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German Pages 286 Year 2014
Franziska Torma Turkestan-Expeditionen
Band 5
Editorial Die Reihe 1800 | 2000. Kulturgeschichten der Moderne reflektiert die Kulturgeschichte in ihrer gesamten Komplexität und Vielfalt. Sie versammelt innovative Studien, die mit kulturwissenschaftlichem Instrumentarium neue Perspektiven auf die Welt des 19. und 20. Jahrhunderts erschließen: die vertrauten und fremden Seiten der Vergangenheit, die Genese der Moderne in ihrer Ambivalenz und Kontingenz. Dazu zählen Lebenswelten und Praxisformen in Staat und Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft ebenso wie Fragen kulturund sozialwissenschaftlicher Theoriebildung. Die Reihe weiß sich dabei einer Verbindung von strukturalistischen und subjektbezogenen Ansätzen ebenso verpflichtet wie transnationalen und transdisziplinären Perspektiven. Der Bandbreite an Themen entspricht die Vielfalt der Formate. Monographien, Anthologien und Übersetzungen herausragender fremdsprachiger Arbeiten umfassen das gesamte Spektrum kulturhistorischen Schaffens. Die Reihe wird herausgegeben von Peter Becker, Jane Caplan, Alexander C.T. Geppert, Martin H. Geyer und Jakob Tanner.
Franziska Torma (Dr. phil.) ist Research Fellow am Rachel Carson Center der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Franziska Torma Turkestan-Expeditionen. Zur Kulturgeschichte deutscher Forschungsreisen nach Mittelasien (1890-1930)
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© 2011 transcript Verlag, Bielefeld zugl. Diss. Ludwig-Maximilians-Universität München, WS 2008/2009 Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Silhouette eines Wissenschaftlers auf dem Fedtschenko-Gletscher (1928), Archiv des Deutschen Alpenvereins Lektorat & Satz: Franziska Torma, Birgit Heilbronner Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1449-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Auf der Suche nach Turkestan – Einleitung .......................... 7 I. Die Entdeckung Turkestans .............................................. 31 1. Die Erschließung der Vertikalen ..........................................32 2. Das ‚Wesen‘ von Raum: länderkundliche Ordnungsversuche ...................................41 3. Imaginative Geografien ........................................................45 4. Zeitreisen: Gebirgsländer als letzter ‚weißer Fleck‘ ...............52 II. Archäologie der vergangenen Fremde ............................. 59 1. Kulturimperialismen: Archäologie als Machtpolitik ..............60 2. Orientalische Tiefenzeit: Die Suche nach dem Ursprung ......67 3. Sedimente der Vergangenheit: Turfan als Vermittlungsraum .............................................81 III. Abenteuer und Nostalgie ................................................ 89 1. Abenteuerzeit.......................................................................91 2. Koordinaten des Abenteuers ................................................96 3. Nostalgische Zeitwahrnehmung ........................................104 4. Eine ‚andere‘ Moderne .......................................................112 IV. Weltkrieg durch Revolution: Die Gegenwart als Umbruchszeit .................................. 119 1. Das ‚erwachende Asien‘ ....................................................120 2. Verflechtung und Gleichzeitigkeit .....................................125 3. Weltmachtfantasien: Abenteuer als Realpolitik .................133 4. Raumrevolution ................................................................ 141 V. 1. 2. 3.
Wirtschaftspioniere in Turkestan .................................. 149 Das Wirtschaftsland der Zukunft .......................................151 Die Popularisierung einer Utopie ....................................... 161 Möglichkeitsräume ............................................................168
VI. Die Suche nach Neuland ................................................ 179 1. Die Alai-Pamir-Expedition (1928) als internationale Kulturpolitik ..........................................181 2. Expeditionen und Moderne ................................................189 3. Die ‚Rationalisierung‘ des Pamirs .......................................194 4. Neue Leitbilder .................................................................205
Nach den Expeditionen: Auf der Suche nach ‚Turkestan‘ (II) .................................... 213 Quellen- und Literaturverzeichnis ..................................... 233 Abbildungsverzeichnis ...................................................... 263 Anmerkung zu Schreibweisen ............................................ 267 Danksagung ....................................................................... 269 Register ............................................................................... 271
Auf der Suche nach Turkestan – Einleitung
„Vor vier Wochen, am 16. November 1928, lief mittags der zentralasiatische Zug im Kasanschen Bahnhof Moskau ein – ein endlos langer Zug, dem zuerst nur Scharen höchst unasiatischen Gepäcks entquollen. Bis die Leute kamen, von denen fast jeder eine riesige Zuckermelone schleppte – ein untrügliches Zeichen, daß nun unsere ‚Turkestaner‘ kamen. Und in dieser Schar, durch das gleiche Herkunftszeichen ausgewiesen, erschien auch W. R. Rickmers, der Leiter unserer von der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft ausgeschickten Alai-Expedition […]. Mit der Heimkehr von Rickmers ist eine der seltsamsten Forschungsexpeditionen zu Ende gegangen, die je stattgefunden hat. Eine Masseninvasion von Gelehrten und alpinistischen Sportsleuten in das vollkommen unbekannte Gebirgsland am westlichen Pamirrand zwischen Alai und Wartang!“1 Mit diesen Worten beschrieb Professor Heinrich von Ficker, der Direktor des Preußischen Meteorologischen Instituts, unter dem mediengerechten Titel „Gelehrte auf dem Dach der Welt. Deutsch-russische Massenexpedition vom Alai zurück“ im Berliner Tagblatt, auf welche Art die internationale Alai-Pamir-Expedition im Dezember 1928 aus Mittelasien in die sowjetische Hauptstadt zurückgekehrt war. Der Artikel verwies nicht nur auf eine unorthodoxe Selbstdarstellung der Teilnehmer und gleichzeitig auf den großen Stellenwert, den Forschungsreisen in der Wissenschaftskultur und Öffentlichkeit der Weimarer Zeit besetzten. Das deutsch-sowjetische Unternehmen war zusätzlich der Endpunkt innerhalb einer Reihe von Expeditionen nach Turkestan, die noch im 20. Jahrhundert an verspätete Entdeckungsreisen erinnern. Diese Expeditionen deutschsprachiger Wissenschaftler sind der Gegenstand dieses Buches. Die Abhandlung folgt dabei den Spuren, welche die Faszination an Turkestan innerhalb de r Medien, der Wissenschaft und Gesellschaft hinterlassen hat. Damit begegnet sie einem spezifischen historischen Raum: Westturkestan wurde von den Expeditionen bereits im Zeitalter seiner Entdeckung als verschwindende Lebenswelt historisiert. Tatsächlich korrespondierte diese pessimistische Einschätzung in gewisser Weise mit der zukünftigen, tatsächlich eingetretenen Geschichte. Denn heute kann die Bezeichnung ‚Turkestan‘ nur noch auf historischen Karten gefunden werden. Das schon im vorletzten Jahrhundert dem chinesischen Reich zugehörige Ostturkestan bildet heute das Uigurische Autonome Gebiet Xinjiang im Westen Chinas. Den vormals russischen Teil Turkestans, Westturkestan, ersetzen die Republiken Tadschikistan, Usbekistan, Kirgistan, Turkmenistan und der südliche Teil Kasachstans. Diese Staaten waren – aus westeuropäischer Perspektive hinter dem Eisernen 1
Zeitungsausschnitt, „Gelehrte auf dem Dach der Welt. Deutsch-russische Massenexpedition vom Alai zurück“, Berliner Tagblatt, Nr. 86, 16.12.1928.
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Vorhang gelegen – bis vor gut 20 Jahren Bestandteil der Sowjetunion gewesen. Am aktuellen politischen Horizont der Zeitungsleser und Medienkonsumenten erschienen die ehemaligen asiatischen Republiken erst wieder nach dem Zerfall der Sowjetunion und den Unabhängigkeitserklärungen in den 1990er-Jahren als eigenständige Staaten. Abbildung 1: Mittelasien heute
erstellt von der Verfasserin. Die spärlichen Meldungen aus Mittelasien in den letzten Jahren sind widersprüchlich: Topoi bewegen sich zwischen touristischen Träumen vom romantischen Orient, die entweder in organisierten Studienreisen entlang der Seidenstraße mit Zwischenstopps in Buchara und Samarkand angeboten oder in Fernsehdokumentationen ausgestrahlt werden, und Meldungen über despotisch-exzentrische Diktatoren und politisches Unruhepotenzial.2 Am 25. Juli 2008 hat die Süddeutsche Zeitung für den Staat Turkmenistan zum wiederholten Male eine „Langsame Rückkehr in die zivilisierte Welt“ verkündet. Der Artikel hat die Ankunft des mittelasiatischen Raumes in der (Welt-)Geschichte daran festgemacht, dass zwei Jahre nach dem Tod des Staatspräsidenten Saparmurat Nijasow, auch bekannt als „Vater aller Turkmenen“, die ‚Neuerungen‘ seiner Regierungszeit schrittweise zurückgenommen werden: 2
Reiseangebote entlang der Seidenstraße: http://www.chinatours.de/8.8.2008 10:32, oder unter dem Schlagwort „Mythos Seidenstraße“: http://www.lloydtouristik.de/ reise.php?k_id=6&r_id=256, 8.8.2008 10:33. Bericht über eine Reisegruppe, die eine organisierte Busreise von Freiburg durch Zentralasien nach China unternommen hat: Zeitungsausschnitt, „Nomaden wie wir. Zehn Wochen lang fährt eine Reisegruppe von Freiburg aus durch Zentralasien bis nach China – eine Annäherung auf engstem Raum“, Süddeutsche Zeitung, 24.7.2008. Zu den Aufständen in Kirgistan und den Wahlunruhen in Usbekistan im Jahr 2005: Zeitungsausschnitt, „Demokraten, Clans und Apparatschiks“, Le Monde Diplomatique, 14.10.2005, deutscher Text von Marcus Bensmann im Internet zugänglich über www.eurozine.com und www.weltreporter.net, 8.8.2008 10:41.
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Unter anderem habe der Nachfolger Gurbanguly Berdymuchamedow angeordnet, dass wieder der Gregorianische Kalender mit den traditionellen Monatsnamen benutzt werden müsse und die alternative Zeitrechnung ungültig sei, die der ‚Turkmenbaschi‘, laut Bericht, „nach sich selbst, seiner Mutter und Nationalhelden“ eingeführt habe. Rückkehr in die Zivilisation bedeutet in dieser Hinsicht, dass erst globale Normen von Zeiteinteilung die (erneute) Eingliederung in die Welt ermöglichen.3 In den vergangenen Jahren, als der ‚Krieg gegen den Terror‘ noch täglich in der Tagesschau Schlagzeilen machte, erschienen die an Afghanistan grenzenden Teile Mittelasiens zudem als Randgebiete auf der Fernsehlandkarte. Mittelasien diente und dient einerseits als Stütz- und Ausgangspunkt militärischer Operationen, andererseits schwebt nach dem 11. September 2001 eine Art Generalverdacht der potenziellen Jihad-Bereitschaft über den muslimischen Gesellschaften Asiens.4 Dass Deutschland und Mittelasien, wenn es um politische Bedrohungsszenarien geht, seit Kurzem doch (wieder) ziemlich nahe beieinander zu liegen scheinen, zeigt Peter Strucks programmatischer Ausspruch in der Regierungserklärung von 2004, dass die deutsche Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt werden müsse.5 M ACHTRAUM
UND E RZÄHLTE
L ANDSCHAFT
Einige der hier aufgezeigten Spuren führen in das endende 19. und beginnende 20. Jahrhundert. Die Widersprüchlichkeit der Mittelasien-Wahrnehmung, die der Region zugeschriebene Ursprünglichkeit, die Annahme eines fanatisch kriegsbereiten Islam sowie die prinzipielle Irritation über die genaue Lage des Landes im räumlichen und zeitlichen Koordinatensystem der modernen Welt sind auch historische Themen. Teilweise übernahmen Reisedarstellungen die Aufgaben der heutigen Medienberichte. Expeditionen erforschten Turkestan nicht nur, sondern vermittelten Eindrücke über diese Region. Expeditionsberichte dienten als Informationsquelle, sie prägten das Wissen und die Vorstellungen von Mittelasien sowie Weltbilder. Doch wie sah nun eigentlich das historische Turkestan, dem die Forschungsreisen vor ungefähr hundert Jahren begegneten, politisch und geografisch aus? Vor der russischen Eroberung im 19. Jahrhundert teilten sich in Westturkestan die drei unabhängigen Khanate Buchara, Chiwa und Kokand, die ab dem 15. Jahrhundert gegründet worden waren, die Herrschaft in Mittelasien.6 3
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Zeitungsausschnitt, „Langsame Rückkehr in die zivilisierte Welt. Turkmenistan beendet zwei Jahre nach dem Tod des Diktators Nijasow allmählich den Personenkult – sogar die Theater dürfen wieder spielen“, Süddeutsche Zeitung, 25.7.2008. Zeitungsausschnitt, „Anschlag in China schürt Terror-Angst. Zwei Angreifer töten in der Provinz Xinjiang 16 Polizisten/Staatsmedien verdächtigen muslimische Separatisten“, Süddeutsche Zeitung, 5.8.2008. Pressemitteilung, „China: Unterdrückung der Uiguren. Bericht enthüllt vernichtende Kampagne gegen Moslems in Xingjiang“, human rights watch: http://www.hrw.org/german/docs/2005/04/11/china10465. htm, 8.8.2008 11:47. Regierungserklärung, Berlin, 11. März 2004. Wortlaut siehe: http://www.unikassel.de/fb5/frieden/themen/Bundeswehr/struck6.html, 8.8. 2008 11:43. Khanat bezeichnet das Herrschergebiet eines Khans, wobei je nach Region und historischer Zeitspanne die jeweilige Rangstufe variieren konnte. Während unter den Seld-
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Turkestan-Expeditionen
Als letzte Etappe der russischen Expansionspolitik in Asien eroberten russische Truppen nach dem Kaukasus 1865 Taschkent, 1868 besiegte das Zarenreich den Emir von Buchara, und General von Kaufmann besetzte im selben Jahr die Stadt Samarkand. Auch die nominell unabhängigen Khanate Chiwa und Buchara wurden praktisch zu Protektoraten des russischen Imperiums. Das Khanat Buchara verlor zudem Ostbuchara, das heutige Tadschikistan, an die neu errichtete Kolonialverwaltung. Im Jahr 1868 folgte nach Aufständen im Khanat Kokand dessen Annexion und Auflösung. 1868 richtete das Zarenreich das Generalgouvernement Turkestan mit der Hauptstadt Taschkent ein. Siegreiche Kampagnen gegen aufständische Turkmenen (1879–1881) ermöglichten, dass die Provinz Transkaspien im russischen Machtbereich gegründet werden konnte. Abbildung 2: Ausdehnung West-Turkestans um 1900, vor dem Hintergrund der heutigen politischen Geografie
erstellt von der Verfasserin.
schuken ‚Khan‘ der höchste Titel war, umfasste er in Persien vielmehr den Bereich eines Provinzgouverneurs. Khan konnte im indischen und afghanischen Kontext auch ein Adelspräparat sein. In Mittelasien waren aus dem mongolischen Weltreich einzelne Reiche hervorgegangen, die von einem Khan regiert wurden. Diese Tradition bestand bis in das 19. und beginnende 20. Jahrhundert fort. Häufig verwendeten die Quellen die Begriffe ‚Emir‘ und ‚Emirat‘ synonym für ‚Khan‘ und ‚Khanat‘, hauptsächlich in Bezug auf Buchara. Emir bezeichnet historisch die höchste Verwaltungskompetenz in einem Gebiet (Steuererhebung, militärischer Oberbefehl, Aufsicht über die öffentliche Infrastruktur). Im 19. Jahrhundert wurde der Begriff im deutschsprachigen Raum ebenfalls zur Beschreibung der mittelasiatischen Herrscher benutzt und das betreffende Machtgebiet als Emirat bezeichnet.
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Der räumliche Zuschnitt des russischen Kolonialgebietes änderte sich mehrmals. 1898 bestand das Generalgouvernement Turkestan aus fünf Provinzen: Syr-Darya, Ferghana, Samarkand, Amu-Darya, Semiretschie und Transkaspien mit den Khanaten Buchara und Chiwa als Vasallenstaaten. Diese letzten mittelasiatischen Khanate wurden 1920 im Zuge der Russischen Revolution aufgelöst; in der sowjetischen Zeit begann die Gründung der heutigen mittelasiatischen Republiken. Der Name ‚Turkestan‘ verschwand im Lauf der 1920er-Jahre aus politischen Gründen von der Landkarte, da mit dieser Bezeichnung in der Sowjetunion unerwünschte Unabhängigkeitsbestrebungen assoziiert wurden.7 Obwohl sich die sowjetische Politik selbst als Bruch zu derjenigen des Zarenreichs verstand, bestanden in Bezug auf Kolonisierungstendenzen vielfältige Kontinuitäten. Bereits im 19. Jahrhundert begann sich Mittelasien unter russischem Einfluss zu verändern. Das Zarenreich erschloss den Raum durch Telegrafen und Eisenbahnen, so dass entfernte Teile des russischen Imperiums einander näher rückten. Die Transkaspische Eisenbahn und ihre Zweiglinien verbanden Krasnowodsk am Kaspischen Meer mit Taschkent und darüber hinaus sogar mit Andischan in Ostturkestan. Neben einem strategischen Wert zur Herrschaftssicherung hatten die Schienenstränge den ökonomischen Nutzen, den Transport von Menschen und Gütern zu erleichtern.8 Russland forcierte die wirtschaftliche Erschließung Mittelasiens und förderte deshalb auch den Anbau von Baumwolle und den Ausbau von Bewässerungsanlagen. Die beginnende ökonomische ‚Entwicklung‘ veränderte die Sozialstruktur. Unter dem Begriff der ‚Russifizierung‘ war der Einzug des ‚Fortschritts‘ in mittelasiatische Lebenswelten ein leitendes Thema der Turkestan-Publizistik.9 Für das Zarenreich hatte Turkestan im imperialen Zeitalter den Stellenwert einer Wirtschafts- und Siedlungskolonie. Da der Raum an den britischen Machtbereich in Asien grenzte, bestanden zwischen den beiden Imperien seit Beginn des 19. Jahrhunderts Rivalitäten, für die Rudyard Kipling mit seinem Roman „Kim“ die Bezeichnung great game im Sprachgebrauch verankert hatte. 1895 regelte eine Grenzlinie im Pamir die jeweiligen Einflusszonen, wobei eine bilaterale Konvention von 1907 die britische und russische Sphäre in Persien, Afghanistan und Tibet grundsätzlich trennte. Auch wenn damit der politische Raum aufgeteilt war, schürte die geografische Wissenschaft neue Begehrlichkeiten auf Mittelasien: Bereits 1904 hatte der britische Geograf, Alpinist und Forschungsreisende Sir Halford Mackinder seine einflussreiche Vorlesung „The geographical pivot of history“ vor der Royal Geographical Society gehalten. Darin versuchte er nicht nur, die menschliche Geschichte aus den geografischen Gegebenheiten zu erklären. Darüber hinaus entwarf er mit seinem Konzept der pivot area, das er 1919 zur heartland7 8 9
Roy 2000, 12-17, 26-56. Cvetkovski 2006. Bezüglich der deutschen Russlandperzeption im Kaiserreich liegt seit der Forschung der 1960er-Jahre meist der Fokus auf Zuschreibungen militärischer Unbesiegbarkeit bei gleichzeitiger wirtschaftlicher, kultureller und sozialer ‚Rückständigkeit‘. Dazu in aller Kürze: Voigt 1994, 93. Dass die Turkestan-Expeditionen Russland im Vergleich zu Mittelasien als ‚Moderne‘ beschrieben haben, ergänzt die traditionellen Auffassungen zum deutschen Russlandbild um eine weitere Facette.
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Theorie ausarbeitete, einen räumlichen Zugang zu politischer Macht: In geopolitischer Hinsicht sichere die Kontrolle über die innerasiatische Drehscheibe die Weltherrschaft! 10 Während die Russen und Briten klar imperiale Ziele in Zentralasien verfolgten, war das deutsche Interesse an Turkestan dagegen ambivalenter. In geopolitischer Perspektive beobachtete die deutsche Seite zwar den russischen Imperialismus in Asien genau, da ein exakter Überblick über die globale Lage als Beurteilungsgrundlage diente, was in der eigenen Weltpolitik möglich war.11 Der Anfangspunkt der deutschen Faszination an Turkestan deckt sich auch mit dem Beginn der wilhelminischen Welt- und Kolonialpolitik. Während das Deutsche Reich in Afrika und dem Pazifik territorialen Kolonialbesitz erwerben konnte, galt für Asien seit Ende des 19. Jahrhunderts jedoch eine alternative Strategie. Nicht durch Besitz und Beherrschung, sondern durch Einfluss wollte sich das Deutsche Reich wirtschaftliche und kulturpolitische Interessensphären im Orient sichern. Der Bau der Bagdadbahn sowie eine finanzpolitische, wirtschaftspolitische, wissenschaftliche und kulturelle Erschließungstätigkeit waren die informellen Mittel dieser Politik, deren territorialer Fokus neben dem Osmanischen Reich auf Persien, Afghanistan und Turkestan lag.12 Warum aber dieser Raum in der öffentlichen Aufmerksamkeit ab 1928 langsam zu verblassen begann, ist dagegen weniger offensichtlich: Lag es an den sowjetischen Versuchen, das unruhige Mittelasien unter staatliche Kontrolle zu bringen, wobei ausländische Expeditionen als störend empfunden worden sein dürften?13 Waren Vorgänge in der Heimat der Reisenden für den Bedeutungsverlust ausschlaggebend? Zumindest wurden fast zeitgleich die schillernden und vielschichtigen Erzählungen aus Turkestan von eindeutigen Narrationen über die nationalsozialistischen Expeditionen in den Himalaya abgelöst. In den 1930er-Jahren dienten Besteigungsversuche des Nanga Parbat der nationalsozialistischen Politik, um heroische Reiseerfahrungen als Kriegspropaganda zu instrumentalisieren.14 Erzählungen aus Turkestan entbehrten diese Eindeutigkeit. Dieses Unvermögen der Wissenschaft und Reisepublizistik, eindimensionale Erzählungen über Turkestan zu vermitteln, öffnet ein grundsätzliches Spannungsfeld. Das historische Verhältnis zwischen einer gewünschten Eindeutigkeit einerseits und ihre Auflösung in Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten andererseits charakterisierte die zeitgenössischen Versuche, Turkestan als Bestandteil einer zunehmend komplexer werdenden Welt zu begreifen.15
10 Siegel 2002, 1-20. Meyer, Brysac 1999, 330. Mackinder 1904, 421-444. Mackinder 1962. 11 Dazu diente zum Beispiel die Reise des Kaiserlichen Legationssekretärs von Kühlmann im Jahr 1902: PA AA, R 11069, Bericht Kühlmann an die deutsche Gesandtschaft für Persien, Teheran, den 2. Dezember 1902. 12 Schöllgen 1984, insbesondere 248-328. Fuhrmann 2006. Schwanitz 2004. Schlagintweit 1997, 23. Kloosterhuis 1994. 13 Hirsch 2005, 160-186. 14 Dazu Mierau 2006. 15 Vgl. Bauman 1995, 11-37. Zur großen Bedeutung der ambivalenten Haltung der Zeitgenossen gegenüber dem technischen Fortschritt: Rieger 2005.
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R AUM , Z EIT UND K OLONIALISMUS ALS S CHLÜSSELBEGRIFFE DER ‚M ODERNE ‘ Periodisierungsvorschläge der Geschichtswissenschaft fassen die Jahre zwischen 1890 und 1930 normalerweise als (‚klassische‘) Moderne. Nach Detlev Peukert bereiteten die Entwicklungen, die seit den 1890er-Jahren in Wissenschaft, Kunst, Architektur, Technik, Medizin sowie der geistigen Reflexion und der alltäglichen Lebenswelt begonnen haben, unsere Gegenwart vor und gestalteten sie ‚klassisch‘ aus. In den Jahren zwischen Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise setzte sich diese ‚klassische Moderne‘ auf breiter Basis durch, entfaltete Widersprüche und stürzte in eine Krise, die schließlich im Aufstieg der nationalsozialistischen Herrschaft mündet.16 Eine Alternative dazu stellt das Konzept der ‚langen Jahrhundertwende‘ dar. Nach Suzanne Marchand und David Lindenfeld kommt es der Selbstwahrnehmung der damaligen Gesellschaft weitaus mehr entgegen als eine der Zuschreibungen von ‚Moderne‘: „For the participants, these were not years of modernism or antimodernism, but years of ambivalence: of great expectations and profound disappointments, or relinquishing old convictions and groping for new myths.“17 August Nitschke betrachtet als charakteristisch für diese Zeitspanne, dass sie eigentlich aus zwei Zeitaltern bestehe: „aus einer untergehenden alten und aus einer beginnenden neuen Epoche“.18 Genau diese Zerrissenheit zwischen zwei Zeiträumen gab der Faszination an Turkestan ihren Stellenwert. Turkestan-Expeditionen waren weit mehr als wissenschaftliche Forschungsreisen, deren Ergebnisse und Erkenntnisse ein Fachpublikum in den Bann zogen. Die Forschungsreisen nach Turkestan sind von Interesse, da sie Selbstverständigungsdebatten der deutschen Gesellschaft in einer Zeit der Veränderungen und des weltweiten Wandels bündelten. Für verschiedene Segmente der Öffentlichkeit und innerhalb verschiedener Felder stifteten Berichte über Turkestan-Expeditionen Sinn und Orientierung. Im Mittelpunkt stehen somit weder die politische und soziale Geschichte Turkestans noch die eigentliche Konfrontation des muslimischen Raums mit dem Zarenreich und – später – der Sowjetunion. Es geht auch nur bedingt um eine klassische Geschichte des Kontakts deutschsprachiger Reisender mit dem Land Turkestan und seinen heterogenen Bewohnergruppen. Turkestan dient – aus dieser eurozentrischen Sicht – vielmehr als eine Chiffre, an der Fragen, welche die deutsche Gesellschaft selbst betrafen, aufgezeigt werden können.19 Kaiserreich und Weimarer Zeit werden aus dem Blickwinkel von Expeditionen beschrieben und dabei Querverbindungen in die Felder der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Politik und der individuellen Erfahrung ausgelotet. ‚Expedition‘ als Betrachtungslinse der deutschen Gesellschaft der ‚langen Jahrhundertwende‘ fokussiert heterogene Themenfelder: Kulturelle Strömungen wie das organisierte Bergsteigen, wissenschaftliche Disziplinen 16 Peukert 1987. 17 Marchand et al. 2004, 6. 18 Die Jahrhundertwende – eine Epoche? Eine Diskussion zwischen Reinfried Hörl (SDR), August Nitschke, Detlev J. K. Peukert und Gerhard A. Ritter, in: Nitschke 1990, 20. 19 Zum verfremdeten und gleichsam neuen Blick auf Europa von seinem östlichen Rand aus: Diner 2000, 12-16.
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Turkestan-Expeditionen
wie die Geografie und Archäologie, aber auch Erfahrungsmuster wie Abenteuer und Nostalgie sowie Einstellungen und Haltungen wie Fortschrittsglauben und Kulturkritik sind von Interesse. Zentral sind drei Kategorien: Raum, Zeit und Kolonialismus. Die Analyse der deutschen Turkestan-Expeditionen erfolgt dabei sowohl aus der Zeit selbst heraus als auch aus einer Perspektive, die ihren Fokus aus den heutigen Diskussionen gewinnt. Zeit und Raum sind in den Debatten um Moderne und Globalisierung präsent, Kolonialismus wird im Rahmen der neueren Kolonialgeschichte und postkolonialer Ansätze überdacht. Den aktuellen Diskussionen über Moderne, Globalisierung und (Post-)Kolonialismus sowie den damit verbundenen Konzepten geben die Perspektiven der Zeitgenossen historische Schärfe. Ausgangsbasis dafür ist eine spezifische Ebene der (Selbst-)Reflexion, welche die deutsche Faszination an Turkestan charakterisierte; die Expeditionen sprachen aus einer beobachtenden Distanz, die kritische Überlegungen ermöglichte, über das russische Kolonialreich, über räumliche Erschließung und zeitlichen Wandel. Eine historische Konzeption von ‚Moderne‘ begreift den Begriff in erster Linie als Zeitkonzept und nicht als systematische Beschreibungskategorie von Gesellschaften. Obwohl Eugen Wolff im Jahr 1887 das Substantiv ‚Moderne‘ in seiner Schrift über die zeitgenössische Literatur prägte und das Wort ‚modern‘ seit 1890 im deutschen Sprachgebrauch häufig verwendet wurde, findet es sich bei den Turkestan-Expeditionen äußerst selten. Erst die Alai-Pamir-Expedition (1928) beschrieb sich selbst als ‚modern‘. Dagegen zeichnen sich die Quellen durch eine erhöhte Sensibilität für Zeit aus. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts betrachtete der französische Schriftsteller Charles Baudelaire ‚Moderne‘ als Zeitkonzept, das erstens die Zeit der Gegenwart und zweitens eine Auffächerung von Zeitwahrnehmung und Gegenwartserfahrung bezeichnet.20 Unter dieser Perspektive ist vor allem die Zeitsemantik der Reisepublizistik von großem Interesse. Wie lässt sich der KollektivSingular ‚Moderne‘ in unterschiedliche Formen der Zeitwahrnehmung und in verschiedene Ideen von Zeit aufschlüsseln? Wegweisend dafür ist die historische Erfahrung von TurkestanExpeditionen als Zeitreisen. Außereuropäische Räume wurden meist in der Vergangenheit verortet. Für Wissenschaftler und Reisende waren der ‚Fortschritt‘ oder die ‚Rückständigkeit‘ der Menschheit anhand von Entwicklungsstufen im Raum ablesbar. Zeitliche Achsen wurden auf den Globus projiziert, sodass Bewegungen im Raum auch als Wanderungen durch die Zeit erlebt wurden. Klassische postkoloniale Ansätze begreifen diese spezifische Verflechtung von Raum und Zeit als ‚Verweigerung der Gleichzeitigkeit‘ und somit als epistemische Machtausübung Europas gegenüber der außereuropäischen Welt.21 Die Literaturwissenschaftlerin Anne McClintock hat zur Beschreibung, wie Europa die außereuropäische Welt wahrgenommen hat, den Begriff des anachronistic space geprägt. Ergänzend lässt sich argumentieren, dass die Zeitgenossen selbst die außereuropäische Welt in einer vielfältigeren und dynamischeren Weise erlebten, als sich im Gerüst dieser Be20 Simonis, Simonis 2000, 4. Schneider 2008, 65. Gumbrecht, 93-131. Everdell 1997, 1-12. Bradbury, McFarlane 1986, 19-55. 21 Fabian 1983. Chakrabarty 2000. Dazu auch folgende Rezension: Bullard 2002, 777784.
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grifflichkeit darstellen lässt. Expeditionen vermitteln Einblicke in vielschichtige, historische Verschränkungen von Raum und Zeit – betreffend Vorstellungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowohl des bereisten Raums als auch der eigenen Heimatkultur.22 Der Grund für eine gewisse Statik der postkolonialen Theorie gegenüber historischen Fallbeispielen liegt mitunter an den bisherigen Vorschlägen, wie Kolonialismus als Ideologie zu beschreiben sei: Die neuere Forschung versteht unter Kolonialismus nicht nur eine Herrschaftspraxis, sondern auch ein Weltbild. Eine Trennlinie zwischen Europa und der außereuropäischen Welt und eine damit verbundene dichotome Weltsicht gelten als Merkmale kolonialer Ideologie.23 Problematisch daran ist, dass erstens ein Denken in binären Oppositionen als unveränderlich konzipiert und dass zweitens den Europäern zuviel Deutungsmacht im Nachhinein verliehen wird. Drittens setzen diese Erklärungen zuviel von derjenigen Eindeutigkeit als Ordnungsraster voraus, nach der die TurkestanReisenden zwar suchten, die sie aber nie fanden. Zwar strukturierten meist zeitlich definierte Dichotomien zwischen Wissenschaftler und bereistem Land den deutschen Kontakt mit Turkestan. Doch konnten binäre Eindeutigkeiten durch die Expeditionen überschritten und durch ihre Ergebnisse sogar infrage gestellt werden. Koloniale und in der heutigen Forschung als postkolonial beschriebene Konzepte stellten jeweils ein Set an Deutungssystemen und Handlungsmustern bereit, die situationsbedingt eingesetzt werden konnten. Bei der Untersuchung dieser Doppelläufigkeit (post-)kolonialer Weltbilder und Praktiken steht folgende Fragestellung im Mittelpunkt: Welche Varianten, Veränderungen und Neujustierungen (post-)kolonialer Ideologie lassen sich im historischen Kontext aufzeigen? Inwieweit war die Suche nach neuen Umgangsformen mit der außereuropäischen Welt an die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, des Versailler Vertrags und des verfrühten postkolonialen Status des Deutschen Reiches gebunden? L EBENSBESCHREIBUNG
ODER
S YSTEMATIK ?
Um Turkestan-Expeditionen zu analysieren, gibt es zwei Möglichkeiten: einen biografischen Ansatz, der die einzelnen Forscher in den Mittelpunkt stellt, oder einen systematischen Zugriff.24 Da Turkestan von Personen erforscht wurde, die in der Geschichte normalerweise in der ‚zweiten Reihe‘ stehen, wäre eine biografische Forschung durchaus gewinnbringend. Es handelt sich nämlich durchwegs um Menschen, die nicht nur ein subjektiv bewegtes, sondern auch ein historisch interessantes Leben führten. Vor allem durch ihre Identität als ‚globale Subjekte‘ werden Reisende zu einem besonderen Gegenstand transnationaler Geschichtsschreibung.25 Es lohnt sich, drei von ihnen näher vorzustellen. Der eingangs zitierte Willi Gustav Rickmer Rickmers steht nicht nur in der deutschen Turkestan-Forschung im Mittelpunkt, sondern ist auch eine Art 22 McClintock 1995, 40-42. 23 Wirz 2002, 489-498. Conrad 2002, 145-169. Conrad, Randeria 2002, 21-22. Berman 1998, 3. 24 Sarasin 2003, 10-60. 25 Herren 2005, 1-18. Zu Forschungsreisenden als soziale Typen und deren Herkunft: Essner 1985.
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‚Reiseleiter‘ durch das vorliegende Buch, in dem er in vier Kapiteln präsent sein wird. Er wurde am 1. Mai 1873 in Lehe bei Bremerhaven geboren und stammte aus wohlhabenden Verhältnissen: Sein Vater, Wilhelm Heinrich Rickmers, war Teilhaber der Firma „Rickmers Reismühlen, Reederei und Schiffbau AG“. Da er das Familienunternehmen fortführen sollte, schloss er eine Handelsausbildung in Bremen und London ab. Ab 1893 studierte er an der Universität Wien die Fächer Geologie, Botanik und Zoologie. Er heiratete am 6. Oktober 1897 die sieben Jahre ältere Schottin Mabel Christine Duff, die eine ausgebildete Orientalistin war. Mobilität kennzeichnete ihr Leben: Wenn sie nicht auf Reisen waren, lebte das Ehepaar Rickmers abwechselnd in London, in Mettnau bei Radolfzell und in Innsbruck. Sie hatten sich sogar um Goldfelder in Ostbuchara bemüht und laut Gerüchten sollen sie dort auch eine Goldwäscherei betrieben haben. Es finden sich auch Hinweise, dass das Ehepaar Rickmers Samarkand als Zweitwohnsitz auserkoren hatte. Ab 1930 lebten sie permanent in München. Nachdem Willi Rickmers als Tourismusbeauftragter des Österreichischen Arbeitsministeriums Kitzbühel zum Ski- und Fremdenverkehrsort ausgebaut hatte, wurde er im Ersten Weltkrieg Mitglied der Kaukasusdelegation. In der für Willi und Mabel Rickmers finanziell sehr schwierigen Zeit nach dem Krieg arbeiteten sie als freie Schriftsteller und Übersetzer. Am 24.12.1939 verstarb Mabel Rickmers. Willi Rickmers’ weiterer Lebensweg ist nur noch ein Fragment. Aus seinem Nachlass wird ersichtlich, dass er in den 1940erJahren Kontakte zum nationalsozialistischen Sven-Hedin-Institut für Innerasienforschung pflegte. Die genauen Umstände sowie sein Leben nach 1945 sind nicht mehr ersichtlich. Nach einer zweiten Ehe starb Willi Rickmers im hohen Alter von 92 Jahren am 15.6.1965 in München. Rickmers führte insgesamt elf Expeditionen, fünf davon nach Turkestan. Planung, Organisation und Expeditionslogistik waren seine Spezialgebiete. Neben Eigenheiten, die ihn wie fast jeden ‚Entdeckertypen‘ als unkonventionell charakterisierten, sprachen die sozialen Merkmale für eine gewisse Bodenständigkeit: Bürgerlichkeit und ein relativer Wohlstand, aber auch Eigeninitiative, die eine formale Ausbildung überflüssig werden ließ.26 Mit Paul Rohrbach und Rudolf Asmis begaben sich zwei Kolonialbeamte und -politiker nach Mittelasien. Beide sind bislang eher in anderen Kontexten als den hier geschilderten bekannt: Paul Rohrbach, geboren 1869 in Irgen/Kurland, studierte Geschichte, Geografie, Volkswirtschaft und Theologie in Berlin. Dort fand er in den Kreis um Ferdinand von Richthofen Aufnahme und pflegte Kontakte zu Friedrich Naumann. Der seit 1894 als preußischer Staatsbürger naturalisierte Baltendeutsche Rohrbach war zwischen 1903 und 1906 als Ansiedlungskommissar in Deutsch-Südwest Afrika tätig. In der Folgezeit trat er vor allem als politischer Publizist in die Öffentlichkeit. Sein Hauptwerk „Der Deutsche Gedanke in der Welt“ (1912) bündelte Sendungsideen des späten 19. Jahrhunderts und übertrug sie auf das 20. Jahrhundert. In diesem Buch, das bis in die 1920er-Jahre in einer Auflage von 200.000 Exemplaren verkauft wurde, verkündete er den ‚ethnischen Imperialismus‘ als spezifische Idee deutscher Weltstellung. Beeinflusst von religiösen Ideen plädierte er für eine kulturelle und wirtschaftliche ‚Durchdringung‘ der Welt im Gegensatz zu annexionistischen Forderungen, die vor allem von Alldeut26 Rickmers 1930b. Krebs 2006, 163-181.
