These von der „Suspendierung des volutativen Aspekts im Redeanlaß“ des Redners aus: „Der Antrieb des Redners ist völlig unabhängig von allem die Verständigungschancen taxierenden Berechungen gewohnter argumentativer Auseinandersetzungen, sondern der Anrtiebsgrund liegt hier in der Sache selbst: Die zur Rede treibende himmlische Gewalt ist stärker als alle rationalen Realisierungserwägungen der Ermöglichungsbedingungen des projektierten Unternehmens.“ (Albrecht, Frömmigkeit, 118) 13  „Vergönnet mir von mir selbst zu reden: Ihr wißt, was Religion sprechen heißt, kann nie stolz sein; denn sie ist immer voll Demuth. Religion war der mütterliche Leib in deßen heiligem Dunkel mein junges Leben genährt und auf die ihm noch verschlossene Welt vorbereitet wurde, in ihr athmete mein Geist, ehe er noch seine äußeren Gegenstände, Erfahrungen und Wissenschaft gefunden hatte, sie half mir als ich anfing den väterlichen Glauben zu sichten und das Herz zu reinigen von dem Schutte der Vorwelt, sie blieb mir, als Gott und Unsterblichkeit dem zweifelnden Auge verschwanden, sie leitete mich ins tägliche Leben, sie hat mich gelehrt mich selbst in meinen Tugenden und Fehlern in meinem ungetheilten Dasein heilig zu halten, und nur durch sie habe ich Freundschaft und Liebe gefunden.“ (KGA I/2, 195,4–14) 14  „Wenn ich so durchdrungen endlich reden und ein Zeugniß von ihr [der Religion, C. K.] ablegen muß, an wen soll ich mich damit wenden als an Euch? Wo anders wären Hörer für meine Rede?“ (KGA I/2, 195, 25 ff.) 15  Zu Schleiermachers früher Beurteilung der Französischen Revolution vgl. auch den 12  KGA

§  3  Hermeneutische Voraussetzungen

75

dem geistigen Klima der deutschen Gesellschaft eine potentielle religiöse Empfänglichkeit gegenüber seiner „einsame[n] Stimme“ erhalten hat.16 Anstatt wie die Engländer mit ihrem kalten, merkantilen Sinn die Unendlichkeitsdimen­ sion der Wirklichkeit zugunsten des individuellen Nutzens auszublenden,17 verfügen ihm zufolge im Allgemeinen die Deutschen über die Fähigkeit, sich von ihrem unmittelbaren Individualinteresse zu distanzieren, um sich in „stiller Betrachtung“18 den Einwirkungen des unendlichen Ganzen zu widmen. Im Unterschied zum französischen Geist seiner Zeit, welcher in seiner „frivolen“19 Liebe zum Endlichen jedes höhere Gefühl für das Unendliche trotzig bekämpft,20 weist das deutsche Gefühlsleben nach Schleiermacher einen Zug „weiser Mäßigung“21 auf, der es ihm ermöglicht, die emotionale Gebundenheit an das sinnlich Gegebene zu temperieren und eine Liebe für die Einwirkungen des Unendlichen im Endlichen zu entwickeln.22 Allerdings verfügt ihm zufolge nicht die ganze deutsche Gesellschaft über eine religiöse Empfänglichkeit, um als Adressat seiner religiösen Mitteilung zu dienen, sondern paradoxerweise das „kleine Häufchen“23 der gebildeten Reli­ gionsverächter. Brief an seinen Vater, welcher auf die am 21.1.1779 erfolgte Hinrichtung Ludwigs XVI. Bezug nimmt (KGA V/1, 280 f.). Vgl. zu diesem Thema auch einschlägig Crouter, R. E., „Schleiermacher and the Theology of Bourgeois Society: A Critique of the Critics“, in: The Journal of Religion 66/3 (1986), 302–323, insbesondere: 310 f. Siehe auch Nowak, K., „Die Französische Revolution in Leben und Werk des jungen Schleiermacher. Forschungs­ geschichtliche Probleme und Perspektiven“, in: K. Selge (Hg.), Internationaler Schleiermacher-­ Kongreß Berlin 1984, Berlin/New York 1985, 103–125. 16  KGA I/2, 196,24 f. 17  KGA I/2, 195,31–196,6. 18  KGA I/2, 196,28 (kursiv, C. K.). 19  KGA I/2, 196,9. 20  KGA I/2, 196,6–24. 21  KGA I/2, 196,28 (kursiv, C. K.). 22 Schleiermachers religiöse Mitteilung an die Deutschen entspringt dabei keinem schlichten Nationalismus mit seiner „blinde[n] Vorliebe für den väterlichen Boden“ (KGA I/2, 195,27 f.), sondern sie ist, zumindest der Intention nach, das Ergebnis einer kritischen geistesgeschichtlichen Analyse seiner gegenwärtigen Zeit in Bezug auf die religiöse Empfänglichkeit der europäischen Nationen. Auch spricht seine Wahl der deutschen Adressaten weder der englischen noch der französischen Nation die Religiosität prinzipiell ab, sondern sie stellt nur fest, dass zu seiner gegenwärtigen Zeit eine stärkere Kraft als seine eigene von Nöten ist, um in ihnen die Religion zu bilden (vgl. dazu KGA I/2, 196,19–24). Zu Schleier­ machers zeitgeschichtlicher Analyse in der dritten Rede vgl. auch Barth, U., „Die Religionstheorie der ‚Reden‘. Schleiermachers theologisches Modernisierungsprogramm“, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 259–270. Zu Schleiermachers späterer, im Kern identischen, jedoch etwas differenzierteren Beurteilung der Religiositätspotenziale in England und Frankreich, mit ergänzendem Blick auf die griechisch-orthodoxe Kirche seiner Zeit, siehe zentral KGA I/12, 37,6–38,2. Vgl. auch in der älteren Forschung Sattler, W., „Schleiermacher und die Engländer“, in: Geisteskultur. Monatshefte der Comenius-Gesellschaft 28 (1918). 23  KGA I/2, 257,10.

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Zweites Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via negationis

Ein Grund hierfür besteht seines Erachtens darin, dass die sog. „Rohe[n] und Ungebildete[n]“ bzw. der „niedere Theil des Volks“ aus ihrem grundsätzlichen Mangel an wissenschaftlichem Geist als Adressaten seiner religiösen Mitteilung ausscheiden. Schleiermacher hat es sich mit seiner religiösen Mitteilung in den Reden nämlich nicht nur vorgenommen „einzelne Vorstellungen [zu] rechtfertigen und [zu] bestreiten“24, sondern er strebt vielmehr danach, auf begrifflichem Wege die „Religion als ewig und im Wesen der Menschheit nothwendig gegründet“25 zu erweisen.26 Hierzu sind seines Erachtens nur die „Besten unter Euch“27 befähigt, also jene, in denen sich ein empfängliches religiöses Gemüt mit einem wissenschaftlichen Geist vereint, d.h. die wahrhaft Gebildeten. Der andere Grund, weshalb nach Schleiermacher nicht die gesamte deutsche Gesellschaft als Adressat seiner religiösen Mitteilung dienen kann, liegt darin, dass der reale Zustand der Religiosität in Deutschland nachhaltig durch die antireligiöse Gesinnung der sog. „verständigen und praktischen Menschen“28 bestimmt wird. Diese stellen Schleiermacher zufolge den „herrschenden Theil“29 der geistigen Elite Deutschlands dar und bilden durch ihre „blinde Vergötterung des gegebenen bürgerlichen Lebens“30 das entscheidende „Gegengewicht gegen die Religion“31. Als Zentrum ihrer antireligiösen Gesinnung stellt Schleiermacher in diesem Zusammenhang ihren eingeschränkten geistigen Standpunkt heraus, von dem ausgehend sie sämtliche menschliche Phänomene prinzipiell unter einem kausalen und zweckrationalen Gesichtspunkt betrachten. Dementsprechend vermeiden und unterdrücken sie jede Bemühung das Wesen eines Sachverhalts, sein „Was und Wie“32 , aufzufassen, sondern „zerstükeln und anatomiren“33 jeden Sachverhalt so lange, bis sie sein „Woher und Wozu“ ermittelt haben, d.h. den

24 

KGA I/2, 197,13 f. KGA I/2, 197,7 f. 26 Schleiermacher stellt mit diesen Aussagen weder in Abrede, dass das einfache Volk über eine rege religiöse Empfänglichkeit verfügt, noch bezweifelt er, dass eine religiöse Mitteilung an sog. „ungebildete“ Menschen zu einer erfolgreichen religiösen Bildung führen kann oder die Religion selbst nur eine Frage des Bildungsstands sei und einen abgesonderten Bereich der geistigen Eliten darstelle. Vielmehr bestreitet er lediglich, dass die Ungebildeten sich für sein Vorhaben der Reden eignen, die in ihnen geweckte Religiosität, auch begrifflich klar zu erfassen. Vgl. dazu KGA I/2, 196,39–197,3: „So rede man denn auch mit ihnen [den Ungebildeten, C. K.] von der Religion, man durchgrabe bisweilen ihr ganzes Wesen bis der Punkt getroffen wird, wo dieser heilige Instinkt verborgen liegt; […] es wird immer viel gewonnen sein.“ 27  KGA I/2, 197,10 f. 28  KGA I/2, 252,24. 29  KGA I/2, 257,9 f. 30  KGA I/12, 161,7 f. 31  KGA I/2, 252,25 f. 32  KGA I/2, 254,14. 33  KGA I/2, 254,21. 25 

§  3  Hermeneutische Voraussetzungen

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„Plaz, den ein Gegenstand einnimmt in der Reihe der Erscheinungen“34 ihres bürgerlichen Milieus.35 Mit ihrer Ideologie des bürgerlichen Gebrauchswert sind die Verständigen folglich jedem höheren Standpunkt des menschlichen Selbst- und Weltzugangs geradezu „schlechthin entgegengesezt“36. Dieser höhere Standpunkt zeichnet sich grundsätzlich durch eine Offenheit des menschlichen „Sinns“37 aus, mit dem nicht nur die Kausalverhältnisse eines Sachverhalts und seine zweckrationale Tauglichkeit für das bürgerliche Leben wahrgenommen werden, sondern die „Totalität seiner […] Verbindungen“38 erfasst wird. Auf diese Weise vermag der zweckfreie Sinn des Menschen jede Sache anstatt „von einem Punkt außer ihr“, vielmehr ihrem „eigenen Wesen“ nach und d.h. „als ein Element des Ganzen“39 zu erfassen.40 Weil sich nach Schleiermacher gerade das klare Bewusstsein dieses jedem Menschen ursprünglich41 gegebenen zweckfreien Sinns für die Eingebundenheit eines einzelnen Sachverhalts in seinen Totalitätszusammenhang als Vorstufe und Voraussetzung für eine religiöse Entwicklung erweist, stellen sich die Verständigen mit der Unterdrückung gerade dieses Sinns, jeder religiösen Regung des Gemüts mit seinem „Streben nach dem Höheren“42 entgegen. Indem die Verständigen mit ihrem „Extrem des Nützlichen“43 den menschlichen Sinn beschränken, trachten sie folglich danach, die menschliche Religiosität in allen Menschen bereits im Anfangsstadium zu „vernichten“44.45 Letztlich bleiben somit nur die deutschen gebildeten Religionsverächter als mögliche Adressatengruppe der Reden übrig. Die paradoxe hermeneutische Situation der Reden, dass Schleiermacher der Ansicht ist, ausgerechnet in den gebildeten Religionsverächtern eine seiner religiösen Mitteilung korrespondierende lebendige religiöse Empfänglichkeit vorzufinden, wird von ihm dahingehend aufgelöst, dass er ihnen nachweist, eine ihnen selbst verborgene Affinität zur Religion 34 

KGA I/2, 254,16 f. vgl. hierzu auch Wittekind, „Die Vision“, 413 f. Wittekind arbeitet in seinem Aufsatz zudem prägnant die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Fichtes und Schleier­ machers Kritik an der Mentalität der Auf klärungsphilosophie heraus. 36  KGA I/2, 254,1. 37  KGA I/2, 253,27.40; 264,1.11.29.33.38; 255,23; 256,4. 38  KGA I/2, 255,36 f. 39  KGA I/2, 255,33 f. 40  „Der Sinn strebt den ungetheilten Eindruk von etwas Ganzem zu fassen; was und wie etwas für sich ist, will er erschauen, und jedes in seinem eigenthümlichen Charakter erkennen“, KGA I/2, 254,11 ff. 41  KGA I/2, 252,9 ff. 42  KGA I/2, 252,28. 43  KGA I/2, 256,32 f. 44  KGA I/2, 257,7. 45  „Mit Schmerzen sehe ich es täglich wie die Wuth des Verstehens den Sinn gar nicht auf kommen läßt, und wie Alles sich vereinigt den Menschen an das Endliche und an einen sehr kleinen Punkt deßelben zu befestigen damit das Unendliche ihm so weit als möglich aus den Augen gerükt werde.“ (KGA I/2, 252,15–19) 35 

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Zweites Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via negationis

zu besitzen. Hierbei bezieht er sich keineswegs auf ihre aktuale Einstellung zur Religion. Vielmehr verfügt er seiner Ansicht nach als Mittler, der religiös „wirklich höher gestellt ist“ als die gebildeten Verächter, über die Fähigkeit, in ihnen eine potentielle Religiosität wahrzunehmen, die „in ihnen geschäftigt ist“, auch „ohne daß sie es wissen“.46 In religiöser Hinsicht geht Schleiermacher also davon aus, die gebildeten Verächter besser zu verstehen „als sie sich selbst“, weshalb er sich auch des religiösen „Vereinigungspunktes“ zwischen sich und ihnen bewusst ist, „der Jenen verborgen ist.“47 Im Gegensatz zum Schlegelschen Diktum, demzufolge gilt: „Je mehr Bildung desto weniger Religion“48 , sieht Schleiermacher in dem Bildungsbewusstsein der deutschen Religionsverächter eine verborgene lebendige Empfänglichkeit für sein Projekt einer Neubesinnung auf das Religionsphänomen und einer Neubegründung des Religionsbegriffs vorliegen. Denn als wahrhaft Gebildete49 verfügen sie seines Erachtens über eine „Allgemeinheit des Sinnes“50, welche sie zum einen im Unterschied zu den Ungebildeten dazu befähigt, das Religionsphänomen seinem Wesen nach klar zu erfassen 51 und zum anderen im Unterschied zu den bloß verständigen Menschen ihrer Zeit in den Stand setzt, die ersten Regungen der Religiosität in sich selbst wahrzunehmen. Diese religiösen Regungen sieht Schleiermacher verborgen in dem Bildungs-, Kunst- und Wissenschaftssinn der Religionsverächter am Werk.52 Dabei gilt es im Hinblick auf die Forschung festzuhalten, dass nach Schleiermacher keiner dieser drei Sinne selbst die Religion darstellt. In ihnen zeigt sich vielmehr nur indirekt die verborgene Kraft einer religiösen Grundgesinnung wirksam.53 Dies ist insbesondere gegen derartige Meinungen aus der Forschung festzuhalten, die in den Reden Kunst und Religion einander im Sinne 46  KGA I/2, 271,11 ff. Vgl. dazu auch Schleiermachers Ausruf in der Mitte der zweiten Rede: „Hättet Ihr nur erst die Religion, die Ihr haben könnt, und wäret Ihr Euch nur erst derjenigen bewußt, die Ihr wirklich schon habt!“ (KGA I/2, 235,18 ff.) 47 Ebd. 48  Schlegel, Athenaeums-Fragment Nr.  233, KFSA II, 203. Vgl. hierzu auch Blackwell, Schleiermacher’s Early Philosophy of Life, 185. 49  KGA I/2, 257,5–7. 50  KGA I/2, 261,3. 51  „Nur Euch also kann ich zu mir rufen, die Ihr fähig seid Euch über den gemeinen Standpunkt der Menschen zu erheben, die Ihr den beschwerlichen Weg in das Innere des menschlichen Wesens nicht scheuet, um den Grund seines Thuns und Denkens zu finden.“ (KGA I/2, 197,26–30) 52  KGA I/2, 260,19–264,24. 53 In Bezug auf das Bildungsverständnis der Religionsverächter kommt diese Ansicht Schleiermachers besonders deutlich zum Ausdruck: „Dieses einem sinnigen Menschen sich überall aufdringende Anerkennen des Fremden und Vernichten des Eigenen, dieses zu gleicher Zeit geforderte Lieben und Verachten alles Endlichen und Beschränkten ist nicht möglich ohne eine dunkle Ahndung des Universums und muß nothwendig eine lautere und bestimmtere Sehnsucht nach dem Unendlichen, nach dem Einen in Allem herbeiführen.“ (KGA I/2, 261,17–22)

§  3  Hermeneutische Voraussetzungen

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eines Art-Gattungsverhältnisses zuordnen oder von einer „Kunstreligion“ bei Schleiermacher sprechen.54 Kunst und Religion sind in den Reden eindeutig als zwei eigenständige Geistestriebe bestimmt. Dies zeigt sich sowohl darin, dass der Kunstsinn im Unterschied zur Welt- und Selbstanschauung aus sich selbst heraus zu keiner Fortschreitung in die religiöse Sphäre befähigt ist,55 als auch darin, dass die in den Reden statuierte „innere Verwandtschaft“56 beider Geistes­ triebe nur darin besteht, dass die Kunst ein stilistisches Ergänzungsmittel der Religion bildet, indem sie in einem „freiwilligen Dienst“57 die aus der Selbst- und Weltbetrachtung hervorgegangenen und nach Schleiermacher beschränkten Religionsformen der Mystik und der Naturreligion in ihrer einseitigen Beschränktheit mildert und zu einer Aufgeschlossenheit gegenüber der jeweils anderen Religionsform anregt.58 Die Kunst bildet Schleiermacher zufolge keine eigene Kunstreligion, sondern sie eröffnet vielmehr nur innerhalb einer schon bestehenden Religion den Blick für andere Religionsformen. Die Stellung der Kunst zur Religion ist somit in der Erstauflage der Reden dadurch abschließend qualifiziert, entweder als eigenständiger Geistestrieb ihrem Wesen nach inhaltlich von der Religion unterschieden zu sein, oder im Rahmen der religiösen Mitteilung und Darstellung als das der Religion untergeordnete, wenngleich höchste formale Stilmittel zu dienen. Die spezifische Weise, wie sich Schleiermacher in seinen Reden an die deutschen gebildeten Religionsverächter wendet, hat ebenfalls hermeneutische Gründe. Seines Erachtens besteht das entscheidende Hindernis für die gebildeten Religionsverächter sich ihrer religiösen Gemütsanlage bewusst zu werden, darin, dass sie in ihrem Verständnis davon, was die Religion ihrem Wesen nach ist, durch „alte Erinnerungen verführt“ und „von vorgefaßten Ahnungen bestochen“ worden sind.59 Den wahren Widerstand gegen eine religiöse Erweckung der gebildeten Religionsverächter sieht Schleiermacher demzufolge in ihren be54 Gegen Wellek, R., A History of Modern Critisism, 1750–1950, Vol. 2: The Romatic Age, New Haven 1955, 304 demzufolge Schleiermacher in den Reden „a highly emotional and aesthetic version of religion which he called Kunstreligion“ vertritt. Vgl. auch Foreman, T., „Schleiermacher’s ‚Natural History of Religion‘. Science and the Interpretation of Culture in the ‚Speeches‘“, in: The Journal of Religion 58/2 (1978), 91–107, hier: 103: „This typology is so consistent that one might expect the citation of a religion of the third type which flourished at the headwaters of European cultures; but Schleiermacher denies there is any such viable example of this to be found in history anywhere, including any ‚Kunstreligion‘ […]. Schleiermacher states his conviction that historical examples of this third, unexpessed latency in religion […] await the cultivation of sense toward which art yet gropes […]; but he does not foresee the emergence of a Kunstreligion in the literal sense“. Siehe auch Klemm, D., „Culture, Arts, and Religion“, in: J. Mariña (ed.), The Cambridge Companion to Friedrich Schleiermacher, Cambridge 2005, 251–268. 55  KGA I/2, 261,22–262,8. 56  KGA I/2, 263,5. 57  KGA I/2, 263,2 f. 58  KGA I/2, 262,20–263,3. 59  KGA I/2, 206,25–207,1 (kursiv, C. K.).

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Zweites Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via negationis

grifflichen Vorurteilen gegenüber der Religion begründet. Werden diese auf maieutischem Wege ausgeräumt, so die Logik der Reden, wird die in den Religionsverächtern bislang „bloß träumend“60 existierende religiöse Gemütskraft, von sich aus selbsttätig erwachen.61 Aus diesem Grund geht Schleiermacher in seiner Auseinandersetzung mit den gebildeten Religionsverächtern zunächst negativ argumentierend vor. Weil er als religiöser Mittler mit seiner Darstellung der Religion nur an der Verachtung der gebildeten Religionsverächter anknüpfen kann, versucht er diese präzise zu bestimmen und fordert die gebildeten Verächter ironisch auf, „in dieser Verachtung recht gebildet und vollkommen zu sein.“62 Folglich ist auch Jüngel in seiner Beschreibung zuzustimmen, wenn er in Bezug auf Schleiermachers erste Rede „Apologie“ prägnant festhält: Die Apologie ist genausowenig apologetisch, wie die platonische Apologie des Sokrates apologetisch ist. So wie jene ist auch diese ‚Verteidigung ein Angriff ‘. Und wie in jenem Fall, so soll auch in diesem Fall der Angriff den Angegriffenen zugute kommen. Wie das sokratische so ist auch das Schleiermachersche Verfahren maieutisch und ironisch zugleich.63

§  4  Triebtheoretische Kritik am gemeinen Religionsbegriff der direkten Verächter Nach Schleiermacher gibt es zwei unterschiedliche Gruppen von gebildeten Religionsverächtern. Beide stimmen grundsätzlich darin überein, dass weiter „nichts Neues und Trifftiges mehr gesagt werden kann“64 über die Religion, als dies bereits hinreichend durch die geistigen Autoritäten der Auf klärungszeit geschehen ist. Demgemäß besteht das Wesen der Religion ihrer Ansicht nach in nichts anderem als in der „Furcht vor einem ewigen Wesen“ und dem „Rechnen auf eine andere Welt“.65 Diese Meinung von Religion finden die gebildeten Verächter nicht allein durch das Studium der Geistesgeschichte bestätigt, sondern ihre Wahrheit liegt ihnen zufolge vielmehr selbst für den ungebildeten Menschen so offenkundig zu Tage, dass sie keiner weiteren Ergänzung, durch wen auch immer, bedarf. 60  KGA

I/2, 193,19. KGA I/2, 265,4 f. 62 KGA I/2, 198,3  ff. Prägnant hierzu auch Cramer, K., „Die subjektivitätstheoretischen Prämissen von Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewusstseins“, in: D. Lange (Hg.), Friedrich Schleiermacher 1768–1834. Theologe – Philosoph – Pädagoge, Göttingen 1985, 129–162, hier 162: „Die Verachtung, die sie [die gebildeten Religionsverächter, C. K.] bezeugen, hat die widerspruchsvolle Form der Selbstverachtung.“ 63  Jüngel, „Häresis“, 14. 64  KGA I/2, 189,26 f. 65  KGA I/2, 198,12 f. 61 

§  4  Triebtheoretische Kritik am gemeinen Religionsbegriff der direkten Verächter

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Weil aber Gottesfurcht und Jenseitshoffnung für das Wesen des Menschen keine notwendigen Eigenschaften, sondern nur kontingente mentale Erscheinungen darstellen, ist auch die Religion kein notwendiges Element des mensch­ lichen Geistes.66 Der geistige Umfang des menschlichen Lebens sei hingegen mit den naturwissenschaftlichen und metaphysischen Wissenschaften, sowie mit der Sittlichkeit und der Kunst klar umgrenzt und vollständig abgeschlossen.67 Die Religion sei im Verhältnis zu diesen echten Geistestätigkeiten nichts weiter als ein „leerer und falscher Schein“68 , der das menschliche Bewusstsein äußerlich befalle. Der charakteristische Unterschied zwischen beiden Verächtergruppen zeigt sich nach Schleiermacher darin, wie sie von der soeben beschriebenen Ansicht ausgehend, einerseits das theoretische Verhältnis der Religion zu den anderen Geisteskräften des Menschen näher bestimmen und andererseits den leeren und falschen Schein der Religion im Hinblick auf die menschliche Sozialordnung praktisch bewerten. Die eine Gruppe der Religionsverächter geht davon aus, dass Religion rein destruktiver Natur ist. Ihrer Meinung nach geht von der Religion eine theoretische und praktische Gefahr für den menschlichen Geist aus, den sie wie eine Krankheit befalle und zu Funktionsstörungen bei seinen notwendigen Geistes­ trieben führe. Deshalb müsse der menschliche Geist von der Religion geheilt werden, indem Religion vollständig durch Wissenschaft, Kunst und Sittlichkeit ersetzt wird. Sie meinen ihr Ziel am ehesten dadurch zu erreichen, dass von der Religion im eigentlichen Sinne gar nicht mehr gesprochen werden darf. Man kann diese Gruppe infolge ihrer offenkundigen Verachtung als direkte Reli­ gionsverächter bezeichnen. Nach Ansicht der anderen Verächtergruppe stellt der leere und falsche Schein der Religion keine Gefahr für den menschlichen Geist dar, er erweist sich in praktischer Hinsicht vielmehr als ein sozialethisches Hilfsmittel für die moralisch schwachen Menschen eines Gemeinwesens. Diese Gruppe stimmt zwar mit den direkten Verächtern darin überein, dass die Religion für den menschlichen Geist „nicht in sich nothwendig“69 ist. Religion mag ihrer Meinung nach dagegen aber sehr wohl „Noth thun“70, nämlich um das rechtliche und sittliche Verhalten der Bürger eines Gemeinwesens zu unterstützen und anzuspornen. Das Perfide an dieser zweiten Form der Verachtung sieht Schleiermacher darin, dass sie sich unter dem Deckmantel einer scheinbaren Wertschätzung der Reli­ gion verbirgt. Zwar geben diese Verächter öffentlich vor, die „besten Freunde

66 

KGA I/2, 198,42–199,3. I/2, 189,15–22. 68  KGA I/2, 199,4 f. 69  KGA I/2, 204,23. 70  KGA I/2, 204,22 (kursiv, C. K.). 67  KGA

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Zweites Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via negationis

und die eifrigsten Verteidiger der Religion zu sein“71. In Wahrheit besteht ihre Absicht aber in einer Beschneidung der religiösen Selbstständigkeit, wodurch sie die Religion auf ein bloßes Kompensationsmittel für rechtlose und unsittliche Zustände zurechtstutzten wollen.72 Sie ordnen die Religion also der Moral unter, um ihr auf diese Weise „den lezten Stoß zu geben.“73 Bei dieser Gruppe kann man wegen des subtilen Charakters ihrer Verachtung von indirekten Religionsverächtern sprechen. Diese beiden Gruppen von Religionsverächtern teilen nach Schleiermacher die Ansicht, dass die Religion, verstanden als Gottesfurcht und Jenseitshoffnung, keine notwendige Triebkraft des menschlichen Geistes bildet. Ihr Unterschied zeigt sich darin, dass die direkten Verächter Religion für eine gefährliche Geisteskrankheit halten, welche unvermeidlich die Sozialordnung untergräbt. Dagegen halten die indirekten Verächter sie zwar auch für eine zwar geistlose, aber ethisch hilfreiche Einrichtung für das menschlichen Gemeinwesen. Schleiermachers jeweilige Kritik an beiden Arten der Religionsverachtung wird im Folgenden nacheinander dargestellt. 1.  Kritik am gemeinen Religionsbegriff der direkten Verächter In drei Argumentationsschritten trägt Schleiermacher seine Kritik an der direkten Religionsverachtung vor: Erstens präzisiert er die Position der direkten Verächter (1.1.), zweitens gibt er zusammenfassend die wahre These der direkten Religionsverachtung an (1.2.) und drittens kritisiert er explizit die zentrale Prämisse der direkten Religionsverachtung (1.3.). 1.1.  Triebtheoretische Präzisierung der direkten Religionsverachtung Den Ausgangspunkt von Schleiermachers Kritik an den direkten Religionsverächtern bildet seine Frage, „wovon sie eigentlich ausgegangen“ 74 sind, als sie das Wesen der Religion mit Gottesfurcht und Jenseitshoffnung gleichgesetzt haben. Es ist die Frage danach, welche Erfahrungen und Ansichten die Religionsverächter bei ihrer Bildung des Religionsbegriffs geleitet haben.75 Zur Beantwortung dieser Frage gibt Schleiermacher zunächst die Beschaffenheit von gei­ stigen Werken überhaupt an, wozu prima facie auch die Religion gehört, und arbeitet im weiteren Verlauf seiner Argumentation den „doppelten Stand71 

KGA I/2, 202,20 f. sie [die Religion, C. K.] soll eigentlich dienen, wie jene [die indirekten Reli­ gionsverächter, C. K.] es wollen, einen Zweck soll sie haben, und nützlich soll sie sich erweisen.“ (KGA I/2, 204,7 ff.) 73  KGA I/2, 236,2. 74  KGA I/2, 198,6. 75  „Sagt mir doch also, Ihr Theuersten, woher habt Ihr diese Begriffe von der Religion, die der Gegenstand Euerer Verachtung sind?“ (KGA I/2, 198,14 ff.) 72  „Aber

§  4  Triebtheoretische Kritik am gemeinen Religionsbegriff der direkten Verächter

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punkt“76 heraus, von dem seines Erachtens jede begriffliche Erfassung eines geistigen Werks ausgehen muss.77 Im Allgemeinen gilt für jedes „Werk des menschlichen Geistes“78 , dass es zwei unterschiedliche Bereiche umfasst: Erstens gibt es den inneren Bereich jedes geistigen Werks. Dieser Bereich umfasst die dem Werk zugrunde liegenden „notwendigen Handlungsweisen oder Triebe“79 des menschlichen Bewusstseins. Dieser unsichtbare, innere Bereich bildet das „innere Wesen“80 bzw. den „Mittelpunkt“81 des Werks. Schleiermacher bezeichnet diesen Bereich in späteren Auflagen der Reden als dasjenige an dem geistigen Werk, „was in dem Menschen vorgeht“.82 Zweitens gibt es den äußeren Bereich jedes geistigen Werks. Dieser Bereich umfasst sämtliche Darstellungen des Werks in „der Zeit“83, d.h. seine äußerlich sichtbaren, geschichtlichen Manifestationen. In diesem Fall ist das geistige Werk nicht mehr ausschließlich konzeptuell im Bewusstsein eines Menschen vorhanden, sondern tritt in Form einer eigentümlichen Tätigkeit in einen geschicht­ lichen Zusammenhang mit anderen geistigen Werken. Schleiermacher bezeichnet diesen Bereich auch als dasjenige am Geisteswerk, was „von ihm [dem Menschen, C. K.] ausgeht“84. Innerer und äußerer Bereich eines geistigen Werks sind nach Schleiermacher keinesfalls als getrennt anzusehen, denn jedes Geisteswerk des Menschen schließt beide Bereiche in sich ein.85 Der Grund hiervon liegt im Manifesta­ tionstrieb der menschlichen Gemütsvermögen begründet, die notwendiger­ weise „danach streben“ ihren rein konzeptuellen Status zu überwinden und sich ein Äußeres zu geben, d.h. sich geschichtlich in einzelnen Erscheinungen zu manifestieren.86 Das gesamte Wesen eines Geisteswerks setzt sich folglich zu76 

KGA I/2, 198,17. Foreman, „Natural History of Religion“, 93–97. 78  KGA I/2, 198,16 f. 79  KGA I/2, 198,20. 80  KGA I/2, 198,19. 81  KGA I/2, 198,18. 82  KGA I/12, 26,12. 83  KGA I/2, 198,24. 84  KGA I/12, 26,12. Vgl. dazu auch die Notiz Schleiermachers aus seinem Gedankenheft von 1796–1799: „Eine Theorie kann auf doppelte Art zustande kommen aus dem Mittelpunkt heraus oder von den Grenzen herein bei empirischen Dingen die zweite Art.“ (KGA I/2, 31,9 ff.) 85  Gegen die Interpretation von Wehrung, Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, 116 f. Richtig gesehen von O. Ritschl, Stellung, 34 ff.; 39 f.; 60. Vgl. auch E. Huber, Entwicklung, 15 f. und Seifert, Theologie, 178 f. 86  Nach Schleiermacher liegt es „in der Natur des Menschen“ (KGA I/2, 267,17) seine notwendigen innerlichen Triebe äußerlich in der Geschichte zu manifestieren. Er bezeichnet es daher als „etwas höchst widernatürliches […], wenn der Mensch dasjenige, was er in sich erzeugt und ausgearbeitet hat, auch in sich verschließen will. In der beständigen, nicht nur praktischen, sondern auch intellektuellen Wechselwirkung soll er alles äußern und mitthei77 

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Zweites Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via negationis

sammen aus seinem inneren Mittelpunkt und seiner äußeren Erscheinung, d.h. seinem spezifischen Geistestrieb und seiner eigentümlichen Tätigkeit. Auf diese Weise machen nach Schleiermacher erst beide Bereiche zusammen „das Leben des Geistes“87 aus, der eigenständig ein Vorhaben plant und es unter kontingenten geschichtlichen Bedingungen in eine für das geplante Vorhaben zweckmäßige Tat überführt.88 Weil dieser wesentliche Zusammenhang zwischen dem inneren und äußeren Bereich eines Geisteswerks besteht, kann auch bei der Begriffsbildung über ein Geisteswerk von beiden Bereichen ausgegangen werden. Schleiermacher nennt dies den „doppelten Standpunkt“89 der Betrachtung: Bezieht man sich bei der Begriffsbildung auf den inneren Bereich des Geisteswerks, so versucht man herauszufinden, auf welchen notwendigen Geistes­ trieben das jeweilige Werk basiert. In diesem Fall betrachtet man es als ein notwendiges „Produkt der menschlichen Natur“ oder von seinem „Mittelpunkt“ aus.90 Man kann dieses als den introspektiven Standpunkt der Begriffsbildung bezeichnen. Umgekehrt kann von dem äußeren Bereich des Geisteswerks ausgegangen werden. Die Begriffsbildung sieht in diesem Fall zunächst davon ab, aus welchen wesentlichen Geistestrieben das jeweilige Werk hervorgegangen ist und bemüht sich vorrangig darum, das Gemeinsame in den einzelnen geschichtlichen Erscheinungsweisen zu erkennen.91 Solch eine Betrachtungsweise kann als der externe Standpunkt der Begriffsbildung bezeichnet werden.92

len, was in ihm ist“, KGA I/2, 267,18–22. Vgl. auch die Ausführungen in Schleiermachers Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (KGA I/1,165,25–34). 87  KGA I/2, 222,11 (kursiv, C. K.). 88  Vgl. zu dieser Konzeption des geistigen Lebens einschlägig Herms, E., „Philosophie und Theologie im Horizont des reflektierten Selbstbewußtseins“, in: C. Helmer/C. Kranich/B. Rehme-Iffert (Hgg.), Schleiermachers Dialektik, Tübingen 2003, 23–52, hier: 25; 43. 89  „Jede Äußerung, jedes Werk des menschlichen Geistes kann aus einem doppelten Standpunkte angesehen und erkannt werden. Betrachtet man es von seinem Mittelpunkte aus nach seinem inneren Wesen, so ist es ein Produkt der menschlichen Natur, gegründet in einer von ihren nothwendigen Handlungsweisen oder Trieben, oder wie Ihr es nennen wollt, denn ich will jetzt nicht über Eure Kunstsprache richten; betrachtet man es von seinen Gränzen aus, nach der bestimmten Haltung und Gestalt, die es hie und dort angenommen hat, so ist es ein Erzeugniß der Zeit und Geschichte.“ (KGA I/2, 198,16–24 (kursiv, C. K.)) 90  KGA I/2, 198,18 f. 91  KGA I/2, 198,22 f. 92  Im Bereich der Begriffsbildung werden diese beiden Standpunkte von Schleiermacher später in der Dialektik dem deduktiven bzw. dem induktiven Verfahren gleichgesetzt und allgemein als „die zwei Wege der Begriffsbildung“ bezeichnet: „Die Entstehung eines Begriffs vom Allgemeinen aus nennen wir Ableitung oder Deduktion. Hier ist die intellektuelle Funktion die vorherrschende. […] Die Art der Entstehung der Begriffe vom Besonderen aus nennen wir Induktion oder Zusammentragung. Zu einer Zahl unter sich differierender, einzelner, schon gegebener besonderer Begriffe [bzw. Phänomene, C. K.] wird ein gemeinschaftlicher höherer Begriff gesucht, indem aus jedem einzelnen das Gemeinschaftliche herausge-

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Diese allgemeine Darstellung führt nach Schleiermacher zu einer Präzisierung seiner oben genannten Ausgangsfrage an die direkten Religionsverächter. Anstatt die direkten Verächter allgemein auf den Ursprung ihrer Religionsdefinition anzusprechen, kann er die spezifischere Frage stellen: „Von welcher Seite habt Ihr nun dieses große geistige Phänomen betrachtet?“93 Aus Schleiermachers Darstellung geht unmittelbar hervor, dass die direkten Verächter bei der Bildung ihres Religionsbegriffs nicht von einem introspektiven Standpunkt ausgegangen sein können. Sonst müssten sie zugeben, dass die Religion ein Produkt der menschlichen Natur darstellt und auf notwendigen Geistestrieben des Menschen beruht. Dies widerspricht aber, wie oben bereits gezeigt wurde, geradewegs ihrer Ansicht.94 Wollten sie aber dennoch behaupten, ihre Verachtung gründe auf einem introspektiven Standpunkt, wären sie nach Schleiermacher dazu gezwungen, ihre Religionsansichten substanziell zu korrigieren. Ihre Verachtung könnte sich in diesem Fall nicht gegen die Existenz religiöser Geistestriebe an sich richten, sondern allenfalls dagegen, wie diese Triebe bisher theoretisch definiert wurden oder „wie man sie jetzt [faktisch, C. K.] antrifft“95. An die Stelle einer grundsätzlichen Religionsverachtung wäre damit die schwächere Position getreten, nach der die direkten Verächter nicht bezweifeln würden, dass die Religion auf wesentlichen Geistestrieben beruht, sondern allenfalls in Zweifel zögen, dass diese Triebe die Gottesfurcht und die Jenseitshoffnung sind. Weil also diese schwache Position die Existenz von religiösen Geistestrieben voraussetzt und bloß ihre geschichtliche Erscheinungsweise kritisiert, kann sie im eigentlichen Sinne nicht mehr als Religionsverachtung bezeichnet werden. Gerade im Gegenteil müssten sich die Vertreter dieser schwachen Position Schleiermachers Projekt einer Neubestimmung des Religionsbegriffs vernünftigerweise anschließen, um nämlich dasjenige, was von der Religion „wahr und ewig ist, herauszusuchen, und die menschliche Natur von dem Unrecht zu befreien, welches sie allemal erleidet, wenn etwas in ihr mißkannt oder missleitet wird.“96 Das Ergebnis dieser Überlegungen ist, dass den direkten Religionsverächtern Schleiermacher zufolge nur die Wahl bleibt, entweder ihre Verachtung fallen zu lassen und sich auf seinen Versuch einer Neubestimmung des Religionsbegriffs einzulassen, oder zuzugeben, dass sie bei der Bildung ihres Religionsbegriffs von einem externen Standpunkt, d.h. von den einzelnen geschichtlichen Erscheinommen wird.“ (Schleiermacher, F. D. E., Dialektik (1822) (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1529), hrsg. u. eingel. v. M. Frank, Bd. 2., Baden-Baden 2001, 348,2 ff.) 93  KGA I/2, 198,24 f. 94  „Ihr werdet schwerlich sagen, daß dieses eine Betrachtung der ersten Art sei; denn Ihr Guten! alsdenn müßtet Ihr doch zugeben, daß etwas in diesen menschlichen Ideen wenigstens der menschlichen Natur angehöre“, KGA I/2, 198,27 ff. 95  KGA I/2, 198,31. 96  KGA I/2, 198,33 ff.

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nungen dessen, was sie für religiöse Manifestationen hielten, ausgegangen sind. Vor diese Wahl gestellt, nimmt Schleiermacher an, werden die direkten Reli­ gionsverächter ihm beipflichten, von einem derartigen externen Standpunkt ausgegangen zu sein.97 1.2.  Die wahre triebtheoretische These der direkten Religionsverachtung Nachdem der introspektive Standpunkt für die direkten Verächter ausgeschlossen wurde, lautet konsequenterweise die für die weitere Untersuchung richtungweisende Frage: Auf welche geschichtlichen Erscheinungen haben sich die Verächter bezogen, als sie ihren Religionsbegriff gebildet haben? 98 Schleiermachers These lautet in diesem Zusammenhang, dass sich die direkten Verächter auf die verschiedenen „Systeme der Theologie“99 bzw. auf die geschichtlichen Religionslehren bezogen haben. Das Gemeinsame der Reli­ gionslehren ist ihnen zufolge die sich in ihnen begrifflich manifestierende Gottesfurcht und Jenseitshoffnung. Nach Ansicht der Verächter stellen Gottesfurcht und Jenseitshoffnung jedoch keine notwendigen Geistestriebe des Menschen dar. Weil aber geschichtliche Erscheinungen, die auf keinem Geistestrieb gründen, wie bereits oben aufgezeigt, nicht als Geisteswerke im eigentlichen Sinne bezeichnet werden können, bildet die Religion kein notwendiges menschliches Geisteswerk. Im Gegensteil existiert ihrer Meinung nach die Religion nur als eine wesenlose Erscheinung ohne eigentümlichen Mittelpunkt, d.h. als ein „leerer und falscher Schein“100. Darüber hinaus geht nach Ansicht der direkten Verächter von der Religion die Gefahr aus, dass sie als dieser leere und falsche Schein von außen den menschlichen Geist befällt und eine Bewusstseinstrübung verursacht, die zu Funktionsstörungen bei den notwendigen Geistestrieben des Menschen führt. Daher sehen sie die Religion als eine „Krankheit des Gemüths“101 an, die sich „wie eine trübe und drükende Atmosphäre um einen Theil der Wahrheit herumgelagert hat.“102 97  „Wahrscheinlich aber werdet Ihr sagen, Euere Begriffe vom Inhalt der Religion seien nur die andere Ansicht dieser geistigen Erscheinung. Von dem Aeußeren wäret Ihr ausgegangen“, KGA I/12, 27,7 ff. 98  KGA I/2, 199,7 ff. 99  KGA I/2, 200,5. 100  KGA I/2, 199,4 f. 101  KGA I/2, 266,6 (kursiv, C. K.). 102  KGA I/2, 199,5 ff. Konkret umfasst der Krankheitsverlauf bei einer religiösen Infektion nach den Verächtern drei Stufen: Zuerst werden die metaphysischen und moralischen Geistestriebe des Individuums befallen, ihre eigentlichen Zwecke verwirrt und miteinander vermischt. Darauf hin schließen sich die religiösen Individuen zu einer Kirchengemeinschaft zusammen, wodurch die Religionskrankheit noch verstärkt wird. Denn sowohl die große Vertrautheit der Kirchenmitglieder untereinander als auch die gegenseitige Mitteilung ihrer Religion führen dazu, dass ihre vormals nur individuelle Religionskrankheit die Akzeptanz, Pflege und Unterstützung einer ganzen Gemeinschaft erfährt (KGA I/2, 266,16 ff.). Das

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Von diesem Verständnis der Religion ausgehend, sehen sich die direkten Religionsverächter vor die unerlässliche zweifache Aufgabe gestellt, einerseits die noch nicht religiös infizierten Menschen vor einer möglichen Einflussnahme der Religion zu schützen und andererseits die bereits religiös Verderbten einer „zwekmäßigen Behandlung“103 zu unterziehen.104 Die beste Methode aber, um einen wirksamen Breitenschutz sowohl vor einer religiösen Neuinfektion als auch einer Ausbreitung der Religionskrankheit zu gewährleisten, besteht ihnen zufolge darin, apodiktisch jedes Reden über die Religion zu unterbinden. Die Sorge um die geistige Gesundheit des Menschen gebietet ihnen folglich, dass von der Religion „gar nicht mehr […] die Rede“ ist.105 Dieses sind nach Schleiermacher sowohl die „eigentliche und wahre Meinung“106 der direkten Verächter über die Religion als auch die tatsächlichen Gründe für ihre Religionsverachtung. Die folgende schematische Darstellung fasst die wahren Ansichten der gebildeten direkten Religionsverächter zusammen: (P1) Jedes notwendige Werk des menschlichen Geistes gründet auf einem wesentlichen Geistestrieb und manifestiert sich in einer eigentümlichen Erscheinung in der Geschichte. (P2) Das Wesen der Religion manifestiert sich in den geschichtlichen Religions­ lehren. infektiöse Epizentrum der Kirchengemeinschaft bilden die Priester, welche aus diesem Grunde für die direkten Verächter auch „die Verhaßtesten unter den Menschen“ darstellen (KGA I/2, 266,26). Diese geben jene „übelzusammengenähten Bruchstücke“ (KGA I/2, 199,22) ethischer und metaphysischer Provenienz für ein „Individuum eignen Ursprungs und eigener Kraft“ aus (KGA I/2, 209,10 f.). Zuletzt fordern die religiösen Menschen auch auf wissenschaftlichem Gebiet, dass diese „Chrestomathie für Anfänger“ als ein wirkliches und eigenständiges Werk des menschlichen Geistes anerkannt wird (KGA I/2, 209,10). 103  KGA I/2, 266,11. 104  Diese Behandlung hat nach den direkten Verächtern gemäß dem Verlauf der religiösen Infektion auf drei unterschiedlichen Ebenen anzusetzen: Eine religiöse Infektion auf individueller Ebene könne nur dadurch kuriert werden, dass der Patient auf eine religiöse „Diät“ (KGA I/2, 266,13) gesetzt wird, d.h. vollständig aus ihrem Wirkungsbereich entfernt wird und die „gesunde Luft“ (KGA I/2, 266,12 f.) wahrer Bildung zu atmen bekommt, wie sie sich „in den Sprüchen der Weisen und Gesängen der Dichter“ (KGA I/2, 189,18) niedergeschlagen hat. So könne man den eigentlichen Krankheitsstoff, „wo nicht völlig besiegen“, doch zumindest „bis zur Unschädlichkeit verdünnen“ (KGA I/2, 266,14 f.). Auf gesellschaftlicher Ebene im Falle einer kirchlichen Gruppeninfektion müssen drastischere Maßnahmen ergriffen werden. Denn ließe man sie gewähren, so würde sich die Religionskrankheit ungehindert ausbreiten, bis es schließlich um „ganze Generazionen und Völker unwiderbringlich gethan“ (KGA I/2, 266,21 f.) sei. Gegen diese Gefahr einer Religionsepidemie könne nur durch die Zerschlagung der Institution Kirche und die Vertreibung der Priester vorgegangen werden. Nicht zuletzt hat man den Verächtern zufolge auch auf wissenschaftlicher Ebene dafür Sorge zu tragen, dass die Theologie aufgelöst wird und ihre relevanten Elemente in die Bereiche der wissenschaftlichen Metaphysik und der Morallehre überführt werden (KGA I/2, 209,25–34). 105  KGA I/2, 197,40. 106  KGA I/2, 200,18 f.

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(P3) Das Gemeinsame der Religionslehren besteht in Gottesfurcht und Jenseits­ hoffnung. (P4)  Gottesfurcht und Jenseitshoffnung gründen auf keinem wesentlichen Geistestrieb. (K1) Religion ist kein notwendiges Werk des menschlichen Geistes. (P5) Geschichtliche Manifestationen des Geistes, die auf keinem wesentlichen Geistestrieb gründen und zu Funktionsstörungen des Geistes führen, sind Ausdruck einer Geisteskrankheit. (K2) Religion ist Ausdruck einer Geisteskrankheit. (P6) Geisteskrankheiten können nur behoben werden, indem ihr Einfluss auf die von ihnen befallenen Geistestriebe verhindert wird. (P7) Die beste Methode den Einfluss von Geisteskrankheiten zu verhindern, ist, dass nicht mehr von ihnen gesprochen wird. (K3) Die Sorge um die geistige Gesundheit der Menschheit gebietet, dass von der Reli­gi­on nicht mehr die Rede ist. 1.3.  Triebtheoretische Kritik an der direkten Religionsverachtung Schleiermachers entscheidender Schritt in seiner kritischen Auseinandersetzung mit den direkten Religionsverächtern besteht darin (P2) zu bestreiten, d.h. die Prämisse nach der sich das Wesen der Religion in den geschichtlichen Reli­ gionslehren, bzw. in einem religiösen Wissen, manifestiert. Zwar stimmt er den Verächtern insoweit prinzipiell darin zu, dass sich in allen Religionslehren ursprünglich auch religiöse Geistestriebe manifestiert haben, denn ohne diese „hätten sie gar nicht entstehen können“107. Dennoch haben seines Erachtens die direkten Religionsverächter in ihrer beschränkten und bloß „übersichtigen Beobachtung“108 der zeitgeschichtlichen Religionsphänomene die Religionslehren vorschnell mit dem Wesen der Religion selbst identifiziert und dementsprechend eine bestimmte Form des objektiven Wissens irrtümlicherweise als den direkten und ursprünglichen Ausdruck des religiösen Geistestriebs aufgefasst.109 Durch diese unkritische Gleichsetzung von Religion und Religionslehre bzw. religiösem Wissen ist ihnen ein Vierfaches entgangen: Erstens haben sie übersehen, dass der den Religionslehren zugrundeliegende Stoff nicht direkt die religiösen Geistestriebe sind, sondern ein sekundäres religiöses Wissen über diesen Stoff. Die religiösen Geistestriebe manifestieren sich

107 Ebd. 108 

KGA I/2, 202,5 f. bewundre Eure freiwillige Unwißenheit, Ihr gutmüthigen Forscher, und Euere alzuruhige Beharrlichkeit bei dem was eben da ist und Euch angepriesen wird!“ (KGA I/2, 200,13 ff.) 109  „Ich

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aber ursprünglich in sog. religiösen „Elementen“110, d.h. in „einzelnen Andeutungen und Stimmungen“, die sich in „den Äußerungen und edlen Thaten Gottbegeisterter Menschen“ finden.111 Die Religionslehren stellen deswegen nur sekundäre Erscheinungen der Religion dar, deren Funktion ausschließlich darin besteht, die religiösen Elemente in eine systematische Ordnung zu bringen.112 Bei den Religionslehren mit ihrem religiösen Wissen handelt es sich nach Schleiermacher folglich nicht um direkte, sondern nur um indirekte Manifestationen der religiösen Geistestriebe. Zweitens haben die direkten Verächter nicht erkannt, dass sich in den Religionslehren der religiöse Geistestrieb nicht rein, sondern in einer Vermischung mit dem menschlichen Wissenstrieb manifestiert. Aus diesem Grund erscheint der religiöse Geistestrieb in den Religionslehren nur in einer durch den Wissenstrieb gebrochenen und modifizierten Gestalt. Ausgehend von der Vermischung des Religionstriebs mit dem Wissenstrieb basieren die geschichtlich überkommenen Religionslehren nach Schleiermacher auf dem „berechnenden Verstand“113 des Menschen, der sich selbsttätig auf die vorgegebenen religiösen Elemente aus Einzelanschauungen und Einzelstimmungen bezieht. Das Ziel der Religionslehren besteht darin, ein abgeschlossenes wissenschaftliches System von bestimmten Lehrsätzen und Formeln aufzustellen, „worin jedes Einzelne seine Haltung nur hat in gegenseitiger Beschränkung“114. Dieses Ziel versuchen die Religionslehren mittels theologischer Argumente sowie apologetisch und polemisch ausgefochtener Lehrstreitigkeiten zu erreichen, um dadurch sowohl intern „Mißverständniße zu beheben“ als auch extern die unterschiedlichen Religionslehren miteinander zu vergleichen.115 Die den Religionslehren zugrundeliegende Gesinnung ist somit durch das Bemühen charakterisiert, die eigenen religiösen Ansichten auf ein System von bestimmten Lehraussagen zu beschränken und dieses theologische System gegenüber anderen Systemen im Streit pedantisch zu verteidigen und feindselig abzugrenzen.116 Die religiösen Elemente basieren hingegen nicht auf einem aktiven mensch­ lichen Streben, sondern haben ihren Ursprung darin, dass „eine heilige Seele vom Universum berührt wird“117. Aus diesem passiven Ergriffenwerden durch 110  „Was

Ihr in diesen Systemen nicht gefunden habt, das würdet Ihr in den Elementen eben dieser Systeme haben sehen müssen, und zwar nicht eines oder des andern, sondern gewiß Aller.“ (KGA I/2, 200,15 ff. (kursiv C. K.)) 111  KGA I/2, 201,40–202,2. 112  KGA I/2, 239,29–38. 113  KGA I/12, 28,22 f. 114  KGA I/12, 28,21 ff. 115  KGA I/12, 31,9–15. 116  „Jeder von ihnen will Werke ausführen, jeder hat ein Ideal dem er entgegenstrebt und eine Totalität, welche er erreichen will, und diese Rivalität kann nicht anders endigen als daß einer den andern verdrängt.“ (KGA I/2, 238,35 ff.) 117  KGA I/2, 201,33.

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das Universum geht im Menschen zunächst kein selbsttätiges wissenschaftliches Systematisierungsbestreben hervor, sondern es wird in ihm vielmehr jedes Verlangen nach Bestimmung und Definition aufgehoben. Im religiös gestimmten Menschen entsteht vielmehr umgekehrt die Sehnsucht, seinen Sinn dem Universum so weit als möglich zu öffnen, um dieses staunend zu beschauen und ehrfürchtig zu fühlen.118 Anstatt ihn zu begrenzen, gibt die Religion vielmehr „dem Menschen Universalität“119. Das höchste Ziel dieser passiv konstituierten, staunenden Gemütsöffnung besteht nach Schleiermacher demzufolge nicht darin, einzig die eigenen Ansichten vom Universum als wahr zu setzen und sie gegenüber anderen Ansichten in einem Lehrstreit zu verteidigen. Im Gegenteil ist der religiös gesinnte Mensch ursprünglich darauf aus, die eigenen religiösen Ansichten in einem gegenseitigen Austausch mit anderen gleichgesinnten Menschen zu ergänzen120 und sie mit fremden religiösen Ansichten auf friedfertige Weise zu vergleichen121. Weil die direkten Verächter sich nur auf die Religionslehren mit ihrem religiösen Wissen bezogen haben, konnte ihr „ungeübtes Auge“122 die religiösen Geistestriebe nicht in ihrem ursprünglichen Charakter erkennen.123 Drittens birgt nach Schleiermacher die Vermischung von religiösem und wissenschaftlichem Geistestrieb in den Religionslehren darüber hinaus prinzipiell die Gefahr, dass sich der Wissenstrieb gegenüber dem religiösen Geistestrieb verselbstständigt und sich von ihm vollständig ablöst. Diese Gefahr einer intellektualistischen Verfremdung der Religion ist nach Schleiermacher zu allen Zeiten in den Religionslehren anzutreffen, wobei die modernen deistischen Religionslehren, d.h. die Lehren vom sogenannten „vernünftige[n] Christentum“,124 den Abschluss und Höhepunkt dieser Verfremdung darstellen.125 Im modernen Deismus bilden nach Schleiermacher die eigentlichen religiösen Geistestriebe nicht mehr den Mittelpunkt, sondern sie werden insgesamt vom sich verselbstständigten Wissenstrieb unterdrückt und in „Sklaverei gehalten“126. Der grundlegende Irrtum dieses intellektualisierten Christentums liegt 118  „Wo sie ist und wirkt, muß sie sich so offenbaren, daß sie auf eine eigentümliche Art das Gemüt bewegt, alle Funktionen der menschlichen Seele vermischt oder vielmehr entfernt, und alle Tätigkeit in ein staunendes Anschauen des Unendlichen auflöset.“ (KGA I/2, 200,1 ff.) 119  KGA I/2, 238,15 f. 120  KGA I/2, 268,11. 121  KGA I/2, 267,26 ff. 122  KGA I/2, 200,11. 123  KGA I/2, 271,19–29. 124  KGA I/2, 199,21 ff. 125  „Sie [die Religionslehren, C. K.] erscheinen alle als Übergänge und Annäherungen zu den letzteren [Religionslehren, C. K.]; jedes kommt etwas geschliffener aus der Hand seines Zeitalters bis endlich die Kunst zu jenem vollendeten Spielwerk gestiegen ist, womit unser Jahrhundert sich so lange die Zeit vertrieben hat.“ (KGA I/2, 199,30–34) 126  KGA I/2, 200,1.

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darin, dass in ihm zwar begrifflich vermittelte „Theorien vom Ursprung und Ende der Welt“ und „Analysen von der Natur eines unbegreiflichen Wesens“ vorhanden sind,127 das eigentliche Wesen der Religion aber, welches sich in der unmittelbaren Anschauung des Unendlichen und dem unmittelbaren Gefühl der „Gemeinschaft mit ihm“128 manifestiert, nicht zur Darstellung gebracht wird.129 Die Religionslehren unterliegen nach Schleiermacher der Täuschung, zu meinen, in der Religion stelle sich der Mensch mit seinem Wissen dem Universum gegenüber und bilde sich ein objektiv-gegenständliches Bewusstsein vom Unendlichen. Seines Erachtens erfährt sich der Mensch in der Religion aber als ein durch das Universum konstituiertes und für das Universum selbst konstitutives Element.130 Dementsprechend stellt sich der religiöse Mensch dem Unendlichen nicht im Wissen gegenständlich gegenüber, sondern in Gefühl und Anschauung nimmt er sein ihm vorgegebenes Hineingestelltsein in das Universum subjektiv-unmittelbar wahr und bildet sich ein Bewusstsein von allem End­ lichen im Unendlichen.131 Anstatt die lebendigen religiösen Triebe im „Inneren des Gemüths“132 zu erfahren, halten die Anhänger der vernünftigen Religionslehren Schleiermacher zufolge nichts als „todte kalte Maße“ von abstrakten religiösen Formeln und Lehrsätzen „in Händen“133. Der eigentliche Charakter der religiösen Geistestriebe lässt sich anhand der Religionslehren nicht rein erkennen, sondern in ihnen sind lediglich dem gegenständlichen Wissen zugehörige, „übelzusammengenähte Bruchstücke von Meta­physik und Moral“134 anzutreffen. Nach Schleiermacher ist daher ihre „Vervollkommnung eher Alles, nur nicht Annäherung zur Religion“135 und ihre kunstvolle Verfeinerung nichts anderes als eine „Geschichte menschlicher Thor­heiten“.136 Viertens sieht Schleiermacher seine Kritik an den Religionslehren durch die Religionsgeschichte selbst bestätigt. Die „Heroen der Religion“ haben seines Erachtens keine Religionslehren verfertigt. Anstatt diese „sisyphische Arbeit“ auf sich zu nehmen, haben sie sich damit begnügt, bloß einzelne religiöse Anschauungen auszusprechen.137 Daran wird nach Schleiermacher deutlich, dass die Religionslehren keine notwendige Erscheinungsweise der religiösen Geistes­ triebe darstellen, sondern bloß als kontingente Erscheinungsweisen der Reli­ 127 

KGA I/2, 200,5 ff. KGA I/12, 29,5 f. 129 Ebd. 130  KGA I/2, 211,40–212,1. 131  KGA I/2, 212,37–213,1. 132  KGA I/2, 227,28. 133  KGA I/2, 200,21. 134  KGA I/2, 199,22. 135  KGA I/2, 199,34 f. 136  KGA I/2, 199,19. 137  KGA I/2, 201,11–22. 128 

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gion aufzufassen sind. Sie werden von den religiösen Menschen nur unter bestimmten historischen Bedingungen gebildet. Die zeigt erneut, dass die Religionslehren nicht das unwandelbare Wesen der Religion selbst ausdrücken, sondern nur eine bestimmte Funktion für die Religion ausüben. Gegen die direkten Religionsverächter hat Schleiermacher somit aufgezeigt, dass eine von einem externen Standpunkt ausgehende Wesenserkenntnis der Religion prinzipiell vor der Schwierigkeit steht, für ihren Zweck geeignete religiöse Erscheinungen in der Geschichte aufzufinden und auszuwählen. Dabei bemisst sich nach Schleiermacher der heuristische Eignungsgrad138 einer religiösen Erscheinung daran, wie oben ausgeführt, inwiefern in ihr auf prägnante, d.h. auf direkte, ursprüngliche und reine Weise der religiöse Geistestrieb zum Ausdruck gebracht wird. Proportional zu diesem heuristischen Eignungsgrad einer religiösen Erscheinung steht dementsprechend der Grad an Wahrscheinlichkeit, mit der anhand der gewählten religiösen Erscheinungen das Wesen der Religion erkannt werden kann. Dabei gilt: Je prägnanter sich der religiöse Geistestrieb in einer geschichtlichen Erscheinung manifestiert, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, anhand dieser Erscheinung das Wesen der Religion zu erfassen. Der heuristische Eignungsgrad der Religionslehren zur Wahrnehmung der religiösen Geistestriebe fällt nach Schleiermacher sehr gering aus, da diese sich in ihnen nur auf indirekte, modifizierte und eventuell sogar verfälschende Weise manifestiert. Zudem bilden die Religionslehren keine notwendige Erscheinungsweise des religiösen Geisteswerks, sondern sie sind bloß kontingente Erscheinungsweisen der Religion, die nur unter bestimmten historischen Konstellationen gebildet werden.139 138  In

der Dialektik gibt Schleiermacher eine kurze Beschreibung des heuristischen Verfahrens im Allgemeinen: „Die Gegenstände werden uns gegeben durch den Reiz auf die Sinne. […] Erst mit dem Herausheben eines Einzelnen aus der unbestimmten chaotischen Mannigfaltigkeit setzt das heuristische Verfahren ein. Dieses Verfahren ist also nichts anderes als die Regel der Wahrnehmung, d.h. das, was wir Beobachtung nennen.“ (Schleiermacher, Dialektik (1822), 446,5–11) 139  Schleiermacher versucht durch den Hinweis auf die Philosophie seine These zu erhärten, wonach das „Wahre und Richtige“ (KGA I/2, 200,22) eines geistigen Werks, d.h. der ihm jeweils zugrunde liegende Geistestrieb, sich direkt, ursprünglich und rein nur in den Elementen und nicht in den ausgebildeten Systemen dieser Elemente darstellt. Um diesen Aspekt zu verdeutlichen, unterscheidet Schleiermacher in diesem Zusammenhang zwischen den „Erfindern“ (KGA I/2, 201,4 f.) einer Philosophie und den philosophischen „Schulen“ (KGA I/2, 200,32). Mit einer philosophischen Schule bezeichnet er im Allgemeinen die „äußere Einheit“ (vgl. KGA I/13.1, 61,16 ff.) einer philosophischen Gruppe, die sich auf einen Erfinder bezieht und welche versucht dessen ursprüngliche Einsichten wissenschaftlich zu ordnen und zu systematisieren. Die philosophischen Systeme sind ihm zufolge aber vornehmlich Ausdruck von philosophischen Schulen und stammen nicht von den Erfindern selbst. Nun kann nach Schleiermacher ein philosophisches System vertreten werden, ohne dass dazu philosophischer Geist benötigt wird. In diesem Sinne handelt es sich bei den Anhängern einer philosophischen Schule nicht notwendigerweise um Philosophen im eigent­ lichen Sinne, sondern es besteht die Möglichkeit, dass sie bloß geistige Archivare darstellen, „welche nur nachtreten und zusammentragen und bei dem, was ein Anderer gegeben hat,

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Wenn die in religiösen Angelegenheiten unerfahrenen direkten Religionsverächter versucht haben, anhand der ihnen bekannten Religionslehren, das ihnen bislang unbekannte Wesen der Religion zu erkennen, so besteht folglich eine sehr niedrige Wahrscheinlichkeit, dass ihnen dieses Vorhaben gelingt. Und nach Schleiermacher ist es daher tatsächlich nicht weiter verwunderlich, dass sie „in allen diesen Systemen, […] die Religion nicht gefunden [haben] und nicht finden können, weil sie nicht da ist“.140 In seiner Kritik am gemeinen Religionsbegriff hat Schleiermacher somit aufgezeigt, dass die Prämisse der gebildeten direkten Religionsverächter „(P2) Das Wesen der Religion manifestiert sich in den geschichtlichen Religionslehren“

stehen bleiben“ (KGA I/2, 201,3 f.). Diese scheinbaren Philosophen bedienen sich nach außen philosophischer Ausdrücke und Argumente, sind aber innerlich geistlos, weil sie des „selbstbildenden Geist[es]“ (KGA I/12, 30,2 f.) ermangeln, d.h. sich in ihnen der „Geist der Wissenschaft“ (KGA I/2, 201,1) nicht finden lässt. In der Dialektik präzisiert Schleiermacher diese Unterscheidung dahingehend, dass die scheinbaren Philosophen bestenfalls „in der Wissenschaft auf dem betretenen Wege weiterschreiten“ (Schleiermacher, Dialektik (1822), 454,7), während die wahren Philosophen mit einer ursprünglichen philosophischen Geisteskraft begabt sind, die sie dazu befähigt, „der Wissenschaft eine neue Gestalt“ zu geben und selbst eine Philosophie zu machen. Nur diese letzteren sind seines Erachtens „die eigent­ lichen Genies und Erfinder des Erkennens“ (a.a.O., 454 f.). Wollte man also den eigentümlichen Charakter und die spezifische Gesinnung der philosophischen Geistestriebe nur anhand der von Adepten einer Schule äußerlich vertretenen Lehrmeinungen auffinden, so hätte man zwar ein geordnetes System von Argumenten, es bliebe einem aber die eigentliche Triebkraft hinter diesem System verschlossen (KGA I/2, 200,36–201,5) und man würde sich auf nichts weiter beziehen als auf eine „Pflanzstätte des toten Buchstabens“ (KGA I/2, 200,33). Nach Schleiermacher bildet das Ideal eines derartigen Ursprungsphilosophen der historische Sokrates. Sokrates hat als erster Philosoph die „Idee des Wissens an sich“ (KGA I/11, 211,20) besessen und „dieses Erwachen nun der Idee des Wissens und die ersten Aeußerungen derselben, das muß zunächst der philosophische Gehalt des Sokrates gewesen seyn“ (KGA I/11, 211,42–212,1). Inhaltlich bestand die Sokratische Idee nach Schleiermacher explizit darin, „daß alles Wissen ein Ganzes bilde“ (KGA I/11, 212,16 f.). Dabei ist es keineswegs „dem So­ krates auf den Inhalt angekommen, sondern dieser muß ihm nur Nebensache gewesen seyn“ (KGA I/11, 213, 12 f.) und deshalb begnügte er sich auch damit, in Anderen diesen „Grundgedanken aufzuregen“ (KGA I/11, 212,24), ohne selbst ein System auszubilden. Ausschließlich diese sokratische Gesinnung war es nach Schleiermacher, durch die sich Sokrates’ philosophischer Geist auf seine Zuhörer übertragen hat und aus ihnen Philosophen vom Rang eines Platons machen konnte. Wenn nun aber diese soeben aufgezeigte Differenz von Erfindern und Adepten bzw. ursprünglichem Element und abgeleitetem System sogar für die Philosophie gilt, um wie viel mehr muss nach Schleiermacher dieser Zusammenhang auch für die Religion gelten, da sie sich doch „ihrem ganzen Wesen nach von allem Systematischen eben so weit entfernt, als die Philosophie sich von Natur dazu hinneigt.“ (KGA I/2, 201,7 f.) Vgl. auch Rohls, J., „Schleiermachers Platon“, in: N. Cappelørn/R. E. Crouter/T. Jørgensen/C. Osthövener (Hgg.), Schleiermacher und Kierkegaard. Subjektivität und Wahrheit. Akten des Schleiermacher-Kierkegaard-Kongresses in Kopenhagen, Oktober 2003 (Schleiermacher-Archiv 21), Berlin/New York 2006, 709–732 und Janus, R., „Über den Wert des Sokrates als Philosophen. Einige Anmerkungen zu Schleiermacher und Kierkegaard“, in: Schleiermacher und Kierkegaard, 733–740. 140  KGA I/2, 200,9–10.

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triebtheoretisch nicht zutreffend ist, und dass demgemäß auch ihre Konklusionen (K1)–(K3) in Frage gestellt werden können. 2.  Kritik am gemeinen Religionsbegriff der indirekten Verächter Wie bereits gezeigt wurde, stimmen die indirekten und die direkten Verächter nach Schleiermacher darin überein, dass Religion, von beiden Gruppen als Gottesfurcht und Jenseitshoffnung aufgefasst, auf keinen notwendigen Geistestrieb des Menschen zurückgeht. Die indirekten Verächter sind im Unterschied zu den direkten Verächtern davon überzeugt, dass die so verstandene Religion keine Bedrohung für den mentalen Gesundheitszustand des Menschen darstellt, sondern vielmehr einen zweckmäßigen Beitrag zur ethischen Stabilisierung des menschlichen Gemeinwesens leistet. Schleiermacher teilt in diesem Zusammenhang die ethischen Zwecke des menschlichen Geistes ganz kantisch in rechtliche und sittliche ein. Demgemäß bezieht sich die Religion nach Ansicht der indirekten Verächter sowohl auf die Legalität von Handlungen als auch auf die gute Gesinnung der Handlungsmaximen:141 Zum einen wird ihnen zufolge durch die im Wesen der Religion liegende Furcht vor Gottes Allwissenheit und seiner vergeltenden Allmacht bei den Bürgern eine moralische Scheu vor gesetzlosen Handlungen erzeugt, die zur äußeren Erhaltung und Stabilität des geltenden Rechtszustands beiträgt.142 Zum anderen werden die Bürger durch die der Religion wesensgemäße Hoffnung auf eine jenseitige Belohnung für gottgefälliges Handeln zu einem altruis­ tischen Verhalten intern motiviert, wodurch die Religion das „Vollbringen des Guten“143 erleichtert und die Sittlichkeit des bestehenden Gemeinwesens stärkt. Aus diesen beiden Gründen ist die Religion zwar nicht in sich selbst notwendig, religiöse Gottesfurcht und Jenseitshoffnung besitzen aber ethische Bedeutung, weil beides nach der Meinung der indirekten Verächter „Noth thu[t]“144, um die Gesellschaft vor Unrecht zu beschützen und die Sittlichkeit in ihr zu kräf­ tigen.145 141  „Man nennt die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze, ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben, die Legalität (Gesetzmäßigkeit); diejenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die Triebfeder der Handlung ist, die Moralität (Sittlichkeit) derselben.“ (Kant, Die Metaphysik der Sitten, AA VI, 219 (kursiv, C. K.)) 142 Schleiermacher nennt dies das „Andenken an ein allsehendes Auge“, KGA I/2, 202,13 f. 143  KGA I/2, 202,19. 144  KGA I/2, 204,22. 145  Zu diesen beiden Punkten vergleiche auch Schleiermachers Schrift Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat: „Überhaupt was erwarten diese Menschenfreunde von der Religion, und warum? […] Die Furcht vor der gesetzlichen Strafe trauen sie nicht Kraft genug zu, um die Menschen zu regieren und im Zaum zu halten. […] Aber sie trauen auch dem Gewissen als Gesinnung nicht Kraft genug zu gegen die mancherlei Lust welche das Böse darbietet, und suchen also

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Im Folgenden wird Schleiermachers Auseinandersetzung mit diesem von den indirekten Verächtern unterstellten ethischen Zusammenhang von Recht, Sittlichkeit und Religion dargestellt. Schleiermachers Argumentationsweg entspricht dabei formal seinem obig bereits dargelegten Vorgehen bei den direkten Verächtern: Zuerst präzisiert er, auf welche Weise die indirekten Verächter den ethischen Zusammenhang von Recht, Sittlichkeit und Religion verstehen (1.). Im Anschluss daran stellt er die wahre These der indirekten Religionsverachtung dar (2.) und kritisiert diese These auf triebtheoretischem Wege (3.). 2.1.  Triebtheoretische Präzisierung der indirekten Religionsverachtung Schleiermacher greift bei seiner Präzisierung der indirekten Religionsverachtung implizit auf Argumente zurück, die er bereits in der Auseinandersetzung mit den direkten Verächtern vorgebracht hat. Dort hat er gezeigt, dass jedes Werk des menschlichen Geistes innerlich auf einem notwendigen Geistestrieb des Menschen gründet und sich auf eine eigentümliche Weise äußerlich in der Geschichte manifestiert. Daraus ergaben sich zwei mögliche Betrachtungsweisen jedes menschlichen Geisteswerks, nämlich entweder als ein notwendiges Produkt der menschlichen Natur oder als ein kontingentes Produkt der Geschichte und der Zeitumstände. Setzt man dieses epistemologische Grundkonzept Schleiermachers in seiner Auseinandersetzung mit den indirekten Verächtern voraus, ergeben sich zwei Möglichkeiten zur Beantwortung der Frage, was die indirekten Verächter unter dem ethischen Zusammenhang von Recht, Sittlichkeit und Religion präzise verstehen: Entweder vertreten sie eine Position, die in ethischer Hinsicht einen notwendigen Zusammenhang zwischen Recht, Sittlichkeit und Religion annimmt. Der Ausdruck, dass Religion „Noth thut“ nimmt in diesem Sinne eine starke Bedeutung an und besagt im vorliegenden Fall, dass Religion sowohl in praktischer Hinsicht den Menschen ursprünglich zum rechtlichen und sittlichen Verhalten befähigt, als auch in theoretischer Hinsicht die Begriffe des Rechts und der Sittlichkeit begründet. Religion bildet nach dieser Auffassung in praktischer und theoretischer Hinsicht die Möglichkeitsbedingung für Recht und Sittlichkeit. In diesem Fall werden die ethischen Geistestriebe dem religiösen Geistestrieb untergeordnet und die Religion soll folglich „herrschen […] in einem fremden Reiche“.146 Oder die indirekten Verächter vertreten eine Position, nach der kein notwendiger Zusammenhang zwischen Recht, Sittlichkeit und Religion besteht, sonnach irgend einer andern innern verborgenen Gewalt um jene zu unterstützen. […] So etwas glauben sie in der Religion gefunden zu haben, daher gilt ihnen auch die Art und Reinheit derselben gleich, wenn nur jene bewegende Kraft da ist, die sie brauchen. […] Aber dies sind die Ursachen, warum sie wünschen, daß man die Menschen in großen Schaaren doch wieder hineinlocken könnte in die Kirchen.“ (KGA I/4, 413,27–414,19) 146  KGA I/2, 204,3.

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dern dieser Zusammenhang kontingent ist und sich bestimmten, veränderlichen Geschichtskonstellationen verdankt. Die These, dass Religion „Noth thut“ nimmt in diesem Sinne eine schwache Bedeutung an und besagt im vorliegenden Fall, dass die Religion zum Zwecke der ethischen Stabilität einer Gesellschaft ein zwar wertvolles, jedoch zeitlich begrenztes pädagogisches Mittel darstellt. In diesem Fall wird der religiöse Geistestrieb den ethischen Geistestrieben untergeordnet und die Religion soll „in ein anderes Gebiet verpflanzt [werden] […], daß sie da diene und arbeite.“147 In seiner Argumentation zeigt Schleiermacher auf, dass die indirekten Verächter nur in dem schwachen Sinne von einem ethischen Zusammenhang zwischen Recht, Sittlichkeit und Religion ausgehen können, weil die starke These von einem ethisch notwendigen Zusammenhang sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht zu anderen Annahmen der indirekten Verächter im direktem Widerspruch steht:148 In praktischer Hinsicht können Schleiermacher zufolge die indirekten Verächter von keinem notwendigen ethischen Zusammenhang zwischen Religion, Recht und Sittlichkeit ausgehen, da an ihnen selbst bereits deutlich wird, dass es trotz Religionsverachtung möglich ist, das Recht zu achten und der Sittlichkeit Folge zu leisten. Die Religion, verstanden als Gottesfurcht und Jenseitshoffnung, kann daher keine Möglichkeitsbedingung im strengen Sinne für rechtliches und sittliches Verhalten darstellen. Wollte man dennoch an der starken These von der ethischen Notwendigkeit der Religion festhalten, ergibt sich nach Schleiermacher für die indirekten Verächter die paradoxe Situation, dass sie „durch etwas, das [sie] sonst keine Ursache hätten zu achten und zu lieben, […] zu etwas Anderem sollten [sich] antreiben laßen, was [sie] ohnedies schon verehren“.149 Weil es faktisch der Fall ist, dass die indirekten Verächter religionsunabhängig die Fähigkeit besitzen, sich sittlich und rechtskonform zu verhalten, kann in praktischer Hinsicht kein notwendiger Zusammenhang zwischen Recht, Sittlichkeit und Religion bestehen. Auch in theoretischer Hinsicht können die indirekten Religionsverächter nach Schleiermacher von keinem ethisch notwendigen Zusammenhang der genannten drei Geistestriebe ausgehen, weil dies letztlich dazu führt, dass ihnen die Begriffe des Rechts und der Sittlichkeit selbst „unter den Händen“150 verschwinden. Nach Schleiermacher zerstört ein ethisch notwendiger Zusammenhang der drei Geistestriebe den theoretischen Autonomiestatus des ethischen Bereichs 147 

KGA I/2, 204,2. Dies wird zur Verdeutlichung in den späteren Auflagen der Reden von Schleiermacher durch den folgenden Zusatz herausgestellt: „[…] ich spreche dies aus Eurer eignen Ansicht“, KGA I/12, 33,24. 149  KGA I/2, 202,27 ff. 150  KGA I/2, 203,10. 148 

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selbst. Ihm zufolge werden Recht und Sittlichkeit theoretisch adäquat erfasst, wenn die vollständige „Unabhängigkeit“151 ihrer spezifischen Zwecke und die „Allgewalt“152 ihrer jeweiligen Gesetze erkannt wird. Recht und Sittlichkeit gründen seines Erachtens auf autonomen Geistestrieben und sie gelten daher unabhängig von den religiösen Anschauungen und Gefühlen eines Menschen.153 Diese Ansicht von der Autonomie des ethischen Bereichs, von dem Schleiermacher ausgeht, dass die indirekten Verächter sie mit ihm teilen, wird aber durch die Behauptung der ethischen Notwendigkeit von Religion, verstanden als Gottesfurcht und Jenseitshoffnung, für Sittlichkeit und Recht konterkariert. Vorausgesetzt, dass Recht und Sittlichkeit aus begrifflichen Gründen „als einer Unterstüzung bedürftig vorgestellt werden“154, und ihre Geltung dementsprechend an die religiöse Gottesfurcht und Jenseitshoffnung geknüpft wird, kann das rechtliche und sittliche Handeln nicht mehr als interesselos und selbstzweckhaft aufgefasst werden.155 Vielmehr werden Recht und Sittlichkeit in diesem Fall einem heterodoxen Prinzip untergeordnet.156 Denn nach Schleiermacher führen, entgegen der Annahme der indirekten Verächter, die religiöse Gottesfurcht und Jenseitshoffnung weder zu einer moralischen Scheu vor gesetzlosen Handlungen, noch könnten sie die Menschen zu einem altruistischen Verhalten intern motivieren. Sondern vielmehr wird durch Gottesfurcht und Jenseitshoffnung der gesamte ethische Bereich auf das individuelle Streben zur Förderung der eigenen Lust ( Jenseitshoffnung) und der Vermeidung von eigener Unlust (Gottesfurcht) 151 

KGA I/2, 203,37. KGA I/2, 203,38. 153  „Moral […] gebietet und untersagt Handlungen mit unumschränkter Gewalt.“ (KGA I/2, 208,24 f.) Vgl. hierzu bereits Bleek, Christologie, 55 ff. Nach Bleek teilt der frühe Schleiermacher mit Kant „die Überzeugung von dem alleinigen Werte des guten Willens, der das Gute nicht aus Temperament, nicht aus Rücksicht auf eine zu erstrebende Glückseligkeit, sondern allein aus Achtung vor dem Sittengesetz will.“ Dies ist auch der Grund für Schleiermachers deutliche Ablehnung der englischen Moralphilosophie um Hutcheson, Shaftesbury und Adam Smith, die Schleiermachers Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehr als „Systeme der Lust“ (KGA I/4, 71,6) charakterisieren. Vgl. hierzu Arndt, A., „Schleiermacher und die englische Auf klärung“, in: 200 Jahre „Reden über die Religion“, 181–193. 154  KGA I/2, 202,23. 155  Vgl. auch KGA I/4, 416,1–4: „Von der bösen Gesinnung soll sich der Mensch reinigen aus Furcht; der guten Gesinnung soll er sich befleißigen auf Hoffnung. Wer sieht aber nicht, der nur irgend gesunde Begriffe hat, daß hier so viel Unsinn ist als Worte?“ 156  Vgl. hierzu einschlägig Kant: „Wenn aber die Materie des Wollens, welche nichts anderes als das Object einer Begierde seyn kann, die mit dem Gesetz verbunden wird, in das practische Gesetz als Bedingung der Möglichkeit desselben hineinkommt, so wird daraus Heteronomie der Willkühr, nemlich Abhängigkeit vom Naturgesetze, irgendeinen Antrieb oder Neigung zu folgen, und der Wille giebt sich nicht selbst das Gesetz, sondern nur die Vorschrift zur vernünftigen Befolgung pathologischer Gesetze; die Maxime aber, die auf solche Weise niemals die allgemeingesetzgebende Form in sich enthalten kann, stiftet auf diese Weise nicht allein keine Verbindlichkeit, sondern ist selbst dem Princip einer reinen practischen Vernunft, hiermit also auch der sittlichen Gesinnung entgegen, wenn gleich die Handlung, die daraus entspringt, gesetzmäßig seyn sollte.“ (Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 33) 152 

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reduziert.157 Damit wird die Autonomie beider Geistestriebe zwangsläufig aufgehoben und sie werden zu Mitteln des Privatinteresses degradiert.158 Hierdurch verlieren nach Schleiermacher die Forderungen des Rechts und der Sittlichkeit notwendigerweise ihre überindividuell-verbindliche „Festigkeit“159, denn ihre ethischen Imperative werden auf den Status von bloß hypothetischen Imperativen, die sich am Maßstab des individuellen „Wohlbefinden“160 ausrichten, reduziert. Schleiermacher stellt folglich heraus, dass gerade die starke Bedeutung des Ausdrucks „Religion tut not“, wobei Religion im Sinne der indirekten Verächter als Gottesfurcht und Jenseitshoffnung verstanden wird, keineswegs zu einer Stärkung des Rechts und der Sittlichkeit führt, sondern vielmehr den theoretischen Autonomiestatus der Ethik destruiert. 2.2.  Die wahre triebtheoretische These der indirekten Religionsverachtung Wollen die indirekten Verächter dennoch, trotz des obigen Einwandes, an ihrer These festhalten, dass Religion der menschlichen Gesellschaft „Noth thut“, dann kann es sich folglich nur um einen kontingenten Zusammenhang von Religion, Recht und Sittlichkeit handeln. In diesem Sinne soll der religiöse Geistestrieb den ethischen Geistestrieben dienend untergeordnet werden und Religion als ein wertvolles, aber zeitlich begrenztes pädagogisches Kompensationsmittel aufgefasst werden, das die Gebildeten der ethischen Schwäche des „Volkes zu Liebe“161 anwenden.162

157  „Eben so wenig aber darf die Sittlichkeit mit der Religion zu theilen haben; wer einen Unterschied macht zwischen dieser und jener Welt, der bethört sich selbst, alle wenigstens welche Religion haben, glauben nur an Eine. Ist also das Verlangen nach Wohlbefinden der Sittlichkeit etwas fremdes, so darf das Spätere nicht mehr gelten als das Frühere, und die Scheu vor dem Ewigen nicht mehr als die vor einem weisen Mann.“ (KGA I/2, 203,28–34) 158  Eine Vorstufe zu dieser Argumentation von der unabhängigen Gültigkeit der ethischen Gebote von der Annahme eines höchsten Wesens oder einer Hoffnung auf ein Jenseits liefert Schleiermacher schon in seiner Frühschrift Über das höchste Gut von 1789: „Was das Bewußtsein deines Wesens dir zu sein und zu werden gebietet, das bleibt dir geboten, was auch ein höheres Wesen außer dir wollen mag, ja das mußt du dir, und wenn du auch nur einen Augenblick existiertest, für diesen Augenblick geboten sein lassen, und keine Meinung von der Dauer des menschlichen Daseins kann darauf Einfluß haben.“ (KGA I/1, 100,10–15) 159  KGA I/2, 203,35. 160  KGA I/2, 203,32. 161  KGA I/2, 202,31. 162  Vgl. KGA I/4, 413, 11–22: „[…] ferner klagen über den Verfall der Religion auch die Weltleute, ohne alles unmittelbare eigene Interesse, nicht in Beziehung auf sich selbst und ihres Gleichen, sondern auf die niedern Volksklassen. […] Sie haben eine gewisse Erinnerung, daß ehedem als noch mehr äußere Religiosität unter dem Volke herrschte auch manches andere noch anders war und ihnen besser gefiel. Das Volk lebte eingezogener und ehrbarer, es arbeitete wohlfeiler und unermüdeter, es zeigte sich unterwürfiger, und erlaubte sich weder viele Urtheile, noch viele Bestrebungen es besser zu haben. Diese herrlichen Eigenschaften sind mit der Religiosität verschwunden und würden also auch wohl vielleicht mit ihr zurückkehren.“

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Demgemäß wollen die Gebildeten die Religion, obwohl sie ihnen selbst „höchst gleichgültig ist“163, zum Schein annehmen, um das ungebildete Volk bei der Beachtung von Recht und Sittlichkeit nicht zu überfordern.164 Wenn das Volk ethisch gebessert und die entsprechende geistige Reife der Gebildeten erreicht hat, sollen sie die Religion von selbst wieder abwerfen und Recht und Sittlichkeit um ihrer selbst willen befolgen. Auf diese Weise stellt die Religion nach den indirekten Verächtern ein praktikables und vorübergehendes Erziehungsmittel dar, um zur langfristigen ethischen Stabilität der Gesellschaft beizutragen. Die folgende schematische Übersicht fasst diese wahre Ansicht der gebildeten indirekten Religionsverächter zusammen: (P1*) Die ethische Stabilität der Gesellschaft gründet auf dem sittlichen und rechtskonformen Verhalten ihrer Mitglieder. (P2*) Das Wesen der Religion besteht in Gottesfurcht und Jenseitshoffnung. (P3*) Die ungebildeten Schichten der Gesellschaft sind unfähig zum autonomen sittlichen und rechtlichen Verhalten. (P4*) Gottesfurcht und Jenseitshoffnung sind geeignete Erziehungsmittel zum autonomen sittlichen und rechtlichen Verhalten der ungebildeten Schichten der Gesellschaft, weil ein pädagogischer Zusammenhang zwischen Recht, Sittlichkeit und Religion besteht. (K1*) Das Wesen der Religion, verstanden als Gottesfurcht und Jenseitshoffnung, besteht darin, zur ethischen Stabilität der Gesellschaft beizutragen. 2.3.  Triebtheoretische Kritik an der indirekten Religionsverachtung Nach Schleiermacher führt auch die Ansicht der Religion als eines pädagogischen Hilfsmittels der Ethik zu einer Destruktion des ethischen Gemeinwesens. Diesmal allerdings nicht aus theoretischen, sondern aus praktischen Gründen. Zentral bestreitet er in diesem Zusammenhang (P4*), wonach ein ethischpäda­gogischer Zusammenhang zwischen Religion, Recht und Sittlichkeit bestehen soll: Zum einen bezweifelt Schleiermacher schlichtweg, dass sich die Religion, verstanden als Gottesfurcht und Jenseitshoffnung, zur ethischen Erziehung eignet: „Denn ich muß es nur gestehen, ich glaube nicht daß es so arg ist mit den

163 

KGA I/2, 202,34 f. I/4, 413,27–414,32: „Aber dies sind die Ursachen, warum sie wünschen, daß man die Menschen in großen Schaaren doch wieder hineinlocken könnte in die Kirchen. […] Wenn es nur möglich wäre, wollten sie sich gern selbst hergeben um bisweilen die Kirche zu schmücken mit ihren Kreuzen und Bändern und dem übrigen Glanze des Reichthums und der Würde, und sich freuen zu hören, wie unter solcher Herrlichkeit und Pracht dem Volk jetzt der Ysop der Furcht vor den ewigen Strafen dargereicht würde, jetzt auch wieder zur Abwechslung das Manna der ewigen Hoffnung. Doch es ekelt die Verkehrtheit weiter auszumalen.“ 164  KGA

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unrechten Handlungen welche sie verhindert, und mit den sittlichen welche sie erzeugt haben soll.“165 Zum anderen argumentiert er, dass eine derartige Ansicht wie (P4*) nicht im Sinne der Verächter selbst sein kann, da sie in ihrer Konsequenz gerade nicht zur Stabilität, sondern vielmehr zur Destabilisierung des gesamten ethischen So­ zialwesens, wie die Verächter es sich wünschen, führt. Die von Schleiermacher hierfür in den Reden angegebenen Gründe können durch seine späteren Bemerkungen aus der Pädagogik166 ergänzt werden. Nach Schleiermacher ist Erziehung im Allgemeinen ein „Hervorrufen zur selbständigen Betätigung eines Vermögens“167, und zwar durch ein adäquates Verfahren, d.h. eine Vorgehensweise, welche dem Charakter des hervorzurufenden Vermögens wesentlich entspricht.168 In den Reden bezeichnet Schleiermacher dieses als die Bewegung des pädagogischen „Ähnlichmachens“169, welches vom ethischen Erzieher ausgeht und dem ethischen Zögling zu Teil wird. Folglich dürfen bei der ethischen Erziehung die angewandten pädagogischen Methoden nicht dem Geiste desjenigen Geisteswerks zuwiderlaufen, das gebildet werden soll. Ein anderes pädagogisches Vorgehen läuft auf die für Schleiermacherschs Gemütslehre paradoxe Situation hinaus, dass es möglich wäre, in jemandem eine Geisteskraft zu bilden, die man in diesem nicht durch vorbildhaftes Verhalten angeregt hat.170 Für den vorliegenden Fall der indirekten Verächter kann der soeben aufgezeigte allgemeine Erziehungsgrundsatz dahingehend ethisch konkretisiert werden, dass recht- und sittenlose Vorbilder bei anderen Menschen keine ethischen Geistestriebe anzuregen oder zu bilden vermögen. Wenn das pädagogische Ziel der indirekten Verächter darin besteht, das ethische Bewusstsein des ungebildeten Volkes auf eine Stufe zu erheben, von der aus es zu einem autonomen rechtlichen und sittlichen Verhalten befähigt ist, kann dieses Ziel folglich nicht mit recht- und sittenlosen Mitteln erreicht werden. 165 

KGA I/2, 204,27 ff. Schleiermacher, F. D. E., Pädagogik. Die Theorie der Erziehung von 1820/21 in einer Nachschrift, hrsg. v. Ch. Ehrhardt/W. Virmond, Berlin/New York 2008. Vgl. auch Hinrichs, W., „Die pädagogische Schleiermacher-Forschung“, in: Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 14 (1977), 285–299; Brüggen, F., Schleiermachers Pädagogik. Eine Einführung, Münster 2.  Aufl. 2002; Heil, J., Einführung in das philosophisch-pädagogische Denken von Friedrich Schleiermacher. Schleiermachers methodologische Grundannahmen und ihre Bedeutung für das Verhältnis von Erziehungspraxis und pädagogischer Theorie, London 2004. 167  Schleiermacher, Pädagogik, 79,15 f. 168 Ebd., 113,13 ff.: „Der Grundkanon aber ist, dass alles Kunstgemäße in der Erziehung auch als das reine Resultat einer sittlichen Handlungsweise muss angesehen werden.“ Vgl. auch die späteren Ausführungen in: KGA I/4, 66 f. demgemäß nach Schleiermacher das einem ethischen Grundsatz Entsprechende nur durch diesen selbst hervorgebracht werden kann. 169  KGA I/2, 202,33 (kursiv, C. K.). 170  Schleiermacher, Pädagogik, 139,19 ff. 166 

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Dieses Vorgehen sieht Schleiermacher allerdings bei den indirekten Verächtern am Werk. Anstatt das rechtliche und sittliche Verhalten der Ungebildeten „unmittelbar“171 zu fördern, ziehen sie es vor, diese wider besseres Wissen, durch Betrug und Lüge,172 in ihrem religiösen Irrtum zu bestärken.173 Dies führt zum einen dazu, die Klugheit des Volkes in Bezug auf ihre hypothetischen Imperative anzuregen. Es erzeugt aber weder ein Verständnis dafür, noch keine Bereitschaft dazu, ethische Imperative anzunehmen und zu befolgen. Wenn es ohne eine direkte ethische Erziehung im Volk zu einem Bewusstsein der ethischen Geistestriebe kommen soll, kann dies nach Schleiermacher nicht durch die religiöse Erziehung mittels der zum Schein angenommenen Gottesfurcht und Jenseitshoffnung geschehen, sondern muss sich aus anderen Quellen speisen. Das bedeutet im Umkehrschluss, wenn die Ungebildeten zu einer ethischen Gesinnung gelangen, aus der heraus sie das Recht und die Sittlichkeit um ihrer selbst willen befolgen, kann dies nicht aufgrund, sondern nur trotz einer religiösen Erziehung erfolgen. Folglich trägt die Religion, verstanden als Gottesfurcht und Jenseitshoffnung, nach Schleiermacher nicht zur Bildung der ethischen Geistestriebe bei und eignet sich nicht als pädagogisches Hilsmittel der Ethik. Zum anderen besteht nach Schleiermacher aber auch die Gefahr, dass die Art und Weise wie die indirekten Verächter die Religion pädagogisch instrumentalisieren, zu einer Destruktion des gesamten ethischen Gemeinwesens führt. Die Ansicht der Verächter setzt voraus, dass die Religionslüge eines Tages von den pädagogischen Zöglingen als Lüge durchschaut wird. Dieser Wechsel des pädagogischen Verfahrens verstößt nach Schleiermacher einerseits gegen die Grundsätze einer sinnvollen Pädagogik.174 Andererseits zieht der Wechsel des pädagogischen Verfahrens Schleiermacher zufolge eine Verachtung nicht nur der Religion, sondern auch des Rechts und der Sittlichkeit selbst nach sich. Aus der durchschauten betrügerischen Gesinnung der indirekten Verächter kann das ungebildete Volk nur eines gelernt haben, dass Religion, Recht und Sittlichkeit keinen Wert an sich darstellen, sondern wenn es nützlich ist, zugunsten höherer Zwecke geopfert werden dürfen. Damit sind nach Schleiermacher „doch am Ende auch Sittlichkeit und Recht um eines andern Vortheils willen da“175. 171 

KGA I/2, 203,11. KGA I/2, 202,33 ff. 173  Vgl. KGA I/4, 412, 8–11: „Einen Schein veranstalten, damit ein anderer Schein daraus entstehe, das ist ein eitles Tichten, aus dem nichts hervorgehen kann, das im Geist und in der Wahrheit bestehe. Religion ist eine Gesinnung, und nur als solche hat sie einen Werth.“ 174 Nach Schleiermacher muss dass pädagogische Verfahren einheitlich erfolgen. Seines Erachtens muss man „den einzelnen Moment zur Totalität des ganzen Verfahrens erheben; dies sei der Probierstein, woran sich jede Richtigkeit des pädagogischen Verfahrens bewähren müsse, und dieses Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen geht wieder durch alle Perioden und Gebiete der Erziehung hindurch.“ (Schleiermacher, Pädagogik, 111,36–40) 175  KGA I/2, 204,11 f. 172 

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Zweites Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via negationis

In dem vorliegenden Fall ist dieser Vorteil bzw. höhere Zweck die „öffentliche Ordnung und Ruhe“176. Den höchsten Maßstab der Ethik bilden dementsprechend nicht die Prinzipien des Rechts und der Sittlichkeit selbst, sondern vielmehr der „allgemeine Nutzen“177 des bestehenden Staatswesens. Es kommt durch die ethische Instrumentalisierung der Religion somit nicht zu einer auf ethischer Gesinnung beruhender Stabilität des Sozialwesens, sondern vielmehr führt diese Instrumentalisierung zu einer grundsätzlichen Relativierung von Recht und Sittlichkeit zugunsten eines „ewigen Kreislaufe[s] eines allgemeinen Nuzens, in welchem sie alles Gute [an sich, C. K.] untergehen laßen“.178 An die Stelle von autonomem Recht und wahrer Sittlichkeit tritt ein allgemein um sich greifender politischer Utilitarismus.179 Aus diesem Grunde kann Schleiermacher „zu einer solchen Handlungsweise nicht auffordern“, denn sie enthält „die verderblichste Heuchelei gegen die Welt und gegen Euch selbst“.180 Es kann festgehalten werden, dass nach Schleiermacher entgegen der Ansicht der indirekten Verächter die Relativierung der religiösen Autonomie, im Sinne eines untergeordneten Erziehungsmittels, notwendigerweise die Heteronomie der Moral mit sich führt. Damit wird die Religion ihm zufolge erst infolge ihrer ethischen Instrumentalisierung durch die indirekten Verächter zu demjenigen „leeren Schein“ degradiert, den sie hinterher selbst verachten.181 Schleiermacher hat damit gezeigt, dass die Prämisse der indirekten Verächter „(P4*) Gottesfurcht und Jenseitshoffnung sind geeignete Erziehungsmittel zum autonomen sittlichen und rechtlichen Verhalten der ungebildeten Schichten der Gesellschaft, weil ein pädagogischer Zusammenhang zwischen Recht, Sittlichkeit und Religion besteht“, triebtheoretisch nicht zutreffend ist, und dass dem­ gemäß auch die Konklusion der indirekten Verächter „(K1*) Das Wesen der Religion, verstanden als Gottesfurcht und Jenseitshoffnung, besteht darin, zur ethischen Stabilität der Gesellschaft beizutragen“ in Frage gestellt werden kann.182 176 

KGA I/2, 279,6 ff. KGA I/2, 204,13. 178  KGA I/2, 204,13 f. 179  Ein verwandtes Argument lässt sich schon bei Kant finden: „Wünschen kann es wohl jedes politische gemeine Wesen, daß in ihm auch eine Herrschaft über die Gemüther nach Tugendgesetzen angetroffen werde; denn wo jener ihre Zwangsmittel nicht hinlangen, weil der menschliche Richter das Innere anderer Menschen nicht durchschauen kann, da würden die Tugendgesinnungen das Verlangte bewirken. Weh aber dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte! Denn er würde dadurch nicht allein gerade das Gegenteil der ethischen bewirken, sondern auch seine politische untergraben und unsicher machen.“ (Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI, 95 f.) Vgl. auch allgemein zu Kants Religionsphilosphie: Wimmer, R., Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin/New York 1990. 180  KGA I/2, 202,36–201,1. 181  KGA I/2, 283,40–284,5. 182  KGA I/4, 416,31–37: „[…] Alle, deren Wünsche nur darauf hinausgehen, den äußern Schein von Religion zu vergrößern, oder welche ihr durch irgend etwas fremdartiges aufzu177 

§  4  Triebtheoretische Kritik am gemeinen Religionsbegriff der direkten Verächter

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3.  Zusammenfassung von Schleiermachers triebtheoretischer Kritik am gemeinen Religionsbegriff Es lässt sich aus Schleiermachers triebtheoretischer Infragestellung des gemeinen Religionsbegriffs der beiden gebildeten Verächtergruppen eine grundlegen­ de Einsicht für sein Religionsverständnis gewinnen, die für sein weiteres Vorgehen in der Behandlung des Religionsbegriffs leitend ist: Schleiermacher sieht sich in den Reden zwei unterschiedlichen, aber im Grund­satz ihrer Religionsverachtung geeinten Gruppen von gebildeten Religionsverächtern gegenübergestellt. Seiner Ansicht nach basieren die jeweiligen Gründe für die direkte und indirekte Religionsverachtung auf „falschen Vorstellungen“183 vom Wesen der Religion, welche sich die gebildeten Verächter aus einem Mangel an direkter Erfahrung mit der Religion im Anschluss an die Auf klärungsphilosophie ihrer Zeit angeeignet haben. Die direkten Verächter halten die Religion für eine Art des sich in den Religionslehren niederschlagenden objektiven Denkens, während die indirekten Verächter davon ausgehen, bei der Religion handelt es sich um ein, zum Zwecke der Volkserziehung geeignetes, minderwertiges moralisches Handeln. Man kann die oben dargestellte Kritik Schleiermachers an beiden Positionen zusammenfassend dahingehen präzisieren, dass sie seines Erachtens auf einem logischen pars-pro-toto-Fehler gründen. Sowohl die direkten als auch die indirekten Verächter gehen ihm zufolge darin fehl, dass sie jeweils eine Funktion der Religion für das Wesen der Religion selbst ansehen. Die direkten Verächter beziehen sich bei der Bildung ihres gemeinen Religionsbegriffs ausschließlich auf die sekundären denkerischen Tätigkeiten in der Religion, wohingegen die indirekten Verächter sich auf die religiösen Handlungen konzentrieren. Beide Ansichten sind nach Schleiermacher an sich zwar nicht gänzlich verkehrt. Denn es gehört zur Religion zum einen dazu, dass man begrifflich „über seine Religion vergleichend reflektiert“184 und zum anderen lassen sich aus der religiösen Gesinnung auch „Handlungen […] herauspreßen“185. Aber die gebildeten Verächter täuschen sich darin, dass sie den „Inhalt einer Reflexion für das Wesen“ der Religion selbst ansehen, „über welche reflektiert wird“186 und dass sie die aus der Religion folgenden Handlungen für ihren ursprünglichen Mittelpunkt halten. Dieses Vorgehen ist nach Schleiermacher „ein so gewöhnlicher Fehler, daß es Euch wohl nicht Wunder nehmen darf ihn auch hier helfen und sie durch sinnliche Reizmittel, denen die Menschen nachziehn und so zugleich unvermerkt die Religion mit in sich aufnehmen sollen, emporzubringen meinen, immer solche sind, denen es nicht um die Sache selbst zu thun ist, sondern nur um einen äußern Effekt, den dunkle oder mißverstandene Vorstellungen hervorbringen sollen.“ 183  KGA I/2, 293,28. 184  KGA I/2, 240,3. 185  KGA I/2, 219,37. 186  KGA I/2, 239,36 f.

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Zweites Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via negationis

anzutreffen.“187 Indem sich beide Gruppen der gebildeten Religionsverächter bei der Bildung ihres gemeinen Religionsbegriffs bloß auf „zufällige Dinge“188 in der Religion bezogen haben, mussten sie das Wesen der Religion grundlegend verkennen. So kommt es schließlich dazu, dass sie das Wesen der Religion in einer bestimmten Art von objektivem Wissen bzw. ethischem Handeln vermuten und danach bestrebt sind, Religion nur als untergeordnete Geisteskraft gelten zu lassen, um sie in den Bereich der Metaphysik bzw. der Moral einzugliedern. Zugleich eröffnet dieses Fehlurteil beider Gruppen von Religionsverächtern allerdings für Schleiermacher die Möglichkeit, sie für ein erneutes Reden über die Religion zu gewinnen. Denn „[w]enn Ihr [bisher, C. K.] nur die religiösen Lehrsäze und Meinungen ins Auge gefasst habt: so kennt Ihr noch gar nicht die Religion selbst, und was Ihr verachtet, ist nicht sie.“189 Falls es ihm folglich gelingt, aufzuzeigen, dass die Religion „anderswo wäre, so wäret Ihr immer noch fähig sie zu finden und zu ehren.“190 Nach Schleiermachers Ansicht reicht der bisherige triebtheoretisch entwickel­ te Zweifel allerdings noch nicht aus, um die gebildete Religionsverachtung endgültig zu widerlegen. Dazu müssen zusätzlich noch die Gründe dafür angegeben werden, weshalb die Verächter sich von triebtheoretischen Vorurteilen der Aufklärungsphilosophie haben blenden lassen und dem pars-pro-toto-Fehler gegenüber zugänglich waren. Schleiermacher sieht diese Gründe in der Gemütstheorie der Gebildeten verankert. Die triebtheoretische Plausibilität, dass die Religion eine Weise des objektiven Wissens bzw. des ethischen Handelns darstellt, speist sich seinem Ermessen nach aus der Ansicht, das menschliche Gemüt werde durch das Zusammenspiel der höheren Gemütsvermögen des spekula­tiven Denkens und des ethischen Handelns abschließend bestimmt. Schleier­m achers im Folgenden darzustellende Argumentation richtet sich daher aus immanenten Gründen gegen eine derartige Simplifizierung in der Gemütstheorie. Seiner Ansicht nach bildet die Religion einen selbständigen Geistestrieb, weil sie auf einem eigenständigen Gemütsvermögen basiert.

§  5  Gemütstheoretische Kritik am gemeinen Religionsbegriff Im Rahmen seiner gemütstheoretischen Kritik am gemeinen Religionsbegriff in KGA I/2, 207,4–211,26 weist Schleiermacher die Verächter darauf hin, dass er „letzthin Zweifel gegen ihn beigebracht hat“, jetzt aber sei es an der „Zeit ihn völlig zu vernichten.“191 187 

KGA I/2, 239,37 f. KGA I/2, 293,28 f. 189  KGA I/12, 28,30 ff. 190  KGA I/2, 200,10–12. 191  KGA I/2, 208, 31 f. 188 

§  5  Gemütstheoretische Kritik am gemeinen Religionsbegriff

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Zu diesem Zweck setzt Schleiermacher zu Beginn seiner zweiten Rede nicht mit der Analyse der religiösen Elemente direkt ein, sondern beginnt zunächst mit einer weiteren „Zögerung“192 , welche darin besteht, sich erneut kritisch mit dem gemeinen Religionsbegriff auseinanderzusetzen. Bestand das bisherige Ziel seiner triebtheoretischen Argumentationsweise in der ersten Rede darin, aufzuzeigen, dass das Wesen der Religion weder in einem Wissen der Religionslehren noch in einem sittlichen Handeln besteht, so ist es jetzt sein Ziel, zu zeigen, dass auch eine Vermischung193 von Wissen und Handeln nicht die Religion sein kann und dementsprechend der gemeine Religionsbegriff an sich selbst vollständig unhaltbar ist. Um dieses aufzuzeigen, bezieht er sich auf die den Wissens- und Handlungstrieben selbst zugrunde liegenden Gemütsvermögen. Schleiermacher zufolge bildet die Grundlage des triebtheoretischen Vorurteils der gebildeten Religionsverächter ihre Ansicht, dass das menschliche Gemüt ausschließlich durch die beiden Vermögen einerseits des spekulativen Denkens bzw. seinem höchsten Erzeugnis, der Metaphysik und andererseits des sittlichen Handelns bzw. seinem systematischen Zusammenhang, der Moral bestimmt und abschließend definiert ist. Von dieser gemütstheoretischen Basis ausgehend sind die gebildeten Religionsverächter der Meinung, dass formal auch „das, was man Religion nennt, nur aus Bruchstücken“ von Metaphysik und Moral zusammengesetzt ist.194 Bestärkend für diese Einschätzung führen die Verächter als Zeugnis die „Autographa“195 der Religion selbst an. Denn von den „Dichtungen der Griechen“196 bis hin zur christlichen Bibel behandelten diese religiösen Urkunden allesamt die metaphysische Natur der Götter und ihren moralischen Willen und zwar mit dem Ziel, die erstere zu erkennen und den letzteren zu vollbringen.197 Demzufolge ist nach den gebildeten Verächtern auch das Wesen der Religion inhaltlich bestimmt als ein „Gemisch von Meinungen über das höchste Wesen oder die Welt und von Geboten für ein menschliches Leben (oder gar für zwei)“198. Und die Religiosität des Menschen, d.h. seine Gestimmtheit zur Religion, sei nichts anderes als ein „Instinkt“, welcher mit „dunklen Ahnungen“ jene Meinungen anstrebt und sucht.199 Dieses gemeine Religionsverständnis führen die gebildeten Verächter an, um davon ausgehend, die Religion insgesamt zu widerlegen.200 Nach Schleiermacher gründet eine derartige von den gebildeten Verächtern angenommene Vermischung von Metaphysik und Moral bereits an sich selbst 192 

KGA I/2, 206,7. KGA I/2, 209,5. 194  KGA I/2, 208,29. 195  KGA I/2, 210,40. 196  KGA I/2, 210,26. 197  KGA I/2, 210,24 ff. 198  KGA I/2, 209,5 f. 199  KGA I/2, 209,6 ff. 200  KGA I/2, 209,11 f. 193 

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Zweites Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via negationis

auf irrtümlichen Voraussetzungen, so dass der gemeine Religionsbegriff, nicht nur wie es seine triebtheoretische Kritik gezeigt hat, die Religion verfehlt, sondern bereits aus formalen gemütstheoretischen Gründen nicht dazu taugt, die Minimalbedingungen für einen konsistenten Begriff überhaupt zu erfüllen. Schleiermacher verschärft folglich zu Beginn seiner zweiten Rede die Kritik an den gebildeten Verächtern, indem er nachweist, dass der gemeine Religions­ begriff bereits aus formalen Gründen selbstwidersprüchlich und zum Scheitern verurteilt ist. Das Ziel von Schleiermachers gemütstheoretischer Kritik am gemeinen Religionsbegriff besteht darin, aufzuzeigen, dass ein derartig unhaltbares201 Verständnis der Religion keineswegs gegen die Religion selbst, sondern ausschließlich gegen die Verächter spricht. Ihm zufolge kann niemand ernsthaft der Ansicht sein, ein derartig schlecht konstruierter und widersprüchlicher „Schatten“202 von Religion hätte jemals „in der Menschen Herz […] kommen können“203. Hierzu geht er methodisch in drei Schritten vor: Erstens stellt er auf immanentem Weg die gemütstheoretische Inkonsistenz des gemeinen Religionsbegriffs selbst dar (1.). Zweitens zeigt er auf, dass selbst, wenn die Verächter weiterhin an ihrem inkonsistenten Religionsbegriff festhalten wollen, dieser sich gegenüber ihren sonstigen Ansichten als inkohärent erweist (2.). Drittens weist er nach, weshalb der Gebrauch des gemeinen Religionsbegriffs in den religiösen Urkunden keinen Einspruch gegen seine Kritik an demselben darstellt, indem er aufzeigt, mit welcher „hohen Absicht“204 er vielmehr in ihnen Verwendung findet (3.). 1.  Die gemütstheoretische Inkonsistenz des gemeinen Religionsbegriffs Schleiermacher beginnt seine Argumentation in KGA I/2, 208,8–210,13 mit der Feststellung, dass zwischen ihm und den gebildeten Verächtern grundsätzlich Einigkeit darüber besteht, dass sich sowohl das spekulative Gemütsvermögen bzw. die Metaphysik als auch das sittliche Gemütsvermögen bzw. die Moral mit der Religion auf den „gleichen Stoff “205 beziehen: „[N]emlich das Universum und das Verhältniß des Menschen zu ihm“.206 Desweiteren stimmen Schleiermacher zufolge die Verächter und er darin über­ ein, dass die Religion, trotz ihrer stofflichen Identität mit dem metaphysischen oder sittlichen Gemütsvermögen, nicht „mit eine[m] von beiden einerlei“ ist.207 Denn sowohl er selbst als auch die Verächter sind der Ansicht, dass die Religion einerseits nicht über die wissenschaftliche Solidität bzw., bildlich gesprochen, 201 

KGA I/2, 210,21. KGA I/2, 210,17. 203  KGA I/2, 210,18. 204  KGA I/2, 211,3. 205  KGA I/2, 208,9 (kursiv, C. K.). 206  KGA I/2, 208,38 f. 207  KGA I/2, 208,3. 202 

§  5  Gemütstheoretische Kritik am gemeinen Religionsbegriff

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den „festen Tritt“ verfügt wie die Metaphysik 208 und dass die Religion andererseits unleugbar grobe moralische Vergehen in ihrer Geschichte aufweist.209 Weil Schleiermacher in den Reden implizit voraussetzt, dass sich menschliche Gemütsvermögen ganz allgemein nur aufgrund ihres jeweiligen Stoffs oder der formalen Bezugnahme auf ihren Stoff voneinander unterscheiden können, folgt in diesem Falle aus den beiden genannten Prämissen, d.h. der stofflichen Identität von Metaphysik, Moral und Religion einerseits und der angenommenen Differenz zwischen den drei Gemütsvermögen andererseits, dass, falls die Religion tatsächlich ein eigenständiges Gemütsvermögen darstellt, sie notwendigerweise über eine formale Eigenständigkeit gegenüber der Metaphysik und der Moral verfügen muss: Soll sie [die Religion, C. K.] sich also unterscheiden, so muß sie ihnen ungeachtet des gleichen Stoffs auf irgend eine Art entgegengesezt sein; sie muß diesen Stoff ganz anders behandeln, ein anderes Verhältniß der Menschen zu demselben ausdrüken oder bearbeiten, eine andere Verfahrungsart oder ein anderes Ziel haben: denn nur dadurch kann dasjenige, was dem Stoff nach einem andern gleich ist, eine besondere Natur und ein eigentümliches Dasein bekommen.210

Eine Untersuchung des gemeinen Religionsbegriffs zeigt nach Schleiermacher, dass den Verächtern zufolge die Religion keinen eigenständigen Bezug auf das Universum besitzt und dementsprechend über keine formale Eigenständigkeit gegenüber Metaphysik und Moral verfügt. Laut Schleiermacher geht aus dem Vergleich zwischen den formalen Tätigkeiten von Metaphysik und Moral mit dem gemeinen Religionsbegriff der Verächter hervor, dass dasjenige, was die Verächter „Religion nenn[en], nur aus Bruchstüken dieser verschiedenen Gebiete“211, d.h. aus einem „Gemisch“212 von Metaphysik und Moral, besteht. Denn zum einen wird diesem gemeinen Religionsbegriff zufolge die „Idee des Guten“213 aus der Moraltheorie genommen und in die Metaphysik als „Naturgesez eines unbeschränkten und un­ bedürftigen Wesens“214 eingetragen. Zum anderen wird die „Idee eines Ur­ wesens“215 aus der Metaphysik genommen und als personaler „Gesezgeber“216 der Moraltheorie vorangestellt. Schleiermacher zufolge stellt der gemeine Reli-

208 

KGA I/2, 208,5 ff. „[…] denn Ihr gebt nie zu, daß sie mit dem festen Tritte einhergeht, deßen die Metaphysik fähig ist, und Ihr vergesset nicht fleißig zu bemerken, daß es in ihrer Geschichte eine Menge garstiger unmoralischer Fleken giebt.“ (KGA I/2, 208,5–8) 210  KGA I/2, 208,8–14. 211  KGA I/2, 208,29 f. 212  KGA I/2, 209,5. 213  KGA I/2, 208,36. 214  KGA I/2, 208,37 f. 215  KGA I/2, 208,38. 216  KGA I/2, 209,1 f. 209 

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Zweites Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via negationis

gionsbegriff der Verächter somit nichts weiter dar, als eine metaphysisch fundierte Moral und eine moralisch begründete Metaphysik. Weil sich die Religion dem Verständnis der Verächter zufolge einerseits aufgrund ihrer fehlenden wissenschaftlichen Solidität und ihrer unmoralischen Handlungen in der Geschichte von Metaphysik und Moral unterscheidet, andererseits aber weder über einen eigenen Stoff noch über eine eigene Form im Umgang mit diesem Stoff verfügt, erweist sie sich als ein von Moral und Metaphysik abhängiges und defizitäres Gemütsvermögen. Die Ansicht der Verächter lässt sich dementsprechend zusammenfassen: (P1) Eigenständige Gemütsvermögen unterscheiden sich entweder aufgrund ihres Stoffs oder ihrer Form voneinander. (P2) Metaphysik und Moral sind eigenständige Gemütsvermögen. (P3) Wenn die Religion ein eigenständiges Gemütsvermögen ist, dann unterscheidet sie sich entweder hinsichtlich der Form oder hinsichtlich des Stoffs sowohl von der Metaphysik als auch von der Moral. (P4) Religion besitzt den gleichen Stoff wie Metaphysik und Moral. (P5) Religion stellt formal eine Vermischung von Metaphysik und Moral dar. (K1) Religion ist kein eigenständiges Gemütsvermögen. Gegen dieses gemütstheoretische Verständnis der Religion richtet sich Schleier­ macher. Dabei geht es ihm nicht wie am Ende der ersten Rede um eine mögliche Bezweifelbarkeit des gemeinen Religionsbegriffs, sondern er unternimmt es, diesen Begriff selbst „völlig zu vernichten“217. Diese Begriffsvernichtung setzt zunächst damit ein, dass Schleiermacher den gemeinen Religionsbegriff als gemütstheoretisch inkonsistent entlarvt. Er zeigt auf, dass die Religion, folgt man dem Verständnis der Verächter, nicht einmal die Minimalbedingungen erfüllt, um für ein konsistentes Gemütsvermögen überhaupt angesehen zu werden. Er wirft den gebildeten Verächtern dementsprechend vor, mit ihrem Religionsbegriff „ein leeres Spiel“218 zu treiben. Im gemeinen Religionsbegriff wird ihm zufolge aus „so disparaten Dingen“ wie Metaphysik und Moral „etwas Unhaltbares“ zusammengenäht,219 welches über keine gemütstheoretische Stabilität verfügt: „Mengt aber und rührt wie Ihr wollt, dies geht nie zusammen, Ihr treibt ein leeres Spiel mit Materien, die sich einander nicht aneignen, Ihr behaltet immer nur Metaphysik und Moral.“220 Es werden nach Schleiermacher im gemeinen Religionsbegriff zwei Gemütsvermögen miteinander vermischt, die sich prinzipiell „einander nicht aneignen“221 lassen. Die Aussagen Schleiermachers in diesem Zusammenhang lassen 217 

KGA I/2, 208,31 f. KGA I/2, 209,3. 219  KGA I/2, 210,21. 220  KGA I/2, 209,2 ff. 221  KGA I/2, 209,3 f. 218 

§  5  Gemütstheoretische Kritik am gemeinen Religionsbegriff

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darauf schließen, dass er, trotz seiner mehrdeutigen Verwendungsweise des Ausdrucks „Moral“, in diesem Fall darunter die Theorie des sittlichen Handelns versteht.222 Dementsprechend bezieht sich seine Argumentation darauf, dass sich Metaphysik und Moral im Sinne von theoretischer und praktischer Philosophie als eigenständige wissenschaftliche Disziplinen nicht mischen lassen, ohne ihren Status als Wissenschaften zu verlieren. Die theoretische Philosophie bezieht sich auf die Natur oder das Sein der Dinge im Universum,223 hingegen bezieht sich die praktische Philosophie auf das Sollen des Menschen im Universum.224 Praktische und theoretische Philosophie behandeln folglich verschiedene Sachverhalte und bilden auf diese Weise als „entgegengesezte Begriffe“225 die beiden säuberlich getrennt zu haltenden „Gattungen“226 des philosophischen Denkens. Vermischt man beide Gemütsvermögen miteinander, wie es der gemeine Religionsbegriff unternimmt, werden sie sich entweder ihrer Natur bzw. ihres „Amts“227 gemäß „von selbst wieder absezen“228 , oder das Ergebnis wäre, weil aus dem Sein ein Sollen gefolgert wird und umgekehrt, nichts weiter als ein permanent gesetzter Naturalistischer Fehlschluss.229 Wenn die Verächter an ihrem gemeinen Religionsbegriff festhalten wollen, der eine Vermischung der beiden gemütstheoretischen Vermögen der Moral und der Metaphysik darstellt, dann können sie dies laut Schleiermacher nur unter der Bedingung, dass sie zugeben, dass die Religion nicht nur uneigenständig gegenüber Metaphysik und Moral, sondern in sich selbst inkonsistent ist. Dies schwächt nach Schleiermacher die Position der gebildeten Verächter, denn anstatt Kritik an einem möglichen religiösen Gemütsvermögen zu üben, welches 222  In der ersten Auflage der Reden unterschiedet Schleiermacher jeweils situationsabhängig und nur implizit zwischen der Moral als der Theorie der ethischen Handlungsweisen und den ethischen Handlungsweisen selbst. Diese Differenz wird in späteren Auflagen der Reden deutlicher herausgearbeitet. Hier erweitert Schleiermacher seine Argumentation, indem er einerseits zwischen dem religiösen Glauben, der sich auf das theoretische und praktische Wissen der Philosophie bezieht und andererseits der Frömmigkeit, die sich auf die Sittlichkeit bezieht, unterscheidet: „[…] so schien es Zeit, die Sache einmal bei dem schneidenden Gegensaz anzuheben, in welchem sich unser Glaube gegen Eure Moral und Metaphysik und unsere Frömmigkeit gegen das, was Ihr Sittlichkeit zu nennen pflegt befindet.“ (KGA I/12, 51,22–26 (kursiv, C. K.)) Vgl. hierzu auch Herms, Herkunft, 212,5 ff. 223  KGA I/2, 208,14–23. 224  KGA I/2, 208,23–28. 225  KGA I/2, 209,24. 226  KGA I/12, 78,3 f. 227  KGA I/12, 78,1. 228  KGA I/12, 47,15. 229  Diese Argumentation hat Schleiermacher später in seinem Akademievortrag Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz ausführlich behandelt (KGA I/11, 435 ff.). Vgl. zu dem Problemzusammenhang auch Herms, „Sein und Sollen bei Hume, Kant und Schleiermacher“, in: ders., Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen 2006, 298–319.

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Zweites Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via negationis

„etwas denkbares“230 darstellt, etwas, „wovon sich ein Begriff aufstellen läßt“231, geben sie sich mit dem „Schatten“232 bzw. mit dem Scherz233 eines Begriffs ab, der bereits aufgrund seiner gemütstheoretischen Unmöglichkeit niemals „in der Menschen Herz hat kommen können.“234 Eine gebildete Religionsverachtung, die diesen Namen tatsächlich verdient, wird sich nach Schleiermacher mit einem derartigen Religionsbegriff nicht abgeben. Sie wird diesen von den Verächtern vorgebrachten gemeinen Reli­g ions­ begriff nicht einmal „erwähnen, wenn es auch nur geschieht um [ihn] zu widerlegen“.235 Vielmehr hätte sie diese „Chrestomathie für Anfänger“236 längst „aufgelöst in seine Theile und das schändliche Plagiat entdekt“237. Mit dieser Argumentation hat Schleiermacher gezeigt, dass die Annahme der gebildeten Verächter „(P5) Religion stellt formal eine Vermischung von Metaphysik und Moral dar“ aus begrifflichen Gründen unhaltbar ist und sich folglich auch ihre Konklusion „(K1) Religion ist kein eigenständiges Gemütsvermögen“ als unbegründet herausstellt. Schleiermachers Argumentationsgang zu Beginn der zweiten Rede wiederholt somit nicht die Argumente am Ende der ersten Rede, sondern ergänzt diese, indem er zeigt, dass die Irrtümer der gebildeten Religionsverächter bei der inhaltlichen Bestimmung ihres gemeinen Religionsbegriffs auf einer gemütstheoretisch formalen Inkohärenz beruhen. 2.  Die gemütstheoretische Inkohärenz des gemeinen Religionsbegriffs Wollen die gebildeten Religionsverächter dennoch daran festhalten, dass es sich bei ihrem gemeinen Religionsbegriff nicht nur um ein inkonsistentes Gebilde handelt, sondern er zumindest der Möglichkeit nach die Religion als ein „eigenes Werk […] eigenen Ursprungs und eigener Kraft“238 darzustellen vermag, so müssten sie nach Schleiermacher nachweisen, dass es ein „verbindende[s] Princip“239 gibt, welches fähig ist, die ansonsten entgegengesetzten Gemütsvermögen von Metaphysik und Moral zusammenzuhalten. Ein deartiges Prinzip muss dafür sorgen, dass eine konsistente „Einheit dieses Ganzen“240 möglich wird. Notwendigerweise kann diese mögliche Einheit nur in einem der drei Gemütsvermögen selbst liegen, welches nach Schleiermacher 230 

KGA I/2, 210,19.

231 Ebd. 232 

KGA I/2, 210,17. KGA I/2, 209,19. 234  KGA I/2, 210,18 f. 235  KGA I/2, 209,12. 236  KGA I/2, 209,10. 237  KGA I/2, 209,13 f. 238  KGA I/2, 209,10 f. 239  KGA I/2, 209,20. 240 Ebd. 233 

§  5  Gemütstheoretische Kritik am gemeinen Religionsbegriff

111

somit die alleinige Grundlage der Vereinigung der beiden anderen Gemütsvermögen bilden würde.241 Sobald dieses behauptet wird, muss auch angenommen werden, dass dieses Gemütsvermögen den beiden anderen hierarchisch übergeordnet ist, „denn das, worin zwei verschiedene aber entgegengesezte Begriffe eins werden, kann nichts anderes sein, als das Höhere, unter welches sie beide gehören“242 . Zwangsläufig werden auf diese Weise zwei Gemütsvermögen dem höchsten Gemütsvermögen als bloße Funktionen untergeordnet. Die Kohärenz des gemeinen Religionsbegriffs der gebildeten Verächter ist Schleiermacher zufolge allein unter dem Eingeständnis aufrechtzuerhalten, dass entweder die Religion das „Höchste […] in der Philosophie“243 bildet und die „Philosophie […] zu ihr flüchten“244 muss, oder dass es nur eine Weise der Philosophie gibt, die entweder als theoretische oder praktische Disziplin die beiden anderen Gemütsvermögen in sich absorbiert.245 Schleiermacher ist jedoch überzeugt, dass die Verächter weder die eine noch die andere Position vertreten wollen: Eine Verabsolutierung entweder der theoretischen oder der praktischen Philosophie widerspricht sowohl ihrer Ansicht von der Gleichwertigkeit beider philosophischer Disziplinen als auch ihrer Meinung von der Höherwertigkeit beider philosophischer Disziplinen gegenüber der Religion. 246 Die alternative Ansicht, dass die Religion das Höchste in der Philosophie bildet, verleiht ihr einen Status, den selbst Schleiermacher für überzogen hält, da sie die Religion zur „ursprünglichen […] Einheit des Wissens“247 und Handelns erhebt. Weil die gebildeten Religionsverächter die Religion entweder als eine Geisteskrankheit oder als ein ethisches Hilfmittel ansehen, die sich „am meisten bei denen findet […], welche von der Wissenschaft am weitesten entfernt sind“248, werden sie diese Ansicht nicht vertreten wollen. Aufschlussreich ist es, dass Schleiermacher auch in späteren Auflagen der Reden für sich selbst ein derartiges Religionsverständnis mit dem Hinweis auf die hermeneutischen Bedingungen der Religionsbildung ablehnt. Unter der Bedingung, dass die Religion tatsächlich das höchste Wissen darstellt, „müßte auch die wissenschaftliche Methode die einzig zwekmäßige sein zu ihrer Verbrei-

241 

KGA I/2, 209,14–19. KGA I/2, 209,23 ff. 243  KGA I/2, 209,22. 244  KGA I/2, 210,5 f. 245  KGA I/2, 209,25–34. 246  „Ist es das Theoretische, worin dieses bindende Prinzip liegt: warum stellt Ihr noch eine praktische Philosophie jener gegenüber, und seht sie nicht vielmehr nur als einen Abschnitt derselben an? und ebenso, wenn es sich umgekehrt verhält?“ (KGA I/12, 48,30–49,2) 247  KGA I/12, 49,4 ff. (kursiv, C. K.) 248  KGA I/12, 49,6 ff. 242 

112

Zweites Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via negationis

tung, und die Religion selbst müßte können gelernt werden, was noch nie ist behauptet worden“.249 Schleiermacher ergänzt diese Behauptung, indem er aufzeigt, welche irrtümlichen Konsequenzen sich aus einem derartigen Religionsverständnis ergeben: […] es gäbe dann eine Stufenleiter zwischen einer Philosophie, welche nicht dieselben Resultate wie unsere christliche Theologie brächte und die wäre die unterste Stufe; dann käme die Religion der christlichen Laien, welche als πἱστις eine unvollkommne Art wäre das höchste Wissen zu haben, endlich die Theologie, welche als γνῶσις die vollkommene Art wäre dasselbe zu haben und obenan stände, und keine von diesen dreien wäre mit der anderen verträglich. Dieses nun kann ich eben nicht annehmen, eben deswegen auch die Religion nicht für das höchste Wissen halten, und also überhaupt für keines; und muß deshalb auch glauben, daß das, was der christliche Laie unvollkommner hat als der Theologe, und was offenbar ein Wissen ist, nicht die Religion selbst sei, sondern etwas ihr anhängendes.250

Gegen Behauptungen aus der Forschung kann damit festgehalten werden, dass Schleiermacher zu keinem Zeitpunkt, weder in der Erstauflage der Reden noch in ihren späteren Auflagen, die Ansicht vertreten hat, die Religion stelle auf irgendeine Weise ein höheres Wissen als die Spekulationen von Seiten der theoretischen oder praktischen Philosophie dar.251 Schleiermachers kritischer Religionsbegriff verhindert meines Erachtens ein derartiges Missverständnis vielmehr, denn selbst an Stellen, an denen unzweifelhaft von einer Sonderstellung der Religion gegenüber Metaphysik und Moral gesprochen wird, geht es nicht um ein höheres diskursives Wissen der Religion, sondern vielmehr um ein höheres unmittelbares Bewusstsein, welches sich dementsprechend nicht in Gedanken oder Handlungsmaximen manifestiert, sondern in nichtdiskursiven und nichtvoluntativen Anschauungen und Gefühlen.252 Aus diesem Grunde richtet sich Schleiermachers in den Reden entwickelter kritischer Religionsbegriff nicht nur gegen eine Vereinnahmung der Religion durch Metaphysik und Moral, sondern zentral auch gegen eine falsch verstandene Höchstgeltung der Religion selbst. Nachdem Schleiermacher gezeigt hat, dass seine eigene Ansicht und die Ansicht der gebildeten Religionsverächter dahingehend übereinstimmen, die Religion weder als eine Funktion der anderen Gemütsvermögen noch als die höchste Wissenschaft selbst anzusehen, bleibt den Verächtern mit ihrem gemeinen Religionsbegriff als einziger Ausweg die Behauptung übrig, dass die drei Gemütsvermögen nicht in einem einzelnen Vermögen vereinigt werden, sondern dass die Religion quasi zwischen der theoretischen und praktischen Philosophie 249 

KGA I/12, 129,29 ff. KGA I/12, 129,31–130,6. 251 Gegen Wellmon, C., „Poesie as Anthropology: Schleiermacher, Colonial History, and the Ethics of Ethnography“, The German Quarterly 79/4 (2006), 423–442, hier: 431. 252  KGA I/2, 213,2–19. 250 

§  5  Gemütstheoretische Kritik am gemeinen Religionsbegriff

113

steht und nur deren Schnittmenge, ihren „wunderbaren Parallelismus“253, wahrnimmt und darstellt. Die Aufgabe der Religion soll dementsprechend darin bestehen, dasjenige, das in der theoretischen und praktischen Philosophie gegenseitig aufeinander verweist, zu Bewusstsein zu bringen. Auch diese letzte Position ist Schleiermacher zufolge nicht haltbar. Das vereinigende Prinzip hinter diesem gegenseitigen Verweisungszusammenhang kann nicht wieder in einer der beiden philosophischen Disziplinen liegen. Die praktische Philosophie „kümmert sich nichts um ihn“254 und die theoretische Philosophie „strebt aufs eifrigste, ihn so weit als möglich zu verfolgen und zu vernichten“255. Der Zusammenhang kann folglich nur in der Religion selbst liegen, die auf diesem Wege wiederum das Höchste in der Philosophie bildet. Die These vom sog. „wunderbaren Parallelismus“ zwischen Metaphysik und Moral läuft für die Verächter auf die bereits abgewiesene Position heraus, die Religion zur höchsten menschlichen Wissenschaft zu erheben. Als Ergebnis von Schleiermachers gemütstheoretischer Kritik am gemeinen Religionsbegriff kann insgesamt festgehalten werden, dass ihm zufolge die gebildeten Religionsverächter vor der Wahl stehen, entweder die Inkonsistenz und die Inkohärenz ihres gemeinen Religionsbegriffs zuzugeben, oder anzunehmen, dass ihre Philosophiekonzeption defizitär und jedes Wissen und Handeln letztlich religiös fundiert ist. Schleiermacher ist überzeugt, dass die gebildeten Verächter, vor diese Alternativen gestellt, sich für die erste Position entscheiden und dementsprechend eingestehen, dass der von ihnen aufgestellte gemeine Religionsbegriff in sich selbst unhaltbar ist und „daß [sie, C. K.], was die Religion betrifft, noch nichts von ihr wissen“256. Zum Abschluss seiner Kritik muss Schleiermacher allerdings noch aufzeigen, weshalb sich seiner bisherigen Argumentation zum Trotz, in den „Autographa“257 der Religion der gemeine Religionsbegriff finden lässt.

253  KGA

I/2, 209,36. Diese enigmatischen Äußerungen können auf Kant bezogen sein, der nach Schleiermachers Ansicht um der Architektonik der Vernunft willen verführt worden ist, eine Parallelität zwischen theoretischer und praktischer Vernunft anzunehmen. Vgl. dazu einschlägig KGA I/1, 96,12–17: „[…] vielleicht – man weiß ja wohl, was die Menschlichkeit den Weltweisen bisweilen für Streiche spielt – hat er [Kant, C. K.] sich durch den Reiz verführen laßen die Kritik der praktischen Vernunft durchgängig der Kritik der spekulativen ähnlich zu machen oder sie doch wenigstens so einzurichten daß sie fein systematisch mit einander verglichen werden könten“. 254  KGA I/2, 209,39. 255  KGA I/2, 209,40–210,1. 256  KGA I/2, 210,11. 257  KGA I/2, 210,40.

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Zweites Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via negationis

3.  Die „hohe Absicht“ des gemeinen Religionsbegriffs in den „Autographa“ der Religion Schleiermacher räumt zu Beginn seiner Argumentation in KGA I/2, 210,11– 211,26 ein, dass die von der Religion selbst verfassten Schriften scheinbar gegen seine These sprechen, nach welcher der gemeine Religionsbegriff nicht dem Wesen der Religion entspricht. In diesen „Autographa“258 der Religion bilden prima facie das Gemisch von Meinungen über die metaphysische „Natur der Götter“259 und die Beschreibung ihres moralischen Willens260 den zentralen Inhalt. Schleiermacher gibt auf diese mögliche Replik der gebildeten Reli­ gionsverächter zwei zusammenhängende und sich gegenseitig ergänzende Antworten: Erstens gilt ihm zufolge allgemein für jedes von einem Gemütsvermögen produzierte Geisteswerk, dass sich sein eigentümliches Wesen „nie rein“261 manifestiert, sondern seine äußere Gestalt notwendigerweise auch durch andere Geisteswerke mit bestimmt wird. Der Grund hierfür liegt im Wesen der Gemütsvermögen selbst. Diese sind zwar als eigenständige Vermögen eindeutig voneinander unterschieden, weil sie aber niemals einzeln, sondern nur gemeinsam als Funktionen eines Subjekts vorkommen, treten sie nie distinkt in Erscheinung, sondern werden vielmehr ausschließlich in ihrem Zusammenhang mit jeweiliger Dominanz eines der Gemütsvermögen hervorgebracht.262 Aus diesem Grunde darf aber auch ihre äußere Gestalt nicht unkritisch für das Wesen des Gemütsvermögens selbst genommen werden. Vielmehr gilt, um das ursprüngliche und distinkte Wesen eines Gemütsvermögens zu erkennen, muss man sich entweder auf den „unbegreiflichen Augenblik in welchem [es] sich bildete“ beziehen 263 oder es durch eine „ursprüngliche Schöpfung“264 in sich selbst erzeugen, d.h. eine selbständige innere Erfahrung von dem Wirken des Gemütsvermögens erleben. Hierin sieht Schleiermacher eine Analogie der „geistigen Dinge“265 zur „Körperwelt“266 , in welcher der „Urstoff “267 bzw. die

258 

KGA I/2, 210,40. KGA I/2, 210,27. 260  KGA I/2, 210,28. 261  KGA I/2, 210,30. 262  Vgl. auch KGA I/1, 409,22 f.: „Meine verschiedenen Vermögen sind in ihrem Verhältniß zugleich in meiner Seele da“. 263  Diese Möglichkeit gibt Schleiermacher an dieser Stelle zwar nicht an, aber weil sie von ihm an früherer Stelle erwähnt wird (KGA I/2, 201,32–38) und dem gleichen Themenkomplex entspringt, kann sie meines Erachtens hier hinzugezogen werden. 264  KGA I/2, 210,37. 265  KGA I/2, 210,36. 266  KGA I/2, 210,32. 267 Ebd. 259 

§  5  Gemütstheoretische Kritik am gemeinen Religionsbegriff

115

Grundelemente eines Körpers auch erst durch die „analytische Kunst“268 erkannt werden können.269 Eine ähnliche Argumentation hatte Schleiermacher bereits gegen das voreilige Schließen der gebildeten Verächter von den Religionslehren auf das Wesen der Religion vorgebracht.270 Hier wendet er sich mit der Unterscheidung von ursprünglichen Elementen und sekundären Folgerungen aus diesen Elementen insbesonders gegen eine vorschnelle Vereinnahmung der Bibel durch die Verächter. Denn, so führt Schleiermacher in der dritten Rede aus: […] religiöse Mitteilung ist nicht in den Büchern zu suchen, wie etwa Begriffe und Erkenntniße. Zuviel geht verloren von dem ursprünglichen Eindruk in diesem Medium, worin alles verschluckt wird, was nicht in die einförmigen Zeichen paßt, in denen es wieder hervorgehen soll, wo Alles einer doppelten und dreifachen Darstellung bedürfe, indem das ursprünglich Darstellende wieder müßte dargestellt werden, und dennoch die Wirkung auf den ganzen Menschen in ihrer großen Einheit nur schlecht nachgezeichnet werden könnte durch vervielfältigte Reflexion.271

Ebenso wenig wie die Religionslehren, so eignet sich nach Schleiermacher für die gebildeten Religionsverächter die Bibel, um an ihr das ursprüngliche Wesen der Religion zu entdecken. Die Bibel ist ihm zufolge, wie er in späteren Auf­ lagen der Reden ergänzend hinzufügt, nur der sekundäre „Träger der sich daran anknüpfenden religiösen Mitteilung“272 , demgegenüber aber das „lebendige Wort und die religiöse Erregung […] eine weit höhere Kraft als der geschriebene Buchstabe“273 besitzen. Wenn somit die religiös ungebildeten Verächter meinen, sie können unabhängig von ergänzenden religiösen Mitteilungen und ohne eigene religiöse Gemütsstimmungen aus dem Buchstaben der Bibel auf den Geist der Religion schließen, so begehen sie den Fehler, eine interpretationsbedürftige äußere Erscheinung der Religion für ihren ursprünglichen Kern selbst zu halten. Nach Schleiermacher ist aber gerade derjenige, der religiös zu ungebildet ist, um selbst „eine eigene Bibel zu schaffen“274, am wenigsten dazu befähigt, in der Bibel mehr als nur einen „todten Buchstaben“275 zu finden. Zweitens: Darüber hinaus ist die Bibel nach Schleiermacher auch in einem speziellen Sinne ungeeignet zum eigenständigen Auffinden des wahren Reli­ gionswesens. Zwar tritt in ihr der gemeine Religionsbegriff prima facie in Er268 

KGA I/2, 210,35. Schleiermacher denkt bei dieser Analogie wahrscheinlich an den chemischen Auf bau der Körper, deren komplexer Auf bau durch die chemische Analyse in unterscheidbare Einzelelemente zerlegt werden kann. Siehe dazu KGA I/2, 274,28 ff. Vgl. auch Ellsiepen, Anschauung, 335 f. und Süskind, Einfluß Schellings, 114 f. 270  KGA I/2, 200,9–201,38. 271  KGA I/2, 268,14–21. 272  KGA I/12, 217,24 f. 273  KGA I/12, 218,37 ff. 274  KGA I/2, 242,8 f. 275  KGA I/2, 268,22. 269 

116

Zweites Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via negationis

scheinung. Sein Auftreten ist in der Bibel aber kein „unvermeidliches Schiksal“276 , sondern entspringt vielmehr ihrer „künstlichen Anlage und hohen Absicht“277 selbst. Allerdings muss im Unterschied zu den Verächtern erkannt werden, dass der gemeine Religionsbegriff in der Bibel keinen Selbstzweck besitzt. Schleiermacher zufolge zielt seine Erwähnung vielmehr darauf, „die Kinder im Glauben […], welche auf der Schwelle“278 zum wahrhaften Glauben stehen, in diesen einzuführen. Dementsprechend soll durch den gemeinen Religionsbegriff nicht das Wesen der Religion dargestellt werden, sondern er dient mit seiner Vermischung von Metaphysik und Moral vielmehr ausschließlich dazu, an dasjenige bei den „Neugeweihten“279 anzuknüpfen, „wofür der Sinn schon da ist“280, damit sich auf diese Weise quasi „unbemerkt“281 zugleich auch der religiöse Sinn mit „einschleiche“282 und die Neugeweihten auf sanfte Weise zu wahrhaft Glaubenden gebildet werden. In späteren Auflagen der Reden fasst Schleiermacher diesen pädagogischen Sinn des gemeinen Religionsbegriffs in der Bibel folgendermaßen zusammen: Sie [die Heiligen Schriften, C. K.] mußten sich anschließen an das Gegebene, und in diesem die Mittel suchen zu einer solchen strengeren Spannung des Gemüthes, bei welcher dann auch der neue Sinn, den sie erwekken wollten, aus dunkeln Ahnungen konnte aufgeregt werden.283

Hierbei ist das indirekte Vorgehen in der Bibel keineswegs als „frommer Betrug“284 aufzufassen, sondern er gründet vielmehr auf dem adäquaten Bewusstsein, dass sich die religiöse Bildung ausschließlich „rhetorisch“285, d.h. indirekt mitteilen und initiieren lässt. Zu diesem Zweck ist es Schleiermachers zufolge eine „schikliche Methode“286 sich an dasjenige anzuschließen wofür „der Sinn schon da ist“287, damit über den indirekten Weg einer metaphysischen und moralischen Begrifflichkeit schließlich das Bewusstsein der Neueingeweihten „aus einem niederen Gebiet […] in ein höheres“288 durchzubrechen befähigt wird. Dabei steht dieses Vorgehen in der Bibel in Analogie zu Schleiermachers eigener Methode, wie er sie bei den gebildeten Religionsverächtern in den Reden

276 

KGA I/2, 211,2. KGA I/2, 211,2 f. 278  KGA I/12, 51,3 ff. 279  KGA I/12, 51,4. 280  KGA I/2, 211,16. 281  KGA I/2, 211,16 f. 282  KGA I/2, 211,17. 283  KGA I/12, 51,6–10. 284  KGA I/2, 211,14. 285  KGA I/2, 211,18. 286  KGA I/2, 211,15. 287  KGA I/2, 211,16. 288  KGA I/12, 51,12 f. 277 

§  5  Gemütstheoretische Kritik am gemeinen Religionsbegriff

117

anwendet: 289 Ausgehend von einem beiderseits geteilten Grundverständnis der Metaphysik und Moral soll zu einem für die gebildeten Verächter neuen Religionsverständnis übergegangen werden. Dieser wahre Zweck der Bibel wird zwangsläufig verfehlt, wenn „Jemand bei der Einkleidung allein stehen bleibt“290 und wie die Verächter nicht in der Lage ist, „diese Schale zu spalten“291. Weil die gebildeten Verächter die metaphysischen und moralischen Begrifflichkeiten der Bibel als selbstzweckhafte Äußerungen und nicht als rhetorische Hilfsmittel aufgefasst haben, musste ihnen notwendigerweise „unter dieser Hülle [das] eigentliche Wesen“ der Religion „verborgen bleiben.“292 Mit diesem letzten Argumentationsschritt meint Schleiermacher den gemeinen Reli­ gionsbegriff endgültig „abgethan“293 zu haben. Somit kann abschließend für den gesamten Komplex von Schleiermachers Darstellung des kritischen Religionsbegriffs via negationis als Ergebnis festgehalten werden: Schleiermacher hat in seiner triebtheoretischen Kritik am gemeinen Religionsbegriff der gebildeten Religionsverächter zunächst aufgezeigt, dass das Wesen der Religion weder in einem theoretischen oder praktischen Wissen noch in einem Handeln besteht. In seiner gemütstheoretischen Kritik am gemeinen Religionsbegriff hat er nachgewiesen, dass die Religion nicht als ein Gemisch aus Wissen und Handeln zu verstehen ist, sondern trotz ihrer stofflichen Identität mit Metaphysik und Moral als ein wesentliches Gemütsvermögen aufzufassen ist, welches über eine formale Eigenständigkeit im Umgang mit dem gemeinsamen Stoff, dem Universum, verfügt. Der mögliche Einwand der Verächter, dass sich der gemeine Religionsbegriff in den Heiligen Schriften der Religionen finden lasse, wurde von Schleiermacher durch das Argument aus dem Weg geräumt, dass der gemeine Religionsbegriff dort zwar vorhanden sei, aber nur als Hilfsbegriff verwendet wird, um von ihm ausgehend den Zugang zum wahren Religionsverständnis zu eröffnen. Ausgehend von seiner Kritik am gemeinen Religionsbegriff begibt sich Schleiermacher nun im Folgenden an die Darstellung seines eigenen Verständnisses vom Wesen der Religion. Hierbei bildet die gewonnene Abgrenzung vom gemeinen Religionsbegriff den theoretischen Rahmen, innerhalb dessen er seinen kritischen Religionsbegriff selbständig entwickelt. Dementsprechend muss er im Folgenden sowohl darstellen, worin seines Erachtens die bislang nur negativ postulierte formale Eigenständigkeit der Reli­ 289  Vgl. KGA I/12, 51,5 f.: „Wie konnten Sie es also anders machen, als jezt eben ich es mache mit Euch?“ 290  KGA I/12, 51,18 f. 291  KGA I/2, 211,9. 292  KGA I/2, 211,21 f. 293  KGA I/2, 211,25.

118

Zweites Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via negationis

gion gegenüber Metaphysik und Moral positiv besteht, als auch zeigen, wie sich die drei von ihm als wesentlich für das menschliche Bewusstsein angesehenen höheren Gemütsvermögen in der Einheit des Subjekts positiv zueinander verhalten. Diese beiden Sachzusammenhänge bilden das theoretische Zentrum von Schleiermachers Neubestimmung des Religionsbegriffs via positiva die im Folgenden ausführlich dargestellt werden.

Drittes Kapitel

Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva Schleiermacher beschließt seine Neubesinnung auf einen kritischen Religionsbegriff durch die argumentativ-apologetische Widerlegung des gemeinen Religionsbegriffs der gebildeten Religionsverächter. Methodisch leitet der sich anschließende Textzusammenhang von der Apologetik zur immanenten Beschreibung der Religion selbst über. Sachlich handelt es sich nicht mehr um eine direkte Widerlegung falscher Meinungen über die Religion, sondern um eine indirekte Darstellung in Form einer phänomenologischen Beschreibung des religiösen Bewusstseinslebens selbst. Indirekt erfolgt diese Darstellung, weil Schleiermacher der Ansicht ist, dass die Religion als unmittelbar sich einstellender Bewusstseinsvorgang sprachlich nicht adäquat objektivierbar ist, sondern sich allein subjektiv aufgrund eines Offenbarungserlebnisses als (nach-)vollziehbar erweist.1 Dieses theologische Herz in Schleiermachers Beschreibung seines kritischen Religionsbegriffs der Reden erstreckt sich über KGA I/2, 211,27–247,4 und gliedert sich in drei Sachzusammenhänge: Erstens beschreibt Schleiermacher in KGA I/2, 211,27–213,34 das formale und inhaltliche Zusammenspiel der menschlichen Gemütskräfte in der Einheit des Subjekts. In dieser gemütstheoretischen Beschreibung stellt Schleiermacher einerseits „das eigene Gebiet und den […] eigenen Charakter“2 bzw. den autonomen Inhalt von Religion, Metaphysik und Moral heraus. Andererseits zeigt er den spezifischen Sonderstatus der Religion im menschlichen Gemütsleben auf, der ihm zufolge darin besteht, in formaler Hinsicht ein „natürliches Gegenstük“3 und „Gegengewicht“4 zu Metaphysik und Moral zu bilden (§  6). Dieser erste Abschnitt bleibt allerdings streckenweise noch in der äußeren Beschreibung eines adäquaten Zusammenspiels der menschlichen Gemütskräfte befangen und erfährt erst im nächsten Abschnitt der immanenten Darstellung des menschlichen Bewusstseinslebens selbst seine sachliche Begründung. Man kann sagen: Dieser erste Abschnitt bildet quasi die Herzvorkammer, von welcher Schleiermacher im 1 

KGA I/2, 222,13–223,8. KGA I/2, 212,16. 3  KGA I/2, 212,21. 4  KGA I/2, 213,21 f. 2 

120

Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

nächsten Schritt ausgehend zur Thematisierung des Herzstücks der Reden selbst überleitet. Zweitens beschreibt Schleiermacher in dem Abschnitt KGA I/2, 220,29– 223,19 das menschliche Bewusstseinsleben selbst. Es stellt sich ihm dar als das Zusammenspiel von sinnlichem und religiösem Selbstbewusstsein in der Einheit des menschlichen Subjekts. Das Zentrum seiner Beschreibung ist der sog. „geheimnisvolle Augenblick“5 im menschlichen Bewusstsein, der Schleiermacher zufolge sowohl den genealogischen Ursprung als auch den sachlogischen Grund des menschlichen Bewusstseinslebens überhaupt bildet. In der sog. „Liebesszene“6 wird diese Einsicht von Schleiermacher im Hinblick auf die Bildung und Geltung des religiösen Bewusstseinslebens verdichtet. Die gemütstheoretische Hypothese vom Zusammenspiel der menschlichen Gemütskräfte aus dem ersten Abschnitt erfährt hier ihre bewusstseinstheoretische Begründung (§  7). Schleiermachers phänomenologische Beschreibung des geheimnisvollen Augenblicks im menschlichen Bewusstseinsleben dient ihm in der Folge zudem als Ausgangspunkt seiner Darstellung der sich aus ihm entwickelnden religiösen Anschauungen und Gefühle. Man kann sagen: Der geheimnisvolle Augenblick im menschlichen Bewusstsein bildet Schleiermacher zufolge das Herz des menschlichen Bewussteinslebens. Wird es durch den Eindruck des Universums belebt, strömen aus der „Fülle des innern Lebens“7 die religiösen Anschauung und Gefühle her­ vor, die alle Bewusstseinsvollzüge des Menschen religiös erquicken und prägen. Drittens beschreibt Schleiermacher in KGA I/2, 213,34–220,29 und 223,20– 247,4 die religiösen Anschauungen und Gefühle des Menschen, die sich aus dem geheimnisvollen Augenblick im menschlichen Bewusstsein entwickeln. Entscheidend ist hierbei für ihn ihre genealogische und sachlogische Rückbindung an den und ihre Abhängigkeit von dem geheimnisvollen Augenblick. Diese zeigen sich darin, dass einerseits religiöse Anschauungen und Gefühle im Verhältnis der grundsätzlichen Inhaltsidentität zum geheimnisvollen Augenblick im menschlichen Bewusstein stehen. Ihre spezifische Inhaltsausprägung verdankt sich dem jeweiligen realen Anlass der Religionsbildung bei einem Menschen (sei es aufgrund von a-personaler Naturerfahrung oder von personaler Menschheitserfahrung). Der geheimnisvolle Augenblick im menschlichen Bewusstsein verwirklicht sich auf diese Weise im Zusammenspiel von sinnlichen Eindrücken und religiösen Anschauungen und Gefühlen eines menschlichen Subjekts. Andererseits beinhaltet Schleiermacher zufolge die Entstehungbedingung der religiösen Anschauungen und Gefühle bereits die Möglichkeit zu ihrer reflexiven Selbstthematisierung durch das religiöse Bewusstsein in Form von religiöser Fantasie und religiösem Denken. Mit seiner Beschreibung des wirklichen 5 

KGA I/2, 221,20. KGA I/2, 221,26–222,8. 7  KGA I/2, 223,13. 6 

§  6  Hypothese

121

religiösen Bewusstseinslebens in diesem dritten Abschnitt bringt Schleier­ macher seine Konzeption des kritischen Religionsbegriffs unter Wahrung der Einheit des menschlichen Subjekts umfassend zur Entfaltung (§  8 ). Die religiösen Anschauungen und Gefühle bilden nach Schleiermacher quasi den religiösen Blutkreislauf, der, vom lebendigen religiösen Herz angetrieben, die Religionsvollzüge des Menschen nährt und stärkt. In der Abfolge von Hypothese, Begründung und Entfaltung erfolgt Schleiermachers Neubestimmung seines kritischen Religionsbegriffs als eines lebendigen Bewusstseinsvollzugs.

§  6  Hypothese In seiner kritischen Einordnung der Religion in das Ensemble der menschlichen Gemütsvermögen in KGA I/2, 211,27–213,33 orientiert sich Schleiermacher zunächst implizit an den von ihm in der Auseinandersetzung mit den gebildeten Religionsverächtern gewonnenen Kriterien zur Unterscheidung von Gemütsvermögen im Allgemeinen. Wenn sich, wie bei Metaphysik, Moral und Reli­ gion die zu vergleichenden Gemütsvermögen auf denselben Stoff beziehen, in diesem Falle auf das Universum, dann kann sich ihm zufolge die Eigenständigkeit der Gemütsvermögen nur darin zeigen, dass sie jeweils „diesen Stoff ganz anders behandeln, ein anderes Verhältniß der Menschen zu demselben ausdrüken oder bearbeiten, eine andere Verfahrungsart oder ein anderes Ziel haben“.8 Nach Schleiermacher gibt es drei Kriterien, um die formale Eigenständigkeit eines Gemütsvermögens bei stofflicher Identität zu bestimmen: den Ursprung, die Art und das Ziel seiner Bezugnahme auf seinen Stoff. Um den eigenständigen Charakter der Religion im Ensemble der menschlichen Gemütsvermögen zu profilieren, muss Schleiermacher folglich positiv zeigen, dass und inwiefern sie sich in diesen drei Hinsichten von Metaphysik und Moral unterscheidet. Das sich hieraus ergebende wahre Verhältnis der Religion zu Metaphysik und Moral wird von ihm auf zwei Weisen näher beschrieben: Zum einen präzisiert Schleiermacher seine bisherige Beschreibung von der vermögenstheoretischen Koordination der Religion, indem er aufzeigt, dass sie ein sachnotwendiges Ergänzungsstück im Ensemble der menschlichen Gemütsvermögen insgesamt darstellt, welches sich als gleichursprünglich und gleichwertig mit Metaphysik und Moral erweist.9 Auf diese Weise stellt er Metaphysik, Moral und Religion als je autonome Lebensvollzüge des Menschen dar, durch deren jeweils eigenständige Ausbildung „das Gleichgewicht und die Har8 

KGA I/2, 208,9–14. KGA I/2, 212,20 f.: „Sie [die Religion, C. K.] zeigt sich Euch als das nothwendige und unentbehrliche Dritte zu jenen beiden [der Metaphysik und der Moral, C. K.]“. 9  Vgl.

122

Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

monie“10 des menschlichen Wesens garantiert wird und deren jeweiliger Lei­ stungsbereich vor einer inhaltlichen Übergriffigkeit der jeweils anderen Gemütsvermögen bewahrt werden muss (1.). Zum anderen verdeutlicht Schleiermacher die funktionstheoretische Sonderstellung der Religion gegenüber der Metaphysik und der Moral, indem er die Religion nicht allein als Ergänzungsstück beschreibt, sondern auch als ein sachlich notwendiges Gegengewicht, dem die kritische Funktion zukommt, die Lei­ stungsbereiche von Metaphysik und Moral formal abzustecken, um sie auf diese Weise vor einer immanenten Depravation zu bewahren. Diese interne Wechselbeziehung der Gemütsvermögen aufeinander wird von Schleiermacher auch umgekehrt von der Bedeutung der Metaphysik und Moral für die Religion angedeutet. Abschließend werden von Schleiermacher diese vermögenstheoretische Koordination und die funktionstheoretische Superordination der Religion gegenüber Moral und Metaphysik durch den Terminus des „höhern Realismus“11 zusammengefasst, als dessen bedeutenden Vertreter er Spinoza ins Feld führt und wodurch er sein Verständnis von Religion in die philosophische Debattenlage seiner Gegenwart einordnet (2.). 1.  Vermögenstheoretische Koordination der Religion mit Metaphysik und Moral Nach Schleiermacher stellt die Religion ein wesentliches Gemütsvermögen des Menschen dar, das aufgrund seiner formalen Eigenständigkeit den „gleichen Rang in der menschlichen Natur behauptet“12 wie Metaphysik und Moral. Bevor diese formale Eigenständigkeit im Detail analysiert werden soll, muss zunächst geklärt werden, was er unter „Metaphysik“ und „Moral“ versteht: Mit dem Ausdruck „Metaphysik“ wird in den Reden insgesamt die „Trans­ cendentalphilosophie“13 bezeichnet, welche in späteren Auflagen der Reden auch allgemein als „Wissenschaft des Seins“14 charakterisiert wird. Metaphysik schließt aus diesem Grund sowohl die „Naturwissenschaft“15 als Theorie sämtlicher in der Erfahrung gegebener endlicher Sachverhalte ein als auch die „Gotteslehre“, welche es nach Schleiermacher mittels des kosmologischen Gottes­ beweises unternimmt, die Naturwissenschaft zu transzendieren.16 Beide Be10 

KGA I/2, 239,17–23. KGA I/2, 22. 12  KGA I/2, 204,6 f. 13  KGA I/2, 208,16. Vgl. dazu auch KGA V/5, Nr.  1033,14 f. 14  KGA I/12, 52,2. 15  KGA I/12, 52,3. 16 „[…] so will ich euch das Höchste und Erschöpfendste zugeben, was Ihr nur vom Wissen und von der Wissenschaft zu sagen vermögt […] die Naturwissenschaft führe Euch noch höher hinauf von den Gesezen zu dem höchsten und allgemeinen Ordner, in welchem die Einheit zu Allem ist, und Ihr erkennt die Natur nicht, ohne auch Gott zu begreifen“, KGA I/12, 52,12–18. Vgl. auch KGA I/2, 214,38 ff. 11 

§  6  Hypothese

123

stimmungen der Metaphysik werden unter dem Ausdruck „Spekulation“17 zu­sammengefasst. Unter „Moral“ versteht Schleiermacher zum einen das wissenschaftliche Pendant zur Metaphysik, nämlich die Ethik bzw. die praktische Philosophie, welche von ihm in späteren Auflagen der Reden näher als „Sittenlehre“18 oder allgemein als „Wissenschaft des Handelns“19 charakterisiert wird. Zum anderen versteht er unter Moral ein tätiges Handeln aus moralischen Überzeugungen, also kein praktisches Wissen, sondern ein praktisches Tun.20 Beide Bestimmung der Moral werden unter dem Begriff der „Praxis“21 zusammengefasst. In der Schleiermacherliteratur wurde wiederholt zu Recht darauf hingewiesen, dass den philosophiegeschichtlichen Hintergrund zu Schleiermachers Charakterisierungen der Metaphysik und der Moral die Systeme von Kant 22 und Fichte23 bilden. Hierbei ist es meines Erachtens weder von entscheidender Bedeutung, ob die Referenzautoren von Schleiermacher adäquat wiedergegeben werden, noch ob Schleiermacher selbst die referierten Positionen vertritt. Prägnant ist vielmehr, dass sich Schleiermachers Charakterisierungen von Metaphysik und Moral nicht eindeutig einem bestimmten philosophischen System zuordnen lassen und dass sie auch nicht eindeutig mit den von ihm selbst in seinen Frühschriften entwickelten moralischen und metaphysischen Positionen in Über­ einstimmung zu bringen sind. Der auf diese Weise entstehende Anschein von Beliebigkeit oder Unschärfe in Schleiermachers Beschreibung der Metaphysik und Moral besitzt jedoch einen tieferen Sinn. Es geht Schleiermacher nicht um die Darstellung einer bestimmten metaphysischen oder moralischen Lehrmeinung, sondern vielmehr unternimmt er es, die allgemeinen Grundzüge jeder Art von Metaphysik und Moral herauszuarbeiten, indem er die ihnen zugrundeliegenden wesentlichen Gesinnungen charakterisiert, auch wenn er sich darin vorzugsweise auf die Kantsche und Fichtesche Philosophie seiner Zeit bezieht. Somit ist Meckenstock zuzustimmen, dass es Schleiermacher in seiner Verhältnisbestimmung von Metaphysik, Moral und Religion nicht vorrangig um die Gegenüberstellung von wissen­ schaftlichen Theorien geht, sondern viel grundsätzlicher um die diesen Theo­ 17  In seinem Werk Brouillon zur Ethik führt Schleiermacher aus, dass diejenigen wissenschaftlichen Leistungen des menschlichen Geistes allgemein als „Speculation“ zu bezeichnen sind, „wo ein objectives Ganzes construirt wird“, Schleiermacher, Brouillon, 134,16–19. 18  KGA I/12, 53,25. 19 Ebd. 20  KGA I/2, 211,30 ff. 21  KGA I/2, 212,31. 22 Vgl. Rudolph, E., „Die ‚selbstbewusste‘ Religion. Schleiermachers Antwort auf Kants Religionskritik“, in: D. Burdorf/R. Schmücker (Hgg.), Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie, Paderborn 1998, 69–80. 23 Vgl. Lönker, F., „Religiöses Erleben. Zu Schleiermachers zweiter Rede ‚Über die Religion‘“, in: D. Burdorf/R. Schmücker (Hgg.), Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie, Paderborn 1998, 53–68.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

rien zugrundeliegenden psychischen Dispositionen des menschlichen Lebens.24 Nur auf diese Weise ist es Schleiermacher möglich, die wesentliche Bedeutung der Religion im Ensemble der Gemütsvermögen herauszustellen, die sich prinzipiell im Zusammenhang mit jeder Art von Spekulation und Praxis zu erweisen hat. Im Folgenden nimmt die Bestimmung von Schleiermachers vermögenstheoretischer Koordination der Religion ihren Ausgangspunkt in der Beschreibung der jeweils formalen Eigenständigkeit von Metaphysik, Moral und Religion und zwar nach dem aufgezeigten dreifachen Kriterium des Ursprung, der Art und des Ziels ihrer jeweiligen Bezugnahme auf das Universum (1.1). Im Anschluss daran soll die Frage erörtert werden, in welcher Hinsicht Schleiermacher von einer Ergänzung der Metaphysik und Moral durch die Religion spricht (1.2). Abschließend werden die zwei zentralen Folgerungen für Schleiermachers kritischen Religionsbegriff aus diesem Abschnitt gezogen (1.3). 1.1.  Die formale Eigenständigkeit von Metaphysik, Moral und Religion Das Charakteristische für den Ursprung der Metaphysik besteht nach Schleiermacher in ihrem aktiven Wissenwollen. Sie gibt sich folglich selbst ihren Ursprung, indem sie „von der endlichen Natur des Menschen“25, d.h. von den menschlichen Erkenntniskräften ausgehend aufzuzeigen versucht, „was das Universum für ihn [den Menschen, C. K.] sein kann und wie er es nothwendig erbliken muß.“26 Die Gesinnung des spekulativ orientierten Menschen in seiner Bezugnahme auf das Universum besteht darin, sich zum einen in der distanzierten Haltung eines wissenschaftlichen Forschers seinem Untersuchungsgegenstand „entgegenzusetzten“27 und sich zum anderen am Maßstab der eigenen Erkenntnismöglichkeiten orientierend, allgemeinverbindliche Aussagen über das Wesen des Universums zu treffen. Auch die Moral gewinnt nach Schleiermacher ihre Sicht auf das Universum aus einem autonomen menschlichen Impuls. Einerseits strebt sie danach „aus der Natur des Menschen und seines Verhältnißes gegen das Universum“ ein „System von Pflichten“ abzuleiten.28 In diesem Zusammenhang bezeichnet der 24 

Meckenstock, Deterministische Ethik, 224: „Metaphysik steht für Denken und Moral für Handeln. Beide sind qualifiziertes Denken und qualifiziertes Handeln in dem Sinne, daß beide auf das Universum bezogen sind. Beide sind auf der Stufe primärer Lebensakte (allerdings nicht ganz konsequent) angesiedelt, d.h. Schleiermacher nimmt sie nicht als philosophische Disziplinen, als reflektierte, methodisch hochentwickelte Begriffsgebilde, die den unmittelbaren Lebensvollzug sistierend Aussagen über bestimmte Aspekte des Lebens machen, sondern als Lebenseinstellungen und Leistungszusammenhänge. Metaphysik erklärt das Universum, Moral bildet den perfektiblen Menschen.“ 25  KGA I/2, 212,2. 26  KGA I/2, 212,4 f. 27  KGA I/2, 212,37 (kursiv, C. K.). 28  KGA I/2, 208,24 f.