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schen im Kaiserreich vertreten wurden. Zwar prägte Rohrbach, beschäftigt im Nachrichtenbüro der Reichsmarine sowie als Leiter der Pressekontrolle in der Zentralstelle für Auslandsdienst, die Kriegszieldebatte im Ersten Weltkrieg, er warnte jedoch auch vor überzogenen Forderungen. In der Zwischenkriegszeit vertrat er zwei Facetten deutscher ‚Weltpolitik‘: er argumentierte in Bahnen der Kolonialrevision einerseits und blickte zum deutschen ‚Kulturboden‘ nach Osten andererseits. Rohrbach, der sich im Ersten Weltkrieg für die Unabhängigkeit der Ukraine eingesetzt hatte, interessierte sich auch noch in den 1920er-Jahren für Selbstständigkeitsbestrebungen der Völker im ehemaligen Zarenreich. Trotz reger publizistischer Tätigkeit nahm jedoch sein politischer Einfluss ab. Ende der 1930er-Jahre verlor er endgültig den Zugang zu den Zirkeln politischer Macht. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte Rohrbach als anerkannter Russlandkenner erfolglos einen Wiedereinstieg in Adenauers Politik. 1956 starb Paul Rohrbach in Gerabronn.27 Die Literatur interessiert sich in erster Linie für Rohrbachs Ideen des „Größeren Deutschland“, seine kurze koloniale Dienstzeit in Afrika sowie seine Funktion als politischer Publizist und Russlandexperte. Als Reiseschriftsteller, ähnlich wie Colin Ross, besuchte Rohrbach Russland, Mittelasien, Armenien, Palästina, Persien, Mesopotamien, China, Indien und Afrika, um die Leser in der Heimat für das zukünftige Potential dieser Regionen zu sensibilisieren.28 In seinen Versuchen, den deutschen Kulturimperialismus zu popularisieren war Rohrbach ein typisches Kind seiner Zeit, und das in aller Ambivalenz. Obwohl er ein Gegner Russlands war, bewertete er den russischen Imperialismus auf seinen Studienreisen durch Turkestan (1897, 1900-1901) als mögliches Vorbild der deutschen Kolonialherrschaft in Afrika. Seine Schriften über ‚mittelasiatische Kulturarbeit‘29 haben ihn für seine Stelle als Ansiedlungskommissar in Deutsch-Südwest Afrika geradezu empfohlen. Während er jedoch auf einer politischen Ebene Fortschritt durch Erschließung grundsätzlich begrüßte, reihte er sich in Bezug auf seine persönlich gehaltenen Reiseerfahrungen in Mittelasien in das Gefolge derjenigen ein, die den Untergang der ‚alten Welt‘ als Folge des russischen Imperialismus betrauerten. Damit beleuchtet dieses Buch eine graue Eminenz der deutschen Außenpolitik in ihrer bislang wenig beachteten Eigenschaft als reisender Nostalgiker, die ihn aber genauso zu einem Vertreter der soziokulturellen Stimmungslage der Jahrhundertwende macht wie seine politischen Forderungen. Ein weiterer ambivalenter ‚Kulturimperialist‘ der Zwischenkriegszeit ist Rudolf Asmis, der 1879 in Mesekenhagen (Vorpommern) geboren wurde. Ab 1906 war der Jurist Asmis, der zudem Universitätsabschlüsse in Geografie und Geschichte vorweisen konnte, in der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes beschäftigt. 1911/1912 arbeitete er als Bezirksamtmann in Togo. 1912 wurde er zum Deutschen Konsul in Belgisch-Kongo ernannt und während des Ersten Weltkriegs zum Generalgouverneur nach Belgien versetzt. Als Referent der Abteilung IX lag sein Schwerpunkt auf Kolonialfragen, vor allem für das Belgische Kongogebiet. Zwischen 1917 und 1918 arbeitete er ebendort in der Politischen Abteilung, die für die belgische wirtschaftliche 27 van Laak 2004, 184-194. Mogk 1972. Bieber 1972. 28 van Laak 2004, 190. 29 Mogk 1972, 101.
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Betätigung im Ausland verantwortlich war, sowie als Kommissar des Verwaltungschefs für Flandern. Ab Januar 1921 hatte er als Vortragender Legationsrat die kommissarische Leitung der Abteilung Außenhandel im Auswärtigen Amt inne; 1922/1923 unternahm er zwei wirtschaftspolitische Missionen nach Sibirien und Turkestan. 1924 war er Botschaftsrat in Peking, danach Gesandter in Bangkok und ab 1932 Generalkonsul in Sydney. Nach einer Versetzung in den einstweiligen Ruhestand im Jahr 1939 kehrte Rudolf Asmis ein Jahr später in den auswärtigen Dienst zurück. Ab 1940 leitete er zusätzlich die Dienststelle Berlin des Kolonialpolitischen Amtes der NSDAP. 1941 übernahm er von Friedrich Schmidt-Ott den Vorsitz der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, 1944 die Leitung des Referats X innerhalb des Auswärtigen Amtes, das für Afrika, Australien, Neuseeland sowie Mandats- und Kolonialfragen allgemein zuständig war. Im selben Jahr wurde er Reichskommissar für die Kolonialgesellschaften. 1945 starb er in sowjetischer Haft. Forschung existiert vor allem zu seiner Funktion als Kolonialbeamter. Seine persönliche Karriere lässt sich auf den ersten Blick in eine Kontinuitätslinie vom Kolonialismus in den Nationalsozialismus einordnen. Bei einer Betrachtung seiner Asien-Expeditionen verschiebt sich jedoch die Perspektive: Welche Brüche und Alternativen jener Deutung der historische Moment der 1920er-Jahre eröffnet, wird in diesem Buch gezeigt. 30 Auswählen heißt Weglassen. Es mag vielleicht erstaunen, dass der bekannteste Name der Zentralasienforschung nur am Rande vorkommt: Sven Hedin. Die Frage nach der bis heute anhaltenden Popularität Hedins müsste mit einer ausgewogenen erinnerungshistorischen Untersuchung beantwortet werden. Doch sicher lag sie zum großen Teil daran, dass er bereits frühzeitig eingängige Strategien der Selbstpositionierung und des Marketings entwickelt hatte. In diesem Buch hat Sven Hedin die (reduzierte) Rolle, die er auch für seine forschenden Zeitgenossen zwischen 1890 und 1930 gespielt hat. Zwar war er bereits zu Lebzeiten eine Legende, aber gleichzeitig auch ein Stichwortgeber und Kommentator der hier vorgestellten Mittelasien-Expeditionen. Diesen Stellenwert des Vorbildes, das etwas im Hintergrund bleibt, behält er in dieser Darstellung. Wie bereits vorausgeschickt, besteht alternativ zur Lebensbeschreibung die zweite und hier gewählte Möglichkeit darin, allgemeine Muster und verbindende Strukturen der Turkestan-Expeditionen zu analysieren. Das reisende Individuum bleibt dabei zwar zentral, die Biografie wird aber auf die Situation der Expeditionen gleichsam verdichtet, sodass sich die Unternehmungen in eine Systematik einteilen lassen. Die Reisen gliedern sich in geografische und alpinistische Hochgebirgsexpeditionen, archäologische Forschungsreisen, erfahrungsorientierte Erkundungsreisen, – fast touristisch angehauchte – Altstadtexpeditionen, militärische Expeditionen, wirtschaftspolitisch motivierte Reisen sowie Expeditionen als Großforschungsprojekte. Die Expeditionen dienen jeweils als Ausgangspunkt einer breiteren Kontextualisierung. Als Fallbeispiele sind neben den Forschungsreisen des Ehepaares Willi und Mabel Rickmers die Expeditionen von Gottfried Merzbacher, von Arved von Schultz und von Fritz Machatschek für das Feld der geografisch-alpinistischen Forschungsreisen ausgewählt worden. Die Turfan30 Keipert et al. 2000, 52-54. Knoll 2001, 247-269. von Trotha 1994, 90-91. Asmis 1941. Zurstrassen 2008. Voigt et al. 2001, 167-182.
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Expeditionen des Berliner Völkerkundemuseums (1902–1914) unter der Leitung von Albert von Le Coq und Albert Grünwedel stehen hier für die archäologische Forschung. Ergänzt werden sie durch die wissenschaftlichen Arbeiten des Münchener Orientalisten Wilhelm Geiger und des ethnologischen Autodidakten und gelernten Astronomen Franz von Schwarz, der seine Zeit im russischen Dienst an der Sternwarte in Taschkent zu Forschungsexpeditionen und kulturwissenschaftlichen Studien genutzt hatte. Als abenteuerorientierte Erkundungsreisen und Ausbruchsversuche aus der europäischen Gegenwart werden die Expeditionen des Münchener Offiziers Wilhelm Filchner und des Leipziger Geografen Gustav Stratil-Sauer analysiert. Diejenige Reisegruppe, die aus heterogenen Motiven in die Altstadtkerne Samarkands und Bucharas fuhr, wird hier durch den Reiseschriftsteller Max Albrecht, durch den Lübecker Ethnologen Richard Karutz, durch den Kolonialpolitiker Paul Rohrbach sowie durch das Ehepaar Rickmers vertreten. Die geplanten militärischen Expeditionen nach Turkestan verdeutlichen eine spezifische Strategie während des Ersten Weltkrieges, Aufstände und Unruhen im Orient zu schüren. Als wirtschaftspolitische Expedition wird die Mission des Legationsrates Rudolf Asmis untersucht, der im Auftrag des Auswärtigen Amtes Turkestan in den 1920er-Jahren bereiste. Die Alai-Pamir-Expedition (1928), an der über zwanzig Wissenschaftler beteiligt waren, wird unter der Perspektive der Forschungsreise als internationales und interdisziplinäres Großforschungsprojekt analysiert. Die Quellenlage zu Turkestan-Expeditionen zwischen 1890 und 1928 ist in Bezug auf publiziertes und unpubliziertes Material sehr gut.31 Zentral sind die Bestände des Archivs des Deutschen Alpenvereins, unter anderem der Nachlass von Willi Rickmer Rickmers und seiner Frau Mabel Rickmers.32 Im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes liegen der Nachlass des Legationsrates Rudolf Asmis sowie Akten zur deutschen Politik im Ersten Weltkrieg und gegenüber den entstehenden mittelasiatischen Staaten in der Zwischenkriegszeit. Zu Forschungsreisen befindet sich neben Akten im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, im Ethnologischen Museum in Berlin und in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften umfangreiches Material. Der Bestand der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft im Bundesarchiv Koblenz (nun auch Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde) hat wesentliche Einblicke in die Forschungsorganisation und Expeditionspraxis der Zwischenkriegszeit gegeben. Zu ähnlichen Fragen wurde der Nachlass von Friedrich Schmidt-Ott, dem ersten Präsidenten der Notgemeinschaft, der sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz befindet, ausgewertet. Auch publizierte Quellen zu Turkestan-Expeditionen sind vielfältig und materialreich. Ausgewertet wurden internationale Zeitschriften, populäre
31 Hier werden nur einige Schlaglichter auf die zentralen Quellen geworfen; eine genaue Übersicht über alle verwendeten Archivalien und gedruckten Quellen findet sich im Quellenverzeichnis. 32 Im Archiv des Deutschen Alpenvereins werden die Nachlässe von Willi Rickmer und Mabel Rickmers zusammen unter der Signatur „Nachlass Willi Rickmer Rickmers, 04.1961“ aufbewahrt.
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Reiseberichte33 sowie landeskundliche und ethnologische Bücher, die häufig in einer Grauzone zwischen spezialisiertem Fach- und allgemein verständlichem Bildungswissen angesiedelt waren34. Ohne eine Analyse zur Reichweite der deutschen Begeisterung für Turkestan vorgenommen zu haben, schätze ich sie vor allem als bildungsbürgerliches Phänomen ein. Postkolonial ausgedrückt könnte man sagen, dass der hier untersuchte Turkestan-Diskurs innerhalb des Deutschen Reiches vorrangig – bis auf einige weibliche Ausnahmen und die schichtenübergreifende Erfolgsgeschichte der Alai-PamirExpedition35 – bürgerlich, weiß und männlich war. A UFBAU
UND
V ORGEHENSWEISE
Die sechs Teile des Buches rekonstruieren keine durchgängige Geschichte. Das Anliegen ist vielmehr, spezifische Facetten und Funktionen der deutschen Beschäftigung mit Turkestan herauszuarbeiten. Die Fragestellung nach den historischen Kontexten und sozialen Funktionalitäten der drei Kategorien Raum, Zeit und Kolonialismus verbindet die Kapitel. Verschiedene Felder – Wissenschaft (Kapitel 1, 2 und 6), Erfahrung (Kapitel 3), Politik (Kapitel 4) und Wirtschaft (Kapitel 5) – werden aus einer vorrangig kulturhistorischen Perspektive vermessen. Systematische Begriffe, wie zum Beispiel das Abenteuer, der Alpinismus und die Archäologie, werden an mehreren Stellen in jeweils neuen Kontexten erscheinen. Das Buch folgt dabei zwar einem chronologischen Aufbau, trotzdem fügen sich die einzelnen Abschnitte nicht reibungslos in eine zeitlich linear verlaufende Geschichte. Das Prinzip der Vernetzung von Argumenten charakterisiert diese Art des Schreibens besser als die Vorstellung einer geradlinigen Erzählung. Bestimmte Sachverhalte werden fokussiert und geschärft, andere jedoch nur am Rande oder gar nicht in das Blickfeld genommen. Die Untersuchung begleitet die deutschen Reisenden mit nach Turkestan und durch Zentralasien, teilweise bis in das benachbarte China. Auch die verschiedenen Blickrichtungen der Einzelnen auf das Land werden berücksichtigt. Während die deutschen Wissenschaftler, Politiker, Abenteurer, Nostalgiker und auch einige Militärs häufig zu Wort kommen, äußern sich die einheimischen Akteure nur in einem Kapitel explizit. Diese – verengte – Perspektive ist den Sprachkenntnissen und den wissenschaftlichen Interessen der Autorin geschuldet. Die ersten zwei Kapitel beschäftigen sich mit wissenschaftlichen Expeditionen während der Zeit des Kaiserreichs. In der ersten Passage stehen geografische Hochgebirgsexpeditionen in den Tian-Schan und das Hochland von Pamir im Zentrum. Als Antwort auf die leitende Frage, wie die deutsche Geografie mit Globalisierung und zeitlichem Wandel umging, werden die räumlichen Raster der Expeditionen herausgearbeitet, die Turkestan in die 33 Albrecht 1896. Karutz 1904. Rohrbach 1898. Rohrbach 1904. von Le Coq 1926. Filchner 1903. 34 Geiger 1882. von Schwarz 1894. von Schwarz 1900. Rickmers 1913. 35 Außer Mabel Rickmers begleitete 1906 die Schwester von Heinrich von Ficker, Cenci von Ficker, eine von Rickmers durchgeführte Hochgebirgsexpedition. Dazu auch: von Ficker 1908. Eine weitere Ausnahme sind auch die politischen Forderungen der muslimischen Politiker im Ersten Weltkrieg.
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drei mental maps ‚weiße Flecken‘, ‚Orient‘ und ‚Wildnis‘ teilten. Dazu soll gezeigt werden, dass die Expeditionen einem romantischen Traum vom ‚unentdeckten‘ Neuland verfallen waren, welches es für Deutschland symbolisch zu besetzen galt. Während die Kategorie ‚Zeit‘ in jenem Zusammenhang vor allem in Gestalt einer als solcher wahrgenommenen Zeitreise in unerschlossenen Räumen analysiert wird, ist sie der hauptsächliche Gegenstand des zweiten Abschnitts. Zeit gilt dabei als eine der Interpretationsachsen, die der Konstruktion kolonialer Dichotomien diente. Die Arbeit verlässt hier Westturkestan und betritt in einigen Abschnitten das angrenzende Ostturkestan, genauer: die Oase Turfan. Anhand der archäologischen Turfan-Expeditionen und anhand von Debatten um orientalische Ursprünge von Völkern, Kulturen und Sprachen werden Entwürfe und Brüche dichotomer Weltbilder sowie die Entstehung von Begriffen, die Vermischungsprozesse konzeptionell zu fassen vermochten, analysiert. Dass Turkestan in Gestalt des mythischen Turan als Urheimat der turkstämmigen Völker galt, legte den Grundstein für die politische Ideologie des Turanismus, welche die Vereinigung aller Turkvölker in einem von Russland unabhängigen Staat forderte. Der Turanismus wird zu Beginn des vierten Teilstückes näher beleuchtet. Zuvor steht im dritten Kapitel die Frage im Vordergrund, wie die Reisenden spezifische Räume und verschiedene Zeiten erfahren und in ihren Berichten beschrieben haben. Michail Bachtins Begriff des Chronotopos schlüsselt diese narrative und erlebnisorientierte Verflechtung auf. Abenteuer und Nostalgie stehen im Mittelpunkt: Klassische Abenteuererzählungen bestätigten prinzipiell das Gegensatzpaar ‚Fortschritt‘ und ‚Tradition‘; bei den reisenden Nostalgikern dagegen lösten sich dichotome Weltbilder ansatzweise auf. Während die Nostalgie eine Reaktion der außen stehenden Reisenden auf den ‚Fortschritt‘ und die ‚Russifizierung‘ des ‚Orients‘ darstellte, reagierte die direkt betroffene einheimische Bevölkerung auf diese Veränderung ihrer Lebenswelt mit einer Politisierung. Diesen Wechsel der Akteurskoalitionen bringt der Erste Weltkrieg mit sich, der im vierten Kapitel untersucht wird, wobei die einheimische Bevölkerung ihre bislang eher statische Rolle verlässt. Muslimische Politiker betreten das Zentrum politischer Macht in Berlin und – nun auch aus deutschem Bemessen – einen Raum politischer Gleichzeitigkeit. Unter der Perspektive einer deutsch-muslimischen Verflechtungsgeschichte wird die Strategie eines „Krieges durch Revolution“ nicht nur als Möglichkeit verstanden, die Territorien der Feinde zu destabilisieren. Revolution im totalen Krieg zielte darauf ab, eine neue Ordnung zu errichten und Weichen für die Nachkriegszeit zu stellen. Die letzten beiden Kapitel beschäftigen sich jeweils mit der Bedeutung Turkestans innerhalb der Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik der Weimarer Zeit. Im Mittelpunkt steht die historische Suche nach neuen Umgangsformen mit der außereuropäischen Welt. Untersucht werden soll, wie die Einsicht, dass eine klare Trennung zwischen ‚modernen‘ europäischen Metropolen und ‚rückständigen‘ Peripherien in einem Zeitalter beginnender kolonialer Unabhängigkeit nicht mehr möglich sei, in wirtschaftspolitische Überlegungen, in die Forschung und die soziale Praxis ‚übersetzt‘ wurde. Mit welchen Argumentationsstrukturen und Handlungsmustern wurde zudem dem
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Verlust der deutschen Kolonien innerhalb eines weltweit zu beobachtenden Legitimationsschwundes kolonialer Herrschaft Sinn gegeben? Anhand der Expedition von Rudolf Asmis (1923) untersucht der fünfte Abschnitt, wie deutsche ‚Wirtschaftspioniere‘ einem postkolonialen Zeitalter zu begegnen glaubten und welche alternativen Formen von Hegemonie im Möglichkeitsraum Turkestan verhandelt werden konnten. Die Aufarbeitung der kolonialen Erfahrung und des Verlusts der Kolonien im Weltkrieg fließen in diese Analysen mit ein. Das sechste Teilstück widmet sich der Alai-Pamir-Expedition, die 1928 als deutsch-sowjetisches Gemeinschaftsunternehmen stattgefunden hat. Die Frage, wie der Legitimationsverlust von kolonialer Überlegenheit und Eindeutigkeit im Selbstverständnis der Forschungsreise thematisiert wurde und Eingang in die Handlungsebene gefunden hatte, leitet das abschließende Kapitel. Zu untersuchen ist, wie die Alai-Pamir-Expedition in der Konzeption, Durchführung und (Selbst-)Beschreibung der teilnehmenden Wissenschaftler alternative Formen der europäischen Deutungshoheit über Mittelasien für ein breites Publikum festschrieb. Mit welchen Strategien verabschiedete sich das interdisziplinäre Großforschungsprojekt von älteren Formen der Forschungsreise und ging neue beziehungsweise – mit den Worten des Expeditionsleiters – moderne Wege? Wie erreichte die Alai-Pamir-Expedition diese eigene stabile Gegenwart? Auf einer abstrakten Ebene formuliert, erzählt das Buch eine Geschichte über Stabilitäten, Brüche und die Neujustierung derjenigen Kategorien, mit denen die untersuchten Akteure – die jeweils für die größeren Felder der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Erfahrung und der Politik stehen –, ihre eigene Lebenswelt und die außereuropäische Welt erfassten. Durch Erzählungen aus Turkestan verliehen sie den Prozessen des Wandels während der bewegten Zeiten der ‚langen Jahrhundertwende‘ Sinn. F ORSCHUNGSSTAND Über die ‚Entdeckung‘ Turkestans erzählten teilweise die Wissenschaftler selbst. Bereits 1887 hat der Münchener Iranist Wilhelm Geiger eine Abhandlung über die Erforschung der Pamirgebiete geschrieben.36 Der russische Orientalist Vasilij Vladimirovič Barthold hat die geografische und historische Erkundung des Orients von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zusammengefasst.37 Aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt über die Exploration der Seidenstraße mit dem Schwerpunkt auf Ostturkestan die sehr ausführliche, aber eher handbuchartige Arbeit von Jack A. Dabbs vor.38 Auch Hans-Joachim Klimkeit, ein Religionswissenschaftler, der selbst in der Turfanforschung gearbeitet hat, hat eine Darstellung über die Seidenstraße verfasst, die wesentliche Informationen über deren Erforschungsgeschichte liefert.39
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Geiger 1887. Barthold 1913. Dabbs 1963. Klimkeit 1988.
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Zusätzlich haben Forschungsergebnisse aus anderen Bereichen zentrale inhaltliche und methodische Anregungen gegeben. Zu nennen sind: 1. Die politische Geschichte Turkestans, 2. Postkoloniale Ansätze, 3. Die Raumgeschichtsschreibung sowie 4. Arbeiten über Zeitkonzepte und über ‚Moderne‘. 1. Die (west-)europäische politikwissenschaftliche Erforschung Turkestans war an die beiden Weltkriege und den Kalten Krieg gebunden. Die politisch orientierte Turkestan-Forschung erlebte im Ersten Weltkrieg einen ersten Höhepunkt, als Abhandlungen über die Unabhängigkeitsbewegung des Panturanismus verfasst wurden. Vor allem britische Analysten befürchteten die potenzielle Gefahr eines Großreichs in Mittelasien, das von den Mittelmächten geschützt werde und die britischen Besitzungen in Indien bedrohen könne.40 Im Zweiten Weltkrieg fanden Forschungen über Turkestan in der so genannten nationalsozialistischen Arbeitsgemeinschaft für Turkestan e.V. statt, die 1944 innerhalb der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft gegründet worden war. Der Geologe und Turkestan-Reisende Fritz Machatschek war Leiter der Abteilung Landeskunde.41 Die Forschungsarbeiten verfolgten das Ziel, ethnografisches und geografisches Wissen über Turkestan zu sammeln und zu systematisieren, um es im Krieg gegen die Sowjetunion einzusetzen.42 Forschungen und Publikationen zu Turkestan mit einer dezidiert antikommunistischen Tendenz sind bereits in den 1930er-Jahren erschienen. Bezüglich ihrer Interpretationen gehören sie ideologisch zu derjenigen Literatur, die den Widerstand der mittelasiatischen Völker als antikolonialen ‚Befreiungskampf‘ deutete.43 Diese Tradition setzte sich über den Russlandforscher und Spezialisten für die sowjetasiatischen, turko-tartarischen Völker, Gerhard von Mende, bis in die Bundesrepublik fort. Nach seinem Dienst im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete arbeitete Mende für das Ostkolleg der Bundeszentrale für politische Bildung.44 Mit Gerhard von Mende stand der usbekische Historiker und Orientwissenschaft40 So wurde zum Beispiel von den Mittelmächten die Zeitschrift „Turan“ herausgegeben. Alp 1915. Aus britischer Perspektive: Great Britain 1918. Czaplicka 1918. Aus amerikanischer Sicht: Stoddard 1917, 12-23. 41 Vgl. die gedruckte Version eines Vortrags von Fritz Machatschek, den er anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Sven Hedin durch die naturwissenschaftliche Fakultät der Universität München und der Gründung des Sven-Hedin-Instituts für Innerasienforschung gehalten hat: Machatschek 1944. Zur Arbeitsgemeinschaft Turkestan: Ellinger 2006, 266-268. 42 Dazu in der ideologisch eingefärbten DDR-Forschung: Kißmehl 1985, 127-150. Brentjes 1985, 151-172. 43 von Mende 1936. von Mende 1935. Manzooruddin Ahmad 1940. Häufig wurde diese Deutung des Freiheitskampfes auch in einer Heroisierung Enver Paschas festgeschrieben, der 1922 als Anführer der turkestanischen Aufstandsbewegung gegen die sich formierende Sowjetunion erschossen wurde: Okay 1935. Diese Heroisierung fand während des Zweiten Weltkriegs auch ihren Ausdruck in romanhaften Büchern, die von der Wehrmacht herausgegeben wurden: von Bahder 1943. 44 Zur Ostforschung in der Bundesrepublik und der Transformation vormals nationalsozialistischer Dichotomisierungen in solche des Kalten Krieges: Unger 2007. Zu Mende und den historischen Verbindungen zwischen Nationalsozialismus und Islam auch der Dokumentarfilm von Stefan Meining: Zwischen Halbmond und Hakenkreuz. Sendetermin 19.07.2006, 22:50 Uhr, ARD (Videoaufnahme im Besitz der Autorin).
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ler Baymirza Hayit in Kontakt. Hayit, der in Köln lebte, hat vor allem über die politische Konfrontation des muslimischen Raumes mit dem Zarenreich und schwerpunktmäßig der Sowjetunion publiziert.45 Seine Schriften sind von den 1950er- bis zu den 1990er-Jahren erschienen, wobei die zweibändige englischsprachige Aktenedition „Documents. Soviet Russia’s Anti-IslamPolicy in Turkestan“ und das Buch „Sowjetrussische Orientpolitik am Beispiel Turkestans“ in Reihen veröffentlicht worden sind, die Gerhard von Mende herausgegeben hat.46 Baymirza Hayits Publizistik verfolgt eine antirussische und antisowjetische Tendenz, die mit dem westdeutschen Antikommunismus während des Kalten Krieges korrespondierte. Hayit interpretiert die russische Politik gegenüber Mittelasien als koloniale Unterdrückung und im Gegenzug die Aufstände der einheimischen Bevölkerung als ‚Befreiungskampf‘. Nach Ende des Kalten Krieges erschienen politikwissenschaftliche Arbeiten, die nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Gründung unabhängiger Staaten in Mittelasien die Geschichte des Raumes unter der Perspektive des Nation-Building aufarbeiteten sowie die neue Lage in Zentralasien – häufig auch unter geopolitischer Perspektive – einzuordnen versuchen.47 Detailliertere Anregungen als der politikgeschichtlichen Literatur über Turkestan, die unentbehrliche Hintergrundinformationen und Faktenwissen geliefert hat, verdankt dieses Buch Studien, die methodische Impulse gegeben haben. Unter diesem Aspekt sind postkoloniale Forschungsansätze sowie die Diskussionen um den spatial turn und um ‚Moderne‘ zentral. 2. Der Terminus ‚postkolonial‘ bezeichnet nicht nur eine Periodisierung der Zeit nach dem Ende der formellen Kolonialherrschaft, wobei sie für das Deutsche Reich verfrüht mit dem verlorenen Ersten Weltkrieg begann. Er bezieht sich auch auf eine Form der Analyse, um hierarchische Beziehungsmuster zwischen Europa und der außereuropäischen Welt zu thematisieren und damit verbunden eurozentrische Perspektiven und grundlegende Annahmen des kolonialen Diskurses infrage zu stellen.48 Als Gründungsmanifest der postcolonial studies gilt Edward Saids Buch „Orientalism“ (1978). Said vertritt vorrangig bezüglich der britischen, französischen und amerikanischen Konstruktionen des Orients die These, dass die akademischen, politischen, literarischen und publizistischen Repräsentationen im Kontext ungleicher Machtverhältnisse entstanden sind. Diese euro-amerikanische ‚Erfindung‘ des Orients ging mit der machtpolitischen Beherrschung des Raumes einher. Edward Said argumentiert, dass eine ontologische und epistemische Demarkationslinie zwischen Westen und Osten durch orientalisierende Repräsentationen geschaffen worden sei. Diese europäische Abgrenzung zum orientalischen Raum habe der Stärkung der europäischen Identität und der kolonialen Beherrschung gedient.49 Edward Saids Thesen sind unter anderem vom Lite-
45 Hayit 1950. Hayit 1956. Hayit 1987. Hayit 1992. Hayit 1997. 46 Hayit 1958. Hayit 1962. Zum Kontakt zwischen Gerhard von Mende und Baymirza Hayit: von Mende, Hayit 1988, 7. Erling von Mende ist der Sohn Karl von Mendes. 47 Banuazizi 1994. Hauner 1990. Tolipov 2001, 183-194. Edgar 2004. 48 Young 2003. 49 Einen sehr kritischen Überblick über die Orientalismus-Debatte gibt: Osterhammel 1997, 597-607. Zur ausufernden Literatur über Edward Said aus dem angloamerika-
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raturwissenschaftler Homi K. Bhabha weiterentwickelt worden, der Dichotomien im Konzept der Hybridität auflöst. Der koloniale Kontakt habe Bhabha zufolge auf beiden Seiten Spuren hinterlassen, wobei Vermittlungsvorgänge und Verflechtungsprozesse strikte Trennlinien zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten unmöglich machten. Bhabha geht davon aus, dass sich Diskurse kolonialer Eindeutigkeit selbst unterminieren und führte den Schlüsselbegriff der Ambivalenz in die postkoloniale Diskussion ein.50 Der räumliche Fokus postkolonialer Analysen lag bis vor einem guten Jahrzehnt auf Großbritannien und Frankreich. Russland und das Deutsche Reich wurden bis dahin marginalisiert.51 Neben Sibirien erfahren nun Turkestan beziehungsweise die mittelasiatischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion erhöhte Aufmerksamkeit im Rahmen postkolonialer Fragestellungen.52 Ebenso etablieren sich postkoloniale Ansätze im deutschen Kontext als Neuinterpretation der Kolonialherrschaft und als eine mögliche Herangehensweise zur Verflechtungs- und transnationalen Geschichte. Hintergrund für das Interesse an der deutschen Kolonialgeschichte sind die Diskussionen um Globalisierung.53 Über die deutsche Mittelasienwahrnehmung zwischen 1854 und 1914 hat bereits Bahodir Sidikov eine aufschlussreiche und sehr gut lesbare Dissertation verfasst.54 Sidikov untersucht, inwieweit die deutschen Studien über Mittelasien dem von Edward Said herausgearbeiteten hegemonialen Diskurs des Orientalism entsprachen. Sidikovs Fazit lautet, dass sich „der deutsche Blick auf Mittelasien […] wenig von dem der Engländer und der Franzosen auf andere Gebiete des Orients“ unterschieden habe.55 Kontrovers zu Sidikovs Bestätigung der Thesen Edward Saids in Bezug auf die professionelle Orientalistik und den populärwissenschaftlichen Orientalismus stehen Arbeiten wie Andrea Polascheggs germanistische Faszinationsgeschichte des deutschen Orientalismus im 19. Jahrhundert sowie Sabine Mangolds und Ludmilla Hanischs Untersuchungen zu den orientalistischen Disziplinen in Deutschland.56 Auch die Studien von Suzanne Marchand, die dieses Buch maßgeblich beeinflusst haben, eröffnen Interpretationsmöglichkeiten jenseits von Saids Orientalism. Ihre Überlegungen hat die amerikanische Historikerin in Aufsätzen und einer wegweisenden Monografie vorgelegt. In diesen vertritt Marchand die These, dass der Orientalismus in Deutschland zwar vom Imperialismus geprägt war, aber dennoch dazu beitrug, eurozentrische Selbstsicherheit zu hinterfragen, da Vorstellungen abendländischer Überlegenheit durch die Erforschung der weit zurückliegenden
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nischen Forschungskontext seien hier nur einige einschlägige Titel genannt, z.B: Walia 2001. Ashcroft, Ahluwalia 1999. Bhabha et al. 2005. Bhabha 1994, 121-131. Dazu auch: Castro Varela et al. 2005, 85-94. Conrad 2002, 145-169. Bassin 1999. Stolberg 2002, 315-334. Stolberg 2005. Stolberg, 2009. Weiss 2007. Frank 2008b. Brower et al. 1997. Crews 2006. Zu Zentralasien in sowjetischer Zeit vgl. Khalid 2006, 865-884. Paulmann 2008, 494-500. Bei Paulmann findet sich auch ein aktueller Forschungsüberblick. Sidikov 2003. Sidikov 2006, 19-27. Sidikov 2003, 425. Polaschegg 2005. Polaschegg 2008, 13-36. Hanisch 2003. Mangold 2004.
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Vergangenheit orientalischer Hochkulturen brüchig wurden.57 Marchand überschreitet die binären Analyseraster von Identität und Differenz, indem sie die Vielfalt des Umgangs mit dem Orient offen legt. Ihr gelingt es, in aller Widersprüchlichkeit Spuren derjenigen Denkweisen, die heute unter den Begriff des ‚Postkolonialen‘ gefasst werden, im Kaiserreich und in der Weimarer Republik aufzuzeigen.58 3. Als Beginn der Raumgeschichte beziehungsweise als einer der Auftakte für die ‚Wiederentdeckung des Raumes‘ innerhalb der Geschichtswissenschaft gilt Karl Schlögels Buch „Im Raume lesen wir die Zeit“, das im Jahr 2003 erschienen ist.59 Während in der älteren deutschen Geschichtsschreibung ‚Raum‘ unter anderem wegen der damit assoziierten Großraumfantasien der Nationalsozialisten als diskreditiert galt, hatte Jürgen Osterhammel bereits 1998 – fast zeitgleich mit Charles Maiers Vorschlag, das 20. Jahrhundert unter dem Begriff der Territorialität neu zu periodisieren – eine „Wiederkehr des Raumes“ festgestellt.60 Die jüngsten Diskussionen um Raum sind sehr heterogen und finden unter drei Schlagworten statt: spatial turn, topographical turn, topological turn.61 Gemeinsam ist diesen Wenden nur, dass der historische Stellenwert der Kategorie ‚Raum‘ erneut geschärft wurde. Zwei grundsätzliche Positionen lassen sich rekonstruieren: eine materialistischsubstanzielle, die menschliche Geschichte und Gesellschaften durch räumliche Gegebenheiten erklären zu können glaubt, und eine konstruktivistische, die Raum als reine soziale ‚Produktion‘ begreift.62 Den zentralen kommunikationstheoretischen Ansatz von ‚Verräumlichung‘ haben Alexander C. T. Geppert, Uffa Jensen und Jörn Weinhold vorgeschlagen, um diese Dichotomie zwischen „Materialität und Diskursivität“ zu überwinden.63 ‚Verräumlichung‘ als Analysekategorie weist drei Bedeutungsebenen auf: Erstens gilt Raum als Gegenstand kommunikativer Praktiken, wie sie zum Beispiel kartografische Aufnahmen, geografische Studien oder Reiseberichte darstellen. Zweitens ist die Kommunikation über Räume selbst räumlich verortet und muss jeweils von einem bestimmten Kontext und Standpunkt, z.B. der mitteleuropäischen geografischen Wissenschaft, nachvollzogen werden. Drittens ist Raum keine statische Kategorie, sondern sie kann in (historischen) Debatten immer wieder neu definiert werden.64 ‚Verräumlichung‘ begreift Räume zwar einerseits als kommunikativ erschaffen, andererseits strukturieren Räume die Kommunikation.