§  6  Hypothese

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Ausdruck „Natur des Menschen“ folglich nicht dessen physische Beschaffenheit, sondern die menschliche „Kraft der Freiheit“29, von welcher ausgehend der Mensch sich autonom handelnd auf das Universum bezieht. Wie die Metaphysik ihren Ursprung aus einem aktiven Wissenwollen der Naturgesetze des Seins gewinnt, so geht die Moral von einem aktiven Wissenwollen der menschlichen Freiheitsgesetze des Sollens aus. Die seelische Grundhaltung des moralisch orientierten Menschen in seiner Bezugnahme auf das Universum besteht demzufolge darin, sich zum einen der autonomen Gesetze des freien menschlichen Willens im Gegenüber zum Universum zu vergewissern und sich zum anderen in der Haltung eines tugendhaften Praktikers an die allgemeinverbindliche Umsetzung dieser Gesetze zu begeben, wodurch diesen Gesetzen schließlich „alles unterwürfig“30 gemacht werden soll.31 Im „schneidenden Gegensaz“32 zur Metaphysik und Moral liegt der Ursprung der religiösen Bezugnahme auf das Universum nicht in einem selbstständigen, bestimmenden Drang „gegen das Universum“33, sondern vielmehr umgekehrt in einer „kindliche[n] Passivität“34, die sich von dem das Universum selbst „ergreifen“35 lässt. Sie gründet folglich in keinem aktiven Begehren 36 , sondern in einem passiven Hinnehmen37 ihres Stoffs und geht in ihrer Bezugnahme auf das Universum nicht wie Metaphysik und Moral von der endlichen Natur des Menschen, sondern vielmehr von der unendlichen Natur des Universums selbst aus.38 Die seelische Grundverfassung des religiösen Menschen ist demnach weder durch ein wissenwollendes Forschen noch durch ein handelnwollendes Tun bestimmt, sondern besteht in der beschaulichen Hingabe an die „unmittelbaren Einflüße“39 des Universums selbst.40 Auch die Art der religiösen Bezugnahme auf das Universum unterscheidet sich nach Schleiermacher deutlich von derjenigen der Metaphysik und Moral. 29 

KGA I/2, 211,31. KGA I/2, 212,12. 31  Vgl. zu dieser Charakterisierung auch Wagner, Was ist Religion?, 64 f. 32  KGA I/2, 211,23. 33  KGA I/2, 208,25; 212,37. 34  KGA I/2, 211,36. 35 Ebd. 36  KGA I/2, 211,29 f. 37  KGA I/2, 214,15. 38 Vgl. Beißer, F., Schleiermachers Lehre von Gott dargestellt nach seinen Reden und seiner Glaubenslehre (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 22), Göttingen 1970, 20. 39  KGA I/2, 211,35 (kursiv, C. K.). 40  Vgl. dazu auch Albrechts Charakterisierung: „Im einzelnen ist der Habitus der Religion dem Universum gegenüber […] durch das Fehlen jeglichen Gestaltungs- und Durchdringungswillens charakterisiert: Vielmehr ist die primäre Haltung der Religion die der Sensibilität und Empfangsbereitschaft für diejenigen Handlungen, in denen das Universum sich selbst offenbart und manifestiert.“ (Albrecht, Frömmigkeit, 153) 30 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Diese beiden erheben jeweils auf ihre Weise den Menschen zum alleinigen Maßstab dessen, was das Universum zu sein hat und was es werden soll. Die Metaphysik richtet sich an den menschlichen Erkenntnisfähigkeiten aus und unternimmt es einerseits das Universum der erfahrbaren Einzeldinge nach eigenen Kriterien zu klassifizieren 41 und andererseits aus den innerzeitlichen Wirkungen der getrennt betrachteten Einzeldinge aufeinander, notwendige Zusammenhänge zwischen diesen abzuleiten. Im Zuge dieses doppelten Verfahrens unternimmt sie es schließlich „aus sich selbst die Realität der Welt und ihrer Geseze“42 insgesamt festzulegen. Ihre forschende Gesinnung besteht folglich der Art nach darin, durch eigene Leistungen „das Universum seiner Natur nach“43 gänzlich zu bestimmen und indem sie alle Einzelfälle unter allgemeine Denkregeln bringt, dieses derartig bestimmte Universum durchgängig und allgemeingültig zu erklären.44 Die Moral entnimmt hingegen den Maßstab ihres Umgangs mit dem Universum aus den Freiheitsgesetzen des Menschen. Diese Gesetze betrachtet sie als allgemeinverbindlich für jedes Handeln im Universum und arbeitet dementsprechend ein „System von Pflichten“45 heraus, an welchem sich die Handlungen im Universum zu orientieren haben und welches vorgibt, worin die Ziele dieser Handlungen bestehen sollen. Die Moral ergänzt also die Metaphysik, indem sie zwar nicht zeigt, was das Universum für den Menschen sein kann und wie er es erblicken soll, aber vorgibt, welche herausragende Stellung der Mensch im Universum einzunehmen hat und wie er gemäß dieser Stellung gestaltend im Universum handeln soll.46 Ihre auf das menschliche Tun ausgerichtete Gesinnung besteht der Art nach folglich darin, durch eigene Einwirkungen das Universum gemäß den menschlichen Freiheitsgesetzen „fortzubilden“ und auf diese Weise durch die Tilgung der bislang gesetzlosen Gebiete das Universum aus dem Gesichtspunkt der Freiheitsgesetze „fertig zu machen“.47 Schleiermacher zufolge orientiert sich die Religion in der Art ihrer Bezugnahme auf das Universum weder am Maßstab des menschlichen Erkenntnisvermögens noch am Maßstab der menschlichen Freiheitsgesetze. Im Unterschied zu Metaphysik und Moral, die beide „im ganzen Universum nur den Menschen als Mittelpunkt aller Beziehungen, als Bedingung alles Seins und Ursach alles Werdens“48 sehen, geht die Religion vom Universum bzw. von der Anschauung und dem „Gefühl des Unendlichen“49 selbst aus. Sie erhält den Maßstab ihres 41 

KGA I/2, 208,16. KGA I/2, 208,19 (kursiv, C. K.). 43  KGA I/2, 211,29 f. 44 Ebd. 45  KGA I/2, 208,25. 46  Vgl. KGA I/12, 46,11–20. 47  KGA I/2, 211,32. 48  KGA I/2, 209,38 ff. 49  KGA I/2, 208,13. 42 

§  6  Hypothese

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Umgangs mit dem Universum folglich aus der „unendlichen Natur des Ganzen“50 und erfährt dementsprechend den Menschen mit allen seinen Leistungen und Bemühungen als einen in das Universum selbst eingeordneten „Theil deßelben“51. Der Religion geht es somit einerseits nicht darum, wie die Metaphysik mittels des Denkens selbsttätig die Grundstrukturen des Seins zu bestimmen und zu erklären, sondern sie geht umgekehrt von der unmittelbaren Erfahrung der ewigen Einheit des Universums aus, in welcher „alles Einzelne und so auch der Mensch“52 als ein notwendiges Element eingebunden sind. Andererseits versucht sie nicht wie die Moral das Universum nach den menschlichen Freiheitsgesetzen fortzubilden, sondern sie bezieht sich auf eine Wirklichkeitsdimension, „wo die Freiheit selbst schon wieder Natur geworden“53 ist und betrachtet den Menschen folglich aus dem Gesichtspunkt, „wo er das sein muß was er ist, er wolle oder wolle nicht“54. Nach Schleiermacher manifestiert sich die Grundgesinnung der Religion der Art nach folglich in einer Sehnsucht nach unmittelbaren Erfahrungen der ewigen Einheit des Universums, deren Einwirkungen sie sich „in stiller Ergebenheit“55 in Form von „Anschauungen und Gefühlen“56 überlässt. Das Ziel der metaphysischen, moralischen und religiösen Bezugnahme auf das Universum ergibt sich nach Schleiermacher aus dem jeweiligen Grund und der Art ihrer Bezugnahme auf dasselbe. Die Metaphysik zielt als spekulatives Denken darauf, das Universum insgesamt in Form eines wissenschaftlichen Systems zu erfassen.57 Sie strebt folglich danach, mittels des menschlichen Erkenntnisvermögens die „Nothwendigkeit des Wirklichen“ allumfassend zu „deducieren“58 und auf diese Weise ein allgemeingültiges Reich der Erkenntnis zu begründen. Die Moral zielt nach Schleiermacher darauf, einen allgemeinverbindlichen „Kodex von Gesezen“59 zu erstellen, dem alles menschliche Handeln im Universum „mit unumschränkter Gewalt“60 unterzuordnen ist. Sie strebt in ihrer 50 

KGA I/2, 212,6 f. KGA I/2, 213,1 (kursiv, C. K.). 52  KGA I/2, 212,7 f. 53  KGA I/2, 212,12 f. 54  KGA I/2, 212,15. 55  KGA I/2, 212,9 f. 56  KGA I/2, 211,33. 57 Vgl. dazu KGA I/12, 52,2–12: „Denn wonach strebt Eure Wissenschaft des Seins, Eure Naturwissenschaft, in welcher doch alles Reale Euer theoretischen Philosophie sich vereinigen muß? Die Dinge, denke ich, in ihrem eigenthümlichen Wesen zu erkennen; die besonderen Beziehungen aufzuzeigen, durch welches jedes ist, was es ist; jedem seine Stelle im Ganzen zu bestimmen und es von allem Uebrigen richtig zu unterscheiden; alles Wirkliche in seiner gegenseitigen bedingten Nothwendigkeit hinzustellen und die Einerleiheit aller Erscheinungen mit ihren ewigen Gesezen darzuthun.“ 58  KGA I/2, 208,18. 59  KGA I/2, 208,28. 60  KGA I/2, 208,26. 51 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

praktischen Gesinnung folglich die Errichtung eines Reichs der Freiheit an, in dem sich alle menschlichen Handlungen als jeweils konkreter Ausdruck der menschlichen Freiheitsgesetze manifestieren und das Universum insgesamt in einem sittlichen Kunstwerk Gestalt annimmt.61 Nach Schleiermacher besteht das eigentümliche Ziel der Religion weder in der Errichtung eines Reichs der Erkenntnis noch eines Reichs der Freiheit. Weil ihr Ursprung nicht wie bei Metaphysik und Moral in einer selbsttätigen Bezugnahme auf das Universum, sondern in einer unmittelbaren Ergriffenheit durch das Universum liegt, strebt sie nicht nach der vollendeten „Wissenschaft“ der Spekulation oder der vollendeten „Kunst“ der Praxis, sondern sie ist vielmehr darauf aus, den vom Universum in ihr aufgeregten „Sinn und Geschmak fürs Unendliche“62 selbst zu kultivieren. Hierbei ist Schleiermacher so zu verstehen, dass der Sinn der religiösen Anschauung und der Geschmack dem religiösen Gefühl korrespondiert.63 Demzufolge bedeutet Sinn und Geschmack fürs Unendliche zu kultivieren nicht, sich in selbstbezogener Sammlermanier eine Summe von religiösen Anschauungen und Gefühlen zuzulegen, sondern es meint, sein durch das Universum aufgeregtes religiöses Gemütsvermögen in einem Gemeinschaftsprozess weiter auszubilden, indem durch den gegenseitigen Austausch mit anderen religiösen Menschen die Deutlichkeit der Anschauungen optimiert und die Stärke der Gefühle gesteigert werden. Auf diese Weise entwickelt sich die Religion nach Schleiermacher schließlich zu einem „Continuum […] im menschlichen Gemüth“64, welches mit seinem kultivierten Sinn befähigt ist, die Eindrücke des Universums scharf und bestimmt aufzufassen und mit seinem kultivierten Geschmack die Sehnsucht danach verspürt, sich zu jeder Zeit von den allgegenwärtigen Einwirkungen des Universums ergreifen zu lassen.65 Schleiermachers eigene Ausführungen in der zweiten Rede ergänzend 61  Schleiermachers Verwendung des Ausdrucks „Kunst“ im Bereich der Moral kann so verstanden werden, wie er es später im Rahmen seiner Tugendlehre festgehalten hat. Demnach bezeichnet „Kunst“ im ethischen Bereich die „Bildung der Persönlichkeit durch und für die Vernunft.“ (Schleiermacher, Brouillon, 129,23 f.) Eine geistige Verwandschaft zeigt sich herbei sicherlich auch mit Schlegels Auffassungen zur Kunstlehre: „Daß alles (alle Kunst) Wissenschaft werden soll, ist ein Satz der Logik der Wissenschaftslehre; daß alles, alle Wissenschaften Künste werden sollen, ist ein Satz der Kunstlehre.“ (Schlegel, Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, Fr. 82, 632) Beide menschlichen Tätigkeiten gehören nach Schlegel wesentlich zusammen: „Wissenschaftslehre und Kunstlehre zusammen sind Bildungslehre.“ (A.a.O., Fr. 109, 961) 62  KGA I/2, 212,30. 63  KGA I/2, 219,6–15. Vgl. dazu auch KGA I/12, 130,7–131,7. 64  KGA I/2, 250,21 f. 65  „Je gesunder der Sinn, desto schärfer und bestimmter wird er jeden Eindruk auffaßen, je sehnlicher der Durst, je unauf haltsamer der Trieb das Unendliche zu ergreifen, desto mannigfaltiger wird das Gemüth selbst überall und ununterbrochen von ihm ergriffen werden, desto vollkommener werden diese Eindrüke es durchdringen, desto leichter werden sie immer wieder erwachen, und über alle andere die Oberhand behalten.“ (KGA I/2, 219,9–15 (kursiv, C. K.))

§  6  Hypothese

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kann man festhalten, dass die Grundgesinnung der Religion letztlich auf die Errichtung eines Reichs der Kirche zielt, in welchem sich der gemeinschaftliche Kultivierungsprozess des religiösen Sinns und Geschmacks vollendet.66 Im Anschluss an diese Charakterisierung von Moral, Metaphysik und Religion lässt sich festhalten: Nach Schleiermacher zeigen sich ihre formalen Eigenständigkeiten darin, dass ihnen jeweils eine spezifische Gesinnung zu Grunde liegt, die in den jeweiligen Eigentümlichkeiten des Ursprungs, der Art und des Ziels ihrer Bezugnahme auf das Universum zum Ausdruck kommt. Schleiermacher bestimmt dabei das Verhältnis von Metaphysik und Moral als das einer gegenseitigen Ergänzung. Indem beide von einem selbsttätigen Impuls des Menschen gegen das Universum ausgehen, vollendet sich in ihrem Zusammenspiel der aktive Umgang des Menschen mit der Wirklichkeit, der die beiden korrespondierenden Leistungsbereiche des Verstehens und des Gestaltens von innerweltlichen Zusammenhängen umfasst. Die Religion steht diesen beiden im Zusammenspiel befindlichen Gemütsvermögen insgesamt formal eigenständig gegenüber. Ihr Proprium besteht in dem Bewusstsein vom allgemeinen Sein alles Endlichen (und somit auch des Menschen) im Universum. Dementsprechend gehen von ihr keine aktiven Impulse zur Gestaltung oder Durchdringung von innerweltlichen Zusammenhängen aus, sondern sie gibt sich ganz den passiven Anschauungen und den Gefühlen für die ewige Ordnung und „Harmonie des Universums“67 hin. Nur, um sich dieser Ordnung bestimmter zu vergewissern und sie intensiver zu empfinden, nicht etwa um sie diskursiv zu analysieren oder gestaltend in sie einzugreifen kultivieren die religiösen Menschen in der Mitteilungsgemeinschaft der Kirche ihren Sinn und Geschmack für das Universum. Weshalb aber handelt es sich bei der Religion Schleiermacher zufolge um eine Ergänzung der Metaphysik und Moral? Noch dazu um eine derartige Ergänzung, die nach Schleiermacher keine bloße Hinzufügung, sondern eine Vervollständigung der beiden anderen Gemütsvermögen bezeichnet? 68 Bislang wurde an Schleiermachers „Abgrenzungsstrategie“69 nur deutlich, dass es sich bei der Religion um ein formal eigenständiges Gemütsvermögen handelt, dass der Metaphysik und der Moral „in allem entgegengesezt [ist] was ihr Wesen ausmacht, und in allem was ihre Wirkungen charakterisiert“70 ?

66 

Vgl. KGA I/2, 291,3–37. KGA I/2, 231,35. 68  Nach Schleiermacher gilt, dass die Religion, „indem sie sich neben beide hinstellt, […] erst das gemeinschaftliche Feld vollkommen ausgefüllt und die menschliche Natur von dieser Seite vollendet [wird].“ (KGA I/2, 212,18 ff.) 69  Meckenstock, Deterministische Ethik, 225. 70  KGA I/2, 211,37 f. 67 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

1.2.  Die formale Ergänzung der Metaphysik und Moral durch die Religion Die Antwort auf die oben gestellten Fragen ergibt sich aus der näheren Betrachtung der Leistungsbereiche der drei genannten Gemütsvermögen: Nach Schleiermacher besteht die Leistung des wissenschaftlichen Denkens darin, aus der Beobachtung der endlichen Sachverhalte und ihres innerzeitlichen Wirkens aufeinander schließlich als Metaphysik ein in sich differenziertes Bewusstsein von der Gesamtheit alles endlichen Seins und den in dieser Gesamtheit geltenden Gesetzmäßigkeiten zu entwickeln. Der Bezug der Metaphysik auf das Universum ist folglich auf das Gebiet des (durch das menschliche Denken) vermittelten Bewusstseins beschränkt. Die Leistung der Moral besteht darin, wie Schleiermacher in seiner zweiten Auflage der Reden ausführt, „das Einzelne des menschlichen Handelns und Hervorbringens aus einander [zu] halten in seiner Bestimmtheit, und auch dies zu einem in sich gegründeten und gefügten Ganzen aus[zu]bilden.“71 Der Bezug der Moral auf das Universum ist somit, ebenso wie bei der Metaphysik, auf das Gebiet des (durch das menschliche Handeln) vermittelten Bewusstseins beschränkt. Im deutlichen Unterschied zu Metaphysik und Moral besteht die Leistung der Religion in dem „unmittelbare[n] Bewusstsein von dem allgemeinen Sein alles Endlichen im Unendlichen und durch das Unendliche“72 . Während das metaphysische Denken und das moralische Handeln durch das Zusammenfassen und Gestalten der einzelnen endlichen Dinge zum Universum hinaufsteigen, so steigt das Universum in der Religion selbst zum Menschen hinab.73 Allerdings muss man Schleiermachers Beschreibung des unmittelbaren religiösen Bewusstseins meines Erachtens leicht modifizieren. Auch das religiöse Bewusstsein ist nach Schleiermachers Beschreibung einerseits ein vermitteltes Bewusstsein. Dem religiösen Menschen präsentiert sich nicht das Universum unmittelbar, quasi in einer mystischen Eingebung, sondern vielmehr vermittels eines bestimmten endlichen Sachverhalts,74 vorzugsweise in der Form eines religiösen Mittlers.75 Das Besondere an dieser religiösen 71 

KGA I/12, 53,26 ff. KGA I/12, 53,12 f. (kursiv, C. K.) 73  E. Huber hält fest, dass die Metaphysiker nach Schleiermacher nur auf einem Weg zum Universum kommen können, indem sie „Schlüsse auf Schlüsse, Urteile auf Urteile häufen. Die Religion kommt eben auf dem kürzesten Weg zum Ziel, weil sie im Besitz einer besonderen Methode ist, das Wirkliche zu erfassen; sie schaut im Einzelnen das Ganze intuitiv, ‚unmittelbar‘, in einem einzigen Akt an.“ (E. Huber, Entwicklung, 25) 74  „Darum ist es auch das Gemüth eigentlich worauf die Religion hinsieht, und woher sie Anschauungen der Welt nimmt; im Innern Leben bildet sich das Universum ab, und nur durch das innere wird erst das äußere verständlich. Aber auch das Gemüth muß, wenn es Religion erzeugen und nähren soll, in einer Welt angeschaut werden.“ (KGA I/2, 227,29–33 (kursiv, C. K.)) 75  KGA I/2, 231,41–232,5. 72 

§  6  Hypothese

131

Vermittlung besteht andererseits darin, dass in ihr das vermittelnde Endliche nicht an sich wahrgenommen wird, sondern es nur insofern zum Gegenstand des Bewusstsein wird, als sich an ihm das Unendliche selbst zeigt. Dasjenige End­ liche, welches die religiöse Erhebung initiiert, tritt nicht wie beim Denken und Handeln als es selbst in Erscheinung, sondern wird nur insofern wahrgenommen als es sich als eine „Darstellung des Unendlichen“76 präsentiert. Folglich wird der einzelne endliche Gegenstand, der im Denken und Handeln als er selbst den Träger und quasi „Baustoff “ zu ihrer eigenen Bestimmung und Bildung des Universums darstellt, in der Religion als solches gar nicht wahrgenommen, sondern bildet nur einen „Durchgangspunkt“ mittels dessen sich das Universum selbst im menschlichen Bewusstsein unmittelbar Geltung verschafft.77 Dies ist auch der Grund, weshalb die Religion nach Schleiermacher nicht wie das wissenschaftliche Denken oder das moralische Handeln die einzelnen Dinge der Anschauung oder die einzelnen Gefühle selbständig zu einem systematischen Ganzen verknüpft, sondern bei den Einzelerscheinungen des Universums im Endlichen bleibt sie ihm zufolge „stehen“, denn „jede derselben ist ein für sich bestehendes Werk“ des Universums.78 Meines Erachtens lassen sich somit im vorliegenden Fall zwei Bedeutungen von „Vermittlung“ bzw. „Unmittelbarkeit“ unterscheiden: Diese Begriffe geben Auskunft darüber, auf welche Weise ein Subjekt zum Bewusstsein seines Gegenstands kommt. „Vermittelt“ bedeutet, dass ein Subjekt durch ein Anderes zu dem Bewusstsein seines Gegenstands kommt. „Unmittelbar“ bedeutet dementsprechend, dass ein Subjekt ohne ein Anderes zu dem Bewusstsein seines Gegenstands kommt. Sowohl bei der Metaphysik und der Moral als auch bei der Religion handelt es sich in dieser Hinsicht unzweifelhaft um ein vermitteltes Bewusstsein des Universums. Nun gibt es Schleiermacher zufolge offensichtlich noch eine andere Bedeutung der in Frage stehenden Begriffe. Dieser Bedeutung zufolge meint der Begriff „vermittelt“, dass sich das Bewusstsein für den Ge76 

KGA I/2, 214,15. KGA I/12, 134,3–15. Vgl. dazu auch Meckenstock, Deterministische Ethik, 226: „Für die Religion ist das Einzelne wichtig, aber nur als Darstellung des Universums. Für die Metaphysik ist das Einzelne unwichtig – und ist doch der nie aufzugebende Ausgangspunkt für die Erfassung des Universums.“ Vgl. zu diesem Gedanken auch Piper, Das religiöse Erlebnis, 27: „Die religiöse Betrachtungsweise ist ja gänzlich verschieden von Metaphysik und Wissenschaft. Diese gehen vom Allgemeinen aus und geben dadurch dem Einzelnen seine Bedeutung, Religion geht vom Einzelnen aus, findet es wertvoll oder wertlos im Sinne der Religion und kommt von da aus erst zu einem Ganzen.“ 78  KGA I/2, 215,9. Vgl. Cramer, „Anschauung des Universums“, 130: „Im Unterschied zum theoriefähigen Anschauen, dessen Gehalte – mit Kant zu sprechen – durch Handlungen der Synthesis des denkenden Verstandes zu einem Ganzen verbunden werden, das Objekt des theoretischen Wissens ist, ‚bleibt‘ das Anschauen des religiösen Bewußtseins bei den einzelnen Anschauungen und Gefühlen ‚stehen‘, aber so, daß es das angeschaute Einzelne als ebenso unmittelbare, nicht durch Akte des bestimmenden Verstandes konstituierte Erfahrung vom Dasein und Handeln des Universums auffaßt. Religion ist Gewahren des Einzelnen als Gewahren des Daseins und Handelns des Universums.“ 77  Vgl.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

genstand einer Eigenaktivität des Subjekts selbst verdankt. Umgekehrt bezeichnet „unmittelbar“ einen Vorgang, in welchem der Gegenstand selbst (sei es durch ein Anderes oder ohne dieses) bei dem Subjekt ohne dessen Eigenaktivität ins Bewusstsein tritt. Nach dieser zweiten Bedeutung sind Metaphysik und Moral wiederum als vermittelte Bewusstseinsweisen zu charakterisieren. Hingegen muss die Religion als unmittelbare Bewusstseinsweise bezeichnet werden. Denn ohne ein Zutun des Subjekts wird in der Religion durch das Universum selbst, obzwar mittels eines endlichen Sachverhalts, ein Bewusstsein des Unendlichen aufgeregt. Folglich kann man bei der Religion von einem unmittelbaren Bewusstsein des Universums sprechen, wenn man beachtet, dass es sich präzise ausgedrückt, um ein vermitteltes unmittelbares Bewusstsein handelt.79 Im Anschluss an diese präzisierende Darstellung der Leistungsbereiche der drei oberen Gemütsvermögen kann festgestellt werden, inwiefern die Religion nicht allein der Metaphysik und Moral entgegengesetzt ist, sondern diese vielmehr im Sinne einer Vervollständigung ergänzt. Indem sich als Boden der formalen Eigenständigkeit der Religion ihr unmittelbares Bewusstsein vom Universum erwiesen hat, wird die Einseitigkeit des rein vermittelten Universumsbewusstseins von Metaphysik und Moral deutlich. Deren Universumsbewusstsein reicht nur so weit, wie sie es vermittels des Denkens und Handelns in sich selbst erzeugt haben. Auf das Universum jenseits ihrer Spekulation und Praxis haben sie keinen Bezug.80 Diesen Bezug sichert nach Schleiermacher die Religion, denn ihr Universumsbewusstsein speist sich nicht aus der Eigenaktivität des Subjekts, sondern vielmehr aus dem alle Eigenaktivitäten des Subjekts umfassenden Handeln des Universums selbst.81 Der Religion geht somit unmittelbar ein Bewusstsein dafür auf, inwiefern der Mensch selbst mit allen seinen Denkund Handlungsvollzügen durch das Universum erschaffen ist.82 Die Religion vervollständigt somit nicht die Leistungsbereiche der Metaphysik und Moral selbst, sondern sie vervollständigt vielmehr das der Metaphysik und Moral zugrundeliegende allgemeine Verständnis des Menschen. Während diese den Menschen von 79 Gegen Piper, Das religiöse Erlebnis, 46: „Die religiösen Gefühle entstehen bei unmittelbarer Berührung des Subjekts mit dem Gegenstande; nur da wo kein Drittes zwischen Ich und Gegenstand steht, können religiöse Gefühle entstehen.“ 80 Vgl. Beißer, Schleiermachers Lehre von Gott, 17 f. 81  A.a.O., 20: „Der Mensch, die Welt, das Weltganze, werden eigentlich sichtbar erst in der religiösen Erfahrung. Darum bedeuten die Reden Schleiermachers wesentlich einen Aufruf zur wahren Wirklichkeit, einen Appell, alle Verstellungen zu durchbrechen, die sich zwischen uns und die Wahrheit schieben wollen. Solche Verbauungen entstehen dann, wenn der Mensch sich selbst als gegeben absolut setzt und von da her die Welt abzuleiten sucht. Eine grundsätzliche Umkehr ist nötig: Nicht die Welt vom Menschen aus schaffen, sondern den Menschen von anderswoher empfangen! Ein solches ‚Anderswoher‘ ist aber real angeboten. Das Universum will sich uns erschließen. Wir haben nur unsere Augen zu öffnen. Das aber geschieht in der Religion.“ 82  Vgl. dazu auch KGA I/2, 189,22–26.

§  6  Hypothese

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der einen Seite als aktiven Schöpfer und Gestalter der Wirklichkeit begreifen, fasst die Religion ihn von der anderen Seite seines radikal passiven Geschaffenseins durch das Universum auf. Erst beide Betrachtungen zusammengenommen ergeben nach Schleiermacher ein wahres Bild von der Stellung des Menschen im Universum und ermöglichen eine harmonische und adäquate Entwicklung seiner Gemütsvermögen.83 1.3.  Zwei grundsätzliche Folgerungen aus der vermögentheoretischen Koordination der Religion mit Metaphysik und Moral Schleiermacher stellt mit seiner Beschreibung der Grundgesinnungen des metaphysischen, moralischen und religiösen Lebensvollzugs die Gleichursprünglichkeit der drei Gemütsvermögen heraus. Jedem dieser Gemütsvermögen liegt ein unverwechselbarer und „eigene[r] Charakter“84 zugrunde. Aus diesem Grund kann keines der drei Gemütsvermögen aus den jeweils anderen Vermögen hergeleitet und folglich auch keines auf die anderen reduziert werden. Somit bildet keines der drei Gemütsvermögen den Ermöglichungsgrund der anderen Gemütsvermögen. Es kann weder die Religion als eine untergeordnete Funktion der Metaphysik oder der Moral85 und die beiden Letzteren nicht als jeweils untergeordnete Funktionen der Religion aufgefasst werden.86 Indem Schleiermacher diese kritische Einordnung der Religion in das Ensemble der mensch­ lichen Gemütsvermögen als ergänzende Vervollständigung beschreibt, zeigt er auf, dass sich das Wesen des Menschen nur im Zusammenspiel seiner metaphysischen, moralischen und religiösen Gesinnung komplettiert. Die in der Auseinandersetzung mit den gebildeten Verächtern bisher nur negativ eingeforderte Selbständigkeit der Religion wird damit in der zweiten Rede durch die Beschreibung ihrer Gleichursprünglichkeit mit Metaphysik und Moral positiv dargestellt.87 83  „So setzt der Mensch dem Endlichen, wozu seine Willkühr ihn hintreibt ein Unendliches, dem zusammenziehenden Streben nach etwas Bestimmtem und Vollendetem das erweiternde Schweben im Unbestimmten und Unerschöpflichen an die Seite; so schafft er seiner überflüßigen Kraft einen unendlichen Ausweg, und stellt das Gleichgewicht und die Harmonie seines Wesens wieder her, welche unwiderbringlich verloren geht, wenn er sich, ohne zugleich Religion zu haben, einer einzelnen Direktion überläßt.“ (KA I/2, 239,16–23) 84  KGA I/2, 212,16. 85  In diesem Sinne ist Ringleben zuzustimmen, der festhält, dass die Religion „das Prinzip ihrer Genese in sich“ selbst enthält. „Der Weg zu einem neuen Verständnis ihres Wesens ist somit auch der Weg der sich selbst hervorbringenden Religion selber“, Ringleben, „Die Reden über die Religion“, 242. 86  Vgl. dazu Wagner, Was ist Religion?, 61: „Selbständigkeit und autonome Selbstexplikation der Religion sind nur dann gewährleistet, wenn der Religion wie schon der Metaphysik und Moral ein eigenständiges menschliches Vermögen zuerkannt werden kann.“ 87  Philosophiegeschichtlich grenzt sich Schleiermacher mit seiner Feststellung der Gleichursprünglichkeit von Metaphysik, Moral und Religion zudem implizit von dem Religionsverständnis Kants ab. Kant zufolge gilt: „Religion ist […] das Erkenntniß aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote“. (Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft,

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Aus der Gleichursprünglichkeit der Gemütsvermögen folgt nach Schleier­ macher zudem ihre Gleichwertigkeit. Jedes der drei Gemütsvermögen besitzt aufgrund des ihm eigentümlichen Charakters in seiner Bezugnahme auf das Universum einen eigenständigen Leistungsbereich bzw. ein „eigenes Gebiet“88 , in dem es Autonomie beansprucht. Dementsprechend richtet sich Schleiermachers kritischer Religionsbegriff nicht nur gegen eine inhaltliche Vermischung der Religion mit Metaphysik und Moral, sondern auch gegen eine Übergriffigkeit der Religion selbst. Die Religion umfasst nicht das Ganze der menschlichen Lebensvollzüge, sondern als unmittelbares Bewusstsein des Universums ist ihr Leistungsbereich nur auf die ewige ontologische Grundordnung des Seins insgesamt bezogen. Diese Grundordnung ist ihr darüber hinaus ursprünglich nicht in Begriffen, sondern in Anschauungen und Gefühlen gegeben. Dementsprechend hat sie sich aus der inhaltlichen Einzelbestimmung von Natur- und Freiheitsgesetzen, die durch das begrifflich vermittelte Bewusstsein vorgenommen werden, strikt herauszuhalten und sowohl den autonomen Leistungsbereich der Metaphysik89 und Moral90 zu respektieren als auch deren eigentümlichen Wert anzuerkennen. Schleiermachers kritischem Religionsbegriff zufolge führt eine inhaltliche Einmischung eines der Gemütsvermögen auf die jeweiligen Lei­ stungsbereiche der anderen aber nur dazu, die Autonomie dieser anderen Lei­ stungsbereiche auf heben, sondern beeinträchtigt auch den Autonomiestatus des übergriffigen Gemütsvermögens selbst. Dies hat sich im Fall der Metaphysik und Moral bereits in Schleiermachers Auseinandersetzung mit den gebildeten Verächtern gezeigt. Es gilt aber auch für die Religion. Eine Religion, die sich anmaßt offene Fragen der Metaphysik AA VI, 153) Nach Schleiermacher wird die Religion auf diese Weise von Kant als ein konstitutives Moment innerhalb der Ethik angesehen. Die Religion wird damit als Funktion in die Grenzen der praktischen Vernunft eingeordnet. Vgl. dazu Meckenstock, Deterministische Ethik, 223; Mariña, J., „Schleiermacher on the Philosopher’s Stone. The Shaping of Schleiermacher’s Early Ethics by the Kantian Legacy“, The Journal of Religion 79/2 (1999), 193–215 und Cramer, „‚Anschauung des Universums‘“, 126: „Aber seine [Kants, C. K.] kritizistische Begrenzung des Theorieanspruchs hatte – so Schleiermacher – keineswegs zur Freisetzung der Verfassung des religiösen Bewußtseins und seiner von allem Wissen und Tun unterschiedenen Bedeutsamkeit geführt, sondern in Kants ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ nur zu einer neuen Moraltheologie auf der Grundlage einer Postulatenlehre der reinen praktischen Vernunft, die Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als Forderungen aufgestellt hatte, die das moralische Bewußtsein zum Zwecke der Verständigung über sich selbst als unumgänlich ansehen muß, und schließlich zu einer Religion eben bloß innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft geführt.“ 88  KGA I/2, 212,16. 89  „In dieses Gebiet [der Metaphysik, C. K.] darf sich also die Religion nicht versteigen, sie darf nicht die Tendenz haben Wesen zu sezen und Naturen zu bestimmen, sich in ein Unendliches von Gründen und Deductionen zu verlieren, lezte Ursachen aufzusuchen und ewige Wahrheiten auszusprechen.“ (KGA I/2, 208, 19–23) 90  „Auch das darf also die Religion nicht wagen, sie darf das Universum nicht brauchen um Pflichten abzuleiten, sie darf keinen Kodex von Gesezen enthalten.“ (KGA I/2, 208,26 ff.)

§  6  Hypothese

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inhaltlich zu beantworten, oder ein allgemeinverbindliches ethisches System der Pflichten aus einem Gottesbegriff inhaltlich abzuleiten, ordnet ihrem eigenen Leistungsbereich denjenigen der Metaphysik und Moral unter und bestreitet damit deren Möglichkeit zur autonomen Selbstkonstitution. Zugleich lässt sie sich damit auf das begrifflich-diskursive Verfahren der Metaphysik und Moralwissenschaft ein und verliert folglich ebenso ihren autonomen Status, der allein auf ihrem unmittelbaren Bewusstsein des Universums gründet.91 Somit schließt Schleiermachers kritischer Religionsbegriff jegliche inhaltliche Ein­ mischung und Übergriffigkeit der drei Gemütsvermögen auf die autonomen Leistungsbereiche der jeweils anderen kategorisch aus. Allerdings ist Schleiermachers soeben dargestellte vermögentheoretische Koordination der drei Gemütsvermögen in einer Hinsicht noch als defizitär zu beurteilen. Er hat zwar gezeigt, dass Metaphysik, Moral und Religion der Gesinnung nach gleichursprünglich sind und dementsprechend hinsichtlich ihrer gleichwertigen Leistungsbereiche Autonomie beanspruchen können. Jedoch hat er ihr Zusammenspiel bislang nur äußerlich beschrieben. Es blieb außer Acht, ob und inwiefern auch unabhängig von einer inhaltlichen Einmischung zwischen den Gemütsvermögen selbst interne Wechselbeziehungen aufeinander bestehen. Dieser Frage wird im nächsten Abschnitt (2.) nachgegangen. 2.  Funktionstheoretische Superordination der Religion gegenüber Metaphysik und Moral In den Abschnitten KGA I/2, 207,17–27; 212,22–31; 213,9–33 thematisiert Schleiermacher die Frage, inwiefern es trotz der Unterschiedenheit und inhaltlichen Autonomie der drei Gemütsvermögen eine interne Bezugnahme derselben aufeinander gibt. Den Hintergrund dieser Frage bildet das in den Reden implizite Problem, wie sich die menschliche Subjektivität als Einheit ihrer unterschiedenen Gemütsvermögen begreifen lässt. Im Anschluss an Schleiermachers vermögenstheoretische Koordination der drei Gemütsvermögen konnte es bislang noch so scheinen, als ob Metaphysik, Moral und Religion nicht nur unabhängig voneinander, sondern sogar strikt getrennt voneinander operierten. Diesem Anschein nach besteht keinerlei interne Wechselwirkung zwischen den

91  KGA I/2, 220,6–17. Vgl. Wagner, Was ist Religion?, 60: „Metaphysik und Moral müssen aufgrund ihres eigenen Wesens ohne Religion auskommen, weil eine durch Religion geförderte Metaphysik die Notwendigkeit theoretischer Selbstkonstitution erweichte und eine durch Religion unterstützte Moral deren Selbstgesetzgebung heteronom überfremdete. Theorie und Praxis werden also nur dann nicht verfehlt, wenn sie jeweils als selbständige Aktivitäten anerkannt werden. Das muß dann jedoch auch für die Religion in entsprechender Weise gelten. Soll sie aus einer Verbindung von Metaphysik und Moral erklärt werden, so werden mit ihr selbst auch Metaphysik und Moral um ihre Selbständigkeit gebracht.“

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

drei Gemütsvermögen und jedes Gemütsvermögen bildet im strengen Sinne eine in sich und von den anderen abgeschlossene Provinz.92 Eine derartige Vorstellung von einer strengen „Provinzialisierung“93 des menschlichen Gemüts hätte verheerende Folgen für Schleiermachers Subjek­ tivitätstheorie insgesamt. Eine strikte Trennung von Metaphysik, Moral und Religion führt dazu, dass ein menschliches Subjekt nichts anderes darstellt als die Summe seiner metaphysischen, moralischen und religiösen Vollzüge. Es bildet mithin keine wahre innere Einheit seiner eigenen Vollzüge, sondern nur ein äußeres Aggregat seiner getrennt vollzogenen Leistungen. Und selbst das wäre schon zu viel gesagt, weil die Vorstellung ihrer strikten Trennung voneinander jede wie auch immer geartete Bezugnahme der drei Gemütsvermögen aufeinander kategorisch ausschließt. Demzufolge wäre selbst dieser äußere Aggregatszustand instabil. Denn, falls in den drei Gemütsvermögen selbst kein Bestreben zu einer Bezugnahme aufeinander besteht, gibt es keinen Grund, in dem ihnen zugrunde liegenden Subjekt überhaupt ein Bestreben zu ihrer äußeren Vereinigung anzunehmen. Vielmehr muss in diesem Fall gerade umgekehrt das Subjekt darauf aus sein, diese gewaltsame, äußere Vereinigung der drei Gemütsvermögen grundsätzlich aufzulösen. Als Ergebnis der strikten Trennung der drei Gemütsvermögen steht eine in drei getrennte Teile aufgespaltene Subjektivität. Die strenge Provinzialisierung der drei Gemütsvermögen führt demnach letztlich zu einer strikten Dreiteilung der menschlichen Subjektivität selbst, wobei im eigentlichen Sinne nicht mehr von der einen Subjektivität des Menschen zu sprechen wäre, sondern vielmehr von quasi drei Subjektivitäten jedes Menschen. Damit wäre Schleiermachers Subjektivitätstheorie prinzipiell als gescheitert anzusehen. Er hätte es aufgrund der strikten Trennung von Metaphysik, Moral und Religion nicht vermocht, zu zeigen, wie es möglich ist, dass die drei Gemütsvermögen unabhängig voneinander operieren und dennoch als Leistungen eines ungeteilten und einheit­ lichen Subjekts fungieren. Dieses Problem hat auch Meckenstock im Blick: Bei der ziemlich vermittlungslosen Nebenordnung der Religion neben Metaphysik und Moral wird die Selbständigkeit der Religion durch die Provinzialisierung der Subjektivität erreicht; die Subjektivität wird aber nicht als vermittelte Einheit begriffen, die Religion nicht als Einheitsmoment dieser Vermittlung. Die für Religion reklamierte Lebenseinheit steht als Motiv unverbunden neben dem der Selbständigkeit. […] Latent deutet sich hier schon der Konflikt an zwischen einer umfassenden Deutung der Reli-

92 Vgl. Ringleben, „Die Reden über die Religion“, 240: „Was stets als besondere Errungenschaft von Schleiermachers Religionsbegriff gerühmt wird: die Entdeckung ihrer Eigenständigkeit gegenüber Moral und Metaphysik – sie ist von ihm, was man seltener bemerkt hat, als ihr ursprüngliches Sich-Abstoßen gegenüber jenen gedacht worden: ihre Selbständigkeit als Verselbständigung.“ 93 Gegen Meckenstock, „Auseinandersetzung“, 35 (kursiv, C. K.).

§  6  Hypothese

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gion im Sinne der Letztbegründung […] und ihrer unterscheidenden Deutung im Sinne einer spezifischen Lebensartikulation.94

Meine These besteht erstens darin, dass sich Schleiermacher in den Reden keiner strengen „Provinzialisierung“ des Gemüts schuldig macht, sondern die menschliche Subjektivität als vermittelte Einheit seiner Gemütsvermögen auffasst. Ihm zufolge stehen sich Metaphysik, Moral und Religion nicht als strikt voneinander getrennte Gemütsvermögen gegenüber, sondern sie besitzen als spezifische Funktionen des einen und ungeteilten menschlichen Subjekts eine interne Bezugnahme aufeinander.95 Die bisher dargestellte vermögenstheoretische Koordination der Gemütsvermögen, in der es um die Gleichursprünglichkeit ihrer Gesinnungen und die Gleichwertigkeit ihrer Leistungsbereiche ging, muss somit durch eine funktionstheoretische Beschreibung der Gemütsvermögen, in der es um ihre relative Bezugnahme aufeinander geht, ergänzt werden. Zweitens ergibt sich meines Erachtens in den Reden kein Konflikt zwischen einer umfassenden Deutung der Religion als Letztbegründung und ihrer Deutung als spezifischer Lebensäußerung. Die Deutung der Religion als Letztbegründung ist schlicht falsch. Die Pointe von Schleiermachers Religionsbegriff besteht vielmehr darin, dass die Religion als spezifische Lebensäußerung zugleich eine funktionstheoretische Sonderstellung im Ensemble der menschlichen Gemütsvermögen einnimmt. Diese Sonderstellung ist keineswegs als Letztbegründung der anderen Gemütsvermögen aufzufassen, in dem Sinne, dass Moral und Metaphysik für sich genommen grundlos sind und ihre Legitimation erst durch eine inhaltliche Bezugnahme auf die Religion gewinnen. Einen derartigen Standpunkt hatte Schleiermacher bereits in der ersten Rede96 und zu Beginn der zweiten Rede ausgeschlossen.97 Vielmehr stellt die Religion nach Schleiermacher nur den formalen Bezugsrahmen bereit, innerhalb dessen Metaphysik und Moral adäquat vollzogen werden können. Die Letztbegründung von Metaphysik und Moral erfolgt nicht durch die Religion, sondern durch das Universum selbst, welches den Menschen geschaffen und ihn mit diesen Vermögen ausgestattet hat. Der Religion ist nur das Bewusstsein von diesem Letztbegründungszusammenhang eigentümlich. Aus diesem Grund stellt sie nicht selbst direkt die Letztbegründung von Metaphysik und Moral dar, sondern kann die Letzteren nur indirekt auf dieselbe 94 

Meckenstock, „Auseinandersetzung“, 35. Sachverhalt ist von Schleiermacher bereits in seinem Gedankenheft von 1797/98 klar festgehalten: „Im Ich bildet sich alles organisch und alles hat seine Stelle.“ (KGA I/2, 109,1 f.) 96  „Auch herrschen möchte sie nicht in einem fremden Reiche; denn sie ist nicht so eroberungssüchtig das ihrige vergrößern zu wollen. Die Gewalt, die ihr gebührt, und die sie sich in jedem Augenblik aufs neue verdient, genügt ihr, und ihr, die alles heilig hält, ist noch vielmehr das heilig, was mit ihr gleichen Rang in der menschlichen Natur behauptet.“ (KGA I/2, 204,2–7) 97  KGA I/2, 210,7–11. 95  Dieser

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

aufmerksam machen, indem sie ihnen die Möglichkeitsbedingungen und Grenzen ihres jeweiligen Leistungsbereichs aufzeigt. Die Religion bildet folglich weder das „Einheitsmoment“ der Subjektivität selbst, noch stiftet sie es, sondern sie ist nur ein spezifisches Bewusstsein dieser Einheit, nämlich das Bewusstsein von dem jedem Menschen durch das Universum notwendig vorgegeben Wechselverhältnis zwischen Denken, Handeln, Anschauen und Fühlen. Nach Schleiermacher wird der Mensch folglich nicht erst durch Religion zu einem ein­ heitlichen Subjekt gemacht, sondern die Religion qualifiziert den Menschen vielmehr zu einem angemessenen Verhalten gemäß dieser Einheit.98 Diese beiden soeben kurz dargestellten Thesen sollen im Folgenden nach­ seinander näher erläutert werden (2.1.). Anschließend wird Schleiermachers Terminus des „höheren Realismus“ erläutert (2.2.) und abschließend eine Zusammenfassung der vermögenstheoretischen Koordination und funktionstheoretischen Superordination der Religion gegeben (2.3.). 2.1.  Die menschliche Subjektivität als vermittelte Einheit ihrer Gemütsvermögen Dass Schleiermacher die menschliche Subjektivität als vermittelte Einheit ihrer Gemütsvermögen begreift, zeigt sich deutlich zu Beginn der zweiten Rede in der Charakterisierung des seelischen Zustands seiner gegenwärtigen Zeit: Es ist Euch ja bekannt, wie jetzt alles voll ist von harmonischer Ausbildung, und eben diese hat eine so vollendete und ausgebreitete Geselligkeit und Freundschaft innerhalb der menschlichen Seele gestiftet, daß jetzt unter uns keine von ihren Kräften, so gern wir sie auch abgesondert denken, in der That abgesondert handelt, sondern bei jeder Verrichtung sogleich von der zuvorkommenden Liebe und wohltätigen Unterstüzung der Andern übereilt und von der Bahn etwas abgetrieben wird, so daß man sich in dieser gebildeten Welt vergeblich nach einer Handlung umsieht, die von irgend einem Vermögen des Geistes, es sei Sinnlichkeit oder Verstand, Sittlichkeit oder Religion, einen treuen Ausdruk abgeben könnte.99

98 Gegen Graf, „Koinzidenz“, 168; 177 und gegen Albrecht, Frömmigkeit, 189 (kursiv, C. K.): „Die Pointe der Rede von „Anschauung“ und „Gefühl“ besteht also nicht darin, daß durch die genannten Begriffe spezifisch religiöse Sonder- und Einzelfunktionen ausgedrückt werden, sondern vielmehr darin, daß in dem Korrelatsverhältnis von Anschauung und Gefühl das wechselseitige Qualifikationsverhältnis von Subjektivität und Objektivität als das Wesen der Religion behauptet wird. Dieses Wesen besteht darin, daß die für alles Wissen und Wollen fundamentalen Kategorien der Objektivität und Subjektivität im religiösen Akt erschlossen und im religiösen Leben beansprucht werden.“ Aufgrund seines rein formalen Religionsbegriffs stellt die Religion nach Albrecht folglich „die reine formale Möglichkeit von Korrelativität überhaupt“ dar, (a.a.O., 194). Vgl. auch Ders., „Die Ermöglichung von Korrelativität: Religion als ‚Anschauung und Gefühl‘ in Schleiermachers zweiter Rede“, in: N. F. M. Schreurs (Hg.), „Welche unendliche Fülle offenbart sich da…“. Die Wirkungsgeschichte von Schleiermachers „Reden über die Religion“, Papers read at the Symposium of The Theological Faculty Tilburg, Tilburg 15 April 1999, Assen 2003, 45–60, hier zentral: 55. 99  KGA I/2, 207,17–27.

§  6  Hypothese

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Keineswegs bewertet Schleiermacher diese sog. „Freundschaft“ der menschlichen Seelenkräfte als etwas Negatives. Dies zeigt sich unmissverständlich, indem er fortfährt: Seid deswegen nicht ungehalten, und deutet es nicht als eine Geringschäzung der Gegenwart, wenn ich Euch öfters der Anschaulichkeit halber in jene kindlichen Zeiten zurükführe, wo in einem unvollkommneren Zustand noch alles abgesonderter und einzelner war.100

Die Absonderung bzw. strikte Trennung der menschlichen Seelenkräfte voneinander wird dem Zitat zufolge als ein „unvollkommener Zustand“ beschrieben. Genauer: Als ein abstrakter Zustand, auf den er nicht deshalb Bezug nimmt, weil er das wahre Verhältnis der Seelenkräfte zueinander darstellt, sondern weil es nur auf diesem Wege möglich ist, den religiös ungebildeten Verächtern überhaupt ein Bewusstsein für die eigenständigen Leistungen der Religion zu eröffnen.101 Die konkrete Struktur der menschlichen Seele besteht darin, dass „keine von ihren Kräften, so gern wir sie auch abgesondert denken, in der That abgesondert handelt“102 . Dieses konkrete bzw. wahre Verhältnis der menschlichen Seelenkräfte zueinander gilt selbstverständlich auch für die höchsten Gemütsvermögen des Menschen: Metaphysik, Moral und Religion. Obwohl Schleiermacher sie zunächst in ihrer Eigenständigkeit präsentiert, d.h. „ihr eigenes Gebiet und ihren eigenen Charakter“103 herausarbeitet, ist er dennoch der Ansicht, dass sie im konkreten Lebensvollzug nicht getrennt voneinander, sondern vielmehr als eigentümliche Funktionen eines einheitlichen Subjekts mit Bezugnahme aufeinander operieren. Worin zeigt sich nach Schleiermacher diese relative Bezugnahme der drei Gemütsvermögen aufeinander? Und welche Rolle spielt darin die Religion? Zunächst geht aus dem Text der Reden eindeutig die Bedeutung der Religion für Metaphysik und Moral hervor. Schleiermacher zufolge stellt die Religion nicht nur ein äußeres Ergänzungsstück zum Verständnis des Menschen im Universum dar, sondern sie bildet auch ein gemütsinternes „Gegengewicht“104 zu den metaphysischen und moralischen Lebensvollzügen. Die Metapher des religiösen

100 

KGA I/2, 207,28–31 (kursiv, C. K.). auch KGA I/12, 56,9–17: „Eben weil Ihr die Trennung, die ich nur für die Betrachtung gelten lasse, wo sie nothwendig ist, für diese zwar gerade verschmäht, dagegen aber auf das Leben sie übertragt, als ob das, wovon wir reden, im Leben selbst getrennt könnte vorhanden sein und unabhängig Eines vom Andern; deshalb eben habt Ihr von keiner dieser Thätigkeiten eine lebendige Anschauung, sondern es wird Euch jede ein Getrenntes, ein Abgerissenes, und Eure Vorstellung ist überall dürftig, das Gepräge der Nichtigkeit an sich tragend, weil Ihr nicht lebendig in das Lebendige eingreift.“ 102  KGA I/2, 207,20 f. 103  KGA I/2, 212,16. 104  KGA I/2, 213,22. 101  Vgl.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

„Gegengewichts“ kennzeichnet die kritische Bezugnahme der Religion auf Metaphysik und Moral.105 Den Grundgedanken bildet dabei folgende Ansicht: Spekulation und Praxis haben zu wollen ohne Religion ist verwegener Übermuth, es ist freche Feindschaft gegen die Götter, es ist der unheilige Sinn des Prometheus, der feigherzig stahl, was er in ruhiger Sicherheit hätte fordern und erwarten können.106

Mit dem Hinweis auf den Göttersohn Prometheus wird die Funktion der Religion im Ensemble der Gemütsvermögen verdeutlicht: Eine angemessene Gesinnung von Metaphysik und Moral kann nur unter der Bedingung ihrer aktualen Bezugnahme auf die Religion bestehen. Fehlt diese Bezugnahme auf die Religion, machen sich Spekulation und Praxis, d.h. Metaphysik und Moral, analog zu Prometheus, des Frevels des Übermuts schuldig, indem sie es unternehmen, rein aus sich selbst, bzw. am Maßstab ihrer eigenen Erkenntnis- und Handlungsfähigkeiten, das Universum abschließend zu erklären oder abschließend zu bilden. Von dieser Seite setzt die Religion als Religiosität des menschlichen Subjekts den metaphysischen und moralischen Bestrebungen eine Grenze. Durch den Hinweis auf die Prometheussage kommt zugleich explizit zum Ausdruck, dass die Bezugnahme der Religion auf Metaphysik und Moral keineswegs deren jeweils autonome inhaltliche Entfaltung in Frage stellt. Denn so wie nach Schleiermachers Interpretation der Prometheussage das Verbrechen des Prometheus nicht prinzipiell darin bestand, von den Göttern das Feuer für die Menschen zu fordern, sondern vielmehr ausschließlich darin, dass er es ihnen in anmaßender Selbstüberschätzung seiner Macht gestohlen hat, ebenso besteht die Selbstüberschätzung der Metaphysik und Moral keineswegs darin, im Rahmen ihrer jeweils eigenen Leistungsbereiche autonom zu agieren, sondern vielmehr einzig darin, aufgrund ihrer fehlenden Bezugnahme auf die Religion ihren jeweiligen Leistungsbereich über die ihm vorgegebenen Grenzen hinaus eigenmächtig auszuweiten.107 Die kritische Grenzsetzung der Religion ist somit nicht als inhaltliche Ein­ mischung, sondern präzise als formale Begrenzung der Leistungsbereiche von Metaphysik und Moral aufzufassen.108 Religion stellt nach Schleiermacher si105  Diese

kritische Bezugnahme ist keineswegs als radikale Trennung zu verstehen. Gegen Süskind, Einfluß Schellings, 32 f.: „Hatte schon die Abhandlung über das höchste Gut den Kantischen Schluss auf die Existenz Gottes als einen Widerspruch mit der Autonomie des Sittlichen aufgelöst, so wird in den Reden mit derselben Begründung jede Verbindung der Ethik mit der Religion in der radikalsten Weise durchschnitten“. Auch gegen Lipsius, „Schleiermachers Reden“, 269. 106  KGA I/2, 212,22–26. 107  Schleiermachers Interpretation der Prometheussage zufolge liegt der Frevel des Prometheus nicht darin, etwas zu fordern, das ihm nicht zusteht, sondern vielmehr darin, etwas zu stehlen, das er hätte fordern können. 108  Vgl. auch Arndt, Schleiermacher als Philosoph, 252: „Weit davon entfernt, die Philosophie sein zu lassen, wie es die Unabhängigkeitsthese zunächst nahezulegen scheint, hat

§  6  Hypothese

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cher, analog zum göttlichen Gesetz der Prometheussage, dass der Mensch die adäquaten Leistungsbereiche von Metaphysik und Moral einhält und sie nicht eigenmächtig überschreitet. Ausgehend von Schleiermachers Analogie zwischen dem „unheiligen Sinn“109 des Prometheus und der Religionslosigkeit einer sich selbst überschätzenden Metaphysik bzw. Moral kann man somit zunächst festhalten: Die gemütsinterne Funktion der Religion besteht darin, eine Depravation der moralischen und ­metaphysischen Gesinnung zu verhindern. Worin besteht und auf welche Weise äußert sich eine Depravation von Metaphysik und Moral? Prinzipiell überscheiten Metaphysik und Moral ihre Leistungsbereiche, wenn sie es unternehmen, ihre eigenen Erzeugnisse an die Stelle des Universums selbst zu setzen. Hierin erkennen sie nicht, dass sie als vermittelte und dementsprechend bloß endliche Bewusstseinsweisen an Rahmenbedingungen gebunden sind, die sie nicht selbst produziert haben. Sowohl der Metaphysik als auch der Moral sind nach Schleiermacher die Sachverhalte ihres Denkens und Handelns durch das Universum notwendig vorgegeben. Eine adäquate Ausübung von Metaphysik und Moral muss sich dieser unhintergehbaren Vorgegebenheit von nicht selbst produzierten Sachzusammenhängen stets bewusst sein. Die Metaphysik und Moral eines Menschen erleiden sonst nach Schleiermacher einen fatalen Realitätsverlust.110 Dieser äußert sich darin, dass eine depravierte Metaphysik in ein „leeres Spiel mit Formeln“111 abgleitet, denen „nie etwas entsprechen wollte“112 und eine depravierte Moral sich auf die „armselige Einförmigkeit“ nur eines „einzigen Ideals“113 versteift, welches sie „überall unterlegt“114. Die Metaphysik überschreitet mithin eigenmächtig ihren Leistungsbereich, wenn sie der trügerischen Annahme erliegt, ihr endliches Wissen vom Universum für das Universum selbst zu halten. Sie ist nach Schleiermacher von der Gefahr bedroht, dass der von ihr angestrebte „Triumph der Spekulation“115 in sein Gegenteil umschlägt116 , und sie anstatt das Universum zu erkennen, dasselbe zu „einer bloßen Allegorie, zu einem nichtigen Schattenbilde [ihrer] eigenen Beschränktheit“117 herabwürdigt. Schleiermacher die Philosophie vielmehr von Seiten der Religion und Theologie schon immer äußerlich begrenzt.“ 109  KGA I/2, 212,24. 110  Vgl. dazu auch Herms, Herkunft, 228 und Meckenstock, Deterministische Ethik, 227. 111  KGA I/2, 213,11. 112  KGA I/2, 213,12. 113  KGA I/2, 213,2. 114  KGA I/2, 213,3. 115  KGA I/2, 213,20. 116  „Geraubt hat der Mensch nur das Gefühl seiner Unendlichkeit und Gottähnlichkeit, und es kann ihm als unrechtes Gut nicht gedeihen“, KGA I/2, 212,26 f. 117  KGA I/2, 213,24 ff.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Die Moral überschreitet ihren Leistungsbereich, wenn sie sich dem Irrtum hingibt, in der dem Menschen vom Universum vorgegebenen Individualität nur eine zufällige und äußere Bestimmung seines Charakters zu sehen, die es demzufolge gilt, mit Hilfe von selbst aufgestellten Pflichten und Regeln auf ein allgemeinverbindliches Ideal zurecht zu stutzen. Hiermit verkennt sie, dass nicht sie selbst den Menschen allererst schafft, sondern ihn als „etwas heiliges aus der Hand“118 des Universums empfängt. In ihrem Irrtum, das von ihr temporär favorisierte Bildungsideal als die universale Bildungsgestalt des mensch­ lichen Lebens insgesamt anzusehen, steht sie nach Schleiermacher ständig in der Gefahr, die unhintergehbare Vielfältigkeit der menschlichen Charaktere auf das bloße Schattenbild einer inhaltsleeren Uniformität zu reduzieren. Dass Schleiermacher unter dem Einfluss von Kant und Fichte selbst diesen Standpunkt noch einige Jahre vor den Reden und Monologen vertreten hat, zeigt sowohl die Notiz Nr.  15119 in seinem frühen Gedankenheft als auch der spätere Kommentar in den Monologen, der sich auf diese Zeit bezieht120. Weshalb und inwiefern kann die Religion aber eine Depravation von Metaphysik und Moral verhinder? Nach Schleiermacher kommt der Religion im Ensemble der menschlichen Gemütsvermögen, wie gezeigt, eine funktionstheoretische Sonderstellung zu. Weil sie über ein unmittelbares Bewusstsein des Universums verfügt, vermag sie als einziges Gemütsvermögen adäquat zwischen den Produkten des menschlichen Geistes und dem Universum selbst zu unterscheiden. Sie ist sich unmittelbar der vorgegebenen Struktur des Universums im Ganzen bewusst und kann daher beurteilen, ob und inwiefern metaphysische Spekulation und moralische Praxis dieser Struktur entsprechen. Diese von der Religion erfasste allgemeine ontologische Grundstruktur des Universums wird von Schleiermacher so beschrieben, dass ihr zufolge „alles Einzelne als Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen“121 existiert. Weil dieses religiöse Bewusstsein nur die allgemeine ontologische Grundstruktur des Universums erfasst und es darüber hinaus nur in Form von präreflexiven Anschauungen und prävoluntativen Gefühlen vorliegt, kann und darf es zwar keineswegs aus sich selbst, quasi auf direktem Wege, eine bestimmte 118 

KGA I/2, 213,1. „15. Es gibt nur zwei Tugenden[:] 1.) Die philosophische Tugend oder die reine Menschenliebe. D.i. das Bestreben das Ich absolut zu sezen, die Menschheit zu machen und zu erhöhen. 2. Die heroische Tugend oder die reine Freiheitsliebe. D.i. das Bestreben dem Ich überall die Herrschaft über die verbundene Natur zu sichern.“ (KGA I/2, 9,9–13) 120  „Lange genügte es auch mir nur die Vernunft gefunden zu haben; und die Gleichheit des Einen Daseins als das Einzige und Höchste verehrend glaubte ich, es gebe nur Ein Rechtes für jeden Fall, es müsse das Handeln in Allen dasselbe sein, und nur wiefern doch jedem seine eigne Lage, sein eigner Ort gegeben sei, unterscheide sich Einer vom Andern. Nur in der Mannigfaltigkeit der äußern Thaten offenbare sich verschieden die Menschheit; der innere Mensch, der Einzelne sei nicht ein eigentümlich gebildet Wesen, sondern überall ein jeder an sich dem andern gleich.“ (KGA I/12, 343,16–24) 121  KGA I/2, 214,14 f. 119 

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Metaphysik oder Moral ableiten, es ist ihm aber möglich, den formalen Bezugsrahmen jeder Art von Metaphysik und Moral zu erfassen und somit, quasi auf indirektem Wege, der Irrtümer und Trugschlüsse bestimmter Metaphysik- und Moralkonzeptionen gewahr zu werden und diese aufzudecken. Die Religion generiert nach Schleiermacher also nicht inhaltlich die Leistungsbereiche der Metaphysik und Moral, sondern sie konstatiert vielmehr bloß deren formale Vorgegebenheit durch das Universum und eröffnet ihnen dadurch den Spielraum zur adäquaten Ausübung ihrer jeweils autonomen Aufgaben.122 Im Detail beschreibt Schleiermacher so, dass die Religion im Fall der Moral, ihre oben zitierte Einsicht, dass „alles Einzelne als Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen“ existiert, als formalen Bezugsrahmen für deren gestaltendes Handeln am Universum und speziell am Menschen123 festhält. Weil der Religion in dieser Einsicht unmittelbar erschlossen wurde, dass „Mannichfaltigkeit und Individualität“124 nichts zufälliges darstellen, sondern vielmehr der Ausdruck der allgemeinen ontologischen Grundstruktur des Universums selbst sind, ist ihr zugleich bewusst, dass diese Einsicht auch für das Verhältnis zwischen der menschlichen Individualität und der Menschheit insgesamt gilt und somit den formalen Bezugsrahmen für die moralische Bildungsaufgabe des Menschen darstellt.125 Indem die Religion jeden einzelnen Menschen in seiner beschränkten Individualität als konstitutiven Teil der Menschheit insgesamt und als spezifische Darstellung der Menschheit selbst auffasst, hält sie in ihrer Bezugnahme auf die Moral diese auf der einen Seite davon ab, mit ihren trügerischen Vorstellungen von nur einem einzigen Bildungsideal die Realität der menschlichen Natur zu verfehlen und eröffnet ihr auf der anderen Seite das adäquate Feld für ihre autonome Betätigung, jeden Menschen unter Einschluss seiner Individualität zum Bewusstsein der Mensch122  Vgl. auch Seifert, Theologie, 94 f. „Aus diesen Abgrenzungen jedoch auf eine Isolierung der Religion von der Moral schließen zu wollen, ist unberechtigt. Die Religion erschließt erst das volle Menschtum, so auch das ‚eigentliche Handeln‘, das moralisch sein soll. Schleiermacher bringt das Verhältnis auf die Formel, man solle mit Religion handeln, nicht aus ihr. […] Indem also ‚die Religion‘ das Quellgebiet erschließt, in dem alle Funktionen des Lebens Ursprung und Verbindung haben, bestimmt sie den totus homo in seinem ganzen Leben, ohne direkt in die Selbständigkeit der anderen Bezirke eingreifen zu wollen.“ 123  KGA I/2, 212,35 ff. 124  KGA I/2, 213,4 f. 125  Denn so wie nach Schleiermacher für das Universum insgesamt gilt, dass in ihm „alles Endliche nur durch die Bestimmung seiner Gränzen [besteht], die aus dem Unendlichen gleichsam herausgeschnitten werden müßen.“ (KGA I/2, 213,5 ff.) So gilt auch für den Menschen als Teil des Universums, dass er nur in individueller Form existiert, welche jeweils eine spezifische Manifestation der der Menschheit insgesamt möglichen Individualitätsformen darstellt. Aufgrund dieser ontologischen Bedingung der menschlichen Existenz kann somit eine moralische Bildung formal auch nur „innerhalb dieser Gränzen“, d.h. im Rahmen der einem Menschen jeweils vorgegebenen Individualität erfolgen, denn „sonst verliert Ihr alles in der Gleichförmigkeit eines allgemeinen Begrifs.“ (KGA I/2, 213,7 ff.)

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

heit zu bilden126 , oder wie es die Monologen treffend formulieren: „[…] jeder Mensch [soll] auf eigne Art die Menschheit darstellen, in eigner Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sie sich offenbare, und Alles wirklich werde in der Fülle des Raumes und der Zeit, was irgend verschiedenes aus ihrem Schooße hervorgehn kann.“127 Die Religion vermag nach Schleiermacher folglich die Depravation der Moral zu verhindern, indem sie ihr die vom Universum vorgegebene menschliche Individualität als formalen Bezugsrahmen ihrer Vollzüge präsentiert. Hierdurch stellt die Religion den Realitätsbezug der Moral sicher und eröffnet ihr folglich die Möglichkeit, innerhalb des ihr formal vorgegebenen Rahmens auf adäquate Weise inhaltlich autonom zu verfahren.128 126 Meckenstock,

Deterministische Ethik, 227. KGA I/12, 344,16–20. Die Reden und die Monologen präzisieren auf diese Weise einerseits frühe Grundansichten Schleiermachers, die sich bei ihm im Zusammenhang seiner Geselligkeitstheorie gebildet hatten. Siehe dazu insbesondere Gedanken I, Nr.  112b: „Man muß das Bild der ganzen Gesellschaft seyn und doch ein Individuum“. (KGA I/2, 29,15 f.) Vgl. auch die zentralen Gedanken aus seinem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (KGA I/2, 165,17–25). Andererseits nehmen sie bereits das Zentralanliegen von Schleiermachers späterer Ethikkonzeption vorweg, demzufolge „das Princip des Individualisierens in der Sittlichkeit selbst“ zu liegen hat (Schleiermacher, Brouillon, 48,15–49,1). Im Zusammenhang mit der behandelten Stelle aus den Reden ist hierbei insbesondere auf Schleiermachers „Achtundzwanzigste Stunde“ in seinem ethischen Brouillon hinzuweisen (a.a.O., 46,10–49,3). Hier systematisiert Schleiermacher seine Kritik gegen diejenigen Moralkonzepte, welche, wie etwa die Fichtesche, Kantische oder Aristotelische Konzeption, der Individualität seines Erachtens keinen angemessenen Stellenwert einräumen. Nach Schleiermacher liegt der Irrtum dieser Moralkonzepte darin begründet, dass sie im Aufstellen ihrer moralischen Maximen von der jedem Menschen spezifisch vorgegebenen Individualität abstrahieren: „Bei diesem Abstrahiren gibt es nun eine zweifache Behandlung der Individualität. Entweder man sieht sie an als ein durch die Sittlichkeit zu Vernichtendes oder als ein ihr ganz Fremdes und Zufälliges, absolut Physisches.“ (A.a.O., 47,11–14) Von besonderer Bedeutung für die vorliegende Stelle der Reden ist die von Schleiermacher aufgezeigte erste Behandlung der Individualität, derzufolge sie als ein durch die Sittlichkeit zu Vernichtendes erachtet wird. Im Sinne der behandelten Stelle aus den Reden hält Schleiermacher in dem späteren Brouillon fest: „Das Erste drückt sich in seiner Vollkommenheit aus durch das Aufstellen Einer Norm für alle Menschen […]. Der nähere Grund hievon ist die Verwechslung der wahren natürlichen Eigenthümlichkeit mit der angewöhnten Einseitigkeit. Jene besteht in einem bestimmten Verhältnis der Organe und der Function, diese in einem besonderen Reiz einzelner Organe für einzelne Gegenstände. […] Die Gewöhnung als solche ist nun freilich etwas hinwegzuschaffendes, aber die Verwechslung derselben mit der organischen Prädetermination kann doch nur im Mangel richtiger Anschauung gründen.“ (A.a.O, 47,14–48,2 (kursiv, C. K.)) Dieses Verständnis Schleiermachers, die menschliche Individualität nicht als „angewöhnte Einseitigkeit“, sondern vielmehr als „organische Prädetermination“ anzusehen, bildet in der vorliegenden Stelle der Reden seine Argumentationsbasis, um positiv für eine Moralkonzeption einzutreten, welche die Individualität und die Mannigfaltigkeit menschlicher Charaktere berücksichtigt. 128  Vgl. hierzu bereits die Einschätzung Wehrungs: „Das Moralische bleibt etwas sui generis neben der Religion und ist doch von dieser umschlossen, von ihr zu neuer Höhe empor, sozusagen über die Sphäre bürgerlicher Nüchternheit hinausgehoben.“ (Wehrung, Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, 131). 127 

§  6  Hypothese

145

Im Fall der Metaphysik bildet die oben zitierte allgemeine ontologische Einsicht der Religion den formalen Bezugsrahmen für deren Erkenntnis des Universums. Indem sich der Mensch in der Religion bewusst wird, dass „alles Einzelne als Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unend­ lichen“ existiert, geht ihm auf, dass die Gesetzmäßigkeiten der Gegenstände seines Denkens nicht durch dieses selbst allererst hervorgebracht, sondern ihm vielmehr durch das Universum vorgegeben sind. In der Religion kommt dem Menschen zu Bewusstsein, dass nicht der menschliche Geist selbst die Dinge produziert, auf welche er sich erkennend bezieht, sondern, dass vielmehr umgekehrt das Universum die Sphäre schafft, innerhalb deren der menschliche Geist zu einer Erkenntnis der Dinge befähigt ist. Schleiermacher verdeutlicht diese Überlegungen in den Reden durch seinen Hinweis auf einen sog. „höheren Realismus“, welche die Religion die Metaphysik „ahnden läßt“: Und wie wird es dem Triumph der Spekulation ergehen, dem vollendeten und gerundeten Idealismus, wenn Religion ihm nicht das Gegengewicht hält, und ihn einen höhern Realismus ahnden läßt als den, welchen er so kühn und mit so vollem recht sich unterordnet? Er wird das Universum vernichten, indem er es zu bilden scheint, er wird es herabwürdigen zu einer bloßen Allegorie, zu einem nichtigen Schattenbilde unserer eignen Beschränktheit.129

Schleiermachers Ausdruck des „höhern Realismus“ hat in der Forschungs­ literatur eine sehr umfangreiche und zum Teil widersprüchliche Interpretation gefunden, weshalb im Folgenden näher auf dieses Problemfeld eingegangen wird. 2.2.  Der „höhere Realismus“ der Religion Meines Erachtens lässt sich anhand des oben angegebenen Zitats zunächst erkennen, dass Schleiermacher zwei Bedeutungen des Ausdrucks „Realismus“ voneinander unterscheidet: Zum einen den sog. höheren Realismus, der von ihm dem spekulativen Idealismus übergeordnet wird und zum anderen einen Realismus, den sich der spekulative Idealismus seiner Ansicht nach zu Recht selbst unterordnet. Man kann diesen zweiten Realismus daher auch als „niedrigen“ bzw. schwachen Realismus bezeichnen. Schleiermacher gibt in den Reden zwar nicht explizit an, worin seines Erachtens dieser schwache Realismus besteht. Hält man sich aber an seine allgemeine Auffassung vom Idealismus, derzufolge in diesem eine Vereinigung der Gegensätze130 stattfindet, so kann im Hinblick auf die Reden und 129 

KGA I/2, 213,20–226. dazu Schleiermachers Rezension von Kants Anthropologie im Athenaeum der Schlegelbrüder von 1799. Hier wirft Schleiermacher Kant vor, durch die trennende Unterscheidung von menschlichem Leib und menschlicher Seele einem „verborgenen Realismus“ behaftet zu bleiben: „Der Mißverstand dieses in der Anthropologie zu vereinigenden Gegensatzes, vermöge dessen Kant die Natur in demselben durchaus auf das Körperliche bezieht, 130 Vgl.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

die Monologen festhalten werden, dass der schwache Realismus darin besteht, den menschlichen Geist und die äußere Welt voneinander zu trennen. Vor dem Hintergrund von Schleiermachers früher Polemik gegen die Kantische Erkenntnistheorie lässt sich vermuten, dass er sich mit seiner Abgrenzung von einem schwachen Realismus gegen die von Kant eingeführte epistemologische Dichotomie zwischen Erscheinung und Ding an sich richtet.131 Nach einer derartigen philosophischen Position kann es Schleiermacher zufolge zu keiner wirklichen Erkenntnis der äußeren Welt kommen, denn jeder Versuch mittels des menschlichen Geistes Wesensmerkmale in der Welt festzustellen, oder Gesetze für die Welt aufzustellen, erweist sich ihm zufolge nach dieser Theorie als mentale Projektion eigener Gesetzmäßigkeiten auf ein von diesen Gesetzmäßigkeiten unabhängiges Gebiet. Schleiermachers Version des höheren Realismus sieht sich also darin Kant überlegen, dass in ihr die menschliche Erkenntnis als prinzipiell phänomenal verfasst und dennoch als sachgerechtes Erfassen der Wirklichkeit begriffen wird.132 Das oben angeführte Zitat aus den Reden zeigt somit, dass Schleiermacher in seiner Ablehnung des niederen bzw. schwachen Realismus dem spekulativen Idealismus Recht gibt und damit selbst eine Position vertritt, welche dem Idealismus nahe steht. Diese These wird sowohl durch die schriftlichen Selbstzeugnisse Schleiermachers bestätigt, in welchen er seine Philosophie explizit als Idea­l ismus bezeichnet133 als auch durch Darstellungen seines idealistischen Standpunkts in den Monologen und Reden erhärtet: Die Philosophie den Menschen erhebend zum Begrif seiner Wechselwirkung mit der Welt […] wird nicht länger leiden, daß unter ihren Augen der seines Zweks verfehlend arm und dürftig verschmachte, welcher das Auge seines Geistes standhaft in sich gekehrt hält, dort das Universum zu suchen. Eingerißen ist die ängstliche Scheidewand, alles außer ihm ist nur ein andres in ihm, alles ist der Widerschein seines Geistes, so wie sein Geist der Abdruk von Allem ist.134

Schleiermacher teilt die Ansicht des philosophischen Idealismus, dass sich die Gesetze des menschlichen Geistes und der äußeren Welt entsprechen und dem auf den Leib und auf die geheimnißvolle Gemeinschaft des Gemüths mit demselben wird Niemand Wunder nehmen, man sieht aber hier mehr als sonst, wie das, was nur eine reine Vergötterung der Willkühr zu seyn scheint, im innersten Grunde sehr genau mit dem verborgenen Realismus zusammenhängt, dem Kant, nachdem er ihn selbst umgestürzt und zertrümmert hat, noch immer einen geheimen Baalsdient erweiset.“ (KGA I/3, 367,7–15) 131 „Wodurch wird nun Kant genöthigt oder auch nur veranlaßt, ein außerweltliches Ding als Ursach der Verstandeswelt anzunehmen? Weiß er denn ob überhaupt die Kategorie der Causalität auf die Noumena anwendbar ist? Weiß er ob jene Welt ein Bedingtes ist, wozu er ein Unbedingtes zu suchen braucht? Offenbar wird er durch nichts veranlaßt als durch einen inkonsequenten Rest des alten Dogmatismus.“ (KGA I/1, 570,33–38) Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Zweite Auflage, AA III, B 326. 132 Vgl. Meckenstock, Deterministische Ethik, 213–217; Herms, Herkunft, 177–186. 133  Vgl. KGA V/5, Nr.  1033,48 f. 134  KGA I/2, 264,3–10. Siehe zu dieser Stelle auch Grove, Deutungen, 221 f.

§  6  Hypothese

147

Menschen eine sachhaltige Erkenntnis der Welt möglich ist. Den entscheidenden Unterschied zur Position des Idealismus markiert seine implizite Frage, nach dem Grund dieser gegenseitigen Entsprechung bzw. nach den Möglichkeitsbedingungen des menschlichen Wissens. Durch den Hinweis auf einen religiös fundierten höheren Realismus, der dem „vollendeten und gerundeten Idealismus“ das „Gegengewicht“135 halten soll, wird von Schleiermacher aufgezeigt, dass ihm zufolge ein religionsloser Idealismus die Voraussetzungen des Entsprechungsverhältnisses zwischen dem menschlichen Geist und der äußeren Welt selbst nicht adäquat zu erfassen vermag. Nach Schleiermachers Ansicht verfehlt es der religionslose und sich „gerundete“ Idealismus, zu zeigen, worin die Möglichkeitsbedingungen des menschlichen Wissens beruhen. Das zeitgeschichtliche Setting der Reden macht es hierbei plausibel, dass sich Schleiermacher in seiner Kritik insbesondere auf den philosophischen Idealismus Fichtes bezieht, der seinen zeitgeschichtlich wirksamsten Ausdruck in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre136 gefunden hat.137 Fichte hat es mit 135 

KGA I/2, 213,20 ff. Fichte, J. G., Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre in: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften [=GA], hrsg. von R. Lauth/H. Jacob, Stuttgart-Bad Canstatt 1962 ff., GA I,2, 173–451. 137  Dass Schleiermacher sich schon zur Zeit der Reden mit Fichte beschäftigt hat, steht außer Frage. Äußerlich wird dies durch Schlegel bestätigt, der sich mit Schleiermacher traf um „zu Fichtisieren“. (Schlegel, Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Die Periode des Athenäums (25. Juli 1779–Ende August 1799), KFSA XXIV, 23) Zudem geht es auch aus Schleiermachers frühen Gedankenheften, die in dem Zeitraum zwischen 1796–1799 entstanden sind, hervor. Hierbei ist insbesondere auf Gedanken I, Nr.  15 (KGA I/2, 9,9–10,20), Nr.  18 (KGA I/2, 10,26–11,3) und Nr.  75 (KGA I/2, 23,4 f.) hinzuweisen. In diesen Zusammenhang kann auch Schleiermachers 1798 im Athenaeum veröffentlichtes Fragment Nr.  338 eingeordnet werden (KGA I/2, 148,21–28). Zugleich zeugen Schleiermachers Briefe im zeitlichen Umfeld der Reden, trotz einer Distanzierung aus persönlichen Gründen, von einer hohen sachlichen Wertschätzung Fichtes (vgl. KGA V/3, Nr.  758,24 ff.). In einem Brief von 1800 bezeichnet Schleiermacher Fichte sogar indirekt als „größte[n] speculative[n] Philosoph[en]“ (KGA V/4, Nr.  916,91 f.). In diesem allgemeinen Zusammenhang beurteilt Meckenstock das Verhältnis Schleiermachers zu Fichte wie folgt: „Schleiermachers Stellung zu Fichte ist der eines Kometen vergleichbar, der an einem Stern mit großer Masse verbeifliegt, sich von ihm nicht einfangen und zum Planeten machen läßt und sich dann immer weiter von ihm entfernt. Zur Zeit der poetisierenden Frühschriften ist Schleiermacher am Stärksten im Kraftfeld Fichtes, um dann fortschreitend zu immer schrofferen und ablehnenden Urteilen über ihn zu kommen.“ (Meckenstock, „Auseinandersetzungen“, 32) Vgl. zum allgemeinen Verhältnis zwischen Schleiermacher und Fichte auch Hirsch, Geschichte IV, 504–517 und Herms, Herkunft, 252–256. Ob Schleiermacher allerdings bei seiner Beschäftigung mit Fichte auch im Speziellen die Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre gelesen hat, ist indes in der Forschungsliteratur umstritten. In Bezug auf diese letzte Frage hält Meckenstock kategorisch fest: „Schleiermachers Gesprächspartner ist der Jenenser Fichte und der Fichte der populären Schriften. Mit Fichtes spekulativem Zentralstück, der Wissenschaftslehre, hat sich Schleier­ macher literarisch nicht auseinandergesetzt.“ (Meckenstock, „Auseinandersetzungen“, 33) Grove hingegen plausibilisiert auf überzeugende Weise die frühe Bekanntschaft Schleier­ machers mit diesem zentralen Fichtetext (vgl. Grove, Deutungen, 174; 202–204). Meine weitere Vorgehensweise setzt demnach historisch die frühe Bekanntschaft Schleiermachers mit 136 

148

Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

seiner Wissenschaftslehre unternommen, vor dem Hintergrund des Kantischen Kritizismus eine „Wissenschaft von der Wissenschaft überhaupt“138 aufzustellen, d.h. die Frage nach dem Umfang und den Möglichkeitsbedingungen des menschlichen Wissens zu beantworten. Schleiermachers Stellungnahme zur zeitgenössischen Philosophie kann also dahingehend präzisiert werden, dass er einerseits in der Überwindung des schwachen Realismus eine idealistische Position bezieht, die seines Erachtens den Anliegen Fichtes entspricht, sich andererseits innerhalb seines eigenen Idealismusverständnisses von Fichte abgrenzt, indem er diesem vorwirft, aufgrund einer religionslosen Gesinnung139 die Frage nach dem Grund des Entsprechungsverhältnisses zwischen menschlichem Geist und äußerer Welt inadäquat beantwortet zu haben.140 Die Hinweise,141 welche Schleiermacher in den Reden gibt, machen es wahrscheinlich, dass er sich in seiner Kritik der Sache nach auf den Zentralpunkt von Fichtes Grundlage bezieht, auf deren „absolutersten, schlechthin unbedingten Grundsatz“142 , der Fichte zufolge an der „Spitze einer Wissenschaftslehre“143 stehen muss: „Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eignes Sein.“144

Fichte voraus und nimmt mit Grove eine spezifische Bekanntschaft Schleiermachers mit Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre an. Das Hauptanliegen der Argumentation liegt allerdings nicht darin, diese historischen Bezüge im Detail nachzuweisen, sondern ist primär darauf ausgerichtet, zu zeigen, inwiefern Schleiermachers Philosophieverständnis der Reden in systematischer Hinsicht mit Fichtes philosophischem Ansatz sowohl verwandt ist als auch sich von demselben kritisch abgrenzt. Vgl. auch allgemein Link, „Zur Fichte-Rezep­ tion“, 355–368. 138 Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre, GA I,2, 119,30 f. 139  Vgl. KGA I/3, 245,15. 140 Grove konstatiert in diesem Zusammenhang eine ähnliche Verhältnisbestimmung zwischen Fichte und Schleiermacher, indem er auf zentrale Briefstellen bei Schleiermacher hinweist (vgl. KGA V/3, Nr.  758,35 f.; 101 ff. und KGA V/5, Nr.  1033,48 f.). Dieser zweite Brief ist meines Erachtens entscheidend für ein ausgewogenes Verständnis von Schleiermachers differenzierter Bezugnahme auf den Fichteschen Idealismus. Grove hält hierzu fest: „Mit Verweis auf Fichte sagt Schleiermacher weiter: ‚Man kann innerhalb des Idealismus – denn von dem, was außerhalb desselben liegt, will ich gar nicht reden – nicht stärker entgegengesetzt sein als er und ich‘. Diesen Stellen läßt sich nicht nur sein Bekenntnis zu einem Idealismus, sondern auch ein Vorbehalt gegenüber dem Idealismus Fichtes entnehmen.“ (Grove, Deutungen, 218) Schleiermachers philosophische Position zur Zeit der Reden kann somit dahingehend auf den Punkt gebracht werden, dass er einerseits selbst als Verfechter einer idealistischen Position auftritt, sich jedoch andererseits innerhalb des Spektrums der idealistischen Positionen seiner Zeit eindeutig von dem subjektiven Idealismus Fichtescher Provenienz kritisch abgrenzt. Vgl. dazu auch Herms, Herkunft, 256–259. 141  Vgl. KGA I/2, 212,2 ff.; 208,16–19. 142  Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre, GA I,2, 255,6. 143  A.a.O., 261,1 f. 144  A.a.O., 261,2 f. Vgl. hierzu auch Schwöbel, Ch., „Imago Libertatis: Freiheit des Menschen und Freiheit Gottes“, in: ders., Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik, Tübingen 2002, 227–256; hier: 241 f.

§  6  Hypothese

149

Dieser absolute Grundsatz bildet im Fichteschen Idealismus das Fundament des menschlichen Wissens und fungiert als oberstes Prinzip der gesamten Wissenschaftslehre.145 Aufgrund seiner Annahme dieses überindividuellen, nicht-sinnlichen und mithin reinen Ichs als dem Grund alles menschlichen Wissens kann der Fichtesche Standpunkt auch als subjektiver Idealismus gekennzeichnet werden.146 Der Sache nach wendet sich Schleiermachers Forderung nach einem höheren Realismus gegen diesen subjektiven Idealismus Fichtescher Prägung. Aus Schleier­ machers Andeutungen lässt sich herauslesen, dass ihm zufolge durch die Absolutsetzung eines reinen Ichs, bzw. eines „Ich an sich“147 wie Fichte sich auch ausdrückt, im subjektiven Idealismus das Universum zu einem Produkt des mensch­lichen Denkens gemacht und auf diese Weise zu einem Schattenbild der menschlichen Beschränktheit herabgewürdigt wird. Indem Fichte somit den richtigen Ansatz des Idealismus mittels seines absoluten Grundsatzes vom reinen Ich auf einen subjektiven Idealismus reduziert, verfehlt er es nach Schleier­ macher, den wahren Grund für die Entsprechung von menschlichem Geist und äußerer Welt anzugeben.148 Dementsprechend bleiben Schleiermacher sowohl Fichtes absoluter Grundsatz als auch die beiden weiteren in der Grundlegung präsentierten Grundsätze bloß ein in sich geschlossener „Kreis abentheuerlicher und hergebrachter Formen“149 bzw. „ein leeres Spiel mit Formeln“150, denen in der Realität der Außenwelt „nie etwas entsprechen wollte“151. Auf dieses Defizit des subjektiven Idealismus hatte bereits Schelling hingewiesen und ihm aus diesem Grund eine Naturphilosophie zur Ergänzung an die Seite gestellt.152 Schleiermacher verfährt in dieser Situation anders. Welche Alternative bietet Schleiermacher nach den Reden als Grund für das in Frage stehende Entsprechungsverhältnis von menschlichem Geist und Welt an? Fichte selbst hat in seiner Grundlegung auf eine mögliche Alternative hingewiesen:

145  Vgl. einschlägig Wagner, F., Der Gedanke der Persönlichkeit Gottes bei Fichte und Hegel, Gütersloh 1971. 146  In einem Brief an Reinhold hält Fichte die beiden zentralen Grundannahmen seines subjektiven Idealismus wie folgt fest: „Sie haben, so wie Kant, etwas in die Menschheit gebracht, daß ewig in ihr bleiben wird. Er, daß man von der Untersuchung des Subjekts ausgehn, Sie, daß die Untersuchung aus Einem Grundsatze geführt werden müsse.“ (Fichte, Briefwechsel 1793–1795, GA III,2, 282) 147  Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre, GA I,2, 282,3. 148  Vgl. hierzu auch Hirsch, Geschichte IV, 508 f. und Wagner, Der Gedanke, 48. 149  KGA I/2, 212,33. 150  KGA I/2, 213,11. 151  KGA I/2, 213,13. 152  Vgl. dazu, Schelling, Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, SW I,3, 269–326, hier insbesondere: 280. Zum frühen Verhältnis zwischen Fichte und Schelling vgl. auch Lauth, R., „Die erste philosophische Auseinandersetzung zwischen Fichte und Schelling (1795–97)“, Zeitschrift für philosophische Forschung 21 (1967), 341–367.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Über unsern Saz […] hinausgegangen ist Spinoza. Er läugnet nicht die Einheit des empirischen Bewußtseyns, aber er läugnet gänzlich das reine Bewußtseyn. Nach ihm verhält sich die ganze Reihe der Vorstellungen eines empirischen Subjekts zum einzigen reinen Subjekte, wie eine Vorstellung zur Reihe. Ihm ist das Ich […] nicht schlechthin, weil es ist; sondern weil etwas anderes ist. […] Ein solches ‚außer dem Ich‘ wäre gleichfalls ein Ich, von welchem das gesetzte Ich […] und alle mögliche sezbare Ich Modificationen wären. Er trennt das reine, und das empirische Bewußtseyn. Das erstere sezt er in Gott […] das lezte in die besondern Modificationen der Gottheit. So aufgestellt ist sein System völlig consequent, und unwiderlegbar, weil er in einem Felde sich befindet, auf welches die Vernunft ihm nicht weiter folgen kann; aber es ist grundlos; denn was berechtigte ihn denn über das im empirischen Bewußtseyn gegebne reine Bewußtseyn hinaus zu gehen?153

Die Alternative zu seinem eigenen Idealismus erblickt Fichte folglich in Spinoza und zwar darin, dass dieser statt des reinen Ichs des Menschen das reine Ich Gottes als Grundbedingung des menschlichen Lebens und Erkennens aufstellt. Auf diese spinozistische Alternative, die Fichte als grundlos erscheint, spielt nun Schleiermacher in den Reden an. Den von ihm geforderten höheren Realismus sieht er in der Philosophie Spinozas bereits am Werk: Opfert mit mir ehrerbietig eine Loke den Manen des heiligen verstoßenen Spinosa! Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein Anfang und Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe, in heiliger Unschuld spiegelte er sich in der ewigen Welt, und sah zu wie auch Er ihr liebenswürdigster Spiegel war; voller Religion war Er und voll heiligen Geist; und darum steht Er auch da, allein und unerreicht, Meister in seiner Kunst, aber erhaben über die profane Zunft, ohne Jünger und ohne Bürgerrecht.154

Schleiermachers Hinweis auf Spinoza ist folglich so zu verstehen, dass dieser ihm zufolge eine bestimmte Art des Idealismus vertreten hat, in welcher bereits eine Bezugnahme auf den gesuchten höheren Realismus stattfindet. Dieser adäquate Idealismus beantwortet die Frage nach dem Entsprechungsverhältnis zwischen menschlichem Geist und äußerer Welt nicht durch den Rekurs auf das reine Ich des Menschen, sondern durch die Bezugnahme auf den übermenschlichen „Weltgeist“155 bzw. das Universum. Weil Spinoza, aus seiner Liebe zum Universum heraus, in dem übermenschlichen Weltgeist selbst den Grund für das Entsprechungsverhältnis zwischen menschlichem Geist und äußerer Welt erblickt hat, deshalb spricht Schleier­ macher davon, dass sich ausschließlich bei ihm Geist und Welt wahrhaft gegenseitig zum „Spiegel“ zu werden vermochten. Woher gewann Spinoza diese Einsicht seines adäquaten Idealismus? Schleiermacher beantwortet diese Frage, indem er festhält, Spinozas Philosophie ist „voller Religion“ gewesen. Allein aus der religiösen Einsicht, dass, wie 153 

Fichte, Über den Begriff der Wissenschaftslehre, GA I,2, 263,2–18. KGA I/2, 213,26–33 (kursiv, C. K.). 155  Vgl. KGA I/2, 251,43–252,1; 296,17 f.; 306,12–34. 154 

§  6  Hypothese

151

Fichte es formuliert, das „Ich […] nicht schlechthin [existiert, C. K.], weil es ist; sondern weil etwas anderes ist“, folgt nach Schleiermacher, dass auch die Möglichkeitsbedingungen des menschlichen Wissens, nicht in dem Ich des Menschen selbst, sondern im wahren Grund seiner Existenz, d.h. in dem übermenschlichen Universum liegen. Folglich hätte Schleiermacher auf Fichtes oben zitierte Frage, was Spinoza denn dazu berechtigte, über das „im empirischen Bewußtsein gegebne reine Bewußtsein hinaus zu gehen“, damit beantwortet, dass es einzig und allein die Religiosität Spinozas gewesen ist, derzufolge diesem ersichtlich geworden ist, dass gerade nicht ein angeblich reines Ich des Menschen das Universums produziert,156 sondern vielmehr umgekehrt, allererst der übermenschliche Weltgeist diejenige Realität schafft, innerhalb deren der menschliche Geist zur Erkenntnis ebendieser Realität befähigt ist.157 Schleiermacher sieht sich mit Spinoza durch die Annahme verbunden, dass das Universum gegenüber dem menschlichen Geist eine höhere Realität darstellt, die erst die Möglichkeitsbedingungen schafft, unter denen der mensch­ liche Geist sachhaltige Erkenntnisakte vollziehen kann.158 Die hervorgehobene Wertschätzung Spinozas in den Reden bezieht sich dabei weder auf Details der Spinozaischen Philosophie noch auf Spinozas Philosophie im eigentlichen Sinne, sondern sie betrifft einzig den Umstand, dass Spinoza Schleiermacher zufolge eine Philosophie vertritt, die durch Religion geläutert ist.159 Die Annahme eines adäquaten Idealismus ist somit keineswegs als ein 156  Deutlich wird diese Ansicht des subjektiven Idealismus von Schelling in seiner Abhandlung zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre von 1796/1797 (in: Schelling, SW I,1, 343–452) auf den Punkt gebracht: „Nur durch diese Handlungsweisen unseres Gei­ stes ist und besteht die unendliche Welt, denn sie ist ja nichts anders, als unser schaffender Geist selbst in unendlichen Produktionen und Reproduktionen.“ (A.a.O., 360) 157  Vgl. hierzu auch Hirsch, Geschichte IV, 509. Treffend fasst Süskind zusammen: „Was Schleiermacher will, das ist der Erweis der Realität des Universums gegen Fichte, der Erweis einer dem Ich gegebenen, nicht von ihm, wie Fichte lehrt, aus seinem eigenen unendlichen Vermögen, seiner freien Produktivität, selbst erzeugten Wirklichkeit.“ (Süskind, Einfluß Schellings, 231 f. (kursiv, C. K.)) 158  Schlegel äußert sich hierin ganz im Sinne Schleiermachers: „Fichte hat unendlich viel Sinn für das Unendliche und doch keinen Sinn für das Universum.“ Fatalerweise ist nach Schlegel aber „ohne Universum kein Transzendentales möglich“, Schlegel, Philosophische Lehrjahre, KFSA XVIII, Fr. 302, 1298 und Fr. 247, 646. 159 In seiner Rezension von Fichtes Bestimmung des Menschen sieht Schleiermacher die Philosophie religiös geläutert. Schleiermacher deutet Fichtes Buch geradezu als Hinweis, dass wahre Philosophie nur durch den Bezug auf Religion möglich ist. In seiner Rezension tritt er deshalb mit „christliche[r] Ironie“ an Fichtes Werk heran (vgl. KGA I/3, LXXIX, 27.) Die treffendsten Abschnitte von Fichtes Bestimmung des Menschen findet er demgemäß im dritten Buch: „Die großen Fortschritte des Ich im dritten Buch werden nur dadurch erklärlich, daß man den Geist immer noch auf dem Ich ruhend denkt, wenn er schon nicht mehr gegenwärtig ist. Und der religiöse Anstrich dieses Buchs konnte wohl in diesem Ich nicht besser vorbereitet werden; denn ein seiner Natur nach so irreligiöses Wesen durfte sich wohl durch nichts geringeres religiös stimmen laßen, als durch so etwas.“ (KGA I/3, 245,10–16)

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Bekenntnis Schleiermachers zum Spinozismus zu deuten.160 Dies geht sowohl direkt aus Schleiermachers Korrespondenz zur Zeit der Reden hervor161 als auch indirekt aus seinen kritischen Anmerkungen gegenüber Spinozas Ethik, die er in seinem unveröffentlichten Aufsatz Kurze Darstellung des spinozistischen Systems162 festhält. Spinoza wird von Schleiermacher exemplarisch angeführt, um an ihm zu zeigen, dass eine adäquate Fassung des philosophischen Idealismus nur unter der Bedingungen einer Bezugnahme auf die Religion zustande kommt.163 Er wertschätzt in den Reden folglich die im Sponizistischen System zum Ausdruck gebrachte religiöse Gesinnung,164 keineswegs spricht er sich vorbehaltlos positiv für das philosophische System Spinozas selbst aus.165 Man kann aus diesem

Hier macht sich nach Schleiermacher bei Fichte versteckt das Bewusstsein geltend, dass nicht ein reines Ich, sondern „das Unendliche, als das einzige Reelle“ aufzufassen ist. (KGA I/3, 241,21 f.) Dass Schleiermacher Fichte hier gegen dessen eigene Ansicht gelesen hat, nämlich im Hinblick auf den soeben dargestellten geläuterten Spinozismus der Reden, bringt Fichte in seiner Reaktion deutlich zu Ausdruck: „Einige Einwendungen verstehe ich aber nicht: soviel aber sehe ich, daß er [der Rezensent Schleiermacher, C. K.] das endliche Resultat des 3ten Buchs dem, was ihr unter einander Spinozismus nennt, ganz gegen meine Absicht zu nahe ge­r ükt hat.“ (Fichte, Briefwechsel 1799–1800, GA III,4, 283,17–20) Diese Reaktion Fichtes belegt, dass Schleiermachers Rezension, wohlgemerkt unter dem Deckmantel der religiösen Ironie, auf eine eigene Gegenposition zu Fichte hinweist und keineswegs, wie Ehrhardt festhält, in „ihrem Grundton […] eine Zustimmung zu Fichtes Werk“ darstellt (Ehrhardt, Religion, Bildung und Erziehung, 138). 160  Schleiermachers „väterlicher Freund“ (KGA V/5, 1065,187), der auf klärerische Neologe Sack, hatte wohl als Erster Schleiermachers Hinweis auf Spinoza derartig missgedeutet und die Reden mit dem für die damalige Zeit fatalen Doppelschlag als „geistvolle Apologie des Pantheismus“ und „eine rednerische Darstellung des Spinozistischen Systems“ gebrandmarkt (KGA V/4, Nr.  1005,26 f. (kursiv, C. K.)). 161  KGA I/V, 131,79 ff. 162  KGA I/1, 559–582. 163  Wehrung, Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, 125: „Nicht das Ich ist das Erste und das Letzte, sondern das Universum, das Unendliche, in dem auch das Ich beschlossen ist, auf das wir nicht wirken können, das auf uns wirkt. Wir verstehen warum Spinoza als Schutz­ geist gegen die Transzendentalphilosophie angerufen wird. Lediglich der religiöse Nerv seiner Philosophie, die gerade Hinwendung zum Unendlichen, die demutsvolle Liebe zum Universum, diese sein Denken beseelende Flamme, nicht das Denken selbst, dieses dogmatisch starre Denken mit seinem Ertrag, dem starren realistischen Weltbild, ist es, die der Redner auf seinem Altar aufleuchten läßt“. 164  Vgl. KGA I/12, 132,2–6: „[…] da ich das ganze Gebiet der Frömmigkeit ausmessen wollt […] hätte etwas wesentliches gefehlt an der Darlegung meiner Ansicht, wenn ich nicht irgendwie gesagt hätte, daß dieses großen Mannes [gemeint ist Spinoza, C. K.] Gesinnung und Gemüthsart mir ebenfalls von Frömmigkeit durchdrungen schien, wenn es gleich nicht die christliche war.“ 165  Vgl. dazu Schleiermachers spätere Aussage in: KGA I/12, 131,18–132,30. Insbesondere den Abschnitt KGA I/12, 132,16–22: „Wie konnte ich auch erwarten was mir geschah, daß ich nämlich, weil ich dem Spinoza die Frömmigkeit zugeschrieben, nun selbst für einen Spinozisten gehalten wurde, ohnerachtet ich sein System auf keine Weise verfochten hatte, und, was irgend in meinem Buche philosophisch ist, sich offenbar genug gar nicht reimen

§  6  Hypothese

153

Grund bei Schleiermacher von einem philosophischen Gesinnungsspinozismus sprechen.166 Der von Schleiermacher für die Philosophie am Beispiel von Spinoza eingeforderte höhere Realismus besitzt dem Dargestellten zufolge somit eine doppelte Stoßrichtung: Einerseits wird mit ihm von Schleiermacher grundsätzlich an der vom philosophischen Idealismus behaupteten Sachhaltigkeit der menschlichen Erkenntnis festgehalten und nur im Gegensatz zum subjektiven Idealismus Fichtescher Prägung aufgezeigt, welchem Umstand sich diese Sachhaltigkeit verdankt. Der höhere Realismus besagt im Unterschied zum schwachen Realismus keine Trennung zwischen dem menschlichen Geist und den Sachverhalten der äußeren Welt, sondern schließt vielmehr ihr gegenseitiges Entsprechungsverhältnis ein. Gleichzeitig wird mit ihm der Grund dieses Entsprechungsverhältnisses nicht im menschlichen Ich, sondern im Universum erblickt. Der Unterschied zwischen dem subjektiven Idealismus Fichtes und dem von Schleiermacher vertretenen höheren Realismus besteht darin, dass nach Fichte der menschliche Geist nur das erkennen kann, was er selbst produziert hat, nach Schleiermacher kann hingegen der menschliche Geist nur das erkennen, was ihm vom Universum zu erkennen vorgegeben ist. Andererseits wird durch Schleiermachers Hinweis auf den höheren Realismus die Bedeutung der Religion für die Philosophie hervorgehoben. Der Zugang zu diesem höheren Realismus ist dem Menschen nicht durch das Denken selbst möglich, welches aufgrund seines fehlenden selbstkritischen Maßstabes beständig in der Gefahr steht, sich selbst für absolut zu setzen. Nur insoweit sich das Universum selbst als absolute Macht gegenüber dem Menschen präsentiert, kann der Mensch die höhere Realität dieser Macht wahrnehmen. Dies geschieht Schleiermacher zufolge in den religiösen Anschauungen und Gefühlen. Aus diesem Grund stellt bei Schleiermacher auch nicht wie bei Fichte die am reinen Ich ausgerichtete „intellektuelle Anschauung“167 das oberste Kriterium für die Sachhaltigkeit der menschlichen Erkenntnis dar, sondern die religiösen läßt mit dem Eigenthümlichen seiner Ansicht, die ja ganz andere Angeln hat, um die sie sich dreht“. 166  Siehe dazu Schleiermachers Brief an Sack vom Mai/Juni 1801. Hier schreibt Schleiermacher, dass er „so wenig als Jemand ein Spinozist“ sei, dennoch in Spinozas „Ethik durchaus eine Gesinnung herrscht, die man nicht anders als Frömmigkeit nennen kann.“ (KGA I/V, 131,79–82 (kursiv, C. K.)) Vgl. auch Haym, Die romantische Schule, 424 (kursiv, C. K.): „Nicht als ob er [Schleiermacher, C. K.] sich zum System des Spinoza bekannte! Er sagte nur die Wahrheit, wenn er der bald erhobenen Beschuldigung, daß er ein Spinozist sei, mit dürren Worten widersprach. Nicht mit den Systemformeln, sondern mit der Gesinnung des Spinoza ergriff er das Unendliche“. Wehrung spricht in diesem Zusammenhang dementsprechend von einem „Idealismus mit spinozistischem Stimmungsgehalt“ (Wehrung, Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, 70 (kursiv, C. K.)). 167  Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/1798), GA I,4, 216,36–221,18; 224,6–227,11.

154

Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Anschauungen und Gefühle bilden den kritischen „Prüfstein“, an dem sich jede Philosophie formal auszurichten hat und an dem sich bemisst, ob die Philosophie, der höheren Realität des Universums eingedenk, ihren Leistungsbereich als ein ihr vorgegebenes Entsprechungsverhältnis zwischen menschlichem Geist und äußerer Welt auffasst, oder ob sie in Selbstüberschätzung befangen, einem eklatanten Realitätsverlust anheim fällt.168 Die Religion begründet folglich nicht den höheren Realismus der Philosophie, sie stellt nur sicher, dass der Philosophie ihrerseits die höhere Realität des Universums zu Bewusstsein kommt. Diese dargelegte Bestimmung von Schleiermachers Konzeption des höheren Realismus in den Reden wird von ihm in einem frühen Gedankenheft durch den Hinweis auf das notwendige Zusammenspiel von Wissen und Glauben auf den Punkt gebracht: Der Mensch weiß von der Thätigkeit des Ich und von seiner scheinbaren Receptivität als Produkt dieser Thätigkeit. Er glaubt daß diese in Harmonie steht mit dem Undurchdringlichen oder der Außenwelt; und dieses Wissen und Glauben durchdringt sich im Diviniren der Welt welches die höchste Philosophie ist.169

Anhand von Schleiermachers Konzeption eines höheren Realismus kann festgehalten werden, dass ihm zufolge die Metaphysik nur durch eine Bezugnahme auf die Religion vor Depravation bewahrt zu werden vermag, indem die Religion ihr die vom Universum vorgegebenen Möglichkeitsbedingungen ihres Erkenntnisvollzugs als formalen Bezugsrahmen präsentiert. Hierdurch wird von Schleiermacher auf der einen Seite eine inhaltliche Einmischung der Religion in den autonomen Leistungsbereich der Metaphysik abgewehrt und auf der anderen Seite sichergestellt, dass die Metaphysik weder der einschränkenden Position eines schwachen Realismus noch dem sich selbst überschätzenden Wahn des subjektiven Idealismus verfällt, sondern sich als ein religiös gesinnter adäquater Idealismus sachgerecht entfaltet. Welche Bedeutung kommt aber umgekehrt der Metaphysik und Moral für die Religion zu? In der Schleiermacherforschung wurde vielfach darauf hingewiesen, dass Schleiermacher in seinen Reden einseitig verfährt, indem er zwar die Bedeutung der Religion für Metaphysik und Moral herausstellt, es aber versäumt, umgekehrt auf die Bedeutung von Metaphysik und Moral für die Religion einzugehen.170 Diese Beobachtung ist nur zum Teil richtig: 168 „Vom Anschauen muß alles ausgehn, und wem die Begierde fehlt das Unendliche anzuschauen, der hat keinen Prüfstein und braucht freilich keinen, um zu wißen, ob er etwas ordentliches darüber gedacht hat.“ (KGA I/2, 213,16–19) 169  KGA I/3, 300, Nr.  72 (kursiv, C. K.). Vgl. zu dieser Stelle auch Herms, Herkunft, 228. 170  Vgl. exemplarisch Grove, Deutungen, 268 f.: „Schleiermachers Verhältnisbestimmungen sind also nicht darauf eingeschränkt, den ‚schneidenden Gegensaz‘ der Religion zur Metaphysik und Moral hervorzuheben. Er weist auch auf Beziehungen zwischen ihnen hin, und zwar auf solche, die in Einflüssen der Religion auf Philosophie und Moral bestehen. Dagegen werden Wirkungen im [sic!] umgekehrter Richtung in den Reden nicht expliziert.“

§  6  Hypothese

155

Es trifft zu, dass Schleiermacher im Abschnitt KGA I/2, 211,27–213,33 sein Hauptaugenmerk auf die Bedeutung der Religion für Metaphysik und Moral legt. Dies ist in seinem Argumentationsgang auch ganz selbstverständlich, denn es ist ihm in diesem Abschnitt daran gelegen, die funktionstheoretische Sonderstellung der Religion im Ensemble der menschlichen Gemütsvermögen herauszustellen. Er will zeigen, dass die Religion aufgrund ihres unmittelbaren Bewusstseins vom Universum im Unterschied zu Moral und Metaphysik dazu befähigt ist, den für alle menschlichen Vollzüge geltenden formalen Bezugsrahmen zu präsentieren. Hierzu hat sie weder Moral noch Metaphysik nötig und deswegen stellt die Bedeutung dieser beiden Gemütsvermögen in dem genannten Abschnitt keinen Gegenstand der Beschreibung dar. Damit ist von Schleiermacher aber keineswegs ausgesagt, dass Metaphysik und Moral prinzipiell keine Bedeutung für die Religion besitzen. Dass beiden Gemütsvermögen bereits in der Erstauflage der Reden ein derartige Bedeutung zukommt, ist sowohl Beschreibung der konkreten Subjektivität zu Beginn der zweiten Rede zu entnehmen171 als auch durch seine späteren Selbstinterpreta­ tionen der Reden verbürgt.172 Obwohl die Religion ihrem Wesen nach ein unmittelbares Bewusstsein vom Universum darstellt, kann sich ein religiöses Subjekt nach Schleiermacher dennoch im Denken auf seine Religion beziehen und aus ihrem Wesen bestimmte Handlungsweisen ableiten. Das Erstere geschieht nach Schleiermacher, wenn über die „Religion vergleichend reflektirt“173 wird. Dies beinhaltet sowohl die Unterscheidung der einzelnen Religionen voneinander als auch die „Vergleichung der religiösen Ansicht mit der gemeinen“174. Ein Vergleich der religiösen Ansicht mit anderen Ansichten setzt eine begriffliche Erfassung der religiösen Anschauungen und Gefühle voraus. Zu dieser begrifflichen Erfassung ihrer eigenen Ansichten ist die Religion nach Schleiermacher als präreflexives Gemütsvermögen nicht allein aus sich selbst befähigt, sondern hierzu bedient sie sich des diskursiven Denkens. Durch diese Vorgehensweise wird die Religion keineswegs selbst zur Metaphysik. Das diskursive Denken liefert nur die begriffliche Form und generiert nicht den eigentümlichen Inhalt der religiösen Anschauungen und Gefühle. Auf diese Weise ergibt sich im Subjekt ein internes Wechselverhältnis zwischen Religion und diskursivem Denken: Die Religion stiftet den eigentümlichen Inhalt einer Ansicht und das Subjekt bedient sich des diskursiven Denkens, um

171 

KGA I/2, 207,17–27. „Solche Trennung des Wissens von der Frömmigkeit und des Handelns von der Frömmigkeit gebt mir nicht Schuld daß ich sie sezte, und Ihr könnt es nicht, ohne mir unverdient Eure eigne Ansicht unterzuschieben“, KGA I/12, 55,31–56,3. 173  KGA I/2, 240,3. 174  KGA I/2, 239,35 f. 172 

156

Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

diesen Inhalt in eine begriffliche Form zu überführen, mittels derer religiöse Ansichten und gemeine Ansichten reflektierend verglichen werden können. Bei den religiösen Ansichten, die sich für ein derartiges Vergleichen eignen, handelt es sich bei Schleiermacher folglich insbesondere um solche, die den eigentümlichen Inhalt der Religion verdeutlichen: Wunder, Offenbarung, Eingebung, Weissagung und Gnadenwirkung.175 In diesem apologetischen Sinne besitzt nach den Reden das diskursive Denken eine Bedeutung für die Religion. Aber gerade in diesem apologetischen Sinne gehören nach Schleiermacher alle oben zitierten Begriffe „in das Gebiet der Religion, und zwar unbedingt“176. Denn sie beziehen sich auf den allgemeinen Gehalt der Religion selbst, oder wie Schleiermacher sich ausdrückt, „auf das Bewußtsein eines Menschen von seiner Religion“177 und weisen dementsprechend auf einer Ebene mit dem diskursiven Denken nicht nur nach, „was allgemein sein darf in der Religion, sondern […] was allgemein sein muß in ihr.“178 Die Bedeutung der Moral für die Religion kommt in den Reden darin zum Ausdruck, dass die Religion nach Schleiermacher eine eigentümliche Sozialgestalt besitzt, die sie von anderen Sozialgestalten der Form nach spezifisch unterscheidet. Schleiermacher zeigt in diesem Zusammenhang den Unterschied von Kirche und Staat auf.179 Soll sich die Religion als Kirche sowohl intern durch bestimmte Verhaltensregeln auszeichnen180 als auch extern gegenüber anderen Sozialgestalten, wie z.B. dem Staat, eindeutig abgrenzen181, benötigt sie ausgearbeitete und allgemeinverbindliche Handlungsmaximen, d.h., sie benötigt eine bestimmte sittliche Form.182 Analog zu dem Vorgehen im Zusammenhang mit der Metaphysik übernimmt die Religion folglich in ihrer Bezugnahme auf die Moral nicht deren selbst produzierte Inhalte, sondern sie bedient sich ihrer Form, um sich des eigenen Gehalts zu vergewissern und ihn gegenüber den selbsterzeugten Pro­ dukten der Moral zu verdeutlichen. In diesem Sinne bildet die Moral, aufgefasst 175 

KGA I/2, 240,21–214,9. KGA I/2, 240,5 f. 177  KGA I/2, 241,17 f. 178  KGA I/2, 241,19 f. 179  KGA I/2, 287,3–7. 180  KGA I/2, 287,7–288,9; 291,8–37. 181  KGA I/2, 286,11–287,3. 182  Dieser Gedanke wird von Schleiermacher zum Ende seiner vierten Rede am Beispiel der frommen Hausgemeinschaft angedeutet. Nachdem er dargelegt hat, dass denjenigen religiösen Menschen, welchen aufgrund mangelnder Ausbildung kein eigentliches Kirchenamt zusteht, dennoch zukommt, sich im Kreis der eigenen Familie religiös zu verwirklichen, fährt er fort: „Dieses Heiligthum mögen sie bilden, ordnen und pflegen, klar und deutlich mögen sie es hinstellen in sittlicher Kraft, mit Liebe und Geist mögen sie es auslegen, so wird mancher von ihnen und unter ihnen das Universum anschauen lernen in der kleinsten verborgenen Wohnung, sie wird ein Allerheiligstes sein worin mancher die Weihe der Religion empfängt.“ (KGA I/2, 289,36–290,4 (kursiv, C. K.)) Beim späteren Schleiermacher siehe hierzu KGA I/12, 142,36–143,17. 176 

§  6  Hypothese

157

als dasjenige Gemütsvermögen, welches allgemeinverbindliche Regeln des menschlichen Zusammenlebens aufstellt, dasjenige formale Instrumentarium, dessen sich die Religion bedient, um aus ihren religiösen Anschauungen und Gefühlen Anweisungen für eine angemessene Gestaltung der religiösen Sozialgemeinschaft abzuleiten und diese gegenüber anderen Sozialformen abgrenzend zu verteidigen. Die Bedeutung von Metaphysik und Moral für die Religion besteht nach Schleiermacher somit darin, dass beide ein formales Instrumentarium bereitstellen, dessen sich die Religion bedient, um einerseits zu wissenschaftlich apologetischen und andererseits zu sozial gestalterischen Zwecken den ihr eigenen, wesensgemäßen Gehalt herauszuarbeiten und zu verdeutlichen. 2.3.  Zusammenfassung der vermögentheoretischen Koordination und funktionstheoretischen Superordination der Religion Schleiermacher stellt in den Reden das Wesen des Menschen als eine in sich vermittelte Einheit seiner Gemütsvermögen dar. Jedem dieser Vermögen kommt eine spezifische Bedeutung sowohl für das Verständnis des Menschen im Universum insgesamt als auch für die jeweils anderen Gemütsvermögen zu. Die Bedeutung der Gemütsvermögen für das Verständnis des Menschen im Universum kommt darin zum Ausdruck, dass jedes von ihnen über eine eigentümliche Gesinnung und einen eigenen Leistungsbereich verfügt, in welchem es ihm obliegt, autonom zu verfahren. Diese Gleichursprünglichkeit und Gleichwertigkeit der Gemütsvermögen zueinander schließt eine inhaltliche Einmischung bzw. Übergriffigkeit der Gemütsvermögen aufeinander kategorisch aus. In diesem Sinne sind Metaphysik, Moral und Religion vermögenstheoretisch einander koordiniert. Schleiermachers kritischer Religionsbegriff wehrt somit eine in der Philosophiegeschichte vorgenommene Vermischung der Gemütsvermögen miteinander bzw. eine Ableitung der Gemütsvermögen auseinander ab. Die spezifischen Bedeutungen, welche die Gemütsvermögen intern füreinander besitzen, kommen darin zum Ausdruck, dass sie jeweils eine eigentümliche Funktion für die anderen Gemütsvermögen übernehmen. Auf dieser Ebene zeigen sich die internen Wechselbeziehungen der Gemütsvermögen aufeinander, welche als indirekte formale Bezugnahme aufzufassen sind. Hierbei nimmt die Religion im Ensemble der menschlichen Gemütsvermögen eine funktionstheoretische Sonderstellung ein. Indem sich in ihr dem Menschen ein unmittelbares Bewusstsein des Universums eröffnet, vermag sie zwischen den Produkten des menschlichen Denkens bzw. Handelns und dem Universum selbst zu unterscheiden. Ihre unmittelbare Einsicht in die ontologische Grundstruktur des Universums setzt sie in den Stand, durch die Präsentation eines formalen Bezugsrahmens den Realitätsbezug von Metaphysik und Moral zu sichern und auf diese Weise deren Depravation zu verhindern. Demgemäß ist die Religion im Ensemble der menschlichen Gemütsvermögen funktionstheoretisch superordiniert.

158

Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Diesen formalen Bezugsrahmen bildet im Fall der Moral die Einsicht, dass jeder Mensch notwendigerweise als bestimmte individuelle Manifestation der Menschheit insgesamt existiert und dementsprechend der ethische Bildungsprozess der Menschheit nicht auf eine Uniformität der Menschen auszurichten ist, sondern sich als ein die menschliche Vielfalt konstitutiv miteinschließender Prozess vielmehr ausschließlich in einer angestrebten wechselseitigen Anerkennung der menschlichen Individualitäten insgesamt sachgerecht vollzieht. Wahre Sittlichkeit ist nach Schleiermacher aus diesem Grunde prinzipiell religiös.183 Im Fall der Metaphysik wird der von der Religion konstatierte formale Bezugsrahmen durch die Einsicht gebildet, dass die Existenz und die Gesetzmäßigkeiten der realen Sachzusammenhänge, auf welche sich das menschliche Denken bezieht, nicht durch den menschlichen Geist selbst, sondern durch den übermenschlichen Weltgeist, d.h. durch das Universum gesetzt sind. Die Möglichkeitsbedingung menschlicher Erkenntnis, die in einem adäquaten Entsprechungsverhältnis von menschlichem Geist und äußerer Welt besteht, basiert nicht wie im subjektiven Idealismus auf einer Tathandlung des menschlichen Ichs, sondern auf einem ursprünglichen Handeln des Universums. Diese dem menschlichen Denken sachlich notwendig vorausgehende und dessen eigene adäquaten Vollzüge ermöglichende Ursprungshandlung des Universums muss von der Metaphysik als höherer Realismus anerkannt werden. Wahre Wissenschaft ist im dargelegten Sinne nach Schleiermacher prinzipiell religiös.184 Die funktionstheoretische Sonderstellung der Religion ist somit keineswegs im Sinne einer Letztbegründung aufzufassen. Mit Hilfe ihres formalen Bezugsrahmes begründet die Religion nicht die Möglichkeitsbedingungen von Metaphysik und Moral, sondern ist sich bloß des prinzipiellen Gegründetseins derselben im Ursprungshandeln des Universums bewusst. Folglich generiert sie auch nicht aus sich selbst die metaphysischen und moralischen Vollzüge, sondern sie gewährleistet vielmehr nur deren Adäquatheit. Zugleich stiftet die Religion nicht selbst die Einheit der Subjektivität, sondern sie ist nur das qualifizierte Bewusstsein dieser vom Universum vorgegebenen Einheit. Die funktionstheoretische Sonderstellung der Religion schließt umgekehrt keinesfalls eine Bedeutung der Metaphysik und Moral für die Religion aus. Obwohl die Religion von Schleiermacher ihrem Wesen nach als unmittelbare Anschauung und Gefühl des Universums beschrieben wird, wird sie nicht vollständig von den anderen Gemütsvermögen separiert, sondern es kann unter Voraussetzung bestimmter Zwecke zu einer Bezugnahme des wissenschaftlichen Denkens und des moralischen Handelns auf die Religion kommen. Allerdings besteht diese Bezugnahme weder darin, die Religion inhaltlich zu begründen noch darin, den formalen Bezugsrahmen ihrer Vollzüge aufzustellen, 183 

184 

KGA I/12, 55,8 ff. KGA I/12, 55,8–16.

§  7  Begründung

159

sondern sie kommt ausschließlich in einem dienenden Verhältnis zur Geltung. Die Metaphysik liefert der Religion hierbei auf der einen Seite das formale Begriffsinstrumentarium, wodurch diese in den Stand gesetzt wird, die allgemeinen Grundzüge ihres spezifischen Gehalts auf diskursiver Ebene apologetisch zu verteidigen. Die Moral liefert das formale handlungstheoretische Instrumentarium, dessen sich die Religion bedient, um sich als Kirche zu organisieren und als eigenständige Gemeinschaftsform gegenüber dem Staat zu etablieren. Wahre Religion ist daher nach Schleiermacher ihrem Wesen nach niemals unsittlich oder wissenschaftsfeindlich.185 Die hiermit gelieferte Darstellung vom Verhältnis der Religion zu Metaphysik und Moral, wonach die Religion sowohl den beiden anderen Gemütsvermögen als vermögentheoretisch koordiniert und zugleich als funktionstheoretisch superordiniert anzusehen ist, stellt meines Erachtens eine ausführliche Interpretation von Schleiermachers für die Reden zentraler Formel dar, derzufolge ein Mensch „alles mit Religion thun, nichts aus Religion“186 tun soll. Mit dieser Formel wird auf engstem Raum das soeben in §  6 Dargelegte zusammengefasst.

§  7  Begründung Im letzten Paragraphen konnte dargelegt werden, dass und inwiefern sich die Religion nach Schleiermacher in das Ensemble der menschlichen Gemütsvermögen einordnet. Die Beschreibung Schleiermachers blieb dabei streckenweise äußerlich auf die Darstellung des adäquaten Zusammenspiels der Gemütsvermögen beschränkt. Im Abschnitt KGA I/2, 220,29–223,19 vertieft Schleier­ macher seine Darstellung des kritischen Religionsbegriffs um die immanente Beschreibung des genealogischen Ursprungs und sachlogischen Grundes des menschlichen Bewusstseinslebens überhaupt. Ausgehend von der spezifischen Darstellungsproblematik, dass es ihm nicht möglich ist, religiöse Anschauungen und Gefühle anders als in getrennter Weise zu thematisieren,187 wodurch allerdings „der feinste Geist der Religion“188 verloren geht, erweitert er den bisherigen Horizont seiner Untersuchung und geht den allgemeinen bewusstseinstheoretischen Gründen für diese „unvermeidliche Scheidung“189 nach. Auf diese Weise wird die in seiner bisherigen Darstellung für selbstverständlich vorausgesetzte Unterscheidung des religiösen Bewusst185 

KGA I/12, 55,16–56,5. KGA I/2, 219,23 f. 187  „Ehe ich Euch aber in das Einzelne dieser Anschauungen und Gefühle hineinführe, welches allerdings mein nächstes Geschäft an Euch sein muß, so vergönnt mir zuvor einen Augenblik darüber zu trauern, daß ich von beiden nicht anders als getrennt reden kann“, KGA I/2, 220,29 ff. 188  KGA I/2, 220,33. 189  KGA I/2, 221,2. 186 

160

Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

seins in einerseits religiöse Anschauungen und andererseits religiöse Gefühle selbst zum Gegenstand einer kritischen Überprüfung. In dem vorliegenden Textabschnitt unternimmt er es folglich, die Problematik der notwendigerweise getrennten externen Darstellung von religiösen Anschauungen und Gefühlen aus der notwendigen internen Wesensverfassung des menschlichen Bewusstseinslebens selbst zu erklären. Diese Thematisierung erfolgt über die phänomenologische Beschreibung des sog. „geheimnisvollen Augenblicks“190 im menschlichen Bewusstsein, in welchem Schleiermacher zufolge menschlicher „Sinn und sein Gegenstand gleichsam ineinander gefloßen und Eins geworden sind“191. Hiermit präsentiert sich in den Reden eine frühe Version von Schleiermachers Theorie des unmittelbaren Selbstbewusstseins. Im Rahmen dieser Theorie zeigt er darauf folgend in der sog. „Liebesszene“192 das fundamentale Zusammenspiel von sinnlichem und religiösem Bewusstseinsleben im Menschen auf. Die Fragen nach der Möglichkeit sowie der Art und Weise des Zusammenwirkens und Aufeinanderbezogenseins von Metaphysik und Moral auf der einen Seite und Religion auf der anderen Seite finden in diesem maßgeblichen Stück der Reden ihre grundlegende Antwort. Schleiermachers Beschreibung der Religion ist damit fundamental einge­ bettet in eine allgemeine Bewusstseinstheorie. Durch diese Vertiefung seiner bisherigen Betrachtungsweise, ausgehend von der Beschreibungsebene hin zu den bewusstseinstheoretischen Gründen für diese Beschreibungsebene, gelingt es Schleiermacher sein Verständnis vom Wesen der Religion zu präzisieren. Es handelt sich in diesem zu behandelnden Abschnitt der Reden meines Erachtens also nicht nur um ein, wie es Meckenstock formuliert, darstellungstheoretisches Scharnierstück193, sondern vielmehr um den aus der prinzipiellen Begründungsproblematik erwachsenen bewusstseinstheoretischen Wesenskern von Schleiermachers kritischem Religionsbegriff selbst.194 190 

KGA I/2, 221,20–26. KGA I/2, 221,22 f. 192  KGA I/2, 221,20–222,12. 193  KGA I/12, XX,5 f. 194 Gegen Flückinger, Philosophie und Theologie, 55; Seifert, Theologie, 64. Anders Otto, demzufolge die sog. „Liebesszene“als „der Schlüssel zu Schleiermachers Gedanken vom Erleben des Ewigen“ gilt. Nach Otto meint Schleiermacher „damit zwar keine ekstatischen Entzückungen, kein visionäres Schauen, sondern das Innewerden des Unendlichen in und am Endlichen, d.h. des ewigen Wesens, Gehaltes, Grundes von allem Sein und Geschehen um uns her, das dem anschaulichen Gemüt in unmittelbarerem Erleben und Gefühl […] gewaltig und ergreifend aufgehen soll.“ (Otto, Über die Religion, 43). Vgl. auch Piper, Das religiöse Erlebnis, 49: „Der einheitliche religiöse Vorgang ist es, der das ‚Wesen der Religion‘ ausmacht. Von ihm aus ist überhaupt erst zu verstehen, was Schleiermacher unter Religion begreift. Er ist der eigentliche Mittelpunkt, um den alle Erörterungen der Reden kreisen, erst von hier aus bekommen alle Aussagen ihren rechten Sinn, an ihm sind sie zu prüfen. Anschauung und Gefühl waren ja noch in ihrer Vereinzelung Abstraktionen, hier steht das lebendige religiöse Erleben vor uns, das ja Ausgangspunkt und Ziel der Reden sein soll. […] Man bekommt ein völlig ungenaues Bild vom Wesen der Religion, wenn man nur Anschau191 

§  7  Begründung

161

Dieser Abschnitt bildet das theoretische Herzstück der Reden. Er untergliedert sich in drei Argumentationsschritte: Im ersten Argumentationsschritt in KGA I/2, 220,35–221,24 beschreibt Schleiermacher die allgemeinen Grundzüge des sinnlichen Bewusstseinslebens (1.). Im zweiten Argumentationsschritt thematisiert er in KGA I/2, 221,24– 223,19 das religiöse Bewusstseinsleben. Dieses begreift Schleiermacher als formal strukturanalog zum sinnlichen Bewusstseinsleben und stellt zugleich die unterschiedliche inhaltliche Bestimmtheit zwischen beiden Bewusstseinsweisen heraus (2.). Im dritten Argumentationsschritt wird in der vorliegenden Arbeit ­gezeigt, dass und inwiefern es möglich ist, die von Schleiermacher bislang aufgestellte Hypothese von der inhaltlichen Koordination und formalen Superordination der Religion gegenüber Metahysik und Moral im Rahmen seiner allgemeinen Bewusstseinstheorie zu begründen (3.). 1.  Das sinnliche Bewusstseinsleben In dem Abschnitt KGA I/2, 220,35–221,24 trägt Schleiermacher seine Auffassung von der allgemeinen Struktur des sinnlichen Bewusstseinslebens vor. Obwohl das sinnliche Bewusstseinsleben im Vollzug ein einheitliches Geschehen bildet, lassen sich ihm zufolge drei Momente innerhalb desselben unterscheiden: Zunächst geht er in KGA I/2, 220,35–221,7 darauf ein, dass das sinnliche Bewusstseinsleben einer notwendigen Reflexivität unterliegt, wobei er sich auf die gleichursprünglichen Tätigkeiten bzw. Vollzüge der Rezeptivität und der Spontaneität des sinnlichen Bewusstseins bezieht (1.1.). Darauf hin zeigt er in KGA I/2, 221,7–19 auf, dass aus diesen Vollzügen zwei sachnotwendig aufeinander bezogene Bewusstseinsprodukte, nämlich die sinn­ liche Anschauung und das sinnliche Gefühl, entspringen (1.2.). Zuletzt beschließt Schleiermacher seine Darstellung, indem er den Ursprung des sinnlichen Bewusstseins als einem „geheimnisvolle[n] Augenblick“195 beschreibt, in welchem der menschliche Sinn und der sich ihm bietende Gegenstand „gleichsam in einander gefloßen und Eins geworden sind“196 (1.3.). Diese drei unterschiedenen und dennoch zusammengehörenden Momente des sinnlichen Bewusstseinslebens werden im Folgenden sukzessive dargestellt und analysiert. Auf diese Weise wird die bestimmte Gestalt und der besondere bewusstseinstheoretische Gehalt des sinnlichen Bewusstseinslebens insgesamt herausgearbeitet und die Basis für einen Vergleich mit dem religiösen Bewusstseinsleben geschaffen. ung und Gefühl berücksichtigt; in ihrem Zusammensein im religiösen Vorgang treten eine Reihe weiterer Merkmale auf, die ihnen einzeln nicht zukommen.“ 195  KGA I/2, 221,20. 196  KGA I/2, 221,22 f.

162

Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

1.1.  Die notwendige Reflexivität der sinnlichen Bewusstseinstätigkeit Nach Schleiermachers Darstellung in KGA I/2, 220,35–221,7 ist das sinnliche Bewusstsein des Menschen in der Zeit prinzipiell durch eine „nothwendige Reflexion“197 gekennzeichnet. Das besagt, wenn das Bewusstsein sich auf eine „innere Handlung des Gemüths“198 bezieht oder ein sinnlicher Einfluss das menschliche Bewusstsein trifft, ist das Bewusstsein „sogleich“199 in einer „doppelte[n]“200 Tätigkeit begriffen: Einerseits überlässt es sich den Einwirkungen des Gegenstandes und beschränkt sich darauf, dem Gegenstand zu „dienen“201 und dessen bestimmte Eigenschaften und Charakterzüge persönlich unbeteiligt in sich „nach[zu]bilden“202 . Bei dieser Tätigkeit sieht das Subjekt von sich selbst ab und richtet sich stattdessen nach seinem Gegenstand. Diese nachbildende Tätigkeit kann auch, im Hinblick auf Schleiermachers spätere Darstellung in seiner Psychologievorlesung, als die aufnehmende Empfänglichkeit bzw. die Rezeptivität des menschlichen Bewusstseins bezeichnet werden.203 Andererseits wird das sinnliche Bewusstsein des Menschen durch den Eindruck bzw. Einfluss desselben Gegenstandes innerlich „erregt“204 und anstatt unbeteiligt den Gegenstand rezipierend nachzubilden, reagiert es vielmehr selbsttätig auf ihn. Auf diese Weise erwächst aus der Einwirkung desselben Gegenstandes zugleich im Menschen ein Antrieb auf den gegebenen Sachverhalt einzuwirken und diesen am Maßstab eigener Vorstellungen gestaltend zu bearbeiten. In Schleiermachers Terminologie der Reden ausgedrückt, handelt es sich hierbei um den „herrschenden und nach außen wirkenden“205 Trieb des menschlichen Bewusstseins. Durch ihn werden die Eigenschaften der einwirkenden Dinge bzw. Eindrücke nicht im Bewusstsein nachgebildet, sondern das Bewusstsein selbst wirkt vielmehr vorbildlich nach eigenen Vorstellungen auf die gegebenen Sachverhalte ein. Bei dieser Tätigkeit soll sich folglich nicht das Subjekt nach seinem Gegenstand, sondern vielmehr umgekehrt der Gegenstand nach dem Subjekt richten. Diese herrschende Tätigkeit kann auch, wiederum der späteren Psychologievorlesung folgend, als ausströmende Selbsttätigkeit bzw. Spontaneität des menschlichen Bewusstseins bezeichnet werden.206 Die notwendige Reflexivität der menschlichen Bewusstseinstätigkeiten besteht nach Schleiermacher somit darin, dass aus dem Zusammentreffen eines Gegen197 

KGA I/2, 220,36. KGA I/2, 220,37. 199  KGA I/2, 221,6. 200  KGA I/2, 221,3 f. 201  KGA I/2, 221,5 f. 202  KGA I/2, 221,5. 203  Schleiermacher, SW III/6, 70,18. 204  KGA I/2, 218,25. 205  KGA I/2, 221,4. 206  Schleiermacher, SW III/6, 70,30 f. Vgl. auch KGA I/2, 218,32. 198 

§  7  Begründung

163

standes mit dem menschlichen Bewusstsein, d.h. bei dem innerzeitlichen Bewusstwerden eines Sachverhalts, gleichursprünglich zwei aufeinander bezogene Vorgänge einsetzen: Einerseits rezipiert das menschliche Bewusstsein den ihm gegebenen Eindruck und andererseits reagiert es selbsttätig auf ihn. Schleiermacher thematisiert mit der Reflexivität der Bewusstseinstätigkeiten also zunächst einen innerzeitlich notwendigen Trennungsakt, wodurch das eine „Faktum“207 des Zusammentretens des Bewusstseins mit seinem Gegenstand in zwei Tätigkeiten unterschieden wird. Folglich verdanken sich Rezeptivität und Spontaneität keiner „freien Reflexion“ des menschlichen Bewusstseins, welche beispielsweise bei der Bildung von „Dogmen und Lehrsäze[n]“ dadurch tätig wird, dass sich der Mensch denkend auf seine bestehenden religiösen Anschauungen und Gefühle rückbezieht und eine gedankliche „Vergleichung der reli­ giösen Ansicht mit der gemeinen“ durchführt.208 Das Kennzeichen der freien Reflexion besteht als gedanklicher Operation folglich darin, dass sie erfolgen kann, aber nicht erfolgen muss. Im Unterschied hierzu handelt es sich bei Reflexivität der menschlichen Bewusstseinstätigkeiten um kein Resultat des menschlichen Denkens oder Wollens, sondern gänzlich unabhängig von der menschlichen Willkür ist es unumgänglich, dass sie erfolgt.209 Der ursprüngliche Trennungsakt zwischen den rezeptiven und reagierenden Bewusstseinstätigkeiten entspringt somit selbst wiederum keiner Bewusstseinstätigkeit des Menschen. Diese Trennung stellt keine wählbare Option bzw. Möglichkeit des Menschen dar, wie bei der freien Reflexion, sondern sie ist laut Schleiermacher als Möglichkeitsbedingung des Bewusstseins aufzufassen. Als solche ist sie für das menschliche Bewusstsein als Bewusstsein selbst konstitutiv. Schleiermacher gibt durch den Ausdruck der „notwendigen Reflexion“ zu verstehen, dass das menschliche Bewusstsein unentrinnbar unter der formalen Struktur der Spontaneität und Rezeptivität steht, denn diese Dualität ist nicht eine seiner Möglichkeiten, sondern es selbst ist nur im Vollzug dieser Dualität möglich. Darüberhinaus wird durch die sprachliche Wendung der notwendigen Reflexion zum Ausdruck gebracht, dass alle freien Reflexionstätigkeiten des menschlichen Bewusstseins, seien sie theoretischer oder praktischer Art, ausschließlich im Horizont der für das Bewusstsein notwendigen Dualität von Spontaneität und Rezeptivität erfolgen können. Rezeptivität und Spontaneität stellen somit, weil sie die unhintergehbaren Wesensmerkmale des menschlichen Bewusstseins sind, die Möglichkeitsbedingungen für ausnahmslos jeden sinn­ lichen Wirklichkeitsbezug des Menschen dar.

207 

KGA I/2, 221,3. KGA I/2, 239,29–36. 209 Vgl. Grove, Deutungen, 317–325. 208 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Hiermit ist Schleiermachers Beschreibung der notwendigen Reflexivität aber noch nicht abgeschlossen. Als Reflexivität verweist sie nicht bloß auf die Trennung der beiden Bewusstseinstätigkeiten, sondern auch auf deren unvermeidliche Bezogenheit aufeinander bzw. ihr innerzeitlich notwendiges Zusammenspiel. Es kann laut Schleiermacher keine Tätigkeit des menschlichen Bewusstseins geben, die sich ausschließlich einer der beiden Grundtätigkeiten verdankt. Weil das menschliche Bewusstsein in die prinzipielle Dualität und damit Gleichursprünglichkeit von rezipieren und reagieren gestellt ist, trägt jede seiner Tätigkeiten den Reflex bzw. die „Spuren“210 der jeweils anderen Tätigkeit notwendigerweise in sich. Dies kann man sich auch dadurch vergegenwärtigen, dass ohne ein Zusammenspiel beider Tätigkeiten gar kein spezifisch menschliches Bewusstsein entstehen könnte: Eine reine Rezeptivität, d.h. ein rein widerstandloses Aufnehmen, würde weder zu Gegenstandseindrücken noch zur Nachbildung dieser Eindrücke im menschlichen Bewusstsein führen, sondern die Wirkung der Gegenstände würde bildlich ausgedrückt quasi ungebrochen durch den Menschen hindurch gehen. Ein Minimum an widerständiger Selbsttätigkeit bzw. Spontaneität ist also von Nöten, damit ein Gegenstandseindruck tatsächlich als Eindruck vom menschlichen Bewusstsein rezipiert zu werden vermag. In diesem Sinne spricht Schleiermacher daher in seiner späteren Psychologievorlesung davon, dass das „Aufnehmen [des menschlichen Bewusstseins, C. K.] nichts anderes ist als die Einwirkung auf eine Gegenwirkung in sich selbst.“211 Eine reine Spontaneität, d.h. ein reines Ausströmen ohne eine die Außenwelt rezipierende Komponente, würde hingegen vollkommen ins Leere agieren. Sie wäre nicht in der Lage, als ordnende und vorbildliche Wirkung auf etwas Bestimmtes herrschend tätig zu werden, sondern bestünde nur in einem richtungslosen Wirken an sich. In Anlehnung an Kants berühmtes Diktum 212 vom Verhältnis zwischen Anschauung und Begriff könnte man in Bezug auf Schleiermachers Beschreibung der menschlichen Bewusstseinstätigkeit in der Zeit insgesamt festhalten: Eine Rezeptivität ohne Spontaneität ist blind und eine Spontaneität ohne Rezeptivität ist leer. In jedem Moment des menschlichen Bewusstseins sind beide Tätigkeiten, zumindest dem Minimum nach, miteinander verbunden. Ihr Unterschied besteht ausschließlich in der relativen Dominanz einer der beiden Bewusstseins­ tätigkeiten über die andere in einem bestimmten, vornehmlich aufnehmenden oder ausströmenden, Vorgang. Erweitert man die Betrachtung des sinnlichen Bereichs und nimmt zu der bisherigen Beschreibung der subjektiven Bewusstseinstätigkeiten auch die Tä210 

KGA I/12, 60,6. Schleiermacher, SW III/6, 65,25 ff. 212 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Zweite Auflage, AA III, B75: „Gedanken ohne Inhalte sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ 211 

§  7  Begründung

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tigkeiten des Objekts hinzu, so ergibt sich das Bild der sinnlichen Wirklichkeit insgesamt. Dieses Gesamtgebiet der sinnlichen Wirklichkeit stellt sich nach Schleiermacher als der Bereich des beständigen Austauschs zwischen dem mensch­ lichen Bewusstsein und seinen Gegenständen dar. Einerseits wirken die Gegenstände erregend und verändernd auf das rezipierende Bewusstsein ein und andererseits greift das Bewusstsein von eigenen Vorstellungen geleitet ordnend und herrschend in die Beschaffenheit und Ordnung der Gegenstände ein. Dieses gegenseitige Aufnehmen und Einwirken von Gegenstand und Bewusstsein, welches sich in der Zeitenfolge als ein beständiges Nacheinander darstellt, lässt sich im logischen Sinne präzise als Wechselwirkungsstruktur bestimmen. Und weil sich in diesem beiderseitigen aufeinander Einwirken die zwei Relate der Wechselwirkung gegenseitig relativ begrenzen, kann das Gesamtgebiet der sinnlichen Wirklichkeit, wie es durch die notwendige Reflexivität der sinnlichen Bewusstseinstätigkeiten konstituiert wird, letztendlich als Gebiet der endlichen Wechselwirkung bestimmt werden: „Nichts ist nur Wirkung von ihr [der Außenwelt, C. K.] auf mich, nein, immer geht auch Wirkung von mir aus auf sie“.213 In seinem nächsten Argumentationsschritt 214 thematisiert Schleiermacher nicht mehr den Trennungsakt des Bewusstseins, sondern er bezieht sich auf die aus diesem Akt selbst hervorgehenden Trennungsprodukte. 1.2.  Die unvermeidliche Scheidung der sinnlichen Bewusstseinsprodukte Nach Schleiermachers Darstellung in KGA I/2, 221,7–19 erzeugen die beiden soeben beschriebenen menschlichen Bewusstseinstätigkeiten, Spontaneität und Rezeptivität, bei der „Berührung“215 mit einem Gegenstand „sogleich“216 zwei Produkte. Die notwendige Reflexivität der sinnlichen Bewusstseinstätigkeiten bringt Schleiermacher zufolge also eine ihr entsprechende „unvermeidliche Scheidung“217 in den sinnlichen Bewusstseinsprodukten hervor. Zum einen entsteht aus der Tatsache, dass „Euere Organe […] den Zusammenhang zwischen dem Gegenstande und Euch“218 abbilden, im Bewusstsein ein mentaler Gegenstand bzw. das „Bild eines Objekts“219 und zum anderen geht aus derselben Tatsache eine Erregung bzw. Veränderung im „innern [des] Bewusstseins“220 hervor, die sich in einem emotionalen Zustand bzw. einem „flüchtige[n] Gefühl“221 manifestiert. Schleiermachers Beschreibung präzisierend kann man sagen, dass es sich bei den beiden Produkten der sinnlichen Bewusstseinstätigkeit um das sinnliche 213 

KGA I/12, 334,10 ff. I/2, 221,7–10. 215  KGA I/2, 221,6. 216 Ebd. 217  KGA I/2, 221,2 (kursiv, C. K.). 218  KGA I/2, 218,22 f. 219  KGA I/2, 221,8. 220  KGA I/2, 218,25. 221  KGA I/2, 221,10. 214  KGA

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Gegenstandsbewusstsein auf der einen Seite und um das subjektive Zustandsgefühl bzw. das sinnliche Selbstbewusstsein auf der anderen Seite handelt. Bevor diese unvermeidliche Scheidung der Bewusstseinsprodukte und ihre Folgen für das sinnliche Bewusstseinsleben des Menschen insgesamt näher thematisiert werden, wird im Folgenden zunächst auf ein zentrales Interpretationsproblem der vorliegenden Textstelle hingewiesen: Bei Schleiermachers Beschreibung der sinnlichen Anschauungen und Gefühle ist prima facie auffällig, dass sich keines dieser beiden Bewusstseinsprodukte einer Dominanz der ausströmenden Selbsttätigkeit bzw. einer dominanten Spontaneität des menschlichen Bewusstseins zu verdanken scheint. Hier hätte man mit Bezug auf Schleiermachers spätere Psychologievorlesung entweder die so genannte äußerliche „Selbstdarstellung“ oder aber das „Werk“ selbst erwartet.222 Stattdessen beschreibt Schleiermacher nur die beiden Produkte der dominanten Rezeptivität des menschlichen Bewusstseins. Nämlich einerseits die Repräsentation des Eindrucks in der Wahrnehmung bzw. Anschauung, wodurch der Eindruck als ein bestimmtes Objekt außer dem Subjekt gesetzt wird. Und andererseits die Repräsentation des gleichen Eindrucks durch die Empfindung bzw. im Gefühl, wodurch der Eindruck als ein bestimmter innerer Gemütszustand des Subjekts selbst erfahren wird. Beide von Schleiermacher aufgeführten Produkte verdanken sich der aufnehmenden Tätigkeit des menschlichen Bewusstseins, weil sie als objektive Gegenstandsnachbildung und als subjektives Zustandsgefühl keine herrschende Wirkung auf einen gegebenen Eindruck darstellen. Und obwohl sie der aufnehmenden Tätigkeit des Bewusstseins angehören, sind sie nicht schlechthin rezipierend, sondern besitzen ein Minimum des reagierenden Bewusstseinselements. Dies geht sowohl aus Schleiermachers eigener Beschreibung von Gefühlen und Anschauungen hervor 223 als auch aus dem im letzten Abschnitt dargelegten notwendigen gegenseitigen Zusammenspiel von Rezeptivität und Spontaneität in der Zeit. Die Produkte der dominanten Spontaneität scheinen also von Schleiermacher im vorliegenden Textabschnitt nicht beachtet zu werden. Damit stellt sich aber prinzipiell die Frage, ob entweder Schleiermachers Darstellung defizitär ist oder, ob sie zwar vollständig ist, sich aber das Verhältnis zwischen Rezeptivität und Spontaneität auf der einen Seite und objektiver Anschauung und subjektivem Gefühl auf der anderen Seite noch anders fassen lässt als es bisher in der Darstellung geschehen ist. In der neueren Forschung wird die erste Ansicht von Grove vertreten, demzufolge im vorliegenden Textabschnitt eine defizitäre Beschreibung Schleier222 

Schleiermacher, SW III/6, 70,30–71,10. für die relative Aktivität der Anschauung die Stellen KGA I/2, 213,38–214,1; 214,15 und für die relative Aktivität von Gefühlen KGA I/2, 219,15 ff.; 238,15; 239,4. 223 Vgl.

§  7  Begründung

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machers vorliegt. Es geht zwar bei der Unterscheidung von rezipierender und reagierender Bewusstseinstätigkeit seines Erachtens, „um die Disjunktion von theoretisch und praktisch“.224 Zugleich hält er aber kritisch fest: Warum aber diese Unterscheidung in den Zusammenhang der Religionstheorie der Reden einbezogen wird, warum diese sie mit der auf die Reflexion oder dem deutlichen Bewußtsein beruhenden Trennung zu synthetisieren versucht, und was sie zu dieser hinzufügt, macht Schleiermacher nicht deutlich.“225 Seiner Vermutung nach ist der „Grund, daß sie von Schleiermacher einbezogen wird, […] wohl im Zusammenhang mit dem Verhältnis zwischen Anschauung und Gefühl als etwas ursprünglich Theoretischem bzw. Praktischen zu suchen.226

Dieser Gedanke wird von Grove nicht weiter ausgeführt. Nach Albrecht ist Schleiermachers Beschreibung nicht defizitär. Ihm zufolge beziehen sich die rezipierende und reagierende Bewusstseinstätigkeit auf alle Formen des seelischen Lebens, also sowohl auf die wollende als auch auf die wissende und die religiöse Form.227 Bei der religiösen Form manifestieren sich die Rezeptivität seines Erachtens im religiösen Sinn und die Spontaneität in der religiösen Fantasie.228 Weil sich nun aber das „eigentümliche Wesen der Religion“ bei Schleiermacher „nicht im Gestaltungsmodus […], sondern in dem Aufnahmemodus der Religion, dem Sinn“, realisiere, deshalb betrachte Schleiermacher vorzüglich, also auch in der jetzt betreffenden Textstelle, den rezeptiv tätigen religiösen Sinn.229 Dieser lässt sich nach Albrecht wiederum in zwei Funktionen unterscheiden, nämlich die Anschauung und das Gefühl. Dabei ist es nicht so, dass Anschauung und Gefühl bloß rezeptiv wären, sondern „[b]eide Funktionen gehören zwar dem religiösen Sinn als dem – primär rezeptiven – Aufnahmemodus des religiösen Bewusstseins an; sie äußern sich jedoch beide in spontaner und rezeptiver Form.“230 Das Defizit von Albrechts Rekonstruktion liegt darin, dass sich Schleiermacher in der vorliegenden Textstelle keineswegs nur auf das religiöse Bewusstsein bezieht, sondern zunächst die allgemeine Struktur des sinnlichen Bewusstseins beschreibt. Erst im Anschluss daran wird eine Analogie zwischen sinnlichen und religiösen Anschauungen und Gefühlen gezogen.231 Dass es Schleier­m acher im religiösen Bereich vornehmlich um den von Albrecht so genannten Aufnahmemodus, d.h. die rezipierende Tätigkeit ginge, klärt nicht die Frage, weshalb 224 

Grove, Deutungen, 324.

225 Ebd.

226  A.a.O.,

325. Albrecht, Frömmigkeit, 184. 228 Ebd. 229 Ebd. 230  A.a.O., 186. 231  „Auch mit dem innersten Schaffen des religiösen Sinns können wir diesem Schicksal nicht entgehen; nicht anders als in dieser Gestalt können wir seine Produkte wieder zur Oberfläche herauffördern und mittheilen.“ (KGA I/2, 221,10–13) 227 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Schleiermacher bereits im Bereich des sinnlichen Bewusstseins die Produkte der dominanten Spontaneität zu unterschlagen scheint. Auch kann Albrechts Zuordnung von Rezeptivität und religiösem Sinn auf der einen Seite und Spontaneität und religiöser Fantasie auf der anderen Seite nicht überzeugen. Sie findet jedenfalls im vorliegenden Textabschnitt keinerlei Erwähnung. Dieses externe Argument kann in Anbetracht der rhetorischen Gestalt der Reden selbstverständlich nur als Hilfsargument dienen. Es zeigt sich aber auch der Sache nach, dass Schleiermacher die religiöse Fantasie in den Reden vornehmlich als erweiterte Funktion gerade der religiösen Anschauung auffasst,232 und folglich keineswegs dem so genannten aus Anschauung und Gefühl bestehenden Aufnahmemodus insgesamt gegenübergestellt. Deswegen kann die Unterscheidung zwischen religiöser Fantasie und religiösem Sinn nicht der Unterscheidung zwischen religiöser Spontaneität und Rezeptivität entsprechen. Eine dritte Interpretation dieses Abschnitts liefert Herms. Im Unterschied zu Albrecht werden ihm zufolge sowohl die rezipierenden als auch die reagierenden Bewusstseinstätigkeiten vollständig in der Anschauung repräsentiert. Dementsprechend wird die Anschauung von Herms als die „spontane Synthesis rezipierter Daten“233 beschrieben. Hieraus lässt sich folgern, dass nach Herms sämtliche spontanen und rezipierenden Bewusstseinstätigkeiten in der Anschauung münden oder aus der Anschauung hervorgehen. Im Unterschied hierzu ist Herms zufolge das Gefühl bei Schleiermacher als „Gefühl der Anschauung“234 bestimmt. Dieser Interpretation zufolge bezieht sich das Gefühl folglich auf einen anderen Gegenstands- bzw. Kategorienbereich als die Anschauung. Während es in der Anschauung um sinnliche Gegenstände geht und sie daher von Herms als „vermitteltes Gegenstandsbewusstsein“235 beschrieben wird, bezieht sich das Gefühl nach Herms auf den „Möglichkeitsgrund“ des Gegenstandsbezugs, weshalb es dementsprechend als „unmittelbares Realitätsbewußtsein“ bzw. unmittelbares Selbstbewußtsein“ beschrieben wird.236 Auf diese Weise ist das Gefühl laut Herms das grundlegende Einheitsbewusstsein aller reagierenden und rezipierenden Bewusstseinsakte. Das Defizit von Herms’ Interpretation besteht darin, dass seine Beschreibung des Gefühls als des sachlogischen Grundes der Anschauung nicht durch den Text der Reden selbst gedeckt wird. Zudem verwischt seine Interpretation vorschnell die Differenzen zwischen erster und zweiter Auflage der Reden. Für die zweite Auflage der Reden stellt sich Herms’ Interpretation des Gefühls durchaus als stimmig dar. In der Erstauflage der Reden sind jedoch Anschauungen und Gefühle eindeutig auf der gleichen Bewusstseinsstufe angeordnet und ihr Ein232 

KGA I/2, 245,5–33. Herms, Herkunft, 181 (kursiv, C. K.). 234  Ders., „Religion, Wissen und Handeln“, 161 f. 235 Ders., Herkunft, 181. 236  A.a.O., 182. 233 

§  7  Begründung

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heitsgrund wird als unmittelbares Selbstbewusstsein beschrieben, ohne dieses mit dem Gefühl selbst zu identifizieren.237 Meines Erachtens lässt sich das in der vorliegenden Textstelle auftauchende Problem nur durch eine Perspektivenunterscheidung lösen. Demnach können Anschauungen und Gefühle zum einen als statische Endprodukte der menschlichen Bewusstseinstätigkeit aufgefasst werden. Zum anderen lassen sie sich aber mit gleichem Recht auch als die dynamischen Grundformen bzw. Grundbedingungen für alle weiterführenden Tätigkeiten des menschlichen Bewusstseins auffassen. Aus dieser zweiten Perspektive betrachtet, man könnte sie als die entwicklungstheoretische Perspektive bezeichnen, in der es Schleiermacher folglich nicht um das „Sein“, sondern vielmehr um „das Werden des Bewusstseins“238 geht, stellen Anschauung und Gefühl quasi den dynamischen Stoff dar, von dem ausgehend die denkende und die wollende Intelligenz des Menschen Begriffe und Handlungsmaximen allererst entwickelt.239 Aus dieser entwicklungstheoretischen Perspektive betrachtet, liegt somit im Gefühl, obgleich es wie die Anschauung im eigentlichen Sinne der dominant rezeptiven Tätigkeit des Bewusstseins angehört, dennoch die Möglichkeit beschlossen, zu einem Antrieb bzw. Handlungsimpuls entwickelt zu werden, woraus schließlich ein selbsttätiges Wirken des Menschen auf einen anderen endlichen Sachverhalt hervorgeht.240 Im Gefühl liegt folglich in unentwickelter Form bereits vor, was sich in entwickelter Form in einer Handlungmaxime, einem Handlungsimpuls oder aber einer Handlung selbst äußert.241 Das Gefühl kann somit in zweifacher Hinsicht betrachtet werden: Einerseits als das statische Produkt der dominant rezeptiven Tätigkeiten des menschlichen Bewusstseins. Dementsprechend manifestiert sich in ihm das sinnliche Selbstbewusstsein als ein rezeptiv in sich gekehrtes subjektives Zustandsgefühl. Diese Perspektive liegt Schleiermachers Beschreibungen in den oben angeführten Stellen der Psychologievorlesung zugrunde. Andererseits kann das Gefühl auch als dynamische Grundform bzw. Grundbedingung der Produkte der dominant 237  Der Sache nach hat darauf bereits Piper hingewiesen, wenn er in Bezug auf die Erstauf­ lage der Reden festhält: „Das Gefühl […] ist noch gar nicht jenes […] unmittelbare Selbstbewußtsein, das allen seelischen Akten zugrunde liegt, sondern immer ein seelischer Akt, eine Reaktion auf eine Einwirkung des Universums und als solches auch eines Mehr oder Minder an Lebhaftigkeit fähig.“ (Piper, Das religiöse Erlebnis, 44 f.) 238  KGA I/12, 59,4 f. 239 Dieser Sachverhalt gilt selbstverständlich auch für die religiösen Anschauungen und Gefühle, wie Schleiermacher in: KGA I/2, 239,29–242,3 aufzeigt. 240  KGA I/2, 239,2. 241  Vgl. hierzu auch die früheren Texte Schleiermachers, die diese These von der entwicklungsperspektivischen Deutung des Gefühls bestätigen, so z.B. in dem Brief an Wilhelm Dohna vor dem September 1796, welches auch als Fragment „Wissen, Glauben, Meinen“ in der Forschung bezeichnet wird: „Das Bewußtseyn des Sittengesetzes es mag nun unentwickelt als Gefühl oder entwickelt als Vernunfteinsicht in uns gefunden werden, gehört zu dem unmittelbaren Selbstbewußtsein der menschlichen Natur in uns.“ (KGA V/1, 326,75 ff.)

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

spontanen Bewusstseinstätigkeit angesehen werden. Denn jedem äußeren Wirken liegt nach Schleiermacher eine innere, sich zu einem Handlungsimpuls entwickelnde, subjektive Zustandsbestimmung des Menschen zugrunde. Dementsprechend manifestiert sich im Gefühl das sinnliche Selbstbewusstsein als ein zu äußerer Wirkung fähiges, d.h. potentiell reaktives Zustandsgefühl.242 Diese letztere Ansicht entspricht der entwicklungstheoretischen Beschreibungsperspektive, welche sowohl in Schleiermachers Frühschriften belegt ist als auch meines Erachtens dieser Textstelle der Reden zugrunde liegt. Das Problem von Schleiermachers Beschreibung der menschlichen Bewusstseinsprodukte kann man folglich dadurch lösen, dass man festhält: Anschau­ ungen und Gefühle entspringen im eigentlichen Sinne beide der dominant rezeptiven Tätigkeit des menschlichen Bewusstseins. Gleichwohl lässt sich aus entwicklungstheoretischer Perspektive das Gefühl als Grundform bzw. Grundbedingung der dominant reagierenden und nach außen wirkenden Tätigkeiten des menschlichen Bewusstseins auffassen. Aus dieser entwicklungstheoretischen Perspektive wären beide Bewusstseinstätigkeiten in Schleiermachers Beschreibung der sinnlichen Bewusstseinsprodukte berücksichtigt, einerseits die menschliche Rezeptivität als nachbildendes Gegenstandsbewusstsein bzw. als Anschauung und andererseits die menschliche Spontaneität als potentiell reaktionsfähiges Selbstbewusstsein bzw. als Gefühl. Die aufgezeigte entwicklungstheoretische Perspektive vermag zum einen Groves Vermutung zu begründen, in der Anschauung und dem Gefühl etwas ursprünglich Theoretisches und Praktisches zu suchen. Zum anderen kann mit ihr im Unterschied zu Albrecht bereits im sinnlichen Bewusstsein der Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Bewusstseinstätigkeiten und ihren jeweiligen Produkten aufgezeigt werden und es wird die problematische Bezugnahme auf die Fantasie vermieden. Und letztlich wahrt diese Interpretation gegenüber Herms die Eigenständigkeit der ersten Auflage der Reden gegenüber ihren Folgeauflagen. Nach der Behandlung dieser zentralen Interpretationsproblematik komme ich zurück zur „unvermeidlichen Scheidung“ der sinnlichen Bewusstseinsprodukte, indem die Folgerungen betrachtet werden, die sich aus der entwicklungstheoretischen Sicht auf die vorliegende Textstelle ergeben. Das bisherige Ergebnis bestand darin, dass aus der notwendigen Reflexivität der sinnlichen Bewusstseins­ tätigkeiten die unvermeidliche Scheidung der sinnlichen Bewusstseinsprodukte hervorgeht. Das Verhältnis der Bewusstseinsprodukte gestaltet sich zueinander vollkommen analog zu demjenigen der beiden Bewusstseinstätigkeiten: 242  E. Huber, K. Barth und Beisser weisen in ihrer Interpretation zwar darauf hin, dass sich die Gefühle zu den Anschauungen wie das Aktive zum Passiven verhalten, über eine Problemanzeige dieses Sachverhalts reicht ihre Darstellung jedoch nicht hinaus. Vgl. E. Huber, Entwicklungen, 29 f.; Barth, K., Die Theologie Schleiermachers. Vorlesung: Göttingen Wintersemester 1923/24, hrsg. v. D. Ritschl, Zürich 1978, 155; Beißer, Schleiermachers Lehre von Gott, 21 f.

§  7  Begründung

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Nach Schleiermacher gilt daher erstens, dass die Scheidung der sinnlichen Bewusstseinsprodukte in Objektanschauungen einerseits und Subjektgefühle andererseits nicht der Willkür oder geistigen Tätigkeit des Bewusstseins selbst entspringt, sondern sachlich notwendig erfolgt und mithin für jedes mensch­ liche Bewusstsein „unvermeidlich“243 ist. Jedes Zusammentreffen eines Bewusstseins mit seinem Gegenstand, d.h. jede Erfahrung im eigentlichen Sinne, führt im Bewusstsein unweigerlich zu der Trennung in die beiden Bereiche der Gegenstandsanschauung einerseits und des Selbstgefühls andererseits. Aus diesem Grunde kann nach Schleiermacher der Mensch das unmittelbare Zusammentreffen seines sinnlichen Bewusstseins mit einem Gegenstand auch „nicht anders als in dieser getrennten Gestalt […] wieder zur Oberfläche herauffördern und mitteilen.“244 Schleiermacher versinnbildlicht diesen Vorgang, indem er davon spricht, dass der ursprüngliche einheitliche Gesamteindruck einer Erfahrung innerzeitlich nur in zwei getrennten „Schatten“245 repräsentiert und dargestellt werden kann. Zweitens folgt aus dieser notwendigen Gleichursprünglichkeit von Anschauung und Gefühl, dass es nach Schleiermacher kein sinnliches Gegenstandsbewusstsein ohne ein gleichzeitiges sinnliches Selbstbewusstsein geben kann und umgekehrt.246 Analog zum Zusammenspiel der menschlichen Bewusstseinstätigkeiten, bleibt deswegen in jeder sinnlichen Gegenstandsanschauung eine subjektive Spur, d.h. ein korrespondierendes Selbstgefühl erhalten und in jedem sinnlichen Selbstgefühl bleibt der objektive Reflex eines Gegenstandes enthalten, von dessen Einwirkung das jeweilige Subjekt seinen Gefühlszustand erhalten hat.247 Aus diesem Grund kann Schleiermacher, wie bereits oben für den Bereich der Bewusstseinstätigkeiten gezeigt, auch im Bereich der Bewusstseins­ produkte das berühmte Kantische Diktum abwandelnd festhalten: „Anschauung ohne Gefühl ist nichts und kann weder den rechten Ursprung noch die rechte Kraft haben, Gefühl ohne Anschauung ist auch nichts“248. 243 

KGA I/2, 221,1. KGA I/2, 221,11 f. 245  KGA I/2, 221,34. 246 Gegen Flückinger, demzufolge mit Blick auf die Reden gilt: „Die Anschauung erscheint dabei als der primäre, das Gefühl als der sekundäre Aspekt, da er hier nur als der Reflex der Anschauung im Gemüt gilt.“ (Flückinger, Philosophie und Theologie, 49) Ebenso gegen Süskind, Einfluß Schellings, 153: „So ist schon in der 1.  Aufl. [der Reden, C. K.] die Bedeutung des Gefühls im religiösen Erlebnis keineswegs verkannt oder verkürzt. Ueberall ist deutlich, wie in der Beschreibung der religiösen Anschauungen die Saite des Gefühls mitschwingt. Aber das Gefühl hat keine selbständige Bedeutung neben der Anschauung, sondern ist nur der subjektive Reflex derselben. Das Gefühl gibt überall die Farbe und Stimmung, in die die Anschauung getaucht erscheint, aber nicht das Gefühl bestimmt den Inhalt der Anschauung, sondern der Inhalt der Anschauung bedingt diese oder jene Bestimmtheit des Gefühls.“ Auch gegen Fuchs, Schleiermachers Religionsbegriff, 9. 247  Vgl. KGA I/12, 59,14–60,5. 248  KGA I/2, 221,16–18. 244 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Entgegen der Ansicht von Herms wird durch diese Aussage von Schleiermacher also nicht darauf hingewiesen, dass Anschauung und Gefühl unterschiedliche Ebenen des menschlichen Bewusstseins repräsentieren und in diesem Fall das Gefühl den Ursprung bzw. die Kraft der Anschauung darstellt. Sondern vielmehr wird durch die Ausdrücke „Ursprung“ und „Kraft“ in diesem Zusammenhang explizit auf das notwendige Zusammenspiel von Anschauung und Gefühl in der Zeit hingewiesen. Die Anschauung eines Subjekts kann deshalb nach Schleiermacher ohne ein Gefühl keinen rechten Ursprung oder eine rechte Kraft besitzen, weil nur das Zusammenspiel mit einem Gefühl den Rück­ bezug einer Anschauung auf eine ursprünglich selbsterlebte Erfahrung des Subjekts garantiert. Das Gleiche gilt selbstverständlich auch umgekehrt für die sinnlichen Gefühle eines Subjekts.249 Somit wird in dem oben angegebenen Zitat gerade entgegen der Ansicht von Herms nicht etwa die kategoriale Differenz zwischen Gefühl und Anschauung zur Sprache gebracht, sondern vielmehr aufgezeigt, dass Anschauung und Gefühl aufgrund ihrer Gleichursprünglichkeit einen gemeinsamen Ursprung besitzen, der allererst ihr innerzeitlich notwendiges Zusammenspiel ermöglicht. Dies macht der zweite Teil des Zitats deutlich, denn, so fährt Schleiermacher fort, „beide [d.h. Anschauung und Gefühl, C. K.] sind nur dann etwas, wenn und weil sie ursprünglich Eins und ungetrennt sind.“250 Das implizite Argument Schleiermachers hinter dieser Behauptung lässt sich wie folgt rekonstruieren. Die Gleichursprünglichkeit von Anschauung und Gefühl besagt nicht bloß, dass beide Bewusstseinsprodukte niemals unabhängig voneinander auftreten können, sondern auch, dass sie notwendigerweise immanent aufeinander verweisen. Albrecht drückt es so aus, dass beide in einem sachlich notwendigen „Korrelatsverhältnis“251 zueinander stehen. Weil also jeder bestimmten Anschauung ein bestimmtes Gefühl korrespondiert und sich bei jeder Veränderung eines der beiden Relate das jeweils andere mitverändert,252 muss es nach Schleiermacher einen gemeinsamen Grund geben, in welchem beide Relate, Anschauung und Gefühl, ungetrennt beieinander sind. Ohne einen gemeinsamen Grund bzw. Ursprung wäre das beständige Zusammensein und aufeinander bezogene Zusammenspiel zwischen Anschauung und Gefühl nach Schleiermacher folglich gar nicht möglich. Deswegen verweist das trotz ihrer unvermeidlichen Scheidung beständig stattfindende Zusammenspiel von Anschauung und Gefühl auf einen ihnen beiden zugrundeliegenden einheit­ lichen Bewusstseinszustand, in welchem sie ungetrennt beieinander liegen. Insgesamt lässt sich somit für die sinnlichen Bewusstseinstätigkeiten und ihre Produkte festhalten: Schleiermacher beschreibt in dem relativ kurzen Abschnitt 249 

KGA I/2, 222,12–20. KGA I/2, 221,18 f. 251  Albrecht, Frömmigkeit, 189. 252  Vgl. KGA I/12, 60,5–22. 250 

§  7  Begründung

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KGA I/2, 220,29–221,10.16–19 ausgehend von einer spezifisch darstellungstechnischen Problematik des allgemeinen Bewusstseinsvollzugs zunächst skizzenhaft die allgemeine Funktionsweise des sinnlichen Bewusstseins in der Zeit. Das Gesamtgebiet des sinnlichen Bewusstseins ist nach Schleiermacher somit auf den Bereich der in endlichen Wechselwirkungen stehenden Bewusstseins­ tätigkeiten mit ihren in der Zeit veränderlichen Bewusstseinsprodukten ein­ geschränkt. Zugleich konnte gezeigt werden, dass der Bereich des sinnlichen ­Bewusstseins, aufgrund der Gleichursprünglichkeit und des Zusammenspiels seiner Tätigkeiten und Produkte, auf einen Bereich außerhalb dieser Beschränkung verweist. Schleiermachers Beschreibung dieses Einheitsgrundes des sinn­ lichen Bewusstseins, seine Struktur und der Zusammenhang des Einheitsgrundes mit dem aktualen sinnlichen Bewusstsein wird im folgenden Abschnitt ­behandelt. Auf diese Weise kann am Ende der folgenden Darstellung Schleiermachers Verständnis vom sinnlichen Bewusstseinsleben insgesamt in Grund­ zügen präsentiert werden. 1.3.  Einheitsgrund und Struktur des sinnlichen Bewusstseinslebens insgesamt In einem dritten Beschreibungsschritt in KGA I/2, 221,20–26 zeigt Schleiermacher auf, dass den soeben dargestellten sinnlichen Bewusstseinstätigkeiten und -produkten, welche ihm zufolge innerhalb der Wechselwirkung mit endlichen Sachverhalten und in der sinnlichen Zeitenfolge stehen, sachlich notwendig ein Bewusstseinszustand zugrunde liegt, der weder von der notwendigen Reflexivität der Bewusstseinstätigkeiten, also Spontaneität und Rezeptivität, noch von der unvermeidlichen Scheidung der Bewusstseinsprodukte, nämlich dem sinnlichen Selbstgefühl und der sinnlichen Gegenstandsanschauung, betroffen ist und demzufolge von ihm als ein Zustand außerhalb der Wechselwirkung und vor der sinnlichen Zeitenfolge beschrieben wird. Diesen Bewusstseinszustand beschreibt Schleiermacher wie folgt: Jener erste geheimnisvolle Augenblik, der bei jeder sinnlichen Wahrnehmung vorkommt, ehe noch Anschauung und Gefühl sich trennen, wo der Sinn und sein Gegenstand gleichsam in einander gefloßen und Eins geworden sind, ehe noch beide an ihren ursprünglichen Plaz zurükkehren – ich weiß wie unbeschreiblich er ist, und wie schnell er vorüber geht.253

Es handelt sich bei diesem geheimnisvollen Augenblick folglich um den ursprünglichen Einheitsmoment von menschlichem Sinn und seinem Gegenstand selbst und zwar, darin liegt der Clou von Schleiermachers Überlegungen, im menschlichen Bewusstsein.254 Dadurch kommt zum Ausdruck, dass mit dem 253 

KGA I/2, 221,20–24. Geistesgeschichtliche Anleihen dieser Beschreibung des geheimnisvollen Augenblicks sieht Grove bei Fichte (Grove, Deutungen, 327–330). Allerdings lassen sich auch bei Schelling ähnliche Beschreibungen finden: „Indem ich den Gegenstand vorstelle, ist Gegenstand und Vorstellung Eins und dasselbe“ (Schelling, Einleitung zu den Ideen zu einer Philosophie der 254 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Einssein von Selbst und Gegenstand nicht etwa eine bewusstseinsexterne Identität gemeint ist, sondern ihr Einssein ausschließlich im Bewusstsein stattfindet. Ein bewusstseinsexternes Einssein würde bedeuten, dass vor jeder sinnlichen Wahrnehmung das Selbst und sein Gegenstand real identisch wären. So ginge z.B. der Wahrnehmung eines Steins die reale Identität von Stein und Selbst in der Welt voraus. Schleiermacher vertritt keineswegs solch eine befremdliche bewusstseinstheoretische Ansicht. Seines Erachtens handelt es sich bei dem Einssein von Selbst und Gegenstand vor jeder Wahrnehmung somit nicht um eine bewusstseinsexterne, reale Identität, sondern vielmehr um eine bewusstseinsinterne, ideale Einheit. Lönker bezeichnet ihn, auf die berühmte Hegelsche Formulierung aus der Differenzschrift anspielend,255 als die „Einheit von Identität und Unterschiedenheit.“256 Präzise gesprochen handelt es sich bei diesem bewusstseinsinternen Einheitsmoment im Menschen um das ursprüngliche Bewusstsein vom Einssein zweier Nichtidentischer. Das sinnliche Bewusstsein ist demzufolge nach Schleiermacher nicht allein dadurch gekennzeichnet, dass es sich aktual rezeptiv und reagierend auf seine Gegenstände bezieht, sondern es ist sich darüber hinaus auch einer Dimension der ursprünglichen Bezogenheit von sich Selbst und seinem Gegenstand im Bewusstsein gewiss. Schleiermachers Beschreibung kann man demzufolge entnehmen, dass es sich bei dem geheimnisvollen Augenblick im sinnlichen Bewusstsein um eine Evidenzerfahrung handelt. Der formalen Struktur nach bildet der geheimnisvolle Augenblick im Bewusstsein eine in sich differenzierte Einheit, in welcher die beiden Relate, das eigene Selbst und sein Gegenstand, gleichursprünglich beieinander liegen. Den Natur (1797), SW I,2, 1–73, hier: 15). Am wahrscheinlichsten ist meines Erachtens jedoch der Sachbezug zu Jacobis Auseinandersetzung mit David Humes epistemologischer Glaubenskonzeption. Dies zeigt sich bis in die einzelnen Formulierungen hinein, wie es folgendes Zitat von Jacobi deutlich macht. Nach Jacobis epistemologischer Konzeption verhält es sich so, dass „[…] bey der allerersten und einfachsten Wahrnehmung, das Ich und das Du, inneres Bewußtsein und äusserlicher Gegenstand, sogleich in der Seele da seyn müssen; beydes in demselben Nu, in demselben untheilbaren augenblicke, ohne vor und nach, ohne irgend eine Operation des Verstandes“. (Jacobi, F. H., David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch (1787), in: Werke II, Leipzig 1815, ND Berlin 2001, 127–288, hier: 176 (kursiv, C. K.)) Diesen unteilbaren Augenblick im menschlichen Bewusstsein beschreibt Jacobi, auch hierin vorbildhaft für Schleiermacher, als unmittelbare Offenbarung: „Der Gegenstand trägt eben so viel zur Wahrnehmung des Bewußtseyns bey, als das Bewußtseyn zur Wahrnehmung des Gegenstands. Ich erfahre, daß ich bin, und daß etwas außer mir ist, in demselben untheilbaren Augenblick; und in diesem Augenblicke leidet meine Seele vom Gegenstande nicht mehr, als sie von sich selbst leidet. Keine Vorstellung, kein Schluß vermittelt diese zwiefache Offenbarung.“ (A.a.O., 175 (kursiv, C. K.) 255 Vgl. Hegel, G. W. F., Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, in: ders., Jenaer kritische Schriften [=GW 4], hrsg. v. H. Buchner/O. Pöggeler, Hamburg 1968, 1–92, hier: 64. 256  Lönker, „Religiöses Erleben“, 62.

§  7  Begründung

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Inhalt des geheimnisvollen Augenblicks im Bewusstsein bildet daher auch nicht eine bestimmte Gegenstandsanschauung oder ein bestimmtes Selbstgefühl, sondern vielmehr wird der Mensch in ihm des ursprünglichen Verhältnisses zwischen seinem Selbst und einem Gegenstand unmittelbar ansichtig. Eine Vorstufe zu der Beschreibung dieser ursprünglichen Bewusstseinseinheit in den Reden findet sich bereits in Schleiermachers ethischen Jugendschriften, so z.B. an prominenter Stelle in seinem unveröffentlichten Werk Über den Wert des Lebens. Hier stellt Schleiermacher mit Bezug auf die erkennenden und begehrenden bzw. rezipierenden und spontanen Kräfte des Menschen fest, sie „sollen nicht zwei in mir sein, sondern Eins“.257 Deutlich wird an diesem Text allerdings auch der Unterschied zur Bewusstseinskonzeption der Reden. Denn während es in den Reden um einen ursprünglichen und unumgänglichen Einheitspunkt im Bewusstsein geht, soll im Wert des Lebens dieser Einheitspunkt von dem Subjekt selbst erst erzeugt werden: „Vollkomne beständige Übereinstimmung beider, […] Einheit beider in Zweck und Gegenstand, das ist Humanität. Das ist das schöne Ziel welches dem menschlichen Wesen gestekt ist“.258 Man kann also mit Bezug auf die früheren, vornehmlich ethischen Werke Schleiermachers festhalten, dass sich in der Urauflage der Reden zum ersten Mal die theoretischen Ansätze zur Beschreibung einer unmittelbaren Bewusstseinsstruktur finden lassen, welche von ihm später zum markanten Kennzeichen seiner Bewusstseinstheorie insgesamt ausgebaut werden sollen: dem unmittelbaren Selbstbewusstsein. Obwohl Schleiermacher es in den Reden nicht explizit ausführt, können aus seiner Darstellung demnach die folgenden Thesen abgeleitet werden: Erstens vermag der geheimnisvolle Augenblick im Bewusstsein, obwohl er seinem Wesen nach zeitlich invariabel außerhalb der sinnlichen Wechselwirkungs­ beziehungen liegt, dennoch das innerzeitliche Zusammenspiel der sinnlichen Bewusstseinstätigkeiten und -produkte in der sinnlichen Wechselwirkung mit einem Gegenstand zu begründen. Zweitens ist das Wirklichwerden des geheimnisvollen Augenblicks im Bewusstsein, trotz seiner kategorialen Unterschiedenheit von den sinnlichen Bewusstseinstätigkeiten und -produkten, ausschließlich im begleitenden Zusammensein mit diesen möglich. Beide Thesen soll im Folgenden nacheinander erläutert werden: Erstens: Seinem Wesen nach bezieht sich der geheimnisvolle Augenblick im Bewusstsein laut Schleiermacher nicht auf einzelne Zustandsgefühle oder einzelne Gegenstandsanschauungen, sondern auf einen Bereich, „wo der Sinn und sein Gegenstand gleichsam in einander gefloßen und Eins geworden sind“259. 257 

KGA I/1, 410,4 f. KGA I/1, 410,5–8. 259  KGA I/2, 221,21 f. 258 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Weil nun dieser Bereich, wie gezeigt, das ursprüngliche Verhältnis zwischen dem Selbst und seinem Gegenstand umfasst, kann er selbst nicht wiederum das Resultat der in der aktualen Wechselwirkung mit einem Gegenstand agierenden Bewusstseinstätigkeiten und ihrer Produkte darstellen, sondern vielmehr liegt er diesen immer schon konstitutiv voraus. Der geheimnisvolle Augenblick im Bewusstsein wird folglich nicht mittelbar durch die produktive Tätigkeit des menschlichen Bewusstseins selbst erst ermöglicht, sondern, weil er sich bei jedem Zusammentreffen eines Bewusstseins mit einem Gegenstand unmittelbar einstellt, bildet er vielmehr umgekehrt allererst die Möglichkeitsbedingung von Gegenständlichkeit überhaupt, innerhalb deren dann die Bewusstseinstätigkeiten agierend und reagierend tätig werden können. Die Unmittelbarkeit des geheimnisvollen Augenblicks meint also nicht, dass sie ohne Vermittlung eines Gegenstandes stattfindet, sondern sie zeigt bei Schleiermacher vielmehr an, dass sich der geheimnisvolle Augenblick ohne eigene Aktivität des Subjekts einstellt. Aus diesem Grunde ist es in diesem Zusammenhang gerechtfertigt, den Ausdruck „unmittelbar“ in Sinne von vorreflexiv bzw. vorvoluntativ zu verstehen. Mit diesem Punkt zusammenhängend wird auch deutlich, dass der geheimnisvolle Augenblick im Bewusstsein, weil er sich seinem wesentlichen Gehalt nach nicht dem Bereich der sinnlichen Wechselwirkungen verdankt, auch in der Zeit nicht verändern kann. Seine mögliche Veränderung würde keine bestimmte Zustandsveränderung des sinnlichen affizierten Menschen voraussetzen, sondern könnte nur aufgrund einer strukturellen Veränderung des sinnlichen Bewusstseins selbst erfolgen. Somit handelt es sich bei dem geheimnisvollen Augenblick im Bewusstsein seinem Wesen nach um immer das gleiche, nämlich zeitlich invariable Bewusstsein eines Menschen von dem ursprünglichen Verhältnis zwischen dem eigenen Selbst und einem Gegenstand, welches nach Schleiermacher dementsprechend „bei jeder sinnlichen Wahrnehmung vorkommt“.260 Darüber hinaus geht aus Schleiermachers skizzenhafter Darstellung hervor, dass der geheimnisvolle Augenblick im Bewusstsein zwar außerhalb der innerzeitlichen Wechselwirkungsbeziehungen zwischen Selbst und Gegenstand steht, aber dennoch ihr Zusammenspiel in den aktualen Wechselwirkungen zu begründen vermag. Dies kommt daher, dass Schleiermacher zufolge im geheimnisvollen Augenblick dem menschlichen Bewusstsein nicht nur, wie eben gezeigt, die Möglichkeitsbedingungen von Gegenständlichkeit überhaupt erschlossen sind, sondern darüber hinaus auch die Rahmenbedingungen vorgegeben sind, innerhalb deren ein innerzeitlicher Gegenstandsbezug möglich ist. Weil sich der geheimnisvolle Augenblick im Bewusstsein auf denjenigen Bereich bezieht, in welchem das ursprüngliche Verhältnis zwischen dem Selbst und einem Gegenstand erfasst ist, so verweisen auch die aktualen Vollzüge jedes bewussten 260 

KGA I/2, 221,20 f.

§  7  Begründung

177

Umgangs mit einem Gegenstand notwendigerweise relativ aufeinander. Die Art und Weise der möglichen Bezugnahme des menschlichen Bewusstseins auf einen Gegenstand findet also nach Schleiermacher ihre Begründung im geheimnisvollen Augenblick und ist dementsprechend auf den Bereich des sachlich notwendigen Zusammenspiels der reagierenden und rezipierenden produktiven Tätigkeiten des Menschen eingeschränkt. Demzufolge ist jeder bewusste Umgang eines Menschen mit einem Gegenstand nur im Rahmen einer jeweils relativen Selbständigkeit und das bedeutet, innerhalb einer endlichen Wechselwirkungsbeziehung möglich. Im geheimnisvollen Augenblick wird sich das sinnliche Bewusstsein auf unmittelbare Weise seiner eigenen intelligiblen Struktur präsent, der gemäß es selbst mittelbar rezipierend und reagierend produktiv tätig zu werden vermag.261 Aus diesem Grunde kann der geheimnisvolle Augenblick im Bewusstsein präziser als unmittelbares Selbstbewusstsein 262 des sinnlichen Bewusstseins bezeichnet werden. Aufgrund seines unmittelbaren Selbstbewusstseins bzw. seiner allgemeinen Form des „Sich-selbst-habens“263, agiert das sinnliche Bewusstsein somit nicht bloß in der endlichen Wechselwirkung mit anderen Sachverhalten, sondern es ist sich zugleich seines Seins-in-der-Wechselwirkung mit anderen Sachverhalten unmittelbar gewiss. Damit ist die erste der beiden obigen Thesen begründet: Der geheimnisvolle Augenblick im menschlichen Bewusstsein steht als unmittelbares Selbstbewusstsein seinem Wesen nach zeitlich invariabel außerhalb der sinnlichen Wechselwirkungsbeziehungen und vermag zugleich als unmittelbares Selbstbewusstsein, welches sich auf den Bereich des ursprünglichen Verhältnisses zwischen dem eigenen Selbst und seinem Gegenstand bezieht, die aktualen Wechselwirkungsbeziehungen zwischen beiden zu begründen. Zweitens: Das Wirklichwerden dieses unmittelbaren Selbstbewusstseins ist nach Schleiermacher trotz seiner soeben aufgezeigten kategorialen Unterschiedenheit von den sinnlichen Bewusstseinstätigkeiten und ihren Produkten allerdings nur im Zusammenhang mit diesen möglich. Denn seine deutliche Existenz ist nur innerhalb der Zeit möglich.264 Schleiermacher bringt dies in der vorliegenden Textstelle dadurch zum Ausdruck, dass ihm zufolge das unmittelbare Selbstbewusstsein, obwohl es doch seinem Wesen nach als zeitlich invariabel 261  Der geheimnisvolle Augenblick ist nach Schleiermacher daher allgemein die „Geburtstunde alles Lebendigen“ im menschlichen Bewusstsein, darin eingeschlossen selbstverständlich auch die Geburtsstunde der Religion (KGA I/2, 222,9). 262  In der späteren Dialektik beschreibt Schleiermacher dies folgendermaßen: „Der Übergang beider Funktionen ineinander muß das Mitgesetztsein des anderen einschließen, d.h. als reines unmittelbares Selbstbewußtsein gesetzt sein.“ (Schleiermacher, Dialektik (1822), §  215, 287,6–8) 263  A.a.O., §  215, 288,7 f. 264  KGA I/2, 221,1.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

bestimmt ist, dennoch bloß „flüchtig“ in Erscheinung tritt und „schnell […] vorüber geht“.265 Aus dem bisher Gesagten wird diese Bemerkung verständlich. Schleiermacher kann mit dem Ausdruck „flüchtig“ nicht meinen, dass sich der geheimnisvolle Augenblick im Bewusstsein bzw. das unmittelbare Selbstbewusstsein auf der einen Seite und die bestimmten sinnlichen Bewusstseinstätigkeiten und -produkte auf der anderen Seite nacheinander abwechselnd im Bewusstsein einstellen und sich auf diese Weise gegenseitig ausschließen. Solch eine Interpretation ist inadäquat, weil sich das unmittelbare Selbstbewusstsein ja soeben als dauerhafte Möglichkeitsbedingung der produktiv tätigen Akte des sinnlichen Bewusstseins erwiesen hat. Daher ist Schleiermachers Bemerkung zur Flüchtigkeit des geheimnisvollen Augenblicks nur so zu verstehen, dass dieser niemals an sich im Bewusstsein vorkommt, sondern ausschließlich im Zusammensein mit den aktualen sinnlichen Bewusstseinsvollzügen, d.h. aber, das unmittelbare Selbstbewusstsein verwirklicht sich nur als die sinnlichen Bewusstseinstätigkeiten und -produkte begleitend. Somit ist der zweite Teil der obigen These begründet: Der geheimnisvolle Augenblick im Bewusstsein kann als unmittelbares Selbstbewusstsein nur im Verbund mit den innerzeitlichen Bewusstseinstätigkeiten und ihren Produkten wirklich werden. Das bedeutet, er existiert niemals an sich, sondern begleitet als jeweils bestimmtes unmittelbares Selbstbewusstsein die Tätigkeiten und Akte des sinnlichen Bewusstseins. Zusammenfassend kann im Anschluss an die Beschreibungen Schleiermachers für das sinnliche Bewusstseinsleben266 insgesamt festgehalten werden: Das sinnliche Bewusstseinsleben geht seinem Ursprung nach auf das unmittelbare Selbstbewusstsein des Menschen zurück, welches den ursprünglichen Einheitspunkt des sinnlichen Bewusstseins bildet. In ihm ist sich der Mensch seines ursprünglichen Verhältnisses zu den gegebenen endlichen Gegenständen unmittelbar gewiss, welche Gewissheit sich näher als ein Sein-in-der-Wechselwirkung bestimmen lässt. Inhaltlich bezieht sich das unmittelbare Selbstbewusstsein folglich nicht auf den Bereich der sinnlich gegebenen Sachverhalte, sondern auf den intelligiblen Möglichkeitsbereich, in welchem diese Sachverhalte dem Bewusstsein ursprünglich gegeben sind (Gegenständlichkeit überhaupt) und in dessen Rahmen sie miteinander agieren können (Gegenstandsbezug überhaupt). Es unterscheidet sich also dadurch kategorial von allen aktualen Vollzügen des sinnlichen Bewusstseins, dass es selbst zeitlich invariabel außerhalb der Wechselwirkung stehend deren innerzeitliches Zusammenspiel in der Wechselwirkung ermöglicht bzw. begründet. Zugleich hält Schleiermacher fest, dass das unmittelbare Selbstbewusstsein der Form nach nur auf zeitliche Weise im 265 

KGA I/2, 221,24–28. Vgl. dazu auch KGA I/12, 62,28 f.: Der bloße Wechsel von Rezeptivität und Spontaneität ist nach Schleiermacher noch kein Leben, sondern es braucht ein Zentrum „woraus sich diese[r] entwikkelt, und worin e[r] wieder verschwindet.“ 266 

§  7  Begründung

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Bewusstsein wirklich zu werden vermag. Dies ist so zu verstehen, dass die soeben beschriebene aktbegründende Funktion des unmittelbaren Selbstbewusstseins ausschließlich im Zusammensein mit den aktualen sinnlichen Bewusstseinstätigkeiten und -produkten in Erscheinung tritt, d.h. sich ausschließlich in aktbegleitender Funktion im sinnlichen Bewusstsein manifestiert. Der Vollzug des sinnlichen Bewusstseinslebens stellt sich nach Schleiermacher folglich als ein Zusammensein des unmittelbaren Selbstbewusstseins und der sinnlichen Bewusstseinstätigkeiten dar, welche letzteren sich gemäß des ihnen vorgegebenen Möglichkeitsbereichs, dem Sein-in-der-Wechselwirkung, gleich­ ursprünglich sowohl rezipierend als auch reagierend auf ihren Gegenstand beziehen. Die Endgestalt eines Umlaufs des sinnlichen Bewusstseinslebens bilden die ein­zelnen „festgestellte[n]“267 sinnlichen Gegenstandsanschauungen und Selbst­ gefühle, deren innerzeitliches Zusammenspiel trotz getrennter Bezugsbereiche vom sie begleitenden unmittelbaren Selbstbewusstsein ermöglicht und garantiert wird. Mit seiner Darstellung des sinnlichen Bewusstseinslebens hat Schleiermacher somit auf bewusstseinstheoretischer Ebene den Grund aufgezeigt, weshalb sich in darstellungstechnischer Hinsicht Anschauungen und Gefühle nur getrennt behandeln und mitteilen lassen und inwiefern trotz dieser darstellungstechnischen Probleme dennoch in jeder wirklichen Erfahrung ein Bewusstsein von ihrem ursprünglichen Zusammenspiel mitenthalten ist. Zugleich hat er durch die, in den Reden allerdings nur implizit zur Darstellung gebrachte, Identifikation des Einheitsgrundes des menschlichen Bewusstseins mit dem unmittelbaren Selbstbewusstsein die Grundlage für seine Dar­ stellung des religiösen Bewusstseinslebens und dessen Zusammenhang mit dem sinnlichen Bewusstseinsleben geschaffen, die im Folgenden erörtert werden soll. 2.  Das religiöse Bewusstseinsleben In zwei unterschiedlichen Hinsichten soll im Folgenden die Grundstruktur des religiösen Bewusstseinslebens herausgearbeitet werden: Zum einen wird die formale Strukturanalogie zwischen dem sinnlichen und dem religiösen Bewusstseinsleben dargestellt (2.1). Zum anderen wird die inhaltliche Bestimmtheit des unmittelbaren religiösen Selbstbewusstseins aufgezeigt und ihr spezifischer Unterschied zum unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstsein erörtert (2.2).

267 

KGA I/12, 61,29.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

2.1.  Die formale Strukturanalogie zwischen dem sinnlichen und dem religiösen Bewusstseinsleben Im vorliegenden Textabschnitt in KGA I/2, 220,29–222,6 zeigt Schleiermacher auf, dass er das sinnliche und das religiöse Bewusstseinsleben formal als strukturanalog begreift 268 und zugleich beiden eigentümliche inhaltliche Bestimmtheit attestiert. Ihre formale Strukturanalogie erstreckt sich zum einen darauf, dass, wie im sinnlichen Bewusstsein, so auch in der Religion, die Bewusstseinstätigkeiten und -produkte in der Zeit einer unvermeidlichen Scheidung unterliegen: Auch mit dem innersten Schaffen des religiösen Sinnes können wir diesem Schiksal nicht entgehen; nicht anders als in dieser getrennten Gestalt können wir seine Produkte wieder zur Oberfläche herauffördern und mittheilen.269

Zum anderen verweisen auch die religiösen Tätigkeiten und Produkte analog zum sinnlichen Bewusstsein aufgrund ihrer Gleichursprünglichkeit auf einen gemeinsamen Ursprung im Bewusstsein: Nur denkt nicht – und dies ist eben einer von den gefährlichsten Irrthümern – daß religiöse Anschauungen und Gefühle auch ursprünglich in der ersten Handlung des Gemüths so abgesondert sein dürfen, wie wir sie leider hier betrachten müßen.270

Grundsätzlich sind religiöse Anschauungen und Gefühle gleichursprünglich.271 Diesen gemeinsamen Ursprung im religiösen Bewusstsein sieht Schleiermacher, wiederum in Entsprechung zum sinnlichen Bewusstsein, im sogenannten geheimnisvollen Augenblick bzw. im unmittelbaren Selbstbewusstsein gegeben: Jener erste geheimnisvolle Augenblick, der bei jeder sinnlichen Wahrnehmung vorkommt, […] ich wollte aber Ihr könntet ihn festhalten und auch in der höheren und göttlichen religiösen Thätigkeit des Gemüths ihn wieder erkennen.272

268  Trotz seiner grundsätzlichen Kritik an Schleiermachers Vorgehen muss dies auch E. Huber zugeben (E. Huber, Entwicklung, 35). Vgl. auch Dilthey, Leben Schleiermachers, 321 f. 269  KGA I/2, 221,10–13 (kursiv C. K.). Im vorliegenden Zitat bezieht sich Schleiermacher mit seinem Ausdruck des „innersten Schaffens“auf die religiösen Bewusstseinstätigkeiten, welche die „Produkte“, d.h. die religiösen Anschauungen und Gefühle, hervorbringen. 270  KGA I/2, 221,13–16. 271 Gegen Fuchs, Schleiermachers Religionsbegriff, 10; Braasch, Comparative Darstellung, 60 ff. und auch Eckert, „Das Verhältnis“, 43. Angemessen beschrieben hingegen von Piper, Das religiöse Erlebnis, 61: „Gefühl wie Anschauung sind Produkte des religiösen Vorgangs, aber eben als solche wohl von diesem, nicht aber voneinander abhängig. Dem Nacheinander von Anschauung und Gefühl widerspricht auch das Moment der Unmittelbarkeit, das wir am religiösen Vorgang kennen gelernt haben. Das Gefühl stellt dann keine unmittelbare Reaktion auf die Berührung mit dem Gegenstand dar, sondern wäre durch die Anschauung vermittelt. Dann hätte ich wohl in der Anschauung ein unmittelbares Bewußtsein vom Universum, im Gefühl aber nur eine Reaktion auf eine Vorstellung des Universums.“ 272  KGA I/2, 221,20–21.24–26.

§  7  Begründung

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Nach Schleiermacher stellt auch in der Religion der intelligible Bereich des menschlichen Bewusstseins, das unmittelbare Selbstbewusstsein, dasjenige Gebiet dar, von dem aus sie ihren Ursprung nimmt und vom dem her sich das religiöse Bewusstseinsleben entfaltet.273 Wie beim unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstsein erweist sich das unmittelbare religiöse Selbstbewusstsein seinem Wesen nach als aktbegründend gegenüber seinen aktualen Vollzügen und Produkten und kann dennoch aufgrund seines Charakters als „verborgene Handlung“274 ausschließlich innerzeitlich, d.h. aktbegleitend im Bewusstsein wirklich werden.275 Das unmittelbare religiöse Selbstbewusstsein tritt niemals an sich in Erscheinung, sondern stets in Form des Zusammenspiels von religiösen Anschauungen und Gefühlen.276 Aus diesem Grunde kann das religiöse Bewusstsein formal analog zum sinnlichen Bewusstsein als eine lebendige Struktur beschrieben werden, was Schleiermacher mithilfe seiner Pflanzenmetaphorik zum Ausdruck bringt: Das göttliche Leben ist wie ein zartes Gewächs, deßen Blüten sich noch in der umschlossenen Knospe befruchten, und die heiligen Anschauungen und Gefühle, die Ihr trocknen und auf bewahren könnt, sind die schönen Kelche und Kronen, die sich bald nach jeder verborgenen Handlung öfnen, aber auch bald wieder abfallen. Es treiben aber immer wieder neue aus der Fülle des inneren Lebens […] und die alten bestreuen und zieren dankbar den Boden der die Wurzeln dekt von denen sie genährt wurden, und duften noch in lieblicher Erinnerung zu dem Stamme empor, der sie trug.277

273  Vgl. hierzu Piper, Das religiöse Erlebnis, 51: „Als erstes Merkmal des religiösen Aktes ergibt sich aus diesen Beschreibungen das Bewußtwerden von der unmittelbaren Berührung durch die Wirkkräfte des Universums. […] Dieser Akt hat gar nichts mit Reflexionen zu tun; denn jede Reflexion und Spekulation gibt mir immer Vorstellungen von einer Beziehung zwischen mir und dem Universum, nie aber das Bewußtsein, von ihm selbst berührt zu sein.“ Vgl. auch die einschlägigen Stellen außerhalb der „Liebesszene“, in denen Schleiermacher auf die Unmittelbarkeit des religiösen Erschließungsgeschehens hinweist, z.B. KGA I/2, 262,12–17. 274  KGA I/2, 223,12. 275  Diese Dialektik von aktbegründender und aktbegleitender Funktion des geheimnisvollen religiösen Augenblicks wird auf paradigmatische Weise von E. Huber mißverstanden, der aus diesem Irrtum heraus im Hinblick auf den geheimnisvollen Augenblick festhält: „Macht man aber mit der Behauptung Ernst, die Trennung von religiösen Anschauungen und Gefühlen seien nur das Abgeleitete, die Religion selbst liege jenseits derselben […] dann ist vielmehr die Religion in das Gebiet des Unbewussten zurückgeschoben“, E. Huber, Entwicklung, 35 f. Einen ähnlichen Irrtum begeht auch Dilthey mit seiner Ansicht, die Religion liege nach den Ausführungen Schleiermachers „hart am Rande des Bewußtseins“ (Dilthey, Leben Schleiermachers, 305). Einen richtigen Hinweis auf die in Frage stehende Problematik gibt Piper, Das religiöse Erlebnis, 57: „Nach Schleiermacher ist der religiöse Akt als solcher ein Vorgang, der sich im Unbewußten und vor dem Bewußtsein abspielt, aber er wird Religion erst dadurch, daß der Mensch ein Bewußtsein von dem Akte und seinem Inhalt bekommt.“ 276  KGA I/2, 221,40–222,6. 277  KGA I/2, 223,8–17.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

2.2.  Die inhaltliche Bestimmtheit des religiösen Selbstbewusstseins Trotz dieser dargestellten formalen Strukturanalogie zwischen sinnlichem und religiösem Bewusstseinsleben besteht nach Schleiermacher allerdings ein wesentlicher Unterschied hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmtheit ihres jeweiligen Ursprungs, dem unmittelbaren Selbstbewusstsein, demzufolge die religiösen Bewusstseinstätigkeiten und -produkte einen eigentümlichen Charakter aufweisen. Das unmittelbare religiöse Selbstbewusstsein repräsentiert einen wesentlich umfangreicheren und grundlegenderen intelligiblen Bereich als das unmittelbare sinnliche Selbstbewusstsein. Dieses Spezifikum des religiösen Bewusstseins wird von Schleiermacher in der sogenannten „Liebesszene“278 verdeutlicht, die im Folgenden analysiert wird: 279 Zunächst beschreibt Schleiermacher in der „Liebesszene“ den geheimnis­ vollen Augenblick im religiösen Bewusstsein selbst, indem er den intelligiblen Bereich aufzeigt, der im unmittelbaren religiösen Selbstbewusstsein repräsentiert wird: 280 Schnell und zauberisch entwikelt sich eine Erscheinung eine Begebenheit zu einem Bilde des Universums. So wie sie sich formt die geliebte und immer gesuchte Gestalt, flieht ihr meine Seele entgegen, ich umfange sie nicht wie einen Schatten, sondern wie das heilige Wesen selbst. Ich liege am Busen der unendlichen Welt: Ich bin in diesem Augenblik ihre Seele, denn ich fühle alle ihre Kräfte und ihr unendliches Leben, wie mein eigenes, sie ist in diesem Augenblik mein Leib, denn ich durchdringe ihre Muskeln und ihre Glieder wie meine eigenen, und ihre innersten Nerven bewegen sich nach meinem Sinn und meiner Ahndung wie die meinigen.281

Die religiöse Erfahrung hebt nach Schleiermacher wie jede andere menschliche Erfahrung auch, mit dem Affiziertwerden durch einen endlichen Sachverhalt bzw. durch „eine Erscheinung“ an. Das Besondere an der religiösen Erfahrung besteht darin, dass sich ihr aus dieser endlichen Affektion nicht etwa das Bild eines endlichen Gegenstandes, sondern vielmehr „schnell und zauberisch“, d.h. ohne ihr Zutun, das „Bild des Universums“ entwickelt. Nach Schleiermacher unterscheidet sich das religiöse Bewusstsein eines Menschen gegenüber seinem 278  KGA I/2, 221,31–222,6. Zum Ausdruck „Liebesszene“ vgl. Seifert, Theologie, 75. Zu literarischen Parallelen der „Liebesszene“ siehe auch Goethe, Die Leiden des jungen Werther, WA 19, Brief vom 10. Mai, 7 f. 279 Zu Recht wird daher die „Liebesszene“ von K. Barth als der „locus classicus“ der Reden bezeichnet (K. Barth, Theologie Schleiermachers, 451). 280  Dass es sich bei dieser Beschreibung tatsächlich um ein unmittelbares Selbstbewusstsein handelt, hat sehr plakativ geschildert Piper, Das religiöse Erlebnis, 54: „Wenn man am Busen der unendlichen Welt liegend alle ihre Kräfte und ihr unendliches Leben wie sein eigenes fühlt, so ist das nicht möglich auf Grund eines Vorstellens dieser Welt, sondern nur denkbar als unmittelbarer Bewußtseinsakt.“ Vgl. auch Eckert, der in Bezug auf die „Liebesszene“ davon spricht, Schleiermacher gehe es um die „Bewußtmachung eines vorgängig unmittelbaren Bewußtseins“, Eckert, „Das Verhältnis“, 37. 281  KGA I/2, 221,31–40 (kursiv C. K.).

§  7  Begründung

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sinnlichen Bewusstsein also charakteristischerweise dadurch, dass es nicht die endliche Erscheinung für sich und in ihrem Verhältnis zum wahrnehmenden Selbst betrachtet, sondern vielmehr des an einem endlichen Sachverhalt erscheinenden Unendlichen und dessen Verhältnis zum wahrnehmenden Selbst unmittelbar ansichtig wird.282 Das Charakteristikum „unmittelbar“ bedeutet in diesem Fall, dass die Religion zwar vermittelst eines endlichen Sachverhalts, aber ohne eigene Aktivität ein Bewusstsein des Unendlichen erlangt. Das Unend­ liche wird vom religiösen Bewusstsein also nicht direkt wahrgenommen, sondern nur insofern dieses selbst indirekt am Endlichen erscheint bzw. sich selbst im Endlichen zeigt. Damit kann die Religion ganz im Allgemeinen als dasjenige Gemütsvermögen bestimmt werden, welches einem Menschen ermöglicht, im Rahmen einer bestimmten Endlichkeitserfahrung vom Unendlichen selbst ergriffen zu werden.283 Oder anders ausgedrückt: In der Religion wird einem Menschen das phänomenal sich zeigende Endliche auf das transphänomenale Unendliche hin transparent.284 Die Religion ist nach Schleiermachers bisheriger Beschreibung somit prinzipiell als phänomenales Transphänomenalbewusstsein charakterisiert.285 Exakt diese Charakterisierung steht meines Erachtens im Hintergrund von Schleiermachers formelhafter Beschreibung der Religion als eines „unmittel­ baren Bewusstseins des Unendlichen im Endlichen“286. 282 Vgl.

Piper, Das religiöse Erlebnis, 51: „Man darf sich nicht beirren lassen durch die Aussage […] wo es von diesem [religiösen, C. K.] Akte in Analogie zu sinnlichen Wahrnehmungen heißt, daß der Sinn und sein Gegenstand gleichsam ineinandergeflossen und eins seien, als handele es sich im religiösen Vorgang um ein Sicheinsfühlen mit den Gegenständen der Wahrnehmung […]. Den Gegenstand des religiösen Sinnes bilden nicht die Einzeldinge oder Einzelgeschehnisse“. Diese sind „nur die Anlässe dazu […]. Gegenstand ist allein das Universum selbst in seinem Wirken.“ 283  Vgl. KGA I/2, 211,31. 284 Vgl. hierzu Ringleben, „Die Reden über die Religion“, 244: „Religion entsteht, wenn das Endliche transparent wird für sein Gegenteil, das Einzelne für eine unendliche Ganzheit. Und indem diese Entzweiung am Endlichen selber vor sich geht, das in sich über sich hinausweist, ist es Erscheinung eines ganz Anderen. Die jenseitige Welt ist nur das, was die diesseitige zur Erscheinung von sich werden läßt.“ 285  Eine ähnliche Beschreibung liefert Welker, der auf „das Moment der transsubjektiven Wirklichkeitsbezogenheit“ des religiösen Bewusstseins hinweist, wodurch ihm zufolge zum Ausdruck gebracht wird: „[D]as religiöse Erlebnis kommt ohne die ‚Berührungen‘ der sich offenbarenden Gottheit niemals zustande. Das göttliche Handeln ist der wesentliche Ausgangspunkt.“ (Welker, Beurteilung, 9 (kursiv, C. K.)) 286  Geistesgeschichtlich zeigt sich in diesem Zusammenhang auch eine Ähnlichkeit zwischen Schleiermacher und Bonaventuras Contuitus-Konzeption. Bonaventura geht es in seinem Konzept der „Mitschau“, um die indirekte Wahrnehmung eines der direkten menschlichen Anschauung verborgenen Gegenstandes, dessen Dasein jedoch in den aus ihm folgenden Wirkungen zweifelsfrei erfahren wird. (Vgl. Bonaventura, Collationes in Hexaemaron, in: Ders., Opera Omnia V, 359b; Ders., Quaestionis disputatae de scientia Christi, Op. omn. V, 29b) Gilson hält in Bezug auf die theologische Bedeutung dieser Contuitus-Konzeption bei ­Bonaventura fest: „Eine Intuition wäre eben das direkte Schauen Gottes, und das ist uns versagt. Eine Contuitio, ein Mitschauen im eigentlichen Sinne, besteht darin, daß das Dasein

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Anders als beim geheimnisvollen Augenblick des sinnlichen Bewusstseins sind in der religiösen Erfahrung nicht das Selbst und ein einzelner Gegenstand, sondern das Selbst und die unendliche Welt bzw. das Universum „gleichsam ineinandergeflossen und Eins geworden“287. Weil sich, wie bereits für das sinn­ liche Bewusstsein gezeigt hat, dieses Einssein nur im menschlichen Bewusstsein abspielt, und folglich das Selbst nicht realiter, sondern nur idealiter als Eins mit dem Universum erfährt, so kann anhand der Beschreibung des geheimnisvollen religiösen Augenblicks festgehalten werden: Das unmittelbare religiöse Selbstbewusstsein repräsentiert nach Schleiermacher formal denjenigen intelligiblen Bereich, in welchem das Selbst und das Universum in einem ursprünglichen Verhältnis beieinander sind. Folglich bildet das ursprüngliche Verhältnis zwischen dem Selbst und dem Universum den gesamten Inhalt des religiösen Selbst­ bewusstseins. Welche Auskunft gibt Schleiermacher bezüglich der inhaltlichen Bestimmtheit dieses intelligiblen Bereichs bzw. dieses ursprünglichen Verhältnisses? Welchen Inhalt besitzt das unmittelbare religiöse Selbstbewusstsein? Im Folgenden soll in zwei Schritten eine Antwort auf diese zentrale Frage für Schleiermachers Religionsbegriff gefunden werden. In einem ersten Schritt wird in der Auseinandersetzung mit Hartliebs Interpretation der „Liebesszene“ der allgemeine Charakter dieses ursprünglichen Verhältnisses bzw. der Inhalt des unmittelbaren religiösen Selbstbewusstseins aufgezeigt (2.2.1.). Zweitens wird das Ergebnis dieses ersten Schritts durch eine Bestimmung von Schleiermachers Universumsverständnis ergänzt (2.2.2.). 2.2.1.  Der Inhalt des unmittelbaren religiösen Selbstbewusstseins Eine mögliche Interpretation der sog. „Liebeszene“ besteht darin, dass sich der Mensch, weil er in ihr als Seele und das Universum als Leib dieser Seele bezeichnet wird, in der Religion als absolute Macht erfährt, nach dessen Willen sich das einer nicht geschauten Ursache in der wahrgenommenen Welt erfasst wird. Das göttliche Licht kann also nicht unmittelbar wahrgenommen werden, obwohl es auf uns unmittelbar wirkt. […] Darum erreichen wir trotz aller Anstrengung nur das Mitschauen Gottes in den Dingen.“ (Gilson, S., Der heilige Bonaventura, Hellerau 1929, 546) Auch Bonaventuras epistemologische Bestimmung dieses „Mitschauens“ Gottes in den Dingen zeigt Ähnlichkeiten zur Darstellung der Reden. Nach Bonaventura richtet sich die menschliche Seele in der Mitschau Gottes nicht auf die endlichen Einzeldinge, wie sie in sich selbst sind, oder wie sie im Verstand sind bzw. wie sie begrifflich erfasst werden. Vielmehr gelangt ein Mensch nur zur Mitschau Gottes, d.h. zu einer adäquaten Einsicht in die Prinzipien des Kosmos, wenn seine Seele sich mit den Einzeldingen „auf irgendeine Weise berührt, sofern sie in der ewigen schöpferischen Kunst [in arte aeterna] sind.“ (Bonaventura, Quaestionis disputatae de scientia christi, Op. omn. V, 23b–24a) Vgl. auch die Interpretation Speers, die das gnadenhafte des Contuitus-­ Vorgangs bei Bonaventura beschreibt, wodurch eine deutliche Nähe zur Offenbarungs­ konzeption Schleiermachers ersichtlich wird (Speer, A., „Verstandesmetaphysik. Bonaventura und Nicolaus Cusanus über die (Un-)Möglichkeit des Wissens des Unendlichen“, in: M. Pickavé (Hg.), Die Logik des Transzendentalen (Miscellanea Mediaevalia 30), Berlin/New York 2003, 525–553, hier: 536). 287  KGA I/2, 221,22 f.

§  7  Begründung

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ohnmächtige Universum zu fügen hat.288 Eine derartige Interpretation wird in der neueren Schleiermacherliteratur exemplarisch von Hartlieb vertreten, die in Bezug auf die „Liebesszene“ die Ansicht vertritt: Die Welt wird zum eigenen Leib des wahrnehmenden Subjekts und bewegt sich nach dem Gutdünken der Seele, also des Ich. Das Verb ‚durchdringen‘ spielt auf die völlige Inbesitznahme des Leibes durch die Seele bis in die letzten Fasern an und hat zugleich eine latent sexuelle Konnotation. Die vorher offensichtliche Passivität des Subjekts ist einem fast grenzenlosen aktiven Besitz- und Herrschaftsgefühl gewichen, in dem latent Erotik und Machtgefühl miteinander verschmelzen. […] Der Eindruck der herrschaftlichen Inbesitznahme entsteht vor allem durch die zweite Metapher der Vereinigung nach dem Leib-Seele-Modell. Die Kombination beider Bilder kulminiert in einer Vereinigungs- und Verschmelzungsvorstellung eines männlichen Ich, in der sich kein Aspekt von Rezeptivität und Passivität mehr findet. Allerdings ist dieser Moment der beherrschenden Vereinigung von höchster Fragilität und Flüchtigkeit.289

Im Folgenden wird bei der Interpretation der „Liebesszene“ von ihrer Konnotation weiblich-männlich abgesehen, obwohl unbestreitbar ist, dass diese bei Schleiermacher ethische und auch religiöse Bedeutung besitzt.290 Auch Hartlieb ist der Ansicht, dass die Genderfrage nur das schon von ihr beschriebene Bild der herrschaftlichen Inbesitznahme „unterstützt“291, daher kann dieses Bild seinem wesentlich Gehalt nach auch unter Absehung von Genderfragen interpretiert werden. Meines Erachtens verfehlt die Hartlieb-Interpretation auf paradigmatische Weise den von Schleiermacher intendierten Aussagegehalt der „Liebesszene“. Im Folgenden wird diese Behauptung dadurch begründet, dass die drei zentralen Aussagen der „Liebesszene“ aufgezeigt und analysiert werden: Erstens: Von Schleiermacher wird in der „Liebesszene“ der geheimnisvolle religiöse Augenblick im menschlichen Bewusstsein inhaltlich beschrieben, in288  Vgl. z.B. Beißer, Schleiermachers Lehre von Gott, 23, der in Bezug auf die „Liebesszene“ die Fragen aufwirft: „Erscheint in diesen Bildern das Universum nicht seltsam unpersönlich, passiv, feminin? Ist nicht das Ich mit seinem Erleben, seiner Aktivität, das eigentlich Wichtige?“ 289  Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 262 f. (kursiv C. K.) 290  Vgl. hierzu zentral in Schleiermachers früherem Werk Ideen zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen (KGA I/2, 153,19–154,11), sowie einschlägig auch Brouillon, 54,10– 58,22 (Zweiunddreißigste und Dreiunddreißigste Stunde). Der prägnante Zusammenhang zwischen dem Geschlechtsleben des Geistes im Allgemeinen (KGA I/5, 70,1–71,30) und in seiner Bedeutung für die Religion (in Bezug auf das weibliche Geschlecht in: KGA I/5, 71,31–82,12 und in Bezug auf das männliche Geschlecht in: KGA I/5, 83,1–97,4) findet sich in der Weihnachtsfeier. Vgl. zu dem Themenzusammenhang auch Kluckhohn, P., Das Ideengut der Romantik, Tübingen 5.  Aufl. 1966, 60–77; Wiederanders, E., „‚Laß dich gelüsten nach der Männer Bildung, Kunst, Weisheit und Ehre‘. Zur Emanzipation der Frau bei Schleiermacher“, Theologische Versuche 16 (1986), 119–129; Ellison, J., Delicate Subjects. Romanticism, Gender and the Ethics of Understanding, Ithaca 1990; Richardson, R., The Role of Women in in the Life and Thought of the Early Schleiermacher (1768–1806), Lewiston 1991; Nicol, I., (Hg.), Schleiermacher and Feminism. Sources, Evaluations, and Responses, Lewiston 1992. 291  Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 263.

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dem in ihr das von der Religion erfasste ursprüngliche Verhältnis zwischen Selbst und Universum näher bestimmt wird. Zur Charakterisierung dieses ursprünglichen Verhältnisses verwendet Schleiermacher das Leib-Seele-Paradigma, wobei das religiöse Selbst als Seele und das Universum bzw. die unendliche Welt als Leib dieser Seele beschrieben werden: „Ich bin in diesem Augenblik ihre Seele, […] sie [die unendliche Welt, C. K.] ist in diesem Augenblike mein Leib“.292 Diese Aussage bildet den gedanklichen Rahmen der gesamten „Liebesszene“. Es ist für eine adäquate Interpretation daher von entscheidender Bedeutung, in welcher Hinsicht die Verhältnisbestimmung zwischen menschlichem Selbst als Seele und Universum bzw. unendlicher Welt als Leib dieser Seele aufgefasst wird. Nach der Hartlieb-Interpretation impliziert das von Schleiermacher verwendete „Leib-Seele-Modell“ grundsätzlich den Gedanken einer „herrschaftlichen Inbesitznahme“ des Leibes durch die Seele. Die entsprechende Prämisse lautet, dass sich Schleiermacher zufolge Seele und Leib zueinander verhalten wie Herrschendes zu Beherrschtem. Die implizite These hinter dieser Interpretation lautet damit folgendermaßen: Weil in der „Liebesszene“ das religiöse Subjekt als Seele und das Universum als Leib bezeichnet werden, sich nach Schleiermacher aber Seele und Leib wie Herrschendes und Beherrschtes zueinander verhalten, beschreibt die „Liebesszene“ das ursprüngliche Verhältnis zwischen Selbst und Universum als eines der herrschaftlichen Inbesitznahme des Universums durch das religiöse Selbst. Nach der Hartlieb-Interpretation stellt das einseitige Herrschaftsverhältnis zwischen religiösem Selbst und Universum das gedankliche Zentrum von Schleiermachers „Liebesszene“ dar und bildet folglich den spezifischen Inhalt des intelligiblen Bereichs der Religion. Zwei gewichtige Gründe sprechen gegen diese Interpretation: Zum einen kann durch den Verweis auf andere Schriften Schleiermachers gezeigt werden, dass die Prämisse nicht zutreffend ist, nach der sich ihm zufolge Seele und Leib wie Herrschendes und Beherrschtes zueinander verhalten sollen. Prinzipiell fasst Schleiermacher das Verhältnis zwischen Seele und Leib nicht als Herrschafts-, sondern vielmehr als gegenseitiges Ergänzungsverhältnis auf. Grundlegend ist hier ein frühes Zitat aus Schleiermachers Lucindebriefen293. Es gibt eine 292 

KGA I/2, 221,35–37. 1/3, 139–216. Gerade mit den Lucindebriefen hat Schleiermacher sich gegen die Trennung von Geist und Leib gewendet, wie sie im direkten Anschluss an Schlegels Interpretation seines Erachtens paradigmatisch in Jacobis Woldemar vorliegt. Hier beschreibt Jacobi zwei Frauengestalten, die jeweils als Metaphern für die sich einander ausschließenden Dimensionen der menschlichen Liebe fungieren sollen, die tugendhafte Sinnenliebe (Allwina) und die geschlechtslose Seelenliebe (Henriette) (vgl. Jacobi, F. H., Woldemar. Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte, JWA 7,1, 1–110, hier: 34; 39; 64). Schlegel kritisierte diese Trennung und stellte ihr die lebensvolle, beide Dimensionen vereinigende Lucinde entgegen: „Die göttliche Trennung und Vereinzelung der menschlichen Kräfte, welche doch nur in freier Vereinigung gesundbleiben können, ist die eigentliche Erbsünde der modernen Bildung. Freylich, 293  KGA

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Einsicht wieder, die Schleiermachers Denken von Anfang bis Ende seiner theologischen Schriftstellertätigkeit bestimmt hat: „Sie wissen ja doch von Leib und Geist, und der Identität beider, und das ist doch das ganze Geheimnis.“294 In diesem Zitat vertritt Schleiermacher, wie der weitere Kontext der Stelle zeigt, keineswegs die reale Identität von Geist und Leib, sondern vielmehr geht es ihm um das geheimnisvolle bzw. ursprüngliche Einssein zweier nichtidentischer menschlicher Vermögen, nämlich der geistigen Spontaneität und der leiblichen Rezeptivität. In Analogie zu seiner Beschreibung des geheimnisvollen Augenblicks in den Reden bezieht sich Schleiermacher auf die unmittelbare Einheit von Geist und Leib, in welcher beide, trotz ihrer jeweils spezifischen Funktionen, ungetrennt beieinander sind. Bei dem sog. „Geheimnis“ ihres unmittelbaren Beisammenseins handelt es sich nicht um ein Produkt des Geistes oder des Leibes, sondern wie Herms mit Bezug auf diese Stelle zu Recht betont, „um ein Beieinander von selbst nicht phänomenal erkennbarer, unerklärlich-irrationaler Art.“ Demzufolge, so fährt Herms fort, „verbietet die irrationale Unmittelbarkeit des Beieinanders beider Seiten auf jeden Fall den Versuch der Herleitung der einen aus der anderen oder ihre Zurückführung auf sie, [und] schließt damit auch die Primatsfrage aus. Die Einsicht in die Unmittelbarkeit des Beieinanders dieser beiden Seiten erkennt vielmehr deren Unvermischt- und Ungeschiedenheit, das Einssein zweier Nichtidentischer, neben der positiven Bestimmung beider Seiten durcheinander zugleich ihre unverwischbare Unterschiedenheit.“295 Geist und Leib sind nach Schleiermacher für den Menschen, gerade weil sie gleich­ ursprünglich sind, auch „gleich wesentlich“296. Weil Schleiermacher aber die Ausdrücke „Geist“ und „Seele“ bereits in den Lucindebriefen synonym verwendet, kann in Bezug auf die „Liebesszene“ festgehalten werden, dass beide in keinem Herrschaftsverhältnis zueinander stehen. Vielmehr stehen Seele und Leib aufgrund ihres ursprünglichen Aufeinander­

wenn man Seele und Leib für ursprünglich und ewig verschieden hält […] aber wer heißt auch so thörigt unterscheiden und die ewige Harmonie des Universums kindisch zerreißen und zerspalten wollen?“ (Schlegel, Ueber die Philosophie. An Dorothea, KFSA VIII, 41–62, hier: 58) Vgl. auch Bechmann, F., Jacobis ‚Woldemar‘ im Spiegel der Kritik. Eine rezeptionsästhetische Untersuchung, Frankfurt a. M. u.a. 1990, 111–127; Christ, K., Jacobi und Mendelssohn. Eine Analyse des Spinozastreits, Würzburg 1988, 40 f.; Ders., F. H. Jacobi. Rousseaus deutscher Adept. Rousseauismus in Leben und Frühwerk Friedrich Heinrich Jacobis, Würzburg 1998, 319–321; Sudhof, S., „Friedrich Heinrich Jacobi und die ‚Kreuzigung‘ seines ‚Woldemar‘“, Neophilogus 43 (1959), 42–49; Kluckhohn, P., Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der Deutschen Romantik, Halle a. d. Saale 1922, insbesondere: 138; 190; 236; 249; Götz, C., Friedrich Heinrich Jacobi im Kontext der Aufklärung (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 30), Hamburg 2008, 158–164. 294  KGA I/3, 193,34 f. 295  Herms, Herkunft, 206 f. (kursiv, C. K.) 296  A.a.O., 204.

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bezogenseins in einem Verhältnis der gegenseitigen Ergänzung,297 d.h. zur adäquaten Ausübung ihrer jeweils spezifischen Funktionen bedürfen und ergänzen sich Seele und Leib gegenseitig. Zum anderen legt es der unmittelbare Kontext der „Liebesszene“ nahe, dass Schleiermacher mit den in ihr verwendeten poetischen Ausdrücken „Seele“ und „Leib“auf die von ihm bereits im Zusammenhang mit der Charakterisierung des sinnlichen Bewusstseins eingeführten menschlichen Tätigkeiten der Spontaneität und Rezeptivität rekurriert. Mit diesem Bezug auf den Kontext kann daher die Intention der Leib-Seele-Metaphorik in der „Liebesszene“ präzisiert werden: In der „Liebesszene“ geht es Schleiermacher keineswegs um die Darstellung der herrschaftlichen Inbesitznahme des Universums durch das religiöse Selbst, sondern vielmehr um die mit den poetischen Metaphern „Seele“ und „Leib“ ausgedrückte wechselseitige Bezogenheit, d.h. um das sachlich notwendige Zusammenspiel von Spontaneität und Rezeptivität. Diese Überlegungen vorausgesetzt, ist es gerade die Leib-Seele-Metaphorik Schleiermachers, die, anstatt den Eindruck eines einseitigen Herrschaftsverhältnisses zu wecken, diesem Eindruck vielmehr aufs deutlichste widerspricht. Indem Schleiermacher in der „Liebesszene“ das Selbst als Seele und das Universum als Leib dieser Seele bezeichnet, bringt er deutlich die religiöse Erfahrung einer grundsätzlichen wechselseitigen Bezogenheit von Selbst und Universum zum Ausdruck. Dieser zentrale Gedanke der „Liebesszene“ wird durch eine weitere Beschreibung gestützt, welche im Folgenden dargestellt werden soll. Zweitens: Nach der bisherigen Interpretation stehen die Ausdrücke „Seele“ und „Leib“ für die spontanen bzw. rezeptiven Kräfte. Daher scheint die „Liebesszene“ zum Ausdruck zu bringen, dass sich im religiösen Augenblick der Mensch selbst als ausschließlich spontane bzw. einwirkende Kraft und das Universum als ausschließlich rezeptive bzw. aufnehmende Kraft erfährt. Diese Vorstellung einer einseitigen Rollenverteilung zwischen Selbst und Universum liegt auch der Hartlieb-Interpretation zugrunde. Ihr zufolge erfährt sich das religiöse Selbst als Seele und das Universum als Leib dieser Seele, weil das religiöse Subjekt im geheimnisvollen religiösen Augenblick sich selbst als ausschließlich aktiv und das Universum als ausschließlich passiv wahrnimmt.298 297 Diese Beurteilung von menschlicher Seele und menschlichem Leib findet sich bei Schleiermacher auch an zentraler Stelle in seiner Kurzen Darstellung des Spinozistischen Systems, worin er die Frage nach dem „Rangstreit beider Eigenschaften“ mit dem Ergebnis beschließt, dass sie als gleichursprüngliche Vermögen auch als gleichwertig aufzufassen sind (KGA I/1, 578,14–580,11, hier besonders: KGA I/1, 578,30–36): „Jedes einzelne Ding ist ein Aggregat von verschiedenen Mischungen der unmittelbaren und mittelbaren modorum im Verhältniß zu allen andern ähnlichen Dingen. Die äußere Einheit dieser Beziehungen, das ausgedehnte ist der Leib des Dinges, die innere Einheit, das denkende ist die Seele; jener ist gleichsam die Darstel­ lung, der Ausdruk der Verhältniße des Dinges, dieses ist das Bewußtseyn, der Begrif derselben.“ 298  Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 263: „Die gesamte Schilderung des ‚geheimnisvollen Augenbliks‘ […] spielt mit der weiblichen Metaphorisierung des Unendlichen […], das dem

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Auch die Vorstellung einer einseitigen Rollenverteilung zwischen Selbst und Universum greift zu kurz. Denn Schleiermacher spricht in der „Liebesszene“ nicht davon, dass sich das religiöse Subjekt als Seele des Universums fühlt, weil es als die ausschließlich spontane Kraft auf das Universum als lediglich rezeptive Kraft einwirkt. Vielmehr zeigt er im weiteren Verlauf der „Liebesszene“ auf, dass das Universum ihm zufolge selbst über spontane Kräfte verfügt, die sich den Seelenkräften des religiösen Ichs analog verhalten: „[…] ich bin in diesem Augenblik ihre Seele, denn ich fühle alle ihre Kräfte und ihr unendliches Leben, wie mein eigenes“299. Das religiöse Subjekt fühlt sich nicht deshalb als Seele des Universums, weil es sich als die ausschließlich spontane Kraft auf das lediglich rezeptive Universum bezieht, sondern weil sich die spontanen Kräfte des Universums „wie mein eigenes“300 anfühlen, d.h. weil sich seine eigene Spontaneität und die spontanen Kräften des Universums entsprechen. Die gleiche Absage an ein einseitiges Rollenverständnis von Selbst und Universum findet sich in Schleiermachers weiterführender Beschreibung des Universums als Leib. Schleiermacher sagt nicht, dass im geheimnisvollen Augenblick das Universum als Leib erfahren wird, weil ihm in der Bezogenheit auf das religiöse Selbst ausschließlich die Rolle des passiv aufnehmenden Parts zukommt. Er hält vielmehr ausdrücklich fest, dass sich das Universum als Leib nach dem Sinn des religiösen Subjekts bewegt, so wie sich auch der eigene Leib des Subjekts nach dessen Sinn bewegt: „[S]ie [die unendliche Welt, C. K.] ist in diesem Augenblik mein Leib, denn ich durchdringe ihre Muskeln und ihre Glieder wie meine eigenen, und ihre innersten Nerven bewegen sich nach meinem Sinn und meiner Ahndung wie die meinigen.“301 Wie in dem geheimnisvollen religiösen Augenblick auf der einen Seite eine strukturelle Analogie zwischen den spontanen Seelenkräften des Menschen und denen des Universums erfahren wird, so ergänzt Schleiermacher dies durch die Beschreibung einer Analogie zwischen den rezeptiven Leibesfunktionen des Menschen und denen des Universums. Mit dem Ausdruck „Sinn“ bezeichnet er hier, wie auch an sämtlichen anderen Stellen der Reden, nicht die spontanen und auf einen Gegenstand einwirkenden Seelenkräfte, sondern vielmehr das rezeptive menschliche „Wahrnehmungs- oder Empfindungsvermögen“302 . Diese Inmännlichen Subjekt letztendlich die, wenn auch höchst flüchtige, Möglichkeit der Inbesitznahme der ersehnten Unendlichkeit, nämlich des Göttlichen verheißt.“ 299  KGA I/2, 221,35 ff. 300  KGA I/2, 221,37. 301  KGA I/2, 221,37 ff. 302  In einer Anmerkung zur späteren Auflage seiner Reden erläutert Schleiermacher seinen für den gesamten Zusammenhang der zweiten Rede zentralen Ausdruck: „Religion sei Sinn und Geschmak für das Unendliche“ (KGA I/12, 130,21 f.). Dabei geht er auf den Ausdruck „Sinn“ näher ein, der ihm zufolge nichts anderes meint als das explizit passive „Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen“ des Menschen (KGA I/12, 130,22).

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terpretation, wonach es sich bei dem Ausdruck „Sinn“ um eine rezeptive und keineswegs um eine spontane bzw. einwirkende Kraft handelt, wird noch dadurch bekräftigt, dass Schleiermacher im gleichen Satz den Ausdruck „Sinn“ synonym mit dem Ausdruck „Ahndung“ verwendet, welcher nach gängigem Sprachgebrauch der Zeit weit stärker passivisch als aktivisch konnotiert ist.303 Dementsprechend ist auch das mit dem Ausdruck „Sinn“ verbundene Verb „durchdringen“304 in diesem Zusammenhang nicht in der von Hartlieb verwendeten Bedeutung einer einwirkenden „Beherrschung“ aufzufassen, sondern muss vielmehr in seiner Bedeutung als geistige Durchdringung bzw. als vom „Geiste durchdrungen“305 verstanden werden, worunter im Allgemeinen eine vollkommene Entsprechung des Geistes mit seinem Gegenstand zu verstehen ist. Das Universum wird in der „Liebesszene“ nicht als Leib des religiösen Selbst erfahren, weil es durch dieses beherrscht wird, sondern weil es sich wie der eigene Leib des religiösen Selbst verhält. Schleiermachers Beschreibung des Universums als Leib zielt in der „Liebesszene“ nicht darauf ab, dem Universum die einseitige Rolle des bloß aufnehmenden Parts zuzuschreiben, oder gar das von Hartlieb statuierte Bild der „völlige[n] Inbesitznahme des Leibes durch die Seele“ zu erwecken, sondern sie zeigt vielmehr die religiöse Erfahrung eines vollkommenen Entsprechungsverhältnisses zwischen den leiblichen bzw. rezeptiven Vermögen des Universums und dem eigenen rezeptiven Sinn bzw. dem Leib des religiösen Subjekts auf. Nach Schleier­ macher erfährt ein Mensch im geheimnisvollen religiösen Augenblick das Universum als seinen Leib, indem er sich unmittelbar bewusst wird, dass sich seine eigene Rezeptivität und die rezeptiven Vermögen des Universums entsprechen. Infolge dieser Textanalyse kann festgehalten werden, dass Schleiermacher in der „Liebesszene“ weder beabsichtig ein einseitiges Herrschaftsverhältnis noch eine einseitige Rollenverteilung zwischen dem Selbst und dem Universum darzustellen, sondern es ihm darum geht, die religiöse Erfahrung eines gegenseitigen Entsprechungsverhältnisses zwischen Selbst und Universum aufzuzeigen.306 Die poetische Beschreibung des gegenseitigen Entsprechungsverhältnisses von Selbst und Universum verweist auf die Erfahrung eines intelligiblen Verhältnisses, von dem gilt: So wie das Selbst sich in seiner jeweiligen sinnlichen Situation in einem Zusammenhang der gegenseitigen Wechselwirkung mit seinem Gegenstand erfährt, so erfährt es im religiösen Bewusstsein, dass ausnahmslos alle Sachverhalte der unendlichen Welt in dem Verhältnis der gegenseitigen Wechselwirkung zueinander stehen. 303 Vgl. Grimm, J. und W., Deutsches Wörterbuch, Bd. 1–16 [recte 32], Leipzig 1854–1960, Sp.  194. 304  KGA I/2, 221,38. 305  KGA I/2, 241,23 f. 306  Diese zentrale Einsicht hat Schleiermacher in seinem Gedankenheft präzise festgehalten: „Selbstanschauung und Anschauung des Universums sind Wechselbegriffe“, KGA I/2, 127,6 f.

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Versucht man von dieser poetischen Beschreibung ausgehend Schleiermachers Verständnis des Universums begrifflich zu erfassen, so muss man sagen, dass er es zunächst als das Ganze bzw. als die Totalität aller endlichen Sachverhalte in ihrem Zusammenspiel von wechselseitiger spontaner Einwirkung und rezeptiver Aufnahme bestimmt. In dieser Hinsicht stellt das Universum, aufgefasst als das Ganze, den Gesamtzusammenhang aller sich in Wechselwirkung miteinander befindlichen endlichen Sachverhalte dar. Das Selbst erfährt sich im religiösen Bewusstsein als Endliches innerhalb des Unendlichen, nämlich sowohl als „Teil des Ganzen“307, d.h. als konstitutives Element des Gesamtzusammenhangs aller endlichen Wechselwirkungen als auch als „Darstellung des Unendlichen“308 , d.h. als spezifische Manifestation der für alle endlichen Sachverhalte ausnahmslos geltenden ontologischen Struktur des Zusammenspiels von Spontaneität und Rezeptivität. Das Universum bildet folglich keinen Gegenstand wie die einzelnen sinnlichen Dinge, sondern es wird als die umfassende intelligible Struktur des Seins schlechthin erfahren. Im Unterschied zum unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstsein, in welchem das intelligible Verhältnis zwischen einem einzelnen Selbst und seinem jeweils einzelnen Gegenstand erfahren wurde, wird somit in dem unmittelbaren religiösen Selbstbewusstsein das intelligible Verhältnis zwischen dem Selbst und der Totalität aller endlichen Gegenstände überhaupt erfahren, innerhalb dessen sich jedes einzelne Selbst unausweichlich vorfindet. In späteren Auflagen der Reden beschreibt Schleiermacher dies präzise, indem er festhält, dass einem Menschen in der Religion „Euer und des All gemeinschaftliches Sein“309 präsent wird. Bei dem unmittelbaren religiösen Selbstbewusstsein handelt es sich folglich nach Schleiermacher zunächst um eine Bewusstseinserweiterung gegenüber dem sinnlichen Selbstbewusstsein. Der Bereich des erfahrenen intelligiblen Verhältnisses wird von den das Selbst direkt affizierenden sinnlichen Gegenständen auf den Bereich aller möglichen Gegenstände überhaupt ausgedehnt. Im unmittelbaren religiösen Selbstbewusstsein erfährt sich das Selbst folglich nicht bloß in seinem eigenen Sein-in-der-Wechselwirkung, sondern es erfährt, dass das endliche Sein insgesamt nichts anderes ist, als ein Sein-in-der-Wechselwirkung. Auf diese Weise erfährt sich das Selbst im religiösen Erlebnis als ein konstitutives Element und eine spezifische Ausprägung eines für alle endlichen Sachverhalte geltenden ontologischen Zusammenhangs. Mit Blick auf die traditionellen Gottesprädikate kann man in diesem Zusammenhang daher meines Erachtens auch von dem „Unendliche[n] in seiner Allgegenwart“310 sprechen. 307 

KGA I/2, 214,14 (kursiv, C. K.). KGA I/2, 214,14 f. (kursiv, C. K.) 309  KGA I/12, 63,24 f. 310  KGA I/2, 253,6 f. (kursiv, C. K.) 308 

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Unter Verweis auf Schleiermachers spätere Auflagen der Reden, in welchen er diesen ontologischen Zusammenhang auf die Formel bringt, in der Religion erfahre der Mensch alles Endliche als ein „im Ganzen seiendes für sich Sein“311, kann nun den Unterschied zwischen dem unmittelbaren sinnlichen und dem unmittelbaren religiösen Selbstbewusstsein präzise angegeben werden: In der Religion erfährt der Mensch nicht bloß sein eigenes Sein-in-der-Wechselwirkung, sondern das für alle endlichen Sachverhalte geltende Sein-im-Ganzen. Auf diese Weise wird ein Mensch in der Religion zum selbstbewussten Repräsentanten des endlichen Seins überhaupt.312 Meines Erachtens speist sich somit auch das von Hartlieb statuierte „Machtgefühl“313, welches das religiöse Subjekt im Moment des geheimnisvollen Augenblicks erfüllt, nicht aus seiner Gewalt über das Universum, sondern vielmehr aus dem Bewusstsein der gegenseitigen Vertrautheit und „Harmonie“314 zwischen beiden Sphären, wie sie das religiöse Selbst in dem Moment erfährt, in dem ihm das intelligible Verhältnis zwischen unendlicher Welt und endlichem Selbst als ein gegenseitiges Entsprechungsverhältnis aufgeht. Auf dieses religiöse Urvertrauen rekurriert Schleiermacher meines Erachtens am Ende seiner dritten Rede, wenn er, im Hinblick auf die im Zuge der religiösen Erweckung der gebildeten Verächter zu erwartende Bewusstseinserweiterung, folgendermaßen festhält: Eingerißen ist die ängstliche Scheidewand, alles außer ihm ist nur ein anderes in ihm, alles ist der Widerschein seines Geistes, so wie sein Geist der Abdruk von Allem ist; er darf sich suchen in diesem Widerschein ohne sich zu verlieren oder aus sich heraus zu gehen.315

Insbesondere das letzte Motiv dieses Zitats, die Selbstsuche und Selbstfindung im Anderen, macht deutlich, dass von Schleiermacher zur Darstellung des ursprünglichen Verhältnisses zwischen Selbst und Universum gerade deshalb eine Liebesszene verwendet, weil er es ganz im Sinne der romantischen Liebesvorstellung als ein fundamentales Vertrauensverhältnis versteht und dementsprechend, an den romantischen Topos vom „im Anderen bei sich selbst sein“ anknüpfend,316 die liebende Vereinigung von Braut und Bräutigam zur poetischen Chiffre des in der Religion erfahrenen gegenseitigen Entsprechungsverhältnisses zwischen Universum und Selbst erhebt. 311 

KGA I/12, 60,15 f. hält in Bezug auf die religiöse Erfahrung der „Liebesszene“ fest: „War bisher deutlich, daß in der religiösen Anschauung alles Endliche als Ausdruck des Unendlichen erfahren wird, so zeigt sich nun, daß der Anschauende und Fühlende selbst Teil dieses unendlichen Ganzen ist. […] Was hier präsentiert wird, ist zwar ein innerer Zustand, aber dieser innere Zustand ist zugleich der der Welt selbst.“ (Lönker, „Religiöses Erleben“, 60) Vgl. in diesem Zusammenhang auch Herms, Herkunft, 213. 313  Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 262. 314  KGA I/2, 231,35. 315  KGA I/2, 264,8–11 (kursiv, C. K.). 316  Vgl. hierzu Ringleben, „Die Reden über die Religion“, 251. 312  Lönker

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Man kann sogar noch präziser sagen: Indem das religiöse Bewusstsein das ursprüngliche Verhältnis zwischen Selbst und Universum als ein gegenseitiges Entsprechungsverhältnis erfährt, ist es nicht bloß in struktureller Analogie zu einer Liebesszene verfasst,317 sondern es ist geradezu nichts anderes als eine tatsächlich erfahrene Liebesbeziehung.318 Schleiermacher unterstreicht die Realität dieser religiösen Liebeserfahrung durch den Hinweis, dass ihm zufolge der geheimnisvolle Augenblick in der Religion nicht bloß „wie eine bräutliche Umarmung“ erfahren wird, sondern „er ist dieses […] selbst.“319 In der Forschungsliteratur wird diese Liebeserfahrung zudem häufig als die „erotische Dimension“320 der „Liebesszene“ herausgestellt und hierbei auch auf ihre Nähe zur sog. „unio mystica“ verwiesen.321 Prägnant für dieses Vorgehen ist die bereits früh von Wehrung vertretene Ansicht: „Schleiermacher ist also der Meinung, daß das Mystische den Nerv echter Religion ausmache, daß in ihm das Religiöse der Religion stecke.“322 Dass solch ein erotisch-mystischer Bezug in Schleiermachers Beschreibung vorhanden ist, kann nicht geleugnet werden. In Schleiermachers eigener Religiosität hat die mystische Dimension der Religion eine prägende Rolle ge317 Gegen

Timm, Die heilige Revolution, 55 f. und Albrecht, Frömmigkeit, 129. Ringleben, „Die Reden über die Religion“, 251: „So besonders sind hier die Verhältnisse, daß die Metapher zugleich mehr ist als bloße Metapher, nämlich intimste Präsenz dessen, wofür sie (auch) Metapher ist. Denn die somatisch-spirituelle Erfahrung zwiegeschlechtlicher Wechselwirkung im Geben und Empfangen, Aus-sich-Herausgehen und Sich-Zurückhalten – sie eröffnet ja für Schleiermacher selber noch eine ganz andere Dimension, und zwar durch Überwindung der Ichzentriertheit: nämlich im anderen Partner die gemeinsame und so allgemeine wie auch eigene Menschheit zu entdecken.“ 319  KGA I/2, 221,30 f. Ringleben, „Die Reden über die Religion“, 251 f. und Lönker, „Religiöses Erleben“, 62 verweisen beide in Bezug auf dieses Zitat auf die Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde: „Der Gott muß in den Liebenden sein, ihre Umarmung ist eigentlich seine Umschließung, die sie in demselben Augenblicke gemeinschaftlich fühlen, und hernach auch wollen.“ (KGA I/3, 165,5–8.) Vgl. auch K. Barth, „Theologie Schleiermachers“, 444: „Daß das beredte Bild von der ‚Vermählung des Unendlichen mit dem Endlichen‘ […] bei Schleiermacher nicht etwa nur ein Bild ist, sondern daß für ihn die wirkliche Vermählung von Mann und Weib letzten und tiefsten Endes mit der Realisierung jenes Geheimnisses zusammenfällt“. 320  Z. B. Wehrung, Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, 132 f.; Otto, West-östliche Mystik, 330–332; Stoker, W., „Religion als Ausdruck des gestimmten Gefühls: Schleiermachers Sicht der religiösen Erfahrung in den ‚Reden‘“, in: N. F. M. Schreurs (Hg.), „Welche unendliche Fülle offenbart sich da …“. Die Wirkungsgeschichte von Schleiermachers „Reden über die Religion“, Papers read at the symposium of the Theological Faculty Tilburg, Tilburg, 15 april 1999, Assen 2003, 79–104, hier: 93 f.; Albrecht, Frömmigkeit, 129; Ringleben, „Die Reden über die Religion“, 249–252. Sicherlich eine Sonderstellung in der Forschungsliteratur nehmen die Ausführungen Wendlands ein, der aufzuzeigen versucht, inwiefern die, von ihm allerdings nur sehr rudimentär erfasste, Freudsche Sexualtheorie auf Schleiermacher als Autor der Reden angewendet werden darf. Wobei er sich explizit auf Schleiermachers Beschreibung der „Liebesszene“ bezieht (siehe hierzu Wendland, Entwicklung Schleiermachers, 12–15). 321  Ringleben, „Die Reden über die Religion“, 251. 322  Wehrung, Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, 133. 318 Vgl.

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spielt.323 Allerdings stellt ihm zufolge die religiöse Mystik nur eine Weise dar, das Universum zu erfahren. Weil es drei Bereiche menschlicher Erfahrung gibt, das Selbst bzw. das menschliche Gemüt, die Natur bzw. die äußere Welt und die Weltgeschichte bzw. den innerweltlichen Prozess des Zusammenwirkens von Natur und menschlichem Gemüt,324 gibt es nach Schleiermacher auch drei Bereiche, die als Ausgangspunkt von religiöser Erfahrung dienen können.325 Als „mystisch“ bezeichnet er in diesem Zusammenhang aber nur diejenige religiöse Erfahrung, in welcher ein Subjekt aus der „Selbstbeschauung“326 heraus zur unmittelbaren Wahrnehmung des Universums gelangt. Aber auch die Betrachtungen der äußeren Natur und der Weltgeschichte können ihm zufolge den Ausgangspunkt religiöser Erfahrungen bilden. Die „Liebesszene“ ist als phänomenologische Beschreibung der religiösen Erfahrung überhaupt nicht allein auf die mystische Dimension der Religion zu beschränken.327 Vielmehr liegt sie sowohl der Selbstbeschauung der Mystik als auch der „Weltanschauung“328 der Naturreligion und auch dem Ineinander beider Anschauungen 329 in der von ihm sog. Geschichtsreligion 330 zugrunde. Demzufolge stellt die Interpretation der „Liebesszene“ als primär mystischer Erfahrung eine Reduktion im Sinne der Schleiermacherschen Religionskonzeption dar. Die Bestimmung ihres sachlichen Gehalts muss umfassend auf alle drei Bereiche möglicher religiöser Erfahrungen bezogen sein. Dies ist durch die oben präsentierte Interpretation, derzufolge Schleiermacher in der „Liebesszene“ phänomenologisch das unmittelbare religiöse Bewusstsein vom gegenseitigen Entsprechungsverhältnis zwischen dem Selbst und dem Universum aufzeigt, gewährleistet. Diese Interpretation ist im Unterschied zur mystischen Interpretation nicht daran gebunden, von welchem Bereich die religiöse Erfahrung ausgeht, sondern sie bestimmt den allgemeinen Gehalt, der sich unabhängig vom religiösen Ausgangspunkt bzw. Gegenstandbereich in jeder religiösen Erfahrung einstellt. Daher gilt: Die Beschreibung der wechselseitigen Bezogenheit von Selbst und Universum in der „Liebesszene“ wird durch die Darstellung ihres gegenseitigen Entsprechungsverhältnisses, welches den Inhalt der religiösen Bewusstseinserweiterung darstellt, präzisiert. Drittens: In der „Liebesszene“ wird eine weitere inhaltliche Bestimmung des religiösen Bewusstseins vom Universum gegeben, welche sowohl die Hart323  Vgl. die positive Bewertung der „große[n] kräftige[n] Mystik“ in den Reden selbst (KGA I/2, 258,23–35; 262,20–24). 324  KGA I/2, 223,20–235,18. 325  KGA I/2, 261,22–263,29. 326  KGA I/2, 262,21. 327  Vgl. dazu auch Fuchs, Schleiermachers Religionsbegriff, 36–44. 328  KGA I/2, 262,24. 329  KGA I/2, 263,17–29. Vgl. auch KGA I/2, 232,29–234,32. 330  KGA I/12, 178,27–179,22.

§  7  Begründung

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lieb-Interpretation endgültig widerlegt als auch das von Schleiermacher verwendete Bild der „Liebesszene“ selbst zu sprengen droht. Das religiöse Bewusstsein erweist sich Schleiermacher zufolge gegenüber dem sinnlichen Bewusstsein nicht nur als eine Bewusstseinserweiterung, sondern auch als eine inhaltliche Bewusstseinserhebung. Im religiösen Bewusstsein stehen das Selbst und das Universum nicht nur in einem gegenseitigen Entsprechungsverhältnis zueinander, sondern der Grund für ihr gegenseitiges Entsprechungsverhältnis rührt aus dem Universum selbst her.331 Die Entstehung des religiösen Bewusstseins geht nicht von den Aktivitäten des Menschen aus, sondern erfolgt durch eine Handlung des Universums. Hierin ist Schuster zuzustimmen, dass das „Faktum des religiösen Erlebnisses [einen, C. K.] Eindruck deutlich transubjektiver Herkunft“ darstellt.332 Während sich im sinnlichen Selbstbewusstsein die Erfahrung des intelligiblen Verhältnisses zwischen dem Selbst und seinem Gegenstand einem unmittelbaren Bewusstsein ihrer möglichen wechselseitigen Interaktion verdankt, so ist es im religiösen Bewusstsein die unmittelbare Erfahrung eines radikal passiv erlittenen Widerfahrnisses, welches das intelligible Verhältnis zwischen dem Selbst und dem Universum „offenbart“ 333.334 Gerade in derartigen Momenten, in denen der Mensch „an nichts weniger dachte, als sich über das Endliche zu erheben“, geht einem nach Schleiermacher der „Sinn für das Universum“ durch eine „unmittelbare innere Erleuchtung“ auf.335 Erst infolge eines derartigen „Handelns desselben [des Universums, C. K.] auf uns“336 , entwickelt sich ein „Bilde des Universums“337. Dieses religiöse Bewusstseinsbild steht Schleiermacher in seiner Beschreibung der „Liebesszene“ vor Augen.

331 Dies hat deutlich herausgestellt Wehrung, Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, 127: „Darum eignet der religiösen Anschauung Unmittelbarkeit und Unwillkürlichkeit, weil sie eben rein vom Universum frei geweckt und gewirkt wird. Schleiermacher stellt sich in den religiösen Akt hinein und hebt den ihn hervorrufenden Grund hervor.“ Ergänzend und präzisierend weist Beißer darauf hin, dass der Unterschied zwischen den endlichen Sachverhalten und dem Universum „eine wahrhaft ontologische Differenz“ darstellt. Dies ist ihm zufolge auch „die Ursache für das Übergewicht, welches das Universum über die Welt hat. Das Universum ist […] nicht ein Anhängsel des Seienden, nicht dessen dienender Seinsspender, es ist vielmehr der begründende Grund alles Seienden.“ (Beißer, Schleiermachers Lehre von Gott, 43). Vgl. auch Albrecht, Frömmigkeit, 132; 177 f. 332  Schuster, W., Die Bedeutung der intuitiven Gewißheit für die Grundlegung der Anschauungen von Religion bei dem jungen Schleiermacher, Leipzig 1924, 110. 333  KGA I/2, 214,10; 218,37 (kursiv, C. K.). 334  Vgl. KGA I/12, 134,16–20 (kursiv, C. K.): „[…] abhängig fühlen wir uns von dem Ganzen nicht, sofern es ein Zusammengeseztes ist aus einander gegenseitig bedingenden Theilen, deren wir ja selbst einer sind: sondern nur sofern diesem Zusammenhang eine alles und auch unser Verhältnis zu allen übrigen Theilen bedingende Einheit zum Grunde liegt“. 335  KGA I/2, 262,12–17 (kursiv, C. K.). 336  KGA I/2, 214,13. 337  KGA I/2, 221,32.

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Das bedeutet, die Erfahrung des ursprünglichen Handelns des Universums auf den Menschen geht der „Liebesszene“ selbst voraus und muss als Erfahrung von der konstitutiven Entstehungsbedingung des religiösen Bewusstseins in ihrer Interpretation berücksichtigt werden.338 Gerade dadurch, dass sich einem Menschen in der Religion das Universum von sich aus zu erkennen gibt, erfährt er es als ein von sich aus tätiges, genauer: als ein lebendiges Universum,339 das „sich selbst seine Betrachter und Bewunderer“340 schafft. Das Universum ist kein statisches Ganzes, dem das Endliche nur inhäriert, sondern stellt sich vielmehr als substantiell-dynamische Ursprungskraft dar 341 bzw. als der „ewige und Alles bildende Weltgeist“342 . Hier ist der neuralgische Punkt, an dem Schleiermachers Beschreibung des religiösen Bewusstseins in der „Liebesszene“ auf Schwierigkeiten stößt, aber auch ihre Stärken zeigt. Hier wird deutlich, dass das real im religiösen Bewusstsein erfahrene intelligible Verhältnis zwischen dem Selbst und dem Universum nicht mehr in poetischer Analogie zur „heiligen Umarmung“343 der „Liebes­ szene“ allein als gegenseitiges Entsprechungsverhältnis beschrieben werden kann, sondern das Universum als unbeeinflussbare, absolute Macht auftritt, die das intelligible Verhältnis zwischen sich und dem Menschen selbst erst stiftet. Zwangsläufig stößt hier Schleiermachers poetische Chiffre der bräutlichen Be338  Auch Herms hat diese Dimension des geheimnisvollen Augenblicks im Sinn, in der zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen eine qualitative Grenze gezogen wird. In diesem Zusammenhang hält er fest: „Auch die Beschreibung des religiösen Aktes selber hat […] diese Grenze im Blick. In ihm als der schlechthin passiven Begegnung mit dem Universum wirkt sich dessen Alleintätigkeit in ihrer ganzen Transrationalität aus.“ (Herms, Herkunft, 213 (kursiv, C. K.)) 339 Die Lebendigkeit des Universums ist nach Schleiermacher das Charaktermerkmal seiner wahrhaften Unendlichkeit. Deswegen hält Schleiermacher explizit fest, dass in der Religion der Mensch zum Bewusstsein des Universums als des „ursprünglichen Unendlichen und Lebendigen“ kommt (KGA I/2, 262,28 (kursiv, C. K.)). 340  KGA I/2, 251,36. 341  Vgl. dazu auch in Schleiermachers Frühschrift Spinozismus den Abschnitt KGA I/1, 554,30–556,4, in dem er sich kritisch von Jacobis Ansicht (KGA I/1, 554,23 ff.) abgrenzt, die endlichen Dingen würden über eine autonome „Lebenskraft“ (KGA I/1, 555,1.12.15.) verfügen. Schleiermacher hält dagegen unter Berufung auf Spinoza fest, dass ausschließlich in der unendlichen Substanz der Grund jeglicher Lebenskraft liegt, weshalb auch die „eigene den endlichen Dingen zukommende Kraft […] also wol nichts andres seyn [kann] als die jeder Partikel der unendlichen Substanz mitgetheilte Kraft derselben“ (KGA I/1, 555,24 ff.). Die Kraft der unendlichen Substanz ist folglich kategorial von jeder endlichen Kraft unterschieden, weil sie die schöpferische Basis aller endlichen Kräfte darstellt. Daher kann Schleiermacher festhalten, dass die wahre Lebenskraft, die „Kraft der Gottheit“ selbst ist, welche aufgrund ihrer autonomen Selbstbegründung unendlich ist und nicht bloß eine Summe der endlichen Kräfte darstellt, die „aus unzähligen von einander verschiedenen dem Daseyn nach abgesonderten Kräften“ hervorgeht. Jede andere Vorstellung von der wahren Lebenskraft hält Schleiermacher Jacobi entgegen, sei schlichtweg eine „absurde Idee“ (KGA I/1, 555,21 ff.). 342  KGA I/2, 294,7 (kursiv, C. K.). 343  KGA I/2, 222,1.

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gegnung an ihre Grenzen. Es geht nicht mehr um die Beschreibung einer gegenseitigen Harmonie von Selbst und Universum, sondern um die Frage nach dem einseitigen und transphänomenalen Grund dieser Harmonie. Die bislang beschriebene horizontale Dimension der religiösen Bewusstseinserweiterung muss folglich durch eine vertikale Dimension der religiösen Bewusstseinserhebung ergänzt werden. Die religiöse Bewusstseinserweiterung ist durch das harmonische Liebesverhältnis zwischen Selbst und allgegenwärtigem Universum gekennzeichnet, in der religiösen Bewusstseinserhebung ist der Mensch von demütiger Ehrfurcht 344 gegenüber dem allgewaltigen345 Universum ergriffen. Der Mensch beugt sich vor dem schöp­ferischen Urgrund alles Endlichen, das in der „Gestalt eines ewigen Schiksals“346 , als „hehre Nemesis“347, souverän die Geschicke der endlichen Sphä­re lenkt.348 Das Universum wird nach Schleiermacher somit nicht nur als das Ganze bzw. die Totalität des endlichen Seins erfahren, sondern zugleich als zeugender und die Geschichte lenkender Grund des Endlichen erlebt.349 Wie lässt sich dieses Verhältnis widerspruchsfrei verstehen? 2.2.2.  Schleiermachers Universumsverständnis in den ‚Reden‘ In der Forschung ist auf die oben gestellte Frage mit dem Hinweis eingegangen worden, dass Schleiermacher mit dem Ausdruck „Universum“ zwei ganz unterschiedliche Sachverhalte thematisiere. Der Ausdruck „Universum“ bezeichne zum einen die Welt, und zum anderen den von der Welt unterschiedenen Ursprung bzw. Grund der Welt selbst. So hat z.B. Seifert darauf hingewiesen, dass man deswegen zwischen einem sog. „Universum-Gott“350 und einer sog. „Universum-Welt“351 unterscheiden müsse. Eckert greift diese Unterscheidung auf 344  KGA I/2, 236,29; 213,14. Vgl. hierzu auch Otto, West-Östliche Mystik, 327: „Frömmigkeit ist das Gegenteil von Souveränitätsgefühl. Frömmigkeit ist Andacht und Demut“. Das Bewusstsein dieser Demut bildet nach Otto bei Schleiermacher den „Fichteschen Stimmungsgegensatz“ (Ebd.). Vgl. auch Claussen, „Ehrfurcht“, 321–340. 345  KGA I/2, 256,10 f. (kursiv, C. K.) 346  KGA I/2, 234,6. 347  KGA I/2, 234,14. 348  KGA I/2, 234,31 f. 349  Bereits Lipsius weist auf diese beiden Dimensionen von Schleiermachers Universumsauffassung hin, wobei er jedoch nicht die Bedeutung ihres prinzipiellen Zugleichseins erkennt, sondern vereinseitigend festhält, dass das Universum im eigentlichen Sinne nicht „die Totalität des endlichen Daseins in seiner Wechselwirkung, sondern das Unendliche in seiner Offenbarung in der Dingwelt“ sei. (Lipsius, „Schleiermachers Reden“, 138.) Richtiger hingegen bei Ellsiepen, Anschauung, 344 (kursiv, C. K.): „Das ‚Unendliche‘ legt sich […] in die beiden Funktionen auseinander, einerseits die Ganzheitssphäre zu den endlichen Einzel­ dingen als dem Partikularen auszumachen, andererseits den Konstitutionsgrund zu den darin gesetzten Relationen selbst abzugeben.“ 350  Seifert, Theologie, 77. 351 Ebd.

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und wandelt sie um zur Unterscheidung von „Gott-Universum“ und „Welt-Universum“.352 Die Gefahr einer derartigen Interpretation besteht darin, dass man auf diese Weise die einheitliche religiöse Erfahrung des einen und unteilbaren Universums zugunsten einer vorschnellen Trennung des Universums in Welt und Weltgrund aufgibt. Die Stärke von Schleiermachers Universumsbeschreibung in der ersten Auflage der Reden besteht gerade darin, dass in der religiösen Universumserfahrung Welt und Weltgrund in Einem bzw. in ihrer untrennbaren Bezogenheit aufeinander erfahren werden. Sie sind die beiden untrennbaren Momente der einen religiösen Universumserfahrung.353 Schleiermacher macht es deutlich: Weder kann der Weltgrund außerhalb der Welt 354, noch kann die Welt ohne den Weltgrund 355 adäquat erfasst werden. Das Universum muss daher als Totalität und Grund allen Seins als die Alles bestimmende Wirklichkeit aufgefasst werden.356 Dies wird von Schleiermacher in späteren Auflagen der Reden verdeutlicht: 352 

Eckert, „Das Verhältnis“, 51; 56. Ringleben, „Die Reden über die Religion“, 244: „Diese Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit wird von Schleiermacher genuin dialektisch gedacht: beides sind nicht zwei Welten, wie man sich Diesseits und Jenseits vorstellt, sondern das Eine im Andern selbst, das Andere als Selbstunterschied des Ersten.“ Vgl. auch Ellsiepen, Anschauung, 364 f. (kursiv, C. K.): „[…] so kann man sagen, daß der Universumsbegriff der ‚Reden‘ der programmatische Verzicht einer terminologischen Distinktion von Einheitsdimension und Ganzheitsdimension des Unendlichen, von Gottesidee und Weltidee ist. Die sachlichen Äquivalente zu Gottes- und Weltidee lassen sich am Universumsbegriff […] bereits in der ersten Auflage der ‚Reden‘ durchaus festmachen, aber nur […] in deren ursprünglicher Korrelation. Gottesidee und Weltidee trotz terminologischer Distinktion stets als Korrelate zu fassen, daran hält Schleiermacher unerachtet aller Abgrenzungsversuche gegen Spinoza-Vorwürfe über die Revision seiner ‚Reden‘ in den nachfolgenden Auflagen und die Glaubenslehre bis zu den Vorlesungen zur Dialektik fest.“ 354  Vgl. KGA I/2, 252,41 ff. 355  Vgl. KGA I/2, 261,17–22. 356  Diese Formel, welche zuerst von Bultmann zur Charakterisierung des Gottesbegriffs aufgestellt wurde (Bultmann, R., „Welchen Sinn hat es von Gott zu reden? (1925)“, in: ders., Glauben und Verstehen, Bd. I, Tübingen 4. Aulf. 1961, 26–37), vermag auch bei Schleier­ macher die beiden Dimensionen seines Universumsverständnisses einzufangen. Es gilt für Schleiermachers Universumsverständnis das Gleiche, was z.B. Härle in Bezug auf Bultmanns Bestimmung des Gottesbegriffs herausstellt. Ihm zufolge hält „Bultmanns Formulierung fest, daß auch der von der welthaften Wirklichkeit so radikal unterschiedene Gott gleichwohl als Wirklichkeit zu denken ist“ (Härle, W., Dogmatik, Berlin/New York 2.  Aufl. 2000, 212). Es ist evident, dass Schleiermachers Bestimmung des wahren Universums als Grund und Totalität allen Seins diese beiden Dimensionen in sich birgt. Die Beschreibung des Universums als Alles bestimmende Wirklichkeit scheint mir auch besser geeignet zu sein als z.B. Redekers Versuch, das Universum als „das Überendliche“ zu charakterisieren, wodurch bei ihm die absolute Selbstmacht des Universums verloren geht. Redecker reduziert das Universum auf ein formendes Prinzip des Endlichen und erkennt nicht, dass nach Schleiermacher das Universum alles Endliche ursprünglich allererst aus sich selbst erschafft. Vgl. hierzu Redeker, M., Friedrich Schleiermacher. Leben und Werk (1768–1834), Berlin 1968, 55. 353 Vgl.

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Denn abhängig fühlen wir uns von dem Ganzen nicht, sofern es ein zusammengeseztes ist aus einander gegenseitig bedingenden Theilen, deren wir ja selbst einer sind: sondern nur sofern diesem Zusammenhang eine alles und auch unser Verhältnis zu allen übrigen Theilen bedingende Einheit zum Grunde liegt.357

Folglich sind die religiöse Bewusstseinserweiterung und die religiöse Bewusstseinserhebung keine sich ausschließenden oder nur getrennt auftretenden Erfahrungen, sondern sie sind in ihrer wesentlichen Verschränkung für das religiöse Bewusstsein konstitutiv. Weil beide in dem einen geheimnisvollen religiösen Augenblick zugleich geweckt werden, bilden sie gemeinsam den spezifischen Inhalt des unmittelbaren religiösen Selbstbewusstseins. Wie ist dies begrifflich nachzuvollziehen? Das oben aufgezeigte Defizit der Forschung lässt sich meines Erachtens dadurch beheben, dass man Schleiermachers Darstellung vom handelnden Universum in der „Liebesszene“ als eine Beschreibung des wahren Unendlichen begreift.358 Die „Liebesszene“ präsentiert ein Offenbarungsgeschehen, in dem sich das souveräne Universum von sich aus dem menschlichen Bewusstsein zu erkennen gibt. Der grundsätzliche Offenbarungscharakter des Geschehens bringt folglich sowohl die qualitative Differenz als auch die konstitutive Bezogenheit von Universum und endlichem Sein zur Darstellung. Das Universum ist demnach zugleich als Weltgrund und Welt im menschlichen Bewusstsein präsent: Einerseits stellt das Universum nicht nur, wie seine bisherige Beschreibung als „das Ganze“ vielleicht irrtümlicher Weise vermuten ließ, die Expansion des Endlichen ins Unendliche dar.359 Vielmehr wird es als ausschließlicher Initiator 357 

KGA I/12, 134,16–20. Hinweis hierauf gibt schon Dilthey, Leben Schleiermachers, 325: „In Schleiermachers mystischer Anschauung des Unendlichen und Ewigen ist […] eine zwiefache Tendenz zu bemerken. Sie strebt, das Unendliche, Ewige, Eine vom Fluß der endlichen Dinge zu trennen, damit es nicht in den Wellen desselben untergehe, nicht der bloße unablässige Ablauf dieser Wellen werde, der nur in der Einheit des Blicks zusammengefaßt ist. Sie verlangt andererseits, die Gegenwart des Unendlichen, Ewigen, Einen in den endlichen Dingen zu erfassen, somit durch originale Bestimmung des Unendlichen seinen Widerstreit mit dem Endlichen zu lösen.“ 359  Dieses Problem stellt auch Herms heraus: „Indem das Universum als das Ganze gefasst wird, kann ein fließender Übergang vom Teil zum Ganzen angenommen werden, eine Erweiterung der Schranken der Persönlichkeit und ihr schließliches Einswerden mit dem Wesen des Ganzen.“ (Herms, Herkunft, 211 f.) In seiner Schrift Spinozismus ergreift Schleiermacher in diesem Zusammenhang Partei für Spinoza gegen die Annahme Mendelssohns, demzufolge das Unendliche im Spinozistischen Sinne bloß als ein Kollektiv, d.h. als ein Aggregat der endlichen Dinge aufzufassen sei: „Mendelssohn konnte nicht begreifen daß nichts außer den endlichen Dingen subsistire und doch eigentlich nur das Unendliche sub­ sistire. Er meint dann hätten ja die endlichen Dinge eigentlich das reelle Daseyn, und ihr Zusammen, wie er das Unendliche sehr gegen den Geist des Spinoza nennt könne nur etwas collektives seyn“. (KGA I/1, 535,14–19) Schleiermacher bezieht sich hierbei auf eine Stelle aus Mendelssohns Morgenstunden und zwar präzise auf dessen Auseinandersetzung mit Spinoza in: Mendelssohn, M., Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes (1785), in: ders., 358  Einen

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des religiösen Offenbarungsgeschehens als der von allem Endlichen unabhängig agierende, d.h. selbständige „Geist der Welt“360 bzw. „hohe Weltgeist“361 er­ fahren. Das Universum ist also nicht bloß die Totalität von Allem, sondern es ist zugleich „System“362 , d.h. das wahrhaft von allem Endlichen unabhängige Eine. Andererseits ist das Unendliche trotz seiner qualitativen Unterschiedenheit von dem endlichen Sein nicht von demselben absolut getrennt. Hierdurch würde es in ein Gegenüber zum Endlichen gesetzt und auf diese Weise selbst verendlicht werden. Diese Einsicht hält Schleiermacher explizit in seiner dritten Rede fest: „Freilich ist es eine Täuschung, das Unendliche gerade außerhalb des Endlichen, das Entgegengesezte außerhalb dessen zu suchen dem es entgegengesezt wird“363. Eine derartige Auffassung der schlechten Unendlichkeit 364 wird auch in der „Liebesszene“ausgeschlossen.365 Als Initiator des religiösen OffenbarungsgescheGesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe [=JA], hrsg. v. A. Altmann u.a., Stuttgart-Bad Cannstatt 1971 ff., JA III/2, 1–175, hier: Lehrbegriffe XIII, 104–113. Ebenso ist dies der Grund für Schleiermacher sich gegen Leibniz abzugrenzen. Dessen Konzeption der „unendlichen Monade“ (KGA I/1, 570,1), wie Schleiermacher das Unendliche bei Leibniz bezeichnet, gebricht es daran, nicht zum wahren Unendlichen, sondern allenfalls zu einem „aggregatum substantiale“ (KGA I/1, 571,16) zu führen. Vgl. im Rahmen dieses Themenkomplexes auch Lamm, The Living God, 65: „Finite things can be infinitely imaged, thus no one universal idea applies; the whole is more than the aggregate of finite things. […] Thus the One is distinguished from the All of the finite world but is never known apart from the finite.“ 360  KGA I/2, 224,11; 224,16. 361  KGA I/2, 259,34. 362  KGA I/2, 245,7. Von Schleiermacher wahrscheinlich unbemerkt, hatte bereits Mendelssohn in seinen Morgenstunden gezeigt, dass man das Universum, wenn es als wahres Unendliches erfasst werden soll, als System aufzufassen hat: „Wenn also nach dem Spinoza das Weltall, oder die wahre Substanz in dem Inbegriff aller materiellen und denkenden Wesen bestehet; so setzet dieser Inbegriff das Daseyn eines inbegreifenden Subjects voraus. […] Ohne Geisterwelt machen die körperlichen Dinge kein System aus; aber die eingeschränkten Geister bilden gleichsam nur Bruchstücke des Ganzen, die von einem uneingeschränkten Geiste in ihrem Bezirke umfaßt und in Ein System verbunden werden müssen. Daß dieser schrankenlose Geist der Kraft nach unendlich, selbständig und unabhängig seyn wird, ergiebt sich von selbst; und sonach hätte uns Spinozas Idee von dem unendlichen Weltall auf das nothwendige Daseyn eines der Kraft nach unendlichen, einzelnen Wesens geführt“, welches „alles Mannichfaltige […] in Ein System verbinden und ohne welches das Unendliche der Ausbreitung nicht subsistiren kann.“ (Mendelssohn, Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes (1785), JA III/2, 112 (kursiv, C. K.)) 363  KGA I/2, 252,41–253,1. 364  Vgl. einschlägig Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik (1812/13), GW 11, hrsg. v. F. Hogemann/W. Jaeschke, Hamburg 1978, 81 (kursiv, C. K.): „Diese Unendlichkeit des unendlichen Progresses, die mit dem Endlichen behaftet bleibt, hat an ihr selbst ihr Anderes, das Endliche; sie ist somit dadurch selbst begrenzt und selbst endlich; sie ist darum die schlechte Unendlichkeit, weil sie nicht an und für sich, sondern nur ist, als Beziehung auf ihr Anderes. Diß Unendliche ist selbst endlich. […] Dieses Unendliche hat einmal die feste Determination eines Jenseits, das also nicht erreicht werden kann, darum weil es nicht erreicht werden soll, weil es die Bestimmung eines Jenseits hat. Es hat nach dieser Bestimmung das Endliche als die Bestimmung eines Disseits, sich gegenüber; das sich eben so wenig ins Unendliche erheben kann, darum weil es diese Determination eins Anderen für es hat.“ 365 Gegen Ringleben, der behauptet, Schleiermacher gelangt in den Reden nur zu der

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hens setzt sich das Universum selbst in Beziehung zum Endlichen, indem es sich ihm in der Religion von sich aus „zu erkennen“ gibt.366 Das Offenbarungs­ geschehen ist somit nicht nur die Selbstmanifestation des Unendlichen im Endlichen, sondern, präziser ausgedrückt, als die Selbsterschließung des Unendlichen im religiösen Bewusstsein aufzufassen.367 Auf diese Weise präsentiert sich das Universum folglich als das Eine, das zugleich Alles bzw. das Ganze ist, d.h. als dasjenige, dem die endlichen Sachverhalte insgesamt inhärent sind. Dieses ontologische Zusammenspiel von qualitativer Unterschiedenheit und konstitutiver Bezogenheit zwischen Universum und endlichem Sein muss folglich so verstanden werden, dass das Universum in sich selbst das Endliche ins­ gesamt und auch den Gesamtzusammenhang der endlichen Wechselwirkungsbeziehungen aufeinander setzt. Indem Schleiermacher die „Liebesszene“ als ein Offenbarungsgeschehen des Universums im Endlichen beschreibt, bringt er zum Ausdruck, dass es sich bei der religiösen Universumserfahrung nicht um das Bewusstsein einer schlechten Unendlichkeit handelt. Das Universum zeigt sich nicht als das ganz Andere bzw. ein „totaliter aliter“368 zum Endlichen, sondern gibt sich als Totalität und Grund alles Endlichen als „Eins und Alles“369 zu erkennen.370 Konzeption einer „schlechten Unendlichkeit“ (siehe hierzu: Ringleben, „Schleiermachers ‚Reden über die Religion‘ und Hegels ‚Theologische Jugendschriften‘. Einige Beobachtungen zu ihrem Verhältnis“, in: 200 Jahre „Reden über die Religion“, 416–443, hier: 442 f.). 366  KGA I/2, 246,5. 367 Gegen Arndt, Schleiermacher als Philosoph, 65 und Eckert, „Das Verhältnis“, 39. 368  In Abgrenzung von Schleiermachers Verständnis des Universums als lebendiger Unendlichkeit hält Barth für seine eigene Theologie fest: „Wer gerade darin Schleiermachers besonderen Vorzug sehen sollte, daß er den sogenannten Dualismus […] überwunden und gerade mit dem Begriff der Religion, die erwünschte und mit Ehren zu begehende Brücke zwischen Himmel und Erden geschlagen habe, der wird nun freilich, von dem was hier [bei Barth selbst, C. K.] gemeint ist, endgültig abrücken müssen.“ Nach Barth steht im Unterschied zu Schleiermacher fest: „Der Mensch und sein Universum, sein noch so lebendig angeschautes und gefühltes Universum, ein Rätsel, eine Frage, nichts sonst. Ihm steht Gott gegenüber als das Unmögliche dem Möglichen, als der Tod dem Leben, als die Ewigkeit der Zeit.“ (Barth, K., „Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie“, in: J. Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Teil I, München 1962, 197–218; hier: 205,21–206,9) Schleiermachers Beschreibung der Reden folgend entspricht ein derartig dualistisch bestimmtes religiöses Bewusstsein bei Barth entwicklungsgeschichtlich dem Zeitraum kindlicher Einfalt und Sehnsucht: „Das ist die erste Regung der Religion. Eine geheime unverstandene Ahndung treibt sie über den Reichthum dieser Welt hinaus; daher ist ihnen jede Spur einer andern so willkommen […], und alles wovon ihnen am klarsten ist, daß es hier nicht sein kann, umfaßen sie mit aller der eifersüchtigen Liebe, die man einem Gegenstande widmet, auf den man ein offenbares Recht hat, welches man aber nicht geltend machen darf. Freilich ist es eine Täuschung, das Unendliche grade außerhalb des Endlichen, das Entgegengesezte außerhalb deßen zu suchen dem es entgegengesezt wird“, KGA I/2, 252,35–253,1. 369  KGA I/2, 245,8 (kursiv, C. K.). 370  Dies ist auch der Grund, weshalb meines Erachtens der von Welker angestellte Vergleich zwischen Schleiermachers Verständnis der Universumsoffenbarung und Mircea Elia-

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Das Universum wird somit im religiösen Bewusstsein als wahres Unendliches erfahren, weil es sich als die in sich selbst differenzierte Einheit seiner selbst und des Endlichen offenbart. In diesem eminenten Sinne als wahres Unendliches bestimmt, bildet das Universum Schleiermachers ἓν καὶ πᾶν. Folglich liegt nicht in Schleiermachers Beschreibung, sondern vielmehr in der Natur des wahren Unendlichen das scheinbare Paradox des Universums als zugleich von Welt und Weltgrund begründet. In dieser Beschreibung des wahren Unendlichen besteht eine Ähnlichkeit zwischen den Reden und Schleier­ machers Verständnis von Spinozas Konzeption der unendlichen Substanz.371 Das in der Religion unmittelbar erfahrene intelligible Verhältnis zwischen Selbst und Universum ist, anders als dasjenige zwischen dem Selbst und einem sinnlichen Gegenstand, als ein asymmetrisches Verhältnis bestimmt. Der Inhalt der religiösen Bewusstseinserhebung besteht in dem Bewusstsein vom Gesetztsein-des-Ganzen. Demzufolge wird das in der religiösen Bewusstseinserweiterung vom Subjekt erfahrene gegenseitige Entsprechungsverhältnis zwischen dem endlichen Sein und dem Universum in Schleiermachers Beschreibung der religiösen Bewusstseinserhebung näher als ein durch das Universum selbst gesetztes gegenseitiges Entsprechungsverhältnis bestimmt. Geht man auf diese Weise vor, so liegt in der Erstauflage der Reden keine unklare oder gar widersprüchliche Beschreibung vor,372 sondern vielmehr stellen die Reden auf gedrängtem Raum eine äußert präzise Beschreibung der Erfahrung des Universums als des wahren Unendlichen dar, in welcher dem religiösen Subjekt Welt und Weltgrund in ihrer untrennbaren Beziehung aufeinander zugleich präsent werden.373 des Auffassung einer heiligen Hierophanie in dessen Werk Das Heilige und Profane sich nicht als stichhaltig erweist. Gerade der von Eliade herausgearbeitete Charakter einer Erfahrung von etwas „Ganz anderem“, der sich ihm zufolge nur in der Paradoxstruktur des Erlebnisses zeigt (vgl. Eliade, M., Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Hamburg 1957, 8 f.), entfernt sich eindeutig von Schleiermacher. Vgl. hierzu Welker, Beurteilung, 50 f. 371  Vgl. KGA I/1, 567,14–26 (kursiv, C. K.): „Eben diese doppelte Betrachtung des Unendlichen da es bald abgesondert von den endlichen Dingen per se betrachtet, bald wieder in der untrennbaren Verbindung mit ihnen vorgestellt wird, so daß man von ihm sagen kann: sowohl es hat keine Vorstellung als auch: es sind alle Vorstellungen in ihm; sowohl es hat keine Bewegung, als es ist alle Bewegung in ihm, diese sage ich ist das was in der Darstellung immer sonderbar und unerklärlich bleibt, wenn man nicht von diesem Punkt ausgeht. Nemlich von dem Bedürfnis getrieben den letzten Grund der endlichen Dinge zu finden, findet Spinoza ein Unendliches dessen Essenz die bloße Existenz ist; von dem Saz gestossen daß der letzte Grund der endlichen Dinge nicht außerhalb derselben seyn darf, entdekt er nun daß jenes Unendliche nicht das ganze, vollkommene Unendliche ist, sondern daß zu jener Essenz die endlichen Dinge in dem Verhältnis der Inhärenz wenigstens mittelbar stehen müssen.“ Vgl. auch KGA I/2, 554,30–556,4. 372 Gegen Herms, Herkunft, 211: „Diese Spannung zwischen einer kritischen Grenzziehung zwischen Endlichem und Unendlichem und ihrer Verwischung prägt exemplarisch den von den Reden zur Bezeichnung des Unendlichen gewählten Ausdruck ‚Universum‘“. 373  KGA I/2, 226,5–23. Vgl. dazu auch in Schleiermachers erstem Gedankenheft Nr.  4 8: „Liebenswürdig ist wer das Unendliche im Endlichen findet, groß wer das endliche um des

§  7  Begründung

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Strukturell vertritt Schleiermacher somit in den Reden mit seiner Konzep­ tion des wahren Unendlichen zweifelsfrei keinen Pantheismus, mit dessen Gleichsetzung von Welt und Gott bzw. Universum. Vielmehr vertritt Schleiermacher eindeutig einen Panentheismus, indem er die Immanenz der Welt im Universum bei gleichzeitiger Transzendenz des Universums gegenüber der Welt behauptet.374 Diese Interpretation kehrt das von Hartlieb statuierte einseitige Herrschaftsverhältnis zwischen Selbst und Universum grundsätzlich um. Im geheimnisvollen Augenblick erfährt sich das religiöse Subjekt nicht als eine das Universum dominierende Instanz, sondern es wird sich vielmehr unmittelbar bewusst, dass alle seine Beziehungen auf das Universum, in seinem Denken, Handeln, Anschauen und Fühlen, sich einer ursprünglichen Tat des Universums selbst verdanken, wodurch das Universum die Beziehungsmöglichkeit zwischen sich und dem Menschen erst geschaffen hat. Indem sich das Universum selbst souverän in ein Verhältnis zum Endlichen gesetzt hat, ist es erst dem Endlichen möglich, von sich aus in Beziehung zum Unendlichen zu treten. Im Anschluss an den dritten Beschreibungsschritt der „Liebesszene“ und die Präzisierung von Schleiermachers Universumsverständnis in den Reden kann die Eingangsfrage des gesamten Abschnitts nach dem Inhalt des unmittelbaren religiösen Selbstbewusstseins beantwortet werden: Der Inhalt des unmittelbaren religiösen Selbstbewusstseins ist nach Schleiermacher das Universum als das sich selbst offenbarende, wahre Unendliche. Im unmittelbaren religiösen Selbstbewusstsein erschließt sich das Universum als Totalität und Grund allen Seins. Dementsprechend ist die inhaltliche Bestimmung des unmittelbaren religiösen Selbstbewusstseins im Vergleich zum nur unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstsein zugleich als eine Bewusstseinserweiterung und eine Bewusstseinserhebung bestimmt. Die religiöse Bewusstseinserweiterung hat zum Inhalt, dass alle endlichen Sachverhalte in dem Zusammenspiel von Rezeptivität und Spontaneität aufeinander bezogen sind, demzufolge also jedes einzelne Endliche in einen allgemeinen Wechselwirkungszusammenhang hineingestellt ist. Dies wurde von Schleiermacher als das religiöse Bewusstsein vom Eingebundensein alles Endlichen in das Unendliche bzw. als das Bewusstsein vom Sein-im-Ganzen beschrieben. In der religiösen Bewusstseinserhebung ist sich der Mensch bewusst, dass der allgemeine Wechselwirkungszusammenhang zwischen den endlichen Sachverhalten nicht in sich selbst gegründet ist, sondern sein Bestehen von einer Instanz außerhalb seiner selbst herrührt. Als „Woher“ des allgemeinen Wechselwirunendlichen willen wegwirft. Vollendet wer beides vereinigt.“ (KGA I/2, 17,3 ff. (kursiv, C. K.)) 374  Vgl. auch gegen den Pantheismusvorwurf einschlägig Piper, Das religiöse Erlebnis, 31: „Nicht die Welt wird […] als Gott erlebt, sondern in der Welt als Wirkung Gottes wird man sich auch seiner bewußt“.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

kungszusammenhangs sämtlicher endlicher Sachverhalte wird der lebendige Ursprung aller Existenz, das Universum erfahren. Es handelt sich in der reli­ giösen Bewusstseinserhebung um die Erfahrung eines durch das Universum gesetzten allgemeinen Wechselwirkungszusammenhangs aller endlichen Sachverhalte bzw. um das Bewusstsein vom Gesetztsein-des-Ganzen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass sich nach Schleiermacher das Universum als wahres Unendliches dem religiösen Menschen immer zugleich als Totalität und Grund allen Seins erschließt und demzufolge die religiöse Bewusstseinserweiterung und -erhebung nicht etwa zwei getrennte Vorgänge darstellen, sondern vielmehr die beiden sachnotwendig aufeinander bezogenen Momente des einen religiösen Offenbarungsgeschehens bilden. Bestätigung findet diese Interpretation durch Schleiermacher selbst. In späteren Auflagen seiner Reden hält er in Übereinstimmung mit der soeben herausgearbeiteten These von der in sich differenzierten Struktur des religiösen Bewusstseins fest, das Wesen der Religion ist „das unmittelbare Bewußtsein von dem allgemeinen Sein alles Endlichen im Unendlichen und durch das Unendliche“.375 3.  Das menschliche Bewusstseinsleben insgesamt Die beiden letzten Abschnitte haben aufgezeigt, dass Schleiermacher in seiner Thematisierung des geheimnisvollen Augenblicks (KGA I/2, 220,29–223,19) nicht allein die darstellungstheoretische Problematik behandelt, dass Anschauungen und Gefühle, obgleich ursprünglich zusammengehörig, in der Mitteilung einer notwendigen Scheidung unterliegen, sondern darüber hinaus auch eine begründungstheoretische Beschreibung und Verhältnisbestimmung von sinnlichem und religiösem Bewusstseinsleben unternimmt, woraus sich eine Theorie des menschlichen Bewusstseinslebens insgesamt ergibt. In Bezug auf diese Bewusstseinstheorie besteht ein begründungstheoretischen Potenzial, das Schleiermacher in seiner Beschreibung des geheimnisvollen Augenblicks zwar andeutet, jedoch in den Reden selbst nicht restlos ausschöpft. Im Folgenden soll dieses Potenzial anhand von drei Thesen entwickelt werden. In diesem Zusammenhang wird gezeigt, inwiefern es möglich ist, die in §  6 aufgestellte Hypothese von der inhaltlichen Koordination und formalen Superordination der Religion gegenüber Metaphysik und Moral auf der Grundlage von Schleiermachers allgemeiner Bewusstseinstheorie zu begründen. Damit wird nachgewiesen, dass es Schleiermacher in seinen Reden gelingt, die grundlegenden Anforderungen an einen kritischen Religionsbegriff zu erfüllen, wie sie Wagner zwar treffend benennt, in Bezug auf die Reden aber als nicht erfüllt ansieht: „Das religiöse Bewußtsein kann also nur unter der Bedingung als religiöses Bewußtsein auftreten, daß die Besonderheit in die Allgemeinheit 375 

KGA I/12, 53,12 f.

§  7  Begründung

205

der Bewußtseinsstruktur platziert wird, ohne daß dadurch das Bewußtsein selber kollabiert.“376 Die folgenden drei Thesen zeigen, dass es in der Religionskonzeption der Reden, entgegen der Ansicht von Wagner, zu keinem Kollabieren des mensch­ lichen Bewusstseins kommt, sondern Schleiermacher vielmehr umgekehrt mithilfe seines kritischen Religionsbegriffs in der Lage ist, die Bedeutung des religiösen Bewusstseins für die Stabilität und Höchstform des menschlichen Bewusstseinslebens insgesamt herauszustellen. These 1:  Schleiermacher stellt in seiner Beschreibung des geheimnisvollen Augenblicks das menschliche Bewusstseinsleben insgesamt dar. Dieses ist bei formaler Einheitlichkeit inhaltlich in sich selbst differenziert gestaltet. In ihm erschließt sich dem Menschen die eine Wirklichkeit in ihren zwei Dimensionen. Prinzipiell hat sich in Interpretation des „geheimnisvollen Augenblicks“ aus der Erstauflage der Reden herausgestellt, dass Schleiermacher zufolge jedes Moment des menschlichen Bewusstseinslebens auf einem ursprünglichen Erschließungsereignis basiert, welches durch einen phänomenalen Eindruck geweckt, sämtliche spontanen und rezeptiven Akte des menschlichen Bewusstseins in ihrem Zusammenspiel begründet und begleitet. Weil dieses Erschließungsereignis das intelligible Verhältnis zwischen affiziertem Selbst und affizierendem Sachverhalt umfasst und sich der geheimnisvolle Augenblick im menschlichen Bewusstsein ereignet, handelt es sich bei letzterem um das unmittelbare Selbstbewusstsein des Menschen. Dieses bildet nach Schleiermacher den genealogischen Ursprung und sachlogischen Grund des menschlichen Bewusstseinslebens überhaupt. Bei dem geheimnisvollen Augenblick im menschlichen Bewusstsein handelt es sich um eine unmittelbare Evidenzerfahrung, d.h. eine infallible377 Gewissheit des Menschen hinsichtlich seines Seins-in-der-Welt 378. Ein unmittelbares Selbstbewusstsein aufzuweisen oder über ein evidentes Wirklichkeitsbewusstsein zu verfügen, sind nach Schleiermacher somit Wechselausdrücke.379 Die wesentliche Aussage von Schleiermachers Bewusstseinstheorie der Reden besteht darin, dass dieses unmittelbare Selbstbewusstsein des Menschen zweier 376 

Wagner, Was ist Religion?, 524. Gewissheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins ist infallibel, weil sie erst die Möglichkeitsbedingungen von Wahrheit und Falschheit, nämlich die mögliche Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung von Denken und Sein, erzeugt. 378  Vgl. hierzu Heidegger, M., Sein und Zeit, Tübingen 15.  Aufl. 1979, 180. Vgl. auch Patriarca, S., „Heidegger und Schleiermacher. Die Freiburger Aufzeichnungen zur Phänomenologie des religiösen Lebens (1918–19)“, Heidegger-Studies 18 (Hermeneutic Pre-Conditions of the Thinking of Being, Questions concerning Greek Philosophy, Theology and Politics), Berlin 2002, hier: 139 ff. 379 Auf den sachlogischen Zusammenhang von unmittelbarem Selbstbewusstsein und evidentem Wirklichkeitsbewusstsein hat schon Herms mit seiner Näherbestimmung des unmittelbaren Selbstbewusstseins durch den Terminus „unmittelbares Realitätsbewusstsein“ (Herms, Herkunft, 126) hingewiesen. 377  Diese

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

unterschiedlicher Bestimmungen fähig ist, d.h. bei seiner grundsätzlichen Einheitlichkeit zu einer internen Differenzierung befähigt ist. Diese beiden Bestimmungen sind das unmittelbare sinnliche Selbstbewusstsein einerseits und das unmittelbare religiöse Selbstbewusstsein andererseits. Mit seiner Beschreibung des geheimnisvollen Augenblicks im menschlichen Bewusstsein liefert Schleiermacher also nicht bloß das Fundament zu seinem kritischen Religionsbegriff, sondern stellt vielmehr die Grundzüge zu einer phänomenologischen Theorie des menschlichen Bewusstseinslebens im Ganzen dar, in welche sein kritischer Religionsbegriff spezifisch eingegliedert ist. Im Rahmen der Analyse des geheimnisvollen Augenblicks ist auf bewusstseinstheoretischem Wege deutlich geworden, dass sich Schleiermacher zufolge sinnliches und religiöses Bewusstsein auf die gleiche Wirklichkeit beziehen.380 Die Einheitlichkeit des unmittelbaren Selbstbewusstseins gewährleistet die inhaltliche Kongruenz des sinnlichen und religiösen Wirklichkeitsbewusstseins. Würde sich ein Mensch in seiner Religion auf eine ontologisch vollkommen andersartig beschaffene Wirklichkeit als in seinem sinnlichen Bewusstsein beziehen, müsste es entweder innerhalb des unmittelbaren Selbstbewusstseins zu einer Konkurrenzsituation zwischen der sinnlichen und der religiösen Wirklichkeitsauffassung kommen, oder Schleiermacher müsste ein derartig abwegiges Konzept vertreten, demzufolge es in jedem Menschen zwei getrennt voneinander operierende unmittelbare „Selbstbewusstseine“ gäbe. In diesem Fall stünden nicht die beiden Wirklichkeitsauffassungen des einen Subjekts in Konkurrenz zueinander, sondern vielmehr wäre das Subjekt selbst bewusstseinsgespalten. Beides ist in den Reden offenkundig nicht der Fall. Vielmehr ist es das Ziel Schleiermachers, gegenüber den gebildeten Verächtern herauszustellen, dass das religiöse Bewusstseinsleben sich in das Ensemble der Gemütsvermögen eingliedernd eine spezifische Funktion innerhalb desselben ausübt. Aus diesem Grund handelt es sich formal bei dem sinnlichen und dem religiösen Wirklichkeitsbewusstsein nicht um das Bewusstsein zweier voneinander getrennter Wirklichkeiten, sondern vielmehr um das Bewusstsein der einen Wirklichkeit in ihren beiden Dimensionen. Wie sich diese beiden Dimensionen inhaltlich zueinander verhalten, wird im Folgenden herausgearbeitet. These 2:  Die beiden inhaltlichen Bestimmungen des menschlichen Bewusstseinslebens sind das sinnliche und das religiöse Bewusstsein, die aufgrund ihrer eigentümlichen Erschlossenheitslage eindeutig voneinander unterschieden sind, jedoch als spezifische Bestimmungen des einen menschlichen Bewusstseins in einem notwendigen Bezug aufeinander stehen, weshalb das höchste mensch­ liche Bewusstsein in der qualifizierten Vereinigung beider besteht. Ebenso wie Schleiermacher mithilfe seiner Theorie des unmittelbaren Selbstbewusstseins in der Lage ist, zu begründen, weshalb sinnliches und religiöses 380 

Vgl. hierzu auch Welker, Beurteilung, 60.

§  7  Begründung

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Bewusstsein sich formal auf eine gemeinsame Wirklichkeit beziehen, so kann er auch zeigen, dass und auf welche Weise sie sich trotz ihrer inhaltlichen Differenz zu einem einheitlichen Bewusstseinsleben im Menschen vereinigen. Es hat sich in der Analyse des geheimnisvollen Augenblicks gezeigt, dass die inhaltliche Bestimmung des unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstseins darin besteht, sich einer unabweislichen Gegenstandsbezogenheit gewiss zu sein. ­Dieses unmittelbare Bewusstsein der eigenen Gegenstandsbezogenheit konnte näher als die Gewissheit bezüglich des eigenen Seins-in-der-Wechselwirkung bestimmt werden. Ein unmittelbares sinnliches Selbstbewusstsein zu besitzen, bedeutet, unmittelbar gewiss zu sein, sich in einem Verhältnis des beziehungsweisen Gegensatzes zu einem anderen endlichen Sachverhalt vorzufinden. Indem sich einem Menschen im unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstsein die eigene Gegenstandsbezogenheit als unabweisliches Verhältnis des beziehungsweisen Gegensatzes erschließt, wird er sich nicht nur eines Gegenstandes selbst, sondern seines Spielraums im Umgang mit diesem Gegenstand gewiss. Der spezifische Inhalt des unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstseins besteht nach Schleiermacher somit in dem evidenten Freiheitsbewusstsein des Menschen. In der Analyse des geheimnisvollen Augenblicks für das unmittelbare religiöse Selbstbewusstsein hat sich gezeigt, dass dessen Inhalt in der unabweislichen Universumsbezogenheit besteht, d.h. in der im unmittelbaren Selbstbewusstsein liegenden Gewissheit der Verbindung des Unendlichen mit dem Endlichen. Aus diesem Grunde bezieht sich ein Mensch im unmittelbaren religiösen Selbstbewusstsein nicht auf das symmetrische Verhältnis zwischen den vereinzelten endlichen Sachverhalten untereinander, sondern ist sich der ausnahmslosen und unterschiedslosen radikalen Dependenz alles Endlichen vom Unendlichen gewiss. In der Religion ist sich ein Mensch folglich des fundamentalen asymmetrischen Verhältnisses zwischen dem endlichen Wirklichkeitsbereich der relationalen Gegensätze und dem unendlichen Wirklichkeitsbereich außerhalb jedes Gegensatzes insgesamt bewusst. In der Religion werden nicht wie in dem sinnlichen Selbstbewusstsein die endlichen Sachverhalte in ihrem beziehungsweisen Gegensatz zueinander erfahren, sondern treten in ihrer gegensatzlosen Bezogenheit auf das Universum ins Bewusstsein: [A]lles Einzelne nicht für sich, sondern als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte nicht in seinem Gegensaz gegen Anderes, sondern als eine Darstellung des Unendlichen, in unser Leben aufnehmen und uns davon bewegen lassen, das ist Religion.381

Im unmittelbaren religiösen Selbstbewusstsein erschließt sich einem Menschen das Gesetztsein der gesamten endlichen Sphäre durch das Unendliche. Ihm geht auf, dass der gesamte Wirklichkeitsbereich seiner Freiheit ein nicht durch ihn 381 

KGA I/12, 67,20 ff. (kursiv, C. K.)

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

selbst geschaffener, sondern vielmehr ein durch das Universum mit Notwendigkeit vorgegebener Bereich ist. Religion ist das Notwendigkeitsbewusstsein der relativen Freiheit bzw. Selbstbewusstsein der endlichen Freiheit. Ein unmittelbares religiöses Selbstbewusstsein zu besitzen, und über das Selbstbewusstsein endlicher Freiheit zu verfügen, bedeutet nach Schleiermacher folglich das Gleiche: Die Religion athmet da, wo die Freiheit selbst schon wieder Natur geworden ist, jenseits des Spiels seiner besondern Kräfte und seiner Personalität faßt sie den Menschen, und sieht ihn aus dem Gesichtspunkt, wo er das sein muß was er ist, er wolle oder wolle nicht.382

Schleiermacher zufolge sind das sinnliche und das religiöse Bewusstseinsleben aufgrund ihrer eigentümlichen Erschlossenheitslage eindeutig voneinander unterschieden. Die Religion ist dem sinnlichen Selbstbewusstsein sowohl koordiniert als auch superordiniert ist, weil die Dimension ihres Wirklichkeitsbewusst­ seins diejenige des sinnlichen Wirklichkeitsbewusstseins zugleich einschließt und umschließt bzw. sowohl bewahrt als auch gewährt. Religiöses und sinnliches Wirklichkeitsbewusstsein verhalten sich nach Schleiermachers Beschreibung wie zwei konzentrische Kreise zueinander. In diesem Bild stellt das sinnliche Wirklichkeitsbewusstsein den inneren Kreis dar, der, obzwar um- und eingeschlossen vom äußeren Kreis des religiösen Wirklichkeitsbewusstseins, rein für sich betrachtet, keinen notwendigen Bezug auf den äußeren Kreis anzeigt. Ebenso wie es in dem beschriebenen Bild allein anhand des inneren Kreises nicht ersichtlich ist, dass es einen ihm zugehörigen äußeren Kreis geben muss, ebenso wenig lässt sich Schleiermacher zufolge aus dem sinnlichen Wirklichkeitsbewusstsein für sich genommen folgern, dass es einen religiösen Wirklichkeitsbereich geben muss. Allein aus sich selbst heraus kann das sinnliche Selbstbewusstsein keinen Bezug auf das religiöse Bewusstsein generieren. Ebenso wie im Bild der äußere der beiden konzentrischen Kreise mit Notwendigkeit den inneren Kreis in sich einfasst, so beinhaltet auch die Religion in sich selbst einen Bezug auf das sinnliche Wirklichkeitsbewusstsein, welches von ihr somit nicht aus-, sondern vielmehr um- und eingeschlossen wird. Diese Struktur der konzentrischen Kreise gilt für Schleiermachers Verständnis vom menschlichen Bewusstseinsleben insgesamt. Dessen Höchstform besteht aus diesem Grund in der immanenten und stetigen Bezogenheit von sinnlichem und religiösem Bewusstseinsleben aufeinander.383 Dies wird im Folgenden sowohl in sachlogischer als auch genealogischer Hinsicht verdeutlicht. Indem die Religion sich, wie die Analyse der „Liebesszene“ gezeigt hat, auf das Universum als wahres Unendliches bezieht, birgt sie auch ein Bewusstsein 382 

KGA I/2, 212,12–15 (kursiv, C. K.). anderes meint Schleiermachers Formel in ihrem Vollsinn, dass man „alles mit Religion thun [soll], nichts aus Religion“, KGA I/2, 219,23 f. 383  Nichts

§  7  Begründung

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für den endlichen Wirklichkeitsbereich in sich und steht in einem zweifachen sachlogischen Bezug auf das sinnliche Bewusstseinsleben: Einerseits streicht das religiöse Bewusstsein nicht einfach das sinnliche Bewusstsein schwärmerisch aus, sondern als Bewusstsein vom wahren Unend­ lichen bewahrt es den Geltungsanspruch des sinnlichen Bewusstseins.384 Indem es den endlichen Wirklichkeitsbereich notwendig in sich einschließt, anerkennt es damit zugleich die Zuständigkeit des sinnlichen Bewusstseins für diesen Bereich. Weil die Religion also das Bewusstsein freiheitseinschließender Notwendigkeit ist, bleibt durch sie der Wirklichkeitsbereich des sinnlichen Selbstbewusstseins unangetastet.385 In diesem Sinne besitzen beide Bewusstseinsweisen einen eigenen Zuständigkeitsbereich und sind folglich einander koordiniert. Andererseits bleibt im religiösen Bewusstsein zwar der sinnliche Wirklichkeitsbereich unangetastet, das religiöse Bewusstsein ist dennoch keineswegs unbedeutend für das sinnliche Selbstbewusstsein, sondern qualifiziert dasselbe vielmehr in spezifischer Hinsicht. Weil die Religion das Bewusstsein freiheitsumschließender Notwendigkeit ist, wird durch sie die menschliche Freiheit als spezifisch begrenzt und folglich der Wirklichkeitsbereich des sinnlichen Selbstbewusstseins als ein durch das Universum gewährter erfahren. In der Religion wird einem Menschen nach Schleiermacher bewusst, dass der Bereich seiner Freiheit nicht von ihm selbst erzeugt ist, sondern allein deshalb besteht, weil das wahre Unendliche diesen Freiheitsbereich in sich selbst setzt. Aus diesem Grunde ist die Religion, obwohl sie den Wirklichkeitsbereich des sinnlichen Bewusstseinslebens unangetastet lässt, im qualifizierenden Sinne am sinnlichen Selbstbewusstsein gegenwärtig und demselben gegenüber superordiniert. Schleiermachers Beschreibung zufolge stellen sich sowohl eine schwärmerische Religion, die sich der Weltflucht hingibt 386 als auch eine atheistische Sinnlichkeit, die jede Bedeutung der Frömmigkeit für den Bereich der endlichen Wirklichkeit leugnet,387 als disqualifizierte Formen des religiösen und sinnlichen Bewusstseinslebens dar. Die Höchstform des menschlichen Bewusstseinslebens besteht darin, in jedem Moment des sinnlichen Bewusstseinslebens zugleich durch das religiöse 384 

Vgl. auch KGA I/5, 52,18–56,15. hierzu zentral KGA I/2, 220,6–17 (kursiv, C. K.): „Ihr tadelt denjenigen, der durch den Eindruk, den ein Mensch auf ihn macht, sein Verhalten gegen ihn bestimmen läßt […] so ist auch derjenige zu tadeln, deßen Handlungen, die immer aufs Ganze gerichtet sein sollten, lediglich durch die Gefühle bestimmt werden, die eben dieses Ganze in ihm erwekt; er wird ausgezeichnet als ein solcher, der seine Würde preisgiebt, nicht nur aus dem Standpunkt der Moral, weil er fremden Beweggründen Raum läßt, sondern auch aus dem der Religion selbst, weil er aufhört zu sein, was ihm allein in ihren Augen einen eigenthümlichen Wert giebt, ein freier durch eigene Kraft thätiger Theil des Ganzen.“ 386 Vgl. Schleiermachers Charakterisierung der religiösen Schwärmerei in: KGA I/1, 194,16–199. 387  Vgl. KGA I/2, 57,22–26. 385 Vgl.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Bewusstsein qualifiziert bestimmt zu sein und in jedem Moment des religiösen Bewusstseinslebens zugleich in einem Bezug auf das sinnliche Bewusstseins­ leben zu stehen. Ergänzend kann im Anschluss an Schleiermachers Beschreibung des geheimnisvollen Augenblicks auch auf genealogischem Weg gezeigt werden, dass allein die immanente Bezugnahme von sinnlichem und religiösen Bewusstsein die Höchstform des menschlichen Bewusstseinslebens ausmacht: Die Entstehung des religiösen Bewusstseins ist prinzipiell auf einen phänomenalen Impuls angewiesen. Das religiöse Bewusstsein erfährt das Universum nicht per se, sondern ausschließlich im Rahmen seiner Manifestation im End­ lichen, d.h. nur nach Maßgabe seiner Präsenz im Phänomenalen. Weil die Religion folglich keineswegs noumenales Bewusstsein schlechthin, sondern vielmehr phänomenales Transphänomenalbewusstsein ist, vermag sie nicht aus sich selbst, sondern nur in Verbindung mit dem sinnlichen Bewusstsein ihr Universumsbewusstsein zu bilden. Jedes religiöse Bewusstsein wird folglich immer nur als bestimmtes Universumsbewusstsein wirklich und somit kann auch die Höchstform des menschlichen Bewusstseinslebens insgesamt nur in der gegenseitigen Durchdringung von sinnlichem und religiösem Bewusstsein wirklich werden. These 3:  Wie sich das Verhältnis zwischen sinnlichem und religiösem Bewusstsein im menschlichen Bewusstseinsleben gestaltet, so gestaltet sich auch das Verhältnis von Metaphysik und Moral zur Religion. In der Analyse des geheimnisvollen Augenblicks der Reden hat sich gezeigt, dass Schleiermacher zufolge das menschliche Bewusstseinsleben prinzipiell auf einem ursprünglichen Erschließungsgeschehen des unmittelbaren Selbstbewusstseins beruht. Das bedeutet, dass sämtliche Vorgänge und Entwicklungen im menschlichen Bewusstseinsleben auf dasjenige ursprüngliche Erschließungsgeschehen bezogen bleiben, dem sie ihren Wirklichkeitsbezug verdanken. Mithilfe dieser Überlegungen kann Schleiermachers Hypothese von der inhaltlichen Koordination und formalen Superordination der Religion gegenüber Metaphysik und Moral 388 auf bewusstseinstheoretischem Wege begründet werden. Zwar beziehen sich nach Schleiermacher grundsätzlich alles Denken und Wollen als Tätigkeiten des menschlichen Bewusstseinslebens auf die gleiche Wirklichkeit wie die Religion, nämlich das Universum als Totalität und Grund allen Seins.389 Allerdings beziehen sie sich ihm zufolge auf eine andere Dimension dieser Wirklichkeit als die Religion.390 Denken und Wollen agieren notwendigerweise im Rahmen der Gegenstandsbezogenheit des Subjekts, d.h. auf Basis der Erschlossenheitslage des unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstseins. Sie sind Ausdruck des evidenten Freiheitsbewusstseins eines Menschen und be388 

Vgl. §  6 in vorliegender Arbeit. KGA I/2, 207,36–208,2. 390  KGA I/2, 211,27–212,22. 389 

§  7  Begründung

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ziehen sich demzufolge auf den Bereich der beziehungsweisen Gegensätze der endlichen Dinge zueinander. Hier zeigt sich noch einmal ganz deutlich, dass es sich bei dem unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstsein nicht um eine sinnliche Erfahrung eines Einzelgegenstandes handelt, sondern um die Gewissheit eines intelligiblen Verhältnisses. Jede Weise des gegenstandsbezogenen Bewusstseins, d.h. jede Form des auf sachgerechte Wissensproduktion ausgerichteten Denkens bzw. auf realitäts­ gerechtes Handeln ausgerichteten Wollens bewegt sich im Horizont der Erschlossenheitslage des unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstseins. Was Schleiermacher somit in seiner Frühschrift Über den Wert des Lebens von 1792/93391 prinzipiell als das für jedes sachgerechte Denken und Wollen ursprüngliche Zusammenspiel von „erkennen [und] begehren“392 bezeichnet, ist in seiner Beschreibung des geheimnisvollen Augenblicks in den Reden zu einer Theorie des unmittelbaren Selbstbewusstseins weiterentwickelt.393 Philosophiegeschichtlich greift Schleiermacher hierbei auf die Kantische Einsicht zurück, dass die Sachhaltigkeit der menschlichen Erkenntnis an das Zusammenspiel der beiden Erkenntnisstämme, Sinnlichkeit und Verstand, gebunden ist,394 die er gemäß seiner von Jacobi beeinflussten Theorie vom unmittelbaren Selbstbewusstsein spezifisch modifiziert. Die Sachhaltigkeit menschlicher Erkenntnis ist nach den Reden an das Zusammenspiel von ursprünglicher Wirklichkeitserschlossenheit im unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstsein und der denkenden Selbsttätigkeit des Menschen gebunden. Der Vorgang des Beobachtens erhält auf diese Weise eine intelligible Bedeutung und erlangt im menschlichen Erkenntnisvorgang entscheidendes Gewicht.395 Nach Schleier391  KGA

I/1, 391–471. KGA I/1, 408,2 f. 393 Siehe hierzu auch einschlägig für Schleiermachers grundlegendes Philosophieverständnis in seinem Frühwerk Herms, Herkunft, 72; 87 f.; 96 und Ders., „‚Beseelung der Natur durch die Vernunft‘. Eine Untersuchung der Einleitung zu Schleiermachers Ethikvorlesung von 1805/06“, Archivio di Filosofia 52 (1984), 49–102. Vgl. auch Arndt, „Kommentar“, 1060–1065 und Blackwell, Schleiermacher’s Early Philosophy of Life, 7–21; 123–137; 161–175. 394  Kant, Kritik der reinen Vernunft. Zweite Auflage, AA III, B 75. 395 Eine Vorstufe zu dieser Hochschätzung und intelligiblen Wendung der Beobachtung, welche dieselbe sogar als „Quintessenz der Philosophie“ bestimmt, findet sich in Schleiermachers Brief an Brinckmann vom 22.7.1789 (KGA V/1, 119,102). Hierin reagiert Schleiermacher auf Brinkmanns Bemerkung, dass sich die erkenntnisorientierte Beobachtung doch nur wie das „Zugemüse“ zur „eigentlichen Philosophie“ ausnehme (KGA V/1, 118,99 ff.). Schleiermacher greift in seinem Brief dieses Bild auf, kehrt jedoch dessen Bedeutung um, indem er festhält, dass das „Fleisch“ der Philosophie, d.h. das spekulative Denken, doch eigentlich „nur dazu da ist um mit der Brühe desselben das Zugemüse fett zu machen“ (KGA V/1, 119,130). Jede spekulative Theorie steht nach Schleiermacher also im Dienst der Beobachtung. Ihr Beitrag zum philosophischen Wissen besteht, wie im Bild das Fleisch bei der Mahlzeit, darin, den schon vorhandenen Stoff der Beobachtung durch gedankliche Durchdringung anzureichern, bildhaft gesprochen: fett zu machen. Das Wesentliche des philosophischen Wissens (bildhaft: die Basis der Mahlzeit) stellt aber die Beobachtung (bildhaft: das 392 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

macher bezeichnet „Beobachtung“ weder einen einfachen empirischen Vorgang, noch wird durch sinnliche Beobachtung, wie in Kants Verständnis des sinn­ lichen Erkenntnisstamms, die Wirklichkeit zuallererst raum-zeitlich konstituiert,396 sondern in ihr wird die Wirklichkeit in der Weise erfasst, wie sie sich von sich aus zeigt.397 Die entscheidende Wendung gegenüber dem Kantischen Kritizismus besteht darin, dass nach Schleiermacher Kants „inkonsequenter Rest des alten Dogmatismus“398 dadurch beseitigt wird, dass keine unüberbrückbare Dichotomie zwischen einer noumenalen Wirklichkeit der Dinge an sich und einer phänomenalen Wirklichkeit für den Menschen angenommen wird, sondern sich dem Menschen im unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstsein die Wirklichkeit als prinzipiell phänomenal verfasst erschließt.399 Was allgemein für das Denken und Wollen gilt, dass gilt auch für deren Höchstformen, die wissenschaftliche Metaphysik und die sowohl wissenschaftliche als auch praktisch-tätige Moral. Metaphysik und Moral bleiben nach Schleiermacher an die Erschlossenheitslage des unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstseins gebunden: Zugemüse) dar. Nur indem und solange sich das Denken an der ursprünglichen Beobachtung orientiert und quasi abarbeitet, kommt ihm Sachhaltigkeit zu, ebenso wie auch das Fleisch im Bild nur eine Ergänzung und nicht die Hauptmahlzeit bildet. In seinem Brief an Brinckmann geht Schleiermacher noch davon aus, dass er sich mit dieser Gewichtung von Beobachtung und Theorie weiterhin im Rahmen und unter dem „Schuz der Kantischen Philosophie“ befindet (KGA V/1, 119,128). Vgl. zu dieser Stelle auch die etwas anders ausgerichtete Interpretation von Arndt, „Kommentar“, 1040. 396  „Die Dinge sind an sich anders als sie werden wenn sie durch unser VorstellungsVermögen und durch unsere Organisation gegangen sind; das ist wovon Kant ausgeht: natürlich führt das dahin: jeder Erscheinung liegt also ein Ding zum Grunde; war es aber Recht hierbei stehn zu bleiben?“ (KGA I/1, 573,33–37) 397  Vgl. hierzu auch Arndt, „Kommentar“, 1039 f.: „In Bezug auf die Grundlagen der Kantischen Vernunftkritik fällt […] auf, daß Schleiermacher die Bindung des objektiv gültigen Wissens an die Erfahrung durchgängig in einem ganz unkritischen Sinne versteht. Für Kant bleibt die Einheit beider ‚Stämme‘ der Erkenntnis, Sinnlichkeit und Verstand, transzendentalphilosophisch auf unsere Erkenntnisart von Gegenständen beschränkt, sofern die Gegenstände nur als schon vom Erkenntnisvermögen bearbeitete, niemals aber als das, was sie an sich sind, zugänglich werden können. Schleiermacher dagegen beharrt […] darauf, daß die Einheit von Sinnlichkeit und Verstand im Sinne eines Parallelismus von Denken und Sein zu verstehen sei, in dem werdendes Wissen zwar nie das Sein als solches erschöpft, wohl aber durch die Erscheinung Zugang zu ihm hat, soweit es sich in der Erscheinung an sich entäußert.“ Weiter führt Arndt aus: „Das Wissen ist für Schleiermacher – trotz der Kantischen Vernunftkritik – nicht nur ein objektiv gültiges, sondern ein Wissen des Objektiven als Erscheinung des Ansich.“ (A.a.O., 1040 f.) 398 „Wodurch wird nun Kant genöthigt oder auch nur veranlaßt, ein außerweltliches Ding als Ursach der Verstandeswelt anzunehmen? Weiß er denn ob überhaupt die Kategorie der Causalität auf die Noumena anwendbar ist? Weiß er ob jene Welt ein Bedingtes ist, wozu er ein Unbedingtes zu suchen braucht? Offenbar wird er durch nichts veranlaßt als durch einen inkonsequenten Rest des alten Dogmatismus.“ (KGA I/1, 570,33–38) 399 Vgl. Herms, Herkunft, 177–186.

§  7  Begründung

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In der Metaphysik, von Schleiermacher in den Reden als Transzendentalwissenschaft bestimmt,400 zeigt sich dies darin, dass sie einerseits als Wissenschaft der Natur darauf aus ist, die endlichen Sachverhalte in ihrem notwendigen Zusammenhang zu erkennen und zu erklären.401 Hier wird deutlich, dass zumindest die philosophische Naturwissenschaft sich eindeutig im Rahmen der Erschlossenheit des endlichen Gegenstandsbereichs bewegt und somit das „Reale Eurer theoretischen Philosophie“402 seine Sachhaltigkeit dem Bezug auf das unmittelbare sinnliche Selbstbewusstsein verdankt. Fraglich ist, ob auch die Metaphysik im eigentlichen Sinne, d.h. als sog. „Gotteserkenntnis“403, an die Erschlossenheitslage des unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstsein gebunden ist. Schleiermachers Beschreibung in den Reden ist hierbei eindeutig. Auch die spekulative Gotteserkenntnis baut ihrem Wesen nach auf einem Bezug auf die Sphäre endlicher Gegenständlichkeit auf. Die zentrale Stelle hierfür ist die Folgende: […] so will ich Euch das Höchste und Erschöpfendste zugeben, was Ihr nur vom Wissen und von der Wissenschaft zu sagen vermögt: […] wenn Ihr noch weiter geht und mir anführt, die Naturwissenschaft führe Euch noch höher hinauf von den Gesezen zu dem höchsten und allgemeinen Ordner, in welchem die Einheit zu Allem ist, und Ihr erkenntet die Natur nicht, ohne auch Gott zu begreifen404.

In diesem Zitat kommt zum Ausdruck, dass Schleiermacher sich die philosophische Natur- und Gotteserkenntnis keineswegs über den ontologischen oder kosmologischen, d.h. Kantisch gesprochen, über die „transcendentale Theologie“405, sondern methodisch über den physikotheologischen Gottesbeweis, d.h. die „natürliche Theologie“406 , miteinander verbunden denkt. Indem Schleiermacher explizit nicht den apriorischen bzw. transzendentalen, sondern ausschließlich den empirischen Gottesbeweis anführt, kommt zum Ausdruck, dass ihm zufolge die philosophische Gotteslehre an die Einsichten aus der Naturwissenschaft gebunden bleibt407 und damit letztlich im Rahmen der Erschlossenheitslage des unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstseins erfolgt. 400 

KGA I/2, 208,16. KGA I/12, 52,2–10. 402  KGA I/12, 52,3 f. 403  KGA I/12, 53,8. 404  KGA I/12, 52,12–18 (kursiv, C. K.). 405  Kant, Kritik der reinen Vernunft, AA I, A 632; AA III, B 660. 406 Ebd. 407  Hierin befindet sich Schleiermacher in seinen Reden auf Kantischer Argumentationslinie. Seine Beschreibung der spekulativen Gotteslehre steht in Gedanken und Wortwahl in deutlicher Übereinstimmung zu den Überlegungen Kants, wie dieser sie in seiner Kritik der reinen Vernunft in Bezug auf den physikotheologischen Gottesbeweis vorbringt: „Dieser Beweis verdient jederzeit mit Achtung genannt zu werden. Er ist der älteste, klärste und der gemeinen Menschenvernunft am meisten angemessene. Er belebt das Studium der Natur, sowie er selbst von diesem sein Dasein hat und dadurch immer neue Kraft bekommt […]. Es würde daher nicht allein trostlos, sondern auch ganz umsonst sein, dem Ansehen dieses Beweises etwas 401 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Die spekulative Gotteserkenntnis erfolgt nach Schleiermacher durch ein Schlussverfahren, bei dem „von den Gesezen“ der Natur auf den „höchsten und allgemeinen Ordner“ der Natur geschlossen wird, „in welchem die Einheit zu Allem“ ist. Weil somit die Gotteserkenntnis die Erkenntnis der Naturgesetze voraussetzt, diese Naturerkenntnis aber, wie oben gezeigt, im Rahmen der Erschlossenheitslage des unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstseins erfolgt, ist auch die philosophische Gotteserkenntnis an die Erschlossenheitslage des unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstseins gebunden.408 Folglich bleibt nach Schleiermachers die philosophische Gotteserkenntnis ihrem Ursprung nach der Sphäre des beziehungsweisen Gegensatzes behaftet. Sie erkennt Gott bzw. die „höchste Ursache“ nicht an sich selbst, sondern nur in „ihrem Verhältniß zu allem dem, was zugleich Ursache ist und Wirkung“.409 Dass Schleiermacher zufolge auch die Moral an die Erschlossenheitslage des unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstseins gebunden ist, zeigt sich in den Ausführungen zu seiner kompatibilistischen Freiheitskonzeption aus seiner ethischen Frühschrift Über die Freiheit.410 In seinen Ausführungen, die auch den gedanklichen Hintergrund zur Moralkonzeption der Reden bilden, versucht Schleiermacher generell aufzuzeigen, auf welche Weise es möglich ist, Naturdeterminismus und menschliche Freiheit zusammen zu denken, oder wie Meckenstock es formuliert, „die Idee des praktischen Vernunftgesetzes mit der durchgängigen Gültigkeit der Kausalitätskategorie zu vermitteln“.411 Im vorliegenden Zusammenhang ist hierbei insbesondere Schleiermachers Beschreibung des unmittelbaren Freiheitsgefühls von entscheidender Bedeutung. Hierbei stellt er heraus, dass jedes ethisch sachgerechte Wollen und Handeln von dem unmittelbaren Bewusstsein relativer Freiheit ausgeht. Damit positioniert sich Schleiermacher in scharfer Abgrenzung zur Kantischen Konzeption der transzendentalen Freiheit, die ihm zufolge „eine Chimäre“412 darstellt, weil sie die „gänzliche Unabhängigkeit“413 des menschlichen Willensentschlusses entziehen zu wollen. Die Vernunft, die durch so mächtige und unter ihren Händen immer wachsende, obzwar nur empirische Beweisgründe unablässig gehoben wird, kann durch keine Zweifel subtiler, abgezogener Speculation so niedergedrückt werden, daß sie nicht aus jeder grüblerischen Unentschlossenheit, gleich als aus einem Traume, durch einen Blick, den sie auf die Wunder der Natur und der Majestät des Weltbaues wirft, gerissen werden sollte, um sich von Größe zu Größe bis zur allerhöchsten, vom Bedingten zur Bedingung bis zum obersten und unbedingten Urheber zu erheben“, Kant, Kritik der reinen Vernunft, AA I, A 623–624; AA III, B 651–652 (kursiv, C. K.). 408  Vgl. auch KGA I/1, 84,1–3: „[…] der Philosoph sucht sich aus der Menge von Faktis die er vor sich hat eine tüchtige Anzahl aus, um daraus ein System zu bilden und zu erläutern.“ 409  KGA I/12, 53,10 f. 410  KGA I/1, 217–356. 411  Meckenstock, Deterministische Ethik, 128. 412  KGA I/1, 317,27. 413  KGA I/1, 283,26 f.

§  7  Begründung

215

von dem Kausalmechanismus der äußeren Natur behauptet und folglich in die Absurdität des ethischen „Indifferentismus“ bzw. „reinen Aequilibrismus“414 mündet.415 Stattdessen betont Schleiermacher, dass das wahre menschliche Freiheits­ gefühl im Verhältnis der „relativen Bestimmung“416 zu den äußeren Sachverhalten steht und sich dementsprechend jede realitätsgerechte menschliche Handlung durch das wechselseitige Zusammenspiel von Selbstbestimmung und Objektbegehren auszeichnet: Aber auch hier, wo dieses Gefühl [gemeint ist das Freiheitsgefühl, C. K.] sich mit würk­ lichen Handlungen verbindet, kommt es nicht darauf an, eine gänzliche Befreiung vom Gesez der Nothwendigkeit ins Bewußtseyn zu bekommen, sondern indem wir die ersten Eindrüke der Objekte in unserer Seele gleichsam verlöschen und zu denjenigen Ueberlegungen schreiten, so fühlen wir, daß nun jene Eindrüke diejenige Größe des Einflußes verlieren welche ihnen den Schein der Nöthigung geben könnte und daß der Entschluß den wir faßen werden von dem ganzen Zusammenhang dieses Objekts mit allen unseren Neigungen ja auch mit dem Zustand unseres Erkenntnisvermögens abhängen werde, von der Art wie wir diesen Proceß instruiren und von der Vollständigkeit und Gewissenhaftigkeit womit wir die Akten abfassen werden. Dies ist es ja was wir durch unsere Ueberlegungen wollen und wozu sich die Befugniß durch jenes Gefühl ankündigt, und alles dieses scheint mehr ein geheimes Geständniß der Nothwendigkeit […] als einen offenbaren Widerspruch dagegen in sich zu faßen.417

Dieses unmittelbare Gefühl der relativen Freiheit, welches zugleich die Selbstund Objektbezogenheit eines Menschen beinhaltet, stellt als Basis allen realitätsgerechten Handelns folglich auch den Grund und die Möglichkeitsbedingung des moralischen Handelns dar: Aber es ist nicht etwa zu denken, daß dieses Gefühl blos ein Produkt der Fantasie sei, welche in den Augenbliken ihrer Herrschaft durch ihre Täuschung uns wol in eine andere Welt zu sezen wüßte als in der wir wirklich sind; vielmehr finden wir es ohne willkürliche Herbeirufung auch in Bezug auf einzelne Zeiten und Handlungen und bei allen Gelegenheiten, es ist die einzige Voraussetzung unter der wir sittlich zu handeln beschließen oder uns als sittlich handelnd zu irgend einer Zeit denken können ja es ist das, worauf alle die Gefühle, die das moralische Bewußtseyn ausmachen, und die uns zu allen Zeiten bei unsern moralischen Handlungen leiten, sich beziehen können.418 414 

KGA I/1, 322,32 f. Indifferentismus, der sich, was seine deutlichen Ideen anbelangt, damit begnügt, alle Verhältniße zwischen den Handlungen des Subjekts und dem Subjekt selbst sofern es in einem Zustand gedacht wird, zu verneinen, so oft man ihn darum befragt, vermeidet dadurch die kategorische Antwort auf die er […] doch am Ende immer zurükkommen mußte, daß nemlich kein solches Verhältniß stattfinde und die Handlung dem Subjekt gar nicht zugehöre. Der Aequilibrismus läßt mich unwissend in wie fern die Handlung mir angehöre.“ (KGA I/1, 323,29–37) 416  KGA I/1, 288,8. 417  KGA I/1, 288,12–26 (kursiv, C. K.). 418  KGA I/1, 283,11–20 (kursiv, C. K.). 415 „Der

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Mithilfe seiner Bestimmung des Freiheitsgefühls zeigt Schleiermacher somit insgesamt auf, dass jedem Handeln inklusive des moralischen, erstens ein Wirklichkeitsbewusstsein vorausgeht (ein Bewusstsein der „Welt […], in der wir wirklich sind“), welches sich zweitens unwillkürlich („ohne willkürliche Herbeirufung“), d.h. jederzeit unmittelbar einstellt („bei allen Gelegenheiten“) und das drittens die relative Bezogenheit von Selbst und Objekt zum Inhalt hat („der Entschluß den wir faßen“ hängt „von dem Zusammenhang dieses Objekts mit allen unseren Neigungen ab“). Diese Bestimmung des Freiheitsgefühls als unmittelbares Wirklichkeitsbewusstsein mit dem Inhalt der relativen Bezogenheit von Selbst und Objekt ist somit strukturidentisch mit Schleiermachers Beschreibung des unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstseins in den Reden. Die frühen Ausführungen Schleier­ machers bestätigen damit die vorliegende Interpretation der Reden, dass moralische Handlungen, weil sie auf dem Bewusstsein endlicher Freiheit basieren, im Rahmen der Erschlossenheitslage des unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstseins erfolgen. Die Religion ist der Moral sowohl inhaltlich koordiniert als auch formal superordiniert. Insgesamt kann somit aus Schleiermachers Bewusstseinstheorie der Reden der Beweis der inhaltlichen Koordination und formalen Superordination der Reli­ gion gegenüber Metaphysik und Moral erbracht werden. Die in §  6 aufgestellte Hypothese ist am Ende von §  7 bewusstseinstheoretisch begründet.

§  8  Entfaltung Anhand der Beschreibung und Interpretation von Schleiermachers sog. „Liebesszene“ ist deutlich geworden, dass das religiöse Bewusstseinsleben im unmittelbaren religiösen Selbstbewusstsein gründet und sich im Zusammenspiel von bestimmten religiösen Anschauungen und Gefühlen verwirklicht bzw. entfaltet. Der geheimnisvolle Augenblick im religiösen Bewusstsein stellt den genealogischen Ursprung und sachlogischen Grund des religiösen Bewusstseinslebens insgesamt dar. Im Folgenden wird in zweifacher Hinsicht die Entfaltung dieses Sachzusammenhangs im religiösen Bewusstseinsleben aufgezeigt: Erstens wird untersucht, ob und inwiefern sich nach Schleiermachers Beschreibung die religiösen Inhalte des unmittelbaren religiösen Selbstbewusstseins auf der einen Seite und der religiösen Anschauungen und Gefühle auf der anderen Seite entsprechen. Es geht somit um die Überprüfung der inhaltlichen Konsistenz von Schleiermachers Darstellung des religiösen Bewusstseinslebens insgesamt (1.). Zweitens wird Schleiermachers Auffassung von der Form der religiösen Anschauung herausgearbeitet. Dabei wird zum einen in Abgrenzung von interpretatorischen Holzwegen der Forschung sowohl die Unabhängigkeit von Schleier­

§  8  Entfaltung

217

machers religiösem Anschauungsverständnis gegenüber geistesgeschichtlichen Vorgängern aufgezeigt als auch die Einseitigkeit rein offenbarungs- oder deutungstheoretischer Interpretationsansätze für die religiöse Anschauungskonzeption der Reden aufgezeigt. Zum anderen wird der kritische Zusammenhang zwischen religiöser Anschauung, religiöser Fantasie und religiösem Denken dargestellt (2.). 1.  Der Inhalt der religiösen Anschauung Die religiöse Anschauung besitzt nach Schleiermacher im religiösen Bewusstseinsleben die spezifische Funktion, ein „Bild“419 des Universums zu liefern. Dieses religiöse Bewusstseinsbild stellt sich bei einem Menschen infolge einer unmittelbaren Ergriffenheit durch das Universum bzw. durch ein Offenbarungs­ geschehen ein. In der Analyse der „Liebesszene“ wurde aufgezeigt, dass den Inhalt dieser Erschließung das Bewusstsein vom wahren Unendlichen bildet. Demzufolge besitzt das religiöse Subjekt eine unmittelbare Gewissheit darüber, dass auf der einen Seite das Universum als lebendiger Grund von allem endlichen Sein qualitativ von diesem unterschieden ist, zugleich jedoch als Totalität allen Seins konstitutiv auf dieses bezogen ist und dass daher auf der anderen Seite jedes endliche Sein sachnotwendig in einem durch das Universum gesetzten allgemeinen Wechselwirkungszusammenhang mit allem übrigen endlichen Sein existiert. Diese inhaltliche Gewissheit des unmittelbaren religiösen Selbstbewusstseins muss sich, da nach Schleiermacher das unmittelbare religiöse Selbstbewusstsein niemals an sich, sondern nur als die religiösen Anschauungen und Gefühle begleitend auftritt, auch in seiner Beschreibung der religiösen Anschauungen und Gefühle nachweisen lassen. In der Analyse, was Schleiermacher als den Inhalt der religiösen Anschauungen angibt, bzw., ob die religiösen Anschauungen überhaupt adäquat den Inhalt des unmittelbaren religiösen Selbstbewusstseins enthalten, herrscht in der Forschungsliteratur keine Einigkeit. Im Folgenden wird ein eigener Lösungsvorschlag vorgebracht: Erstens wird Schleiermachers allgemeine Formel des religiösen Anschauungs­ inhalts dargestellt und formal analysiert (1.1.). Zweitens wird die Konkretisierung dieser allgemeinen Formel in der religiösen Naturanschauung und Menschheitsanschauung beschrieben (1.2.). Drittens wird ein Defizit von Schleier­ machers allgemeiner Formel des religiösen Anschauungsinhalts aufgezeigt (1.3.) und viertens das vollständige Anschauungsbild der Religion herausgearbeitet (1.4.). Abschließend werden fünftens zwei zentrale Folgerungen aus Schleier­ machers Beschreibung des religiösen Anschauungsinhalts gezogen (1.5.). 419 

Z. B. KGA I/2, 221,8.32; 222,3.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

1.1.  Die formale Analyse der allgemeinen Formel des religiösen Anschauungsinhalts Nach Schleiermacher besteht der Inhalt der religiösen Anschauung grundsätzlich darin, „alles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen“420 hinzunehmen. Vor der weiteren Überprüfung, ob überhaupt bzw. inwiefern er mit dieser allgemeinen Formel dem von ihm in der „Liebesszene“ beschriebenen Inhalt des religiösen Selbstbewusstseins gerecht wird, erfolgt eine formale Analyse dieser Formel: Erstens kann festgehalten werden, dass Schleiermacher mit seiner allgemeinen Formel zwei unterschiedliche, jedoch zusammengehörende Sachverhalte beschreibt. Diese These ist keineswegs selbstverständlich, sondern richtet sich explizit gegen die in der Schleiermacherforschung vertretenen Behauptungen, denen zufolge in dem zitierten Satz zweimal das Gleiche ausgesagt wird: Auf der einen Seite gehen z.B. Eckert und Pannenberg davon aus, dass für die religiöse Anschauung das Teil-Ganze-Verhältnis ausschlaggebend ist. Ihnen zufolge geht es Schleiermacher mit seiner Anschauungsformel grundsätzlich um die Beschreibung des Inhärenzverhältnisses des Endlichen im Unendlichen.421 Auf der anderen Seite vertreten z.B. Süskind und Dilthey die Ansicht, dass nicht das Teil-Ganze-Verhältnis bei Schleiermacher das Entscheidende ist, sondern vielmehr dem Gedanken der endlichen Individualität als Darstellung des Unendlichen der Primat zukommt.422 Es geht ihnen demnach in der Erstauflage der Reden nicht um die Beschreibung des Inhärenzverhältnisses des Endlichen im Unendlichen, sondern vielmehr umgekehrt um die Beschreibung des Manifestationsverhältnisses des Unendlichen im Endlichen.423 Süskind ist sogar der Ansicht, dass die Zweitauflage der Reden einen Rückfall Schleiermachers in einen bereits in der Erstauflage überwundenen Spinozismus darstellt, weil Schleiermacher in der späteren Schrift nicht mehr die Individualität, sondern das Teil-Ganze-Verhältnis in den Vordergrund seiner Beschreibung des Inhalts der religiösen Anschauung gerückt hat.424 420 

KGA I/2, 214,14 f. Eckert, „Das Verhältnis“, 39: In der religiösen Anschauung geht es um „[d]ie Selbstdarstellung des Unendlichen als Totalität des Endlichen.“ 422 „Die grundlegende Erklärung der 1.   Aufl. [der Reden, C. K.] über den Inhalt der Religion war folgende: die Religion will ‚in allen Einzelnen und Endlichen das Unendliche sehen, dessen Abdruck, dessen Darstellung‘: dasjenige aber an dem einzelnen Endlichen, vermöge dessen es ein Abdruck des Unendlichen ist, war seine individuelle Besonderheit.“ (Süskind, Einfluß Schellings, 160 f.) 423  „Der Grundgedanke Spinozas ist die Inhärenz der endlichen Dinge im Unendlichen, der der Reden die Gegenwart des Unendlichen in den endlichen Dingen.“ (Süskind, Einfluß Schellings, 23) Vgl. dazu direkt Dilthey, Leben Schleiermachers, 322 f. Auch Hartlieb hält fest: „Religion ist die Beziehung der Individualität zum Absoluten.“ (Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 116) 424  „An dieser Stelle also scheint es, als ob wirklich die Bestimmung des Inhalts der Religion in R.2 eine wesentlich andere würde als in R.1: während es in R.1 sich handelte um die 421 Vgl.