57 Marchand 2001, 331–358. Marchand 2004, 465–473. 58 Marchand 1997, 158-166. Marchand 2009, xxiii Anmerkung 13. Zu Antikolonialismus und Pazifismus: Boldt 1991, 53-79. Rosenhaft 2003, 282-301. van Laak 2007, 95-116. 59 Schlögel 2003. Zur heutigen Kritik an Karl Schlögels Buch als zu materialistisch und geodeterministisch: Döring, Thielmann 2008, 19-24. 60 Osterhammel 1998, 374-397. Maier 2000, 807-831. 61 Günzel 2008, 219-240. 62 Geppert et al. 2005, 17-18. Vertreter der ‚Produktion‘ von Raum: Lefebvre 2007. Soja 1989. Zur Richtung, die die Materialität von Raum betont, zählen z.B. Karl Schlögel oder auch Sigrid Weigel: Weigel 2002, 151-165. 63 Geppert et al. 2005, 18. 64 Geppert et al. 2005, 28.
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Mit einem ähnlichen Verständnis nähern sich Iris Schröder und Sabine Höhler den Räumen der Erde aus einer wissenschaftshistorischen und globalgeschichtlichen Perspektive. Die Beschreibungskategorie der ‚Globalität‘ wählen die Autorinnen, um Globalisierung aus kulturhistorischer Perspektive zu betrachten und mit dem neuen Interesse am Raum in der Geschichtswissenschaft zu verbinden. Ihnen geht es darum, die historische Wahrnehmung und Darstellungsformen der Welt und ihrer einzelnen Räume zum Gegenstand von Analysen zu machen.65 Das große Forschungsprogramm, Weltgeschichte als Raumgeschichte zu schreiben, zerteilen die Autorinnen in einzelne mögliche Forschungsrichtungen. Sie beziehen sich unter anderem auf die Geografiegeschichte und die historische Reiseforschung.66 Häufig berufen sich Ansätze des spatial turn auf das viel zitierte Foucault-Zitat, dass die Obsession des 19. Jahrhunderts die Geschichte gewesen sei, die des 20. Jahrhunderts der Raum sei. Eine Folge davon ist, dass in den gegenwärtigen historischen Raumdebatten die Kategorie der Zeit an den Rand gedrängt wird.67 Zwar erscheint es durchaus plausibel, dass „Globalisierungserfahrungen […] das Modernisierungsparadigma in eine Krise gestürzt haben, insofern Konstellationen eines räumlichen Nebeneinander sich nicht mehr länger durch ein hierarchisches Verhältnis von fortschrittlich oder rückständig beschreiben lassen“68; dagegen ließe sich einwenden, dass doch auch Globalisierung selbst ein historischer Prozess ist und ihre Annahmen über Zeitverläufe zu betrachten seien. Anstelle von einer Ablösung der Kategorie ‚Zeit‘ durch den Begriff des Raums zu sprechen und Globalisierung als neue Metakategorie der ‚alten‘ Modernisierung entgegenzusetzen, ist es – wie auch Jürgen Osterhammel kürzlich gefordert hat – der Geschichte angemessener, die historische Verflechtung beizubehalten:69 Raum und Zeit hatten im Weltbild der ‚langen Jahrhundertwende‘ noch nicht diese Trennung erfahren wie im 21. Jahrhundert. Sebastian Conrad und Albert Wirz plädierten dafür, den Zusammenhang zwischen der Erforschung der außereuropäischen Welt und der Entstehung eines Verständnisses von linearer Entwicklung oder Fortschritt verstärkt in den Blick zu nehmen.70 4. Mit gleich großer Berechtigung, wie von einer „Wiederkehr des Raumes“ als Analysekategorie gesprochen werden kann, sollte damit in Verbindung eine ‚Wiederkehr der Zeit‘ auf einer theoretisch reflektierten Ebene ausgemacht werden. Der Hintergrund ist das gestiegene Interesse der Geschichtswissenschaften, die ‚Moderne‘ zu problematisieren und letztendlich in Ansätzen zu historisieren.71 Jakob Tanner plädierte 2008 in der Histori65 66 67 68 69 70 71
Schröder, Höhler 2005, 9-47. Z. B. Bauerkämper et al. 2004. Schulz-Forberg 2006. Foucault 1991, 34-46. Crang 2008, 411. Döring, Thielmann 2008, 23. Osterhammel 2009, 129-131. Wirz 2002, 489-498. Conrad 2002, 145-169. Conrad, Randeria 2002, 22 ff. Insbesondere: Schneider 2008, 61-72. Schneider macht einen inflationären Gebrauch des Begriffes ‚Moderne‘ in der Historiografie und gleichzeitig eine mangelnde Reflexion darüber aus. Während soziologische und philosophische Konzepte zur Moderne in einer Vielzahl vorliegen, sind historische Arbeiten dazu spärlich. Soziologische Ansätze finden sich bei: Beck, Bonß 2001. Bonacker, Reckwitz 2007. Aus historischer Sicht: Schulze 1990, 69-97.
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schen Anthropologie für polyzentrische Konzeptionen von ‚Moderne‘ als multiple modernities. Er erkennt als mögliches Analysekonzept für die (europäische) ‚Moderne‘ bestimmte Prozesse der Multiplikation und Reproduktion, die ein teleologisches Fortschritts- oder Dekadenznarrativ überschreiten.72 Etwas konventioneller betrachtet Ulrich Herbert „Europe in High Modernity“.73 Obwohl Herbert auch an historischer Theoriebildung interessiert ist, beschäftigt ihn stärker die pragmatische Frage, wie Europa im 20. Jahrhundert beschrieben werden kann. Er entscheidet sich für einen empirischen Blick auf die ‚Moderne‘, wobei er die großen Meistererzählungen des 20. Jahrhunderts verabschiedet: die marxistische Geschichtsinterpretation, die Lesart des europäischen Bürgerkriegs, die Modernisierungstheorie und – in Bezug auf Deutschland – den Sonderweg. Herberts analytisch-empirische Parameter erinnern jedoch stark an die Themenfelder und Argumentation von Detlef Peukerts älterer (Krisen-)Interpretation: Als Reaktion auf die Veränderungen ab 1890 (u. a. rapide Industrialisierung, Urbanisierung, Rationalisierung, Herausbildung einer Massenkultur) sei die „Serie der katastrophalen politischen Ereignisse“ zu erklären wie die Formierung radikaler Massenbewegungen sowie politische und ökonomische Kontrollversuche gegenüber der Gesellschaft.74 Doch Herbert versteht ‚Moderne‘ auch als offenen, dynamischen Prozess der Veränderung und somit als Zeitkonzept. Neuere Vorschläge zu einem theoretisch fundierten Umgang mit ‚Moderne‘ knüpfen an Zeitkonzepte an. So schlägt Ute Schneider vor, für den analytischen Zugang zur ‚Moderne‘ Reinhard Kossellecks Theorien geschichtlicher Zeiten nutzbar zu machen.75 ‚Moderne‘, verstanden als ‚Verzeitlichung‘, öffne Möglichkeiten, die verschiedenen ‚Zeitschichten‘ und temporalen Strukturen zu untersuchen. Kosselleck selbst verortet zwar den Beginn von Verzeitlichungsprozessen der Natur- und Humangeschichte bereits im 18. Jahrhundert.76 Arbeiten zur Zeitwahrnehmung betrachten jedoch erst die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts als diejenige Zeitspanne, in der sich die „alteuropäische Auffassung eines einheitlichen, homogenen und universalen Zeithorizonts“ auflöste. Zeit erfuhr als Einheit eine Destabilisierung und Veränderung, die Wahrnehmung verschiedener Zeitebenen und Zeitformen brachen die Vorstellungen eines geschlossenen zeitlichen Kontinuums.77 Diese neuen Formen von Zeitmessung und Zeitwahrnehmung, ein erhöhtes Bewusstsein für die Bedeutung von Zeit sowie eine große Sensibilität für Zeiterfahrung gelten als prägendes Charakteristikum der ‚Moderne‘. Sie brachte eine Aufwertung der Gegenwartserfahrung mit sich, wobei gerade der Blick für den flüchtigen Charakter der Gegenwart geschärft wurde. Martin H. Geyer hat Kosellecks Begriff der ‚Verzeitlichung‘ des Denkens und Luhmanns Konzept der Verzeitlichung sozialer Systeme als „Signum der 72 Zu multiple modernities: Eisenstadt 2000. Tanner 2008, 2-6. 73 Herbert 2007, 5-20. Kritik an Herberts Interpretation der Jahre 1880–1930 übt: Raphael 2008, 83-84. 74 (Ältere) Kriseninterpretationen der Weimarer Zeit: Peukert 1987. Weitz 2007, 361. Zur Neuinterpretation der ‚Krise‘: Föllmer, Graf 2005. Graf 2007, 115-140. Fritzsche 2007, 141-164. 75 Schneider 2008, 61-72. 76 Koselleck 2000, 12. 77 Simonis, Simonis 2000, 7-29.
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Moderne“ bezeichnet. Geyer analysiert mit Ernst Blochs ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ die Zersplitterung von Zeiten und Zeitwahrnehmungen in der Zwischenkriegszeit und arbeitet letztendlich die historische Schwierigkeit einer gemeinsamen Gegenwart heraus.78 Michael C. Frank spricht in Bezug auf die Reiseliteratur des ausgehenden 19. Jahrhunderts sogar von einer ‚Verzeitlichung‘ des Weltbildes.79 Indem ‚Moderne‘ nicht nur als spezifische Gegenwartserfahrung, sondern als mehrschichtiges Zeitkonzept begriffen wird, das vor allem durch die Fragmentierung der Gegenwart geprägt war, verliert die starre Gegenüberstellung von ‚Moderne‘ und ‚Tradition‘ ihre Gültigkeit als normatives Konzept. In diesem Bereich kann eine Untersuchung der deutschen Faszination an Turkestan nicht mehr leisten, als – wie es Ute Schneider in einem anderen Kontext ausgedrückt hat – eine historische Spurensuche zu sein, nach der vergangenen, erlebten Gegenwart aus den Augen der Zeitgenossen.
78 Geyer 2007, 165-187. 79 Frank 2008a, 99-111.
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I. Die Entdeckung Turkestans
Wenn das 19. Jahrhundert in Bezug auf geografische Entdeckungen „das Jahrhundert der Flusssucher“ war, dann war das 20. Jahrhundert das der Bergsteiger. In seinem Beitrag „The Pamirs and the Source of the Oxus“ im renommierten Geographical Journal vertrat der spätere Vizekönig von Indien, George Nathaniel Curzon, 1896 die Ansicht, dass mit der Klärung der Flussläufe die Entdeckung des Pamirgebirges abgeschlossen sei. Obwohl gemeinhin die Frühe Neuzeit als Epoche der Entdeckungsreisen gilt, bezeichneten die Zeitgenossen selbst das 19. Jahrhundert als zweites Entdeckungszeitalter. Neben Forschungsreisen zum Nord- und Südpol prägte die Exploration des afrikanischen Binnenlands diese Ära. Die Suche nach den Flüssen Nil und Niger in Afrika stellte europäische Wissenschaftler vor geografische Rätsel, deren Lösungsversuche die populäre Imagination beflügelten.1 Die Wende zum 20. Jahrhundert gilt dagegen in der heutigen Forschungsliteratur als Beginn eines erschließungsorientierten Imperialismus. Sämtliche Orte des größtenteils bekannten Erdballs wurden nun durch den Ausbau von Verkehrs- und Kommunikationswegen erreichbar. Im Zeitalter des Hochimperialismus korrespondierte die territoriale Kontrolle über den Globus mit neuen Strategien, ihn auch intellektuell zu erfassen: „Verkleinern und Abbilden“, „Zerteilen und Ordnen“, „Organisieren und Managen“ sind die Denk- und Handlungsmuster, die Sabine Höhler und Iris Schröder als charakteristisch für ein beginnendes Zeitalter der Globalität identifiziert haben.2 Turkestan lag als einer der letzten ‚weißen Flecken‘ um 1900 an den Rändern der zunehmend vernetzten Erde. Die relativ späte Entdeckung und gleichzeitige Erschließung Turkestans fielen mit drei Tendenzen der Jahrhundertwende zusammen: Erstens begann in Europa die Zeit des Auslandsalpinismus und der Hochgebirgsforschung. Zweitens beschäftigten sich Geografen mit den Fragen, wie das „Wesen“3 von Landschaften und wie Räume länderkundlich zu definieren seien. Drittens formierten sich das geografische Wissen und die geografische Wissenschaft neu. ‚Entdeckung‘, ‚Erschließung‘ und ‚Erforschung‘ waren zu Gegenständen widersprüchlicher Reflexionen geworden, die von Versuchen, die Welt zu ordnen, und der
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Honold 2005, 149. Curzon 1896, 239-264. Pamir oder die Pamire meint den Knoten der Gebirgssysteme Tian-Schan, Alai, Transalai, Kunlun Shan, Karakorum und Hindukusch. Das innere Hochland ist in die Pamire (breite Becken und Hochebenen) aufgelöst. Schröder, Höhler 2005, 9-47. Machatschek 1921, 6.
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Sehnsucht nach den letzten Freiräumen in einer verfügbaren Welt getragen wurden.4 Während ‚Erschließung‘ fortschrittsorientiert in die Zukunft verwies, erschien ‚Entdeckung‘ als romantisches Relikt einer früheren Phase der Exploration außereuropäischer Länder.5 Raymond Schwab betrachtet Romantik als ein Ergebnis von Entdeckungsreisen, geradezu „as Europe’s response to the overwhelming experience of finding its civilization not unique but merely one of many, those of the East being older and, perhaps, its source.“6 Romantik als gefühlsbetonte Alternative zu den europäischen Werten der Vernunft und Ordnung eröffnete einen Zeit-Raum der Diskontinuität. Saree Makdisi betrachtet Romantik als Ausweg aus der rationalisierten Zeit des europäischen Fortschrittsdenkens sowie aus den Zeitrhythmen der kapitalistischen Gesellschaft.7 Hochgebirgsexpeditionen ermöglichten nicht nur einen Ausbruch aus der europäischen Kultur in einen natürlichen Alternativraum. Der diskontinuierliche ‚Rest‘ des Entdeckungszeitalters im Erschließungsprozess eröffnete den Wissenschaftlern Handlungsmodelle und Sinnzuschreibungen für ihr eigenes Tun.
1. Die Erschließung der Vertikalen E RFORSCHUNGSGESCHICHTE T URKESTANS Die Entdeckung der Bergwelt Turkestans ist ein Phänomen der Verspätung. Wie Reuben Ellis anhand britischer und amerikanischer Alpinisten festgestellt hat, ist die Entdeckung der Berge prinzipiell ein Anachronismus: „Thus mountains increasingly came to embody a sense of ‚lateness‘, representing the last places left for Western explorers to discover and traffic. In modern mountaineering narratives we can read an almost nostalgic residue of explorations past.”8 Für deutsche Hochgebirgsforscher gilt diese allgemeine Aussage in einem ganz konkreten Sinn. Während britische und russische Expeditionen den Tian-Schan und den Pamir aus Gründen imperialer Machtpolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt vermaßen, begnügte sich die deutsche Wissenschaft bis in die 1880er-Jahre in erster Linie mit Beobachtung, Zusammenfassung und Reflexion. Das Buch „Die Pamir-Gebiete“ (1887) des Iranisten Wilhelm Geiger, das den Stand des bisher Erforschten in diesem Hochgebirgsland bilanzierte, galt alpinistischen Kreisen als Wegmarke des Erschließungsgrades.9 Als zusätzliche Expansionsdimension zum Horizont – und der Aufteilung von Räumen in der Ebene – kennzeichnete eine forcierte Erschließung der Bergwelt in der Vertikalen das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert.
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Singer 1900, 314-320. Markham 1893, 481-505. Hedin, Brennecke 2001, 25. Ellis 2001, 19-20. Schwab 1984, 474-486. Makdisi 1998, 1-22. Ellis 2001, 22. Geiger 1887. Rickmers 1908, 109.
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Abbildung 1: Pamir und Tian-Schan
erstellt von der Verfasserin. Bis in das 19. Jahrhundert stammten die Kenntnisse über das Innere Asiens meist noch aus Überlieferungen mittelalterlicher Reisender wie zum Beispiel den Berichten Marco Polos. Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte, als die nach Zentralasien expandierenden Imperien Russland und Großbritannien geografische und ethnologische Informationen brauchten, wurde Mittelasien für Expeditionen interessant. Wissenschaft und militärische Eroberung gingen Hand in Hand. Über den Tian-Schan hatten russische Geografen wie Petr P. Semenow oder Ivan V. Muschketow ab den 1850er-Jahren grundlegende Abhandlungen publiziert. Der russische Militärgeograf Nikolaj Michailovič Pržhevalsky führte im Zeitraum zwischen 1870 und 1885 fünf groß angelegte Expeditionen in den Tian-Schan durch. Die Pamirgegend wurde von Briten und Russen bereits seit den 1830er-Jahren bereist und erforscht. Eine Expedition des britischen Offiziers John Wood leitete die Erforschung der Quellgebiete des Amu-Darya ein. Von russischer Seite waren die Expeditionen des Geografen Alexei Pawlowitsch Fedtschenko in Mittelasien mit den siegreichen militärischen Kampagnen der 1860er-Jahre verschränkt. Fedtschenko hatte topografische Erstaufnahmen der Pamirgegend vorgenommen. Nach der russischen Besetzung des Khanats Kokand und militärischen Expeditionen in die nördlichen Gegenden des Pamir erforschte der Geologe Muschketow auch dieses Hochgebirgsland. Dabei suchte er einen natürlichen Grenzverlauf zwischen China und Russland. 1883 überschritt eine groß angelegte russische Expedition den Pamir und konnte dabei das Relief des Gebirges und die Flussverläufe klären. Von britischer Seite war 1874 eine englische Mission unter der Leitung von Sir Douglas Forsyth, Mitglied des Civil Service in Indien, nach Kaschgar, Ostturkestan, gestartet. Auch die indische Landvermessung erkundete den Pamir von der afghanischen Seite aus. 1895 trafen sich eine englische und eine russische Grenzkommission am Oberlauf des Flusses Amu-
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Darya. Sie bewirkte die Teilung der britischen und russischen Einflusszonen in Zentralasien.10 Erstaunlicherweise gilt heute keiner der britischen oder russischen Forscher als bedeutendster Erschließer Zentralasiens. Der Schwede Sven Hedin hat fast einen mythischen Status. Sieben, jeweils mehrjährige Expeditionen führten ihn zwischen 1885 und 1935 nach Persien, Mesopotamien, Turkestan, Tibet, in den Transhimalaja sowie nach Indien und China. Seine Rezeption in Deutschland lebte zwar von der generellen Faszination an Mittelasien, doch der 1865 geborene Hedin half seinem Ruhm auch selbst gehörig nach: Die Ergebnisse seiner Expeditionen publizierte er bei Brockhaus in Leipzig, dem ausgewiesenen Experten in Sachen Abenteuer- und Reiseliteratur. Zusammen mit dem Verleger Albert Brockhaus ‚produzierte‘ er durch geschickte Publikations- und Vermarktungsstrategien bereits zu Lebzeiten seine eigene Legende. Sein langfristiger Erfolg in Deutschland gründete sicher darauf, dass er einer der Ersten war, der eine Mischung aus Forschergeist und Wagemut öffentlichkeitswirksam zu inszenieren wusste, und das in einer Zeit, als die Erforschung Mittelasiens gerade erst begann und den Deutschen eigene ‚Helden‘ fehlten.11 Die deutschen Forscher nämlich reisten bis zur Hälfte des 19. Jahrhunderts häufig im Auftrag der Imperien. So entsandte 1829 die KaiserlichRussische Geographische Gesellschaft in St. Petersburg namhafte Wissenschaftler wie Alexander von Humboldt mit dem Auftrag, den Nordosten Zentralasiens und Sibiriens zu erforschen. Im Dienst der Britischen Ostindien-Kompanie führten zum Beispiel die Gebrüder Schlagintweit 1854 eine Zentralasien-Expedition durch, die auch die erste Forschungsreise unter deutscher Leitung in dieses Gebiet war. Mit den Gebrüdern Schlagintweit begann die eigentliche Hochgebirgsforschung in Zentralasien. Sie erkundeten die Pässe und Flussläufe des Himalaya. Zwischen 1868 und 1872 unternahm Ferdinand von Richthofen als geologischer Begleiter der preußischen Gesandtschaft im Fernen Osten sieben Forschungsreisen durch China und Zentralasien. Der Geograf hatte die Bezeichnung ‚Seidenstraße‘ geprägt und im Sprachgebrauch verankert.12 Das Gros der deutschen Expeditionen erreichte ab den 1890er-Jahren die Gipfel Zentralasiens. Im Gegensatz zu den russischen und britischen Forschungsreisenden fehlten ihnen eine geradlinige Verbindung zwischen Wissen und Macht sowie eine offensichtliche politische Motivation. Alpinistische Faszination, wissenschaftliche Fragen der Hochgebirgsforschung, aber auch ein Entdeckungsdiskurs, dem durch die Sprache und Praxis ein koloniales Weltbild eingeschrieben war, leiteten die deutsche Vermessung der Vertikalen.13
10 Merzbacher 1904, 1. Geiger 1887, 1-20. de Senarclens Grancy, Kosta 1978, 1-54. 11 Böhm 2003. 12 Schmitz 1989, 266-272. Dabbs 1963. Brower 1997, 115-137. Osterhammel 1987, 150-195. 13 Ellis 2001, 21-32. Hansen 1995, 314-318. Siegrist 1996, 107-115.
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A USLANDSALPINISMUS Die Entdeckung der Bergwelt Turkestans war eine Folge der ‚Erfindung‘ des Bergsteigens in Europa. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich ausgehend von Großbritannien im organisierten Alpinismus ein neuer Zugang zur Natur herausgebildet. Wie Peter Holger Hansen und Dagmar Günther gezeigt haben, wandelte sich die frühere Tradition, die Alpen als Inbegriff des Sublimen aus der Distanz zu bewundern, zugunsten des Wunsches, ihre Gipfel zu ersteigen, zu vermessen und zu erforschen.14 Für Großbritannien identifiziert Hansen den Alpinismus als Handlungsfeld der sich herausbildenden imperialmännlichen middle-class culture. Günther analysiert die Kulturgeschichte des organisierten Alpinismus im Zeitraum zwischen 1870 und 1930 als bürgerliche „Interpretationsgemeinschaft“. Sie zeichnet die Geschichte des Alpenvereins „zwischen der aufklärerisch-universalistisch begründeten und kulturkritisch zurückgenommenen ‚alpinistischen Sendung‘“ nach.15 In der Forschung zu alpinistischen Auslandsexpeditionen steht bisher vor allem die Verbindung von Heroismus, Sport und Nationalismus im Vordergrund, wobei diese Einschätzung auf die frühen Jahre des Auslandsbergsteigens kaum zutrifft.16 Zwei Phasen prägten die Annäherung des 1873 gegründeten Deutschen und Österreichischen Alpenvereins an die Weltberge: die früheren Forschungsreisen bis zum Ersten Weltkrieg und die größeren Expeditionen in der Zwischenkriegszeit. Der Deutsche und Österreichische Alpenverein finanzierte als erste Expedition in die außereuropäische Bergwelt bereits 1913 die Turkestan-Fahrt zur „Kette Peters des Großen“. Doch offiziell wurde der Auslandsalpinismus erst Mitte der 1920er-Jahre endgültig über einen Beschluss der Hauptversammlung im Budget des Vereins verankert. In die letzten Jahre der Zwischenkriegszeit und die Zeit des Nationalsozialismus fielen die groß angelegten, zentral organisierten Auslandsexpeditionen. Erst in dieser Zeitspanne löste eine Heroisierung und Militarisierung des Bergsteigens den hier vorgestellten spätromantischen Zugang ab. Wie Dagmar Günther gezeigt hat, bedeutete auch die nationale Funktionalisierung von Expeditionen „jedoch keinen deutschen Sonderweg“. Expeditionsbergsteigen wurde nicht nur im nationalsozialistischen Deutschland, sondern auch in Großbritannien und Italien als „nationale Bewährungsprobe“ überhöht. 17 In der ersten Zeitspanne institutionalisierte sich der Auslandsalpinismus allmählich als Hochgebirgsforschung und lotete dabei Querverbindungen zur Geografie aus, die zeitgleich ihre Methoden und universitäre Verankerung suchte.18 In dieser Zeit boten der Deutsche und Österreichische Alpenverein sowie seine Vereinspublikationen, die Zeitschrift und die Mittheilungen, der internationalen Hochgebirgsforschung ein Forum. Die Vereinszeitschriften zeigen, wie die wissenschaftliche und alpinistische Erschließung der außereu-
14 Hansen 1995, 300-324. Günther 1998, 35-76. Scharfe 2007, insbesondere 77-122. Grupp 2008, 67-78. 15 Günther 1998, 31. 16 Amstädter 1996. Bayers 2003. 17 Siegrist 1996, 25-34 und 70-72. Günther 1998, 101. Grupp 2008, 302-305. 18 Grupp 2008, 114-131.
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ropäischen Bergwelt in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg langsam Raum gewonnen haben. Während in den Jahren 1890 und 1891 zum Beispiel vereinzelte und äußerst knappe Nachrichten aus Afrika – „Der Kilima-Ndscharo-Anstieg des Herrn Ehlers“ – oder längere Reiseschilderungen aus Asien – wie Kurt Boecks „Himalaya-Wanderungen“ – inmitten der ausführlich geschilderten heimischen Alpenwelt durchaus exotisch wirkten, wurden die Weltberge innerhalb der nächsten zehn Jahre sehr präsent.19 Regionale Schwerpunkte der deutschen Faszination bildeten neben Mittel- und Südamerika die höchsten Gebirgszüge Asiens: der Kaukasus, der Hindukusch, der Himalaya und die Berge Turkestans – Pamir und Tian-Schan.20 Die Reisenden suchten förmlich das Unbekannte, das Unbetretene und die vermeintliche Leere. Fast jeder Artikel in den Publikationen des Alpenvereins begann mit der Feststellung, wie „unvollständig bekannt“21 die Hochgebirge Asiens seien. Die „unendlich erhabene, noch nie vorher betretene Gletscherwelt“22 lockte zu erstmaligen Erkundungen und zur Erforschung. Ausgedehnte Landschaftsschilderungen, ethnografische Beobachtungen sowie Beschreibungen der Gebirgswelt als geografischer Mikrokosmos begleiteten die Entdeckung des asiatischen Hochgebirges als Forschungsfeld.23 Vier Forschungsreisende stehen in diesem Abschnitt im Mittelpunkt: Gottfried Merzbacher, Willi Rickmer Rickmers, Arved von Schultz und Fritz Machatschek. Der Münchener Gottfried Merzbacher reiste in den Jahren 1892, 1902/1903 sowie 1907/1908 in den Tian-Schan. Auf der letzten Expedition in dieses Hochgebirgsland, das West- von Ostturkestan und somit das russische Imperium von China trennte, wurde er von Prinz Arnulf von Bayern begleitet.24 Der Bremer Willi Rickmer Rickmers erkundete in den vier Expeditionen der Jahre 1894, 1896, 1898 und 1906 vor allem das Gebirgsland Ostbuchara. Ständige Reisebegleiterin von Willi Rickmers war seine Ehefrau Mabel.25 Arved von Schultz besuchte sowohl den Pamir als auch die Ebenen Turkestans auf Forschungsreisen in den Jahren 1903, 1904, 1905, 1909 und 1911– 1912. Seine Expeditionen erschlossen einen sehr großen Radius: Das von ihm bereiste Gebiet reichte vom Kaspischen Meer, der Gegend um Merw im
19 Baumann 1890, 121-122. Zur Kilimandscharobesteigung durch Hans Meyer: Schröder 2005, 19-44. Boeck 1891, 417-456. 20 Zu Südamerika z. B.: Habd 1896, 36-61. Böse, Ordoñez 1901, 138-150. Hanthal 1904, 30-56. Reichert 1906, 152-161. Hoek 1905, 165-194,Hoek 1906, 162-190 , Hoek 1907, 121-140. Zum Kaukasus z. B.: Rickmers 1898, 182-189. Leuchner 1905, 131-133, 146-148. Zum Hindukusch z. B.: Pfannl 1904, 87-104. Zum Himalaya z. B.: Diener 1895, 269-314. Ferber 1905, 113-132. 21 Z. B. Diener 1895, 264. Auch: Rickmers 1900, 156. Pfannl 1904, 89. Ferber 1905, 113. 22 Boeck 1891, 416. 23 Boeck 1891, 417-456. 24 Merzbacher 1905. Merzbacher 1906, 121-151. Merzbacher 1908, 395-400. Merzbacher 1909, 278-288. BArch R 901/37676, Bl. 22. Dabbs 1963, 121-123, 137138. 25 Rickmers 1894, 290-305. Rickmers 1899, 596-620. Rickmers 1902, 150-169.
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heutigen Turkmenistan, über Buchara und Samarkand im heutigen Usbekistan bis hin zum Pamir.26 Der in Mähren geborene Geologe und Geograf Fritz Machatschek untersuchte 1911 den westlichen Teil des Tian-Schan und durchquerte 1914 die Wüsten und Steppen Turkestans.27 Durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs geriet Machatschek in russische Kriegsgefangenschaft, „aus der er durch Entscheidung der obersten Militärbehörden […] wieder entlassen wurde.“28 Problematisch war jedoch, dass das Militär seine Tagebücher und das gesammelte Material beschlagnahmt hatte, da Machatschek unter Spionageverdacht geraten war.29 Bis heute sind die Aufzeichnungen verschollen. Die Größe der jeweiligen Expeditionsgruppen war überschaubar. Fritz Machatschek und Arved von Schultz reisten entweder allein oder mit einer weiteren europäischen Person.30 Willi und Mabel Rickmers wurden, neben einer Karawane von einheimischen Reisegefährten, während ihrer Expedition im Jahr 1898 von dem Geologen und geübten Bergsteiger Albert von Krafft begleitet,31 1906 von dem Tiroler Bergführer Albert Lorenz und Cenci von Ficker.32 Der Kontakt zu ihrem Bruder Heinz von Ficker, Professor für Geophysik, kam Rickmers in der Folgezeit zugute, da von Ficker gut in die institutionalisierte Wissenschaft integriert war und hochrangige Positionen wie Lehrstühle in Graz und Berlin bekleidete. Dem Kontakt zu von Ficker hatte es Rickmers letztendlich auch zu verdanken, dass er 1928 zum Leiter der deutschen Abteilung der Alai-Pamir-Expedition bestellt wurde. Gottfried Merzbacher erkundete 1902/1903 mit dem Geologen Hans Keidel, dem Bergsteiger Hans Pfann sowie zwei Tiroler Bergführern den Tian-Schan.33 Zwischen Alpinismus, Geografischen Gesellschaften, Wissenschaftlichen Akademien sowie der jungen Erdkunde als universitärer Disziplin bestanden vielfache Verbindungen. Geografieprofessoren der ersten Stunde wie Albrecht Penck aus Wien publizierten in den alpinistischen Vereinszeitschriften. Eugen Oberhummer war nicht nur Vorsitzender des Zentralausschusses des Alpenvereins zwischen 1898 und 1900, sondern hatte auch die 1892 neu geschaffene außerordentliche Professur für Geografie an der Universität München inne.34
26 von Schultz 1920, 66. von Schultz 1910, 190-193, 261-265. 27 Machatschek 1921, V. 28 Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Kaiserliche Akademie der Wissenschaften Wien, Mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse, Akt Professor Dr. Fritz Machatschek, Zahl 68, ex. 1913, Präs. 13./VI. 13, Brief Fritz Machatschek an den Herrn General-Sekretär der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Anfang Dezember 1914, 1. 29 Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Allg. Akten Nr. 1187/1914 Anzeiger der math.-nat.-Klasse, 51 (1914) 27, 555-558. Machatschek 1915, 350. 30 Machatschek 1915, 351. von Schultz 1910, 190 ff. Von Schultz erwähnte keine Begleitpersonen. 31 Rickmers 1899, 596. Rickmers 1902, 169. 32 Rickmers 1908, 116. 33 Merzbacher 1904, 2-3. 34 Z. B. Penck 1898, 55-60. Penck 1900, 25-41.
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Die frühe Hochgebirgsforschung war offen für den Austausch zwischen geografischer Wissenschaft und Auslandsalpinismus. Einerseits fanden begabte Autodidakten aus dem Umfeld des Alpenvereins Zugang zur Hochgebirgsforschung. Der Münchener Kürschner und Pelzhändler Gottfried Merzbacher und Willi Rickmers waren als Privatgelehrte Mitglieder verschiedener geografischer Vereinigungen. Merzbacher war zweiter Vorsitzender der Geographischen Gesellschaft München, und Willi Rickmers wurde 1935 mit der Goldmedaille der Royal Geographical Society ausgezeichnet. Für ihre Leistungen erhielten sie ohne abgeschlossenes Studium akademische Würden. Gottfried Merzbacher wurde 1901 zum Ehrendoktor der Universität München ernannt; Rickmers erhielt 1930 den gleichen Grad von der Universität Innsbruck.35 Dass Gottfried Merzbacher 1907 den Professorentitel für seine Arbeiten erlangte, zeigt, welche große Rolle ‚Entdeckung‘ und ‚Erst-Erschließung‘ im Rahmen geografischer Forschung spielten.36 Während Rickmers und Merzbacher Wege vom Alpinismus in die sich professionalisierende Erdkunde fanden, funktionierte dieser Austausch auch in die umgekehrte Richtung. Studierte Fachgeografen wie Arved von Schultz und Fritz Machatschek betrieben auf ihren Expeditionen praktische Hochgebirgsforschung.37 Machatschek, der ein Schüler Albrecht Pencks gewesen war, und von Schultz, der sich als Privatdozent am Geografischen Institut in Hamburg etabliert hatte, gehörten nicht zum unmittelbaren Umfeld des Alpenvereins. Sie hatten ihre Forschungsreisen in den Tian-Schan und Pamir unternommen, um ihre landeskundlichen Studien über Turkestan zu vervollständigen, indem sie diese vermeintlich letzten ‚weißen Flecken‘ von der Karte tilgten.38 E RKUNDUNG , B EOBACHTUNG
UND
R AUMBESCHREIBUNG
Die frühen Hochgebirgsexpeditionen hatten den Charakter wissenschaftlicher Erkundungsreisen.39 Finanziert wurden sie entweder aus dem Privatvermögen der Beteiligten40, durch Unterstützung der Wissenschaftlichen Akademien, Geografischen Gesellschaften oder durch Beihilfen von Institutionen, die sich mit der außereuropäischen Welt befassten, wie zum Beispiel Völkerkundemuseen.41 Neben wissenschaftlichen Spezialaufgaben, unter anderem der geologischen Untersuchung gangbarer Wege, konnten – laut Carl Diener – jeweils „Einblicke in die eigentliche Hochgebirgsszenerie“ gewonnen werden.42 35 Rickmers 1930b, 530. 36 Kommission für Glaziologie der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 2006. Distel 1926, 85-91. 37 Wiberg 1958, 123-125. Fochler-Hauke 1958, 1-5. 38 Machatschek 1921, V. Zur Länderkunde als geografischer Disziplin: Wardenga 1995. 39 Auch am Titel der Reiseschilderungen ersichtlich wie bei: Ferber 1905, 113-132. 40 Merzbacher und Rickmers finanzierten ihre Expeditionen zum großen Teil aus dem Privatvermögen, vgl. Archiv DAV, 04.1961.0968. 41 Machatschek 1921, V. Auch: Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Sitzungsprotokolle der mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse, B. 1897 Protokoll vom 19. Juni 1913, B. 1898 Protokoll vom 26. Juni 1913. von Schultz 1914. 42 Diener 1895, 267.
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Die wachsende Bedeutung von Forschungsreisen in das Hochgebirge muss vor dem Hintergrund geografischer Fachdiskussionen gesehen werden. Das erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts geschaffene Hochschulfach Geografie versuchte sich durch eine empirische Arbeitsweise, durch spezifische Erkenntnisziele und damit verbundene Methoden als Naturwissenschaft zu etablieren. Heftige Diskussionen entbrannten über das Verhältnis der ‚Literaturgeografie‘, die ihre Einsichten vor allem aus dem Studium der bereits publizierten Bücher gewann, und der ‚Beobachtungsgeografie‘, deren Grundlage eine persönliche Forschungsreise in das Arbeitsgebiet war. Reformen wurden auch für den Teilbereich der Länderkunde angedacht, der sich mit der Darstellung einzelner Staaten oder zusammenhängender Räume befasst und dabei versucht, den spezifischen Charakter des beschriebenen Landstrichs zu erfassen. Die Maxime kristallisierte sich heraus, dass nur noch derjenige über einen bestimmten Ausschnitt der Erde berichten solle, der ihn selbst bereist hatte und der in der Kunst des wissenschaftlichen Beobachtens geübt sei.43 Die Suche nach wissenschaftlichen Methoden der Beobachtung gewann an Bedeutung. Beobachten galt nicht mehr als automatische Funktion des Menschen, sondern als Kunst, die der exakten Schulung und bewussten Fragestellung bedürfe. Handbuchartige Anweisungen, wie Georg Neumayers zweibändige und über 1500 Seiten mächtige „Anleitung zur wissenschaftlichen Beobachtung auf Reisen“ (1875) und Ferdinand von Richthofens „Führer für Forschungsreisende“ (1886) sollten den Betrachtungen eine Struktur geben. Diese Leitfäden dienten auch als Hilfsmittel für die Reform der Länderkunde. Sie schufen nicht nur Raster zur wissenschaftlichen Aufbereitung der vor Ort gewonnenen Informationen, sondern erfassten auch die kulturell verschiedensten Räume nach einheitlich standardisierten Mustern. Das Literaturstudium blieb trotz der steigenden Bedeutung von Empirie wichtiger Bestandteil der Hochgebirgsforschung.44 Berichte über Hochgebirgsexpeditionen und ihre Beobachtungen erschienen nicht nur in den Publikationen des Alpenvereins, sondern auch in den Schriften der Geografischen Gesellschaften, in Petermanns Geographischen Mitteilungen und im britischen Geographical Journal.45 Diese allgemein verständlichen Reisebeschreibungen galten als wissenschaftliche Texte, und Expeditionsberichte bildeten als Ergebnissammlungen sogar die Basis für Fachaufsätze. Reiseschilderungen dienten als Belege empirischer Beobachtung innerhalb der wissenschaftlichen Spezialliteratur.46 Für Fritz Machatschek, der 1914 in Alfred Hettners Geographischer Zeitschrift einen Überblick über die „physiogeographische Entwickelung [sic!] Zentral-Asiens in der Quartärperiode“ gab, lieferten Expeditionsberichte wichtige Hinweise zur Analyse der Erdgeschichte. Auch eine hierarchische Unterscheidung zwi43 Wardenga 2005, 120-144. Penck 1906. Die Debatten über Literatur- und Beobachtungsgeografie auf den Fachkongressen der Geografen wurden häufig in polemisch zugespitzter Form geführt und in den Fachzeitschriften reflektiert. Passarge 1907, 369-370. Der XVI. Deutsche Geographentag in Nürnberg, 1907, 349-353. Penck 1908, 76-79. 44 Vierkandt 1908, 79-82. Neumayer 1875. Ellis 2001, 28-41. Wardenga 2005, 124126. 45 Zum Beispiel: Rickmers 1907a, 429-440. Merzbacher 1904, 190-193, 261-265. 46 Z. B. Geiger 1887, 20-182. von Richthofen 1877, 57-65.
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schen der fachwissenschaftlichen Spezialliteratur und den Reiseberichten trat in den Hintergrund. Bei Machatschek finden sich Verweise auf Artikel von Forschungsreisenden, die der Zeitschrift des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins entnommen waren, neben Hinweisen auf hoch spezialisierte Abhandlungen aus der Zeitschrift für Gletscherkunde. Die Referenzen im Text waren nicht nur zwischen Reiseschilderungen und fachwissenschaftlichen Publikationen durchlässig. Trotz aller Rivalitäten im Hochimperialismus blieben die Belegstellen international. So zitierten zum Beispiel deutsche Publikationen die Ergebnisse russischer, britischer und amerikanischer Expeditionen.47 Sowohl Vertreter der sich professionalisierenden Geografie als auch die autodidaktischen Alpinisten verarbeiteten ihre eigenen Beobachtungen zu umfassenden Raumbeschreibungen. Fritz Machatschek und Arved von Schultz reflektierten theoretische Debatten und methodische Zugänge zur Länderkunde anhand ihrer Darstellung Turkestans. Diese eher akademischtrocken gehaltenen Verarbeitungsformen des Reiseerlebnisses ergänzten die groß angelegten Synthesen der forschenden Autodidakten. Hier lässt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen akademischem Habitus und autodidaktischer Beschreibung feststellen: In Machatscheks und von Schultz’ Versuchen der Objektivierung verschwand die eigene Erfahrung hinter der beschriebenen Landschaft. Bei Merzbacher und Rickmers blieb das reisende Subjekt präsent. So legte Willi Rickmers als Ergebnis seiner Turkestan-Expeditionen eine landeskundliche Studie vor unter dem Titel „The Duab of Turkestan“. Aufgrund seiner guten Kontakte zur Royal Geographical Society und zu britischen Forscherkreisen erschien das Buch in der renommierten Cambridge University Press in englischer Sprache.48 Das Bedeutende an Rickmers’ Raumkonzeption, die das Gebiet zwischen den beiden Flüssen Amu-D arya und Sir- Darya als geografische Einheit definierte, lässt sich sowohl dem Untertitel „A Physiographic Sketch and Account of Some Travels“ als auch zeitgenössischen Rezensionen entnehmen. Rickmers beschreibe nicht nur die „Physiogeographie Turkestans“, sondern vermittle auch ein „Gefühl der […] Atmosphäre“.49 Rickmers’ Buch galt auch als originelle Mischung zwischen geografischem Ordnungsversuch und der Beschreibung einer Landschaftsstimmung. Darüber hinaus sah der amerikanische Geologe Ellsworth Huntington, selbst Zentralasienspezialist und Teilnehmer der amerikanischen Pumpelly-Expedition50, im Buch „The Duab of Turkestan“ ein Produkt des Übergangs und der Brüche: „The volume is an interesting example of the present stage of geographical development. The author is not a geographer by profession; he is an excellent traveler with a keen interest in the things which he sees and with a strong desire to explain them. […] The result is a book which stands midway between the mere accounts of travel which were called geography in the past, and the 47 Machatschek 1914, 368-383. 48 Rickmers 1913. 49 Diese Rezension befindet sich, ohne Angabe von Titel und Verfasser, eingeheftet im Exemplar des „Duab of Turkestan“, das sich in der Bibliothek des Alpinen Museums in München befindet (Kopie der Rezension im Besitz der Verfasserin). 50 Dazu Kapitel II, Anmerkung 28.
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thorough treatment of geographical regions by specialists which will form the geography of the future.“ Huntington beschrieb Rickmers Ansatz unter anderem als „physiographic philosophizing“.51 Abbildung 2: Der Duab von Turkestan und die Lage des Duabs innerhalb Zentralasiens
Quelle: Rickmers 1913, 2.
2. Das ‚Wesen‘ von Raum: länderkundliche Ordnungsversuche Rickmers’ Konzept des „Duab of Turkestan“ war ein philosophisch inspirierter Ordnungsversuch, der wiederum im Kontext zeitgenössischer geografischer Bestrebungen gesehen werden muss. An seiner Raumbeschreibung wird darüber hinaus die Gebrochenheit der Kategorie ‚Raum‘ sowie das Fortwirken romantischer Formen von Subjekt- und Welterfahrung im Diskurs der Erschließung ersichtlich. An Rickmers’ Entwurf sind mehrere Dinge wichtig: Erstens reflektierte er zwei Möglichkeiten der Raumkonstruktion, entweder durch subjektive Empfindungen und kollektive Vorstellungen oder durch (geografische und politische) Begrenzung einer exakten Raumordnung. Zweitens lieferte er dadurch einen Beitrag zur zeitgenössischen Debatte, in der es um die Definitionsmöglichkeiten von Landschaften ging. Rickmers deutete die Pamirregion zwischen Amu-Darya und Syr-Darya als spezifische Stimmung einerseits, als Mustersammlung, Labor und Forschungsraum andererseits: „‚The Duab‘ as applied to Turkestan is an innovation which I have chosen for practical reasons […]. What is known as ‚Turkestan‘ is an atmosphere, there is no better word for it, but I also wanted a locality […]. My idea was to have a compact laboratory or natural park of definite shape but intensely saturated with an atmosphere extending far beyond the border and gradually losing its intensity as it merges into other climes.“52
51 Huntington 1913, 534-535. 52 Rickmers 1913, 1. Rickmers gebrauchte den Terminus ‚Duab‘ auch in seinen Artikeln, z. B.: Rickmers 1907, 3-22. Rickmers 1908, 109-130. Für das deutsche Publi-
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Rickmers’ Konzept des „turanischen Zweistromlandes“ – für diese Übersetzung hatte er sich in den 1920er-Jahren entschieden – lässt sich nicht nur als ein weiterer Raumbegriff verstehen, auch nicht in seiner zweiten, gebrochenen Bedeutungsebene als romantischer Entwurf eines geschlossenen Mikrokosmos. Rickmers reflektierte nichts Geringeres als die geografische Grundsatzfrage, wodurch Räume geformt werden und wie sie sich in der Erdkunde definieren ließen. L ANDSCHAFTSTYPEN Da, wie Ute Wardenga herausgearbeitet hat, der vielfach beschriebene Globalisierungsschub um 1900 die Geografie wesentlich prägte, bedeutete Länderkunde eine Suche nach globaler Ordnung: „Die Möglichkeit, die gesamte Erde in den Rahmen einer durchkomponierten Darstellung zu bringen und dabei gleichzeitig die Individualität von einzelnen Erdräumen zu betonen, schien […] in greifbare Nähe gerückt.“53 Auch wenn in der Landeskunde individuelle Landschaften wie Turkestan im Fokus standen, ging es um ihre Beziehung zum Erdganzen. Die Suche nach wissenschaftlicher Vergleichbarkeit stand im Zentrum. Sie sollte mittels einer Standardisierung von Raumbeschreibungen durch ein einheitliches Methodengerüst sowie durch eine Einteilung der Erde in Großräume, Landschaften und Landschaftstypen erreicht werden.54 Nach Arved von Schultz „bildet grade [sic!] Turkestan durch die außerordentliche Eigenart seiner Landesnatur und Kultur der Bewohner ein dankbares Feld für landschaftskundliche Forschung“ und methodische Diskussionen. Obwohl erst 1920 erschienen, fasste das Vorwort „Landeskunde und Landschaftskunde“ der Abhandlung „Die natürlichen Landschaften von Russisch-Turkestan“ die geografische Debatte der Vor- und Weltkriegszeit zusammen.55 Auf der Suche nach geografischer Eindeutigkeit erhielt ‚Landschaft‘ als „möglichst natürliche Einheit“ die analytische Schärfe einer idealtypischen Untersuchungskategorie: „Größere Gruppen natürlicher Landschaften lassen sich zu Landschaftstypen vereinigen, z. B. Wüsten, Steppen, […] auch die Hochgebirge.“ Diese „allgemeinen natürlichen Landschaften“ galten als Hilfsmittel der Landeskunde. Eine Unterscheidung zwischen schematisierter Typenlandschaft und den „tatsächlichen Verhältnissen“ des Landes, der natürlichen Landschaft, galt als Voraussetzung für eine standardisierte Beschreibung von Räumen. Dabei waren zwei Gliederungssysteme zu berücksichtigen: die physisch-geografische Einteilung (Entstehung und Beschaffenheit der Erdoberfläche, Klima, Bodenkunde, Pflanzen- und Tiergeografie) und die anthropogeografische Anordnung (u. a. ethnografische Gliederung, Siedlungskunde, Wirtschaftsgeografie, Verkehrsgeografie). Die Wechselwirkungen der Beziehung zwischen Mensch und Natur mussten zusätzlich bekum als überarbeitete Zusammenfassung in seinem Expeditionsbericht von 1928: Rickmers 1930a, 258-288. 53 Wardenga 2005, 121. 54 Rickmers 1913, 4 und Rickmers 1930a, 265, 279-280. Diener 1895, 264. Wardenga 2005, 128-135. Wardenga 1995, 113-146. Böge 1997. 55 von Schultz 1920, 1.
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dacht werden.56 Diese Systematik strukturierte den Aufbau der publizierten landeskundlichen Bücher. Arved von Schultz legte nach diesem Muster seine Landeskunde an. Auch Fritz Machatscheks Landeskunde schilderte in einem „Allgemeinen Teil“ zuerst die geologische Entwicklungsgeschichte des Landes, das Klima und den Wasserhaushalt, das Pflanzen- und das Tierleben und zuletzt die Besiedelung und politische Gestaltung sowie die wirtschaftlichen Verhältnisse. In einem „speziellen Teil“ standen die einzelnen Landschaftsformen im Mittelpunkt.57 Ziel der landeskundlichen Beschreibung war es, im natürlichen Raum Entsprechungen der Typenlandschaft zu finden, „eine oder mehrere Großlandschaften“ zu erkennen, „die sich der Typenlandschaft der allgemeinen Landschaftskunde nähern. Die Großlandschaften zerfallen in eine Reihe von Landschaftsgruppen, d. h. Landschaften, in denen die wichtigsten Erscheinungen, Orografie, Klima, Pflanzendecke, Kultur übereinstimmen“. Arved von Schultz identifizierte in Turkestan mit diesem System zwei Großlandschaften: arides Hochland und arides Tiefland. Als übergeordnete Typenlandschaft galt der für Ost- und Westturkestan bereits 1905 im Geographical Journal aufgestellte und auch von Rickmers rezipierte „turanische Typus“. Von Schultz untergliederte das Land weiter in zehn Landschaftsgruppen und ordnete ihnen jeweils Kleinlandschaften zu. Zum Beispiel zählten die Hochebenen des zentralen Tian-Schans und des östlichen Pamirs zu den „extrem ariden Hochwüstenlandschaften“. 58 G EOGRAFISCHE B EGRIFFE Neben Landschaftstypen suchte die Geografie nach Raumbegriffen, um eine globale Ordnung zu stiften. Dagegen reflektierten jedoch einige, wie Rickmers im „Duab of Turkestan“, gerade die Mehrdeutigkeit räumlicher Vorstellungen und ihren Stellenwert als eurozentrische Konstruktionen: „European science and politics with their statistics and classifications have produced an abundance of terms of definite international value. The origin of the name of a large district is still very often traceable to a small place or to local usage. Turkestan was only a town before it became one of the greatest expressions in modern history and geography.“59 Rickmers eröffnete seine landeskundliche Studie „The Duab of Turkestan“ mit einer bizarr wirkenden Aufzählung von Landschaftsnamen, die sich in diesem Raumausschnitt überlagerten. Er nannte „Turkestan, Western, Russian, Chinese, or Eastern Turkestan, Central Middle or Inner Asia, Turan, Iran, Transcaspia, Transoxania, Bokhara, Kashgaria, Tarim, Aralocaspia, etc.“ als mögliche Namen für ein- und dasselbe Gebiet.60 In der Vielzahl, Unschärfe und Widersprüchlichkeit der Begriffe wurde eine eindeutige Ordnung zum Phantom. Denn über die Frage, wie „Westturkestan als Ganzes“ oder als „geographische Einheit“ definiert werden konnte, herrschte kein 56 von Schultz 1920, VI-VIII. 57 Machatschek 1921, Inhaltsverzeichnis. 58 von Schultz 1920, VIII-IX, 1 und 56-65, wörtliche Zitate: VIII-IX. Herbertson 1906, 309. 59 Rickmers 1913, 2-4. 60 Rickmers 1913, 1.
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Konsens. Obwohl standardisierte Beschreibungsmuster intendiert waren, hatten die methodischen Diskussionen über die landeskundliche Raumbestimmung eine Ansammlung widersprüchlicher Ansätze zur Folge, die die begriffliche Klassifikation bersten ließen. Turkestan war in erster Linie eine politisch gebrauchte Landesbezeichnung, so wie Asien insgesamt ein europäischer Begriffsentwurf war. Landschaftsnamen beinhalten häufig eine bestimmte Sicht auf das Land, wie zum Beispiel der Name Transkaspien, der „eine Blickrichtung vom Westen über das Kaspische Meer nach Turkmenistan“ in einen Terminus fasste. Alexander Petzholdt hatte 1877 in einem Reisebericht das aus der Ethnografie entlehnte Wort ‚Turkestan‘, das übersetzt ‚Land der Türken‘ bedeutete und zur russischen Verwaltungsvokabel geworden war, erstmals im geografischen Sinn als „Turkestanisches Becken“ gebraucht. Die Landschaftsgliederung Asiens erfolgte üblicherweise nach orografischen, die Höhenstrukturen betreffenden, oder klimatischen Gesichtspunkten. 61 Seit Alexander von Humboldts Werk „Central-Asien“ war dieser Ausdruck Bestandteil des geografischen und politischen Sprachgebrauchs. Ferdinand von Richthofen hatte den Begriff durch eine Einteilung des asiatischen Kontinents nach geologischen Gesichtspunkten geschärft. Er traf eine Unterscheidung zwischen zentralen und peripherischen Gebieten sowie einer Übergangszone. Kriterium waren das geologische Alter der Landschaftsformen und die Entwässerung in Richtung von Meeren oder großen Binnenseen. Mit zentralen Gebieten beschrieb von Richthofen diejenigen Bereiche im Inneren des Kontinents, deren Gewässer keinen Abfluss zu Meeren oder großen Binnenseen haben. Als peripherische Gebiete definierte er diejenigen Landschaften, die über Flüsse verfügten, die zu Meeren oder Seen führten. Die Übergangszone vereinigte Charakteristika beider Landschaftsformen und umfasste auch Regionen, in denen sich in der jüngsten Erdgeschichte abflusslose Gebiete in abfließende verwandelt haben und umgekehrt. Von Richthofens Zentralasienbegriff hatte sich im Großen und Ganzen in der deutschen Geografie durchgesetzt. Wie Rickmers’ Zitat deutlich machte, gab es jedoch zusätzlich noch eine Fülle alternativer Landschaftsnamen mit jeweils unterschiedlicher geografischer Intention. Gebräuchlich waren außerdem die Bezeichnungen Mittel-, Inner- oder Hochasien.62 Unter welchem Großraumbegriff Turkestan gefasst werden konnte, blieb unklar. Turkestan, „seit alters als turanische Niederung bezeichnet“, lag am Rand von Zentralasien, wie Fritz Machatschek feststellte: „Indem wir also den Begriff Zentralasien auf das von Richthofen in großen Linien begrenzte Naturgebiet von höchster Eigenart beschränken, erscheinen uns die Turanische Senke und ihre Randgebirge als ein Glied der hier besonders breit entwickelten Übergangszone zwischen den zentralen und peripherischen Gebie-
61 Die Orografie ist ein Spezialgebiet der Geografie und befasst sich mit den Höhenstrukturen auf der Erdoberfläche, vor allem mit der Anordnung von Gebirgen und der Fließrichtung von Gewässern. 62 Machatschek 1921, 3-7. Geiger 1887, 20-43. Osterhammel 1998, 42. Stadelbauer 2003, 58-63. Petzholdt 1877. von Richthofen 1877, 3-12. Zu Ferdinand von Richthofen: Osterhammel 1987, 150-195. von Humboldt 1844. Machatschek 1921, 3.
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ten, in dem die für jene typischen Erscheinungen in abgeschwächtem Maße wiederkehren, aber auch als ein Teil der großen Trockenzone Asiens.“63 In der bis heute anhaltenden Diskussion um Raumbegriffe für Asien lassen sich zwei Sachverhalte festhalten: Turkestan wurde häufig mit dem altertümlichen Namen ‚Turan‘ assoziiert, der aus der religiösen Schrift des Parsismus, dem iranischen Awesta, hergeleitet war. Der schwer zu beschreibende Raum Turkestan wurde als eine hybride und Mobilität fördernde Region konzipiert, als geografische Übergangszone und kulturhistorisches Durchzugsland.64
3. Imaginative Geografien Landschaft war nicht nur eine Analysekategorie der Erdkunde, wie Willi Rickmers feststellte. Bei „Landschaften handelt es sich […] zumeist, ja, um ein Gefühl, eine Stimmung, ähnlich wie beim Morgenlande (Orient), das sich heute überhaupt nicht mehr festlegen lässt, weil es ein schillerndes Wort geworden ist.“65 Rickmers thematisierte dadurch eine alternative Annäherung an die Erde in Form einer emotionalen und imaginativen Geografie, die sich unter der Oberfläche des typologischen Blicks befand. Auch Arved von Schultz bediente sich zur Illustration des Terminus technicus „turanischer Typus“ der Veranschaulichung: „Unübersehbare, tote Sandmeere, in denen selten eine Tamariske gedeiht, endlose spärlich bewachsene Gras- und Krautsteppen, geheimnisvolle Oasen, umgeben von reichen Baumwollpflanzungen, alte Städte, Hochburgen islamitischer Kultur, voller historischer Erinnerungen […]. Und unter dem das halbe Jahr lang wolkenlosen Himmel des Tieflandes heben sich am Horizont die gewaltigen, eisgepanzerten Berge des Tian-Schan und Hindukusch empor und weisen den Weg zum sagenumwobenen ‚Dach der Welt‘, dem Pamir.“66 In der Bedeutungsebene von Welt-Räumen als Assoziationsfelder fanden weitere Brechungen ihren Niederschlag. Die Verräumlichung imaginativer Geografien teilte Turkestan in ‚Orient‘, ‚Wildnis‘ und ‚weiße Flecken‘ ein. Diese bestimmten die Wahrnehmung und Erforschung sowie die narrative, politische und wirtschaftliche Erschließung des Raumes. Als Zugang zu diesen räumlichen Vorstellungswelten bietet sich das Konzept der mental maps an.67 Im Kontext der Kulturgeschichte bezeichnen mental maps „jene ‚Karten im Kopf‘, die oft unreflektiert, aufgrund selektiver Aufnahmefähigkeit, sowohl individuelle als auch kollektive Raumvorstellungen“ bestimmen.68 Mental maps verweisen auf die kommunikative Verfasstheit von Raum und gelten als Ausdruck bestimmter historischer Normen- und Wertesysteme, die zwar räumliche Orientierungsmuster bereitstellen, aber immer in Abhängig63 Machatschek 1921, 4-5. 64 Geiger 1887, 22. von Schultz 1910, 191. 65 Rickmers 1930a, 260. Zur romantischen Landschaftsbeobachtung auch: Arnold 2006, 74-109. Arnold 2005, 137-155. 66 von Schultz 1920, 1-2. 67 Conrad 2002, 339-342. Schenk 2002, 493-514. Hartmann 2005, 3-21. DamirGeilsdorf, Hendrich 2005, 25-48. Langenohl 2005, 51-69. 68 Definition aus: Schröder, Höhler 2005, 23.
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keit von der jeweiligen Betrachterposition gesehen werden müssen. In der historischen Debatte um kognitive Karten stehen bislang politische Großräume wie der Süden, der Norden oder der Balkan im Zentrum. Naturräume liegen eher am Rand der Diskussion. In der bisherigen Forschungsdebatte ist auch die zeitliche Komponente von Raumkonzepten vernachlässigt worden, die jedoch einen wesentlichen Bestandteil der mental maps ‚Orient‘, ‚Wildnis‘ und ‚weiße Flecken‘ ausmacht.69 O RIENT Nicht erst die Wissenschaft in der Tradition Edward Saids bemerkte den großen Stellenwert des Orients innerhalb der europäischen imaginativen Geografie.70 Bereits die deutsche Erdkunde der Jahrhundertwende stellte sich die Frage: „Was ist der Orient“?71 Bruchstücke, die dem heutigen Leser aus Saids Orientalismuskritik bekannt vorkommen, tauchten in den zeitgenössischen Überlegungen auf. Obwohl deutsche Geografen den Orient als politischen Raum und Bestandteil der physischen Erdoberfläche verstanden, reflektierten sie bereits um 1900 seinen Charakter als Assoziationslandschaft und Produkt der europäischen Imagination. Zwar beschrieben die Geografen mit ‚Orient‘ meistens die islamischen Länder, doch als Raum ohne feste Grenzen entzog sich das Gebiet einer klaren natur- und geowissenschaftlichen Definition. Es herrschte darüber hinaus Einigkeit, dass es sich beim Orient in erster Linie um eine emotionale Kategorie handelte. Rickmers entwarf den Orient, wie bereits im Zitat über die romantische Seite des Landschaftsbegriffs angeklungen ist, als „Stimmung“ und „Gefühl“. Das „Wesen“ des Orients, wie auch Fritz Machatschek ausführte, müsse „mehr empfunden werden“, als dass es definiert werden kann. Auch der aufgrund seiner rassistischen Gesinnung heute äußerst umstrittene Geograf Ewald Banse betrachtete die Inhalte und Bilder, die in Deutschland mit dem Orient verbunden wurden, als Feld von kulturell geschulten Assoziationen. Die geografische und semantische Unschärfe des Begriffes ‚Orient‘ bedingte zum großen Teil seine faszinierende Wirkung.72 Diese Mehrdeutigkeit brachte verschiedene Funktionalitäten des Raumes mit sich: Er war kulturwissenschaftlicher Forschungs- sowie ein Erfahrungsraum, in dessen Zentrum Annahmen des Versunkenen oder Verborgenen standen.73 Als verräumlichte Zeit und archäologischer Forschungsraum galt Orient als Landschaft der europäischen Ursprünge und dabei gleichzeitig als das (durch Raum, Zeit und Kultur) Entfernte. Des Konstruktionscharakters waren sich bereits die Zeitgenossen bewusst. So versuchte, neben Ewald Banse,74 zum Beispiel der Iranist Georg Hüsing den Orient durch charakteris69 Hartmann, 9. Schröder, Höhler 2005, 24. Schenk 2002, 497-503. Zur Verbindung von Raum und Zeit beziehungsweise von Verräumlichung und Verzeitlichung von Weltbildern im 19. und 20. Jahrhundert: Frank 2008, 99-111. 70 Said 1978, 49-72. Coronil 2002, 177-186. 71 Hüsing 1917, 40-45. Die Frage taucht auch explizit auf bei: Banse 1910b, 2. 72 Hüsing 1917, 41-42. Machatschek 1921, 6-7. Banse 1910b, 1-4. Wardenga 2005, 139-140. Polaschegg 2005, 63-101. 73 Rickmers 1913, 91-140. Dazu ausführlicher: Kapitel II und Kapitel III. 74 Banse 1910a, 3-6.
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tische Gegenstände zu veranschaulichen und somit auf den imaginativen Charakter des Wissens vom Orient hinzuweisen: „Um dieses Gefühl [des Orients, F. T.] zu schärferem Bewußtsein zu bringen, habe ich immer zu folgendem Mittel gegriffen: Man denke sich vor die Aufgabe gestellt, etwa einen Bucheinband zu entwerfen, für ein Buch, das etwa den Titel führt ‚Bilder aus dem Orient‘ […] Die Erfahrung hat gelehrt, dass wir in erster Reihe eine Kuppel und ein Minarett mit dem Halbmonde in unserer Vorstellung auftauchen sehen.“75 Hüsing schien sich eines geschulten ‚Zeichensystems‘ bewusst zu sein, das den Orient als Entität in der kollektiven Fantasie repräsentiert. Als Raumzuschreibung betraf ‚Orient‘ in erster Linie die menschliche Lebenswelt. In Turkestan bezog sich ‚Orient‘ speziell auf die Städte der Ebene, auf Samarkand und Buchara sowie die Dörfer und Siedlungen in den Tälern der Berge. Die Bergdörfer galten teilweise auch als Zwischenraum zwischen ‚Orient‘ und ‚Wildnis‘. Für die deutschen Hochgebirgsexpeditionen der Jahrhundertwende war der Orient Turkestans ein romantischer Ort. In bukolischen Idyllen schien der Entwicklungsstand einer in einfachen Hütten lebenden Dorfgemeinschaft vor dem Zeitalter der arbeitsteiligen Industriegesellschaft konserviert worden zu sein.76 Als Forschungsraum galten im Orient speziell die Bergtäler als diejenigen Orte, die Reste ‚ursprünglicher‘ Kultur und Sprache aufbewahrt hatten. Der Orient Turkestans war zwar ein Gegenpol Europas, ausgeprägter war jedoch seine Erscheinungsform als vergangenes Ursprungsland in den verschiedenen Topografien der Vorgeschichte, der Erinnerungslandschaft und des (kollektiven) Unterbewussten Europas.77 Das Oszillieren zwischen vergangenem Ursprung des Eigenen und gegenwärtigem Anderen erschwerte eine klare Trennung zwischen Orient und Okzident.78 Rickmers verwies auf eine historische Verflechtung beider Räume: „Ich möchte sagen, daß wir Abendländer ein ererbtes, unbeschreibliches Morgenlandsgefühl haben, denn durch die Geschichte, durch Völkerwanderungen, Hunnen, Türken, durch Bibel, Judentum und Christentum, durch die Kreuzzüge und das maurische Spanien sind wir tausendfaserig mit dem Morgenlande verwachsen. Steppenasien ist durch und durch morgenländisch, denn überall ruft es uralte, halbbewusste Erinnerungen wach.“79 Er erkannte ein historisches, psychologisches und in der Erinnerung festgeschriebenes Entanglement zwischen Orient und Okzident. Diese „tausendfaserige“ Verflechtung erschwerte dichotome Zuschreibungen, da die Vereinnahmung des turkestanischen Morgenlandes als eigene verräumlichte Geschichte auch die Perspektiven der Forscher auf die Gegenwart bestimmte.
75 Hüsing 1917, 42. 76 Rickmers 1908, 121-122. Archiv DAV, 04.1961.1681, 7-9. Günther 1998, 61-69. Hackl 2004. 77 Tomaschek, 3-14. 78 Said 1978, 58. 79 Rickmers 1930a, 262. Auch: Banse 1910b, 1-2.
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Turkestan-Expeditionen
W ILDNIS ‚Wildnis‘ bezog sich auf eine jenseits der menschlichen Geschichte und Gesellschaft verortete Natur.80 Für den (post-)kolonialen Traum von der Wildnis sind folgende Bedeutungsebenen zentral: die Kategorien des Erhabenen, der frontier und der Unberührtheit.81 Wildnis beinhaltete die Vorstellung von „wide open spaces and virgin land with no trails, no signs, no facilities, no maps“.82 Sie wurde nach William Cronon als Ort außerhalb der menschlichen Zeit und als Rückzugsraum aus derjenigen Zivilisation verstanden, deren Produkt sie im Grunde ist. Sie ist die Verräumlichung eines vagen jenseits von und doch ein Raum konkreter Ursprünglichkeit: „Seen as the frontier, it is a savage world at the dawn of civilization.“83 Während der ‚langen Jahrhundertwende‘ waren deutsche Bergsteiger und Geografen der (post-)kolonialen Wildnis mit ihren oben geschilderten Eigenschaften verfallen. Berge galten im alpinistischen Diskurs als eines der letzten Mysterien – als „geheimnisvolle Welt“84, als „abgeschlossen, dem Weltverkehr völlig entrückt“85, als „Ehrfurcht erzwingend“86 sowie „von unvergleichlicher Großartigkeit“.87 Diese Semantik des Erhabenen und Sublimen war mit der Idee des unerschlossenen Raumes vermischt. Dabei kann keine klare Trennlinie zwischen Wildnis als ursprünglichem Naturraum und dem unbekannten Gebiet gezogen werden. Vorstellungen vom Neuland und von der frontier prägten die mental maps der Wildnis und der ‚weißen Flecken‘ gleichermaßen. Als frontier erlaubte Wildnis eine Pionierexistenz der Forschenden und prägte Werte des Individualismus, des Heroismus sowie Möglichkeiten von Regeneration und Selbsterfahrung. Wie beim Orient lagen die Funktionalitäten der Wildnis auf verschiedenen Ebenen: Sie war geowissenschaftlicher Forschungsraum, ein zu erschließendes Neuland sowie ein Schauplatz abenteuerlicher Erfahrungen. Wildnis war als emotional-kognitive Kategorie in sich selbst gebrochen zwischen paradiesischer Natur und gefährlichem Außenraum.88 Während der Orient vor allem Gegenstand theoretischer Debatten in der Geografie war, war Wildnis vielmehr Bestandteil eines Spielens mit ‚Entdeckung‘ innerhalb des Forschungsmarketings. Reiseberichte, die an ein breiteres Publikum verkauft wurden, waren eine Einnahmequelle für Wissenschaftler, und aus den Erlösen konnten neue Expeditionen finanziert werden.89 Die Stellung der ‚Wildnis‘ als unzivilisierter und meist gefährlicher Gegenpol diente als Signalwort und Verkaufsargument von Abenteuergeschichten. Diese heroische, auf Authentizität zielende, aber auch romantische Anziehungs80 81 82 83 84 85 86 87 88
Z. B. Boeck 1891, 439. Diener 1895, 300, 306. Pfannl 1904, 89. Schama 1995, 74. Dazu auch: Waechter 1996. Stolberg 2005. Frank 2003, 1658-1676. Cronon 1996, 20. Cronon 1996, 16. Merzbacher 1909, 128. Merzbacher 1909, 131. Boeck 1891, 426. Diener 1895, 284. Cronon 1996, 13-23. Woźniakowski 1987. Häufig wurde Wildnis auch als Tropenlandschaft beschrieben: z. B. Boeck 1891, 417. 89 Phillips 1997, 1-21.
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Entdeckung Turkestans
kraft blieb bis in die 1930er-Jahre bestehen. Werbemaßnahmen wie das „Brockhaus-Jahrbuch der Freunde des Verlages“ begründeten ‚Entdeckung‘ mit einer globalen Geografie unberührter Fluchträume. Reiseberichte aus unerschlossenen Räumen weckten – laut Jahrbuch – „die träumerische, […] von keinem rauhen Zielbewußtsein gestörte Jugendschwärmerei“. Diese Projektionen fanden wiederum in bestimmten Landschaftstypen einen Ort – wie im Gebirge. Berge seien „die natürlichen Hüter des Sonderbaren und damit die lockendsten Fundstätten des Entdeckers. Als ausgeprägte Erdgestaltungen wurden sie zu Erzeugern und Bewahrern eigenartiger Pflanzen, Tiere und Menschen.“90 Der Status, Wildnis zu sein, konnte im Untersuchungszeitraum doch auch anderen Landschaftsformen Turkestans zugeschrieben werden. Neben den Bergen und Gletschern zählten dazu auch die Wüsten, die Steppen, Vegetationslandschaften und Flüsse wie der Zarafschan, dessen Wasser als Grundlage der Kultur in der trockenen Steppenlandschaft galt.91 Zwei Ebenen waren für die Aneignung der Bergwelt Turkestans als Wildnis prägend: Der geowissenschaftliche Forschungsraum ‚Hochgebirge‘ galt als prähistorische Eis- und Gesteinslandschaft. In sie einzutreten bedeutete, die Grenze in einen Zeit-Raum vor der Ankunft der Menschheit zu überschreiten, wie Willi Rickmers ausführte: „Das Betreten des Gletschers brachte uns in eine merkwürdige Welt. Wir verschwanden in einem Gebirge riesiger Kegel aus Moränenschutt, die meist von größeren Blocknestern gekrönt sind.“92 Die Beschreibung der geologischen Formationen sowie fotografische Aufnahmen erlaubten wissenschaftlich verwertbare Einblicke in die Werkstatt von „Mutter Natur“.93 Durch den klimatisch bedingten Mangel an Vegetation zeigten sich „durch nichts verkleidet Schichtenbau, die Reste alter Terrassen, die Vorgänge der Verwitterung“.94 Indem diese geologische „Schausammlung“ eine Übersicht über Erdzeitalter ermöglichte, konnten Geologen aus den Ablagerungen und Sedimenten den Verlauf der Erdgeschichte im untersuchten Gebiet rekonstruieren.95 Als innere romantische Erlebniskategorie verhieß die Wildnis Turkestans Gefühle der Freiheit, des ungezwungenen Lebens und ermöglichte durch die Reise eine Rückkehr zu den mit ihr – auch im Marketing – verknüpften Kindheitserfahrungen.96 In der typologischen Bedeutung von Landschaften stellte Wildnis eine natürliche Gegenwelt zur gegenwärtigen Kultur und einen Rückzugsraum zur Verfügung, der von der Gesellschaft Europas selbst geschaffen worden ist.97
90 91 92 93 94 95 96 97
Archiv DAV, 04.1961.1549. Rickmers 1913, 44-45. Archiv DAV, 04.1961.1681, 11. Rickmers 1908, 113-117. Rickmers 1908, 125. Archiv DAV, 04.1961.1681, 13. Rickmers 1907, 500. Archiv DAV, 04.1961.1093, Eintrag vom 2. August 1906. Rickmers, Willi: Die Berge des Duab, 115. Rickmers 1902, 154-155. Rickmers 1908, 115-123. Rickmers 1907b, 16-17. Machatschek 1915, 353. wörtliches Zitat: Rickmers 1908, 122. Archiv DAV, 04.1961.1681, 7-8. Cronon 1996, 16. Rickmers 1913, 44-45. Archiv DAV, 04.1961.1681, 9 und 14.
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Turkestan-Expeditionen
‚W EISSE F LECKEN ‘ Die Faszination des letzten ‚weißen Flecks‘ prägte nicht nur die Attraktion Turkestans, sondern darüber hinaus das Selbstverständnis von Forschungsexpeditionen. Mit dem Ende des großen Unbekannten begann eine neue Ära dessen niemals vollständig verschwindender Reste.98 Sie verdichteten den Übergang zwischen den zwei Zeitaltern von Entdeckung und Erschließung. ‚Weiße Flecken‘ hatten somit eine räumliche und eine zeitliche Dimension. Für ihre tiefgreifende Verankerung im europäischen Selbstverständnis spricht die Tatsache, dass trotz einer forcierten Expeditionstätigkeit immer wieder neue unbekannte Gebiete entdeckt wurden. Zwar wurden die ausgewählten Zielregionen erforscht, doch die ‚weißen Flecken‘ als Metapher lebten fort. Nicht nur auf den Karten, den eigentlichen Medien geografischer Vorstellungkraft, sondern auch in den Texten der Jahrhundertwende waren die ‚weißen Flecken‘ präsent. Die ständige Rede von ‚weißen Flecken‘ hatte sogar in die Verwaltungssprache Eingang gefunden. In der Korrespondenz zu Expeditionen, die sich heute in den Archiven befindet, existiert diese Geografie der Leere als zeitgenössischer Eindruck eines vermeintlich fragmentarisch bekannten Erdballs.99 Auch in den Jahrhundertbilanzen von Zeitschriften und in Reiseberichten wurde diskutiert, wie unvollständig das Wissen von der Erde sei. Sowohl das Geographical Journal als auch der Globus beschäftigten sich zur vorletzten Jahrhundertwende mit der Frage „Welche Erdgebiete sind am Schlusse des 19. Jahrhunderts noch unbekannt?“ 100 beziehungsweise mit dem „Present Standpoint of Geography“.101 Diese Artikel vermitteln einen Eindruck vom geografischen Weltbild um 1900. Ihm lag nicht nur das Zentrumund Peripheriemodell eines aktiv-ausgreifenden europäischen Mittelpunkts zugrunde, der sich die außereuropäische Welt verfügbar machte. Der schwedische Expeditionsreisende Sven Hedin fasste in Bezug auf Mittelasien zudem das Gefühl zusammen, an einer Epochenscheide zu stehen: „In der Geschichte geografischer Entdeckungen gehen wir einer neuen Epoche entgegen, in der die Pioniere ihre Rolle bald ausgespielt haben und in der die weiße Flecke [sic!] auf den Karten der Kontinente zusammenschrumpfen werden […] dort werden die Entdeckungsreisenden des neuen Jahrhunderts eindringen und das überall auf der Erdoberfläche rastlos pulsierende Leben in seinen Einzelheiten untersuchen. Beständig werden sie neue Lücken finden, die auszufüllen, unzählige Probleme, die zu lösen sind. […] Besonders das innerste Asiens ist lange vernachlässigt worden.“102 Die Kartierung der vermeintlichen Leere wurde bisher in der (postkolonialen) Forschungsliteratur berechtigterweise als europäische Machtausübung und Verweigerung der Gleichzeitigkeit thematisiert, da die Bewohner des 98 Dazu sowie zum Folgenden grundlegend: Ellis 2001, 17-51. 99 Z. B. BArch R 1501/115966, Bl. 265. Kgl. Sächsisches Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten an die Kaiserliche Gesandtschaft in Peking, Dresden, 3. August, 1913. PA AA, R 64587, Deutsche Gesandtschaft Stockholm, Nr. C 173 an das Auswärtige Amt, Stockholm 18. März 1925, 1. 100 Singer 1900, 314-320. 101 Markham 1893, 481-505. 102 Hedin, Brennecke 2001, 25. Auch Singer 1900, 319-320.