§  8  Entfaltung

219

Meines Erachtens sind beide aufgezeigten Ansichten als einseitig zu beurteilen: Zum einen bringt Schleiermacher mit seiner allgemeinen Formel der religiösen Anschauung zum Ausdruck, dass sich das Verhältnis zwischen dem End­ lichen und dem Universum analog zu demjenigen Verhältnis zwischen einem Teil und einem Ganzen verhält. Demgemäß wird in der Religion „alles End­ liche als Theil des Ganzen“ erfahren bzw. die religiöse Anschauung nimmt die Inhärenz des Endlichen im Unendlichen wahr. Zum anderen verdeutlicht seine Formel zugleich, dass das Universum selbst in jedem einzelnen Endlichen zur Darstellung kommt. Demzufolge präsentiert sich „alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen“ bzw. die religiöse Anschauung erfasst die Manifestation des Unendlichen im Endlichen. Die Frage an Schleiermachers allgemeine Anschauungsformel kann folglich nicht lauten: Welche von beiden Teilaussagen ist die Entscheidende bzw. einzig Wahre? Sondern vielmehr muss gefragt werden: In welchem Verhältnis stehen die beiden Teilaussagen zueinander? Den spezifischen Unterschied zwischen beiden Teilaussagen der allgemeinen Formel kann man sich dadurch verdeutlichen, dass sich durchaus Teil-Ganze-Verhältnisse vorstellen lassen, in denen der Teil nicht selbst wiederum das Ganze zur Darstellung bringt. Dies ist z.B. bei einem Uhrwerk der Fall. Denn obwohl eine Uhr ohne ihre einzelnen Teile nicht funktionstüchtig ist, und in diesem Sinne jedes einzelne Teil ein notwendiges Element des Ganzen der Uhr bildet, so zeigt sich die Uhr selbst nicht wiederum in ihren einzelnen Teilen. Jede einzelne Schraube und jedes einzelne Rad könnte für sich betrachtet auch zu einem der Uhr gänzlich fremden Mechanismus z.B. einer Flügelpumpe gehören. Nach Schleiermacher stellt sich jedoch in der religiösen Anschauung jeder einzelne, d.h. individuelle endliche Sachverhalt für sich genommen als eine Manifestation des unendlichen Ganzen dar. Aber begeht Schleiermacher mit der gleichzeitigen Behauptung dieser beiden Aussagen nicht einen eklatanten Selbstwiderspruch? Wie kann etwas Einzelnes als ein Teil von einem Ganzen und zugleich als die Darstellung des Ganzen selbst wahrgenommen werden? Handelt es sich bei Schleiermachers allgemeiner Formel für die religiöse Anschauung folglich um ein epistemologisches und ontologisches Paradox? Demgemäß stellt auch Cramer Schleiermachers allgemeine Anschauungsformel unter einen Sinnlosigkeitsverdacht: Wenn mit dem Universum Gott gemeint Anschauung des Unendlichen im Endlichen, scheint es sich vielmehr hier zu handeln um die Anschauung des Endlichen im Unendlichen. Schleiermacher würde also in der Bestimmung des Inhalts der Religion seinen originalen Grundgedanken: der Ausdruck des Unendlichen im Endlichen, die Individualität, verlassen, um ihn zu ersetzen durch den Grundgedanken Spinozas: alles Endliche im Unendlichen vermöge der Bedingtheit alles Einzelnen durch den notwendigen Zusammenhang des Ganzen“, Süskind, Einfluß Schellings, 161 (kursiv, C. K.). Vgl. auch Dilthey, Leben Schleiermachers, 306.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

ist, wie soll derselbe in den einzelnen Dingen sein?425 Anders formuliert: Wie lässt sich ein „Panentheismus reziproker Immanenz und Inhärenz der Dinge, die mit Gott nicht identisch sind, in Gott und Gottes in allen Dingen, die mit ihm nicht identisch sind“ denken?426 Muss man infolge dieses paradoxen Charakters von Schleiermachers allgemeiner Anschauungsformel nicht zwangs­ läufig auf eine Interpretation entweder nach dem Dilthey-/Süskindschen oder Pannenberg-/Eckardtschen Modell zurückgreifen? Zweitens: Meines Erachtens ist der scheinbare Widerspruch beider Aussagen Schleiermachers folgendermaßen zu beheben. Einerseits bezieht sich Schleiermacher in seiner allgemeinen Formel der religiösen Anschauung ausschließlich auf das Universum im Sinne der Totalität aller endlichen Sachverhalte, d.h. das Universum kommt zunächst nicht als Grund, sondern als das Ganze der endlichen Sachverhalte in ihrem Zusammenhang in den Blick.427 Andererseits handelt es sich bei Schleiermachers Aussage, derzufolge das einzelne Endliche eine Darstellung des Unendlichen bzw. Ganzen bildet, um eine spezifische Präzisierung seiner Aussage, wonach das Einzelne einen konstitutiven Teil des Ganzen bildet. Die endlichen Sachverhalte stellen nicht nur jeweils konstitutive Teile des sie einschließenden Ganzen dar, sondern zugleich wird dieses Ganze selbst von jedem einzelnen Teil auf eine spezifische Weise zur Darstellung gebracht. In der religiösen Anschauung wird nach Schleiermacher das Universum als ein Ganzes bzw. als eine Totalität wahrgenommen, dessen Elemente sich zum einen wie Teile des Ganzen zueinander verhalten, d.h. untereinander in einem sachnotwendigen Zusammenhang stehen, und zum anderen als Teile wiederum Darstellungen des Ganzen bilden, d.h. jedes Element in sich selbst das Ganze, dem es als Teil einwohnt, wiederum zum Ausdruck bringt. Demnach bringt Schleiermacher durch die Zusammenstellung beider Teilaussagen in seiner allgemeinen Anschauungsformel zum Ausdruck, sowohl dass als auch inwiefern in der Religion jedes Einzelne als Teil des Ganzen erfahren wird. Die zweite Aussage, dass „alles Beschränkte als eine Darstellung des Unend­ lichen“ erfahren wird, zeigt den spezifischen Modus des in der ersten Aussage prädizierten Teil-Ganze-Verhältnisses an. In der religiösen Anschauung ist jedes Endliche ein Teil des Ganzen, indem es eine Darstellung des Ganzen bildet. Drittens: Ausgehend von den beiden vorausgehenden Überlegungen kann Schleiermachers allgemeine Formel für den Inhalt der religiösen Anschauung präzise bestimmt werden. Schleiermachers erste Teilaussage, derzufolge jedes Einzelne einen Teil des Ganzen bildet, bezieht sich auf den sachnotwendigen 425 

Cramer, „Anschauung des Universums“, 134 f. Ders., „Schleiermacher, Jacobi, Goethe und Spinoza“ in: V. Weibel (Hg.), Affektenlehre und armor Dei intellectualis. Die Rezeption Spinozas im Deutschen Idealismus, in der Frühroman­ tik und in der Gegenwart, Hamburg 2012, 33–45, hier: 42. 427  Dies übersieht Cramer. 426 

§  8  Entfaltung

221

Zusammenhang der endlichen Sachverhalte miteinander im Ganzen. Die religiöse Anschauung gewährt die Einsicht, dass ausnahmslos alle endlichen Sachverhalte in dem Verhältnis einer umfassenden äußeren Vermittlung miteinander stehen. Diesen Gedanken hält Schleiermacher folgendermaßen fest: „Alles Endliche besteht nur durch die Bestimmung seiner Gränzen, die aus dem Unendlichen gleichsam herausgeschnitten werden müßen.“428 Schleiermachers zweite Teilaussage, derzufolge jedes Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen aufgefasst wird, bezieht sich hingegen auf den ontologischen Charakter der endlichen Sachverhalte selbst. Mit dieser Aussage bringt Schleiermacher zum Ausdruck, dass jeder endliche Sachverhalt nicht nur in einen allgemeinen Wechselwirkungszusammenhang eingebunden ist, sondern vielmehr auch in sich selbst diesen allgemeinen Wechselwirkungszusammenhang spezifisch zur Darstellung bringt. Jeder endliche Sachverhalt präsentiert somit nicht nur einen Teilaspekt der Wirklichkeit, sondern stellt als „ein Ganzes […] in sich selbst“429 zugleich ein wahres Individuum dar, d.h. eine spezifisch modifizierte Manifestation des Wirklichkeitsganzen. Dies ist damit gemeint, wenn Schleiermacher davon spricht, dass die endlichen Sachverhalte als „Spiegel“ des Unendlichen „selbst unendlich“430 sind. Aus diesem Grunde ist Welker zuzustimmen, der in dem Individualitätskonzept Schleiermachers den Unterschied zu Spinoza herausstellt: „Für Schleiermacher gilt also nicht der Satz: omnis determinatio est negatio, sondern: omnis determinatio est negation et positio“.431 Den geistesgeschichtlichen Hintergrund zur Überwindung des eingeschränkt substanzmetaphysischen Standpunkts bildet für Schleiermacher hierbei höchstwahrscheinlich, trotz seiner ansonsten scharfen Kritik an Leibniz,432 dessen Individualitätskonzeption, wie Schleiermacher sie in dessen Monadologie und Theodizee kennen gelernt hat.433 428 

KGA I/2, 213,5 ff. KGA I/2, 254,23 f. 430  KGA I/2, 213, 7 (kursiv, C. K.). Vgl. in diesem Zusammenhang zutreffend Dilthey, Leben Schleiermachers, 328: „Das Wirkliche ist individuell. Alles Individuelle ist die besondere Bildung derselben im Universum lebendiger Kräfte. Mit diesen Sätzen ist nun die Schranke der spinozistischen Metaphysik und des kantischen Vernunftbegriffs durch eine originale Anschauung durchbrochen. Individualität ist nicht bloße Determination, Einschränkung des Unendlichen. Sie ist vielmehr Ausdruck, Spiegel des Unendlichen, selber unendlich“. Vgl. auch bereits Lipsius, „Schleiermachers Reden“, 142: „Die Individualisierung des Unend­ lichen ist keine bloße Negation, sondern eine positive Vollkommenheit.“ 431  Welker, Beurteilung, 57 f. 432  Vgl. KGA I/2, 75–97. 433 Vgl. Leibniz, G. W., Monadologie, in: ders., Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. Monadologie (Philosophische Bibliothek 253), auf Grund d. krit. Ausg. v. A. Robinet u. d. Übers. v. A. Buchenau hrsg. v. H. Herring, Hamburg 2. verb. Aufl. 1982, 26–69, hier: 50–53 (§§  56–58). Vgl. auch Ders., Die Theodicee (Philosophische Bibliothek 71), übers. v. A. Buchenau, Hamburg 2.  Aufl. 1968, §§  120; 124; 130; 147. Vgl. dazu: Schleiermachers Bibliothek. Bearbeitung des faksimilierten Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. 429 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Die äußere Vermittlung der endlichen Sachverhalte miteinander, muss um die Dimension einer inneren Vermittlung in den endlichen Gegenständen selbst ergänzt werden.434 Die in äußerer Wechselwirkungsbeziehung miteinander stehenden endlichen Sachverhalte stellen wiederum jeder in sich selbst, quasi en miniature, auf eine eigentümliche Weise, das Ganze der äußeren Wechselwirkungsbeziehungen dar. Schleiermachers allgemeine Formel für den Inhalt der religiösen Anschauung, derzufolge in der Religion alles Endliche als ein Teil des Ganzen und alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen wahrgenommen wird, bringt das Bild einer vollständigen Vermittlung zwischen dem Universum und den end­ lichen Sachverhalten zum Ausdruck: Einerseits präsentiert sich das Universum, aufgefasst als das Ganze, als die Totalität wechselseitig aufeinander bezogener wahrer Individuen. Andererseits präsentieren sich die endlichen Sachverhalte, aufgefasst als wahre Individuen, als wechselseitig aufeinander bezogene Modifikationen des Ganzen.

Reimer, besorgt v. G. Meckenstock, Berlin/New York 1993, 218 (Nr.  1128). Zwar hält Schleiermacher zunächst in seiner Schrift Spinozismus fest: „Ich glaube nicht, daß Leibniz in Absicht auf das Principium Individui mehr leistet als Spinoza. […] Das erhellt auch aus dem Antworten, welche sowol Spinoza als Leibniz […] geben: der letztere sagt: ja die endlichen (ausgedehnten) Dinge haben etwas substantielles in sich nemlich die Monaden; der erstere sagt: ja, das substantielle in ihnen ist das seyende, welches ein Theil der allgemeinen Substanz ist; nun bin ich aber in Hinsicht auf das principium individui nicht klüger.“ (KGA I/1, 547,30–528,8 (kursiv, C. K.)) Anschließend sieht Schleiermacher sich jedoch genötigt, diese Aussage zu differenzieren: „[…] was man zugeben kann, ist, daß, Leibniz die Frage objektiv durch eine Hypothese gelöst hat, nemlich wie in dem continuo der Ausdehnung des Bewußtseyns mehrere einzelne Dinge möglich seyn können; subjektiv aber: durch welche Wirkungen dieser Dinge auf uns wir diesen Unterschied auch in der Erfahrung zu machen genöthigt werden; diesen Theil hat er ganz unberührt gelassen“. Das Hauptproblem sieht Schleiermacher in Leibniz’ Individualitätskonzeption, nicht in ihrer ontologischen Hypothese selbst, sondern in der epistemologischen Begründung dieser Hypothese (Vgl. auch KGA I/1, 549,28–38). Diese epistemologische Begründung sieht er übrigens keineswegs bei Spinoza gelöst, sondern versucht sie selbständig unter Bezug auf Kant zu klären (KGA I/1, 552– 554,16). In den Reden unternimmt es Schleiermacher hingegen in Abgrenzung von Kant in Form seiner religiösen Anschauungskonzeption die ontologische Dimension seines an Leibniz angelehnten Individualitätsverständnisses epistemologisch zu verifizieren. Vgl. auch Schleiermachers Aussage, die sich auf Leibniz’ Theodicee bezieht: „Die Harmonie scheint aus den verschiedenen Antinomien entstanden zu seyn. 1.) Alles ist nur eins, und jedes individuum ist doch ein Ganzes. 2.) ideal ist alles nur analytisch und real ist alles synthetisch. 3.) alles physische soll nach Naturgesezen erfolgen und alles hängt doch mit dem geistigen zusammen. Leibniz sagt selbst im Disc. Prelim.: jede Antinomie sei Indikation auf etwas großes.“ (KGA I/2, 88,4–9) 434  In seiner Frühschrift Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems bringt Schleiermacher den Sachverhalt der inneren Vermittlung folgendermaßen zum Ausdruck: „[…] das sogenannte Wesen der Dinge, das wodurch wir ihre Identität bestimmen [ist] nur ein Verhältnis“, KGA I/1, 567, 36–568,1 (kursiv, C. K.).

§  8  Entfaltung

223

Schematisch lässt sich Schleiermachers allgemeine Formel des religiösen Anschauungsinhalts im folgenden Diagramm wiedergeben: Die Großbuchstaben A, B und C stehen für die einzelnen wahren Individuen, welche, durch die Doppelpfeile angezeigt, in einer umfassenden äußeren Wechselwirkungsbeziehung miteinander stehen und zugleich, mittels der Klein­buchstaben indiziert, eine internen Vermittlung der ganzen Struktur darstellen. Diese Struktur ergibt insgesamt das Bild einer vollständigen Vermittlung zwischen dem Ganzen, dargestellt durch den äußeren Kreis, und seinen konstitutiven Teilen:

A

bc

Cab

Bca

Abbildung: Schema des allgemeinen Inhalts der religiösen Anschauungsformel: „alles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen“.

Die Interpretationen des religiösen Anschauungsinhalts nach dem Pannenberg-/Eckertschen bzw. dem Dilthey-/Süskindschen Modell sind demnach einseitig, da sie Schleiermachers Formel der religiösen Anschauung auf einen Teilaspekt derselben reduzieren und nicht wahrnehmen, dass es sich um zwei voneinander unterschiedene und dennoch immanent aufeinander bezogene Aspekte der einen religiösen Anschauung handelt. Schleiermacher geht es mit seinem Bild der vollständigen Vermittlung nicht um die Alternative zwischen einerseits der Anschauung des Endlichen im Unendlichen (Inhärenzverhältnis) und andererseits der Anschauung des Unendlichen im Endlichen (Manifestationsverhältnis). Er zeigt vielmehr auf, dass in der Religion beide Anschauungen in Eins fallen, d.h., dass das Inhärenzverhältnis und das Manifestationsverhältnis zusammen und zugleich den Inhalt der religiösen Anschauung konstituieren. Die Interpretation Cramers übersieht, dass es Schleiermacher in seiner allgemeinen Anschauungsformel nicht um das Universum als den Grund allen Seins, sondern zunächst nur als der Totalität allen Seins geht. Im Folgenden soll das Ergebnis dieser Formalanalyse durch Schleiermachers inhaltliche Beschreibungen der religiösen Natur- und Menschheitsanschauung überprüft werden. Im Anschluss daran wird untersucht, ob und wenn ja, inwiefern Schleiermachers allgemeine Formel des religiösen Anschauungsinhalts mit

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

seiner Beschreibung aus der „Liebesszene“ übereinstimmt. Ob es ihm also gelingt, den einheitlichen Charakter des religiösen Bewusstseinslebens adäquat darzustellen. Vorwegnehmend kann gesagt werden, dass Schleier­m achers allgemeine Formel der religiösen Anschauung defizitär ist. Sie erfasst zwar den Inhalt der religiösen Bewusstseinserweiterung mit ihrer Gewissheit vom Sein-imGanzen. Aber ihr gelingt es nicht, den Inhalt der religiösen Bewusstseinserhebung mit ihrer Gewissheit vom Gesetztsein-des-Ganzen adäquat einzufangen. 1.2.  Schleiermachers konkrete Beschreibung des religiösen Anschauungsinhalts Die konkrete Beschreibung des Inhalts der religiösen Anschauung findet sich bei Schleiermacher direkt im Anschluss an die „Liebesszene“ in KGA I/2, 223,20–234,32. Diese Position ist keinesfalls beliebig, sondern in diesem Abschnitt geht es ihm darum, den in der „Liebeszene“ bereits beschriebenen Inhalt der Religion in seinen Konkretisierungen als religiöse Naturanschauung und Menschheitsanschauung darzustellen, oder wie Schleiermacher es auf poetische Weise formuliert: Das göttliche Leben ist wie ein zartes Gewächs, deßen Blüten sich noch in der umschloßenen Knospe befruchten, und die heiligen Anschauungen und Gefühle […] sind die schönen Kelche und Kronen […]. Aus diesen […] Kronen und Kelchen will ich Euch jetzt einen heiligen Kranz winden.435

Im Folgenden werden Schleiermachers Beschreibungen der religiösen Naturund Menschheitsanschauung nacheinander dargestellt und auf ihre Übereinstimmung mit seiner allgemeinen Formel des religiösen Anschauungsinhalts hin überprüft. 1.2.1.  Die religiöse Naturanschauung In dem Abschnitt KGA I/2, 223,20–227,24 stellt Schleiermacher die religiöse Naturanschauung dar. Nachdem er zunächst drei diesbezügliche Irrtümer ausgeschlossen hat, dass nämlich seines Erachtens die religiösen Anschauungen erstens nicht aus einem Affekt der Naturfurcht hervorgegangen sind,436 zweitens sich nicht dem Eindruck von singulären Naturschönheiten verdanken437 und drittens auch nicht aus der Betrachtung der quantitativen Unendlichkeit des physikalischen Kosmos entstehen,438 geht er dazu über, die eigentliche religiöse Naturanschauung zu beschreiben.439 Dabei kann meines Erachtens zwischen seiner Be435 

KGA I/2, 223,9–19. KGA I/2, 223,22–17. 437  KGA I/2, 224,17–225,6. 438  KGA I/2, 225,7–225,23. 439  Grundsätzlich ist nach Schleiermacher die religiöse Anschauung der Art nach von der Furchterfahrung, der Erfahrung der schönen Naturerscheinung und von dem Bestaunen der „unendlichen Massen“ unterschieden. Hier differenziert Schleiermacher in zwei verschiedenen Hinsichten: Zum einen ist den Furcht- und Schönheitserfahrungen der Natur im Unterschied 436 

§  8  Entfaltung

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schreibung des veranlassenden Anschauungsgegenstandes (1.2.1.1.) und dem aus diesem Anlass resultierenden Anschauungsinhalt (1.2.1.2.) unterschieden werden. 1.2.1.1. Der Gegenstand der religiösen Naturanschauung Das religiöse Naturbewusstsein beruht Schleiermacher zufolge auf dem unmittelbaren Eindruck, genauer: dem Impakt, den die „Perturbationen“, „Revolutionen“ und „Anomalien“,440 im Naturverlauf im menschlichen Bewusstsein auslösen und auf diese Weise religiöse Anschauungen erwecken: Nur niedere Gottheiten, dienende Jungfrauen hatten die Aufsicht in der Religion der Alten über das gleichförmige Wiederkehrende, deßen Ordnung schon gefunden war, aber die Abweichungen, die man nicht begriff, die Revolutionen für die es keine Geseze gab, diese eben waren das Werk des Vaters der Götter.441

Mit diesem Zitat wird bereits Schleiermachers Abweichung von der Bewertung der Naturkatastrophen durch klassische Autoren der Auf klärungszeit deutlich. Goethe442 , Kant443 oder Voltaire444 hatten derartige unvorhersehbare Katastrophen im bekannten Naturverlauf, deren zeitgeschichtlich prominenteste sich 1755 im berühmt-berüchtigten Erdbeben von Lissabon ereignete, eindeutig als Ereignisse beschrieben, die im hohen Maße geeignet sind, einen unmittelbaren Zweifel an Gott und Religion heraufzubeschwören.445 Goethe spricht im Hinblick auf das Erdbeben von Lissabon explizit davon, dass sich in demselben keinesfalls ein „väterlicher“ Gott,446 sondern vielmehr ein „Dämon des Schreckens“447 zeigt. Aus diesem Grunde stellen ihm zufolge derartige Naturkata­ strophen keine Anlässe zur religiösen Erweckung dar, sondern lassen, da in ih-

zur Religion gemeinsam, dass sie sich ausschließlich im Rahmen singulärer Affektionen durch die Naturphänomene vollziehen und sich in ihrem Gefolge keine Bewusstseinserweiterung und -erhebung auf das Ganze der Natur ereignet. Zum anderen lässt ihm zufolge der Eindruck ungeheurer Massen nur den Sinn für das quantitative Unendliche auf kommen, nicht jedoch für das qualitativ Unendliche. Vgl. dazu auch Redeker, Friedrich Schleiermacher, 55; Dilthey, Leben Schleiermachers, 404; E. Huber, Entwicklung, 25; Ricken, Religionsphilosophie, 177 f. 440  KGA I/2, 226,13–17. 441  KGA I/2, 226,11 ff. 442  Goethe, J. W., Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit [=WA I/26–29], in: Goethes Werke, hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, hier: WA I/26, 41–43. 443  Kant, I., Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Theil der Erde erschüttert hat, AA I, 429–461. 444  Voltaire, „Poème sur le désastre de Lisbonne, ou Examen de cet axiome: ‚Tout est bien‘ (1756)“, in: Voltaire. Mélanges. Préface par Emmanuel Berl, texte établi et annoté par Jacques van den Heuvel, Paris 1995, 301–309. 445 Vgl. Lauer G./Unger T. (Hgg.), Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert, Göttingen 2008; Löffler, U., Lissabons Fall – Europas Schrecken. Die Deutung des Erdbebens von Lissabon im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts, Berlin/ New York 1999. 446  Goethe, Dichtung und Wahrheit, WA I/26, 43. 447 Ebd.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

nen „die Natur von allen Seiten ihre schrankenlose Willkür“448 zeigt, vielmehr tiefe Zweifel an Gottes Allmacht und Allgüte auf kommen. Im deutlichen Unterschied zu seinen literarischen Vorgängern schließen hingegen nach Schleiermacher gerade die Katastrophen und Anomalien eine religiöse Dimension in der Natur auf. Denn sie weisen auf „eine höhere Einheit, eine kühnere Verbindung“ in der Natur hin, „als die welche wir schon aus der Regelmäßigkeit ihrer Bahnen gewahr werden“449. Mit seinem Hinweis auf eine „höhere Einheit“ in der Natur zeigt Schleiermacher auf, dass ihm zufolge die Katastrophen im bekannten Naturverlauf nicht im Goetheschen Sinne als der Einbruch einer sämtliche Ordnungen zerstörenden, d.h. dämonischen Chaosmacht aufgefasst werden, sondern, dass sie vielmehr den Blick für eine bestimmte, höhere „Regel“450 in der Natur selbst freilegen. Eine derartig höhere Regel, die der bekannte, gleichförmige Naturverlauf nicht zum Ausdruck bringen kann: Wo Ihr eine erhabene Einheit, einen großgedachten Zusammenhang ahnden sollt, da muß es neben der allgemeinen Tendenz zur Ordnung und Harmonie nothwendig im Einzelnen Verhältniße geben, die sich aus ihm selbst nicht völlig verstehen laßen.451

Die unvorhergesehenen Katastrophen und Abweichungen im Naturverlauf sind aus dem Grunde religiös signifikant, weil sie die „erhabene Einheit“ bzw. den „großgedachten Zusammenhang“ der Natur insgesamt zur Erscheinung bringen. Sowohl im Unterschied zur primitiven Naturfurcht und naiven Naturfreude, die beide nach Schleiermacher dem Rahmen singulärer Naturphänomeneindrücke behaftet bleiben,452 als auch im Unterschied zur Erfahrung des gleichförmigen Naturverlaufs,453 zeigt sich in den unvorhergesehenen Naturkatastrophen der sachnotwendige Zusammenhang sämtlicher Naturphänomene. Es präsentiert sich dem Menschen unmittelbar, quasi auf einem Schlag, das Naturganze als eine höhere und allumfassende Ordnungsmacht, der sich kein einzelnes Naturphänomen zu entziehen vermag.

448 

A.a.O., 42. KGA I/2, 226,16 ff. 450  KGA I/2, 226,20 (kursiv, C. K.). 451  KGA I/2, 226,1–5. 452  Nach Schleiermacher entspringen sowohl die menschliche Naturfurcht als auch die menschliche Naturfreude keineswegs einem Bewusstsein für das Universum, sondern richten vielmehr ausschließlich ihre „Blicke auf das unbegreifliche und unermessliche Einzelne“, KGA I/2, 223,33 f. 453  „Was das gemeine Auge von diesen Gesezen [der äußeren Welt, C. K.] zuerst wahrnimmt, die Ordnung in der alle Bewegungen wiederkehren am Himmel und auf der Erde die bestimmte Lauf bahn der Gestirne und das gleichmäßige Kommen und Gehen aller organischen Kräfte, die immerwährende Untrüglichkeit in der Regel des Mechanismus, und die ewige Einförmigkeit in dem Streben in der plastischen Natur; das ist an dieser Anschauung des Universums gerade das Wenigste.“ (KGA I/2, 225,28–34) 449 

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Die unvorhergesehenen Katastrophen im Naturverlauf stellen nach Schleiermacher den wahren Ausgangspunkt der religiösen Naturanschauung dar, weil sich in ihnen die Natur von sich aus offenbart und als ein unendliches Ganzes zu erkennen gibt. Aufgrund dieses Doppelcharakters handelt es sich bei den Naturkatastrophen um Ereignisse, an denen die Natur auf signifikante Weise als „ein Handeln [des Universums, C. K.] auf Uns“ 454 erfahren wird und sich als qualitative Universumserfahrung erweist. In späteren Auflagen der Reden bringt Schleiermacher diesen Doppelcharakter der religiös wahrgenommenen Naturkatastrophen unmissverständlich durch seine Beschreibung des „frommen Schauers“455 zum Ausdruck, der ihm zufolge unweigerlich von jedem Menschen Besitz ergreift, wenn sich diesem in den Naturkatastrophen „das Verwikkeltsein des Einzelnen in die entferntesten Combinationen des Ganzen, das Bestimmtsein des Besonderen durch das noch unerforschte allgemeine Leben offenbart“456. In der bisherigen Darstellung wurde gezeigt, dass es sich Schleiermacher zufolge in den unvorhergesehenen Katastrophen des Naturverlaufs um die Offenbarungsträger bzw. die Anlässe und Auslöser für das religiöse Naturbewusstsein handelt. Im Folgenden wird die Frage nach dem Offenbarungsinhalt der reli­ giö­sen Naturanschauung behandelt. 1.2.1.2.  Der Inhalt der religiösen Naturanschauung Zentral erweist sich in diesem Zusammenhang folgende Stelle der Reden: Sehet […] wie alle Verschiedenheit und alle Entgegensezung nur scheinbar und relativ ist, […] seht wie alles Gleiche sich in tausend verschiedene Gestalten zu verbergen und zu vertheilen strebt, und wie Ihr nirgend etwas Einfaches findet, sondern alles künstlich zusammengesezt und verschlungen; das ist der Geist der Welt, der sich im kleinsten eben so vollkommen und sichtbar offenbart als im größten, das ist eine Anschauung des Universums, die sich aus allem entwikelt und das Gemüth ergreift.457

In diesem Zitat erfährt Schleiermachers allgemeine Formel der religiösen Anschauung, derzufolge alles Einzelne als ein Teil des Ganzen und alles Beschränkte als Darstellung des Unendlichen wahrgenommen wird, ihre eigentümliche Konkretisierung im Rahmen der religiösen Naturerfahrung: Einerseits bezieht sich die Aussage, dass sich in der religiösen Naturanschauung „nirgend etwas Einfaches findet, sondern alles künstlich zusammengesezt und verschlungen“ ist, auf den sachnotwendigen Zusammenhang aller Naturphänomene miteinander und besagt, dass kein Naturphänomen allein aus sich heraus wirksam ist, sondern jedes in den umfassenden Wechselwirkungszusammenhang aller Naturphänomene eingebettet ist. Folglich bringt Schleiermachers 454 

KGA I/2, 214,13. KGA I/12, 91,11 f. 456  KGA I/12, 90,30–91,2 (kursiv, C. K.). 457  KGA I/2, 227,5–14 (kursiv, C. K.). 455 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Bild von der „innigen Verschlungenheit“ der Naturphänomene zum Ausdruck, dass in der religiösen Anschauung jede Naturerscheinung in dem Verhältnis einer allumfassenden, äußeren Vermittlung mit den anderen Naturerscheinungen steht, d.h. als ein konstitutiver Teil des Naturganzen wahrgenommen wird. Andererseits bezieht sich Schleiermachers Beschreibung, dass „alles Gleiche sich in tausend verschiedene Gestalten zu verbergen und zu vertheilen strebt“, nicht direkt auf den Zusammenhang der Naturphänomene untereinander, sondern auf den ontologischen Charakter der einzelnen Naturphänomene selbst. In dieser Aussage kommt zum Ausdruck, dass sich im Rahmen der religiösen Anschauung jedes einzelne Naturphänomen als eine bestimmte „Gestalt“ des in allen Naturphänomenen „Gleichen“ darstellt. Diese Beschreibung hält fest, dass sich jedes physische Einzelwesen als eine spezifische Mischung der in der Natur insgesamt aufeinander bezogenen und miteinander konkurrierenden endlichen Naturkräfte präsentiert.458 Insbesondere die erfahrene Allwirksamkeit der „chemischen Kräfte“459, nach deren Gesetzmäßigkeiten Schleiermacher zufolge „die Körper selbst gebildet und zerstört werden“460, stellt einen prägnanten Ausgangspukt zur religiösen Anschauung dar, nämlich jeden endlichen Sachverhalt als ein spezifisch bestimmtes Kompendium sämtlicher in der Natur wirksamer Kräfte wahrzunehmen.461 In der religiösen Anschauung werden folglich sämtliche Naturphänomene als in einer äußeren und einer inneren Vermittlung existierend angesehen. 458  „Sehet wie Neigung und Widerstreben alles bestimmt und überall ununterbrochen thätig ist“, KGA I/2, 227,5 ff. 459  KGA I/2, 227,3. 460  KGA I/2, 227,4 (kursiv, C. K.). 461  Zur religiösen Bedeutsamkeit insbesondere der chemischen Phänomene für Schleiermacher vgl. KGA I/2, 274,28 ff. Hier hält Schleiermacher fest, dass die Chemie, diejenige „Wißenschaft“ bildet, „aus der ich am liebsten Ausdrüke abborge in Angelegenheiten der Religion“. Darüber hinaus einschlägig ist in diesem Zusammenhang folgende Briefstelle Schleiermachers an Henriette Herz vom 1.7.1799: „Friedrich meint in seiner Notiz, wo ich mich in der Religion der Natur nähere, da offenbare sich meine Irreligion als Mangel. Er hat besondere Begriffe von Natur, die ich noch nicht verstehe, – aber meine Behandlung derselben verstehe ich wohl. Was sie mir so oft als Polemik ausgelegt haben, daß ich gleich geradezu auf die Unendlichkeit der Chemie gehe, damit ist es mir bittrer Ernst.“ (KGA V/3, 136 f.) Weitere einschlägige Hinweise zu Schleiermachers allgemeinem Chemieverständnis bei Ellsiepen, Anschauung, 335 f. und bei Süskind, Einfluß Schellings, 114 f. Süskind weist in diesem Zusammenhang auch auf eine Zentralstelle beim frühen Schelling hin, die er in direkter Parallele zu Schleiermachers Chemieverständnis der Reden rückt: Schelling, Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus (1798), SW I,2, 354–584, hier: 499: „Man irrt […] nicht, wenn man in den chemischen Durchdringungen den geheimen Handgriff der Natur zu erkennen glaubt, dessen sie sich bei ihrem beständigen Individualisieren der Materie (in einzelnen Organisationen) bedient. Es ist deßwegen kein Wunder, daß man von den ältesten Zeiten an, da man die chemischen Kräfte der Materie zuerst kennen lernte, darin gleichsam die gegenwärtige Natur zu erkennen glaubte.“ Zur Bedeutsamkeit der Chemie im Rahmen der Frühromantik insbesondere bei Schlegel und Novalis vgl. auch Klein, U., „Der Chemiekult der Frühromantik“, in: A. Arndt (Hg.), Wissenschaft und Geselligkeit. Friedrich Schleiermacher in Berlin 1796–1802, Berlin 2009, 67–92.

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Insgesamt gilt: Schleiermachers zeigt in der Beschreibung seiner religiösen Naturanschauung, dass und inwiefern jedes Naturphänomen zugleich als konstitutiver Teil und als spezifische Darstellung des Naturganzen angeschaut wird. Das auf diese Weise von der religiösen Anschauung erfasste Verhältnis der vollständigen Vermittlung zwischen dem Naturganzen und seinen phänomenalen Darstellungsteilen wird von Schleiermacher im Bild einer allgegenwärtigen organischen Naturordnung festgehalten. Diese Naturordnung ist organisch, weil in ihr jeder einzelne Teil nicht bloß als ein Mittel der anderen fungiert, sondern zugleich als spezifische Darstellung des Naturganzen einen Zweck bildet.462 Das religiöse Anschauungsbild der organischen Naturordnung bringt zum Ausdruck, dass unabhängig von menschlicher Wahrnehmung oder aktiver Einflussnahme, ein in sich selbst und mit sich selbst vermitteltes Ganzes real existiert. Dass also wirklich das Naturganze in seinen einzelnen Erscheinungsformen manifest wird bzw. modifizierend zur Darstellung kommt und zugleich die einzelnen Naturphänomene nur in ihrem sachnotwendigen Zusammenhang miteinander Existenz besitzen.463 Damit kann im Anschluss an Schleiermachers inhaltliche Beschreibung der religiösen Naturanschauung zunächst festgehalten werden, dass diese sich präzise im Rahmen der obig festgehaltenen formalen Analyse des religiösen Anschauungsinhalts bewegt.464 Das von Schleiermacher beschriebene religiöse Anschauungsbild einer allgegenwärtigen organischen Naturordnung entspricht der formalen Vorgabe, demzufolge in der Religion alles Endliche als Teil und alles Beschränkte als Darstellung des Ganzen erfahren wird. 1.2.2.  Die religiöse Menschheitsanschauung Analog zu seiner Vorgehensweise in der Beschreibung der religiösen Naturanschauung wendet sich Schleiermacher in seiner Darstellung der religiösen Menschheitsanschauung zunächst in KGA I/2, 228,22–230,27 gegen einen seines Erachtens faktisch bestehenden Irrtum bezüglich des Darstellungsgegenstandes (1.2.2.1.), bevor er zu dem eigentlichen Inhalt der religiösen Menschheitsanschauung speziell in KGA I/2, 230,27–231,36 überleitet (1.2.2.2.). 462 

Vgl. hierzu einschlägig Kant, Kritik der Urteilskraft, AA V (§  66), A 292; B 296 f.: „Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist.“ 463  Vgl. a.a.O., §  65, A 286 f.; B 290 f. (kursiv, C. K.): „Zu einem Dinge als Naturzwecke wird nun erstlich erfordert, daß die Teile (ihrem Dasein und der Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind. […] zweitens [wird, C. K.] dazu erfordert: daß die Teile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind. […] Zu einem Körper also, der an sich und seiner inneren Möglichkeit nach als Naturzweck beurteilt werden soll, wird erfordert, daß die Teile desselben einander insgesamt, ihrer Form sowohl als Verbindung nach, wechselseitig, und so ein Ganzes aus eigener Kausalität hervorbringen“. 464  Vgl. in vorliegender Arbeit §  7.2.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

1.2.2.1.  Der Gegenstand der religiösen Menschheitsanschauung Schleiermacher fasst den Sachverhalt der „Menschheit“ weder im logischen Sinne auf,465 d.h. nicht als einen aus dem Vergleich der menschlichen Individuen abgeleiteten abstrakten Allgemeinbegriff, noch im moralischen Sinne, d.h. nicht als die regulative Idee einer angestrebten sittlichen Gemeinschaft, die durch gestaltendes Handeln am Einzelnen erst hervorgebracht werden soll.466 Mit der letztgenanten Abgrenzung richtet sich Schleiermacher explizit gegen die seines Erachtens aussichtslosen und unheilvollen Erziehungsversuche der gebildeten Religionsverächter, aus den menschlichen Individuen mittels „der Wiederholung eines einförmigen höchsten Ideals“467 die Menschheit selbst erst zu konstruieren: Auf die Menschheit wollt Ihr wirken und die Menschen die Einzelnen schaut Ihr an. […] Diese mißfallen Euch höchlich; und unter den tausend Ursachen die das haben kann, ist unstreitig […], daß Ihr zu moralisch seid nach Eurer Art. Ihr nehmt die Menschen einzeln, und so habt Ihr auch ein Ideal von einem Einzelnen, dem sie aber nicht entsprechen. Dies alles zusammen ist ein verkehrtes Beginnen, und mit der Religion werdet Ihr Euch weit beßer befinden.468

Schleiermachers Kritik richtet sich gegen das Bestreben der gebildeten Religionsverächter die individuelle Vielfalt menschlichen Lebens unter dem Einfluss der Kantischen bzw. Fichteschen Morallehre als nur zufällige oder äußerliche Erscheinung der menschlichen Person aufzufassen.469 Am Ende dieser fatalen Erziehungsbemühungen stehen keineswegs sittlich gebildete Individualpersonen, sondern, einen Terminus Schlegels gebrauchend, nur noch charakterlose

465 Vgl. hierzu auch Kluckhorn, Das Ideengut der Deutschen Romantik, der in seinem Kapitel „III. Der Mensch“, 36–59 die Auffassung der unterschiedlichen Romantiker inklusive Schleiermachers diskutiert und zu dem Schluss kommt: „So bedeutet in dieser Hinsicht die Romantik den Höhepunkt einer jahrhundertelangen Entwicklung des Humanitätsideals oder des Ideals der ‚Menschheit‘, dies Wort nicht als Kollektivum genommen, sondern als Kennzeichen der Menschennatur, als ‚Menschentum‘“. (A.a.O., 54 (kursiv, C. K.)) Vgl. auch Piper, Das religiöse Erlebnis, 26 f.; Seifert, Theologie, 95 f. 466  Vgl. treffend Fuchs, Schleiermachers Religionsbegriff, 52 (kursiv, C. K.): „Die Aufgabe der ethischen Menschheitskonstruktion besteht ihm zufolge im deutlichen Unterschied zur religiösen Menschheitswahrnehmung darin, die menschliche „Gemeinschaft entsprechend dem Wesen des Menschen zu gestalten, was fehlerhaft ist in ihr, zu bessern, was sie hindert, wegzuschaffen.“ 467  KGA I/2, 229,32. 468  KGA I/2, 228,36–42 (kursiv, C. K.). 469 Vgl. dazu auch in einem ähnlichen Zusammenhang Schleiermachers Anmerkung Nr.  15 zur zweiten Rede in: KGA I/12, 142,36–143,17 in welcher er sich auf die „Sittenlehre der damaligen Zeit“, d.h. auf die „Kantische und Fichtesche“ beziehend festhält, dass man sich „[a]uf diese enge Form allein aber wol […] nicht beschränken“ darf. (A.a.O., 142,41–143,8 (kursiv, C. K.))

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„Figuren“,470 welche „Zeit und Umstände abgerechnet, eigentlich einerlei sind, dieselbe Formel, nur mit anderen Coeffizienten verbunden“.471 Somit kann Schleiermacher zwar sagen, dass für die gebildeten Religionsverächter gilt: „Die Menschheit selbst ist Euch eigentlich das Universum, und Ihr rechnet alles andere nur in so fern zu diesem als es mit jener in Beziehung kommt oder sie umgiebt.“472 Weil die gebildeten Verächter diese Menschheit ausschließlich im moralischen Sinn, als ein erst durch eigene Tätigkeit zu Schaffendes, auffassen, verfehlen sie seines Erachtens ihre höhere Realität und Bedeutung, die erst in der religiösen Perspektive gewonnen wird: [M]it Eurer Betrachtung hebt Euch auf den Flügeln der Religion höher zu der unendlichen ungeteilten Menschheit; sie sucht in jedem Einzelnen, seht das Dasein eines jeden an als eine Offenbarung von Ihr an Euch, und es kann von allem was Euch jezt drükt keine Spur zurükbleiben.473

Die Religion geht nach Schleiermacher folglich weder von der Betrachtung des Einzelnen an sich selbst aus, noch strebt sie eine an einem sittlichen Ideal ausgerichtete und allererst zu konstruierende Menschheitsgemeinschaft an, sondern sie nimmt ihren Anfang gerade umgekehrt mit der Erfahrung der Menschheit im Einzelnen und zielt darauf ab, sich dieses real bereits bestehenden Verhältnisses zwischen der Menschheit und den einzelnen Menschen umfassend bewusst zu werden. Für die Religion ist die Menschheit nicht nur eine regulativ-sittliche Idee, sondern vielmehr ein sämtlichen menschlichen Handlungen zugrundeliegender und diese Handlungen erst ermöglichender realer ontologischer Zusammenhang, in dem sich jeder Mensch als bestimmt existierendes Individuum sachnotwendig vorfindet.474 In Analogie zu einer platonischen Idee referiert der Aus470  „Der bürgerliche Mensch wird zuvörderst freylich nicht ohne Mühe und Noth zur Maschine gezimmert und gedrechselt. Er hat sein Glück gemacht, wenn er nun auch eine Zahl in der […] Summe geworden ist, und er kann in jeder Rücksicht vollendet heißen, wenn er sich zuletzt aus einer menschlichen Person in eine Figur verwandelt hat.“ (Schlegel, Ueber die Philosophie. An Dorothea, KFSA VIII, 49 (kursiv, C. K.)) 471  KGA I/2, 229,32 ff. Aus demselben Grund wie Schleiermacher verurteilt auch Friedrich Schlegel die Vorstellung eines rein formalen Bildungsideals: „[…] ich [halte] alle sittliche Erziehung für ganz thöricht und ganz unerlaubt […]. Es kömmt nichts dabey heraus, bey diesen vorwitzigen Experimenten, als daß man den Menschen verkünstelt und sich an seinem Heiligsten vergreift, an seiner Individualität.“ (Schlegel, Ueber die Philosophie. An Dorothea, KFSA VIII, 44). Vgl. hierzu auch Fuchs, E., Vom Werden dreier Denker. Was wollten Fichte, Schelling und Schleiermacher in der ersten Periode ihrer Entwicklung?, Tübingen/Leipzig 1904, 296: „[…] für Schleiermacher [ist, C. K.] das ethisch Wertvolle nicht das allgemeine Gesetz, sondern das individuelle Wesen […] und demgemäß ethische Vollendung nicht Aufhören des Eigenen und absolute Unterwerfung unter ein Gesetz, sondern die Vollendung gerade des Individuellen“. 472  KGA I/2, 228,27 ff. 473  KGA I/2, 229,1–5 (kursiv, C. K.). 474 Den literarischen Hintergrund dieser von Schleiermacher mit dem romantischen Kreis

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druck „Menschheit“ bei Schleiermacher auf einen Sachverhalt, der sich als etwas Allgemeines in den einzelnen Dingen auf bestimmte Weise real instantiiert.475 Daher werden nach Schleiermacher auch die einzelnen Menschen in der Religion als Teile und Darstellungen der Menschheit selbst erfahren: „Die ewige Menschheit ist unermüdet geschäftig sich selbst zu erschaffen, und sich in der vorübergehenden Erscheinung des endlichen Lebens aufs mannichfaltigste darzustellen.“476 Allerdings bedarf es ebenso wie in der religiösen Naturanschauung auch zur religiösen Menschheitsanschauung eines besonderen Initiationsereignisses. Fungierten in der religiösen Naturanschauung die unvorhersehbaren Katastrophen als Offenbarungsträger, so übernehmen diese Funktion in der Menschheitsanschauung die religiösen Mittlergestalten.477 Analog zur Revolution in der Natur so vermag auch die Begegnung mit einem Mittler eine Kraft zu entfalten, die bei einem Menschen zu einem unvorhergesehenen Umsturz seiner Perspektive bzw. zu einer unmittelbaren Revolution seiner Gemütsverfassung führt.478 geteilten Ansicht der Menschheit lässt sich in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre von 1795/96 finden. Hierin findet sich die für die Romantik wegweisende Stelle: „Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt. Diese sind unter sich oft im Widerstreit, indem sie sich zu zerstören suchen, hält sie die Natur zusammen und bringt sie wieder hervor. Von dem geringsten tierischen Handwerkstriebe bis zur höchsten Ausübung der geistigsten Kunst, vom Lallen und Jauchzen des Kindes bis zur trefflichsten Äußerung des Redners und Sängers, vom ersten Balgen der Knaben bis zu den ungeheuren Anstalten, wodurch Länder erhalten und erobert werden, vom leichtesten Wohlwollen und der flüchtigsten Liebe bis zur heftigsten Leidenschaft und zum ernstesten Bund, von dem reinsten Gefühl der sinnlichen Gegenwart bis zu den leisesten Ahnungen und Hoffnungen der entferntesten geistigen Zukunft, alles das und weit mehr liegt im Menschen und muß ausgebildet werden“. (Goethe, J. W., Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe Bd. 7, München 1981, 552) 475  Vgl. zu Platonischen Einflüssen bei Schleiermacher einschlägig Scholtz, Philosophie, 62 f.; 93–100; 108; Ders., „Schleiermacher und die Platonische Ideenlehre“, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, Berlin/New York 1985, 849–871; Arndt, A., „Schleiermacher und Platon“, in: Friedrich Schleiermacher: Über die Philosophie Platons, hrsg. v. P. M. Steiner, Hamburg 1996, XI–XX; Lamm, A., „Schleiermacher as Plato Scholar“, in: The Journal of Religion 80/2 (2000), 206–239; Rohls, J., „Schleiermachers Platon“, in: Schleiermacher und Kierkegaard, 709–732; Asmuth, C., Interpretation – Transformation. Das Platonbild bei Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer und Schleiermacher und das Legitimationsproblem der Philosophie­ geschichte, Göttingen 2006. 476  KGA I/2, 229,29 ff. 477  „Jeder Mensch, wenige Auserwählte ausgenommen, bedarf allerdings eines Mittlers, eines Anführers der seinen Sinn für Religion aus dem ersten Schlummer weke und ihm eine erste Richtung gebe“, KGA I/2, 242,3–6. 478  Obwohl bei Schleiermacher die Kantische Konzeption von der „Revolution für die Denkungsart“ (Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI, A 51, B 54 f.) im Hintergrund mitschwingt (siehe prägnant KGA I/2, 232,29), so ist doch dem Gesagten zufolge bereits deutlich geworden, dass Schleiermacher zum einen nicht bloß wie Kant auf eine moralische Umkehr der Menschen abzielt, sondern ihm zufolge durch die religiösen Mittler eine neue Ausrichtung des gesamten menschlichen Bewusstseins hervorgerufen wird. Zum anderen handelt es sich bei Schleiermachers Gemütsrevolution um keinen aktiven,

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In der effektiven Begegnung mit einem religiösen Mittler erschließt sich durch den Umsturz des Gewohnten eine höhere Wirklichkeit, eine erhabenere Einheit der Menschen untereinander. Der Mittler vermag in einem anderen Menschen das Bewusstsein einer uneingeschränkten Empathie allem Mensch­ lichen gegenüber zu wecken. Die religiöse Empathie ist umfangreicher als die beschränkten Horizonte der persönlichen Sympathie und der ethischen Wertschätzung, weil man in ihr des allumfassenden Zusammenhangs sämtlicher Menschen untereinander ansichtig wird.479 Ein religiöses Bewusstsein besitzt daher die fundamentale Gewissheit, dass die Menschheit selbst und jede ihrer individuellen Erscheinungen nicht nur einen, Kantisch gesprochen, „relativen Wert, d.i. einen Preis“ besitzen, „sondern einen inneren Wert, d.i. Würde“480 haben. Anders als bei Kant basiert laut Schleier­ macher die im religiösen Bewusstsein sich erschließende Menschenwürde allerdings nicht auf der sittlichen Tüchtigkeit bzw. der Moralität einer vernünftigen Person, sondern sie kommt jedem Menschen unabhängig von seiner „Gesinnung und […] Geisteskraft“481 allein qua seines individuellen Menschseins zu. Deshalb gilt für Schleiermacher zwar dieselbe allgemeine Unterscheidung zwischen Preis und Würde, wie für Kant: „Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“482 Aber nach Schleiermacher ist der Träger von Menschenwürde im Unterschied zu Kant nicht die menschliche Moralität483, sondern, ganz im Einklang sondern einen passiv erlittenen Vorgang des Menschen. Die Revolution im Gemüt ist bei Schleiermacher keine „intelligible Tat“ durch die selbständige Gründung eines neuen Charakters (Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI, A 50/B 55 (siehe hierzu auch Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII, A 270f/B 268 f.)), sondern vielmehr die sich einstellende Neuausrichtung des Menschen durch eine ihm widerfahrende religiöse „Offenbarung“ (KGA I/2, 231,42–232,5). 479  Vgl. hierzu die passende Beschreibung von Lovejoy in seiner allgemeinen Charakterisierung der romantischen Menschheitsauffassung. Nach Lovejoy ist es den Romantikern zufolge „Aufgabe des Einzelnen, sich soweit wie möglich in die unendlich vielfältige Welt des Denkens und Fühlens anderer Menschen hineinzuversetzen. Das bedeutete nicht nur Toleranz, sondern ein Sicheinleben in die Erlebnisweise, die Wertvorstellungen, den Geschmack, die persönliche Erfahrung anderer, und dies nicht nur zur Bereicherung des eigenen inneren Lebens, sondern als Anerkennung der objektiven Gültigkeit unterschiedlicher Standpunkte.“ (Lovejoy, A., The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea, Harvard 1933, hier zitiert nach: Ders., Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, übers. v. D. Turck, Frankfurt a. M. 1993, 365 (kursiv, C. K.)) 480  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, BA 77 (kursiv, C. K.). 481  KGA I/2, 236,38. 482  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, BA 77 (kursiv, C. K.). 483  Bei Kant ist zwar grundsätzlich „Autonomie […] der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.“ (A.a.O., BA 79) Allerdings muss sich diese Autonomie in Gesinnung und Handlung eines Menschen zeigen, damit sie ihm tatsächlich zugesprochen werden kann. Anders gesagt: Die potenzielle Autonomie muss durch Gesinnungen und Taten aktual werden, damit einem Menschen Würde zugesprochen werden kann. Dies macht

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mit der Romantik, die menschliche Originalität,484 weil sie sich dem religiösen Bewusstsein als individuelle Manifestation der „unendlichen ungetheilten Menschheit“485 darbietet. In der Annahme eines unbedingten und unvergleichbaren Werts des menschlichen Individuums zeigt sich der Unterschied, mit dem sich Schleiermachers explizit religiöse von der moralischen Menschheitsauffassung der Transzendentalphilosophie seiner Zeit abgrenzt.486 Von dieser religiösen Würdekonzeption ausgehend erklärt sich auch Schleier­ machers Kritik an der Vorstellung einer doppelten Prädestination, die er in den Reden gegen den Paulinischen Ausspruch aus Röm. 9,21 vorbringt.487 Wenn Kant deutlich in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 77: „Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann; weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebendes Glied im Reiche der Zwecke zu sein. Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, insofern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat.“ Mithin besteht nach Kant „die Würdigkeit eines jeden vernünftigen Subjekts [darin, C. K.], ein gesetzgebendes Glied im Reiche der Zwecke zu sein“ (a.a.O., BA 85). Diese These spitzt Kant folgendermaßen zu: „Die Würde der Menschheit besteht eben in dieser Fähigkeit, allgemein gesetzgebend, […] zu sein.“ Demgemäß hat diejenige Person, „die alle ihre Pflichten erfüllt […] Erhabenheit und Würde“ (a.a.O., BA 86 f.). Nach Kant besitzen menschliche Individuen nicht konditionslos eine Würde, sondern diese wird ihnen erst zugesprochen, wenn sie über die Fähigkeit verfügen, als Personen zu agieren (vgl. dazu auch: a.a.O., BA 84). Kant vertritt damit in seinen ethischen Schriften eine Würdekonzeption des vernünftigen Personseins. Demgegenüber trägt Schleiermacher in seinen Reden eine von allen menschlichen Aktivitäten und Fähigkeiten unabhängige Würdekonzeption des originalen Individualcharakters vor. 484  KGA I/2, 229,18. Vgl. dazu zentral auch Schlegel, Rede über die Mythologie, KFSA II, 311– 322, hier: 320: „Ueberhaupt muß man auf mehr als einem Wege zum Ziel dringen können. Jeder gehe ganz den seinigen, mit froher Zuversicht, auf die individuellste Weise, denn nirgends gelten die Rechte der Individualität […] mehr als hier, wo von dem Höchsten die Rede ist; ein Standpunkt, auf welchem ich nicht anstehen würde zu sagen, der eigentliche Werth […] des Menschen sey seine Originalität.“ 485  KGA I/2, 229,2 f. 486  In seinem Werk The Great Chain of Being gelangt Lovejoy zu einer ähnlichen Verhältnisbestimmung zwischen Kant und der deutschen Romantik insgesamt. Dabei skizziert er einen gegen Kant gerichteten sog. „romantischen Imperativ“ mit folgenden Worten: „Achte und freue dich nicht nur an der allgemeinen Vernunft, an der alle Menschen teilhaben, wie Kant sagt, sondern an dem, wodurch die Menschen und alle Geschöpfe sich voneinander und vor allem von dir selbst unterscheiden.“ (Lovejoy, Die große Kette der Wesen, 365) Direkt auf Schleiermacher bezogen, bestätigen auch Piper und Fuchs im Rahmen ihrer religiösen Werttheorie das obige Ergebnis, wobei ihnen allerdings die zentrale Bedeutung von Schleier­ machers religiöser Würdekonzeption als Basis seiner Wertvorstellungen entgeht. Vgl. hierzu bei Piper, Das religiöse Erlebnis, 26: „[…] das Einzelding erhält in der religiösen Betrachtung einen Wert über seinen dinglichen Wert und über den Einzelfall hinaus, und zwar in einer ganz bestimmten Richtung: wir nennen es ewig, heilig, unendlich, göttlich. Diese Prädikate können nach Schleiermachers Polemik gegen die Metaphysik nicht anders verstanden werden, denn als Wertprädikate, die den spezifisch-religiösen Wert des Gegenstandes oder Geschehnisses ausdrücken sollen.“ Auch Fuchs stellt heraus, nach Schleiermacher „bleibt das Ich als Geschöpf, Werkzeug, Teil des Universums das Wertvollste und Wichtigste, dem man in sich und andern Ehrfurcht schuldig ist“. (Fuchs, Vom Werden dreier Denker, 375) 487  Vgl. KGA I/2, 229,19–28.

§  8  Entfaltung

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jedem Menschen qua seiner Individualexistenz eine Würde zukommt, so muss es freilich eine „irreligiöse Ansicht“488 sein, derzufolge es „Gefäße der Ehre gebe und Gefäße der Unehre“489. Eine derartige Ansicht entspringt nach Schleiermacher nicht aus der absoluten Wertschätzung jeder individuellen Person durch die Religion, sondern ist vielmehr Ausdruck einer anmaßenden Gesinnung,490 welche sich mittels eines wertenden Vergleichs der einzelnen Menschen untereinander zum beurteilenden Richter über dieselben zu erheben trachtet.491 Religion bewertet die individuellen Menschen nach Schleiermacher jedoch grundsätzlich nicht. Sie lebt vielmehr umgekehrt in einer Dimension der bedingungs­ losen Empathie, weil ein religiös gestimmtes Gemüt zur Selbstwahrnehmung im Anderen fähig ist. Der Umgang mit anderen Menschen vollzieht sich daher in der Religion „in Liebe und durch Liebe“492 . 1.2.2.2.  Der Inhalt der religiösen Menschheitsanschauung Nach Schleiermacher stellt der zweifache Sinn des menschlichen Daseins den Inhalt der religiösen Menschheitsanschauung dar: „[…] die Existenz eines jeden [besitzt, C. K.] einen doppelten Sinn in Beziehung auf das Ganze“493. Diese These führt Schleiermacher in KGA I/2, 230,29–231,10 und KGA I/2, 231,9–36 aus: Erstens besteht der Sinn der menschlichen Existenz darin, dass jeder Mensch qua seines individuellen Menschseins in einen sachnotwendigen Zusammenhang mit allen anderen Menschen eingebettet ist. Die Menschheit offenbart sich in der Religion als ein allumfassendes Beziehungsgeflecht ihrer bestimmten individuellen Manifestationen: Beobachte ich die ewigen Räder der Menschheit in ihrem Gange, so muß dieses unübersehliche Ineinandergreifen, wo nichts Bewegliches ganz durch sich selbst bewegt wird, und nichts Bewegendes nur sich allein bewegt, mich mächtig beruhigen über Eure Klage, daß Vernunft und Seele, Sinnlichkeit und Sittlichkeit, Verstand und blinde Kraft in so getrennten Maßen erscheinen. Warum seht Ihr alles einzeln, was doch nicht

488 

KGA I/2, 229,19 (kursiv, C. K.). KGA I/12, 96,14 f. 490  Vgl. hierzu zentral KGA I/2, 230,12–27. 491  „Nur wenn Ihr Einzelnes mit Einzelnem vergleicht, kann Euch ein solcher Gegensaz [d.h. zwischen Gefäßen der Ehre und der Unehre, C. K.] erscheinen; aber einzeln müßt Ihr nichts betrachten, erfreut Euch vielmehr eines jeden an der Stelle, wo es steht“. (KGA I/12, 96,15–18 (kursiv, C. K.)) 492  KGA I/2, 228,17. 493  KGA I/2, 230,27 f. Dabei ist Dilthey in seiner Interpretation zu widersprechen, der diesen „doppelten Sinn“ der menschlichen Existenz nicht in Bezug auf die religiöse Anschauung erfasst, sondern irrtümlicherweise ethisch deutet. Vgl. dazu Dilthey, Leben Schleiermachers, 329. Hiermit begeht Dilthey aber denjenigen Fehler, vor dem Schleiermacher eingangs zu seiner Darstellung der religiösen Menschheitsanschauung explizit warnt (vgl. KGA I/2, 228,24–229,9). 489 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

einzeln und für sich wirkt? Die Vernunft der Einen und die Seele der Andern afficiren einander doch so innig, als es nur in einem Subject geschehen könnte.494

Entscheidend ist an diesem Zitat die Beschreibung des Ineinandergreifens aller menschlichen Wirksamkeit miteinander aufgrund der unvermeidlichen Bezogenheit der menschlichen Gemütsvermögen in ihrer Tätigkeit aufeinander. Diese notwendige Verschränkung von außen und innen, d.h. von menschlicher Gemeinschaft und Gemeinschaft der menschlichen Vermögen, wird von Schleiermacher mittels der Beschreibung der Menschheit als eines einheitlichen Subjekts analog ins Bild gesetzt. Wie in jedem einzelnen Subjekt kein Gemütsvermögen Alleingeltung besitzt oder ausschließlich für sich tätig ist,495 so kann in der menschlichen Gemeinschaft kein einzelner Mensch einen absoluten Selbststand für sich reklamieren. Auch Alleinherrschaft setzt nach Schleiermacher Gefolgsleute voraus496 und selbst das Entziehen aus der Sozialgemeinschaft ist noch ein sozial folgenträchtiger Akt497. Und wie die menschlichen Gemütsvermögen in keinem kontradiktorischen Widerspruch zueinander stehen,498 so schließen sich auch die menschlichen Tätigkeiten nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich in der differenzierten Gesamtwirksamkeit der Menschheit. Eingebunden in diese Gesamtwirksamkeit wird auch „das Entfernteste in eine thätige Berührung“499 versetzt und jeder Person eine spezifische und unentbehrliche Rolle in der allumfassenden Mensch­heitsgemeinschaft zugewiesen. In der religiösen Anschauung wird die Menschheit folglich in ihrem sachnotwendigen Zusammenhang wahrgenommen, in welchem jeder Mensch direkt oder transitiv auf alle anderen Menschen bezogen ist und jedes menschliche Erleiden oder Bewirken als relativer Beitrag in das Gesamtwirken der menschlichen Gemeinschaft eingeht: Ihr wißt die Art wie jedes einzelne Element der Menschheit in einem Individuo erscheint, hängt davon ab, wie es durch die übrigen begrenzt oder frei gelaßen wird; nur durch diesen algemeinen Streit erlangt jedes in Jedem eine bestimmte Gestalt und Größe, und dieser wiederum wird nur durch die Gemeinschaft der Einzelnen und durch die Bewegung des Ganzen unterhalten. So ist Jeder und Jedes in Jedem ein Werk des Universums, und nur so kann die Religion den Menschen betrachten.500

Die sich in der religiösen Anschauung erschließende erste Sinndimension der menschlichen Existenz besteht nach Schleiermacher darin, dass jeder Mensch, wie unscheinbar sein Einfluss auf die Gemeinschaft auch ausfällt, aufgrund der 494  KGA

I/2, 231,10–18. KGA I/2, 207,16–27. 496  Vgl. KGA I/2, 229,24–28. 497  Vgl. KGA I/2, 219,27–36. 498  Vgl. §  6.2. 499  KGA I/2, 231,31 f. 500  KGA I/2, 251,38–252,1 (kursiv, C. K.). 495 

§  8  Entfaltung

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vollständigen äußeren Vermittlung der Menschen miteinander, einen konstitutiver Teil des Ganzen der Menschheit bildet.501 Zweitens bezieht sich die religiöse Anschauung nach Schleiermacher auf die menschliche Einzelperson in ontologischer Hinsicht: 502 Hemme ich in Gedanken den Lauf jenes rastlosen Getriebes, wodurch alles Menschliche in einander verschlungen und von einander abhängig gemacht wird, so ist jedes Individuum seinem innern Wesen nach ein nothwendiges Ergänzungsstük zur vollkommnen Anschauung der Menschheit.503

Hiermit bezieht sich Schleiermacher auf den ontologischen Individualcharakter eines Menschen. So wie jedes Naturphänomen seine Eigentümlichkeit einem bestimmten Mischungsverhältnis der in ihm manifesten gewordenen Naturkräfte verdankt, so geht die Individualität jedes Menschen auf ein bestimmtes Mischungsverhältnis der sich in ihm manifestierenden Gemütskräfte zurück. Anders als in seiner Beschreibung zu Beginn der ersten Rede stellt Schleier­ macher hier den menschlichen Charakter somit nicht als das direkte Ergebnis zweier Grundtriebe, sondern als spezifische Mischung der aus diesen Trieben sich ergebenden menschlichen Charakterdispositionen dar: 504 Nehmt welches Element der Menschheit Ihr wollt, Ihr findet jedes in jedem möglichen Zustande fast von seiner Reinheit an – denn ganz soll diese nirgends zu finden sein – in jeder Mischung mit jedem anderen, bis fast zur innigsten Sättigung mit allen übrigen – denn auch diese ist ein unerreichbares Extrem – und die Mischung auf jedem möglichen Wege bereitet, jede Spielart und jede seltene Combination.505

Jeder einzelne Mensch besitzt einen unverwechselbaren und mit Notwendigkeit vorgegebenen ontologischen Individualcharakter, welcher sich aus der ihm vorbestimmten Mischung der der Menschheit insgesamt möglichen Charakterdispositionen ergibt. In diesem Zusammenhang ist einerseits entscheidend, dass keiner der ontologischen Individualcharaktere eine sich wiederholende Dublette darstellt, sondern vielmehr jeder Mensch in dieser Hinsicht einzigartig ist: 501 Gegen A. Ritschl, Schleiermachers Reden, 37: Ihm zufolge „bewährt sich die That­ sache, daß in der Weltanschauung, welche Schleiermacher aufrollt, das Einzelne nicht zur Erhaltung im Ganzen, sondern nur zum Untergang in demselben bestimmt ist, kurz daß zwischen seinem Interesse an dem Werthe der persönlichen, sittlichen Eigenthümlichkeit und seinem pantheistischen Schema der Weltanschauung keine Uebereinstimmung stattfindet“. Ähnlich auch E. Huber, Entwicklung, 27. 502 Vgl. Dilthey, Leben Schleiermachers, 328 f. 503  KGA I/2, 230,29–32. 504 Vgl. Süskind, Einfluß Schellings, 27: „Individualität ist nicht bloße Beschränkung, sondern positive Darstellung des Unendlichen, alles Endliche als Individuelles selbst unendlich“. Vgl. auch Herms, der bereits in Bezug auf Schleiermachers ethische Frühschriften festhält, dass Individualität stets ein qualitativ gehaltvolles Konzept birgt und dementsprechend bei Schleiermacher prinzipiell „mehr als numerische Vielzahl oder äußerlich zufällig bedingte Verschiedenheit“ bezeichnet (Herms, Herkunft, 110). 505  KGA I/2, 229,35–230,3.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Der ewige Verstand befiehlt es, und auch der endliche kann es einsehen, daß diejenigen Gestalten, an denen das Einzelne am schwersten zu unterscheiden ist, am dichtesten aneinander gedrängt stehen müßen; aber jede hat etwas Eigenthümliches: keiner ist dem andern gleich.506

Andererseits isoliert diese Einzigartigkeit der individuellen Charakterdisposi­ tionen die Menschen nicht voneinander, sondern bildet die Möglichkeitsbedingung und reale Basis ihrer empathischen Verbundenheit miteinander. Denn die Einzigartigkeit jedes Menschen gründet auf seinem spezifischen Mischungsverhältnis aller menschenmöglichen Charakterdispositionen. Jeder Mensch umfasst auf diese Weise in seinem Individualcharakter die Menschheit insgesamt. Dem religiösen Bewusstsein ist somit kein Mensch gänzlich fremd.507 Indem ein religiöser Mensch jedes anderen Menschen als einer spezifischen Darstellung der ganzen Menschheit gewahr wird, kann er auch sich selbst in jedem anderen Menschen auf eine bestimmte Weise wiederfinden. Die religiöse Anschauung eröffnet folglich die in sich differenzierte Perspektive: Im Anderen bei sich selbst zu sein, indem man des Anderen in sich selbst gewahr wird: 508 In Euch selbst findet Ihr […] nicht nur die Grundzüge zu dem Schönsten und Niedrigsten, zu dem Edelsten und Verächtlichsten, was Ihr als einzelne Seiten der Menschheit an andern wahr genommen habt. In Euch entdekt Ihr nicht nur zu verschiedenen Zeiten alle die mannichfaltigen Grade menschlicher Kräfte, sondern alle die unzähligen Mischungen verschiedener Anlagen, die Ihr in den Charakteren anderer angeschaut habt, erscheinen Euch nur als festgehaltene Momente Eures eigenen Lebens. […] Ihr selbst seid ein Compendium der Menschheit, Eure Persönlichkeit umfaßt in einem gewißen Sinn die ganze menschliche Natur und diese ist in allen ihren Darstellungen nichts als Euer eigenes vervielfältigtes, deutlicher ausgezeichnetes und in allen seinen Veränderungen verewigtes Ich.509

Indem jeder Mensch seinem Individualcharakter nach ein „Compendium der Menschheit“ bildet, stellt Schleiermacher heraus, dass die Menschen nicht allein in dem Verhältnis der äußeren Vermittlung zueinander stehen, sondern bereits in sich selbst, d.h. in einer inneren Vermittlung, die gesamte Menschheit bergen. In sachlicher Aufnahme von Novalis’ Überlegungen aus seinen Lehrlingen zu 506 

KGA I/2, 230,15–18. Vgl. auch Fuchs, Schleiermachers Religionsbegriff, 55. 508  Vgl. KGA I/2, 236,33–39: „Wenn wir in der Anschauung der Welt auch unsere Brüder wahrnehmen, und es uns klar ist, wie jeder von ihnen ohne Unterschied in diesem Sinne gerade daßelbe ist wie wir sind, eine eigne Darstellung der Menschheit, und wie wir ohne das Dasein eines Jeden es entbehren müßten diese anzuschauen, was ist natürlicher als sie Alle ohne Unterschied der Gesinnung und Geisteskraft mit inniger Liebe und Zuneigung zu umfaßen?“ Vgl. hierzu auch Blackwell, Schleiermacher’s Early Philosophy of Life, 185: „These religious themes of egalitarianism and social solidarity in the Speeches cannot be emphasized too strongly. They provide another counterpoise to the component of elitism in Schleier­ macher’s ethical perspective“. 509  KGA I/2, 232,9–24 (kursiv, C. K.). 507 

§  8  Entfaltung

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Sais gilt daher für Schleiermacher: Jeder Mensch bildet selbst „ein Akkord aus des Weltalls Symphonie“510. Im Anschluss an die Beschreibung des zweifachen Sinns der menschlichen Existenz kann festgehalten werden: Die religiöse Menschheitsanschauung liefert Schleiermacher zufolge das Bild einer vollständigen äußeren und inneren Vermittlung zwischen den menschlichen Individuen und der Menschheit. Wie bereits in der religiösen Naturanschauung, so handelt es sich auch bei dem Bild der Menschheitsanschauung um die unmittelbare Wahrnehmung einer organischen Einheit. Das Spezifische der religiösen Menschheitsanschauung liegt darin, dass sie nicht die endlichen Naturkräfte zu ihrem Gegenstand hat, sondern sich auf die menschlichen Gemütskräfte bezieht und es sich demzufolge nicht um die organische Einheit der „vegetabilische[n] Natur“511, sondern um die Einheit einer „geistige[n] Natur“512 handelt. Aus diesem Grund charakterisiert Schleiermacher die religiöse Menschheitsanschauung als Bild eines harmonischen Kunstwerks, womit der Freiheitscharakter gegenüber dem bloß „blinde[n] Instinkt“513 des Naturorganismus’ zum Ausdruck gebracht wird: „Das ist die Harmonie des Universums, das ist die wunderbare und große Einheit in seinem ewigen Kunstwerk.“514 Aus demselben Grund belegen die menschlichen Individuen auch nicht wie die einzelnen Naturphänomene im Naturorganismus nur einen bestimmten Ort, sondern ihnen kommt vielmehr eine spezifische „Bestimmung“515 im Menschheitskunstwerk zu. Das von Schleiermacher beschriebene religiöse Anschauungsbild der Menschheit stellt sich als eine adäquate Konkretisierung seiner religiösen Anschauungsformel heraus.516 Im Folgenden wird Schleiermachers religiöse Anschaungsformel selbst kritisch überprüft. 1.3.  Das Defizit der allgemeinen Formel des religiösen Anschauungsinhalts Das von Schleiermacher beschriebene religiöse Anschauungsbild der vollständigen Vermittlung, welches von ihm in Form einer organischen Naturordnung und eines lebendigen Menschheitskunstwerks spezifiziert wird, greift seine Beschreibung der religiösen Bewusstseinserweiterung aus der „Liebesszene“ präzisierend auf: 510 

Novalis, Werke. Studienausgabe, hrsg. v. G. Schultz, München 1981, 426. KGA I/2, 233,33. 512  KGA I/2, 233,35. 513  KGA I/2, 234,28. 514  KGA I/2, 231,34 ff. 515  KGA I/2, 230,18–24 (kursiv, C. K.): „[…] in dem Leben eines jeden giebt es irgend einen Moment, wie einen Silberblik unedler Metalle, wo er, sei es durch die innigen Annäherung eines höheren Wesens oder durch irgend einen elektrischen Schlag, gleichsam aus sich heraus gehoben und auf den höchsten Gipfel desjenigen gestellt wird, was er sein kann. Für diesen Augenblik war er geschaffen, in diesem erreichte er seine Bestimmung“. 516  Vgl. §  8.1. 511 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Die zentrale Einsicht der religiösen Bewusstseinserweiterung besteht darin, dass zwischen dem Selbst und der unendlichen Welt ein gegenseitiges Entsprechungsverhältnis wahrgenommen wird, welches unter Berücksichtigung von Schleiermachers Bewusstseinstheorie dahingehend interpretiert wurde, dass sich das religiöse Subjekt unmittelbar des allgemeinen Wechselwirkungszusammenhangs bewusst ist, in welches alles Endliche notwendigerweise eingebunden ist. Diese Einsicht wird in Schleiermachers Beschreibung des religösen Anschauungsinhalts mit dem Bild der äußeren Vermittlung, derzufolge alles Endliche einen Teil des Unendlichen bildet, aufgenommen. Zugleich zeigt Schleiermachers Anschauungsbild der inneren Vermittlung, dass in der Bewusstseinserweiterung nicht allein der allumfassende Wechselwirkungszusammenhang alles Endlichen unmittelbar erfahren wird, sondern jedes Endliche in seinem unverwechselbaren Individualcharakter diesen Zusammenhang selbst wieder zur Darstellung bringt. Die in der „Liebesszene“ beschriebene religiöse Bewusstseinserweiterung wird von Schleiermacher folglich in seiner allgemeinen Formel der religiösen Naturanschauung aufgenommen und präzisiert. Aus dieser Übereinstimmung zwischen religiöser Bewusstseinserweiterung und allgemeiner Formel des religiösen Anschauungsinhalts ergibt sich zwangsläufig die Frage nach der Bedeutung der religiösen Bewusstseinserhebung im religiösen Anschauungsvorgang. Im Rahmen der Analyse von Schleiermachers „Liebeszene“ wurde gezeigt, dass das Universum, aufgefasst als das wahre Unendliche, in der Religion nicht nur als die Totalität der endlichen Sachverhalte, sondern zugleich als deren Grund erfahren wird. Dies ist der kritische Punkt, an dem sich meines Erachtens das prinzipielle Defizit von Schleiermachers allgemeiner Formel des religiösen Anschauungsinhalts zeigt. Sie erfasst nur das Moment der notwendigen Bezogenheit von Unendlichem und Endlichem aufeinander, nicht aber das in der „Liebesszene“ als essentiell herausgestellte Moment ihrer qualitativen Differenz voneinander. Das Universum wird mittels dieser allgemeinen Formel nicht als schöpferische und „Alles bestimmende Wirklichkeit“ erfasst. Das Defizit von Schleiermachers allgemeiner Formel des religiösen Anschauungsinhalts liegt somit nicht, wie oben in der Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur gezeigt wurde,517 in der Frage beschlossen, welche ihrer Teilaussagen als die Wesentliche zu erachten ist, sondern fundamentaler angesetzt, stellt diese Formel insgesamt nur einen Teilaspekt 518 des religiösen Bewusstseins­ inhalts dar. 517 

Vgl. §  8.1.1. Sie vermag die religiöse Bewusstseinserweiterung, nicht aber die religiöse Bewusstseins­ erhebung einzufangen. 518 

§  8  Entfaltung

241

Ist letztlich also doch Piper Recht zu geben, nach dessen Ansicht die religiöse Anschauung grundsätzlich eine gegenüber dem geheimnisvollen Augenblick bzw. der religiösen Uraffektion defizitäre Weise des religiösen Bewusstseins darstellt? 519 Oder findet in diesem Defizit Hubers Fundamentalkritik ihre Begründung, derzufolge es Schleiermacher in seiner Erstauflage der Reden nicht gelingt, eine konsistente Theorie des religiösen Bewusstseinslebens aufzustellen? 520 Die Lösung der soeben aufgezeigten Problematik liegt auf keinem dieser Wege. Vielmehr kann in Bezug auf die Erstauflage der Reden gezeigt werden, dass Schleiermacher weder die religiöse Anschauung prinzipiell für defizitär noch das religiöse Bewusstseinsleben insgesamt für inkonsistent erachtet. Dazu muss allerdings zwischen seiner defizitären Formel des religiösen Anschauungs­ inhalts und seiner adäquaten Beschreibung dieses Inhalts selbst deutlich unterschieden werden: Schleiermacher selbst unterscheidet in seiner Beschreibung der religiösen Natur- und Menschheitsanschauung implizit zwischen zwei relational aufeinander bezogenen religiösen Bildaspekten: einem horizontal-symmetrischen und einem vertikal-asymmetrischen Bildaspekt.521 In der bisherigen Interpretation ist ausschließlich der horizontal-symmetrische Bildaspekt zur Sprache gekommen. Das Bild einer vollständigen Vermittlung stellt nichts anderes dar, als das Bild der aus endlichen Wechselwirkungen bestehenden Totalität, d.h. der gleichwertigen (bildlich gesprochen: horizontalen) und relativen (bildlich gesprochen: symmetrischen) Bezogenheit sämtlicher endlicher Sachverhalte aufeinander. Hiervon lässt sich in Schleiermachers Beschreibung noch ein weiterer, ergänzender Bildaspekt des religiösen Anschauungsinhalts unterscheiden. Er wurde bislang noch nicht aufgezeigt, weil er in Schleiermachers religiöser Anschauungsformel keine Berücksichtigung findet. Entscheidend ist an diesem zweiten Bildaspekt, dass in ihm die qualitative Differenz des Unendlichen vom Endlichen seinen Ausdruck findet, weshalb sich in ihm die absolute Abhängigkeit 522 (bildlich gesprochen: vertikale Asymmetrie) sämtlicher endlicher Sachverhalte von dem Unendlichen als dem allmächtigem Grund aller Existenz präsentiert. Im vertikal-asymmetrischen Bildaspekt werden von Schleiermacher seine beiden bisherigen konkreten Anschauungsbilder, einerseits der organischen Na519 Vgl.

Piper, Das religiöse Erlebnis, 70. Huber, Entwicklung, 33–38. 521  Vgl. auch Korsch, D., „‚Höherer Realismus‘. Schleiermachers Erkenntnistheorie der Religion in der Zweiten Rede“, in: 200 Jahre „Reden über die Religion“, 609–628, der im Zusammenhang mit Schleiermachers Konzeption des „höheren Realismus“ von einer „horizontalen und vertikalen“ Dimension des Universums spricht (a.a.O., 622 f.). 522  Vgl. KGA I/2, 237,9–15. 520 E.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

turordnung und andererseits des harmonischen Menschheitskunstwerks, grundsätzlich dynamisiert. Hierbei kommen der lebendige Urgrund und die teleologische Prozessualität bzw. Geschichtlichkeit alles Endlichen in den Blick, wodurch die bisher beschriebenen Anschauungsbilder um eine Ursprungs- und Zieldimension ergänzt werden. Vorwegnehmend kann bereits gesagt werden, dass in dem vertikal-asymmetrischen Bildaspekt die von Schleiermacher in der „Liebesszene“ dargestellte religiöse Bewusstseinserhebung zum Ausdruck kommt. 1.4.  Das vollständige Anschauungsbild der Religion Die Pointe von Schleiermachers Beschreibung in den Reden besteht darin, dass erst durch die Vereinigung des horizontal-symmetrischen und des vertikal-­ asymmetrischen Bildaspekts in einem religiösen Anschauungsbild der Inhalt der religiösen Natur- bzw. Menschheitsanschauung vollständig in den Blick gerät. Auf diese Weise vermag Schleiermachers konkrete Beschreibung des religiösen Anschauungsinhalts, im Unterschied zu seiner defizitären allgemeinen Formel, die vollständige Übereinstimmung zwischen unmittelbarem Bewusstseins­ inhalt aus der „Liebesszene“ und der religiösen Anschauung aufzuzeigen und dementsprechend die prinzipielle Konsistenz der religiösen Bewusstseinslebens zu belegen. Diese These soll im Folgenden anhand von Schleiermachers Bestimmung des jeweils vollständigen Anschauungsbilds der religiösen Natur- und Menschheitsanschauung dargelegt werden. Von entscheidender Bedeutung sind in diesem Zusammenhang der Abschnitt KGA I/2, 226,23–227,18 für die religiöse Naturanschauung (1.4.1.) und der Abschnitt KGA I/2, 232,29–234,32 für die religiöse Menschheitsanschauung (1.4.2.). 1.4.1.  Das vollständige religiöse Anschauungsbild von der Natur In dem Abschnitt KGA I/2, 226,23–227,18 beschreibt Schleiermacher die Natur nicht mehr nur, wie bislang dargestellt, im horizontal-symmetrischen Anschauungsbild einer allgegenwärtigen organischen Naturordnung, sondern er stellt die Natur als die allgewaltige Macht dar, die sowohl die Existenz überhaupt als auch den spezifischen Zusammenhang aller endlichen Naturphänomene erschafft und erhält. Dies wird von ihm in zwei Hinsichten näher entfaltet: Erstens weist Schleiermacher auf die Natur als diejenige lebendige Ursprungskraft hin, welcher die endlichen Naturphänomene ihren Charakter und Zusammenhang allererst verdanken. Dies stellt er in folgendem Zitat prägnant heraus: Betrachtet das Gesez nach welchem sich überall in der Welt so weit ihr sie überseht das Lebende zu dem verhält, was in Rüksicht deßselben für todt zu halten ist, wie alles sich nährt und den todten Stoff gewaltsam hineinzieht in sein Leben, wie sich uns von allen Seiten entgegendrängt der aufgespeicherte Vorrath für alles Lebende […], wie bei aller Mannichfaltigkeit der Lebensformen und ungeheuren Mengen von Materien, den jede wechselnd verbraucht, dennoch jede zur Genüge hat, um den Kreis ihres Daseins zu

§  8  Entfaltung

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durchlaufen, und jede nur einem inneren Schiksal unterliegt und nicht einem äußeren Mangel, welche unendliche Fülle offenbart sich da, – welch’ überfließender Reichthum! Wir werden ergriffen von dem Eindruck der mütterlichen Vorsorge, und von kindlicher Zuversicht das süße Leben sorglos wegzuspielen in der vollen und reichen Welt.523

Mit seiner Aussage, dass „der aufgespeicherte Vorrath für alles Lebende“ unerschöpflich ist und daher trotz seines permanenten Verbrauchs durch die Lebensformen „dennoch jede [Lebensform, C. K.] zur Genüge hat“, weist Schleier­ macher auf eine lebendige Ursprungskraft der Natur hin, die von allen end­ lichen Naturkräften und Naturphänomenen als unendliche Kraft kategorisch unterschieden ist. Diese unendliche Kraft ist ihm zufolge der schöpferische und erhaltende Grund der Natur selbst, welcher durch sein Erzeugen im Überfluss die Wechselwirkungszusammenhänge der Naturphänomene, d.h. den „Kreislauf “524 des Lebens, allererst ermöglicht. Ab der zweiten Auflage der Reden beschreibt Schleiermacher diese lebendige Ursprungskraft der Natur daher auch als „erhaltende, siegreiche Kraft […] vermöge deren Alles sich nährt und gewaltsam das Todte gleichsam wiedererwekkend mit hineinzieht in sein eigenes Leben, damit es den Kreislauf neu beginne“.525 Etwas technischer drückt Schleiermacher diesen Sachverhalt später in seiner Dialektik aus. Ihm zufolge verhalten sich die endlichen Naturphänomene zu dem lebendigen Ursprung der Natur so, wie die Erscheinungen zur Kraft: „Jedes als der produktive Grund einer Mannigfaltigkeit Vorhandene ist als Kraft Vorhandenes, und jedes als Modifikation eines höheren Vorhandene ist als Erscheinung Vorhandenes.“526 Diese Ansicht der unendlichen Kraft sieht Schleiermacher in Analogie zu Spinozas Verständnis der natura naturans, der gegenüber sich die einzelnen Natur­ erscheinungen in ihrem Zusammenhang wie die natura naturata verhalten: Es ist ungefähr dieselbe Vorstellung, die man sonst mit dem Ausdruck natura naturans bezeichnete, und der die Gesamtheit der Erscheinung als gebildete Welt oder die natura naturata gegenübersteht. In dem Gegensatz von Kraft und Erscheinung ist dies offenbar das Höchste, und innerhalb desselben können wir nicht weitergehen.527

523 

KGA I/2, 226,23–36. KGA I/12, 91,18. 525  KGA I/12, 91,15–18 (kursiv, C. K.). 526  Schleiermacher, Dialektik (1822), §§  180–183 (kursiv, C. K.). 527  A.a.O., §§  183–188. Um Missverständnisse bei diesem Vergleich zu vermeiden: Die religiöse Anschauung empfängt als unmittelbare Wahrnehmung ausschließlich ein dynamisches Bild der Natur, welches nach Schleiermacher auch der Vorstellung einer natura naturans zugrunde liegt. In der religiösen Anschauung wird keineswegs die philosophische Konzeption einer natura naturans vorausgesetzt, vertreten oder begründet. Wenn also festgestellt wird, dass Schleiermachers vertikal-asymmetrischer Bildaspekt der religiösen Naturanschauung Ähnlichkeiten zur spinozistischen natura naturans-Vorstellung aufweist, soll damit keineswegs die These bekräftigt werden, Schleiermacher würde mit seinem Religionsbegriff eine Konzeption der „implizite[n] Metaphysik“ (Grove, Deutungen, 344) vertreten. Zur 524 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Mit dem Bild von dem Verhältnis zwischen der natura naturans und der natura naturata bringt Schleiermacher folglich das Moment der qualitativen Differenz zwischen unendlicher Ursprungskraft der Natur einerseits und den endlichen Naturphänomenen andererseits zum Ausdruck. Zweitens verdeutlicht Schleiermacher auch das Moment der notwendigen Bezogenheit zwischen unendlicher Ursprungskraft und endlichen Naturphäno­menen. Die Naturphänomene werden nicht allein durch die unendliche Ursprungskraft hervorgebracht und erhalten, sondern sie sind auch in einen ihnen vorgegebenen teleologischen Prozess eingespannt. Dies zeigt sich indirekt in Schleiermachers auf die Menschheit bezogenem Ausspruch: Aber nicht nur in ihrem Sein müßt Ihr die Menschheit anschauen, sondern in ihrem Werden; auch sie hat eine größere Bahn, welche sie nicht wiederkehrend sondern fortschreitend durchläuft; auch sie wird durch ihre innere Veränderungen zum Höheren und Vollkommenen fortgebildet.528

Zentral im vorliegenden Zusammenhang ist Schleiermachers Hinweis darauf, dass auch die Menschheit einem teleologischen Prozess unterworfen ist. Der Ausdruck „auch sie“ ist dabei eindeutig als analogischer Rückbezug auf die Natur zu verstehen und zeigt folglich auf, dass nach Schleiermacher auch die Natur einem teleologischen Prozess unterliegt. Laut Schleiermacher wird in der religiösen Anschauung die Natur folglich als Manifestation des wahren Unendlichen wahrgenommen. Denn die unendliche Ursprungskraft wird nicht nur als ein externer Grund der endlichen Naturphänomene aufgefasst, sondern als diejenige unendliche Macht erfahren, welche die endlichen Naturphänomene aus sich selbst erzeugt. Die Natur religiös anzuschauen, bedeutet nicht allein, wie Schleiermachers allgemeine Formel es nahelegt, einer allgegenwärtigen organischen Naturordnung ansichtig zu sein. Vielmehr präsentiert sich die Natur dem Menschen in dem religösen Anschauungsbild eines allgewaltigen, d.h. lebendigen Organismus’.529 Der in der Natur wahrgenommene Vorgang der Erzeugung und Zerstörung ist nach Schleiermacher kein bloßes Nullsummenspiel, sondern wird von dem religiösen Subjekt vielmehr deswegen als Fortbildung zum „Höheren und Vollkommenen“530 aufgefasst, weil es die Natur als teleologischen Selbstausdifferenzierungsprozess vom einfachen zum komplexeren und „erhöhte[n] Leben“531 wahrnimmt.532 Dieses höhere Leben manifestiert sich in der Anreicherung des Beurteilung der These von einer impliziten Metaphysik in den Reden siehe ausführlich in vorliegender Arbeit §  8.2.3. 528  KGA I/2, 232,29–33. 529  KGA I/2, 233,33 ff. 530  KGA I/2, 232,32. 531  KGA I/2, 234,27. 532 Vgl. hierzu auch den geistesgeschichtlichen Hintergrund bei Schelling, Von der Weltseele, SW I/2, 500: „Das Leben ist nicht Eigenschaft oder Produkt der tierischen Materie,

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Naturorganismus’ mit der Fülle und dem Reichtum wechselseitig aufeinander bezogener individueller Phänomene: „[…] welche unendliche Fülle offenbart sich da, – welch’ überfließender Reichthum! Wie werden wir ergriffen von dem Eindruk der mütterlichen Vorsorge, und von kindlicher Zuversicht das süße Leben sorglos wegzuspielen in der vollen und reichen Welt.“533 Der vertikal-asymmetrische Bildaspekt von Schleiermachers Beschreibung der religiösen Naturanschauung enthält sowohl die qualitative Differenz als auch die notwendige Bezogenheit zwischen unendlicher Naturkraft und den endlichen Naturphänomenen. Die Natur erscheint im Bild einer unendlichen Macht, welche Grund und Ziele sämtlicher endlicher Naturphänomene und -prozesse bildet und vorgibt.534 Ingesamt lässt sich festhalten: Horizontal-symmetrischer und vertikal-asymmetrischer Bildaspekt ergeben zusammengenommen das vollständige religiöse Anschauungsbild der Natur. Die Natur religiös anzuschauen, bedeutet nach Schleiermacher, sie als allgegenwärtigen und allgewaltigen lebendigen Organsimus wahrzunehmen. In diesem Bild wird die Natur als Manifestation des wahren Unendlichen erfahren, indem sowohl alle endlichen Naturphänomene als Teile und Darstellungen des Naturganzen wahrgenommen werden und zugleich dieses Naturganze wiederum in seinem Gesetztsein durch den lebendigen Naturgrund erfahren wird. In sondern umgekehrt die Materie ist Produkt des Lebens. Der Organismus ist nicht die Eigenschaft einzelner Naturdinge, sondern umgekehrt, die einzelnen Naturdinge sind ebenso viele Beschränkungen oder einzelne Anschauungsweisen des allgemeinen Organismus […]. Das Wesentliche aller Dinge […] ist das Leben; das Accidentelle ist nur die Art ihres Lebens, und auch das Todte in der Natur ist nicht an sich todt – ist nur das erloschene Leben. Die Ursache des Lebens mußte also der Idee nach früher da seyn als die Materie, die (nicht lebt, sondern) belebt ist; diese Ursache muß also auch nicht in der belebten Materie, sondern außer ihr gesucht werden“. Und mit direktem Bezug auf Jacobis Formulierung in dessen Spinozaschrift (Jacobi, F. H., Über die Lehre des Spinoza, in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn, bearb. v. M. Lauschke, Hamburg 2000, 281) heißt es weiter in Schelling, Von der Weltseele, SW I/2, 503 (kursiv, C. K.): „Das Leben selbst ist allen lebenden Individuen gemein, was sie voneinander unterscheidet, ist nur die Art ihres Lebens. Das positive Prinzip des Lebens kann daher keinem Individuum eigenthümlich seyn, es ist durch die ganze Schöpfung verbreitet und durchdringt jedes einzelne Wesen als der gemeinschaftliche Athem der Natur.“ Bei Jacobi selbst lautet es in seiner Spinozaschrift: „Schwerlich kann das mögliche Dasein oder die ewige Schöpfung einer aus einzelnen Dingen bestehenden Welt; und dieses Bestehen selbst durch unauf hörliches Hervorbringen und Vertilgen solcher einzelner Wesen trefflicher symbolisiert werden, als durch ein solches gehaltenes Verbreiten, und gleichsam Atmen der Natur. Es ist der wahrhafte Gott des Spinoza, der aus Unendlichem Unendliches unauf hörlich hervorbringt.“ (Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, 281 (kursiv, C. K.)) 533  KGA I/2, 226,33–36. 534  Vgl. auch Kant, Kritik der Urteilskraft, AA V (§  66), A 289/B 293 f. (kursiv, C. K.): „Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich bewegende Kraft; sondern sie besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine solche, die sie den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (sie organisiert): also eine sich fortpflanzende bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermögen allein [.…] nicht erklärt werden kann.“

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

der religiösen Anschauung des lebendigen Naturorganismus‘ wird also die Natur zugleich als Totalität und Grund der endlichen Naturphänomene erfahren. Die religiöse Naturanschauung mit ihrem Inhalt des lebendigen Organismus’ stellt folglich eine adäquate Darstellung des Inhalts des unmittelbaren religiösen Selbstbewusstseins dar. 1.4.2.  Das vollständige religiöse Anschauungsbild von der Menschheit Der vertikal-asymmetrische Bildaspekt kommt in der religiösen Menschheitsanschauung in der Wahrnehmung der Menschheitsgeschichte in KGA I/2, 232,29– 234,32 zum Ausdruck. Hier richtet Schleiermacher den Blick, analog zu seinem Vorgehen bei der religiösen Naturanschauung, auf den Ursprung und die Ziel­ bestimmung des menschlichen Daseins. Bezog er sich in seiner bisherigen Beschreibung vornehmlich auf die für ein religiöses Subjekt gegenwärtigen Menschheitscharaktere und richtete seinen Blick daher nur auf einen bestimmten Zeitpunkt im Universumsgeschehen,535 so wird diese Beschreibung nun um eine dynamische, deutlicher gesagt, um eine teleolo­ gische Dimension erweitert und ergänzt: Aber nicht nur in ihrem Sein müßt Ihr die Menschheit anschauen, sondern auch in ihrem Werden; auch sie hat eine größere Bahn, welche sie nicht wiederkehrend sondern fortschreitend durchläuft, auch sie wird durch ihre inneren Veränderungen zum Höheren und Vollkommenen fortgebildet.536

Die menschliche Geschichte in ihrem teleologischen Prozess bildet nach Schleiermacher den Gegenstand, von welchem ausgehend die religiöse Anschauung ihren asymmetrisch-vertikalen Bildaspekt empfängt und worin sich somit die religiöse Bewusstseinserhebung auf bestimmte Weise manifestiert: „Geschichte im eigentlichsten Sinn ist der höchste Gegenstand der Religion, mit ihr hebt sie an und endigt mit ihr“.537 Zentral an diesem Zitat ist, was Schleiermacher unter der Geschichte „im eigentlichsten Sinn“ versteht. Grundsätzlich gilt, dass es sich hierbei nicht um eine methodisch streng verfahrende Geschichtswissenschaft handeln kann: Religiöse Anschauungen sind vom Wissen zu unterscheiden und können daher nicht das Ergebnis wissenschaftlicher Untersuchungen bilden. Einen ersten positiven Hinweis liefert Schleiermacher, indem er in direktem Anschluss an die soeben zitierte Stelle festhält: „alle wahre Geschichte hat überall zuerst einen religiösen Zwek gehabt und ist von religiösen Ideen ausgegangen.“538 535  Einschlägig ist hierfür folgendes Zitat: „Alles was zugleich wahrgenommen werden kann und gleichsam auf einem Blatte steht, gehört zu einem großen historischen Bilde welches einen Moment des Universums darstellt.“ (KGA I/2, 229,22 ff.) 536  KGA I/2, 232,29–33. 537  KGA I/2, 232,38–233,2. 538  KGA I/2, 233,3 f.

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Es geht ihm um diejenige Auffassung von Geschichte, die bereits vor aller wissenschaftlichen Beschäftigung mit derselben, von der Religion selbst ausgegangen ist. Somit handelt es sich bei seiner Darstellung um eine Geschichtswahrnehmung, wie sie ausschließlich dem Boden des religiösen Bewusstseins entspringt. Folglich richtet sich seine in diesem Zusammenhang in den Reden präsentierte Geschichtswahrnehmung auch nicht auf historische Ereignisse oder Tatbestände der Vergangenheit, sondern hat, wie die religiöse Menschheitswahrnehmung im Allgemeinen, die notwendigen Beziehungen und den allumfassenden Zusammenhang der menschlichen Individual- und Gemeinschaftscharaktere in ihrem spezifischen Werdeprozess im Blick.539 Geschichte „im eigentlichsten Sinn“ ist nach dieser Auffassung ein besonderer Gegenstand der menschlichen Seelenkunde. Einen wahrhaften Geschichtssinn zu besitzen, bedeutet nach Schleiermacher, über die Fähigkeit zu verfügen, ein Bewusstsein vom raum-zeitlichen Entwicklungsprozess der menschlichen Seelencharaktere auszubilden. Dieser spezifische Geschichtssinn entspringt der Einsicht in die prinzipielle Ursprungs- und Zielbestimmtheit des menschlichen Daseins überhaupt, d.h. dem Bewusstsein, dass, wie Schleiermacher es ausdrückt, „die Menschheit selbst etwas bewegliches und bildsames ist“.540 Die Pointe seiner Behandlung des religiösen Geschichtssinns besteht darin, dass in ihm die religiöse Anschauung mittels der Wahrnehmung des Werdens der Menschheitscharaktere über die direkte Menschheitswahrnehmung hinaus erhoben wird, indem der Blick auf den Ursprung und das Ziel der Menschheit selbst gerichtet wird. In der religiösen Anschauung der Menschheitsgeschichte kommt die Menschheit nicht wie bisher nur als Totalität der menschlichen Individuen in den Blick, sondern erscheint in ihrem Gesetztsein durch eine höhere, die Menschheit selbst transzendierende Macht.541 Demgemäß hält Schleiermacher auch fest: „Nach einer solchen Ahndung von etwas außer und über der Menschheit strebt alle Religion“.542 Wie in der Beschreibung der religiösen Naturanschauung die unendliche Ursprungskraft das wahre Ziel des endlichen Naturprozesses vorgab, so weist Schleiermacher analog auf die Erfahrung einer schöpferischen und die Geschichte lenkenden Macht am Grunde der Menschheit hin. Hierbei beschreibt er die zwei zusammengehörigen Dimensionen dieses Grundes, der als wahres Unendliches erstens in qualitativer Differenz und zweitens in notwendiger Bezogenheit auf die Menschheit steht. 539 

Vgl. KGA I/2, 233,6–38. KGA I/2, 234,41 f. (kursiv, C. K.) 541 Ähnlich Ellsiepen, Anschauung, 345, der hier die „Verschränkung eines qualitativen und eines kollektiv-aktualen Aspekts“ beim Menschheitsbegriff herausarbeitet. Zur näheren Analyse von Schleiermachers Konzeption der Menschheitsgeschichte siehe Ellsiepen, Anschauung, 348 f. 542  KGA I/2, 235,9 f. 540 

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Erstens: Die religiöse Anschauung der Menschheitsgeschichte eröffnet Schleiermacher zufolge dem religiösen Subjekt, dass die Menschen sich nicht allein in notwendiger Wechselwirkung miteinander befinden, sondern dass diese Wechselwirkungsbeziehungen von einer Instanz außerhalb der Menschheit gesetzt sind. Diese, die Möglichkeit und Notwendigkeit wechselseitiger Interaktion setzende Instanz, wird im Bild eines erschaffenden Künstlers präsentiert: Denkt Euch den Genius der Menschheit als den vollendetsten und universellsten Künstler. Er kann nichts machen was nicht ein eigenthümliches Dasein hätte. Auch wo er nur die Farben zu versuchen und den Pinsel zu schärfen scheint, entstehen lebende und bedeutende Züge.543

Deutlich bringt Schleiermacher mit diesem Bild eines außerhalb der Menschheit stehenden Künstlers die qualitative Differenz zwischen dem erschaffenden Prinzip und dem geschaffenen Werk zum Ausdruck. Anders als bei seinem Bild der natura naturans handelt es sich hier nicht um ein notwendiges Geschehen des Aus- und Zurückfließen des Endlichen aus dem und in das Unendliche, sondern vielmehr um einen Akt höherer Freiheit, Wahl und Planung. Denn, so hält Schleiermacher ergänzend fest, die Entwicklung der Menschheitscharaktere und die Abfolge der Völker entspringt weder ihrem Willen selbst, noch erfolgt sie rein zufällig, sondern es herrscht ein vorbestimmtes Maß in der Geschichte vor, nach dem der schaffende Künstler jedem Menschen und Volk eine bestimmte Zeit und Aufgabe zuteilt.544 Ausschließlich dieses vorbestimmte Maß bestimmt „den Gang des Universums und die Formel seines Gesetzes“. 545 Wird ein Mensch von dem Bewusstsein dieses vorbestimmten und durch keine irdische Macht zu beeinflussenden Maßstabs ergriffen, entschwinden ihm seine bisherigen Beurteilungskategorien, so dass er im Bereich des Endlichen „schwindelnd weder großes noch kleines, weder Ursach noch Wirkung, weder Erhaltung noch Zerstörung weiter unterscheiden kann“.546 Sein bisheriger auf das zeitliche Geschehen gerichteter Blickwinkel wird hierdurch erhoben zu der „Gestalt eines ewigen Schicksals, […] ein wunderbares Gemisch von starrem Eigensinn und tiefer Weisheit, von roher herzloser Gewalt und inniger Liebe“.547 Schleiermacher führt die Erfahrung einer qualitativen Differenz in der Menschheitsanschauung auf die Wahrnehmung eines vorbestimmten und un543 

KGA I/2, 229,10–13 (kursiv, C. K.). Vgl. KGA I/2, 233,6–10 (kursiv, C. K.): „Hier seht Ihr die Wanderung der Geister und der Seelen, die sonst nur eine zarte Dichtung scheint, in mehr als einem Sinn als eine wundervolle Veranstaltung des Universums, um die verschiedenen Perioden der Menschheit nach einem sichern Maasstabe zu vergleichen.“ Vgl. auch KGA I/2, 233,24 ff.: „Hier erscheinen Euch Völker und Generationen der Sterblichen eben so wie auf unserer vorigen Ansicht die einzelnen Menschen.“ 545  KGA I/2, 233,17 f. 546  KGA I/2, 233,38–234,5. 547  KGA I/2, 234,6 ff. 544 

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abänderlichen Maßstabs in ihrer geschichtlichen Entwicklung zurück. An diesem Maßstab zeigt sich, dass die Menschheit sich nicht, wie bisher von ihm behauptet,548 selbst erschafft, sondern vielmehr durch den „hohen Weltgeist [der, C. K.] über alles lächelnd hinwegschreitet, was sich ihm lärmend widersezt“549 hervorgebracht und künstlerisch geformt wird. In der Religion erhebt sich somit der Sinn über die bloße Betrachtung der Geschichte, wie Schleiermacher es prägnant in seinem frühen Gedankenheft festgehalten hat: „Der ächte historische Sinn erhebt sich über die Geschichte. Alle Erscheinungen sind nur wie die heiligen Wunder da um die Betrachtung zu lenken auf den Geist der sie spielend hervorbrachte.“550 Zweitens umfasst die religiöse Anschauung der Menschheitsgeschichte, wie in der Naturanschauung,551 auch deren Zielgerichtetheit bzw. ihren teleologischen Charakter. Hiermit wird bildlich die notwendige Bezogenheit des erschaffenden Künstlers zu seinem Menschheitskunstwerk zum Ausdruck gebracht. Wie Schleiermacher bereits das religiöse Bewusstsein im Allgemeinen als Erfahrung des Selbsterschließungsgeschehens des Universums beschrieben hat,552 so zeigt sich ihm zufolge gerade in der religiösen Geschichtswahrnehmung, dass der „eigentliche Charakter aller Veränderungen und aller Fortschritte“553 sich ausschließlich dem offenbarenden Handeln dieses das Menschheitskunstwerk erschaffenden Künstlers verdankt. Jenes sich der religiösen Anschauung in der Menschheitsgeschichte offenbarende ewige Schicksal zeigt die Selbstbindung des unendlichen Künstlers an seine endliche Schöpfung an. Das ewige Schicksal richtet sich nicht gegen das Endliche überhaupt, sondern ausschließlich gegen dasjenige Endliche, welches sich selbst an die Stelle des Unendlichen zu setzen beabsichtigt.554 Der dem ewigen Schicksal zu Grunde liegende vorbestimmte Maßstab der Geschichte steht folglich ausschließlich der Selbstisolation und Vereinzelung des Endlichen entgegen und strebt in seiner sich offenbarenden Wirksamkeit nach zunehmender Vereinigung und Versöhnung alles Endlichen miteinander: Wollt Ihr endlich den eigentlichen Charakter aller Veränderungen und aller Fortschritte der Menschheit ergreifen, so zeigt Euch die Religion wie die lebendigen Götter nichts haßen als den Tod, wie nichts verfolgt und gestürzt werden soll als er, der erste und lezte Feind der Menschheit. Das Rohe und das Barbarische, das Unförmliche soll 548 

KGA I/2, 229,29 ff. KGA I/2, 234,13 f. 550  KGA I/2, 126,7 ff. 551  KGA I/2, 226,23–34; 227,3–18. 552  Vgl. in vorliegender Arbeit §  7.2. 553  KGA I/2, 234,20. 554  „Ihr seht wie die hehre Nemesis […] unermüdet die Erde durchzieht, wie sie Züchtigung und Strafen den Übermüthigen austeilt, welche den Göttern entgegenstreben und wie sie mit eiserner Hand auch den wakersten und trefflichsten abmäht, der sich […] dem sanften Hauch des großen Geistes nicht beugen wollte.“ (KGA I/2, 234,14–19) 549 

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verschlungen und in organische Bildung umgestaltet werden. Nichts soll tote Maße sein, die nur durch den todten Stoß bewegt wird […]: alles soll eigenes zusammengeseztes, vielfach verschlungenes und erhöhtes Leben sein.555

Indem sich das ewige Schicksal am vorbestimmten Maßstab zur Erhöhung des menschlichen Lebens ausrichtet, ist die Menschheitsgeschichte religiös präzise bestimmt als „das große, immer fortgehende Erlösungswerk der ewigen Liebe“556. Der Inhalt der religiösen Menschheitsanschauung manifestiert sich nicht, wie es Schleiermachers allgemeine Formel des religiösen Anschauungsinhalts nahe legte, in dem horizontal-symmetrischen Bildaspekt des harmonischen Menschheitskunstwerk, sondern muss durch den vertikal-asymmetrischen Bildaspekt eines das Menschheitskunstwerk erschaffenden, unendlichen Künstlers ergänzt werden. Insgesamt präsentiert sich nach Schleiermacher foglich der vollständige Inhalt der religiösen Menschheitsanschauung in dem einen Bild des lebendigen Kunstprozesses. Das Vorbild dieser Auffassung bildet nicht Spinozas natura naturans, sondern vielmehr Platon, wie es Schleiermacher in seinen Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre explizit festhält: Platon […] erscheint das unendliche Wesen nicht nur als seiend und hervorbringend [wie bei Spinoza, C. K.], sondern auch als dichtend, und die Welt als ein werdendes, aus Kunstwerken ins Unendliche zusammengesetzes Kunstwerk der Gottheit.557

1.5.  Zwei zentrale Folgerungen für den Inhalt der religiösen Anschauung in den ‚Reden‘ Aus Schleiermachers Beschreibung des Inhalts der religiösen Anschauung lassen sich zwei weitreichende Folgerungen für seinen kritischen Religionsbegriff ­ziehen: Erstens: Religion ist nach Schleiermacher nicht rein formal bestimmt, sondern sie besitzt einen spezifischen Inhalt. Es ist der eine Inhalt des unmittelbaren religiösen Selbstbewusstseins, der sich als Bewusstseinserweiterung und -erhebung gegenüber dem unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstsein erweist und sich in den beiden Konkretisierungssphären der Natur- und Menschheitsanschauung jeweils in dem Zusammenspiel aus einem horizontal-symmetrischen und einem vertikal-asymmetrischen Bildaspekt manifestiert. Die beiden von Schleiermacher beschriebenen religiösen Anschauungsbilder sind der lebendige Naturorganismus und der lebendige Kunstprozess. Schleiermacher identifiziert 555 

KGA I/2, 234,19–27. KGA I/2, 234,31 f. 557  KGA I/4, 65,15–18 (kursiv, C. K.). Vgl. auch allgemein zu dem Themenkomplex der anthropomorphen Gottesrede bei Schleiermacher: Moxter, M., „Gott als Künstler. Anmerkungen zu einer Metapher Schleiermachers“, in: I. U. Dalferth/J. Fischer/H.-P. Großhans (Hgg.), Denkwürdiges Geheimnis: Beiträge zur Gotteslehre. Festschrift für Eberhard Jüngel zum 70. Geburtstag, Tübingen 2004, 387–404. 556 

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keineswegs das Universum selbst entweder mit dem lebendigen Naturprozess oder dem lebendigen Kunstprozess. Natur und Menschheit stellen ihm zufolge nur die beiden sich ergänzenden Wirksphären des Unendlichen im Endlichen dar. Sie sind selbst nur Teile und Darstellungen des Universums und stehen als geschaffene Sphären in einem asymmetrischen Verhältnis zu demselben.558 Ellsiepen spricht in diesem Zusammenhang von ihnen als untergeordneten Totalitäten zu der absoluten Totalität des Universums.559 Daraus folgt, dass die höch­ste Anschauung der Religion sich nicht auf eine der beiden Wirksphären des Unendlichen beschränken kann, sondern vielmehr den lebendigen Naturprozess und den lebendigen Kunstprozess in der Menschheit als die beiden sich ergänzenden Bilder des wahren Unendlichen aufzufassen hat. Diese höchste Anschauung ist nach Schleiermacher im religiösen Geschichtssinn, insbesondere des Christentums, gegeben.560 Im religiösen Geschichtssinn werden die beiden Anschauungsbilder des lebendigen Naturprozesses und des lebendigen Kunstprozesses miteinander in fruchtbare Beziehung gesetzt, indem sie als jeweils spezifische Manifestationen des beide erzeugenden und umfassenden lebendigen Universums erfasst werden. Somit gilt von dieser höchsten religiösen Anschauung, was Schleiermacher in seinen späteren Auflagen der Reden explizit festhält, dass in ihr „jedes von beiden [Anschauungsbildern, C. K.] auf jenes Ineinandersein beider [Anschauungsbilder, C. K.] bezogen wird.“561 Schleiermacher präzisiert und ergänzt mit seiner Beschreibung des Inhalts der religiösen Anschauung seine Bestimmung des Religionsinhalts aus der sog. „Liebesszene“. Es gelingt ihm damit, die Defizite seiner allgemeinen Anschauungsformel zu überwinden und die Konsistenz des religiösen Bewusstseins­ lebens nachzuweisen. Denn die Inhalte des unmittelbaren religiösen Selbstbewusstseins und der religiösen Anschauung erweisen sich nach seiner Beschreibung als identisch. Das Zusammenspiel von religiöser Bewusstseinserhebung und -erweiterung kommt in der Beschreibung von dem Zusammenspiel zwischen

558  Vgl. zentral KGA I/2, 234,41–235,11: „Wenn die Menschheit selbst etwas bewegliches und bildsames ist, wenn sie sich nicht nur im Einzelnen anders darstellt, sondern auch hie und da anders wird, fühlt Ihr nicht daß sie unmöglich selbst das Universum sein kann? Vielmehr verhält sie sich zu ihm, wie die einzelnen Menschen sich zu ihr verhalten; sie ist nur eine einzelne Form deßelben, Darstellung einer einzigen Modification seiner Elemente, es muß andre solche Formen geben, durch welche sie umgrenzt, und denen sie also entgegengesezt wird. Sie ist nur ein Mittel-glied zwischen dem Einzelnen und dem Einen, ein Ruheplatz auf dem Weg zum Unendlichen, und es müßte noch ein höherer Charakter gefunden werden im Menschen als seine Menschheit um ihn und seine Erscheinung unmittelbar aufs Universum zu beziehen. Nach einer solchen Ahndung von etwas außer und über der Menschheit strebt alle Religion um von dem gemeinschaftlichen und höheren in beiden ergriffen zu werden.“ 559 Vgl. Ellsiepen, Anschauung, 360 ff. 560  Vgl. KGA I/2, 316,38–317,33. 561  KGA I/12, 179,16 ff.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

horizontal-symmetrischem und vertikal-asymmetrischem Bildaspekt adäquat zur Darstellung. Der Inhalt der Religion zeichnet sich nach Schleiermacher grundlegend durch das Zusammenspiel von dem Bewusstsein der wahren Individualität und der teleologischen Prozessualität alles Endlichen im und durch das Unendliche aus. Abschließend lässt sich der Inhalt von Schleiermachers kritischem Religionsbegriff als das unmittelbare Bewusstsein vom Gesetztsein-des-Individualseins-im-­ Ganzen-zum-Werden-durch-das-Unendliche bestimmen. Zweitens: Das Ergebnis findet seine Bestätigung in Schleiermachers Beschreibung der religiösen Gefühle. Dass auch im religiösen Gefühl der Gehalt des unmittelbaren religiösen Selbstbewusstseins adäquat enthalten ist, zeigt sich bei Schleiermacher in KGA I/2, 236,22–237,32. Zum einen fasst er sämtliche religiöse Gefühle unter dem Topos der „Frömmigkeit“562 zusammen. Das Gefühl der Frömmigkeit ist ihm zufolge ein in sich differenziertes Gefühl. Es umfasst so unterschiedliche Gefühle wie etwa das der „Demuth“563, der „Ehrfurcht“564 der „Liebe und Zuneigung“565, der „Dankbarkeit“566 , des „Mitleids“567 und der „Reue“568. Zum anderen lässt sich innerhalb der in sich differenzierten Gefühlsmenge der Frömmigkeit klar zwischen zwei Gefühlsarten unterscheiden,569 nämlich den horizontal-symmetrischen Gefühlen der Liebe (der Zuneigung, des Mitleids, der Dankbarkeit) zu bzw. gegenüber allem Endlichen inklusive aller Menschen 570 und den asymmetrisch-vertikalen Gefühlen der Demut (der Ehrfurcht, der Reue) gegenüber dem schöpferischen Grund allen Seins.571 In der Frömmigkeit als einem in sich differenzierten Gefühl werden also ­religiöse Bewusstseinserweiterung in Form der Liebe und religiöse Bewusstseins­ erhebung in Form der Demut zu einer lebendigen Einheit miteinander verbun562 KGA I/2, 237,30 ff.: „Die Alten wussten das wohl: Frömmigkeit nannten sie alle diese Gefühle, und bezogen sie unmittelbar auf die Religion, deren edelster Theil sie ihnen waren.“ 563  KGA I/2, 236,33. 564  KGA I/2, 236,29. 565  KGA I/2, 236,39. 566  KGA I/2, 237,6. 567  KGA I/2, 237,15. 568  KGA I/2, 237,23. 569  Schleiermacher spricht auch von den unterschiedlichen Gattungen der religiösen Gefühle (KGA I/2, 239,1–5). 570  Paradigmatisch hier KGA I/2, 236,33–39 (kursiv, C. K.): „Wenn wir in der Anschauung der Welt auch unsere Brüder wahrnehmen, und es uns klar ist, wie jeder von ihnen ohne Unterschied […] gerade dasselbe ist was wir sind […], was ist natürlicher als sie Alle ohne Unterschied selbst der Gesinnung und der Geisteskraft mit inniger Liebe und Zuneigung zu umfaßen?“ 571  „Wenn wir das Universum angeschaut haben, und von dannen zurüksehen auf unser Ich, wie es in Vergleichung mit ihm ins unendlich kleine verschwindet, was kann dem Sterblichen dann näher liegen als wahre ungekünstelte Demuth?“ (KGA I/2, 236,30–33)

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den.572 Wie Schleiermacher sich in späteren Redenauflagen ausdrückt, gilt daher: „Jede Art [der religiösen Gefühle, C. K.] bedarf der anderen als ihrer Ergänzung, und jede ist nur wahrhaft fromm, sofern sie die andere mitsetzt.“573 Frömmigkeit als adäquater Gefühlsausdruck des Inhalts des unmittelbaren religiösen Selbstbewusstseins ist nach Schleiermacher als liebende Demut bzw. demütige Liebe aufzufassen. So wie die religiöse Anschauung durch ihre Verbindung von horizontal-symmetrischem und vertikal-asymmetrischem Aspekt ein „Bild des Unendlichen“574 enthält, ebenso stellt die Frömmigkeit exakt das „Gefühl des Unendlichen“575 dar. Denn in ihr sind zugleich empathisch die eigene Identität mit allem Endlichen und emphatisch das Erlösungswerk des lebendigen Universums an allem Endlichen unmittelbar enthalten. 2.  Die Form der religiösen Anschauung Im letzten Abschnitt konnte gezeigt werden, dass es Schleiermacher in seinen Reden gelingt, eine konsistente Beschreibung des religiösen Bewusstseinslebens insgesamt aufzustellen. In diesem Abschnitt wird die Form der religiösen Anschauung näher analysiert und es werden die damit verbundenen Konsequenzen für Schleiermachers kritischen Religionsbegriff aufgezeigt. Ihren Ursprung besitzen die religiösen Anschauungen im unmittelbaren religiösen Selbstbewusstsein. Weil sich letzteres einerseits bei dem religiösen Menschen unmittelbar-unwillkürlich aufgrund eines Erschließungshandelns des Uni­versums einstellt und andererseits nach Schleiermacher gilt, dass die reli­giö­sen Anschauungen unwillkürlich-unmittelbar aus dem unmittelbaren reli­ giösen Selbstbewusstsein entspringen, kann man in Bezug auf den formalen Entstehungsvorgang der religiösen Anschauungen von einer doppelten Unmittelbarkeit sprechen. Im Folgenden soll dieser zentrale Aspekt von Schleiermachers Bestimmung der religiösen Anschauungsform gegen einschlägige Holzwege der Forschung präzise herausgestellt werden (2.1.) und selbst anhand einschlägiger Stellen aus den Reden zur Darstellung gebracht werden (2.2.) Das Ergebnis der Selbstmanifestation des Unendlichen in der menschlichen Anschauung ist nach Schleiermacher ein evidentes Bewusstseinsbild. Religion kann daher als die evident-bildhafte Selbstmanifestation des Unendlichen im Endlichen beschrieben werden. Dies unterscheidet die religiöse Anschauung ihrem Wesen nach von Wissen und Fantasie.

572 

Vgl. hierzu einschlägig KGA I/12, 141,40–142,20. KGA I/12, 8 f. (kursiv, C. K.) 574  KGA I/2, 218,12 (kursiv, C. K.). 575  KGA I/2, 217,35 f. 573 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Zugleich beinhaltet diese Bestimmung der religiösen Anschauung nach Schleiermacher keineswegs eine abstrakte Trennung zwischen Anschauung, Fantasie und Wissen. Vielmehr erweist sich die religiöse Anschauung gerade aufgrund ihres Evidenzcharakters als deutungsoffenes Bildbewusstsein.576 Diese These wird in Bezug auf die religiöse Fantasie (2.3.) und das religiöse Denken (2.4.) herausgearbeitet. 2.1.  Holzwege der Forschung Meines Erachtens widerspricht Schleiermachers Konzeption der religiöse Anschauung erstens sowohl der idealistischen Theorie der intellektuellen Anschauung als auch der Spinozaischen Konzeption der scientia intuitiva (2.2.1.). Zweitens besteht keine Gefahr, dass nach Schleiermachers Konzeption der religiösen Anschauung das Universum in der Religion verendlicht wird (2.1.2.). Drittens handelt es sich bei der religiösen Anschauung nicht um eine produktive Deutungsleistung des Menschen, sondern um eine bildhafte Selbstdarstellung des Unendlichen im Endlichen (2.1.3.). 2.1.1.  Schleiermachers Konzeption der religiösen Anschauung im Unterschied zur intellektuellen Anschauung und der ‚scientia intuitiva‘ Vornehmlich die ältere Forschung, etwa bei Lipsius577 und Huber578 , geht davon aus, dass Schleiermachers religiöse Anschauung ihrem wesentlichen Gehalt nach identisch ist mit Schellings Konzept der intellektuellen Anschauung aus der sog. Ich-Schrift von 1795579, welche Schelling unter Einfluss von Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794580 als transzendentale Erkenntnis­ art entworfen und später, ab seinem Bruno581, zur absoluten Erkenntnisart er-

576 Vgl. Frost, Einigung, 162,17 ff.: „Das ‚Bild‘ ist der allgemeine Eindruck, der in der Lebenserfahrung entsteht und in die Lebensbetrachtung reflexiv aufgenommen wird.“ 577 Vgl. Lipsius, „Schleiermachers Reden“, 147: Demzufolge sei Schleiermachers Anschauung des Universums bzw. des Unendlichen im Endlichen „dasselbe was Schelling intellektuelle Anschauung nennt“. 578  Vgl. E. Huber, Entwicklungen, 36–38. Nach E. Huber ist dasjenige, was Schleiermacher „unter jenem geheimnisvollen Augenblick“ darstellt, „nichts anderes als Schellings intellektuale Anschauung.“ (A.a.O., 38) 579  Schelling, Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen (1795), SW I/1, 149–244. 580  Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I,2, 229: „Die Wissenschaftslehre geht aus von einer intellektuellen Anschauung, der absoluten Selbsttätigkeit des Ich“. 581  Schelling, Bruno oder über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge. Ein Gespräch, in: SW I/4, 213–332. In seinem Werk Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie zeigt sich mit aller Deutlichkeit diese Konzeptverschiebung gegenüber Fichte, wenn Schelling festhält: „[…] daß jede Anschauung, welche nur auf die Identität des subjektiven Subjekt-Objekts in dem Anschauen seiner Selbst […] geht, nimmermehr intellektuelle genannt werden könne.“ Die intellektuelle Anschauung wird von Schelling nun erweitert zu demjenigen „Vermögen, das Allgemeine im Besonderen, das Unendliche im Endlichen, beide zur

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weitert hat.582 Im Zentrum der Konzeption der intellektuellen Anschauung steht dabei die grundsätzliche Frage nach der Möglichkeitsbedingung einer Letztbegründung des menschlichen Wissens.583 In Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794 wird die intellektuelle Anschauung dementsprechend folgendermaßen charakterisiert: Das Ich soll anschauen; soll nun das anschauende nur wirklich ein Ich seyn, so heisst dies soviel, als: das Ich soll sich setzen als anschauend […] Das Ich setzt sich, als anschauend heißt zuvörderst: es setzt in der Anschauung sich als thätig.584

Wagner streicht hierbei in Bezug auf Fichte die besondere Bedeutung der intellektuellen Anschauung für die Konstitution des Selbstbewusstseins des Subjekts heraus: Die intellektuelle Anschauung ist nicht Anschauung eines Seins, sondern eines Tuns, nämlich eines solchen Tuns, durch das das Ich sich seiner selbst inne wird. Wie das Licht sich als Scheinen manifestiert, also im Manifestieren seiner Selbst einen Unterschied setzt, der keiner ist, so schaut auch das Ich als intellektuelle Anschauung nichts anderes als sich selbst an; aber nur dadurch, das es sich anschaut, ist es. Ich ist nur als der Vollzug des Sich-Anschauens.585

Schelling übernimmt in seinen Schriften bis zum Bruno das von Fichte aufgestellte transzendentalphilosophische Verständnis der intellektuellen Anschauung und stellt in seiner Abhandlung zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre von 1796/97 die Bedeutung der intellektuellen bzw. intellektualen Anschauung für die Entstehung des menschlichen Selbst- und Objektbewusstseins überhaupt heraus: Nun aber behaupten wir, daß der menschliche Geist, indem er von allem Objektiven abstrahirt, in dieser Handlung zugleich eine Anschauung seiner selbst habe, die wir intellektual heißen, weil ihr Gegenstand ein lediglich intellektuales Handeln ist. Wir belebendigen Einheit vereinigt zu sehen.“ (Schelling, Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie, SW I/4, 333–510, hier: 362) 582  Vgl. hierzu einschlägig Süskind, Einfluß Schellings, 104; 121–134. 583 Vgl. Ellsiepen, Anschauung, 289–296. Zur allgemeinen Verortung und Verhältnisbestimmung unterschiedlicher Konzeptionen der intellektuellen Anschauung im Horizont der Geistesgeschichte zur Zeit Schleiermachers vgl. auch Neubauer, J., „Intellektuelle, intellektuale und ästhetische Anschauung. Zur Entstehung der romantischen Kunstauffassung“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 46 (1972), 294–319. 584  Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, GA I,2, 371,5 f. 585  Wagner, Der Gedanke, 47. Vgl. auch Süskinds Einschätzung, der insbesondere den Kantischen Hintergrund von Fichtes früher Konzeption der intellektuellen Anschauung herausstellt: „Die intellektuelle Anschauung Fichtes also ist nichts anderes als die Vorstellung oder das Denken des reinen Ich als absoluter Spontaneität. Dass diese absolute Spontaneität nichts anderes ist als die intelligible Freiheit Kants, nur zum Prinzip der ganzen, mithin auch der theoretischen Philosophie erweitert, ist offenbar.“ (Süskind, Einfluß Schellings, 104) Zur Entwicklung von Fichtes Konzept der intellektuellen Anschauung vgl. Stolzenberg, J., Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Die Entwicklung in den Wissenschaftslehren von 1793/94 bis 1800/02, Stuttgart 1986.

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haupten zugleich, daß diese Anschauung die Handlung ist, wodurch ein reines Selbstbewußtseyn entsteht, und daß sonach der menschliche Geist selbst nichts anderes als dieses reine Selbstbewußtseyn ist.586

Auf diese Weise avanciert die intellektuelle bzw. intellektuale Anschauung schließlich folgerichtig bei Schelling im System des transzendentalen Idealismus zur Grundbedingung allen menschenmöglichen Wissens: […] intellektuelle Anschauung […] das Organ alles transzendentalen Denkens. […] Das Ich selbst ist ein Objekt, das dadurch ist, daß es von sich weiß, d.h. es ist ein beständiges intellektuelles Anschauen; da dieses sich selbst Produzierende einziges Objekt der Transzendental-Philosophie ist, so ist die intellektuelle Anschauung für diese eben das, was für die Geometrie der Raum ist.587

Anhand der Zitate wird bereits der fundamentale Unterschied zwischen der intellektuellen Anschauung und Schleiermachers Verständnis der religiösen Anschauung überdeutlich: Die intellektuelle Anschauung stellt bei Fichte und Schelling ein Prinzip dar, welchem erstens die entscheidende Schlüsselstellung im Rahmen ihrer ontologischen Theorie des absoluten Ich zukommt, welches zweitens die epistemologische Grundlage für eine mögliche Letztbegründung allen objektiven Wissens liefert und das drittens als Vorgang des Sich-Selbst-Setzens des absoluten Ichs vollständig unabhängig von jedem sinnlichen Einfluss operiert. Schleiermachers Konzeption der religiösen Anschauung weicht in allen diesen essentiellen Punkten prinzipiell von Fichtes und Schellings Begriff der intellektuellen Anschauung ab.588 Denn die religiöse Anschauung wird ihm zufolge erstens durch einen sinnlichen Einfluss auf das menschliche Bewusstsein ausgelöst. Das Proprium der religiösen Anschauung besteht zwar darin, eines Handelns des Universums „auf Uns“ gewahr zu werden,589 dieses Handeln ist jedoch konstitutiv an sein Erscheinen im Bereich endlicher Sachverhalte gebunden 590 und kann sich deswegen nur als ein Erschließungsgeschehen vermittels des sinnlichen Wirklichkeitsbereichs manifestieren.591 Bei der religiösen Anschauung handelt es sich zweitens aus epistemologischer Sicht nicht um das Letztbegründungsprinzip allen objektiven Wissens, sondern um ein subjektiv evidentes Bewusstseinsbild.592 Die Religion ist eben, wie bereits 586  Schelling, Abhandlung zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre (1796/97), SW I/ 1, 343–452, hier: 344. Zu diesem Schellingzitat siehe direkt Süskind, Einfluß Schellings, 105. 587  Schelling, System des transzendentalen Idealismus, SW I/3, 327–638, hier: 370. 588 Gegen Grove, P., „‚Immer schaue in dich selbst, wisse was du tust‘. Intellektuelle Anschauung bei Schleiermacher“, in: D. Schmid/M. Pietsch (Hgg.), Geist und Buchstabe. Interpretations- und Transformationsprozesse innerhalb des Christentums. Festschrift für Günter Meckenstock, Berlin/Boston 2013, 179–198. 589  KGA I/2, 214,9–15. 590  KGA I/2, 214,36–215,3. 591  KGA I/2, 227,25–33. 592  KGA I/2, 213,34–218,20.

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dargestellt, dem Wissen nur formal superordiniert, d.h. sie begründet es Schleiermacher zufolge nicht, sondern stellt nur dessen adäquaten Vollzug sicher.593 Drittens stellt die religiöse Anschauung in ontologischer Hinsicht nicht die Selbsthabe bzw. Selbstmacht eines absoluten Ich dar,594 sondern umgekehrt geht einem Menschen in ihr sein Gesetztsein durch das Universum auf595, denn einem Menschen wird in der religiösen Anschauung Schleiermacher zufolge „nichts so sehr eingeprägt als dieses, daß er sich selbst aus sich allein nicht erkennen kann“596. Aus diesen drei wesentlichen Gründen kann meines Erachtens, trotz des gemeinsamen Unterschieds gegenüber Kants rein auf sinnliche Gegenstände gerichteten Anschauungsbegriffs597 und der sprachlichen Nähe insbesondere in Schellings späteren Ausführungen,598 von einer gehaltvollen Entsprechung oder gar sachlichen Abhängigkeit des Schleiermacherschen Begriffs der religiösen Anschauung mit der idealistischen Konzeption der intellektuellen Anschauung keine Rede sein.599 Die Überlegung, Spinozas Konzeption der scientia intuitiva als bestimmenden gedanklichen Hintergrund für Schleiermachers Auffassung der religiösen Anschauung heranzuziehen, findet sich prominent in der neueren Schleiermacherforschung. Hauptsächlich bezieht sich diese Ansicht auf die Lehrsätze 40 und 45–47 aus dem zweiten Teil und die Lehrsätze 24–38 aus dem fünften Teil von Spinozas Ethik.600 Die Attraktivität, diese Konzeption für Schleiermachers Reden fruchtbar zu machen, besteht zum einen ontologisch darin, dass es sich in Spinozas Ethikkonzeption im Unterschied zu Fichte und Schelling nicht um ein ideales, sondern ein reales Universumsverständnis handelt. Zum anderen ist die scientia intuitiva in Spinozas Konzeption epistemologisch von empirischer Anschauung und begrifflichem Denken unterschieden. So hält etwa Dierken fest: 593 

KGA I/2, 213,20–26. Süskind, Einfluß Schellings, 104 f.; Ellsiepen, Anschauung, 291. 595  KGA I/2, 212,12–15. 596  KGA I/2, 267,41. 597 Vgl. Ellsiepen, Anschauung, 289: „Im Blick auf Schleiermachers religiösen Anschauungsbegriff ist besonders Schelling von Interesse. Denn bei ihm paart sich im Begriff der ‚intellektuellen Anschauung‘ ein Sich-Abheben von der Kantischen Restriktion humaner Anschauung auf deren sinnliche Variante mit einem absolutheitstheoretischem Interesse. Daß dieses Interesse auch in Schleiermachers Religionsbegriff vorherrschend ist, dürfte keinem Zweifel unterliegen.“ 598  Die intellektuelle Anschauung ist nach Schelling das „Vermögen, das Allgemeine im Besonderen, das Unendliche im Endlichen, beide zur lebendigen Einheit vereinigt zu sehen.“ (Schelling, Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie, SW I/4, 333–510, hier: 362) 599  Zur Abgrenzung Schleiermachers von Fichte vgl. auch Seysen, C., „Die Rezeption des Atheismusstreits bei F. Schleiermacher“, in: K. Kodalle/M. Ohst (Hgg.), Fichtes Entlassung. Der Atheismusstreit vor 200 Jahren, Würzburg 1999, 175–190. 600  Spinoza, B., Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt (Philosophische Bibliothek 92), lat.-dt., neu übers. u. hrsg. v. W. Bartuschat, Hamburg 2007, hier: Eth. II, prop.  4 0; 45–47, 176–183; 192–197; Eth. V, prop.  24–38, 568–585. Vgl. hierzu die luzide Darstellung in Ellsiepen, Anschauung, 91–134. 594 Vgl.

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Offensichtlich ist Schleiermachers Anschauungskonzept weder nach einem Modell einer rein empirischen, noch nach dem einer rein intellektuellen Anschauung geprägt. Ersterem widerspricht das Universum als möglicher Gegenstand; letzterem die Ausrichtung auf Einzelnes und Abgesondertes. Eher dürfte die dritte Erkenntnisart von Spinoza, das intuitive Wissen, im Hintergrund stehen. Es verbindet auf rationale Weise die Erkenntnis des Wesens der Einzeldinge mit der Erkenntnis Gottes.601

Diese Fährte der gegenwärtigen Forschung hatte bereits Süskind aufgenommen: Was […] Spinoza betrifft, so bestand freilich zwischen der Grundanschauung der R. und dem Spinozismus eine gewisse Aehnlichkeit. Die Anschauung des Universums, des Ewigen in den endlichen Dingen erinnert notwendig an die cognitio intuitiva bei Spinoza, und an die Anschauung sub specie aeternitatis.602

Insbesondere zwei Ähnlichkeiten zur religiösen Anschauung werden dabei von den Verfechtern einer geistesgeschichtlichen Abhängigkeit Schleiermachers von Spinoza herausgestellt: Erstens: Im Rahmen seiner Theorie der scientia intuitiva beschreibt Spinoza sein differenziertes Verständnis von der „Existenz“ der Einzeldinge603. Man kann ihm zufolge unterscheiden zwischen der Existenz der Einzeldinge, insofern sie in einem Bezug der gegenseitigen Wechselwirkung aufeinander stehen, und einer Existenz der Einzeldinge, insofern sie aus der göttlichen Kausalität selbst erfolgt. Weil jedoch auch der endliche Wechselwirkungszusammenhang, der sog. „ordo naturae“604 in Gott gründet, folgt, dass es sich bei Spinozas Beschreibung um die zwei zusammengehörenden Existenzweisen jedes endlichen Einzeldings handelt.605 Hiermit besitzt Spinozas Beschreibung der endlichen Existenzweise Ähnlichkeit mit Schleiermachers Verhältnisbestimmung von sinnlichem und religiösem Bewusstsein, die sich jeweils auf eine der beiden zusammengehörenen Dimensionen der endlichen Wirklichkeit beziehen.606 Zweitens verweist nach Spinoza die Erkenntnis der Existenz der Einzeldinge auf Gott hin, da er als Ursache ihrer Existenz und ihres Wechselwirkungszusammenhangs in jedem Erkenntnisakt notwendig mitgedacht wird. Aus den 601  Dierken, J., „‚Daß eine Religion ohne Gott besser sein kann als eine andre mit Gott‘. Der Beitrag von Schleiermachers ‚Reden‘ zu einer nichttheistischen Konzeption des Absoluten“, in: 200 Jahre „Reden über die Religion“, 668–684, hier: 675 f. Vgl. auch Barth, U., „Die Religionstheorie der ‚Reden‘. Schleiermachers theologisches Modernisierungsprogramm“, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 259–270, hier: 278: „Die beide Richtungen übergreifende Struktur des religiösen Verhältnisses schließlich fasst Schleiermacher unter den Begriff der religiösen Anschauung, des direkten Äquivalents zu Spinozas dritter Erkenntnisart, der adäquaten Intuition.“ Vgl. Adriaanse, „Schleiermachers ‚Reden‘ als Paradigma“, 112. 602  Süskind, Einfluß Schellings, 103. 603  Spinoza, Eth. II, prop.  45, 192 f. 604  Spinoza, Eth. I, prop.  33, 68 f. 605 Vgl. Ellsiepen, Anschauung, 93. 606  Siehe in vorliegender Arbeit §  7.3.

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existierenden Einzeldingen wird Spinoza zufolge mittels der scientia intuitiva auf Gott als essentielle Ursache dieser Existenz geschlossen. Die scientia intuitiva ist somit evidente Erkenntnis der Kausalität Gottes vermittels der Wesenserkenntnis der endlichen Einzeldinge, d.h. Unendlichkeitserkenntnis im Endlichen. Hieraus folgt für Spinoza der Grundsatz, dass durch die zunehmende Erkenntnis der Einzeldinge das Wesen Gottes approximativ erkannt wird.607 Auch die religiöse Anschauung ist nach Schleiermacher Bewusstsein des Unendlichen im Endlichen.608 Allerdings ist die religiöse Anschauung Schleiermacher zufolge eindeutig von jedem schlussfolgernden Erkennen unterschieden. Dieser Sachverhalt zeigt auch die Grenze der Vergleichbarkeit zwischen scientia intuitiva bei Spinoza und religiöser Anschauung bei Schleiermacher auf. Die scientia intuitiva ist nach Spinoza als dritte Erkenntnisart eindeutig als ein Wissen und zwar als das höchste Wissen bestimmt.609 Demgegenüber handelt es sich bei der religiösen Anschauung nach Schleiermacher um einen Bewusstseinsvorgang, der sich gerade durch seine klare Unterscheidung vom Wissen auszeichnet. Religiöse Anschauungen werden nicht aktiv vom Menschen selbst produziert, sondern sind vielmehr das Ergebnis eines passiv empfangenen Selbsterschließungsvorgangs des lebendigen Universums. Das religiöse Bewusstsein stellt sich zwar vermittels eines Eindrucks des Unendlichen im Endlichen ein. Aber umgekehrt zu Spinozas scientia intuitiva bildet dabei das End­ liche nicht den epistemologischen Ausgangspunkt zur aktiv vom menschlichen Subjekt konstruierten Erkenntnis des Unendlichen.610 Vielmehr stellt der Eindruck des Unendlichen im Endlichen quasi den epistemologischen Endpunkt des vom handelnden Universum ausgehenden Selbsterschließungsvorgangs an den Menschen dar. Die religiöse Anschauung ist nach Schleiermacher keine deutende Erkenntnisleistung des Menschen,611 sondern im „schneidenden Gegensaz“612

607  Spinoza, Eth. V, prop.   24, 568 f.: „Quo magis res singularis intelligimus, eo magis Deum intelligimus“. Vgl. auch Ellsiepen, Anschauung, 121. 608  KGA I/2, 313,30–34. 609  Spinoza, Eth. V, prop.  24–38, 568–585. 610  „Aus rationaler Einsicht in die Strukturen von Dingen ist der in der scientia intuitiva thematische Zusammenhang von singulärer und göttlich-universaler Kausalität als Relation der Immanenz nicht herleitbar. Er wird erst in jener Betrachtung konstruktiv geleistet, welche ihn an der Vorstellung eines faktisch-existierenden endlichen Einzeldings als ideele Implikation zu Bewusstsein bringt. Die scientia intuiva vermag also durch die bewußte Einsicht in die Prinzipienstruktur von Singulärem einen Zusammenhang subjektiv plausibel zu machen, der vonseiten rationaler Argumentation offen gelassen, aber in Hinsicht auf die Applikation der Strukturontologie auf menschliche Vollzüge als unbeweisbare Prämisse vorausgesetzt werden mußte.“ (Ellsiepen, Anschauung, 138 f.) 611  KGA I/2, 211,29 f. 612  KGA I/2, 211,23.

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zu allem Wissen lässt sie sich in „kindliche[r] Passivität“613 von den „unmittelbaren Einflüße[n]“614 des Universums selbst „ergreifen“615.616 Folglich können die Versuche Schleiermachers religiöse Anschauung geistesgeschichtlich in Abhängigkeit entweder von der intellektuellen Anschauung Schellings und Fichtes oder aber von Spinozas Konzeption der scientia intuitiva zu stellen, als Holzwege der Forschung bezeichnet werden. Weder ist die religiö­ se Anschauung in den Reden wie die intellektuelle Anschauung Grundbedingung bzw. Urform jeder vernünftigen Einsicht, noch ist sie wie die scientia intuitiva die Höchstform vernunftgemäßer Denkanstrengungen. Beide Versuche scheitern daran, dass sie letztlich die Religionskonzeption Schleiermachers gegen seine eigene Darstellung intellektualisieren und damit gerade dem Vorschub leisten, was er am Dringlichsten zu verhindern sich vorgenommen hat – einer Reduktion der Religion auf Metaphysik. 2.1.2.  Ontologische und epistemologische Möglichkeit der religiösen Anschauung Eine zentrale Problematik hat die Schleiermacherforschung durchgehend beschäftigt: Wie kann eine religiöse Anschauung, da sie als Anschauung notwendigerweise auf Endliches beschränkt bleibt, geeignet sein, das Unendliche zu erfassen? Ist religiöse Anschauung überhaupt möglich, ohne ihren Gegenstand, das Universum, zu verendlichen? Dieses spezifische Problem der religiösen Anschauung als Anschauung des Unendlichen wird deutlich bei vielen Interpreten herausgestellt. Sie sehen darin die Religionskonzeption der ersten Auflage der Reden insgesamt gefährdet. Exemplarisch können hier die Ansichten von Herms617, Graf618 und Meckenstock genannt werden.619 613 

KGA I/2, 211,36. KGA I/2, 211,35 (kursiv, C. K.). 615  Ebd. (kursiv, C. K.) 616 Vgl. prägnant Cramer, „Anschauung des Universums“, 140: „Die in Spinozas anschauender Erkenntnis präsente Evidenz hat nichts Irrationales, auch nichts Ästhetisches an sich. In ihr realisiert sich vielmehr die höchste Form vernünftiger Einsicht. Sie schaut nicht an – weder im Sinne Kants noch im Sinne Schleiermachers – sie ist nicht Gefühl, Sinn und Geschmack, Instinkt, Trieb, Ahndung, nicht eine unmittelbare Schau, die mit der Rationalität des Begreifens nichts zu tun hat. Sie ist im Gegensatz dazu begreifendes Wissen als Wissen um Gründe. Für alles, was ist, sind Gründe jedoch als Ursachen dessen was ist, aufzufassen. […] Spinozas Anschauung des Universums ist begreifendes, nicht begriffloses Anschauen des Universums“ 617 Anschauung ist nach Herms „das empirische, vermittelte Gegenstandsbewußtsein“, daher besteht bei der Anschauung die Gefahr, dass die Grenzen zwischen Unendlichem und Endlichem verwischt werden und das Unendliche auf diese Weisen verendlicht wird (vgl. Herms, Herkunft, 181 ff.; 213). 618  Graf richtet sich zwar gegen Herms Interpretation von religiösen Anschauungen und Gefühlen (Graf, „Koinzidenz“, 157), kommt aber letztlich auf dasselbe Problem der religiösen Anschauung zu sprechen. Weil diese „sich auf Einzelnes und sinnliche Data bezieht“ und weil die Anschauung die Religion an die „Differenzen des Bewußtseins“ bindet, bestehe bei ihr die Gefahr einer Verendlichung des Unendlichen. (A.a.O., 179) 619  Vgl. hierzu im Einzelnen Grove, Deutungen, 301–306. 614 

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Meckenstock bringt dabei das vorliegende Problem präzise auf den Punkt. Ihm zufolge erlangt „das Universum durch den Anschauungsbegriff Gegenstandscharakter, der die Verendlichung des Universums herbeiführt und damit alle Verwicklungen, denen Schleiermacher im Gefolge der Vernunftkritik entrinnen will“.620 Gegen die These, dass durch die religiöse Anschauung das Unendliche verendlicht bzw. zu einem Gegenstand unter anderen degradiert wird, haben sich ansatzweise in moderater Form schon Cramer621, Lönker622 und Dupré623 geäußert. Grove hingegen schlägt eine problematische Radikallösung vor. Allgemein hält er zunächst fest: „Schleiermacher appliziert den Begriff der Anschauung auf das religiöse Bewußtsein, indem er die Anschauung als eine nichtvergegenständlichende epistemische Beziehung auf einen Gegenstand aufgreift.“624 Allerdings ist Groves These, weshalb die religiöse Anschauung nichtvergegenständlichend ist, unter hohen Einbußen für die Religionskonzeption der Reden erkauft. Denn mit Bezug auf Reinholds Ausführungen in dessen Werk Neue Darstellung der Hauptmomente der Elementarphilosophie625 hält Grove fest, dass Schleiermachers Konzeption zufolge die religiöse Anschauung nur deswegen nicht objektivierend ist, weil sie grundsätzlich der Fähigkeit ermangelt, zwischen Selbst und Objekt zu unterscheiden.626 In der religiösen Anschauung wird das Universum aus dem Grunde nicht vergegenständlicht bzw. nicht verendlicht, weil es sich bei ihr um ein „dunkles Bewusstsein“ handelt.627 Überspitzt könnte man dieses Argument auch dahingehend wiedergeben: Weil die religiöse 620 

Meckenstock, „Auseinandersetzung“, 34 f. Unterscheidung der Religion von Metaphysik und Moral hat nach Cramer zur Folge, „daß ihr von Schleiermacher immerhin selber so genannter ‚Gegenstand‘ in Wahrheit keiner eigentlich so zu nennenden gegenständlichen, objektivierenden Auffassung fähig, freilich aber auch keiner solchen bedürftig ist. […] Das heißt: das religiöse Bewußtsein läßt sich nicht in eine diskursive Erkenntnis dessen, was es anschauend fühlt, übersetzen, ohne seinen eigenen Standpunkt preiszugeben.“ (Cramer, „Anschauung des Universums“, 127) 622  Lönker, „Religiöses Erleben“, 58 f. 623  Dupré, L., „Toward a Revaluation of Schleiermacher’s ‚Philosophy of Religion‘“, in: The Journal of Religion 44/2 (1964), 97–112, hier: 110. 624  Grove, Deutungen, 304. 625  Reinhold, K. L. „Neue Darstellung der Hauptmomente der Elementarphilosophie“, in: ders., Beiträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen. Erster Band. Das Fundament der Elementarphilosophie betreffend (Philosophische Bibliothek Band 554a), Hamburg 2003, 111–178. 626  „Denn in ihm [dem Anschauen, C. K.] ist man sich des Objekts nicht als eines von der Anschauung unterschiedenen bewußt.“ (Grove, Deutungen, 305) 627 „Schwerwiegender ist eine weitere Implikation der Verwendung des Begriffs der Anschauung, mit der die Frage der Subjektivität überhaupt erst thematisch relevant wird. Sie kann anhand des Zusammenhangs mit Reinhold verdeutlicht werden. Nach ihm ist die Bewußtseinsart, zu welcher die Anschauung gehört, das dunkle Bewußtsein. Dies muß analog auch für die Anschauung des Universums gelten und kommt in der Religionstheorie der Reden zum Ausdruck […]. Der Begriff des dunklen Bewußtseins kommt hier zwar nicht 621  Schleiermachers

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Anschauung nichts klar sieht, vergegenständlicht sie folglich auch nichts.628 Ihre Unklarheit bewahrt sie vor Unwahrheit. Diese Interpretation führt zu zwei gravierenden Problemen.629 Deshalb muss Grove im Anschluss an seine Argumentation von der religiösen Anschauung als eines explizit dunklen Bewusstseins auch konsequenterweise einerseits fragend innehalten: „Ist der Preis der Inanspruchnahme des Begriffs der Anschauung für die Interpretation der Religion folglich, daß mit dem Gegenstandsbewußtsein zugleich das Selbstbewußtsein ausgeschlossen wird?“630 Und andererseits als Konsequenz aus seiner These festhalten: Es lässt sich als Ergebnis der Untersuchung festhalten, daß die Möglichkeit der Selbstbeschreibung nicht durch die Definition der Religion als Anschauung geklärt wird, daß also das Subjekt als anschauendes sich der religiösen Anschauung nicht in diesem Sinn bewußt ist. Vom bisher Analysierten her ist also unverständlich, wie sich das religiöse Subjekt überhaupt religiöse Anschauungen zuzuschreiben vermag.631

Nach Groves Ansicht ist Schleiermacher in den Reden prinzipiell nicht in der Lage dieses Problem zu lösen.632 Auch Lönker scheint diese Ansicht mit Grove zu teilen.633 Allerdings sind die Probleme, welche Grove und Lönker in Schleiermachers Religionsbegriff sehen, keineswegs Probleme der Schleiermacherschen Theorie, sondern schlicht selbstgemacht. Dass die religiöse Anschauung als ein dunkles Bewusstsein weder zwischen Selbst und Gegenstand unterscheiden kann, noch sich das religiöse Subjekt die religiöse Anschauung selbst zuzuschreiben vermag, steht nicht allein in einem klaren Widerspruch zum Schleiermacherschen Text,634 sondern rührt aus einer klaren Unterbewertung des genealogischen und sachlogischen Ursprungs der religiösen Anschauung selbst her: dem geheimnisvollen Augenblick im menschlichen Bewusstsein. explizit vor, Schleiermacher unterscheidet aber das religiöse Bewußtsein vom deutlichen Bewußtsein und auch vom ‚klarsten Bewußtsein‘“. (Grove, Deutungen, 305 f.) 628  Glatz, Religion und Frömmigkeit, 205 stimmt dieser Ansicht Groves zu, zieht aber nicht die problematischen Schlüsse daraus. 629  Ellsiepen, Anschauung, 289. 630  Grove, Deutungen, 306,7 ff. (kursiv im Original) 631 Ebd. 632  „Vermag die Einbeziehung des Begriffs des Gefühls in die Religionstheorie also die beim Begriff der Anschauung festgestellte Schwierigkeit zu lösen?“ Nach Groves Ansicht ist dies nicht der Fall. Denn ihm zufolge geht es „in der Religion um eine Mannigfaltigkeit bestimmter Gefühle“. Deshalb gilt: „Der Gedanke der Einheit und Identität des Subjekts, der bei der Selbstzuschreibung von religiösen Anschauungen vorausgesetzt werden muß, wird also durch den Gefühlsbegriff gerade nicht artikuliert. […] Die Religion wird also […] auf das Subjekt hin zentriert. Es kommt hier jedoch darauf an zu sehen, daß die Religionstheorie dies kaum einzulösen vermag und insofern mit Hilfe des Gefühlsbegriffs in der Tat nicht über die Schwierigkeiten der religiösen Anschauung hinausgelangt.“ (Grove, Deutungen, 313 f.) 633  Lönker, „Religiöses Erlebnis“, 58 f. 634  Vgl. KGA I/2, 219,9 f.

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Hingegen ist es auch mit der Religionstheorie so, wie Schleiermacher es in den Reden in Bezug auf die religiöse Erfahrung insgesamt festhält: 635 Aus ihren einzelnen Teilen, z.B. der Theorie der religiösen Anschauung und der Theorie des religiösen Gefühls, lässt sich für sich genommen keine umfassende Theorie des lebendig-einheitlichen Religionssubjekts nachträglich zusammensetzen.636 Ohne eine dieser theoretischen Trennung vorausgehende und sie begründende Theorie des einheitlichen religiösen Subjekts selbst, wie sie von Schleiermacher in Ansätzen in seiner Darstellung des unmittelbaren Selbstbewusstseins erfolgt,637 bleiben beide separaten Theorieteile notwendigerweise defizitär.638 Sowohl das Problem des religiösen Selbst- und Gegenstandsbewusstseins als auch die Selbstzuschreibung der religiösen Anschauung lassen sich nur unter Einbezug von Schleiermachers Theorie des religiösen Selbstbewusstseins beheben. Denn ebenso wie das religiöse Bewusstseinsleben eine organische Einheit darstellt, die sich um ihr Ursprungs- und Kraftzentrum, den geheimnisvollen Augenblick, gruppiert,639 so ist auch nach Schleiermacher jede Theorie über die Religion ein organischen Ganzes, dessen Teile nur in Bezug auf ihr sachliches Zentrum adäquat erfasst werden können. Dieses Zentrum ist aber eindeutig der geheimnisvolle Augenblick im menschlichen Bewusstsein, d.h. das unmittelbare Selbstbewusstsein: Das sei Euch gesagt: wenn Ihr diese [religiöse Anschauungen und Gefühle, C. K.] noch so vollkommen versteht, wenn Ihr sie in Euch habt im klarsten Bewußtsein, aber Ihr wißt nicht und könnt es nicht aufzeigen, daß sie aus solchen Augenbliken [wie der beschriebene geheimnisvolle Augenblick, C. K.] in Euch entstanden […] sind, so überredet Euch und mich nicht weiter, es ist dem doch so, Eure Seele hat nie empfangen.640

Im deutlichen Unterschied zu den dargestellten, ihrerseits höchst problematischen Erklärungen der Sekundärliteratur, kann vor dem soeben aufgezeigten sachlichen Hintergrund auf epistemologische und ontologische Weise gezeigt werden, dass Schleiermachers religiöse Anschauungstheorie keineswegs der Gefahr unterliegt, ihren Inhalt, das Universum, zu verendlichen: 635 

Zentral in: KGA I/2, 222,13–223,4. KGA I/2, 222,13–223,19. 637  Vgl. in vorliegender Arbeit §  7.3. 638  „Ihr Thoren und träges Herzens! wißt Ihr nicht daß das alles nur Zersezungen des religiösen Sinns sind, die Eure eigne Reflexion hätte machen müßen, und wenn Ihr Euch nun nicht bewußt seyd etwas gehabt zu haben, was sie zersetzen konnte, wo habt Ihr denn dieses her? Gedächtnis habt Ihr und Nachahmung aber keine Religion.“ (KGA I/2, 222,29–34 (kursiv, C. K.)) 639  „Zerlegen kann man wohl die Säfte eines organischen Körpers in seine nächsten Bestandtheile; aber nehmt nun diese ausgeschiedenen Elemente, mischt sie in jedem Verhältniß behandelt sie auf jedem Wege, werdet Ihr wieder Herzensblut daraus machen können? Wird das was einmal todt ist, sich wieder in einem lebenden Körper bewegen und mit ihm einigen können?“ (KGA I/2, 222,38–223,4 (kursiv, C. K.)) 640  KGA I/2, 222,13–19. 636 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

In der Analyse des geheimnisvollen Augenblicks hat sich gezeigt, dass die grundlegende epistemologische Bedingung für das religiöse Bewusstseinsleben das jeder menschlichen Geistesaktivität vorausgehende Erschließungshandeln des Unendlichen im Endlichen ist. Die religiöse Anschauung als unmittelbares Produkt dieses Erschließungsgeschehens ist folglich notwendigerweise an das selbsttätige Erscheinen des Unendlichen im Endlichen gebunden. Aus diesem Grunde ist die religiöse Anschauung keineswegs das bildhafte Bewusstsein des Unendlichen an sich, sondern ist sich dessen bewusst nach Maßgabe seiner Präsenz im Endlichen. Religiöse Anschauung ist daher prinzipiell phänomenales Transphänomenalbewusstsein. Das Unendliche zeigt sich der religiösen Anschauung in seiner Allgegenwart und Allgewalt, d.h. als Totalität und schöpferischer Grund des Endlichen. Wie bereits mit dem Hinweis auf Bonaventuras Contuitus-Konzeption gezeigt wurde,641 vermag bei Schleiermacher die religiöse Anschauung im Endlichen einen Verweis auf das alles Endliche umschließende und einschließende Unendliche bzw. die Wirksamkeit der schöpferischen Ursprungs­ kraft am Grund alles Endlichen unmittelbar wahrzunehmen. Weil nach Schleiermacher ein Bewusstsein des Unendlichen ausschließlich im Rahmen von dessen Präsenz im Endlichen möglich ist, ist der epistemologische Bezug der religiösen Anschauung auf das Endliche keine Verfälschung oder Verendlichung des Unendlichen, sondern vielmehr umgekehrt Bedingung und einzige Möglichkeit adäquaten Universumsbewusstseins. Die Analyse des geheimnisvollen Augenblicks hat auch gezeigt, wie es ontologisch möglich ist, dass das Universum sich im Endlichen für das menschliche Bewusstsein manifestiert, ohne sich zu verendlichen. Das Universum konnte als wahres Unendliches bestimmt werden, dessen Besonderheit darin liegt, die differenzierte Einheit seiner Selbst und des Endlichen zu bilden. Deswegen kann es sich an das Endliche entäußern, ohne sich selbst zu verlieren. Das Universum als wahres Unendliches bleibt in seinem Erscheinen im Endlichen dennoch bei sich selbst. Dem Universum ist es folglich möglich, sich der religiösen Anschauung im Endlichen zu präsentieren, weil es im Endlichen in keine ihm wesensgemäß fremde Dimension eintritt,642 sondern weil das Endliche vielmehr eine Dimension seiner eigenen ontologischen Struktur als wahres Unendliches bildet. Es ist nach Schleiermacher nicht anders möglich: Eine Ansicht, nach der das Unendliche sich nicht im Endlichen manifestieren kann, ohne sich zugleich zu verendlichen, hat kein Bewusstsein von wahrer Unendlichkeit, sondern beibt bei der Gegenüberstellung von Endlichem und Unendlichem, d.h. bei einer schlechten Unendlichkeit stehen. 641 

Vgl. in vorliegender Arbeit §  7.2. Dies wäre bei einer Theorie der schlechten Unendlichkeit der Fall, in der Unend­l iches und Endliches sich ausschließend gegenüberstehen und folglich sich gegenseitig verendlichen. 642 

§  8  Entfaltung

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Weil nach Schleiermacher Universumsbewusstsein zu besitzen, bedeutet, das Unendliche sachnotwendig als präsent im Endlichen zu erfahren, stellt die religiöse Anschauung des Unendlichen im Endlichen keine ontologische Verfälschung oder Verendlichung des Universums dar, sondern bildet vielmehr die Bedingung und einzige Möglichkeit adäquaten Bewusstseins des Universums als des wahren Unendlichen. Mit diesen beiden Argumentationen ist das selbstgemachte Problem der Sekundärliteratur bezüglich einer Verendlichung des Unendlichen durch die religiöse Anschauung überwunden. 2.1.3.  Die Einseitigkeit offenbarungs- und deutungstheoretischer Interpretationen Eine Folgefrage schließt sich an den letzten Abschnitt an: Auch wenn zugegeben wird, dass die religiöse Anschauung das Universum nicht verendlicht, muss sie nicht dennoch, weil sie als Universumsanschauung über eine komplexe Struktur verfügt, eine spezifische Eigenleistung vollbringen, die über eine bloß passive Rezeptivität hinausgeht? Im Zentrum dieser Frage steht die Alternative, ob man bei der religiösen Anschauung entweder deren vom Universumseindruck unabhängige Eigenaktivität betont und sie dementsprechend als autonom verfahrende Interpretationsleistung bzw. deutende Tätigkeit des Subjekts auffasst, oder, ob man ihre Abhängigkeit vom geheimnisvollen Augenblick im menschlichen Bewusstsein hervorhebt und sie demgemäß als ein passives Erlebnis begreift. Schon früh wurde in der Schleiermacherforschung zwischen diesen beiden Alternativen, man kann sagen, zwischen einer deutungstheoretischen und einer offenbarungstheoretischen Auffassung von Schleiermachers religiöser Anschauung, unterschieden. Um Missverständnisse zu vermeiden: Diese Bezeichnungen schließen keineswegs aus, dass auch die deutungstheoretische Position das Offenbarungshandeln des Universums thematisiert und ebenso wenig, dass auch die offenbarungstheoretische Position den Deutungsvorgang des religiösen Subjekts in ihre Konzeption miteinbezieht. Die angegebenen Positionsbezeichnungen beziehen sich vielmehr auf ihren essentiellen Unterschied in Bezug auf die Frage: Ist eine deutende Tätigkeit des religiösen Subjekts konstitutiv zur Entstehung von religiösen Anschauungen oder bringt sich das Universum durch sein Offenbarungshandeln im religiösen Subjekt selbst zur Anschauung? Wer den ersten Teil der Frage bejaht und den zweiten verneint, ist Deutungstheoretiker. Wer hingegen den zweiten Teil bejaht und den ersten verneint, vertritt eine offenbarungstheoretische Position. Bereits Bender stellt das Problem folgendermaßen heraus: Sehen wir uns den religiösen Vorgang des Näheren an, so ist zunächst sein Anfangspunkt, in welchem die ununterbrochen thätige causa movens zugleich gefunden wird, sowie die Art ihrer Einwirkung auf das Subject durchaus Mysterium. Das Unendliche soll den Menschen freilich durch das Medium irgend eines Endlichen, aber doch unmittelbar

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

ergreifen und im Gemüth bewegen. Denn das Anschauen und Fühlen des Unendlichen im Endlichen beruht auf dem Handeln des Universums. […] Insofern bilde sich das Universum selbst seine Bewunderer. […] Aber wie kommt es, daß uns überhaupt Eindrücke über die Objecte, welche sie zunächst verursachen, hinausführen und zur Anschauung des allgemeinen Ganzen erheben? Diese Cardinalfrage haben die Reden nichts weniger als genügend beantwortet. […] Alles in allem genommen bleibt […] der Vorgang, durch welchen uns in einem Endlichen das Unendliche aufgeht, den Reden ein Mysterium, eine räthselhafte, aber unumgängliche Erfahrung, welche auch in der ‚Thatsache‘, daß wir nicht ohne das Ganze sind und also mit einer gewissen Naturnotwendigkeit uns zur Anschauung des Weltganzen erheben müssen, keine ausreichende Erklärung findet.643

In der jüngeren Forschung wird dieselbe Problemlage erneut, z.B. von Dole644 und Ellsiepen645 aufgezeigt, wobei Dole mehr zu der offenbarungstheoretischen Position tendiert, während Ellsiepen eindeutig eine deutungstheoretische Position vertritt. Im Verlauf der Schleiermacherforschung wurden beide Positionen jeweils vehement vertreten und auf diese Weise die Forschung in zwei sich gegenüberstehende Fraktionen gespalten: Auf der einen Seite steht die offenbarungstheoretische Position mit ihrer Betonung der Rezeptivität, Passivität und Unmittelbarkeit des religiösen Anschauungsvorgangs, der sich keinem autonomen Akt des Menschen, sondern vielmehr ausschließlich aufgrund einer Handlung des Universums einstellt. Hierzu gehören z.B. Huber646, Piper,647 643  Bender, W., Schleiermachers Theologie mit ihren philosophischen Grundlagen, Bd. 1, Nördlingen 1876, 164–167 (kursiv, C. K.). 644  Dole, A., Schleiermacher on Religion and Natural Order, Oxford 2010, 82: „The idea of ‚accepting everything individual as a part of the whole and everything limited as a representation of the infinite‘ suggests either a kind of apperceptive habitus that provides a fertile ground for the having of intuitions of the universe, or an awareness to the relatedness of all things that is stimulated by the impact of one or more such intuitions.“ 645  Ellsiepen, Anschauung, 410–415. 646  „Die Anschauung ist nicht Aktion, sondern Reaktion“ (E. Huber, Entwicklung, 23). Vgl. auch E. Hubers Ausführungen, welche, obgleich ungenau, in die richtige Richtung weisen: „Vielleicht würde Schleiermacher zugeben, dass Denkthätigkeit in gewissem Umfang zu den Voraussetzungen der Religion gehört. Aber er würde sagen, die Religion selbst sei etwas anderes. Er müßte eingestehen, daß auch das einzelne konkrete Ding, das den Blick des Religiösen auf sich zieht, müsse durch das Denken hindurchgehen. Aber er würde behaupten: dass nun in diesem so apperzipierten Ding das Universum gefunden wird, das sei nicht das Werk der Reflexion […]. Die Religion schaut im Einzelnen das Ganze intuitiv, ‚unmittelbar‘, in einem einzigen Akt an. Als das ‚Wesentliche‘ an der Religion stellt Schleiermacher diesen letzteren Akt dar; damit ist nicht ausgeschlossen, dass Denkthätigkeit regelmäßig psychologisch damit verbunden ist.“ (A.a.O., 25) 647  Piper, Das religiöse Erlebnis, 65 (kursiv, C. K.): „Das [religiöse, C. K.] Erlebnis tritt ungesucht und unerwartet auf. Man kann wohl zur Not auf Abenteuer Jagd machen, nie aber auf Erlebnisse. Plötzlich und ohne direkten Zusammenhang mit den vorhergehenden seelischen Vorgängen tritt es ein. Es ist nichts Selbstverständliches, das sich aus den bisherigen Inhalten und Gestimmtheiten schon ergibt, sondern etwas Außerordentliches, Neues. […] Es ist endlich, weil es ungewollt auftritt, ein Vorgang, der außer sich keinen besonderen Zweck hat. […] Es ist kein einfacher Ablauf, sondern ein Komplex von Abläufen, es ist kein Refle-

§  8  Entfaltung

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Seifert 648 , Redeker649, K. E. Welker650, Albrecht 651, Crouter652 , Arndt 653, Lönker654, Stoker655, Wenz 656 , Andrejc657 und Adams658. Als besonders prägnant kann für diese Fraktion die Ansicht Seiferts angeführt werden, demzufolge sich gerade in Schleiermachers kritischer Auseinandersetzung mit dem religiösen Gottesbegriff zeigt, dass Schleiermacher sich grundsätzlich verwahrt gegen die „Anwendung von Deute-Kategorien auf die religiöse Wirklichkeit“659. Vielmehr „kämpft er für den Primat dieser Wirklichkeit, die ihm nie zweifelhaft sein kann“.660 Das Problem der offenbarungstheoretischen Position kommt meines Erachtens allerdings darin zum Ausdruck, dass sie in ihrer Betonung des Offenbarungshandelns des Universums, d.h. mit der Hervorhebung der Rezeptivität, Passivität und Unmittelbarkeit des religiösen Anschauungsvorgangs, dazu tendiert, die xionsvorgang, sondern ein unmittelbares Bewußtsein, es ist nichts absichtlich Herbeigeführtes, sondern etwas, das den Menschen überkommt, das ihm widerfährt, begegnet.“ 648  Seifert, P., Zur Deutung der Begriffe „Universum“ und „Religion“ in Schleiermachers Reden, Bonn 1938. 649  Redeker, Friedrich Schleiermacher, 58 f. (kursiv, C. K.): „Das Universum schafft sich selbst seine Bewunderer. […] Das letzte entscheidende Wunder ist das Erfaßtwerden des Menschen durch diese Offenbarung. Es ist ein Vorgang der Begnadung. Schleiermacher beschreibt es ungefähr so, wie die Pietisten ihr Bekehrungserlebnis. Der Mensch kann nichts tun. Anschauung und Gefühl sind nicht Tätigkeiten des menschlichen Geistes, mit denen er sich das Gegebene verfügbar machen will […]. Anschauen heißt […] das Handeln des Überendlichen im Endlichen auf sich wirken lassen. […] Es ist die Erfahrung des Gesetztwerdens der eigenen Existenz in der Berührung mit dem Universum.“ 650  Welker, Beurteilung, 9 (kursiv, C. K.): „Als erstes haben wir also das Moment der transsubjektiven Wirklichkeitsbezogenheit in der phänomenologischen Bewußtseinsanalyse Schleiermachers hervorzuheben. Das religiöse Bewußtsein steht lediglich bei der Methode der psychologischen Analyse im Mittelpunkt, nicht jedoch sachlich, denn das religiöse Erlebnis kommt ohne die ‚Berührungen‘ der sich offenbarenden Gottheit niemals zustande. Das göttliche Handeln ist der wesentliche Ausgangspunkt.“ Ausführlich legt er diesen Standpunkt dar in a.a.O., 41–99. 651  Albrecht, Frömmigkeit, 126 652  Crouter, „Introduction“, xi–xxxix. 653  Arndt, „Kommentar“, 1149. 654  Lönker, „Religiöses Erleben“, 60. 655  Stoker, W., „Religion als Ausdruck des gestimmten Gefühls: Schleiermachers Sicht der religiösen Erfahrung in den ‚Reden‘“, in: N. F. M. Schreurs (Hg.), „Welche unendliche Fülle offenbart sich da …“. Die Wirkungsgeschichte von Schleiermachers „Reden über die Religion“; Papers read at the symposium of the Theological Faculty Tilburg, Tilburg, 15 april 1999, Assen 2003, 79–104, hier: 98. 656  Wenz, G., Sinn und Geschmack fürs Unendliche. F. D. E. Schleiermachers Reden über Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. 3), München 1999, 1–52, hier: 12; 39; 42; 50. 657  Andrejc, G., „Bridging the Gap between Social and Existential-Mystical Interpretations of Schleiermacher’s ‚Feeling‘“, in: Religious Studies 48/3 (2012), 377–401. 658  Adams, R. „Faith and religious knowledge“, in: J. Mariña (Hg.), The Cambridge Companion to Friedrich Schleiermacher, Cambridge 2005, 35–52, hier: 36. 659  Seifert, Zur Deutung, 13. 660 A.a.O., 16.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

aktiven religiösen Tätigkeiten des Subjekts zu unterschlagen. Auf diese Weise verfehlen es Vertreter dieser Position, das Verhältnis zwischen dem Offenbarungshandeln des Universums und dem Deutungshandeln des religiösen Subjekts adäquat zu beschreiben. Die offenbarungstheoretische Position unterlässt es den notwendigen Zusammenhang zwischen einerseits dem Selbsterschließungshandeln des Universums und andererseits dem religiösen Deutungsvorgang im Rahmen dieser Selbsterschließung zu thematisieren, wie ihn Schleiermacher insbesondere in der Frage nach der religiösen Gottesvorstellung in KGA I/2, 245,13–246,8 und nach der Möglichkeitsbedingung dogmatischer Begriffsbildung in KGA I/2, 239,29–242,9 aufgegriffen hat. Der Optimierungsbedarf der offenbarungstheoretischen Position besteht somit darin, aufzuzeigen, auf welche Weise und in welcher Hinsicht es möglich ist, dass der Ursprung der religiösen Anschauung sich allein dem Offenbarungshandeln des Universums verdankt und sich zugleich jede dieser passiv empfangenen religiösen Anschauungen dem aktiv-deutenden Zugriff des Subjekts gegenüber als offen erweist. Inwiefern also das ursprüngliche Offenbarungshandeln des Universums in sich selbst bereits die Möglichkeiten und Grenzen einer sich daran anschließenden Deutung durch das religiöse Subjekt birgt.661 Den Offenbarungstheoretikern entgegengesetzt stehen die Deutungstheoretiker. Sie sind der Ansicht, dass nicht das Offenbarungshandeln des Universums, sondern vielmehr die deutende Tätigkeit des religiösen Subjekts entscheidend ist für die Entstehung religiöser Anschauungen. Diese Ansicht wurde auch bereits früh von O. Ritschl662 aufgestellt und ist dann in der Folge z.B. von Fuchs verdeutlicht worden. Letzterem zufolge ist die religiöse Anschauung etwas, „das erst konstruiert werden muss“ und stellt demgemäß „etwas vom Ich gebildetes“663 dar. Als Anschauung des Unendlichen im Endlichen setzt sie nach Fuchs „einen Habitus des menschlichen Geistes voraus […], der zu ihr befähigt“664. Daher führt Fuchs sein Argument aus: Der durch die Bildung des Gemütes erzeugte Habitus muss also im Menschen vorhanden sein, wenn religiöse Anschauung entstehen soll […]. So oft echte religiöse Anschau661 

Dies erfolgt in der vorliegenden Arbeit in §  8.2.2. Vgl. auch die Kritik von Ellsiepen, die in eine ähnliche Richtung weist. Mit Blick auf die offenbarungstheoretische Position hält er fest: „Der Wert, den alle genannten Autoren auf das Augenblickhafte des religiösen Erlebens legen, ist darin begründet, daß sie diese außerordentliche Erfahrung nur als die empirische intermittierend annehmen. Eine eigentliche Beziehung von religiöser und empirischer Erfahrung besteht nach dieser Interpretation im Grunde nicht.“ (Ellsiepen, Anschauug, 411) 662  Vgl. O. Ritschl, Schleiermachers Stellung, 46–59. Nach O. Ritschl muss die religiöse Anschauung ein vom Subjekt selbst initiierter Akt sein, wodurch seines Erachtens letztlich in der Erstauflage der Reden „die Religion selbst […] in das Gebiet des vermittelten Denkens verwiesen [wird, C. K.], indem ihr als Objekt das Universum gegeben wird.“ (A.a.O., 52) 663  Fuchs, Schleiermachers Religionsbegriff, 39. 664  A.a.O., 41.