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Entdeckung Turkestans
‚weißen Fleckes‘ jenseits der Koordinaten der modernen Welt verortet wurden. Diese Kritik gibt dem ‚weißen Fleck‘ auf der Landkarte die Geschichte einer Praxis, die nicht nur das Unbekannte im europäischen Wissenshaushalt darstellt, sondern aktiv einheimisches soziales und geohistorisches Wissen auslöscht, um eine neue (koloniale) Ordnung in diesen Räumen zu errichten.103 Die ‚weißen Flecken‘ erfüllten darüber hinaus auch vielfältige Funktionen für die Reisenden und ihre Heimat. Wissenschaft und koloniale Kultur bedurften der ‚weißen Flecken‘ als Forschungs- und Fluchträume aus der Zivilisation. Sie wurden, zum Beispiel in Werbebroschüren zu Reiseberichten, als „Inseln des Nichts“ in einem rundum erschlossenen Erdball beschrieben.104 In ihrer einfachsten Gestalt dienten sie, wie die Bergwelt Turkestans, als kartografisch zu vermessender Raum.105 Als Metapher der Wissenschaft bezeichneten sie Lücken im Wissen, die auch in den Kulturwissenschaften, der Sprachwissenschaft und der Archäologie auszumachen waren. Der Münchener Iranist Wilhelm Geiger definierte zum Beispiel den Forschungsstand der Pamirdialekte als ‚weißen Fleck‘ im sprachwissenschaftlichen Wissen.106 Verstanden als (wissenschaftliches) Neuland im konkreten räumlichen oder in einem übertragenen Sinn, bargen sie das Potenzial neuer Erkenntnisse und Einsichten. Zusätzlich bündelten sie in der imperialistischen Ära von 1890 bis 1930 nicht nur Erschließung und Entdeckung, sondern auch damit verbundene Haltungen wie Fortschrittsoptimismus und Nostalgie sowie die europäische Deutungshoheit über den Globus und die damit einhergehende Marginalisierung alternativer Weltbilder.107 ‚Weiße Flecken‘ forderten die europäische Forschung, Politik und Wirtschaft geradezu zu ihrer Erkundung auf. Reuben Ellis hat die in sich selbst ungleichzeitigen ‚weißen Flecken‘ mit dem Begriff einer globalen frontier verglichen: „[A] view of closing world frontiers“108, die die Gesellschaft des Hochimperialismus prägte, fand ihm zufolge in den ‚weißen Flecken‘ ihren Ort. Nicht nur die Umrisse des geografischen Wissens waren in der Welt der Jahrhundertwende etabliert, sondern auch die letzten Mysterien geklärt, die teilweise in die Antike zurückreichten. Die Quellen des Nils und des Nigers waren lokalisiert, die Sahara und das Innere Australiens waren durchquert und der Weg durch die Nordwest-Passage gefunden.109 Diese geografische ‚Entzauberung‘ des Globus floss in die Faszination an den letzten ‚weißen Flecken‘ ein.
103 104 105 106 107 108 109
Ryan 1994, 115-130. Archiv DAV, 04.1961.1638, 1. So z. B. Merzbacher 1906, 129. Zur kartografischen Repräsentation des Unbekannten als weißer Fleck oder Möglichkeitsraum: Schneider 2004, 100. Geiger 1882, 175-176. Auch: I/EM, 1162, Asien, Turfan (diverses), 1907/2193, Film Nr. 261, Brief Albert Grünwedel, Kutscha, 21. 5. 1906, 2. Singer 1900, 313 ff. Markham 1893, 481. Ellis 2001, 22. Ellis 2001, 20.
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Turkestan-Expeditionen
4. Zeitreisen: Gebirgsländer als letzter ‚weißer Fleck‘ A USLANDSALPINISMUS
UND
K ULTURKRITIK
Hochgebirgsexpeditionen waren mit der Hoffnung verbunden, „die verlorene Zeit an anderen Orten wiederzufinden, d. h. zu den Pioniertagen des Alpinismus zurückzukehren, alpinistisches und wissenschaftliches Neuland zu betreten“.110 Die Suche nach Fluchträumen aus der Gegenwart wurde in der europäischen Zeitsemantik als doppelte Rückkehr beschrieben. Hochgebirgsexpeditionen im unerschlossenen Gebirgsland wurden als Zeitreisen in ein früheres Alter menschlicher Entwicklung erlebt, das dem bereisten Raum beigemessen wurde. In Bezug auf die Identität der Reisenden eröffneten Expeditionen in den unerschlossenen Gebirgsraum eine Rückkehr zu romantischen Erfahrungsmöglichkeiten und Selbstentwürfen. Die Orientierungsfolien dafür boten der Diskurs und die Praxis von ‚Entdeckung‘.111 Wie Dagmar Günther gezeigt hat, besaß der Alpinismus im deutschsprachigen Raum eine stark zivilisationskritische Dimension. Bis zur Wende des 20. Jahrhunderts hatten die Sektionen des Alpenvereins den Fluchtraum ‚Berg‘ innerhalb Europas jedoch nicht nur wissenschaftlich erforscht, sondern aktiv durch den Bau von Hütten und Wegen erschlossen. Kritik an dieser Übererschließung übten im Verein engagierte Extrembergsteiger und Wissenschaftler. Alternativen zum Bergsteigen und -wandern auf den beaten tracks der West- und Ostalpen bot die Suche nach neuen Herausforderungen im Schwierigkeits- und Auslandsalpinismus.112 Die kultur- und zivilisationsskeptischen Ressentiments schrieben sich in frühen Hochgebirgsexpeditionen fest. Obwohl Bergsteigen im städtischen Bürgertum verankert war, sah Gottfried Merzbacher in den Weltbergen ein Gegengewicht zur urbanen Kultur der Jahrhundertwende: „Der Alpinismus ist als eine Reaktion gegen das moderne Großstadtleben, gegen die von der Natur hinwegführenden Daseinsbedingungen der Städtebewohner aufzufassen; er findet seine Wurzeln tief in den physischen und seelischen Bedürfnissen unserer Existenz. Vor nicht langer Zeit erst in den europäischen Alpen geboren, ist er rasch groß und zu einem Kulturelement, zu einem unentbehrlichen Faktor menschlicher Lebensbetätigung und Geisteskultur geworden, da er einen Ausgleich zwischen überfeinerter Kultur und Hinneigung zur Natur herbeiführte.“113 Das Argument der außereuropäischen Berge als Erholungsort nahm auch Mabel Rickmers in spezifischer Weise auf. Expeditionen innerhalb des Emirats Buchara beschrieb sie in der Diskussion zum Vortrag ihres Mannes „as a kind of rest cure for the nerve exhaustion induced by Western civilization“.114 Ihre Diagnose korrespondierte mit medizinischen und literarischen Annahmen, dass das europäische Großstadtleben zu Zivilisationskrankheiten wie Nervenschwächen führe. Die neue Überempfindsamkeit ging mit dem Terminus ‚Romantik der Nerven‘ des österreichischen Schriftstellers Hermann 110 111 112 113 114
Günther 1998, 101. Rickmers, Mabel 1914, 53. Spode 1995, 105-123. Günther 1998, 88-104, 161-186. Merzbacher 1906, 121. Rickmers 1907, 499.
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Entdeckung Turkestans
Bahr in die Literaturkritik ein. Im Gegensatz zur „romantischen Emphatik von Gefühl und Geist“ stand hier die „psychophysische Reizempfindlichkeit“ im Sinne einer verfeinerten Erregbarkeit im Vordergrund. Neurasthenie galt als Krankheitsbild der geistig arbeitenden Stadtbevölkerung. Die organische Funktionsstörung öffnete dabei ein Feld zivilisationskritischer Befunde. Für die Nervosität und ‚Abstumpfung‘ des Stadtmenschen wurden das alltägliche Lebenstempo, die Reizüberflutung und die Arbeitsverhältnisse in der europäischen Gegenwart verantwortlich gemacht. Aus den Zeitdiagnosen der alpinistischen Literatur sprach nach Dagmar Günther ebenfalls eine „Soziosomatik der Nervenkrankheiten“. 115 ‚Entdeckungsreisen‘ verhießen eine Rückkehr in eine „noch durch keine Kultur entweihte, jungfräuliche Natur“. Aufbruch und Rückzug, die an anderen Stellen des Globus und den heimischen Alpen nicht mehr machbar waren, waren im Pamir und Tian-Schan noch möglich: „die ergreifende Macht des Eindrucks landschaftlicher Schönheit wird hier noch nicht herabgestimmt durch das Dazwischentreten von der Zeitkrankheit Angekränkelter, welche von Genußsucht, Übersättigung, Nachahmungstrieb oder Eitelkeit in die Berge getrieben werden.“116 E NTSCHLEUNIGUNG
UND
Z EITVERTREIB
Mabel Rickmers schätzte am Reisen im Gebirgsland Ostbuchara vor allem das andere Lebenstempo und eine in Europa bereits aus der Mode gekommene Art zu Reisen, die sich als ‚Entschleunigung‘ bemerkbar machte:117 „Open-air travel suggests another consideration. The leisurely march on horseback enables the traveller to see and take in the details of the country through which he is passing. Western methods of travel, in proportion as they have gained in speed, have lost in interest. The traveller borne through space at the rate of 60 miles an hour, sees but half the landscape through which he travels, and, as often as not, passes through the fairest regions at night.“118 Mabel Rickmers betrachtete Zugreisen als Verschränkung einer passiven Raum- und Zeitwahrnehmung. Die Eisenbahn gehorchte den Gesetzmäßigkeiten einer durch Fahrpläne standardisierten, mechanischen Zeit des Fortschritts, die einen uniform wirkenden Raum durchmaß, wobei nur dessen Ausschnitte aus dem Zugfenster sichtbar waren.119 Mabel Rickmers erlebte die westliche Art zu reisen als Normierung von Blickrichtungen und von Bewegungen sowie als Beschränkung der individuellen Wahlmöglichkeiten und der Selbstbestimmung. Dieses kulturkritische Argument stellte die moderne Reiseform den Expeditionen im Gebirgsland gegenüber. Letztere liefen in einem selbst bestimmten und langsamen Reisetempo in einer Pferdekarawane oder als Wanderung zu Fuß ab. Als unmittelbare Reise ermöglichten sie 115 116 117 118 119
Günther 1998, 170-173. Dazu auch: Radkau 1994, 211-241. Radkau 2000. Merzbacher 1906, 126-127. Archiv DAV, 04.1961.1093, Travel Diaries Turkestan 1906 (handschriftlich), Eintrag vom 30. Juli 1906. Das Zitat stammt aus einer weiteren Diskussion zum Vortrag ihres Mannes: Rickmers 1899, 617. Bauerkämper 2004, 34. Schivelbusch 2002, 39-44. Gräf, Pröve 1997, 244-251. Dohrn-van Rossum 1995. Buzard 1993, 34.
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Turkestan-Expeditionen
eine bessere Präsenz im Raum und eine sinnliche Wahrnehmung des Reiselands.120 Die Reduktion von Geschwindigkeit, bedingt durch den mangelnden Erschließungsgrad, beschrieb Mabel Rickmers als zeitliche und emotionale Entfernung vom europäischen Raum und von der europäischen Gegenwart: „[…] Darwas and Karategin can only be scaled on foot or on horseback. Travel in these regions transports us back to the Middle Ages, before the era of roads, when our forefathers journeyed thus, and took weeks to traverse country which the railway covers in a few hours. […] We [...] leisurely prepare for the journey; there is no train to catch, and we have the whole day before us.“121 Im Gegensatz zur Idee des ‚weißen Flecks‘ war der tatsächlich auf Reisen angetroffene unerschlossene Raum nicht immer ein Raum ohne Infrastruktur und erst recht nicht ‚leer‘. Im noch nominell von Russland unabhängigen Emirat Buchara begleitete ein Offizier des Emirs, dessen offizieller Titel Karaul Begi lautete, die Expedition als Führer. Er sorgte als „lebender Empfehlungsbrief“ für eine freundliche Aufnahme der Expedition in den Dörfern, die auf dem Weg lagen. Als Übernachtungsmöglichkeiten dienten die Privathäuser der einheimischen Bevölkerung beziehungsweise deren Gärten, wobei der Karaul Begi für die Unterbringung und Verpflegung der Expedition sorgte.122 Dabei waren sich die Expeditionsreisenden, wie Willi Rickmers in einem Artikel in der Zeitschrift des Alpenvereins äußerte, durchaus ihrer Abhängigkeit von dem offiziellen Wohlwollen und dem Einfluss der bucharischen Regierung auf die Bevölkerung bewusst: „Dort steht eine lange Tafel mit weißer Decke und auf ihr sind einige Dutzend von Tellern, in jedem irgend eine Leckerei […]. Nach der Mahlzeit ist’s im Hofe oder Garten gut sein zum Rauchen und Plaudern. […] ohne Karaul Begi wären wir armselige Schlucker, die in schmutzigen Karawanserais übernachten müssen. […] Trotzdem ich wußte, daß fast alles nur äußerlich und gemacht ist, muß ich doch sagen, daß das Gefühl der Dankbarkeit sich nicht unterdrücken ließ, denn immer ist die Form vollendet. Die Zuvorkommenheit ist so gefällig, die Herzlichkeit so ruhig und einfach, daß man sie für bare Münze nehmen möchte.“123 Gregor Makandaroff, ein Georgier, begleitete Rickmers’ Expeditionen seit 1894 als Dolmetscher. Zu ihm bauten Mabel und Willi Rickmers im Laufe der Jahre eine Beziehung auf, vielleicht sogar eine Freundschaft. 124 Diese Pferde- und Karawanenreisen oder Wanderungen ermöglichten Freiräume und als Freiheit empfundene Möglichkeiten, Zeit neu zu erfahren und zu verbringen.125 Forschungsreisen im Gebirge Turkestans beschrieb Mabel Rickmers trotz wissenschaftlicher Aufgaben in erster Linie als Zeitvertreib. Diese Wertung ist dabei an die Kontrastfolie der europäischen Gegenwart mit spezifischen Vorstellungen von Zeit, Zeiteinteilung sowie nützlich und gewinnbringend verbrachter Zeit gebunden. Aus ihren handschriftlichen und unpublizierten 120 121 122 123 124 125
Rickmers 1908, 116. Merzbacher 1906, 144. Rickmers, Mabel 1914, 53. Archiv DAV, 04.1961.1682, 13-14. Rickmers 1899, 596. Rickmers 1902, 163. Rickmers 1894, 290-305. Zur Kategorie einer morgenländischen Zeiterfahrung: Archiv DAV, 04.1961.1093, Eintrag vom 30. Juli.
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Entdeckung Turkestans
Reisetagebüchern lässt sich rekonstruieren, was mit Zeitvertreib im ostbucharischen Gebirgsland gemeint war: die Beobachtung von Land und Leuten, gutes Essen, eine Siesta am Nachmittag, Besuche bei einheimischen Würdenträgern, Kontakte mit der einheimischen Bevölkerung, Bergsteigen und geologische Untersuchungen. Trotz aller Freiheiten lag den Reisetagen ein Ablauf zugrunde, den Mabel Rickmers in einem Artikel sogar als „typisch“ beschrieb. Im Zentrum der Expeditionstage standen ein gewisser Hedonismus und eine versuchte Rückkehr zur Natur und Natürlichkeit. Das Bedeutende an den Reisetagen war, dass sie selbst gestaltet waren und von morgens bis abends einem natürlichen Ablauf, aber nicht der europäischen Zeit der Uhren und Pläne folgten. Zeitvertreib im Sinn von Zeit, die selbst bestimmt und mit selbst gewählten Aktivitäten gefüllt werden konnte, ging nicht mit Zeitverschwendung einher. In Verbindung mit dem langsamen Reisetempo war Zeitvertreib die Grundlage der wissenschaftlichen Arbeit, der persönlichen Erfahrung sowie der Erkundung des Forschungsraums.126 DISKONTINUITÄTEN Willi Rickmers und Gottfried Merzbacher erfassten die sie umgebende Natur in erster Linie durch Beobachtung. Mary Louise Pratt hat diesen Typus des Reisenden als „seeing-man“ bezeichnet. Pratt versteht diese Figur der Aufklärungszeit als Vertreter europäischer Hegemonie in der vermeintlich unschuldigen Gestalt des Beobachters. Pratts Interpretation von Reiseberichten beruht auf der Betonung von eindimensionalen Machtbeziehungen und der Annahme von in sich gefestigter europäischer Selbstsicherheit. Machtbeziehungen bildeten zwar einen genuinen Bestandteil der Interaktion zwischen Expeditionen einerseits, dem bereisten Land und seinen Bewohnern andererseits, häufig auch in der subtileren Form einer epistemologischen Gewalt. Die Analyse kann jedoch auch auf ein europäisches Unwohlsein an der eigenen Gegenwart verlagert werden, wobei Figuren aus früheren Entdeckungszeitaltern als Rollenmodelle der Forscher dienten.127 Sowohl für Willi Rickmers als auch für Gottfried Merzbacher schufen die geologischen Beobachtungstouren Rückzugsräume. Nicht so sehr die Tatsache, dass sie auf ihren Wegen durch das Gebirge in eine prähistorische Wildnis, in einen unvermessenen Raum und in eine frühere Zeit der Erdgeschichte zurückzukehren glaubten, bedeutete einen Ausbruch aus der europäischen Gegenwart. Vielmehr ermöglichte ihre Art, Raum durch Wandern, Sehen und Beobachten in Besitz zu nehmen, Zeitreisen zu einer früheren Aktionsform von Forschungsreisen.128 Gottfried Merzbachers Reise in den zentralen Tian-Schan (1902/1903) lässt sich nicht nur als wissenschaftliche Expedition, sondern auch als romantische Suche nach dem Irrationalen, das ein spezifischer Berg – der KhanTengri – verkörperte, verstehen: „Man könnte daher mit einem gewissen Rechte den Verlauf der Expedition als die Jagd nach einem verzauberten 126 127 128
Archiv DAV, 04.1961.1093, Eintrag vom 30. Juli und 04.1961.0339, Eintrag Wed. 6th July. Rickmers, Mabel 1914, 52-57. Pratt 1992, 7. Spivak 1988, 271-313. Archiv DAV, 04.1961.1681, 7. Z. B. Merzbacher 1905, 15-16, 26. Rickmers 1902, 150-169.
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Berg bezeichnen.“129 Diese Formulierung erinnert sehr an die frühere Zeit romantischer Exploration, in welcher die Suche nach geografischen Mysterien wie den Quellen des Nils oder des Nigers die Aufmerksamkeit von Wissenschaft und Öffentlichkeit gefesselt hatte.130 Gottfried Merzbachers Rückkehr zu einer rätselhaften und sich menschlicher Aneignung entziehenden eigenständigen Natur wird als diskontinuierliche Wiederholung einer bereits historisierten Form der Entdeckungsreise analysierbar. Die Suche nach diesem Berg, die sich über die zwei Jahre der Expedition hinziehen sollte, war das Zentrum, die Leitlinie und der Spannungsbogen von Merzbachers Reiseerzählung.131 Auf der wissenschaftlichen Agenda von Gottfried Merzbachers Forschungsreise (1902/1903) stand, die bislang wenig besuchten und bekannten Gletscher des Tian-Schan zu erkunden, geologisch zu untersuchen sowie eine paläontologische Sammlung anzulegen. Dass es sich beim Tian-Schan um einen ‚weißen Fleck‘ handelte, machte allein der von Merzbacher konstatierte Mangel an zuverlässigen Karten deutlich. Daraus ergab sich nicht nur als weitere Forschungsaufgabe, kartografische Vermessungen durchzuführen. Aus der Diskrepanz zwischen – bisheriger – kartografischer Repräsentation und tatsächlich auf der Reise vorgefundenem Gelände definierte Gottfried Merzbacher ein konkretes Ziel. Wie er auf einer Vor-Ort-Inspektion des Hochgebirges feststellte, sollte die Expedition die Lage des Berges KhanTengri genau lokalisieren, der auf Karten fälschlicherweise als Schnittpunkt von Gebirgsketten dargestellt worden war: „Somit hatte dieser Ausflug zum Ergebnis, daß wir noch weiter in der schon früher entstandenen Ansicht bestärkt wurden, die Karten seien sämtlich in diesem Kardinalpunkte unrichtig. Nun galt es, die wirkliche Lage des Khan-Tengri festzustellen.“ Bereits auf den ersten Seiten seiner Reiseberichte beschrieb Merzbacher die pyramidenförmige Gestalt des Khan-Tengri als nicht erreichbaren und im Raum oszillierenden Bestandteil des Gebirgspanoramas.132 Die anziehende Wirkung des Berges schilderte Gottfried Merzbacher in einer Sprache, die jenen als „Herrscher“, beziehungsweise in Übersetzung des mongolischen Namens „Khan-Tengri“ als „Herr des Himmels“ heroisierte. Gleichzeitig belegte er den Berg mit feminisierenden Topoi, die häufig als Zuschreibungen von (orientalischer) Irrationalität gebraucht wurden, wie zum Beispiel in Bezug auf die nicht in Worte zu fassende Schönheit und emotionale Wirkung des Berges auf den Betrachter. Merzbachers Geschichte einer Suche erhebt den Berg deshalb nur am Rande zu einem Gegner, den es alpinistisch zu überwältigen und zu ‚besiegen‘ galt.133 Als faszinierender Gegenspieler und anachronistisches Mysterium, das zwar in der kartografischen Repräsentation existierte, jedoch an einem falschen Ort, konnte der Berg ‚entdeckt‘ werden.134
129 130 131 132 133 134
Merzbacher 1906, 135-136. Zur Suche nach den Quellen von Nil und Niger: Adams, MacShane 1992, 11-13. Honold 2005, 148-154. Merzbacher 1906, 136. Die Zitate ebendort. Merzbacher 1904, 1-7, wörtliches Zitat, 7. Merzbacher 1906, 124-135. Merzbacher 1906, 124-136. Merzbacher 1905, 26-27.
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Entdeckung Turkestans
Wie eine Fata Morgana war der Khan-Tengri aufgrund seiner Höhe und Gestalt zwar von sämtlichen Richtungen, in welche die Erkundungsgänge führten, gut sichtbar, doch „sobald man aber der Erscheinung folgt, stößt man auf Enttäuschungen“. Die Natur selbst hielt Gottfried Merzbacher und seine Expedition vom Ziel ab: „Aus vielen anderen Tälern erblickt man den Berg […]. Es ist aber, da hohe, völlig in Eis gepanzerte und nur an wenigen Stellen überschreitbare Ketten ihn umlagern, nicht möglich, sich ihm auf direktem Weg zu nähern.“ Der nicht greifbare Berg evozierte widersprüchliche Gefühlsregungen wie Entmutigung einerseits sowie Entschlossenheit und Selbstbeherrschung andererseits. Dass vor allem Letztere siegten, führte Merzbacher auf die Mühen zurück, welche bereits im ersten Expeditionsjahr in die Suche nach dem Berg investiert worden waren. Sogar die Tatsache, dass die genaue geografische Position im Verlauf der Reise auf trigonometrischem Weg ermittelt werden konnte, schuf für das Problem der praktischen Unerreichbarkeit keine Abhilfe.135 So umkreiste die Expedition den Khan-Tengri von verschiedenen Tälern aus: „Schon nahte mein zweiter Sommer im Tian-Schan seinem Ende und über diesem Hauptproblem lag noch immer der Schleier des Rätselhaften.“136 Die mit Spannung erwartete Ankunft am Berg und das sich stückchenweise offenbarende Geheimnis stellten den erfolgreichen End- und Höhepunkt der Expedition dar: „Da begann sich plötzlich etwas Weißes hinter der schwarzen Kante hervorzuschieben, noch nichts Bedeutendes; aber mit jedem Schritte, den wir vorwärts machten, nahm das Weiße größere Dimensionen, gewaltigere Formen an. Eine sonnenbeglänzte Firnspitze erschien hoch oben; kolossale weiße Marmorflanken schoben sich heraus. Noch einige Schritte weiter und eine ungeheure Pyramide war frei geworden, bald auch ihre Basis. Der Riesenberg […] zeigte sich nun zu meinen entzückten Blicken in seiner ganzen nackten Größe.“ Merzbachers Suche nach dem Khan-Tengri kippte, sobald das Rätsel gelöst war, von einer distanzierten Verzauberung in Aneignung um. Denn genau im Moment der ‚Entdeckung‘ des Berges wurde der romantische Diskurs von Aktionen wie fotografischen Aufnahmen und Plänen zur künftigen alpinistischen Ersteigung abgelöst. Die Funktion des ‚weißen Flecks‘ als historischer Zeitraum, der genau diesen Übergang zu bündeln vermochte, wird an Reiseschilderungen wie Gottfried Merzbachers Suche nach dem Khan-Tengri fassbar. 137 Neben der Geografie war die Archäologie die zweite Schlüsseldisziplin in der Erforschung Turkestans. Geografische Entdeckung hatte ihren historischen Ort in der mental map der ‚weißen Flecken‘. Archäologische Forschung bewegte sich innerhalb der mentalen Karte des Orients. Während geografische Expeditionen in erster Linie die Kategorie ‚Raum‘ zum Forschungsgegenstand hatten, zielten archäologische Expeditionen auf eine Untersuchung vergangener Zeiten. Zeit hatte zwar auch in ihrer verräumlichten Form in der geografischen ‚Entdeckung‘ Turkestans eine große Rolle gespielt. Während jedoch Zeitreisen im geografischen Raum ein Nebenprodukt europäischen Fortschrittsdenkens waren, beschäftigte sich die Archäologie damit, diese Konzeptionen von Entwicklung und Fortschritt aus dem histori135 136 137
Merzbacher 1906, 136, wörtliches Zitat ebendort. Merzbacher 1906, 147. Merzbacher 1906, 147-149, wörtliches Zitat: 148.
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Turkestan-Expeditionen
schen Boden abzuleiten. Die Vergangenheit wurde zu einem fremden Terrain im fortschrittsorientierten Weltbild.138 An die Stelle einer Romantik des Unbekannten rückte eine Romantik des Verborgenen. Bezüglich der Archäologie kann diese abstrakte Erkenntnis auf den konkreten Erdboden bezogen werden. Denn die Archäologie verlagerte den Entdeckungsdiskurs auf die Zeit.
138
Bezüglich der Wiederentdeckung der kulturellen Wurzeln in der Prähistorie: Berkemeier 2004, 115-131. Hauser 2001, 215-216.
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II. Archäologie der vergangenen Fremde Das imperiale Zeitalter zielte auf eine Kontrolle von Raum und Zeit.1 Während die Oberfläche des Globus vermessen, klassifiziert, erschlossen und zwischen rivalisierenden Mächten aufgeteilt wurde, rückte die im Erdreich konservierte Vergangenheit in den Fokus der Wissenschaft. Die Geologie hatte zwar bereits in der Aufklärungszeit den Boden als naturhistorischen Zeitstrahl entdeckt.2 Eine archäologische Erforschung der Seidenstraße begann jedoch erst an der Wende zum 20. Jahrhundert: „Ausgraben“ entfaltete im Deutschen Reich um 1900 als Begriff und Tätigkeit eine eigene Faszination. „Zu Tage fördern“, „den Spaten ansetzen“ und verwandte Termini fanden sich in der Presse, in Reiseberichten, in Akten und in Expeditionsexposés. Damit war die Annahme verbunden, dass nach dem im Boden Verschollenen vor allem im Landesinneren zu fahnden sei. Archäologische Reiseberichte aus dem „Herz Asiens“ ergänzten die Vorstellungen von Halford Mackinders geopolitischer pivot area durch Erzählungen.3 Im Vergleich zur britisch-russischen Konkurrenz im machtpolitischen great game war das Spektrum der Akteure, die an Mittelasien wissenschaftlich i nteressiert waren, erheblich breiter. Gerade die Archäologie sollte Auskunft über Fragen nach der menschlichen Herkunft geben, die nicht mehr aus der Bibel beantwortet werden konnten. Flankiert wurde diese Suche nach Identität durch eine Faszination an alten und ‚exotischen‘ Religionen wie der gnostischen Lehre des Manichäismus, die Christentum, Buddhismus und Zoroastrismus (oder Parsismus) verband. Dass diese Religion Altirans um 1900 eine große Anziehungskraft für die abendländische Philosophie besaß, verdeutlicht heute noch Friedrich Nietzsches berühmte Anleihe beim Parsismus mit „Also sprach Zarathustra“.4 Archäologische Forschung ist ohne Frage eine Form kulturimperialistischer Machtpolitik. Im Fall von Turkestan fällt zusätzlich eine bereits genannte weitere Dimension auf. Die Archäologie konzentriert sich auf Zeitkonzepte und schafft die Möglichkeit, daraus zwei Modelle von vergangenen Kulturen abzuleiten: Erstens können aus Zeitverläufen Prozesse geradliniger Entwicklung rekonstruiert werden. Diese Idee der linearen und ethnisch homogenen Evolution von Völkern begründete klar getrennte Identitäts- und Differenzmodelle; sie bildeten das ideologische Rückgrat imperialistischer Politik, da sie kulturelle Komplexität zu schlichten binären Oppositionen 1 2 3 4
Larsen 1996. Rudwick 2005. BArch R 901/37678, Bl. 93. BArch R 901/37683, Bl. 27. Honold 2002, 146. Stein 1928. Mayer 2006.
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reduzierten. Dichotomien, die sich häufig in bewertenden Gegensatzpaaren von (außereuropäischer) Rückständigkeit, Irrationalität und Unterlegenheit gegenüber (europäischer) Fortschrittlichkeit, Rationalität und Überlegenheit äußerten, bildeten die Grundlage kolonialer Praktiken. Zweitens eröffneten jedoch der auf archäologischen Ausgrabungen freigelegte Boden und die dort verborgenen materiellen Fragmente vergangener Kulturen eine zusätzliche Perspektive auf die Seidenstraße als Schmelztiegel und Bindeglied zwischen verschiedenen Völkern. Dieser neue Blick hatte für die imperiale Selbstüberschätzung durchaus eine subversive Wirkung: Derartige Ergebnisse stellten nicht nur eindeutige Entwicklungslinien sowie auf Homogenität beruhende Kulturmodelle in Frage. Sie trugen darüber hinaus auch zu Zweifeln am europäischen Selbstverständnis bei. Diese charakteristische Verbindung aus imperialer Machtpolitik, kolonialer Ideologie und der langsamen Entstehung von wissenschaftlichen Konzepten der Vermischung, der Grenzüberschreitung und des Dazwischen-Liegens, gibt der archäologischen Erforschung der Seidenstraße einen bis heute aktuellen Stellenwert. Denn Teile der archäologischen Forschung beschäftigten sich bereits um 1900 mit Fragen, die heute unter dem Vorzeichen des Postkolonialen verhandelt werden, wie Konzepten der Hybridität und den Grenzen der Objektivität und Rationalität europäischer Wissenschaft.
1. Kulturimperialismen: Archäologie als Machtpolitik D IE T URFAN -E XPEDITIONEN Zwischen 1902 und 1914 organisierte das Museum für Völkerkunde in Berlin vier Expeditionen zu den Oasen der zentralasiatischen Wüste Taklamahan.5 Turfan, als eine der erforschten Ruinenstädte, gab den Expeditionen nicht nur ihren Namen. Die Bezeichnung „wurde später zum Symbol der Wissenschaften, die sich mit der – zu einem Großteil textlichen – Hinterlassenschaft jener einst in den Oasen blühenden, heute meist vergessenen Kulturen beschäftigen“.6 Turfan war ein Sammelbegriff für mehrere Orte deutscher Ausgrabungen, vor allem auf der nördlichen Route der Seidenstraße, sowie für die Auswertung des Materials aus Zentralasien. Die Turfanforschung stellt bis heute eines der interdisziplinären Vorhaben der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften dar. ‚Turfan‘ begründete den kulturwissenschaftlichen Entwurf der Seidenstraße als historischen Raum der Vermittlung, faszinierte als archäologisches Neuland sowie als Inbegriff verschollener Sprachen und einer vergessenen Welt.7 5
6
7
Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Turfan-Expeditionen: Zieme 1983, 152160. Klimkeit 1988, 36-44. Zaturpanskij 1913, 116-127 (Choros Zaturpanskij ist ein Pseudonym von Albert von Le Coq). Gumbrecht 2002, 2-9. Marchand 2009, 416426. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Turfanforschung, Berlin 2002, Digitales Dokument, pdf-Broschüre: http://www.bbaw.de/bbaw/Forschung/ Forschungsprojekte/turfanforschung/de/Turfanforschung, 4.3.2008 11:27, 4. Zieme 2004, 13-18. von Le Coq 1926, 10.
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Der deutsch-russische Botaniker und Mediziner Albert Regel hatte Ende der 1870er-Jahre in den geografischen Fachzeitschriften Europas erstmals von Ruinen nahe der Stadt Turfan berichtet. Die im Wüstensand versunkenen Städte hatte auch der Schwede Sven Hedin in den Publikationen zu seiner ersten Zentralasien-Expedition (1895–1897) geschildert. Diese Nachrichten lenkten zusammen mit Manuskriptfunden, welche die bis dahin ältesten bekannten Schriftstücke in Sanskrit und altindischer Kharoshthi-Schrift darstellten, das Interesse der europäischen Wissenschaft auf die Oasenstädte Ostturkestans. Die Handschriften aus Zentralasien bildeten 1899 ein Thema des 12. Internationalen Orientalistenkongresses in Rom. Neben den Funden und Ergebnissen einer Expedition der Petersburger Akademie der Wissenschaften (1898) unter Dimitri Alexandrowitsch Klementz motivierten die Forschungsergebnisse des in britisch-indischen Diensten stehenden Schulinspektors und Orientalisten Marc Aurel Stein das deutsche Interesse an der östlichen Seidenstraße. Stein präsentierte seine Funde aus Khotan 1902 auf dem 13. Orientalistenkongress in Hamburg. Eine deutsche Expedition nach Ostturkestan war bereits 1899 im Anschluss an den Orientalistenkongress von Rom geplant worden, wobei an eine Kooperation mit Russland gedacht wurde.8 Friedrich Karl Wilhelm Müller, der Direktor des Berliner Völkerkundemuseums, plädierte jedoch dafür, eine eigene Expedition zu entsenden. Die Wahl des Expeditionsgebietes fiel nach Abwägung der Erfolgschancen auf Turfan: „Nach den Berichten der russischen Gelehrten schien gerade die abgelegene Gegend von Turfan bessere Ergebnisse zu versprechen als die schon seit Jahrhunderten von eingeborenen Schatzgräbern verwüstete Oase von Chotän [Khotan, F.T.] und deshalb wurde beschlossen, nach Turfan zu reisen.“9 Die erste und die dritte Turfan-Expedition standen unter der Leitung des Indologen, Archäologen und stellvertretenden Direktors des Berliner Völkerkundemuseums, Professor Albert Grünwedel. Die zweite und vierte Expedition führte der wissenschaftliche Hilfsarbeiter des Museums und Sohn eines hugenottischen Weinhändlers, Albert von Le Coq. Ständiger Begleiter dieser Experten für indoeuropäische und türkische Sprachen war der frühere Seemann und Museumsaufseher Theodor Bartus. In seiner Funktion als Expeditionstechniker hatte er die Wandgemälde in den Höhlentempeln herauszulösen und zusammen mit den weiteren Kunstobjekten wie Fresken, Terrakotten und Holzschnitzereien sowie den Schriftquellen für den Transport nach Berlin bereit zu machen. Albert von Le Coq und Theodor Bartus arbeiteten zwischen Oktober 1904 und Dezember 1905 hauptsächlich in den Ruinen von Chotscho. Die dritte Expedition kam sieben Wochen verspätet im Dezember 1905 unter Leitung Albert Grünwedels in Kaschgar an. Dass Albert von Le Coq dort gewartet hatte, dürfte ihn um den Fund der Bibliothek von Dunhuang gebracht haben.10 Von ihrer Existenz hatte er gerüchteweise gehört. Stein und 8
Gumbrecht 2002, 2-3. Klimkeit 1988, 34-36. Dabbs 1963, 117-120. Mirsky 1977, 107-192. Regel 1880, 205-210. Klementz 1899, 1-53. Radloff 1899, 55-83. BArch R 901/37681, Bl. 8. BArch R 901/37675, Bl. 124. 9 Zaturpanskij 1913, 116. 10 Dunhuang beschreibt neben Turfan den zweiten großen Teilbereich der archäologischen Erforschung der Seidenstraße sowie der Auswertung der archäologischen Fun-
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Turkestan-Expeditionen
dem französischen Sinologen Paul Pelliot gelang es, diese Manuskripte aus Zentralasien der europäischen Wissenschaft zu sichern.11 Die dritte deutsche Expedition arbeitete von Januar 1906 bis Mai 1906 in Kutscha und von Juli 1906 bis April 1907 in Turfan und Umgebung. Da Albert von Le Coq an Ruhr erkrankt war, war er bereits im Sommer 1906 nach Deutschland zurückgereist. Als Leiter der vierten deutschen Turfan-Expedition (1913-1914) kehrte er bis zum Kriegsausbruch nach Kutscha zurück.12 Während die erste Turfan-Expedition durch Spenden mitgetragen wurde, unter anderem von dem Großindustriellen Friedrich Krupp und dem Kaufmann James Simon, erhielten die folgenden drei Forschungsreisen Zuwendungen aus dem Dispositionsfonds des Kaisers, der in ihnen ein nationales Prestigeprojekt sah.13 Denn die zeitgenössische Seidenstraße, welche auf der Suche nach der Vergangenheit durchreist wurde, bildete einen kulturpolitischen Mikrokosmos des Hochimperialismus. Neben den deutschen TurfanExpeditionen und den drei Forschungsreisen des Briten Aurel Stein (19001901, 1907-1908, 1913-1915) arbeiteten in den Oasenstädten des heutigen Xinjiang russische Expeditionen wie zum Beispiel eine unter der Leitung Pyotr Kozlovs (1907-09). Zwei weitere führte der Indologe Sergei Fedorovich Oldenburg (1909-1910, 1914-1915). Während die französische Wissenschaft mit der Reise Paul Pelliots (1906-1908) nur eine Expedition nach Zentralasien entsandte, organisierte der buddhistische Geistliche Graf Otani zwei der insgesamt drei japanischen Forschungsunternehmungen.14 I MPERIALE I NTERESSENSPHÄREN Im politischen Klima des Hochimperialismus schlug sich die Dynamik der Raumerschließung und -aufteilung auf den historischen Boden und die dort noch verborgenen Objekte nieder. In diesem zeitgenössisch als Wettlauf interpretierten Konkurrenzkampf um Ausgrabungsstätten galt es, die Weltgeltung des Deutschen Reiches zu beweisen.15 Dazu führte der Theologieprofessor und Präsident der 1911 gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Adolf von Harnack, in seiner Stellungnahme anlässlich der Bitten um kaiserliche Subventionen aus: „Aus Turkestan hat uns die deutsche Expedition jüngst mit Funden überrascht, die alle Erwartungen weit hinter sich lassen.
11 12 13
14 15
de. Dazu: Zieme, 2004, 13. Vgl. auch das digitale Portal zum Dunhuang Projekt (idp): http://idp.bl.uk/education/orientalists/index.a4d#Introduction, 9.6.2008 9:51. Klimkeit 1988, 42 ff. von Le Coq 1918, 7-24. BArch R 901/37676, Bl. 98-Bl. 100. BArch R 901/37678, Bl. 99-Bl. 100. BArch R 901/37679, Bl. 32-Bl. 34. BArch R 901/37683, Bl. 6. Die Spende Krupps wird mit 10 000 Reichsmark, diejenige Simons mit 20 000 Reichsmark beziffert. Die Mittel für die zweite Reise aus dem Dispositionsfonds beliefen sich anfangs auf 42 000 Reichs mark. Bei der vierten Expedition waren 55 000 Reichsmark veranschlagt, wobei 30 000 Reichsmark durch den Dispositionsfonds gedeckt wurden, der Rest wurde aus privaten Beihilfen bezahlt. Klimkeit 1988, 34-47. Kazuo 1981, 95-117. BArch R 901/37678, Bl. 93. I/EM, 700, MV, IIIc Vol. 6 v. 1904/0644 bis 1905/0381 Film Nr. 102, Abschrift Min. der geistl. Unterr. und Med. Angel. Berlin, den 25. August 1904, gez. Grünwedel mit anliegendem handschriftlichen Gutachten (7 Seiten), 7.
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[…] Da die wohlgegründete Hoffnung besteht, daß im chinesischen Turkestan noch bedeutend mehr Schätze dieser Art zu heben sind, und die Gefahr im Verzug ist – die Russen, aber auch andere Nationen sind unseren glücklichen Entdeckern auf den Fersen – so kann ich den Plan, eine zweite Expedition (und zwar sofort) nach Turkestan zu entsenden, nur aufs wärmste unterstützen. In der Geschichtswissenschaft gilt noch immer ‚Ex oriente lux‘; aber wir Deutsche müssen alle Kräfte anspannen, um uns den gebührenden Platz auch an dieser Sonne zu sichern.“16 Die letzte Aussage verortete Archäologie sprachlich im Umfeld imperialistischer Praktiken.17 Das Potenzial von Ausgrabungen als eine Form von Kulturimperialismus lag in den damit verbundenen Möglichkeiten begründet, „eine bisher völlig unbekannte Kulturwelt“ aufzudecken, aus diesen Entdeckungen die Vergangenheit zu rekonstruieren18 „und damit zugleich der deutschen Wissenschaft […] den Vorsprung zu sichern“.19 Die Faszination der exotisierten Vergangenheit bündelte die kolonialen Allmachtsfantasien, über Zeit und Geschichte verfügen zu können. Die zentralasiatische Archäologie war dabei eines der kulturimperialistischen Prestigeprojekte. Die europäischen Kolonialmächte sahen in Zentralasien und der Seidenstraße ein Objekt imperialer Interessenteilung. Zwar wurde auf dem 12. Orientalistenkongress in Rom 1899 eine Kommission, die Association Internationale pour l’Exploration archéologique, ethnographique et linguistique de l’Asie Centrale et de l’Extrême Orient gegründet. Doch nur drei Jahre später, auf dem 13. Orientalistenkongress in Hamburg, beschloss diese Kommission unter Vorsitz des deutsch-russischen Turkologen Wilhelm Radloff, separate Lokalkomitees unter dem Dach der Association Internationale zu gründen. Die russische Organisation übernahm gleichzeitig die Funktionen des Zentralkomitees.20 Die internationale Zusammensetzung und gleichzeitige Zergliederung in nationale Komitees spiegelten die Paradoxien im politischen System des Hochimperialismus wider, deren charakteristisches Produkt im diplomatischen Bereich zum Beispiel die Berliner KongoKonferenz (1884/1885) gewesen war. Einerseits deessenzialisierten die Rivalitäten und einzelnen Nationalismen, die zwischen den Staaten in einem auf Konkurrenzdenken basierenden System aufbrachen, Europa. Andererseits erlaubten es im Gegenzug internationale Vereinbarungen und eine internationale Kooperation, das gesamteuropäisch-agierende Zentrum einer eher passiven zentralasiatischen Peripherie gegenüberzustellen.21 Die kulturhistorischen Arbeiten entlang der Seidenstraße bedingten eine Aufteilung des Raums in nationale Grabungssphären und Interessengebiete.22 Diese erfolgte gemäß des imperialistischen Prinzips, dass demjenigen, der 16 17 18 19 20
BArch R 901/37678, Bl. 37-Bl. 40, wörtliches Zitat: Bl. 38-Bl. 39. Trigger 1984, 355-370. Bohrer 2001, 55-63. BArch R 901/37678, Bl. 93. BArch R 901/37678, Bl. 42-Bl. 43. BArch R 901/37677, Bl. 75-Bl. 79 (RS). BArch R 901/37677, Bl. 73. BArch R 901/37677, Bl. 10. BArch R 901/37678, Bl. 42-Bl. 43. 21 Zur Gleichzeitigkeit von Verflechtung und Abgrenzung: Conrad, Randeria 2002, 1722. 22 I/EM, 1162, Asien, Turfan (diverses), 1907/2193, Film Nr. 261, Bericht zu E 2193/07, Berlin, den 6. November 1907, 4-7.
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zuerst den Fuß in ein Gebiet gesetzt hatte, der betreffende Grabungsraum zugesprochen wurde. Statt der Flagge, welche Territorien der räumlichen Aufteilung zum Beispiel in Afrika markiert hatte, begründete in Zentralasien der erste Spatenstich Besitzansprüche. Vereinbarungen einer Arbeitsteilung zwischen dem deutschen Lokal- und dem russischen Zentralkomitee definierten das von der „ersten Expedition durchforschte Gebiet gleichsam als deutsche Interessensphäre“.23 Die zweite deutsche Turfan-Expedition unter der Leitung Albert von Le Coqs brach ein Jahr früher als geplant und unter erheblichem Zeitdruck auf. Als Vorexpedition konzipiert, die sich dann mit der nachfolgenden Hauptexpedition (der dritten Turfan-Expedition) unter Albert Grünwedel zusammenschloss, war ihr kulturpolitischer Zweck, Grabungsraum für das Deutsche Reich durch physische Präsenz zu besetzen.24 Von Le Coqs Aufgabenbereich und der räumliche Radius wurden durch Grundzüge abgesteckt, welche für die Vorexpedition ausgearbeitet worden waren.25 Dass Expeditionen vor Ort die in den Verhandlungen und auf dem Papier gezogenen Grenzen zwischen den einzelnen Interessensphären entweder aus Unkenntnis oder überschäumendem Ehrgeiz übergingen, führte während der dritten Turfan-Expedition zu deutsch-russischen Zusammenstößen in den Distrikten Kutscha und Bai. Bereits während der Vorexpedition versetzten die Berliner Autoritäten von Le Coqs brieflich geschilderten begehrlichen Blicken auf Altertümer im fremden Grabungsraum einen gehörigen Dämpfer. Auf „diplomatischem Wege“ wurde er dazu angehalten, einen weiten Bogen um die „Örtlichkeiten Kurla und Komtura […], welche sich die russische Wissenschaft für ihre Expedition vorbehalten hat, zu machen“.26 Da jedoch die russische Seite ihre eigenen Abmachungen zu ignorieren schien und angeblich von St. Petersburg angewiesen worden war, in Turfan „für die russische Wissenschaft alles was an Bildern und Handschriften usw. zu finden sei, zu retten“, fühlte sich Albert von Le Coq auch dazu berufen, für die deutsche Seite durch Handlungen Tatsachen zu schaffen: „Als Grünwedel ankam, fragte ich ihm [sic!], ob er in Kyzil arbeiten dürfe; ich meinerseits hielte den Vertrag für aufgehoben. Er gab an sich mit R. [Wilhelm Radloff, F.T.] und S. [Carl Salemann, F.T.] verständigt zu haben und ging auf meinen Vorschlag, in Kyzil und Komtura zu graben, ein. Außerdem wußte ich, daß beide Orte im Distrikt von Bai lagen und daher vom Wortlaut des Vertrages nicht berührt werden konnten. Aber ohne das Doppelspiel der Petersburger Herren hätte ich Grünwedel nicht bestärkt in seinem zunächst sehr schwächlichen Entschluß, an diesen Orten zu graben.“ Der Kampf um das deutsche Grabungsrecht in Turfan und das russische in Kutscha und Bai führte zu heftigen Verstimmungen, zu Protestbriefen sowie zu fast gewalttätigen Auseinandersetzungen vor Ort, wobei die russische Seite sogar gedroht haben soll, die Deutschen „mit Waffengewalt zu vertreiben“. Da sich von Le Coq und 23 BArch R 901/37678, Bl. 37-Bl. 40. Wörtliches Zitat: Bl. 38. Auch: BArch R 901/37678, Bl. 108. Zur deutschen Grabungssphäre zählten die nähere Umgebung der Stadt Turfan, namentlich Chotscho (oder Idikutschari), und u.a. die Orte Hami, Sengimans, Burgur und Kurla. 24 BArch R 901/37678, Bl. 37-Bl. 40. 25 BArch R 901/37678, Bl. 108. 26 BArch R 901/37678, Bl. 106-Bl.107. Auch: BArch R 901/37680, Bl. 78.
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Grünwedel eines gewissen Vorsprungs vor den russischen Kollegen sicher waren, gaben sie die Grabungsversuche auf, um sich „nach geschlossenem Frieden“ in ihre eigene Interessensphäre zu begeben.27 Diese Episode zeugt nicht nur von einer angespannten Atmosphäre, sondern passte in den Kontext eines ausgeprägten Konkurrenzdenkens. Dieses schlug sich in einer Beobachtung und Beschattung der Reiserouten, der Arbeitsschritte und der Ergebnisse der jeweiligen Gegenspieler nieder: Sei es die französische Mission Pelliot oder die amerikanische Expedition Huntington – der Reichskanzler von Bülow, das Auswärtige Amt und die Berliner Stellen wurden vom Deutschen Generalkonsulat in Kalkutta über die archäologische Lage in Zentralasien, potenzielle Rivalen sowie deren Wege ausführlich informiert. Als größter ernst zu nehmender Konkurrent galt der in britischen Diensten stehende Aurel Stein, der in Berichten auf Schritt und Tritt verfolgt wurde. In regelmäßigen Abständen trafen in Deutschland Zusammenfassungen seiner Arbeiten, seiner Erfolge und seiner weiteren Expeditionsplanungen ein, wobei die zugrunde liegenden Informationen unter anderem aus der britisch-indischen Presse entnommen wurden.28 I NTERNATIONALE K OOPERATION Trotz einzelstaatlicher Rivalitäten waren die Expeditionen in einem internationalen Netzwerk verankert. Es basierte auf einem Prinzip der kooperativen Solidarität, welches die Europäer untereinander verband.29 Internationale Zusammenarbeit fand auf verschiedenen Ebenen statt, wobei das – bis in die Aufklärungszeit zurückreichende – europäische Gelehrtennetzwerk den Bezugsrahmen bildete. Die Zusammenarbeit ergab sich nicht nur bezüglich der Teilnahme an Expeditionen anderer Staaten, sondern auch in einer Arbeitsgemeinschaft bei Texteditionen. Albert Grünwedel und Albert von Le Coq hatten in ihren Berichten diejenigen Personen aufgeführt, denen ein offizieller Dank des Deutschen Reiches gebühre.30 Dabei spielten strategische Überlegungen eine Rolle, Loyalitäten für die Zukunft zu sichern sowie durch Netzwerke den Zugang zu den Schätzen Turfans offen zu halten. Von Le Coq bat das Auswärtige Amt, „der Kaiserlich chinesischen, der Kaiserlich russischen und der britischen Regierung ihren wärmsten Dank auszusprechen [und] die Regierungen […] zu ersuchen, diesen auch den in Betracht kom27 Wörtliche Zitate aus: von Le Coq 1926, 110, Fortsetzung von Anm. 1. Dazu auch: I/EM, 1162, Asien, Turfan (diverses), 1907/2193, Film Nr. 261, Brief Albert Grünwedel, Kutscha, 21.5.1906, 1. 28 Ellsworth Huntington gehörte der amerikanischen Expedition der CarnegieInstitution unter der Leitung Raphael Pumpellys an, die in zwei getrennten Abteilungen reiste und Turkestan erforschte, vgl. Pumpelly 1905. BArch R 901/37675, Bl. 71Bl. 72. BArch R 901/37680 Bl. 99-Bl. 100, Bl. 106-Bl.107, Bl. 115-Bl. 116. BArch R 901/37681, Bl. 6-Bl. 8, Bl. 44. I/MV, 700, MV IIIc Vol. 6 1904/0644 bis 1905/0381, Film. Nr. 102, Abschrift Min. der geistl. Unterr. und Med. Angel. Berlin den 25. August 1904, gez. Grünwedel mit anliegendem handschriftlichen Gutachten (7 Seiten). 29 von Le Coq 1926, 9-10. Zur Kooperation mit den chinesischen Behörden: Gumbrecht 2002, 18-158. 30 Zaturpanskij 1913, 119-126. Grünwedel 1906. BArch R 901/37677, Bl. 95-Bl. 96. BArch R 901/37678, Bl. 16, 37 (RS)-Bl. 38.
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menden Personen zu übermitteln“.31 Eine zentrale Anlaufstelle für die deutschen Forschungsexpeditionen bildete das Haus des englischen politischen Agenten Sir George Macartney in Kaschgar. Über ihn wurden auch die Gelder an die deutsche Expeditionskasse überwiesen.32 Der gesamteuropäisch-kulturimperialistische Charakter der Expeditionen zeigte sich darin, dass sie bereits zeitgenössisch als Raubzug verstanden wurden, wobei die Fundstücke wortwörtlich als „Beute“ bezeichnet wurden. Die Techniken der Entfernung von Kunstgegenständen unterschieden sich zwar je nach Expedition und Ausgrabungsleiter. Doch das gemeinsame Ziel lag darin, möglichst umfangreiche und prestigeträchtige Sammlungen nach Europa zu transportieren. Eine besondere ‚Spezialität‘ der deutschen Expeditionen bestand darin, ganze Wandgemälde zu entfernen.33 Albert Grünwedel hatte zwar versucht, dieses Vorgehen zu unterbinden, und stattdessen die Bilder abgezeichnet.34 Wie sich einem Bericht des Berliner Völkerkundemuseums entnehmen lässt, zeigten aber Albert von Le Coq und Theodor Bartus deutlich weniger Skrupel: „Während der Vorbereitungen zur ersten Reise im Frühjahr 1902 trat die Frage heran, ob es nicht angezeigt wäre, einen tüchtigen europäischen Techniker mitzunehmen. […] Wie Bartus nachher dies Vertrauen rechtfertigte, indem er immer mehr eingearbeitet metergrosse Platten herausnahm, deren Einschnittstellen […] Nähte er aufs geschickteste und meist ohne bes. Anleitung so einzuteilen wusste, dass nichts Wesentliches vom Bilde verloren ging, beweisen die bisher zur Auspackung gelangten Teile […]. Ja gelegentlich der dritten Reise unternahm er sogar mit Erfolg […] auf den Felsrand gemalten Stucco abzusprengen – eine geradezu ungeheure Leistung, welche ihm gelang.“35 Zusätzlich entfernten von britischer und französischer Seite Aurel Stein und Paul Pelliot den gesamten Inhalt der Bibliothek von Dunhuang. Europa agierte mit dem Argument, die Gegenstände zu retten und zu konservieren, als imperialistisches Kollektiv. Durch den gemeinsamen Bezugsrahmen wurden auf der Handlungsebene Dichotomien zwischen Europa und Asien hergestellt. Nach dem Ersten Weltkrieg jedoch erließ die chinesische Politik ein Gesetz, das den Transport von Altertümern aus dem Land untersagte und europäische Expeditionen mit strikten Auflagen versah.36
31 BArch R 901/37681, Bl. 111-Bl. 112. 32 BArch R 901/37679, Bl. 33 (RS). BArch R 901/37683 Bl. 27. I/EM, 1162, Asien, Turfan (diverses), 1907/2193, Film Nr. 261, Schriftwechsel: General-Verwaltung der Königlichen Museen, F. W. K. Müller an Grünwedel, 19.9.1905. Deutsche Bank Ueberseeische Abteilung an Grünwedel, Berlin, 18.9.1905. 33 BArch R 901/37678, Bl. 109-Bl.110. Zaturpanskij 1913, 123. von Le Coq 1926, 7275. 34 Klimkeit 1988, 38. 35 I/EM, 1162, Asien, Turfan (diverses), 1907/2193, Film Nr. 261, Handschriftlicher Bericht über die Turfanexpeditionen zu I.1186, 2-3. 36 Klimkeit 1988, 46. PA AA, R 65579, Zeitungsausschnitt, „Abenteuer in Turkestan“, 31.1.1929. PA AA, R 65579, Emil Trinkler an die Deutsche Botschaft Peking, Khotan, 20. April 1928.
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2. Orientalische Tiefenzeit: Die Suche nach dem Ursprung Der hohe Stellenwert der Archäologie basierte auf ihrer Funktion als Wissenschaft der Ursprünge. Denn zur Zeit der Turfan-Expeditionen waren Ursprünge eine soziokulturelle Obsession.37 Die Suche nach „(Vor-)Vergangenheiten“38 der eigenen Gegenwart war auch in den Text-Wissenschaften und der populären Imagination aktuell. Hypothesen über die Urheimat und Ursprache von Völkern tauchten in Zeitschriften und Reiseberichten auf. Im Zentrum stand die Fixierung auf eine weit zurückliegende Vergangenheit, die Suzanne Marchand als „deep past“39 bezeichnet hat. Kulturelle ‚Tiefenzeiten‘ und die archäologische Suche nach dem Archaischen weisen Verbindungen zur Geologie als Naturwissenschaft der Ursprünge auf. Die Geologie war die erste Wissenschaft, die in Zeitdimensionen extremer Länge dachte und dabei den biblischen Deutungen der Schöpfung eigene wissenschaftliche Erklärungsmuster gegenüberstellte.40 Dabei vereinte die Geologie zwei Arten von Zeit: den linearen Entwicklungsstrang der Erdgeschichte und einen natürlichbruchstückhaften Zeitraum der Überlagerungen und Schichten. Als stille Teilhaberin war die Erdgeschichte alleine durch die materielle Ähnlichkeit des Forschungsraums in der Archäologie präsent, denn die Reste der menschlichen Geschichte lagen gleich geologischen Ablagerungen im Erdreich verborgen. Ein Denken in ‚Zeitschichten‘ dehnte sich davon ausgehend auf andere Disziplinen wie die Ethnologie, die Sprach- und Religionswissenschaft aus.41 Nicht nur Ausgrabungen, sondern auch Ursprungsmythen eröffneten einen Einblick in historische ‚Tiefenzeiten‘. Die Archäologie diente hier als kulturwissenschaftliche Methode im übertragenen Sinn. Wie die Sedimente und Scherben im Boden konnten auch die Spuren der ältesten Vergangenheit in der Sprache und in der Religion gelesen werden. Eine zeitgenössische Mischung aus der romantischen Faszination am Verborgenen und aus Reinheitsidealen charakterisierte diese (populär-)wissenschaftlichen Vorstellungen von Urheimat, Urvolk und Ursprache.42
37 Marchand 2001, 466. Benes 2004, 117-129. Richthofen, 1877, 207. Vgl. auch die Eingaben des jungen Orientalisten Arthur Hoffmann-Kutschke, der an den TurfanFragmenten gearbeitet hatte, an Kaiser Wilhelm II. mit der Bitte, seine eigenen Forschungen zum alten Iran zu unterstützen: BArch R 1501/115966, Bl. 90-Bl. 96. PA AA, R 64586, Kaiserlich Deutsche Gesandtschaft für Persien, Teheran, 7. September 1913 an den Reichskanzler Herrn Dr. von Bethmann Hollweg. PA AA, R 64586, Dr. phil. Arthur Hoffmann-Kutschke ohne Adressat [wahrscheinlich: an Kaiserlich deutsche Gesandtschaft für Persien], Breslau, den 8. VIII. 1913. 38 Polaschegg 2005, 166. 39 Marchand 2004, 337. 40 Rudwick 2005, 115-131. 41 Boussuet 1907, 7-8. Marchand 2004, 350. Koselleck 2000, 9-16. Bohrer 2003, 3132. Müller 1873, 26-28. Zur Sprachwissenschaft: Hüsing 1916, 199-250. 42 BArch R 1501/115966, Bl. 92 (RS) - Bl. 93 (RS).
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Turkestan-Expeditionen
D IFFERENZRÄUME I RAN
UND
TURAN
In Turkestan vermuteten Forschungsreisende sowohl die indoeuropäischen als auch die türkischen Ursprünge. Bezüglich der Frage nach der indoeuropäischen Herkunft hatte sich zur Jahrhundertwende als wissenschaftliche Mehrheitsmeinung die so genannte ‚Nordthese‘ durchgesetzt. Sie argumentierte mit einem europäischen Ursprungsland. Doch auch die ältere Auffassung, dass Asien die indoeuropäische Urheimat sei, blieb in der Diskussion.43 So lokalisierte der deutsche Indien- und Himalayaforscher Emil von Schlagintweit noch 1881 die Urheimat der Indoeuropäer in Mittelasien. Diese Hypothese hatte er aus den Beobachtungen erarbeitet, die seine Brüder auf Forschungsreisen gut 20 Jahre zuvor gemacht hatten. Emil von Schlagintweits Ausführungen wurden bis zur Jahrhundertwende in den Wissenschaften rezipiert.44 Der Orientalist Hermann Vámbéry suchte nach dem Ursprung und den Verwandtschaftsbeziehungen der ungarischen Sprache. Seine Expeditionen führten ihn als Derwisch verkleidet durch Mittelasien. Als einer der Gründungsväter der wissenschaftlichen Disziplin der Turkologie verfocht er eine türkisch-ungarische Sprachverwandtschaft im gemeinsamen Stamm der so genannten turanischen Sprachen, deren Herkunft aus Turkestan abgeleitet wurde.45 Hinter der Suche nach der Urheimat verbargen sich um die Jahrhundertwende umfassende und emotional verlaufende Debatten. In ihnen stand nichts Geringeres als die Verortung der eigenen Kultur und die Exklusivität von Selbstentwürfen zur Disposition. Streitfragen, welche die Auseinandersetzung um die Nord- oder Asienthese der indoeuropäischen Herkunft prägten, tauchten verdichtet bezüglich Turkestan auf: Sind die ‚Arier‘ nach Turkestan eingewandert oder von dort ausgewandert? Wie verliefen ihre Wanderwege? Und: Welcher Ethnie gehörte die Urbevölkerung des Landes überhaupt an, lebten dort schon immer Indoeuropäer oder doch andere Völker? Wer konnte das Land letztendlich für den eigenen Kulturkreis beanspruchen? Ähnliche Fragen stellten auch diejenigen, die in Turkestan das Stammland der turanischen Völker vermuteten, wie zum Beispiel Paul Graf Teleki, der Vorsitzende der Ungarisch-Orientalischen Kulturzentrale, in der Zeitschrift Turan. Beide Interpretationen, die Turkestan jeweils als einen wichtigen Baustein entweder der indoeuropäischen oder der türkischen kulturellen Identität beanspruchten, zielten auf eindeutige Narrationen.46 Die Untersuchung der indoeuropäischen oder türkischen Heimat nahm in der Schrift der iranischen Religion, dem Awesta, ihren Ausgang. Die Awesta-Interpretationen ergänzte eine Erforschung des Königsbuchs des persischen Dichters Firdusi und der antiken europäischen Quellen sowie der 43 Scherer 1968. Renfrew 1987. Mallory 1989. Sieferle 1987, 444-467. Römer 1985. Kossinna 1902, 161-222, auch abgedruckt in Scherer 1968, 25-109. 44 Boltz 1895, 7. 45 Vámbéry 1865, VII-VIII. Vámbéry vermutete auch das Ursprungsland des ungarischen Volkes in Turkestan, da er die Vorfahren der Ungarn als turanische Ethnie verstand. Neben Türken und Ungarn galten auch die Bulgaren als turanisches Volk: Vámbéry 1882. 46 Karutz 1904, 106-121. von Richthofen 1877, 206-207. Klementz 1899, 1-53, 5. Römer 1985, 62-84. von Teleki 1918, 84-90.
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chinesischen Überlieferung.47 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen Quellen hatte den Namen ‚Arier‘ als Selbstbezeichnung der indoiranischen Völker zutage gefördert. Die früheste Deutung des Begriffes ‚Turan‘ – abgeleitet von der iranischen Bezeichnung Tŭirja – nahm der Indologe Max Müller vor.48 Die Deutung von ‚Turan‘ und ‚Iran‘ als Kategorien der Zugehörigkeit und Abgrenzung ging vom Awesta aus: „Die Arier haben vielleicht diesen Namen für sich gewählt im Gegensatz zu den Nomadenrassen, den Turaniern, in deren Originalnamen Tura die Schnelligkeit des Reiters liegt.“49 ‚Turan‘ und ‚Iran‘ bezeichneten aber nicht nur Völker sowie die iranischen und turanischen Sprachen; sie umrissen darüber hinaus Siedlungsräume. ‚Iran‘ und ‚Turan‘ schufen die Grundlage einer historischen Topografie zweier verräumlichter Ursprungsnarrationen.50 Als Identitäts- und Differenzmodelle dienten sie der Verankerung der (eigenen) Herkunft. Das Wohngebiet der mittelasiatischen Indoeuropäer „Arjana vaidscha“ und ihre Wanderwege umrissen den Radius der mythischen Heimat: „Zu Anfang des Vendidad [das erste Buch des Awesta, F. T.] findet sich eine schon vielfach behandelte Länderliste, welche uns deutlich den damaligen geografischen Horizont des Awestavolkes kennzeichnet. Derselbe reicht […] von dem Lande zwischen Sir und Amu südlich bis an die Wüsten Belutschistans [Pakistan, F. T.] und an die Gestade des Indus, westlich ungefähr bis in die Gegend der jetzigen Hauptstadt von Persien.“ Turan war das Land der Turkvölker, beziehungsweise derjenigen Völker, die sich auf eine türkische Abstammung beriefen. Somit ergab sich ein Zusammenhang zwischen der Bezeichnung Turan und Turkestan. Die Ausdehnung Turans erstreckte sich trotz aller Unschärfen und Diskussionen im Kern immer auf den südlichen Teil Zentralasiens.51 Diese Beschreibungen entwarfen eine Vergangenheit aus der Sicht der Gegenwart. Wilhelm Geiger schilderte in seiner „Ostiranischen Kultur im Altertum“ das mythische Land in Worten, die heute als Rückprojektion der kleindeutschen Reichsgründung von 1871 erscheinen. Die Semantik der geeinten Nation und eines in der Frühgeschichte etwas deplatziert wirkenden Nationalgefühls, das den arischen Stämmen zu Eigen gewesen sein soll,
47 Das Awesta gilt als die heilige Schrift des iranischen Religionsgründers Zarathustra. Der Parsismus verbreitete sich vom westlichen Iran ausgehend vermutlich durch Kaufleute entlang der Seidenstraße. Mayer 2006. Geiger 1887, 1-3. Oberhummer 1918, 194-208. Zum persischen Dichter Firdusi (Abū l-Qāsem-e Ferdousī, 10. Jhd. n. Chr.) und die Übersetzung des persischen Heldenepos Schāhnāme (Königsbuch): Polaschegg 2005, 193. 48 Müller 1863, 201. 49 Geiger 1887, 1-3. 50 Oberhummer 1918, 195-198. So führte Yusuf Ziya, einer der Schöpfer der neuen türkischen Sprache, ausgehend von der Hypothese der türkischen Urheimat in Turkestan den Nachweis, dass das Türkische am Anfang jeder Art von Sprache, Kultur und Volk gestanden habe: Özer 1932. 51 Geiger 1882, 5 (wörtliches Zitat) und 6-169. Schultz 1914, 11-12. Oberhummer 1918, 205-208. Hüsing 1916, 200-207. Vorwort der Schriftleitung, in: Turan (1918), 5.
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durchzieht den gesamten Text.52 Aus türkischer Perspektive legitimierte Professor Yusuf Ziya mit seinem Entwurf der turanischen Urheimat als Ursprungsland der Turkvölker politische Ansprüche auf Turkestan und reklamierte eine Überlegenheit des türkischen Lebensprinzips.53 Wie Georg Steinmetz gezeigt hat, stehen die Suche nach Eindeutigkeit und die Ausschaltung von Ambivalenz im Zentrum kolonialer Ordnungsversuche.54 In dieser Eigenschaft entsprachen Ursprungsmythen dem klassifizierenden Anspruch des europäischen Kolonialprojekts. Ursprungserzählungen übten dabei drei Funktionen aus: Erstens gaben sie als säkularisierte Schöpfungsmythen eine Antwort über in den Bereich der Vorgeschichte verlagerte Fragen nach der eigenen Herkunft.55 Zweitens entwarfen sie ein räumliches Zentrum der kulturellen und sprachlichen Entwicklung. Drittens skizzierten sie eine dichotome Weltordnung, in deren Mittelpunkt Kriterien klarer Zuordnung standen.
52 Geiger 1882, 167-170, 174-177, 213-214, wobei auf S. 177 sogar der Terminus „nationalökonomisch“ fällt. Auch Hoffmann-Kutsche in Bezug auf die parsische Religion als nationale Weltanschauung: BArch R 1501/115966, Bl. 93 (RS). 53 Özer 1932, 1-12. 54 Steinmetz 2003, 45. 55 Zum Orientalismus als säkulare Religion: Said 1978, 113-123.
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Abbildung 1: Geografische Ausdehnung Turans
erstellt von der Verfasserin.
Abbildung 2: Geografische Ausdehnung Irans
erstellt von der Verfasserin.
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S ÄKULARISIERTE S CHÖPFUNGSMYTHEN Die erste Funktion von Ursprungsnarrationen als säkularisierter Schöpfungsmythos lässt sich an der großen Bedeutung religiöser Texte innerhalb der Wissenschaft vom Orient ablesen. Neben der parsischen Überlieferung hatte sich aus der biblischen Tradition die Erzählung von der Sintflut in die orientalistische Tiefenzeit eingeschrieben.56 Zwei Bücher, die in Argumentation, Stil und Zuschnitt gute Beispiele für die groß angelegten Synthesen der Jahrhundertwende sind, entwarfen Turkestan als Drehscheibe der indoeuropäischen Menschheitsgeschichte. Der pensionierte Astronom Franz von Schwarz, der 15 Jahre in russischen Diensten in der Sternwarte Taschkent gearbeitet und seine Freizeit zu Forschungsreisen genutzt hatte, entwarf in seinen Werken „Sintfluth und Völkerwanderung“ sowie „Turkestan, die Wiege der indoeuropäischen Bevölkerung“ zudem Erklärungsmuster für die Entstehung der Weltbevölkerung und ihre Verteilung über den Globus. Das biblische Ereignis der Sintflut interpretierte von Schwarz in einer szientistischen Perspektive neu. Beide Bücher projizieren dabei jüngere Erklärungsmuster sowie das Weltbild der Jahrhundertwende in Tiefenzeiten zurück.57 Von Schwarzʼ Erklärungsansatz basierte auf folgender Hypothese: Die Indoeuropäer seien aus ihrer Urheimat Turkestan aufgrund der Sintflut ausgewandert, die Zentralasien überschwemmt habe. Im Sinn der christlichabendländischen Geschichtsphilosophie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Herkunftsländer der Arier und der gesamten Weltbevölkerung im Topos von Asien als „Wiege der Menschheit“ räumlich deckungsgleich gewesen. In der religiösen Geografie hatten der Garten Eden und der Berg Ararat einen Platz gefunden. Letzterer, im türkischen Hochland an der Grenze zu Armenien gelegen, galt als Ankerplatz der Arche Noah. Noahs Söhne Sem, Ham und Japhet hatten als religionshistorische Stammväter den semitischen, den afrikanischen und den asiatisch-europäischen Völkern ihre Namen gegeben.58 Während Franz von Schwarz mit der Annahme einer asiatischen Urheimat eine konservative Außenseiterposition im Kontext der Jahrhundertwende vertrat, folgte er bezüglich der Herkunft der gesamten Menschheit den aktuellen Forschungsergebnissen. Dafür zogen seit Charles Darwin die Anthropologen Afrika in Betracht. Mit seinen konkreten Lokalisierungsvorschlägen definierte Franz von Schwarz die Ursprünge sowohl räumlich als auch zeitlich: als Orte der Entstehung von Menschen und Völkern sowie als Beginn eines menschlichen Entwicklungsprozesses, der sich über lange Zeitspannen hinzog.59 Von Schwarz betrachtete seinen Versuch, Sintflut und Völkerwanderungen in einer säkularisierten Weltformel zu verschmelzen, selbst als einen interdisziplinären Versuch megalomanischen Ausmaßes. Seine Grenz56 Gander 1896. Usener 1899. 57 von Schwarz 1894, VIII. von Schwarz 1900. 58 Sieferle 1987, 444-446. von Schwarz 1894, 294-364, 423-432. von Schwarz 1900, XVI ff. Dazu auch: Müller 1873, 30-31. 59 Afrika war nicht die einzige mögliche Urheimat. Diskussion über die Hypothesen zur Urheimat des Menschengeschlechts: von Schwarz 1894, 265-266. An der Abstammung des Menschen aus Ostafrika, der so genannten Out-of-Africa-These, wird heute noch festgehalten: Reichholf 1997. Ranov et al. 1995, 337-346.