§  8  Entfaltung

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ung entsteht, ist sie eine auf Grund dieses Habitus vom Menschen selbständig aus seinem Inneren heraus gebildete.665

Grundsätzlich versteht sich die deutungstheoretische Position als Optimierung des Schleiermacherschen Ansatzes in den Reden. Sie ist der Ansicht, dass Schleiermachers Konzeption der religiösen Anschauung in den Reden defizitär ist und allein durch die Deutungstheorie gerettet werden kann.666 Damit nimmt die Deutungstheorie von Beginn an eine kritische Stellung zu Schleiermachers eigener Beschreibung der religiösen Anschauung, wie er sie in den Reden präsentiert hat, ein. Die jüngere Forschung hat diese frühen deutungstheoretischen Hinweise aufgenommen und, meist unter Rückbezug auf U. Barth,667 zu einer eigenständigen Konzeption der religiösen Deutung in Schleiermachers Reden weiter ausgearbeitet. Hier sind bei den neueren Forschungsarbeiten insbesondere die Beiträge von Stolzenberg668 , Grove669, Schröder670, Glatz 671 und Ellsiepen672 hervorzuheben.673 Nachdem bereits gezeigt wurde, in welche Richtung die offenbarungstheoretische Position optimiert werden muss, soll im Folgenden die deutungstheoretische Position ausführlich dargestellt und kritisch beurteilt werden. Ihr Irrtum wiegt dabei meines Erachtens schwerwiegender als jener der offenbarungstheoretischen Position. In der Deutungstheorie werden nicht nur einzelne Aspekte von Schleiermachers Konzeption der religiösen Anschauung unterschlagen. Vielmehr wird die auschlaggebende Pointe seiner religiöser An665 

A.a.O., 37 (kursiv, C. K.). z.B. zentral Grove, Deutungen, 343–349; Glatz, Religion und Frömmigkeit, 188. Besonders prägnant stellt Grove die allen Deutungstheoretikern gemeinsame kritische Einstellung zu Schleiermachers Beschreibung der religiösen Anschauung in den Reden dar, indem er mit Blick auf dieselbe konstatiert: „Es zeigt sich an dieser Stelle sicher ein Reflexionsdefizit bei Schleiermacher, es kann aber auf Entwicklungsmöglichkeiten in Anknüpfung an bei ihm tatsächlich vorkommende Motive aufmerksam gemacht werden. Die Kritik kann also innen ansetzen und zwar an einem ganz zentralen Punkt: Die implizite und von Schleier­ macher nicht klar zugegebene Metaphysik taucht im Zentrum der Religionstheorie auf – im Begriff der Religion als Anschauung des Universums.“ (Grove, Deutungen, 344) 667  Einschlägig sind hier vor allem die beiden Aufsätze: Barth, U., „Was ist Religion?“ und Ders., „Theoriedimensionen des Religionsbegriffs“, jeweils in: ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 3–28; 29–88 und ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 259–389. 668  Stolzenberg, „Weltinterpretationen“, 58–78. 669  Grove, Deutungen, 343–349. 670  Ellsiepen, Anschauung, 369–381. 671  Schröder, „‚Das ‚unendliche Chaos‘“, 585–608. 672  Glatz, Religion und Frömmigkeit, 188. 673  Eine Extremposition bildet in diesem Bereich der Ansatz von Brandt, R., The Philosophy of Schleiermacher: The Developement of his Theory of Scientific and Religious Knowledge, New York 2.  Aufl. 1968, insbesondere: 101–117. Brandts sog. „cognitivist perception model“ ist selbst innerhalb der Deutungstheoretiker umstritten. Vgl. dazu etwa Grove, Deutungen, 295. 666  Vgl.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

schauungskonzeption grundlegend missverstanden. Dies soll im Folgenden, im Anschluss an eine Darstellung der Grundzüge der Deutungstheorie selbst, detailliert aufgezeigt werden. 2.1.3.1.  Die Grundzüge der Deutungstheorie Wie bereits gezeigt, bildet den Ausgangspunkt der deutungstheoretischen Position in Bezug auf Schleiermachers Konzeption der religiösen Anschauung, dass in ihr die Frage, ob die religiöse Anschauung sich dem Offenbarungshandeln des Universums verdankt und sich folglich beim menschlichen Subjekt rein passiv, rezeptiv und unmittelbar einstellt, verneint wird. Stattdessen wird daran fest­ gehalten, dass es sich bei der religiösen Anschauung des Unendlichen im End­ lichen um einen, wie es Glatz formuliert, „voraussetzungsreiche[n] Interpretationsakt“674, d.h. um eine aktive Deutungsleistung des religiösen Subjekts handelt. Alle deutungstheoretischen Interpretationen sind sich in Bezug auf Schleiermachers Beschreibung der religiösen Anschauungen in drei Zentralmomenten einig, welche dementsprechend die allgemeinen Grundlagen der Deutungs­ theorie bilden: Prämisse 1: Schleiermachers Begriff der religiösen Anschauung darf nicht allein passivisch aufgefasst werden, sondern beinhaltet wesentlich ein Moment der Spontaneität. Exemplarisch für diese Ansicht kann Groves Aussage angeführt werden: „Jedenfalls ist bei Schleiermacher klar, daß die Vorstellung von einem Aufnehmen des Gegenstands durch das anschauende Subjekt ein Moment in der Definition des Anschauens ist, und daß also auch er schon diesem ein synthetisch-spontanes Moment zuschreibt.“675 Noch stärker betont Schröder: „Die Rezeptivität und Passivität des religiösen Bewußtseins ist […] nicht zu verwechseln mit naiver Reflexionsvergessenheit, sondern selber eine Deutungskategorie der Reli­ gion. Der religiöse Mensch deutet sich als ein im Verhältnis zum Universum rezeptiv Empfangender.“676 Allgemein gilt also für die Deutungstheorie, dass der religiöse Anschauungsakt „nicht reine Passivität ist, sondern Spontaneität mit einschließt“.677 Die Bekräftigung dieser Feststellung erfolgt im deutungstheoretischen Ansatz dabei stets unter Verweis auf vier Textaussagen der Reden, die im Folgenden, mit Nummerierungen versehen und in den zentralen Passagen kursiv gesetzt, zitiert werden. Diese vier Stellen bilden quasi das textliche Rückgrat der Deutungstheorie. Auf sie wird später in der kritischen Beurteilung der deutungstheoretischen Position Bezug genommen: 674 

Glatz, Religion und Frömmigkeit, 179. Grove, Deutungen, 292. Vgl. auch Dierken, „Religion ohne Gott“, 674. 676  Schröder, „Das ‚unendliche Chaos‘“, 592. 677  Grove, Deutungen, 294. 675 

§  8  Entfaltung

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(1)  Alles Anschauen gehet aus von einem Einfluß des Angeschauten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des ersteren, welches dann von dem letzteren gemäß seiner Natur aufgenommen, zusammengefasst und begriffen wird.678 (2)  […] alles Endliche als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion.679 (3)  In der Religion wird das Universum angeschaut, es wird gesetzt als ursprünglich handelnd auf den Menschen.680 (4) Aber was ist Liebe und Widerstreben? was ist Individualität und Einheit? Diese Begriffe, wodurch Euch die Natur erst im eigentlichen Sinne Anschauung der Welt wird, habt Ihr sie aus der Natur? Stammen sie nicht ursprünglich aus dem Inneren des Gemüths her, und sind erst von da auf jenes gedeutet? 681

Prämisse 2:  Weil der Gegenstand der religiösen Anschauung nicht nur ein endlicher Sachverhalt, sondern das Unendliche im Endlichen ist, muss die religiöse Anschauung ihrem Wesen nach komplexer sein als die sinnliche Anschauung, weshalb auch die bereits bei ihr herausgestellte Spontaneität als produktive Deutung aufzufassen ist. Deutlich stellt dies Grove heraus: Das religiöse Anschauen hat eine komplexere Struktur als jenes [das sinnliche Anschauen, C. K.] […]. In der Religion ist die Anschauung nicht einfach Anschauung, sondern Anschauung von etwas als etwas, nämlich Anschauung von einzelnem als Darstellung des Universums. Daß die religiöse Anschauung diese Als-Struktur haben muß, ist darin begründet, daß es in ihr um das Unendliche geht. Die Struktur schließt ein, daß die Spontaneität des Anschauens hier den Charakter der Deutung hat.682

Zentral für die deutungstheoretische Position ist somit die Behauptung, dass zwischen der sinnlichen und der religiösen Anschauung ein struktureller Unterschied besteht. Das Proprium der religiösen Anschauung besteht demnach darin, dass sie nicht nur wie die sinnliche Anschauung eine einfache Anschauung von Etwas ist, sondern vielmehr über die komplexe Struktur verfügt, Anschauung von etwas als etwas zu sein.683 Hierdurch sei die religiöse Anschauung im Unterschied zur sinnlichen Anschauung als ein geistiger Akt qualifiziert, weshalb sie keine einfache Rezeptivität, sondern eine aktive Deutungsleistung darstelle.684 678  KGA I/2, 213,38 ff. Vgl. bei Stolzenberg, „Weltinterpretationen“, 70; Grove, Deutungen, 290–292; Glatz, Religion und Frömmigkeit, 188. 679  KGA I/2, 214,14 f. Vgl. bei Stolzenberg, „Weltinterpretationen“, 70; Grove, Deutungen, 292–294; Glatz, Religion und Frömmigkeit, 187. 680  KGA I/2, 245,17 f. Vgl. bei Stolzenberg, „Weltinterpretationen“, 69 f.; Glatz, Religion und Frömmigkeit, 185. 681 KGA I/2, 227,25–29. Vgl. bei Stolzenberg, „Weltinterpretationen“, 72; Grove, Deutungen, 295 f. 682  Grove, Deutungen, 295. 683 Vgl. Stolzenberg, „Weltinterpretationen“, 70; Grove, Deutungen, 295; 344–349; Glatz, Religion und Frömmigkeit, 184–186; Ellsiepen, Anschauung, 373–376. 684  Grove, Deutungen, 296: „Das religiöse Anschauen ist geistiger Art und wird als solches indirekt vom sinnliche Anschauen abgegrenzt.“ Vgl. auch Ellsiepen, Anschauung, 375 und Schröder, „Das ‚unendliche Chaos‘“, 591. Prägnant hält Dierken hierzu fest: „[…] das

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Deutlich stellt dies Stolzenberg heraus, demzufolge der „eigentliche Gegenstand“ der religiösen Anschauung „nicht etwas ist, das in der empirischen Erfahrung von einzelnen Gegenständen in Raum und Zeit gegeben wäre; es ist vielmehr etwas, das durch und im Akt des Anschauens hervorgebracht oder wie Schleiermacher sich auch ausdrückt, ‚gesetzt‘ wird.“685 Die Deutungstheorie ist der Ansicht, dass mittels der religiösen Anschauung vom menschlichen Subjekt etwas produziert wird, das nicht in dem sinnlichen Eindruck eines endlichen Gegenstandes gegeben sein kann, nämlich diejenige Vorstellung, durch die ein Endliches als Darstellung des Unendlichen angesehen wird.686 Dieser produktive Vorgang der religiösen Anschauung wird von Grove mit Bezug auf Heideggers frühe Hermeneutik und unter Hinweis auf Schlegels An­ sätze zu einer „natürlichen Metaphysik“687 näher aufgeschlüsselt: Etwas(1) ist das, was verstanden und ausgelegt wird. Es wird gedeutet und zwar von Etwas(2) her. Auf Schleiermacher appliziert: Das Endliche wird vom Unendlichen aus gedeutet. Das epistemisch Interessante und Produktive ist also Etwas(2) oder das apophantische ‚als etwas‘.688

Folglich gilt nach Grove: „Um das Endliche als Darstellung des Unendlichen anzuschauen und also jenes von diesem her auslegen zu können, muß das religiöse Subjekt irgendein Verständnis des Unendlichen und Ganzen haben.“689 Anders formuliert: „Das religiöse Anschauen setzt also ein gewisses Verständnis des Unendlichen beim Subjekt voraus.“690 Dieses, dem religiösen Bewusstsein selbst vorausliegende Vorverständnis des Unendlichen muss zumindest zwei Aufgaben erfüllen, die in der Deutungs­ theorie selber nicht immer klar aufgezeigt werden: durch Reflexionsbegriffe wie ‚Ganzes‘ und ‚Unendliches‘ bezeichnete Universum wird selbst von Reflexionsstrukturen tangiert. […] In traditioneller religiöser Sprache werden sie durch die von Selbstverhältnissen her konzipierten Begriffe Gottes und der Welt repräsentiert. Beide bedürfen einander zur Profilierung des je eigenen Charakters. Und beide sind deshalb auch keine unmittelbaren Gegenstände von Anschauung und Gefühl, sondern gedankliche Konstrukte. Ihre Funktion ist es, den Rahmen für die Deutung des durch Anschauung und Gefühl ausgefüllten religiösen Erlebens abzugeben.“ (Dierken, „Religion ohne Gott“, 679) 685  Stolzenberg, „Weltinterpretationen“, 70. So auch bei Schröder, „Das ‚unendliche Chaos‘“, 592: „In der Religion wird immer etwas als etwas angeschaut. An der konstitutiven Als-Struktur des religiösen Bewußtseins wird deutlich, daß es bei der religiösen Anschauung letztlich um die subjektive Konstitution von Sinn geht.“ Vgl. auch Ellsiepen, Anschauung, 376. 686  Vgl. hierzu Ellsiepen, Anschauung, 375 f. 687  Vgl. Grove bezieht sich hier vornehmlich auf Schlegel, Philosophische Lehrjahre 1796– 1806, KFSA XVIII, 265, und auf den Aufsatz von Beisler, „Friedrich Schlegels Begriff der natürlichen Philosophie“, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 7 (1997), 73–94. Siehe dazu im Detail: Grove, Deutungen, 343–349. 688  Grove, Deutungen, 345. 689  A.a.O., 345. 690  A.a.O., 346.

§  8  Entfaltung

273

Zum einen muss es einen infiniten Regress der Deutungen verhindern. Wenn das Proprium der religiösen Anschauung nach der Deutungstheorie darin besteht, das Endliche von einem Vorverständnis des Unendlichen aus zu deuten, was garantiert dann eigentlich, dass nicht auch dieses Vorverständnis des Unendlichen selbst wiederum von einer anderen Instanz aus gedeutet werden muss, usf., in einem unendlichen Deutungsregress. Dass die religiöse Anschauung eine Deutungsleistung vollzieht, erklärt also noch nicht, weshalb diese Deutungsleistung bei einem bestimmten Vorverständnis des Unendlichen ihren festen Ausgangspunkt besitzt. Dieses Regressproblem, welches allerdings von den Deutungstheoretikern selbst nicht eigens thematisiert wird, kann nur durch einen Deutungsstopper aufgehalten werden, der folglich ein nicht weiter durch Deutungen zu deutendes Fundament aller religiösen Deutungsleistungen bildet. Somit muss das in diesem Zusammenhang gesuchte Vorverständnis des Unendlichen als Deutungsstopper fungieren können und dementsprechend eine deutungs­ ermöglichende und selbst nicht weiter deutbare Instanz darstellen. Zum anderen muss dieses gesuchte Vorverständnis im Gebiet der Religion liegen. Dementsprechend darf es sich um kein Vorverständnis des Unendlichen aus dem Gebiet der Moral oder Metaphysik handeln, wodurch die Religion gerade entgegen Schleiermachers Absicht von metaphysischen oder moralischen Einsichten abhängig gemacht würde. Es muss also gezeigt werden, dass dieses Vorverständnis des Unendlichen sich spezifisch von metaphysischen und moralischen Ansichten unterscheidet. Bei der Bewältigung dieser doppelten Aufgabe schlagen die Deutungstheoretiker unterschiedliche Wege ein: Unzureichend sind die Lösungshinweise von Stolzenberg und Schröder. Zwar stellen sie die klare Differenz von religiöser Anschauung zur Metaphysik und Moral in den Reden heraus und weisen darauf hin, dass die religiöse Deutungsleistung im Gebiet der Religion zu verbleiben hat.691 Allerdings konstatieren sie bloß, dass die religiöse Anschauung faktisch so verfährt, dass durch sie, etwa nach Stolzenberg, „ein spezifischer Einheitssinn von Einzelnem und Ganzem gesetzt“692 wird bzw. nach Schröder die Erzeugung einer „unendlichen Sinnschicht an allem Endlichen“693 hervorgebracht wird. Sie thematisieren aber nicht den Grund, weshalb und auf welche Weise es der religiösen Anschauung überhaupt möglich ist, diese Deutungsleistung zu vollziehen. Sie unterlassen es einen religiösen Deutungsstopper aufzuzeigen.

691  Stolzenberg, „Weltinterpretationen“, 71; Schröder, „Das ‚unendliche Chaos‘“, 592–594. 692  Stolzenberg, „Weltinterpretationen“, 70. 693  Schröder, „Das ‚unendliche Chaos‘“, 592.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Sachlich differenzierter sind hingegen die Deutungskonzeptionen von Grove, Glatz und Ellsiepen, wobei die Konzeption von Glatz sachlich weitgehend mit derjenigen Groves übereinstimmt.694 Grove und Ellsiepen zeigen einerseits die Differenz der religiösen Anschauung von metaphysischem Wissen und moralischen Maximen auf695 und thematisieren andererseits auch diejenige Instanz, die als religiöser Deutungsstopper ihrer Ansicht nach fungieren kann. Nach Grove stellt in Schleiermachers Religionskonzeption eine sog. „implizite Metaphysik“696 einen derartigen Deutungsstopper dar. Dabei versteht er unter dieser spezifischen Sorte von Metaphysik „ein Denken, das der eigentlichen Theorie vorausgeht, von dieser aber aufgenommen und entfaltet werden kann.“697 Der zentrale Inhalt dieser impliziten Metaphysik ist Grove zufolge die Idee von einer alles Endliche umfassenden Ganzheit. Er betont dementsprechend, dass „die religiöse Anschauung ohne eine implizite Idee vom Ganzen und also ohne eine – von Schleiermacher nicht zu erkennen gegebene – wenigstens elementare Art der Metaphysik nicht verständlich ist.“698 In dieser „vortheoretische[n], implizite[n] Metaphysik“699 bzw. „Deutungsmetaphysik“700 geht es also um eine „Idee des Unendlichen“701. Diese implizite Metaphysik stellt nach Grove den Deutungsstopper dar. Später hat Grove diese Ansicht von einer impliziten Metaphysik, einen frühen Hinweis Ottos aufgreifend,702 mit einem Argument von den „important structural correspondences“703 zwischen Schleiermachers religiösem Anschauungskonzept und Kants Symboltheorie aus dessen Kritik der Urteilskraft theoretisch ausgebaut. Nach Ellsiepen fungieren im Unterschied zu Grove sog. religiöse „Deuteschemata“ als Deutungsstopper.704 Deuteschemata sind Ellsiepen zufolge „reli694  Das Argument von Glatz, dass in den Reden statt von einer impliziten Metaphysik, wie Grove es annimmt, besser von einer Metaphysik, die nicht eigens expliziert wird, zu sprechen, scheint mir in diesem Zusammenhang ein marginaler Dissens zu sein (Glatz, Religion und Frömmigkeit, 216). 695  Grove, Deutungen, 297–299; Glatz, Religion und Frömmigkeit, 206–209. 696  Grove, Deutungen, 343–349. 697  Grove, Deutungen, 342. 698  A.a.O., 355. 699  A.a.O., 256; 343–349. 700  A.a.O., 349. 701  A.a.O., 348. 702  Siehe hierzu Otto, R., Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1963, ND 1997, 177: „Das Vermögen, das Schleier­ macher hier voraussetzt, ist offenbar verwandt der ‚Urteilskraft‘, die Kant in seiner dritten Kritik analysiert.“ 703  Grove, P., „Symbolism in Schleiermacher’s Theory of Religion“, in: B. W. Sockness/ W. Gräb (eds.), Schleiermacher, the Study of Religion and the Future of Theology. A Transatlantic Dialogue, Berlin 2010, 109–120, hier: 113. 704  Ellsiepen, Anschauung, 420; 380.

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giöse Idee[n]“705, mit deren Hilfe ein religiöses Subjekt aus sinnlichen Vorstellungen Darstellungen des Unendlichen konstruiert. Nach Ellsiepen steht der religiösen Anschauung mit dem Universumsbegriff ein solches Deutungsschema zur Verfügung: „Der Universumsbegriff vertritt in Schleiermachers Religionskonzeption somit die Stelle eines Deutungsschemas. Solche Schemata sind für den Vollzug von Religion konstitutiv.“706 Präzisierend hält er in Bezug auf diese Deutungsschemata fest: […] religiöse Deutungsakte sind solche, die sich eines formal invarianten und als solches in allen religiösen Akten anzutreffenden Deutungsschemas bedienen. […] Noch vor aller inhaltlichen Bestimmheit faßt Schleiermacher die allgemeine Form religiöser Deutung darin, einzelne Erfahrungen als partizipierend an einem größeren strukturell zusammenhängenden Ganzen und als Manifestation letzter Einheit zu verstehen. Der inhaltliche Aspekt religiösen Verstehens ergibt sich dann zum einen aus dem konkret-­ erfahrenen Erlebnis, das allererst zur Deutung ansteht, und zum anderen aus der Spezifizierung der Deutungsschemata selbst.707

Das Besondere an Ellsiepens Konzeption gegenüber Grove besteht darin, dass ihm zufolge bei Schleiermacher nicht die Idee des Ganzen im Vordergrund steht, sondern vielmehr das Deutungsschema der Individualität: Ausgangspunkt religiöser Endlichkeitsdeutung ist jedoch nicht die Idee der Totalität, sondern die der Individualität. Individualität ist für Schleiermacher eine religiöse Idee. Das Einzelne in seiner Individualität läßt sich im Grunde nicht empirisch beobachten. Individualität ist das Produkt einer Deutung, in welcher wir endliche Vorstellungen auf eine Unendlichkeitsdimension hin verstehen. Denn nur unter der Idee unendlicher, bestimmter Bezüge ist Endliches als individuell verstanden. Schleiermacher entwickelt seine Theorie der Religion als Tiefenhermeneutik des Endlichen als eines Individuellen. Das Individuelle ist nicht an diesen oder jenen Merkmalen festzumachen, sondern ist im letzten und eigentlichen Sinn eine religiöse Sinndeutung.708

Nach Ellsiepen ist es somit nicht die Idee des Unendlichen selbst, von der ausgehend die religiöse Anschauung direkt, wie bei Grove, ihre Deutung vornimmt, sondern diese Idee kommt erst vermittels der Idee der Individualität, d.h. indirekt zum Zuge.709 Anders als bei Grove kommt laut Ellsiepen das Deutungsschema des Universums erst nachträglich und ausschließlich im Rahmen des Deutungsschemas der Individualität zum Tragen. Mit Ellsiepens eigenen Worten: „Mittels der Idee der Individualität, die so gleichsam als religiöses Schema fungiert, werden die endlichen Bezüge im Gegenstand sinnlicher An-

705 Ebd.

706 Ebd. 707 

A.a.O., 420 f. Ellsiepen, Anschauung, 420. Vgl. auch a.a.O., 379–381. 709  A.a.O., 379: „Die Universumsidee wird also nur insofern veranschaulicht als das endliche Implikat derselben veranschaulicht wird.“ 708 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

schauung in der religiösen Anschauung auf eine Unendlichkeitsdimension hin deutend entschränkt.“710 Trotz dieser innertheoretischen Differenzen in der Näherbestimmung der religiösen Deutungstheorie und auch unabhängig von ihrem jeweils unterschiedlichen Komplexitätsgrad und ihrer geistesgeschichtlich variierenden Verortung,711 kann in Bezug auf die Deutungstheorie im Allgemeinen festgehalten werden, dass ihr essentielles Anliegen darin besteht, ein deutungsermög­ lichendes und selbst nicht mehr deutbares Fundament aufzuzeigen, von dem ausgehend es der religiösen Anschauung möglich ist, mittels eigenständiger Konstruktionen, Vorstellungen der sinnlichen Anschauung zu religiösen Vorstellungen zu machen. Oder wie Ellsiepen es festhält: Schleiermachers religiöse Anschauung ist ihrer mentalen Funktion nach […] eine indirekte Realisierung einer Idee als einer solchen nur gedachten Vorstellung, welche sich einer direkten Veranschaulichung entzieht.712

Im Anschluss an diese aufgezeigten Interpretationen zeigt sich, dass sich das Verständnis der religiösen Anschauung in der Deutungstheorie gegenüber der offenbarungstheoretischen Position geradezu umkehrt. Im Anschluss an die Deutungstheorie ist die religiöse Anschauung selbst nicht rezeptiv, sondern vielmehr aktiv-produktive Konstruktion von Vorstellungen. Ihre Rezeptivität erlangt sie vielmehr dieser Position zufolge ausschließlich durch ihr notwendiges Zusammensein mit der sinnlichen Anschauung. Anders formuliert: Die in der offenbarungstheoretischen Position herausgestellte Rezeptivität und Passivität der religiösen Anschauung ist in der Deutungstheorie von einem Wesensmoment zu einem Begleitumstand degradiert.713 Prämisse 3:  Obwohl es sich in der religiösen Anschauung um einen produktiven Deutungsvorgang handelt, der apophantischen Charakter besitzt, kommt ihr dennoch der Status eines vorprädikativen und vordiskursiven Aktes zu. 710  A.a.O.,

380. Unterschied zu Grove zeigt Ellsiepen nicht nur die Gemeinsamkeiten zwischen Schleiermachers Konzeption der religiösen Anschauung und Kants Symbolkonzeption auf, sondern darüberhinaus arbeitet er auch die Differenzen zwischen beiden heraus. Vgl. dazu Ellsiepen, Anschauung, 376–381. Sein zentrales Argument lautet hierbei: „Ich sehe für den Schleiermacher der ‚Reden‘ keinen Hinweis, daß er die Veranschaulichung der Universumsidee wie Kant in einen subjektivitätstheoretischen Bezugsrahmen stellen würde. Die Indirektheit wird nicht an einer Analogie zu innersubjektiven Tätigkeitsrelationen des vorstellenden Subjektes festgemacht, sondern […] sie bezieht sich ohne eine analogische Brechung auf den Gehalt der in Beziehung gebrachten Vorstellungen selbst.“ (A.a.O., 379) Nach Ellsiepen hat Kants „[s]ymbolische Darstellung […] den Beziehungsgrund für die aufgestellte Analogie ausschließlich im Subjekt selbst.“ (A.a.O., 378) Bei Schleiermacher ist dies ihm zufolge anders, denn dieser „verbleibt […] in seiner Theorie der religiösen Anschauung bei deren Bezug auf konkrete Selbst- und Welterfahrung.“ (A.a.O., 381) 712  A.a.O., 378 (kursiv, C. K.). 713  Vgl. dazu Grove, Deutungen, 299 f.; Ellsiepen, Anschauung, 373–376. 711  Im

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Es geht in diesem Zusammenhang um das Problem, dass die religiöse Anschauung eine Deutung sein soll, es sich bei ihr aber, aufgrund von Schleier­ machers Abgrenzung der Religion gegenüber jeder Art von Denkvollzügen, nicht um ein diskursives Urteil handeln darf. Menschliches Denken vollzieht sich in Urteilen, religiöses Deuten jedoch operiert, nach Ansicht der religiösen Deutungstheoretiker, in einem vorprädikativen und vordiskursiven Bereich. Grove hält hierzu fest: „Die in der religiösen Anschauung enthaltene Deutung ist […] keine begriffliche im Sinne des Verstandes.“714 Dass diese Ansicht nicht im Konflikt steht mit seiner Theorie der impliziten Metaphysik als sog. Deutungsstopper macht Grove auch deutlich: „Die in der religiösen Anschauung enthaltene Deutung und das vorausgesetzte Verständnis des Unendlichen sind vorprädikativ“.715 Bei der impliziten Metaphysik bzw. den religiösen Deutungsschemata handelt es sich um keine aktiven Urteilsleistungen, die notwendigerweise im Medium von Sprache oder Begriffen operieren, sondern die aktive religiöse Deutung vollzieht sich eher im Rahmen eines urteilslosen Interpretierens. Aufgrund dieses dritten Merkmals unterscheidet sich die religiöse Deutungstheorie signifikant in ihrer Verwendung des Ausdrucks „Deutung“ von der allgemein gängigen wissenschaftlichen Verwendung dieses Ausdrucks. Anders hält z.B. in seinem Wörterbuch der philosophischen Begriffe Hoffmeister fest, das es sich im allgemeinen wissenschaftlichen Diskurs bei der „Deutung“ um eine „aktive Urteilsleistung“ handelt.716 Selbst eine sicherlich sehr weit gefasste und von Gadamer favorisierte Verwendung des Ausdrucks „Deutung“, stimmt nicht mit der soeben beschriebenen religionstheoretischen Verwendungsweise überein. Zwar hält auch Gadamer an einem einschlägigen Unterschied zwischen Deuten und Denken fest: „Was ist Deuten? Sicher ist es nicht Erklären und Begreifen, eher schon Verstehen und Auslegen.“717 Aber auch bei ihm ist Deutung ein Akt des Subjekts, der sich als hermeneutischer Vorgang keineswegs vorprädikativ vollzieht: „Was begründet die Nachbarschaft von Dichten und Deuten? Es liegt auf der Hand, das beiden etwas gemeinsam ist. Beides vollzieht sich im Medium der Sprache.“718 Man kann festhalten: Der im Falle der religiösen Anschauung verwendete religiöse Deutungsbegriff, der einerseits zwar eine geistig-produktive Interpretationsleistung vollbringt, aber andererseits kein prädikatives Urteil darstellen soll, nimmt einen wissenschaftstheoretischen Sonderstatus ein, indem er den 714  A.a.O.,

299. Grove, Deutungen, 349. 716  Hoffmeister, J., Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 2.  Aufl. 1955. 717  Gadamer, „Dichten und Deuten“, in: ders., Kleine Schriften. II. Interpretationen, Tübin­ gen 1967, 9–15, hier: 10. 718 Ebd. 715 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Deutungstheoretikern der Schleiermacherforschung zufolge so etwas wie ein urteilsloses Interpretieren darstellt. Nach dieser kurzen Beschreibung der grundlegenden Prämissen der religiösen Deutungstheorie lässt sich zusammenfassen, dass nach Ansicht ihrer Vertreter mit Hilfe der Deutungstheorie zwei Probleme der Schleiermacherschen Religionstheorie umgangen werden sollen: Zum einen soll Schleiermachers Intention gewahrt werden, einen charakteristischen Unterschied zwischen einerseits religiösen Anschauungen und andererseits prädikativem Denken und voluntativem Handeln aufzuzeigen. Zum anderen soll sichergestellt werden, dass die religiöse Anschauung den nöti­ gen Komplexitätsgrad besitzt, um tatsächlich des Unendlichen ansichtig zu werden. Entscheidend hierbei ist, dass die Deutungstheoretiker ihre eigene Theorie für eine auf Schleiermacherschen Grundmotiven auf bauende Optimierung der Religionstheorie der Reden ansieht. Eine zentrale Frage wird im Rahmen der Deutungstheorie außer Acht gelassen: Braucht Schleiermachers Konzeption der religiösen Anschauung überhaupt diese Optimierung? Die folgende Fundamentalkritik an der deutungstheoretischen Interpretation von Schleiermachers Religionsbegriff bewegt sich daher im Horizont der allgemeinen These: Die religiöse Deutungstheorie stellt in Bezug auf Schleiermachers eigene religiöse Anschauungskonzeption keine interpretatorische Problemlösung, sondern selbst ein fundamentales Interpreta­ tionsproblem dar. 2.1.3.2.  Die drei essentiellen Irrtümer der religiösen Deutungstheorie Kritikpunkt 1:  Die religiöse Deutungstheorie basiert auf einer Fehlinterpreta­ tion des Status’ und der Funktion der religiösen Anschauung, weil sie die genealogische und sachlogische Abhängigkeit der religiösen Anschauung von ihrem Grund übersieht: dem geheimnisvollen religiösen Augenblick im menschlichen Bewusstseinsleben.719 Die deutungstheoretische Interpretation hält zwar fest, dass die religiöse Anschauung keine absolute Spontaneität darstellt, sondern sich, wie alle Bewusstseinstätigkeiten nach Schleiermacher, aus einer Mischung von Rezeptivität und Spontaneität zusammensetzt. Charakteristisch für sie ist, dass in ihr entscheidendes Gewicht darauf gelegt wird, die Momente der Spontaneität der religiösen Anschauung nicht zu unterschlagen. Reicht das aber aus? Müsste die Deutungstheorie nicht vielmehr aufzeigen, dass die Spontaneität das dominante Moment in der religiösen Anschauung darstellt? Ihr rezeptives Moment erlangt die religiöse Anschauung nach Annahme der Deutungstheorie allein aufgrund ihres Zusammenseins mit der sinnlichen Anschauung. Letztere liefert quasi den sinnlichen Stoff, welcher dann von den 719 

Vgl. dazu exemplarisch KGA I/2, 211,35 f.; 212,12–15; 214,2–10.

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Deuteschemata bzw. der impliziten Metaphysik des menschlichen Subjekts in eine religiöse Form gebracht wird. Die entscheidende Leistung, dass überhaupt ein religiöses Bewusstsein entsteht, vollbringt nach der Deutungstheorie also die religiöse Anschauung. Ohne die produktive Deutungsleistung der religiösen Anschauung gäbe es nach deutungstheoretischer Ansicht für den Menschen nur die Möglichkeit, einfache Eindrücke der endlichen Dinge wahrzunehmen. Religiöse Anschauung muss etwas zum Eindruck hinzufügen, eben ein metaphysisches Vorwissen bzw. ein Deutungsschema, damit aus dem endlichen Eindruck eine Darstellung des Unendlichen entsteht. Ellsiepen macht dies deutlich: Wir haben also zweierlei in der religiösen Anschauung: eine sinnlich vermittelte Vorstellung einerseits und deren Vorstellung als Darstellung des Universums andererseits. Das bedeutet, daß die religiöse Anschauung über die sinnliche Gegebenheit hinausweist. Sie sieht diese als etwas und bringt damit die sinnliche Vorstellung in den Zusammenhang einer anderen Vorstellung, die mit der sinnlichen Vorstellung nicht von sich aus bereits assoziiert war.720

Wenn aber bei der offenbarungstheoretischen Position unklar blieb, welche Aktivität eigentlich dem religiösen Subjekt in seinem Anschauungsvorgang zukommt, so bleibt bei der religiösen Deutungstheorie letztlich unklar, welche Bedeutung eigentlich für das Universum im Anschauungsvorgang übrig bleibt: Da ihm die Rolle als Grund des religiösen Anschauungsvorgangs abgenommen ist, denn dieser Part wird von dem aktiv deutenden Subjekt übernommen, kann im Anschluss an die Deutungstheorie nicht mehr die Rede davon sein, dass das „Universum […] sich selbst seine Betrachter und Bewunderer [bildet]“721. Und da ihm zugleich die Rolle als Gegenstand des religiösen Anschauungs­ geschehens abgenommen wurde, denn diesen Part übernehmen die religiösen Deuteschemata des Subjekts, kann auch nicht mehr die Rede davon sein, dass es die objektiv-realen „Handlungen des Universums [sind], durch welche es sich […] im Endlichen offenbart“.722 Zugespitzt ausgedrückt: Indem in der Deutungstheorie der religiösen Anschauung zwangsläufig eine dominante Spontaneität zugeschrieben wird, wird von ihr das Universum konsequenterweise zu einem, vom religiösen Subjekt gesetzten, mentalen Sinnzusammenhang depotenziert. 723 Mit Bezug auf diesen Sachverhalt hält Grove klar fest, dass Schleiermacher selbst diese Depontenzierung nicht ausführt: „Ebensowenig wie die dem religiö­ sen Bewußtsein immanente Deutungsstruktur werden deren Implikationen in den Reden ausdrücklich erwähnt.“724 720 

Ellsiepen, Anschauung, 375 (kursiv, C. K.). KGA I/2, 251 (kursiv, C. K.). 722  KGA I/2, 218 (kursiv, C. K.). 723 Vgl. Schröder, „Das ‚unendliche Chaos‘“, 592. 724  Grove, Deutungen, 346 (kursiv, C. K.). 721 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Der Grund, weshalb sich in den Reden weder eine Beschreibung des religiösen Deutungsvorgangs findet noch von einer impliziten Metaphysik oder ihren Implikationen die Rede ist, liegt meines Erachtens keineswegs darin beschlossen, dass in diesem Fall auf Seiten Schleiermachers ein, wie Grove es formuliert, „Reflexionsdefizit“725 vorliegt. Vielmehr ist der Grund des Fehlens dieser für die deutungstheoretische Position essentiellen Konzeptionsbausteine, dass die religiöse Deutungstheorie Schleiermachers eigener Konzeption der religiösen Anschauung selbst zuwiderläuft: Denn eine dominante Spontaneität der religiösen Anschauung, d.h. die Annahme einer konstitutiven Bedeutung subjektiver Tätigkeit bei der Entstehung des religiösen Bewusstseins, widerspricht nicht allein wegen der soeben aufgezeigten Konsequenzen Schleiermachers Religionskonzeption,726 sondern ist bereits von ihrem Ansatz her mit seiner Beschreibung in den Reden unvereinbar. In ihrer hervorgehobenen Betonung der Selbständigkeit der religiösen Anschauung übersieht die Deutungstheorie, dass die religiöse Anschauung laut Schleiermacher prinzipiell in einen größeren Zusammenhang des menschlichen Bewusstseinslebens eingebunden ist, dem gegenüber sie nicht frei agiert, sondern von dem sie vielmehr abhängig ist. Die für die Deutungstheorie charakteristische Ausblendung dieser Abhängigkeit führt bei ihr somit irrtümlicher­ weise zu einer strukturellen Isolation der religiösen Anschauung von dem Gesamtprozess des religiösen Bewusstseinslebens. Indem die religiöse Anschauung nach Schleiermacher aber ein unmittelbares „Produkt“727 bzw. das Ergebnis einer dem Menschen unverfügbaren bzw. „notwendigen Reflexion“728 des geheimnisvollen Augenblicks darstellt, macht er unzweideutig klar, dass es sich bei ihr, anders als etwa bei der Fantasie, oder dem Denken und Handeln, die gerade keine unmittelbaren Produkte des geheimnisvollen Augenblicks bilden,729 um kein Eigenständiges, dominant-spontanes Vermögen des menschlichen Geistes handelt, sondern vielmehr um ein abhängiges Vermögen. Ohne den geheimnisvollen Augenblick im menschlichen Bewusstsein gibt es keine religiöse Anschauung. Diese formale und inhaltliche Abhängigkeit der religiösen Anschauung ist gerade die Pointe von Schleiermachers Beschreibung des geheimnisvollen Augenblicks als genealogischem Ursprung und sachlogischem Grund des gesamten ­religiösen Bewusstseinslebens, wie es von ihm in KGA I/2, 221,20–223,8 dargelegt wurde.730 Weil der geheimnisvolle religiöse Augenblick die „Geburts725 Ebd. 726 

Vgl. hierzu detailliert den folgenden „Kritikpunkt 2“. KGA I/2, 221,12; 221,40–222,2. 728  KGA I/2, 220,35. 729  KGA I/2, 217,5–27; 219,15–21; 245,13–30. 730  Vgl. dazu ausführlich in vorliegender Arbeit §  7.2. 727 

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stunde alles Lebendigen in der Religion“731 bildet, gilt, dass alle religiösen Anschauungen „aus solchen Augenblicken in Euch entstanden sind“732 . Aus dem Dargestellten folgen sowohl erstens der wahre Status als auch zweitens die wahre Funktion der religiösen Anschauung im religiösen Bewusstseinsleben: Erstens: Weil die religiöse Anschauung formal vom geheimnisvollen Augenblick abhängig ist, kann umgekehrt festgehalten werden: Was formal für den geheimnisvollen Augenblick gilt, gilt formal notwendigerweise auch für die von ihm abhängige religiöse Anschauung, die sowohl der Existenz nach unmittelbar an diesen formalen Rahmen gebunden ist als auch der Geltung nach ausschließlich in diesem Rahmen Berechtigung besitzt. Da aber der geheimnisvolle Augenblick nach Schleiermacher zweifelsfrei keine aktive Setzung des religiösen Bewusstseins darstellt, kann es sich bei der von ihm abhängigen religiösen Anschauung notwendigerweise ebenfalls um keine aktiv-produktive Setzung bzw. Deutungsleistung des menschlichen Subjekts handeln. Weil die religiöse Anschauung nach Schleiermacher das unmittelbare und unwillkürliche Produkt des geheimnisvollen Augenblicks bildet, erlangt sie ihren Status im religiösen Bewusstseinsleben nicht, wie die deutungstheoretische Position annimmt, aus ihrer dominanten Selbstständigkeit im religiösen Bewusstseinsleben, sondern ausschließlich aus ihrer abhängigen Bindung an den geheimnisvolle Augenblick. Zweitens: Weil die religiöse Anschauung nach Schleiermacher inhaltlich vom geheimnisvollen Augenblick abhängig ist, fügt sie keine eigenen Inhalte zu dem hinzu, was bereits durch den geheimnisvollen Augenblick im menschlichen Bewusstsein liegt. Die Funktion der religiösen Anschauung kann somit auch nicht, wie es die Deutungstheorie irrtümlicherweise annimmt, darin bestehen, selbständig Inhalte zu generieren, indem sie das von dem Subjekt wahrgenommene Endliche im Rahmen ihrer Deuteschemata oder ihrer impliziten Metaphysik als Darstellung des Unendlichen setzt bzw. formt. Vielmehr stellt die religiöse Anschauung die bildliche Repräsentation des bereits im geheimnisvollen Augenblick unmittelbar erschlossenen und sachlich identischen Inhalts dar. Nach Schleiermacher wird vom menschlichen Bewusstsein nicht etwa zunächst ein sinnlicher Eindruck rezipiert und darauf hin durch eine konstruktive Anschauungsleistung in eine religiöse Form gebracht, sondern vielmehr ist bereits in jedem sinnlichen Sachverhalt ein immanenter Bezug auf das Universum als dessen Ursprung enthalten. Diese reale Ursprungsdimension, die unabhängig vom menschlichen Bewusstsein besteht, wird durch die religiöse Anschauung rezipiert, indem sie sich dem allgegenwärtig-bildhaften Offenbarungshandeln des Unendlichen gegenüber offen erhält.733 Schleiermacher geht es mit seiner 731 

KGA I/2, 222,9. KGA I/2, 222,16 f. 733  In seiner dritten Rede verdeutlicht Schleiermacher dies in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Erziehungsziel der sog. „Verständigen“, das ihm zufolge darin besteht, 732 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Bestimmung des religiösen Bewusstseinslebens folglich keineswegs um die Bescheibung eines aktiv-deutenden Religionskonstruktivismus, sondern er stellt vielmehr in allen seinen Ausführungen einen passiv-anschauenden Universumsrealismus dar. Unter Berücksichtigung des aufgezeigten Status’ und der nachgewiesenen Funktion der religiösen Anschauung im religiösen Bewusstseinsleben kann es sich Schleiermacher zufolge somit nicht um eine dominante, sondern nur um eine nach- bzw. untergeordnete Spontaneität der religiösen Anschauung handeln. Daher ist aber die Interpretation der religiösen Anschauung als einer Deutungsleistung in Bezug auf die Reden aus bewusstseinstheoretischen Gründen auszuschließen. Was ist aber mit der Spontaneität der Anschauung, wie sie in Schleiermachers oben genannten vier Zitaten zum Ausdruck kommt? Spricht Schleiermachers Beschreibung nicht ,prima facie‘ gegen die These von der nur nach- bzw. untergeordneten Spontaneität der religiösen Anschauung? Meines Erachtens wird von den Deutungstheoretikern in Bezug auf die vier genannten Beispiele das Moment der Spontaneität der religiösen Anschauung in einer Weise überbetont, welche sich von dem Text der Reden selbst her nicht rechtfertigen lässt. Schleiermacher zufolge sind zwar Spontaneität und Rezeptivität des menschlichen Bewusstseinslebens stets aufeinander bezogen und stehen daher sachnotwendig in einem bestimmten Dominanzverhältnis zueinander. Wenn Schleiermacher aber festhält, dass die religiöse Anschauung einen Eindruck hinnimmt, oder aufnimmt, so ist damit nur gemeint, dass sie über die Fähigkeit verfügt, sich einem Einfluss des Unendlichen gegenüber als offen zu erweisen. Diese Aufnahmefähigkeit ist aber keineswegs als eine aktive Deutungsleistung im Sinne eines konstruktiven Wirklichkeitsbezugs misszuverstehen. Dies tritt in den von den Deutungstheoretikern herangezogenen, angeblichen Beweiszitaten (1) 734 und (2) 735 klar hervor: den Sinn der heranwachsenden Jugend in die „Sklaverei“ der bürgerlichen Tüchtigkeit zu schlagen (KGA I/2, 260,15 ff.). Dabei bildet nach Schleiermacher die restriktionslos-unbeschränkte Inbesitznahme des endlichen Anschauungsgebietes eine zentrale Voraussetzung religiöser Bildung. Gerade diese Inbesitznahme erfolgt ihm zufolge aber, in prägnantem Widerspruch zur religiösen Deutungstheorie, nicht über die Aktivität des menschlichen Subjekts, sondern vielmehr durch die bei den Heranwachsenden zu fördernde Offenheit gegenüber den Einwirkungen der endlichen Sachverhalte auf sie. In Bezug auf die Möglichkeiten zur religiösen Bildung in seiner Zeit fährt Schleiermacher fort: „Bald werden diese Schranken gebrochen werden, die anschauende Kraft wird von ihrem ganzen Reiche Besiz nehmen, jedes Organ wird sich aufthun und die Gegenstände werden sich auf alle Weise mit dem Menschen in Berührung sezen können.“ (KGA I/2, 260,30 ff. (kursiv, C. K.)) 734  „Alles Anschauen gehet aus von einem Einfluß des Angeschauten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des ersteren, welches dann von dem letzteren gemäß seiner Natur aufgenommen, zusammengefasst und begriffen wird.“ (KGA I/2, 213,38 ff.) 735  „[…] alles Endliche als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion.“ (KGA I/2, 214,14 f.)

§  8  Entfaltung

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Sowohl das in diesen Zitaten sich findende „Aufnehmen“ als auch das „Hinnehmen“ des religiösen Bewusstseins, sind eindeutig rezeptive Akte. Dies stellt bereits Schleiermachers Satzanfang nachdrücklich heraus. Es geht ihm in den Zitaten um Akte, deren Proprium darin besteht, dass sie „ganz ohne Euere Veranstaltung“736 erfolgen. Dieser Grad an Spontaneität ist im Falle der religiösen Anschauung somit nur minimal. Ohne ein Minimum an, man könnte sagen, spontaner Widerständigkeit, wäre freilich überhaupt keine Rezeptivität möglich.737 Aus dieser notwendigen spontanen Widerständigkeit aber eine dominante Aktivität, oder eine selbständige Produktivität der religiösen Anschauung zu machen, ist jedenfalls aus dem Text der Reden nicht begründbar. Im Unterschied zur Deutungstheorie kann mit Hilfe der bildtheoretischen Interpretation der religiösen Anschauung dieses Zitat hingegen erklärt werden: Ebenso wie beispielsweise eine Filmleinwand ein auf sie projiziertes Bild aufzufangen vermag, so vermag die religiöse Anschauung einen sie affizierenden Eindruck in einem Bild festzuhalten. Dies ist keine aktive Deutung, oder Interpretationsleitung, sondern, wie Schleiermacher es in seiner dritten Rede auch nennt, ein passives mit „Bildern angefüllt werden“738. Es geht in der religiösen Anschauung, wie Schleiermacher es in seinen späteren Auflagen der Reden in sachlicher Ergänzung zu den soeben behandelten Stellen klar herausstellt, um die „überwiegende Gewalt der Gegenstände über Euch, […], indem sie selbst, gedeihe es Euch nun zur Anschauung oder zum Gefühl, in Euch hineintreten“739. Den oben angeführten Zitaten (1) und (2) zufolge ist die religiöse Anschauung somit keine Deutung, sondern vielmehr eine bildhafte Selbstpräsentation des Universums im menschlichen Bewusstsein. Auch das Beweiszitat (3) 740 vermag es nicht, die Deutungstheorie zu stützen: Dieses Zitat wird nicht von allen Deutungstheoretikern verwendet, sondern ausschließlich Stolzenberg und Glatz ziehen es zur Bekräftigung ihrer Interpretation heran. Ein Grund für die Zurückhaltung der meisten Deutungstheoretiker in Bezug auf dieses Zitat mag, neben dem Umstand, dass Schleiermacher es in den Folgeauflagen restlos getilgt hat, an dem grundsätzlichen Problem liegen, dass es nicht im direkten Zusammenhang mit der Charakterisierung der religiösen Anschauung steht, sondern Schleiermacher es dort anführt, wo es um die Bildung der Gottesvorstellung durch die menschliche Fantasie geht. Die menschliche Fantasie ist nach Schleiermacher zweifellos ein deutender Vollzug 736 

KGA I/2, 214,2. Vgl. KGA I/12, 59,14–60,5. 738  KGA I/2, 253,20 und KGA I/12, 158,20. 739  Vgl. KGA I/12, 62,13 f. 740 „In der Religion wird das Universum angeschaut, es wird gesetzt als ursprünglich handelnd auf den Menschen“ (KGA I/2, 245,17 f.). 737 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

des menschlichen Bewusstseins. Aber aus dem Grunde unterscheidet sie sich nach Schleiermacher auch prinzipiell von der religiösen Anschauung. Das passiv von der religiösen Anschauung empfangene Bild des lebendigen Universums wird von der Fantasie entweder als Setzung eines persönlichen Gottes oder aber einer unpersönlichen natura naturans vorgestellt. In diesem Sinne setzt die Fantasie zu einem passiv empfangenen Anschauungsbild einen vorgestellten Grund. Dieses Setzen ist aber das religionstheologische Problem, das nach Schleiermacher für die Fantasie auf der einen Seite zwar unvermeidlich ist, auf der anderen Seite jedoch infolge der Fallibilität dieses eigenmächtigen Setzungsvorgangs den Grund dafür bildet,741 die Fantasie der religiösen Anschauung religionstheologisch unterzuordnen.742 Das angebliche Beweiszitat (3) zeigt unter Berücksichtigung seines weiteren Textzusammenhangs folglich das Gegenteil zur deutungstheoretischen Interpretation: Weil es sich bei der religiösen Fantasie um einen konstruktiven bzw. setzenden Deutungsvorgang des Menschen handelt, wird sie von Schleiermacher von der rein rezeptiven und deswegen infalliblen743 religiösen Anschauung unterschieden. Letztlich kann die Deutungstheorie sich auch nicht auf das Beweiszitat (4) 744 berufen. Im eigentlichen Sinne behandelt diese Stelle nicht die religiöse Anschauung der Natur, sondern die Möglichkeit der menschlichen Naturanschauung überhaupt. Wie Schleiermacher es im Zitat deutlich schreibt, geht es ihm im Allgemeinen um die Natur als „Anschauung der Welt“ und nicht spezifisch um die Anschauung des Universums. Das Zitat thematisiert die grundsätzlichen Bedingungen der menschlichen Naturanschauung und stellt die religiöse Anschauung in deren Rahmen. Hierbei stellt Schleiermacher heraus, dass die menschliche Naturanschauung zumindest die rudimentäre Fähigkeit voraussetzt, reale Differenzierungen und eigenständige Strukturen bzw. „Individualität und Einheit“ überhaupt in der körperlichen Welt wahrnehmen zu können. Er hält im Kontext des Zitats fest, dass sich diese prinzipielle Fähigkeit nicht unmittelbar aus der Betrachtung der Natur ergibt, sondern vom „Innern des Gemüts“ her auf die Natur gedeutet wird. Hiermit ist somit nicht ausschließlich die religiöse Deutungsleistung gemeint, oder Religion generell als Deutung bestimmt. Vielmehr stellt Schleiermacher in der Folge des Zitats den epistemologischen Grundsatz auf, dass die Wahrnehmungsfähigkeit der körperlich-­ natürlichen Welt grundsätzlich an die Wahrnehmungsfähigkeit der geistig-­ 741 

Vgl. KGA I/2, 245,38–246,8. Vgl. KGA I/2, 245,33 ff. 743  Vgl. hierzu zentral KGA I/2, 215,7–14. 744  „Aber was ist Liebe und Widerstreben? was ist Individualität und Einheit? Diese Begriffe, wodurch Euch die Natur erst im eigentlichen Sinne Anschauung der Welt wird, habt Ihr sie aus der Natur? Stammen sie nicht ursprünglich aus dem Inneren des Gemüths her, und sind erst von da auf jenes gedeutet?“ (KGA I/2, 227,25–29) 742 

§  8  Entfaltung

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menschlichen Welt gebunden bzw. über diese vermittelt ist. Dies wird in Schleiermachers direkt im Zusammenhang mit dem angeblichen Beweiszitat (4) stehender bewusstseinsphänomenologischer Interpretation der Schöpfungsgeschichte deutlich: Laßt mich Euch ein Geheimnis aufdecken, welches in einer der ältesten Urkunden der Dichtkunst und der Religion verborgen liegt. So lange der erste Mensch allein war mit sich und der Natur, waltete freilich die Gottheit über ihm, sie sprach ihn an auf verschiedene Art, aber er verstand sie nicht; sein Paradies war schön, und von einem schönen Himmel glänzten ihm die Gestirne herab, aber der Sinn für die Welt ging ihm nicht auf; auch aus dem Inneren der Seele entwickelte er sich nicht [1]; aber von der Sehnsucht nach einer Welt wurde sein Gemüt bewegt, und so trieb er vor sich zusammen die tierische Schöpfung, ob etwa eine sich daraus bilden möchte. Da erkannte die Gottheit, daß ihre Welt nichts sei, so lange der Mensch allein wäre, sie schuf ihm die Gehilfin, und nun erst regten sich in ihm lebende und geistvolle Töne, nun erst ging seinen Augen die Welt auf. In dem Fleische von seinem Fleisch und Bein von seinem Beine entdeckte er die Menschheit, und in der Menschheit die Welt [2]; von diesem Augenblick an wurde er fähig, die Stimme der Gottheit zu hören und ihr zu antworten [3] […] Unser aller Geschichte ist erzählt in dieser heiligen Sage.745

Es geht Schleiermacher in den beiden zusammenhängenden Zitaten nicht darum, die Religion als Deutungsakt zu bestimmen, sondern aufzuzeigen, dass sich die körperliche Welt dem Menschen nicht direkt [1], sondern nur anhand ihres Zusammenhangs mit seiner seelischen Welt bzw. seinem Gattungsbewusstsein erschließt [2]. Daher setzt auch das religiöse Bewusstsein, dessen Proprium nach Schleiermacher in der Naturanschauung darin besteht, sich selbst als Teil und Darstellung des Naturganzen wahrzunehmen,746 das menschliche Gattungs­ bewusstsein voraus [3]. Es geht Schleiermacher in dem „Beweiszitat“ (4) folglich keineswegs um die Bestimmung der religiösen Anschauung als eines aktiv-menschlichen Deutungsaktes, sondern vielmehr um die epistemologischen Grundvoraussetzungen, auf welche Weise die ursprüngliche Fremdheit der Natur für den Menschen ganz im Allgemeinen als etwas Eigenes erfahren werden kann und auf welche Weise sich der Mensch hierdurch selbst als Teil des Naturganzen wahrzunehmen fähig wird. Eigentliches Thema des gesamten Kontextes von KGA I/2, 227,25– 745 

KGA I/2, 227,33–228,14. I/2, 226,34–227,24, insbesondere 227,11–18: „[…] das ist eine Anschauung des Universums, die sich aus allem entwikelt und das Gemüth ergreift, und nur derjenige, der sie in der That überall erblikt, der nicht nur in allen Veränderungen, sondern in allem Dasein selbst nichts findet als ein Werk dieses Geistes und eine Darstellung und Ausführung dieser Geseze, nur dem ist alles Sichtbare auch wirklich Welt, gebildet, von der Gottheit durchdrungen und Eins.“ Vgl. auch KGA I/12, 93,14–19: „Und das wäre freilich der Kern aller religiösen Gefühle von dieser Seite, ein solches ganz sich Eines fühlen mit der Natur, und ganz eingewurzelt sein in sie, daß wir allen wechselnden Erscheinungen des Lebens, ja in dem Wechsel zwischen Leben und Tod selbst, der auch uns trifft, mit Beifall und Ruhe nur die Ausführung jener ewige Geseze erwarten.“ 746  KGA

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228,23, in welchem dieses angebliche Beweiszitat eingebettet ist, ist somit Schleiermachers fundamentalepistemologische These, dass allein das Gattungsbewusstsein des Menschen die Möglichkeitsbedingung jedes verständigen Weltbewusstseins, einschließlich des Naturbewusstseins, bildet. Das angebliche „Beweiszitat“ (4) besagt daher nur, dass die religiöse Naturanschauung, wie jede andere Naturanschauung auch, von Vorausetzungen lebt, die nicht in ihr selbst liegen. Deutungsvorgänge werden von Schleiermacher folglich gerade nicht mit religiösen Vollzügen gleichgesetzt, geschweige denn mit impliziten metaphysischen Annahmen in Beziehung gebracht, sondern als das rudimentäre anthropologische Vermögen beschrieben, sich selbst als Mensch in der Natur wiederzuerkennen.747 Im Anschluss an diese Untersuchungen kann somit festgehalten werden, dass sich die Deutungstheorie aufgrund sachlicher als auch textinterpretatorischer Irrtümer im Sinne des Kritikpunkts 1 als unhaltbar erweist. Kritikpunkt 2:  Im Rahmen der Deutungstheorie wird entgegen ihrer eigenen Annahme nicht die Möglichkeit religiöser Anschauungen erklärt, sondern aus prinzipiellen Gründen die Pointe von Schleiermachers Religionskonzept insgesamt verfehlt, weil sie ihr diametral entgegensteht. Dass überhaupt religiöse Anschauungen möglich sind, hängt der Deutungstheorie zufolge daran, dass durch dominant-spontane Leistungen des religiösen Subjekts endliche Vorstellungen in den Horizont einer Totalität gesetzt werden, d.h. als Darstellungen des Unendlichen gedeutet werden. Diese zentrale Grundannahme wird der Deutungstheorie jedoch zum Verhängnis: Wie bereits gezeigt, ist es im Rahmen der Deutungstheorie dem Menschen nur möglich, dasjenige in den endlichen Dingen zu finden, was er selbst in sie hineingelegt hat. Damit muss die deutungstheoretische Bestimmung des religiösen Bewusstseins aus prinzipiellen Gründen defizitär bleiben. Dieses zweifache Defizit soll im Folgenden aufgezeigt und näher erläutert werden: Erstens besteht es in einer Unterbestimmung des Universums. Bereits unter dem Kritikpunkt 1 wurde aufgezeigt, dass dem Universum in der Deutungstheorie die Rolle als Grund und Gegenstand der Religion abhanden kommt. Diese Rolle wird nun vom aktiv deutenden Subjekt und seinen metaphysischen Deutungsschemata übernommen. Indem in der Deutungstheorie der religiösen Anschauung eine dominante Spontaneität zugeschrieben wird, wird von ihr notwendigerweise das Universum zu einem, vom religiösen Subjekt gesetzten, mentalen Sinnzusammenhang depotenziert. Auf diese Weise stellt das Universum bzw. das Unendliche in der Interpretation der Deutungstheoretiker einen „universalen Sinn- und Ordnungszusammenhang“748 bzw. die „Sinndimension ei-

747 

748 

Vgl. ähnlich auch Piper, Das religiöse Erlebnis, 112,23. Stolzenberg, „Weltinterpretationen“, 71.

§  8  Entfaltung

287

nes Unendlichen und Totalen“749 dar. Reicht diese Beschreibung zur Charakterisierung von Schleiermachers Universumsverständnis aus? In den in §  7 geleisteten Interpretationen des systematischen Herzstücks der Reden, dem geheimnisvollen Augenblick im menschlichen Bewusstsein,750 konnte gezeigt werden, dass nach Schleiermacher die Religion das Bewusstsein des wahren Unendlichen ist. Das bedeutet, Religion ist nicht allein, wie es die Deutungstheorie annimmt, das Bewusstsein eines Sinn- und Ordnungszusammenhangs der endlichen Sachverhalte bzw. der Totalität alles endlichen Seins in seinem Wechselwirkungszusammenhang, sondern zugleich das Bewusstsein des Gesetztseins dieser Totalität, d.h. des Realgrundes allen endlichen Seins. Das Universum ist nicht bloß ein Sinnzusammenhang, sondern der schöpferisch-erhaltende, allgegenwärtige und omnipotente „hohe Weltgeist“,751 der alles Endliche aus sich selbst allererst erzeugt 752 und jedem Endlichen souverän einen Platz in der teleologisch verlaufenden Weltgeschichte einräumt.753 In der Religion geht es nach Schleiermacher folglich um die Selbsterschließung des souveränen Universums als souveränes Universum für den Menschen bzw. die Offenbarung des lebendigen Weltgeistes, von dem754 und in dem jeder Mensch „lebt, webt und ist“.755 Die Deutungstheorie unterläuft diese Grundbestimmung der Reden, indem sie Schleiermachers Universumsauffassung bloß als Einheit des Endlichen, nicht aber als zugleich dynamischen Grund dieser Einheit erfasst. Erst beide Dimen­ sionen zusammengenommen, ergeben eine adäquate Beschreibung des subjektunabhängig agierenden, lebendigen Universums, wie Schleiermacher es in seiner Beschreibung der horizontal-symmetrischen und vertikal-asymmetrischen Bildaspekte der religiösen Natur- und Menschheitsanschauung dargestellt hat.756 Zweitens liegt bei der Deutungstheorie eine prinzipielle Fehlbestimmung des religiösen Bewusstseins vor. Die deutungstheoretische Kernthese, dem mensch­ lichen Subjekt im Moment der Konstitution seines religiösen Bewusstseins eine dominante Spontaneität zuzuschreiben, führt nicht allein zur Depotenzierung des Universumsverständnisses, sondern steht unmittelbar damit zusammenhängend Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewusstseins selbst diametral entgegen. Unter deutungstheoretischen Gesichtspunkten handelt es sich beim religiösen Bewusstsein, wie etwa Schröder herausstellt, ausschließlich um eine „subjektive 749 

Schröder, „Das ‚unendliche Chaos‘“, 591. KGA I/2, 220,29–223,19. 751  KGA I/2, 234,13. 752  KGA I/2, 234,6–19. 753  KGA I/2, 234, 19–32; 230,15–24. 754  KGA I/2, 251,43–252,1; 296,17 f.; 306,12–34. 755  KGA I/2, 318,17. 756  Vgl. KGA I/2, 223,20–234,32 und in der vorliegenden Arbeit §  8.1.

750 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Konstitution von Sinn“757, die konsequenterweise dazu führt, dass nach der Deutungstheorie von „einer den Sinnhorizont des einzelnen Subjekts übergreifenden, objektiven Geltung des religiös Erfahrenen zumindest auf der Ebene der Religion nicht mehr gesprochen werden kann.“758 Religiöse Erfahrung wird von der Deutungstheorie als Erfahrung selbst­ gewirkter, rein subjektiv gültiger Sinnstiftung interpretiert. Entspricht dies Schleiermachers Beschreibung der religiösen Erfahrung in den ‚Reden‘? Der Clou von Schleiermachers Religionstheorie besteht vielmehr darin, die Erfahrung des subjektunabhängigen Gesetztseins alles Endlichen durch das Unendliche herauszustellen. Religiöses Bewusstsein ist gegenüber allem Wissen, Wollen und Deuten gerade durch das unmittelbare Innewerden einer radikalen Abhängigkeit 759 des Endlichen vom selbständig agierenden, lebendigen Unendlichen gekennzeichnet. Religion zu besitzen, bedeutet deswegen nach den Reden, des Universums als des wahren Unendlichen gewahr zu sein, auf welches, weil es den Grund aller Wechselwirkungen in der Welt darstellt, nicht von Seiten des Endlichen selbst wiederum eingewirkt werden kann und dessen Gesetzmäßigkeiten man sich demutsvoll-liebend zu fügen hat.760 Die religiöse Erfahrung des wahren Unendlichen ist daher notwendigerweise identisch mit dem Bewusstsein einer radikalen Passivität gegenüber dem Unendlichen. Keineswegs die Erfahrung einer subjektiv-veränderlichen Konstitution von Sinn in der Welt, sondern vielmehr umgekehrt, die Erfahrung eines objektiv-unabänderlichen Bestimmtseins durch das Universum charakterisiert nach Schleiermacher religiöse Bewusstseinszustände.761 Religiöses Bewusstsein ist Schleiermacher zufolge die Erfahrung des Universums als der Alles bestimmenden Wirklichkeit. Deswegen ist es für das religiöse Bewusstsein, im charakteristischen Unterschied zu allen übrigen Bewusstseinsweisen, konstitutiv, das Universum als eine sich selbst offenbarende Struktur zu erfassen. Wird sich ein Mensch des Universums als der Alles bestimmende Wirklichkeit bewusst, ist er sich notwendigerweise zugleich gewiss, dass auch die Möglichkeitsbedingungen der Erfahrbarkeit des Universums ausschließlich durch dieses selbst gesetzt werden können.762 Nur, indem ein Mensch erfährt, dass seine Möglichkeiten, das Unendliche zu erfahren, allein durch dieses selbst ge757 

Schröder, „Das ‚unendliche Chaos‘“, 592. A.a.O., 593. 759  Vgl. z.B. KGA I/2, 201,25–38; 237,9 f. 760  Vgl. z.B. KGA I/2, 233,38–234,32. 761  Vgl. zentral KGA I/2, 212,12–15 (kursiv, C. K.): „[…] die Religion athmet da, wo die Freiheit selbst schon wieder Natur geworden ist, jenseits des Spiels seiner besondern Kräfte und seiner Personalität faßt sie den Menschen, und sieht ihn aus dem Gesichtspunkte, wo er das sein muß was er ist, er wolle oder wolle nicht.“ 762 Schleiermacher spricht dies in den Reden deutlich aus: „Das Universum bildet sich selbst seine Betrachter und Bewunderer, und wie das geschehe, wollen wir nur anschauen, so weit es sich anschauen läßt.“ (KGA I/2, 251,36 f.) 758 

§  8  Entfaltung

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setzt werden, kann er es tatsächlich als Alles bestimmende Wirklichkeit erfahren. Die religiöse Erfahrung des wahren Unendlichen bzw. des lebendigen Universums beinhaltet somit notwendigerweise zugleich mit ihrem spezifischen Inhalt auch das Bewusstsein von der spezifischen Entstehungsbedingung dieses Inhalts ausschließlich durch das Universum selbst. Hieraus ergibt sich eine folgenschwere epistemologische Alternative für die Religionstheorie: Entweder man begreift Religion als einen Deutungsvorgang des menschlichen Subjekts. Eine derartige konstruktivistische Religionstheorie bindet die Ent­ stehungsbedingungen des religiösen Bewusstseins an die Aktivitäten des Menschen. Da ein Mensch dieser Theorie zufolge in den Dingen nur finden kann, was er zuvor selbst in diese hineingelegt hat, kann demzufolge das Universum aus prinzipiellen Gründen nicht als Alles bestimmende Wirklichkeit erfasst werden und stellt folglich nur das Produkt bzw. den subjektiven Sinnzusammenhang eines Menschen dar. Oder man begreift die Religion umgekehrt als dasjenige menschlich-rezeptive Vermögen, dem die Fähigkeit zukommt, die Selbstoffenbarungen des Universums wahrzunehmen. Ausschließlich eine derartige realistische Religionstheorie kann phänomenologisch fundiert die Möglichkeitsbedingungen zur Erfahrung des Universums als der Alles bestimmenden Wirklichkeit aufzeigen, welches sich selbst dem menschlichen Subjekt zu verstehen gibt. Wie die Analyse des geheimnisvollen Augenblicks zeigt, stellt eine realistische Religionstheorie mit ihrer Beschreibung des lebendigen Universums den zentralen Clou der Reden dar.763 Beide Aspekte des Kritikpunktes 2 zusammengefasst, lässt sich festhalten: Weil die Deutungstheorie dem menschlichen Subjekt bei der Bildung des religiösen Bewusstseins ein Moment der dominanten Spontaneität einräumt, ist sie theorieimmanent dazu gezwungen, Schleiermachers eigentliche Beschreibung des religiösen Bewusstseins als einer passiv erfahrenen Selbstoffenbarung der Alles bestimmenden Wirklichkeit in die inadäquate Beschreibung eines mensch­ lichen Vermögens zur eigenständigen Wirklichkeitskonstruktion von lediglich 763  Vgl. dazu auch treffend Piper, Das religiöse Erlebnis, 65 (kursiv, C. K.): Nach Piper tritt die religiöse Erfahrung bzw. das religiöse Erlebnis „ungesucht und unerwartet auf. Man kann wohl zur Not auf Abenteuer Jagd machen, nie aber auf Erlebnisse. Plötzlich und ohne direkten Zusammenhang mit den vorhergehenden seelischen Vorgängen tritt es ein. Es ist nichts Selbstverständliches, das sich aus den bisherigen Inhalten und Bestimmtheiten schon ergibt, sondern etwas Außerordentliches, Neues. Es ist auch nicht allgemein, sondern an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Daher tritt es nicht bei jedem Menschen auf. Dieselben äußeren Vorgänge können dem einen Menschen ein Erlebnis werden, der andere geht stumpf daran vorüber. Es ist also nichts, was bei Jedem notwendig vor sich gehen müßte. Es ist endlich, weil es ungewollt auftritt, ein Vorgang, der außer sich selbst keinen besonderen Zweck hat. Damit ist aber das Erlebnis gegen alle anderen seelischen Vorgänge genügend abgegrenzt: Es ist kein einfacher Ablauf, sondern ein Komplex von Abläufen, es ist kein Reflexionsvorgang, sondern ein unmittelbares Bewußtwerden, es ist nichts absichtlich Herbeigeführtes, sondern etwas, das den Menschen überkommt, das ihm widerfährt, begegnet.“

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

subjektiv-bedeutsamen Sinnzusammenhänge zu verkehren. Durch diese Interpretation wird auf augenfällige Weise die Möglichkeitsbedingung des religiösen Bewusstseins überhaupt verkannt. Nämlich die Selbsterschließung des souveränen Universums als souveränes Universum für den Menschen bzw. die Offenbarung des lebendigen Weltgeistes, von dem her 764 und in dem jeder Mensch „lebt, webt und ist“765. Nach Schleiermacher hebt religiöses Bewusstsein damit an, dass „Jeder und Jedes in Jedem ein Werk des Universums ist, und nur so kann die Religion den Menschen betrachten.“766 Das Bewusstsein jedoch, dass auch die menschlichen religiösen Deutungsschemata nur Werke bzw. Erzeugnisse des Universums sind, kann prinzipiell in einer derartigen Theorie nicht gezeigt werden, die gerade umgekehrt die konstruktiv-produktive Leistung der eigenen Deutungsschemata zur notwendigen Bedingung des menschlichen Universumsbezugs macht. Umgekehrt einzuräumen, dass das Universum selbst die Bedingungen religiöser Deutung schafft,767 heißt, einzusehen, dass religiöse Deutung ausschließlich im Rahmen einer Selbsterschließung des Universums möglich ist. Wird das obige Zitat Schleiermachers ernst genommen, bleibt kein anderer Ausweg, als den theoretischen Status der religiösen Deutungstheorie zu relativieren und sie selbst als ein Moment in den Horizont einer umfassenderen Offenbarungstheorie einzustellen.768 Dieses wird in der vorliegenden Arbeit durch den Einbezug eines deutungstheoretischen Aspekts in die weiter unten ausgeführte religiöse Bildtheorie gewährleistet. Aus den genannten Gründen unterläuft und verfehlt die religiöse Deutungstheorie nicht alleine die Intention der Reden, sondern steht dieser vielmehr prinzipiell diametral entgegen. Im letzten Kritikpunkt an der religiösen Deutungstheorie soll der Blick von ihren direkten Irrtümern in Bezug auf Schleiermachers Religionstheorie der Reden auf die Folgeprobleme geworfen werden, die sich aus dieser Theorie ergeben. Kritikpunkt 3:  Die Deutungstheorie wahrt nicht den kritischen Unterschied zwischen Religion und metaphysischer Spekulation, weshalb sie Gefahr läuft, einen theoretischen und praktischen Intellektualismus zu vertreten. Unter „Intellektualismus“ soll im Folgenden in Bezug auf die Deutungstheorie verstanden werden, dass in ihr grundsätzlich den Akten selbständiger 764 

Vgl. KGA I/2, 251,43–252,1; 296,17 f.; 306,12–34. Vgl. KGA I/2, 318,17. 766  KGA I/251,43–252,1. 767  Dies wird durch Schleiermachers obiges Zitat unbedingt eingefordert. 768  Damit steht Schleiermacher in Kontinuität zu reformatorischen Grundeinsichten wie sie z.B. Luther bereits in seiner frühen Vorlesung zum Römerbrief von 1515/16 eindrücklich geäußert hat: „Prius est enim esse quam operari, prius autem pati quam esse. Ergo fieri, esse, operari se sequuntur“. (Luther, M., Brief an die Römer (1515/16), in: ders., D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe [=WA], WA 56, Weimar 1938, 117,27–29) 765 

§  8  Entfaltung

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Geistes­t ätigkeit eines Menschen im Bereich der Religion der Primat gegenüber seiner rezeptiven Empfänglichkeit zugeschrieben wird. Auf diese Weise schlägt der religiöse Konstruktivismus der Deutungstheorie um in einen aus Schleier­ machers Sicht religiösen Intellektualismus, der sich sowohl theoretisch als auch praktisch manifestiert. Grundsätzlich kennzeichnet diesen religiösen Intellektualismus der Deutungstheorie, ob unbeabsichtigt oder intendiert, dass ihm zufolge sowohl die Möglichkeit als auch der Grad des Universumsbewusstseins von der intellektuellen Fähigkeit und Bildung eines Menschen abhängig sind. Damit wird die Religion in eine abhängige Position zur Metaphysik gebracht, was Schleiermacher unter allen Umständen verhindern wollte.769 Theoretischer Intellektualismus meint dementsprechend, dass im Bereich der Religionskonzeption aus der Primatstellung der selbständigen Geistestätigkeiten eine Gefahr erwächst, praktischer Intellektualismus bezeichnet das gleiche Problem im Bereich des tatsächlichen Religionsvollzugs. Erstens zum theoretischen Intellektualismus: Nach Ansicht der Deutungs­ theorie operiert die religiöse Anschauung eines Menschen im Rahmen von metaphy­sischen Implikaten bzw. Deutungsschemata, die ihm natürlicherweise innewohnen. Religion ist folglich an eine ihr selbst vorausliegende implizite bzw. „natürliche Metaphysik“770 gebunden. Grove stellt diese Voraussetzung der Deutungstheorie klar heraus: „Die implizite Metaphysik ist unabhängig vom religiösen Bewußtsein, dieses ist umgekehrt von ihr abhängig.“771 Die implizite Metaphysik eröffnet einem Menschen die Möglichkeit, aus einer sinnlichen Anschauung eine religiöse Anschauung zu erzeugen bzw. sie als eine solche zu deuten. Damit ist die Religion selbst aber nichts anderes als der bestimmte Vollzug einer impliziten Metaphysik in Bezug auf endliche Phänomene. Die Religion wird demnach, ob von den Deutungstheoretikern intendiert oder nicht, zum bloßen Anwendungsgebiet der impliziten Metaphysik gemacht. Denn seine essentiellen Inhalte bezieht das religiöse Bewusstsein nicht aus einem Offenbarungsakt des Universums, sondern generiert sie aus seinem eigenen metaphysischen Vorverständnis. Die Abhängigkeit der Religion von dieser impliziten Metaphysik führt zwangsläufig dazu, dass sie selbst als Vorstufe der expliziten Metaphysik untergeordnet wird. Es wird in der Deutungstheorie nicht behandelt, aber die explizite Metaphysik, d.h. nach Schleiermacher die metaphysisch-wissenschaftliche Theorie des Universums, muss, wenn der Terminus „Metaphysik“ nicht äquivok verwendet wird, in der Deutungstheorie als begriffliche Explikation des bereits vorbegrifflich in der impliziten Metaphysik enthaltenen Inhalts angesehen wer769 

Vgl. KGA I/2, 211,22 ff. zufolge liefert Schlegel das Vorbild einer derartigen impliziten Metaphysik. Siehe dazu auch Beisler, „Friedrich Schlegels Begriff“, 73–94. 771  Grove, Deutungen, 370. 770 Grove

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

den. Was folglich in der impliziten Metaphysik für das Bewusstsein eines Menschen noch unentwickelt vorliegt, kommt in der Religion als Vorstellung zur Anwendung und wird von der wissenschaftlichen Metaphysik klar und deutlich begrifflich expliziert. Damit nimmt das religiöse Bewusstsein in der Deutungstheorie aber nur eine Zwischenstufe zwischen impliziter und expliziter Metaphysik ein. Sie ist im Rahmen dieser Interpretationslogik folglich nicht mehr als eine Vorstufe zur wissenschaftlichen Entfaltung einer Theorie bzw. spekulativen Theologie des Unendlichen.772 Diese Ansicht der Deutungstheorie, welche die Religion zwischen zwei Formen der Metaphysik eingespannt sieht, nähert sich konzeptionell prominenten idealistischen Positionen von Schleiermachers Zeitgenossen, denen zufolge die Religion den Inhalt der Metaphysik in Form der Vorstellung präsentiert. Auf diese Weise wird die Religion zum symbolischen Ausdruck der Metaphysik gemacht, wodurch die Frage virulent wird, ob Religion als defizitäre mentale Funktion von einer zu Ende geführten Metaphysik überflüssig gemacht wird. Denn Denken ist aufgrund seiner Klarheit und Allgemeinheit mental höherwertiger als subjektives Vorstellen.773 Aufgrund ihres Ansatzes einer impliziten Metaphysik entsteht bei der Deutungstheorie somit die Gefahr eines theoretischen Intellektualismus in Bezug auf die Religion.774 Ein konsequentes Festhalten an der Theorie einer impliziten Metaphysik als Basis des religiösen Bewusstseins, führt unweigerlich zu dem Verständnis der Religion als einer vorstufigen Anwendung einer dahinter liegenden, mit einem höheren Wahrheitswert ausgestatteten, metaphysischen Theorie und bildet den Ausgangspunkt zur konsequenten Überführung der kontingent-subjektiven religiösen Vorstellungen in eine notwendig-allgemeingültige Begriffsmetaphysik. Die konsequente Deutungstheorie führt zu einer derartigen Religionstheorie, von der Schleiermacher sich seit Beginn seiner religionskonzeptionellen Entwürfe eindeutig distanziert hat. Religionstheorien, die einem theoretischen Intellektualismus verhaftetet sind, denen zufolge, wie er in Bezug auf Schelling festhält, „Religion nichts weiter ist, als die in der Welt 772 

Wie Schleiermacher in Bezug auf seine Kritiker sagt: KGA I/12, 129,28–130,6. auch Schelling, Vorlesungen über die Methode des Akademischen Studiums, SW I/5, 207–352. 774  Ellsiepen sieht diese Gefahr des theoretischen Intellektualismus’ der Deutungstheorie selbst, kann aber in seiner diesbezüglichen Stellungnahme die soeben aufgezeigten Probleme nicht ausräumen, sondern verlagert diese vielmehr nur auf eine andere Ebene (Ellsiepen, Anschauung, 409–415). Dies wird auch in seiner allgemeinen Bestimmung der religiösen Deutungsakte und -schemata deutlich: „[…] religiöse Deutungsakte sind solche, die sich eines formal invarianten und als solches in allen religiösen Akten anzutreffenden Deutungsschemas bedienen. Der Universumsbegriff ist die Schleiermachersche Fassung einer solchen Form religiöser Deutungsschemata. Noch vor aller inhaltlichen Bestimmtheit faßt Schleiermacher die allgemeine Form religiöser Deutung darin, einzelne Erfahrungen als partizipierend an einem größeren strukturell zusammenhängenden Ganzen und als Manifestation letzter Einheit zu verstehen.“ (A.a.O., 420 f.) 773  Vgl.

§  8  Entfaltung

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der Erscheinungen unmittelbar sich offenbarende Philosophie“ bzw. symbo­ lische Darstellung des im spekulativen Denken begrifflich Entfalteten, erteilt Schleiermacher unumwunden eine Generalabsage.775 Zweitens: Das Problem des praktischen Intellektualismus besteht darin, dass nach Ansicht der Deutungstheorie Religion auf einer Aktivität des Menschen beruht und nur gemäß einer zu erbringenden religiösen Leistung vollzogen werden kann. Deutlich zeigt sich dies daran, dass ihr zufolge die implizite Metaphysik bzw. die religiösen Deutungsschemata durch das menschliche Subjekt auf bestimmte Situationen angewendet werden müssen, damit überhaupt erst ein religiöses Bewusstsein entsteht: Ebensowenig wie bloße Erfahrung für sich genommen sind solche Deutungsschemata für sich genommen schon hinreichend zur Konstitution eines religiösen Aktes. Religion entsteht erst durch das Zusammenspiel beider Komponenten, durch die aktuale Deutung der Erfahrung mithilfe solcher Deutungsschemata.776

Auf diese Weise wird in der Deutungstheorie ein bestimmter Standard geistiger Bildung als notwendig zur Entstehung des religiösen Bewusstseins überhaupt erhoben. Ein Mensch muss der Deutungstheorie zufolge, um überhaupt ein religiöses Bewusstsein bilden zu können, sowohl selbstständig ein Verständnis vom Zusammenhang alles Endlichen unter der Idee des Unendlichen entwickeln777 als auch die Fähigkeit besitzen, derartig bestimmte Deutungsschemata auf spezifische Weise in den richtigen Momenten der Welterfahrung zur Anwendung zu bringen.778 Dass nach den eigenen Voraussetzungen der Deutungstheorie unklar bleiben muss, woher dem religiösen Subjekt die Kriterien zur Verfügung stehen, um zwischen den „richtigen“ und den „falschen“ Deutungsschemata in einer jewei775  KGA I/4, 472,30–473,1. Dieses Zitat entstammt Schleiermachers kritischer Rezen­sion der obig zitierten Schellingschrift Vorlesungen über die Methode des Akademischen Studiums (Schelling, SW I/5, 207–352). Vgl. zu Schleiermachers Beurteilung eines theoretischen Intellektualismus der Religion auch seinen Brief an Reimer vom 11. Nov. 1803, in dem er von seinem „stillen Kriege“ mit Schellings Konzeption schreibt (KGA V/7, 1590,37). Vgl. hierzu auch Patsch, H., Alle Menschen sind Künstler, Berlin 1986, 21. Schleiermachers Verständnis von der Übervernünftigkeit des religiösen Bewusstseinsgrundes und der Vernünftigkeit seiner sprachlichen Entfaltung in der Theologie kommt prägnant in: KGA I/13.1, 114,3–29 zum Ausdruck. 776  Ellsiepen, Anschauung, 415 (kursiv, C. K.). 777  A.a.O., 421: „In religiöser Einstellung wird ein Verständnis der endlichen Erfahrung unter der Idee des Universums entwickelt. Religiöse Erfahrung setzt lebensweltliche Erfahrung nicht außer Kraft, sondern stellt sie in einen Horizont, in welchem die erfahrungs­ mmanenten Beziehungen auf eine höhere Einheit hin transzendiert werden.“ 778  Ebd.: „Der inhaltliche Aspekt religiösen Verstehens ergibt sich dann zum einen aus dem konkret-erfahrenen Erlebnis, das allererst zur Deutung ansteht, und zum anderen aus der Spezifizierung der Deutungsschemata selbst. Naturhaft-körperliche Erlebnisse […] bedürfen eines anderen Deutungsschematas als geistig-geschichtliche Vollzüge. Die Konkretheit der nach Deutung verlangenden Erfahrung und die Spezifik des Deutungsschemas sind in religiöser Erfahrung in einem stetigen Ausgleichs- und Abstimmungsprozeß.“

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

ligen Situation zu unterscheiden, ist hierbei noch das geringere Problem. Das gravierende Hauptproblem ist, dass sich aus dieser Ansicht der Deutungstheorie ein elitäres Religionsverständnis ergibt, welches zu Schleiermachers Grund­ einsichten der Reden prinzipiell im Widerspruch steht.779 Der hohe Anspruch der Deutungstheorie an die menschliche Aktivität bei der Bildung des religiösen Bewusstseins780 überhöht die praktischen Bedingungen für den Religionsvollzug in einem Maß, welches konsequenterweise zu einem Elitarismus der Reli­g ion selbst führt. Die religiöse Deutungstheorie beinhaltet folglich mit ihrer religiösen Lei­ stungsorientierung die Gefahr eines praktischen Intellektualismus, der in der Überforderung und dem Ausschluss bestimmter menschlicher Subjekte von der Religion besteht. Außerdem führt die willkürlich-freie Aneignung religiöser Deutungsschemata und der damit verbundene beliebige Wechsel zwischen religiösen Weltdeutungen, wie die religiöse Deutungstheorie es den religiösen Subjekten zuschreibt,781 unweigerlich zu einer pluralistisch-relativistischen Religionstheologie. Der beschriebene praktische Intellektualismus der Deutungstheorie setzt dieselbe der Gefahr aus, die persönliche Religionsbildung eines Subjekts und dessen Reli­ gionsverständnis insgesamt in religiöse Beliebigkeit abgleiten zu lassen.782 779 

Vgl. KGA I/2 196,31–197,3; 252,9 ff.; 252,28–253,27. Ellsiepen, Anschauung, 421: „Nicht nur die religiösen Akte selbst, sondern auch die Gestalt der Deutungsmuster ist gebunden an das individuelle religiöse Subjekt.“ 781 Jeder Mensch entwickelt nach der Deutungstheorie „im Laufe seines Lebens oder genauer gesagt: im Laufe seines religiösen Lebens ein Repertoire religiöser Deutungsschemata. Durch die besondere Konstellation der Facetten und Schwerpunkte in diesen Verständnis-Strukturen bildet sich religiöse Individualität.“ (Ebd. (kursiv, C. K.)) 782  Nach Ansicht der Deutungstheorie müsste sich paradoxerweise in letzter Konsequenz sogar die Einsicht der Reden gegen die Religionstheorie der Reden selbst wenden: „Der spinozistisch explizierte Begriff des Universums wird zwar als allgemeine Form religiöser Deutungsschemata angenommen […]. Durch die Rückwendung und Selbstanwendung dieses Schemas auf die Gestaltung religiöser Vollzüge relativiert sich aber das religiöse Verstehen hinsichtlich der in ihm implizierten konkretisierten Verständnishorizonte selbst. In letzter Tiefe religiöser Selbstthematisierung müßte daher der Universumsbegriff selbst und also auch der spinozistisch gebildete Begriff der Religion als Anschauung des Universums als nur ein, wenn auch sehr allgemeiner, Ausdruck religiöser Lebenshermeneutik im mannig fachen Chor religiöser Deutungsmuster erscheinen.“ (Ellsiepen, Anschauung, 422) Dass diese Äußerungen keinerlei Anhalt in Schleiermachers Text finden, sondern seine Ansicht vielmehr konterkarieren, zeigt sich insbesondere in folgender Aussage: „Anschauen des Universums, ich bitte Euch befreundet Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion, woraus ihr jeden Ort in derselben finden könnt, woraus sich ihr Wesen und ihre Gränzen aufs genaueste bestimmen laßen.“ (KGA I/2, 213,34 ff. (kursiv, C. K.)) Wie aber selbst unter diesen von der Deutungstheorie aufgezeigten Bedingungen einer individuellen Lebenshermeneutik überhaupt noch bestimmt von der Religion in allen Religionen (KGA I/2, 294,18) bzw. von einer Religionstheorie und einem Religionsbegriff gesprochen werden kann, von Religion also die „etwas denkbares [ist, C. K.], wovon sich ein Begriff aufstellen läßt, über den man reden und streiten kann“ (KGA I/2, 210,19 ff.), bleibt im 780 

§  8  Entfaltung

295

Einem Abgleiten in religiöse Beliebigkeit hat Schleiermacher gerade durch seine Konzeption der religiösen Zentralanschauung entgegenzuwirken gesucht. Denn sowohl die Grenze als auch die Bestimmtheit der persönlichen Religion werden ihm zufolge durch die religiöse Zentralanschauung spezifisch vorgegeben. Nur im Rahmen von bestimmt-stabilen religiösen Zentralanschauungen, aus denen sich wiederum die positiven Religionen entwickeln, kann überhaupt erst eine persönliche Religion entstehen.783 Einzelne religiöse Anschauungen können sich demnach, wie es die Deutungstheorie annimmt, verändern, können abgewandelt werden, zunehmen und ein abwechslungsreiches Repertoire bilden. Aber religiöse Zentralanschauungen können weder beliebig gewechselt noch von dem religiösen Subjekt ursprünglich selbst erzeugt werden. Sie sind vielmehr das Ergebnis eines freien Aktes des Universums selbst,784 das sich auf diese Weise dem menschlichen Subjekt zeigt und dadurch allererst dessen Religion im bestimmt-begrenzten Sinne konstituiert.785 Diese religionstheologische Schranke, welche bei der Deutungstheorie bloß als Zufall oder als intellektuelles Hindernis erscheint, ist nach Schleiermacher vielmehr der Garant der Wahrhaftigkeit einer Religion.786 Die Entwicklung der religiösen Zentralanschauungen findet ebenfalls nicht durch die religiösen Individuen selbst statt, sondern beruht auf einem supranaturalen Plan des Universums entlang der Selbstbewusstseinsgeschichte der Menschheit.787 Gerade das Phänomen von Religionen, die entgegen dem Willen ihrer Mitglieder untergehen,788 stellt nach Schleier­m acher die prinzipielle Unfähigkeit der religiösen Subjekte heraus, ihre religiöse Zentralanschauung selbstkritisch modifizieren bzw. optimieren zu können. Letztlich gilt auch: In dem Maße wie die Deutungstheorie die Religion praktisch intellektualisiert, verflüchtigt sich in ihr der objektive Geltungsanspruch der Religionen. Nach der Deutungstheorie ist es nur konsequent, dass ihr zufolge der höchste Geltungsanspruch des religiösen Bewusstseins nicht historisch bei einer bestimmten positiven Religion liegt, sondern vielmehr individuell bei denjenigen religiösen Subjekten, die in sich die größte Anzahl an religiösen Deutungsschemata verbunden mit dem höchsten Komplexitätsgrad vereinen. Die Vielfalt der

Anschluss an die theoretische Selbstrelativierung der Deutungstheorie unklar. Die letzte Tiefe der Deutungstheorie erweist sich als ihre theoretische Selbstaufhebung und zwar mit dem Eingeständnis, statt einer allgemeinen Theorie der Religion, nur ein, wie Schleiermacher in Bezug auf den religiösen Deismus formulierte, „vollendetes Spielwerk“ (KGA I/2, 199,32 f.) individueller Deutungsmuster religiöser Lebenshermeneutik zu präsentieren. 783  KGA I/2, 305,20–308,32. Vgl. in vorliegender Arbeit §  10.2. 784  KGA I/2, 305,28–34. 785  KGA I/2, 305,34–308,32. 786  KGA I/2, 308,28–311,23. 787  KGA I/2, 244,18–245,13; 323,34–324,15. Vgl. in vorliegender Arbeit §  10.1. 788  KGA I/2, 316,9–25.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

religiösen Weltdeutungen wird somit zum Kriterium der Höherwertigkeit der individuellen Religion.789 Eine derartige These hat Schleiermacher zu keinem Zeitpunkt vertreten. Die Vielfalt der Religionen ist ihm kein Wert an sich, sondern sie ist in einen teleologischen Prozess eingespannt,790 der auf die „Religion der Religionen“791, d.h. auf das Christentum hingeordnet ist.792 Die religiöse Vielfalt steht nach Schleier­ macher nicht (wie in der Deutungstheorie) in einem Gegensatz zur teleologischen Entwicklung der Religionen, sondern sie stellt vielmehr ihre notwendige Bedingung dar.793 Daraus folgt prinzipiell: Nicht die Vielfalt der religiösen Deutungsschemata ei­ ner Person, sondern die Klarheit der religiösen Zentralanschauung einer positiven Religion und auch nicht positionelle Unbestimmtheit und beliebige Offenheit der religiösen Deutungsschemata, sondern die aus der Ergänzung mit anderen Religionen gewonnene Deutlichkeit und Integrationsfähigkeit der eigenen religiösen Position, begründen nach Schleiermacher die Höherwertigkeit einer Religion.794 Klarheit, Deutlichkeit und Integrationsfähigkeit einer positiven Religion stellen nach Schleiermacher die Kriterien ihres objektiven Geltungsanspruchs in der Entwicklungsgeschichte der Religionen dar. Aufgrund ihres praktischen Intellektualismus vermag die Deutungstheorie eine derartig supranatural fundierte Entwicklungsgeschichte der Religionen nicht darzustellen. Statt eines geschichtlich in den Religionen sich dynamisch entwickelnden „Erlösungswerks der Liebe“795, vermag sie in der Religionsgeschichte lediglich eine schematische „Einheit im Veränderlichen“796 wahrzunehmen und stellt sich als ein Holzweg der Schleiermacherforschung heraus. 2.2.  Die drei Dimensionen der religiösen Bewusstseinstätigkeit: Schleiermachers Bildtheorie der religiösen Anschauung In den letzten Abschnitten wurde aufgezeigt, dass die religiöse Anschauung nach Schleiermacher keine intellektuelle Anschauung, keine scientia intuitiva und 789  Ellsiepen, Anschauungen, 407: „Schleiermachers Deutung der Religionsgeschichte rückt so jede individuelle Religion […] unter einen Ewigkeitsaspekt. […] Die besondere Pointe dieser religiösen Perspektive auf die Religionen liegt darin, daß die damit verbundene Heiligung des einzelnen religiösen Individuums in der Geschichte nicht nach dessen tatsächlicher Ausformung, sondern nach dem Möglichkeitssinn in ihm liegender Anknüpfungspunkte in einem historisch-gedachten Ganzen von Religion geschieht. Individuelles religiöses Leben wird so sub specie aeternitatis als dynamisch sich entwickelndes religiöses Leben in der Offenheit unendlicher Gestaltungsmöglichkeiten verstanden.“ 790  Vgl. KGA I/2, 244,18–245,13. 791  KGA I/2, 325,15 f. 792  KGA I/2, 324,15–19.40–325,2. 793  Vgl. hierzu auch prägnant Süskind, Christentum und Geschichte, 18. 794  KGA I/2, 325,3–19. 795  KGA I/2, 234,31 f. Vgl. auch KGA I/2, 224,16 f. 796  Ellsiepen, Anschauung, 422.

§  8  Entfaltung

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keine Deutung darstellt. Vielmehr handelt es sich bei ihr um ein deutungsoffenes Bildbewusstsein. Die nähere Beschreibung dieser allgemeinen Bezeichnung erfolgt in diesem Paragraphen. In den Abschnitten KGA I/2, 213,34–220,29 und 239,29–247,4 stellt Schleiermacher eine vollständige Disjunktion der religiösen Bewusstseinstätigkeiten auf, die sich ihm zufolge im Rahmen ihrer unmittelbar-unwillkürlichen, unmittelbar-willkürlichen und mittelbar-willkürlichen Tätigkeiten bewegen: Erstens zeigt Schleiermacher in KGA I/2, 213,34–220,29 anhand einer drei­ fachen Analogie zwischen sinnlicher und religiöser Anschauung auf, inwiefern sich die religiöse Anschauung selbst als unmittelbar-unwillkürliche Tätigkeit vom diskursiven menschlichen Wissen unterscheidet. Ebenso arbeitet er anhand der Analogie zwischen sinnlichen und religiösen Gefühlen den prinzipiellen Unterschied zwischen religiösem Fühlen und moralischem Wollen heraus (2.2.1.). Zweitens untersucht er in KGA I/2, 242,36–247,4, welche allgemeine Bedeutung die Gottesvorstellungen in den Religionen besitzen, indem er deren bewusstseinstheoretische Entstehungsbedingungen beschreibt und analysiert. Im Zuge dieser Untersuchung bestimmt er die religiöse Fantasie als eine auf der religiösen Anschauung auf bauende und deswegen von ihr spezifisch unterschiedene unmittelbar-willkürliche Tätigkeit des menschlichen Bewusstseins (2.2.2.). Drittens geht Schleiermacher in KGA I/2, 239,29–242,35 der Frage nach, welchen Stellenwert den Dogmen in der Religion zukommt, d.h., wie sich religiöse Anschauung und mittelbar-willkürlich gebildete religiöse Begrifflichkeit zueinander verhalten (2.2.3.). Durch diese Beschreibung der vollständigen Disjunktion der religiösen Bewusstseinstätigkeiten als unmittelbar-unwillkürliche Anschauung, unmittelbar-willkürliche Fantasie und mittelbar-willkürliches religiöses Denken kommt Schleiermachers systematisches Gesamtprogramm der religiösen Bewusstseinstätigkeiten in den Blick. Auf diese Weise werden sowohl die Defizite der offen­ barungstheoretischen Position und der Deutungstheorie beseitigt als auch deren Einsichten als einander ergänzende Aspekte bewusstseinstheoretisch integriert. 2.2.1.  Die unmittelbar-unwillkürlichen religiösen Anschauungen und Gefühle Der im Folgenden zu behandelnde Abschnitt in KGA I/2, 213,38–220,29 gliedert sich in drei Teile, welche sich mit der religiösen Anschauung befassen, und in einen Teil, der sich dem religiösen Gefühl zuwendet.797 Diese Gliederung ergibt sich daraus, dass Schleiermacher zunächst den Ursprung des religiösen Anschauens in KGA I/2, 213,38–215,3, darauf hin den Vollzug der religiösen Anschauung in KGA I/2, 215,3–216,18 und schließlich 797 

217.

Vgl. zur Einteilung auch Ellsiepen, Anschauung, 373; Glatz, Religion und Frömmigkeit,

298

Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

das Ziel der religiösen Anschauung in KGA I/2, 216,19–218,20 798 ins Auge fasst.799 Der vierte Teil in KGA I/2, 218,20–220,29 bezieht sich auf das religiöse Gefühl. Hierbei werden in einem einzigen Textabschnitt der Ursprung, die Art und das Ziel des religiösen Gefühls im Verhältnis zum menschlichen Wollen dargestellt.800 Schleiermacher greift mit seiner Gliederung diejenigen Unterscheidungskriterien auf, die er bereits für das Verhältnis zwischen Metaphysik, Moral und Religion im Allgemeinen festgehalten hatte.801 Damit wird deutlich, dass es sich bei seinem Vorgehen in diesem Abschnitt um die Konkretisierung dessen handelt, was er bereits im Abschnitt KGA I/2, 211,27-213,33 allgemein durchgeführt hat. Die vier genannten Textabschnitte sind jeweils formal analog aufgebaut: Erstens beschreibt Schleiermacher in ihnen einen allgemeinen Aspekt der Anschauung überhaupt 802 , darauf hin zeigt er zweitens im Anschluss an die Formulierung „So die Religion“803 bzw. „[…] von der Religion gilt dies in einem noch weit höheren Sinne“804 die jeweilige Analogie zu diesem Aspekt bei der religiösen Anschauungen auf. Drittens arbeitet er im Hinblick auf den jeweiligen Aspekt den spezifischen Unterschied der Anschauung zum Denken bzw. des Gefühls zum Handeln heraus.805 Viertens beschließt er seine Ausführungen 798 

Schleiermacher thematisiert mit dem Ausdruck „Anschauung“ somit sowohl das Anschauen als Vorgang als auch das Produkt dieses Vorgangs, nämlich die bildhafte Anschauung selbst. Vgl. hierzu auch die Hinweise bei Grove, Deutungen, 297 und Glatz, Religion und Frömmigkeit, 182 ff. 799  Diese Vermutung lässt sich durch Formulierungen Schleiermachers selbst erhärten. In der ersten Bestimmung geht es um den Ursprung der Anschauung, also darum, wovon alles Anschauen ausgeht (vgl. KGA I/2, 213,38) und den „eigentümlichen Boden“ (KGA I/2, 215,3) auf dem sie gründet. Bei der zweiten Bestimmung geht es um die Art der Anschauung gegenüber dem Wissen, also darum, was die „Anschauung ist und bleibt“ (KGA I/2, 215,3). Die dritte Bestimmung behandelt das Ziel der Anschauung, nämlich die Frage, wonach die Anschauung „strebt“ (KGA I/2, 217,15) oder nicht „strebt“ (KGA I/2, 217,12) bzw., dass sie keine „Systemsucht“ (KGA I/2, 217,21) besitzt. 800  Die Formulierungen Schleiermachers, die darauf hinweisen, dass er sich auch bei der Bestimmung des Gefühls an der Unterscheidung von Ursprung, Art und Ziel seiner Bezugnahme auf das Universum orientiert, sind die Folgenden: Die Ursprungsdimension der religiösen Gefühle kommt durch die Formulierung zum Ausdruck, dass sich das Universum dem Gefühl „offenbart“ (KGA I/2, 218,37). Die Art des religiösen Gefühlsbezugs wird durch die Formulierung angegeben, dass es im Unterscheid zum Wollen ein rein „inneres Bewußtsein“ ist (KGA I/2, 218,25). Das Ziel des religiösen Gefühlsbezugs auf das Universum wird deutlich vom Wollen unterschieden, indem religiöse Gefühle nicht zu Handlungen „veranlassen“ und „antreiben“, sondern „sie lähmen ihrer Natur nach die Thatkraft des Menschen, und laden ihn ein zum stillen hingegebenen Genuß“. (KGA I/2, 219,32 f.) 801  KGA I/2, 208,8–14. 802  KGA I/2, 213,38–214,9; 215,3–7; 216,19–27; 218,20–35. 803  KGA I/2, 214,9; 215,7; 218,35. 804  KGA I/2, 216,24 f. 805  KGA I/2, 214,34–215,3; 215,14–27; 217,5–27; 219,15–220,22.

§  8  Entfaltung

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in dem jeweiligen Teilabschnitt, indem er es unternimmt, durch ein Beispiel den jeweils behandelten Aspekt für seine Leser zu veranschaulichen.806 Im Folgenden werden die vier Textabschnitte über die religiöse Anschauung und das religiöse Gefühl anhand von voranstehenden zusammenfassenden Thesen dargestellt. These 1:  Der religiöse Anschauungsvorgang gründet ursprünglich auf der bildhaften Selbstmanifestation des Universums im menschlichen Bewusstsein. Hierdurch wird die religiöse Anschauung prinzipiell als unmittelbar-unwillkürlich bestimmt. In KGA I/2, 213,34–215,3 stellt Schleiermacher zunächst die Analogie auf: Wie die Anschauung überhaupt, so entspringt auch die religiöse Anschauung einer Einwirkung „des Angeschaueten auf den Anschauenden“807. Der angeschaute Sachverhalt wirkt selbständig auf das Organ der Anschauung und dieses fasst den Sachverhalt seiner eigenen organischen „Natur gemäß“808 auf. Als Gegenstände der Anschauung kommen nicht die Dinge selbst in Frage, sondern vielmehr nur ihre Wirkungen auf die Natur des menschlichen Anschauungsorgans. Die religiöse Anschauung geht Schleiermacher zufolge ursprünglich aus dem „Handeln deßelben [des Universums, C. K.] auf Uns“809 hervor. Grove und Ellsiepen haben darauf hingewiesen, dass sich Schleiermacher mit dieser Bestimmung des religiösen Anschauungsvorgangs im Rahmen einer „kritisch-idealistischen Position“810 Kantischer bzw. Reinholdscher Prägung bewegt,811 derzufolge Gegenstand der sinnlichen Anschauung […] ‚Erscheinung‘, nicht [ein, C. K.] ‚Ding an sich selbst‘ [ist, C. K.]. Unter Berücksichtigung dieser kritischen Negation betrifft also auch die Aussage eines ‚Handelns der Dinge auf Uns‘ nur den Erscheinungscharakter des Gegenstands und nicht etwa ein vermeintliches An-sich-sein desselben.812

Gegen Groves 813 und Ellsiepens 814 Interpretation des religiösen Anschauungsvorgangs bleibt festzuhalten, dass es sich nach Schleiermacher hierbei nicht um die deutende Aktivität des menschlichen Bewusstseins handelt, sondern um einen Offenbarungsakt des Universums,815 dem von Seiten des Menschen keine dominant-spontane Aktivität, sondern eine gänzlich passive Rezeptivität korrespondiert. Dies wird von Schleiermacher dadurch hervorgehoben, dass er das 806 

KGA I/2, 214,18–33; 215,27–216,17; 217,27–35; 220,22–29; 219,1–6. KGA I/2, 213,38 f. 808  KGA I/2, 213,40. 809  KGA I/2, 214,13 (kursiv, C. K.). 810  Ellsiepen, Anschauung, 374. 811  Grove, Deutungen, 285–289. 812  Ellsiepen, Anschauung, 374. 813  Grove, Deutungen, 290–301. 814  Ellsiepen, Anschauung, 374–376. 815  KGA I/2, 214,9 f. 807 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

eigentümliche Offenbarungshandeln des Universums mit dessen schöpferischer Tätigkeit beschreibt: Jede Form die es [das Universum, C. K.] hervorbringt, jedes Wesen dem es nach der Fülle des Lebens ein abgesondertes Dasein giebt, jede Begebenheit die es aus seinem reichen immer fruchtbaren Schooße herausschüttet, ist ein Handeln desselben auf Uns.816

Was Schleiermacher auch später in seiner fünften Rede, insbesondere in seiner Darstellung der Entstehung subjektiver Religiosität in KGA I/2, 305,34–308,32 festhält, zeigt er bereits hier deutlich auf: Der Ursprung der religiösen Anschauung geht von einer freien Schöpfungstat des lebendigen und souveränen Universums aus. Und ebenso wie die Entstehung des religiösen Anschauens sich der Initiative des Universums verdankt, so bringt sich auch das Universum in dieser Schöpfungstat im menschlichen Subjekt selbst zu Bewusstsein. Dies wird daran deutlich, dass das schöpferische Handeln des Universums in Bezug auf das menschliche Bewusstsein bzw. auf die „Organe unseres Geistes “817, als ein sich selbst „zu erkennen geben“818 auf bildhafte Weise beschrieben wird: […] ist es wohl ein Wunder, wenn die ewige Welt auf die Organe unseres Geistes so wirkt wie die Sonne auf unser Auge? Wenn sie uns so blendet, daß nicht nur in dem Augenblik alles übrige verschwindet, sondern auch noch lange nachher alle Gegenstände die wir betrachten, mit dem Bilde derselben bezeichnet und von ihrem Glanz übergoßen sind? 819

Dieser zentrale Gedanke der Selbstmanifestation des Universums mittels bildhafter Selbsterschließung in der religiösen Anschauung wird auch in der fünften Rede herausgestellt, wenn Schleiermacher die Geburt eines Menschen und den „Geburtstag“820 seiner Religion miteinander in Analogie setzt: So wie, indem ein Theil des unendlichen Bewußtseins sich losreißt und als ein endliches an einen bestimmten Moment in der Reihe organischer Evolutionen sich anknüpft, ein neuer Mensch entsteht, ein eigenes Wesen […] so entsteht auch in jenem Augenblick, in welchem ein bestimmtes Bewußtsein des Universums anhebt, ein eigenes religiöses Leben.821

Wie aber niemand in Bezug auf seine eigene Geburt sinnvollerweise von einer dominanten Spontaneität bzw. einer aktiven Deutungsleistung sprechen kann, so ist auch nach Schleiermacher der Geburtstag der eigenen aktualen Religiosi816 

KGA I/2, 214,11 ff. KGA I/2, 219,2 f. 818  KGA I/2, 246,3: „Der handelnde Gott der Religion kann aber unsere Glükseligkeit nicht verbürgen; denn ein freies Wesen kann nicht anders wirken wollen auf ein freies Wesen, als nur daß es sich ihm zu erkennen gebe“. 819  KGA I/2, 219,2–6. 820  KGA I/2, 307,5. 821  KGA I/2, 306,12–22. 817 

§  8  Entfaltung

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tät eines Menschen konsequenterweise eine „Wundergeschichte […] vom Ursprung seiner Religion, die als eine unmittelbare Einwirkung [1] der Gottheit und als eine Regung ihres Geistes [2] erscheint“.822 In diesen beiden Formulierungen [1] und [2] kommt Schleiermachers Verständnis vom Ursprung und Wesen der religiösen Anschauung zum Tragen. Die religiöse Anschauung ist erstens als Vorgang des Anschauens eine passive Rezeptivität einer unmittelbaren Einwirkung der Gottheit bzw. des Universums und zweitens als Produkt dieser Einwirkung eine Manifestation der Regung ihres bzw. seines Geistes, d.h. ein Produkt der bildhaften Selbstmanifestation des Universums im menschlichen Bewusstsein. Anders als es die Deutungstheorie annimmt, ist nach Schleiermacher die Religion keineswegs deswegen als ein Akt „geistiger Art“823 anzusehen, weil der Geist des Menschen das religiöse Bewusstsein allererst konstruiert.824 Vielmehr stellt ihm zufolge die Religion einen geistigen Akt dar, weil sich in ihr das Universum für den Menschen als wahres Unendliches bzw. als absoluter Geist manifestiert. Folglich ist religiöses Anschauen nach Schleiermacher nicht als eine Bewusstseinstätigkeit zu charakterisieren, welche aus sich erzeugt, was vorher nicht existierte. Vielmehr ist sie die Befähigung des Menschen, die Augen für eine Wirklichkeitsdimension geöffnet zu bekommen, für das, was immer war, aus Blindheit jedoch bislang nicht erkannt wurde. Der Ursprung der bildhaften Selbsterschließung des Universums im Endlichen markiert zugleich die Grenze der religiösen Anschauung. Weil die Selbstmanifestation des Universums ausschließlich im Bereich des Endlichen, d.h. im Bereich möglicher Anschauungsgegenstände und deren Wirkungen liegt, ist der „eigentümliche Boden“825 der religiösen Anschauung auf den Bereich der Erfahrungen „in der Welt“826 beschränkt. Man sieht auch hier wiederum, wie Schleiermachers Beschreibung der religiösen Anschauung auf seine Darstellung des geheimnisvollen Augenblicks bezogen bleibt, worin er eindeutig festgehalten hat, dass religiöses Bewusstsein ausschließlich als phänomenales Transphänomenalbewusstsein möglich ist. Die Religion darf folglich auch nicht wie das metaphysische Denken versuchen, das Universum seiner Natur nach zu bestimmen, oder über das „Sein der Götter vor der Welt und außer der Welt zu grübeln“827. Derartige Versuche laufen nach Schleiermacher notwendigerweise auf „leere Mythologie“828 hinaus, weil die Religion in ihnen außerhalb der 822 

KGA I/2, 307,6 ff. Vgl. z.B. Ellsiepen, Anschauung, 375. 824  Vgl. deutlich Glatz, Religion und Frömmigkeit, 185: „Das Gewahrwerden des handelnden Universums ist eine Setzung, d.h. eine Interpretationsleistung des religiösen Subjekts.“ Vgl. auch Stolzenberg, „Weltinterpretationen“, 70 und Grove, Deutungen, 293 ff. 825  KGA I/2, 215,3. 826  KGA I/2, 214,37. 827  KGA I/2, 214,39. 828 KGA I/2, 214,36; 215,1. Vgl. auch KGA I/12, 134,24–135,29: „Leere Mythologie 823 

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Grenzen ihres Anschauungsbereichs agiert. Mit dieser Grenzbestimmung des religiösen Bewusstseins im Allgemeinen weist Schleiermacher hier bereits voraus auf die legitimen Möglichkeiten und Grenzen der reflektierenden Bezugnahme des menschlichen Geistes auf die religiösen Bewusstseinsinhalte in Form von Fantasie in KGA I/2, 239,36–247,4 und theologischer Begriffsarbeit in KGA I/2, 239,29–35.829 These 2:  Die „Art“ des religiösen Anschauungsbildes besteht in zusammenhangslosen, wahren, unendlichen Einzelwahrnehmungen des Unendlichen im Endlichen. In dem Abschnitt KGA I/2, 215,3–216,19 stellt Schleiermacher drei Eigenschaften der religiösen Anschauung näher dar: Erstens: Weil jede Anschauung ihrer Eigenart nach eine zusammenhangslose Einzelwahrnehmung ist, so gilt dies auch für die religiöse Anschauung. Diese bezieht sich ausschließlich auf „einzelne“830 Wirkungen des Universums und versucht nicht wie das „abstrakte Denken“831 diese „unmittelbaren Erfahrungen“832 zu „verbinden oder in ein Ganzes“833 zu überführen. Die religiöse Anschauung bleibt bei den „unmittelbaren Erfahrungen vom Dasein und Handeln des Universums“834 stehen, die jeweils „ein für sich bestehendes Werk ohne Zusammenhang mit anderen oder Abhängigkeit von anderen“835 Anschauungen darstellen. Aus diesem Grunde lassen sich religiöse Anschauungen nicht wie das abstrakte Denken systematisieren oder gar in einem „System von Anschauungen“836 zusammenfassen. Die religiöse Anschauung bezieht sich nach Schleiermacher ausschließlich auf einzelne, endliche Sachverhalte in denen sich das Universum zeigt. Zweitens: Aufgrund dieser „selbständigen Einzelnheit“837 der religiösen Anschauungen ist in ihnen „alles unmittelbar und für sich wahr“838. Hierin unterscheiden sie sich erneut vom Denken, in welchem die behandelten Sachverhalte nicht unmittelbar oder intuitiv wahr sind, sondern deren Wahrheit sich erst im Anschluss an Argumente oder Urteile, d.h. im Anschluss an ein reflexives oder

aber nenne ich sie tadelnd, wenn man sie für sich als eigentliche Erkenntnis betrachtet, und, was nur ein Notbehelf ist, weil wir es nicht besser machen können, für das Wesen der Religion ausgiebt.“ 829  Vgl. dazu in vorliegender Arbeit §  8.2.2.2.–3. 830  KGA I/2, 215,8. 831  KGA I/2, 215,6 f. 832  KGA I/2, 215,7. 833  KGA I/2, 215,5. 834  KGA I/2, 215,7. 835  KGA I/2, 215,9 f. 836  KGA I/2, 216,14 f. 837  KGA I/2, 216,17. 838  KGA I/2, 215,14.

§  8  Entfaltung

303

diskursives „Ableitungs-“839 oder „Anknüpfungs“-Verfahren840 erweist. Jede argumentative Ableitung von einzelnen religiösen Anschauungen untereinander bzw. die „Zusammenstellung und Verbindung“841 von mehreren religiösen Einzelanschauungen zu religiösen Anschauungsgruppen liegt daher nach Schleiermacher entweder in einem „fremden Gebiet“842 oder stellt nur ein sekundäres „Werk der spielenden Fantasie und der freiesten Willkür“843 dar.844 Drittens ist aufgrund der „selbständigen Einzelnheit“ der religiösen Anschauung das Gebiet der Anschauung prinzipiell „unendlich“845. Diese These Schleiermachers leuchtet unmittelbar ein, denn vorausgesetzt, das Universum ist das Unendliche, so muss es sich, weil es grenzenlos ist, in allem Endlichen in allen erdenklichen Hinsichten manifestieren. Aus diesem Grunde kann die religiöse Anschauung aus jeder erdenklichen Perspektive in jedem erdenklichen End­ lichen das Unendliche wahrnehmen und deshalb kann es weder eine Perspektive noch einen endlichen Gegenstand geben, von dem aus die religiöse Anschauung nicht das Unendliche wahrnehmen könnte, womit das Anschauungsgebiet folglich unendlich ist.846 Als Analogiebeispiel für die Charakterisierung der religiösen Anschauung gibt Schleiermacher die Wahrnehmung des Sternenhimmels an. Dieses „unendliche Chaos“847 ist nach Schleiermacher das „höchste Sinnbild“ der Religion.848 Wie die religiösen Anschauungen, so sind quasi auch die Sterne an sich selbst wahr und ihre Zusammenstellung zu Sternenbildern nur ein willkürliches Spiel der Einbildungskraft. Die Art der Bezugnahme der religiösen Anschauung auf das Universum findet somit in unendlichen, zusammenhangslosen Einzelwahrnehmungen statt, die jede für sich unmittelbar wahr sind und deren Zusammenstellung ein Produkt der freien menschlichen Willkür darstellt, welche dem „Einzelnen tief untergeordnet“849 ist.

839 

KGA I/2, 215,10. KGA I/2, 215,11. 841  KGA I/2, 216,6. 842  KGA I/2, 216,6 f. 843  KGA I/2, 216,8. 844  Vgl. hierzu auch Welker, Beurteilung, 84 f. 845  KGA I/2, 216,18. 846  „Dicht hinter Euch, dicht neben Euch mag einer stehen, und alles kann ihm anders erscheinen. Oder rüken etwa die möglichen Standpunkte, auf denen ein Geist stehen kann um das Universum zu betrachten, in abgemeßenen Entfernungen fort, daß Ihr erschöpfen und aufzählen und das Charakteristische eines jeden genau bestimmen könnt? Sind Ihrer nicht unendlich viele und ist nicht jeder nur ein stätiger Übergang zwischen zwei andern?“ (KGA I/2, 215,18 ff.) 847  KGA I/2, 216,1. 848  KGA I/2, 216,3. 849  KGA I/2, 216,16. 840 

304

Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

These 3:  Das „Ziel“ der religiösen Anschauung liegt in der religiösen Selbstbeschränkung und allgemeiner religiöser Toleranz. Bislang hat Schleiermacher das Ziel der religiösen Anschauungen nur negativ beschrieben. Weil die Art der religiösen Bezugnahme auf das Universum in unendlichen, an sich selbst wahren Einzelanschauungen stattfindet, kann auch das Ziel der religiösen Bezugnahme auf das Universum nicht in einem bestimmten, abgegrenzten System von religiösen Anschauungen liegen. In seinem dritten Abschnitt in KGA I/2, 216,19–218,20 ergänzt er die negative Charakterisierung durch das positive Ziel der religiösen Anschauungen.850 Dabei gewinnt er seine Argumentation aus einer zweifachen Analogie mit der sinnlichen Anschauung: Nach Schleiermacher gibt es in der sinnlichen Anschauung zum einen keinen Standort der sämtliche Anschauungsgegenstände umfasste, denn nicht bloß die Gegenstände selbst, sondern auch ihre „Ordnung“851 variieren mit jedem Standort. Das bedeutet, jede sinnliche Anschauung eines Menschen ist jeweils per­ spektivisch verfasste, bestimmte Anschauung. Zum anderen gibt es keine sinnliche Anschauungsperspektive, die Alleingültigkeit beanspruchen könnte, da alle Perspektiven das gleiche Recht besitzen und einander nicht widersprechen. Diese beiden Charakterisierungen gelten nach Schleiermache auch für die religiöse Anschauung. Ihr Gebiet ist sowohl unendlich als auch prinzipiell widerspruchsfrei, denn „im Unendlichen […] steht alles Endliche ungestört neben ­einander, alles ist Eins und alles ist wahr.“852 Der religiöse Mensch ist sich nach Schleiermacher dieses Sachverhalts unmittelbar im „Gefühl des Unendlichen“853 bewusst und weiß deshalb auch, dass „die Seinige nur ein Theil des Ganzen ist“854. Das Bewusstsein des religiösen Menschen, dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt, das Universum anzuschauen, erweckt in ihm nach Schleiermacher eine „schöne Bescheidenheit“855 und erzeugt in ihm zugleich die Fähigkeit zur Toleranz und „Duldsamkeit“856 auch derartigen religiösen Anschauungen ge850 Vgl.

Piper, Das religiöse Erlebnis, 98 f. KGA I/2, 216,20. 852  KGA I/2, 217,25 ff. 853  KGA I/2, 217,35 f. 854  KGA I/2, 216,38 f. 855  KGA I/2, 217,3. 856  KGA I/2, 217,4. Vgl. hierzu auch Mariña, J., „Schleiermacher, Realism, and Epistemic Modesty. A Reply to my Critics“, in: B. W. Sockness/W. Gräb (ed.), Schleiermacher, the Study of Religion, and the Future of Theology. A Transatlantic Dialog, Berlin/New York 2010, 121–134, hier: 131: „Accepting a deity, that is, standing in relation to the Absolute, is an immutable necessity. Yet, the religious experience is one that each person must have for him or herself in the inner sanctuary of the soul; the Absolute is always experienced from a particular perspective. Religious systems, and the enthusiasm and zealotry of the system builders who take themselves to have a priviledged access to the Absolute, can only get in the way of 851 

§  8  Entfaltung

305

genüber, „für die ihm vielleicht gänzlich der Sinn fehlt“857. Diese Toleranz hat eine qualitative Dimension, wodurch sie laut Schleiermacher „[…] auf dem Gebiet der Religion von allem Indifferentismus weit entfernt ist.“858 Hierin unterscheidet sich die Religion signifikant von Metaphysik und Moral. Weil diese beiden Geisteswerke von endlichen Bestimmungen ausgehend das Universum zu bilden versuchen, besteht ihr Ziel darin, alle die nach Wissen streben oder Handeln wollen, unter ein gemeinschaftliches System des Wissens oder Handelns zu bringen.859 Dazu müssen sie so vorgehen, dass vom System abweichende Ansichten als ungültig ausgeschlossen werden, denn „in so fern das Einzelne wieder auf etwas Einzelnes und Endliches bezogen wird, kann freilich Eins das Andere zerstören durch sein Dasein“860. Die qualitative Dimension religiöser Toleranz ist nach Schleiermacher folglich präzise als ein Verwandtschaftsbewusstsein zwischen den unterschiedlichen Religionsansichten charakterisiert, in welchem es „kein absolutes Abstoßen, keine gänzliche Trennung“861 gibt.862 Wenn es auch so erscheinen mag, als sei die Religionsgeschichte angefüllt mit der Verfolgungssucht Fremdgläubiger, so liegt es nicht an der Religion selbst,863 sondern ausschließlich an ihrer Vermischung mit Metaphysik und Moral: „Worüber denn in der Religion hat man gestritten, Parthei gemacht und Kriege entzündet? Über die Moral bisweilen und über die Metaphysik immer, und beide gehören nicht hinein.“864 Das Ziel der Religion besteht nach Schleiermacher aufgrund des Wesens­ charakters der religiösen Anschauung somit einerseits in demütiger Selbstbeschränkung und toleranter Achtung dem religiös Fremden gegenüber und andererseits, gespeist aus dem immanenten Verwandtschaftsbewusstsein gegenüber den anderen Religionen, in der Bereitschaft in die Gemeinschaft der allumfassenden, d.h. alle religiösen Anschauungen einschließenden Kirche einzutreten. Die Kirche als religiöse Sozialgemeinschaft ist nach Schleiermacher Beschreibungen der Reden keineswegs auf eine Religionsgemeinschaft beschränkt, sondern stellt vielmehr essentiell die Gemeinschaft des religiös Differenten bzw. den

this genuin experience. A truly transformative religious experience thereby carries with it epistemological modesty.“ 857  KGA I/2, 217,2 f. 858  KGA I/12, 299,26 f. 859  KGA I/2, 217,13 f. 860  KGA I/2, 217,23 ff. 861  KGA I/2, 271,4 f. 862  Vgl. KGA I/2, 291,29–37. 863  „Ihr seht daß hier [in der Kirche, C. K.] gar nicht von jenem Bestreben die Rede ist, Andere uns ähnlich zu machen, noch von dem Glauben an die Unentbehrlichkeit dessen, was in uns ist für Alle; sondern nur davon, des Verhältnißes unserer besonderen Ereigniße zur gemeinschaftlichen Natur inne zu werden.“ (KGA I/2, 267,26–30) 864  KGA I/2, 217,10 ff.

306

Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

„allgemeinen Verein“865 aller Religionen zur „gegenseitigen Mittheilung“866 und „Ergänzung“867 dar: Wenn die unbeschränkte Universalität des Sinnes die erste und ursprünglichste Bedingung der Religion, und also wie natürlich auch ihre schönste und reifste Frucht ist, so seht Ihr wol es nicht anders möglich, je weiter Ihr fortschreitet in der Religion, desto mehr muß Euch die ganze religiöse Welt als ein untheilbares Ganzes erscheinen.868

Die Möglichkeit der Kirche, d.h. ihre prinzipielle Basis, bildet dementsprechend nicht etwa der Wille zur Uniformität ihrer Mitglieder und zum Ausschluss der Andersgläubigen, sondern die in der religiösen Anschauung selbst unmittelbar wurzelnde Gewissheit von der Unvermeidbarkeit religiöser Andersartigkeit und die hieraus entspringende grundsätzliche Anerkennung religiöser Pluralität: [D]as […] ist gewiß, daß alle wahrhaft religiösen Menschen, soviel es ihrer je gegeben hat, nicht nur den Glauben, sondern das lebendige Gefühl von solch einer [kirchlichen, C. K.] Vereinigung mit sich herumgetragen und in ihr eigentlich gelebt haben.869

These 4:  Religiöse Gefühle unterscheiden sich eindeutig von menschlichen Handlungsmaximen. Um das „allgemeine Bild der Religion zu vollenden“870 zeigt Schleiermacher in seiner vierten Bestimmung der religiösen Anschauung auf, dass diese prinzipiell mit religiösen Gefühlen verbunden ist.871 Dabei unterscheidet er zwischen der Anschauung, die sich auf den „Zusammenhang zwischen dem Gegenstande“872 und dem Anschauenden bezieht und dem Gefühl, welches aus dem Eindruck eines Gegenstandes auf den subjektiven Gemütszustand eines Menschen resultiert.873 Schleiermacher nennt daher das Gefühl auch das „innere Bewußtsein“874. Mit dem Ausdruck „Gefühl“ wird nicht einfach der Zustand von Lust- oder Unlustempfindungen ausgedrückt, sondern das innere Bewusstsein eines „Verhältnißes“875 zwischen dem Menschen und seinem Gegenstand. So wie aus dem Zusammenspiel von Anschauungsgegenstand und anschauendem Menschen als Produkt die Anschauung, d.h. das „Bild eines Objekts“876 hervorgeht, welches stärker das objektive Verhältnis des Menschen zu seinem Gegenstand 865 

KGA I/2, 271,26 f. KGA I/2, 268,13. 867  KGA I/2, 268,11. 868  KGA I/2, 271,19–23. 869  KGA I/2, 273,38–41. 870  KGA I/2, 218,21. 871  KGA I/2, 218,22. 872  KGA I/2, 218,23. 873  KGA I/2, 218,37 f. 874  KGA I/2, 218,25. 875  KGA I/2, 218,37. 876  KGA I/2, 221,8. 866 

§  8  Entfaltung

307

beschreibt. So geht aus dem Zusammenspiel von gefühltem Gegenstand und fühlendem Menschen ein bestimmter Gemütszustand hervor, welcher stärker das innere Verhältnis des Menschen zu seinem Gegenstand beschreibt.877 Deshalb besitzen Gefühle, ebenso wie Anschauungen878 , einen bestimmten Inhalt, der ausgesprochen, festgehalten und dargestellt werden kann.879 Das Charakteristische des religiösen Gefühls gegenüber den menschlichen Handlungsmaximen besteht Schleiermacher zufolge darin, dass es erstens seinen Ursprung in den „Handlungen des Universums“880 selbst hat und aus diesem Grunde zweitens der Art nach, das Verhältnis zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen insgesamt beinhaltet. Laut Schleiermacher gehen menschliche (inklusive der moralischen) Handlungsmaximen, wie bereits dargestellt,881 von dem unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstsein der wechselseitigen Bezogenheit von Subjekt und seinem Objekt aus und orientieren sich demgemäß im Rahmen der relativen Freiheit. Bei religiösen Gefühlen hingegen wird das Subjekt von dem überwältigenden Eindruck des Unendlichen im Endlichen quasi absorbiert.882 Im Moment des religiösen Enthusiasmus’ verliert sich nach Schleiermacher die Grenze zwischen Subjekt und Objekt. Die Sphäre des Endlichen wird empathisch in das eigene Gemüt verwandtschaftlich mitein­ geschlossen und insgesamt dem Universum gegenüber in seiner radikalen Abhängigkeit erfahren.883 Diese innere Differenziertheit aller religiösen Gefühle in sowohl horizontal-symmetrische Liebe zu allem Endlichen als auch vertikal-­ asymmetrische Demut vor dem Unendlichen unterscheidet sie deutlich ins­ besondere von moralischen Handlungsmaximen,884 welche ihrem Prinzip der relativen Freiheit entsprechend „die Demut verachten“ müssen.885 Drittens besteht das Ziel der religiösen Gefühle laut Schleiermacher zum einen in einem Kultivierungsprozess. Wie die religiöse Anschauung Klarheit erstrebt, so lebt das religiöse Gefühl von seiner Intensität: So wie die besondere Art wie das Universum sich Euch in Euren Anschauungen darstellt, das Eigentümliche Eurer individuellen Religion ausmacht, so bestimmt die Stärke dieser Gefühle den Grad der Religiosität. Je gesunder der Sinn desto schärfer und bestimmter wird er jeden Eindruck auffaßen, je sehnlicher der Durst, je unauf haltsamer der Trieb das Unendliche zu ergreifen, desto mannigfaltiger wird das Gemüth selbst überall und ununterbrochen von ihm ergriffen werden, desto vollkommener werden

877 

Vgl. KGA I/2, 219,7–15. Vgl. KGA I/2, 223,20–236,21. 879  KGA I/2, 219,16 f.; 236,22–239,28. 880  KGA I/2, 218,36. 881  Vgl. in vorliegender Arbeit §  7.3. 882  Vgl. KGA I/2, 219,1–6. 883  Vgl. KGA I/2, 237,9 ff. 884  Vgl. KGA I/2, 236,30–39. 885  KGA I/2, 237,32–238,1. 878 

308

Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

diese Eindrücke es durchdringen, desto leichter werden sie wieder erwachen, und über alle andere die Oberhand behalten.886

Zum anderen sind die religiösen Gefühle darauf angelegt, die jeweilige innere Gemütslage des Menschen nach außen für andere darzustellen und wenn möglich, durch Darstellung des eigenen Gefühlsinnenlebens im anderen Menschen ähnliche Gefühle anzuregen.887 Diese Selbstdarstellung zur anregenden Erweckung religiöser Gefühle in anderen darf nicht so weit reichen, effektive Handlungen des Subjekts in der Welt hervorzurufen: „Auch muß Euer innerstes Gefühl ihr [der Religion, C. K.] darin beipflichten, daß es mit allen diesen Empfindungen nicht auf Handeln abgesehen ist, sie kommen für sich selbst und endigen in sich selbst als Funktionen Eures innersten und höchsten Lebens.“888 Diese innere Zirkulation der religiösen Gefühle, welche einen anderen Menschen nicht aktiv verändern, sondern nur passiv anregen, hat seinen Grund darin, dass die religiösen Gefühle „ihrer Natur nach die Thatkraft des Menschen lähmen“ und ihn zum „stillen hingegebenen Genuß“ des Universums einladen.889 Weil sich das Subjekt in seinen religiösen Gefühlen der liebenden Demut bzw. der demütigen Liebe mit allem Endlichen in radikaler Abhängigkeit vom Universum verbunden erfährt, entspringt aus ihnen kein Verlangen nach einer einwirkenden Handlung auf anderes Endliches oder das Unendliche. Das sich äußernde religiöse Gefühl ist vielmehr die dankbare Spiegelung erfahrener, bereits bestehender, Gemeinschaft mit dem Universum.890 Wie die religiöse Anschauung sich darauf beschränkte das Universum wahrzunehmen, ohne in die Natur des Unendlichen weiter einzudringen, so bleibt das religiöse Gefühl bei dem Genuss des Universums stehen und veranlasst den Menschen zu keinen Handlungen im eigentlichen Sinne.891 Daher ist nach Schleiermacher, in Analogie zur „leeren Mytholgie“, die versucht aus den religiösen Anschauungen ein Denken abzuleiten, der Versuch aus den religiösen Gefühlen ein Handeln abzuleiten, nichts anderes als „sklavischer Aberglaube“892 . Hierbei handelt es sich nämlich um kein freies Handeln des Menschen, denn die Religion bezieht sich mit ihren Gefühlen nicht auf den Bereich der menschlichen Freiheit, sondern auf den Bereich „jenseits des Spiels seiner besonderen Kräfte und seiner Personalität […] und sieht [den Menschen] aus dem Gesichtspunkte, wo er das sein muß was er ist, er wolle oder er wolle nicht“893. 886 

KGA I/2, 219,6–15. KGA I/2, 269,7–39. 888  KGA I/2, 238,1–4. 889  KGA I/2, 219,32 f. 890  KGA I/2, 237,6; 252,11. 891  KGA I/2, 219,18. 892  KGA I/2, 220,5 f. 893  KGA I/2, 212,10 ff. 887 

§  8  Entfaltung

309

Das Handeln aus Religion kann demnach nicht aus „Grundsaz und Absicht“894 des Menschen selbst erfolgen, sondern verdankt sich nur dem unmittelbaren Einfluss bzw. Eindruck des Universums. Wenn der Mensch seine Handlungen aus diesem Einfluss ableitet, so gibt er es damit auf ein „freier durch eigene Kraft thätiger Theil des Ganzen“895 zu sein und wird quasi zum Sklaven des Universums. Aus diesem Grunde soll nach Schleiermacher alles menschliche Handeln prinzipiell moralisch sein. Die Aufgabe der religiösen Gefühle besteht ausschließlich darin, diese Handlungen wie eine „heilige Musik“896 zu begleiten. Diese Beschreibung des Ziels der religiösen Gefühle wird von Schleier­m acher noch durch ein biblisches Beispiel ergänzt. Auch Jesus haben die ihm von seinem Vater mitgegebenen Engel nicht beim Handeln geholfen, sondern sie dienten analog zu den religiösen Gefühlen ausschließlich dazu, seiner „von Thun und Denken ermatteten Seele“ „Heiterkeit und Ruhe“ einzuflößen.897 Religiöse Gefühle unterscheiden sich folglich ihrem Ursprung, ihrer Art und ihrem Ziel nach eindeutig von menschlichen Handlungsmaximen. 2.2.2.  Die religiöse Fantasie In seiner Darstellung der religiösen Fantasie klärt Schleiermacher zuerst, was er unter dem Ausdruck „Gott“ versteht (2.2.2.1.). Daran anschließend wird die Wertindifferenz der religiösen Gottesvorstellung aufgezeigt (2.2.2.2.). Hierauf auf bauend wird das Proprium der religiösen Fantasie beschrieben (2.2.2.3.) und abschließend Schleiermachers Konzeption eines kritischen Theismus bzw. kriti­ schen Pantheismus in seinen Grundzügen dargestellt (2.2.2.4.). 2.2.2.1.  Die Bedeutung des Ausdrucks „Gott“ Schleiermacher weist in seiner Argumentation in KGA I/2, zunächst auf die bestehenden Unklarheiten bezüglich des im Kontext der Religion in Frage stehenden Gottesverständnisses im Allgemeinen hin: Zuerst saget mir doch, was meinen sie von der Gottheit und was wollt Ihr damit meinen? denn jene rechtskräftige Definition ist doch noch nicht vorhanden, und es liegt am Tage daß die größten Verschiedenheiten darüber statt haben.898

Zur Klärung unterscheidet er darauf hin zwischen drei unterschiedlich entwickelten Weisen, den Ausdruck „Gott“ zu verstehen und zu gebrauchen: 899 894 

KGA I/2, 218,5. KGA I/2, 220,16 f. 896  KGA I/2, 219,22 f. 897  KGA I/2, 220,26 f. 898  KGA I/2, 243,22–25. 899  Vgl. hierzu auch Beißer, Schleiermachers Lehre von Gott, 33 f.; Christ, F., Menschlich von Gott reden. Das Problem des Anthropomorphismus bei Schleiermacher, Einsiedeln/Köln/Gütersloh 1982, hier: 96–98. 895 

310

Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Den mehrsten ist offenbar Gott nichts anders als der Genius der Menschheit. Der Mensch ist das Urbild ihres Gottes, die Menschheit ist ihr alles, und nach demjenigen, was sie für ihre Ereigniße und Führungen handeln, bestimmen sie die Gesinnungen und das Wesen ihres Gottes [1]. […] Es mag dichterischere Gemüther geben, und ich gestehe ich glaube, daß diese höher stehen, denen Gott ein von der Menschheit gänzlich unterschiedenes Individuum, ein einziges Exemplar einer eigenen Gattung ist [2] […]. Doch dies mögen nur unvollständige Begriffe von Gott sein, laßt uns gleich zu den höchsten gehen, zu dem von einem höchsten Wesen, von einem Geist des Universums, der es mit Freiheit und Verstand regiert [3], so ist doch auch von dieser Idee die Religion nicht abhängig [4].900

Die eingeschränkte und zugleich gewöhnlichste Weise sich Gott vorzustellen, besteht darin, den Menschen selbst als Urbild Gottes und Gott demzufolge als Projektion menschlicher Gesinnungen und Eigenschaften aufzufassen [1]. Diese implizit vorweggenommene Feuerbachsche homo-homini-deus-est-These, derzufolge gilt, „dass der einzige Gott des Menschen der Mensch selbst ist“901, kritisiert Schleiermacher nachdrücklich. Er hält in diesem Zusammenhang fest, dass eine derartige Gottesvorstellung zu kurz greifen muss, da sie die religiöse Anschauung des Universums als des Grundes und der Totalität allen endlichen Seins notwendigerweise unterläuft. Weil sich ihm zufolge das Universum nicht allein in der Menschheit, sondern ebenso in der Natur manifestiert, stellt die Menschheit folglich nur einen „Theil, eine einzelne vergängliche Form“902 des Universums dar. Wird diese endliche Form als Urbild Gottes aufgestellt, so kann auch die daraus sich ergebende Gottesvorstellung für das religiöse Bewusstsein nur beschränkte Gültigkeit besitzen, da sie keineswegs für das Unendliche insgesamt zu stehen vermag. Eine weitere Unterbestimmung der religiösen Gottesvorstellung, besteht in den Vorstellungen von Gott als einem von der Menschheit gänzlich unterschie900 

KGA I/2, 243,25–29. hier gilt daher ohne alle Einschränkung der Satz: Der Gegenstand des Menschen ist nichts anderes als sein gegenständliches Wesen selbst. Wie der Mensch denkt, wie er gesinnt ist, so ist sein Gott: so viel Wert der Mensch hat, so viel Wert und nicht mehr hat sein Gott. Das Bewusstsein Gottes ist das Selbstbewusstsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes, die Selbsterkenntnis des Menschen. Aus seinem Gotte erkennst Du den Menschen, und wiederum aus dem Menschen seinen Gott: beides ist eins. Was dem Menschen Gott ist, das ist sein Geist, seine Seele, und was des Menschen Geist, seine Seele, sein Herz, das ist sein Gott: Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochene Selbst des Menschen; die Religion die feierliche Enthüllung der verborgenen Schätze des Menschen, das Eingeständnis seiner innersten Gedanken, das öffentliche Bekenntnis seiner Liebesgeheimnisse. […] Das göttliche Wesen ist nichts anderes als das menschliche Wesen oder besser: das Wesen des Menschen, abgesondert von den Schranken des individuellen, d.h. wirklichen, leiblichen Menschen, vergegenständlicht, d.h. angeschaut und verehrt als ein anderes, von ihm unterschiedenes, eigenes Wesen – alle Bestimmungen des göttlichen Wesen sind darum Bestimmungen des menschlichen Wesens.“ (Feuerbach, L., Das Wesen der Religion, hrsg. v. A. Esser, Heidelberg 3.  Aufl. 1979, 95–98) Vgl. auch Williams, R. R. „Schleiermacher and Feuerbach on the Intentionality of Religious Consciousness“, The Journal of Religion 53/4 (1973), 424–455. 902  KGA I/2, 243,31 f. 901  „Und

§  8  Entfaltung

311

denen Wesen, dessen Besonderheit darin besteht, als einziges existierendes Individuum mit seiner Gattung identisch zu sein [2]. Weil nach Schleiermacher jedoch allgemein jede Art von Individualität notwendigerweise Endlichkeit impliziert und insofern „jede Gattung mit ihrem Individuum […] dem [unendlichen, C. K.] Universum untergeordnet“903 ist, muss auch diese zweite Weise der Gottesvorstellung als endlich angesehen werden und kommt daher nicht als einziger oder höchster Gegenstand der Religion in Frage. Als einziger Kandidat für eine adäquate Gottesvorstellung bleibt nach Schleiermacher nur die Ansicht übrig, das Universum selbst als beseelt zu begreifen. Indem Gott mit dem freien und verständigen Geist des Universums selbst identifiziert wird, kommt ihm, ebenso wie dem Universum, wahre Unendlichkeit zu [3]. Schleiermachers zentrale These besteht darin, dass sogar diesem höchstentwickelten, personalistischen Gottesverständnis keine konstitutive Bedeutung für das religiöse Bewusstsein zukommt [4], wie im Folgenden erläutert wird. 2.2.2.2.  Die Wertindifferenz der religiösen Gottesvorstellung In KGA I/2, 244,12–245,13 hält Schleiermacher grundsätzlich fest, woraus sich die Wertigkeit einer bestimmten Religion ergibt: Religion haben, heißt das Universum anschauen, und auf der Art, wie Ihr es anschauet, auf dem Prinzip, welches Ihr in seinen Handlungen findet, beruht der Werth Eurer Religion [1]. Wenn Ihr nun nicht läugnen könnt, daß sich die Idee von Gott zu jeder Anschauung des Universums bequemt [2], so müßt Ihr auch zugeben, daß eine Reli­g ion ohne Gott beßer sein kann, als eine andre mit Gott [3].904

Dem Zitat zufolge bemisst sich die Wertigkeit einer bestimmten Religion nicht nach der ihr korrespondierenden bzw. nicht-korrespondierenden Gottesvorstellung, sondern einzig nach der Klarheit ihrer religiösen Anschauungen vom Universum [1]. Hierin gibt es Schleiermacher zufolge drei Entwicklungsstufen: Entweder wird das Universum als Chaos, d.h. als Einheit ohne Vielheit oder als Mannigfaltiges heterogener Kräfte, d.h. als „Vielheit ohne Einheit“ oder aber auf der letzten Stufe als „System“, d.h. als „Einheit in der Vielheit“ angesehen.905 Jede dieser religiösen Entwicklungsstufen ist in zweifacher Hinsicht seiner Art nach näher bestimmbar: 906 Entweder wird das jeweils angeschaute Universum als beseelt bzw. personalistisch oder als unbeseelt bzw. pantheistisch vorgestellt.907

903 

KGA I/2, 244,5 f. KGA I/2, 244,12–17. 905  KGA I/2, 244,18–245,7. 906 Gegen Christ, Menschlich, 99 f. 907  Vgl. hierzu auch KGA I/2, 302,13–19. 904 

312

Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Weil nach Schleiermacher somit die personalistische Gottesvorstellung nur eine von zwei möglichen „Vorstellungsarten“908 auf jeder religiösen Entwicklungsstufe darstellt bzw. sich „die Idee von Gott zu jeder Anschauung bequemt“ [2] und sich der Wert einer Religion ausschließlich an ihrer Entwicklungsstufe bemisst, kann einer pantheistischen eine höhere religiöse Wertigkeit zukommen als einer personalistischen Universumsvorstellung [3]: „Sollte nicht Spinoza eben so weit über einem frommen Römer stehen, als Lukrez über einem Götzendiener?“909 Damit behauptet Schleiermacher zugleich: Weil die personalistischen und pantheistischen Universumsvorstellungen keine Entwicklungsstufen, sondern nur Vorstellungsarten des Universums darstellen, besitzen sie auf der gleichen Stufe stehend notwendigerweise den gleichen religiösen Wert.910 Demnach ist die personalistische Gottesvorstellung auf der Ebene des religiösen Bewusstseins wertindifferent. Der personalistischen Gottesvorstellung kommt nach Schleiermacher keine konstitutive, sondern ausschließlich eine kontingente Bedeutung für das religiöse Bewusstsein zu, denn als eine religiös wertindifferente Vorstellungsart ist sie für das religiöse Bewusstsein zweifellos nicht notwendig. Ob ein Mensch ein religiöses Bewusstsein besitzt oder nicht, und welcher religiöse Wert diesem Bewusstsein zukommt, liegt nach Schleiermacher ausschließlich daran, ob er über ein Bewusstsein des Universums verfügt und welchen Klarheitsgrad dieses Bewusstsein besitzt. Die Religion gründet nicht prinzipiell darauf, dass ein menschliches Bewusstsein vom wahren Unendlichen näher spezifiziert als personalistisch ausgeprägt ist. Im Umkehrschluss gilt, dass auch eine pantheistische Universumsvorstellung nicht konstitutiv für das religiöse Bewusstsein ist. Dies ist eine Einsicht, die von Schleiermacher in der Erstauflage der Reden nicht eindeutig herausgearbeitet wird. Mit seiner Aussage, dass personalistische und pantheistische Vorstellungen des Universums wertindifferent sind, hat Schleiermacher keineswegs gezeigt oder gar behauptet, dass diesen beiden Vorstellungsarten selbst keinerlei Bedeutung für das religiöse Bewusstsein zukommt. Ob ein Mensch sich das Universum beseelt oder unbeseelt vorstellt, kann die Wertigkeit seiner Religion weder Schmälern noch Steigern. Dennoch ist es nach Schleiermacher unausweichlich, dass ein Mensch eine von beiden Alternativen ergreift. Die Bildung der religiö­ sen Vorstellungsart ist folglich anthropologisch notwendig.

908 

KGA I/2, 302,32. KGA I/2, 245,9 f. Vgl. Braasch, Comparative Darstellung, 33–36. 910  „Aber das ist die alte Inkonsequenz, das ist das schwarze Zeichen der Unbildung, daß sie die am weitesten verwerfen, die auf einer Stufe mit ihnen stehen, nur auf einem anderen Punkt derselben!“ (KGA I/2, 245,9–13) 909 

§  8  Entfaltung

313

Um diesen besonderen Status der religiösen Anschauungsarten spezifisch zu charakterisieren, kann man sie als unmittelbar-willkürlich bezeichnen. Dadurch wird deutlich, dass sie sich einerseits von den direkten religiösen Anschauungen unterscheiden, welche sich unmittelbar-unwillkürlich durch eine Handlung des Universums einstellen und andererseits vom religiösen Denken abheben, welches im Rahmen mittelbar-willkürlicher Handlungen des religiösen Subjekts erfolgt.911 Diese epistemologische Mittelstellung der religiösen Fantasie im Allgemeinen wird im Folgenden thematisiert. 2.2.2.3.  Grund und Grenze der religiösen Fantasie In KGA I/2, 245,13–38 gibt Schleiermacher sein eigenes zentrales Argument zur Herkunft der religiösen Gottesvorstellungen: In der Religion wird das Universum angeschaut, es wird gesetzt als ursprünglich handelnd auf den Menschen [1]. Hängt nun Eure Fantasie an dem Bewußtsein Eurer Freiheit so daß es nicht überwinden kann dasjenige was sie als ursprünglich wirkend denken soll anders als in der Form eines freien Wesens zu denken; wohl, so werdet Ihr einen Gott haben [2]; hängt sie am Verstande, so daß es Euch immer klar vor Augen steht, Freiheit habe nur Sinn im Einzelnen und fürs Einzelne; wohl so werdet Ihr eine Welt haben und keinen Gott [3].912

Den grundlegenden Ausgangspunkt von Schleiermachers Argumentation bildet das religiöse Bewusstsein des ursprünglich handelnden bzw. des lebendigen Universums. Es ist die Beschreibung des unmittelbaren Augenblicks, in welchem das Universum in seinem asymmetrischen Verhältnis zu allem Endlichen erfahren wird [1]. An diese, alles weitere bedingende religiöse Grundanschauung von der Selbstgabe des Unendlichen im Endlichen, schließt sich laut Schleiermacher die Tätigkeit der menschlichen Fantasie an, die in die beiden Vorstellungsalternativen mündet, sich entweder das lebendige Universum als beseelt [2] oder als unbeseelt zu vergegenwärtigen [3]. Der Grund für die beiden alternativen Vorstellungsweisen der Fantasie im Anschluss an die Erfahrung des lebendigen Universums ist von Schleiermacher in diesem Zitat allerdings ungenau angegeben. Wenn er festhält, dass die perso911  Vgl. hierzu auch Thandeka, „Schleiermacher, feminism, and liberation theologies: a key“, in: J. Mariña (ed.), The Cambridge Companion to Friedrich Schleiermacher, Cambridge 2005, 287–305, hier: 296 (kursiv, C. K.): „The rational complement to Schleiermacher’s theological reasoning is his imiginative theological improvisation. This is the case because imaginative improvisation (Fantasie) is the first cognitive expression of the way in which human affection has been altered. Imaginativeness is concrete thinking, a schematization of human consciousness […]. The imaginative expressions are imaginative movements of sustained human consciousness, mesured, ordered, and displayed. They are the mental expressions closest to the experience of altered human affections. They are affect-near. Concepts, by contrast, are affect-distant.“ 912  KGA I/2, 245,17–25.

314

Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

nale Gottesvorstellung bzw. der a-personale Pantheismus sich daraus ergeben, dass die Fantasie entweder an dem Bewusstsein der Freiheit oder aber an dem Verstand „hängt“, so sind drei mögliche Irrtümer dabei auszuschließen: Erstens ist es keineswegs Schleiermachers Ansicht, dass menschliche Freiheit und menschlicher Verstand in einem gegenseitigen Ausschlussverhältnis zueinander stehen. Dies geht schon aus der von ihm in seinen Frühschriften und auch den Reden vertretenen kompatibilistischen Freiheitskonzeption hervor.913 In dem vorliegenden Fall bezeichnet Schleiermacher mit den Ausdrücken „Freiheit“ und „Verstand“ auch nicht die menschlichen Geistesvermögen direkt, sondern er bringt vielmehr zum Ausdruck, dass das lebendige Universum selbst entweder als beseelt, d.h. freiheitsfundiert oder eben als unbeseelt, d.h. bloß immanent reguliert erscheint. Das lebendige Universum wird entweder als anonyme Urkraft oder als höchstes Wesen erfahren und dementsprechend die Vorstellung vom „Woher“ alles endlichen Seins entweder personalistisch oder a-personalistisch bestimmt. Zweitens kann Schleiermacher nicht der Ansicht sein, dass die menschliche Fantasie ausgehend von der Erfahrung des lebendigen Universums zunächst die Vorstellung der personalen Gottheit bildet und im Anschluss daran, falls sich diese Vorstellung als problematisch herausstellt, etwa weil „Freiheit […] nur Sinn im Einzelnen und fürs Einzelne“ hat, also aufgrund einer Verstandes­einsicht zu der pantheistischen Universumsvorstellung übergeht. Diese Ansicht einer zeitlichen Folge bzw. sachlichen Folgerung beinhaltet die irrtümliche Meinung, dass die Gründe für die personale und a-personale Universumsvorstellung kategorisch voneinander unterschieden sind, nämlich entweder als Fantasieprodukt oder als Verstandesprodukt. Schleiermachers allgemeiner Fantasiekonzeption zufolge müssen beide Vorstellungen gleichursprüngliche Produkte der Fantasie selbst darstellen. Sie sind seiner Beschreibung zufolge beide Ausdruck des unmittelbar-willkürlichen Fantasievermögens des Menschen. Folglich ist auch die pantheistische Vorstellung nicht das Ergebnis eines vermittelt-willkürlichen Denkaktes. Drittens geht aus den beiden genannten Präzisierungen hervor, dass Schleiermacher keineswegs die a-personale, pantheistische Universumsvorstellung der personalen Gottesvorstellung gegenüber bevorzugt, sondern beide, ganz im Sinne ihrer Bezeichnung als Vorstellungsarten, als gleichwertig ansieht. Dieses wurde von den frühesten Interpretationen an immer wieder falsch ausgelegt und führte zu fatalen Fehleinschätzungen des Universumsverständnisses Schleiermachers.914 So kam es zu der irrigen Ansicht, dass Schleiermacher den Panthe­ 913 

Vgl. in der vorliegenden Arbeit §  7.3. Christ, Menschlich, 110: „Seine [Schleiermachers, C. K.] Polemik trifft nur den Theismus. Über eine schöpferische Kraft der Phantasie läßt sich nicht streiten. Schleiermacher hat freilich die beiden angedeuteten Richtungen der Phantasie nicht als gleichwertig dargestellt. Wenn er gegenüber Sack beteuert hat, daß er die andere Richtung [den Theis914 Gegen

§  8  Entfaltung

315

is­mus als die geläuterte aufgeklärte Vorstellung gegenüber der naiven Vorstellung eines personalen Gottes aufwertet. Dieser Ansicht nach bildeten dann zwangsläufig Pantheismus’ und Personalismus’ unterscheidliche religöse Erkenntnisstufen. Gegen diese Ansicht sprechen sich sowohl Schleiermachers Ausführungen in den Reden selbst915 als auch seine späteren Selbstinterpretationen zu dieser Stelle deutlich aus.916 Schleiermachers Beschreibung der Fantasiealternativen besagt keineswegs, dass eine personalistische Universumsvorstellung, weil sie auf dem Bewusstsein der Freiheit gründet, unverständig sei. Oder, dass eine pantheistische Universumsvorstellung, weil sie auf dem Verstand basiert, das Universum als Bereich der blinden Notwendigkeit auffasst. Vielmehr ist Schleiermacher der Ansicht, dass es die Aufgabe der Fantasie ist, im Rahmen der ihr vorliegenden religiösen Anschauung vom lebendigen Universum,917 entweder die personalistische Universumsvorstellung zugleich auf verständige Weise oder aber die pantheistische Universumsvorstellung zugleich unter Einschluss von Freiheit zu bilden. Obwohl es sich also um Vorstellungsalternativen der Fantasie handelt, stellen diese keine absoluten Gegensätze dar, sondern stehen als kreative Interpretationen des ihnen gemeinsam zugrundeliegenden Bildes vom lebendigen Universum in einem relativen Dominanz- und gegenseitigen Ergänzungsverhältnis zueinander. Wenn beide Vorstellungsarten des Universums gleichursprünglich und gleichwertig sind, und ihre jeweilige Bildung einen bestimmten Grund, d.h. keinen Akt der blinden Willkür des religiösen Subjekts darstellen soll, worauf geht dann die Bevorzugung jeweils einer der beiden dargestellten Alternativen zurück? Auf diese Frage hat die Forschung bislang keine befriedigende Antwort gegeben. Der Ursprung der beiden alternativen Universumsvorstellungen kann ausschließlich in der religiösen Anschauung, die der Fantasie genealogisch und mus, C. K.] nicht verachte, so kann man doch nicht leugnen, daß er sie in den Reden herabsetzt.“ Vgl. auch Rohls, „Das Christentum“, 62: „Mit Lessing, Herder, Goethe, Hölderlin und Hegel teilt Schleiermacher die Abneigung gegen den theistischen Gottesbegriff und die Aufnahme des spinozistischen Gottesbegriffs, wonach Gott ‚Ein und Alles‘ ist. Wie Spinoza von Gott als der natura naturans spricht, so ist für Schleiermacher Gott das Universum.“ Selbst bei der ausgewogenen Beurteilung Lamms steht fest, dass Schleiermachers Vorstellung eines „organic monism“ in den Reden das eigentliche Zentrum seines Universumsverständnisses bilden. 915  Vgl. KGA I/2, 316,26–34. 916  Schleiermacher hält in: KGA I/12, 145,24–32 mit Rücksicht auf seine Reden und auf die Glaubenslehre fest, dass es „wol nicht mehr nöthig [ist, C. K.] noch eine Vertheidigungsrede zu halten gegen die Vermuthung, denn Beschuldigung will ich es nicht gern nennen, welche aus dieser Rede [der 2. Rede der Reden, C. K.] sogar einige mir sehr verehrte nun zum Theil schon hinübergegangene Männer geschöpft haben, als ob ich für mich die unpersönliche Form das höchste Wesen zu denken vorzöge, und dies hat man denn bald meinen Atheismus bald meinen Spinozismus genannt.“ 917 Vgl. Christ, Menschlich, 102.

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sachlogisch vorausgeht, gesehen werden. Die religiöse Anschauung ist daher als zeitlich vorgängig und als fantasiedeterminierend anzusehen. In §  8.1. der vorliegenden Arbeit wurde bereits gezeigt, dass das religiöse Bewusstsein auf zwei Alternativen gerät, je nachdem, welcher Gegenstandsbereich zum bevorzugten Ausgangspunkt seiner religiösen Erfahrung avanciert. Dies waren einerseits der Bereich der Naturanschauung und andererseits der Bereich der Menschheitsanschauung. Diese Bevorzugung einer der beiden Bereiche ist im Rahmen von Schleiermachers Fantasieverständnis der entscheidende Grund für entweder die personale oder pantheistische Universumsvorstellung: In der religiösen Naturanschauung wurde das wahre Unendliche Schleiermacher zufolge im Bild des immanent regulierten lebendigen Organismus, in der religiösen Menschheitsanschauung hingegen als lebendiger Kunstprozess erfasst. Die menschliche Fantasie ergänzt nach Schleiermacher jeweils diese Bilder, indem sie die anthropologisch unvermeidliche Frage nach der setzenden Kraft hinter der religiösen Anschauung selbsttätig kreativ beantwortet. 918 Dem Bild des lebendigen Organismus entspricht eine a-personale bzw. pantheistische Vorstellung des Universums, hingegen korrespondiert dem lebendigen Kunstprozess nach Schleiermacher die Vorstellung einer personalen Gottheit. Über den wahren Ursprung der religiösen Fantasie lässt sich damit allgemein festhalten: Weil die Bestimmtheit der religiösen Fantasie direkt von den religiösen Anschauungsbildern abhängig ist, sich diese aber aus der Ausrichtung des religiösen Sinns ergeben,919 basiert der wahre Ursprung, ob ein Mensch in seiner Fantasie das Universum pantheistisch oder personalisiert auffasst, keineswegs auf blinder Willkür, sondern ergibt sich vielmehr aus der ihm charakterlich vorgegebenen Affinität entweder für die religiöse Menschheits- oder Naturerfahrung.920 918  KGA I/2, 245,25–28: „Ihr, hoffe ich, werdet es für keine Lästerung halten, daß Glaube an Gott abhängt von der Richtung der Fantasie; Ihr werdet wißen daß die Fantasie das höchste und ursprünglichste ist im Menschen, und außer ihr alles nur Reflexion über sie“. 919  Das Zusammenspiel von religiösem Sinn, religiöser Anschauung und religiöser Fantasie ist also durchaus komplex. In der Forschungsliteratur wird diese Komplexität häufig verkannt, indem, wie etwa von E. Huber (E. Huber, Entwicklung, 22) und Haym (Haym, Romantische Schule, 429 f.) diese drei menschlichen Vermögen schlicht als identisch angesehen werden. Piper trifft hingegen die richtige Unterscheidung: „Sinn ist ja die Erlebnisgrundlage, Phantasie dagegen die Fähigkeit, das Erlebte zu formen.“ (Piper, Das religiöse Erlebnis, 114) Das Problem seiner Interpretation besteht allerdings darin, dass er zwar das Verhältnis zwischen Sinn bzw. Anschauung und Fantasie adäquat bestimmt, jedoch die Bedeutung des menschlichen Denkens als Kontrollinstanz der Fantasie übersieht. 920 Vgl. hierzu Schleiermachers Charakterisierung von Spalding. In ihm sieht er die „vollendete Repräsentantion der ganzen einen Seite der Religiosität“ (KGA I/5, 33,14 f.), nämlich diejenige, „welche die Richtung ganz nach innen nimmt, und alles im Gemüth in Übereinstimmung zu bringen sucht, nicht aber selbstthätig schaffend vom Mittelpunkt immer weiter nach außen geht“ (KGA I/5, 31,1–4). Dabei rührt nach Schleiermacher Spaldings Religiosität aus der spezifischen Richtung seines religiösen Sinns her: „Es gehört zu dieser An-

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317

Und ebenso wie die Höchstform der Universumsanschauung in einer Bezogenheit von Natur- und Menschheitsanschauung besteht,921 so ist nach Schleiermacher auch diejenige religiöse Fantasie im höchsten Maße entwickelt, die trotz natürlicher Affinität zu einem der beiden Gegenstandsbereiche, dennoch die pantheistische und die personalistische Vorstellung des Universums in einem bestimmten Dominanzverhältnis ergänzend aufeinander zu beziehen vermag.922 Die entscheidende Grenze der religiösen Fantasie ergibt sich nach Schleiermacher daraus, dass, so wie ihr der Ursprung durch den religiösen Sinn vorgegeben ist, sich ihr Endprodukt an die Regeln der logischen Konsistenz halten muss. Deutlich hat Schleiermacher diese umfängliche Eingebundenheit der Fantasie in den menschlichen Bewusstseinsprozess bereits in seiner Frühschrift Vom Wert des Lebens festgehalten: Es ist wahr, auch die Fantasie ist zu dem, was sie hier leisten muß, allgemeiner Begriffe und Regeln benöthigt, indem alle Bilder und Dichtungen nur in Beziehung auf diese ein Ganzes ausmachen können, und diese selbst ihr überall den Weg zeigen müssen, aber sie braucht sie nicht in der ausgebildeten, entwikelten verbundenen Gestalt wie der spekulierende Verstand sie darstellt [1], sondern nur so, wie wir sie, fast ohne uns dessen bewusst zu seyn in jedem Augenblik des täglichen Lebens anwenden, und was sie auf diese Weise nothwendig davon braucht, das komt ihr von selbst in die Hände, da vermittelst der ersten Geseze des Denkens auch sie in allen Operationen unter dem Einfluß dieser allgemeinen Regeln steht [2].923

Die kreative Selbständigkeit der Fantasie ist keineswegs mit schierer Beliebigkeit zu verwechseln. Zwar gewinnt sie, anders als der spekulative Verstand, ihre positiven Inhalte aus den ihr vorausliegenden Anschauungen [1], allerdings bleibt die Fantasie in der adäquaten Ausübung ihrer Funktion an die Einhaltung der basalen Grundregeln des Denkens gebunden, denen eine negative bzw. kritische Kontrollfunktion für die Fantasie zukommt [2]. Ein zusammenfassendes Zitat von der Einbindung der Fantasie in den mensch­lichen Bewusstseinsprozess findet sich wiederum in Schleiermachers Werk Vom Wert des Lebens. Hier hält er in Bezug auf die Fantasie deutlich fest: […] die Fragen, welche sie aufwirft, die Antworten, die sie gibt, die nie ausgemahlten, immer unbegränzten aber auch immer unendlich grossen und erhabnen Bilder, welche sicht, daß die Gottheit ausschließend als Vorsehung angeschaut wird […] wo das Bild einer sich selbst im Äußern darstellenden unendlich schaffenden Natur das herrschende ist.“ (KGA I/5, 31,21–26 (kursiv, C. K.)) Diese Beschränkung des religiösen Sinns und der mit ihr verbundenen Religiosität sieht Schleiermacher als religiösen Makel Spaldings an und hält allgemein fest, dass ebenso wie beide Seiten des religiösen Sinns auch „beide Gestalten der Religiosität [oft] heftig gegeneinenander [streiten], weil sie einander nicht verstehen, und das kleinere Gebiet ihres Gegensatzes stärker ins Auge fassen, als die größere gemeinschaftliche Sphäre.“ (KGA I/5, 32,5–8 (kursiv, C. K.) 921  Vgl. die vorherige Fußnote. 922 Gegen Braasch, Comparative Darstellung, 36–38. 923  KGA I/1, 450,23–451,5.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

sie jenen vom Verstande erfundnen Gesezen gemäß, über den Gang und die Ordnung des Weltalls im Ganzen oder aus einzelnen Gesichtspunkten entwirft, womit sie die Seele in einzelnen Augenbliken bis zum Uebermaaß des Entzükens anfüllt [1], und wodurch allein, aber auch nur indem sie eine Verrätherei am Verstande begeht, und mehr oder minder verdekt ein selbständiges Leben in die todten Massen und ein eigentümliches Begehren in die mechanischen Kräfte hineinschwärzt, der innere Aufruhr und Zwietracht, den die gänzliche Trennung des sinnlichen und übersinnlichen in unseren Systemen verschuldet hat, auf Augenblike beschwichtigt werden kann [2] […] Für jede gleichartige Kraft und Würkung einen regierenden Gott, für alle gleichartigen Gegenstände eine ähnliche Welt von belebenden Wesen; nicht so rauh getrennt das sinnliche und übersinnliche; beides innig vereint in jeder Erscheinung, in jeder Begebenheit; jenes überall veredelt durch Leben und Willen, dieses überall begreiflich gemacht durch Gestalt und sichtbare Handlung [3].924

In diesem Zitat zeigt sich, dass die Fantasie ausgehend von Anschauungsbildern und im Rahmen der logischen Verstandesgesetze operiert [1], wobei das Proprium ihrer Tätigkeit in der kreativen Erschaffung einer konkreten Vorstellung von der Ordnung des Weltalls im Ganzen besteht, in welcher folglich die strikte Trennung von sinnlicher und übersinnlicher Wirklichkeitsdimension aufgehoben ist [2]. Stattdessen werden in der Fantasievorstellung das Endliche und Unendliche innig miteinander verbunden, indem auf der einen Seite die endlichen Sachverhalte nicht kausal-mechanistisch, sondern in ihrer durch einen Willen gesetzten Lebendigkeit erfasst werden und auf der anderen Seite das Unendliche nicht statisch-abstrakt, sondern in seinen sich selbst im Endlichen manifestierenden Handlungen wahrgenommen wird [3]. Diese allgemeine Fantasiekonzeption bildet in den Reden den theoretischen Hintergrund zu Schleiermachers Darstellung der religiösen Fantasie. Sie kann durch ein weiteres Zitat aus Vom Wert des Lebens auch in Bezug auf ihre Grenzen näher bestimmt werden: Die Zeit der Jugend liegt hinter mir. […] Die Herrschaft der Fantasie hat ein Ende; ihre unstäten Freuden haben der heitern Ruhe Platz gemacht, die aus der Betrachtung der Dinge wie sie in ihrem Zusammenhange sind, entsteht; sie ist aus einer Despotin der übrigen Seelenkräfte ihre gemeinschaftliche Freundin geworden.925

Die beschriebene umfänglich-konzeptuelle Einbindung der religiösen Fantasie in den menschlichen Bewusstseinsprozess bei Schleiermacher hat gezeigt, dass die religiösen Vorstellungen des Pantheismus bzw. des Personalismus formal eine epistemologische Mittelstellung zwischen der religiösen Anschauung und dem reliigösen Denken einnehmen. Aus diesem Grunde beinhaltet Schleiermachers Verständnis der religiösen Fantasie implizit die Konzeption eines kritischen Theismus bzw. Pantheismus des religiösen Bewusstseins selbst, deren Grundzüge im Folgenden aufgezeigt werden sollen. 924  925 

KGA I/1, 453,6–29 (kursiv, C. K.). KGA I/1, 405,38–406,1.