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gänge zwischen den Wissenschaften von Mensch, Natur und Erde bündelten mehrere Fragestellungen, die zur Jahrhundertwende brisant waren und die schließlich auch zur Konjunktur Turkestans als Forschungsraum beitrugen.60 Seine Ausführungen basierten auf einer Historisierung der biblischen Überlieferung im Licht archäologischer Funde aus dem alten Assyrien, die einen Säkularisierungsschub im Umgang mit alttestamentarischen Erzählungen zur Folge hatten. Quellen aus Babylon nannten Begriffe und Ereignisse, die auch die Bibel verwendete. Zum Beispiel hatte George Smith, ein Mitarbeiter des British Museums, 1872 eine assyrische Version der SintflutErzählung entziffert. In einer Zeit, als die Bibel noch als Offenbarungsschrift gelesen wurde, barg dieses neue Wissen großes Konfliktpotential. Knapp zehn Jahre bevor der Orientalist Friedrich Delitzsch die deutsche Öffentlichkeit 1902/1903 in einer Vortragsreihe mit der These provozierte, dass die biblische Überlieferung nichts weiter als eine Sammlung assyrischer Weisheiten sei, hinterfragte Franz von Schwarz die landläufige Meinung „von der Inspiration des gesamten Inhalts der Bibel durch den heiligen Geist“, nicht ohne eine gewisse Polemik: „ganz abgesehen davon, daß man in diesem Fall […] annehmen müßte, daß auch die Keilinschriften vom heiligen Geist diktiert worden seien, weil der biblische Bericht ganz offenbar nur eine Nachbildung des viel älteren keilinschriftlichen Sintflutberichts ist.“61 Von Schwarz betrachtete Sintflutsagen dagegen als historisch und ethnologisch verwertbare Quellen.62 Geologische Forschungen über den Einfluss der Eiszeit auf die Entstehung des Menschen sowie zur Austrocknung Innerasiens, in denen das Klima einen historischen Verlauf erhielt, fanden ebenfalls in seine Argumentation Eingang.63 Franz von Schwarz kombinierte diese Stränge, um die menschliche Entwicklung zu erklären, die von Klima, Umwelt und Natur gelenkt wurde. Im Zug der Evolutionstheorie entwarf er eine säkularisierte Geschichte, deren Überlebens- und Selektionsprinzip der „Kampf ums Dasein“ war.64 Franz von Schwarz skizzierte unter Einbezug der zeitgenössischen geologischen, religions- und humanwissenschaftlichen Debatten eine Theorie der menschlichen Herkunft, Verbreitung und Varianz.65 Von Schwarz’ Synthese verweist auf die Funktion von Ursprungserzählungen als säkularisierte Antworten auf Fragen von Identität sowie ethnischer und sprachlicher Zugehörigkeit.
60 von Schwarz 1894, III-VIII. 61 von Schwarz 1894, 5. 62 Zum Stellenwert der Sintflut und der Erforschung Babylons für eine Säkularisierung biblischen Wissens: Johanning 1988. Sintflutsagen als Quelle der Ethnologie: Win-
ternitz 1901, 305-333. Andree 1891. 63 von Schwarz 1900, 574-584. von Schwarz 1894, 283-286. 64 von Schwarz 1894, 273-274. 65 Zur Verzeitlichung des Speziesbegriffes und der Erkenntnis der Veränderung von ‚Rassen‘ in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts: Sieferle 1987, 450.
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S UCHE
NACH
Z ENTREN
Ursprungserzählungen waren auch das Ergebnis einer Sehnsucht nach einem festen Mittelpunkt, der als prähistorische Heimat entworfen wurde. Im Ideal der Autochthonie gingen Mensch und Erde eine Synthese ein. Der Geodeterminismus beschrieb den wissenschaftlichen Zweig dieser Tradition. Die Trias von Verborgenheit, Abgeschiedenheit und ethnischer Reinheit leitete denjenigen Strang, welcher aus der deutschen Romantik in die Wissenschaft eingeflossen war.66 Aus den Texten „Zur Kenntnis der arischen Bevölkerung des Pamirs“ und „Die Pamirtadschik“ des Geografen Arved von Schultz sprach eine Mischung aus rationalen Erklärungsversuchen und romantischen Vorstellungen.67 Diese Art der Ursprungserzählung bezog die Beschaffenheit der Erdoberfläche mit ein. Sie entwarf keine den ganzen Globus überspannende Theorie, sondern blickte nur auf den spezifischen Ausschnitt, der im Interesse stand. Von Schultz hatte den Gebirgsknotenpunkt Pamir als potenzielles Zentrum ausgemacht. Eine Fixierung auf Erdverbundenheit und Ursprünglichkeit als ethnische Werte bildeten den Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation. Die Suche nach einem Zentrum als Zeit-Raum unveränderlicher Stabilität wurde durch einen spezifischen Beschreibungsstil ausgedrückt: Arved von Schultz’ Artikel „Zur Kenntnis der arischen Bevölkerung des Pamir“ entwarf den Ursprungspunkt als in der Zeit stillstehendes Gravitationszentrum der Erd- und Menschheitsgeschichte. Sprachliche Mittel und wechselnde Perspektiven beschleunigten, verlangsamten und verdichteten die geodeterministische Erzählung. In plastischen Schilderungen versetzte von Schultz die Leser in verschiedene Räume und Zeiten. Als Produkt einer dynamisierten Raum- und Zeitwahrnehmung war diese Dramatisierung von Geografie und Geschichte eine übliche Erzählstrategie des Hochimperialismus.68 Von Schultz’ Synthese aus Erde und Mensch begann mit einer erzählerischen Inbesitznahme der Vertikalen. Der Einblick in die Tiefenzeit der Gebirgsentstehung ist in einer Sprache geschildert, die Zeit und Raum in einem mythisch anmutenden Panorama komprimierte: „In das früheste Alter des Menschengeschlechts geht die Bedeutung des gewaltigen eurasiatischen Faltengürtels, der sich von den Pyrenäen über den europäischen und asiatischen Kontinent bis in die Inselwelt Ost-Asien erstreckt, für die Entwickelung [sic!] der Menschheit zurück.“ Aus einer panoptischen Position schilderte von Schultz den Einfluss der Erdoberfläche auf die Ausbildung menschlicher Kulturen sowie die Bedeutung der Gebirge als „Achsen […] der […] Völkerbewegungen“ und als Grenzen „zwischen Ariern und Mongolen, zwischen Ackerbauern und Nomaden“. Den Fortgang der Geschichte fasste von Schultz im Zeitraffer zusammen, wobei die Erzählposition aus einer bewegten Vogelperspektive Überblick suggerierte. Ein langsames Erzähltempo und die Ankunft im Erzähltempus des Präsens begleiteten das Eintreffen des Au66 Rickmers 1913, 58-59. In der Iranistik: Geiger 1882, Vorwort. 67 von Schultz 1911/1912, 23-29. von Schultz 1914. 68 Rickmers 1908, 110-113. Auch geografische Konzepte wie Mackinders ‚Drehscheibe der Weltgeschichte‘ (pivot area) sind das Ergebnis dieser dynamischen Raum- und Zeitwahrnehmung. Kundrus 2003, 10. Zur kartografischen Gestaltung dieses dynamischen imperialen Raumes: Schneider 2006.
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tors und des Lesers im Pamir, der als abgeschiedener Gebirgsraum und als ethnografisches Reservoir ursprünglicher Lebensformen entworfen wurde: „Besonders in den südlichsten, am Nordabhang des Hindukusch entlang ziehenden, am höchsten gelegenen Tälern, in der Landschaft Wachan, hat sich ein Volk erhalten, dessen Kulturelemente uns Aufschluß über vergangene Kulturzustände Vorder-Asiens geben können.“69 Diese Form der romantisierend-geodeterministischen Erzählung von den Anfängen, welche an einen Erhalt der Urzustände in abgeschiedenen Räumen glaubte, verweist nicht nur auf die Funktion von Ursprungsmythen als Suche nach hypothetischen Zentren. Sie beschrieb zudem Forschungsperspektiven und Aneignungsarten, die die nichteuropäische Gegenwart als Erinnerungsraum und Landschaft der Überreste historisierten.70 Abbildung 3: Verbreitung der Indogermanen vor ihrer Auswanderung
Quelle: von Schwarz 1894, 361. E INDEUTIGKEIT
UND
K LASSIFIKATIONEN
Ursprungsnarrationen dienten zusätzlich als epistemisches System, um die Umwelt zu erfassen. In ihrem Zentrum stand ein Ordnungsversuch nach kulturell-ethnischen Gesichtspunkten. Dabei wurden abstrakte Begriffe wie Volk, Sprache und Kultur für breitere Leserkreise konkretisiert und zusätzlich in Abbildungen und Illustrationen visualisiert. Reiseerzählungen, ethnografische Berichte, Volksatlanten, Zeitschriftenartikel sowie Landes- und 69 von Schultz 1911/1912, 23-24. Zitat ebendort. 70 Wirz 2002, 496. Haberlandt 1923, 13-23. Im sprachwissenschaftlichen Sinn, bezüglich der Sprache der Bergtadschiken oder Galtschas: Geiger 1882, 173-174.
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Volkskunden verankerten Abstammungslinien im Wissenshaushalt.71 Die Formen der Klassifikation waren – abhängig vom Genre und dem Ort der Präsentation – verschieden verdichtet, in die Texte eingebettet und organisiert. Sie konnten narrativ oder tabellarisch verfasst sein, in einem Stammbaum eine genealogische Entwicklungslinie oder aber auch eine nach den jeweiligen Völkern sortierte Übersicht entwerfen.72 Abbildung 4: Tabellarische Klassifikation der Völker Turkestans
Quelle: von Schwarz 1900, 3. Die Klassifikationen zielten darauf ab, Eindeutigkeit zu erreichen, indem sie Komplexität reduzierten. Sie waren nach folgendem inhaltlichen Koordinatensystem strukturiert: die Angabe, zu welcher Völkerfamilie eine ethnische Gruppe gehörte, ihr Wohn- beziehungsweise Verbreitungsgebiet, ihre Lebensweise, die Familienform, die Art des Wohnens, die Nahrung, die Haustiere, die Religion sowie Beschreibungen des Charakters und der ‚Sitten und Gebräuche‘. Hinter dieser Sortierung standen entweder typisierte Entwürfe von Nomadentum und Sesshaftigkeit oder die ethnischen Grundtypen einer iranischen (indoeuropäischen) und turanischen (turk-tartarischen oder mon71 von Le Coq 1926, 59. Karutz 1904, 106-121. Karutz 1933. Rickmers 1913, 4-13. von Schwarz 1900, 3-528. Machatschek 1921, 108-138. Karutz 1925. Artikelserien: Naliwkin 1913, 527-533, Naliwkin 1914, 583-587, Naliwkin 1914, 711-721. Auch ältere Artikelserien im Globus, die reich illustriert waren: Ein Blick auf Centralasien 1873, 337-342, Ein Blick auf Centralasien II 1873, 353-359, Ein Blick auf Centralasien III 1873, 375-377. Oder die aus dem Französischen übersetzte 13-teilige Artikelserie der Frau des französischen Anthropologen Eugène Ujfalvy: Ujfalvy, 3 (1879), 33-38; 4 (1879), 49-55; 6 (1879), 81-87; 7 (1879), 97-103; 8 (1879), 113-119; 21 (1879), 321-326; 22 (1879), 337-342; 23 (1879), 353-358; 24 (1879), 369-375. Oder die Auszüge aus dem Reisebericht von Basil Wereschagin: Aus Wereschagin’s Wanderungen 1873a, 33–40. Wereschagin’s Reise 1873b, 353–360. Wereschagin’s Reise 1873c, 369–375. Wereschagin 1873d, 1–7. Wereschagin 1873e, 17-23. Wereschagin, 1873f, 113–119. 72 Machatschek 1921, 108-175. von Schwarz 1900, 3. von Schwarz 1894, „Erster Theil: Stammbaum des Menschengeschlechts“, 19-260.
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golischen) Bevölkerung.73 Diese Urtypen von Lebensweise oder Abstammung bildeten jeweils die Pole zweier Ordnungssysteme, in welche die gut 16 Bevölkerungsgruppen Turkestans eingeteilt werden konnten.74 Die Entfernung vom Ursprung konnte einerseits durch eine Veränderung der Lebensweise, wenn Nomaden sesshaft wurden, oder durch ethnische „Mischung“ erreicht werden. Reinheit und Unvermischtheit wurde einem Zweig der tadschikischen Bevölkerung, den Galtschas, für die indoeuropäische sowie den Kirgisen für die türkische Abstammungslinie zugeschrieben.75 Alle übrigen Völker galten als Mischformen.76 Abbildung 5: Stammbaum der Indogermanen
Quelle: von Schwarz 1894, 81.
73 74 75 76
Dazu: Geiger 1882, 170-171. Barthold 1962, 5-8. Karutz 1925, 110. Karutz 1904, 115. von Schwarz 1900, 3-4. von Schwarz 1900, 9-14. von Schwarz 1900, 3. Rickmers 1913, 4-8. Karutz 1925, 106.
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Abbildungen 6-9: Darstellung der Kirgisen in Ujfalvys Artikelserie „Das russische Turkestan“
Ein kirgisischer Sultan.
Eine Tartarin und zwei Kirgisinnen.
Arme und reiche Kirgisen.
Kirgisische Kibitken in der Steppe.
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M EHRDEUTIGKEIT
UND
D EZENTRALISIERUNG
Gemessen an der Komplexität der Ordnungssysteme mag es nicht erstaunen, dass die wissenschaftlichen Versuche, Eindeutigkeit herzustellen, im Chaos der Zuschreibungen endeten. So war Franz von Schwarz’ säkularisierter Schöpfungsmythos „Sintflut und Völkerwanderung“ ein Brennglas für Verunsicherungen europäischer Überlegenheit. Obwohl diese Erzählung einem entwicklungsorientierten Weltbild entsprach, sprengte sie Überzeugungen europäischer Exklusivität durch die These einer außereuropäischen Urheimat der Indoeuropäer sowie durch die aufgenommene Lehrmeinung eines negroiden Ursprungs der gesamten Menschheit. Obwohl wissenschaftlich haltbar, provozierte letztere These im Zeitalter der kolonialen Beherrschung Afrikas noch mehr als eine asiatische Herkunft der Indoeuropäer. Zwar konnte durch Zuschreibungen der „Negerrasse“ als „Urrasse“ die Bevölkerung Afrikas als den Ursprüngen nahe stehende ‚Wilde‘ diskreditiert werden. Afrika als prähistorisches Zentrum der Menschheit kratzte allerdings, trotz aller entwicklungsteleologischen Konstruktionsmöglichkeiten, an Auffassungen europäischer Einzigartigkeit und Exklusivität. Für Franz von Schwarzʼ Reflexionsniveau sprach, dass er diese Mechanismen erkannte.77 Er war sich im Gegensatz zum Iranisten Wilhelm Geiger, der die Sozialstruktur und den Identifikationshorizont der deutschen Reichseinigung bereits im iranischen Altertum gefunden hatte, durchaus bewusst, dass Ursprungserzählungen politische und ideologische Funktionen ausübten: „Ueberhaupt muß ich bemerken, daß ich […] den Eindruck gewann, als hätten diese Gelehrten […] den Europäischen Ursprung der Indogermanen um jeden Preis nachweisen wollen, weil sie es mit ihrem Patriotismus nicht vereinen konnten anzunehmen, daß unsere Indogermanischen Vorfahren aus der Fremde hergelaufen seien und sich in Europa erst in einer späteren Zeit und unter Verdrängung der früheren Bewohner niedergelassen haben.“78 Der Verlust von Eindeutigkeit schlug sich zuerst in den Terminologien nieder. In den Genealogien, mit denen die Ursprünge bezeichnet wurden, standen sprachwissenschaftliche neben anthropologischen und immer noch biblischen Angaben. Die Beteiligung verschiedener Fachdisziplinen an der Suche nach dem Ursprung trug zur Unklarheit und zur doppelten Besetzung von Begriffen bei. Auch der Transfer der Begrifflichkeiten von einer Wissenschaft in die nächste sorgte für Unschärfen.79 Die Erklärungen der einzelnen Disziplinen waren nicht einmal annähernd deckungsgleich, sodass sich ihre Ansätze zu allem Überfluss gegenseitig unterminierten.80 Auch innerhalb eines Fachbereichs und bezüglich eines spezifischen Problems war nicht einmal der Hauch eines gemeinsamen Nenners zu erahnen. Die Identität bestimmter Völker war umstritten wie die der Skythen und sogar die der Turanier.81 Dass sich die Antwortversuche auf die Frage 77 von Schwarz 1894, 292. 78 von Schwarz 1894, 296. 79 Kritik an den Begriffsunschärfen übten Alexander Petzholdt und Ujfalvy, dazu: Ujfalvy 1879, 343. 80 Vgl. Sieferle 1987, 455. 81 Geiger 1882, 180-181. Hüsing 1918, 1-3. Zu den Turaniern: Geiger 1882, 194-199. Oberhummer 1918, 194-196. Özer 1932, 1-12.
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Turkestan-Expeditionen
nach der ethnischen und kulturellen Herkunft innerhalb eines Textes gegenseitig unterlaufen konnten, verweist auf die utopische Dimension der gesuchten Eindeutigkeit. Das Ideal der wissenschaftlichen Objektivität zersplitterte zu multiperspektivischen, häufig auch paradoxen Grundgedanken.82 So suggerierte die einleitende Momentaufnahme arischer Lebensweise des Münchener Ordinarius Wilhelm Geiger in seiner Untersuchung „Ostiranische Kultur im Altertum“ einen mittelasiatischen „Ursprung“ der Indoeuropäer sowie eine indoeuropäische sesshafte, Ackerbau betreibende „Urbevölkerung“ in den Bergen Turkestans: „Die ersten Spuren altiranischer Kultur führen uns in die Bergwelt Mittelasiens, wo von dem Knotenpunkt der mächtigsten Gebirgssysteme, dem Pamirplateau, der Alai und Thianschan westwärts und nordöstlich sich verzweigen. Hier am oberen Laufe der Zwillingsströme Sir-darja und Amu-darja, des Jaxartes und Oxus der Alten, und in dem zwischen beiden eingesenkten Thale des Zerafschan werden wir die früheste Heimat des Awestavolkes zu suchen haben. Auf den weidereichen Berghängen im Gebiet dieser Flüsse hütete es zuerst seine Herden, in den wohl bewässerten Thalgründen bebaute es zuerst den Acker.“83 Geigers weitere Ausführungen relativierten diese in die Vergangenheit projizierte agrarromantische Idylle des mittelasiatischen Ursprungs. Bei der Diskussion folgender Frage geriet der auf den ersten Seiten vermittelte Eindruck – ungefähr in der Mitte des Buches – komplett aus den Fugen: „Wir kommen damit zu einer Kardinalfrage der Kulturgeschichte des Awestavolkes, die wir kurz in dieser Weise formulieren können: Ist es anzunehmen, dass die Iraner zu der Zeit, als sie in die vom Awesta geschilderten Wohnsitze einwanderten, daselbst eine ihnen nicht stammverwandte Urbevölkerung vorfanden?“84 Auf den folgenden Seiten analysiert Geiger verschiedene Hypothesen. In einer sehr eng am Text bleibenden, fast wörtlichen Lesart der religionswissenschaftlichen Quellen kommt Geiger zu folgendem Ergebnis: „Es ergibt sich somit zweierlei: Das Awesta steht der Annahme einer den Ariern fremden Urrasse in Iran keineswegs entgegen, sondern bestätigt dieselbe in beachtenswerter Weise.“85 Geiger trennte zudem nicht klar zwischen einer Klassifizierung nach Lebensweise und Volk. 86 So galt ihm der Gegensatz zwischen hypothetischer Urbevölkerung und den Iranern als wirtschaftlich und sozial bedingt, jedoch nicht als ethnisch geprägt. Nur einige Seiten weiter leitete er einen „Rassekrieg“ aus dem Awesta ab. Auf die Frage, welchem Stamm denn nun die Urbevölkerung angehöre, bildeten Vermutungen und Zirkelschlüsse die Antwort: „Ob jene Urbevölkerung eine tartarische war, lässt sich freilich nicht unzweifelhaft nachweisen […]. Wenn also die tartarisch-mongolischen Völker, welche jetzt Mittelasien in ihrer Gewalt haben, arische Stämme vorfanden, so können doch sehr wohl die Arier bei ihrer ersten Einwanderung auf eine tartarische Urbevölkerung gestoßen sein, die natürlich zu der Zeit, wo
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Mallory 1989, 143, 266-272. Geiger 1882, 3. Geiger 1882, 176. Geiger 1882, 181-188, wörtliches Zitat: 188. Geiger 1882, 166-170.
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die neue mongolische Invasion beginnt, längst von den herrschenden Klassen aufgesogen war.“87 Auch Franz von Schwarz hatte mehr als Mühe, sein Argument zusammenzuhalten. In den einzelnen Großkapiteln erschien sein Buch „Sintfluth und Völkerwanderung“ als eindeutiger, nachvollziehbarer und stringenter Erklärungsversuch. Als Synthese jedoch blieb der Ansatz offen für verschiedene Interpretationen. Diese Flexibilität der einzelnen Bausteine, die ständig zu neuen Erklärungsmustern zusammengefügt werden konnten, sowie eine oszillierende Argumentation prägten die Vergangenheit Turkestans als fort während zu rekonstruierende Tiefenzeit.
3. Sedimente der Vergangenheit: Turfan als Vermittlungsraum Nicht nur methodische Schwierigkeiten bei der Textinterpretation ließen Entwicklungslinien fraglich erscheinen. Auch die Funde im Boden, die bei archäologischen Ausgrabungen gemacht wurden, hinterfragten dichotome Eindeutigkeiten und Modelle einer abgeschlossenen Ursprungsgenealogie. In der heutigen Forschungsliteratur gilt die Archäologie als Wissenschaft, die Vergangenheit aus Fragmenten erzeugt.88 Damit sind zwei Probleme verbunden: die Wahrnehmung der Vergangenheit als im Boden sedimentierte und überlagerte Geschichte einerseits und ein Bewusstsein für den Konstruktionscharakter von ‚Vergangenheit‘ andererseits. Um 1900 begegneten die Archäologen einer in ihren Bruchstücken im Erdreich angesammelten Zeit. Die materiellen Funde, die aus dem „überreichen Trümmerfelde einer untergegangenen Kultur Zentralasiens“89 stammten, verankerten neue Zeit-Räume im kulturellen Gedächtnis.90 Kulturen und Sprachen erschienen in dieser Perspektive nicht als das Ergebnis eines abgeschlossenen Evolutionsstrangs, sondern als Amalgam verschiedener ‚Schichten‘. Entwicklungsvorgänge waren nicht als linearer Verlauf, sondern vielmehr als Überlagerungs- und Verschmelzungsprozess nachvollziehbar.91 Damit brachten die archäologischen Ergebnisse aus der Oase Turfan Konzeptionen von Hybridität in die Diskussion um die Vergangenheit ein. Nachdem die erste Turfan-Expedition und ihre Funde in Berlin eingetroffen waren und die Auswertung der Ergebnisse begonnen hatte, schärfte sich diese Perspektive auf Turkestan als Bindeglied zwischen verschiedenen Kulturen: „Für die Erkenntnis der Zusammenhänge der alten asiatischen und europäischen Kulturen ist die Erforschung Zentralasiens von besonderer Bedeutung. […] Die Bedeutung des Landes liegt also in seiner Vermittlerrolle zwischen 87 Geiger 1882, 182. 88 Bohrer 2003, 63. Winter 1996, 182-190. Zainab 2001, 15-28. Hauser 2001, 211237. Zainab 1998, 159-174. 89 BArch R 901/37678, Bl. 37-Bl. 40. 90 Zaturpanskij 1913, 123. von Le Coq 1926, 11. BArch R 901/37678, Bl. 93. Hauser 2004, 159. Bonatz 2001, 65. 91 I/EM, 1162, Asien, Turfan (diverses), 1907/2193, Film Nr. 261, Bericht zu E 2193/07, Berlin, den 6. November 1907, 6. von Le Coq 1926, 74.
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der antik-vorderasiatischen später byzantinischen Welt mit der indischen und chinesischen Welt, und in der Berührung zweier Religionen, des syrischen Christentums und des nördlichen Buddhismus; endlich auch darin, daß die Bewohner des Landes sehr verschiedenen Ursprungs waren und Verbindungen inniger Art mit Indien und China eingingen.“92 Die aus Turfan abgeleitete Bezeichnung „buddhistische oder zentralasiatische Spätantike“ verstetigte den Forschungsbefund historischer Verschmelzung in einem wissenschaftlichen Epochenbegriff.93 Auch Aurel Steins „Serinidia“ beschrieb einen historischen Raum der Vermischung von indischer und chinesischer Kultur.94 R EPRÄSENTATIONEN : T EXTEDITIONEN
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A USSTELLUNGEN
Die Auswertung der sprachwissenschaftlichen Quellen und der Kunstobjekte erfolgte in Forschergruppen innerhalb der Orientalischen Kommission an der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Dieser Ausschuss wurde 1912 eigens dafür eingerichtet, die zahllosen Grabungsfunde aus Babylon, Assyrien, Palästina, Ägypten und Mittelasien zu bearbeiten.95 Den Einstieg in die sprachwissenschaftliche Rekonstruktion der alten Welt aus Fragmenten bildeten in Bezug auf die Turfanforschung die „Reste der bisher verloren geglaubten Literatur der Manichäer-Sekte (3. Jahrhundert nach Christus)“ und der Nachweis des „gleichfalls bisher verloren geglaubten Kanons der heiligen Bücher der Buddhisten in Sanskrit“.96 Die Entzifferung von Manuskripten wurde ein Thema von öffentlichen Vorträgen und der Presseberichterstattung. Gerade die Decodierung der manichäischen Schriftstücke durch Friedrich W. K. Müller hatte den Charakter einer Inszenierung und bot einen gewissen Schauwert. Für großes Erstaunen sorgte die Tatsache, dass bei den gefundenen Dokumenten die übliche Einheit aus Sprachart und benütztem Alphabet nicht aufzufinden war. Während die Texte in den Buchstaben des Estrangelo, des altsyrischen Alphabets, verfasst waren, waren die Sprachen selbst nämlich andere, wie mittelalterliches Persisch, Alttürkisch und ein „bisher unbekannter Dialekt“, der als das Persische der Sassanidenzeit erkannt wurde.97 Die Manuskriptfunde eröffneten „bisher kaum geahnte Bahnen“98 in die Vergangenheit, da eine Vielzahl von Proben spärlich untersuchter Sprachen in verschiedenen Schriften nach Berlin gelangt war. Das Mittelpersisch der manichäischen Textfragmente war zum Beispiel um die Jahr-
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BArch R 901/37677, Bl. 98 (RS)-Bl. 99 (RS). von Le Coq 1926, 1. Zaturpanskij 1913, 126-127. von Le Coq 1922/24. Stein 1905. Grapow 1950, 3-29. BArch R 901/37678, Bl. 37 (RS). Mani begründete um 240 n. Chr. eine gnostische Lehre, die Christentum, Buddhismus und Zoroastrismus verband. Die Religion verbreitete sich im Iran, in Indien, in West- und Ostturkestan und entlang der Seidenstraße. Obwohl bis heute nur ein Bruchteil der auf der Seidenstraße gefundenen Dokumente entziffert ist, lassen sich die Grundideen der Religion, wie sie in Asien verstanden und praktiziert wurde, rekonstruieren. Wie der Zorastrismus vertritt der Manichäismus ein dualistisches Weltbild. Dazu: Klimkeit 1988, 87-91. 97 BArch R 901/37678, Bl. 93. 98 BArch R 901/37678, Bl. 26, 37 (RS).
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hundertwende nur aus zoroastrischen Schriften bekannt.99 Doch darüber hinaus verdeutlichte die Tatsache, dass Mundart und Schrift bei den Texten der manichäischen Religion nicht ein- und desselben Ursprungs waren, die grundsätzliche Möglichkeit einer hybriden Sprachentwicklung. Bei der zeitgenössischen Fixierung auf Ursprünge, Urformen und Originalität, welche auch den Konzepten historischen Austausches nicht abhanden kamen, faszinierte besonders der Umstand, dass die „Schriften des Manes, von deren Existenz man bisher nur aus der arabischen und chinesischen Literatur wusste, in der Ursprache an das Licht gefördert [worden] sind“.100 Für eine wahre Sensation sorgte ein historischer Überrest Europas, der in Chinas Wüsten verschollen lag: Schriftstücke in einer indoeuropäischen Sprache, welche von den Sprachwissenschaftlern Emil Sieg und Wilhelm Siegling als „tocharisch“ klassifiziert wurde. Sie gehörte zum europäischen Zweig dieser Sprachfamilie und galt als Beleg dafür, dass in der Vergangenheit europäische Völker in Ostturkestan gelebt hatten.101 Bereits Anfang 1905 machte das Museum für Völkerkunde die Sammlung der ersten Turfan-Expedition einem breiteren Publikum zugänglich. Die zentralasiatische Spätantike wurde in den Ausstellungen zu einem wieder betretbaren Ort, der „aus dem Schutt der Tempelanlagen“ seine „Auferstehung“ in Berlin erlebte. „Fresken […], deren Komposition künstlerischen Geist atmen und deren bunte Farben noch heute durch ihren Glanz überraschen, […] lebensvolle Porträte [sic!], […] Malerei […] plastische Arbeiten“ versetzten die Museumsbesucher in die inszenierte Vergangenheit des historischen Schmelztiegels.102 Die Ausstellungsnarration folgte dem am Boden orientierten Konzept der Vermischung von verschiedenen Kulturen. Der Zeitstrahl der Sammlung gab Einblick in Entwicklungslinien. Exponate wie „Monumentalgemälde aus den Grottentempeln von Bäzaklik“ [nahe Chotscho, F.T.] – „einer der wenigen Tempel, dessen Wandgemälde in ihrer Gesamtheit“ nach Berlin gelangt sind – zeigten in „unerwarteter Weise die Entstehung der Ostasiatischen Kunst“ durch Wanderprozesse und Kulturkontakte. Diese rekonstruierte Anlage aus dem 9. Jahrhundert, der „Glanzzeit“ der türkischen Herrschaft, galt als besonderes Schaustück, da die Wandgemälde sehr gut erhalten waren. Aus den jeweiligen archäologischen „Schichten“ und ihren Abweichungen untereinander ließ sich die Entwicklung der Malkunst, aus den porträtierten Typen ließen sich kunsthistorische Spezifika ableiten.103 Durch den Museumsraum ‚Turfan‘ fanden Führungen nicht nur für das breite Publikum, sondern auch für wissenschaftliche Gesellschaften und Honoratioren statt. So geleitete im Februar 1905 Albert Grünwedel die Anthropologische Gesellschaft durch die Ausstellung.104 Wilhelm II. hatte sich bei 99 Encyclopedia Iranica, Internetausgabe: Eintrag Friedrich W. K. Mueller: http://www.iranica.com/articles/ot_grp5/ot_muller_20040720.html, 10.3.2008 16:00. BArch R 901/37678, Bl. 93. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, 10. Sieg, Siegling 1908. Pokorny 1923, 24-57. 102 Wörtliche Zitate aus: Zaturpanskij 1913, 123. BArch R 901/37678, Bl. 93. 103 Wörtliche Zitate aus: von Le Coq 1926, 74-76 und BArch R 901/37683, Bl. 27. 104 BArch R 901/37678, Bl. 93.
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einem Museumsbesuch überschwänglich zu den Turfanfunden geäußert und zudem weitere kaiserliche Unterstützung angedeutet, wie der Generaldirektor der Königlichen Museen, Geheimrat Bode, dem Turfan-Komitee mitteilte: „Seine Majestät habe lange nicht solche Überraschung, Belehrung und Genuß gehabt, wie durch die ausgestellten Sammlungen und ihre Erklärung; Seine Majestät würden eine Weiterarbeit in der gleichen Richtung für höchst wünschenswert erachten, und würde ihm eine solche zur größten Genugtuung gereichen.“105 Die als „glanzvoll“ gerühmte Wiedererrichtung der vergangenen Seidenstraße en miniature hatte die Kehrseite, dass „wesentliche Bestände der in Turfan aufgefundenen Altertümer […] unausgepackt in Kisten schlummern“106. In den Museen in Berlin wurde der Platz eng. Glenn H. Penny hat die Anhäufungsstrategie in deutschen ethnologischen Museen als Symptom einer aus den Fugen geratenen, überquellenden Ordnung interpretiert. Er verdeutlicht auf einer museumspraktischen Ebene, dass die wissenschaftliche Untersuchung außereuropäischer Räume zu Unübersichtlichkeiten und dem Verlust sicherer Klassifikationen führen konnte.107 Dieses Überangebot an Fundstücken in Berlin hatte jedoch Vorteile für andere Museen: Das Volkwang-Museum in Essen und das Museum für Völkerkunde in München erhielten noch in den 1920er-Jahren problemlos Leihgaben der nicht aufgestellten Objekte.108 Für die Popularisierung des spezifischen Blicks auf die Seidenstraße bedeutete das, dass sich das Konzept des Schmelztiegels und Durchzugsraumes über Berlin hinaus in der deutschen Museumslandschaft und Öffentlichkeit verankern konnte.109 V ERUNSICHERUNGEN : H YBRIDITÄT UND DIE V ERGANGENHEIT ALS N EULAND Bei der Historisierung von Sprache, Kunst und Kultur durch eine Analyse und Interpretation der archäologischen Fundstücke entdeckten die europäischen Spezialisten diejenige Hybridität, die in der Tiefe der ‚Zeitschichten‘ verborgen lag.110 Ein wichtiger Untersuchungsgegenstand waren historische Wanderbewegungen von Völkern. Als Rekonstruktionsmöglichkeit geschichtlicher Anfänge schärften sie den Blick dafür, dass Ursprünge von sich aus hybrid sind. Das spätantike Turkestan galt als räumliches und zeitliches Zent105 106
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I/EM, 1162, Asien, Turfan (diverses), 1907/2193, Film Nr. 261, Königliche Museen, gezeichnet Bode an den Vorsitzenden der Turfan-Expedition, 26. Februar 1909. L/MV, 589, IIIb Vol. 3, 1925/429-1941/172, Film Nr. 89, Abschrift an das Preuss. Ministerium f. Wissenschaft, Kunst und Volksbildung zu Berlin, Essen, den 24. März 1925. Penny 2005, 74-87. Penny 2002, 197. L/MV, 589, IIIb Vol. 3, 1925/429-1941/172, Film Nr. 89, zu München: Abschrift Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus Nr. VI 7001, München 18. Febr. 1925; Abschrift von Abschrift Zu Nr. VI 7001, München den 13. Jan. 1925. Zu Essen: Abschrift an das Preuss. Ministerium f. Wissenschaft, Kunst und Volksbildung zu Berlin, Essen, den 24. März 1925. Galland 1912. Young 1995.
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rum der Verschmelzung zwischen der griechisch-hellenistischen Kultur, die auf Alexander den Großen zurückging, und der einheimischen buddhistischen Kultur. Diese Thesen erreichten über die Reiseerzählungen und Ausstellungen ein breites Publikum. Albert von Le Coqs „Auf Hellas Spuren in Ostturkistan“ trug das hybride Altertum bereits im Titel, die Überreste der griechischen Antike in Turkestans Sand. Albert von Le Coq benannte den Anfang einer neuen Kunstepoche in Prozessen der Vermischung. Er schrieb dabei sowohl der eigenen als auch der asiatischen Kultur im Vergleich zur Antike eine niedrigere Zivilisationsstufe zu: „Wo immer die ausgehende Antike mit einer barbarischen Religion zusammentrifft, entsteht eine neue Kunst. So entstand im Westen durch die Berührung mit dem Christentum die frühchristliche Kunst oder die christliche Antike. So im Osten durch die Berührung mit dem Buddhatum die frühbuddhistische Kunst oder die buddhistische Antike.“111 Nicht nur die Entstehung, sondern auch die Verbreitung dieser Kunst bis nach Ostasien wurden als eine Kette von Vermischungsprozessen verstanden. Die Turfan-Expeditionen hatten „vier große Kulturströmungen“ feststellen können. Von Le Coq rekonstruierte eine erste „Wanderung vom Westen nach dem fernen Osten“ in prähistorischer Zeit: Europäische Völker, die – nach ihnen zugeschriebenen Schriftquellen – als Tocharer identifiziert wurden, waren diese erste Bewegung. Die Eroberungszüge Alexanders des Großen in Asien galten als zweite größere Wanderung. Durch sie „waren griechische Kultur und Kunst nach Baktrien und Nordwest-Indien verpflanzt worden“. Die Ansiedlung von ausgedienten makedonischen und griechischen Soldaten und ihre Heiraten mit „eingeborenen Frauen“ bedeuteten den Beginn ethnischer Hybridität: die Entstehung einer „Mischbevölkerung“ griechischer Kultur. Drittens, „setzte später zur Zeit der Völkerwanderung […] eine starke Kulturströmung von Mittelasien nach Europa an“. Als vierte und letzte Strömung von Osten nach Westen nannte von Le Coq den Einbruch der Mongolen, wobei „durch sie zum ersten Male chinesische Einflüsse den Westen erreicht haben“, wie die Grundlagen der Buchdruckkunst.112 Während die Ursprungsmythen von Iran und Turan Versuche darstellten, ethnisch-homogene Entwicklungslinien an bestimmte Wohngebiete zu binden, entwarf die Turfanforschung eine Landkarte von Schmelztiegeln. Als erste räumliche Etappe im Vermischungsprozess galt das antike, von Alexander dem Großen eroberte Baktrien. Nach von Le Coq war die Kunst auf der Route über den Pamir iranischen, beim Weg über den Karakorumpass indischen Einflüssen ausgesetzt: „Unterwegs erlitten die hellenistischen Typen fortwährend neue Beeinflussungen durch die indogermanischen Bewohner der durchquerten Gegenden.“ Das türkische Volk der Uiguren erschien sogar als personifizierte Paradoxie im Ursprungssystem; als „türkisches Volk“ „ostasiatischer Rasse“ jedoch „westländischer Kultur“ mit einer westlichen 111 112
von Le Coq 1926, 1. von Le Coq 1926, 1-8, wörtliche Zitate: 1-3. I/EM, 1162, Asien, Turfan (diverses), 1907/2193, Film Nr. 261, Bericht zu E 2193/07, Berlin, den 6. November 1907. PA AA, R 64586, Zeitungsartikel, „Ergebnisse der 4. Deutschen Turfan-Expedition“, Vossische Zeitung, No. 638. 14.12.1918. Alexander dem Großen wurde in der Geschichte Turkestans eine große Bedeutung beigemessen: Dazu: Sidikov 2003, 144120. von Schwarz 1906.