§  8  Entfaltung

319

2.2.2.4.  Der kritische Theismus bzw. kritische Pantheismus des religiösen Bewusstseins Kennzeichnend für Schleiermachers kritischen Theismus bzw. kritischen Pantheismus der Reden ist, dass er nicht auf dem Weg des spekulativen Denkens erzeugt wird, sondern sich im Anschluss an die religiöse Anschauung und unter Einschluss der logischen Grundregeln des Denkens im religiösen Bewusstsein selbst bildet und sich konkret aus der religiösen Gewissheit von der Diskrepanz zwischen der Aufgabe und der Möglichkeit der religiösen Fantasie ergibt: Die Aufgabe der religiösen Fantasie besteht darin, das empfangene Anschauungsbild des wahren Unendlichen selbsttätig in eine lebendige Vorstellung zu überführen.926 Das grundsätzliche Problem der religiösen Fantasie ergibt sich daraus, dass die Möglichkeit ihrer Kreativität bei der Umsetzung dieser Aufgabe notwendigerweise an den sinnlichen Bereich gebunden ist. Sie vergegenwärtigt die Lebendigkeit des Unendlichen zwangsläufig mit den Mitteln des Endlichen.927 Das Bewusstsein dieser unvermeidlichen Diskrepanz zwischen Aufgabe und Möglichkeit der Fantasie führt nach Schleiermacher bei den religiösen Menschen keineswegs zu einer grundsätzlichen Abwertung der religiösen Fantasie – ganz im Gegenteil. Indem die religiösen Subjekte sich der prinzipiellen Unangemessenheit endlicher Vorstellungsinhalte zur Darstellung des lebendigen Universums bewusst sind, können sie gewiss sein, dass sich ihnen in der religiösen Anschauung tatsächlich das wahre Unendliche selbst offenbart hat. Das religiöse Bewusstsein von der qualitativen Differenz zwischen dem Unend­ lichen und dem Endlichen birgt in sich die religiöse Gewissheit, mit den Vorstellungsgehalten der endlichen Fantasie das lebendige Unendliche nur per analogiam niemals jedoch an sich adäquat erfassen zu können. Es gilt somit bereits für Schleiermachers Fantasiekonzeption der Reden, was er später in der Glaubenslehre explizit festhält, dass in Bezug auf die Gottesvorstellung sich „die Frommen bewußt [sind], daß sie nur im Sprechen das menschenähnliche nicht vermeiden können, in ihrem unmittelbaren Bewußtsein aber den Gegenstand von der Darstellungsweise gesondert festhalten“.928 926 

Vgl. auch KGA I/13.1, 38,28–40,30. Vgl. auch Christ, Menschlich, 107. auch KGA I/13.1, 51,24–52,6: „Wenn nun das unmittelbare innere Aussprechen des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls das Gottesbewußtsein ist. Und jenes Gefühl jedesmal wenn es zu einer gewissen Klarheit gelangt von einem solchen Aussprechen begleitet wird, dann aber es immer mit einem sinnlichen Selbstbewußtsein verbunden und auf dasselbe bezogen ist: so wird auch das auf diesem Wege entstandene Gottesbewußtsein in allen seinen besonderen Gestaltungen solche Bestimmungen an sich tragen, welche dem Gebiet des Gegensazes angehören in welchem das sinnliche Selbstbewußtsein sich bewegt; und dies ist die Quelle alles menschenähnlichen, welches in den Aussagen über Gott unvermeidlich ist“. 928  KGA I/13.1, 52,20 ff. 927  Vgl.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Dem religiösen Bewusstsein ist folglich keine Abwertung, sondern eine selbstkritische Haltung bezüglich der eigenen Fantasieproduktionen eigentümlich. Gerade das für die Religion charakteristische phänomenale Transphänomenal­ bewusstsein mündet somit nach Schleiermacher in einen kritischen Theismus bzw. Pantheismus. In beiden ist sich der religiöse Mensch sowohl des Unterschieds zwischen dem passiv erlebten und dem aktiv vorgestellten Universum als auch der anthropologischen Unvermeidbarkeit von religiösen Vorstellungen gewiss. Inhaltlich besteht das Proprium des kritischen Theismus’ in der Ablehnung eines allzu naiven Anthropomorphismus. In Bezug auf die personalistische Gottesvorstellung der religiösen Fantasie ist Schleiermacher der Ansicht, sie berge in sich die Gefahr, Gott als ein persönlich denkendes und wollendes Wesen von der Welt zu trennen und somit als verendlichten Sachverhalt in den Bereich des Gegensatzes hinabzuziehen. Bereits in seiner Frühschrift Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems hat Schleiermacher dieses Problem behandelt. Dabei steht die Thematisierung des Gottesgedankens im Zusammenhang mit seiner Kritik an der Möglichkeit, ein individuelles Absolutes zu denken. Einmal angenommen, so hält er fest, Gott hat Verstand und Willen. Wollen ist aber nur da, wo ein neues Verhältniß eines Dinges zu andern entstehn soll, denn Wollen ist nur da, wo Begierden und Entschlüße sind; in dem unveränderlichen Wesen aber kann kein neues Verhältniß zu andern Dingen entstehn; also hat Gott keinen Willen; ebenso ist Verstand nur wo Vorstellungen und Urtheile sind, diese sind aber nur da wo eben ein neues Verhältniß gegen andere Dinge (es mag nun vom Willen oder von den äußern Dingen herrühren) wahrgenommen wird; beides wird bei Gott unmöglich, also hat Gott auch keinen Verstand.929

Eine anthropomorphe Gottesvorstellung besitzt laut Schleiermacher ihre Grenze daran, dass menschliche und göttliche Personalität kategorisch unterschieden sind. Hierin zeigt sich eine Ähnlichkeit von Schleiermachers Gedanken mit denen von Fichte930 und Schelling 931. Bereits in seiner Frühschrift hält Schleiermacher den Gedanken von der qualitativen Differenz zwischen Unendlichem und Endlichem fest: 929  KGA

I/1, 563,13–21. versuchte in seiner Wissenschaftslehre zu zeigen, dass der Gedanke eines personalen Gottes nur um den Preis des Verlustes der Unendlichkeit Gottes erlangt werden kann. Dies wird von ihm in dem ontologischen Rahmen verhandelt, dass jedes Selbstbewusstsein nur als endliches Bewusstsein wirklich zu sein vermag bzw. jedes wirkliche Selbstbewusstsein endlich ist. Vgl. zu Fichtes Gottesverständnis einschlägig Wagner, Der Gedanke. 931  Vgl. auch Schellings Brief an Hegel vom 4.2.1795: „Auch für uns sind die orthodoxen Begriffe von Gott nicht mehr […] Wir reichen weiter noch als zum persönlichen Wesen […] Persönlichkeit entsteht durch Einheit des Bewußtseins, Bewußtsein aber ist nicht ohne Objekt möglich, für Gott aber, d.h. für das absolute Ich gibt es gar kein Objekt, denn dadurch hörte es auf, absolut zu sein. – Mithin gibt es keinen persönlichen Gott.“ (Hegels sämtliche Werke, hrsg. v. J. Hofmeister, Briefe von und an Hegel, Hamburg 1952, Bd. I, 22) 930  Fichte

§  8  Entfaltung

321

Das unendliche Wesen kann seinem Wesen nach nicht durch diejenigen Prädikate bestimt werden, welche das Wesen der einzelnen Dinge ausmachen, sonst käme ihm auch seinem Wesen nach kein eigentliches Seyn zu, sondern eine beständige Succession des Werdens, darum ist weder durch Verstand noch Willen, weder durch Bewegung noch Ruhe definierbar, und man kann von ihm aus diesem (dem ersten polemischen) Gesichtspunkt betrachtet nichts sagen, als daß es das eigentlich existierende sey.932

In den Reden spitzt er dieses Argument freiheitstheoretisch zu, indem er lakonisch festhält: „Freiheit [hat, C. K.] nur Sinn im Einzelnen und fürs Einzelne“.933 Der kritische Theismus des religiösen Bewusstseins verhindert nach Schleiermacher, dass die Anschauung der Lebendigkeit des Unendlichen identisch gesetzt wird mit menschlichen Freiheitsprozessen und er wahrt auf diese Weise die qualitative Differenz zwischen innerweltlich handelnden Personen und göttlichem Schöpfer. Die genuin religiöse Gottesvorstellung ist nach Schleiermacher demnach sowohl geschützt gegen einen Feuerbachschen Projektions- bzw. Illusionsvorwurf als auch gegen einen kritischen Naivitätsvorwurf, da sie als kritischer Theismus ihren Ursprung in einer realen Universumsanschauung nimmt und ihre Ausbildung innerhalb der Grenzen eines die Gottesvorstellung auf Konsistenz überprüfenden religiösen Denkens verläuft. Auf der anderen Seite verwahrt sich Schleiermacher mit der Konzeption des religiösen kritischen Pantheismus’ gegen die Annahme, Religion könne in der Vorstellung eines radikalen Physikalismus bestehen, welcher die Lebendigkeit des Unendlichen gleich setzt mit endlichen Kausalprozessen bzw. mit blinder Notwendigkeit. Einem Menschen, dem sich das Universum über die Naturanschauung offenbart, erscheint es als lebendiger Organismus. Seine religiöse Fantasie stellt sich demzufolge das Universum als immanent reguliert dar. Hier besteht die Gefahr, dass die qualitative Differenz zwischen Endlichem und Unend­ lichem nicht gewahrt bleibt. Wie jedoch die religiös-personalistische Universumsanschauung mit dem ihr innewohnenden kritischen Theismus eine abstrakte Trennung von Welt und Gott in der menschlichen Vorstellung verhindert, so verhindert es der kritische Pantheismus, Universum und Welt abstrakt miteinander zu identifizieren. Vielmehr hält er im Bewusstsein des lebendigen Unendlichen an der qualitativen Differenz von endlichem und unendlichem Wirklichkeitsbereich fest. Kritischer Theismus und kritischer Pantheismus gewähren nach Schleiermacher somit auf eigene Weise der jeweils anderen Ansicht ihre Berechtigung. Sie sind keine sich ausschließenden Alternativen, sondern stellen vielmehr die beiden sich gegenseitig ergänzenden Präzisierungen der religiösen Fantasie dar.

932  933 

KGA I/1, 566,34–567,4. KGA I/2, 245,23 f.

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Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Die Höchstform der religiösen Vorstellung vom wahren Unendlichen wird nach Schleiermacher in dem ergänzenden Zusammenspiel von kritischem Theismus und kritischem Pantheismus erreicht.934 Hieran zeigt sich, dass das lebendige Universum adäquat nur in der umfassenden Erfahrung des in Menschheit und Natur zugleich wirksamen Grundes erfahren werden kann und die selbsttätige Fantasievorstellung dieses lebendigen Universums zwar eine anthropologisch notwendige Ergänzung, jedoch keine sachliche Vervollkommnung der religiösen Anschauung selbst darstellt. 2.2.3.  Die Möglichkeitsbedingungen wissenschaftlicher Theologie Bei der religiösen Begriffsbildung handelt es sich nach Schleiermacher um eine mittelbar-willkürliche Analyse der religiösen Anschauungen und, wie soeben gezeigt, um eine kritische Begrenzung der religiösen Fantasievorstellungen. Dementsprechend bezeichnet Schleiermacher sie als den Vorgang einer „freien Reflexion“935. Sie ist folglich die reflexive Selbstthematisierung der Religion im Rahmen der endlichen Begriffsbestimmungen auf der Grundlage religiöser Anschauungen und Vorstellungen. Die Funktion dieser freien Reflexion besteht nach innen darin, irrige Fantasievorstellungen unter Zuhilfenahme von basalen logischen Regeln zu korrigieren. Freie Reflexion generiert in diesem Sinne keine Fantasievorstellungen, dies kann nur die religiöse Anschauung, sondern sie weist auf immanente Selbstwidersprüchlichkeit der Fantasievorstellungen hin.936 Nach außen besteht die Funktion der freien Reflexion darin, originäre religiöse Anschauungsinhalte gegen anderweitige Inhalte klar zu unterscheiden. Dies bezieht sich nach Schleiermacher z.B. auf die Differenz zwischen der Entstehung religiöser Anschauungen und einem objektivem Wissen von der Welt, welche etwa durch die theologische Begrifflichkeit der „Gnadenwirkung“937 bzw. „Offenbarung“938 zum Ausdruck kommt. Sie beziehen sich aber auch auf den unterschiedlichen Vollzug des religiösen Lebens, der mit dem Begriff des selbst934  KGA I/12, 146,21–31: „[…] da es so schwer sei eine Persönlichkeit wahrhaft unendlich und leidensfähig zu denken, man einen großen Unterschied machen sollte zwischen einem persönlichen Gott und einem lebendigen. Das allein ist eigentlich der vom materialistischen Pantheismus und von der atheistischen blinden Nothwendigkeit scheidende Begriff. Wie aber einer innerhalb dieses Kanons schwankt in Bezug auf die Persönlichkeit, daß muß man seiner vergegenwärtigenden Fantasie und seinem dialektischen Gewissen überlassen; und ist der fromme Sinn vorhanden, so werden diese einander gegenseitig hüten. Will jene eine zu menschliche Persönlichkeit bilden, so wird dieses ein Schreckbild bedenklicher Folgerungen vorhalten; will dieses die Vergegenwärtigung zu sehr hemmen durch negative Formeln, so wird diese schon ihr Bedürfniß geltend zu machen wissen.“ 935  KGA I/2, 239,34. 936  Vgl. KGA I/2, 245,33–246,8. 937  KGA I/2, 241,12 ff. 938  KGA I/2, 240,39 ff.

§  8  Entfaltung

323

verantworteten „Glaubens“939 und der Offenheit für „Wunder“940 beschrieben wird und auf das Ziel der religiösen Anschauungsübertragung auf andere Menschen, welches, anders als bei der reinen Wissenschaft nicht durch Beweis und Andemonstration geschieht, sondern sich mittels „Eingebung“941 ereignet. Die Möglichkeit zu einer derartigen theologischen Begriffsarbeit ist nach Schleiermacher grundsätzlich dadurch gegeben, dass die religiösen Anschauungen (und die aus ihnen hervorgehenden religiösen Vorstellungen) eine Evidenzbasis besitzen, weil sie auf der Selbsterschließung des Universums mittels bildhafter Selbstmanifestation beruhen. Diese Gewissheitsbasis942 der religiösen Anschauungen wird in der freien Reflexion zu einem religiösen Wissen entfaltet. Die Theologie hat nach Schleiermacher im strikten Sinne nur adäquate, d.h. überprüf bare Begriffe für Sachverhalte, die der Theologietreibende selbst angeschaut und, im Falle des Gottesbegriffs, sich selbst vorgestellt hat. Die Möglichkeit der freien religiösen Reflexion setzt somit zugleich ihre kritische Grenze fest. Ohne Bindung an die Inhalte der religiösen Anschauungen und Vorstellungen verfällt die freie Reflexion zur „leeren Mythologie“943. Wie verhalten sich religiöses Bild und religiöser Begriff zueinander? Bereits in seiner Schrift Wert des Lebens zeigt Schleiermacher das Charakteristische von Anschauungsbildern auf. In diesen Bildern wird unmittelbar eine Ganzheit inklusive ihrer Teile gesehen, wobei sowohl die Teile auf das Ganze als auch umgekehrt das Ganze auf die Teile bezogen wahrgenommen werden. Schleiermacher kontrastiert diesen Charakter des Anschauungsbildes mit anderen Wirklichkeitszugängen, die defizitär nur eine seiner beiden Dimensionen zu erfassen vermögen: […] entweder kleben sie mit ihren Augen nur an einzelnen Theilen ohne sich bis zum Ganzen zu erheben, oder sie suchen das Ganze ausser seinen Theilen […] bleiben […] nur überhaupt bei dem wechselnden mannichfaltigen Würken verschiedener Gegenstände auf sie stehn, halten den Eindruk, den ihnen das gibt für einen Eindruk der aus der Würdigung aller einzelnen Theile […] entstanden wäre.944

939 

KGA I/2, 241,30–242,9. KGA I/2, 240,21–39. 941  KGA I/2, 240,42–241,7. 942  KGA I/2, 241,20–30: „Ja, wer nicht eigene Wunder sieht auf seinem Standpunkt zur Betrachtung der Welt, in weßen Innern nicht eigene Offenbarungen aufsteigen, wenn seine Seele sich sehnt die Schönheit der Welt einzusaugen, und von ihrem Geiste durchdrungen zu werden; wer nicht hie und da mit der lebendigsten Überzeugung fühlt, daß ein göttlicher Geist ihn treibt und daß er aus heiliger Eingebung redet und handelt; wer sich nicht wenig­ stens […] seiner Gefühle als unmittelbarer Einwirkungen des Universums bewußt ist, und etwas eignes in ihnen kennt was nicht nachgebildet sein kann, sondern ihren Ursprung aus seinem Innersten verbürgt, der hat keine Religion.“ 943  KGA I/2, 214,18; 215,1. 944  KGA I/1, 396,8–15 (kursiv, C. K.). 940 

324

Drittes Kapitel:  Neubestimmung des kritischen Religionsbegriffs via positiva

Im Anschauungsbild handelt es sich demgemäß nach Schleiermacher um eine unmittelbar wahrgenommene organische Einheit bzw. ein in sich differenziertes „großes […] Bild.“945 Weil es sich aber um eine organische Einheit handelt, die angeschaut wird, so besteht die religiöse Anschauung aus einem Totaleindruck. Die Begriffsbildung der freien religiösen Reflexion setzt bei dem religiösen Anschauungsbild ein und analysiert seine Elemente. Der Inhalt der religiösen Anschauung wird durch das theologische Denken in eine andere Form übersetzt. Später, in seiner Dialektik, hat Schleiermacher diese Bezugnahme auf die Formel gebracht: „Bild und Begriff sollen also dasselbe darstellen, aber sie thun es auf eine andre Weise.“946 Das religiöse Anschauungsbild wird dem Subjekt passiv durch eine „unmittelbare Einwirkung des Universums“947 gegeben, die religiöse Begriffsbildung hingegen vollzieht das religiöse Subjekt durch seine aktive Setzung von end­ lichen Bestimmungen, die sich auf das religiöse Anschauungsbild beziehen: „Hier [im Begriff, C. K.] wird der Gegenstand […] als eines gesetzt, er ist aber nicht […] als eines gegeben wie das Bild.“948 Die charakteristische Besonderheit des religiösen Anschauungsbildes zeigt sich nach Schleiermacher besonders darin, wie man es an einen anderen Menschen weitergeben kann, bzw. wie ein anderer Mensch zum Nachvollzug fremder religiöser Anschauungen bewegt werden kann: Wollen wir dies [das Bild, C. K.] einem andern mittheilen, so können wir es nur thun mit einer zusammenfassenden Beschreibung von organischen Eindrücken. Wenn wir einen Gegenstand auf dem Wege des Denkens im engern Sinne aufgefaßt haben, so sind hier die relativ entgegengesetzten Merkmale die herrschenden, und durch diese Einzelheiten wird ein Begriff vom Gegenstande gedacht.949

Diesem Zitat der Dialektik zufolge, dass exakt auf Schleiermachers Beschreibung in den Reden passt, handelt es sich bei dem freien religiösen Reflektieren folglich um eine Erklärung der religiösen Anschauung. Religiöse Begriffs­bildung bezieht sich auf deren Totaleindruck und fokussiert auf die einzelnen Teile und ihr Verhältnis zum Ganzen. Wie die wissenschaftliche Spekulation überhaupt, so konstruiert nach Schleiermacher das religiöse Denken ausgehend von den einzelnen Elementen der religiösen Anschauung seinen Begriff des ganzen Anschauungsbildes. Der theologische Begriff arbeitet sich gewissermaßen an seinem gegebenen Anschauungsbild ab. Seine, nur approximativ zu erreichende, Vollständigkeit besteht darin, dass er alle im Anschauungsbild enthaltenen Elemente umfassend 945 

KGA I/1, 394,3 f. (kursiv, C. K.). KGA II/10,2, 483,7 ff. 947  KGA I/2, 241,27 f. 948  KGA II/10.2, 482,26–483,2. 949  KGA II/10.2, 483,2–7 (kursiv, C. K.). 946 

§  8  Entfaltung

325

jedes mit jedem bestimmt und ihren jeweiligen Bezug auf ihre Einheit ausnahmslos erfasst. Bild und Begriff verhalten sich folglich wie epistemologische Kehrseiten zueinander: „Es wird also das Bild immer gleichsam die stetige Darstellung des Gegenstandes, der Begriff die discrete Darstellung sein.“950 Durch die religiöse Begriffsbildung wird keineswegs die Vollkommenheit des religiösen Anschauungsbildes selbst gesteigert. Dessen Vollkommenheit bemisst sich nach Schleiermacher allein daran, dass es „desto schärfer und bestimmter“951, d.h. desto klarer, den ihr gegebenen Totaleindruck auffasst. Insgesamt lässt sich festhalten: Entscheidend für die hier präsentierte Bild­ theorie der Reden ist, dass die Deutungsvorgänge weder das religiösen Bewusstsein konstituieren, dies geschieht allein durch die Selbsterschließung des Universums, noch, dass die Deutungsvorgänge die religiöse Anschauung in irgendeiner Weise religiös optimieren. Unmittelbar-unwillkürliche religiöse Anschauungen bleiben nach Schleiermacher als bildhafte Selbstmanifestationen des Universums das genealogische und sachlogische Zentrum jeder selbständigen Tätig­ keiten des religiösen Subjekts, an welchem sich als kritisches Korrektiv alle unmittelbar-willkürlichen Fantasievorstellungen und vermittelt-willkürlichen religiösen Begrifflichkeiten messen müssen und durch welches sie sich verifizieren aber auch falsifizieren lassen.952 Die wesentlichen Elemente von Schleiermachers kritischem Religionsbegriff der Reden werden im Schlusskapitel der vorliegenden Arbeit zusammengefasst und kritisch gewürdigt.

950 

KGA II/10.2, 483,12 f. KGA I/2, 219,10. 952 Gegen Piper, Das religiöse Erlebnis, 104. 951 

Zweiter Teil

Schleiermachers inklusivistische Religionstheologie der ‚Reden‘

Einleitung In der bisherigen Darstellung wurde Schleiermachers kritischer Religionsbegriff der Reden behandelt. Dieser bezieht sich auf das Wesen der Religion. Es bleibt die zentrale Frage offen: Wie tritt dieses Wesen in Erscheinung bzw. auf welche Weise manifestiert sich der Religionsbegriff in Zeit und Geschichte? Zu Beginn seiner 5. Rede resümiert Schleiermacher in KGA I/2, 293,3– 294,17 seine bisherigen Untersuchungen und verleiht seiner Überzeugung Ausdruck, dass seine Ausführungen zu Genüge den Wert, die Notwendigkeit und folglich auch die Unverzichtbarkeit der Religion für das menschliche Geistesleben dargelegt haben: Dass der Mensch in der Anschauung des Universums begriffen ein Gegenstand der Achtung und der Ehrfurcht für Euch Alle sein muß; daß keiner, der von jenem Zustande noch etwas zu verstehen fähig ist, sich bei der Betrachtung deßelben dieser Gefühle enthalten kann: das ist über allen Zweifel hinaus.1

Aus diesem Grund kann ihm zufolge bei den Gebildeten auch keineswegs mehr eine begründete Verachtung gegenüber der Religion vorliegen. Denn, so führt er weiter aus, Verachtung von anderen Menschen trifft nur denjenigen zu Recht, „deßen Gemüth leicht und ganz von kleinlichen Dingen angefüllt ist“2 , der also das Unwerte für wertvoll hält, oder aber denjenigen, der „auf der beschränkten Bahn der Thätigkeit und der Bildung“3 wider bessere Einsichten denkt und handelt, der also den Irrtum mit der Wahrheit verwechselt. Schleiermacher hat in den ersten vier Reden gezeigt, dass die Religion eine notwendige Gemütskraft des Menschen darstellt, die sich nicht mit kleinlichen Dingen befasst, sondern einen unmittelbaren Bezug auf „das größte“4, d.h. auf das wahre Unendliche besitzt. Darüber hinaus hat er gezeigt, dass der mentale „Zustand“ des religiösen Menschen bzw. seine unmittelbare religiöse Gewissheit, „über Jedem steht, der sich nicht […] in demselben Zustand befindet“5. Aus diesen beiden Gründen muss auch von den gebildeten Religionsverächtern anerkannt werden, dass die Religion nur das Wertvollste in Wert hält und sich ihre 1  KGA

I/2, 292,3–7. KGA I/2, 293,7 f. 3  KGA I/2, 293,10 f. 4  KGA I/2, 293,9. 5  KGA I/2, 203,15. 2 

330

Einleitung

Gewissheit aus der höchsten Wahrheit speist. Folglich besitzt die Religionsverachtung der Gebildeten nach Schleiermacher keine Rechtfertigung. In Form einer Überbietungsanalogie wird dieses Argument von Schleiermacher weiter bekräftigt. Er erinnert die gebildeten Religionsverächter an den unter ihren „Weisesten“6 bestehenden Grundsatz, dass man selbst „wider Willen den Tugendhaften“ ehren muss,7 weil er „nach den Gesezen der sittlichen Natur das Endliche unendlichen Forderungen gemäß zu bestimmen trachtet“8. Die Hochschätzung der Gebildeten für den tugendhaften Menschen erwächst laut Schleiermacher aus dessen Unternehmen, durch eigene Kräfte das Unendliche im Endlichen zur Wirksamkeit zu bringen. Wenn bereits dieses in seiner Umsetzung zuweilen „lächerlich“9 anmutende Unternehmen den Gebildeten Hochschätzung abringt, um wieviel mehr müssen sie dann die Religion in Ehren halten. Denn in ihr ist es nicht die endliche Kraft des Menschen, die das Unendliche erstrebt, sondern vielmehr tritt umgekehrt in ihr das Unendliche selbst in Beziehung zu den Menschen. Daher schließt Schleiermacher seine Ausführungen mit dem Urteil, dass die Gebildeten doch Demjenigen Achtung und Ehrfurcht nicht versagen können, deßen Organe dem Universum geöfnet sind, und der, fern von jedem Streit und Kontrast, erhaben über jedes Streben, von den Einwirkungen deßelben durchdrungen und Eins mit ihm geworden, wenn Ihr ihn in diesem köstlichen Moment des menschlichen Daseins betrachtet, den himmlischen Strahl unverfälscht auf Euch zurückwirft.10

Es steht folglich den gebildeten Religionsverächtern an, die Religion selbst „wider Willen“11 zu „ehren“12 . Diese Ehrung kommt dem Wesen der Religion bereits aus den soeben genannten formalen Gründen zu und gilt unabhängig davon, ob sich bei den Gebildeten tatsächlich eine religiöse Gesinnung in Folge seiner bisherigen Beschreibung der Religion eingestellt hat: Ob also die ganze Religion in ihrer Unendlichkeit in ihrer göttlichen Kraft Euch hingerißen hat zur Anbetung; darüber frage ich Euch nicht, denn ich bin der Kraft des Gegenstandes gewiß der nur frei gemacht werden durfte, um auf Euch zu wirken.13

Mit diesem Resümee aus seinen Reden 1–4 eröffnet sich zugleich eine neue Aufgabe seines Redens über Religion: Jetzt aber habe ich ein neues Geschäft auszurichten, und einen neuen Widerstand zu besiegen. Ich will Euch gleichsam zu dem Gott, der Fleisch geworden ist hinführen; ich will Euch die Religion zeigen, wie sie sich ihrer Unendlichkeit entäußert hat, und in oft 6 

KGA I/2, 293,16. KGA I/2, 293,16 f. 8  KGA I/2, 293,17 f. 9  KGA I/2, 293,19. 10  KGA I/2, 293,21–26. 11  KGA I/2, 293,16. 12 Ebd. 13  KGA I/2, 294,10–13. 7 

Einleitung

331

dürftiger Gestalt unter den Menschen erschienen ist; in den Religionen sollt ihr die Religion entdeken; in dem was irdisch und verunreinigt vor Euch steht die einzelnen Züge derselben himmlischen Schönheit aufsuchen, deren Gestalt ich nachzubilden versucht habe.14

In der 5. Rede geht es folglich darum, die unendliche Religion in ihrer endlichen Gestalt zu beschreiben. Diese endliche Gestalt der Religion ist keineswegs, wie die Beschreibung nahelegen könnte, eine nur vorläufige und dementspechend wieder rückgängig zu machende Erscheinungsweise der unendlichen Religion. Vielmehr geht Schleiermacher davon aus, dass die unendliche Religion selbst sich notwendigerweise in den endlichen, d.h. historisch-positiven Religionen manifestiert.15 Ging es in seinen Reden 1–4 somit darum, aufzuzeigen, dass Religion ihrem Wesen nach darin besteht, das Unendlich im Endlichen zu erfahren, so wird nun gezeigt, dass auch die Religion selbst ein Unendliches darstellt, welches sich auf endliche Weise zur Darstellung bringt.16 Und bestand die Aufgabe der Reden bislang darin, den gebildeten Verächtern argumentativ-kerygmatisch die Wirksamkeit des Unendlichen im Endlichen zu präsentieren, so nimmt er sich in seiner 5. Rede vor, die Wirksamkeit der unendlichen Religion in den endlichen bzw. positiven Religionen aufzuzeigen. Methodisch gilt für Schleiermacher: Ebenso wie das Wesen der Religion darin besteht, die wahre Individualität und teleologische Prozessualität alles Endlichen im und durch das Unendliche anzuschauen, so müssen, um „in den Religionen die Religion [zu] entdecken“,17 die positiven Religionen selbst mit Religion angeschaut werden. Das bedeutet, sie müssen in ihrer Vielfalt als wahre Religionsindividuen in einem durch das Unendliche initiierten und gelenkten teleologischen Prozess erfasst werden: Wollt Ihr von der Religion nicht nur im Allgemeinen einen Begrif haben, und es wäre ja unwürdig, wenn Ihr Euch mit so einer unvollkommenen Kenntniß begnügen wolltet: wollt Ihr sie auch in ihrer Wirklichkeit und in ihren Erscheinungen verstehen: wollt Ihr dieses selbst mit Religion anschauen als ein ins Unendliche fortgehendes Werk des Weltgeistes: so müßt Ihr den eitlen und vergeblichen Wunsch, daß es nur Eine geben möchte aufgeben, Euren Widerwillen gegen die Mehrheit ablegen, und so unbefangen als möglich zu allen denen hinzutreten, die sich schon in den wechselnden Gestalten und während des auch hierin fortschreitenden Laufes der Menschheit aus dem ewigen Schooß des Universums entwikelt haben.18 14 

KGA I/2, 294,14–21. Seifert, Theologie, 152 f. 16 Vgl. einschlägig Rohls, „Das Christentum“, 62 f.: „In freier Verwendung der Metapher von der Menschwerdung Gottes wird die Pluralität der geschichtlichen Religionen als Inkarnation der Religion überhaupt interpretiert. Die Notwendigkeit der Pluralität der Religionen ergibt sich dabei aus der Annahme, daß die Religion unendlich, der Mensch aber endlich ist, so daß kein Mensch die Religion ganz haben kann, sondern sie sich notwendigerweise individualisieren muß.“ 17  Vgl. KGA I/2, 294,18. 18  KGA I/2, 296,13–23. 15 Vgl.

332

Einleitung

Indem Schleiermacher die gebildeten Verächter in seiner 5. Rede dazu auffordert, die Religionen mit Religion anzuschauen, verlangt er, die beiden religiösen Anschauungen der wahren Individualität und der teleologischen Prozessualität religionstheologisch ins Programm zu setzen. Es kann daher bereits aus den methodischen Einsichten zur 5. Rede formal die Hauptthese dieses Abschnitts aufgezeigt werden, dass es sich um eine inklusivistische Religionstheologie handelt. Die methodische Aufforderung Schleiermachers an die Gebildeten, die Religion „selbst mit Religion anschauen als ein ins Unendliche fortgehendes Werk des Weltgeistes“19 liefert hierzu die Begründung: Einerseits geht es Schleiermacher in seiner 5. Rede nicht darum, den exklusiven Geltungsanspruch einer einzigen positiven Religion aufzuzeigen, zu der sich die anderen positiven Religionen wie Falsche zur Wahren verhalten. Sondern ihm zufolge besitzen sämtliche positive Religionen berechtigte Geltungsansprüche, weshalb man von einem koordinierten Gesamtgeltungsanspruch der religiösen Vielfalt sprechen kann. Die Religionstheologie der Reden erschöpft sich daher nicht in der Darstellung des Christentums,20 sondern nimmt die Religionsgeschichte selbst in den Blick. Andererseits sind Schleiermacher zufolge die Geltungsansprüche der posi­ tiven Religionen nicht gleichwertig. Er ist der Ansicht, dass die Religions­ geschichte in Form einer teleologischen Prozessualität verläuft und sich die Geltungsansprüche der positiven Religionen untereinander hierarchisieren lassen. Schleiermacher vertritt also keinen religionstheologischen Pluralismus,21 sondern vielmehr einen Inklusivismus bei dem das Christentum die religiontheologische Höchstform bildet. Von einem religionstheologischen Inklusivisumus in den Reden lässt sich folglich sprechen, weil dem Christentum nicht die exklusive Wahrheit, sondern vielmehr die ausschließliche Vortrefflichkeit innerhalb der Religionsgeschichte zugeschrieben wird. Dabei baut Schleiermachers 5. Rede methodisch auf den Reden 1–4 auf. Denn ohne ein begriffliches Wissen vom Wesen der Religion, d.h. ohne ein Wissen von dem Gemeinsamen in allen Religionen, kann weder identifiziert werden, bei welchen geschichtlichen Phänomenen es sich überhaupt um Religionen handelt, noch kann ein dem Religionsphänomen selbst adäquates Kriterium zur Unterscheidung von Religionen angegeben werden, sondern dies könnte allenfalls anhand von extern gebildeten Begriffen oder Maßstäben erfolgen. Zugleich bildet die 5. Rede das Ziel und den notwendigen Abschluss der gesamten Argumentation in den Reden. Nach Schleiermacher ist ein Begriff erst dann vollständig entwickelt, wenn seine Existenzweise in Zeit und Geschichte 19 

KGA I/2, 296,17 f. Seifert, Theologie, 183–186. 21 Gegen Piper, Das religiöse Erlebnis, 92–104; Ellsiepen, Anschauung, 407; Schröder, „Das ‚unendliche Chaos‘“, 585–608. 20 Gegen

Einleitung

333

aufgezeigt ist.22 Weil es sich aber bisher bei dem Religionsbegriff um die unendliche bzw. „die ganze Religion [gehandelt hat], […] die kein Einzelner ganz umfaßen kann, und zu der sich also auch keiner bilden und erheben“23 kann, ist die bestimmte historische Existenzweise der Religion in den Reden 1–4 noch nicht explizit in den Blick genommen worden. Erst in der 5. Rede wird anhand der Beschreibung der positiven Religionen aufgezeigt, auf welche Weise der Religionsbegriff wirklich existiert und die Untersuchung des Religionsphänomens kann insgesamt als abgeschlossen angesehen werden.24 Somit gelangt die aus fünf Einzelreden bestehende geschlossene Gedankeneinheit der Reden erst in der fünften Rede zu ihrem theoretischen Abschluss und Zielpunkt.25 Die inklusivistische Religionstheologie der ‚Reden‘ vollendet ihren kritischen Religionsbegriff. Die folgende Darstellung von Schleiermachers inklusivistischer Religionstheologie der Reden orientiert sich an den soeben aufgezeigten allgemeinen methodischen und sachlichen Überlegungen: Erstens werden die allgemeinen Wesenszüge von Schleiermachers inklusivistischer Religionstheologie der Reden herausgearbeitet (Viertes Kapitel: Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen). Zweitens wird nachgewiesen, dass und inwiefern Schleiermacher diese allgemeinen Wesenszüge seiner inklusivistischen Religionstheologie anwendet und in der Beschreibung des Judentums und Christentums sowohl die Dynamik als auch die Höchstform der Religionsgeschichte zur Darstellung bringt (Fünftes Kapitel: Dynamik und Höchstform der Religion). Im Schlusskapitel werden die systematisch-theologischen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zu Schleiermachers inklusivistischer Religionstheologie zusammenfassend dargestellt.

22 

Vgl. KGA I/2, 198,16–24. KGA I/2, 272,6 ff. 24  Vgl. auch Seifert, Theologie, 186f: „Die Besonderheit der Methode, welche der Redner anwendet, liegt in der Verbindung von zwei verschiedenen Wegen, die nicht neben­einander herlaufen, sondern konvergieren. Beide Arten der Betrachtung, die spekulative wie die historische, haben ihre notwendige Bedeutung für die gesamte Argumentation, und so stehen auch die Zweite und Fünfte Rede als typischer Art für die Anwendung der einen bzw. der anderen Methode zunächst völlig gleichberechtigt nebeneinander im Rahmen des Gesamtwerks. Die Deutung muß ausgehen von dem Konvergenzpunkt der beiden Linien, die Religion als Idee (das Wesen) und Religion als Geschichte (die Erscheinung) genannt wurden.“ 25  Diese Methodik entspricht auch dem Vorgehen Schleiermachers in der Einleitung zur 2. Auflage seiner Glaubenslehre. Dort zeigt er in §§  3 –6 den Religionsbegriff auf, entwickelt aus diesem Begriff in §§  7–10 die notwendige Vielfalt der Religionen und ordnet in §§  11–14 das Christentum als eigentümliche Frömmigkeitsweise in die Vielfalt der Religionen ein. Damit erweisen sich die Reden allein aus der Betrachtung wie sie mit ihrem Gegenstand verfahren, methodisch als auch thematisch mit der Einleitung zur Glaubenslehre als vergleichbar. 23 

Viertes Kapitel

Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen Das folgende Kapitel gliedert sich sachlich in drei Abschnitte: Erstens wird Schleiermachers Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Religionsbegriff behandelt (§  9 ). Zweitens wird das religionstheologische Individuationsprinzip nach Schleiermacher herausgearbeitet (§  10). Drittens werden die nach Schleiermacher bestehenden religionstheologischen Entwicklungsstufen und Artunterschiede zwischenden den positiven Religionen aufgezeigt und sein religionstheologisches Einteilungsschema graphisch dargestellt (§  11).

§  9  Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Religionsbegriff Zu Beginn seiner fünften Rede unternimmt es Schleiermacher in KGA I/2, 294,22–299,25 im Rahmen zweier Argumentationen die Notwendigkeit der Religionsvielfalt zu begründen. Dabei zeigt er zum einen auf, dass bereits in seinem in der 4. Rede dargestellten Kirchenbegriff implizit die Pluralität der Religionen enthalten ist. Diese Ableitung der Religionsvielfalt besitzt somit die Gestalt einer Begriffsbestimmung (1.). Zum anderen präsentiert Schleiermacher eine Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Wesen der Religion selbst. Hierbei bezieht er sich insbesondere auf seinen religiösen Anschauungsbegriff (2.). Beide Argumentationen werden im Folgenden nacheinander dargestellt und interpretiert. 1.  Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Kirchenbegriff Bereits zu Beginn seiner 5. Rede gibt Schleiermacher in KGA I/2, 294,22– 295,16 einen ersten Hinweis, weshalb die Religion nur im Plural zu existieren vermag. Dies ergibt sich implizit aus seinem bereits in der 4. Rede präsentierten Kirchenbegriff: Ich habe die Vielheit der Kirchen verdammt: aber eben indem ich aus der Natur der Sache gezeigt habe, daß hier alle Umrisse sich verlieren, alle bestimmte Abtheilungen verschwinden und Alles nicht nur dem Geist und der Theilnahme, sondern auch dem wirklichen Zusammenhange nach Ein ungetheiltes Ganzes sein soll, so habe ich überall die Vielheit der Religionen und ihre bestimmteste Verschiedenheit als etwas nothwendiges und unvermeidliches vorausgesetzt.1 1 

KGA I/2, 294,29–35. Vgl. zu diesem Zitat auch die Hinweise von Welker, Beurteilung, 111 f.

§  9  Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Religionsbegriff

335

Die Begriffsbestimmung der Kirche birgt Schleiermacher zufolge in sich bereits ein Argument für die notwendige Pluralität der Religionen. Zentral ist hier das folgende Zitat, in dem es Schleiermacher darum geht, herauszustellen, dass es sich bei den Religionen nicht um gegenseitige Ergänzungsstücke handelt, sondern sie vielmehr eigenständige Sachverhalte bilden. Wären sie nur Ergänzungsstücke, wäre Schleiermachers Kirchenbegriff inkonsistent: Und mit diesen Erscheinungen der Religion konnten nicht etwa nur Ergänzungsstüke gemeint sein, die bloß numerisch und der Größe nach verschieden, wenn man sie zusammenbrächte ein gleichförmiges und dann erst vollendetes Ganzes ausgemacht hätten [P1]; denn alsdann würde Jeder in seiner natürlichen Fortschreitung von selbst zu demjenigen gelangen, was des anderen ist; die Religion, die er sich mittheilen läßt würde sich in die seinige verwandeln und mit ihr Eins werden [P2], und die Kirche, diese zu Folge der gegebenen Ansicht jedem religiösen Menschen unentbehrlich sich darstellende Gemeinschaft mit allen Gläubigen, wäre nur eine interimistische und sich selbst durch ihre eigene Wirkung nur um so schneller wieder auf hebende Anstalt [P3], wie ich sie doch keineswegs habe denken und darstellen wollen [P4]. So habe ich die Mehrheit der Religionen vorausgesetzt, und ebenso finde ich sie im Wesen der Religion gegründet [K].2

Schleiermachers Argumentation lässt sich folgendermaßen wiedergeben: (P1) Die verschiedenen Religionen stellen entweder voneinander abhängige Ergänzungsstücke dar, oder sie besitzen jeweils eine wahre Eigenständigkeit. (P2) Stellen die verschiedenen Religionen nur voneinander abhängige Ergänzungsstücke dar, müssten sie sich durch gegenseitige Mitteilung zusammenschließen und durch natürliche Fortschreitung eine einzige Religion bilden. (P3) Wenn P2 gilt, kann die Kirche nur eine interimistische Einrichtung darstellen, die allein dazu dient, die Vielfalt religiöser Ergänzungsstücke zur Einheit der einzigen Religion zu verbinden. In diesem Sinne würde sich die Kirche durch ihre Wirkungen selber auf heben. (P4) Weil die Kirche jedoch eine permanente Einrichtung darstellt, kann sie nicht bloß interimistische Bedeutung besitzen. (K1) Die verschiedenen Religionen können keine voneinander abhängigen Ergänzungsstücke bilden, sondern müssen wahre Eigenständigkeit besitzen. (K2) Die Pluralität ist für die Religion nicht bloß vorübergehend, sondern dieser vielmehr wesentlich. Das Hauptgewicht von Schleiermachers Argumentation liegt auf (P4). Allein unter der Bedingung, dass die Kirche tatsächlich eine permanente Einrichtung darstellt, greift Schleiermachers Argumentation. Wird hingegen (P4) bezweifelt, ist keine Begründung für die Vielfalt der Religion aus dieser Argumenta­ 2 

KGA I/2, 295,3–16.

336

Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

tion zu gewinnen. Was bedeutet es, dass die Kirche eine permanente Einrichtung darstellt? Schleiermacher zufolge besteht das Proprium der wahren Kirche darin, real verschiedene Religionsformen in eine Gemeinschaft der gegenseitigen Mit­ teilung und Darstellung einzugliedern: „Denn warum soll die innere, wahre Kirche Eins sein? Damit Jeder anschauen und sich mittheilen laßen könnte die Religion des Andern, die er nicht als seine eigene anschauen kann, und die also gänzlich von ihr verschieden gedacht wurde.“3 In der späteren Auflage der Reden verdeutlicht Schleiermacher diesen Standpunkt: „Denn das Wesen der Kirche ist ja dieses, daß sie Gemeinschaft sein will. Also kann ihre Grenze nicht sein die Einerleiheit des Religiösen, weil es ja eben das Verschiedene ist, welches in Gemeinschaft soll gebracht werden.“4 Die Kirche ist nach Schleiermacher eine permanente Einrichtung, weil es in ihr nicht um die gegenseitige Angleichung zur religiösen Einerleiheit geht, sondern es ihr gerade umgekehrt wesensgemäß um den gegenseitigen Austausch der beständigen Differenzen zwischen den Religionen zu tun ist. Kirche ist ihrem Wesen nach nicht die interimistische Institution zur Herstellung unterschiedsloser religiöser Uniformität, sondern die stetige Sozialgemeinschaft in der gegenseitigen Anerkennung religiöser Verschiedenheit. Wenn aber gilt, dass die Kirche ihrem Wesen nach die stetige Gemeinschaft der gegenseitigen Anerkennung religiöser Verschiedenheit ist, kann sie folglich nur unter der Bedingung religiöser Vielfalt existieren und impliziert daher in ihrem Begriff die notwendige Pluralität der Religionen. Das Problem von Schleiermachers Argumentation liegt auf der Hand: Nur unter der Bedingung, dass man seinen Kirchenbegriff teilt, kann sein Argument als überzeugend angesehen werden. Kritiker seines Kirchenbegriffs werden durch diese Argumentation keineswegs von der Sachnotwendigkeit religiöser Pluralität überzeugt werden. Weil Schleiermachers Argumentation seinem formalen Status nach lediglich ein Kohärenzargument darstellt, welches festhält, dass sich unter der Bedingung eines bestimmten Kirchenbegriffs die Notwendigkeit religiöser Diversität ergibt, bleibt seine Ableitung streng an die Plausibilität seines Kirchenbegriffs selbst rückgebunden und kann von sich aus keine weitergehende, geschweige denn eine allgemeine Verbindlichkeit, beanspruchen. Dennoch ist bereits hier deutlich geworden, dass Schleiermacher in der Frage nach der religiösen Pluralität einen klaren Unterschied aufzeigt zwischen einer Auffassung der Einzelreligionen einerseits als bloßen von einander abhängigen Ergänzungsstücken und andererseits als wahren eigenständigen Gestalten. Allein die letztere Auffassung ist ihm zufolge adäquat. Im Folgenden wird sich zeigen, dass gerade Schleiermachers Auffassung von den Einzelreligionen als 3  4 

KGA I/2, 294,35–39. KGA I/12, 253,24–27.

§  9  Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Religionsbegriff

337

eigenständigen und somit auch wahren individuellen Gestalten, den Kerngehalt seines Verständnisses der religiösen Pluralität bildet. 2.  Ableitung der Religionsvielfalt aus dem religiösen Anschauungsbegriff In den Reden stellt das Kriterium zur Ableitung der religiösen Pluralität der religiöse Anschauungsbegriff dar. Im Folgenden wird zunächst die einschlägige Textstelle für Schleiermachers Argumentation aus KGA I/2, 299,6–21 präsentiert (2.1.) Im Anschluss daran wird die Textstelle einer Formanalyse unterzogen (2.2.) und letztlich wird Schleiermachers zentrale Argumentation für die Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Religionsbegriff im Einzelnen aufgezeigt (2.3.) 2.1.  Die einschlägige Textstelle Im folgenden Zitat aus der fünften Rede trägt Schleiermacher sein zentrales Argument vor: Warum habe ich angenommen, daß die Religion nicht anders als in einer unendlichen Menge durchaus bestimmter Formen vollständig gegeben werden kann? Nur aus Gründen welche als ich vom Wesen der Religion sprach entwikelt worden sind. Weil nehmlich jede Anschauung des Unendlichen völlig für sich besteht, von keiner andern abhängig ist und auch keine andere nothwendig zur Folge hat, weil ihrer unendlich viele sind, und in ihnen selbst gar kein Grund liegt, warum sie so und nicht anders eine auf die andere bezogen werden sollten [Ia], und dennoch jede ganz anders erscheint, wenn sie von einem andern Punkt aus gesehen, oder auf eine andere bezogen wird [Ib],

Vor­ gabe

I

so kann die ganze Religion unmöglich anders existieren als wenn alle diese verschiedne Ansichten jeder Anschauung die auf eine solche Art entstehen können wirklich gegeben werden,

II

und dies ist nicht anders möglich als in einer unendlichen Menge verschiedner Formen, deren jede durch das verschiedene Princip der Beziehung in ihr durchaus bestimmt, und in deren Jeder derselbe Gegenstand ganz anders modificirt ist,

III

das heißt welche sämmtlich wahre Individuen sind.5 IV

Bei diesem Zitat handelt es sich eindeutig um einen argumentativen Text Schleiermachers. Dabei ergibt sich aus dem mit „Vorgabe“ gekennzeichneten Textabschnitt das Thema der gesamten Argumentation. Grundsätzlich geht es Schleiermacher um die Beantwortung der Frage, unter welchen Bedingungen die Religion „vollständig gegeben werden kann“. Auf welche Weise erscheint das Wesen 5 

KGA I/2, 299,6–21. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Welker, Beurteilung, 110.

338

Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

der Religion in der phänomenal verfassten Welt bzw. in welcher bestimmt-endlichen Gestalt manifestiert sich der allgemein-unendliche Religionsbegriff? Auch das Ergebnis der gesamten Argumentation wird von Schleiermacher im ersten Satz der „Vorgabe“ bereits mitgeliefert: Seines Erachtens kann die Religion nur unter der Bedingung vollständig gegeben werden, dass sie in einer unendlichen Menge „durchaus bestimmter Formen vollständig gegeben“ ist. Im zweiten Satz der „Vorgabe“ gibt Schleiermacher dem Leser einen Hinweis, auf welchem Wege zu dieser Antwort zu gelangen ist. Die Religionsvielfalt soll nicht einfach faktisch angenommen werden, sondern aus dem Wesen der Religion selbst, genauer: vom religiösen Anschauungsbegriff aus entwickelt werden. Hiermit verweist er zugleich zurück auf seine Ausführungen aus der zweiten Rede in KGA I/2, 213,34–218,20, welche die einschlägigen Beschreibungen der religiösen Anschauung geliefert hat. Zum allgemeinen Status der Argumentation lässt sich festhalten: Analog zu seiner Ableitung aus dem Kirchenbegriff unternimmt es Schleiermacher mit dem vorliegenden Argument zu zeigen, dass Diversität für die Religion konstitutiv ist. Bevor die detaillierte Darstellung und Interpretation des Arguments vorgenommen wird, soll zunächst auf die formale Gestalt des Textes eingegangen werden. 2.2. Formanalyse Schleiermachers Argumentation kann formal in vier Abschnitte untergliedert werden, die im vorliegenden Textzitat mit römischen Ziffern kenntlich gemacht sind: Abschnitt I greift dabei allgemein die Aussage aus der sog. „Vorgabe“ auf, indem Schleiermacher festhält, dass er sich bei der Herleitung der notwendigen Religionsvielfalt aus dem Wesen der Religion insbesondere auf seine Ausführungen zur religiöse Anschauung bezieht. Formal erweist sich dabei der Abschnitt I als zweigeteilt. Im ersten Teil [Ia] wiederholt Schleiermacher zwei Aussagen zum Wesen der Religion bzw. zur religiösen Anschauung, nämlich deren Selbstständigkeit und unendliche Vielfältigkeit. Dieses wird durch das im Zitat kursiv gesetzte „weil nemlich“ sowie das „weil“ angezeigt. Im zweiten Teil [Ib] wird mit einem „und dennoch“ scheinbar eine Einschränkung zu dem vorausgehenden ausgesprochen. Dadurch wird ein neuer Gedanke eingeleitet. Abschnitt II bezieht sich nicht mehr direkt auf die religiösen Anschauungen, sondern vielmehr auf die „ganze Religion“, von welcher Schleiermacher festhält, dass sie nur unter der Bedingung zu existieren vermag, dass alle „Ansichten“ jeder religiösen Anschauung sich verwirklicht haben. Formal handelt es sich hierbei um eine Schlussfolgerung aus dem Abschnitt I, was auch durch die Anfangsformulierung „so kann“ angezeigt wird. Dadurch wird deutlich, dass es sich bei dem Abschnitt I um die Prämisse von Abschnitt II handelt.

§  9  Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Religionsbegriff

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Der Abschnitt III bezieht sich auf den Abschnitt II. Er stellt im eigentlichen Sinne keine Schlussfolgerung dar, sondern in ihm erläutert Schleiermacher, unter welchen Bedingungen die Aussagen des Abschnitts II seines Erachtens überhaupt möglich sind. Schleiermacher zufolge können sich alle Ansichten jeder religiösen Anschauung und mithin die ganze Religion nur im Rahmen einer unendlichen Menge verschiedener religiöser „Formen“ verwirklichen. Bei genauerem Hinsehen wird sich allerdings zeigen, dass diese Erläuterung einige implizite Annahmen Schleiermachers voraussetzt und zwar aus im Text selbst nicht genannten Prämissen. Der Abschnitt IV bezieht sich auf den Abschnitt III und stellt eine Begriffserklärung dar, was im Zitat durch die Formulierung „das heißt“ angezeigt wird. Zugleich ist mit dieser Begriffserklärung die vollständige Konklusion des Abschnitts erreicht, dass sich das Wesen der Religion ausschließlich in einer unendlichen Anzahl verschiedener Religionsindividuen zu manifestieren vermag. Das bedeutet, dass sich die Religionsvielfalt als für das Wesen der Religion konstitutiv erwiesen hat. Allerdings steht auch bei diesem Abschnitt IV, wie sich später zeigen wird, eine implizite Annahme Schleiermachers im Hintergrund. Insgesamt kann man im Anschluss an die Formanalyse festhalten: Der Form nach verläuft Schleiermachers Argument streng genommen ausschließlich von Abschnitt I nach Abschnitt II. Hier wäre das zentrale Argument eigentlich beendet. Aber Schleiermachers nähere Erläuterung in Abschnitt III und seine Begriffserklärung in Abschnitt IV sind dermaßen voraussetzungsgesättigt und enthalten eine Vielzahl impliziter Annahmen, dass man sie wie selbständige Argumentationsteile behandeln kann. In Anbetracht dieser Sachlage kann man deswegen sagen, dass das gesamte Argument von Abschnitt I bis Abschnitt IV verläuft. Somit müssen auch bei dem Nachvollzug des Gesamtarguments die einzelnen Schritte in dieser Reihenfolge untersucht und erläutert werden, wie es im nächsten Schritt erfolgen soll. 2.3.  Das zentrale Argument Im Abschnitt I ist der zentrale Begriff die religiöse „Anschauung“. Die zentralen Verben sind im ersten Teil [Ia] „besteht“ und „sind“. Im zweiten Teil [Ib] ist es das Verb „erscheint“. Aus diesen Angaben lässt sich bereits schließen, dass es sich im Abschnitt I um zwei unterschiedliche Bestimmungen des religiösen Anschauungsbegriffs handelt: Zum einen geht es Schleiermacher darum, seine zweifache Bestimmung aus KGA I/2, 213,34–215,3 und KGA I/2, 215,3–216,18 zu wiederholen, worin das Wesen der religiösen Anschauung besteht. Zum anderen geht es ihm darum, in Bezug auf seine Ausführungen in KGA I/2, 216,19–218,20 aufzuzeigen, wie dieses Wesen erscheint. Schleiermachers drei Prämissen des ersten Abschnitts lassen sich demgemäß folgendermaßen zusammenfassen:

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Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

(P1) Religiöse Anschauungen bestehen ihrem Wesen nach völlig für sich. (P2) Die Menge der religiösen Anschauungen ist ihrem Wesen nach unendlich. (P3) Keine religiöse Anschauung existiert an sich, sondern jede erscheint jeweils unterschiedlich nach Maßgabe der jeweils verschiedenen Ansichten von ihr. Diese drei Prämissen sollen im Folgenden näher analysiert und erläutert werden: Zu (P1):  Religiöse Anschauungen bestehen ihrem Wesen nach völlig für sich. Nach Schleiermacher stehen die religiösen Anschauungen ihrem Wesen nach unverbunden nebeneinander. Keine Anschauung folgt aus einer anderen oder steht in einem notwendigen Zusammenhang mit anderen Anschauungen. Diese Eigenschaft kommt den religiösen Anschauungen nach Schleiermacher aus zwei Gründen zu: Zum einen stellen sich die religiösen Anschauungen unmittelbar ein. Das Unendliche erschließt sich einem Menschen in dem geheimnisvollen religiösen Augenblick unmittelbar an einem bestimmten Endlichen.6 Dieser Unmittelbarkeit geht notwendigerweise keine Ableitung aus anderen religiösen Anschauungen voraus und es schließt sich auch keine Anknüpfung anderer religiöser Anschauungen an, denn sonst wären die religiösen Anschauungen nicht mehr für sich unmittelbar, sondern durcheinander vermittelt. Zum anderen sind religiöse Anschauungen jeweils vollgültige bildliche Repräsentationen des Verhältnisses zwischen dem Unendlichen und dem End­ lichen. Jede religiöse Anschauung bildet insofern ein in sich bestimmtes Ganzes. Schleiermacher bringt dies auch durch die Formulierung zum Ausdruck, dass alle religiösen Anschauungen „für sich wahr“7 sind und folglich, im Unterschied zu den Propositionen des „abstrakten Denkens“8 , ihren Wahrheitswert nicht erst durch ihre gegenseitige systematische Zuordnung erhalten. Weil sich die religiösen Anschauungen unmittelbar einstellen und für sich wahr sind, stehen sie laut Schleiermacher auch an sich in keinem objektiv notwendigen Zusammenhang. Zu (P2):  Die Menge der religiösen Anschauungen ist ihrem Wesen nach un­ endlich. Das bestimmte Endliche kann notwendigerweise für sich das Unend­ liche nicht vollständig erfassen kann. Daher muss es unendlich viele religiöse Anschauungen des Unendlichen geben. Umgekehrt formuliert: Weil sich das Unendliche notwendigerweise auf unendliche Weise im Endlichen manifestie6 

Siehe in vorliegender Arbeit §  7.2. I/2, 215,14. Vgl. Piper, Das religiöse Erlebnis, 96 f.: „Wahrheitswert kommt jeder einzelnen Anschauung zu. Wollte man sie aber systematisieren, so hätte man eine Beziehung von begrifflichen Gebilden, nicht aber von Erlebnisinhalten. Der Wahrheitswert aber kam ihnen nicht als Begriffen zu, sondern als Ausdrucksformen religiöser Erlebnisse. […] Nur auf die unmittelbare Wahrnehmung, nicht auf logische Deduktionen läßt sich die Wahrheit der religiösen Anschauungen auf bauen.“ 8  KGA I/2, 215,6 f. 7  KGA

§  9  Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Religionsbegriff

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ren kann, müssen die religiösen Anschauungen, welche die bildlichen Repräsentanten dieser Manifestationen darstellen, ebenfalls der Menge nach unendlich sein. Zu (P3):  Keine religiöse Anschauung existiert an sich, sondern jede erscheint jeweils unterschiedlich nach Maßgabe der jeweils verschiedenen Ansichten von ihr. Schleiermacher zufolge ist nicht allein die Menge der religiösen Anschauungen ihrem Wesen nach unendlich, sondern sie sind auch dadurch unendlich, dass sie in ein Verhältnis zu anderen religiösen Anschauungen gesetzt werden. Dieses ins Verhältnissetzen der religiösen Anschauungen zueinander hat seinen Grund laut Schleiermacher nicht in den religiösen Einzel­anschauungen selbst, denn diese bestehen ja, wie bereits in P1 gezeigt, völlig unabhängig voneinander. Es ist vielmehr die räumliche Standortgebundenheit9 und zeitlich-biographische Perspektivität10 des religiös affizierten Menschen, wodurch sich eine bestimmte Beziehung der religiösen Anschauungen zueinander ergibt.11 Das Ergebnis dieses Vorgangs nennt Schleiermacher die bestimmte Ansicht der religiösen Einzelanschauungen. Eine religiöse Anschauung erscheint also niemals an sich, sondern immer nur in Beziehung auf andere reli­g iöse Anschauungen nach Maßgabe einer bestimmten subjektiven Ansicht von ihr.12

9  „Stellt Euch an den entferntesten Punkt der Körperwelt, ihr werdet von dort aus nicht nur dieselben Gegenstände in einer anderen Ordnung sehen und wenn Ihr Euch an Eure vorigen willkürlichen Bilder halten wollt, die Ihr dort nicht wiederfindet, ganz verwirrt sein; sondern Ihr werdet in neuen Regionen noch ganz neue Gegenstände entdecken. […] Von der Religion gilt dies in einem noch weit höheren Sinne; von einem entgegengesezten Punkte aus würdet Ihr nicht nur in neuen Gegenden neue Anschauungen erhalten, auch in dem alten wohlbekannten Raume würden sich die ersten Elemente in andere Gestalten vereinigen und alles würde anders sein.“ (KGA I/2, 216,19–31 (kursiv, C. K.)) 10 „Betrachtet noch einmal den erhabenen Augenblik in welchem der Mensch überhaupt zuerst in das Gebiet der Religion eintritt. […] so wird durch denselben Moment auch seine Religiosität in Rüksicht der unendlichen religiösen Anlage der Menschheit als ein ganz eignes und neues Individuum zur Welt gebracht. Dieser Augenblik ist nämlich zugleich ein bestimmter Punkt in seinem Leben, […] eine Begebenheit, die wie jede andere, in einem bestimmten Zusammenhange steht mit einem Vorher, einem Jezt und Nachher; und da dieses Vorher und Jezt in Jedem Einzelnen etwas ganz eigenthümliches ist, so wird es das Nachher auch; da sich an diesen Moment, und an den Zustand in welchem er das Gemüth überraschte und an seinen Zusammenhang mit dem früheren dürftigern Bewußtsein das ganze folgende religiöse Leben anknüpft und sich gleichsam genetisch daraus entwikelt: so hat es auch in jedem Einzelnen eine eigne durchaus bestimmte Persönlichkeit, so wie sein menschliches Leben selbst.“ (KGA I/2, 305,26–306,12) 11 Vgl. hierzu auch Schleiermachers Ausführungen in: KGA I/12, 259,6–12 (kursiv, C. K.): „Denn schon weil wir Wo sind, giebt es unter diesen Verhältnissen des Menschen zum Ganzen ein Näher und Weiter, und durch diese Relation zu den übrigen wird nothwendig jedes Gefühl Jedem im Leben ein anders bestimmtes. Dann aber auch, weil wir Wer sind, ist in Jedem eine größere Empfängllichkeit für einige Wahrnehmungen und Gefühle vor andern, und auch auf diese Weise ist jedes überall ein anderes.“ 12  Vgl. KGA I/2, 215,18ff: „Dicht hinter Euch, dicht neben Euch mag einer stehen, und alles [was Ihr selbst seht, C. K.] kann ihm anders erscheinen.“

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Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

Damit sind die drei Prämissen des ersten Abschnitts näher beschrieben: Nach Schleiermacher ergibt sich aus dem Wesen der religiösen Anschauung, dass es unendlich viele, für sich bestehende religiöse Anschauungen gibt, die jeweils unendlich verschieden erscheinen, je nachdem welche bestimmte Ansicht ein religiöser Mensch von ihnen hat. Abschnitt II:  Wie bereits in der Formanalyse aufgezeigt wurde, handelt es sich im Abschnitt II um die Schlussfolgerung aus Abschnitt I. Schleiermachers vorangehende Prämissen 1–3 werden hier in eine Konklusion überführt, die man folgendermaßen wiedergeben kann: (K1) Die ganze Religion kann nur existieren, wenn alle möglichen Ansichten jeder religiösen Anschauung wirklich gegeben sind. Dieser Schluss ist keineswegs unmittelbar einleuchtend. Schleiermacher hat in seiner Prämissenmenge noch nicht erwähnt, was er unter der sog. „ganzen Religion“ versteht und in welchem Verhältnis sie zu den religiösen Anschauungen steht. Um diesen Schluss verständlich zu machen, muss daher eine implizite Annahme Schleiermachers ergänzt werden, die von ihm im vorliegenden Text stillschweigend vorausgesetzt wird. Diese Annahme lautet: (P4*) Die ganze Religion ist ihrem Wesen nach die Totalität aller religiösen Anschauungen. Aus anderen Textabschnitten der Reden geht eindeutig hervor, dass Schleiermacher mit dem Ausdruck die „ganze Religion“ den Inbegriff bzw. die Totalität aller möglichen religiösen Anschauungen bezeichnet.13 Darauf weisen z.B. die sachlich identischen Formulierungen Schleiermachers hin, in welchen er von der „unendlichen religiösen Anlage der Menschheit“14 spricht oder festhält, dass „die Religion auf unendlich viele [Weisen, C. K.] bestimmbar“15 ist. Auf den Punkt bringt es eine spätere Formulierung der Reden. Hier verbindet Schleiermacher auf elegante Weise den Gedanken von der ganzen Religion als Totalität aller möglichen religiösen Anschauungen und der Menge der unendlichen Ansichten von ihnen, mit dem Gedanken, dass diese ganze Religion sich folglich als Religion jeweils individuell in jedem einzelnen Menschen unmittelbar manifestiert: „Nämlich die ganze Religion ist freilich nichts anderes als die Gesammtheit aller Verhältnisse des Menschen zur Gottheit in allen möglichen Auffassungsweisen, wie Jeder sie als sein unmittelbares Leben inne werden kann“16 Aus dem Gesagten folgt, dass die Existenz der ganzen Religion mit der Existenz aller möglichen religiösen Anschauungen zusammenfällt. Weil die religiösen Anschauungen laut Schleiermacher aber nur in Form bestimmter Ansichten von ihnen existieren, deshalb existiert die ganze Religion nur vollständig, wenn alle bestimmten Ansichten jeder religiösen Anschauung tatsächlich gegeben sind. 13 Vgl.

Welker, Beurteilung, 133 f. KGA I/2, 305,39–306,1. 15  KGA I/12, 253,5 f. 16  KGA I/12, 258,23–26. 14 

§  9  Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Religionsbegriff

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Durch diese zusätzliche Prämisse (P4*) wird der Schluss im Abschnitt II nachvollziehbar. Zusammenfassend ergibt sich somit für den Abschnitt I und II folgendes Argument: (P1) Religiöse Anschauungen bestehen ihrem Wesen nach völlig für sich. (P2) Die Menge der religiösen Anschauungen ist ihrem Wesen nach unendlich. (P3) Keine religiöse Anschauung existiert an sich, sondern jede erscheint jeweils unterschiedlich nach Maßgabe der jeweils verschiedenen Ansichten von ihr. (P4*) Die ganze Religion ist ihrem Wesen nach die Totalität aller religiösen Anschauungen. (K1) Die ganze Religion kann nur existieren, wenn alle möglichen verschiedenen Ansichten jeder religiösen Anschauung wirklich gegeben sind. Zwischenfazit: Mit diesem Argument hat Schleiermacher bereits gezeigt, dass aus dem religiösen Anschauungsbegriff die konstitutive Bedeutung der Reli­ gionsvielfalt für das Wesen der Religion folgt. Damit bestätigt diese Analyse folgende zentrale Aussage Schleiermachers: […] die Religion aber ist ihrem Wesen und Begriff nach auch für den Verstand ein Unendliches und Unermessliches; sie muß also ein Princip sich zu individualisiren in sich haben, weil sie sonst gar nicht dasein und wahrgenommen werden könnte: eine unendliche Menge endlicher und bestimmter Formen in denen sie sich offenbart müßen wir also postulieren und aufsuchen.17

Diese Suche nach religiösen Formen und dem Verständnis, was sie eigentlich bedeuten, wird im Abschnitt III von Schleiermacher vorgenommen. Hierdurch wird der präsentierte Schluss durch Erläuterungen weiter bestimmt, die erst Schleiermachers spezifisches Verständnis der Religionsvielfalt herausarbeiten. Im Folgenden geht es daher einerseits um die allgemeine Gestalt der unterschiedlichen Einzelreligionen und andererseits um das Verhältnis der verschiedenen Einzelreligionen zueinander. Abschnitt III:  Der zentrale Begriff dieses Abschnitts ist „Form“ bzw. „Formen“. Diese werden von Schleiermacher zum einen dadurch charakterisiert, dass es „verschiedene“ bzw. „bestimmte“ Formen sind und zum anderen, dass diese Formen eine „unendliche Menge“ bilden. Darüber hinaus erhalten die verschiedenen Formen dadurch ihre Bestimmung, dass sie in sich ein „Princip der Beziehung“ enthalten. Des Weiteren werden sie dahingehend ausgezeichnet, dass in jeder bestimmten Form jeweils derselbe Gegenstand anders modifiziert ist. Dieser kryptische Abschnitt bedarf einer näheren Auslegung: Zunächst muss geklärt werden, worauf sich die Aussagen dieses Abschnitts III überhaupt beziehen. Es kann sich hierbei nur um die verschiedenen Ansichten 17 

KGA I/2, 296,1–6.

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Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

der religiösen Anschauungen aus dem Abschnitt II handeln. Schleiermachers Ziel ist es, näher zu erläutern, unter welcher Bedingung die möglichen verschiedenen Ansichten jeder religiösen Anschauung wirklich gegeben sein können. Demnach sind die „Formen“ des Abschnitts III nichts anderes als die Formen der verschiedenen Ansichten. Die möglichen verschiedenen Ansichten jeder reli­ giösen Anschauung können nur vollständig existieren, wenn sie als eine unendliche Menge verschiedener Ansichtsformen existieren. Darauf hin muss allerdings auch geklärt werden, was Schleiermacher unter „Formen“ bzw. Ansichtsformen versteht. Aus dem Vorherigen ist bereits klar ge­ worden, dass es sich um Formen der Ansichten von religiösen Anschauungen handelt. Man kann auch sagen, es handelt sich um geformte religiöse Ansichten. Schleiermachers Beschreibung zufolge handelt es sich um ein jeweils spezifisches „Princip der Beziehung“18 , welches die religiösen Ansichten formt bzw. ihnen ihre Bestimmtheit verleiht. Weil aber der einzige Gegenstand und Inhalt dieser religiösen Ansichten nur die religiösen Anschauungen selbst sind, so kann es sich bei dem, was durch dieses Prinzip miteinander in Beziehung gebracht wird, nur um religiöse Anschauungen handeln. Die verschiedenen religiösen Ansichten werden also dadurch geformt, dass sie ein bestimmtes internes Prinzip besitzen, nach welchem ihre religiösen Anschauungen in Beziehung zueinander gesetzt werden. Aus dem Gesagten ergibt sich noch eine weitere Folgerung: Dadurch, dass in den geformten Ansichten die religiösen Anschauungen nach einem bestimmten Prinzip in eine Beziehung zueinander gebracht werden, werden auch die religiösen Anschauungen jeweils eigentümlich modifiziert. Die spezifische Modifizierung der religiösen Anschauungen ist also nur eine Folge davon, dass die religiösen Anschauungen nach einem bestimmten Prinzip in Beziehung zueinander gebracht werden. Schleiermachers eigentliche These in Abschnitt III lautet folgendermaßen: (K2) Die Gesamtheit der möglichen verschiedenen Ansichten jeder religiösen Anschauung kann nur vollständig existieren, wenn sie als eine unendliche Menge verschiedener Ansichtsformen existiert. Jede dieser Ansichtsformen ist dadurch bestimmt, dass ihr ein eigentümliches Prinzip zu Grunde liegt, nach welchem sie ihre religiösen Anschauungen in Beziehung zueinander setzt, wodurch jede ihrer Anschauungen auf eigentümliche Weise modifiziert wird.

Hiermit ist die entscheidende Frage dieses dritten Abschnitts aber noch keineswegs geklärt. Es drängt sich die Frage auf: Weshalb kann die Gesamtheit aller möglichen verschiedenen Ansichten jeder religiösen Anschauung nur als unendliche Menge verschiedener Ansichtsformen vollständig existieren? Diese allgemeine Frage kann zur Beantwortung in drei kleinere Einzelfragen überführt werden: 18 

KGA I/2, 299,19.

§  9  Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Religionsbegriff

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Erstens: Weshalb ist die Menge der verschiedenen religiösen Ansichtsformen „unendlich“? Die Menge der verschiedenen Ansichtsformen muss nach Schleier­ macher unendlich sein, weil eine religiöse Ansichtsform nichts anderes ist, als eine nach einem bestimmten Prinzip in Form gebrachte religiöse Ansicht. Die religiöse Ansichtsform fixiert oder festigt gewissermaßen eine religiöse Ansicht. Weil die religiöse Ansichtsform nichts anderes ist als eine gefestigte religiöse Ansicht, muss die Menge der religiösen Ansichten gleich groß sein wie die Menge der religiösen Ansichtsformen. Weil aber die Menge der religiösen Ansichten unendlich ist, ist auch die Menge der religiösen Ansichtsformen unendlich. Zweitens: Weshalb kann nach Schleiermacher die Gesamtheit der verschiedenen möglichen Ansichten nur in einer unendlichen Menge von Ansichtsformen existieren? Reicht es nicht aus, dass sich einfach alle religiösen Ansichten als Ansichten realisieren? Weshalb ist Schleiermacher die Form der Ansichten so wichtig? Nach Schleiermacher können die verschiedenen religiösen Ansichten nur unter der Bedingung auch als Verschiedene tatsächlich existieren, wenn es in ihnen einen Grund gibt, der sie voneinander unterscheidet. Die möglichen verschiedenen Ansichten sind nur als solche auch tatsächlich voneinander unterschieden, wenn es in ihnen etwas gibt, das die Ursache dieser Unterscheidung bildet. Wenn es diesen Grund nicht geben würde, müssten die verschiedenen religiö­ sen Ansichten in der Realität ineinander übergehen. Dann gäbe es aber immer nur ein sich veränderndes Gemisch von religiösen Ansichten, woraus sich niemals eine vollständige Gesamtheit aller möglichen religiösen Ansichten ergeben würde. Anders ausgedrückt: Religion zu besitzen bzw. ein religiöses Bewusstsein auszubilden, bedeutet nach Schleiermacher nicht bloß überhaupt religiöse Ansichten zu besitzen. Dass dies für ihn zu wenig ist, um als religiöses Bewusstsein im eigentlichen Sinne zu gelten, ist ja gerade der Kern seiner Kritik in der dritten Rede an den sog. „fantastischen Naturen“19 mit ihren bloßen „Anfällen von Religion“20. Diese fantastischen Naturen sind Schleiermacher zufolge zwar an der Religion subjektiv interessiert, aber nicht von ihr objektiv durchdrungen: Ein leichtes abwechselndes Spiel von schönen oft entzükenden aber immer nur zufälligen und ganz subjektiven Combinationen genügt ihnen und ist ihr Höchstes, ein tiefer und innerer Zusammenhang bietet sich ihren Augen vergeblich dar. Sie suchen eigentlich nur die Unendlichkeit und Allgemeinheit des reizenden Scheins […] und daher bleiben alle ihre Ansichten abgerißen und flüchtig.21

19 

KGA I/2, 258,7. KGA I/2, 258,17 (kursiv, C. K.). 21  KGA I/2, 258,9–16 (kursiv, C. K.). 20 

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Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

Weil es diesen fantastischen Naturen Schleiermacher zufolge im Prinzip nur um die Abwechslung selbst geht, ändern sich ihre religiösen Ansichten eben so schnell wie sie gebildet wurden. Hieraus entsteht das von Schleiermacher kritisierte Gemisch permanent sich wandelnder religiöser Ansichten, welches kein Bewusstsein von der Religion als „im Wesen der Menschheit nothwendig gegründet“22 auf kommen lässt, sondern die Religion vielmehr auf ein Reizmittel zum oberflächlichen Zeitvertreib reduziert. Diese Kritik an den sog. fantastischen Naturen verdeutlicht, dass sich für Schleiermacher religiöses Bewusstsein im eigentlichen Sinne erst dort gebildet hat, wo religiöse Ansichten in Beziehung gebracht worden sind, d.h., wo sie durch ein Prinzip geformt sind. Weil nach Schleiermacher allgemein gilt, dass nur die religiöse Ansichtsform es ermöglicht, dass sich ein religiöses Bewusstsein im eigentlichen Sinne bildet und eine unendliche Menge von religiösen Ansichten eine tatsächliche Gesamtheit bildet, deshalb kann auch die Gesamtheit der möglichen verschiedenen religiösen Ansichten nur in einer unendlichen Menge von verschiedenen Ansichtsformen tatsächlich existieren. Drittens: Weshalb muss es nach Schleiermacher unendlich verschiedene Ansichtsformen geben? Wie bereits im Zuge der Beantwortung der ersten Frage aufgezeigt, ist Schleiermacher der Meinung, dass die Menge der verschiedenen religiösen Ansichten unendlich groß ist. Dies ist auch der Grund dafür, dass ihm zufolge kein Mensch allein die tatsächliche unendliche Menge aller religiösen Ansichtsformen zu umfassen oder zu besitzen vermag. In Schleiermachers eigenen Worten: „[D]er Mensch ist endlich und die Religion ist unendlich“.23 Folglich können die religiösen Ansichtsformen nur als tatsächlich verschiedene, d.h. als voneinander relativ unabhängige religiöse Ansichtsformen existieren. Damit ist der argumentative Nachvollzug des Abschnitts III abgeschlossen. Er hat sich als sehr voraussetzungsreich erwiesen. Meines Erachtens werden von Schleiermacher drei implizite Annahmen im Text nicht genannt. Diese wurden im Rahmen von drei Fragen nachkonstruiert und lauten zusammenfassend folgendermaßen: (P5*) Die Menge der religiösen Ansichtsformen ist unendlich. (P6*) Nur ihre Ansichtsform ermöglicht es, dass eine unendliche Menge verschiedener religiösen Ansichten tatsächlich als eine Gesamtheit existieren kann. (P7*) Kein Mensch allein vermag die tatsächliche unendliche Menge der verschiedenen religiösen Ansichtsformen zu umfassen. 22 

23 

KGA I/2, 197,8. KGA I/2, 295,18.

§  9  Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Religionsbegriff

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Aus diesen drei Prämissen wird plausibel, weshalb nach Schleiermacher die Gesamtheit der möglichen verschiedenen religiösen Ansichten nur in einer unendlichen Menge verschiedener Ansichtsformen vollständig zu existieren vermag. Abschnitt IV:  In diesem letzten Abschnitt wird von Schleiermacher dem Argument zwar nichts Neues mehr hinzugefügt, er nimmt aber eine entscheidende Begriffsklärung vor. Indem er festhält, dass es sich bei den religiösen Ansichtsformen, um „wahre Individuen“ handelt, wird das allgemeine Verhältnis zwischen der ganzen Religion und ihren einzelnen Manifestationen verdeutlicht.24 Darüberhinaus beinhaltet diese Verhältnisbestimmung implizite Annahmen, aus denen sich zwei Kernaussagen Schleiermachers ableiten lassen, welche sich auf das Verhältnis der Einzelreligionen zueinander beziehen. Nach Schleiermachers steht ein Individuum in einem notwendigen Zusammenhang mit einer ihm korrespondierenden Ganzheit, dessen bestimmte Manifestation es darstellt. Dabei verhalten sich Ganzheit und Individuum so zueinander, dass einerseits die Ganzheit die Totalität seiner individuellen Manifestationen bildet. Aus diesem Grunde bildet jedes Individuum einen konstitutiven Teil des Ganzen. Andererseits werden die einzelnen Individuen laut Schleiermacher dadurch zu wahren Individuen, dass in ihnen alles zur Ganzheit Gehörende auf spezifische Weise modifiziert enthalten ist. Die wahren Individuen bilden folglich eine spezifische Darstellung des Ganzen bzw. stellen jeweils in sich selbst eine bestimmte Totalität sämtlicher anderer Individuen dar.25 Im Falle der Religion bedeutet dies, dass die endlichen Einzelreligionen jeweils eine in sich geschlossene Ganzheit bilden. Dadurch unterscheiden sie sich signifikant von einem bloßen Aggregat, welches nur eine ungeordnete endliche Ansammlung bestimmter Sachverhalte darstellt. Weil nach Schleiermacher jede religiöse Ansichtsform ihre religiösen Anschauungen nach einem bestimmten Ordnungsprinzip in einen inneren Zusammenhang bringt, wodurch jede religiöse Anschauung nach einem bestimmten Prinzip eigentümlich modifiziert wird, stellt jede religiöse Ansichtsform eine endliche Darstellung der Totalität dar. Jede religiöse Ansichtsform bildet folglich ein wahres Religionsindividuum. Von Schleiermacher wird implizit vorausgesetzt, dass gilt: (P8*) Jede religiöse Ansichtsform, die einem bestimmten Prinzip unterworfen, jede ihrer religiösen Anschauungen auf eine spezifische Weise bestimmt und dadurch die ganze Religion in modifizierter Weise zur Darstellung bringt, bildet ein wahres Religionsindividuum. Deshalb ist für ihn auch begründet, dass gilt: (K3) Die ganze Religion kann nur in einer unendlichen Menge verschiedener wahrer Religionsindividuen existieren. 24 

25 

Vgl. hierzu auch Welker, Beurteilung, 134 f. Vgl. in vorliegender Arbeit §  8.1.

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Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

Schleiermachers Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Wesen der Religion bzw. aus dem religiösen Anschauungsbegriff ist hiermit umfassend abgeschlossen. Er hat argumentativ entfaltet, was von ihm in seiner „Vorgabe“ als These formuliert wurde. Die Religionsvielfalt ist für das Wesen der Religion konstitutiv, weils sie mit Notwendigkeit aus dem religiösen Anschauungsbegriff folgt. Schleiermacher hat auf diese Weise mit argumentativen Mitteln gezeigt, dass die Religion „ein Princip sich zu individualisieren in sich haben [muß]“26 und folglich niemals an sich existiert, sondern sich immer nur in bestimmten Formen, die jede eine spezifische Modifikation der ganzen Religion darstellen, manifestiert. Im weiteren Verlauf seiner Darlegungen zieht Schleiermacher in den Reden weitere folgenreiche Schlüsse aus diesen grundsätzlichen Überlegungen zur sachnotwendigen Religionsvielfalt. Hierbei handelt es sich um die zwei Kernaussagen, die sich auf das Verhältnis der Einzelreligionen zueinander beziehen: Erstens: Weil nach Schleiermacher alle Einzelreligionen als wahre Religionsindividuen nur Teile der ganzen Religion bilden, kann auch keine Einzelreli­ gion für sich genommen die ganze Religion bilden. Nach Schleiermacher besitzt keine Religion einen begründeten Alleingeltungsanspruch. Zugleich ist in dem Sachverhalt, dass jede Religion nur einen Teil der ganzen Religion bildet, auch die Möglichkeit angelegt, dass sich die Religionen gegenseitig überhaupt als Religionen erkennen und anzuerkennen vermögen. Denn im Bewusstsein selbst nur ein Teil des Ganzen zu sein, ist bereits implizit die Anerkennung anderer Teile mitenthalten. Diese erste Kernaussage von Schleiermachers Reli­ gionstheologie kann man folgendermaßen festhalten: (K4*) Weil jedes wahre Religionsindividuum einen konstitutiven Teil der ganzen Religion bildet, kommt keinem Religionsindividuum ein Alleingeltungsanspruch zu. Zweitens: Jede Einzelreligion ist nach Schleiermacher nicht allein Teil, sondern auch spezifische Darstellung der ganzen Religion. Daraus folgt, dass in jeder Einzelreligion alles das, was in den anderen Religionen enthalten ist, in bestimmt modifizierter Hinsicht auch vorhanden ist. Weil die Einzelreligionen wahre Religionsindividuen darstellen, enthalten sie in sich alle Dasselbe, nur in anderer Hinsicht bestimmt: Vergeßt also nie, daß die Grundanschauung einer Religion nichts sein kann, als irgend eine Anschauung des Unendlichen im Endlichen, irgend ein allgemeines Element der Religion; welches in allen andern aber auch vorkommen darf, und wenn sie vollständig sein sollten, vorkommen müßte, nur daß es in ihnen nicht in den Mittelpunkt gestellt ist.27

26  27 

KGA I/2, 296,3 f. KGA I/2, 313,30–34.

§  9  Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Religionsbegriff

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Hierin ist nach Schleiermacher auch die Möglichkeit angelegt, dass die unterschiedlichen Religionsindividuen sich nicht allein gegenseitig überhaupt als Religionen erkennen können, sondern darüberhinaus auch in ihrer jeweiligen Bestimmtheit aufzufassen vermögen. Weil in jedem Religionsindividuum alles vorkommen muss, was in jedem anderen auch enthalten ist, nur durch eine spezifische Form anders angeordnet, deswegen verhalten sich die Religions­ individuen nach Schleiermacher der Form nach wie menschliche Individuen zueinander. Folglich muss unter den Religionen das höchste Ziel in einer ­gegenseitigen Anerkennung in dem umfassenden Verwandtschaftsbewusstsein eines „Bund[es] von Brüdern“28 und Schwestern, bestehen. Die religiöse Individualität beinhaltet also nicht nur die negative Absage an den Alleingeltungsanspruch bestimmter Religionen, sondern auch positiv die umfassende Verwandtschaft der Religionen miteinander. Daraus folgt: (K5*) Weil jedes endliche Religionsindividuum eine Darstellung der ganzen Religion bildet, so ist in jedem alles das enthalten, was auch in den anderen enthalten ist, nur anders modifiziert. Deswegen stehen die endlichen Religionsindividuen in einem umfassenden Verwandtschaftsverhältnis miteinander. Schleiermachers gesamtes Argument aus KGA I/2, 299,9–21 einschließlich seiner impliziten Prämissen, unmittelbaren Konsequenzen und zwei religionstheologischen Kernaussagen lässt sich schließlich folgendermaßen zusammenfassen: (P1) Religiöse Anschauungen bestehen ihrem Wesen nach völlig für sich. (P2) Die Menge der religiösen Anschauungen ist ihrem Wesen nach unendlich. (P3) Keine religiöse Anschauung existiert an sich, sondern jede erscheint jeweils unterschiedlich nach Maßgabe der jeweils verschiedenen Ansichten von ihr. (P4*) Die ganze Religion ist ihrem Wesen nach die Totalität aller religiösen Anschauungen. (K1) Die ganze Religion kann nur existieren, wenn alle möglichen verschiedenen Ansichten jeder religiösen Anschauung wirklich gegeben sind. (P5*) Die Menge der religiösen Ansichtsformen ist unendlich. (P6*)  Nur ihre religiöse Ansichtsform ermöglicht es, dass eine unendliche Menge verschiedener religiöser Ansichten tatsächlich als eine Gesamtheit existieren kann. (P7*) Kein Mensch allein vermag die tatsächliche unendliche Menge der verschiedenen religiöser Ansichtsformen zu umfassen. (K2) Die Gesamtheit der möglichen verschiedenen religiösen Ansichten jeder religiösen Anschauung kann nur vollständig existieren, wenn sie als eine unendliche Menge verschiedener religiöser Ansichtsformen existiert. 28 

KGA I/2, 291,30.

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Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

J­e­de dieser religiösen Ansichtsformen ist dadurch bestimmt, dass ihr ein eigentümliches Prinzip zu Grunde liegt, nach welchem sie ihre religiösen Anschauungen in Beziehung zueinander setzt, wodurch jede ihrer reli­ giö­sen Anschauungen auf eigentümliche Weise modifiziert wird. (P8*) Jede religiöse Ansichtsform, die einem bestimmten Prinzip unterworfen, jede ihrer religiösen Anschauungen auf eine spezifische Weise bestimmt und dadurch die ganze Religion in modifizierter Weise zur Darstellung bringt, bildet ein wahres Religionsindividuum. (K3) Die ganze Religion kann nur in einer unendlichen Menge verschiedener wahrer Religionsindividuen existieren. (K4*) Weil jedes wahre Religionsindividuum einen Teil der ganzen Religion bildet, besitzt kein Religionsindividuum Alleingeltung. (K5*) Weil jedes endliche Religionsindividuum eine Darstellung der ganzen Religion bildet, so ist in jedem alles das enthalten, was auch in den anderen enthalten ist, nur anders modifiziert. Deswegen stehen die endlichen Religionsindividuen in einem umfassenden Verwandtschaftsverhältnis miteinander. Es lässt sich somit für Schleiermachers Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Wesen der Religion grundsätzlich festhalten: Schleiermacher hat aus seiner Auffassung vom Wesen der Religion bzw. von seinem religiösen Anschauungsbegriff ausgehend die religiöse Vielfalt argumentativ abgeleitet. Ihm zufolge stellt die Religionsvielfalt nicht allein einen faktischen, sondern vielmehr einen notwendigen Sachverhalt dar. Schleiermachers Religionstheologie basiert somit fundamental auf seiner Überzeugung einer Religionsvielfalt aus begrifflichen Gründen. Man kann sagen, er vertritt eine Religionspluralität aus Prinzip. Aus dem Wesen der Religion heraus ist es nicht anders möglich, als dass die Religion sich in einer unendlichen Vielzahl von eigentümlich bestimmten Religionsindividuen manifestiert. Die Religion vermag nur in der Pluralität ihrer individuellen Erscheinungsformen zu existieren.29 Schleiermacher gibt darüber hinaus an, wie er sich das Miteinander dieser Vielzahl an Einzelreligionen prinzipiell vorstellt. Indem er die Einzelreligionen als wahre Religionsindividuen bestimmt, stellt er klar heraus, dass sie sich in keinem gegenseitigen negativen Ausschlussverhältnis zueinander befinden und dementsprechend auch keine Religion einen berechtigten Alleingeltungsanspruch zu besitzen vermag. Hingegen stehen ihm zufolge die einzelnen Reli­ 29 Nach

Mensching wird durch Schleiermacher „der geschichtlichen Würdigung der Religionen die prinzipielle Grundlage gegeben: Religion manifestiert sich nur in ‚positiven Religionen‘“ (Mensching, G., Geschichte der Religionswissenschaft, Bonn 1948, 56 f.). Damit werden von Schleiermacher die positiven Religionen, im Unterschied zur Auf klärung, nicht als „zufällig“, sondern vielmehr als „notwendig“ dargelegt. Vgl. Seifert, Theologie, 153: „Religion, wie Schleiermacher sie vor allem in der Zweiten Rede beschrieben hat, existiert nicht als Gedankenkonstruktion. Sie hat Wirklichkeit nur in historischen Gebilden.“

§  10  Das religionstheologische Individuationsprinzip

351

gionsindividuen in einem positiv aufeinander bezogenen Wechselverhältnis miteinander. Folglich hat man bei Schleiermachers Religionstheologie, eine Sprachneuschöpfung bemühend, von einem prinzipiellen Gesamtgeltungsanspruch aller Religionen zu sprechen. Mit diesem Ausdruck wird hervorgehoben, dass jedes Religionsindividuum ausschließlich insofern ein berechtigter Geltungs­ anspruch zukommt, als es in sich selbst über die potentielle Fähigkeit verfügt und die aktuale Bereitschaft besitzt zur Anerkennung sämtlicher anderer wahrer Religionsindividuen. Der religionstheologische Ausdruck des Gesamtgeltungsanspruchs besagt, dass es zum Wesen jeder wahren Einzelreligion gehört, in einem konstitutiven Bezug auf alle anderen wahren Einzelreligionen zu stehen. Die Religion kann ihrem Wesen nach nur in einer Vielfalt wahrer Religionsindividuen existieren, für die es wiederum wesensgemäß ist, in einem konstitutiven Zusammenhang miteinander zu stehen. Eine keineswegs unerhebliche Frage ist allerdings durch Schleiermachers Argumentation noch nicht beantwortet worden: Was ist dieses „Princip der Beziehung“30, wodurch die religiösen Ansichten laut Schleiermacher zu wahren Religionsindividuen geformt werden? Schleiermacher hat bislang zwar gezeigt, dass die Religion nur im Plural ihrer Religionsindividuen zu existieren vermag und dass dieser Pluralität an Religionsindividuen eine bestimmte interne Ordnung zu Grunde liegt. Er hat aber noch nicht präzise gezeigt, wie diese Religionsindividuen selbst gestaltet sind. Eine derartige Binnenschau in das innere Wesen der vielfältigen Religionsindividuen, wodurch sie ihre Näherbestimmung als eminent geschichtliche Gestalten bzw. „Positive Religionen“31 gewinnen, wird im folgenden Paragraphen vollzogen (§  10).

§  10  Das religionstheologische Individuationsprinzip Nach seiner Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Religionsbegriff geht Schleiermacher in KGA I/2, 299,21–304,15 der Frage nach dem principium individuationis der vielfältigen Einzelreligionen nach: Wodurch werden nun diese Individuen bestimmt und wodurch unterscheiden sie sich voneinander? was ist das Gemeinschaftliche in ihren Bestandtheilen, was sie zusammenhält, oder das Anziehungsprincip dem sie folgen? 32

Diese Fragen Schleiermachers beziehen sich nicht auf mehrere, sondern auf einen Sachverhalt, in den zwei unterschiedlichen Hinsichten seiner Bedeutung: 30 

KGA I/2, 299,19. KGA I/2, 296,24. 32  KGA I/2, 299,22–25. 31 

352

Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

Von außen betrachtet, ist es der wesentliche Sachverhalt bzw. das objektive Kriterium zur Unterscheidung zwischen den Religionsindividuen voneinander und zur Erkenntnis ihrer Verhältnisbestimmung zueinander. Von innen gesehen, bildet derselbe Sachverhalt die sachliche Mitte eines Religionsindividuums, um welches sich seine einzelnen religiösen Anschauungen gruppieren und welches quasi als Gravitationszentrum das „Anziehungsprincip“33 darstellt, an dem sich die immanente Ordnung seiner religiösen Anschauungen ausrichtet. Schleiermachers Frage richtet sich auf das principium individuationis der Religion, welches zugleich als Unterscheidungskriterium der Religionen zueinander sowie als Bestimmungskriterium der jeweiligen Einzelreligionen selbst fungiert. Dieser Frage nach dem objektiven Individuationsprinzip wird in 1. Die religiöse Zentralanschauung nachgegangen. Darüber hinaus stellt sich für Schleiermacher die Frage nach dem subjektiven Individuationsprinzip bei jedem einzelnen Menschen. Wenn die einzelnen Religionen individuelle Gestalten der wahren Religion bilden, wie verhalten sich dann die religiösen Individuen innerhalb einer derartigen einzelnen Religion zueinander? Diese subjektive Dimension des religiösen Individuationsprinzips wird in dem Abschnitt 2. Die religiöse Persönlichkeitsbildung herausgearbeitet. 1.  Die religiöse Zentralanschauung Zunächst grenzt Schleiermacher in KGA I/2, 299,26–303,23 sein Verständnis des religionstheologischen Individuationsprinzips von falschen Kandidaten ab (1.1.). Darauf hin stellt er das seines Erachtens angemessene principium individuatuionis der positiven Religionen dar: die religiöse Zentralanschauung (1.2.). In einem dritten Schritt werden bisherige Interpretationsansätze der Forschung zur Genese und Geltung der religiösen Zentralanschauung kritisch diskutiert und es wird aufgezeigt, dass es sich bei ihr um kein arbiträres Konstrukt des menschlichen Subjekts handelt, sondern sich ihre Genese und Geltung einem spezifisch-geschichtlichen Erschließungshandeln des lebendigen Universums im menschlichen Bewusstsein verdankt (1.3.). 1.1.  Abgrenzung von falschen Kandidaten Im Verlauf seiner Darstellung schließt Schleiermacher drei mögliche Kandidaten für das principium individuationis der Religionen aus. Erstens: Das religiöse Individuationsprinzip kann ihm zufolge nicht in einem bestimmten Quantum religiösen Stoffs bzw. einer bestimmten Summe religiöser Anschauungen liegen. Ausführlich erläutert er dies in KGA I/2, 299,26–301,32:

33 Ebd.

§  10  Das religionstheologische Individuationsprinzip

353

Dies ist eben das gänzliche Mißverständnis über das Wesen der einzelnen Religionen, welches häufig unter ihren Bekennern selbst verbreitet und den Grund zum Verderben gelegt hat. Sie haben eben gemeint, weil doch so viele Menschen sich dieselbe Religion zueignen, so müßten sie auch dieselben religiösen Ansichten und Gefühle, daßselbe Meinen und Glauben haben, und eben dies Gemeinschaftliche müße das Wesen ihrer Religion sein.34

Gegen diese irrtümliche Ansicht bringt er drei Gründe vor: Zum einen zeigt er auf, dass allein durch ein bestimmtes Quantum religiösen Stoffs keine Religionsindividuen entstehen können. Falls es nur eine bestimmte Summe von religiösen Anschauungen und Gefühlen sein sollte, welche die Religionsindividuen voneinander trennt, wären diese keine wahren Individuen, sondern bloße Religionsaggregate bzw., wie Schleiermacher sich in seiner zweiten Auflage der Reden explizit polemisch ausdrückt, ein „zusammengeraffter Haufen“35. Sie würden nur mehr oder weniger große endliche Ansammlungen religiöser Ansichten darstellen, aber keine endlichen geschlossenen Ganzheiten bilden. Weil ein bloßes Quantum an religiösem Stoff von sich aus kein internes Prinzip des Zusammenhangs von religiösen Anschauungen und Gefühlen darstellt, kann ein solches Gebilde kein wahres Religionsindividuum bilden.36 Bereits aus formalen Gründen kann ein Quantum an religiösem Stoff nach Schleiermacher nicht das principium individuationis der Religion abgeben: Einzelne Anschauungen und Gefühle sind wie Ihr wißt die Elemente der Religion, und diese nur so quantitativ zu betrachten wie viele ihrer und namentlich was für welche vorhanden sind, das kann uns unmöglich auf den Charakter eines Individuums der Religion führen. Wenn sich die Religion deswegen individualisieren muß, weil von jeder Anschauung verschiedene Ansichten möglich sind je nachdem sie auf die übrigen bezogen wird, so wäre uns freilich mit einem solchen ausschließlichen Zusammenfaßen mehrerer unter ihnen, wodurch ja keine von jenen möglichen Ansichten bestimmt wird, gar nichts geholfen und wenn die positiven Religionen sich nur durch eine solche Ausschließung unterschieden, so wären sie freilich nicht die individuellen Erscheinungen, welche wir suchen.37

Zum anderen zeigt Schleiermacher auf, dass die Vorstellung, die Religionen würden sich wesentlich nach dem Quantum ihres eigentümlichen Stoffs unterscheiden, irrtümlich ist, indem er religionsphänomenologisch die Unterscheidung einführt, zwischen dem Beweglichen und Fließenden 38 einer Religion auf der einen Seite und ihrem Feststehenden und Wesentlichen 39 auf der anderen Seite. 34 

KGA I/2, 299,27–33. KGA I/12, 260,19. 36 Vgl. Dilthey, Leben Schleiermachers, 421. 37  KGA I/2, 300,3–11. 38  KGA I/2, 300,25. 39  KGA I/2, 300,26. 35 

354

Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

Das Bewegliche und Fließende einer Religion besteht in denjenigen Elementen oder Eigenschaften, die sich bei ihr im Verlauf der Zeit wandeln können, ohne dass der spezifische Charakter einer Religion selbst sich verändert. Bei den fließenden Elementen einer Religion handelt es sich folglich um religiöse Zufälligkeiten bzw. Adiaphora. Die feststehenden und wesentlichen Elemente einer Religion sind hingegen „charakteristisch und nothwendig“40. Sie besitzen eine zeitlich invariante, beständige Gültigkeit in einer Religion. Sie sind das­ jenige, was die bestimmte Religion erst zur bestimmten Religion macht und sie als bestimmte Religion erhält. Man könnte sie auch die Charakterstifter einer Religion nennen. Ein bestimmtes Quantum an religiösem Stoff stellt nach Schleiermacher folglich bei jedem religiösen Subjekt etwas Fließendes und Zufälliges dar: Daher ist schon in der Religion jedes einzelnen Menschen, wie sie sich im Lauf seines Erlebens bildet, nichts zufälliger als die bestimmte Summe seines religiösen Stoffs. Einzelne Ansichten können sich ihm verdunkeln, andere können ihm aufgehn und sich zur Klarheit bilden, und seine Religion ist von dieser Seite immer beweglich und fließend.41

Als Beispiel kann hier auch Schleiermacher selbst gelten. Wie er in der ersten Rede selbst angibt, „half “ ihm seine Religion als er anfing „den väterlichen Glauben zu sichten und das Herz zu reinigen vom Schutte der Vorwelt“, und sie „blieb“ ihm „als Gott und Unsterblichkeit dem zweifelnden Auge verschwanden“.42 Trotz des Zweifels an einzelnen religiösen Elemente, blieb Schleier­ macher dennoch zweifelsohne Christ. Weil die jeweilige Summe der religiösen Anschauungen bei jedem einzelnen Menschen das Veränderliche in seiner Religion darstellt, kann diese jeweils zeitlich variable Summe nicht das religiöse Individuationsprinzip bilden, da dieses als eine Wesensbestimmung des Religionsindividuums ein zeitlich-invariables, d.h. ein beständig gleichbleibendes Moment der Religion bilden muss. Und weil bereits bei jedem einzelnen Menschen das Quantum an religiösem Stoff fließend und beweglich ist, müsste folglich auch die von den einzelnen religiösen Menschen gebildete Religionsgemeinschaft, wenn sie allein auf der Summe des von ihnen geteilten religiösen Stoffs basiert, fließend und beweglich sein. Hierdurch würden die Religionsgemeinschaften sowohl innerlich als instabile Gebilde existieren als auch nach außen hin die beständige Tendenz besitzen, „sehr bald in einander [zu] fließen“43. Rein auf ihrer zeitlich variablen Summe religiöser Ansichten gründend und ohne ein inneres Kriterium zur beständigen Unterscheidung, würden die Religionen durch Austausch ihrer Ansichten in einer „natürlichen Fortschreitung zu demjenigen gelangen, was des 40 

KGA I/2, 300,32 f. KGA I/2, 300,21–25. 42  KGA I/2, 195,3–14. 43  KGA I/2, 300,26 f. 41 

§  10  Das religionstheologische Individuationsprinzip

355

anderen ist; die Religion, die [man] sich mitteilen läßt würde sich in die [eigene] verwandeln und mit ihr Eins werden.“44 Schleiermacher hält gegen diese Konsequenzen fest, dass sich ein derartiges Ineinanderfließen „in der That“45, d.h. in den historischen Religionen, faktisch nicht ereignet. Die Religionsindividuen sind vielmehr „in der Erscheinung beharrlich gesondert“46. Weil die Religionsindividuen somit in der geschichtlichen Erscheinung beharrlich gesondert existieren, müssen sie ihrem Wesen nach spezifisch bestimmt sein. Da aber das Quantum an religiösem Stoff prinzipiell zu keiner immanenten Bestimmung einer Religion führt,47 kann ein religiöses Stoffquantum nicht den eigentlichen Grund der geschichtlichen Religionserscheinungen abgeben. Die Kritik Schleiermachers hat deutlich gemacht: Die Ansicht, dass principium individuationis der Religion bestünde in einem jeweils unterschiedlich bestimmten Quantum religiösen Stoffs, ist irrtümlich, da auf diese Weise zum einen nur Religionsaggregate und keine wahren Religionsindividuen entstehen können und zum anderen die Selbständigkeit der geschichtlichen Religionen unerklärbar bleiben muss. In dem letzten Schritt seiner Kritik an dieser Quantitätsansicht deckt Schleier­ macher auch den Grund dafür auf, weshalb sie überhaupt vertreten wird: Die Bereitschaft, ein bestimmtes Quantum an religiösem Stoff zur Mitte einer Religion zu machen, basiert auf einer tief sitzenden religiösen Unsicherheit bei den betreffenden Menschen. Diese versuchen durch strenge Fixierung einzelner religiöser Elemente Kontrolle über die Religon zu gewinnen. Dies ist nach Schleiermacher aber das Sektenwesen in der Religion. Diese sektiererische Gruppe von religiösen Menschen ist im Unterschied zu den sog. fantastischen Naturen nicht an einem Wechselspiel der religiösen Ansichten interessiert, sondern von dem oberflächlichen Ernst durchdrungen, ihrer eigenen Religionsansicht nach innen durch kompromisslose Fixierung eines bestimmten religiösen Ansichtenbestands und nach außen durch ausnahmslose Abgrenzung gegenüber allen anderen religiösen Ansichten, eine unveränder­ liche Gestalt zu geben und ihr auf diesem Wege gewissermaßen gewaltsam eine zeitlich invariable Beständigkeit zu sichern. Zugespitzt kann man sagen: Diese Menschen versuchen ihre essentielle religiöse Charakterlosigkeit durch den geborgten Schein von Charakter zu kompensieren, indem sie ihren unfreiwilligen Religionsmangel als selbsterzeugte

44  KGA

I/2, 295,7–10. KGA I/2, 300,13 f. 46  KGA I/12, 260,33 (kursiv, C. K.). 47 Vgl. KGA I/12, 261,6 ff.: „Daher können gar nicht verschiedene Religionen lange Zeit neben einander bestehen, wenn sie nur so unterschieden wären; sondern jede würde sich bald zur Gleichheit mit allen übrigen ergänzen.“ 45 

356

Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

Religionsstärke ausgeben, die sie angeblich über gleich- und andersgesinnte religiöse Menschen erhebt. Sie unterliegen einer psychisch determinierten Verwechslung, indem sie ihre Petrifizierung einzelner religiöser Anschauungen mit der Charakterbeständigkeit eines echten Religionsindividuums verwechseln. In späteren Auflagen der Reden fasst Schleiermacher diesen Zusammenhang von religiöser Beschränktheit und psychologischer Motivation, die zum Sektenwesen in einer Religion führen, folgendermaßen zusammen: Diejenigen aber werden auch am meisten Sekten genannt und verdienen auch nur einen Namen, der eine freiwillige Ausschließung andeutet, welche sich in wenige abweichend gebildete Ansichten ausschließend vertiefen, und sich alles Uebrige fremd werden lassen, und hierbei liegt wol immer eine einzelne beschränkte aber in ihrer Beschränktheit kräftige Persönlichkeit zum Grunde.48

Auf diese Weise wird ihnen die Vermessenheit ihres eigenen religionsschwachen Bewusstseins zum allgemein-verbindlichen Bewertungsmaßstab der Religion insgesamt, „indem […] die religiösen Erfahrungen eines Einzelnen, und zwar auch nur aus einem kurzen Zeitraum seines Lebens zur Norm für die Gemeinschaft“49 der religiösen Menschen insgesamt erhoben wird. Diese Handlung führt schwerwiegenden Folgen mit sich. Indem diese sektiererischen Menschen das fließende Element der Religion zu ihrem festen Mittelpunkt erklären, müssen sie dafür sorgen, dass diese fließenden Elemente ihrer Lebendigkeit beraubt und endgültig und allgemeinverbindlich festgesetzt werden: Daher ist auch unter denen die ihre Religion so bestimmen ein beständiger Streit über das, was zu derselben wesentlich gehöre und was nicht; sie wissen nicht was sie als charakteristisch und nothwendig festsezen; was sie als frei und zufällig absondern sollen, sie finden den Punkt nicht aus dem sie das Ganze übersehen können, und verstehen die religiöse Erscheinung nicht in der sie selbst zu leben, für die sie streiten zu wähnen und zu deren Ausartung sie beitragen indem sie nicht wißen wo sie stehn und was sie thun.50

Der Gegenstand ihres beständigen Streits ist der Versuch, aus der jeweils zufälligen Summe ihrer eigenen religiösen Ansichten ein für alle anderen religiösen Menschen verbindliches und in sich geschlossenes Ganzes zu errichten. Dieses selbsterzeugte Religionsganze ist nach Schleiermacher zweifellos kein wahres, sondern vielmehr ein eigenmächtiges Religionsindividuum par excellence: 51 […] und das Ganze welches sie auf diese Art zu bilden streben, wäre nicht ein solches wie wir suchen, wodurch die Religion in allen ihren Theilen eine bestimmte Gestalt gewinnt, sondern es wäre ein gewaltsamer Ausschnitt aus dem Unendlichen, nicht eine 48 

KGA I/12, 300,21–25 (kursiv, C. K.). I/12, 262,7–11. 50  KGA I/2, 300,30–37 (kursiv, C. K.). 51  Vgl. auch KGA I/2, 301,7 ff. (kursiv, C. K.): „Aber die Formen [der Religion, C. K.] welche das Universum hervorgebracht hat und welche wirklich vorhanden sind, sind auch nicht Ganze von dieser Art.“ 49  KGA

§  10  Das religionstheologische Individuationsprinzip

357

Religion, sondern eine Sekte, der irreligiöseste Begrif, den man im Gebiet der Religion kann realisieren wollen.52

Eine Sekte stellt nach Schleiermacher die irreligiöseste Erscheinung im Bereich der Religion dar, weil in ihr das gestaltende Prinzip nicht die Lebendigkeit des religiösen Bewusstseins selbst ist, sondern vielmehr die Gewalt eines irreligiösen Prinzips. Ganz gleich, ob die Formen dieses irreligiösen Sektengeistes entweder „spekulativer“ Art sind, indem versucht wird, die „einzelnen Anschauungen in einen philosophischen Zusammenhang zu bringen“, oder ob sie von „ascetischer“ Art sind, wobei „auf ein System und auf eine bestimmte Art von Gefühlen“ abgezielt wird,53 in jedem Fall steht das ihnen zugrundeliegende Prinzip seinem Wesen nach der Religionsauffassung im Schleiermacherschen Sinne konträr entgegen: Zum einen steht die gewaltsame Beschränkung und Abgrenzung eines bestimmten Quantums religiöser Ansichten im Widerspruch zur grundsätzlichen Toleranz des religiösen Bewusstseins im Allgemeinen, wie sie sich nach Schleier­ macher darin manifestiert, dass jede Religion wesensgemäß über die Selbst­ gewissheit verfügt, nur einen Teil und eine Darstellung der ganzen Religion zu bilden.54 Zum anderen widerstrebt dieses gewaltsame Prinzip der natürlichen genealogischen Entwicklungsbewegung jeder geschichtlichen Religion im Besonderen. Zu Beginn ihrer Entstehung sind die bestimmten Religionsindividuen Schleiermacher zufolge nicht auf Abgrenzung, sondern vielmehr auf einen Zuwachs an religiösen Anschauungen aus. Dies ist nur natürlich, da sie im Moment der Erweckung ihres Bewusstseins vom Unendlichen im Endlichen reflexartig darauf aus sind, alles Endliche aus dieser grundlegend veränderten Sicht auf die Wirklichkeit für sich neu zu entdecken und diese Entdeckungen mit anderen in Gemeinschaft zur gegenseitigen Ergänzung auszutauschen.55 Jede bestimmte Religion ist in ihrem Anfang expansiv. Für Schleiermacher gilt daher, dass die Religionen zu der Zeit ihrer Blüthe, wo ihre eigenthümliche Lebenskraft am jugendlichsten und frischsten wirkt und also am sichersten erkannt werden kann, sich in einer ganz entge52 

KGA I/2, 301,6 f. (kursiv, C. K.). KGA I/2, 301,9–12. 54  KGA I/2, 216,27–218,20. 55 Vgl. einschlägig KGA I/2, 267,36–268,3: „[…] was zu seinen Sinnen eingeht, was seine Gefühle aufregt, darüber will er Zeugen, daran will er Theilnehmer haben. Wie sollte er grade die Einwirkungen des Universums für sich behalten, die ihm als das größte und unwiderstehlichste erscheinen? Wie sollte er grade das in sich festhalten wollen, was ihn am stärksten aus sich heraustreibt, und ihm nichts so sehr einprägt als dieses, daß er sich selbst aus sich allein nicht erkennen kann? Sein erstes Bestreben ist es vielmehr, wenn eine religiöse Ansicht ihm klar geworden ist, oder ein frommes Gefühl seine Seele durchdringt, auf den Gegenstand auch Andere hinzuweisen und die Schwingungen seines Gemüths wo möglich auf sie fortzupflanzen.“ 53 

358

Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

gengesetzten Richtung bewegt, nicht sich concentrierend und Vieles aus sich ausschneidend, sondern wachsend nach außen, immer neue Zweige treibend, und immer mehr religiösen Stofs sich aneignend und ihrer besonderen Natur gemäß ausbildend.56

Das Sektenwesen verkehrt mit seinem Alleingeltungsanspruch das eigentliche Wesen der Religion in ihr Gegenteil, indem es, anstatt auf die lebendige Gemeinschaft der religiös Eigenständigen, nur auf die tote Gleichförmigkeit 57 aller religiös Beschränkten abzielt.58 Schleiermacher hält daher fest, dass im Sektenwesen das gesuchte principium individuationis nicht aufzufinden ist. Für die wahren Religionsindividuen gilt hierzu im Unterschied: „Nach jenem falschen Princip sind sie also nicht gestaltet, es ist nicht Eins mit ihrer Natur, es ist ein von außen eingeschlichenes Verderben und […] ihnen eben so wol zuwider als dem Geist der Religion überhaupt“.59 Zweitens: Das gesuchte principium individuationis der Religionen kann nach Schleiermachers Ausführungen in KGA I/2, 301,33–302,13 auch nicht in einer bestimmten Art liegen, das Universum anzuschauen.60 Zwar können die verschiedenen Religionen in drei Entwicklungsstufen das Universum anzuschauen eingeteilt werden: Entweder schauen sie es an als Chaos, oder als Vielheit ohne Einheit, oder als System: 61 Auf der untersten religiösen Stufe besitzt der Mensch nur eine verwirrte Idee von der Einheit des Universums, welche ihm daher als von reiner Willkür beherrscht erscheint. Auf der zweiten Stufe wird das Universum als eine Einheit heterogener Kräfte angeschaut, deren beständiger Streit und Kampf seine Erscheinung bestimmt. Auf der höchsten Stufe der religiösen Bildung vereinen sich die streitenden Kräfte wieder und das Universum wird als „Totalität, als Einheit in der Vielfalt, als System“62 angeschaut. Allerdings stellen auch diese religionstheologischen Entwicklungsstufen an sich selbst keine wahren Religionsindividuen dar. Bei ihnen handelt es sich lediglich um eine „gewöhnliche und überall wiederkommende Eintheilung des Begrifs der Anschauung“63 und keineswegs um geschichtlich eigenständige Existenzweisen der Religion selbst. In zweifacher Hinsicht expliziert Schleiermacher dieses formale Argument näher: 56 

KGA I/2, 301,21–27. spricht in Bezug auf die Religionssekten dementsprechend von den „todten Schlaken [die] einst glühende Ergießungen des inneren Feuers waren“. (KGA I/2, 298,21 f.) 58 KGA I/2, 301,9–13: „Alles Sektieren […] arbeitet auf eine möglichst vollendete Gleichförmigkeit Aller“. 59  KGA I/2, 301,27–32. 60 Vgl. Dilthey, Leben Schleiermachers, 421. 61  Vgl. auch KGA I/2, 244,18–245,13. 62  KGA I/2, 245,6 f. 63  KGA I/2, 302,3 f. (kursiv, C. K.). 57 Schleiermacher

§  10  Das religionstheologische Individuationsprinzip

359

Zum einen hält er fest, dass eine reine Begriffseinteilung, wie sie die Entwicklungsstufen formal darstellen, nicht auf den Begriff eines Individuums führt, sondern notwendigerweise nur bei weniger allgemeinen Begriffen seine Grenze findet.64 Ellsiepen, der in Bezug auf Schleiermachers Argument von einem Verfahren „dihairetisch-begrifflicher Einteilung“65 spricht, hält fest: „Dihairetisch eingeteilt werden kann nur auf dem Grund eines Gemeinsamen, von dem jeweils die differentia specifica abgehoben wird. Man kommt mit diesem Verfahren also zwar in immer feinere Distinktionen des Allgemeinen, aber niemals zur Bestimmtheit von Einzelnem“.66 Nach Schleiermacher gilt daher: „um aber den Charakter der Einzelwesen selbst zu finden muß man aus dem allgemeinen Begrif und seinen Merkmalen herausgehn.“67 Zum anderen stellen die drei Entwicklungsstufen nur allgemeine Gliederungsprinzipien dar, unter die wiederum mehrere verschiedene einzelne Religionen eingeordnet werden können, so z.B. das Judentum und das Christentum unter die systematischen Religionen. Weil die Gliederungsprinzipien für unterschiedliche Einzelreligionen notwendigerweise keine Einzelreligionen darstellen, können sie nicht das gesuchte principium individuationis der einzelnen Religionen sein.68 Drittens: Zuletzt scheidet nach Schleiermachers Ausführungen in KGA I/2, 302,13–303,22 ein weiterer Kandidat für das religiöse Individuationsprinzip aus. Die genannten religiösen Entwicklungsstufen lassen sich intern danach unterteilen, ob sich in ihnen die menschliche Fantasie das Universum als personal oder pantheistisch bestimmt vorstellt, d.h., ob sie dem Universum ein Bewusstsein beilegt oder nicht.69 Schleiermachers Gegenargument gegen diese Option als Individuationsprinzip läuft analog zu demjenigen der Religionsstufen. Die pantheistischen und die personalistischen Vorstellungen des Universums bilden nur die kriteriologischen Einteilungsgründe innerhalb der Religionsstufen. Das bedeutet, jede Religion kann danach eingeteilt werden, auf welche Weise sie das Universum anschaut und innerhalb dieser Einteilung kann die Feineinteilung vorgenommen werden, ob sie sich das derartig wahrgenommene Universum als pantheistisch oder personalistisch vorgestellt. Weil die Unterscheidung zwischen pantheistischen und personalistischen Religionen selbst wiederum mehrere unterschiedliche Religionen umfasst, z.B. 64  „Ihr werdet wißen, daß wenn man einen Begrif eintheilt so viel man will und bis ins Unendliche fort, so kommt man doch dadurch nie auf Individuen, sondern immer nur auf weniger allgemeine Begriffe, die unter jenen enthalten sind, auf Arten und Unterabtheilungen, die wieder eine Menge sehr verschiedener Individuen unter sich begreifen können“. (KGA I/2, 301,38–43) 65  Ellsiepen, Anschauung, 393. 66  A.a.O., 394. 67  KGA I/2, 301,43–302,2. 68  Vgl. auch Welker, Beurteilung, 120 f. 69  Vgl. KGA I/2, 302,13–303,22.

360

Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

sind sowohl das Judentum als auch das Christentum personalistisch,70 kann auch diese Unterscheidung nicht dasjenige Prinzip sein, nach dem die Einzel­ religionen sich jeweils voneinander unterscheiden.71 1.2.  Das wahre Individuationsprinzip der Religion Nachdem Schleiermacher die gängigen Alternativkonzepte ausgeschlossen hat, führt er selbst im Hinblick auf das Individuationsprinzip aus: 72 Daß ichs kurz sage: ein Individuum einer Religion, wie wir es suchen, kann nicht anders zu Stande gebracht werden [1], als dadurch, daß irgendeine einzelne Anschauung des Universums [2] aus freier Willkühr – denn anders kann es nicht geschehen weil eine jede gleiche Ansprüche darauf hätte [3] – zum Centralpunkt der ganzen Religion gemacht, und Alles darin auf sie bezogen wird [4] 73

Das Zitat nach seinen vier Hauptpunkten [1]–[4] interpretierend, lässt sich festhalten, dass es Schleiermacher hier allgemein um die Beschreibung des Individuationsprinzips in der Religion geht. Und zwar soll es sich gemäß seiner Vorgabe um ein derartiges Individuationsprinzip handeln, durch welches kein bloßes Aggregat, sondern ein wahres Religionsindividuum („wie wir es suchen“) entstehen bzw. „zu Stande gebracht werden“ kann. Es bleibt zunächst unklar, durch welche Instanz dieses Religionsindividuum erzeugt wird [1]. Nach dieser allgemeinen Themenangabe fährt Schleiermacher fort, dieses religiöse Individuationsprinzip in drei Hinsichten [2]–[4] näher zu charakterisieren: Zu [2]: Der Form nach handelt es sich um „irgendeine einzelne Anschauung des Universums“. In Bezug auf diese Form sind drei nähere Bestimmungen aufschlussreich: Erstens liegt Schleiermachers Ansicht, dass es sich bei dem Individuationsprinzip um eine religiöse Anschauung handelt, konsequent auf der Linie seiner bisherigen Argumentation. Da sich die Religionsvielfalt sachnotwendig aus dem religiösen Anschauungsbegriff ergibt, ist es folgerichtig, das Prinzip der Religionsindividuation in der religiösen Anschauung selbst zu suchen. Allerdings hat er bereits gezeigt, dass weder die Summe bestimmter religiöser Anschauungen noch ihre verschiedenen Entwicklungsstufen oder Arten für das principium individuationis in Frage kommen. Daher verdeutlicht er zweitens, dass es ausschließlich eine einzelne religiöse Anschauung ist, die zum Individuationsprinzip in einer Religion avanciert. So-

70 

KGA I/2, 315,10–14; 316,29–34. KGA I/2, 303,13–19: „Also weder der Naturalismus […] noch der Pantheismus, weder die Vielgötterei noch der Deismus, sind einzelne und bestimmte Religionen, wie wir sie suchen, sondern nur Arten, in deren Gebiet gar viele eigentliche Individuen sich schon entwikelt haben, und noch mehrere sich entwikeln werden.“ 72 Vgl. Wehrung, Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, 180 f. 73  KGA I/2, 303,23–28. 71  Vgl.

§  10  Das religionstheologische Individuationsprinzip

361

mit liegt das Individuationsprinzip nicht in einer Summe oder einem Begriff, sondern selbst in einem Individuum. Drittens präzisiert Schleiermacher diese letzte Aussage, indem er festhält, dass es sich bei dem Individuationsprinzip keineswegs um eine bedeutsame religiöse Anschauung handelt, sondern ganz schlicht um irgendeine religiöse Anschauung. Mit diesen drei Näherbestimmungen in [2] bleiben zwei Fragen offen, die Schleiermacher im Anschluss in den Aussagen [3] und [4] zum Teil beant­ wortet. Die eine Frage lautet: Wenn es irgendeine einzelne religiöse Anschauung ist, die zum Individuationsprinzip in einer Religion wird, welche Instanz entscheidet dann, um welche einzelne religiöse Anschauung genau es sich jeweils handelt? In der Aussage [3] hält Schleiermacher fest, dass sich, weil zwischen den religiösen Anschauungen an sich kein Wertunterschied besteht,74 diese Bevorzugung einer bestimmten religiösen Anschauung, nur einer freien Willkür entspringen kann. Das Defizit dieser Antwort besteht darin, dass nicht näher spezifiziert wird, welcher Instanz diese freie Willkür zukommt. Es kann einerseits das religiöse Subjekt selbst sein. Dann bezeichnet der Ausdruck „freie Willkür“ die subjektive Entscheidung eines Menschen für eine bestimmte religiöse Anschauung. Es kann andererseits im objektiven Sinne gemeint sein. Dann bezieht sich der Ausdruck „freie Willkür“ auf das Universum und besagt, dass in der ganzen Religion keine notwendigen oder zumindest keine erkennbaren Gründe vorliegen, eine religiöse Anschauung den anderen als Individuationsprinzip vorzuziehen. Im zweiten Fall geht es folglich nicht um die Willkür, die ein Mensch ausübt, sondern um die Willkür die einem Menschen begegnet. Aus dem vorliegenden Zitat geht nicht hervor, in welcher Hinsicht Schleiermacher „freie Willkür“ versteht. Die Antwort auf diese Frage wird im folgenden Abschnitt 1.3. Nähere Bestimmungen der religiösen Zentralanschauung gegeben. Die andere offene Frage lautet: Wenn eine einzelne religiöse Anschauung tatsächlich, unabhängig durch wen oder was, gegenüber anderen religiösen Anschauungen hervorgehoben wird, wie kann daraus ein religiöses Individuum entstehen? In [4] hält Schleiermacher fest, dass die ganze Religion dadurch individualisiert wird, indem aus der unendlichen Menge der religiösen Anschauungen eine bestimmte zur Zentralanschauung avanciert, aus deren Perspektive alle anderen religiösen Anschauungen betrachtet und geordnet werden. Hierdurch wird die, prinzipiell unendlicher Variationen fähige religiöse Ansicht auf das Universum in eine bestimmte Form gebracht und erhält im eigentlichen Sinne einen un-

74 

Vgl. KGA I/2, 215,7–14.

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Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

verwechselbaren und stetigen Charakter.75 Schleiermacher hält mit Blick auf die religiöse Zentralanschauung dementsprechend fest: Dadurch kommt auf einmal ein bestimmter Geist und ein gemeinschaftlicher Charakter in das Ganze; Alles wird fixirt, was vorher vieldeutig und unbestimmt war; von den unendlich vielen verschiedenen Ansichten und Beziehungen einzelner Elemente, welche Alle möglich waren, und Alle dargestellt werden sollten, wird durch jede solche Formation Eine durchaus realisiert.76

Die religiöse Zentralanschauung verhält sich bildlich gesprochen wie ein Magnet, an dem sich die anderen religiösen Anschauungen wie mehr oder weniger geladene Eisenspäne ausrichten. Oder aber sie tritt wie ein Gravitationszentrum auf, welches die zuvor gleichmäßig verteilten Elemente, nämlich die an sich gleichwertigen religiösen Anschauungen, durch ihre Anziehungskraft 77 in eine bestimmte Ordnung bringt. Auf diese Weise entsteht das bislang gesuchte wahre Religionsindividuum. Durch eine religiöse Zentralanschauung wird die ganze Religion auf eine spezifische Weise modifiziert zur Darstellung gebracht.78 Anders als bei einer Sekte bekommt die Religion durch eine Zentralanschauung einen wahrhaften Charakter, dessen Bestimmtheit keine gewaltsame Beschränkung darstellt, sondern vielmehr erst den Raum für die positive Anerkennung religiöser Differenzen erzeugt, und dessen Beständigkeit nicht auf einer abtötenden Petrifizierung beruht, sondern erst die konstante Lebendigkeit eines wechselseitig förderlichen Austauschs zwischen allen religiösen Menschen ermöglicht. Eine Präzisierung muss noch vorgenommen werden: Zwar sind die religiösen Zentralanschauungen das principium individuationis der Religionen, denn sie geben das Bestimmungskriterium der jeweiligen Einzelreligionen ab und stellen 75 Vgl. Hirsch, Geschichte IV, 532; Welker, Beurteilung, 100–110; Rohls, „Das Christentum“, 63. 76  KGA I/2, 303,28–33. 77  Siehe das einleitende Zitat dieses Abschnitts: „Wodurch werden nun diese Individuen bestimmt und wodurch unterscheiden sie sich voneinander? was ist das Gemeinschaftliche in ihren Bestandtheilen, was sie zusammenhält, oder das Anziehungsprincip dem sie folgen?“ (KGA I/2, 299,21–24) 78 Gegen A. Ritschl, Schleiermachers Reden, 6 f. (kursiv, C. K.): „[…] von der Einen allgemeinen Religion Schleiermacher’s, welche die Idee und die ganze Wirklichkeit derselben ist, sollen in jeder positiven Religion nur Stücke, und zwar in jeder verschiedene unvollständige Gruppen ihrer Theile enthalten sein, die richtige Verbindung derselben zum Ganzen, welche Schleiermacher versucht, würde also einer neuen Religionsstiftung vergleichbar sein. Dieser Auslegung steht allerdings die Bezeichnung des Ganzen der Religion als der Summe ihrer Arten gegenüber; aber zwischen beiden Ansichten bleibt eben ein ungelöster Widerspruch.“ Richtig hier Piper, Das religiöse Erlebnis, 17: „Die Religionen der fünften Rede sind nicht Teile der einen unvollendbaren Religion, sondern individuelle Gestaltungen des einen Prinzips, das allerdings in allen immer ganz sein muß.“ Vgl. auch Welker, Beurteilung, 102: „Das ‚Allgemeine‘ existiert nicht über dem Besonderen, sondern im Einzelnen, das so zur lebendigen Offenbarung des Göttlichen wird.“

§  10  Das religionstheologische Individuationsprinzip

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auch das Unterscheidungskriterium der Religionsindividuen dar. Diese jeweils einzelnen Religionen sind aber nicht mit ihrer Zentralanschauung identisch, sondern sie bilden die spezifische Ganzheit aus einer Zentralanschauung und den durch dieselbe geordneten religiösen Einzelanschauungen. Derartige individuelle Ganzheiten sind Schleiermacher zufolge die geschichtlich auftretenden positiven Religionen: Jede solche Gestalt der Religion, wo in Beziehung auf eine Zentralanschauung Alles gesehen und gefühlt wird, wo und wie sie sich auch bilde, und welches immer die vorgezogene Anschauung sei, ist eine eigene positive Religion.79

Die ganze Religion manifestiert sich folglich in der Totalität der positiven Religionen. Erst hiermit ist das Ableitungsargument der Vielfalt der Religions­ individuen aus dem Wesen der Religion vollständig ausgeführt und Schleiermacher kann schließen: Nur in der Totalität aller nach dieser Construction möglichen Formen [d.h. der positiven Religionen, C. K.] kann die ganze Religion wirklich gegeben werden, und sie wird also nur in einer unendlichen Succeßion kommender und wieder vergehender Gestalten dargestellt, und nur was in einer von diesen Formen [d.h. positiven Religionen, C. K.] liegt trägt zu ihrer vollendeten Darstellung etwas bei.80

Im Anschluss an diese Ableitung der Religionsvielfalt aus dem Wesen der Religion und der Bestimmung des Individuationsprinzips der positiven Religionen soll im Folgenden zunächst eine kritische Näherbestimmung des Schleiermacherschen Konzepts der religiösen Zentralanschauung vorgenommen werden (1.3.). Daran anschließend wird die zweite Hauptthematik von Schleiermachers ­religionstheologischem Individuationskonzept herausgearbeitet: das principium individuationis der religiösen Persönlichkeit. Bislang hat Schleiermacher mit der Zentralanschauung nur das Individuationsprinzip von Religionsgemeinschaften angegeben. Aber wodurch unterscheiden sich die religiösen Personen innerhalb einer derartigen Religionsgemeinschaft voneinander? Gibt es zwischen ihnen überhaupt sachhaltige spezifische Unterschiede oder stellen individuelle Ausprägungen innerhalb einer Religionsgemeinschaft etwas dar, dass es im Sinne der religiösen Harmonie zu überwinden gilt? Diesen Fragen wird im Rahmen von Schleiermachers kritischer Auseinandersetzung mit dem deistischen Konzept einer natürlichen Religion in §  10.2. Die individuelle religiöse Persönlichkeit nachgegangen.

79 

80 

KGA I/2, 304,1–4. KGA I/2, 303,36–304,1.

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Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

1.3.  Nähere Bestimmungen der religiösen Zentralanschauung Schleiermachers bisherige Darstellung der religiösen Zentralanschauung wird im Folgenden durch die Herausarbeitung von zwei zentralen Merkmalen ergänzt und präzisiert. These 1: Dass die religiöse Zentralanschauung ihrem Wesen nach durch „freie Willkür“ entsteht, bedeutet nicht, dass sie das Ergebnis einer nachträglichen produktiven Konstruktion des menschlichen Subjekts darstellt. Man könnte durch Schleiermachers Beschreibung der religiösen Zentral­ anschauung als des Ergebnisses einer „freien Willkür“81 zu der Ansicht neigen, dass sie eine, gegenüber den einfachen religiösen Anschauungen, nachträgliche produktive Konstruktion des religiösen Subjekts bildet. Dass sie somit, wie ­R icken festhält, auf Seiten des religiösen Subjekts „einen Akt der Wahl“82 d­ ­ arstellt. Diese Ansicht vertreten neben Ricken prominent z.B. Dilthey,83 Wehrung,84 Schröder,85 Flückinger und Ellsiepen. Flückinger ist der Ansicht, dass mit dem Ausdruck der „freien Willkür“ ein „psychologischer Vorgang“ gemeint ist, der beschreibt, wie ein Mensch „von seinem frei gewählten Standort aus zu dieser [Zentral-]Anschauung kommt.“ Ausgehend von bereits bestehenden religiösen Anschauungen wird nach Flückinger von einem religiösen Subjekt „höchst zufällig“ eine religiöse Zen­ tralanschauung ausgewählt und festgesetzt.86 Ellsiepen hingegen rückt die religiöse Zentralanschauung in die Nähe der menschlichen Fantasie, von der er allgemein festhält: „Die Fantasie konstituiert nicht die Inhalte im Sinne eines Fingierens, sondern bezieht gegebene Anschauungen aufeinander.“87 Die Zentralanschauung einer Religion wäre demzu­folge eine aus bestehenden religiösen Anschauungen nachträglich durch die Fantasie des religiösen Subjekts konstruierte Anschauung. Diese konstruktivistischen Ansichten übersehen, dass Schleiermachers religionstheologischem Konzept zufolge erstens die religiöse Zentralanschauung notwendigerweise allen einzelnen religiösen Anschauungen vorausgeht. Ihnen entgeht zweitens, dass Schleiermacher mit der „freien Willkür“ nicht eine produktive Konstruktionsleistung des religiösen Subjekts bezeichnet, sondern sich auf eine objektive Willkür bezieht. Diese beiden Punkte werden im Folgenden näher ausgeführt: 88

81 

KGA I/2, 303,25. Ricken, Religionsphilosophie, 187. 83  Dilthey, Leben Schleiermachers, 421. 84  Wehrung, Schleiermacher zur Zeit seines Werdens, 181,18–22. 85  Schröder, „Das ‚unendliche Chaos‘“, 601. 86  Flückinger, Philosophie und Theologie, 47 f. 87  Ellsiepen, Anschauung, 396. 88  Siehe auch Seifert, Theologie, 157. 82 

§  10  Das religionstheologische Individuationsprinzip

365

Erstens: Die religiöse Zentralanschauung entsteht nach Schleiermacher nicht durch gedankliche Operationen nachträglich zu den religiösen Einzelanschauungen, sondern sie bildet sich vielmehr vor den religiösen Einzelanschauungen, weil sie diese erst zur positiven Religion ordnet: Betrachtet doch den erhabenen Augenblik in welchem der Menschen überhaupt zuerst in das Gebiet der Religion eintritt. Die erste bestimmte religiöse Ansicht, die in sein Gemüth mit einer solchen Kraft eindringt, daß durch einen einzigen Reiz sein Organ fürs Universum zum Leben gebracht und von nun auf immer in Thätigkeit gesezt wird, bestimmt freilich seine Religion; sie ist und bleibt seine Fundamental-Anschauung in Beziehung auf welche er Alles ansehen wird, und es ist im Voraus bestimmt, in welcher Gestalt ihm jedes Element der Religion sobald er es wahrnimmt, erscheinen muß.89

Nach Schleiermacher geht die Entstehung eines wahrhaft religiösen Bewusstseins mit der Bildung einer religiösen Zentralanschauung einher. Überhaupt in das Gebiet der Religion einzutreten, bedeutet, eine religiöse Zentralanschauung zu besitzen. Religiöse Einzelanschauungen im eminenten Sinne entstehen somit erst in Bezug auf eine religiöse Zentralanschauung. Folglich kann eine Zentralanschauung nicht erst nachträglich aus den religiösen Einzelanschauungen entstehen. Weil es ohne eine zugrundeliegende religiöse Zentralanschauung laut Schleiermacher keine religiösen Anschauungen im eminenten Sinne gibt, sondern allenfalls „unstäte […] gleichsam leichtfertige […] Flammen: […] Anfälle von Reli­g ion“90 ohne Substanz, kann eine nachträgliche Konstruktion der religiösen Zentralanschauung ausgeschlossen werden. Diese Argumentation liegt auch Schleiermachers folgendem Zitat zugrunde: Dunkle Ahndungen, welche ohne das Innere des Gemüths zu durchdringen unerkannt wieder verschwinden, und wol jeden Menschen oft und früher umschweben, mögen vom Hörensagen entstehn, und bleiben ohne Beziehung, sind auch nichts individuelles; aber wenn einem der Sinn fürs Universum in einem klaren Bewußtsein und in einer bestimmten Form für immer aufgeht, so bezieht er auf diese hernach Alles, um sie her gestaltet sich Alles, durch diesen Moment wird seine Religion bestimmt.91

Es besteht noch ein weiteres Problem: Wenn die Erzeugung der religiösen Zentralanschauung tatsächlich das nachträglich produktive Werk des religiösen Menschen darstellen soll, dann muss dieser, wie Ricken festhält, dabei einen Akt der Wahl vollziehen. Er muss unter der Vielzahl seiner religiösen Anschauungen eine bestimmte auswählen, die er zur Zentralanschauung erhebt. Das fundamentale Problem bei dieser Interpretation besteht darin, dass dem religiö­ sen Menschen keine Kriterien der Vorzugswürdigkeit zur Verfügung stehen, welche ihm eine Wahl aus Gründen ermöglichte, denn alle religiösen Anschauun89 

KGA I/2, 305,26–34. KGA I/2, 258,16 f. 91  KGA I/2, 304,35–42. 90 

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gen sind nach Schleiermacher an sich gleichwertig. Damit kann diese Handlung eines religiösen Menschen nicht im eigentlichen Sinne als freie Willkür bzw. als freie Wahlentscheidung bezeichnet werden, denn als „frei“ kann nur eine Tat gelten, die sich vom Zufall unterscheidet und nach Gründen erfolgt. Diese Ansicht bringt Schleiermacher explizit in seiner frühen Freiheitsschrift vor. In ihr kulminiert sogar sein Hauptkritikpunkt gegen die Idee einer transzendentalen Freiheit Kantischer Provenienz.92 Diesem Argument zufolge scheitert die konstruktivistische Interpretation folglich daran, dass sie nicht erklären kann, was es zu erklären gilt. Denn anstatt der Bildung einer religiösen Zentralanschauung aus freier Willkür, vermag sie bloß eine Bildung aus reinem Zufall zu beschreiben. Zweitens: Aus dem Gezeigten folgt, dass Schleiermachers Ausdruck „freie Willkür“ nicht subjektiv auf den religiösen Menschen selbst bezogen werden kann, sondern vielmehr objektiv in Bezug auf die ganze Religion verstanden werden muss. Einerseits geht dies aus Schleiermachers näheren Beschreibungen der religiösen Zentralanschauung hervor, in denen es z.B. heißt, sie seien „Formen, welche das Universum hervorgebracht hat und welche wirklich existieren“93. Diese beiden Punkte sind für Schleiermachers Konzeption der religiösen Zentralanschauung entscheidend. Mit ihnen stellt er den wesentlichen Unterschied zwischen den durch religiöse Zentralanschauungen charakterisierten positiven Religionen und den von ihm verachteten Religionssekten heraus: Es handelt sich bei den positiven Religionen um wahre Individuen, weil sich ihre Bestimmtheit nicht der produktiven Konstruktionsleistung eines menschlichen Subjekts verdankt. Derartige menschliche Eigenleistungen enden Schleier­ macher zufolge, aufgrund der Endlichkeit des menschlichen Geistes,94 notwendig bei einem bloß „gewaltsamen Ausschnitt aus dem Unendlichen“95. Ausschließlich eine durch das Universum selbst hervorgebrachte religiöse Zentralanschauung vermag daher die vom Menschen nicht erfassbare ganze Religion in eine wahrhafte Individualform zu bringen.96 Zugleich stellt Schleiermacher in dem Zitat heraus, dass ausschließlich diese Herkunft der religiösen Zentralanschauung aus dem Universum ihre wirkliche Existenz garantiert. Hiermit bringt er zum Ausdruck, dass die Religionssekten, weil sie ausschließlich auf subjektiven Konstruktionen basieren, nur eine Scheinexistenz besitzen und keine beständigen und dauerhaften religiösen Gebilde darstellen. Die Entstehung einer religiösen Zentralanschauung durch das Uni92  Vgl. ausführlich in: KGA I/1, 299–356. Vgl. hierzu einschlägig Meckenstock, Deter­ ministische Ethik, 102–128. 93  KGA I/2, 301,7 f. 94  KGA I/2, 212,31–213,1. 95  KGA I/2, 301,5. 96 Vgl. Seifert, Theologie, 157.

§  10  Das religionstheologische Individuationsprinzip

367

versum, anstatt durch eine menschliche Konstruktionsleistung, ermöglicht somit nicht allein die wahrhafte Individualität einer positiven Religion, sondern sie garantiert auch deren zeitgeschichtliche Beständigkeit. Weil nach Schleiermacher somit die wahre Individualität einer positiven Religion und ihre zeitgeschichtliche Beständigkeit nur aufgrund der Entstehung ihrer religiösen Zentralanschauung durch das Universum selbst ermöglicht und garantiert werden können, kann es sich bei dem diese Entstehung beschreibenden Ausdruck der „freien Willkür“ nicht um eine konstruktive Tat des menschlichen Subjekts handeln.97 Vielmehr ist dieser Ausdruck im objektiven Sinne zu verstehen und bezeichnet diejenige freie Willkür, die sich dem religiösen Subjekt bei der Entstehung seiner Zentralanschauung von Seiten des Universums darbietet. Der Ausdruck „freie Willkür“ kennzeichnet somit die Erfahrung der menschlichen Passivität bei der Bildung einer religiösen Zentralanschauung: Willkürlich ist die Entstehung einer religiösen Zentralanschauung, weil dem religiösen Subjekt selbst keine notwendigen oder erkennbaren Gründe vorliegen, weshalb sich bei ihm diese und nicht vielmehr eine andere Zentralanschauung einstellt. Mit ihrer Willkürlichkeit verweist Schleiermacher somit auf die Unableitbarkeit einer religiösen Anschauung aus früheren Zuständen des Subjekts. Aus diesem Grunde vergleicht er die Entstehung einer religiösen Zentralanschauung bei einem Menschen mit dessen Geborenwerden.98 Als Erfahrung einer im eminenten Sinne freien Willkür kann man die Ent­ stehung einer religiösen Zentralanschauung deswegen ansehen, weil sie, trotz ihrer Unableitbarkeit aus früheren Zuständen, über eine persönlichkeits- und gemeinschaftsbildende Kraft verfügt.99 An der existenzialen Bedeutsamkeit der religiösen Zentralanschauung wird erfahrbar, dass sich ihre Entstehung nicht einem blinden Zufall verdankt, wonach sie jederzeit ebenso durch Zufall wieder untergehen könnte, sondern auf höherer Notwendigkeit beruht.100 Andererseits wird die objektive Bedeutung des Ausdrucks „freie Willkür“ daran deutlich, dass Schleiermacher die positiven Religionen aufgrund ihrer religiösen Zentralanschauung als Häresien101 bezeichnet. Ricken verweist in diesem Zusammenhang, gemäß seiner Interpretation der „freien Willkür“ als Akt des Subjekts, auf die Bedeutung des griechischen hairesis als „Wahl“ hin.102 Diese Bedeutung von „Häresie“ bzw. hairesis entspricht aber nicht Schleiermachers eigenem Verständnis. Er verwendet den Ausdruck „Häresie“ vielmehr gemäß der anderen Bedeutung von hairesis als „Überzeugung“103, „Grundsatz“ 97 Vgl.

Piper, Das religiöse Erlebnis, 74 f. KGA I/2, 306,34–307,10. 99  KGA I/2, 308,28–32. 100  Vgl. KGA I/2, 311,24–40. 101  KGA I/2, 304,4. 102  Ricken, Religionsphilosophie, 187. 103  Vgl. dazu Schleiermachers Hinweis auf die „Überzeugung“ Jesu, welche die Grundlage der christlichen Häresie, d.h. der positiven christlichen Religion bildet in: KGA I/2, 322,20. 98 

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Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

oder „Anschauung“.104 In Bezug auf sein Verständnis von „Häresie“ hält er dementsprechend in späteren Auflagen der Reden fest: Hier nun gebrauche ich es [das Wort ‚Häresie‘, C. K.] von den positiven Religionen in demselben Sinne, wie es von den hellenischen Schulen gebraucht wird, in denen zusammengenommen die ganze Nationalphilosophie enthalten war. Denn es müßte ja ein schlechtes philosophisches System sein, welches nicht ein wahrhaftes philosophisches Element erfaßt hätte, und nicht auch wirklich auf dieses alle andern irgendwie zu beziehen sucht. Da es nun mit den positiven Religionen dieselbe Bewandtniß hat, so darf man auch schließen, daß wenn sie alle werden entwikkelt sein, dann auch in ihnen zusammengenommen die ganze Religion des menschlichen Geschlechts enthalten sein werde.105

Mit dem Ausdruck „Häresie“ bezeichnet Schleiermacher das objektive Verhältnis der einzelnen positiven Religionen zur ganzen Religion. Eine Häresie bedeutet nicht, dass ein Mensch eine subjektive Wahl bezüglich seiner religiösen Zentralanschauung trifft, dies wäre nach Schleiermacher eher durch den Ausdruck „kezerisch“106 zu bezeichnen, sondern vielmehr, dass eine positive Religion im objektiven Sinne ein wahres Religionsindividuum darstellt. Insgesamt kann festgehalten werden: Nach Schleiermacher stellt die Entstehung der religiösen Zentralanschauung den Ursprung des religiösen Bewusstseinslebens dar und geht deswegen notwendigerweise der Bildung der religiösen Einzelanschauungen voraus. Der diesen Entstehungsvorgang beschreibende Ausdruck der „freien Willkühr“ bezieht sich nicht auf eine aktive Konstruk­ tionsleistung des menschlichen Subjekts, sondern bezeichnet vielmehr ein Handeln des Universums an demselben.107 These 2:  Die Wirklichkeit einer religiösen Zentralanschauung ist nur garantiert durch die mit ihr verbundene historische Urtatsache. Weil jede religiöse Zentralanschauung einen historischen Anfangspunkt besitzt, ist sie notwendigerweise mit einer historischen Schule verbunden. Nach Schleiermacher muss zwischen der religiösen Zentralanschauung selbst und dem Umstand und Zeitpunkt ihrer geschichtlichen Entstehung unterschieden werden. Diese Unterscheidung hat in der Forschungsliteratur teilweise dazu geführt, Schleiermacher eine strikte Trennung beider Sachverhalte zu unterstellen bzw. ihm vorzuwerfen, die geschichtliche Dimension der Entstehung einer religiösen Zentralanschauung gegenüber ihrem ideellen Gehalt herabzusetzen. Exemplarisch können hier Ritschl und Bleek angeführt werden. Ihnen 104  Siehe dazu: Gemoll, Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch, München 9.  Aufl. 1965, 19. 105  KGA I/12, 302,31–303,3. 106  KGA I/2, 302,30. 107  Nach Schleiermacher gilt daher, dass die freie Willkür in der Bildung der religiösen Zentralanschauung, „wenn man auf die Idee der Religion sieht […] als reine Willkühr erscheinen kann, sieht man jedoch auf die Eigenthümlichkeit der Bekenner vielmehr die reinste Nothwendigkeit in sich trägt“. (KGA I/12, 265,12–14 (kursiv, C. K.)).

§  10  Das religionstheologische Individuationsprinzip

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zufolge führt diese Unterschlagung in den Reden zu einer indirekten Aufwertung der natürlichen Religion.108 Auch in der neueren Forschungsliteratur wird, meist unter Bezug auf Schleiermachers christologische Konzeption der Reden, davon gesprochen, dass diese „weitgehend von der historischen Dimension“ „[a]bstrahiert“ und dadurch „droht das Christentum zu einer zeitlosen Idee“ zu machen.109 Schleiermachers Unterscheidung ist keineswegs als eine Trennung von Gedanke und Geschichte anzusehen. Jede positive Religion existiert ihm zufolge in dem lebendigen Zusammenspiel ihrer äußeren Einheit bzw. ihrer „Schule“110 in Bezug auf ihren historischen Ursprung und ihrer inneren Einheit in Bezug auf eine bestimmte religiöse Zentralanschauung. Dass äußere und innere Einheit notwendig zusammengehören, ergibt sich aus der Art und Weise der Entstehung einer positiven Religion selbst.111 Jede Bildung eines religiösen Bewusstseins basiert auf der Entstehung einer religiösen Zentralanschauung, welche das Ergebnis einer freien Willkür des Universums darstellt. Gemäß den Aspekten dieser erfahrenen freien Willkür, ihrer Unableitbarkeit und existenzialen Bedeutsamkeit wird notwendigerweise nicht allein der Inhalt, sondern auch der Zeitpunkt ihres Auftretens von den religiösen Menschen als zentrales Lebensereignis angesehen: Religiöse Menschen sind durchaus historisch: das ist nicht ihr kleinstes Lob […]. Der Moment in welchem sie selbst von der Anschauung erfüllt worden sind, welche sich zum Mittelpunkt ihrer Religion gemacht hat, ist ihnen immer heilig; er erscheint ihnen als eine unmittelbare Einwirkung der Gottheit, und sie reden nie von dem was ihnen eigenthümlich ist in der Religion, und von der Gestalt die sie in ihnen gewonnen hat, ohne auf ihn hinzuweisen.112

Weil bei einem menschlichen Individuum die Bildung des religiösen Bewusstseins einer geistigen Neugeburt gleichkommt,113 erweisen sich sowohl der Sachaspekt als auch der Temporalaspekt dieses Ereignisses für das religiöse Subjekt als bedeutsam. 108 

A. Ritschl, Schleiermachers Reden, 6; Bleek, Christologie, 124. Schröder, „Das ‚unendliche Chaos‘“, 607. 110  KGA I/2, 313,5. 111 Gegen Haym, Die Romantische Schule, 439: Haym zufolge unterscheidet sich Schleiermacher von den Romantikern darin zu seinem eigenen Nachteil, dass es ihm nicht um die ernsthafte Analyse der Geschichte geht, sondern bloß „um die Abstraktion eines ‚rein‘ Individuellen“. Demzufolge verfällt Schleiermacher „in Folge seiner logisch-mathematischen Geistesform auf den in sich widersprechenden Versuch, das Nichtbegriffliche doch begrifflich fassen und umgrenzen zu wollen. Auf der einen Seite das rein Religiöse, auf der andern das rein Individuelle: der so bezeichnete Ort des Positiven muß nothwendig in der Luft schweben; die so, unter Beisetzung des Historischen, unternommenen Beschreibungen der verschiedenen positiven Religionen müssen nothwendig unklar und willkürlich bleiben.“ 112  KGA I/2, 313,6–13. 113  Vgl. KGA I/2, 306,34–307,10. 109 

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Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

Diese Entstehung einer religiösen Zentralanschauung bei einem einzelnen Menschen ist nach Schleiermacher im Normalfall mit der Eingliederung in eine positive Religion verbunden. Die bestimmte religiöse Zentralanschauung, welche einem Individuum aufgeht, bildet im Normalfall bereits den Mittelpunkt einer geschichtlich stetigen Religionsgemeinschaft. Aus diesem Grunde überträgt sich auch die Hochschätzung des Temporalaspekts einer religiösen Zentralanschauung von ihrem Individualursprung im religiösen Subjekt auf ihren Geschichtsursprung in der religiösen Menschheitsentwicklung überhaupt: Ihr könnt also denken, wie viel heiliger noch ihnen der Moment sein muß, in welchem diese unendliche Anschauung überhaupt zuerst in der Welt als Fundament und Mittelpunkt einer eignen Religion aufgestellt worden ist, da an diesen die ganze Entwikelung dieser Religion in allen Generationen und Individuen sich ebenso historisch anknüpft, und doch dieses Ganze der Religion und die religiöse Bildung einer großen Maße der Menschheit etwas unendlich größeres ist, als ihr eignes religiöses Leben und das kleine Fragment dieser Religion, welches sie persönlich darstellen.114

Die Einheit einer positiven Religionsgemeinschaft stellt das Zusammenspiel zwischen einer lebendigen Erinnerungsgemeinschaft in Bezug auf ihre erste historische Gestalt und einer gegenseitigen Ergänzungsgemeinschaft in Bezug auf ihren sachlichen Gehalt dar. Jeder dieser beiden Gemeinschaftsformen kommt laut Schleiermacher innerhalb einer positiven Religion eine spezifische Funktion zu. Wird dieses funk­ tionale Zusammenwirken der beiden relativ aufeinander bezogenen Gemeinschaftsformen innerhalb einer positiven Religion irrtümlicherweise einseitig in Richtung auf entweder nur ihre äußere oder nur ihre innere Einheit hin aufgelöst, dann besteht die Gefahr,115 dass eine positive Religion zur äußerlich gehaltlosen Religionssekte116 oder zur innerlich gestaltlosen natürlichen Religion117 depraviert. Die spezifische Funktion der äußeren Einheit einer positiven Religion besteht darin, ein Bewusstsein sowohl für das ursprüngliche Zustandekommen als auch für die ursprüngliche Gestalt ihrer religiösen Zentralanschauung wachzuhalten. Dadurch wird zum einen verhindert, dass die Mitglieder einer positiven Religion sich diese als das Ergebnis einer subjektiven gedanklichen Konstruktion vorstellen und ihren Gehalt, statt auf göttlicher Wirksamkeit gegründet, als das Produkt einer nur menschlichen Vernunftidee ansehen.118 Die Erinnerung des 114 

KGA I/2, 313,14–21. also die beständige Erwähnung deßelben [des historischen Urfaktums, C. K.] alle Äußerungen der Religion begleitet, und ihnen eine eigene Farbe giebt; so ist nichts natürlicher als dieses Faktum mit der Grundanschauung der Religion selbst zu verwechslen; dies hat nur nicht Alle verführt, und die Ansicht fast aller Religionen verschoben.“ (KGA I/2, 313,25–29) 116  KGA I/2, 300,40–301,32. 117  KGA I/2, 308,33–311,23. 118  Vgl. KGA I/2, 309,35–310,18. 115  „Wenn

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historischen Ursprungsdatums gemahnt eine positive Religion daran, dass sie die lebendige Kraft und Stabilität ihrer Gemeinschaft nicht eigener Fähigkeit und Tat, sondern göttlicher Kausalität verdankt. Zum anderen stellt die äußere Einheit einer positiven Religion ein kritisches Selbstkorrektiv gegenüber möglichen vereinseitigenden Auffassungen ihrer ursprünglichen religiösen Zentralanschauung im Lauf ihres geschichtlichen Entwicklungsprozesses dar. Nach Schleiermacher besteht der geschichtliche Entwicklungsprozess einer positiven Religion darin, dass die ursprüngliche Klarheit der religiösen Zentralanschauung eines Religionsstifters durch den wechselseitigen Austausch innerhalb einer Religionsgemeinschaft und die bestimmte Abgrenzung von anderen Religionsgemeinschaften an vermittelter Deutlichkeit gewinnt. Damit es im Zuge dieses Verdeutlichungsprozesses nicht zu einer subjektiv-beliebigen Abweichung von dem objektiv-vorgegebenen Gehalt der religiösen Zentralanschauung kommt, braucht es die unverstellte Klarheit in der historischen Ursprungsgestalt als kritischen Maßstab der Entwicklung. Die äußere Einheit einer positiven Religion fungiert insgesamt als Stabilisator und Korrektiv ihrer inneren Einheit. Je lebendiger bei einer positiven Religion der Bezug auf ihren historischen Ursprung ist, desto sicherer ist ihre innere Einheit gewährleistet. Die spezifische Funktion der inneren Einheit einer positiven Religion besteht nach Schleiermacher darin, ein Bewusstsein sowohl für den wesentlichen Gehalt als auch für die wesentlichen Entwicklungsmöglichkeiten der religiösen Zentralanschauung zu besitzen. Dadurch wird ermöglicht, zwischen wesentlich-gehaltvollen und bloß zufällig-episodischen Momenten in der ursprüng­ lichen Darstellung der religiösen Zentralanschauung durch einen Religionsstifter zu unterscheiden: Ich bitte Euch, nicht Alles, was Ihr bei Heroen der Religion oder in heiligen Urkunden findet für Religion zu halten, und den unterscheidenden Geist darin zu suchen. […] bedenkt, wie jene Männer in allerlei Verhältnißen gelebt haben in der Welt, und unmöglich bei jedem Wort, was sie sprachen, sagen konnten: das ist nicht Religion, und wenn sie also Weltklugheit und Moral reden, oder Metaphysik und Poesie, so meint nicht das müße auch in die Religion hineingezwängt werden, und darin müße auch ihr Charakter zu suchen sein.119

Zugleich wird durch diese Unterscheidung verhindert, dass eine positive Religion auf die Anschauungen bzw. das Anschauungsgebiet ihrer Ursprungsgestalt beschränkt bleibt. Das Bewusstsein vom Wesentlichen einer religiösen Zentralanschauung ermöglicht das adäquat-stetige Wachstum einer Religions­ gemeinschaft, ohne dem Wahn einer Religionssekte zu verfallen, dass durch die Erweiterung der religiösen Anschauungsgebiete der spezifische Gehalt der positiven Religion selbst gefährdet sei. 119 

KGA I/2, 313,34–314,3.

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Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

Die innere Einheit einer positiven Religion fungiert insgesamt als religiöser Entwicklungsmotor ihrer äußeren Einheit. Je präziser ihre innere Einheit, desto lebendiger kann sich in einer positiven Religion der Bezug auf den historischen Ursprung gestalten. Nach Schleiermacher stellen somit die äußere und die innere Einheit in der Form ihres gegenseitigen Dienens die in sich differenzierte Einheit einer positiven Religion selbst dar. 2.  Die individuelle religiöse Persönlichkeit Nachdem Schleiermacher mit der religiösen Zentralanschauung dasjenige Strukturmoment einer positiven Religion aufgezeigt hat, das diese zu einem wahren religiösen Individuum erhebt, geht er in KGA I/2, 304,16-311,23 der Frage nach, inwiefern die einzelnen Menschen innerhalb einer positiven Religion selbst über eine individuelle religiöse Bildung verfügen bzw. verfügen können. Er ergänzt damit seine Darstellung des religiösen Individuationsprinzips um eine weitere Ebene, indem er nach dem Individuationsprinzip der religiösen Einzelperson fragt. Seine Darstellung der Möglichkeit individueller religiöser Persönlichkeitsbildung ist eingebettet in eine kritische Auseinandersetzung mit der Annahme der gebildeten Religionsverächter, dass keineswegs in den positiven Religionen, sondern allenfalls in der sog. natürlichen Religion eine individuelle und freiheitliche Persönlichkeitsbildung der religiösen Menschen möglich ist. Dieser Struktur des Ineinandergreifens zweier zusammengehörender Argumentationslinien wird im Folgenden dadurch Rechnung getragen, dass zunächst das grundlegende Setting von Schleiermachers kritischer Auseinandersetzung mit der Ansicht der gebildeten Religionsverächter beschrieben wird (2.1.). Daran anschließend wird Schleiermachers differenzierte Argumentation bezüglich der individuellen religiösen Persönlichkeit dargestellt und kritisch interpretiert (2.2.). Zum Abschluss wird Schleiermachers Kritik an der natürlichen Religion präsentiert (2.3.). 2.1.  Das Setting Nach Schleiermacher bilden nicht allein die Religionssekten gefährliche Perversionsgestalten der wahren Religion, sondern auch die sog. natürliche Religion ist ihm zufolge eine Form religiöser Gehaltlosigkeit. Religionssekten und natürliche Religion stellen die beiden Extrempole aller möglichen religiösen Entartungsformen dar. Schleiermacher warnt vor diesen beiden Extrempositionen im Hinblick auf seine Darstellung der positiven Religionen nochmals eindringlich: Mehr als Alles bitte ich Euch, laßt Euch nicht verführen von den beiden feindseligen Principien, die überall, und fast von den ersten Zeiten an, den Geist jeder Religion haben zu entstellen und zu versteken gesucht. Überall hat es sehr bald Solche gegeben, die

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ihn in einzelnen Lehrsätzen haben umgränzen, und das, was noch nicht ihm gemäß zur Religion gebildet war, von ihr ausschließen wollen, und Solche, die, es sei nun aus Haß gegen die Polemik, oder um die Religion den Irreligiösen angenehmer zu machen, oder aus Unverstand und Unkenntniß der Sache und aus Mangel an Sinn, alles Eigenthümliche als todten Buchstaben verschreien, um aufs Unbestimmte loszugehn. Vor Beiden hütet Euch: bei steifen Systematikern, bei seichten Indifferentisten werdet Ihr den Geist der Religion nicht finden.120

Bei der ersten Gruppe handelt es sich um den von Schleiermacher scharf kritisierten Sektengeist, den er hier in Form der „steifen Systematiker“ angreift. Bei der zweiten Gruppe religiöser Abirrungen, den sog. „seichten Indifferentisten“, handelt es sich um die Vertreter oder Anhänger der sog. natürlichen Religion, die auch als „Vernunftreligion“121 bezeichnet wird, wodurch das spezifische Wesen, die bestimmte Art und das eigentümliche Ziel der seichten Indifferentisten charakterisiert werden. Geistesgeschichtlich stehen Schleiermacher hier die Konzepte der Auf klärungszeit, insbesondere die deistischen Religionskonzepte vor Augen. Deren Hauptkennzeichen werden von Schleiermacher überspitzt aufgezeigt,122 um sie zum Gegenstand einer vernichtenden Kritik zu machen. Indem Schleiermacher diese Konzepte als Vernunftreligionen bezeichnet, trifft er jedoch exakt das charakteristische Merkmal der deistischen Position, deren Wesen nach Byrne123 in einer rationalen Skepsis gegenüber der religiösen Offenbarung besteht, deren Art sich durch die Inanspruchnahme der Vernunft als einziger Autorität in Sachen religiöser Wahrheiten zeigt und deren Ziel darin besteht, die natür­liche Religion als einzig wahre Religion zu etablieren.124 Allerdings bezieht sich Schleiermacher in seiner Kritik thematisch weniger auf die erkenntnistheoretischen Annahmen der Deisten, z.B. die von Locke125 begründete und von Toland126 radikalisierte Position, dass zur Bestätigung jeder 120 

KGA I/2, 314,7–17. KGA I/2, 309,12. 122  Für eine wertschätzende Darstellung der Religionskonzeptionen der Auf klärungszeit inklusive des Deismus’ siehe Cassirer, E., Die Philosophie der Aufklärung, ND Hamburg 3.  Aufl. 1998, 178–262. 123  Byrne, P., Natural Religion and the Nature of Religion, London/New York 1989. 124  Zum Deismus in Europa vgl. auch Rohls, J., Offenbarung, Vernunft und Religion. Ideengeschichte des Christentums, Bd. I, Tübingen 2012, 349–488. 125  Locke, J., An Essay concerning human understanding, hrsg. v. P. Nidditch, Oxford 1975; Ders., The reasonableness of christianity as delivered in the scriptures, hrsg. v. J. Higgins-Biddle, Oxford 1999. Allgemein zu Lockes Religionsverständnis vgl. Leidhold, W., „Vernunft, Erfahrung, Religion, Anmerkungen zu John Lockes’ Reasonableness of Christianity“, in: L. Kreimendahl (Hg.), Aufklärung, Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte, Band 18, Hamburg 2006, 159– 178. Zur Offenbarungstheorie bei Locke siehe Williams, S., Revelation and reconciliation, a window on modernity, Cambridge/ New York 1995, insbesondere: 24–55. 126  Toland, J., Christianity not Mysterious (London 1696), hrsg. v. G. Gawlick, ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1964. 121 

374

Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

Offenbarung notwendigerweise Vernunft in Anspruch genommen werden muss. Veilmehr bezieht er sich vornehmlich auf die auf Lord Herbert von Cherbury127 zurückgehenden religionstheologischen Unternehmungen, denen zufolge die religiösen Differenzen der positiven Religionen durch den Entwurf einer rational basierten Universalreligion aufzuheben sind. In diesem Zusammenhang kommt auch das prominente Diktum des Deismus’ zum Tragen, demzufolge die positive Religion (meist in Bezug auf das Christentum) im besten Falle eine „Republication“, d.h. eine Wiederbekanntmachung der universalen natürlichen Religion darstellt, jedoch in seiner historisch gewordenen Gestalt ausschließlich als eine Entartung dieser natürlichen Religion, meistens gründend auf einen Priesterbetrug, aufzufassen ist.128 Woher rührt aber das Interesse der gebildeten Religionsverächter an der natürlichen Religion? Ebenso wie bei den Religionssekten, die Schleiermacher zufolge129 aus einem psychologisch erklärbaren religiösen Minderwertigkeitskomplex hervorgehen, ist auch das Interesse an der natürlichen Religion seines Erachtens zunächst von indirekter Natur. Im Fall der gebildeten Verächter sieht er die Hochschätzung der natürlichen Religion aus einem fundamentalen Unbehagen gegenüber der positiven Religion erwachsen: Aber diesen Grund nicht einsehend werdet Ihr vielleicht alle alten Vorwürfe, die Ihr sonst der Religion überhaupt zu machen gewohnt waret, jetzt auf die einzelnen Reli­ gio­nen werfen, und behaupten daß gerade in dem, was Ihr das Positive in der Religion nennt, dasjenige liegen müße, was diese Vorwürfe immer aufs neue veranlaßt und rechtfertigt: Ihr werdet leugnen daß sie Erscheinungen der wahren Religion sein können.130

Die Affirmation der natürlichen Religion bei den gebildeten Verächtern ist Schleiermacher zufolge keineswegs eigenständig, sondern speist sich hauptsäch127  Herbert von Cherbury, E. H., De Veritate, prout distinguitur a revelatione, a verisimili, a possibili et a falso (London 1624), hrsg. v. G. Gawlick, ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1966; Ders., De religione gentilium errorumque apud eos causis (London 1645/1663), hrsg. v. G. Gaw­ lick, ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1967. Vgl. zu Cherbury auch Rohls, Offenbarung, Vernunft und Religion, 338 f. 128  Einschlägig hier insbesondere Tindal, M., Christianity as Old as the Creation, or the Gospel a Republication of the Religion of Nature, 1730, hrsg. u. eingel. v. G. Gawlick, ND Stuttgart-Bad Cannstatt 1967. In Deutschland zentral ist das von Lessing in zwei Etappen 1774 und 1778 posthum veröffentlichte Werk von Reimarus, H. S., Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Im Auftrag der Joachim Jungius Gesellschaft der Wiss. Hamburg, hrsg. v. G. Alexander, Bd. 1 und 2, Frankfurt a. M. 1972. Zu Reimarus vgl. auch einschlägig: Gawlick, G., „Der Deismus als Grundzug der Religionsphilosophie der Auf klärung“ in: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768): Ein „bekannter Unbekannter“ der Aufklärung in Hamburg, hrsg. v. der Joachim Jungius Gesellschaft der Wiss. Hamburg, Göttingen 1973, 15–43 und Schultze, H., „Religionskritik in der deutschen Auf klärung. Das Hauptwerk des Reimarus im 200. Jahre des Fragmentenstreites“, in: Theologische Literaturzeitung 103 (1978), 705–713. 129  Siehe in der vorliegenden Arbeit §  10.1. 130  KGA I/2, 297,15–20.

§  10  Das religionstheologische Individuationsprinzip

375

lich aus der radikalen Ablehnung der positiven Religionen. Der Haupteinwand gegen die positiven Religionen ist dabei, neben ihrem selbst von Schleiermacher zum Teil eingestandenen faktischen Sektenwesen,131 die eklatante Freiheitseinschränkung, welche nach Ansicht der gebildeten Verächter im Wesen der positiven Religionen liegt: Ihr werdet hinzufügen, daß Ihr gerade nun, da Ihr die Religion achtet und für etwas wichtiges anerkennet, ein lebhaftes Intereße daran nehmen müßtet, daß ihr die größte Freiheit sich nach allen Seiten aufs mannigfaltigste auszubilden überall gewährt werde, und daß Ihr also nur um so lebhafter die bestimmten Formen der Religion haßen müßtet, welche Alle, die sich zu ihnen bekennen, an derselben Gestalt fest halten, ihnen die Freiheit ihrer eigenen Natur zu folgen entziehen und sie in unnatürliche Schranken einzwängen.132

Aus Furcht vor einer Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit hassen die gebildeten Religionsverächter laut Schleiermacher die positiven Religionen, da sie der Ansicht sind, in diesen auf einem geschichtlichen Faktum beruhenden Gestalten mit einer gemeinsamen Zentralanschauung werde der religiöse Mensch von zufälligen Erscheinungen abhängig gemacht und zur sklavischen Uniformität gezwungen. Das berühmte Diktum Lessings aufgreifend kann man sagen: Weil zufällige Geschichtswahrheiten nie der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten werden können,133 sich aber die positiven Religionen mit ihrer Berufung auf ein bloß historisches Gründungsfaktum, einer rationalen Vernunftbegründung verweigern, stellen die positiven Religionen nach Ansicht der gebildeten Religionsverächter eine Gefahr für die vernünftige Religionsfreiheit dar. Der zentrale Vorwurf an die positiven Religionen liegt darin, dass die gebildeten Verächter von ihr einen „Nachtheil für die Eigenthümlichkeit“134 der persönlichen Religionsfreiheit befürchten. Dieser Nachteil der positiven Religionen macht aber wiederum nach Ansicht der Gebildeten die natürliche Religion attraktiv: „Ihr werdet finden, daß in jenen [den Konzep­ tionen der natürlichen Religion, C. K.] allein eine wahre individuelle Aus­ bildung der religiösen Anlage möglich ist, und daß sie, ihrem Wesen nach, der Freiheit ihrer Bekenner darin gar keinen Abbruch thun“.135 Damit ist das grundlegende Setting von Schleiermachers Auseinandersetzung mit der natürlichen Religion gegeben.

131 

KGA I/2, 297,23–30. KGA I/2, 297,30–37. 133  Lessing, G. E., Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: ders., Werke [=LW], hrsg. v. H. G. Göpfert, München 1970–1979, LW 8, 489–510. 134  KGA I/12, 268,10. 135  KGA I/12, 258,16–19. 132 

376

Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

2.2.  Die Argumentation Schleiermacher entfaltet in KGA I/2, 304,16–311,23 in einer mehrstufigen Argumentation die Vorzüge der positiven Religionen gegenüber der natürlichen Religion: Erstens zeigt er in KGA I/2, 304,16–19 auf, dass eine individuelle Persönlichkeitsbildung innerhalb einer bestimmten positiven Religion überhaupt erst möglich ist (2.2.1.). Zweitens verstärkt er sein Argument, indem er in KGA I/2, 305,23–308,32 nachweist, dass die Ausbildung einer individuellen religiösen Persönlichkeit für die Mitglieder einer positiven Religion konstitutiv ist (2.2.2.). Drittens hält er in KGA I/2, 308,33–311,23 schließlich kritisch gegen die natürliche Religion fest, dass eine individuelle religiöse Persönlichkeitsbildung in ihr aus prinzipiellen Gründen ausgeschlossen ist und sich die gebildeten Reli­ gionsverächter demzufolge in ihrer Bevorzugung der natürlichen Religion aus Gründen der individuellen Freiheit in Selbstwidersprüche verstricken (2.2.3.). 2.2.1.  Positive Religionen und die Möglichkeit individueller religiöser Persönlichkeitsbildung Es geht Schleiermacher in seiner ersten Argumentation darum, aufzuzeigen, dass eine individuelle religiöse Persönlichkeitsbildung möglich ist, selbst wenn man sich mit seiner religiösen Zentralanschauung einer bereits bestehenden positiven Religion anschließt: „[Muss] die Religion eines Menschen deshalb weniger eigenthümlich und weniger die seinige [sein], wenn sie in einer Gegend liegt wo schon Mehrere versammelt sind“?136 Zur Begründung dieser These weist Schleiermacher auf seine bereits getroffene religionstheologische Verhältnisbestimmung zwischen religiöser Zentralanschauung und religiösen Einzelanschauungen hin und zeigt im Rahmen dieser Verhältnisbestimmung die Individuationsmöglichkeit der religiösen Einzelperson auf: Obwohl in einer positiven Religion die einzelnen Personen eine gemeinsame religiöse Zentralanschauung besitzen, besteht für jeden von ihnen die Möglichkeit, dieselbe auf unterschiedliche religiöse Anschauungen zu beziehen. Das bedeutet, die Bestimmung einer gemeinsamen Zentralanschauung determiniert nicht vollständig die religiöse Persönlichkeit, sondern lässt einen Spielraum in der Auswahl bestehender religiöser Anschauungen und einen Freiraum zur Neuentdeckung bislang unberücksichtigter religiöser Einzelanschauungen. Demzufolge kann Schleiermacher in Bezug auf die positiven Religionen festhalten: […] gewährt das einem Jeden nicht Spielraum genug? Ich wüßte nicht, daß es schon einer einzigen gelungen wäre, ihr ganzes Gebiet in Besiz zu nehmen und Alles ihrem Geiste gemäß zu bestimmen und darzustellen […] Die Ernte ist groß, und der Arbeiter 136 

KGA I/2, 305,1 ff.

§  10  Das religionstheologische Individuationsprinzip

377

sind wenige. Ein unendliches Feld ist eröfnet in jeder dieser Religionen, worin Tausende sich zerstreuen mögen; unbebaute Gegenden genug werden sich dem Auge eines Jeden darstellen, der etwas eigenes zu schaffen und hervorzubringen fähig ist, und heilige Blumen duften und prangen in allen Gegenden wohin noch keiner gedrungen ist um sie zu betrachten und zu genießen.137

Mit dem letzten Satz wird verdeutlicht, dass es sich bei dem von Schleiermacher bezeichneten Freiraum bzw. „Spielraum“, um die Auswahl und Neuentdeckung von religiösen Einzelanschauungen (und Gefühlen) handelt, denn exakt die Blumen- bzw. Blütenmetapher wird in den Reden auch sonst in Bezug auf die religiösen Einzelanschauungen verwendet.138 Weil von jedem Mitglied einer positiven Religion die gemeinsame Zentralanschauung auf unterschiedliche Anschauungsgebiete bezogen werden kann, besitzt jede Person innerhalb einer positiven Religion die Möglichkeit zur individuellen religiösen Persönlichkeitsbildung. Aus diesem Argument folgt: So ganz unbegründet demnach ist der Vorwurf, als ob, wer in eine positive Religion sich aufnehmen läßt, nur ein Nachtreter derjenigen würde, welche diese geltend gemacht, sich selbst aber nicht mehr eigenthümlich ausbilden könne.139

Aus der bisherigen Argumentation ergibt sich ein Problem, dass Schleiermacher zumindest in der Erstauflage der Reden nicht explizit berücksichtigt: Wenn die Individualität der religiösen Persönlichkeiten in einer positive Religion ausschließlich darin bestünde, die gemeinsame Zentralanschauung auf eigentümliche Anschauungsgebiete anzuwenden, so wäre die Individualität der religiösen Personen allein auf dem Exklusivstatus ihres Anschauungsgebietes begründet. Religiöse Individualität besäße eine Person folglich nur so lange, bis andere Personen dasselbe Anschauungsgebiet entdecken, oder durch religiöse Mitteilung darauf hingewiesen werden. Nach Schleiermacher besteht aber das Wesen jeder Religionsgemeinschaft in der gegenseitigen Ergänzung ihrer religiösen Einzelansichten,140 weshalb die Individualität der religiösen Persönlichkeiten, aufgefasst als Exklusivität ihres Anschauungsgebietes, natürlicherweise in jeder Religionsgemeinschaft im Schwinden begriffen sein müsste. Zieht man die Konsequenz aus Schleiermachers soeben aufgeführtem Argument, so zielt jede positive Religion auf dem Wege ihrer natürlichen Fortschreitung und Entwicklung auf die Eliminierung der religiösen Individualität ihrer Mitglieder ab. Individuelle religiöse Persönlichkeitsbildung und Mitgliedschaft in einer lebendig-prosperierenden positiven Religion schließen sich, folgt man diesem Argument Schleiermachers, gegenseitig aus. 137 

KGA I/2, 305,9–19. KGA I/2, 223,8–19. 139  KGA I/12, 269,4–7. 140  KGA I/2, 268,4–14. 138 

378

Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

Die individuelle religiöse Persönlichkeitsbildung ist nach Schleiermachers bisherigem Argument also keineswegs konstitutiv für eine positive Religion, sondern ausschließlich ein interimistischer Zustand in der Frühphase ihrer Entwicklung. Vielleicht hat Schleiermacher das Problem mit seinem ersten Argument selbst gesehen. Zumindest weisen sowohl spätere Korrekturen der Reden darauf hin141 als auch sein anschließendes Zitat aus der Erstauflage, mit welchem er seine zweite Argumentation einleitet. Hierin geht es um die Begründung, dass eine individuelle religiöse Persönlichkeitsbildung nicht allein eine vorüber­ gehende Erscheinung darstellt, sondern vielmehr zum Wesen der positiven Reli­ gion gehört: Aber so wenig ist Euer Vorwurf, als ob innerhalb einer positiven Religion der Mensch die seinige nicht mehr eigenthümlich ausbilden könnte, gegründet, daß sie nicht nur, wie Ihr eben gesehen habt, für einen jeden Spielraum genug laßen, sondern daß auch grade in so fern der Mensch in eine positive Religion eintritt und aus demselben Grunde, die seinige noch in einem andern Sinne ein besonderes Individuum nicht nur sein kann, sondern auch von selbst werden wird.142

Diesem „andern Sinn“ von religiöser Individualität wird im folgenden Abschnitt nachgegangen. 2.2.2.  Positive Religionen und die Wirklichkeit individueller religiöser Persönlichkeitsbildung Schleiermacher leitet sein zweites Argument damit ein, dass er in KGA I/2, 305,20–308,32 zwischen der „objektiven Seite“143 der Religionsbildung und ihrer „subjektiven“ Seite144 unterscheidet: Dabei bezieht sich die objektive Seite der Religionsbildung auf die Entstehung einer Zentralanschauung in einem religiösen Subjekt quasi von außen betrachtet, d.h., in seinem Verhältnis zur ganzen Religion und die anderen möglichen religiösen Zentralanschauungen gesehen. Die subjektive Seite der Religionsbildung bezieht sich dementsprechend auf den Vorgang im Inneren des Subjekts. Diese beiden Seiten fasst Schleiermacher wie folgt auf: Die erste bestimmte religiöse Ansicht, die in sein Gemüth mit einer solchen Kraft eindringt, daß durch einen einzigen Reiz sein Organ fürs Universum zum Leben gebracht und von nun an immer in Thätigkeit gesezt wird, bestimmt freilich seine Religion […]. Das ist die objektive Seite dieses Moments; seht aber auch auf die subjektive: so wie durch ihn [hier meint Schleiermacher die objektive Seite des Moments, C. K.] in jener Rüksicht seine Religion in so fern bestimmt wird, daß sie zu einem in Rüksicht des 141 

Vgl. hierzu einschlägig KGA I/12, 303,28–304,4. KGA I/2, 305,20–26. 143  KGA I/2, 305,34 f. 144  KGA I/2, 305,35. 142 

§  10  Das religionstheologische Individuationsprinzip

379

unendlichen Ganzen völlig geschloßnen Individuum gehört, […] so wird durch denselben Moment [hier meint Schleiermacher die subjektive Seite des Moments, C. K.] auch seine Religiosität in Rüksicht der unendlichen religiösen Anlage der Menschheit als ein ganz eigens und neues Individuum zur Welt gebracht.145

Schleiermachers zentrale Aussage lautet, dass in dem Moment der Bildung einer religiösen Zentralanschauung zwei voneinander unterschiedene und dennoch sachnotwendig zusammengehörende Ereignisse stattfinden: Auf der einen Seite entsteht, objektiv betrachtet, durch die Bildung einer religiösen Zentralanschauung eine positive Religion, die gegenüber der ganzen Religion ein Religionsindividuum darstellt. Die Bildung einer religiösen Zentralanschauung fungiert hier folglich als objektives Individuationsprinzip. Auf der anderen Seite entsteht, subjektiv betrachtet, in demselben Vorgang der Zentralanschauungsbildung eine neue Weise der menschlichen Religiosität, die gegenüber der religiösen Anlage der ganzen Menschheit ein neues religiöses Individuum bzw. eine wahre individuelle religiöse Persönlichkeit darstellt. Die Bildung einer religiösen Zentralanschauung fungiert hier als subjektives Individuationsprinzip.146 Die Mitgliedschaft eines Menschen in einer positiven Religion und die Bildung seiner individuellen religiösen Persönlichkeit sind das Ergebnis ein und desselben Moments. Hiermit hat Schleiermacher bereits formal sein Beweisziel erreicht: Weil die Entstehung einer religiösen Zentralanschauung bei einem Menschen notwen­ digerweise zu einer individuellen religiösen Persönlichkeitsbildung führt, kann kein Mensch ein wahrhaftes Mitglied in einer positiven Religion sein, ohne eine individuelle religiöse Persönlichkeit aufzuweisen. Für die positiven Reli­ gio­nen ist die individuelle religiöse Persönlichkeitsbildung konstitutiv. Offen bleibt allerdings noch die inhaltliche Frage: Wie ereignet sich diese individuelle religiöse Persönlichkeitsbildung? Eine religiöse Persönlichkeitsbildung kann nicht dadurch erfolgen, dass sich einem Menschen eine religiöse Zentralanschauung überhaupt darbietet. Denn hierdurch unterscheidet sich kein Mensch spezifisch von den anderen Mitgliedern seiner positiven Religion. Wenn die individuelle religiöse Persönlichkeitsbildung dennoch mit der Entstehung der religiösen Zentralanschauung verknüpft ist, dann muss dies an der spezifischen Art und Weise ihrer Aufnahme im religiösen Subjekt liegen. In dem obigen Zitat aus KGA I/2, 305,34–306,2 hält Schleiermacher bereits fest, dass in dem Moment der subjektiven Entstehung einer religiösen Zentralanschauung die Religiosität eines Menschen auf bestimmte Weise gebildet wird. So wie eine positive Religion ein wahres Individuum der ganzen Reli­ 145 

146 

KGA I/2, 305,34–306,2. Vgl. ähnlich Seifert, Theologie, 161.

380

Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

gion darstellt, ebenso bildet die eigentümliche Religiosität eines einzelnen Men­ schen ein wahres Individuum in Bezug auf die religiöse Anlage der Menschheit insgesamt. Während aber die Individualität einer positiven Religion daraus hervorgeht, dass ihre Zentralanschauung die religiösen Einzelanschauungen auf bestimmte Weise anordnet, so geht die Individualität einer religiösen Persönlichkeit daraus hervor, dass ihre Religiosität bzw. ihr eigener Religionscharakter durch die Aufnahme der Zentralanschauung bestimmt wird. Es ist folglich nicht die Entstehung einer Zentralanschauung selbst, sondern vielmehr die durch die Entstehung einer religiösen Zentralanschauung initiierte Bildung eines bestimmten Religionscharakters, wodurch eine individuelle religiöse Persönlichkeit nach Schleiermacher entsteht. Diese allgemeine Beschreibung wird in KGA I/2, 306,2–308,32 abschließend präzisiert: Das Individuationsprinzip der religiösen Persönlichkeit ist Schleiermacher zufolge, ebenso wie bei der religiösen Zentralanschauung im Allgemeinen, keine willkürliche Konstruktion, sondern stellt sich ebenfalls direkt und unmittelbar bei der Entstehung des religiösen Bewusstseins eines Menschen selbst ein.147 Die religiöse Persönlichkeit bildet sich, gerade im Unterschied zum Sektengeist oder der natürlichen Religion, nicht erst durch nachträgliche Fixierung bestimmter religiöser Anschauungen, [s]ondern in diesem ersten anfänglichen Bewußtsein muß schon ein eigenthümlicher Charakter liegen, da es ja nur in einer durchaus bestimmten Gestalt und unter bestimmten Verhältnissen in ein schon gebildetes Leben so plötzlich eintreten konnte; welchen eigenthümlichen Charakter dann jeder folgende Augenblick eben so an sich trägt, so daß er der reinste Ausdruk des ganzen Wesens ist.148

Schleiermacher zufolge steht das ursprüngliche Bewusstsein für die Religion bei jedem Menschen notwendigerweise im Zusammenhang mit dessen Leben insgesamt. Religiöses Bewusstsein bildet sich ausschließlich in Bezug auf die übrigen Gemütskräfte eines Menschen. In seiner Beschreibung bezieht sich Schleier­ macher auf den Augenblick der individuellen Religionsentstehung der religiösen Persönlichkeit: Dieser Augenblik ist nemlich zugleich ein bestimmter Punkt in seinem Leben, ein Glied in der ihm ganz eigenthümlichen Reihe geistiger Thätigkeiten, eine Begebenheit, die, wie jede andere, in einem bestimmten Zusammenhange steht mit einem Vorher, einem Jezt und Nachher; und da dieses Vorher und Jezt in Jedem Einzelnen etwas eigenthümliches ist, so wird es das Nachher auch [1]; da sich an diesen Moment, und an den Zustand in welchem er das Gemüth überraschte und an seinen Zusammenhang mit dem früheren dürftigern Bewußtsein das ganze folgende religiöse Leben anknüpft und sich 147 

Vgl. in der vorliegenden Arbeit §  10.1.3. I/12, 270,16–21.

148  KGA

§  10  Das religionstheologische Individuationsprinzip

381

gleichsam genetisch daraus entwickelt: so hat es auch in jedem eine eigene durchaus bestimmte Persönlichkeit [2], so wie sein menschliches Leben selbst [3].149

Der Augenblick der religiösen Erweckung stelllt kein isoliertes mentales Ereignis dar, sondern steht, analog zu jedem anderen geistigen Vorgang, in einem sachnotwendigen Zusammenhang mit temporal vorangehenden und nachfolgenden Bewusstseinsprozessen. Religion wird nur dadurch zu einem Element des menschlichen Lebens, indem sie sich in den Zusammenhang der Lebensprozesse eines Menschen eingliedert. Schleiermacher zufolge sind diese Lebens- bzw. Bewusstseinsprozesse in jedem Menschen individuell determiniert. Jeder Mensch birgt in sich eine bestimmte Vergangenheit und agiert in einer bestimmten Gegenwart, woraus sich seine bestimmte Zukunft ergibt. Folglich steht der Augenblick der religiösen Bewusstwerdung in einem bestimmten, d.h. unverwechselbar individuellen Zusammenhang mit den ihm temporal vorangehenden und nachfolgenden Bewusstseinsprozessen. Dies ist der temporal-biographische Grund für die individuelle religiöse Persönlichkeitsbildung [1]. Einen weiteren Grund der individuellen religiösen Persönlichkeitsbildung stellt Schleiermacher in [2] heraus: Der Moment, in welchem sich bei einem Menschen eine bestimmte religiöse Zentralanschauung bildet, offenbart durch die Veränderungen, die er im Bewusstseinsleben eines Menschen verursacht, zugleich die Bedeutsamkeit der Religion für den Charakter dieses Menschen insgesamt. Das spezifische Verhältnis zwischen dem „früheren dürftigern Bewusstsein“ eines Menschen ohne Religion und seinem sich hieran anschließenden Bewusstseinsleben mit Religion gründet auf der eigentümlichen Signifikanz, den die Religion bei diesem Menschen im Zusammenhang mit dessen übrigen Gemütskräften besitzt. Diese eigentümliche Signifikanz der Religion zeigt sich, weil sie eine unverwechselbare Charaktereigenschaft des jeweiligen Menschen darstellt. Sie stellt unvermeidlich den Ursprung dar, an den das „ganze folgende religiöse Leben“ des Menschen anknüpft, indem es sich „gleichsam […] genetisch daraus entwikelt“. Dies ist nach Schleiermacher der ontologisch-biographische Grund für die individuelle religiöse Persönlichkeitsbildung eines Menschen. Im abschließenden Halbsatz in [3] stellt Schleiermacher die beiden beschriebenen Individuationsprinzipien des religiösen Bewusstseinslebens in Analogie zum bestimmten Gesamtleben eines Menschen. Dies bestätigt die vorliegende Interpretation, denn auch für das menschliche Gesamtleben gilt nach Schleier­ macher, dass sich seine Bestimmtheit einerseits aus dem temporal-biographischen Aspekt seiner Entstehung bzw. Geburt150 und andererseits aus dem onto-

149 

150 

KGA I/2, 306,2–12. KGA I/2, 306,12–34.

382

Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

logisch-biographischen Aspekt seiner geistigen Natur bzw. seines intellektuellen Charakters ergibt.151 Schleiermachers zweite Argumentation ist überzeugender als sein bereits kritisiertes erstes Argument. Wenn die religiöse Persönlichkeit nicht auf der Exklusivität ihrer religiösen Anschauungsgebiete beruht, sondern sich als integraler Bestandteil des allgemeinen Charakters eines Menschen erweist, dann kann die religiöse Persönlichkeit nicht durch die gegenseitigen Ergänzungen der religiösen Ansichten in einer positiven Religionsgemeinschaft zum Schwinden gebracht werden. Erst mit seiner zweiten Argumentation hat Schleiermacher tatsächlich zeigen können, dass die individuelle religiöse Persönlichkeitsbildung nicht nur ein interimistisches Element der positiven Religion darstellt, sondern sich für dieselbe als konstitutiv erweist. Als Konsequenz lässt sich aus der Darstellung von Schleiermachers religionstheoretischem Individuationsprinzip Folgendes festhalten. Es besteht eine grund­sätzliche Strukturanalogie zwischen zwei Verhältnisbestimmungen: Die ganze Religion verhält sich zu den einzelnen positiven Religionen strukturanalog wie das Verhältnis zwischen einer positiven Religion zu den in ihr eingeschlossenen religiösen Individualpersönlichkeiten. Auf dieser Strukturanalogie basiert Schleiermachers Argumentation, denn auf diese Weise kann er zeigen, dass die allgemeine Verhältnisbestimmung von Ganzem zum Individuellem auch für die Beziehung von positiver Religion zu religiöser Persönlichkeit gilt. So wie die ganze Religion nur in ihren spezifisch voneinander unterschiedenen wahren Religionsindividuen bzw. positiven Religionen existiert, ebenso existiert auch die positive Religion nur in einer Vielzahl individueller religiöser Persönlichkeiten. Religiöse Persönlichkeiten bilden jede für sich einen konstitutiven Teil und eine bestimmte Darstellung der positiven Religion, in welcher sie existieren. Die religiösen Persönlichkeiten innerhalb einer positiven Religion stehen folglich untereinander in einem gegenseitigen Ergänzungsverhältnis152 und sie enthalten, jedenfalls potentiell, alle dieselben religiösen Elemente, nur unterschiedlich modifiziert153. Wie keine positive Religion einen berechtigten Alleingeltungsanspruch besitzt, so kann auch keine religiöse Persönlichkeit innerhalb einer positiven Religion einen berechtigten Anspruch auf Alleingeltung vorbringen. Dies war nach Schleiermacher auch der Grund zur Ablehnung der Religionssekten.154

151 

KGA I/2, 306,34–307,10. KGA I/2, 305,35–39. 153  KGA I/2, 306,20–34. 154  Vgl. in der vorliegenden Arbeit §  10.1. 152 

§  10  Das religionstheologische Individuationsprinzip

383

Ganze Religion, positive Religion und wahre religiöse Persönlichkeit gehören somit notwendigerweise zusammen. Schleiermacher bringt diese prinzi­ pielle Ansicht in folgendem Zitat unmissverständlich zum Ausdruck: Und wenn nur in und durch solche bestimmte Formen die Religion dargestellt wird, so hat auch nur der, welcher sich mit der seinigen in einer solchen niederläßt, eigentlich einen festen Wohnsiz und daß ich so sage ein aktives Bürgerrecht in der religiösen Welt, nur Er kann sich rühmen zum Dasein und zum Werden des Ganzen etwas beizutragen; nur Er ist eine eigne religiöse Persönlichkeit mit einem Charakter und festen bestimmten Zügen.155

Das Entstehen einer objektiv-religiösen Zentralanschauung in einem Menschen erfolgt notwendigerweise im Rahmen und unter der Bedingung seines jeweiligen subjektiv-religiösen Individualcharakters. Umgekehrt kann ein subjektiv-religiöser Individualcharakter in einem Menschen nur gebildet werden, wenn sich ihm, ohne sein Zutun, eine objektiv-religiöse Zentralanschauung darbietet. Dies kommt zusammenfassend zum Ausdruck in Schleiermachers Analogieschluss: So wie kein Mensch als Individuum zur Existenz kommen kann ohne zugleich durch denselben Actus auch in eine Welt, in eine bestimmte Ordnung der Dinge und unter einzelne Gegenstände versezt zu werden; so kann auch ein religiöser Mensch zu seiner Individualität nicht gelangen, er wohne denn durch dieselbe Handlung sich auch ein in irgend eine bestimmte Form der Religion. Beides ist die Wirkung eines und deßelben Moments, und kann also Eins vom Andern nicht getrennt werden.156

2.3.  Das freiheitstheoretische Defizit der natürlichen Religion Nachdem Schleiermacher gezeigt hat, dass die Mitgliedschaft in einer positiven Religionsgemeinschaft notwendigerweise die Bildung einer individuellen religiösen Persönlichkeit beinhaltet, vervollständigt er in KGA I/2, 308,33–311,23 seine Argumentation, indem er kritisch gegen die deistische Religionskonzep­ tion festhält, dass in ihr eine individuelle religiöse Persönlichkeitsbildung ausgeschlossen ist und sich die gebildeten Religionsverächter demzufolge in ihrer Bevorzugung der natürlichen Religion gegenüber den positiven Religionen in Selbstwidersprüche verstricken.157 155 

KGA I/2, 304,9–15. KGA I/2, 308,21–28 (kursiv, C. K.). 157  Vgl. KGA I/2, 296,24–34 (kursiv, C. K.): „Positive Religionen nennt Ihr diese vorhandenen bestimmten religiösen Erscheinungen und sie sind unter diesem Namen schon lange das Objekt eines ganz vorzüglichen Haßes gewesen; dagegen Ihr bei allem Widerwillen gegen die Religion überhaupt etwas anderes das man die natürliche Religion nennt immer leichter geduldet, und sogar mit Achtung davon gesprochen habt. Ich stehe nicht an, Euch sogleich einen Blick in das innere meiner Gesinnung hierüber zu vergönnen, indem ich für mein Theil gegen diesen Vorzug aufs lauteste protestiere, und ihn in Rüksicht aller derer welche überhaupt Religion zu haben und zu lieben vorgeben für die gröbste Inkonsequenz und augenscheinlichste Selbstwiderlegung erkläre“. 156 

384

Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

Schleiermacher zufolge basiert die deistische Konzeption der natürlichen Religion auf einer prinzipiellen Verkennung des Wesens der Religion selbst und resultiert in dieser Folge in zwei fundamentalen Irrtümern, wodurch ihre Befürworter in kontradiktorischer Opposition zu den positiven Religionen stehen und sich damit der Möglichkeit einer individuellen religiösen Persönlichkeitsbildung berauben. Die prinzipielle Verkennung des Religionswesens zeigt sich bei den Verächtern darin, dass sie die Religionsfreiheit als unvereinbar mit religiöser Bestimmtheit erachten und folglich der Ansicht sind, dass die religiöse Freiheit in der Abwesenheit von Bestimmtheit besteht: […] und wenn Ihr rühmt daß sie ihren Anhängern mehr Freiheit gewähre sich nach eignem Sinn religiös zu bilden, so kann ich mir nichts anders darunter denken als […] die Freiheit auch ungebildet zu bleiben, die Freiheit von jeder Nötigung nur überhaupt irgend etwas bestimmtes zu sein, zu sehen und zu empfinden. Die Religion spielt doch in ihrem Gemüte eine gar zu dürftige Rolle.158

Die Deisten erkennen somit nicht, dass das Proprium des religiösen Bewusstseins, dessen Inhalt das Universum als Alles bestimmende Wirklichkeit bildet, die Einsicht in das ursprüngliche Gesetztsein der menschlichen Freiheit bildet. Nichts ist nach Schleiermacher für die Religion so kennzeichnend, als die Gewissheit, dass die menschliche Existenz im Allgemeinen und dementsprechend die menschliche Freiheit im Besonderen ausschließlich im Rahmen sachnotwendig vorgegebener Möglichkeitsbedingungen Wirklichkeit besitzt. Freiheit gründet ihm zufolge nicht auf der Abwesenheit von Bestimmtheit, sondern Freiheit ist wesentlich Sein-in-Bestimmtheit. In Bezug auf die menschliche Person hat Schleiermacher diese kompatibilistische Freiheitskonzeption mittels seiner Theorie der ontologischen Individual­ charaktere näher ausgeführt.159 Ihm zufolge gilt prinzipiell für jeden Menschen: Freiheit ist die Existenz eines Menschen in Übereinstimmung mit seinem durch das Universum sachnotwendig vorgegebenem Charakter. Diese prinzipiellen freiheitstheoretischen Einsichten aus dem religiösen Bewusstsein, gelten folglich auch in Bezug auf die Religion selbst. Religiöse Freiheit kann ausschließlich im Rahmen vorgegebener Möglichkeitsbedingungen existieren und ist an einen jedem Menschen vorgegebenen Religionscharakter gebunden. In der Religion frei zu sein, bedeutet, seinem vom Universum vorgegebenen Religionscharakter zu entsprechen, wie er sich in der Entstehung einer bestimmten religiösen Zentralanschauung offenbart.160 Eine von den Deisten für das religiöse Subjekt eingeforderte Freiheit von aller Bestimmtheit bzw. zur Unbestimmtheit, kann nach Schleiermacher folglich 158 

KGA I/2, 308,38–43. Vgl. KGA I/2, 212,10–15. 160 Vgl. Seifert, Theologie, 161. 159 

§  10  Das religionstheologische Individuationsprinzip

385

keine religiöse Freiheit im eigentlichen Sinne darstellen. Aufgrund ihres irregeleiteten Freiheitsverständnisses befinden sich die Deisten in einem rein negativen Verhältnis zur Bestimmtheit in der Religion: „Das Wesen der natürlichen Religion besteht ganz eigentlich in der Negation alles Positiven und Charakteristischen, und in der heftigsten Polemik dagegen.“161 Aus dieser prinzipiellen Verkennung des Religionswesens resultieren nach Schleiermacher zwei fundamentale Irrtümer bei den Befürwortern der natür­ lichen Religion: Den ersten fundamentalen Irrtum kann man als das Reinheitskriterium der natürlichen Religion bezeichnen. Weil die Deisten Religionsfreiheit mit reli­ giöser Unbestimmtheit gleichsetzen, vermeiden sie alle Sachverhalte, die „von der ursprünglichen Reinheit der Vernunftreligion“162 abweichen. Unter diese Sachverhalte fallen sämtliche nicht-notwendigen, d.h. die kontingenten Momente der Religion. Diese sind nach Schleiermacher das „Willkürliche und Positive“163. Die Deisten versuchen ihre natürliche Religion von allen Verunreinigungen durch kontingente Elemente freizuhalten. Deswegen grenzen sie sich von der Ansicht der historischen Unableitbarkeit und der existenzialen Bedeutsamkeit der Religion ab: Zweierlei haßen sie [die Anhänger der natürlichen Religion, C. K.] ganz vorzüglich: sie wollen nirgends beim Außerordentlichen und Unbegreiflichen anfangen, und was sie auch sein und treiben mögen, so soll nirgends eine Schule hervorschmeken.164

Ihrer Abneigung gegen die positiven Religionen geschuldet, grenzen sich die Deisten mit ihrem Reinheitsprinzip von dem vermeintlichen „Fanatismus“165 eines superrationalen Anfangs des religiösen Bewusstseins ab. Anstatt der enthusiasmierten Ergriffenheit durch die freie Willkür Gottes zu entspringen, soll ihres Erachtens die Religion grundsätzlich mit der „Mäßigkeit“166 und Gelehrigkeit des menschlichen Verstandes einsetzen: Nach und nach soll der Mensch religiös werden, wie er klug und verständig wird und Alles andere was er sein soll; durch den Unterricht und die Erziehung soll ihm Alles kommen; nichts muß dabei sein was für übernatürlich oder auch nur für sonderbar könnte gehalten werden.167

Außerdem fordert das Reinheitskriterium der Deisten, dass keine wirkliche religiöse Ansicht allein aufgrund ihrer existenzialen Bedeutsamkeit für ein Subjekt 161 

KGA I/2, 310,34 ff. KGA I/2, 309,12. 163  KGA I/2, 309,13. 164  KGA I/2, 310,39–311,2. 165  KGA I/2, 309,24. 166  KGA I/2, 309,22. 167  KGA I/2, 309,24–28. 162 

386

Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

gegenüber den anderen möglichen religiösen Ansichten bevorzugt wird. Diese Einstellung hat nach Schleiermacher die in der natürlichen Religion vollzogene Abgrenzung von jeder bestimmten religiösen Zentralanschauung zur Folge und bedingt die Einforderung der religiösen Uniformität bei ihren Mitgliedern: Warum misstrauen sie gleich Jedem der etwas eigenthümliches in seine Religion bringt? Sie wollen eben auch Alle gleichförmig sein – nur entgegengesetzt dem Extrem auf der anderen Seite, den Sektierern meine ich – gleichförmig im Unbestimmten.168

Den zweiten fundamentalen Irrtum der Deisten kann man als das Allgemeinverbindlichkeitskriterium der natürlichen Religion bezeichnen. Hiermit wird von Schleiermacher die positive Grundlage bei der Genese von Inhalten der natürlichen Religion beschrieben. Weil die Deisten gemäß ihrem Reinheitskriterium das Willkürliche und Positive aus der Religion verbannt haben, bleibt ihnen als möglicher Religionsinhalt nur übrig, was sie selbst auf rationalem Wege konstruiert haben. Statt auf einer durch das Universum gewirkten „lebendigen Anschauung“169, gründet ihre natürliche Religion daher ausschließlich auf allgemeinverbindlichen metaphysischen und moralischen Demonstrationen. Und weil die Inhalte ihrer Religion gemäß dem Reinheitskriterium keine subjektive Bevorzugung aufweisen dürfen, wird auch diese Menge rationaler Beweise noch einmal auf diejenigen hin reduziert, die nach Ansicht der Deisten den Grundstock bzw. den Minimalkonsens jedes religiösen Bewusstseins bilden. Aufgrund dieser beiden Auswirkungen des Allgemeinverbindlichkeitskriteriums bleiben als eigentliche Inhalte der natürlichen Religion laut Schleier­ macher somit nur die spekulativen Gottesbeweise übrig: Der Glaube an einen persönlichen Gott, daß wißen sie selbst, ist nicht das Resultat einer bestimmten einzelnen Anschauung des Universums im Endlichen; darum fragen sie keinen, der ihn hat, wie er dazu gekommen sei; sondern so wie sie ihn demonstriren wollen, meinen sie auch, er müße Allen demonstrirt sein. Sonst einen andern und bestimmteren Mittelpunkt, den sie hätten, möchtet Ihr wohl schwerlich aufzeigen können.170

Nach Schleiermacher haben sich die Deisten mit ihrem Reinheitskriterium der Möglichkeit beraubt, durch das Universum selbst einen bestimmten Religionscharakter zu empfangen. Mit dem Allgemeinverbindlichkeitskriterium haben sie sich die Möglichkeit genommen, sich selbst einen bestimmten Charakter zu verleihen. Beide Handlungsweisen sind direkter Ausdruck ihres Strebens nach Unbestimmtheit, welches letztlich den einzigen Grund für die Bildung der und den Beitritt zur natürlichen Religion bildet: Erinnert Euch, was die Dichter von einem Zustand der Seelen vor der Geburt reden: wenn sich eine solche gewaltsam wehren wollte in die Welt zu kommen, weil sie eben 168  KGA

I/2, 309,14–18. KGA I/2, 309,32. 170  KGA I/2, 309,35–41. 169 

§  10  Das religionstheologische Individuationsprinzip

387

nicht Dieser und Jener sein möchte, sondern ein Mensch überhaupt; diese Polemik gegen das Leben ist die Polemik der natürlichen Religion gegen die positiven, und dies ist der permanente Zustand ihrer Bekenner.171

Schleiermachers Analyse zeigt somit den Selbstwiderspruch auf, dem die gebildeten Verächter unterliegen, wenn sie die natürliche Religion der positiven Religion mit dem Argument vorziehen, ausschließlich Erstere würde eine individuelle religiöse Persönlichkeitsbildung ermöglichen. Da der Deismus als nur gedankliche Konstruktion von Religion selbst keine individuelle Darstellung der wahren Religion bildet,172 ist folglich in der natürlichen Religion auch keine individuelle Ausbildung der religiösen Anlage möglich. Es liegt nach Schleiermacher vielmehr im Prinzip der natürlichen Religion statt individueller Persönlichkeitsbildung die Uniformität ihrer Mitglieder auf der Grundlage eines selbstkonstruierten Minimalkonsenses einzufordern und herzustellen.173 Spiegelbildlich zur Sekte, welche die religiöse Persönlichkeitsbildung ihrer Mitglieder im Rahmen der eigentümlichen Beschränktheit ihrer Anführer zu halten beabsichtigt, versucht der Deismus seine Mitglieder im Rahmen einer allgemeinen Unbestimmtheit von jeder individuellen religiösen Persönlichkeitsbildung abzuhalten. Indirekt hat Schleiermacher damit seine These bestärkt, dass allein in den positiven Religionen eine individuelle Ausbildung der religiösen Persönlichkeit möglich ist und folglich ein superrationaler Ursprung und eine existenziale Bedeutsamkeit einer bestimmten religiösen Anschauung keine Ausschlusskriterien, sondern vielmehr die entscheidenden Möglichkeitsbedingungen zur reli­ giösen Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen darstellen: „Wenn eine bestimmte Religion nicht mit einem Faktum anfangen soll, kann sie gar nicht anfangen […] und wenn eine Religion nicht eine bestimmte sein soll, so ist sie gar keine, sondern nur ein loser unzusammenhängender Stoff.“174 Bislang wurde Schleiermachers Beschreibung und Begründung der religiösen Pluralität behandelt. Ausgangspunkt war Schleiermachers methodische Aufforderung „die Religionen […] selbst mit Religion an[zu]schauen“175 und folglich „in den Religionen die Religion [zu, C. K.] entdeken“176. Als bisheriges Ergebnis steht fest, dass die ganze Religion nur in Form unendlicher voneinander unterschiedener positiver Religionen zu existieren vermag bzw. der Reli­ 171 

KGA I/2, 311,18–23. I/2, 310,10–15 (kursiv, C. K.): „Sie hat also für ihre religiöse Anschauungen keine Einheit einer bestimmten Ansicht, diese natürliche Religion, sie ist also auch keine bestimmte Form, keine individuelle Darstellung der Religion, und die, welche sie nur bekennen, haben keinen bestimmten Wohnsiz in ihrem Reich, sondern sind Fremdlinge, deren Heimath, wenn sie eine haben, woran ich zweifle, woanders liegen muß.“ 173 Vgl. Dilthey, Leben Schleiermachers, 422. 174  KGA I/2, 311,13–18. Vgl. hierzu Seifert, Theologie, 152–154. 175  KGA I/2, 296,13–18. 176  KGA I/2, 294,18. 172 KGA

388

Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

gionsbegriff sich notwendigerweise in einer unendlichen Vielzahl wahrer Religionsindividuen manifestiert. Aus der methodischen Vorgabe wird auch deutlich, dass dieses Ergebnis noch einseitig ist. Schleiermacher hat als allgemeine Charakterisierung des religiösen Bewusstseins in seiner Beschreibung des religiösen Anschauungsinhalts sowohl die Gewissheit der wahren Individualität als auch der teleologischen Prozessualität bzw. der Geschichte herausgestellt.177 Wenn er die gebildeten Verächter auffordert, die Religionen mit Religion anzuschauen, verlangt er, diese beiden Anschauungen ins Programm zu setzen. Diese bislang fehlende religiöse Anschauung der teleologischen Prozessualität hat Schleiermacher bereits in seiner zweiten Rede in KGA I/2, 244,18–13 in den Blick genommen. In ihr ent­ wickelt er ein religionstheologisches Einteilungsschema, das eine hierarchische Anordnung der positiven Religionen erlaubt und in seiner Behandlung des Judentums und Christentums in KGA I/2, 314,36–325,19 zur Anwendung ­ ­gelangt. Dieses religionstheologische Einteilungsschema wird im Folgenden dargestellt.

§  11  Religionstheologische Einteilung Schleiermacher zufolge ist es dem religiösen Bewusstsein wesentlich, sowohl eine Bewusstseinserweiterung mit dem Inhalt der wahren Individualität als auch eine Bewusstseinserhebung mit dem Inhalt der teleologischen Prozessualität bzw. der Geschichte zu besitzen.178 Dies gilt, wie soeben gezeigt, auch in Bezug auf die religiöse Betrachtung der Religion selbst und hat religionstheologisch gewichtige Konsequenzen: Schleiermacher stellt zwar deutlich heraus, dass die Pluralität der Religionen konstitutiv für das Wesen der Religion ist. Anders als im religionstheologischen Pluralismus sind die Religionen ihm zufolge dennoch nicht gleichwertig. Der religiöse Wert einer Religion bemisst sich daran, in welcher Klarheit und Deutlichkeit in ihnen die religiöse Bewusstseinserweiterung und Bewusstseinserhebung entwickelt sind. Die von Schleiermacher vertretene religiöse Pluralität steht also in keinem Widerspruch zu einer Hierarchisierung der Religionen. Er vertritt folglich in den Reden keineswegs eine religiöse Individuation um jeden Preis, sondern diese ist seinem Religionsbegriff gemäß auf eine teleologische Prozessualität hingeordnet. Die religiöse Pluralität bildet folglich keinen Gegensatz, sondern vielmehr die Bedingung einer teleologischen Entwicklung der Religionen. Demnach lassen sich die positiven Religionen hierarchisch in über- bzw. untergeordnete Bil177  178 

KGA I/2, 223,20–235,11. Vgl. in vorliegender Arbeit §  8.1.

§  11  Religionstheologische Einteilung

389

dungs- oder Entwicklungsstufen einteilen.179 Im Rahmen dieser Entwicklungsstufen nimmt Schleiermacher zusätzlich eine Unterscheidung der positiven Religionen nach einander koordinierten Religionsarten vor (1.). Im Anschluss an diese Beschreibung wird das religionstheologische Einteilungsschema graphisch dargestellt (2.) 1.  Religiöse Entwicklungsstufen und Religionsarten Im Zuge seiner Thematisierung des religiösen Gottesbegriffs in KGA I/2, 244,8–246,8 kommt Schleiermacher auf die Frage zu sprechen, woran sich der „Werth“180 einer Religion bemisst. Als Maßstab zur Ermittlung dieses Wertes scheidet nach Schleiermacher die Gottesvorstellung selbst aus, da sie ihm zu­ folge kein notwendiges Merkmal der Religion darstellt, sondern nur eine bestimmte Weise ist, sich das religiös angeschaute Universum vorzustellen. Religion ist wesensgemäß Anschauung des Universums. Deswegen muss sich das Kriterium zur Hierarchisierung der positiven Religionen aus dem religiösen Anschauungsbegriff selbst ergeben. Der religiöse Anschauungsbegriff verbindet folglich methodisch Schleiermachers Darstellung der religiösen Pluralität und der religiösen Hierarchisierung bzw. der wahren Individualität und teleologischen Prozessualität miteinander. Den Gegenstand von Schleiermachers religionstheologischem Einteilungsschema bilden nicht einzelne Ausprägungen von individueller Religiosität, sondern der spezifische Charakter historisch auftretender positiver Religionsgemeinschaften. Schleiermachers religionstheologisches Einteilungsschema der verschiedenen positiven Religionen stellt sich wie folgt dar:

179  Gegen Schröder, nach dessen Ansicht Schleiermacher in den Reden im Unterschied zur Glaubenslehre „noch nicht ein Stufungsverhältnis […] von Religion“ behauptet (Schröder, „Das ‚unendliche Chaos‘“, 600). Die Position Schröders vertraten vor ihm bereits Wehrung und Piper (Piper, Das religiöse Erlebnis, 102). Wehrung zufolge sind Schleiermachers Beschreibung der unendlichen Individuation der positiven Religionen einerseits und sein Vorhaben eines hierarchisierenden religionstheologischen Einteilungsschemas andererseits miteinander unverträglich (vgl. Wehrung, Standpunkt, 52 f.). Treffender hat Süskind das Verhältnis beider Anschauung beschrieben. Vgl. dazu Süskind, Christentum und Geschichte, 11: „Die R. ü. d. Rel. haben für eine Untersuchung der geschichtsphilosophischen Behandlung des Christentums bei Schleiermacher in doppelter Hinsicht ein grundlegendes Interesse. Es ist erstens der evolutionistische Grundgedanke seiner Welt- und Geschichtsanschauung, der hier klarer ausgesprochen und besonders in seinen Konsequenzen für die Auffassung des Christentums strenger durchgeführt wird als in allen späteren Äußerungen. Zweitens ist es die Idee der Individualität, die schon in den Reden, ja hier besonders deutlich, das teleologische Prinzip von Schleiermachers Geschichtsanschauung in charakteristischer Weise durchkreuzt“. Dies wird von Süskind schließlich dahingehend präzisiert, „daß die Behauptung von Stufen- und Wertunterschieden durch den Gedanken der Individualisation nicht ausgeschlossen, sondern mit ihm vielmehr gegeben ist.“ (A.a.O., 18). 180  KGA I/2, 244,13.

390

Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

Erstens lassen sich ihm zufolge die positiven Religionsgemeinschaften hierarchisch in über- bzw. untergeordnete Bildungs- oder Entwicklungsstufen ein­teilen. Als Kriterium dieser Entwicklungsstufung gilt die Fähigkeit einer Religionsgemeinschaft, ein klares Bewusstsein vom Verhältnis zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen auszubilden, was sowohl die qualitative Unterscheidung zwischen beiden Bereichen als auch die Gesetzmäßigkeit ihrer Bezogenheit aufeinander beinhaltet. Je höher die Entwicklungsstufe einer Religion, desto klarer wird zwischen dem Bereich des Unendlichen und dem Bereich des End­ lichen unterschieden und desto umfassender identifiziert sich in ihnen der Glaubende mit allem übrigen Endlichen und setzt sich mit dem Endlichen insgesamt in ein Verhältnis zum Unendlichen. In der Entwicklungsstufe werden somit die religiöse Bewusstseinserweiterung und Bewusstseinserhebung im Rahmen ihrer bestimmten Klarheit und Deutlichkeit aktualisiert. Die Reden bringen diese Entwicklungsstufung in der Weise zum Ausdruck, dass sie die Religionsgemeinschaften danach hierarchisieren, ob in ihnen das Universum als verworrene Einheit181, als bestimmte Vielheit182 oder als systematische Allheit183 angeschaut wird. Diese drei Stufen stellen als Gliederungsmerkmale einerseits fraglos begriffliche Abstraktionen dar. Sie sind, wie Schleiermacher in seiner 5. Rede bemerkt, „in der That nichts anders als eine gewöhnliche und überall wiederkommende Eintheilung des Begrifs der Anschauung.“184 Die späteren Auflagen der Reden sprechen in diesem Bezug von dem „Schema von Einheit, Vielheit und Allheit“.185 Dieses Einteilungsschema kann weder den Entwicklungsdynamiken innerhalb einer positiven Religion noch den möglichen Fällen von entwicklungstheologischen Grenzgängern zwischen zwei Stufen vollkommen gerecht werden. Andererseits besteht die Stärke von Schleiermachers religionstheologischem Einteilungsschema darin, anhand eines immanentem Kriteriums, nämlich der Anschauung des Universums, grundsätzliche Aussagen über den allgemeinen Entwicklungsgang der positiven Religionen zu treffen. Dies gelingt Schleiermacher, indem er seine Einteilung in die religiösen Entwicklungsstufen mit der 181 Vgl. KGA I/2, 244,18–24: „Das Universum stellt sich in seinen Handlungen dem rohen Menschen, der nur eine verwirrte Idee vom Ganzen und Unendlichen hat […] als eine Einheit dar, in der nichts mannigfaltiges zu unterscheiden ist, als ein Chaos gleichförmig in der Verwirrung, ohne Abtheilung, Ordnung und Gesez, woraus nichts einzelnes gesondert werden kann, als indem es willkürlich abgeschnitten wird in Zeit und Raum.“ 182  Vgl. KGA I/2, 244,28 ff.: „Auf der andern Stufe der Bildung stellt sich das Universum dar als eine Vielheit ohne Einheit, als ein unbestimmtes Mannigfaltiges heterogener Elemente und Kräfte, deren beständiger Streit seine Erscheinung bestimmt.“ 183  KGA I/2, 245,5 ff.: „Nun laßt uns höher steigen, dahin wo alles streitende sich wieder vereinigt, wo das Universum sich als Totalität, als Einheit in der Vielheit, als System darstellt“. 184  KGA I/2, 302,3 f. 185  KGA I/12, 263,23.

§  11  Religionstheologische Einteilung

391

allgemeinen Selbstbewusstseinsentwicklung des Menschen koppelt. Weil Religion nach Schleiermacher ein wesentliches Element des menschlichen Gemütsensembles darstellt, so ist religiöse Bildung ein konstitutives Moment der menschlichen Selbstbewusstseinsentwicklung und erfolgt dementsprechend nach ihren allgemeinen Gesetzmäßigkeiten. Auf diese Weise korrespondiert nach Schleiermacher einer bestimmten Selbstbewusstseinsgestalt der Menschheit eine bestimmte Entwicklungsstufe der Religion. Folglich gilt nach Schleiermacher: [Eine religiöse] Grundanschauung grade im Centrum der Religion zu sehen dazu gehört nicht nur eine bestimmte Richtung des Gemüths; sondern auch eine bestimmte Lage der Menschheit, in welcher ja bis jetzt allein das Universum eigentlich angeschaut werden kann. Hat diese ihren Kreis durchlaufen, ist die Menschheit so weit fortgerükt auf ihrer Bahn, daß sie nicht mehr wiederkehren kann: so ist auch jene Anschauung, ihrer Würde als Grundanschauung entsezt, und die Religion kann in dieser Gestalt nicht mehr existieren. Mit allen kindischen Religionen aus jener Zeit wo es der Menschheit am Bewußtsein ihrer wesentlichen Kräfte fehlte, ist dies längst schon der Fall.186

Demnach besagt also die „verworrene Einheit“ der untersten Stufe religiöser Entwicklung, dass in ihr, wie generell im nebulösen Selbstbewusstsein bei einem Kind, noch nicht klar zwischen der sinnlichen und religiösen Wirklichkeits­ dimension unterschieden wird, sondern diese noch verworren ineinander ­l iegen.187 Auf der mittleren Entwicklungsstufe der „bestimmten Vielheit“ treten, wie generell im kontrastierenden Selbstbewusstsein bei einem Jugendlichen, die sinnliche und religiöse Wirklichkeitsdimension auseinander und drohen in einen Dualismus abzugleiten.188 Auf der höchsten Entwicklungsstufe der „systematischen Allheit“, wird, wie bei dem vereinenden Selbstbewusstsein eines Erwachsenen, das Universum klar und deutlich als wahres Unendliches aufgefasst, welches als Alles bestimmende Wirklichkeit den Grund alles Endlichen bildet und die Totalität alles Endlichen in sich befasst.189 Zweitens lassen sich die so eingeteilten Stufen Schleiermacher zufolge wiederum nach Arten spezifizieren, wodurch die Religionen einer bestimmten gemeinsamen Stufe nun einander koordiniert werden können. Das Kriterium zur Arteinteilung der Religionen ergibt sich daraus, auf welche Weise das religiös angeschaute Universum von der menschlichen Fantasie vorgestellt wird. Weil das Universum grundsätzlich als lebendige Unendlichkeit erfahren wird, gibt es nach Schleiermacher zwei Vorstellungsmöglichkeiten: Entweder wird das Universum als beseelte Unendlichkeit vorgestellt, dann stellt sich die Religionsgemeinschaft einen Gott vor und ist folglich personalistisch ver186 

KGA I/2, 324,4–12 (kursiv, C. K.). KGA I/2, 252,27–35. 188  Vgl. KGA I/2, 252,36–253,2. 189  Vgl. KGA I/2, 244,18–245,7. 187 

392

Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

fasst. Oder aber das Universum wird als lebendige, aber unbeseelte Unendlichkeit vorgestellt, dann stellt sich die Religionsgemeinschaft das Universum im Sinne einer natura naturans vor und gehört der pantheistischen Art an.190 Diese zwei Arten sich das lebendige Universum mittels der religiösen Fantasie vorzustellen, gilt für alle drei Entwicklungsstufen. Es zeigt sich in ihnen jedoch jeweils spezifisch modifiziert: Auf der untersten Entwicklungsstufe der Religion ist zwar das Bewusstsein für eine höhere Dimension der Wirklichkeit bzw. eine unbezwingbare, setzende Macht gegeben, sonst könnte sie nicht als Religion bestimmt werden. Diese setzende Macht wird aber aufgrund des Selbstbewusstseinsdefizits dieser Entwicklungsstufe entweder als vollkommen unbestimmt erfahren und deswegen als „blindes Geschick“191 vorgestellt. Oder die setzende Macht wird rudimentär als personal wahrgenommen und aufgrund der fehlenden klaren qualitativen Unterscheidung zwischen endlicher und unendlicher Wirklichkeitsdimension fälschlicherweise mit einem zuhandenen Endlichen identifiziert, wodurch statt eines Gottes, nur ein „Göze, ein Fetisch“192 vorgestellt wird.193 Die religiöse Fantasie der Menschen auf der untersten religiösen Entwicklungsstufe korrespondiert mit dem Stand ihrer defizitären allgemeinen Selbstbewusstseinsbildung und agiert dementsprechend im Rahmen entweder einer extremen Unbestimmtheit des Universums oder aber einer krassen Fehlidentifikation des Unendlichen mit einem bestimmten Endlichen. Auf der mittleren Entwicklungsstufe des religiösen Sinns besteht nach Schleiermacher das Bewusstsein einer höheren setzenden Macht, die sich im und gegen den endlichen Bereich Geltung verschafft. Diese vom Endlichen als unbezwingbar erfahrene höhere Setzungsmacht wird allerdings distinkt an einem bestimmten Endlichen erfahren und bleibt daher an diese bestimmte Erfahrung gebunden. Die Bewusstseinserweiterung und -erhebung bleiben nach Schleier­ macher demzufolge auf der mittleren religiösen Entwicklungsstufe eingeschränkt und werden nicht auf alle Bereiche des Endlichen insgesamt ausgedehnt. Aus diesem Grunde werden auch von der religiösen Fantasie bestimmte höhere Setzungsmächte angenommen und die religiöse Wirklichkeitsdimension als von mehreren höheren Mächten bzw. Göttern bevölkert erfahren. Weil die religiöse Entwicklung auf dieser Stufe auf dem Bewusstsein der relativen Entgegensetzung zwischen phänomenaler und transphänomenaler Wirklichkeitsdimension stehen bleibt, werden diese höheren transphänomenalen Kräfte entweder als a-personale in vielfachem Widerstreit sich befindende notwendige 190 

KGA I/2, 245,11–30. KGA I/2, 244,24 f. 192  KGA I/2, 244,26. 193  KGA I/2, 244,24ff: „Ohne den Drang es zu beseelen, repräsentiert ihm ein blindes Geschick den Charakter des Ganzen; mit diesem Drang wird sein Gott ein Wesen ohne bestimmte Eigenschaften, ein Göze, ein Fetisch“. 191 

§  11  Religionstheologische Einteilung

393

Naturkräfte angesehen, oder aber als ein, mit den menschlichen Willensbestrebungen in Analogie stehender, vielfältiger Chor widerstreitender göttlicher Willensanstrengungen betrachtet: Nicht ein blindes Geschik bezeichnet seinen Charakter, sondern eine motivirte Noth­ wendigkeit […]. Wird zu diesem Universum die Idee der Gottheit gebracht, so zerfällt sie natürlich in unendlich viele Theile, jede dieser Kräfte und Elemente, in denen keine Einheit ist, wird besonders beseelt, Götter entstehen in unendlicher Anzahl.194

Auf der höchsten Stufe der Entwicklung des religiösen Sinns besteht nach Schleier­m acher die erwachsene Einsicht in der klaren qualitativen Unterscheidung zwischen der sinnlichen und der religiösen Wirklichkeitsdimension und der grundsätzlichen Gewissheit, dass die religiöse Wirklichkeitsdimension sich einheitlich über den gesamten sinnlichen Bereich erstreckt, weil sie diesen in sich begründend enthält. Aus diesem Grund wird die phänomenal erfahrene transphänomenale Setzungsmacht als lebendiges Universum angeschaut, d.h. in seiner wahren Unendlichkeit als Alles bestimmende Wirklichkeit bzw. als der „ewige und Alles bildende Weltgeist“195 erfasst. Die religiöse Fantasie erschließt sich dieses lebendige Universum folglich als „Eins und Alles“196 , und zwar entweder mit Blick auf die Natur als a-personale Totalität und a-personalen Grund allen Seins auf eine lebendig-pantheistische Weise im Sinne einer untrennbar-einheitlichen Schöpfungskraft am Grunde allen Seins, d.h. als natura naturans. Oder aber mit Blick auf die Geschicke und Geschichte der Menschheit auf lebendig-personalistische Weise als untrennbar-einheitliches freies Wesen höherer Art, d.h. als Gott. Drittens: Die Bestimmung einer positiven Religion und ihre Einordnung in das religionstheologische Einteilungsschema erfolgt nach Schleiermacher über ihre Zentralanschauung, die das principium individuationis einer jeden Religionsgemeinschaft darstellt. Wie gezeigt, besteht das Wesen einer religiösen Zentralanschauung darin, dass mit ihr eine bestimmte religiöse Anschauung in das Zentrum der Religion gestellt ist, von welcher ausgehend sämtliche anderen religiösen Anschauungen ihre Farbe und ihren Ton erhalten, d.h. auf charakteristische Weise das „Bewußtsein des Menschen von seiner Stellung in dem Ganzen und seinem Verhältnis zu dem Ewigen“ zum Ausdruck gebracht wird.197 Dieser Zentralanschauung korrespondiert ein Zentralgefühl, welches aber von Schleiermacher nur im Christentum explizit benannt wird.198 Man kann grundsätzlich festhalten: Schleiermachers religionstheologisches Einteilungsschema verbindet eine dreifache vertikale Einteilung der aufsteigen194 

KGA I/2, 244,31–38. KGA I/2, 294,7. Vgl. auch KGA I/12, 140,12–29. 196  KGA I/2, 245,8. 197  KGA I/12,283,10 ff. 198  KGA I/2, 320,12–22. 195 

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Viertes Kapitel:  Der Religionsbegriff und die Vielfalt der Religionen

den religiösen Entwicklungsstufen mit einer zweifachen horizontalen Einteilung der religiösen Arten. In dieses Sechsfächer-Schema können alle positiven Religionen nach Maßgabe ihrer religiösen Anschauungen klassifiziert und eingeordnet werden. Mittels ihrer religiösen Zentralanschauung können sie darauf hin individuell-eindeutig voneinander unterschieden werden. 2.  Das religionstheologische Einteilungsschema Die folgende Tabelle präsentiert das soeben beschriebene religionstheologische Einteilungsschema der Reden: 199

Religiöse Entwicklungsstufe

Religionsart Pantheistisch/Personalistisch

Systematische Allheit

natura naturans

monotheistisch

Bestimmte Vielheit

motivierte Notwendigkeit

polytheistisch

Verworrene Einheit

blindes Geschick

fetischistisch

199 

Siehe KGA I/2, 316, 29–34.

Religiöses Individual­ prinzip (religiöse Zentralanschauung) z.B. „Erlösung“199

Fünftes Kapitel

Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte Im Folgenden werden Schleiermachers religionstheologische Grundansichten zur Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte im Rahmen seiner Darstellung des Judentums (§ 12) und des Christentums (§ 13) aufgezeigt.

§ 12  Judentum In seiner Darstellung des Judentums beschreibt Schleiermacher zunächst die religiöse Zentralanschauung des Judentums (1.). Aus dieser ergeben sich sowohl der spezifische religiöse Stoff als auch die charakteristische religiöse Form des Judentums (2.). Aus der Bestimmung der religiösen Form des Judentums ergibt sich schließlich Schleiermachers religionstheologische These von der zeitlichen Begrenztheit der jüdischen Zentralanschauung als religiöse Zentralanschauung (3.). 1.  Die religiöse Zentralanschauung des Judentums Zu Beginn seiner Darstellung und Analyse des Judentums weist Schleiermacher darauf hin, dass das Wesen der jüdischen Religion nicht mit den seines Erachtens korrumpierten politischen und sakralen Institutionen des Judentums verwechselt werden darf:1 Nehmt einmal alles Politische, und so Gott will, Moralische hinweg, wodurch er [der sog. Judaismus, C. K.] gemeiniglich charakterisiert wird; vergeßt das ganze Experiment den Staat anzuknüpfen an die Religion […]; vergeßt daß das Judenthum gewißermaßen 1 Zu dieser abgrenzenden Charakterisierung vgl. auch Rohls, „Das Christentum“, 64,7–21; von Scheliha, A., „Schleiermachers Deutung von Judentum und Christentum in der fünften Rede ‚Über die Religion‘ und ihre Rezeption bei Abraham Geiger, in: Christentum und Judentum, 213–227; Pickle, J. W., „Schleiermacher on Judaism“, Journal of Religion 60/2 (1980), 115–137, hier: 120: „Schleiermacher’s critique begins with the repudiation of a coopting subordination of Judaism to Christianity. He then directly excludes the standard ways of critizising Judaism as superficial: political and moral caricature (that Judaism is an alien state and its nationals observe alien ethical practices), the inseparabilty of religion and nationality (presumed to be grounded in Davidic theocracy), the tribal character of both nationality and priesthood. He neither denies nor criticizes these arguments as anti-Semitic (which they clearly are); he excludes them as irrelevant. They are irrelevant to the religious genius of Judaism and must be excluded for the same reasons developed in the first and second speeches for moving beneath the surface appearances to the essential of all religion – piety.“

396

Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

zugleich ein Orden war, gegründet auf eine alte Familiengeschichte, aufrecht erhalten durch die Priester; seht bloß auf das eigentlich religiöse darin, wozu dies Alles nicht gehört, und sagt mir, welches ist die überall hindurchschimmernde Idee des Universums? 2

Nach Schleiermacher bildet ausschließlich die religiöse Zentralanschauung, obwohl mittlerweile „gänzlich verschüttet“3 und durch heteronome Interessen verdrängt, das „eigentliche Religiöse“4 im Judentum.5 Diese jüdische Zentralanschauung bestimmt er als die 2  KGA

I/2, 315,3–10. KGA I/2, 315,1. 4  KGA I/2, 315,9. 5  In dieser Charakterisierung und Unterscheidung zwischen einem inneren, wahrhaften religiösen Kern des Judentums und einer äußerlichen, uneigentlichen Gestalt desselben unterscheidet sich Schleiermachers Beschreibung eindeutig von Kants prominenter Darstellung des Judentums. Kant zufolge sind religiöser Gehalt und religiöse Gestalt des Judentums ununterscheidbar. Demgemäß hält er in seiner Religionsschrift fest, dass aus dem jüdischen Glauben, als dem Inbegriff statutarischer Gesetze, d.h. äußerer Zwangsgesetze, direkt der grundsätzlich politische und weltlich-partikulare Zuschnitt des Judentums insgesamt folgen. Statutarischer Glaubensgehalt und politische Gemeinschaftsgestalt verweisen nach Kant im Judentum notwendig aufeinander. Dieser angenommene wechselseitige Verweisungszusammenhang zwischen legalistischer statt moralischer Gesinnung auf der einen Seite und politisch-partikularer statt vernünftig-universaler Gesetzesauffassung auf der anderen Seite bildet schließlich die Basis für Kant, dem Judentum den Status als Religion überhaupt abzusprechen: „Der jüdische Glaube ist seiner ursprünglichen Einrichtung nach ein Inbegriff statutarischer Gesetze, auf welchem eine Staatsverfassung gegründet war; denn welche moralische Zusätze entweder damals schon oder auch in der Folge ihm angehängt worden sind, die sind schlechterdings nicht zum Judenthum als einem solchen gehörig. Das letztere ist eigentlich gar keine Religion, sondern bloß eine Vereinigung einer Menge Menschen, die, da sie zu einem besonderen Stamm gehörten, sich zu einem gemeinsamen Wesen unter bloß politischen Gesetzen, mithin nicht zu einer Kirche formten; vielmehr sollte es bloß ein weltlicher Staat sein, so daß, wenn dieser etwa durch widrige Zufälle zerrissen worden, ihm noch immer der (wesentlich zu ihm gehörige) politische Glaube übrig bliebe, ihn (bei Ankunft des Messias) wohl einmal wiederherzustellen. Daß diese Staatverfassung Theokratie zur Grundlage hat (sichtbarlich eine Aristokratie der Priester oder Anführer, die sich unmittelbar von Gott ertheilter Instructionen rühmten), mithin der Name von Gott, der doch hier bloß weltlicher Regent, der über und an das Gewissen gar keinen Anspruch thut, macht sie nicht zu einer Religionsverfassung.“ (Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI, 125.) Zu weiteren Beschreibungen des Judentums bei Kant vgl. Stangneth, B., „Antisemitische und antujudaistische Motive bei Immanuel Kant? Tatsachen, Meinungen, Ursachen“, in: H. Gronke, /T. Meyer/B. Neißer (Hgg.), Antisemitismus bei Kant und anderen Denkern der Aufklärung. Prämierte Schriften des wissenschaftlichen Preisausschreibens ‚Antisemitische und antijudaistische Motive bei Denkern der Aufklärung‘, Würzburg 2001, 77–118; Grove, P., „Immanuel Kant: Judentum und Vernunftreli­ gion“, in: Christentum und Judentum, 177–189, hier: 168 Der entscheidende Unterschied zwischen Schleiermacher und Kant besteht somit erstens darin, dass die von beiden angenommene legalistische und politische Dimension des Judentums bei Kant notwendiger Ausdruck des ursprünglichen jüdischen Glaubens ist, bei Schleiermacher jedoch die Manifestation der korrumpierten jüdischen Zentralanschauung bildet, die ihres „schönen kindlichen Charakters“ (KGA I/2, 314,43, kursiv, C. K.) beraubt, bereits ihren inneren wahrhaft religiösen Kern eingebüßt hat. 3 

§ 12  Judentum

397

Idee […] von einer allgemeinen unmittelbaren Vergeltung, von einer eigenen Reaktion des Unendlichen gegen Jedes einzelne Endliche, das aus der Willkür hervorgeht, durch ein anderes Endliches, das nicht als aus der Willkür hervorgehend angesehen wird.6

Anhand dieser Beschreibung der religiösen Zentralanschauung des Judentums lässt sich sowohl seine individuelle Eigentümlichkeit als auch ihre Einordnung in das religionstheologische Schema vornehmen: Zweitens weist das Zitat bereits auf Kants Ansicht hin, dass nur durch eine moralische Läuterung das Judentum zu einer Religion zu werden vermag und folglich das eigentliche Religiöse am Judentum die späteren moralischen Zusätze, z.B. durch Autoren der Auf klärungszeit wie Moses Mendelssohn, darstellen. (Vgl. hierzu auch die Hinweise bei Grove, „Immanuel Kant“, 185: Kant, Briefwechsel, AA XXIII, 443 f.; ders., Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI, 166) Auch in dieser Hinsicht steht Schleiermacher mit seiner Kritik an der natürlichen Religion bzw. der „Vernunftreligion“ (KGA I/2, 309,12) im entschiedenen Gegensatz zu Kant. Gerade die moralischen Zusätze stellen ihm zufolge das Verhängnis des Judentums dar, wodurch es seinen Status als Religion im eigentlichen Sinne zu verlieren droht. Drittens unterscheiden sich Schleiermacher und Kant auch hinsichtlich ihrer Diagnose von der Zukunft des Judentums. Nach Kant besteht die Zukunft des Judentums darin, durch eine Läuterung von allem historischen Gehalt allererst zu einer vernunftgemäßen Religion zu werden: „Die Euthanasie des Judenthums ist die reine moralische Religion mit Verlassung aller alten Satzungslehren.“ (Kant, Der Streit der Fakultäten, AA VII, 52 f.) Dabei ist, wie Grove festhält, zu bedenken, dass bei Kant mit dem Ausdruck „Euthanasie“ hier nicht „von aktiver lebensverkürzender Sterbehilfe seitens eines Anderen die Rede ist. […] ‚Euthanasie‘ bedeutet noch zur Zeit Kants einen leichten, schönen Tod ohne äußere Einwirkung“. (Grove, „Immanuel Kant“, 186. Grove richtet sich mit dieser Interpretation explizit gegen Stangneth, „Antisemitische und antujudaistische Motive bei Immanuel Kant? “, 11–124; Rose, P., „The German-Jewish Question: Revolutionary Antisemitism in Germany from Kant to Wagner“, Princeton 1990; Newman, A., „The Death of Judaism in German Protestant Thought from Luther to Hegel“, in: Journal of the American Academy of Religion 61/3 (1993), 455–485 und Rotenstreich, N., The Recurring Pattern. Studies in Anti-Judaism in Modern Thought, London 1963) Nach Kant stellt der Übergang des Judentum in die eine, alle Religionen umfassende, moralische Vernunftreligion zugleich das Ende des historischen Judentums als auch dessen einzige Möglichkeit zur religiösen Sachhaltigkeit dar. So drastisch formuliert, wie der Gedanke dahinter bei Kant tatsächlich ist: Das Judentum beweist in dem von ihm selbst herbeigeführten eigenen Untergang sein wahrhaft religiöses Wesen (Vgl. dazu auch Kant, Streit der Fakultäten, AA VII, 80 f.) Auch hierin unterscheidet sich Schleiermacher deutlich von Kants Auffassung. Schleiermacher zufolge besitzen die religiösen Zentralanschauungen, vereinfacht gesprochen, eine bestimmte religiöse Halbwertszeit, d.h., ihr Wahrheitsgehalt ist auch an bestimmte weltgeschichtliche Faktoren gebunden. Wenn sich diese Faktoren verändern, können die religiösen Zentralanschauungen ihren Wahrheitsgehalt verlieren. Diesen Verlust versuchen Schleiermacher zufolge die positiven Religionen unbewusst durch Verbindung mit anderen Gemütskräften zu kompensieren. Deswegen ist, auf das Judentum angewendet, seine Verbindung mit den politischen und moralischen Gemütskräften keine Läuterung zur Religion im Kantischen Sinne, sondern vielmehr Ausdruck seiner anwachsenden Religionslosigkeit. So direkt gesagt, wie Schleiermacher es meint: Das Judentum erweist sein religiöses Wesen nicht darin, dass es sich, wie Kant es sieht, moralisch selbst läutert, sondern vielmehr darin, dass es sich seiner unabwendbaren religiösen Begrenztheit bewusst wird und auf die Erlösung von sich selbst harrt und hofft (vgl. dazu auch KGA I/12, 303,8–14). 6  KGA I/2, 315,10–14.

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Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

Erstens handelt es sich im Judentum um eine Religion der höchsten Entwicklungsstufe, d.h. um eine systematische Religion. Dies folgt daraus, dass zum einen im Judentum eine deutliche Distinktion zwischen dem Bereich des Unendlichen und dem Bereich des Endlichen gezogen wird, d.h. die religiöse Bewusstseinserhebung fortgeschritten entwickelt ist. Zum anderen bezieht sich die religiöse Bewusstseinserweiterung im Judentum dem eigenen Anspruch nach auf das Endliche insgesamt, weil ihre religiöse Zentralanschauung sich auf die ewige Gesetzmäßigkeit einer „allgemeinen Vergeltung“ bezieht, die sich ausnahmslos „gegen Jedes einzelne Endliche“ richtet. Im Judentum ist folglich nach Schleiermacher das religiöse Bewusstsein zur Wahrnehmung des wahren Unendlichen herangereift. Zweitens handelt es sich im Judentum der Art nach um eine personalistische Religion, da sie sich das Universum als beseelt vorstellt, d.h. einen Gott annimmt. Darüberhinaus zeigt Schleiermacher mit seiner Beschreibung auf, dass es sich im Judentum um eine geschichtliche Religion handelt, weil sie sich auf das Handeln von Gott und den einzelnen menschlichen Personen in und mit der Welt bezieht. Drittens ist an der jüdischen Zentralanschauung entscheidend, dass sie sich das Verhältnis zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen in Form eines universalen, unmittelbaren und indirekten göttlichen Vergeltungshandelns vorstellt: Universal ist das göttliche Vergeltungshandeln im Judentum, weil es sich ausnahmslos auf alle menschlichen Handlungen bezieht. Es kann nach Schleier­ machers Auffassung im Judentum folglich keine wertneutralen Handlungen geben, d.h. solche Handlungen, auf die Gott weder belohnend noch bestrafend rea­g iert. Schleiermacher zufolge ist das Judentum allgemein durch das Bewusstsein einer göttlichen Pädagogik gekennzeichnet.7 7  Hiermit rückt Schleiermacher Beschreibung des Judentums insbesondere in die Nähe von Lessings theologischem Hauptwerk Die Erziehung des Menschengeschlechts, in dem es Lessing zentral um die Beschreibung der Religionsgeschichte als der Geschichte göttlicher Erziehung durch Offenbarung geht: „Erziehung ist Offenbarung, die dem einzeln Menschen geschieht: und Offenbarung ist Erziehung, die dem Menschengeschlechte geschehen ist, und noch geschieht.“ (Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, LW 8, §  2 ) Trotz aller auch im Folgenden noch aufzuzeigenden Gemeinsamkeiten zwischen Lessings und Schleiermachers Beschreibung des Judentums und sogar der Ähnlichkeit ihrer Reli­ gionstheorie insgesamt muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass ein fundamentaler Unterschied zwischen beiden besteht. Nach Lessing ist die Religion, ganz im Sinne der Auf klärung, als ein prinzipiell moralisches Phänomen dem Leistungsbereich der praktischen Vernunft des Menschen zuzuordnen. Deswegen stellen die moralische Selbsterziehung der Vernunft und die religiöse Offenbarung durch Gott bei ihm auch nicht wie bei Schleier­ macher kategorial unterschiedliche Bereiche mit jeweils spezifisch voneinander verschiedenen Sachgehalten dar, sondern sie unterscheiden sich bloß hinsichtlich der Art und Weise, wie sich der in ihnen identische Sachgehalt für die menschliche Vernunft präsentiert. In §  4 der Erziehung des Menschengeschlechts wird dies ganz deutlich: „Erziehung gibt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie gibt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also gibt auch die Offenbarung dem Men-

§ 12  Judentum

399

Unmittelbar ist das göttliche Vergeltungshandeln, weil im Judentum Gott „das Einzelne im Einzelnen“8 vergilt, d.h. auf jede menschliche Handlung eine auf sie zugeschnittene Reaktion Gottes erfolgt. Gott reagiert auf spezifische Weise auf jede einzelne Handlung jedes einzelnen Menschen. Daraus folgt, dass im Judentum eine bestimmte menschliche Handlung erst dann vollständig erfasst ist, wenn Gottes vergeltende Reaktion auf diese Handlung mit einbezogen ist, denn zu jeder möglichen menschlichen Handlung gibt es eine „eigene Reaktion des Unendlichen“9.10 Hierdurch gewinnt die Vorstellung einer gött­lichen Pädagogik im Judentum an Profil: Laut Schleiermacher vollzieht sie sich nach Ansicht des Judentums nicht, wie etwa Lessing angenommen hat,11 ausschließschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und gibt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher.“ (Vgl. auch Lessing, LW 8, §§  36 und 37, wo er von dem „wechselseitigen Dienst“ von menschlicher Vernunft und göttlicher Offenbarung spricht. Ob Lessing die soeben gelieferte Interpretation in seiner Erziehungsschrift letztlich intendiert hat, wird in der Forschung in Bezug auf das Verhältnis zwischen §  4 und §  77 widersprüchlich gedeutet. Vgl. dazu: Schneider, J., Lessings Stellung zur Theologie vor der Herausgabe der Wolfenbüttler Fragmente, Diss. s-Gravenhage 1953, 7–15) Nach Schleiermacher ist es gerade das Proprium des religiösen Bewusstseins, sich selbst als Ergebnis eines unverfügbaren Erschließungshandelns des transphänomenalen Universums zu erfahren, worin notwendig die Gewissheit mit eingeschlossen ist, in der Religion im Bezug auf einen Wirklichkeitsbereich zu stehen, für den die Unerreichbarkeit durch jede menschliche Vernunftleistung konstitutiv ist. Damit ist jedoch keineswegs eine göttliche Pädagogik in der Religionstheorie der Reden überhaupt ausgeschlossen, wie es etwa Ehrhardt annimmt: „‚Die Erziehung des Menschengeschlechts‘ schildert Gottes Plan zur Erziehung des Menschen – ein Gedanke, dem Schleiermacher nicht folgen kann.“ (Ehrhardt, Ch., „‚Erwachsen‘ oder ‚kindlich‘? Religionspädagogische Aspekte des Verhältnisses Christentum/Judentum bei Schleiermacher“ in: Christentum und Judentum, 368–384, hier: 376) Vielmehr wird in den Reden deutlich, dass sich nach Schleiermacher allein der Modus dieser göttlichen Pädagogik anders gestaltet als Lessing dies (nimmt man §  4 der Erziehung des Menschengeschlechts als Maßstab) angenommen hat. Statt einer bloß beschleunigten Vernunfterziehung handelt es sich nach Schleiermacher bei der göttlichen Pädagogik um ein der endlichen Rationalität der Menschheit letztlich entzogenes Entwicklungsgeschehen des religiösen Bewusstseins (ausführlicher siehe dazu in der vorliegenden Arbeit das Schlusskapitel). Vgl. zum Verhältnis zwischen Lessing und Schleiermacher auch den kurzen Hinweis bei Wehrung, Schleiermacher in der Zeit seines Werdens, 187 und die ausführliche Darstellung bei Beckman, K., Die fremde Wurzel. Altes Testament und Judentum in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2002, 43–51. Vgl. zu Lessings Verständnis des Judentums allgemein: Dane, G. „Gotthold Ephraim Lessings Verständnis des Judentums“, in: Christentum und Judentum, 157–176. 8  KGA I/2, 315,20. 9  KGA I/2, 315,12 (kursiv vom Autor). 10 Vgl. hierzu Hirsch, Geschichte IV, 534 (kursiv, C. K.): „Als Grundanschauung der Religion [des Judentums, C. K.] erscheint ihm das Verstehen des Universums unter der Idee der Vergeltung: alles willensmäßig bedingte und insofern zurechenbare Tun des Menschen hat Lohn und Strafe in dieser Welt zur Folge. Freie Handlungen des Menschen und unmittelbare freie Rückwirkungen der Gottheit darauf verknüpfen sich in einem unablässigen Wechsel zu einer Art Zusammenhang des Lebens.“ 11 Vgl. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, LW 8, §  8 : „Da er [Gott, C. K.] aber einem jeden einzelnen Menschen sich nicht mehr offenbaren konnte, noch wollte: so wählte er

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Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

lich an der jüdischen Religionsgemeinschaft insgesamt, sondern vielmehr auch an jedem einzelnen religiösen Individuum für sich genommen. Indirekt ist dieses göttliche Vergeltungshandeln, zum einen weil Gott in der jüdischen Religion nicht als eigenständiger Akteur, sondern nur in „Reac­ tion“12 zu menschlichen Handlungen auftritt, d.h. seine Taten bloß als Folge des menschlichen Handelns angesehen werden.13 Demgemäß besteht Gottes gesamtes Wirken ausschließlich darin, der jeweiligen menschlichen Handlung entsprechend „Glück und Unglück“14, Belohnung und Strafe auszuteilen. Den Maßstab des göttlichen Handelns bildet das „alte Gesetz“15, worunter Schleier­ macher, wie er in der Glaubenslehre später festhält, im eigentlichen Sinne die „mosaischen Institutionen“16 versteht, d.h. die Gesetze der Thora. Zum anderen ist das göttliche Vergeltungshandeln im Judentum indirekt, weil Gott nicht in eigener Person auf eine menschliche Handlung reagiert, sondern sich dazu eines „anderen Endlichen“17 bedient. Die Handlungen dieser von Gott in Anspruch genommenen endlichen Instanzen werden daher „nicht als aus der [eigenen] Willkür hervorgehend angesehen“18 , denn sie werden von Gott für sein eigenes Vergeltungshandeln instrumentalisiert. Aus der bisherigen Beschreibung lässt sich somit entnehmen, dass sich Schleiermachers Vorstellung der jüdischen Zentralanschauung als einer göttlichen Pädagogik präzise im Rahmen einer Konzeption des innerweltlichen Tun-Ergehen-­ Zusammenhangs bewegt.19 In seiner späten Leben-Jesu-Vorlesung fasst er diesen Gedanken in deutlicher Kontinuität zu seinen Reden folgendermaßen zusammen: Jenes durch die ganze alttestamentliche Darstellung hindurchgehende Element ist nemlich das der Nemesis, daß die Befolgung des göttlichen Willens belohnt wird und der

sich ein einzelnes Volk zu seiner besondern Erziehung; und eben das ungeschliffenste, das verwildertste, um mit ihm ganz von vorne anfangen zu können.“ 12  KGA I/2, 315,12. 13 Osthövener beschreibt dieses Verhältnis formal sachgerecht als „unendlich iterierte Oszillation von Wirkung und Gegenwirkung“, Östhövener, C., „Das Christentum als Erlösungsreligion“, in: 200 Jahre „Reden über die Religion“, 685–697, hier: 691. 14  KGA I/2, 315,15. 15  KGA I/2, 316,13. 16  KGA I/13.1, 103,1 f. 17 Ebd. 18  KGA I/2, 315,13 f. 19  Vgl. zum modernen Verständnis des Tun-Ergehen-Zusammenhangs einschlägig Koch, K., „Gibt es ein Vergeltungsdogma im Alten Testament?“, in: ders., Spuren des hebräischen Den­ k­ ens. Beiträge zur alttestamentlichen Theologie. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, hrsg. v. B. Janowski/ M. Krause, Neukirchen-Vluyn 1991, 3–24; Janowski, B., „Die Tat kehrt zum Täter zurück. Offene Fragen im Umkreis des ‚Tun–Ergehen–Zusammenhangs‘“, in: ders., Die rettende Gerechtigkeit, Neukirchen-Vluyn 1999, 167–192 und mit direktem Bezug auf Schleiermacher Smend, R., „Die Kritik am Alten Testament“, in: D. Lange (Hg.), Friedrich Schleiermacher 1768–1834. Theologe – Philosoph – Pädagoge, Göttingen 1985, 106–128.

§ 12  Judentum

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Ungehorsam gegen den göttlichen Willen bestraft; nemlich belohnt durch das irdische Wohlergehen und bestraft durch das irdische Uebelergehen.20

Im Anschluss an diese Analyse lässt sich im Allgemeinen die jüdische Religion nach Schleiermacher als systematische Religion der geschichtlich-personalistischen Art charakterisieren, deren individuelle Eigentümlichkeit in der Vorstellung einer göttlichen Pädagogik besteht, welche sich in der Weise eines universalen, unmittelbaren und indirekten Tun-Ergehen-Zusammenhangs vollzieht. Dieser Interpretation zufolge müssen die Darstellungen von Wolfes und Erhardt als defizitär beurteilt werden. Wolfes ist der Ansicht, Schleiermachers Beschreibung der jüdischen Zentralanschauung läuft darauf hinaus, aus Gott einen „maschinelle[n] Schicksalsverwalter“21 zu machen. In ähnlicher Weise ist Ehr­ hardt der Meinung, Schleiermachers Darstellung zufolge sei das Judentum durch ein prinzipielles und unüberwindbares Unverständnis gegenüber den göttlichen Handlungen charakterisiert: Das einzelne Endliche, der Mensch, muss diese Reaktionen des Unendlichen als willkürliche Handlungen erleben, denen er hilflos ausgeliefert ist. Sie entziehen sich seiner Einflussnahme und seinem Verständnis. Gott wird als fernes Gegenüber erfahren, mit dem eine Versöhnung oder gar Vereinigung nicht möglich ist. […] Gott reagiert auf den Menschen und zwar ‚belohnend, strafend, züchtigend‘ […], aber es ist dem Menschen verwehrt, in eine Beziehung zu Gott zu treten, die auf wechselseitigem Austausch beruht.22

Beide Interpretationen verfehlen es aber, den Unterschied in Schleiermachers Beschreibung zwischen der Ursprünglichkeit der jüdischen Zentralanschauung und ihrem Niedergang wahrzunehmen. Wolfes und Ehrhardt beschreiben ausschließlich zwei Niedergangsphänomene der jüdischen Zentralanschauung, wel­ che daraus resultieren, dass die ursprüngliche Gestalt der jüdischen Zentralanschauung sich in einer sittlich pluriformen Welt als unterkomplex erweist. 20  Schleiermacher, F. D. E., Das Leben Jesu. Vorlesungen an der Universität zu Berlin im Jahr 1832, in: Schleiermachers sämmtliche Werke [=SW], SW I/6, hrsg. v. K. A. Rütenik, Berlin 1864, 300,21–26. Auch hierin weist Schleiermachers Beschreibung eine Ähnlichkeit mit Lessings Darstellung des Judentums in der Erziehung des Menschengeschlechts auf: „Ein Volk aber, das so roh, so ungeschickt zu abgezognen Gedanken war, noch so völlig in seiner Kindheit war, was war es für einer moralischen Erziehung fähig? Keiner andern, als die dem Alter der Kindheit entspricht. Der Erziehung durch unmittelbare sinnliche Strafen und Belohnungen.“ (Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, LW 8, §  16 (kursiv, C. K.)). Vergleiche auch: „Der und jener Israelit mochte freilich wohl die göttlichen Versprechungen und Androhungen, die sich auf den gesamten Staat bezogen, auf jedes einzelne Glied desselben erstrecken, und in dem festen Glauben stehen, daß wer fromm sei auch glücklich sein müsse, und wer unglücklich sei, oder werde, die Strafe seiner Missetat trage, welche sich sofort wieder in Segen verkehre, sobald er von seiner Missetat ablasse. – Ein solcher scheinet den Hiob geschrieben zu haben, denn der Plan desselben ist ganz in diesem Geiste.“ (A.a.O., §  29) 21  Wolfes, M., „Schleiermacher und das Judentum. Aspekte der antijudaistischen Motivgeschichte im deutschen Kulturprotestantismus“, Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 14 (2004), 485–510, hier: 505. 22  Ehrhardt, „‚Erwachsen‘ oder ‚kindlich‘“, 375.

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Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

Ihrer Ursprünglichkeit nach ist die Gottesvorstellung im Judentum nach Schleiermacher zum einen keineswegs unpersönlich-maschinell verfasst, sondern beinhaltet vielmehr eine nahezu unüberbietbar persönliche Vorstellung Gottes. Durch die Idee des religiösen Tun-Ergehen-Zusammenhangs wird nach Schleiermacher im Judentum das persönliche Wohlergehen jedes einzelnen Menschen an das persönliche Wohlgefallen Gottes gebunden. Gerade diese göttliche Ausrichtung auf die einzelnen Menschen und seine spezifische Reaktion auf ihre eigentümlichen Taten am Maßstab seines Willens offenbart das zutiefst innige und persönliche Verständnis des Judentums vom Verhältnis zwischen Gott und dem von ihm selbst erwählten Volk. Zum anderen ist dieses göttliche Wohlgefallen seinem Ursprung nach, nicht wie Ehrhardt interpretiert, Ausdruck einer prinzipiell unnachvollziehbaren und unergründlichen göttlichen Willkür, sondern vielmehr gilt Schleiermacher zufolge nach jüdischem Verständnis, dass Gott seinen Willen an die von ihm offenbarte Gesetzmäßigkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs bindet. Das göttliche Vergeltungshandeln ist, wenn man Schleiermachers Beschreibung folgt, im Judentum ursprünglich ein vollständig transparenter Vorgang ausgleichender und universaler Gerechtigkeit. 2.  Religiöser Stoff und religiöse Form des Judentums Nach Schleiermacher besitzt jede Religion gemäß ihrer Zentralanschauung einen bestimmten Stoff bzw. Gegenstand ihrer religiösen Betrachtung und eine bestimmte Form, welche die Art und Weise festlegt, auf die der jeweilige religiöse Gegenstand betrachtet wird. Der religiöse Stoff ergibt sich daraus, dass sowohl die Lieblingsgegend 23 einer Religion, d.h. die physische Natur, die sittliche Welt oder die Geschichte, als auch die Vorstellung von der Beseeltheit oder Unbeseeltheit des Universums durch die religiöse Zentralanschauung in einer jeweils spezifischen Hinsicht bestimmt wird. Durch die religiöse Zentralanschauung wird also die religionstheologische Kategorie der Art spezifisch modifiziert. Man kann daher auch sagen, dass sich die allgemeine religionstheologische Kategorie der Art in den positiven Religionen als jeweils eigentümlich bestimmter religiöser Stoff manifestiert. Die religiöse Form einer Religionsgemeinschaft ergibt sich daraus, auf welche bestimmte Art und Weise sich eine Religion des Verhältnisses zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen bewusst wird, d.h., wie sich einer Religionsgemeinschaft ganz konkret die chaotische Einheit, bestimmte Vielheit oder systematische Allheit des Universums darstellt. In der religiösen Form einer Religionsgemeinschaft manifestiert sich die allgemeine religionstheologische Kategorie der Entwicklungsstufe in einer jeweils eigentümlichen Hinsicht. 23 

Vgl. KGA I/2, 251,30.

§ 12  Judentum

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Die hieraus abzuleitende allgemeine These in Bezug auf Schleiermachers religionstheologische Konzeption lautet: Die religiöse Zentralanschauung einer Religionsgemeinschaft konkretisiert die allgemeine religionstheologische Art und Entwicklungsstufe einer Religion in ihrem jeweils eigentümlichen Stoff und ihrer jeweils eigentümlichen Form. Auf Grundlage dieser allgemeinen These wird deutlich, dass es sich bei den religiösen Entwicklungsstufen und Arten nicht bloß um abstrakte Konstruktionen handelt, die keinen Bezug zu den geschichtlichen Religionen besitzen, sondern sich vielmehr konkret in deren jeweiligen religiösen Zentralanschauung manifestieren. Darüberhinaus ermöglicht dieser Sachverhalt einen wertenden Vergleich der Religionen untereinander. Denn bei der Betrachtung und Beurteilung der religiösen Zentralanschauung einer positiven Religion sind die jeweilige Entwicklungsstufe und Art inkludiert. Deswegen beinhaltet die adäquate Beschreibung einer religiösen Zentralanschauung implizit ihre angemessene Bewertung im Rahmen einer Religionstheologie. Im besonderen Fall des Judentums wird nach Schleiermacher aufgrund seiner religiösen Zentralanschauung die Welt- und Individualgeschichte als persön­ licher Dialog aufgefasst. Den religiösen Stoff des Judentums bildet daher das „Gespräch […] in Wort und Tat“24 zwischen Gott und Menschheit insgesamt. Aus diesem Grunde besteht im Judentum eine Hochschätzung der eigenen Tradi­tion, welche als der „Zusammenhang dieses großen Gesprächs“25 aufgefasst wird. Im Hinblick auf die jüdische Zentralanschauung muss man sich die jüdische Tradition nach Schleiermacher als die zunächst mündliche und später schriftliche Fixierung des vom jüdischen Volk erlebten Tun-Ergehen-Zusammenhangs mit Gott vorstellen. Deswegen nimmt die Tradition in der jüdischen Religion auf der einen Seite auch die Stelle des religiösen Mittlers ein, denn es besteht laut Schleiermacher im Judentum „die Unmöglichkeit zur Religion zu gelangen als nur durch die Einweihung in diesen Zusammenhang“26. Auf der anderen Seite bildet die Tradition aufgrund ihrer essentiellen Bedeutung auch den ewigen Streitpunkt der verschiedenen jüdischen Parteiungen, die sich jeweils darum bemühen, aufzuzeigen, dass allein sie selbst im „Besitz des fortgehenden Gesprächs“27 zwischen Gott und Mensch sind. Mit seiner expliziten Hervorhebung der religiösen Bedeutung der Tradition im Judentum weist Schleiermacher darüber hinaus bereits in den Reden auf seine später ausgereifte Ansicht der Glaubenslehre hin, wonach in den nichtchrist­ lichen Religionen das Verhältnis des Religionsstifters zu den Mitgliedern der durch ihn begründeten Religionsgemeinschaft nicht die Ausschließlichkeit wie 24 

KGA I/2, 315,29 f. KGA I/2, 315,31 f. 26  KGA I/2, 315,32 ff. 27  KGA I/2, 315,35. 25 

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Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

im Christentum besitzt. Während Jesus Christus für das Christentum eine konstitutive Bedeutung besitzt, denn er allein als nicht-erlösungsbedürftig konnte die erlösende Kraft Gottes in die Welt bringen,28 so sind die Stifter sämtlicher anderer Religionen durchaus als arbiträr und ersetzbar aufzufassen.29 Deswegen hat im Judentum zwar die Person des Mose die Position des historischen Religionsstifters inne, der Inhalt des Judentums ist jedoch keineswegs in der Person des Mose beschlossen, sondern in der von ihm ausgehenden Lehre und Gesetzgebung, die ihren bestimmtesten Ausdruck erst in der jüdischen Tradi­ tion als Entfaltung des göttlichen Gesetzes gefunden hat. Aus seiner Zentralanschauung der göttlichen Vergeltung folgt für die religiöse Form des Judentums, dass sie als Weissagung bestimmt und „so vollkommen ausgebildet ist“30. Nach Schleiermacher ging diese Vollkommenheit aus dem ehrgeizigen Versuch des Judentums hervor, selbst unter den Bedingungen von dramatisch sich verändernden geschichtlichen Umständen an der eigenen religiösen Zentralanschauung festzuhalten. Ursprünglich ist die Zentralanschauung des Judentums ihm zufolge auf einen „kleinen Schauplatz ohne Verwicklung“31 bezogen gewesen, in der Gott „das Einzelne im Einzelnen“32 richtete und vergalt.33 Als das Judentum dieses „einfache Ganze“34 der „patriarchalischen Zeit“35 verließ und „auf den Schauplaz der Welt“36 geriet, wurde es aufgrund der damit eintretenden Komplexität der Handlungszusammenhänge und Widersprüchlichkeiten der Handlungsfolgen zunehmend schwieriger, Gottes universale, unmittelbare und indirekte Vergeltung, d.h. den innerweltlichen Tun-Ergehen-Zusammenhang für einzelne Taten zu erfassen. Denn „die natürlichen Folgen der Handlung“ werden jetzt durch eine Vielzahl von Akteuren „gestört oder gehindert“.37 28 

KGA I/2, 321,26–322,5. ist nun auch im Christenthum das Verhältnis des Stifters zu den Gliedern der Gemeinschaft ein ganz anderes als in jenen. Denn jene werden vorgestellt als aus dem Haufen gleicher oder wenig verschiedener Menschen gleichsam willkürlich herausgehoben, und was sie als göttliche Lehre und Ordnung empfingen nicht minder für sich empfangend als andere. Wie denn auch nicht leicht ein Bekenner jener Glaubensweise leugnen wird, Gott könnte eben so gut das Gesez durch einen Andern gegeben haben als durch Moses, und die Offenbarung könnte eben so gut durch einen Andern gegeben worden sein als durch Muhamed. Christus aber als allein und für Alle Erlöser wird allen Andern gegenüber gestellt, und wird auf keine Weise selbst irgendwann als erlösungsbedürftig gedacht, daher auch, wie die allgemeine Stimme aussagt, ursprünglich von allen andern Menschen unterschieden und mit der erlösenden Kraft von seiner Geburt an ausgestattet.“ (KGA I/13.1, 99,34–100,9 (kursiv, C. K.)) 30  KGA I/2, 315,36 f. 31  KGA I/2, 315,39. 32  KGA I/2, 315,20. 33 Vgl. Dilthey, Leben Schleiermachers, 423. 34  KGA I/2, 315,40. 35  KGA I/12, 284,28. 36  KGA I/2, 316,2. 37  KGA I/2, 315,40–316,1. 29 „Daher

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In dieser Situation versuchte das Judentum nach Schleiermacher seine reli­g iöse Zentralanschauung dadurch zu retten, dass es nicht mehr das unmittelbare geschichtliche Ergehen der handelnden Personen für die Vergeltung Gottes ansah, sondern die göttliche Reaktion unter Zuhilfenahme ihrer Fantasie antizipierte und den Geschichtsverlauf in diesem Sinne gedanklich „vorwegnahm“38 : Diese ganze Idee [der göttlichen Vergeltung im Judentum, C. K.] ist nemlich höchst kindlich, nur auf einen kleinen Schauplaz ohne Verwikelungen berechnet, wo bei einem einfachen Ganzen die natürlichen Folgen der Handlungen nicht gestört und gehindert werden: je weiter aber die Bekenner dieser Religion vorrükten auf den Schauplatz der Welt, unter die Verbindung mit mehreren Völkern, desto schwieriger wurde die Darstellung dieser Idee, und die Fantasie mußte dem Allmächtigen das Wort, welches er erst sprechen wollte, vorwegnehmen, und sich den zweiten Theil deßelben Moments, aus weiter Ferne vors Auge holen und Zeit und Raum dazwischen vernichten.39

Dieses Vorgehen entspricht dem Prinzip der religiösen Weissagung wie Schleier­ macher es am Ende seiner zweiten Rede bestimmt hat. Demnach ist eine reli­ giö­se Weissagung „jedes religiöse Vorausbilden der anderen Hälfte einer religiö­ sen Begebenheit, wenn die eine gegeben war“.40 Dieses Vorgehen erklärt den hohen Stellenwert der Weissagung in der jüdischen Religion. Denn nur durch das Instrument der Weissagung kann in einer komplexen Welt die Vorstellung von einem Gott aufrechterhalten bleiben, der Einzelnes im Einzelnen vergilt. Weissagung ist quasi das religiöse Kompensations­ mittel, um die jüdische Zentralanschauung der göttlichen Vergeltung in einer komplexen Welt am Leben zu erhalten. Somit gilt nach Schleiermacher, dass im Judentum „Weißsagung, und das Streben darnach […] nothwendig so lange noch immer eine Haupterscheinung sein [mußten], als es möglich war jene Idee [der göttlichen Vergeltung, C. K.] und mit ihr die Religion festzuhalten.“41 Das zugleich höchste Erzeugnis aber auch die „letzte mit großer Anstrengung erzeugte Frucht“42 der jüdischen Weissagung ist der Messianismus.43 Dieser besiegelt laut Schleiermacher religionstheologisch das Schicksal des Judentums, da in ihm die jüdische Religion an ihrem Wendepunkt angelangt ist: 44 38 

KGA I/2, 316,5. I/2, 315,38–316,6. 40  KGA I/2, 241,6–12. 41  KGA I/2, 316,7 ff. 42  KGA I/2, 316,9 f. 43  Hier trifft sich Schleiermacher mit den Ansichten Novalis’, demzufolge der im Exil sich bildende „Messiasglaube […] das Wesen des Judentums bis in seine eigene Zeit hinein ausmacht.“ (Kubik, A., Die Symboltheorie bei Novalis. Eine ideengeschichtliche Studie in ästhetischer und theologischer Absicht, Tübingen 2006, 323) 44 Vgl. Pickle, „Schleiermacher on Judaism“, 120 f.: „And there’s the rub. The extension of this idea beyond its originally small stage leads to legalistic casuistry and to a noble, but anachronistically conceived, messianism. The narrow, limited conception of divine-human interaction, though extended by analogy and parallelism, proved static and inflexible in the wider contact between peoples. What is left is a fossil – political association and mechanical, external activities.“ 39  KGA

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Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

Zum einen ist der Messiasglauben nach Schleiermacher das höchste Erzeugnis des Judentums, weil in ihm eine ultimative und unüberbietbare Reaktion Gottes geweissagt wird. Die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Welt soll auf diese Weise durch den göttlichen Messias wieder rückgängig gemacht werden: Durch die Unterwerfung der Völker unter das alte Gesetz sollte jener einfache Gang wieder allgemein werden in den Begebenheiten der Welt, der durch ihre unfriedliche Gemeinschaft, durch das Gegeneinandergerichtetsein ihrer Kräfte und durch die Verschiedenheit ihrer Sitten unterbrochen war.45

Von Schelihas Einschätzung korrigierend, demzufolge durch den jüdischen Messiasglauben „die Vergeltungsidee transzendiert und die apokalyptische Wiederherstellung der religiösen Grundidee imaginiert“46 wurde, muss man sagen, dass nach Schleiermacher durch den Messiasglauben die Idee der gött­ lichen Vergeltung im Judentum keineswegs transzendiert wurde. 45 KGA I/2, 316,13  ff. Den Hintergrund von Schleiermachers Überlegungen bilden höchstwahrscheinlich insbesondere die messianischen Aussagen in Jes 9,5 f.; 11,1–4 und Sach 9,10 im Folgenden zitiert nach Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Zürcher Übersetzung [=Zürcher Bibel], hrsg. v. Kirchenamt des Kantons Zürich im Auftrag der Evang.-Reformierten Kirche, Zürich 3.  Aufl. 2009. Die für Schleiermachers Beschreibung einschlägigen Stellen sind kursiv gesetzt. Jes 9,5 f.: „Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und auf seine Schulter ist die Herrschaft gekommen. Und er hat ihm seinen Namen gegeben: Wunderbarer Ratgeber, Heldengott, Vater für alle Zeit, Friedensfürst. Die Herrschaft wird größer und größer, und der Friede ist grenzenlos auf dem Thron Davids und in seinem Königreich; er gründet es fest und stützt es durch Recht und durch Gerechtigkeit von nun an für immer.“ Jes 11,1–4: „Und aus dem Baumstumpf Isais wird ein Schössling hervorgehen, und ein Spross aus seinen Wurzeln wird Frucht tragen. Und auf ihm wird der Geist des Herrn ruhen, der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Kraft, der Geist des Wissens und der Furcht des Herrn. Und er wird die Furcht des Herrn atmen, und er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, und nicht entscheiden nach dem, was seine Ohren hören: Den Machtlosen wird er Recht verschaffen in Gerechtigkeit, und für die Elenden im Land wird er einstehen in Geradheit.“ Sach 9,10: „Und er verheisst den Nationen Frieden. Und seine Herrschaft reicht von Meer zu Meer Und vom Strom bis an die Enden der Erde.“ 46  Von Scheliha, „Schleiermachers Deutung“, 217.

§ 12  Judentum

407

Dies ist nicht möglich, da die Idee der göttlichen Vergeltung die jüdische Zentralanschauung darstellt, die allen sonstigen Anschauungen im Judentum als geistiger Mittelpunkt dient. Folglich kann auch das Judentum als Judentum nur mit seiner religiösen Zentralanschauung der göttlichen Vergeltung existieren. Wäre es dem Judentum möglich, seine religiöse Zentralanschauung der gött­ lichen Vergeltung zu transzendieren, so wäre es ihm gegeben, durch die selbsttätige Änderung der eigenen religiösen Zentralanschauung, sich selbst religiös zu optimieren. Schleiermachers Argumentation der fünften Rede läuft auf das Gegenteil hinaus. Weil jede Religionsgemeinschaft auf einem eigentümlichen Erschließungsgeschehen des Universums beruht, kann prinzipiell keine Reli­ gionsgemeinschaft ihre Zentralanschauung selbsttätig ändern. Demzufolge transzendiert das Judentum im Messianismus nicht etwa die Idee der göttlichen Vergeltung, sondern, und das ist das Prekäre für das Judentum, es tritt mit seiner Vorstellung des Messianismus in einen Widerspruch zu seinen sonstigen Weissagungen und zum Prinzip der Weissagung selbst. Infolgedessen tritt es auch in einen Widerspruch zu seiner eigenen religiösen Zentralanschauung. Dies soll im Folgenden herausgearbeitet werden. Der Messiasglaube ist laut Schleiermacher nicht allein das höchste Erzeugnis, sondern zum anderen auch zugleich die letzte Anstrengung der jüdischen Religion, da diese sich im Messianismus seines Erachtens unbewusst das Scheitern ihres eigenen Versuchs eingesteht, ihre religiöse Zentralanschauung in einer komplexen Welt allein unter Zuhilfenahme der eigenen Fantasie am Leben zu erhalten. Im Messianismus tritt der Widerspruch der jüdischen Religion zu Tage, der darin besteht, an einer ultimativen Weissagung festzuhalten und zugleich mit dieser ultimativen Weissagung das Scheitern aller innerweltlichen Weissagungen insgesamt anzuerkennen. Das Bewusstsein vom Ende und Scheitern aller menschlichen Weissagung ist laut Schleiermacher nicht die Folge, sondern der paradoxe Grund der Messiasweissagung. Die Weissagung eines Messias ist nach Schleiermachers Beschreibung des ­Judentums in den Reden identisch mit dem Eingeständnis, die unmittelbaren Reaktionen Gottes unter den Bedingungen der komplexen Welt nicht mehr antizipieren zu können. Der Messianismus ist somit diejenige paradoxe Weis­sagung, deren Prinzip es ist, alle innerweltlichen Weissagungen für unmöglich zu erklären. Dadurch ist der Messiasglaube zugleich das Eingeständnis der jüdischen Religion, dass der religiöse Wirklichkeitsbereich auf den sich ihre Zentralanschauung bezieht, nicht komplementär zum erfahrbaren sinnlichen Wirklichkeits­ bereich steht, sondern sich zu diesem vielmehr in Konkurrenz befindet. In der jüdischen Religion brechen auf diese Weise religiöser und sinnlicher Wirk­lich­ keits­bereich dualistisch auseinander. Nach Schleiermacher entgleitet der jüdischen Religion auf diese Weise ihr Wirklichkeitsbezug zunehmend.47 47  Vgl.

hierzu auch Hirsch, Geschichte IV, 534 f.: „Unter kleinen beschränkten Verhält-

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Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

Auf diese Weise gerät das Judentum mit seinem Messiasglauben nicht allein in Widerspruch zur erlebbaren Realität, sondern darüber hinaus zu seiner eigenen religiösen Zentralanschauung, wodurch sich schließlich sein immanenter Selbstwiderspruch offenbart. Weil sich jede religiöse Zentralanschauung Schleiermacher zufolge einem Erschließungsakt des Unendlichen im Bereich der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit verdankt, beansprucht folglich auch jede religiöse Zentralanschauung, Gültigkeit für den sinnlich erfahrbaren Wirklichkeitsbereich zu besitzen. Eine religiöse Zentralanschauung, die keine Gültigkeit für die sinnliche Wirklichkeitsdimension beanspruchen kann, stellt einen immanenten Selbstwiderspruch dar, weil ihre Entstehungsbedingungen notwendigerweise an die erfahrene Gültigkeit der religiösen Zentralanschauung im Bereich der sinnlichen Wirklichkeit gebunden sind. Weil religiöses Bewusstsein notwendigerweise phänomenales Transphänomenalbewusstsein des Universums ist, muss die Gültigkeit der religiösen Zentralanschauung die Sphäre der Phänomenalität notwendigerweise miteinschließen. Der immanente Selbstwiderspruch des Judentums besteht nach Schleiermacher folglich darin: Zu behaupten, dass, gemäß ihrer religiösen Zentralanschauung, in der erlebbaren Realität der Tun-Ergehen-Zusammenhang Gültigkeit besitzt und dass zugleich, gemäß ihres Messiasglaubens, der Tun-Ergehen-Zusammenhang in der erlebbaren Realität keine Gültigkeit besitzt. Dieser immanente Selbstwiderspruch, in welchen das Judentum in der Zeit seines Exils geriet, ist für Schleiermacher letztlich das deutliche Kennzeichen der sachlichen Begrenztheit seiner religiösen Zentralanschauung selbst, da diese nur unter den Bedingungen eines disparaten Wirklichkeitsverständnisses aufrechtzuerhalten ist.48 nissen, in denen der natürliche Zusammenhang zwischen Handlung und Folge besondern Schwankungen und Störungen nicht unterliegt, mag diese Idee [der unmittelbaren göttlichen Vergeltung, C. K.] glaubhaft scheinen. Aber als das Judentum in der Welt fortrückte, mußte sie zusehend schwieriger werden. […] Ihre letzte schon mühsame Frucht recht kurz vor ihrem Tode ist die Messiasidee gewesen. Sie spricht die Hoffnung auf Wiederherstellung von Gesetz und Vergeltungsordnung und auf Erhebung beider zu weltgeschichtlicher Macht und Wirklichkeit aus.“ 48  Diese Interpretation des Messiasglaubens als des einschneidenden religionstheologischen Wendepunkts der jüdischen Religion widerspricht somit der in der Forschung einflussreichen Einschätzung Beckmanns, demzufolge Schleiermacher den Messiasglauben vornehmlich politisch auffasse und ihn aus diesem Grunde durchgehend abwertend beurteile (Beckmann, Die fremde Wurzel, 43; 46). Im Gegenteil muss man festhalten, dass es sich nach Schleiermacher bei dem Messiasglauben des Judentums um ein ursprünglich vornehmlich religiöses Phänomen handelt. Vgl. hierzu die in Kontinuität zu den Reden stehenden späteren Ausführungen aus Schleiermachers Leben-Jesu-Vorlesung (Schleiermacher, SW III/6, insbesondere: 263). Hier beschreibt Schleiermacher, dass die politische Gesinnung im Judentum zwar mit dem Messianismus verbunden auftrat, dass diese politische Gesinnung jedoch nur die äußere Seite bildete. Die Essenz bzw. innere Seite des Messianismus ist ihm zufolge eine rein „religiöse Idee“. Abschließend hält Schleiermacher in Bezug auf die messianischen Propheten klärend fest: „Aber

§ 12  Judentum

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Zusammenfassend kann festgehalten werden: Der religiöse Stoff des Judentums, d.h. die Konkretisierung seiner religionstheologischen Artbestimmung, ist die Geschichte des Dialogs zwischen Gott und der Menschheit, wie er in der jüdischen Tradition festgehalten ist. Die religiöse Form des Judentums, d.h. die Konkretisierung seiner religionstheologischen Entwicklungsstufe, ist der reli­ giö­se Messianismus der Weissagung. Dieser religiöse Messianismus erweist sich nach Schleiermacher als unbewusstes Eingeständnis des Judentums bezüglich der Begrenztheit seiner eigentümlichen Zentralanschauung und folglich zugleich als höchstes Erzeugnis und Ursprung seines Untergangs als Religion. Diese Interpretation der Reden für den religiösen Niedergangsgrund des Judentums wird im Folgenden durch die Auseinandersetzung mit der Forschungs­ literatur vertieft. 3.  Religionstheologischer Grund für die „kurze Dauer“ der jüdischen Religion In der Forschung finden sich verschiedene Ansichten darüber, was nach Schleiermacher den Grund für den Niedergang des Judentums als einer Religion abgibt. Zwei Meinungen sind in diesem Zusammenhang besonders einschlägig: Erstens vertritt Beckmann die Ansicht: „Daß der ‚Judaismus‘ eine ‚todte Religion‘ sei, folgt notwendig aus seiner Affinität zum Politisch-Moralischen“.49 Dieser Einschätzung folgt auch Ehrhardt.50 Man kann diese Ansicht auch die Vermischungsthese nennen: Sie geht davon aus, dass nach Schleiermacher das Judentum als Religion deswegen untergehen musste, weil in ihm das religiöse Bewusstsein niemals rein, sondern stets unter Vermischung mit politisch-moralischen Anliegen und Gesinnungen verwirklicht wurde. Kritisch ist gegen diese Vermischungsthese anzuführen, dass sie Schleier­ machers Angaben zu dem Grund des Niedergangs der jüdischen Religion mit seiner Beschreibung der Folgen dieses Niedergangs verwechselt. Die bloß faktische Feststellung, dass eine Affinität der jüdischen Religion zum politisch-modie tieffste innerste Richtung ihres Gemüths ist das Religiöse gewesen, obgleich es nicht anders als durch das Politische vermittelt war.“ (A.a.O., 263,25 ff.) Zudem liegt die hohe religionstheologische Bedeutsamkeit des jüdischen Messianismus’ für Schleiermacher darin, als höchstes und letztes Erzeugnis der jüdischen Religion den immanenten Selbstwiderspruch des Judentums zu offenbaren und die unbewusst bestehende Erlösungsbedürftigkeit des Judentums und seine Sehnsucht nach religiöser Erneuerung herausgestellt zu haben (vgl. hierzu einschlägig: KGA I/12, 303,8 ff.; 306,27–33). Im Gegensatz zu Beckers Interpretation kann daher Schleiermachers Messianismusverständnis vielmehr im Lessingschen Sinne als ein religionstheologischer „Fingerzeig“ in Richtung auf das Christentum aufgefasst werden. Denn, so heißt es treffend bei Lessing: „Einen Fingerzeig nenne ich, was schon irgendeinen Keim enthält, aus welchem sich die noch zurükgehaltene Wahrheit entwikeln läßt.“ (Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, LW 8, §  46 (kursiv, C. K.)). 49  Beckmann, Die fremde Wurzel, 37. 50  Ehrhardt, „‚Erwachsen‘ oder ‚kindlich‘?“, 374 f.

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Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

ralischen Bereich besteht, erklärt noch keineswegs, weshalb eine derartige Vermischung für das Judentum als Religion charakteristisch und mithin notwendig ist. Es muss folglich der Grund in der jüdischen Religion selbst dafür angegeben werden, auf welche Weise es überhaupt zu dieser Vermischung kam. Zweitens: Einen derartigen Grund gibt von Scheliha mit seiner Kanonisierungsthese an: Die Formierung als Buchreligion mit einem festen Kanon ist es, die Schleiermacher für den religionsgeschichtlichen Tod des Judentums verantwortlich macht […], weil auf diese Weise die personale Vermittlung der Zentralanschauung durch ihre innovative Interpretation ausgeschlossen wird. Nicht die innige Verbindung mit Moral und Politik ist für Schleiermacher der Grund für den innergeschichtlichen Tod des Judentums. Diese Korruption ist ein religionsgeschichtlich allgemeiner Sachverhalt. Die mit der ‚Kindlichkeit‘ der Zentralidee verbundene fehlende Komplexionsfähigkeit konnte durch den messianischen Glauben aufgewogen werden. Aber die Kanonisierung der Heiligen Schriften und die Konzentration auf das Gesetz sind es, die dieser Religion den Lebenssaft genommen haben, um ein von Schleiermacher selbst verwendetes Bild zu benutzen.51

Die Kanonisierungsthese vermag den Grund für die Affinität des Judentums zur Vermischung von Religion mit Politik und Moral anzugeben. Weil das Judentum nach Schleiermacher durch die Fixierung auf einen abgeschlossenen Buchkanon keine Aufgeschlossenheit mehr gegenüber neuen, innovativen göttlichen Offenbarungen besaß, verkümmerte der lebendige Dialog mit seinem Gott auf eine rein formale Gesetzeskonformität. Die Kanonisierung der heiligen Schriften führt auf diese Weise im Judentum zu einem Legalismus der Frömmigkeit, welcher eine deutliche Affinitäten zu Moral und Politik aufweist. Aber auch die Kanonisierungsthese erklärt letztlich nicht, was sie sich vorgenommen hat. Die Kanonisierung der heiligen Schriften kann nicht Schleier­ machers Begründung des Niedergangs der jüdischen Religion darstellen, da Schleiermacher für das Christentum selbst, welches er für niedergangsresistent hält,52 eine derartige Kanonbildung ausdrücklich begrüßt und als adäquaten Ausdruck wahrer Frömmigkeit anerkennt.53 Die Kanonbildung ist Schleiermacher zufolge nicht an sich das Problem im Judentum, sondern vielmehr, dass der Kanon im Judentum und mit ihm die legalistische Gesetzesobservanz zum Selbstzweck erhoben wurde. Indem das Judentum versucht, den eigenen Kanon und die legalistische Befolgung seiner Vorschriften zum vollgültigen Ersatz für die Erfahrung des Gotteswirkens in der Geschichte zu machen, fällt ihm zufolge die jüdische Religion ihrem Niedergang anheim.54 Die offene Frage bleibt 51 

Von Scheliha, „Schleiermachers Deutung“, 218. KGA I/2, 324,15–19. 53  KGA I/2, 323,17–20. Ausführlicher und deutlicher wird dies von Schleiermacher in seinem späteren Werk Kurze Darstellung des theologischen Studiums verhandelt (KGA I/6, 317– 446, hier: 365–379 (§§  103–148)). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Beckmann, Die fremde Wurzel, 58. 54 Vgl. dazu Schleiermachers spätere Adventspredigt über Hebr. 3,5  f. mit dem Titel 52 

§ 12  Judentum

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dabei bestehen: Aus welchem Grund wurden im Judentum der Schriftenkanon und die legalistische Gesetzesobservanz überhaupt zu Selbstzwecken erhoben? Diese zentrale Frage beantwortet von Schelihas Kanonisierungsthese nicht. Dabei kann erst die Beantwortung dieser Frage Aufschluss über Schleiermachers Auffassung vom religiösen Grund des Niedergangs des Judentums geben. Drittens: Zur Beantwortung der zuletzt genannten offenen Frage soll im Folgenden die religionstheologische Partikularitätsthese präsentiert werden, welche sich im Unterschied zur Vermischungs- und zur Kanonisierungsthese direkt auf die jüdische Zentralanschauung bezieht und somit Schleiermachers Auffassung über den religiösen Grund für den Niedergang des Judentums anzugeben vermag. Nach Schleiermachers Beschreibung ist es eindeutig: Der eigentliche Grund, weshalb das Judentum sowohl eine Affinität zu Moral und Politik besitzt als auch den eigenen Schriftenkanon auf legalistische Weise als Selbstweck behandelt, liegt an der Partikularität seiner religiösen Zentralanschauung selbst.55 Schleiermacher zufolge basiert die kurze Dauer der jüdischen Religion darauf, dass ihre Zentralanschauung des göttlichen Vergeltungshandelns einen zu „eingeschränkten Gesichtspunkt“56 besaß, um dauerhaft existieren zu können. Die Idee, dass Gott das Einzelne im Einzelnen wirkt, ist seines Erachtens nur in einem kleinen, sittlich homogenen Handlungsraum durchführbar. Letztlich zerbrach die jüdische Zentralanschauung an der Realität der modernen, komplexen Welt. Das Judentum akzeptiert nach Schleiermacher diese Wahrheit nicht, sondern versucht sie unter Zuhilfenahme ihrer weissagenden Fantasie auszublenden. Im Unterschied zu von Schelihas Interpretation vertritt Schleiermacher nicht die Ansicht, dass diese fehlende Komplexität durch die weissagende Fantasie „aufgewogen“57 werden konnte. Vielmehr geht er davon aus, dass ihr höchstes und letztes Produkt, der Messiasglaube, statt das religiöse Heilmittel zu bilden, vielmehr selbst ausdruckstarkes Erzeugnis der Unvollkommenheit und Beschränktheit der jüdischen Zentralanschauung darstellt. Im Messiasglauben zeigt sich laut Schleiermacher die immanente Selbstwidersprüchlichkeit der jüdischen Reli­ gion und offenbart auf diese Weise die Partikularität ihrer religiösen Zentral­ anschauung. „Unterschied zwischen dem Wesen des neuen und alten Bundes an ihren Stiftern dargestellt“ (Schleiermacher, SW II/2, 299–313). Dieser Predigt zufolge liegt der legalistischen Gesetzesobservanz „das dunkle Bewußtsein zum Grunde von der großen Scheidewand zwischen der Menschen Sinn und Geist und dem Sinn und Geist Gottes, davon, daß ihr äußerliches Thun seinen Geboten gemäß nicht seinen Grund hatte in ihrer Einsicht in seinen Willen und in den Zusammenhang seiner Führung.“ (A.a.O., 305 (kursiv, C. K.)) 55  Vgl. hierzu Hirsch, Geschichte IV, 534 und Süskind, Christentum und Geschichte, 23. 56  KGA I/2, 316,19. 57  Von Scheliha, „Schleiermachers Deutung“, 218.

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Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

Das Wesen dieser Partikularität der jüdischen Zentralanschauung besteht nach Schleiermacher dabei in einer fehlenden Differenzierung zwischen dem Bereich des Unendlichen und dem Bereich des Endlichen. Die jüdische Vorstellung von einem innerweltlichen Tun-Ergehen-Zusammenhang beruht nach Schleiermacher darauf, dass ewige und endliche Ursachen, d.h. göttliches und menschliches Handeln, miteinander verworren vorgestellt werden. Dies ist letztlich auch der entscheidende Grund, weshalb Schleiermacher das Judentum, übrigens nicht alleine das Judentum,58 als „kindische Religion“59 bzw. als „kindlich“60 charakterisiert.61 Man könnte in Anlehnung an die Beschreibung in der Glaubenslehre, in der das Judentum als Monotheismus mit fetischistischen Resten bestimmt wird,62 bereits in den Reden davon sprechen, dass Schleiermacher die These vertritt, dass sich im Judentum in seiner systematischen Anschauung des Universums noch Reste von chaotischer Verworrenheit zeigen. Das Judentum ist folglich laut Schleiermacher eine partikular-systematische Religion. Es zeigt sich also, dass mit der religionstheologischen Partikularitätsthese der einschlägige religiöse Grund für die von Schleiermacher diagnostizierte „kurze Dauer“63 der jüdischen Religion aufgezeigt werden kann. Die soeben aufgezeigte Grund-Folge-Relation zwischen der Partikularitäts-, der Kanonisierungs- und der Vermischungsthese führt Schleiermacher selbst am Ende seiner Beschreibung des Judentums auf, weshalb folgendes Zitat als zusätzliche Begründung der vorgetragenen These dienen kann: Der eingeschränkte Gesichtspunkt gewährte dieser Religion, als Religion, eine kurze Dauer [1: Religionstheologische Partikularitätsthese]. Sie starb, als ihre heiligen Bücher geschloßen wurden, da wurde das Gespräch des Jehova mit seinem Volk als beendigt angesehen [2: Kanonisierungsthese], die politische Verbindung, welche an sie geknüpft war, schleppte noch länger ein sieches Dasein [3: Vermischungsthese], und ihr Äußeres hat sich noch weit später erhalten, die unangenehme Erscheinung einer mechanischen Bewegung nachdem Leben und Geist längst gewichen ist [4: Mechanismusthese].64

Mit der in [4] aufgezeigten Mechanismusthese ergänzt Schleiermacher die bisheri­ ge Darstellung, indem er herausstellt, dass seines Erachtens das Judentum zu seiner Zeit, nachdem es sämtlichen politischen Einfluss verloren hat, nicht nur kein religiöses Leben, sondern überhaupt kein Leben mehr in sich birgt. Diese Zuspitzung seiner religionstheologischen Beurteilung des Judentums ist bereits in dem allerersten Satz, den die Reden zum Judentum vorbringen, vorgeprägt: 58 

KGA I/2, 324,11 f.

59 Ebd. 60 

KGA I/2, 314,34; 315,38 f. Vgl. hierzu KGA I/2, 252,28–253,3. 62  KGA I/13.1, 70,13–19. 63  KGA I/2, 316,20. 64  KGA I/2, 316,19–25. 61 

§ 12  Judentum

413

[D]er Judaismus ist schon lange eine todte Religion, und diejenigen, welche jetzt noch seine Farbe tragen, sitzen eigentlich klagend bei der unverweslichen Mumie, und weinen über sein Hinscheiden und seine traurige Verlaßenschaft.65

Durchaus in Analogie zu Lessing, der in seiner Erziehung des Menschengeschlechts von dem „erschöpften Elementarbuch“ des Judentums sprach, auf welches das Christentum mit neuem Leben folgte,66 bildet auch nach Schleiermacher das Christentum diejenige systematische Religion, welche unter gegenwärtigen Umständen weiterhin höchste Lebendigkeit besitzt. Grundsätzlich gilt: Schleiermachers Beschreibung und Beurteilung des Judentums als einer „kindlichen“ und „toten Religion“ ist zweifellos historisch defizitär und theologisch untragbar. Neben den vielen zu Recht geäußerten Kritikpunkten an Schleiermachers unhaltbarer Auffassung vom Judentum,67 können in diesem Zusammenhang zwei Punkte besonders herausgestellt werden: Zum einen ist Schleiermachers Beschreibung theologisch unhaltbar, da sie den Tun-Ergehen-Zusammenhang des Alten Testaments als unmittelbares Vergeltungshandeln bestimmt. Aus der Sicht der alttestamentlichen Wissenschaft ließen sich mindestens zwei Einwände gegen diese Ansicht Schleiermachers vorbringen. Einerseits geht die alttestamentliche Wissenschaft im Unterschied zu Schleiermacher davon aus, dass Gott im Judentum nicht bloß als ein Relat im Tun-Ergehen-Zusammenhang (TEZ) verstanden wurde,68 sondern vielmehr als Grund des TEZ überhaupt. Andererseits hat die alttestamentliche Wissenschaft aufgezeigt, dass der TEZ keinesfalls als die allgemeine Grundanschauung des Judentums gelten kann, da dieses sich an zentralen Stellen seines Kanons kritisch mit dem TEZ auseinandersetzt. Hierfür sprechen insbesondere die alttestamentlichen Schöpfungstexte, bei denen evidentermaßen nicht von einer vergeltenden Handlung Gottes gesprochen werden kann und prominent das Buch Hiob. Zum anderen ergibt sich Schleiermachers Auffassung vom Judentum als einer „toten Religion“ keineswegs aus seiner religionstheologischen Grundkonzep­ tion und ist somit auch aus theorieimmanenten Gründen nicht stichhaltig. Nach Schleiermacher ist bzw. besteht sowohl die historische Entstehung69 als auch die 65 

KGA I/2, 314,36–39. Lessing, Erziehung des Menschengeschlechts, LW 8, §§  51–53; §  68; §  69. 67 Vgl. Blum, Ich wäre ein Judenfeind?, 16–30. Siehe auch Crouter, Enlightenment, 123 ff.; Pickle, „Schleiermacher on Judaism“, 115–137; Brumlik, M., „Die Duldung des Vernichteten. Schleiermacher zu Toleranz, Religion und Geselligkeit – eine Fallstudie zur Dialektik der Anerkennung“, in: R. Kloepfer/B. Dücker (Hgg.), Kritik und Geschichte der Intoleranz, Heidelberg 2000, 41–56. Vgl. allgemein zur geistesgeschichtlichen Auffassung des Judentums als einer sog. „toten Religion“ im Unterschied zum Christentum: Newman, „The Death of Judaism“, 455–485. 68  Vgl. KGA /2, 315,12. 69  KGA I/2, 314,39–43: „Auch rede ich nicht etwa deswegen von ihm [dem Judentum, 66 Vgl.

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Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

religionstheologische Höchstgeltung 70 des Christentums vollkommen unabhängig vom Judentum. Aus genealogischen und sachlogischen Gründen besteht für seine inklusivistische Religionstheologie somit keine Notwendigkeit, die jüdische Religion bzw. die jüdische Zenralanschauung für „tot“ zu erklären. Wenn Schleiermacher aber sowohl die faktische Lebendigkeit des Judentums zu seiner Zeit nicht wahrnehmen konnte als auch die bestehenden Möglichkeiten seiner eigenen Religionstheologie zur wohlwollenden Wertschätzung des ­Judentums nicht wahrnehmen wollte, dann speist sich seine Bestimmung des Judentums in den Reden als einer „toten Religion“ eindeutig aus theoriefernen antijudaistischen Vorurteilen.71 Dieser explizite Antijudiasmus zeigt sich auch in anderen Schriften Schleier­ machers, so etwa, in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den Reden, in seinen Briefen bei Gelegenheit der politisch-theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter 72 . In dieser Schrift stellt Schleiermacher seine Ansicht dar, dass zwar allen Menschen unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit die gleichen bürgerlichen Rechte zustehen. Die Menschen jüdischen Glaubens müssten folglich nicht erst zum Christentum konvertieren, um bürgerliche Gleich­ berechtigung zu genießen.73 Allerdings knüpft Schleiermacher letztlich die Möglichkeit einer bürgerlichen Gleichberechtigung der Menschen jüdischen Glaubens an ihre öffentliche religiöse Absage auf ihre Messiashoffnung.74 Bringt man diese Ansicht zusammen mit Schleiermachers Darstellung des Judentums aus den Reden, dann ist es unverständlich, zu urteilen, dass „Schleier­ machers Eintreten für die Juden beeindruckt“75. Vielmehr müssen seine Äußerungen schlicht als kalter Zynismus aufgefasst werden. Der religiöse Messianismus ist nach den Reden die letzte Frucht und das höchste Erzeugnis der jüdischen Religion.76 Er ist folglich nach Schleiermacher die letzte wahrhaft religiöse C. K.], weil es etwa der Vorläufer des Christenthums wäre: ich haße in der Religion diese Art von historischen Beziehungen, ihre Nothwendigkeit ist eine viel höhere und ewige, und jedes Anfangen in ihr ist ursprünglich“. 70  KGA I/2, 317,33–37. 71 Vgl. ähnlich Crouter, Enlightenment, 67: „What Schleiermacher says in speech 5 about Judaism being dead is at odds with the more general position of speeches 2 and 5 that each religion has a foundational intuition that shapes the tradition as it unfolds in history“. 72  KGA I/2, 327–361. Vgl. hierzu auch Blum, Ich wäre ein Judenfeind?, 40–76. 73  KGA I/2, 332,30–333,6. 74  KGA I/2, 352,11–20. 75  Dembowski, H., „Schleiermacher und die Juden“, in: K. Wengst (Hg.), Ja und nein. Christliche Theologie im Angesicht Israels. Festschrift für W. Schrage, Neukirchen-Vluyn 1998, 319–329, hier: 325. Vgl. auch Kubik, A., „Warum konvertieren? Anmerkungen zur Taufe der Dorothea Veit und Schleiermachers Haltung dazu“, in: Christentum und Judentum, 405– 416, hier: 413: „Dass Schleiermacher die Forderung nach bürgerlicher Emanzipation der Juden nicht energischer vorgetragen hat, sondern sie seinerseits wieder an bestimmte Bedingungen geknüpft wissen will, ist in der Rückschau freilich mindestens als tiefe Zweideutigkeit zu werten.“ 76  KGA I/2, 316,9 f.

§  13  Christentum

415

Bestimmung des Judentums zu seiner Zeit. Wird somit von Schleiermacher die Gewährung von Bürgerrechten an den Verzicht auf die religiöse Messiashoffnung gebunden, dann ist dies nach der Logik der Reden gleichzusetzen mit dem öffentlichen Bekenntnis des Judentums, sich als Religion selbst aufgelöst zu haben. Bereits Haym hatte diesen kalten Zynismus der Briefe bei Gelegenheit erkannt und die seines Erachtens „geradezu barbarische Bedingung“ herausgestellt, an die Schleiermacher „die bürgerliche Gleichstellung der Juden“ knüpft.77 Auch Crouter stellt heraus, dass Schleiermachers Äußerungen in den Briefen bei Gelegenheit in ihrer Konsequenz „surprisingly illiberal“78 sind. Es ist nicht übertrieben, den kalten Zynismus von Schleiermachers Äußerungen dahingehend zuzuspitzen, dass seines Erachtens sowohl die christliche Koexistenz mit dem Judentum als auch die christliche Toleranz gegenüber dem­ selben den Verzicht der jüdischen Menschen auf ihr eigenes Religionsleben voraussetzt. Eine derartige Ansicht entspricht aber der von Schleiermacher selbst in seiner späteren Auflage der Reden kritisierten Praxis einer sog. „wilden Bekehrungssucht“79. In Schleiermachers religionstheologischer Beurteilung des Judentums offenbart sich folglich eine grundsätzliche und tiefgreifende Diskrepanz zwischen theoretischer Einsicht und eigener praktischer Urteilsfähigkeit. Im Schlusskapitel der vorliegenden Arbeit, die eine Zusammenfassung und kritische Würdigung von Schleiermachers inklusivistischer Religionstheologie der Reden liefert, werden die Konsequenzen seiner theoretischen Einsichten für sein Verständnis der Religionsgeschichte selbst aufgezeigt.

§  13  Christentum Im Folgenden werden erstens Schleiermachers Beschreibung der christlichen Zentralanschauung (1.), zweitens seine sich hieraus ergebende Auffassung vom Stoff (2.) und drittens von der Form des Christentums dargestellt (3.). Hierin inbegriffen wird auch der Grund für Schleiermachers Ansicht von der religionstheologischen Höchstgeltung des Christentums behandelt. Viertens wird auf die Sonderstellung des Christentums in der Religionsgeschichte eingegangen (4.).

77 Vgl.

Haym, Die romantische Schule, 435. Crouter, R. E./Klassen, J., (Hgg.), A Debate on Jewish Emancipation and Christian Theology in Old Berlin, Indianapolis 2004, 9. 79  Vgl. KGA I/12, 223,37–225,11. Vgl. auch KGA I/12, 222,31–223,36. 78 

416

Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

1.  Die religiöse Zentralanschauung des Christentums Die christliche Zentralanschauung ist Schleiermacher zufolge die eines allgemeinen Entgegenstrebens alles Endlichen gegen die Einheit des Ganzen [1], und der Art wie die Gottheit dieses Entgegenstreben behandelt, wie sie Feindschaft gegen sich vermittelt [2], und der größer werdenden Entfernung Grenzen sezt durch einzelne Punkte über das Ganze ausgestreut, welche zugleich Endliches und Unendliches, zugleich Menschliches und Göttliches sind [3].80

Bevor die drei im Text markierten grundsätzlichen Elemente der christlichen Zentralanschauung näher beschrieben werden, erfolgt zunächst die Einordnung des Christentums in Schleiermachers religionstheologisches Einteilungsschema: Erstens handelt es sich beim Christentum der Entwicklungsstufe nach um eine systematische Religion. Schleiermacher zufolge besteht im Christentum einerseits im Unterschied zum Judentum eine unzweideutig klare Unterscheidung zwischen dem Bereich des Endlichen und dem Bereich des Unendlichen und andererseits wird durch seine Vorstellung eines „allgemeinen Entgegenstrebens alles Endlichen gegen das Unendliche“ das Endliche insgesamt erfasst und zum Unendlichen ins Verhältnis gesetzt. Zweitens handelt es sich im Christentum der Religionsart nach um eine geschichtlich-personalistische Religion. Es stellt sich das Universum als beseelt vor und erhebt die Entwicklungsgeschichte zwischen widerstrebender Menschheit und versöhnender Gottheit zu seinem religiösen Hauptgegenstand.81 Drittens ist an der christlichen Zentralanschauung entscheidend, dass sie sich das Verhältnis zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen in Form eines universal-versöhnenden Erlösungshandelns Gottes vorstellt. Grundsätzlich bedeutet der Ausdruck „Erlösung“ dabei, wie Schleiermacher es in seiner späteren Glaubenslehre ausführt, „einen Uebergang aus einem schlechten Zustande, der als Gebundensein vorgestellt wird, in einen bessern, und dies ist die passive Seite desselben; dann aber auch die dazu von einem Andern geleistete Hilfe, und dies ist die active Seite desselben.“82 Schleiermachers allgemeine Auffassung des Ausdrucks „Erlösung“ wird in den Reden in Bezug auf die christliche Zentralanschauung näher charakterisiert, 80 

KGA I/2, 316,29–34. auch KGA I/12, 179,11–19 (kursiv, C. K.): „Vielmehr liegt schon in der Rede selbst angedeutet, daß der Geschichtssinn, welcher die vollständigste Ineinanderbildung beider Richtungen ist [der Selbst- und Weltbetrachtung, C. K.], auch am vollkommensten zur Frömmigkeit führe. Daß dieser aber ganz vorzüglich dem Christenthume zum Grunde liege, in welchem ja Alles darauf zurükgeführt wird, wie sich der Mensch zu dem Reich Gottes verhalte, bedarf wol keiner Bestätigung; und so folgt von selbst, daß das Christenthum eine Frömmigkeit darstelle, welche eben so sehr durch die Weltbetrachtung als durch die Selbstbetrachtung genährt wird; am meisten aber immer, insofern jede von beiden auf jenes Ineinadersein beider bezogen wird.“ Vgl. auch Süskind, Christentum und Geschichte, 21. 82  KGA I/13.1, 95,40–96,4. 81 Vgl.

§  13  Christentum

417

indem die drei grundsätzlichen Elemente jedes Erlösungsgeschehens herausgearbeitet werden: das Erlösungsbedürftige, das Erlösende und die Art und Weise des Erlösungsgeschehens. Dabei geht es in Schleiermachers obiger Beschreibung der christlichen Zentralanschauung in [1] und [2] um die beiden grundsätzlichen Pole des Erlösungsgeschehens, nämlich einerseits um „alles Endliche“, welches der „Einheit des Ganzen“ bzw. dem Unendlichen entgegenstrebt und insofern das Erlösungsbedürftige darstellt. Andererseits geht es um das Unendliche bzw., in personalisierter Form, die „Gottheit“, welche diesen Widerstand als Erlösendes zu überwinden trachtet: „Das Verderben und die Erlösung, die Feindschaft und die Vermittlung, das sind die beiden unzertrennlich miteinander verbundenen Seiten dieser Anschauung“.83 Aufgrund dieser Charakterisierung wird deutlich, dass es sich bei der christlichen Zentralanschauung um ein universales Geschehen handelt, da in ihr „alles Endliche“ als erlösungsbedürftig aufgefasst wird [1]. Folglich bezieht sich das vom Christentum wahrgenommene Erlösungsgeschehen auf die Überwindung eines Prinzips im Endlichen selbst. Die endlichen Sachverhalte streben Schleiermachers Beschreibung zufolge von Natur aus danach, ihre scheinbare Eigenständigkeit gegenüber dem „Zusammenhang des Ganzen“84 zu behaupten und zu erweitern.85 Ihr „Entgegenstreben“86 gegen die Gottheit ist nach christlicher Ansicht keineswegs zufällig oder vom Endlichen selbst vermeidbar, sondern vielmehr Ausdruck eines Verblendungszusammenhangs, in welchem jedes Endlich qua seiner endlichen Natur notwendig befangen ist. Gespeist wird dieser universale Verblendungszusammenhang aus dem bereits beschriebenen Isolationsprinzip in jedem Endlichen,87 wodurch das Endliche allein aufgrund eigener Kräfte „unfähig [ist] etwas hervorzubringen worin der Geist des Universums wirklich lebte“88.

83 

KGA I/2, 316,34 ff. KGA I/2, 317,3. 85  Der Ausdruck „Entgegenstreben“ bezeichnet nicht wie Nowak annimmt, ein „Hinstreben“ (Nowak, Frühromantik, 203), sondern die konträre Bewegung des „gegen etwas Strebens“ im Sinne von „sich einer Sache zu widersetzen“. Hier ist Osthövener zuzustimmen, der in diesem Zusammenhang von „Widerstreben“ spricht. Vgl. dazu Osthövener, „Erlösungsreligion“, 691. Vgl. auch allgemein Stephan, H., Die Lehre Schleiermachers von der Erlösung, Tübingen/Leipzig 1901. 86  KGA I/2, 316,31. 87 Vgl. Osthövener, „Erlösungsreligion“, 691: „Wichtig ist vor allem der Punkt auf den sich das Entgegenstreben fokussiert: es ist nicht das Ganze als solches, sondern dessen Einheit, zu der sich ein Gegensatz auf baut. Es handelt sich genauer besehen um solche Bestrebungen oder Tendenzen, die sich nicht zu dieser Ganzheit, nämlich einer Einheit in der Vielheit zusammenfügen wollen, sondern abweichende, gleichsam zentrifugale Richtungen einschlagen.“ 88  KGA I/2, 317,5 f. 84 

418

Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

Mit dem universalen Verblendungszusammenhang basierend auf einem natürlichen Isolationsprinzip des Endlichen unternimmt es Schleiermacher, die christliche Erbsündenlehre im Rahmen seiner eigenen Religionskonzeption zu reformulieren. Deutlich wird dies, wenn er im Folgenden klassische Ausdrücke der christlichen Erbsündenlehre zur Beschreibung der Natur des Menschen heranzieht und auf diese Weise den Menschen in allen seinen Vermögen als durch das natürliche Isolationsprinzip korrumpiert darstellt: „verfinstert der Verstand und abgewichen von der Wahrheit, verderbt das Herz und ermangelnd jedes Ruhms vor Gott, verlöscht des Ebenbild des Unendlichen in jedem Theile der endlichen Natur.“89 Zugleich wird aus Schleiermachers Beschreibung der christlichen Zentralanschauung deutlich, dass es sich bei der Erlösung von dieser natürlichen Verderbtheit alles Endlichen um ein universal-versöhnendes Geschehen handelt, denn die Erlösung erfolgt ausgehend von der Gottheit in Bezug auf das End­ liche [2].90 Gott strebt danach, wie es in Schleiermachers Beschreibung im Anklang an Röm 5,10 heißt,91 aus sich selbst heraus die „Feindschaft gegen sich“ zu überwinden.92 In [3] geht es um die Art und Weise des Erlösungsgeschehens. Diese ist nach der christlichen Zentralanschauung nur möglich, indem das Unendliche sich im Endlichen wirkmächtig zeigt. Weil das Endliche von sich aus zwar in einem 89 

KGA I/2, 317,6–9 (kursiv, C. K.). zu dem Verhältnis von Erlösung und Versöhnung auch Osthövener, „Erlösungsreligion“, 692: „Die religiöse Idee findet […] ihren formalen Ausdruck genuin in dem Begriff der Vermittlung. Damit entfällt jede Nötigung, die Vorstellung von der Erlösung in eine Konkurrenz zur Vorstellung der Versöhnung zu bringen, etwa dergestalt, daß die Erlösung nur die Abwendung von der Sphäre des Verderbens, d.h. ihre Negation bedeutet, während dann in der Versöhnung die positive Erlangung des Gnadenstandes und der Einheit mit Gott dargestellt würde. Eine solche funktionale Differenzierung findet hier gerade nicht statt. Daher ist es nur konsequent, wenn auch in den folgenden Auflagen, die häufiger auf die dogmatische Terminologie zurückgreifen, Versöhnung und Erlösung nahezu synonym verwendet werden können.“ 91  „Denn wenn wir, als wir noch Feinde waren, mit Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, dann werden wir jetzt, da wir mit ihm versöhnt sind, erst recht gerettet werden durch seine Lebensmacht.“ (Röm 5,10 (Zürcher Bibel)) 92  Dies verdeutlicht erneut den Unterschied zwischen Schleiermachers offenbarungs- und Kants moralitätstheoretischer Religionskonzeption (vgl. hierzu grundsätzlich Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI, 44–51.) Vgl. dazu Kants Beschreibung der dreifach bestimmbaren göttlichen Liebe, die nicht wie bei Schleiermacher in der selbstoffenbarenden Zuwendung Gottes besteht, sondern in dessen moralisch zurechnender Beurteilung in Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI, 145 f. (kursiv, C. K.): „‚Gott ist die Liebe‘; in ihm kann man den Liebenden (mit der Liebe des moralischen Wohlgefallens an Menschen, so fern sie seinem heiligen Gesetz adäquat sind), den Vater; ferner in ihm, so fern er sich in seiner alles erhaltenden Idee, dem von ihm selbst gezeugten und geliebten Urbilde der Menschheit, darstellt, seinen Sohn; endlich auch, so fern er dieses Wohlgefallen auf die Bedingung der Übereinstimmung der Menschen mit der Bedingung jener Liebe des Wohlgefallens einschränkt und dadurch als auf Weisheit gegründete Liebe beweist, den heiligen Geist verehren“. 90 Vgl.

§  13  Christentum

419

ontologischen Bezug auf das Unendliche (als dessen Grund und Totalität) steht, ihm dieser Bezug jedoch aufgrund seines natürlichen Isolationsstrebens versperrt ist, muss das Unendliche dem Endlichen diesen Bezug in Form einer gnadenhaften Selbsterschließung aufzeigen. Dieser Vorgang muss im Endlichen selbst erfolgen, da das Endliche von sich aus ausschließlich zu einer bewussten Beziehung auf den endlichen Wirklichkeitsbereich befähigt ist, weshalb das Unendliche sich als Unendliches dem Endlichen im Endlichen zeigt. Deswegen kann die Art und Weise des Erlösungsgeschehens nur über religiöse Mittler fungieren, die zugleich Endliches und Unendliches sowie zugleich Menschliches und Göttliches sind. Ausschließlich in diesen religiösen Mittlern vermag sich das Unendliche dem Endlichen als wirkmächtig im Endlichen zu zeigen und dadurch das Endliche von seiner natürlichen Schranke in Bezug auf das Unendliche zu erlösen. Mit seiner Charakterisierung des Erlösungsbedürftigen als dem Endlichen selbst [1] und seiner Beschreibung des Erlösenden als der das Endliche mit sich selbst gnadenhaft versöhnenden Gottheit [2], wobei die Art und Weise des Erlösungsgeschehens durch eine religiöse Mittlerfigur vor sich geht, die zugleich Mensch und Gott ist [3], bewegt sich Schleiermachers Darstellung der christ­ lichen Zentralanschauung in enger Bezugnahme auf das biblische Zeugnis und kann zweifellos als interpretierende Reformulierung fundamentaler Paulinischer Einsichten angesehen werden, wie sie sich z.B. in Röm 3,23 finden lassen: Alle haben ja gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verspielt [1]. Gerecht gemacht werden sie ohne Verdienst aus seiner Gnade [2], die in Jesus Christus ist [3].93 Im Anschluss an diese Interpretation von Schleiermachers Charakterisierung der christlichen Zentralanschauung zeigt sich bereits, dass das Christentum eine Sonderstellung unter den positiven Religionen einnimmt. Indem das Christentum das universal-versöhnende Erlösungsgeschehen als Zentralanschauung besitzt, bildet sie diejenige Religion, die das Wesen der Religion selbst zum Thema erhebt. Man kann auch sagen, dass die allgemeinen Merkmale der „Liebeszene“94, die nach Schleiermacher für jede Religion gelten, in der christlichen Religion selbst zum bewussten Gegenstand der Betrachtung avancieren: Erstens schließt das von Schleiermacher beschriebene Erlösungsgeschehen einen Dualismus zwischen dem Bereich des Endlichen und dem Bereich des Unendlichen aus. Es handelt sich nach christlicher Auffassung um keinen Kampf zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, sondern um eine Erlösung des Endlichen durch das Unendliche. Unmittelbar damit zusammenhängend enthält das christliche Verständnis von Erlösung auch die Idee, dass die Bereiche des Endlichen und des Unendlichen nicht separiert voneinander existieren. Denn 93 

94 

Röm 3,23 (Zürcher Bibel). KGA I/2, 221,31–222,6. Vgl. in der vorliegenden Arbeit §  7.2.2.1.

420

Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

ohne Bezugnahme des Unendlichen auf das Endliche kann kein Erlösungsgeschehen erfolgen. Somit ist sich in der christlichen Zentralanschauung des universal-versöhnenden Erlösungsgeschehens das religiöse Bewusstsein des prinzipiell asymmetrischen Verhältnis zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen bzw. der Inhärenz des Endlichen im Unendlichen gewiss.95 Im Christentum besteht folglich das Bewusstsein von den ontologischen Möglichkeitsbedingungen der Religion überhaupt. Zweitens folgt direkt aus diesen beiden beschriebenen Merkmalen des christlichen Erlösungsverständnisses, dass das Endliche sowohl als erlösungsbedürftig als auch als erlösungsfähig aufgefasst wird. Das Endliche wird unter den Bedingungen des Erlösungsgeschehens vom Christentum so angesehen, dass es prinzipiell nicht über die Macht verfügt, sich selbst zu erlösen. Aus diesem Grunde kann nur eine göttliche Instanz der Verderbnis des Endlichen entgegenwirken. Zugleich kann es sich bei dem Erlösungsgeschehen um keine Umschaffung bzw. gänzliche Neuschaffung des Endlichen handeln. Die Erlösungsbedürftigkeit des Endlichen basiert auf einer natürlichen Täuschung durch einen Verblendungszusammenhang, der das Endliche zwar des Bewusstseins seiner ursprünglichen Bezogenheit auf das Unendliche als Ursprung und Ziel seiner Existenz beraubt, nicht jedoch diese Bezogenheit selbst zerstört.96 Das christliche Verständnis von Erlösung impliziert grundlegend, von Schleiermacher wiederum mit einem eindeutigen Bezug auf Paulinische Theologie festgehalten,97 dass kein Mensch in Gottlosigkeit zu existieren vermag, sondern allenfalls zu tiefer Gottvergessenheit herabgesunken ist.98 Die christliche Zentralanschauung der Erlösung enthält folglich die Einsicht, dass das Unendliche sich dem Endlichen nur in Form eines Selbsterschließungs­ geschehens zu offenbaren vermag und das Endliche wiederum die Potenz besitzt, 95 

Vgl. in vorliegender Arbeit §  7.2. auch Schleiermachers spätere Beschreibung in der Glaubenslehre: „Wollen wir nun diesen Zustand in seiner höchsten Steigerung durch die Ausdrücke Gottlosigkeit und Gottvergessenheit bezeichnen: so dürfen wir uns doch dies nicht als eine gänzliche Unmöglichkeit der Belebung des Gottesbewußtseins denken. Denn alsdann könnte einestheils der Mangel von etwas außerhalb der Natur liegenden nicht als ein übler Zustand gefühlt werden; anderntheils würde, um diesen Mangel aufzuheben, dann eine Umschaffung im eigentlichen Sinne erfordert werden, und diese Vorstellung ist in dem Begriff der Erlösung nicht enthalten. Wie denn diese Möglichkeit auch da vorbehalten bleibt, wo der üble Zustand des Gottesbewußtseins mit den stärksten Farben geschildert wird. Es bleibt daher nur übrig, ihn als eine nicht vorhandene Leichtigkeit zu bezeichnen, das Gottesbewußtsein in den Zusammenhang der wirklichen Lebensmomente einzuführen und darin festzuhalten.“ (KGA I/13.1, 96,14–27 (kursiv, C. K.)) 97  „Sie hätten ja vor Augen, was von Gott erkannt werden kann; Gott selbst hat es ihnen vor Augen geführt. Denn was von ihm unsichtbar ist, seine unvergängliche Kraft und Gottheit, wird seit Erschaffung der Welt mit der Vernunft in seinen Werken wahrgenommen; es bleibt ihnen also keine Entschuldigung.“ (Röm 1,19 f. (Zürcher Bibel)) 98  Vgl. hierzu KGA I/13.1, 96,14–25. 96 Vgl.

§  13  Christentum

421

dieses Geschehen aufzunehmen und sich für die Einwirkungen des Unend­ lichen empfänglich zu zeigen. Im Christentum besteht somit das Bewusstsein von den epistemologischen Möglichkeitsbedingungen der Religion überhaupt. Drittens vollzieht sich nach der christlichen Zentralanschauung das Erlösungsgeschehen in Form von religiösen Mittlergestalten. Hiermit zeigt Schleier­ macher einerseits auf, dass im allgemeinen religiösen Bildungsgeschehen jeder Mensch einen Mittler braucht. Andererseits greift er mit der Pluralität der Mittlergestalten auf, dass sich das Erlösungsgeschehen prinzipiell geschichtlich vollzieht. In dem christlichen Erlösungsbewusstsein ist die Notwendigkeit der Geschichtlichkeit dieses Erlösungsgeschehens enthalten. Im Christentum besteht folglich das Bewusstsein von der notwendigen Vollzugsform bzw. geschichtlichen Verwirklichung der Religion überhaupt. Diese dreifache Bestimmung der Sonderstellung des Christentums unter den positiven Religionen bildet den gedanklichen Hintergrund von Schleiermachers Urteil bezüglich der religionstheologischen Höchstgeltung des Christentums. Allerdings wird diese Argumentation in den Reden nicht direkt geführt, sondern die religionstheologische Höchstgeltung des Christentums unter Bezugnahme auf dessen religiösen Stoff und seine religiöse Form aufgezeigt. Dies wird im Folgenden im Rahmen der direkten Argumentation aus den Reden dargestellt. 2.  Religiöser Stoff des Christentums Den Stoff bzw. Gegenstand des christlichen Bewusstseins bilden nach Schleiermacher aufgrund der Universalität der christlichen Zentralanschauung sämtliche Bereiche der erfahrbaren Welt, also der natürlich-physische,99 der menschlich-sittliche100 und der geschichtlich-religiöse101 Bereich. Von charakteristischer Bedeutung ist für das Christentum der Bereich der geschichtlich-religiösen Welt, in welchem sich die religionstheologische Art des Christentums auf spezifische Weise manifestiert. Die Sonderstellung des Christentums unter den positiven Religionen besteht auch darin, dass es als einzige Religion die Religionsgeschichte für das Wesen des religiösen Bewusstseins selbst zum Gegenstand der Betrachtung erhebt. Dabei ist Schleiermacher zufolge für das Christentum in der Betrachtung der Religionsgeschichte der evolutionäre Erlösungsprozess der verblendeten Menschheit durch den versöhnenden Gott vermöge göttlich-menschlicher Mittlerfiguren von maßgeblicher Bedeutung. Das christliche Verständnis von Erlösung, wie es oben bereits im Allgemeinen charakterisiert wurde, findet in der Be-

99 

KGA I/2, 316,38–317,4. KGA I/2, 317,4–19. 101  KGA I/2, 317,19–33. 100 

422

Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

trachtung der Religionsgeschichte seinen konkreten Inhalt. Dies wird im Folgenden in drei Hinsichten näher expliziert. Erstens: Das Christentum sieht die Menschheit und jeden einzelnen Menschen in religiöser Hinsicht in einem Zustand der prinzipiellen Erlösungsfähigkeit bei gleichzeitiger Erlösungsbedürftigkeit befangen an. Das oben bereits beschriebene, allgemeine natürliche Isolationsprinzip in allem Endlichen, ­welches sich nach christlicher Auffassung im Bereich der physischen Welt als Todestrieb102 und im Bereich der sittlichen Welt als Hang zum Bösen103 ma­ nifestiert, wird in diesem religiösen Zusammenhang näher als „irreligiöses Prinzip“104 bestimmt und mit dem jedem Menschen notwendigerweise innewohnenden „irdischen Sinn“105 gleichgesetzt. Hiermit spielt Schleier­m acher auf den paulinischen bzw. johanneischen Sprachgebrauch vom „Fleisch“ an, das gegen den „Geist“ opponiert.106 Im folgenden Zitat bestimmt Schleiermacher dieses irreligiöse Prinzip in der Menschheitsgeschichte hinsichtlich seiner beiden zentralen Aspekte: Auch indem es das Universum anschauen will strebt das Endliche ihm entgegen, sucht immer ohne zu finden und verliert was es gefunden hat, immer einseitig, immer schwankend, immer beim Einzelnen und Zufälligen stehen bleibend [1], immer noch mehr wollend als anschauen [2] verliert es das Ziel seiner Blike.107 Die Wirkmächtigkeit des irreligiösen Prinzips zeigt sich in der Religionsgeschichte an der fehlenden Stabilität des religiösen Bewusstseins bei den Menschen. Selbst, wenn das religiöse Bewusstsein in ihnen bereits geweckt wurde, und sie einen Blick auf das Unendliche im Endlichen geworfen haben, können sie dieses Bewusstsein nicht bewahren, sondern verfallen erneut dem End­l ichen. Diese fehlende Stabilität des religiösen Bewusstseins beruht auf der Beschränkung in der Lauterkeit des religiösen Sinns bei der Menschheit, wodurch es den Menschen verwehrt ist, allein aus sich selbst ein klares und deutliches Bewusstsein vom asymmetrischen Verhältnis zwischen dem unendlichen und dem endlichen Wirklichkeitsbereich zu erlangen.

102 

KGA I/2, 317,2 ff. KGA I/2, 317,5 ff. 104  KGA I/2, 317,26. 105  KGA I/2, 317,25. 106  Vgl. etwa Joh 3,6: „Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geist geboren ist, ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von oben geboren werden“ und Röm 7,25: „Also gilt: Mit der Vernunft diene ich dem Gesetz Gottes, mit dem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde.“ ( jeweils zitiert nach Zürcher Bibel). Zur Stellung von Röm 7,25 im Kontext der Paulinischen Theologie siehe Lichtenberger, H., „Der Beginn der Auslegungsgeschichte zu Röm 7: Röm 7,25b“, Zeitschrift für Neutestamentliche Wissenschaft 88 (1997), 284–295. 107  KGA I/2, 317,22 ff. 103 

§  13  Christentum

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Die von Schleiermacher beschriebene Ansicht, dass es in der Religions­ geschichte keinen religiösen Sinn in Reinform gibt, meint somit nicht, dass das Christentum ein von allem Bezug auf die Sinnlichkeit gereinigtes Religions­ bewusstsein favorisiert. Ein derartig „entsinnlichtes“ Bewusstsein stellt nach Schleiermacher kein religiöses Bewusstsein, sondern schlicht abergläubische Schwärmerei dar.108 Mit der Lauterkeit des religiösen Sinns meint Schleier­ macher vielmehr, dass im menschlichen Bewusstseinsleben die adäquate und dauerhafte Dominanz des Unendlichkeitsbewusstseins über das sinnliche Bewusstsein herrscht.109 Weil eine derartige Lauterkeit des religiösen Sinns nach christlicher Auffassung aufgrund der universalen Wirksamkeit des irreligiösen Prinzips in der Menschheitsgeschichte nicht anzutreffen ist, tendieren die Menschen grundsätzlich stärker danach, alle endlichen Dinge isoliert für sich, d.h. im Gegensatz zueinander und in kausaler Abhängigkeit voneinander wahrzunehmen, anstatt die endlichen Sachverhalte in ihrem Zusammenhang und ihrer existenzialen Begründung aus dem Unendlichen zu erfahren. Folglich bleiben sie vorwiegend am Zufälligen und Nichtigen hängen und beziehen sich nicht auf das Wesen der Sachverhalte selbst [1]. Aus dieser prinzipiellen Beschränkung in der Lauterkeit des religiösen Sinns erfolgt nach Schleiermacher die menschliche Fehlleistung in ihrer Bezugnahme auf das Unendliche. Dies ist der zweite charakteristische Aspekt des irreligiösen Prinzips. Nachdem die Menschen in ihrer Verblendung das ursprünglich von Gott verliehene Unendlichkeitsbewusstsein verloren und gegen das bloße Endlichkeitsbewusstsein eingetauscht haben, unternehmen sie es, ihren aufgestauten Trieb nach dem Unendlichen im isolierten endlichen Wirklichkeitsbereich zu stillen. Zur bisherigen Unlauterkeit des religiösen Sinns in der Menschheit kommt nach Schleiermachers Beschreibung noch die Unverständigkeit des religiösen Sinns hinzu. Indem das Unendliche im Sinne eines einfachen endlichen Gegenstandes als ein Zuhandenes angesehen wird, versucht der verblendete Mensch sich demselben über einen dominant aktiven Zugang, d.h. über ein Wollen, zu nähern, anstatt sich vom Unendlichen, in einem Akt des Anschauens, passiv ergreifen zu lassen [2].110 Dieser auf Unverstand basierende selbstmächtige Zugriff rundet 108 

Vgl. auch KGA I/2, 258,35–259,5. die Beschreibung Osthöveners, der in Bezug auf das irreligiöse Prinzip in Schleiermachers Darstellung festhält: „Es muß hervorgehoben werden, daß damit kein Prinzip gemeint sein kann, das der Religion als solches fremd ist. Das irreligiöse Prinzip bezeichnet vielmehr ein der Religion als Ganzes innewohnendes lediglich ihrer Vollendung entgegenstehendes Strukturmerkmal.“ (Osthövener, „Erlösungsreligion“, 694 f.) 110 Vgl. hierzu direkt Osthövener, „Erlösungsreligion“, 692 f. In seiner Beschreibung übersieht Osthövener jedoch den systematischen Zusammenhang, in welchem sich der hier aufgezeigte Folgeaspekt des irreligiösen Prinzips, die sog. religiöse Unverständigkeit, mit dem Ursprungsaspekt des irreligiösen Prinzips, der sog. religiösen Unlauterkeit, befindet. 109  Ähnlich

424

Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

gewissermaßen den Verblendungszusammenhang der Menschheit durch das irreligiöse Prinzip ab. Durch das Zusammenspiel von Unlauterkeit und Unverständigkeit des religiösen Sinns ist es der Menschheit letztlich sowohl verwehrt, das empfangene Unendlichkeitsbewusstsein zu bewahren, als auch unmöglich, aus dem eigenständigen Bezug auf das Endliche, dieses Unendlichkeitsbewusstsein erneut zu generieren. Deswegen ist nach christlichem Verständnis der sündhafte Verblendungszusammenhang der Menschheit absolut und macht die radikale Erlösungsbedürftigkeit der Menschen durch ein geschichtliches Eingreifen des göttlichen Erlösers deutlich, oder wie Schleiermacher es in seinen späteren Auflagen der Reden formuliert: „[…] daß für den von dem Endlichen und Besonderen ergriffenen Menschen, dem sich nur gar zu leicht das Göttliche selbst in dieser [endlichen, C. K.] Form darstellt, nur Heil zu finden ist in der Erlösung.“111 Mit seiner Beschreibung des systematischen Doppelaspekts des irreligiösen Prinzips in der Religionsgeschichte bewegt sich Schleiermacher in Kontinuität zur Paulinischen Theologie, wie das folgende Römerbriefzitat aufzuzeigen vermag. Auch von Paulus wird an der grundsätzlichen Gottbezogenheit der Menschheit festgehalten, welche jedoch aufgrund der Unlauterkeit des religiösen Sinns bei allen Menschen einem Verfallensein an das Nichtige gewichen ist [1], woraus eine umfassende Verblendung der Menschheit resultiert, die mit dem Unverstand ihres religiösen Sinns bzw. ihres Herzens gleichgesetzt wird [2]: Denn obwohl sie Gott erkannten, haben sie ihm nicht die Ehre gegeben, die Gott gebührt, noch ihm Dank gesagt, sondern sie verfielen mit ihren Gedanken dem Nichtigen [1], und ihr unverständiges Herz verfinsterte sich [2].112

Im Christentum bildet die prinzipielle Erlösungsfähigkeit der Menschheit bei gleichzeitiger radikaler Erlösungsbedürftigkeit derselben, aufgrund des in ihr universal wirksamen irreligiösen Prinzips, den Ursprung der gesamten, d.h. alle positiven Religionen umfassenden Religionsgeschichte. Zweitens: Einen weiteren zentralen Stoff bzw. Gegenstand der christlichen Anschauung bildet das Eingreifen des göttlichen Erlösers in die Religions­ geschichte. Hierbei ist entscheidend, dass das göttliche Erlösungshandeln im Christentum durch die nachsichtige Geduld und beharrliche Langmut Gottes charakterisiert ist und sich demzufolge in einem göttlichen Erlösungswillen offenbart, der, ohne am „irdischen Sinn“113 des Menschen zu verzagen, unermüd111 

KGA I/12, 291,11–15 (kursiv, C. K.). 1,21 (Zürcher Bibel (kursiv und Nummerierung, C. K.)). Dass auch bei Paulus in diesem Zitat mit dem Verfall an das Nichtige und dem Unverstand des Herzens tatsächlich ein systematischer Zusammenhang von Grund und Folge in der religiösen Verblendung aufgezeigt wird, arbeitet auch Wilkens heraus. Vgl. dazu Wilkens, U., Der Brief an die Römer (Röm 1–5), in: Evangelisch Katholischer Kommentar zum NT [=EKK VI/1], hrsg. v. J. Blank/R. Schnackenburg/E. Schweizer/U. Wilkens, Neukirchen-Vluyn 1978, 107. 113  KGA I/2, 317,25. 112  Röm

§  13  Christentum

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lich geschäftig ist, von sich aus der Menschheit Erlösung durch Versöhnung mit ihm selbst zu ermöglichen. Das Ziel des göttlichen Erlösungshandelns besteht im Christentum darin, dass die Menschheit sich mit Gott durch Gott versöhnen lässt, d.h., sowohl sich für Gottes geschichtliche Selbsterschließungen als empfänglich erweist, als auch mit dem Vermögen ausgestatt wird, diese empfangenen Anschauungen wirkmächtig im eigenen Bewusstseinsleben zu bewahren. Nach Schleiermacher bildet folglich im Christentum die universale Erlösung der Menschheit durch Gottes versöhnendes Handeln das Ziel der gesamten, alle positiven Religionen einschließenden, Religionsgeschichte. Auch mit dieser Beschreibung des göttlichen Allversöhnungswillens steht Schleiermacher in Kontinuität zur Paulinischen Theologie, wie sich dieselbe epigrammatisch in Röm 11,32 zeigt: „Denn Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, um allen seine Barmherzigkeit zu erweisen.“114 Drittens: Der abschließende zentrale Gegenstand des Christentums ist der evolutionäre Vollzug des göttlichen Erlösungsgeschehens an der Menschheit. Gottes universal-versöhnendes Erlösungshandeln erfolgt nach christlicher Auffassung nicht auf einen Schlag, sondern vollzieht sich vielmehr etappenweise in einer geschichtlichen Stufenfolge zunehmend vom irreligiösen Prinzip befreiter religiöser Mittlergestalten. Auf diese Weise wird nach Schleiermacher der im Judentum hauptsächlich als sittlich aufgefasste Dialog zwischen Gott und der Menschheit im Christentum zu dem Verständnis eines sich geschichtlich ent­w ickelnden religiösen Erlösungsprozesses vertieft. Nach christlicher Auffassung bezieht sich das göttliche Handeln im Unterschied zum Judentum „nicht auf die unmittelbaren Folgen […], nicht das Glük und Leiden im Auge habend welches sie hervorbringt, nicht mehr einzelne Handlungen hindernd oder fördernd“115. Vielmehr ist das göttliche Handeln, aufgefasst als sich geschichtlich ent­ wickelndes Erlösungshandeln, darauf „bedacht dem Verderben zu steuern in großen Maßen“116. Indem auf diese Weise nach christlicher Vorstellung die Ordnung des menschlichen Wohlergehens von dem unmittelbaren göttlichen Wohlgefallen abgelöst wird, werden die partikularen und statischen Auffassungen des Judentums von einem Tun-Ergehen-Zusammenhang zwischen Gott und seinem Volk zu Gunsten eines universalen und dynamischen Erlösungsprozesses der gesamten Menschheit überwunden. 114  Röm 11,32 (Zürcher Bibel). Vgl. hierzu auch Wilkens, Der Brief an die Römer (Röm 6–11), EKK VI/II, 265: „So kann Paulus sagen, daß die Unheilsgeschichte der gesamten Menschheit nicht in sich steht, sondern einen paradoxen, weil kontingenten Sinn hat, nämlich die göttliche Bestimmung dieser gesamten Unheilsgeschichte zu ihrer Auf hebung durch Gottes Erbarmen als der letzten, eigentlichen Wirklichkeit der Menschheitsgeschichte.“ Vgl. auch Schleiermachers spätere Auffassung zur Allversöhnungslehre in: KGA I/13.2, 486–493. 115  KGA I/2, 317,10–13. 116  KGA I/2, 317,10–14.

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Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

Der Modus dieses Erlösungsprozesses ist die kontinuierlich zunehmende Klarheit und Deutlichkeit der göttlichen Selbsterschließungen, die sich in Form von stetig perfektionierten Mittlergestalten manifestiert: „[…] immer neue Veranstaltungen trift die Gottheit, immer herrlichere Offenbarungen gehen durch ihre Kraft allein aus dem Schooße der alten hervor, immer erhabnere Mittler stellt sie auf zwischen sich und den Menschen“117. Die stetige Perfektionierung der Mittlergestalten erfolgt nach christlicher Auffasung durch die zunehmende Vermittlung von Gottheit und Menschheit in den Mittlern selbst: „[…] immer inniger vereinigt sie in jedem späteren Gesandten die Gottheit mit der Menschheit [1], damit durch sie und von ihnen die Menschen lernen mögen das ewige Wesen erkennen [2]“118. Im Zusammenhang mit der Religionskonzeption der Reden kann unter dieser Beschreibung nur verstanden werden, dass in jedem Mittler eine prozessual aufsteigende Klarheit und Stetigkeit in der Dominanz seines religiösen Bewusstseins über sein sinnliches Bewusstsein vorherrscht [1]. Geschichte ist nach Ansicht des Christentums ihrem Wesen nach ein erlösendes Bildungsgeschehen [2]. Geschichte verdankt sich zwar ihrem Ursprung nach göttlicher Aktivität, weil sie jedoch ein erlösendes Bildungsgeschehen darstellt, schließt sie die stufenweise bzw. evolutionär verlaufende Einsicht und Aktivität der gesamten Menschheit konstitutiv mit ein. Demgemäß ist das Christentum in der Wahrnehmung der Geschichte nicht auf einzelne Tatsachen oder Geschehnisse bezogen, sondern ist sich vielmehr der „göttlichen Weltordnung“119 insgesamt bewusst. Im Christentum bildet somit der evolutionäre Bildungsprozess der Menschheit, welcher sich der göttlichen Weltordnung verdankt, die Vollzugsweise der gesamten, alle positiven Religionen einschließenden, Religionsgeschichte. Auch in diesem Gedanken lassen sich wiederum Parallelen zum corpus paulinum aufzeigen, zentral in Röm 11–12. Insgesamt kann für Schleiermachers Beschreibung des Stoffs des Christentums festgehalten werden: Im Christentum wird die Religionsgeschichte selbst angeschaut. Sie erscheint wesentlich als Selbsterschließung des erlösenden Gottes zu der erlösungsfähigen aber erlösungsbedürftigen Menschheit mittels eines reli­ giösen Bildungsgeschehens, welches im Rahmen und gemäß der göttlichen Weltordnung abläuft, wobei es an evolutionär perfektionierte religiöse Mittlergestalten gebunden ist, und sich zum Zweck der Allversöhnung der Menschheit mit Gott ereignet. Nach Schleiermacher begründet diese Ansicht, dass das Christentum die Religionsgeschichte zum Stoff ihrer Betrachtungen macht, d.h. dass es „die Religion selbst als Stoff für die Religion verarbeitet“120, den 117 

KGA I/2, 317,26–29 (kursiv, C. K.). KGA I/2, 317,29 ff. 119  KGA I/12, 286,26. 120  KGA I/2, 317,35 f. 118 

§  13  Christentum

427

eigentümlichen Charakter und den hohen Wert des Christentums. Auf diese Weise wird sich die Religion im Christentum umfassend ihres eigenen Wesens, d.h. ihres Ursprungs, ihrer Entwicklungsgeschichte und ihres Zieles bewusst. Das allgemeine Wesen der Religion wird im Christentum explizit zur religiösen Zentralanschauung selbst erhoben. Im Christentum ereignet sich somit die unmittelbare Reflexivität der Religion auf ihr eigenes Wesen. Dieser Umstand ist es, der Schleiermacher davon sprechen lässt, dass das Christentum in Bezug auf die Religion „gleichsam eine höhere Potenz derselben ist“121. Diese höhere Potenz der Religion stellt das Christentum deswegen dar, weil in ihm dasjenige, was in allen anderen positiven Religionen bloß unbewusst vorausgesetzt wird, selbst als Thema der Anschauung erscheint.122 Der Ausdruck „höhere Potenz“ meint somit die religiöse Selbstthematisierung der Religion, wie sie im Christentum erfolgt. Aus diesem Grunde kann man im Anschluss an Schleiermachers Beschreibung festhalten: So wie das religiöse Bewusstsein das Selbstbewusstsein des endlichen Geistes darstellt,123 so bildet das Christentum das Selbstbewusstsein der Religion. Dies ist aber nicht der einzige Grund für die religionstheologische Höchst­ geltung des Christentums. Diese These wird im Folgenden durch die Analyse von Schleiermachers Darstellung der religiösen Form des Christentums (3.) und seiner Sonderstellung in der Religionsgeschichte (4.) bekräftigt. 3.  Religiöse Form des Christentums Die religiöse Form des Christentums besteht in dem Bestreben nach Läuterung und Stetigkeit der im Erlösungsprozess bereits erweckten religiösen Anlage mittels Polemik bei sich selbst und bei sämtlichen anderen positiven Religionen. Aus Schleiermachers Beschreibung in den Reden geht eindeutig hervor, dass er die Beziehung zwischen dem Stoff des Christentums und seiner Form analog zu seinen späteren Vorstellungen vom Verhältnis zwischen der gläubigen Wiedergeburt und dem hierauf anhebenden Heiligungsprozess begreift. In seiner Glaubenslehre hält er in Bezug auf dieses Verhältnis fest, dass es in der religiösen Bildungsgeschichte jedes Menschen auf der einen Seite „die Voraussezung eines Wendepunkts [gibt, C. K.], mit welchem die Stetigkeit des ­a lten auf hörte und die des neuen zu werden begann; und dies ist das wesentliche des 121 

KGA I/2, 317,36 (kursiv, C. K.). hierzu einschlägig Wagner, Was ist Religion?, 70: „Fußen die positiven Religionen auf einer bestimmten Anschauung des Unendlichen im Endlichen, so wird mit dem Christentum die grundlegende Voraussetzung jener Anschauung thematisiert, die die bestimmten Religionen unbesehen in Anspruch nehmen.“ Vgl. auch Rohls, „Das Christentum“, 73: „Das Wesen der Religion, die Vermittlung des Endlichen mit dem Unendlichen, wird im Christentum selbst zur Zentralanschauung, weshalb [es, C. K.] als Religion der Religionen bezeichnet werden kann.“ 123  Vgl. in der vorliegenden Arbeit §  7.2.–3. 122  Siehe

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Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

Begriffs der Wiedergeburt. So wie auf der andern Seite die wachsende Stätigkeit des neuen […] durch den Ausdrukk Heiligung bezeichnet wird.“124

In seiner Thematisierung der Religionsgeschichte geht es dem Christentum um den Vorgang der Erlösung, d.h., um den Prozess der religiösen „Wiederherstellung“125 bzw. der religiösen Wiedergeburt der erlösungsfähigen Menschheit. Mit seiner Beschreibung der religiösen Form des Christentums wendet sich Schleiermacher den bereits wiedergeborenen Christen selbst zu. Welcher religiöse Charakter ist ihnen wesensgemäß, da sie sich dessen bewusst sind, dass die religiöse Menschheitsgeschichte ein erlösendes Bildungsgeschehen darstellt?126 Schleiermachers Antwort hierauf ist eindeutig: Eben weil überall das irreligiöse Prinzip ist und wirkt [1], und weil alles Wirkliche zugleich als unheilig erscheint [2], ist eine unendliche Heiligkeit das Ziel des Christenthums [3].127

Das Bewusstsein der Christen von ihrem Erlöstsein durch das göttliche Er­ lösungshandeln beinhaltet das Bewusstsein, allein auf sich selbst gestellt, d.h. aus eigener Kraft, zu keiner Erlösung befähigt zu sein. Folglich beinhaltet das Er­ lösungsbewusstsein die Einsicht in die Universalität des irreligiösen Prinzips in allen menschlichen Angelegenheiten [1]. Und weil es sich bei dem Erlösungsgeschehen nach christlicher Auffassung um keine gänzliche Neuschöpfung des Menschen handelt, sondern als erlösendes Bildungsgeschehen eine progressive Aktualisierung seiner potenziellen religiösen Anlage darstellt, ist selbst im Stand der Wiedergeburt das irreligiöse Prinzip nicht gänzlich getilgt, sondern weiterhin wirksam. Hierdurch erscheinen dem Christentum alle bereits wirklich gewordenen Manifestationen der religiösen Gemütsanlage „zugleich als unheilig“, d.h., ihm zufolge birgt ausnahmslos jede endliche Manifestation der reli­ giösen Anlage noch wirkmächtige Reste des irreligiösen Prinzips in sich [2]. In dieser Situation setzt die Form des Christentums an. Sie besteht nach Schleiermacher darin, im bereits erlangten Stand der religiösen Wiedergeburt, d.h. im Bewusstsein, von Gott erlöst zu sein, dieser erfahrenen Erlösungskraft in sich selbst und anderen vollständig zur Verwirklichung zu verhelfen. In dem christlichen Bewusstsein des Erlöstseins ist zwar die Macht des irreligiösen Prinzips über die Menschheit grundsätzlich gebrochen, dennoch ist die tatsächliche Wirksamkeit des irreligiösen Prinzips in den einzelnen Menschen keineswegs restlos getilgt, sondern muss durch das selbständige und kritische Wirken jedes einzelnen Menschen bekämpft werden. Nach christlicher Ansicht ist jeder 124 

KGA I/13.3, 165,23–30 (kursiv, C. K.). Vgl. auch KGA I/2, 318,12 f. 126 Vgl. KGA I/2, 317,33–37 (kursiv, C. K.): „Dieses, daß das Christenthum in seiner eigentlichsten Grundanschauung am meisten und liebsten das Universum in der Religion und ihrer Geschichte anschaut, […] das macht das unterscheidenste seines Charakters, das bestimmt seine ganze Form.“ 127  KGA I/2, 318,34 ff. 125 

§  13  Christentum

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religiöse Mensch dadurch charakterisiert, sich im Rahmen seines Befreitseins von der Wirksamkeit des irreligiösen Prinzips selbst zu befreien. Dieser Heiligungsvorgang jedes religiösen Menschen ist, aufgrund des oben in [2] Gezeigten, notwendigerweise „unendlich“ und kann demzufolge nur approximativ erfolgen. Im Zentrum der Heiligung steht die mit der Wiedergeburt erlangte Befähigung und Beauftragung zur fortwährenden Überwindung des irreligiösen Prinzips in sich selbst und anderen, um sich auf diese Weise dem Erlöstsein als würdig zu erweisen [3]. Schleiermachers Charakterisierung der christlichen Heiligungsgewissheit als des Befreitseins zur Freiheit zeigt erneut seine Kontinuität zur Paulinischen Theologie auf 128 und ist in diesem Zusammenhang als seine selbstbewusstseinstheoretische Interpretation der reformatorischen Einsicht des menschlichen simul iustus et peccator anzusehen.129 Bezieht sich Schleiermachers Beschreibung des christlichen Stoffs auf das göttliche Erlösungsgeschehen, dass sich am Menschen vollzieht, so ergänzt er dieses Bild mit der Charakterisierung der christlichen Form, welche die spezifische Art und Weise der Beteiligung des Menschen am göttlichen Erlösungsgeschehen beschreibt. Es ergibt sich aus dieser gegenseitigen Bezugnahme von Stoff und Form des Christentums die Ansicht von der asymmetrisch verfassten cooperatio dei et hominum: Asymmetrisch ist dieses Zusammenwirken zwischen Gott und den Menschen, weil nach christlicher Ansicht alle menschlichen Freiheitsvollzüge ihre Möglichkeitsbedingungen im göttlichen Erlösungeschehen besitzen, d.h. die Heiligung die Wiedergeburt voraussetzt. Dennoch handelt es sich hierbei um ein reales Zusammenwirken zwischen Gott und den Menschen, denn Gottes erlösendes Bildungsgeschehen intendiert die Befreiung des Menschen zum adäquaten Bewusstsein und Vollzug seiner endlichen Freiheit. In diesem Sinne führt die Heiligung die Wiedergeburt fort und vollendet sie. Aus dem Gezeigten folgt unmittelbar, dass erstens das Heiligungsgeschehen nur als reinigendes Läuterungsgeschehen und als erweiterndes Stetigkeitsbestreben des allein durch Gott geschaffenen und geweckten religiösen Bewusstseins aufzufassen ist. Der Heiligungsprozess ist im Christentum nicht religionsgenerierend, sondern ausschließlich religionsoptimierend. Zweitens kann dieses Heiligungsgeschehen ausschließlich als religiöse Polemik erfolgen. Weil sich menschliches Handeln nur auf Endliches beziehen kann, können die Vollzüge zur religiösen Läuterung und Stetigkeit nicht auf das die Religion verursachende Unendliche, sondern nur auf das die Religion verunreinigende und einschränkende Endliche bezogen sein, und d.h., sich allein 128 

Vgl. Gal 5,1: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ (Zürcher Bibel) Luther, M., Brief an die Römer (1515/16), in: ders., D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe [=WA], Bd. 56, Weimar 1938, 269,21–24. 129 Vgl.

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Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

entlarvend und bekämpfend gegen das irreligiöse Prinzip in allem Endlichen richten. Schleiermacher zufolge ist daher das christliche Heiligungsgeschehen seinem Prinzip nach zwar ein schonungsloses „Polemisieren gegen das Verderben“130, dieses erfolgt jedoch ausnahmslos mit dem positiven Ziel der Optimierung und umfassenden Verwirklichung des religiösen Bewusstseins. Deswegen ist es ungenau, in Bezug auf Schleiermachers Beschreibung der christlichen Polemik ausschließlich von einer negativen Verdachtshermeneutik zu sprechen. Vielmehr ordnet er die christliche Polemik in das christliche Heiligungsverständnis ein. Hierdurch räumt er ihr eine sachnotwendige Stelle im menschlichen Erlösungsprozess ein und und spricht ihr eine unverzichtbare und positive bildungshermeneutische Funktion zu. Die christliche Polemik stellt keinen Selbstzweck dar und ist weder als ein religiöses Querulantentum noch als Ausdruck einer religiösen Paranoia aufzufassen, sondern ist die kritische Entlarvung irreligiöser Tendenzen allein am Maßstab, zugunsten und in den Grenzen des erlösenden Bildungsprozesses der Menschheit.131 Konkret geht es einerseits in der reinigenden Läuterung des religiösen Bewusstseins im Christentum darum, klar und deutlich zwischen dem endlichen und dem religiösen Bereich zu unterscheiden, d.h., die Religion von allen sinnlichen Beimischungen zu befreien. Dieses unendliche Streben nach einem religiösen Bewusstsein ohne Beimischung kennzeichnet nach Schleiermacher die qualitative „Idealität“ des Christentums.132 Dabei unterscheidet er eine äußere Polemik der Christen gegenüber anderen Religionen in KGA I/2, 318,2–27 von einer inneren Polemik, bei der die Christen sich selbstkritisch mit ihrer eigenen Religion auseinandersetzen in KGA I/2, 318,27–28.133 Seine Beschreibung der äußeren Polemik beschränkt sich auf die christliche Kritik am Judentum und dem griechischen Polytheismus. Schleiermacher diagnostiziert als zentralen irreligiösen Rest im griechischen Polytheismus dessen prinzipielle Mangelhaftigkeit in der klaren Erfassung des wahren Unendlichen. Indem im griechischen Polytheismus noch eine unbewusste Vermischung von sinnlicher und religiöser Wirklichkeitsdimension stattfindet, kann in ihm das 130 

KGA I/2, 318,22 f. I/2, 318,23–27: „Nirgends verkannten sie die Grundzüge des göttlichen Ebenbildes, in allen Entstellungen und Entartungen sahen sie gewiß den himmlischen Keim der Religion; aber als Christen war ihnen die Hauptsache die Entfernung vom Universum, die einen Mittler bedarf, und so oft sie Christenthum sprachen gingen sie nur darauf.“ 132  KGA I/2, 318,30–34: „Nirgends ist die Religion so vollkommen idealisiert, als im Christenthum und durch die ursprüngliche Voraussezung deßelben; und eben damit zugleich ist immerwährendes Polemisieren gegen Alles Wirkliche in der Religion als eine Aufgabe hingestellt, der nie völlig Genüge geleistet werden kann.“ 133 In späteren theologischen Schriften hat Schleiermacher die nach außen gerichtete Auseinandersetzung als „Apologetik“ und nur die nach innen gerichtete Selbstkritik des Christentums als „Polemik“ bezeichnet. Vgl. KGA I/6, 243–446, hier: 340,21–341,19. 131  KGA

§  13  Christentum

431

Unendliche nicht als Grund und Totalität alles Endlichen erfasst werden und fällt daher als grundsätzlich defizitäre Religionsstufe der christlichen Polemik anheim.134 Im entwicklungsgeschichtlich höherstehenden Judentum hingegen richtet sich die christliche Polemik nicht gegen dessen grundsätzliche Beschränktheit zur Wahrnehmung des wahren Unendlichen, sondern ausschließlich gegen die im jüdischen Messianismus enthaltenen irreligiösen Reste. Am jüdischen Messianismus hat sich Schleiermacher zufolge zwar gezeigt, dass das Judentum eine religiöse Erlösungshoffnung besitzt und über eine rudimentäre Ahnung vom Wesen der Religionsgeschichte als eines Erlösungsgeschehens verfügt. Allerdings ist ihm zufolge diese jüdische Erlösungshoffnung darin defizitär, dass sie keine evolutionär verlaufende Optimierung des religiösen Bewusstseins erhofft, sondern einen regressiven Weltzustand herbeisehnt, in welchem ihre nur partikulare Zentralanschauung weiterhin Gültigkeit besitzt.135 Man sieht, dass Schleiermacher in seiner Beschreibung der äußeren christlichen Polemik diejenigen einschlägigen Elemente in den Fokus rückt, die er selbst im Rahmen seiner allgemeinen Religionstheorie herausgestellt hat136 und auf diese Weise bestimmt er nochmals indirekt seine eigene Religion als dezidiert christlich. Zugleich nimmt er in seiner Darstellung der äußeren christlichen Polemik zentrale Ansichten der christlichen Überlieferung auf.137 In seiner Darstellung der inneren Polemik verdeutlicht Schleiermacher die im Christentum enthaltene Fähigkeit zur religiösen Selbstkritik. Hierzu hält er fest: Daßselbe, was exoterisch heilig gepriesen und als das Wesen der Religion aufgestellt ist vor der Welt, ist [im Christentum, C. K.] immer noch esoterisch einem strengen und wiederholten Gericht unterworfen, damit immer mehr unreines abgeschieden werde, 134  „Kühn führte es [das Christentum, C. K.] die Heiden hinweg über die Trennung die sie gemacht hatten zwischen dem Leben und der Welt der Götter und der Menschen. Wer nicht in dem Ewigen lebt, webt und ist, dem ist er völlig unbekannt, wer dies natürliche Gefühl, wer diese innere Anschauung verloren hat unter der Menge sinnlicher Eindrüke und Begierden, in deßen beschränkten Sinn ist noch keine Religion gekommen.“ (KGA I/2, 318,14–20) 135  „So zerstörte es [das Christentum, C. K.] – und dies war fast seine erste Bewegung – die lezte Erwartung seiner nächsten Brüder und Zeitgenoßen, und nannte es irreligiös und gottlos eine andere Wiederherstellung zu wünschen und zu erwarten als die zur beßeren Religion, zur höheren Ansicht der Dinge, und zum ewigen Leben in Gott.“ (KGA I/2, 318,10–14). Gegen Hirschs Interpretation geht es Schleiermacher auch bei diesen Ausdrücken nicht um die religiöse „Vernichtung des Judentums“, sondern zunächst um eine religionstheologische Kritik am Messianismus (Hirsch, Geschichte VI, 536). Vgl. hierzu auch Beckmann, Die fremde Wurzel, 39. 136  Zur Kritik am griechischen Polytheismus vgl. KGA I/2, 244,28–245,5 und zur Kritik am Judentum vgl. KGA I/2, 316,9–25. 137 Vgl. hierzu die deutliche Referenz Schleiermachers auf Apg 17,28 („In ihm [d.h. Gott, C. K.] nämlich leben, weben und sind wir“) in: KGA I/2, 318,16 f. („Wer nicht in dem Ewigen lebt, webt und ist, dem ist er völlig unbekannt“) und die Anklänge an Apg 18,5–7.28 in: KGA I/2, 318,10–14.

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Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

und der Glanz der himmlischen Farben immer ungetrübter erscheine an allen Anschauungen des Unendlichen.138

Exoterische Kritik an anderen positiven Religionen aufgrund höherer eigener Einsichten und esoterische Selbstkritik eben dieser höheren Einsichten gehören im Christentum zusammen. Sie stellen die zwei sich ergänzenden Seiten des christlichen Läuterungsbestrebens dar, welches sich die religiöse Heiligung der gesamten Menschheit zum Ziel gesetzt hat. Diese Art der Polemik charakterisiert Schleiermacher als „heiligen Krieg“139. Im christlichen Heiligungsprozess geht es andererseits konkret um die auszuweitende Stetigkeit des religiösen Bewusstseins, worunter Schleiermacher die sog. religiöse „Virtuosität“ versteht, die demjenigen Menschen zukommt, dessen Religion das menschliche Gemüt ohne Unterbrechung begleitet. Auf diese Weise unternimmt es die christliche Polemik, dazu beizutragen, dass die Religion zu einem „Continuum im menschlichen Gemüt“140 heranreift. Dieses Bestreben nach permanentem Religionsbezug des menschlichen Gemüts, basiert nach Schleiermacher auf der christlichen „Unersättlichkeit nach Religion“141. Im Umkehrschluss wird im Christentum jedes Bewusstseinsmoment, in welchem sich ein endlicher Eindruck nicht auf das Unendliche beziehen lässt, als eine „Unterbrechung der Religion“142 angesehen, die, weil sie nicht durch das Unendliche selbst gewirkt sein kann, als Folge des irreligiösen menschlichen Sinns angesehen werden muss und mithin „Irreligion“ ist.143 Das Christentum verlangt somit, dass die Religion alle Lebensbereiche des Menschen stetig umfasst: Von allem Endlichen sollen wir aufs Unendliche sehen, allen Empfindungen des Gemüths, woher sie auch entstanden sind, allen Handlungen, auf welche Gegenstände sie

138 

KGA I/2, 319,6–11. I/2, 319,26. Aus dem Gezeigten folgt, dass ein Missverständnis vorliegt, wenn man Schleiermachers Terminus des „heiligen Krieges“ als Aufruf zu einer Form von göttlich befohlener oder legitimierter Gewalttat, sei es leiblicher oder geistiger, gegen Nichtchristen auffassen würde. Vielmehr wird der Ausdruck von Schleiermacher erstens nur in Bezug auf die selbstkritische Polemik des Christentums verwendet. Im heiligen Krieg richtet das Christentum „seine polemische Kraft gegen sich selbst“ (KGA I/2, 319,16). Und zweitens ist das „Heilige“ in diesem Ausdruck nicht als genitivus auctoris aufzufassen, in dem Fall wäre das Heilige die Ursache des Krieges. Das „Heilige“ ist vielmehr als genitivus objectivus zu verstehen. Es ist also nicht „der Krieg des Heiligen“ bzw. „der Krieg der Heiligen“, sondern „der Krieg um das Heilige“. Dieser sog. Krieg zwischen der Religion und dem irreligiösen Prinzip beinhaltet aber keinerlei gewalttätiges Verfahren gegen Menschen, sondern wird gemäß dem Stifter des Christentums mit „sanfter Seele“ im „Geist der Religion“ (KGA I/2, 319,22 ff.) ausgetragen. 140  KGA I/2, 320,1. 141  KGA I/2, 319,30 f. 142  KGA I/2, 319,34. 143  KGA I/2, 319,34 f. 139  KGA

§  13  Christentum

433

sich auch beziehen mögen, sollen wir im Stande sein religiöse Gefühle und Ansichten beizugesellen. Das ist das eigentliche höchste Ziel der Virtuosität im Christenthum.144

Die Möglichkeitsbedingungen für diese universale Gemütsausbreitung der Religion liegt in Schleiermachers Verständnis von ihrer inhaltlichen Koordination und formalen Superordination begründet, wie er sie in KGA I/2, 211,27–213,33 dargestellt hat145 und wonach die Religion die anderen Gemütsvermögen nicht (letzt-)begründet, sondern vielmehr umfassend begleitet, indem sie deren adäquate Ausübung gewährt.146 Das Streben des Christentums nach unterbrechungsloser Stetigkeit des religiösen Bewusstseins ist deswegen nicht als Zustand eines religiösen Fanatismus aufzufassen,147 demzufolge die Religion in absolute Zuständigkeit gesetzt, letztlich sämtliche andere Wirklichkeitsbezüge zu eliminieren trachtet. Dieses Streben ist vielmehr als das christliche Verlangen anzusehen, allen menschlichen Gemütsvermögen die ihnen vom Grund des endlichen Seins zugewiesene Bedeutung zukommen zu lassen. Das Streben nach ununterbrochene Stetigkeit der Religion ist nicht der Ausdruck eines bildungstheoretischen Rückfalls des Christentums in einen Zustand voraufgeklärten Aberglaubens, sondern der einzig angemessene Garant jeder Bemühungen um bildungstheoretische Auf klärung selbst. Insgesamt lässt sich im Anschluss an Schleiermachers Charakterisierung des Stoffs und der Form des Christentums festhalten, dass sich das Christentum als Selbstbewusstsein und angestrebte Selbstverwirklichung der Religion nicht allein als die faktisch höchste, sondern aus begrifflichen Gründen als die höchstmögliche Religion überhaupt erweist.148 Das Christentum bezieht sich mit seinem klaren Bewusstsein von der asymmetrischen cooperatio dei et hominum direkt auf die fundamentalen Möglichkeits- und Verwirklichungsbedingung von Religion überhaupt.

144  KGA

I/12, 289,26–31. Vgl. in vorliegender Arbeit §  6. 146  In seiner Charakterisierung der Virtuosität des Christentums greift Schleiermacher in der fünften Rede implizit seine allgemeine Behauptung der zweiten Rede wieder auf, wonach jeder Mensch „alles mit Religion thun [soll], nichts aus Religion.“ (KGA I/2, 219,23 f.) 147  Gegen Leviseurs Interpretation, der diese Gefahr bereits bei Schleiermachers allgemeinem Religionsbegriff sieht (Leviseur, S., Der Religionsbegriff bei Schleiermacher und Kant, Kassel 1841, 46). 148 Gegen Süskind, Christentum und Geschichte, 25–30 und Elert, W., Der Kampf um das Christentum. Geschichte und der Beziehungen zwischen dem evangelischen Christentum in Deutschland und dem allgemeinen Denken seit Schleiermacher und Hegel, München 1921. Elert prägte im Anschluss an Süskind in seiner Schrift die irrtümliche jedoch bis heute durchaus gängige Formulierung (vgl. z.B. bei Fischer, H., Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (Beck’sche Reihe Denker 563), München 2001, 56), dass Schleiermacher in den Reden „die grundsätzliche Überbietbarkeit des Christentums zugegeben, die faktische Überbietbarkeit aber geleugnet [hat, C. K.]“. (Elert, Der Kampf um das Christentum, 64) 145 

434

Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

Die christliche Religion ist auf diese Weise nach Schleiermacher im höchsten Maße unendlich gebildetes Bewusstsein. In ihr ist sich der Mensch gewiss, dass ein religiöses Bewusstsein nur möglich ist, aufgrund eines erlösenden Bildungshandeln Gottes, das den irreligiösen Verblendungszusammenhang der Menschheit durchbricht, indem es darauf abzielt, die einzelnen Menschen progressiv zum Bewusstsein ihrer wahren Freiheit zu bilden. Dieses Zusammenspiel von im höchsten Maße unendlich gebildetem klarem religiösen Selbstbewusstsein und dem unendlichen Streben nach deutlicher religiöser Bildung bei sich und anderen charakterisiert auch das religiöse Grundgefühl des Christentums. Schleiermacher beschreibt es als „das Gefühl einer unbefriedigten Sehnsucht, die auf einen großen Gegenstand gerichtet ist, und deren Unendlichkeit [der Christ] sich bewusst“ ist.149 Und er präzisiert es als ein Gefühl höherer Melancholie bzw. als die jedem Christen150 innewohnende „heilige Wehmut“151. Hiermit manifestiert sich nach Schleiermacher im Christentum das jeder Religion zugrundeliegende in sich differenzierte Gefühl der Frömmigkeit. Das Grundgefühl aller Religionen ist ihm zufolge nicht allein eine rein niederdrückende Ehrfurcht oder eine erhebende Liebe, sondern deren innige Verbundenheit als demütige Liebe bzw. liebende Demut.152 Diese interne Differenzierung von niederdrückendem und erhebendem Gefühlsaspekt der Frömmigkeit erlangt in der heiligen Wehmut des Christentums ein Höchstmaß an Konkretisierung. 4.  Die Sonderstellung des Christentums in der Religionsgeschichte Aus Schleiermachers Verständnis des Christentums als Selbstbewusstsein und Selbstverwirklichungsgestalt der Religion ergeben sich zwei Konsequenzen für den religionstheologischen Geltungsanspruch des Christentums, die zugleich seine Sonderstellung in der Religionsgeschichte kennzeichnen. Die erste betrifft seine zeitliche Dauer als Religion, die zweite stellt sein Verhältnis zu den anderen positiven Religionen heraus. Erstens: Schleiermacher begründet in den Reden zunächst via negationis die ewige Dauer des Christentums, indem er zwei inhaltliche Kriterien benennt, nach denen es untergehen könnte und aufzeigt, dass diese Kriterien im Falle des Christentums prinzipiell nicht greifen: Zum einen könnte seines Erachtens das Christentum nur unter der Bedingung untergehen, dass sein vornehmlicher Bezugsgegenstand, das irreligiöse Prinzip im Menschen, gänzlich überwunden wird, denn die „Verderblichkeit alles Großen und Göttlichen in den menschlichen Dingen ist die eine Hälfte 149 

KGA I/2, 320,12 ff. KGA I/2, 320,30 f. 151  KGA I/2, 320,19. 152  Vgl. dazu in vorliegender Arbeit §  8.1. 150 

§  13  Christentum

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von der ursprünglichen Anschauung des Christenthums“153. Allerdings bezweifelt Schleiermacher in Form einer rhetorischen Frage, dass dieses irreligiöse Prinzip, gerade weil es dem Menschen als endlichem Wesen mit Notwendigkeit anhaftet, jemals vollständig beseitigt werden kann: „[…] sollte wirklich eine Zeit kommen, wo diese [Verderblichkeit, C. K.] […] sich nicht mehr aufdränge?“154 Zum anderen könnte das Christentum nur untergehen, wenn die Religion in allen Menschen auf gleiche Weise zu einem stetigen Kontinuum geworden ist, so dass es keiner religiösen Mittler mehr bedarf, um die christliche Religiosität neu zu wecken: „Daß gewiße glänzende und göttliche Punkte der ursprüng­ liche Siz jeder Verbeßerung dieses Verderbnißes sind […] dies ist der andere Punkt“155 in der ursprünglichen Anschauung des Christentums. Eine derartige allgemeine religiöse Gleichheit aller Menschen ist aber innergeschichtlich wiederum aufgrund der verderblichen Einflüsse des irreligiösen Prinzips in der menschlichen Natur „wol weniger möglich als irgend eine sonst“156. Der Untergang des Christentums als Religion ist somit nach Schleiermacher innergeschichtlich unmöglich, denn weder kann jemals in der Geschichte der Menschheit das irreligiöse Prinzip vollkommen aus der menschlichen Natur entfernt werden, noch kann jemals innergeschichtlich eine religiöse Gleichheit zwischen den Menschen bestehen, die das Erscheinen neuer religiöser Mittler überflüssig macht. Aus diesen beiden Gründen wird jede neue geschichtliche „Epoche der Menschheit“ zu einer „Palingenesie des Christentums“157. An Schleiermachers Argumentation wird deutlich, dass er beim Christentum, anders als beim Judentum, nicht mit einem Untergang aufgrund von Konfliktfällen mit anderen, außerreligiösen Wirklichkeitserfahrungen rechnet. Weil die klare Unterscheidung zwischen dem Bereich des Unendlichen und dem des Endlichen im christlichen Bewusstsein seines Erachtens vollständig durchgeführt ist, kann ein mögliches Ende der christlichen Religion nicht aufgrund der Partikularität seiner Zentralanschauung eintreten, sondern könnte sich ausschließlich als Folge seiner universalen Geltung ereignen. Ein möglicher Untergang des Christentums wäre somit keineswegs wie bei anderen Religionen die notwendige Folge seiner inhärenten Begrenztheit, sondern vielmehr das Ergebnis seiner umfassenden geschichtlichen Vollendung. Hieran zeigt sich, dass das Christentum nach Schleiermacher, so wie in der Glaubenslehre als vollendete monotheistische Religion, bereits in den Reden als die vollendete systematische Religion aufgefasst wird. 153 

KGA I/2, 324,19–22. KGA I/2, 324,22 ff. 155  KGA I/2, 324,30 ff. 156  KGA I/2, 324,37. 157  KGA I/2, 324,1. 154 

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Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

Zweitens: Im Anschluss an die Darstellung des Christentums als Höchstform der Religion und seiner daraus folgenden ewigen Gültigkeit in der Religionsgeschichte stellt sich die Frage nach dem Bezug des Christentums zu den anderen Religionen: Wenn es nun aber immer Christen geben wird, soll deswegen das Christenthum auch in seiner allgemeinen Verbreitung unendlich und als die einzige Gestalt der Religion in der Menschheit allein herrschend sein?158

Er verneint diese Frage auf zweifache Weise: Zunächst hält er negativ fest, dass sich das Verhältnis des Christentums zu den anderen Religionen keineswegs in Form der Analogie von Wahrheit zu Falschheit fassen lässt: Es verschmäht diesen Despotismus, es ehrt jedes seiner Elemente genug um es gern auch als Mittelpunkt eines eignen Ganzen anzuschauen; es will nicht nur in sich Mannigfaltigkeit bis ins Unendliche erzeugen, sondern sie auch außer sich anschauen.159

Mit dieser negativen Bestimmung macht Schleiermacher deutlich, dass er keinen religionstheologischen Alleingeltungsanspruch des Christentums vertritt. Das Christentum akzeptiert die Geltungsansprüche der anderen Religionen. Es ist daran interessiert, seine eigenen Elemente, d.h. seine religiösen Einzelanschauungen in anderen positiven Religionen zu religiösen Zentralanschauungen nobilitiert zu sehen. Somit besteht nach Schleiermacher ein religionstheologischer Gesamtgeltungsanspruch der positiven Religionen. Mit diesem Neologismus wird hervorgehoben, dass es zum Wesen des Christentums gehört, in einem konstitutiven Bezug auf alle anderen positiven Religionen zu stehen. Aus diesen Gründen grenzt sich Schleiermachers Religionstheologie der Reden von jedem religionstheologischen Exklusivismus scharf ab.160 Dieser religionstheologische Gesamtgeltungsanspruch besagt aber keineswegs, dass die Geltungansprüche aller positiven Religionen über den gleichen Wert verfügen. Religionstheologische Wertschätzung beinhaltet nicht zwangsläufig religionstheologische Äquivalenz. Dies zeigt sich bei Schleiermacher in seiner Hierarchisierung der positiven Religionen gemäß dem 3-stufigen religionstheologischen Einteilungsschema, welches den „Werth“161 einer Religion bestimmt. Es zeigt sich auch an seiner Beschreibung des Christentums selbst. Dessen Polemik nach außen „zerstörte“ ebenso „die lezte Erwartung seiner nächsten Brüder und Zeitgenossen“, d.h. die Messiaserwartung des Judentums, wie auch der griechischen Religion, denn „[k]ühn führte es die Heiden hinweg über die Trennung die sie gemacht hatten zwischen dem Leben und der Welt der Götter und der Menschen.“162 Obwohl das Christentum nach Schleier­ 158 

KGA I/2, 325,3 ff. KGA I/2, 325,6–9. 160 Gegen Blum, Ich wäre ein Judenfeind?, 59; 29 f. 161  KGA I/2, 244,13. 162  KGA I/2, 318,10–16. 159 

§  13  Christentum

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macher die Geltungsansprüche der anderen Religionen wertschätzt, ist es von der Höchstgeltung seiner eigenen religiösen Zentralanschauung überzeugt: Nirgends gewiß verkannten sie [die Christen, C. K.] die Grundzüge des göttlichen Ebenbildes, in allen Entstellungen und Entartungen sahen sie gewiß den himmlischen Keim der Religion; aber als Christen war ihnen die Hauptsache die Entfernung vom Universum, die einen Mittler bedarf, und so oft sie Christenthum sprachen gingen sie nur darauf.163

Schleiermacher vertritt in den Reden folglich keinen religionstheologischen Pluralismus164, sondern hält an dem Christentum als der prinzipiellen religionstheologischen Höchstform der Religionsgeschichte fest. Diese negativen Abgrenzungen werden von Schleiermacher ergänzt, indem er den positiven Bezug des Christentums auf die anderen Religionen folgenermaßen bestimmt: „Die Religion der Religionen kann nicht Stoff genug sammeln für die eigenste Seite ihrer innersten Anschauung“165. Das Christentum ist von der Höchstgeltung seiner eigenen religiösen Zentralanschauung nach Schleiermacher zu Recht überzeugt, da sich in ihr das Wesen der Religion mit Bewusstsein selbst manifestiert. Deswegen kann es kein Interesse an anderen religiösen Zentral­anschauungen an sich besitzen. Die äußerlich angeschauten Zentralanschauungen anderer Religionen dienen ihm vielmehr als „Stoff “ für die „eigenste Seite ihrer innersten Anschauung“. Damit meint Schleiermacher, dass das Christentum die religiösen Zentralanschauungen der anderen positiven Religionen zur Klärung und Verdeutlichung seiner eigenen religiösen Zentralanschauung in sich aufnimmt. Das Christentum ist nicht darauf aus, die anderen positiven Religionen durch die eigene Verbreitung zu zerstören. Es strebt vielmehr danach, die anderen Religionen als wesentlichen Ausdruck der Religion in modifizierter Gestalt in sich selbst zu integrieren.166 Dies geschieht, indem die vormals in den anderen Religionen als Zentralanschauung fungierenden Ansichten des Universums als einfache Anschauungen in das Leben des Christentums eingeordnet werden. Die äußere Divergenz zwischen dem Christentum und den anderen Religionen wird auf diese Weise als interne Differenzierung des Christentums selbst aufgehoben. 163 

KGA I/2, 318,23. Schröder, „Das ‚unendliche Chaos‘“, 604; Huber, F., „Die eine Religion und die Vielfalt der Religionen“, in: ders. (Hg)., Reden über die Religion – 200 Jahre nach Schleier­ macher. Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Schleiermachers Religionskritik, Neukirchen-Vluyn 2000, 164–182, hier insbesondere: 176 f. Vgl. auch Piper, Das religiöse Erlebnis, 92–104 und Kubik, „Warum konvertieren?“, 411 f. 165  KGA I/2, 325,15 ff. 166  Vgl. hierzu einschlägig KGA I/2, 322,28–34: „Schüler Johannis, der doch die Grund­ anschauung Christi nur sehr unvollkommen theilte, sahen sie [die ersten Christen, C. K.] ohne weiteres als Christen an, und nahmen sie unter die aktiven Mitglieder der Gemeine auf. Und auch jetzt sollte es so sein: wer dieselbe Anschauung in seiner Religion zum Grunde legt, ist ein Christ“. 164 Gegen

438

Fünftes Kapitel:  Dynamik und Höchstform der Religionsgeschichte

Hiermit gelingt es Schleiermacher bereits das Grundanliegen moderner komparativ-pluralistischer Ansätze der Religionstheologie in seinen kritischen Inklusivismus als Moment zu integrieren.167 In diesem Sinne entspricht nach Schleiermacher der Höchstform des Christentums zugleich sein Höchstmaß an religiöser Integrationsfähigkeit. Es besteht somit kein Bruch zwischen der Erstauflage der Reden und Schleiermachers späteren Ausführungen zur Höchstgeltung des Christentums. Im folgenden Zitat wird vielmehr deutlich, dass Schleiermachers spätere Erläuterungen zu den Reden in Form einer ergänzenden Kontinuität seiner bereits in der Erstauflage vertretenen inklusivistischen Religionstheologie aufzufassen sind: Auch daß hier der Gedanke von der Allgemeinheit irgendeiner [Religion, C. K.] verworfen und behauptet wird, nur im Inbegriff aller Religionen sei der ganze Umfang dieser Gemüthsrichtung zu befassen, auch dieses drükt keineswegs einen Zweifel dagegen aus, daß das Christenthum sich über das ganze menschliche Geschlecht werde verbreiten können […] und ebenso wenig drükt es einen Wunsch aus, daß andere Religionsformen immer neben dem Christenthum bestehen möchten. Denn wie der Einfluß des Judenthums und des hellenischen Heidenthums auf das Christenthum lange Zeit hindurch in entgegengesezt wogenden Bewegungen sichtbar gewesen ist, so daß beide immer noch im Christenthum erscheinen und also auch in der Geschichte des Christenthums mit erscheinen: ebenso würde es auch gehen, wenn das Christenthum dereinst das Gebiet aller bisherigen großen Religionsformen in sich aufnähme; und sonach würde der Umfang des ganzen religiösen Gebietes hiedurch nicht in engere Grenzen eingeschlossen, alle anderen Religionen aber auf geschichtliche Weise im Christenthum zu schauen sein. […] auch wenn das Christenthum alle andern Religionsgebiete verdrängt hätte, so daß sie sich nur noch geschichtlich in ihm selbst spiegelten: so würde nicht Jeder den Sinn haben für Alles, was eben hiedurch im Christenthum selbst gesezt sein würde; denn so wenig jemals als jetzt wird das Christenthum aller christlichen Völker ganz dasselbe sein. Hat also Niemand jetzt den gleichen Sinn für alles Christliche, so auch nicht den Sinn für alles das in andern Religionen, was den Keim einer künftigen christlichen Eigenthümlichkeit in sich schließt.168

Die nachhaltige Bedeutung der inklusivistischen Religionstheologie Schleiermachers gründet auf ihrer Wertschätung aller Religionen. Die religionstheologische Höchstgeltung des Christentums wird nicht mit der Abwertung anderer Religionen erkauft. Das Christentum zeigt seine Hochschätzung der anderen Reli­ gionen vielmehr darin, dass es sie als konstitutive Momente seines eigenen Wesens bewahrend integriert. Hierin erweist sich das Christentum im eminenten Sinne als unendlich gebildet. 167 

Vgl. zu diesem Grundanliegen der komparativ-pluralistischen Religionstheologie einschlägig Schmidt-Leukel, P., Transformation by Integration. How Inter-Faith Encounter ­Changes Christianity, London 2009. Zu der Bedeutung Schleiermachers für eine komparative Theologie heute siehe auch Ward, K., „Programm, Perspektiven und Ziele komparativer Theologie“, in: R. Bernhardt/K. v. Stoch, Komparative Theologie. Interreligiöse Vergleiche als Weg der Religionstheologie, Zürich 2009, 55–68. 168  KGA I/12, 136,26–137,17.

Schluss

Zusammenfassung und kritische Würdigung Im Folgenden werden die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit mittels Thesen zusammengefasst. Zunächst wird auf diese Weise Schleiermachers kritischer Religionsbegriff der Reden dargestellt (1.). Im Anschluss wird die inklusivistische Religionstheologie der Reden herausgearbeitet (2.). 1.  Der kritische Religionsbegriff der ‚Reden‘ Schleiermacher geht es in seinen Reden um die immanente Darstellung der Religion im Bewusstseinsleben des Menschen. Er entwickelt einen in zwei­ facher Hinsicht kritischen Religionsbegriff, den er erstens gemütstheoretisch (These 1) und zweitens bewusstseinstheoretisch (These 2) entfaltet. These 1:  Religion ist eine wesentliche Gemütskraft des Menschen, die ihren spezifischen Charakter aus ihrer passiven Konstitution gewinnt. Ihr spezifischer Bewusstseinsinhalt ist die unmittelbare Gewissheit von dem allgemeinen Sein alles Endlichen im Unendlichen und durch das Unendliche. Erstens zeigt Schleiermacher im Rahmen einer allgemeinen Bildungstheorie kritisch nach außen, gegen die gebildeten Religionsverächter gewandt, auf, dass die Religion ein sachnotwendiges Gemütsvermögen des Menschen darstellt. Sie besitzt eine spezifische Funktion für das menschliche Leben und ordnet sich harmonisch in das Ensemble der menschlichen Lebensvollzüge ein. Im Hintergrund dieser Darstellung steht sein Verständnis der menschlichen Subjektivität als qualifiziert vermittelter Einheit ihrer Gemütsvermögen und dem unverzicht­ baren Beitrag der Religion in dieser Einheit.1 Religion ist einerseits den anderen oberen Gemütsvermögen des Menschen, dem Denken und Handeln, vermögentheoretisch koordiniert und bildet deren sachnotwendiges Ergänzungsstück.2 Weil ihr Ursprung nicht wie bei dem vermittelten Bewusstsein des Denkens oder Handelns in einer selbsttätigen Bezugnahme auf das Universum, sondern in dem unmittelbaren Bewusstsein der passiven Ergriffenheit durch das Universum liegt, strebt die Religion nicht nach der 1 Meine These steht somit gegen die Ansicht, dass Schleiermacher sich in den Reden eine sog. Provinzialisierung des menschlichen Gemüts zu Schulden kommen lässt bzw. es zu einer Verselbständigung der Gemütsvermögen kommt (vgl. dazu exemplarisch Meckenstock, „Auseinandersetzung “, 35 und Ringleben, „Die Reden über die Religion“, 240). 2  KGA I/2, 212,15–20.

440

Schluss

vollendeten „Wißenschaft“ der Spekulation, oder der vollendeten „Kunst“ der Praxis. Sie ist vielmehr darauf aus, den vom Universum in ihr angeregten „Sinn und Geschmak fürs Unendliche“ selbst zu kultivieren.3 Während das spekula­ tive Denken und das moralische Handeln durch das Zusammenfassen und Gestalten der einzelnen endlichen Dinge zum Universum hinaufsteigen, steigt das Universum in der Religion selbst zum Menschen hinab. Schleiermacher beschreibt auf diese Weise Denken, Handeln und Religion als je autonom einander koordinierte Lebensvollzüge des Menschen. Ihre eigenständige Ausbildung garantiert „das Gleichgewicht und die Harmonie“ des menschlichen Wesens und bewahrt die Gemütsvermögen vor einer gegenseitigen inhaltlichen Übergriffigkeit.4 Anderseits ist die Religion zugleich den anderen Gemütsvermögen funktionstheoretisch superordiniert. Sie ist nicht nur ein Ergänzungsstück, sondern auch ein sachlich notwendiges Gegengewicht im menschlichen Leben.5 Ihr kommt die kritische Funktion zu, die Leistungsbereiche des menschlichen Denkens und Handelns formal abzustecken. Diese formale Grenzziehung bewahrt menschliches Denken und Handeln vor dem konzeptionellen Irrtum, ihre eigenen Erzeugnisse an die Stelle des Universums selbst zu setzen, wie dies nach Schleiermacher im subjektiven Idealismus Fichtescher Prägung6 oder in Kants Ethik7 der Fall ist. Die Religion generiert nach Schleiermacher folglich nicht inhaltlich die Leistungsbereiche der Metaphysik und Moral, sie konstatiert vielmehr deren formale Vorgegebenheit durch das Universum. Religion in diesem zweifachen Sinne aufgefasst, vermögenstheoretisch koordiniert und funktionstheoretisch superordiniert, fügt sich spezifisch in das Gemütsensemble der menschlichen Subjektivität ein. Sie ist keineswegs selbst der Einheitsgrund der menschlichen Subjektivität, oder eine Instanz der theore­ tischen oder praktischen Letztbegründung.8 Moral und Metaphysik sind nach Schleiermacher für sich genommen nicht grundlos und ihre Legitimation gewinnen sie nicht erst durch eine inhaltliche Bezugnahme auf die Religion.9 Einen derartigen Standpunkt weist er in der ersten Rede10 und zu Beginn der zweiten Rede ausdrücklich von sich.11 Religion ist vielmehr das Bewusstsein von

3 

KGA I/2, 212,29 f. KGA I/2, 239,17–23. 5  KGA I/2, 212,20 ff. 6  Vgl. KGA I/2, 213,20–33. 7  Vgl. KGA I/2, 212,35–213,9. 8 Gegen Graf, „Koinzidenz“, 180 f. 9 Gegen Albrecht, „Korrelativität“, 55 (kursiv, C. K.): „Das Wesen der Religion besteht darin, dass die für alles Wissen und Wollen fundamentalen Kategorien der Objektivität und der Subjektivität im religiösen Akt begründet und im religiösen Leben beansprucht werden.“ 10  Vgl. KGA I/2, 204,2–7. 11  KGA I/2, 210,7–13. 4 

Zusammenfassung und kritische Würdigung

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diesem dem menschlichen Subjekt vorgegebenen Einheitsgrund und damit der Garant des adäquaten Gebrauchs aller Gemütsvermögen. Zweitens ergänzt und vertieft Schleiermacher seine gemütstheoretischen Überlegungen, indem er es in der Beschreibung des sog. „geheimnisvollen Augenblicks“12 kritisch nach innen unternimmt, die spezifische Bedeutung der Religion im menschlichen Subjekt bewusstseinstheoretisch zu begründen. Im Hintergrund steht in diesem Fall sein Verständnis des menschlichen Subjekts als qualifizierter Einheit seines sinnlichen und religiösen Wirklichkeitsbewusstseins. These 2:  Schleiermacher stellt in seiner Beschreibung des geheimnisvollen Augenblicks das menschliche Bewusstseinsleben insgesamt dar. Dieses ist bei formaler Einheitlichkeit inhaltlich in sich selbst differenziert gestaltet. In ihm erschließt sich dem Menschen die eine Wirklichkeit in ihren zwei Dimensionen. Schleiermacher zufolge liegt, in Anlehnung an Jacobi,13 am Grunde jedes menschlichen Bewusstseinsaktes die Erfahrung eines unmittelbaren Einsseins von menschlichem Sinn und seinem Gegenstand: „Es ist ein geheimnisvoller Augenblick, in welchem der Sinn und sein Gegenstand gleichsam ineinander gefloßen und Eins geworden sind“.14 Der Clou seiner Überlegungen besteht darin, dass dieser geheimnisvolle Augenblick, der jedem Bewusstseinsakt zugrunde- und vorausliegt, sich im menschlichen Bewusstsein ereignet. Dem menschlichen Bewusstsein ist folglich eine ursprüngliche Reflexivität inne, wodurch es sich nicht allein auf äußere Gegenstände bezieht, sondern sich auch einer Dimension der ursprünglichen Bezogenheit von sich selbst und seinem Gegenstand unmittelbar gewiss ist. Im geheimnisvollen Augenblick ist dem menschlichen Geist seine eigene intelligible Struktur unmittelbar bewusst. Aus diesem Grunde kann der geheimnisvolle Augenblick im Bewusstsein auch als unmittelbares Selbstbewusstsein des menschlichen Geistes bezeichnet werden. Ein unmittelbares Selbstbewusstsein aufzuweisen, oder über ein evidentes Wirklichkeitsbewusstsein zu verfügen, sind nach Schleiermacher Wechselausdrücke. Dieses unmittelbare Selbstbewusstsein des Menschen ist den Reden zufolge zweier unterschiedlicher Bestimmungen fähig, d.h., bei seiner grundsätzlichen Einheitlichkeit ist das menschliche Bewusstseinsleben intern differenziert. Seine 12 

Siehe im ganzen Zusammenhang KGA I/2, 220,29–223,19. Jacobi, David Hume, 175 f. (kursiv, C. K.): „Der Gegenstand trägt eben so viel zur Wahrnehmung des Bewußtseyns bey, als das Bewußtseyn zur Wahrnehmung des Gegenstands. Ich erfahre, daß ich bin, und daß etwas außer mir ist, in demselben untheilbaren Augenblick; und in diesem Augenblicke leidet meine Seele vom Gegenstande nicht mehr, als sie von sich selbst leidet. Keine Vorstellung, kein Schluß vermittelt diese zwiefache Offenbarung.“ Deshalb sind auch nach Jacobi „[…] bey der allerersten und einfachsten Wahrnehmung, das Ich und das Du, inneres Bewußtsein und äusserlicher Gegenstand, sogleich in der Seele da […]; beydes in demselben Nu, in demselben untheilbaren Augenblicke, ohne vor und nach, ohne irgend eine Operation des Verstandes“. Vgl. hierzu auch einschlägig Herms, Herkunft, 119–164. 14  KGA I/2, 221,20–23. 13 Vgl.

442

Schluss

beiden Dimensionen sind das unmittelbare sinnliche und das unmittelbare religiöse Selbstbewusstsein. Als zwei Dimensionen des einen Bewusstseinslebens beziehen sie sich auf die gleiche Wirklichkeit, aber in unterschiedlicher Hinsicht.15 Der bestimmte Inhalt des unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstseins ist das „Sein-in-der-Wechselwirkung“. In ihm besteht die evidente Gewissheit, dass das eigene endliche Selbst und sein endlicher Gegenstand in einer symmetrischen und reziproken Bezogenheit bzw. in relativer Abhängigkeit zueinander stehen.16 Der Inhalt des unmittelbaren religiösen Selbstbewusstseins ist hingegen die Selbstoffenbarung des Universums im Endlichen.17 Das endliche Selbst und das unendliche Universum verhalten sich zwangsläufig asymmetrisch zueinander.18 Das Universum bildet keinen Gegenstand wie die einzelnen sinnlichen Dinge. Es wird als die umfassende intelligible Struktur des Seins schlechthin erfahren. Indem nach Schleiermacher die Möglichkeit und Wirklichkeit der religiösen Universumserfahrung durch die Selbsterschließung des Universum geschaffen werden, 19 gibt sich das Universum im menschlichen Bewusstsein als die Alles bestimmende Wirklichkeit bzw. als das wahre Unendliche zu erkennen.20 Das Universum wird Schleiermacher zufolge als wahres Unendliches erfahren, weil es sich dem menschlichen Bewusstsein in der Religion als die in sich selbst differenzierte Einheit seiner selbst und des Endlichen offenbart. Strukturell vertritt Schleiermacher somit in den Reden zweifelsfrei keinen Pantheismus, mit dessen Gleichsetzung von Welt und Gott bzw. Universum, sondern vielmehr einen religiösen Panentheismus, indem er die Immanenz der Welt im Universum bei gleichzeitiger Transzendenz des Universums gegenüber der Welt behauptet.21 15 

KGA I/2, 221,20–26. KGA I/2, 220,35–221,10. 17  KGA I/2, 221,20–222,9. 18  Hartlieb verkehrt exemplarisch dieses asymmetrische bzw. radikale Abhängigkeitsverhältnis des Menschen gegenüber dem Universum in sein Gegenteil, indem sie Schleier­ machers allgemeine Beschreibung der religiösen Bewusstseinskonstitution in der sog „Liebesszene“ (KGA I/2, 221,20–222,12) als Gefühl der (männlich konnotierten) Macht und Herrschaft des religiösen Subjekts gegenüber dem (weiblich konnotierten) ohnmächtigen Universum bestimmt (vgl. Hartlieb, Geschlechterdifferenz, 262 f.). Durch diese Interpretation wird aber auf augenfällige Weise die Möglichkeitsbedingung des religiösen Bewusstseins überhaupt verkannt. Nämlich die Selbsterschließung des souveränen Universums als souveränes Universum für den Menschen bzw. die Offenbarung des lebendigen Weltgeistes, von dem (KGA I/2, 251,43–252,1; 296,17 f.; 306,12–34) und in dem jeder Mensch „lebt, webt und ist“ (KGA I/2, 318,17). 19  Vgl. KGA I/2, 251,32–36; 214,9 f.; 218,35 ff.; 241,26 ff.; 259,30–37 sowie in späteren Auflagen der Reden zentral KGA I/12, 134,16–20. 20 Gegen Ringleben, „Die Reden über die Religion“, 443. 21 Meines Erachtens besteht die Stärke von Schleiermachers Universumsbeschreibung als des wahren Unendlichen in der Erstauflage der Reden somit gerade darin, dass in der reli­ giösen Universumserfahrung Welt und Weltgrund in Einem bzw. in ihrer untrennbaren Bezogenheit aufeinander erfahren werden. Sie sind die beiden zusammengehörigen und untrennbaren Momente der einen religiösen Universumserfahrung. Schleiermacher macht es 16 

Zusammenfassung und kritische Würdigung

443

Das Universum ist als wahres Unendliches sowohl die Totalität allen Seins bzw. das Ganze, dem alles endliche Sein als Teil und Darstellung inhäriert. Weil es kein statisches Gebilde ist, sondern der „ewige und Alles bildende Weltgeist“22 , ist das Universum zugleich der Grund allen Seins. Es ist die dynamisch-schöpferische Ursprungskraft, die alles endliche Sein aus sich selbst erzeugt. Die Lebendigkeit des Universums ist nach Schleiermacher folglich das bestimmende Charaktermerkmal seiner wahren Unendlichkeit. Deswegen hält er auch fest, dass in der Religion der Mensch zum Bewusstsein des Universums als des „ursprünglichen Unendlichen und Lebendigen“23 kommt. In der Religion werden daher auch nicht, wie in dem sinnlichen Selbstbewusstsein die endlichen Sachverhalte in ihrem beziehungsweisen Gegensatz zueinander erfahren. Sie treten vielmehr in ihrer gegensatzlosen Bezogenheit auf das Universum und damit in ihrer radikalen Dependenz von demselben ins Bewusstsein. Religion ist nach Schleiermacher somit als das Selbstbewusstsein des endlichen Geistes bestimmt.24 Demgemäß wird die inhaltliche Bestimmung des unmittelbaren religiösen im Vergleich zum unmittelbaren sinnlichen Selbstbewusstsein zugleich als eine Bewusstseinserweiterung und Bewusstseinserhebung bestimmt: Die religiöse Bewusstseinserweiterung hat zum Inhalt, dass alle endlichen Sachverhalte in dem Zusammenspiel von Rezeptivität und Spontaneität aufeinander bezogen sind. Jedes einzelne Endliche ist in einen allgemeinen Wechselwirkungszusammenhang hineingestellt. In der religiösen Bewusstseinserhebung ist sich der Mensch bewusst, dass dieser beschriebene allgemeine Wechselwirkungszusammenhang seinerseits nicht in sich selbst gegründet ist. Sein Bestehen ist vielmehr erst durch das Universum gesetzt. Es handelt sich somit in der Religion insgesamt um das „unmittelbare Bewusstsein von dem allgemeinen Sein alles Endlichen im Unendlichen und durch das Unendliche“.25 In dieser Beschreibung des wahren Unendlichen besteht eine Ähnlichkeit zwischen den Reden und Schleiermachers Verständnis von Spinozas Konzeption der unendlichen Substanz.26 ganz deutlich: Ihm zufolge können gemäß seinem Universumsverständnis weder der Weltgrund außerhalb der Welt (KGA I/2, 252,41 ff.) noch die Welt ohne den Weltgrund (KGA I/2, 261,17–22) adäquat erfasst werden. Gegen Herms, Herkunft, 211 f.; Seifert, Theologie, 77 f. und Eckert, „Das Verhältnis“, 51; 56. 22 KGA I/2, 294,7. Vgl. zum Ausdruck „Weltgeist“ bei Schleiermacher einschlägig: KGA I/12, 140,12–29. 23  KGA I/2, 262,28 (kursiv, C. K.) 24  KGA I/2, 212, 12–15 (kursiv, C. K.): „[…] die Religion athmet da, wo die Freiheit selbst schon wieder Natur geworden ist, jenseits des Spiels seiner besondern Kräfte und seiner Personalität faßt sie den Menschen, und sieht ihn aus dem Gesichtspunkte, wo er sein muß was er ist, er wolle oder wolle nicht.“ 25  Vgl. auch KGA I/12, 53,12 f. (kursiv, C. K.) 26  Vgl. KGA I/1, 567,14–26 (kursiv, C. K.): „Eben diese doppelte Betrachtung des unendlichen da es bald abgesondert von den endlichen Dingen per se betrachtet, bald wieder in der

444

Schluss

These 3:  Die beiden inhaltlichen Bestimmungen des menschlichen Bewusstseinslebens sind das sinnliche und das religiöse Bewusstsein, welche aufgrund ihrer eigentümlichen Erschlossenheitslage eindeutig voneinander unterschieden sind, jedoch als spezifische Bestimmungen des einen menschlichen Bewusstseins in einem notwendigen Bezug zueinander stehen, weshalb das höchste menschliche Bewusstsein in der qualifizierten Vereinigung beider besteht. Die Höchstform des menschlichen Bewusstseinslebens besteht nach Schleiermacher darin, in jedem Moment des sinnlichen Bewusstseinslebens zugleich durch das religiöse Bewusstsein qualifizierend bestimmt zu sein und umgekehrt.27 Denn auch die Entstehung des religiösen Bewusstseins ist prinzipiell auf einen phänomenalen Impuls angewiesen.28 Religion erkennt das Universum ausschließlich nach Maßgabe seiner erfahrenen Präsenz im Phänomenalen. Hierin zeigt sich eine Ähnlichkeit zwischen der epistemologischen Konzeption der Reden und Bonaventuras Contuitus-Konzeption.29 Weil Religion nach Schleiermacher prinzipiell phänomenales Transphänomenalbewusstsein ist, kann es nur in Bezug auf das sinnliche Bewusstsein bestehen. Daher wird es auch stets nur in bestimmten religiösen Anschauungen und Gefühlen vom Universum wirklich. These 4:  Religion gewinnt ihre bestimmte Gestalt als Anschauung und Gefühl des Universums. Deren Inhalte sind wahre Individualität und teleologische Prozessualität bzw. Frömmigkeit als Gefühl der liebenden Demut und demütigen Liebe. Religiöse Bewusstseinserweiterung und -erhebung werden in der religiösen Anschauung als zwei Bildaspekte des einen religiösen Bewusstseinsbildes festgehalten: Einerseits wird die Beschreibung der Bewusstseinserweiterung präzisiert in der Darstellung des horizontal-symmetrischen Bildaspekts mit seinem Kern: dem Prinzip der wahren Individualität. Dass in der Religion alles Endliche als Teil und untrennbaren Verbindung mit ihnen vorgestellt wird, so daß man von ihm sagen kann: sowohl es hat keine Vorstellung als auch: es sind alle Vorstellungen in ihm; sowohl es hat keine Bewegung, als es ist alle Bewegung in ihm, diese sage ich ist das was in der Darstellung immer sonderbar und unerklärlich bleibt, wenn man nicht von diesem Punkt ausgeht. Nemlich von dem Bedürfnis getrieben den letzten Grund der endlichen Dinge zu finden, findet Spinoza ein Unendliches dessen Essenz die bloße Existenz ist; von dem Saz gestossen daß der letzte Grund der endlichen Dinge nicht außerhalb derselben seyn darf, entdekt er nun daß jenes Unendliche nicht das ganze, vollkommene unendliche ist, sondern daß zu jener Essenz die endliche Dinge in dem Verhältnis der Inhärenz wenigstens mittelbar stehen müssen.“ Vgl. auch KGA I/2, 554,30–556,4. 27  Vgl. KGA I/2, 219,22 ff. (kursiv, C. K.): Die Religion soll nach Schleiermacher „wie eine heilige Musik alles Thun des Menschen begleiten; er soll alles mit Religion thun, nichts aus Religion.“ 28  Vgl. KGA I/2, 227,29–33. 29 Vgl. Bonaventura, Collationes in Hexaemaron, in: ders., Opera Omnia V, 359b; Ders., Quaestionis disputatae de scientia Christi, Op. omn. V, 29b. Siehe zu Bonaventuras Konzept der „Mitschau“ auch einschlägig: Gilson, Der heilige Bonaventura, 546 und Speer, „Verstandesmetaphysik“, 536.

Zusammenfassung und kritische Würdigung

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Darstellung des Ganzen angeschaut wird,30 bedeutet nach Schleiermacher, dass alles Endliche als wahre Individualität wahrgenommen wird. Diese steht nach außen in einem konstitutiven Bezug auf alle anderen Individuen 31 und erweist sich zugleich nach innen als ein Kompendium aller Individuen.32 Die endlichen Phänomene als wahre Individuen religiös anzuschauen, bedeutet demnach, sie als in einem notwendigen Zusammenhang stehende, bestimmte Modifikation des Ganzen wahrzunehmen. Diese Beschreibung Schleier­m achers geht über die Substanzmetaphysik Spinozas hinaus und zeigt Ähnlichkeiten mit der Individualitätskonzeption von Leibniz.33 Andererseits wird die religiöse Bewusstseinserhebung präzisiert in der Darstellung des vertikal-asymmetrischen Bildaspekts mit seinem Kern: der Geschichtlichkeit bzw. der teleologischen Prozessualität alles Endlichen. In diesem zweiten Bildaspekt findet die qualitative Differenz des Unendlichen vom Endlichen seinen prägnanten Ausdruck. Der bislang statische Bildaspekt der wahren Individualität wird damit dynamisiert. Indem das Universum als lebendiger Organismus und Urgrund in den Blick kommt, werden die beschriebenen Anschauungsbilder um eine Ursprungs- und Zieldimension ergänzt.34 Über ein religiöses Bewusstsein zu verfügen, bedeutet folglich insgesamt nach Schleiermacher, jedes Endliche zum einen als wahres Individuum anzuschauen, welches ein „notwendiges Ergänzungsstück zur vollkommenen Anschauung der Menschheit“35 bildet. Zum anderen wird jedes dieser wahren Individuen in einem teleologischen Prozess eingespannt wahrgenommen, den die Menschheit bzw. die Natur „fortschreitend durchläuft“ und auf diese Weise „durch innere Veränderungen zum höheren und Vollkommenen fortgebildet“36 wird. Es gelingt Schleiermacher durch seine Beschreibung der religiösen Naturund Menschheitsanschauung sowohl die Defizite seiner allgemeinen Anschauungsformel zu überwinden 37 als auch die Konsistenz des religiösen Bewusstsseins­ lebens insgesamt nachzuweisen. Der Inhalt von Schleiermachers kritischem Religionsbegriff lässt sich abschließend als das unmittelbare Bewusstsein vom Gesetztsein-des-Individualseins-im-Ganzen-zum-Werden-durch-das-Unendliche bestimmen. 30 

KGA I/2, 214,14 f. Das gilt nach Schleiermacher sowohl für die religiöse Naturanschauung (siehe KGA I/2 227,5–14 ) als auch für die religiöse Menschheitsanschauung (siehe KGA I/2, 231,10–18). 32  Vgl. KGA I/2, 232,9–24. 33 Vgl. Leibniz, Monadologie, §§  56–58. Vgl. auch Ders., Die Theodicee, §§  120; 124; 130; 147. 34  Für die religiöse Naturanschauung siehe hier zentral KGA I/2, 226,23–38 und für die religiöse Menschheitsanschauung KGA I/2, 232,29–234,32. 35  KGA I/2, 230,31 f. (kursiv, C. K.). 36  KGA I/2, 232,30 ff. 37  KGA I/2, 214,14 f.: „[A]lles Endliche als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion“. 31 

446

Schluss

Das Ergebnis findet seine Bestätigung in Schleiermachers Beschreibung der religiösen Gefühle. In den Reden fasst er die religiösen Gefühle unter dem Topos der „Frömmigkeit“38 zusammen. Dieses religiöse Grundgefühl wird als immanent differenziert beschrieben. In ihm lassen sich die beiden grundsätzlichen Gefühlsarten unterscheiden: Einerseits das horizontal-symmetrische Gefühl der Liebe (der Zuneigung, des Mitleids, der Dankbarkeit) zu bzw. gegenüber allem Endlichen 39 und andererseits das asymmetrisch-vertikale Gefühl der Demut (der Ehrfurcht, der Reue) gegenüber dem schöpferischen Grund allen Seins.40 In der Frömmigkeit werden somit religiöse Bewussteinserweiterung in Form der Liebe und religiöse Bewusstseinserhebung in Form der Demut zu einer lebendigen Einheit der demütigen Liebe bzw. liebenden Demut miteinander verbunden.41 These 5:  Die religiöse Anschauung ist bildhafte Selbstmanifestation des wahren Unendlichen im endlichen Bewusstsein. Daher stellt sie ihrem Wesen nach keine konstruktive Deutungsleistung des menschlichen Subjekts dar. Zugleich ist sie als unmittelbar-unwillkürlich sich einstellendes Bewusstseinsbild keineswegs abgeschnitten vom menschlichen Erkenntnisstreben, sondern vielmehr deutungsoffen für eine nähere Bestimmung und Analyse ihres spezifischen Inhalts mittels der unmittelbar-willkürlichen religiösen Fantasie und dem vermittelt-willkürlichen religiösen Denken. Ihren Ursprung besitzen die religiösen Anschauungen im geheimnisvollen Augenblick im menschlichen Bewusstsein bzw. im unmittelbaren religiösen Selbstbewusstsein.42 Weil sich das unmittelbare religiöse Selbstbewustsein beim Menschen aufgrund eines unverfügbaren Selbsterschließungshandelns des Universums einstellt und sich die religiösen Anschauungsbilder unwillkürlich bei diesem Vorgang einstellen, kann man in Bezug auf den Entstehungsvorgang der religiösen Anschauungen von einer doppelten Unmittelbarkeit sprechen. Folglich besitzt die religiöse Anschauung formal ihren genealogischen Ursprung und sachlogischen Grund im unmittelbaren religiösen Selbstbewusstsein und ist bildhafte Selbstmanifestation des Unendlichen im endlichen Bewusstsein. Die Konsequenz hieraus ist, dass die religiöse Anschauung in sachlogischer Abhängigkeit vom unmittelbaren religiösen Selbstbewusstsein steht und ihr Universumsbewusstsein nicht mittels eines aktiv-autonomen Deutungsvorgangs konstruktiv aus sich selbst erzeugt, sondern in Form eines Evidenzgeschehens des sich selbst in ihr manifestierenden Universums vielmehr realiter geschenkt bekommt. Aufgrund dieses Sachverhalts können explizit deutungstheoretische 38 

KGA I/2, 237,30. Vgl. KGA I/2, 236,33–39. 40  Vgl. KGA I/2, 236,30–33. 41  Vgl. auch KGA I/12, 141,40–142,20. 42  KGA I/2, 221,31–222,6. 39 

Zusammenfassung und kritische Würdigung

447

Ansätze der Schleiermacherforschung43 als inadäquate Interpretationen der Religionskonzeption der Reden abgewiesen werden: Denn die Deutungstheorie räumt dem menschlichen Subjekt bei der Bildung des religiösen Bewusstseins ein Moment der dominanten Spontaneität ein. Dadurch ist sie theorieimmanent dazu gezwungen, Schleiermachers eigentliche Beschreibung des religiösen Bewusstseins als einer passiv erfahrenen Selbstoffenbarung der Alles bestimmenden Wirklichkeit in die inadäquate Beschreibung eines menschlichen Vermögens zur eigenständigen Wirklichkeitskonstruktion von lediglich subjektiv-bedeutsamen Sinnzusammenhängen zu verkehren. Durch diese Interpretation wird aber die Möglichkeitsbedingung des religiösen Bewusstseins überhaupt verkannt.44 Nämlich die Selbsterschließung des souveränen Universums als souveränes Universum für den Menschen bzw. die Offenbarung des lebendigen Weltgeistes, von dem her45 und in dem jeder Mensch „lebt, webt und ist“46. Weil die Deutungstheorie den kritischen Unterschied zwischen Religion und metaphysischer Spekulation nicht wahrt, gerät sie letztlich in die Gefahren eines theoretischen Intellektualismus. Und weil die Deutungstheorie die Bildung des religiösen Bewusstseins an die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft des endlichen Menschen knüpft, anstatt Religion als Bildungsgeschehen des Universums am endlichen Menschen zu verstehen, stellt sie sich als elitär dar und gerät damit in die Gefahren eines praktischen Inellektualismus. Vielmehr muss entgegen der Deutungstheorie festgehalten werden, dass das Universum selbst die Bedingungen religiöser Deutung allererst schafft,47 d.h., dass religiöse Deutungsvorgänge ausschließlich im Rahmen einer Selbsterschließung des Universums möglich sind. Somit bleibt kein anderer Ausweg, als den theoretischen Status der religiösen Deutungstheorie zu relativieren und sie selbst als ein Moment in den Horizont einer umfassenden Offenbarungstheorie einzustellen. Mit diesem Ergebnis sind allerdings auch derartige Interpretationsansätze der Schleiermacherforschung als eingeschränkt zu beurteilen, die ausschließlich den Offenbarungsaspekt in der Bildung der religiösen Anschauung hervorheben und diesen gegen jede Form der aktiv-deutenden Bezugnahme des mensch­ lichen Subjekts auf die Religion scharf abgrenzen.48 43 Vgl. exempl. U. Barth, „Was ist Religion?“ und Ders., „Theoriedimensionen des Religionsbegriffs“, jeweils in: ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 3–28; 29–88. Ebenso Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 259–389; Grove, Deutungen, 343–349; Glatz, Religion und Frömmigkeit, 188; Ellsiepen, Anschauung, 369–381; Schröder, „Das ‚unendliche Chaos‘“, 585–608; Stolzenberg, „Weltinterpretationen“, 58–78. 44  Vgl. KGA I/251,43–252,1: „Jeder und Jedes in Jedem ein Werk des Universums ist, und nur so kann die Religion den Menschen betrachten.“ 45  Vgl. KGA I/2, 251,43–252,1; 296,17 f.; 306,12–34. 46  Vgl. KGA I/2, 318,17. 47  Dies wird durch Schleiermachers obiges Zitat unbedingt eingefordert. 48  Vgl. exempl. Andrejc, „Bridging the Gap“, 377–401; Adams, „Faith and religious

448

Schluss

Dagegen ist festzuhalten, dass als Produkt der Selbstmanifestation des Unendlichen in der menschlichen Anschauung unmittelbar-unwillkürlich ein Bewusstseinsbild entsteht, das sich als deutungsoffen für eine sich auf sie beziehende unmittelbar-willkürliche Fantasie bzw. ein sich auf sie beziehendes vermittelt-willkürliches Denken erweist. Schleiermachers religiöse Bewusstseinstheorie konkretisiert sich somit in den Reden in Form einer Bildtheorie der religiösen Anschauung. Über den Ursprung der religiösen Fantasie lässt sich dabei festhalten: Weil die Bestimmtheit der religiösen Fantasie direkt von den religiösen Anschauungsbildern abhängig ist, sich diese aber wiederum aus der spezifischen Ausrichtung des religiösen Sinns ergeben,49 basiert sie keineswegs auf blinder Willkür, sondern ergibt sich vielmehr aus der einem Menschen charakterlich vorgegeben Affinität entweder für die religiöse Menschheits- oder Naturerfahrung. Nach Schleiermacher wird in der religiösen Naturanschauung das wahre Unendliche im Bild eines immanent regulierten lebendigen Organismus’, in der religiösen Menschheitsanschauung hingegen als lebendiger Kunstprozess erfasst. Die menschliche Fantasie ergänzt jeweils diese Bilder, indem sie die anthropologisch unvermeidliche Frage nach der setzenden Kraft hinter der religiösen ­A nschauung selbstständig konstruktiv-kreativ beantwortet.50 Dem Bild des lebendigen Organismus’ entspricht demgemäß eine a-personale bzw. pantheistische Vorstellung des Universums, hingegen korrespondiert dem lebendigen Kunstprozess die Vorstellung einer personalen Gottheit. Zugleich gilt: Ebenso wie die Höchstform der Universumsanschauung in einer Bezogenheit von Natur- und Menschheitsanschauung besteht, so ist auch diejenige religiöse Fantasie im höchsten Maße entwickelt, die trotz natürlicher Affinität zu einem der beiden Gegenstandsbereiche, die Vorstellungen des Pantheismus’ und des Personalismus’, ergänzend aufeinander zu beziehen vermag.51 Die entscheidende Grenze der religiösen Fantasie ergibt sich nach Schleiermacher daraus, dass, so wie ihr der Ursprung durch die religiöse Anschauung vorgegeben ist, sich ihr Endprodukt an die Regeln der logischen Konsistenz halten muss. Sie vergegenwärtigt die Lebendigkeit des Unendlichen zwangsläufig mit den Mitteln des Endlichen. Hieraus ergeben sich in den Reden Ansätze zu einer Theorie des kritischen Theismus’ bzw. kritischen Pantheismus’. knowledge“, 35–52; Albrecht, Frömmigkeit, 126; Crouter, „Introduction“, xi–xxxix; Lönker, „Religiöses Erleben“, 60; Piper, Das religiöse Erlebnis, 70–73; Seifert, Zur Deutung, 13; Stoker, „Religion als Ausdruck des gestimmten Gefühls“, 98; Welker, Beurteilung, 41–99; Wenz, Sinn und Geschmack fürs Unendliche, 12; 39; 42; 50. 49  Vgl. hierzu Piper, Das religiöse Erlebnis, 114: „Sinn ist ja die Erlebnisgrundlage, Phanta­ sie dagegen die Fähigkeit, das Erlebte zu formen.“ 50  KGA I/2, 245,25–28: „Ihr, hoffe ich, werdet es für keine Lästerung halten, daß Glaube an Gott abhängt von der Richtung der Fantasie; Ihr werdet wißen daß die Fantasie das höchste und ursprünglichste ist im Menschen, und außer ihr alles nur Reflexion über sie“. 51 Gegen Braasch, Comparative Darstellung, 36–38.

Zusammenfassung und kritische Würdigung

449

Das Proprium des kritischen Theismus’ besteht in der Ablehnung eines allzu naiven Anthropomorphismus. Der kritischen Pantheismus des religiösen Bewusstseins verwahrt sich gegen die Annahme, die Lebendigkeit des Unend­ lichen mit endlichen Kausalprozessen bzw. mit blinder Notwendigkeit gleichzusetzen. Kritischer Theismus und kritischer Pantheismus des religiösen Bewussteins wahren auf diese Weise sowohl die untrennbare Bezogenheit als auch die qualitative Differenz zwischen innerweltlich handelnden Personen und lebendiger Schöpferkraft. Ebenso wie die Höchstform der religiösen Fantasie in dem Zusammenspiel von Natur- und Menschheitsanschauung besteht, so wird durch das ergänzende Zusammenspiel von kritischem Theismus und kritischem Pantheismus die religiöse Vorstellung des wahren, lebendigen Unendlichen vervollständigt.52 Nach Schleiermacher handelt es sich bei dem vermittelt-willkürlich religiösen Denken um die reflexive Selbstthematisierung der Religion im Rahmen der endlichen Begriffsbestimmungen auf der Grundlage religiöser Anschauungen und Vorstellungen. Die Möglichkeit zu dieser theologischen Begriffsarbeit ist grundsätzlich dadurch gegeben, dass die religiösen Anschauungen (und die aus ihnen hervor­ gehenden religiösen Fantasievorstellungen) eine Evidenzbasis besitzen,53 die mittels „freier Reflexion“54 zu einem religiösen Wissen entfaltet werden kann. Die Begriffsbildung des religiösen Denkens setzt bei dem Totaleindruck des religiösen Anschauungsbildes ein und analysiert seine Elemente. Der Inhalt der religiösen Anschauung wird folglich durch das theologische Denken in die Form des Wissens übersetzt. Deswegen verkommt ein religiöses Denken ohne inhaltliche Rückbindung an die Inhalte der religiösen Anschauungen nach Schleiermacher notwendig zur „leeren Mythologie“55. Die Funktion des religiösen Denkens besteht nach innen darin, irrige Fantasievorstellungen unter Zuhilfenahme von basalen logischen Regeln zu korrigieren, indem sie auf immanente Selbstwidersprüchlichkeiten der Fantasievorstellungen hinweist.56 52 Vgl. auch spätere Ausführungen Schleiermachers zu diesem Sachzusammenhang in: KGA I/12, 146,21–31. 53  KGA I/2, 241,20–30 (kursiv, C. K.): „Ja, wer nicht eigene Wunder sieht auf seinem Standpunkt zur Betrachtung der Welt, in weßen Innern nicht eigene Offenbarungen aufsteigen, wenn seine Seele sich sehnt die Schönheit der Welt einzusaugen, und von ihrem Geiste durchdrungen zu werden; wer nicht hie und da mit der lebendigsten Überzeugung fühlt, daß ein göttlicher Geist ihn treibt und daß er aus heiliger Eingebung redet und handelt; wer sich nicht wenigstens […] seiner Gefühle als unmittelbarer Einwirkungen der Universums bewußt ist, und etwas eignes in ihnen kennt was nicht nachgebildet sein kann, sondern ihren Ursprung aus seinem Innersten verbürgt, der hat keine Religion.“ 54  KGA I/2, 239,34. 55  KGA I/2, 214,18; 215,1. 56  Vgl. KGA I/2, 245,33–246,8.

450

Schluss

Nach außen besteht seine Funktion darin, originäre religiöse Anschauungsinhalte gegen anderweitige Inhalte zu unterscheiden. Dies bezieht sich erstens auf die Differenz zwischen der Entstehung religiöser Anschauungen und dem objektiven Wissen von der Welt,57 zweitens auf den spezifischen Vollzug des religiösen Lebens58 und drittens auf das Ziel der religiösen Anschauungsübertragung auf andere Menschen. Entscheidend für die religiöse Bildtheorie der Reden ist, dass die beschriebenen Deutungsvorgänge der religiösen Fantasie und des religiösen Denkens weder das religiöse Bewusstsein konstituieren, dies geschieht allein durch die Selbst­ erschließung des Universums, noch, dass sie die Anschauungen selbst religiös optimieren. Unmittelbar-unwillkürliche religiöse Anschauungen bleiben nach Schleiermacher als bildhafte Selbstmanifestationen des Universums der sachliche Ursprung und dementsprechend auch das kritische Korrektiv, an dem sich alle Fantasievorstellungen und religiösen Begrifflichkeiten messen müssen und durch welches sie sich verifizieren und falsifizieren lassen. Schleiermachers kritischer Religionsbegriff der Reden erweist sich als ein überaus durchdachtes und sachlich stringentes Konzept, mit dem es ihm gelingt, die Religion als herausragendes Element im menschlichen Bildungsgeschehen zu bestimmen. Ein religiöses Bewusstsein zu besitzen, bedeutet, den Blick auf die Welt und ihren Grund weder ausgehend von den endlichen Dingen noch von eigenen Deutungsleistungen selbst zu konstruieren, sondern vom Ursprung aller Wirklichkeit her zu empfangen. In diesem Sinne erweist sich das religiöse Bewusstsein wesentlich als unendlich gebildet. 2.  Die inklusivistische Religionstheologie der ‚Reden‘ Erstens wird im Folgenden dargestellt, weshalb und inwiefern die prinzipielle Vielfalt der Religionen aus Schleiermachers kritischem Religionsbegriff folgt (2.1.). Zweitens wird die Dynamik der Religionsgeschichte nach Schleiermacher beschrieben (2.2.). Drittens wird aufgezeigt, dass das Christentum Schleiermacher zufolge die unüberbietbare religiöse Höchstform darstellt (2.3.). 2.1.  Die prinzipielle Vielfalt der Religionen Das Besondere von Schleiermachers inklusivistischer Religionstheologie liegt darin, dass aus dem soeben dargestellten kritischen Religionsbegriff sowohl die notwendige Vielfalt der positiven Religionen abgeleitet wird, als auch Kriterien zu deren Einteilung in ein allgemeines religionstheologisches Schema entwickelt werden. Grundsätzlich geht es Schleiermacher um eine Beschreibung und Beurteilung der Religion aus einer explizit religiösen Perspektive: 57 

58 

KGA I/2, 240,39 ff. KGA I/2, 240,21–39.

Zusammenfassung und kritische Würdigung

451

[I]ch will euch die Religion zeigen, wie sie sich ihrer Unendlichkeit entäußert hat, und in oft dürftiger Gestalt unter den Menschen erschienen ist; in den Religionen sollt ihr die Religion entdeken.59

Wenn Schleiermacher in seiner 5. Rede die gebildeten Verächter dazu auffordert, die Religionen „selbst mit Religion an[zu]schauen als ein ins Unendliche fortgehendes Werk des Weltgeistes“60, so verlangt er, die beiden religiösen Anschauungen der wahren Individualität und der teleologischen Prozessualität religionstheologisch ins Programm zu setzen. These 6:  Religion kann ihrem Begriff nach nur in einer Vielfalt wahrer Religionsindividuen existieren. Für diese ist es wesensgemäß, in einem konstitu­ tiven Zusammenhang der gegenseitigen Verwandtschaft und der teleologischen Prozessualität miteinander zu stehen. Zunächst zeigt Schleiermacher auf, dass es für den Religionsbegriff notwendig und real möglich ist, sich in einer Vielzahl von individuellen Religionen zu manifestieren. Darauf hin weist er nach, dass diese religiöse Pluralität keineswegs einer evolutionären Hierarchisierung der Religionen widerspricht, sondern vielmehr auf diese hingeordnet ist. Die Religion ist nach Schleiermacher pluralistisch aus Prinzip. Seine zwei Grundprämissen lauten dabei: Einerseits manifestiert sich die Religion in Form von religiösen Anschauungen (und religiösen Gefühlen) im menschlichen Bewusstsein. Andererseits existiert die ganze Religion nur als Inbegriff bzw. Totalität aller religiösen Anschauungen (und religiösen Gefühle).61 Wenn aber gilt, dass die religiösen Anschauungen ihrem Wesen nach unendlich sind, dann folgt daraus, dass die ganze Religion nur auf unendlich unterschiedene Weise existieren kann. Genau dies ist Schleiermacher zufolge der Fall: Die Religion ist pluralistisch aus Prinzip, weil die Menge der religiösen Anschauungen ihrem Wesen nach unendlich ist. Sie werden dementsprechend als bestimmte Anschauungen des Unendlichen im Endlichen beschrieben. Da aber das bestimmte Endliche notwendigerweise für sich das Unendliche nicht vollständig erfassen kann, muss es unendlich viele religiöse Anschauungen des Unendlichen geben. Schleiermacher formuliert es lakonisch: „[D]er Mensch ist endlich und die Religion ist unendlich“.62 Verstärkt wird diese These durch die Feststellung, dass keine religiöse Anschauung an sich existiert, sondern jede erscheint jeweils unterschiedlich nach

59 

KGA I/2, 294,15–18. KGA I/2, 296,17 f. 61  Weil die religiösen Gefühle in Schleiermachers Begründung der Religionsvielfalt in der Erstauflage der Reden keine essentielle Rolle spielen, stehen im Folgenden die religiösen Anschauungen im Vordergrund der Darstellung. 62  KGA I/2, 295,18. 60 

452

Schluss

Maßgabe der verschiedenen Ansichten von ihr.63 Beim religiösen Bewusstsein handelt es sich folglich um geformte religiöse Ansichten. Die ganze Religion existiert nur vollständig, wenn alle geformten Ansichten jeder religiösen Anschauung wirklich gegeben sind. Das ist aufgrund seiner Standpunktgebundenheit keinem Menschen allein möglich. Daher ist die Religion mit Notwendigkeit plural verfasst. Die reale Möglichkeit der religiösen Pluralität ergibt sich daraus, wie Schleiermacher diese geformten religiösen Ansichten näher bestimmt. Der Kernpunkt besteht darin, dass er sie als wahre Religionsindividuen charakterisiert: Die ganze Religion wird individualisiert, indem aus der unendlichen Menge der religiösen Anschauungen eine bestimmte durch „freie Willkühr“64 zur Zentralanschauung avanciert.65 Aus ihrer Zentralperspektive werden alle anderen Anschauungen betrachtet und geordnet. Hierdurch wird die, prinzipiell unendlicher Variationen fähige, religiöse Ansicht auf das Universum in eine bestimmte Form gebracht und erhält einen unverwechselbaren und stetigen Charakter. Die religiöse Zentralanschauung verhält sich bildlich gesprochen 63  Das gilt nach Schleiermacher sowohl für ein religiöses Subjekt in seinem Bezug auf andere Menschen: „Dicht hinter Euch, dicht neben Euch mag jemand stehen, und alles kann ihm anders erscheinen.“ (KGA I/2, 215,18 f.) Es gilt ihm zufolge aber auch in Bezug auf ein einzelnes religiöses Subjekt selbst: „[…] von einem entgegengesezten Punkte aus würdet Ihr nicht nur in neuen Gegenden neue Anschauungen erhalten, auch in dem alten wohlbekannten Raume würden sich die ersten Elemente in andere Gestalten vereinigen und alles würde anders sein.“ (KGA I/2, 216,27–31) 64  KGA I/2, 303,25. 65 Dass die religiöse Zentralanschauung Schleiermacher zufolge ihrem Wesen nach durch „freie Willkühr“ entsteht, bedeutet nicht, dass sie das Ergebnis einer nachträglichen produktiven Konstruktion des menschlichen Subjekts darstellt. Nach Schleiermacher geht vielmehr die Entstehung eines wahrhaft religiösen Bewusstseins mit der Bildung einer religiösen Zentralanschauung einher (KGA I/2, 305,26–34; vgl. auch KGA I/2, 301,7 f.). Überhaupt zuerst in das Gebiet der Religion einzutreten, bedeutet, eine religiöse Zentralanschauung zu besitzen. Religiöse Einzelanschauungen im eminenten Sinne entstehen nach Schleier­m acher erst in Bezug auf eine religiöse Zentralanschauung. Folglich kann eine Zentralanschauung nicht umgekehrt nachträglich aus den religiösen Einzelanschauungen konstruiert werden. Vielmehr ist dieser Ausdruck im objektiven Sinne zu verstehen und bezeichnet diejenige freie Willkür, die dem religiösen Subjekt bei der unmittelbaren Entstehung seiner Zentralanschauung von Seiten des Universums begegnet. Der Ausdruck „freie Willkür“ kennzeichnet somit nicht die aktive Tat des religiösen Subjekts, sondern präzise die Erfahrung seiner Passivität bei der Bildung einer religiösen Zentralanschauung durch das Universum. Mit der Willkürlichkeit ihrer Entstehung verweist Schleiermacher auf die Unableitbarkeit der religiösen Zentralanschauung aus früheren Zuständen des Subjekts. Diesen Vorgang vergleicht er mit dem Geborenwerden eines Menschen (KGA I/2, 306,34–307,10). Als Erfahrung einer freien Willkür kann man die Entstehung einer religiösen Zentralanschauung deswegen ansehen, weil sie, trotz ihrer Unableitbarkeit aus früheren Zuständen, über eine persönlichkeits- und gemeinschaftsbildende Kraft verfügt (KGA I/2, 308,28–32). An dieser unabweislichen existenzialen Bedeutsamkeit der religiösen Zentralanschauung wird erfahrbar, dass sich ihre Entstehung nicht einem blinden Zufall verdankt, sondern auf höherer Notwendigkeit beruht (Vgl. KGA I/2, 311,24–40).

Zusammenfassung und kritische Würdigung

453

wie ein Gravitationszentrum, das die an sich gleichwertigen religiösen Anschauungen mit ihrer Anziehungskraft in eine bestimmte Ordnung bringt.66 Die religiöse Zentralanschauung stellt somit das principium individuationis der Religion dar. Sie bildet das interne Bestimmungskriterium und das externe Unterscheidungskriterium jeder positiven Religion. Die Notwendigkeit der religiösen Pluralität wird folglich in Form der positiven Religionen real möglich. Die ganze Religion manifestiert sich in der Totalität der positiven Religionen. Hieraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen für Schleiermachers Verständnis der religiösen Pluralität: Erstens: Schleiermacher zufolge stellt die Religionsvielfalt nicht allein einen faktischen, sondern vielmehr einen notwendigen Sachverhalt dar. Weil alle Einzelreligionen als wahre Religionsindividuen nur Teile der ganzen Religion sind, kann keine Einzelreligion für sich genommen die ganze Religion bilden. Anders als im religionstheologischen Exklusivismus besitzt nach Schleier­m acher keine Religion einen berechtigten Alleingeltungsanspruch.67 Es besteht vielmehr ein Gesamtgeltungsanspruch der positiven Religionen. Mit diesem Neologismus wird hervorgehoben, dass es zum Wesen jeder wahren Einzelreligion gehört, in einem konstitutiven Bezug auf alle anderen wahren Einzelreligionen zu stehen. Zweitens: Jede Einzelreligion ist nach Schleiermacher keineswegs nur ein Teil, sondern auch spezifische Darstellung der ganzen Religion. Daraus folgt, dass in jeder Einzelreligion alles, was in den anderen Religionen enthalten ist, in bestimmt modifizierter Hinsicht auch enthalten ist. Hierin ist die Möglichkeit angelegt, dass die unterschiedlichen Religionsindividuen sich sowohl gegenseitig überhaupt als Religionen erkennen können, als auch ein Verständnis für die eigentümliche Bestimmtheit der anderen Religionen zu bilden vermögen. Klare religiöse Positionierung schließt folglich nicht aus, sondern beinhaltet vielmehr notwendig die würdigende Anerkennung divergierender Standpunkte. 66 

KGA I/2, 303,23–304,15. im Folgenden aufgeführten religionstheologischen Optionen richten sich nach dem religionstheologischen Standardmodell, das sich aus der vollständigen logischen Disjunktion auf die prinzipielle Frage ergibt: „[W]ie die Geltungsansprüche der Religionen und ihr Verhältnis zu beurteilen sind“ (Hermanni, F., „Der unbekannte Gott. Plädoyer für eine inklusivistische Religionstheologie“ in: C. Danz/F. Hermanni (Hgg.), Wahrheitsansprüche der Weltreligionen. Konturen gegenwärtiger Religionstheologie, Neukirchen-Vluyn 2006, 149–169, hier: 150.) Vgl. auch Schmidt-Leukel, P., Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh 2005, 34 ff.). Das hieraus sich ergebende Standardmodell gliedert sich erstens in den religionstheologischen Exklusivismus, welcher die Annahme vertritt, dass die Geltungsansprüche nur einer einzigen Religion berechtigt sind; zweitens den religionstheologischen Inklusivismus, welcher der Ansicht ist, dass die Geltungsansprüche von mehr als einer Religion berechtigt sind, jedoch im höchsten Maße nur in einer einzigen Religion, die alle anderen in besonderer Weise überbietet; drittens den religionstheologischen Pluralismus, demzufolge die Geltungsansprüche von mehr als einer Religion in höchstem Maße berechtigt sind. Die vierte Option ist der religionstheologische Naturalismus, welcher der Ansicht ist, dass keine Religion überhaupt berechtigte Geltungsansprüche besitzt. 67 Die

454

Schluss

Somit muss nach Schleiermacher unter den Religionen das höchste Ziel in einer gegenseitigen Anerkennung in dem umfassenden Verwandtschaftsbewusstsein eines „Bund[es] von Brüdern“68 und Schwestern bestehen.69 Drittens: Positive Religionen sind als Teile und Darstellung keineswegs nur unselbständige Bruchstücke, die erst durch ihre Zusammensetzung zur wahren Religion werden. Gegen derartige geschichtslose Ansichten einer allgemeinen Vernunftreligion betont Schleiermacher, dass in jeder positiven Religion die ganze Religion auf modifizierte Weise wahrhaftig existiert.70 Anders jedoch als im religionstheologischen Pluralismus, sind die Religionen dennoch nicht gleichwertig. Ihr religiöser Wert bemisst sich daran, in welcher Klarheit und Deutlichkeit in ihnen die religiöse Bewusstseinserweiterung und Bewusstseinserhebung entwickelt sind. Die religiöse Pluralität steht somit in keinem Widerspruch zu einer Hierarchisierung der Religionen. Schleiermacher vertritt in den Reden keine religiöse Individuation um jeden Preis, sondern diese ist seinem Religionsbegriff gemäß auf eine teleologische Prozessualität hingeordnet. Thematisch wird dies von Schleiermacher in seinem religionstheologischen Einteilungsschema behandelt: Demnach lassen sich die positiven Religionen hierarchisch in über- bzw. untergeordnete Bildungs- oder Entwicklungsstufen einteilen.71 Als Kriterium dieser Stufung gilt die Fähigkeit einer Religion, ein klares und deutliches Bewusstsein vom Verhältnis zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen auszubilden. Dies beinhaltet sowohl die qualitative Unterscheidung zwischen beiden Bereichen, als auch die Gesetzmäßigkeit ihrer Bezogenheit aufeinander. In der Entwicklungsstufe werden die religiöse Bewusstseinserweiterung und -erhebung im Rahmen ihrer bestimmten Klarheit und Deutlichkeit konkretisiert. Die Reden bringen diese Stufung in der Weise zum Ausdruck, dass sie die Religionen danach hierarchisieren, ob in ihnen das Universum als verworrene Einheit, als bestimmte Vielheit oder als systematische Allheit angeschaut wird. Auf der letzten Stufe wird das Universum klar und deutlich als wahres Unendliches aufgefasst, welches als Alles bestimmende Wirklichkeit den Grund und die Totalität alles Endlichen bildet.72 Darüberhinaus lassen sich die so eingeteilten Stufen Schleiermacher zufolge wiederum nach Arten spezifizieren, wodurch die Religionen einer bestimmten 68 

KGA I/2, 291,30. auch einschlägig KGA I/2, 313,30–34 (kursiv, C. K.): „Vergeßt also nie, daß die Grundanschauung einer Religion nichts sein kann, als irgend eine Anschauung des Unendlichen im Endlichen, irgend ein allgemeines Element der Religion; welches in allen andern aber auch vorkommen darf, und wenn sie vollständig sein sollten, vorkommen müßte, nur daß es in ihnen nicht in den Mittelpunkt gestellt ist.“ 70  Vgl. KGA I/2, 308,33–311,23. 71 Vgl. im ganzen Zusammenhang KGA I/2, 244,18–246,8. Gegen Schröder, „Das ‚unendliche Chaos‘“, 600. 72  Vgl. KGA I/2, 244,18–245,7. 69  Vgl.

Zusammenfassung und kritische Würdigung

455

gemeinsamen Stufe koordiniert werden können. Das Kriterium zur Arteinteilung der Religionen ergibt sich daraus, auf welche Weise die religiöse Fantasie sich das lebendige Universum vorstellt: Entweder als beseelt, dann stellt sich die Religionsgemeinschaft einen Gott vor und ist personalistisch, oder als unbeseelt, dann stellt sie sich das Universum im Sinne einer natura naturans vor und gehört der pantheistischen Art an.73 Schleiermachers religionstheologisches Einteilungsschema verbindet somit eine dreifache vertikale Einteilung der aufsteigenden religiösen Entwicklungsstufen mit einer zweifachen horizontalen Einteilung der religiösen Arten. In dieses Sechsfächer-Schema können alle positiven Religionen nach Maßgabe ihrer religiösen Anschauungen eingeordnet und nach ihrer individuellen Zentralanschauung voneinander unterschieden werden. 2.2.  Die Dynamik der Religionsgeschichte These 7:  Positive Religionen stehen in keiner direkten historischen Abhängigkeit voneinander, sondern die Religionsgeschichte ist natürlich-supranatural verfasst. Sie vollzieht sich einerseits auf natürliche Weise entlang der religiösen Selbstbewusstseinsgeschichte, deren Motor andererseits nicht die Rationalität menschlicher Subjekte, sondern der supranaturale Plan des Unendlichen ist. Im Folgenden werden die zentralen Ansichten Schleiermachers zur Reli­ gionsgeschichte präsentiert, wie er sie in den Reden anhand seiner Darstellung und Auseinandersetzung mit dem Judentum vorbringt. Grundsätzlich ist zu betonen: Schleiermachers Beschreibung und Beurteilung des Judentums ist defizitär und theologisch untragbar. Daher dienen die folgenden Ausführungen zur Darstellung seiner eigenen Auffassung von Religionsgeschichte, keineswegs zur objektiv-adäquaten Beschreibung jüdischen Glaubens.74 Die jüdische Zentralanschauung bestimmt Schleiermacher als die „Idee […] von einer allgemeinen unmittelbaren Vergeltung, von einer eigenen Reaktion des Unendlichen gegen Jedes einzelne Endliche, das aus der Willkür hervorgeht, durch ein anderes Endliches, das nicht als aus der Willkür hervorgehend angesehen wird.“75 Es handelt sich dieser Beschreibung zufolge im Judentum erstens um eine Religion der höchsten Entwicklungsstufe, d.h., um eine sog. systematische Religion. In dieser Bewertung unterscheidet sich Schleiermacher deutlich von Kant.76 73 

KGA I/2, 245,11–30. Kritik an Schleiermachers Beschreibung und Beurteilung des Judentums vgl. auch A. Ritschl, Schleiermachers Reden, 13 f.; Blum, Ich wäre ein Judenfeind?, 16–30; Brumlik, „Die Duldung des Vernichteten“, 41–56; Crouter, Enlightenment, 123 ff. 75  KGA I/2, 315,10–14. 76  Nach Kants Ethikotheologie wird das Judentum erst durch eine moralische Läuterung zu einer Religion im eminenten Sinne. Das wahrhaft Religiöse sind ihm zufolge die späteren moralischen Zusätze, z.B. durch Autoren der Auf klärungszeit wie Moses Mendelssohn. (Vgl. Kant, Briefwechsel, AA XXIII, 443 f.; ders., Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Ver74 Zur

456

Schluss

Einerseits ist im Judentum die religiöse Bewusstseinserhebung mit ihrer Unterscheidung von Unendlichem und Endlichem fortgeschritten entwickelt und andererseits schließt die religiöse Bewusstseinserweiterung dem eigenen Anspruch nach das Endliche universal ein. Zweitens ist das Judentum der Art nach eine personalistisch-geschichtliche Religion, deren Zentralanschauung drittens ein göttliches Vergeltungshandeln darstellt. Die Gesetzmäßigkeit des göttlichen Vergeltungshandelns bewegt sich Schleiermacher zufolge im Rahmen einer göttlichen Pädagogik mit ihrer Konzeption eines innerweltlichen Tun-Ergehen-Zusammenhangs: Die Befolgung des göttlichen Willens wird durch irdisches Wohlergehen belohnt und die Nichtbefolgung dementsprechend durch irdisches Übelergehen bestraft. Diese Beschreibung besitzt Ähnlichkeiten mit Lessings Darstellung des Judentums.77 Nach Schleiermacher besitzt jede Religion einen bestimmten Stoff oder vorzüglichen Gegenstandsbereich ihrer religiösen Betrachtung und eine bestimmte Form, welche die Art und Weise der Betrachtung auf den jeweiligen religiösen Gegenstandsbereich festlegt. Im Judentum wird die Welt- und Individualgeschichte als durchgängig persönlicher Dialog zwischen Gott und Menschheit aufgefasst. Der religiöse Stoff ist daher die eigene Tradition, die den „Zusammenhang dieses großen Gesprächs“78 fixiert. Die Tradition ermöglicht den Einblick in die spezifische Gesetzmäßigkeit des innerweltlichen Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Die religiöse Form des Judentums bildet die Weissagung. Sie ermöglicht Einblick in die spezifische Gültigkeit des innerweltlichen Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Ursprünglich ist die Zentralanschauung des Judentums nach Schleiermacher nur auf einen „kleinen Schauplatz ohne Verwicklung“79 bezogen gewesen. Als das Judentum jedoch dieses „einfache Ganze“80 der „patriarchalischen Zeit“81 verließ und „auf den Schauplaz der Welt“82 geriet, wurde es aufgrund der eintretenden Komplexität der Handlungszusammenhänge und Winunft, AA VI, 166) Der Übergang des Judentums in die eine, alle Religionen umfassende, moralische Vernunftreligion stellt zugleich das Ende des historischen Judentums als auch dessen einzige Möglichkeit zur religiösen Sachhaltigkeit dar. Nach Kant beweist das Judentum in dem von ihm selbst herbeigeführten eigenen Untergang in der allgemeinen Vernunftreligion sein wahrhaft religiöses Wesen (Vgl. Kant, Der Streit der Fakultäten, AA VII, 80 f.) Mit seiner Kritik an der natürlichen Religion bzw. der „Vernunftreligion“ (KGA I/2, 309,12) hält Schleiermacher dagegen fest, dass die moralischen Zusätze das Verhängnis des Judentums darstellen, wodurch es seinen Status als Religion im eigentlichen Sinne zu verlieren droht. 77  Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, LW 8, §  16 (kursiv, C. K.): „Ein Volk aber, das so roh, so ungeschickt zu abgezognen Gedanken war, noch so völlig in seiner Kindheit war, was war es für einer moralischen Erziehung fähig? Keiner andern, als die dem Alter der Kindheit entspricht. Der Erziehung durch unmittelbare sinnliche Strafen und Belohnungen.“ 78  KGA I/2, 315,31 f. 79  KGA I/2, 315,39. 80  KGA I/2, 315,40. 81  KGA I/12, 284,28. 82  KGA I/2, 316,2.

Zusammenfassung und kritische Würdigung

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dersprüchlichkeiten der Handlungsfolgen zunehmend schwieriger, den innerweltlichen Tun-Ergehen-Zusammenhang für einzelne Taten zu erfassen. In dieser Situation versuchte das Judentum seine religiöse Zentralanschauung zu bewahren, indem es nicht mehr das unmittelbare geschichtliche Ergehen der handelnden Personen für die Vergeltung Gottes ansah, sondern die göttliche Reaktion unter Zuhilfenahme ihrer weissagenden Fantasie antizipierte und den Geschichtsverlauf in diesem Sinne gedanklich „vorwegnahm“83. Den religionstheologischen Wendepunkt der jüdischen Religion stellt laut Schleiermacher der religiöse Messianismus dar: 84 Zum einen ist er das höchste Erzeugnis des Judentums, weil in ihm eine ultimative und unüberbietbare Reaktion Gottes geweissagt wird. Die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Welt soll durch den göttlichen Messias wieder rückgängig gemacht werden: „Durch die Unterwerfung der Völker unter das alte Gesetz sollte jener einfache Gang wieder allgemein werden in den Begebenheiten der Welt“.85 Zum anderen ist der Messianismus zugleich die letzte Anstrengung der jüdischen Religion, da in ihm der immanente Selbstwiderspruch zu Tage tritt: An einer ultimativen religiösen Weissagung festzuhalten, weil alle religiösen Weissagungen gescheitert sind.86 Das Bewusstsein vom Ende und Scheitern aller mensch83 

KGA I/2, 316,5. KGA I/2, 316,9 f. Gegen Beckmann, Die fremde Wurzel, 43; 46. 85  KGA I/2, 316,13 ff. 86  Diese These richtet sich auch gegen von Scheliha, demzufolge durch den jüdischen Messiasglauben „die Vergeltungsidee transzendiert und die apokalyptische Wiederherstellung der religiösen Grundidee imaginiert“ wird (von Scheliha, „Schleiermachers Deutung“, 217 f.). Nach Schleiermacher wird jedoch durch den Messiasglauben die Idee der göttlichen Vergeltung im Judentum keineswegs transzendiert. Dies ist Schleiermacher zufolge auch gar nicht möglich, da die Idee der göttlichen Vergeltung die jüdische Zentralanschauung darstellt, die allen sonstigen Anschauungen im Judentum als geistiger Mittelpunkt dient. Folglich kann auch das Judentum als Judentum nur mit seiner religiösen Zentralanschauung der göttlichen Vergeltung existieren. Anders ausgedrückt: Wäre es dem Judentum möglich, seine religiöse Zentralanschauung der göttlichen Vergeltung zu transzendieren, so wäre es ihm folglich gegeben, durch die selbsttätige Änderung der eigenen religiösen Zentralanschauung, sich selbst religiös zu optimieren. Schleiermachers gesamte Argumentation der fünften Rede läuft jedoch auf das genaue Gegenteil hinaus. Gerade weil jede Religionsgemeinschaft auf einem eigentümlichen Erschließungsgeschehen des Universums beruht, kann prinzipiell keine Religionsgemeinschaft ihre Zentralanschauung selbsttätig ändern. Demzufolge transzendiert das Judentum im Messianismus nicht etwa die Idee der göttlichen Vergeltung, sondern, und das ist ja gerade das Prekäre nach Schleiermachers Darstellung, es tritt mit seiner Vorstellung des Messianismus in einen Widerspruch zu seinen sonstigen Weissagungen, ja zum Prinzip der Weissagung selbst und infolgedessen auch in einen Widerspruch zu seiner eigenen religiösen Zentralanschauung, ohne, dass es zur Behebung dieses Widerspruchs aus sich selbst befähigt wäre. (Vgl. einschlägig KGA I/12, 306,27ff: „Auch die messianischen Hoffnungen der Juden waren keine solche Sehnsucht nach etwas über das Judenthum Hinausgehendem, wenngleich sie hernach durch die weit über dasselbe hinausgehende Erscheinung Christi erfüllt wurden.“) 84 

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Schluss

lichen Weissagung ist laut Schleiermacher nicht die Folge, sondern der paradoxe Grund der Messiasweissagung. Dieser immanente religiöse Selbstwiderspruch geht nach Schleiermacher auf einen fatalen Realitätsverlust der jüdischen Zentralanschauung selbst zurück. Der im religiösen Bewusstsein angenommene Tun-Ergehen-Zusammenhang lässt sich in einer komplexen Welt nicht mehr im sinnlichen Bewusstseinsleben verifizieren.87 Religiöses und sinnliches Wirklichkeitsbewusstsein treten zueinander in einen Gegensatz. Diesem fundamentalen Widerstreit im mensch­lichen Bewusstseinsleben wird im jüdischen Messianismus mit der Hoffnung auf eine radikale Wandlung begegnet, die sich jedoch ausschließlich in der sinnlichen Wirklichkeit vollziehen soll. Statt der Sehnsucht nach einer Optimierung des religiösen Bewusstseins, wird vielmehr ein regressiver Weltzustand erhofft.88 Dieses offenbart Schleiermacher zufolge im Umkehrschluss, dass die jüdische Zentralanschauung keine universale, sondern lediglich eingeschränkt-partikulare Gültigkeit besitzt. Die jüdische Vorstellung von einem innerweltlichen Tun-Ergehen-Zusammenhang beruht folglich darauf, dass ewige und endliche Ursachen, d.h. göttliches und menschliches Handeln, nicht adäquat voneinander unterschieden, sondern vielmehr miteinander verworren vorgestellt werden. Dies ist letztlich der entscheidende Grund, weshalb Schleiermacher das Judentum, übrigens nicht alleine das Judentum,89 als kindische Religion90 bzw. als „kindlich“91 ­charakterisiert.92 Aus Schleiermachers Beschreibung des Judentums lassen sich zwei allgemeine religionstheologische Folgen ziehen: Erstens: Zwar ist nach Schleiermacher jede religiöse Anschauung an sich ewig und wahr, „weil sie ein ergänzender Theil des unendlichen Ganzen ist in dem Alles ewig sein muß“93. Daraus folgt nicht, dass jede religiöse Zentralanschauung wahr und ewig ist. Religiöse Zentralanschauungen besitzen eine bestimmte religiöse Halbwertszeit. Ihnen kommt nur so lange Gültigkeit zu, wie sie einem bestimmten Zustand der menschlichen Bildung zu entsprechen vermögen. Geraten in einer Religion religiöses und sinnliches Wirklichkeitsbewusstsein in einen Widerspruch zueinander, dann haben sie sich religionstheologisch überlebt.94 Zweitens: Die Entstehung neuer Religionen ist von anderen Religionen weder historisch direkt abhängig, noch wird sie sachlich durch die Widersprüchlichkeit anderer Religionen provoziert.95 Es kann „in keiner positiven Religion 87 Vgl.

Pickle, „Schleiermacher on Judaism“, 120 f. KGA I/2, 318,10–14. 89  KGA I/2, 324,11 f. 90  Ebd. (kursiv, C. K.) 91  KGA I/2, 314,43; 315,38 f. 92  Vgl. KGA I/2, 252,28–253,3. 93  KGA I/2, 323,40–324,2. 94  KGA I/2, 324,3–7. 95 Vgl. KGA I/2, 314,39–43 (kursiv, C. K.): „Auch rede ich nicht deswegen von ihm 88 

Zusammenfassung und kritische Würdigung

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eine Sehnsucht“ nach „neuen Offenbarungen außerhalb des Umkreises der gegebenen Religion“ geben, weil „auch die Sehnsucht eines jeden natürlich seine eigenthümliche Art und Form an sich tragen muß.“96 Nach Schleiermacher bilden sich Religionen folglich nicht aufgrund rationaler Optimierungsbestrebungen der menschlichen Subjekte, sondern aufgrund ursprünglicher Offenbarungen nach dem Plan des Universums. Weil sich die Religionsgeschichte einerseits als religiöse Selbstbewusstseinsgeschichte vollzieht, sich jedoch andererseits die Übergangspunkte dieser Entwicklung einem supranaturalen Impuls verdanken, ist Schleiermachers Verständnis der Religionsgeschichte als natürlich-supranatural zu charakterisieren. Die Religionsgeschichte stellt sich nach Schleiermacher wesentlich als Bildungsgeschichte des menschlichen Bewusstseins durch das wahre Unendliche dar und erweist sich darin als unendlich gebildet. 2.3.  Die unüberbietbare religiöse Höchstform These 8:  Die Religionsgeschichte ist auf das Christentum hingeordnet, in dem sie sich vollendet. Das Christentum ist die höchste Religion, weil es das Selbstbewusstsein der Religion darstellt und ihre umfassende Verwirklichung anstrebt. Seine Höchstgeltung beinhaltet keinen exklusiven Alleingeltungsanspruch, sondern allein seine ausschließende Vortrefflichkeit. Die christliche Zentralanschauung ist Schleiermacher zufolge die „Idee eines allgemeinen Entgegenstrebens alles Endlichen gegen die Einheit des Ganzen, und der Art wie die Gottheit dieses Entgegenstreben behandelt, wie sie Feindschaft gegen sich vermittelt, und der größer werdenden Entfernung Grenzen sezt durch einzelne Punkte über das Ganze ausgestreut, welche zugleich End­ liches und Unendliches, zugleich Menschliches und Göttliches sind.“97 Beim Christentum handelt es sich um eine systematische Religion der geschichtlich-personalistischen Art, wobei sie anders als das Judentum das Verhältnis zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen in Form eines universal-versöhnenden Erlösungshandelns Gottes darstellt.98 Das Erlösungsgeschehen ist universal, da es sich auf die Überwindung eines irreligiösen Prinzips im Endlichen selbst bezieht. Die endlichen Sachverhalte, die Menschheit eingeschlossen, streben von Natur aus danach, ihre scheinbare Eigenständigkeit gegenüber dem „Zusammenhang des Ganzen“99 zu behaupten [dem von Schleiermacher sog. „Judaismus“, C. K.], weil er etwa der Vorläufer des Christenthums wäre: ich haße in der Religion diese Art von historischen Beziehungen, ihre Noth­ wendigkeit ist eine weit höhere und ewige, und jedes Anfangen in ihr ist ursprünglich“. 96  KGA I/12, 306,23–29. 97  KGA I/2, 316,29–34. 98  Zu Schleiermachers späterer Christentumstheorie vgl. auch Schröder, M., Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion (Beiträge zur Historischen Theologie 96), Tübingen 1996. 99  KGA I/2, 317,3.

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Schluss

und zu erweitern. Ihr Widerstreben gegen das sie erzeugende und erhaltende Universum ist keineswegs nur das Produkt eines willkürlichen Fehlverhaltens, sondern Ausdruck eines notwendigen Verblendungszusammenhangs.100 Dies ist der erste zentrale Gegenstand der christlichen Zentralanschauung. Im egozentrischen Streben blind für den wahren Grund und das Ziel ihres Daseins und von sich aus „unfähig etwas hervorzubringen worin der Geist des Universums wirklich lebte“101 ist dem Christentum zufolge dieser Verblendungszusammenhang absolut. Diese Ansicht von der prinzipiellen Erlösungsfähigkeit der Menschheit bei gleichzeitig radikaler Erlösungsbedürftigkeit durch das Unendliche, bildet laut dem Christentum den Ursprung der gesamten Religionsgeschichte. In der christlichen Zentralanschauung ist sich das religiöse Bewusstsein somit der ontologischen Möglichkeitsbedingungen von Religion überhaupt gewiss. Den zweiten zentralen Gegenstand der christlichen Anschauung bildet das Eingreifen des göttlichen Erlösers in die Religionsgeschichte. Hierbei ist entscheidend, dass Erlösung keine Umschaffung oder gänzliche Neuschaffung der Menschheit bedeutet. Ihre Erlösungsbedürftigkeit basiert nur auf einer natür­ lichen Täuschung, wodurch die Menschen zwar des Bewusstseins ihrer ursprünglichen Bezogenheit auf das Unendliche beraubt sind, diese Bezogenheit selbst jedoch nicht zerstört ist.102 Folglich ist religiöse Erlösung möglich, und zwar aufgrund des Zusammenspiels von gnadenhafter Selbsterschließung des Unendlichen einerseits und der potenziellen Empfänglichkeit des Endlichen für diese Einwirkung andererseits. Erlösung kann sich in der Religionsgeschichte somit nur vollziehen, indem die Menschheit vollständig mit Gott durch Gott versöhnt wird. Im Christentum besteht somit das Bewusstsein von den epistemologischen Möglichkeitsbedingungen der Religion überhaupt. Der dritte zentrale Gegenstand des Christentums ist der evolutionäre Vollzug des göttlichen Erlösungsgeschehens. Das Unendliche muss seine Wirkmächtigkeit dem Endlichen im Endlichen selbst zeigen, da das Endliche von sich aus ausschließlich zu einer bewussten Beziehung auf den endlichen Wirklichkeitsbereich befähigt ist. Deswegen kann die Art und Weise des Erlösungsgeschehens nur über religiöse Mittler erfolgen, die „zugleich Endliches und Unendliches, zugleich Menschliches und Göttliches sind“103. Gottes universal-versöhnendes Erlösungshandeln erfolgt nach christlicher Auffassung allerdings nicht auf einen Schlag, sondern teleologisch in Form von stetig perfektionierten Mittlergestal100 Gegen

Nowak, Frühromantik, 203. Vgl. Osthövener, „Erlösungsreligion“, 691. KGA I/2, 317,5 f. 102  KGA I/2, 252,9–15: „Der Mensch wird mit der religiösen Anlage geboren wie mit jeder andern, und wenn nur sein Sinn nicht gewaltsam unterdrükt, wenn nur nicht jede Gemeinschaft zwischen ihm und dem Universum gesperret und verrammelt wird […] so müßte sie sich auch in Jedem unfehlbar auf seine eigne Art entwikeln; aber das ist es eben was leider von der ersten Kindheit an in so reichem Maaße geschieht zu unserer Zeit.“ 103  KGA I/2, 316,33 f. 101 

Zusammenfassung und kritische Würdigung

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ten.104 Auf diese Weise wird nach Schleiermacher der im Judentum hauptsächlich symmetrisch aufgefasste sittliche Dialog zwischen Gott und der gesamten Menschheit im Christentum zu dem Verständnis eines asymmetrisch verfassten erlösenden Bildungsprozesses bzw. durch „das immer fortgehende Erlösungswerk der ewigen Liebe“105 vertieft. Im Christentum besteht folglich das Bewusstsein von der geschichtlichen Vollzugsweise der Religion überhaupt. Wie soeben gezeigt, wird sich die Religion nach Schleiermacher im Christentum umfassend ihres eigenen Wesens, d.h. ihres Ursprungs, ihrer Entwicklungsgeschichte und ihres Zieles, bewusst. Seine ausschließliche Vortrefflichkeit gründet darin, dass es „die Religion selbst als Stoff für die Religion verarbeitet“106. Während die anderen positiven Religionen bloß auf einer bestimmten Anschauung des Unendlichen im Endlichen beruhen, thematisiert das Christentum die grundlegenden Voraussetzungen jeder religiösen Anschauung. Weil sich im Christentum diese unmittelbare Reflexivität der Religion auf ihr eigenes Wesen ereignet, bezeichnet Schleiermacher sie als die „höhere Potenz“ 107 der Religion und damit als „Religion der Religionen“108. So wie das religiöse Bewusstsein das Selbstbewusstsein des endlichen Geistes darstellt, so bildet das Christentum das Selbstbewusstsein der Religion.109 Dies ist nach Schleiermacher aber nicht der einzige Grund für die religionstheologische Höchstgeltung des Christentums. Er ergänzt seine bisherige Beschreibung des christlichen Stoffs durch die Charakterisierung der christlichen Form, die sich auf die spezifische Art und Weise der Beteiligung des Menschen am göttlichen Erlösungsgeschehen bezieht. Grundsätzlich versteht er die Beziehung zwischen dem Stoff und der Form des Christentums analog zum Verhältnis zwischen der gläubigen Wiedergeburt und dem hierauf anhebenden Heiligungsprozess: In dem christlichen Bewusstsein des Erlöstseins bzw. der Wiedergeburt ist zwar die Macht des irreligiösen Prinzips über die Menschheit grundsätzlich gebrochen. Dennoch ist die tatsächliche Wirksamkeit des irreligiösen Prinzips in den einzelnen Menschen keineswegs restlos getilgt. Sie muss durch das selbstständige und kritische Wirken jedes einzelnen Menschen approximativ be104 KGA

I/2, 317,26–31: „[…] immer neue Veranstaltungen trift die Gottheit, immer herrlichere Offenbarungen gehen durch ihre Kraft allein aus dem Schooße der alten hervor, immer erhabenere Mittler stellt sie auf zwischen sich und den Menschen, immer inniger vereinigt sie in jedem späteren Gesandten die Gottheit mit der Menschheit, damit durch sie und von ihnen die Menschen lernen mögen das ewige Wesen erkennen“. 105  KGA I/2, 234,31 f. 106  KGA I/2, 317,35 f. 107  KGA I/2, 317,36. 108  KGA I/2, 325,15 f. 109  Vgl. auch Rohls, „Das Christentum“, 73: „Das Wesen der Religion, die Vermittlung des Endlichen mit dem Unendlichen, wird im Christentum selbst zur Zentralanschauung, weshalb [es, C. K.] als Religion der Religionen bezeichnet werden kann.“

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Schluss

kämpft werden.110 Der Mensch ist nach Schleiermacher durch das Erlösungsgeschehen zur Freiheit befreit.111 Das asymmetrische Verhältnis zwischen dem Erlöser und der erlösten Menschheit konkretisiert sich im freiheitskonzeptionellen Heiligungsgeschehen der cooperatio dei et hominum. Weil das Heiligungsgeschehen einen Freiheitsvollzug aufgrund der göttlichen Erlösung darstellt, zielt es polemisch als reinigendes Läuterungsgeschehen und erweiterndes Stetigkeitsbestreben nach außen112 und nach innen113 auf ein religiöses Bewusstsein ohne irreligiöse Beimischung oder Unterbrechung.114 Das Christentum strebt damit nach der umfassenden Verwirklichung des religiösen Bewusstseins, indem es klar und deutlich alle Lebensbereiche des Menschen stetig begleitet. Die Heiligung führt die Wiedergeburt fort und vollendet sie. Das Bewusstsein von der Unendlichkeit dieser Aufgabe zeigt sich im Christentum im „Gefühl heiliger Wehmut“ 115. Schleiermacher zufolge erweist sich das Christentum als Selbstbewusstsein und angestrebte Selbstverwirklichung der Religion somit nicht allein als die faktisch höchste, sondern aus begrifflichen Gründen als die höchstmögliche Religion überhaupt.116 Ein faktischer Untergang der christlichen Zentralanschauung ist folglich nach Schleiermacher innergeschichtlich unmöglich. Denn ihm zufolge kann in der Geschichte niemals das irreligiöse Prinzip vollkommen aus der menschlichen Natur getilt werden.117 Ein möglicher Untergang der christlichen Zentralanschauung wäre, nicht wie bei anderen Religionen, die notwendige Folge ihrer inhärenten Begrenztheit, sondern vielmehr das Ergebnis ihrer umfassenden geschicht110  KGA I/2, 318,30–36 (kursiv, C. K.): „Nirgends ist die Religion so vollkommen idealisiert, als im Christenthum und durch die ursprüngliche Voraussezung deßelben; und eben damit zugleich ist immerwährendes Polemisieren gegen Alles Wirkliche in der Religion als eine Aufgabe hingestellt, der nie völlig Genüge geleistet werden kann. Eben weil überall das irreligiöse Princip ist und wirkt, und weil alles Wirkliche zugleich als unheilig erscheint, ist eine unendliche Heiligkeit das Ziel des Christenthums.“ 111  Hierauf bezieht sich Schleiermachers Ausdruck der religiösen „Virtuosität im Christentum“ (KGA I/2, 320,9 (kursiv, C. K.)). Vgl. auch KGA I/2, 322,38–323,1.12 und allgemein: KGA I/2, 218,4–10: „Wer nur systematisch denken und nach Grundsatz und Absicht handeln, und dies und jenes ausrichten will in der Welt, der umgränzt unvermeidlich sich selbst […]. Nur der Trieb anzuschauen, wenn er aufs Unendliche gerichtet ist, sezt das Gemüth in unbeschränkte Freiheit, nur die Religion rettet es von den schimpflichsten Feßeln“. 112  KGA I/2, 318,2–27. 113  KGA I/2, 318,27–320,9. 114  KGA I/2, 319,37–320,6 (kursiv, C. K.): „So hat das Christenthum zuerst und wesentlich die Forderung gemacht, daß die Religiosität ein Continuum sein soll im Menschen […]. Nie soll sie ruhen, und nichts soll ihr schlechthin entgegengeszt sein daß es nicht mit ihr bestehen könne; von allem Endlichen sollen wir aufs Unendliche sehen“. 115  KGA I/2, 320,19. 116 Gegen Süskind, Christentum und Geschichte, 25–30. 117  KGA I/2, 324,15–325,2. Aus diesem Grunde stellt nach Schleiermacher jede „Epoche der Menschheit […] die Palingenesie der Christenthums [dar, C. K.], und erwekt seinen Geist in einer neuen und schöneren Gestalt.“ (KGA I/2, 325,1 f. (kursiv, C. K.))

Zusammenfassung und kritische Würdigung

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lichen Vollendung. Der Untergang des Christentums als Selbstbewusstsein und Selbstverwirklichung der Religion wäre das Ende der Religion selbst, welches mit der vollständigen Manifestation des Reiches Gottes auf Erden zusammenfällt. Hieran zeigt sich, dass das Christentum nach Schleiermacher in den Reden als die vollendete systematische Religion aufgefasst wird. Die Höchstgeltung des Christentums läuft aber keineswegs auf ein Streben nach religiöser Einförmigkeit hinaus, sondern beinhaltet und fordert vielmehr die Vielfalt real existierender unterschiedlicher positiver Religionen neben dem Christentum. Denn die ausschließende Vortrefflichkeit des Christentums beinhaltet nicht den Anspruch auf exklusive Wahrheit, derzufolge die Geltungsansprüche der anderen positiven Religionen vom Christentum absolut verneint würden.118 Vielmehr besitzen Schleiermacher zufolge sämtliche Religionen, weil sie jeweils eine eigentümliche Manifestation des Wesens der Religion darstellen, Anteil an der religiösen Wahrheit, die bei ihnen allerdings noch mit Irrtum vermischt auftritt.119 Das Christentum ist zudem nicht darauf aus, die anderen positiven Religionen durch die eigene Verbreitung zu zerstören, sondern es strebt vielmehr danach, sie als wesentlichen Ausdruck der Religion in modifizierter Gestalt in sich zu integrieren.120 Dies geschieht, indem die vormals in den andern positiven Religionen als Zentralanschauung fungierenden Ansichten des Universums als einfache Anschauungen in das Leben der christlichen Zentralanschauung eingeordnet werden. Die äußere Divergenz zwischen dem Christentum und den anderen Religionen wird auf diese Weise als interne Differenzierung des Christentums selbst aufgehoben. Hiermit gelingt es Schleiermacher meines Erachtens bereits das Grundanliegen moderner komparativ-pluralistischer Ansätze der Religionstheologie in seinen kritischen Inklusivismus als Moment zu integrieren.121 In diesem Sinne entspricht nach Schleiermacher somit der 118  Vgl. hierzu KGA I/2, 325,3–8: „Wenn es nun aber immer Christen geben wird, soll deswegen das Christenthum auch seiner allgemeinen Verbreitung unendlich und als einzige Gestalt der Religion in der Menschheit allein herrschend sein? Es verschmäht diesen Despotismus, es ehrt jedes seiner eignen Elemente genug um es gern auch als den Mittelpunkt eines eignen Ganzen anzuschauen“. 119  Vgl. KGA I/2, 325,15–19 (kursiv, C. K.): „Die Religion der Religionen [das Christentum, C. K.] kann nicht Stoff genug sammeln für die eigenste Seite ihrer innersten Anschauung, und so wie nichts irreligiöser ist als Einförmigkeit zu fordern in der Menschheit überhaupt, so ist nichts unchristlicher als Einförmigkeit zu suchen in der Religion.“ 120  Vgl. hierzu KGA I/2, 322,28–34: „Schüler Johannis, der doch die Grundanschauung Christi nur sehr unvollkommen theilte, sahen sie [die ersten Christen, C. K.] ohne weiteres als Christen an, und nahmen sie unter die aktiven Mitglieder der Gemeine auf. Und auch jetzt sollte es so sein: wer dieselbe Anschauung in seiner Religion zum Grunde legt, ist ein Christ“. In den späteren Auflagen verdeutlicht Schleiermacher diesen Standpunkt noch. Vgl. hierzu zentral KGA I/12, 136,10–137,16, demzufolge „alle anderen Religionen […] auf geschichtliche Weise im Christenthum zu schauen“ sind. (A.a.O., 137,3 f.) Die Verbreitung des Christentums hätte nach Schleiermacher somit die konservierend-integrierende Folge, dass sich alle anderen Religionen „geschichtlich in ihm selbst spiegelten“ (a.a.O., 137,12). 121  Vgl. zu diesem Grundanliegen der komparativ-pluralistischen Religionstheologie ein­

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Schluss

Höchstform des Christentums zugleich sein Höchstmaß an religiöser Integrations­ fähigkeit.122 Die christliche Religion ist auf diese Weise im eminenten Sinne unendlich gebildet. Schleiermacher ergänzend müsste man allerdings noch festhalten, dass die im Christentum mündende religiöse Entwicklungsgeschichte nicht in einer einförmigen Universalgeschichte erfolgt, sondern sich in einer Vielzahl von Partikulargeschichten vollzieht.123 Fazit: Schleiermacher vertritt in seinen Reden eine inklusivistische Religionstheologie.124 Das Besondere dieses Inklusivismus besteht darin, dass er sich nicht als dogmatischer, sondern vielmehr als kritischer Inklusivismus präsentiert. D.h., er setzt die Wahrheit der christlichen Position nicht einfach voraus und bemisst die Wertigkeit der anderen Religionen an der Nähe zu dieser, sondern er beurteilt die Religionen danach, inwiefern sie dem für alle Religionen gültigen allgemeinen Religionsbegriff gerecht werden. Im Unterschied etwa zu Hegel und Schelling zeigt sich Schleiermacher in den Reden, aber auch in der Glaubenslehre125, nicht an dem detaillierten Ablauf der religiösen Entwicklungsgeschichte interessiert. Religion ist nicht wie bei Hegel das „Wissen des absoluten Geistes von sich durch die Vermittlung des endlichen Geistes“126 , sondern das Selbstbewusstsein des endlichen Geistes.

schlägig Schmidt-Leukel, P., Transformation by Integration. How Inter-Faith Encounter Changes Christianity, London 2009. Zu der Bedeutung Schleiermachers für eine komparative Theologie heute siehe auch Ward, K., „Programm, Perspektiven und Ziele komparativer Theologie“, in: R. Bernhardt/K. v. Stoch, Komparative Theologie. Interreligiöse Vergleiche als Weg der Religionstheologie, Zürich 2009, 55–68. 122 In späteren Auflagen der Reden führt Schleiermacher die Integrationsfähigkeit des Christentums im Rahmen seiner ergänzenden Zusätze zu seiner Kirchentheorie näher aus: „Realisiert werden also kann der hier aufgestellte Begriff der wahren Kirche nicht in einer einzelnen Erscheinung, sondern […] nur in der weltbürgerlichen friedlichen Verbindung aller bestehenden und jede in ihrer Art möglichst vervollkommneten kirchlichen Gemeinschaften; welche als Idee als zur Vollendung der menschlichn Natur gehörig in der Ethik näher entwikkelt werden muß. Zweierlei Einwendungen hingegen sind noch, aber leicht, zu beseitigen. Denn einmal könnte jemand fragen, wie doch dieses stimme mit dem in der Glaubenslehre dem Christenthume beigelegten Beruf alle andern Glaubensweisen in sich aufzunehmen? denn wenn so Alles eins geworen sei, so bestehe nicht mehr jene weltbürgerliche Verbindung zur Mittheilung und Anschauung des verschiedenen. Allein es ist schon bevorwortet, daß alle natürlich bestehenden verschiedenen Eigenthümlichkeiten in dem Christenthum nicht verschwinden, sondern sich aus demselben seiner höhern Einheit unbeschadet, auf eine untergeordnete Weise wieder entwikkeln.“ (KGA I/12, 229,25–38) 123  Vgl. den Hinweis darauf in: KGA I/2, 325,20–326,3. 124 Gegen Schröder, „Das ‚unendliche Chaos‘“, 604 und F. Huber, „Die eine Religion und die Vielfalt der Religionen“, 176 f. 125  Vgl. z.B. KGA I/13.1., 60–127 (§§  7–15). 126  Hegel, G. W. F., Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 3: Die vollendete Religion, hrsg. v. W. Jaeschke, Hamburg 1984, 222 (kursiv, C. K.).

Zusammenfassung und kritische Würdigung

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Schleiermachers Religionstheologie kommt bescheidener daher. Sie zielt nicht darauf ab, wie Schelling mit seiner Potenzenlehre127 oder Hegel mit seinem Begriff des absoluten Geistes128 eine theory of everything zu präsentieren, sondern will adäquate Beschreibung des konkreten religiösen Bewusstseins im Rahmen der conditio humana sein. Schleiermachers Rückbindung an evidente Religionserfahrungen, die im persönlichen Bewusstsein überprüf bar sein müssen, markiert eine theoretische Selbstbeschränkung gegenüber dem weiten Raum des mit Vernunft Denkbaren.129 Diese theoretische Bescheidenheit ist zweifellos Schleiermachers Grenze. Meines Erachtens ist es eine redliche Bescheidenheit. Sie erweist sich gerade im Bewusstsein um die eigenen Grenzen als unendlich gebildet.

127 Vgl. Schelling, System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (1804), SW VI, 278–495, hier insbesondere: 211 f. (§  56). Vgl. auch Iber, Ch., Das Andere der Vernunft als ihr Prinzip. Grundzüge der philosophischen Entwicklung Schellings mit einem Ausblick auf die nachidealistischen Philosophiekonzeptionen Heideggers und Adornos, Berlin/New York 1994, 165–175. 128 Vgl. Nonnenmacher, B., Hegels Philosophie des Absoluten. Eine Untersuchung zu Hegels „Wissenchaft der Logik“ und reifem System (Collegium Metaphysicum 6), Tübingen 2013. 129  „Alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines Gottes vorstellen, das ist Religion, es drükt ihre Beziehung auf ein unendlichen Ganzes aus, aber über das Sein dieses Gottes vor der Welt und außer der Welt grübeln, mag in der Metaphysik gut und nöthig sein, in der Religion wird auch das nur leere Mythologie“ (KGA I/2, 214,36–215,1 (kursiv, C. K.)).

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Register 1. Sachregister Affekt/Affektion  24, 182, 224 f., 241 Aktivität/aktiv  28 f., 63, 68, 71, 89, 124 f., 129, 132 f., 166, 176, 183, 185, 188, 190, 195, 229, 232, 234, 259, 264 f., 268, 270 f., 276–289, 293 f., 299 f., 308, 320, 324, 368, 383, 423, 426, 437, 446 f., 452, 463 Anerkennung/anerkennen  78, 209, 233, 306, 336, 348 f., 351, 375, 410, 453 f. Anschauung – Anschauungsbild  217, 229, 239–242, 245 f., 250–254, 281, 284, 297, 302, 316, 318, 323 ff., 340 f., 446, 448 f. – allgemeine Anschauungsformel  25, 218 ff., 223, 239 – intellektuale/intellektuelle Anschauung  27, 153, 254, 255–258, 260, 296 – Menschheitsanschauung  223, 224, 229 f., 232, 235, 239, 241 f., 248, 250, 287, 316 f., 445, 448 f. – Naturanschauung  223, 224, 229, 232, 239, 241 f., 287, 317, 445, 448 f. – unmittelbar-unwillkürliche Anschauung  29 f., 253, 297, 299, 313, 325, 446, 448, 450 – religiöse Zentralanschauung  34 f., 39 f., 42 ff., 295 f., 352, 361–372, 375–381, 383 f., 386, 393–398, 400–405, 407–412, 415–421, 427, 431, 435, 437, 452 f., 455–463 Anthropomorphismus (siehe Gott) Autonomie/autonom  19, 28, 96–102, 121, 124 f., 133 ff., 140, 143 f., 154, 157, 196, 233 f., 265 f., 440, 446, 450 – Originalität  12, 22, 199, 219, 221, 234, 322, 405

Beruf/Berufung  3, 62–68, 196, 375, 464 Bewusstsein/Selbstbewusstsein – Bewusstseinserhebung  70, 195, 197, 199, 202 ff., 224, 240, 246, 250 ff., 388, 390, 392, 398, 443–446, 454, 456 – Bewusstseinserweiterung  70, 191 f., 194 f., 197, 199, 203 f., 224 f., 239 f., 242, 250 ff., 388, 390, 392, 398, 443 f., 454, 456 – Bewusstseinsleben  21, 24, 26, 119 ff., 159 ff., 166, 173, 178–182, 204–210, 216, 224, 241 f., 253, 263 f., 278, 280 ff., 381, 423, 425, 439, 441 f., 444, 458 – phänomenales Transphänomenal­ bewusst­sein  70, 183, 210, 264, 301, 320, 392 f., 408, 444 – unmittelbares (Selbst-)Bewusstsein  2, 26, 29, 61, 64, 112, 132, 134, 142, 155, 168 f., 177 f., 180, 182, 205, 207 f., 216, 267, 280, 289, 441 Bibel  14, 105, 115 ff., 406, 418 ff., 420, 422, 424 f., 429, 460 Bildung/Bildungstheorie  1 f., 13–18, 24, 30, 36, 40, 47–78, 82, 85 ff., 103 f., 116, 120 f., 128, 138, 142 f., 156, 158, 186, 221, 244, 250, 282,f., 289, 291, 293 f., 312, 315, 321, 329, 352, 358, 365–391, 410, 416, 421, 426–430, 433 f., 439 f., 447, 450, 452, 454, 458, 461 – Begriffsbildung  30, 84, 163, 268, 322, 324 f., 449 – Bildungsideal  142, 231 – Erziehung  51, 99 ff., 100, 102 f., 230 f., 281, 385, 398–401, 413, 456 – Nachbildung  67 f., 162, 164, 166, 170 – Religionsbildung  3, 74, 111, 120, 294, 378 – unendlich gebildet  1 ff., 438, 450, 459, 465

486

Sachregister

Charakter (siehe auch Seele/Seelen­ charakter) 5, 16, 24, 48, 50–69, 71, 73, 77, 82, 90 f., 93, 100, 119, 121, 123, 133 f., 139, 142, 144, 162, 181, 196, 199, 221, 224, 227 f., 230, 234, 237–240, 242, 246–249, 251, 271 f., 276, 299, 305, 316, 353–356, 359, 362, 380–384, 386, 389, 392 f., 428, 439, 443, 452 Christentum  2 f., 33–44, 71, 90, 251, 296, 332 f., 359 f., 369, 374, 388 f., 393, 400, 404, 409 f., 413–438 – Erlösung/Erlösungshandeln  250, 253, 296, 394, 397, 404, 416–431, 459–462 – heilige Wehmut  434, 462 – Höchstgeltung  3, 42 f., 414 f., 421, 437 f., 459, 461, 463 – irreligiöses Prinzip  421–430, 435, 459, 461 f. – Polemik  7, 30, 146, 228, 234, 314, 373, 385, 387, 427, 429–432, 436 Darstellung/Selbstdarstellung  4–14, 22, 25, 28, 31 ff., 53, 56 f., 60, 66 f., 74, 79 f., 142–145, 159 ff., 173, 179, 191–194, 204, 207, 218–224, 229, 232, 237 f., 245 ff., 251–254, 271 f., 275 f., 279 ff., 286, 293, 308, 319, 325, 331 ff., 336, 347–350, 357, 362 f., 387, 405, 443 ff., 453 f. Deismus  13, 90, 295, 360, 363, 373 f., 383–387 Denken  10, 18, 30, 103 f., 109, 120, 124, 127, 132, 138 f., 141, 145, 149, 152 f., 155–158, 163, 169, 187 f., 203, 205, 210 ff., 233, 255 ff., 266, 268, 274, 277 f., 280, 292, 293, 297 f., 301 f., 308 f., 316 f., 318 ff., 340, 439 f., 448 ff., 462 – Letztbegründung  18, 24, 137, 158, 255 f., 440 – freie Reflexion  30, 163, 322 ff., 449 – vermittelt-willkürliches Denken  30, 297, 313 f., 322, 325, 446, 448 f. Depravation (siehe Philosophie) Deutung/Deutungstheorie  28, 30, 32, 71, 254, 265, 266, 268–297, 300 f., 325, 446 ff., 450 – Deutungsschema  275, 277, 279, 290–296 – dominante Spontaneität  166, 168, 278 ff., 282 f., 252, 286 f., 289 f., 447 – implizite Metaphysik  243 f., 269, 274, 277, 279 ff., 291 f.

– theoretischer/praktischer Intellektualis­ mus  290–296, 447 Dogma  29 f., 44, 146, 152, 163, 212, 268, 297, 418, 464 Duldsamkeit/Toleranz  233, 304 f., 357, 383, 415, 424 Erfahrung  23, 30, 51, 103, 114, 122, 132, 171 f., 179, 182, 183 f., 190, 192–196, 198, 201 f., 204, 211 f., 222, 224, 226 f., 231, 233, 247 f., 254, 263, 266 ff., 275 f., 288 f., 292 f., 302, 313 f., 316, 322, 356, 367, 392, 410, 435, 441 f., 452, 465 – Evidenzerfahrung (siehe auch Erkenntnis, Gewissheit, Wissen)  174, 205 – Universumserfahrung  198, 201, 227, 442 Erkenntnis (siehe auch Erfahrung/Evidenz­ erfahrung, Gewissheit, Wissen)  3 f., 30, 42, 60, 92, 142, 126 ff., 140, 145 ff., 151, 153, 158, 211–215, 254, 258–261, 302, 310, 315, 352, 446 Erlösung/Erlösungshandeln (siehe Christentum) Erziehung (siehe Bildung) Ewigkeit/ewig  5, 37, 40 f., 43 51, 80, 98 f., 102, 127, 129, 134, 149 f., 160, 184, 187, 196 f., 199, 201, 226, 232, 234 f., 238 f., 248 ff., 258, 285, 296, 300, 331, 393, 398, 403, 412, 414, 426, 431, 434, 436, 443, 458 f., 461 Exklusivismus (siehe Religionstheologie) Fantasie  29 f., 38, 120, 167–170, 253 f., 283 f., 297, 309–322, 359, 364, 391 ff., 405 ff., 411, 446, 448 ff., 457 Freiheit  12, 23, 54, 58, 125–128, 142, 207–210, 214 ff., 239, 248, 255, 288, 307 f., 313 ff., 321, 366, 375, 383 ff., 429, 434, 443, 462 – kompatibilistische Freiheitstheorie ­214, 314, 384 Gebildete Verächter (siehe Religion/ Religionsverächter) Gefühl  5, 18 f., 22–27, 30, 52, 70, 75, 91, 97, 112, 120 f., 126 ff., 131–134, 138, 141 f., 153–175, 179 ff., 185, 192, 197, 201, 204, 209, 214–217, 224, 232, 252 f., 260–263, 267, 272, 283, 297 ff., 306–309, 319, 323, 329, 341, 353, 357, 363, 393, 431–434, 442–446, 449, 462

Sachregister – Demut  23, 74, 152, 197, 252 f., 288, 307 f., 434, 444 ff. – Frömmigkeit  11, 15, 18, 23, 40, 109, 152 f., 155, 197, 209, 252 f., 333, 410, 416, 434, 444 ff. – Liebe  60, 68, 74 f., 78, 96, 98, 138, 142, 150, 152, 156, 181–203, 235, 248, 250, 253, 271, 288, 296, 307 f., 383, 418, 434, 444 ff., 461 Geheimnisvoller Augenblick  21, 24, 26, 28, 70, 120, 160 f., 173–190, 196, 199, 204–207, 210 f., 216, 241, 254, 263 ff., 278–281, 287 ff., 301, 340, 441, 446 Geisteskräfte/Gemütsvermögen  17 ff., 25, 30, 63–74, 77–83, 100, 104–124, 128–142, 155–159, 183, 206, 232 f., 236–239, 252, 329, 380 f., 397, 433, 439 ff. – Provinzialisierung  18, 136 f., 439 Geschichte (siehe Religionsgeschichte) Geschmack (siehe Sinn) Gesinnung  6, 18, 39, 76, 78, 8, 93 f., 97, 101 ff., 124–129, 133, 140 f., 148, 152 f., 157, 233, 235, 310, 330, 383, 396, 408 f. Gewissheit (siehe auch Erfahrung/Evi­denz­ erfahrung, Erkenntnis, Wissen)  23, 178, 205, 207, 211, 217, 224, 233, 306, 319, 323, 330, 357, 388, 393, 399, 429, 439, 442, 482 Gewissen  94, 215, 322, 396 Gleichursprünglichkeit  26, 121, 133–137, 157, 161, 163, 171–174, 180, 188, 314 f. Gleichwertigkeit  26, 36, 70, 111, 134, 137 Gnade  29, 156, 184, 322, 418 f., 460 Gott – Allmacht  94, 226, 241, 405 – Anthropomorphismus  250, 320, 449 – Gottesfurcht  81 f., 85–88, 94, 96–102 – Gottesbegriff  29, 51, 135, 198, 267, 315, 323, 389 – Gottesvorstellung  268, 283, 297, 309–314, 319 ff., 389, 402 – lebendiger Kunstprozess  316, 448 – lebendiger Organismus  316, 321, 448 – Panentheismus  20, 203, 220, 442 – Pantheismus  6, 19 f., 38, 152, 203, 237, 309–322, 359 f., 392 ff., 442, 448 f., 455 – Personalismus  29, 62, 311–321, 359, 360, 391, 393 f., 398, 401, 416 f., 448, 455 f., 459 – lebendige Ursprungskraft  196, 243 f., 443

487

Handeln – göttliches Handeln  23, 28 f., 40, 158, 183, 196, 199, 203, 211, 214 ff., 227, 249, 253, 256, 259, 264–271, 283, 299 ff., 313, 352, 398–402, 411 ff., 416, 424 f., 428, 446, 456–460 – menschliches Handeln  18, 54, 56, 58, 66 f., 71, 94, 97 f., 102, 104 f., 109, 111, 113, 117, 123–127, 130 ff., 138, 141 ff., 155, 157, 230, 278, 280, 298, 305, 308 ff., 321, 405, 429, 439 f., 449, 462 – Praxis  123 f., 128, 132, 135, 140, 142, 415, 440 Harmonie  18, 63 f., 129, 133, 154, 187, 192, 197, 222, 226, 239, 363, 440 Heiligkeit/Heiligung  12, 19, 73 f., 76, 89, 137, 140 ff., 150, 156, 181 f., 196, 202, 224, 231, 234, 249, 285, 296, 309, 323, 369 ff., 412, 418, 427–434, 444, 449, 461 f. Idee  20, 32, 35, 50 f., 52, 85, 93 f., 107, 196, 198, 200, 214 f., 230 ff., 245 f., 259, 274 ff., 293, 310 ff., 333, 358, 362, 366, 368 ff., 3899 f., 393, 396 f., 399, 402, 405–408, 410 f., 418 f., 455, 457, 459, 464 Individualität  15 ff., 25, 36 f., 50, 54 f., 142 ff., 158, 218–222, 231, 234, 237, 252, 271, 275, 294, 311, 331 f., 367, 377–380, 383, 388 f., 444 f., 451 – principium individuationis  59, 352 f., 355, 358 ff., 362 f., 393, 453 Inklusivismus (siehe Religionstheologie) Instinkt  5, 76, 105, 239, 260 intelligibel  14, 47 f., 177–186, 190 ff., 195 f., 202, 205, 211, 223, 255, 441 f. Irrtum  4, 44, 88, 90, 101, 106, 110, 112, 142 ff., 180 f., 199, 224, 228 f., 235, 269, 278, 280 f., 286, 290, 314, 329, 353, 370, 384 ff., 433, 440, 463 Judentum  39 ff., 333, 359 f., 388, 395–416, 425, 430 f., 435 f., 455–461 – Messias/Messianismus  39, 62, 396, 405–411, 414 f., 431, 436, 457 f. – Niedergang 408–415 – Tun-Ergehen-Zusammenhang 401–404, 408, 412 f., 425, 456 ff. Kirche  75, 86 f., 95, 99, 129, 156, 159, 305 f., 334–338, 396, 464

488

Sachregister

– Religionsgemeinschaft  38, 305, 354, 363, 370 f., 377, 382 f., 390 ff., 400, 402 f., 407, 455, 457 – Religionsindividuum  34, 36, 331, 339, 347, 348–363, 368, 379, 382, 452 f. Kunst  4, 20 f., 51 f., 78–81, 100, 115, 128, 150, 232, 239, 242, 249–252, 316, 440, 448 – Kunstreligion  62, 79 Letztbegründung (siehe Denken) Menschheit (siehe Anschauung/Menschheitsanschauung) Mitteilung  64–68, 73–79, 86, 115, 29, 335, 377 Mittler  16 f., 48, 52, 62–68, 71–74, 78, 80, 130, 232 f., 403, 419, 412, 425 f., 430, 435, 437, 460 f. – Jesus Christus  309, 404, 419 Monotheismus (siehe Religionstheologie) Natur  3, 15 f., 19, 21, 23, 32, 49, 54 ff., 60, 66, 73, 84 f., 91, 93, 95, 105, 107, 109, 114, 120, 122, 124–127, 129,137, 142 f., 145, 151, 169, 194, 202, 208, 213 ff., 228–233, 237–240, 242–251, 258, 266, 271, 282, 284–288, 293, 298 f., 301, 305, 308, 310, 322, 330, 334, 345 f., 355, 358, 374 f., 382, 393, 402, 417 f., 420, 435, 443, 445, 448, 464 – Naturalismus  109, 360, 453 – Naturfurcht  224, 226 – Naturgesetze  97, 107, 125, 134, 214, 222 – Naturkatastrophe  225, 227 – Naturreligion  79, 194 – Naturwissenschaft/Naturphilosophie  81, 122, 149, 213, 266 Offenbarung/offenbarungstheoretisch 15, 28 f., 40, 119, 174, 184, 199 ff., 204, 217, 227, 231 ff., 265–270, 276, 279, 281, 289 ff., 299 f., 322 f., 362, 373 f., 398 f., 404, 410, 418, 426, 441 f., 447, 449, 459, 461 Ontologie/ontologisch  16, 30, 53–59, 69, 134, 157, 191 f., 195, 201, 206, 213, 219, 222, 228, 231, 237, 256–260, 263 ff., 320, 381, 384, 419 f., Originalität (siehe Autonomie)

Passivität/passiv  28 f., 89 f., 125, 129, 133, 170, 185, 188 ff., 195 f., 233, 259 f. 265–270, 276, 282 ff., 288–301, 308, 320, 324, 367, 416, 423, 439, 447, 452 Panentheismus (siehe Gott) Pantheismus (siehe Gott) Person/Personalität  20 f., 23, 29, 57, 62, 64, 107, 120, 128, 199, 208, 230 f., 233–238, 284, 288, 294 ff., 304, 308, 311–318, 320 ff., 341, 352, 356, 359 f., 363, 367, 370, 372, 375–387, 391–394, 398, 400–405, 410, 416 f., 443, 448 f., 452, 455–459, 465 Phänomenologie/phänomenologisch 10, 21, 119 f., 160, 194, 206, 267, 285, 289, 353 Philosophie – Depravation  122, 141 f., 144, 154, 157 – Idealismus  12, 145–154, 158, 255 f., 440 – leere Mythologie  30, 301, 323, 449, 465 – Moral  17, 19, 40, 65 f., 70 f., 81 f., 86 f., 91, 94, 97, 102–144, 154–161, 204, 209–216, 230–234, 261, 273 f., 298, 305, 307, 309, 386, 395–398, 409 ff., 418, 440, 455 f. – Metaphysik  18 f., 28, 53–58, 70 f., 81, 86 f., 91, 104–145, 154–160, 204, 210–213, 216, 221, 243 f., 260 f., 269, 272 ff., 277–281, 286, 290 ff., 298, 305, 371, 386, 440, 445, 447, 465 – Realismus  122, 138, 145–150, 153 f., 158, 241 Pluralismus (siehe Religionstheologie) Polytheismus (siehe Religionstheologie) Praxis (siehe Handeln) Provinzialisierung (siehe Geisteskräfte/ Gemütskräfte) Rezeptivität/rezeptiv  161–174, 178, 185, 187–191, 203, 205, 265 ff., 270 f., 276, 278, 282 ff., 291, 299, 443 Religion – funktionstheoretische Sonderstellung  70, 112, 137, 142, 157 f., 415, 419, 421, 434 – ganze Religion  34, 361, 383, 387, 451 ff. – kritischer Religionsbegriff  14, 31, 72, 112, 117, 134 f., 157, 206, 250, 253, 333, 439, 450 – natürliche Religion  35, 373, 383, 385, 387, 397, 456

Sachregister – positive Religion  2, 33–38, 42 ff., 71, 295 f., 331–334, 351 ff., 362 f., 365– 390, 393 f., 397, 402 f., 419, 421, 424–427, 434–438, 450, 453–458, 461, 463 – Religionsgemeinschaft (siehe Kirche) – Religionsindividuum (siehe Kirche) – Religionsverächter  10, 14, 69, 72–121, 230, 329 f., 372–375, 383, 439 Religionstheologie  1, 3, 43, 71, 294, 332 f., 350 f., 403, 414 f., 436, 438, 450–465 – Entwicklungsstufe  38, 311 f., 358 ff., 389–394, 402 f., 409, 416, 454 f. – Exklusivismus  43, 71, 436, 453 – Geltungsanspruch  29, 42 f., 71, 209, 295 f., 332, 348, 350 f., 358, 382, 434, 436 f., 453, 459, 463 – Inklusivismus  1, 3, 14, 43 f., 332 f., 414 f., 438 f., 450, 453, 463 f. – Monotheismus  43, 394, 412, 435 – Pluralismus  43, 294, 438, 451, 463 – Polytheismus  394, 430 f. – Religionsart  38, 389–394 (siehe auch Fantasie) Religionsgeschichte  2 f., 33, 36–44, 91, 296, 305, 332 f., 395, 398, 421–428, 431, 434–438, 455–460 Romantik/romantisch  41 f., 62 f., 192, 228, 230–255, 369 Schöpfer/Schöpfung  21, 51, 114, 133, 184, 196, 197, 243–249, 252, 264, 285, 287, 300, 314, 321, 351, 393, 413, 428 443, 446, 449, scientia intuitiva  27 f., 254–260, 296 Seele – Individuationstrieb  52, 58, 66 f. – Seelencharakter (siehe auch Charakter)  16, 48, 51–71, 247 – Seelenlehre  48–58, 68 – Totalitätstrieb  52, 57 f., 65 ff. Sinn  4, 24, 56, 65, 67 f., 75, 77, 90, 116, 123, 128, 140 f., 151, 160, 167 f., 175, 182 f., 189 f., 195 f., 225, 231 f., 235, 238, 246–249, 272, 282, 285–288, 305, 307, 313 f.,317, 321 f., 365, 373, 378, 384, 422–425, 431, 438, 440 f., 460 – Geschmack  128 f., 260 Spekulation/spekulativ  18, 29 f., 32, 64, 104 ff., 112, 123 f., 127 f., 132, 140 ff., 145 ff., 181, 211, 213 f., 290–293, 317, 319, 324, 333, 357, 386, 440, 447

489

Spontaneität/spontan  161–175, 187–191, 203, 205, 255, 270 f., 278–283, 286 ff., 299 f., 443, 447 Staat  102, 156, 159, 395 f., 401 Subjekt/Subjektivität  12, 24, 30, 80, 91, 119, 135–138, 149, 151, 153 ff., 158, 164, 166, 169 ff., 222, 254, 256, 259, 261, 272, 276, 280, 287–292, 300, 306, 341, 345, 352, 361, 366, 368, 370, 378 f., 383, 386, 439 f., 447 Transzendent/transzendental  12, 24, 151 f., 203, 213 f., 234, 254 ff., 366, 442 Trieb (siehe Seele/Individuationstrieb/ Totalitätstrieb) Totaleindruck  325 f., 449 Uniformität  142, 158, 306, 336, 375, 386 f. Universum – Alles bestimmende Wirklichkeit  198, 288 f., 384, 391, 393, 442, 447, 454 – a-personales/pantheistisches Universum  6, 19 ff., 38, 120, 237, 311 f., 314–318, 359, 392 ff., 448, 455 f., 459 – Eins und Alles  2, 20, 197 f., 201, 203 f., 210, 217, 220, 223, 240 f., 246 f., 264, 287, 304, 310, 391, 393, 419, 431, 443 – lebendiges Universum  1, 21, 38, 196, 201, 204, 217, 221, 251, 259, 284, 287–290, 300, 313–316, 319–322, 352, 391 ff., 442–449, 455 – natura naturans  38, 243 f., 248, 250, 284, 315, 392, 394, 455 – personales Universum  20 f., 38, 62, 107, 120, 311 f., 314 ff., 317, 318, 320 f., 359, 360, 391–394, 398, 401, 410, 416, 417, 448, 455 – Selbsterschließung des Universums  2, 201, 249, 259, 268, 287, 290, 300 f., 323, 25, 419 f., 425 f., 442, 446 f., 460 – wahres Unendliches  1 f., 21, 30, 198 ff., 202 ff., 208 f., 217, 240, 244 f., 247, 251, 264 f., 287 ff., 301 f., 312, 316, 391, 393, 398, 430 f., 442 f., 448, 449, 454, 459, – Weltgeist  15 f., 150 f., 158, 196, 200, 249, 287, 290, 331 f., 393, 442 f., 447, 451 Unsterblichkeit  74, 134, 354 Vielfalt/Vielfältigkeit  33, 43, 71, 142 f., 158, 200, 230, 238, 295 f., 331–339, 343, 348, 350 f., 363, 450–455, 463

490

Sachregister

Vergeltung (siehe Judentum/Tun-ErgehenZusammenhang) Vernunft  3, 5 f., 28, 35, 66 f., 85, 90 f., 97, 113, 128, 134, 142, 150, 169, 212 f., 214, 221, 233–236, 260 f., 293, 370, 373 ff., 396–399, 420, 422, 465 – Vernunftreligion  373, 385, 397, 454, 456 Vollendung  57, 64, 68, 90, 128 f., 133, 138, 145, 147, 203, 231, 248, 295, 306, 316, 335, 358, 363, 423, 429, 435, 440, 459, 462 ff. Wahrheit  2, 35, 43 f., 80, 82, 86, 101, 132, 134, 205, 261 f., 292, 302, 329–332, 340, 373, 375, 397, 409, 411, 418, 436, 463 f. Wechselwirkung  49, 63, 65, 67, 83, 135, 146, 165, 173, 175–178, 190 f., 193, 197, 201, 203 f., 217, 221 ff., 227, 240 f., 243, 248, 259, 287 f., – Sein-in-der-Wechselwirkung  177, 179, 207, 442 Welt – intellektuelle Welt  50, 53, 60 – natura naturata  243 f. – Weltgrund  20, 198 f., 202, 442 f. – Weltseele  50, 244 f. Wille  23, 54, 57, 67, 97,105, 113 f., 125, 184, 203, 214, 248, 295, 306, 318, 320 f., 330 f., 383, 393, 399–402, 411, 424 f., 456

Wirklichkeit – sinnliche Wirklichkeit  165, 206–212, 258, 318, 391, 393, 407, 408, 423, 430, 441 f., 458 – religiöse Wirklichkeit  32, 75, 132, 206, 318, 391, 393, 407, 430, 441 f., 458 – Wirklichkeitsbereich  207 ff., 256, 399, 407, 419, 422 f. – Wirklichkeitsbewusstsein  163, 183, 205–210, 216, 256, 267, 282, 407, 433, 441, 458 Wissen (siehe auch Erfahrung/Evidenzerfahrung, Erkenntnis, Gewissheit)  1, 10 f., 16, 24, 29, 70, 73, 88–91, 104 f., 111 ff., 117, 138, 141, 149, 151, 154, 155, 167, 169, 211, 246, 253–260, 274, 288, 297 f., 305, 316, 322, 332, 356, 386, 448 ff., 464 Wissenschaft  10, 42, 69, 74, 76, 81, 87, 89 f., 92 f., 106, 108–113, 122 ff., 127–131, 135, 147 f., 157 f., 212 f., 228, 246 f., 254 f., 277, 291 f., 322–325, 413, 440 Würde/Wert  209, 233 ff., 323, 331, 350, 391, 415, 429, 439, 453 Zweck/Selbstzweck  3, 6, 14, 21, 39 f., 47, 60 f., 76 f., 82, 84, 86, 92–97, 101–105, 116 f., 134, 157 f., 175, 229, 234, 266, 289, 410 f., 426, 430

Personenregister

491

2. Personenregister Adams, R.  26 f., 267, 447 Albrecht, Ch.  3, 9 f., 22 ff., 26, 37, 74, 125, 138, 167 f., 170, 172, 193, 195, 267, 440, 448 Anselm von Canterbury 4 Arndt, A.  13, 18 f., 33, 49, 97, 140, 201, 211 f., 228, 232, 267 Barth, K.  12, 170, 182, 193, 201 Barth, U.  16, 20, 27 f., 33, 39, 57, 75, 258, 269, 447, 468 Beckmann, K.  34, 39, 40 f., 408 ff., 431, 457 Beisser, F.  7, 23, 25, 35, 125, 132, 170, 185, 195, 309 Birkner, H.-J.  4, 13, 47 Blackwell, A.  7, 78, 211, 238 Bleek, A.  31, 35, 97, 368 f. Blum, M.  39, 41, 43, 413 f., 436, 455 Bonaventura  183 f., 264, 444 Brunner, E. 6 Bultmann, R.  198 Cassirer, E.  63, 373 Cramer, K.  20, 25, 27, 80, 131, 134, 220, 223, 260 f. Crouter, R.E.  41, 75, 93, 267, 413 ff., 448, 455 Dierken, J.  27, 257 f., 270 ff. Dilthey, W.  5, 7 f., 16, 25, 34, 36, 39, 180 f., 199, 218–221, 223, 225, 235, 237, 353, 358, 364, 387, 404 Dole, A.  266 Dupré, L.  261 Ebeling, G.  9, 14 f. Eckert, M.  20, 25, 180, 182, 197 f., 201, 218, 233, 443 Ehrhardt, Ch.  13, 15 ff., 39, 65, 100, 152, 339, 401 f., 409 Elert, W.  433 Ellsiepen Ch.  11, 16, 20, 27 f., 34, 37, 50, 115, 197 f., 228, 247, 251, 255, 257 ff., 262, 266, 268 f., 271 f., 274 ff., 279, 292 ff., 296 f., 299, 301, 332, 359, 364, 447

Feuerbach, L.  310, 321 Fichte, J. G.  12 f., 23, 27, 35, 77, 123, 142, 144, 147 ff., 150 ff., 173, 197, 230, 254, 256 f., 260, 320, 440 Fischer, H.  15, 433 Flückinger, F.  15, 22, 26, 30, 34, 41, 160, 171, 364 Forstmann, J.  41 Fuchs, E.  9, 22, 26–29, 37 f., 171, 180, 194, 230 f., 234, 238, 268 Gadamer, H. G.  277 Gerrish, B. A.  12 Glatz, U.  7, 28, 32, 34, 36, 43, 262, 269 ff., 274, 283, 297 f., 301, 447 Goethe, J. W.  14, 63, 182, 225 f., 232, 315 Gräb, W.  38 Graf, F.  18 f., 27, 138, 260, 440 Grimm, J. und W.  190 Grove, P.  10 ff., 27 ff., 50 f., 146 ff., 154, 163, 166 f., 170, 173, 243, 256, 260 ff., 269, 270 ff., 274–280, 291, 298 f., 301, 396 f., 447 Härle, W.  198 Hartlieb, E.  23, 25, 56, 184 ff., 188, 190, 192, 203, 218, 442 Haym, R.  9, 16, 35, 153, 316, 369, 415 Hegel, G. W. F.  5, 174, 200 f., 315, 320, 464 f. Heidegger, M.  205, 272 Hemsterhuis, F.  50 ff. Herbert von Cherbury, E. H.  374 Herder, J. G. H.  50 ff. Hermanni, F.  43, 453 Herms, E.  11 ff., 20, 23, 26 f., 84, 109, 141, 146 ff., 154, 168, 170, 172, 187, 192, 196, 199, 202, 205, 211 f., 237, 260, 441, 443 Hertel, F.  27, 30, 39 Hirsch, E.  7 ff., 19 ff., 27, 34, 37, 39 f., 147, 149, 151, 362, 399, 407, 411, 431 Hoffmeister, J.  277 Huber, E.  7 ff., 22, 27 ff., 36 f., 42 f., 83, 130, 170, 180 f., 225, 237, 241, 254, 266, 316 Huber, F.  437, 464 Hutcheson, F.  97

492

Personenregister

Jacobi, F. H.  14, 174, 186 f., 196, 211, 245, 441 Jørgensen, Th.  55 Jüngel, E.  73, 80 Kant, I.  12 f., 35, 63 f., 94, 97, 102, 113, 123, 131, 133 f., 140, 142, 144 ff., 148 f., 164, 171, 211, 212 ff., 221 f., 225, 229 f., 232 ff., 245, 255, 257, 260, 274, 276, 299, 366, 396 f., 418, 440, 455 f. Klopstock, F. G.  62 Korsch, D.  241 Lamm, J. A.  11, 20 f., 200, 232, 315 Lange, D.  38 f., 42 Leibniz, G. W.  63, 200, 221 f., 445 Lessing, G. E.  35, 315, 374 f., 398 f., 401, 409, 413, 456 Lipsius, R.  9, 19, 27, 29, 40, 197, 221, 254 Locke, J.  373 Lönker, F.  123, 174, 192 f., 261 f., 267, 448 Lovejoy, A.  233 f. Luther, M.  290, 429 Mariña, J.  134, 304 Meckenstock, G.  1, 6, 8, 11, 13, 27, 58, 123 f., 129, 131, 134, 136 f., 141, 144, 146 f., 160, 214, 222, 260 f., 366, 439 Mendelssohn, M.  199 f., 397, 455 Moxter, M.  250 Niebuhr, R. R.  57 Novalis  62, 228, 238 f., 405 Oberdorfer, B.  8, 11, 58 Otto, R.  3, 9, 19, 22 ff., 27, 47, 160, 193, 197, 274 Pannenberg, W.  218, 220, 223 Paulus  234, 420, 422, 424 f., 429 Piper, O.  3, 9, 22 ff., 28 f., 33 f., 36 f., 43, 131 f., 160, 169, 180–183, 203, 230, 234, 241, 266, 286, 289, 304, 316, 325, 332, 340, 362, 367, 389, 437, 448 Platon  51, 80, 93, 231 f., 250 Proudfoot, W.  73 Redeker, M.  5, 198, 225, 267 Reimarus, H. S.  374 Reinhold, K. L.  49, 149, 261, 299 Ricken, F.  34, 36, 43, 225, 364 f., 367 Riemer, M.  15 ff.

Ringleben, J.  18, 20, 23, 32, 73, 133, 136, 183, 192 f., 198, 200 f., 439, 442 Ritschl, A.  6, 31, 34 ff., 39, 41 f., 237, 362, 368 f., 455 Ritschl, O.  7 ff., 28, 31 f., 83, 268 Schelling, F. W. J.  5, 13, 27, 49 f., 52, 63, 149, 151, 173, 228, 244 f., 254–257, 260, 292 f., 320, 464 f. Schiller, F.  14, 51 f. Schlegel, F.  18, 51, 60, 62, 78, 128, 145, 147, 151, 186 f., 228, 230 f., 234, 272, 291 Scholtz, G.  7 f., 15 ff., 36, 38, 62 f., 232, Schröder, M.  34 f., 37, 43, 269–273, 279, 287 f., 332, 364, 369, 389, 437, 447, 454, 459, 464 Schwöbel, Ch.  148 Seifert, P.  9, 20, 22, 29, 32–36, 38 f., 41 f., 53, 83, 143, 160, 182, 197, 230, 267, 331 ff., 350, 364, 366, 379, 384, 387, 443, 448 Shaftesbury, A. A. C.  19 f., 97 Smend, R.  41, 400 Smith, A.  97 Spalding, J. J.  316 f. Spinoza, B.  13 f., 21, 27 f., 122, 150–153, 196, 198 ff., 202, 218, 221 f., 245, 250, 254, 257–260, 315, 443 ff. Süskind, H.  9, 11, 25 ff., 33 f., 36, 38 ff., 42, 49 ff., 115, 140, 151, 171, 218 ff., 223, 228, 237, 255–258, 296, 389, 411, 416, 433, 462 Sokrates  80, 93 Tindal, M.  374 Toland, J.  373 Voltaire 225 Von Scheliha, A.  39 f., 395, 406, 410 f., 457, 472 Wagner, F.  37, 42, 125, 133, 135, 149, 204 f., 255, 320, 427 Wehrung, G.  7, 23, 31, 34 ff., 39, 52, 83, 144, 152 f., 193, 195, 360, 364, 389, 399 Welker, K. E.  28, 33, 183, 201 f., 206, 221, 267, 303, 334, 337, 342, 347, 359, 362, 448 Wendland, J.  7, 32, 193 Wenz, G.  28, 73, 267, 448 Wittekind, V.  48, 58, 62, 64, 66, 77