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Schrift sowie einer westlich-semitischen Sprache war es ein in sich selbst widersprüchliches Produkt von Überlappungen. Die Beschreibung der Uiguren als Ergebnis verschiedener ethnischer Einflüsse eröffnete eine Perspektive auf die prinzipielle Hybridität von Kultur. Sie führte die klassifikatorische Einheit von Volk, Sprache und Lebensweise ad absurdum.113 Die Un-Ordnung und Instabilität der rekonstruierten, hybriden Vergangenheit wurden nicht nur durch die Tatsache deutlich, dass die TurfanAusstellung im Völkerkundemuseum den zur Verfügung stehenden Ausstellungsraum sprengte. Die Exponate befanden sich bereits während der ersten zehn Jahre, in denen sie – zeitgleich zu den Expeditionen – zu bewundern waren, in ständiger Reorganisation. Durch den laufenden Zufluss neuer Objekte (und neuer Entdeckungen) musste die Ausstellung häufig umgebaut werden.114 Unter anderem wurde 1912 die Summe von 20 000 Reichsmark investiert, um die Sammlung neu aufzustellen: Es konnte keine endgültige Narration und keine stabile Deutung der Vergangenheit gefunden werden! Die fundamentale Erkenntnis, die dem ständigen Umbau des Museums zugrunde lag, dass die Vergangenheit als verräumlichte Zeit ständig neu beschrieben und erforscht werden konnte, bedeutete auch eine epistemische Verunsicherung.115 Obwohl die (Neu-)Entdeckung der Geschichte in einem Zeitalter, als die Erschließung bislang unbekannter Welten ein Bestandteil der kolonialen Kultur war, als Erfolg gefeiert wurde, war das archäologische Neuland durchaus ein unsicheres Terrain. Die Vorläufigkeit der jeweiligen Ergebnisse und die Unmöglichkeit einer sicheren Rekonstruktion führten die deutschen Wissenschaftler an die Grenzen ihres eigenen Wissenschaftsverständnisses. Die Fundstücke hatten weitreichendere Folgen als eine Revolution des bisherigen Wissens.116 Nicht nur die Einsicht, dass Kulturen von sich aus hybrid waren, verunsicherte Ideen europäischer Überlegenheit. Viel stärker trug dazu der Verlust von Objektivität und Rationalität bei. Einerseits erkannten die Turfanforscher dadurch den Konstruktionscharakter von archäologischen und historischen ‚Wahrheiten‘. Andererseits galten aber gerade Objektivität und Rationalität als Kennzeichen der vermeintlichen europäischen Überlegenheit über Asien. Mit dem Verlust von Rationalität und Objektivität löste sich die Sonderstellung Europas auf, und es nivellierte sich der geistig-zivilisatorische Unterschied zwischen Asien und Europa. Letztendlich wurde so die epistemische Grundlage eines dichotomischen Weltbildes nichtig. Die Ergebnisse der Turfanforschung stellten eurozentrische Annahmen im Wissenshorizont und in den daraus ableitbaren Selbstentwürfen in Frage. Diese Erkenntnis, dass Geschichte keinen objektiven Interpretationsrahmen vorgab und dass Vergangenheiten ständig (neu) rekonstruiert 113
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Das historische Baktrien umfasst die Gegend des heutigen Afghanistans sowie den Südteil Turkestans und reichte vom Hindukusch bis zu den Flüssen Oxus (AmuDarya) und Yaxartes (Sir-Sarya). Die hellenische Herrschaft in Baktrien dauerte bis 55 v. Christus, als sich das indogriechische Reich den nomadischen Saken (nordöstliche Iraner) unterwerfen musste. Dazu: Klimkeit 1988, 103-108 und Haussig 1983, 109-111. von Le Coq 1926, 1-6, wörtliche Zitate: 5-6. I/EM, 1162, Asien, Turfan (diverses), 1907/2193, Film Nr. 261, Protokoll der Sitzung des Turfankomitees, 14.1.1909, 2. Hauser 2001, 217. Hauser 2001, 231-232. Marchand 2001, 468.
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werden konnten, zog zwei Reaktionen nach sich: erstens einen Versuch, erneut die Oberhoheit des Westens festzuschreiben, und zweitens den gegenteiligen Wunsch, die Grenze zwischen den Kulturen auch in der Gegenwart zu überschreiten. Die Kategorie der ‚Mischformen‘ eröffnete die Möglichkeit, nichtindoeuropäischen Völkern erneut eigene kulturelle Leistungen abzusprechen. Durch eine Gegenüberstellung zwischen Kulturschöpfern und nur zur Nachahmung fähigen Völkern konnte die Antike als Wiege der Kunst Asiens (neu) definiert werden. Albert von Le Coq und die Turfanforschung führten die Religionen Buddhismus, Manichäismus und Christentum auf einen westlichen Ursprung zurück, die islamische Kunst konzipierten sie als Verdienst des Westens: „Es nahet also die Zeit, wo man den Arabern den unverdienten Lorbeer entreißen und wo der Name „islamische Kunst und Wissenschaft“ im Limbo der Vergessenheit verschwinden wird […]. Der Islam als Verbreiter von Kunst und Wissenschaft! Kunst und Wissenschaft sind ein Protest der edleren Rasse gegen die geistlose Religion; die ‚studia Arabum‘ stehen auf hellenischem, die ‚arabische Kunst‘ zumeist auf eranischem Boden.“117 Die Hypothese, dass die Kunst Asiens ein Ableger der räumlich expandierten Spätantike sei, konnte auch die Schere zwischen gegenwärtigem Raum und ursprünglichem Volk öffnen. Der archäologische Blick besetzte das (prä-) historische Turkestan ethnografisch als indoeuropäischen Bereich. Als Beleg des europäischen Einflusses galten die Porträts der blauäugigen und rothaarigen oder blonden Tocharer auf Wandgemälden.118 Während bereits eine in der Vergangenheit entdeckte europäische Überlegenheit die Kulturmission des Abendlandes zur vorletzten Jahrhundertwende legitimieren konnte, bedeuteten die Mischprozesse auch einen Verlust des Sonderbewusstseins und eine Dezentralisierung Europas. Dafür lassen sich drei Beispiele anführen: Suzanne Marchand hat anhand des Indologen Heinrich Zimmer, der an den Turfanfunden unter der Anleitung Heinrich Lüders gearbeitet hatte, ausgeführt, wie Indienbegeisterung die Konzepte kultureller Vorherrschaft des Westens irritieren konnte.119 Die zwei anderen Beispiele verweisen auf Versuche, aktiv kulturelle Grenzen zu überschreiten. Diese Form einer Kultur-Wanderung in der Gegenwart ergriff auch diejenigen, welche die historische Expansion des Abendlandes festschreiben wollten, wie Albert von Le Coq. Er hatte einen Artikel zu den Turfan-Expeditionen unter dem Namen Choros Zaturpanskij veröffentlicht, wobei Choros „die osttürkische (neu-uigurische) Form des neupersischen Wortes“ für Hahn ist.120 Wertet Hans-Joachim Klimkeit diese Art von ‚Namensmimikry‘ als starke Identifikation mit dem Reiseland, spricht dafür noch in stärkerer Weise die Art, wie der Text selbst gestaltet ist. Von Le Coq erzählt aus der Sicht seines osttürkischen Pseudonyms über sich selbst in der dritten Person und aus einer auktorialen Perspektive. Von Le Coq distanzierte sich zwar in der Erzählhaltung von seiner alltäglichen Identität, behielt dabei jedoch die europäische Art und den Stil des Erzählens bei. 117 118 119 120
I/EM, 1162, Asien, Turfan (diverses), 1907/2193, Film Nr. 261, Bericht zu E 2193/07, Berlin, den 6. November 1907, 2-3. von Le Coq 1926, 4-11. Marchand 2004, 331-332, 353-357. Zaturpanskij 1913, 116-127. Klimkeit 1988, 40.
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Die Perspektive des unpersonifizierten Erzählers suggerierte zudem Objektivität und Überblick, wobei diese Eigenschaften – die als klassische Kennzeichen europäischer Rationalität und somit Überlegenheit gelten konnten – auf das osttürkische Pseudonym übergingen. Das dritte und letzte Beispiel betrifft die Turfanforschung der 1920erJahre und unter anderem Reiseplanungen des Indologen Ernst Waldschmidt. Sein „Antrag einer Forschungsreise nach Vorderindien“ beschrieb einen gewollten Bruch des rein europäischen Blickes auf die indische Kunst: „Entgegen der heute herrschenden Betrachtungsmethode indischer Kunst allein vom europäischen Standpunkt aus“, erschien es Ernst Waldschmidt „unumgänglich, zu erforschen, aus welchen Gedankengängen heraus die altindischen Künstler ihre Werke geschaffen haben“. Dazu wollte er die kunsttheoretische Literatur Indiens, die bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht publiziert worden war, vor Ort studieren, um die Gedankenwelt der altindischen Künstler verstehen zu können. Er wollte in ihre Ideen in gewisser Weise ‚eintauchen‘. Die archäologisch zutage geförderten Vermischungsprozesse hatten sich während der 1920er-Jahre in Grenzgängen der aktuellen Wissenschaft und einer Suche nach angemessenen Methoden niedergeschlagen, mit denen die asiatischen Kulturen begriffen werden sollten. Das Fremde als absolute Zuschreibungskategorie wurde durch die Turfanforschung selbst zu Geschichte. Grenzgänge loteten neue Annäherungswege an die vergangene Fremde und verschiedene Erfahrungsformen aus.121 Reiseberichte brachten dem lesenden Publikum Turkestan als erzählte Landschaft näher und bündelten die Suche nach der (eigenen) Gegenwart.
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Wörtliche Zitate aus: PA AA, R 65578, Ernst Waldschmidt an das Auswärtige Amt, Berlin 30.6.1927. Dazu auch: Marchand 2009, 426.
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III. Abenteuer und Nostalgie
Am 7. Juni 1900 trafen sich während der Passage von Baku nach Krasnodwosk drei Reisende. Auf einem Dampfer, der das Kaspische Meer zwischen Russisch-Kaukasien und Russisch-Turkestan überquerte, wurde der Offiziersanwärter Wilhelm Filchner auf das Ehepaar Rickmers aufmerksam. An dieses Treffen erinnerte er sich in seinem 1903 publizierten Reisebericht „Ein Ritt über den Pamir“: „Der Abend kam, […] am dunklen Himmel brach allmählich der Silberglanz der Sterne durch, und ich wollte beginnen, mich der sentimentalen Stimmung zu überlassen, als eine lebhafte deutsche Unterhaltung meine Aufmerksamkeit auf zwei Gestalten zog. […] Es dauerte nicht lange und die Bekanntschaft war gemacht. Ich hatte das Vergnügen, den durch seine Hochtouren und Weltreisen rühmlichst bekannten Herrn W. R. Rickmers mit seiner hochgebildeten […] Frau, einer Sanskritistin und Hochtouristin von Ruf, kennen zu lernen.“1 In der Folgezeit sollten ihre jeweiligen Lebensentwürfe als Forschungsreisende zwar die Grundlage für persönliche Kontakte schaffen,2 doch die Gemeinsamkeiten lagen auch auf einer abstrakteren Ebene. Ihre Reisepublizistik eignete Turkestan der deutschen Kultur durch Erzählungen an, in deren Zentrum die Erfahrungsmuster von Abenteuer und Nostalgie standen. Der Dampfer, auf dem sich die Reisegesellschaft zur Fahrt über das Kaspische Meer und zur Grenzüberschreitung nach Asien eingefunden hatte, war Zeichen der infrastrukturellen Erschließung Mittelasiens durch die russische Kolonialmacht.3 Als Symbole des Fortschritts kennzeichneten Passagierschiffe und Eisenbahnen die Reichweite der europäischen Zivilisation.4 Reisebeschreibungen aus Turkestan lobten aber diese Art von Erschließung nicht uneingeschränkt. Wilhelm Filchners „sentimentale Stimmung“ als eine Facette des zeitgenössischen Gefühlshaushalts verweist auf den hohen Stellenwert, den Emotionen hatten, sowie die Wahrnehmung einer bestimmten Atmosphä1 2 3 4
Filchner 1903, 14. Belege für weitere Kontakte finden sich im Nachlass von Rickmers: Archiv DAV, 04.01. 0223, Eintrag vom 11. Juni 1900. Filchner 1903, 14-16. Nobel 1929, 1-22. Rieger 2005, 158-192. Schweinitz 1910, 1-5, 8. Zur Turkestan-Reise des Grafen von Schweinitz auch: BArch R 901/37682, Zeitungsausschnitt, „In Buchara“, Berliner Tagblatt, No. 630, 12.12.1909. Zur Verwaltungsinfrastruktur, den Reisebestimmungen und -beschränkungen gegenüber Ausländern innerhalb Turkestans, vgl. vereinzelte Schriftstücke in: PA AA, R 64565 und PA AA, R 11069. Im Jahr 1905 war die Reisefreiheit für Russisch-Zentralasien aufgehoben worden, so dass ausländische Reisende die besondere Erlaubnis für ihre jeweiligen Reisepläne und -routen auf diplomatischem Weg einholen mussten.
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re. Reiseberichte waren insofern auch ein Brennglas für Verlustängste, die sich auf den Preis des Fortschritts bezogen. Die Erschließung Mittelasiens durch die Infrastruktur und die Aneignung des Raums durch erzählte Reiseeindrücke waren eng miteinander verbunden.5 Die Reiseberichte erzeugten eine Infrastruktur aus Bildern, Gefühlen und Erfahrungen. Dabei bestand ein bereits von den Reisenden selbst beschriebener Zusammenhang zwischen der Erreichbarkeit Turkestans durch Verkehrswege und der Erschließung des Raums durch Narration: „Erst der auf Anregung des berühmten russischen Generals Skobelew von General Annenkow erbaute Schienenstrang, […] erschloss Centralasien einer grösseren Anzahl von Reisenden, und im letzten Jahrzehnt erschienen mehr Reiseberichte und Studien über jene Gegenden, als in allen vergangenen Jahren zusammengenommen.“6 Die Fahrten mit der Eisenbahn wurden als Bebilderung des mittelasiatischen Raums erlebt.7 Die individuellen Eindrücke in den Reiseberichten bildeten ein Set standardisierter Erfahrungsmuster, die Turkestan emotional-kognitiv erschlossen.8 Abenteuer und Nostalgie basierten auf gegensätzlichen Wahrnehmungen von Raum und Zeit im Reiseland, wobei die europäische Gegenwart ein wichtiger Bezugspunkt blieb. Erzählerische Verbindungen von Raum und Zeit lassen sich mit dem russischen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin als Raumzeit oder Chronotopos erfassen.9 Leitend für Bachtins These ist, dass Raum und Zeit in Erzählungen untrennbar miteinander verbunden seien , dass die Zeit die vierte Dimension des Raumes sei. Nach Bachtin ergibt sich aus der Verschmelzung von räumlichen und zeitlichen Merkmalen eine neue Synthese aus Raum und Zeit als ein einheitlicher, in sich geschlossener Begriff. Bachtin entwickelte eine Typologie von Chronotopoi wie zum Beispiel den Weg, das Schloss oder das Provinzstädtchen. So galt ihm das Provinzstädtchen als Ort einer zyklischen Alltagszeit, der Weg als Metapher für den Strom einer linearen Zeit oder das Schloss und historische Gebäude als Orte einer geschichtlichen Zeit. Bestimmte Bewegungsmuster und Plätze prägten auch die Chronotopologie der Reiseerzählung aus Turkestan. Abenteuer wurde auf Routen durch den Raum, auf Bachtins Weg, erfahren.10 Nostalgie ist an ein langsames Schlendern durch Stadtkerne und historische Räume gebunden. Chronotopoi verknüpfen Zeit, Erfahrung und historische Emotionen. Abenteuer und Nostalgie waren abhängig vom Erschließungsgrad und von zwei bestimmten mental maps geprägt: Erzählungen vom Abenteuer spielten sich in der (zeitlich und räumlich noch) unerschlossenen ‚Wildnis‘ ab, während die Nostalgie im vermeintlich verschwindenden ‚Orient‘ der Altstadtkerne ihren Raum gefunden hatte.
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Moser 1888, VIII. von Hahn 1898, 140-144. Albrecht 1896, 2. Karutz 1904, 5. Rohrbach 1898, 92. Wegner 1989, 1357-1367. Schulz-Forberg 2006, 35-47. Bachtin 1989, 7-8, 191-209. Wegner 1989, 1361.
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1. Abenteuerzeit Für Wilhelm Filchner war die Sache einfach. Das Abenteuer begann, wo das Kulturland endete.11 Für den heutigen wissenschaftlichen Versuch, Abenteuer als kulturelles Konzept einer vergangenen Gesellschaft zu analysieren, gestaltet sich der Gegenstand doch komplizierter. Die Beschreibung einer Erfahrung als Abenteuer kann Selbst- oder Fremdcharakteristik, Zeitdiagnose oder Bewertung expost sein. Demnach gibt es zum Abenteuer verschiedene Zugänge. Auf die Präsenz der Beschreibungskategorie im Kaiserreich reagierte bereits Georg Simmel. In der nach seinem Tod erstmals 1923 herausgegebenen Essay-Sammlung „Philosophische Kultur“ analysierte der Soziologe und Lebensphilosoph das Abenteuer als ein Element seiner damaligen Gegenwart.12 In Bezug auf den Boom des Abenteuers in der Weimarer Zeit erschienen Simmels Ausführungen geradezu postum als Zukunftsprognose. Willi Rickmers erlebte die „Nachkriegszeit als Zeit des Abenteuers“ beziehungsweise als „Abenteuerzeit“.13 Mit „Abenteuerzeit“ beschrieben die Zeitgenossen eine, und zwar ihre eigene, historische Epoche. Abenteuer galt ih nen darüber hinaus auch als eine Form, Zeit insgesamt zu erfahren und zu erleben. Differierten schon die zeitgenössischen Versuche, Abenteuer konzep tionell zu fassen und dessen „Zeitform“ 14 zu definieren, ist die heutige Reflexion zwar in Bezug auf die Anzahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen überschaubar. Doch die Erklärungsansätze und Analyseschwerpunkte sind – je nach Fachdisziplin – heterogen.15 Umgekehrt verhält es sich mit dem Korpus historischer Quellen. Der unüberblickbaren Anzahl von Reisebüchern, die dem Genre der Abenteuerpublizistik zugerechnet werden, steht eine standardisierte Erzählstruktur gegenüber, die den Globus in einem narrativen System verfügbar machte.16 Wie von Mechthild Leutner herausgearbeitet worden ist, steht die Bewährung eines meist männlichen, weißen und bürgerlichen – kurz: europäischen oder nordamerikanischen – Helden in einem als unbekannt, gefährlich und wild porträtierten, außereuropäischen (Natur-) Raum im Vordergrund. 17 Die populär gehaltenen Expeditionsberichte wurden von einer Flut von Veröffentlichungen kommentierender und zusammenfassender Provenienz wie Zeitungsartikel ergänzt. Auch das Kino hatte den Nachrichten- und Unterhaltungswert von Expeditionen erkannt.
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Filchner 1903, 47. Simmel 1983, 13-26. Rickmers 1930b, 504-507. Simmel 1983, 14. MacKenzie 1992, 109-137. Phillips 1997. Riffenburgh 1994. Glaser et al. 2002. Fritze et al. 1983. 16 Abenteuerliteratur kann belletristischer oder dokumentarischer Provenienz sein, die Jugend, aber auch Erwachsene als Zielgruppe ansprechen. Das Abenteuerkonzept verließ mit den Berichten von Forschungsreisen den Bereich der Belletristik. Zur Lesart der populärsten geografischen Literatur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, der narrativ-unterhaltsam gehaltenen Reiseberichte als Abenteuererzählungen: Phillips, 8-9. 17 Leutner 1995, 84-102.
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Ein historischer Zugang zum interdisziplinären Forschungsfeld fragt nach der Bedeutung von Abenteuer als Handlungsraum. Bisherige historische Erklärungsversuche bleiben im deutschen Kontext meist auf der Ebene der Funktionalisierung von imperialen Abenteuererzählungen.18 Doch erst die Frage nach spezifischen Raum- und Zeiterfahrungen kann erklären, warum das Abenteuer nach den Brüchen politischer Zusammenhänge für die deutsche Gesellschaft in der Zwischenkriegszeit bedeutend blieb. D YNAMISIERTE Z EIT -
UND
R AUMERFAHRUNG
Abenteuer besetzte Räume durch Bewegung. Wie viel Bedeutung der Bewegung durch den Raum sowie einer zielgerichteten zurückgelegten Strecke beigemessen wurde, lässt sich an den Namen von Reiseberichten ablesen. Buchtitel wie „Ein Ritt über den Pamir“, „Durch Tibet und Turkistan“, „Der Weg nach Osten“ oder „Quer durch Afghanistan nach Indien“ weisen hin auf das Prinzip der Durchquerung und der Dynamik.19 Das Durchreisen von Raum, die Überwindung von Entfernungen in Gewaltmärschen oder Eilritten verbanden sich zum zentralen (Bewegungs-)Moment des Abenteuers. Die darin enthaltene kinetische Energie entspricht der dynamisierten Raum- und Zeiterfahrung des Hochimperialismus. Die Reiseroute bündelte als symbolische „Kraftlinie“ durch den Raum zwei Funktionen.20 Erstens ist der historische Ort der abenteuerorientierten Expeditionen Deutschlands Suche nach einem „Platz an der Sonne“ im Kaiserreich. „Kraftlinien“, verstanden als Kontinentsdurchquerungen, wandelten sich von ihrem historischen Kontext ausgehend – der Erschließung des afrikanischen Binnenlandes – zu einem politischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Machtritual des Hochimperialismus. Das Abenteuer schuf demnach mehr als nur populäre Reiseberichte an der Schnittstelle zwischen Unterhaltung und Wissenschaft. Abenteuererzählungen setzten den Weltmachtanspruch und die Weltherrschaftsfantasien des Deutschen Reiches in Heldenfiguren und plastische Vorstellungswelten um.21 Gegenüber dem durchreisten Raum Mittelasien verkörperten imperiale Abenteurer europäische Überlegenheit. Zweitens diente das Abenteuer der Konstruktion von Gegenwart und der Definition von Präsenz durch Bewegung.22 Dem Prinzip des Durchreisens ist somit auch eine Ebene eingeschrieben, die auf eine symbolische Aneignung von Raum und Zeit abzielte. Die zielgerichtete räumliche Route entsprach dabei einerseits der zeitlichen Linie eines vorwärtsgerichteten Fortschrittsdenkens. Abenteuerliches Erleben sollte andererseits gleichzeitig einen kurzfristigen Ausstieg aus der linearen Zeiterfahrung ermöglichen und war ein Versuch, durch permanente Bewegung diejenigen Augenblicke zu erfassen, die den Reisenden ‚Gegenwart‘ erfahren ließen.
18 Z. B. Mierau 2006, 76-77. 19 Bosshard 1930. Ross 1924. Trinkler 1925. Leutner 1995, 84-85. Simmel 1983, 22. 20 Honold 2005, 138-156. Kern 2003, 109-130. Zur Übertragung des physikalischen Begriffs der „energetisierten Linie“ oder „Kraftlinie“ in die Geschichtswissenschaft: Maier 2000, 807-831. 21 Vgl. für den angloamerikanischen Kontext: Ellis 2001, 41. 22 Simmel 1983, 15, 22.
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Anhand von Wilhelm Filchners „Ritt über den Pamir“ (1900) lassen sich die Koordinaten klassischer Abenteuererzählungen und ihre politischen und soziokulturellen Funktionen im Deutschen Kaiserreich ableiten. Die Expedition Gustav Stratil-Sauers (1925) zeigt vor allem den Bedeutungs- und Funktionswandel des Abenteuers als Ausbruchsversuch und Suche nach Selbsterfahrung durch das Erleben von ‚Gegenwart‘. H ISTORISCHE ‚K RAFTLINIEN ‘ Als Anfangsereignis einer historischen Genealogie deutscher „Kraftlinien“ durch Asien eignet sich der „Ritt über den Pamir“ des Münchener Offiziers Wilhelm Filchner nicht nur deshalb, weil er in das Jahr 1900 fiel, das ohnehin einen Beginn assoziieren ließ. Sein „Ritt über den Pamir“ war vielmehr paradigmatisch für die Erzählung der Turkestan-Abenteuer im Kaiserreich. Nach seinem bereits für das Deutsche Reich ideologisch als Held der eigenen Nation eingenommene n Vorbild, dem Schweden Sven Hedin, eröffnete Wilhelm Filchner die Tradition deutscher Kontinentsdurchquerungen durch Asien. Sein Ritt war heroisches Machtritual und zugleich eine Markierung symbolischer Präsenz. Denn seit Henry Morton Stanleys Durchquerung des ‚dunklen Kontinents‘ gehörten die so genannten Querschnitte zum Repertoire kolonialer Machtrituale.23 Eines ihrer Ziele lag darin, den Raum auf einer direkten Route zu durchmessen, wobei sich Stanley nicht mehr (nur) an den natürlichen Gegebenheiten orientieren wollte und Barrieren im Raum sogar als Herausforderung bewertete, die es zu meistern galt. Während Stanley zu Fuß von Ostafrika über den Kongo nach Westen marschiert war, wählte Filchner das Pferd als Fortbewegungsmittel. Eilritte durch koloniales Gebiet schufen passende Erzählungen für eine aufstrebende Großmacht. Erich von Salzmann beendete seine militärische Dienstzeit in China mit einem Gewaltritt. Ein Standardvorgang, die Heimkehr eines Offiziers vom kolonialen Garnisonsdienst, wurde zu einem Spektakel der Dynamik. Seine Heimkehrroute „auf dem Landwege“ von Tientsin nach Berlin durchmaß eine stattliche Strecke in rekordverdächtigem Tempo.24 Der Untertitel von Salzmanns Reisebericht nannte als Raum- und Zeitangabe: „6000 Kilometer in 176 Tagen“. Salzmanns Buch erschien 1903, im selben Jahr wie Wilhelm Filchners Beschreibung „Ritt über den Pamir“. Die „Kraftlinie“ zu Pferd als militärisches Ritual erlebte 1937 nochmals eine letzte Renaissance mit Rittmeister Wilhelm-Karl Herrmanns „Ritt für Deutschland“.25 Diese späte NS-Version von ritterlichem Heroismus war bereits von der Zeit selbst überholt worden. Denn Gewaltritte hatten in den 1920erJahren eine Fortsetzung in Kontinentsdurchquerungen mit Automobilen oder per Motorrad erfahren, wie in der Rekordfahrt von Leipzig über Afghanistan nach China, die der Geograf Gustav Stratil-Sauer 1925 unternommen hatte.26
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Driver 2001. Driver 1991, 134-166. Salzmann 1903, 1-25. Herrmann 1940. Stratil-Sauer 1927, 17. Zu Kontinentsdurchquerungen des Autoherstellers Citroën: Blacker 1933, 53-58.
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Abbildung 1: Routenkarte zum Distanzritt in die Mongolei
Quelle: von Salzmann 1903, 1. Das zielgerichtete Überfliegen war eine weitere Form des Überwindens von Raum. So hatten zum Beispiel 1925 Sven Hedin und Hugo Eckener das „Projekt einer Forschungsreise im Zeppelin nach Hochasien“ angedacht. Geplant war es, „vom Luftschiff aus alle unerforschten grösseren Komplexe Asiens durch fotografische und kartografische Aufnahmen zu erschließen“. Schon die Ausdehnung des zu überfliegenden Raums von Südostarabien über Russisch-Turkestan nach Tibet und der ohne geringste wissenschaftliche Notwendigkeit gewählte Weiterflug nach Tokio verweisen auf einen bewussten, propagandistischen Einsatz (post-)kolonialer Performanz im Dienste megalomanischer Bemächtigungsfantasien: „Die Kunde von dem großen deutschen Schiff, das hoch in der Luft über die Welt segelt, würde bis in das letzte arabische Zelt, bis in die letzte mongolische Jurte dringen, und 300 Millionen Chinesen würden von dem gewaltigen Drachen sprechen, mit dem die Deutschen um die Erde fliegen.“27 Auch wenn Beschleunigung einen Versuch darstellte, Zeit und Raum zu überwinden, blieben die Erzählungen darüber Bestandteil des soziokulturellen und politischen Horizonts.
27 Wörtliche Zitate aus: PA AA, R 64587, Deutsche Gesandtschaft Stockholm, Nr. C 173 an das Auswärtige Amt, Stockholm 18. März 1925.
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Abbildung 2: Colin Ross’ Reiseweg durch Eurasien
Quelle: Ross 1924, 10. Abbildung 3: Stratil-Sauers Weg von Konstantinopel bis Afghanistan
Quelle: Stratil-Sauer 1927, 279.
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2. Koordinaten des Abenteuers Im historischen Selbstbewusstsein einer aufstrebenden Großmacht verankert, prägte der Münchener Offizier Filchner eine der ersten narrativen „Kraftlinien“ des Kaiserreichs. Das semantische Feld des Abenteuers wurde auf den ersten Textseiten abgesteckt. Bereits im Vorwort porträtierte kein Geringerer als Sven Hedin den Pamir als Raum der „Strapazen“ und „Gefahren“: „Über den Pamir tanzt man nicht auf Rosen – das weiß ich aus eigener Erfahrung“28 – so sein nüchternes Fazit. Flankiert von Signalwörtern wie „Wildnis“, „unbekannt“, „Geheimnis“ umriss Wilhelm Filchner daraufhin sein eigenes Programm. Die Expedition solle ihm Testfeld der „körperlichen Widerstandsfähigkeit“ beziehungsweise „Maßstab“ für die „körperliche Leistungsfähigkeit“ im Dienst einer idealen wissenschaftlichen Lebensaufgabe sein. Dabei leitete das Prinzip der heroischen Einsamkeit seinen Ritt: „Um dieses Ziel zu erreichen, reiste ich allein.“29 Nach der Anreise über Baku und Andischan brach der dreiundzwanzigjährige Leutnant Filchner mit zwei Pferden und in Begleitung eines Dschigiten oder „eingeborenen Meldereiters“30 in die pamirische „Wildnis“31 auf. Schon die Zeitspanne von einem nur dreimonatigen Urlaub, die für sein Vorhaben, den Pamir von Russisch-Turkestan nach Afghanistan zu überqueren und über Indien die Heimreise anzutreten, zur Verfügung stand, gemahnte zur Eile. Auf dem Weg zur indischen Grenze erfuhr er vom Boxeraufstand in China, was eine Änderung seiner Reiseroute zur Folge hatte: „Unter diesen Umständen verloren die Wege nach Süden, nach dem Indus, für mich an Bedeutung. Meine ganze Teilnahme und alle meine Gedanken richteten sich nach Osten, auf das chinesische Reich.“32 Als deutscher Offizier erachtete es Filchner als seine Pflicht, zum Krisenherd zu gelangen. Er setzte seinen Gewaltritt dementsprechend über Ostturkestan fort, wobei er in Kaschgar erfahren musste, dass „der einzige Weg, den Kriegsschauplatz im Osten des Reiches zu erreichen […] über Europa“ führte.33 Von Osch aus brach er über Baku mit dem Schiff in die Heimat auf. Aufgrund einer Malariaerkrankung blieb Filchner die Teilnahme an der militärischen China-Expedition, die die Unruhen niederschlagen sollte, „versagt“, wie er es selbst ausdrückte.34 „Überwindung des Pamirs“35 war Filchners Reise- und Erzählprinzip. Obwohl die Narration durch die Etappen der Reiseroute und die Chronologie des Reiseverlaufs strukturiert war, verfolgten ihre Koordinaten zusätzlich ein thematisch-systematisches Programm. Es umriss mit den drei Themenfeldern ‚imperiale Räume‘, ‚Fortschritt und Tradition‘ sowie ‚Heldenmythen‘ be28 Filchner 1903, VI (Zur Einführung von Sven Hedin). 29 Filchner 1903, VII. Auch: Filchner 1950, 27. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, (Teil-)Nachlass Filchner, Zeitungsausschnitt, „Ritt über den Pamir“, Beilage zu Nr. 8 des Hannoverschen Anzeigers, Dienstag 11. Januar 1938. Zur literarischen Figur des ‚Helden‘ Herrmann 1972, 320-358. 30 Filchner 1950, 27. 31 Filchner 1903, V. 32 Filchner 1903, 91. 33 Filchner 1903, 161. 34 Filchner 1903, 230. 35 Filchner 1903, 223.
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stimmte Parameter der deutschen Weltpolitik. Der Pamir diente in der Erzählung einerseits als Kontaktzone, andererseits als Raum einer Bewährungsprobe, deren Ergebnis in der Konstruktion heroischer Identität als nationalem Leitbild bestand.36 I MPERIALE R ÄUME Die Kategorie ‚Raum‘ hatte in Filchners Bericht eine mehrfache Dimension. Sie war natürliche Landschaft und geografischer Forschungsraum einerseits, kolonialer und (geo-)politischer Machtraum andererseits. Wilhelm Filchners abenteuerlicher Gewaltritt bedurfte beider Raumebenen, um Gefahrenquellen und Bewährungsproben zu konstituieren. Genügend an Herausforderung lieferte zwar allein die geografische ‚Wildnis‘. Doch gerade die Bedeutung des Pamirs als geopolitischer Grenzraum sowie als russisches militärisches Sperrgebiet, das nur mit einer Ausnahmegenehmigung bereist werden durfte, schuf eine angespannte Situation.37 Die Geografie selbst schien in dem politischen Grenzgebiet zwischen China, dem britischen und dem russischen Imperium in Bewegung geraten zu sein.38 Eines der Werke, die Filchner zu seiner Expedition motiviert hatten, war die Broschüre „Vordringen der russischen Macht in Asien“ des damaligen Abteilungschefs im großen Generalstab, Major Graf Yorck von Wartenburg. Darin war die russische Politik in Mittelasien als „Jagd nach der Grenze“ charakterisiert worden.39 Vor Ort durchzogen russische Truppen und Vermessungsexpeditionen, chinesische Wachsoldaten, britische politische Agenten, aber auch Karawanen der einheimischen Nomaden das Grenzland. In der Natur waren Hindernisse wie reißende Flüsse, bedrohliche Sümpfe und angriffslustige Tiere zu überwinden. Filchner trotzte Gewitter und Unwetter und bewältigte auch ausgetrocknete, wasserarme Wegstrecken. In der russlandfreundlichen und prokolonialen Tendenz des Reiseberichts lieferte die chinesische Seite politische Bewährungsproben. Das Bedrohungsszenario wurde durch den gleichzeitigen Kriegszustand zwischen dem Deutschen Reich und China verstärkt: „Die Kriegsnachricht im Juli 1900 hatte auf einmal wieder eine gärende Bewegung erzeugt. Die Unsicherheit, die infolgedessen in Kaschgar und Ostturkestan herrschte, bestimmte mich deshalb, ohne lange Vorbereitung die Chinesenstadt zu verlassen.“40 Filchner hatte nicht nur Gelegenheit, sich bei Konfrontationen mit chinesischen Grenzwachen sowie vermeintlich zwielichtigen Zivilisten zu bewähren. Die in Überheblichkeit gemünzte Furcht vor dem Anderen gipfelte in einem angeblich als Essenseinladung getarnten Giftmordanschlag. Ihn habe der chinesische
36 Zum Begriff contact zone als Raum der Begegnung zwischen Reisendem und bereistem Land innerhalb einer Matrix ungleicher Machtverhältnisse: Pratt 1992, 7. 37 Filchner 1950, 27. 38 Zur ‚Dynamisierung‛ von Raum durch Erschließung: Holtorf, 164. 39 Yorck von Wartenburg 1900, 14. 40 Filchner 1903, 184.
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Machthaber in Kaschgar gegen Filchner ausgeheckt. Filchner habe jedoch zusammen mit dem russischen Konsul die Intrige durchschaut.41 Filchner behandelte die Weltpolitik auf einer allgemein kolonialpolitischen und auf einer speziell deutschnationalen Ebene. Die russische Kolonialherrschaft war durch die Infra- und Verwaltungsstruktur wie Militärstraßen mit ihren Posten sowie Forts und Festungen präsent. Tagesaktuelle Kolonialpolitik war zum Beispiel in Form des südafrikanischen Burenkriegs ein Gesprächsgegenstand. Außerdem verfolgte Filchner konsequent die nationalpatriotische Erzähllinie von „Deutschland in der Welt“. Er traf ständig auf Deutsche, das Deutsche Reich und die deutsche Kultur. Auch jenseits der Botschaften, die im Kulturland die offizielle Präsenz absteckten, war Deutschland zugegen wie im „Gruß ‚Grüß Gott‛“42 oder in einem Perser, der die deutsche Sprache beherrschte. Deutsche Waren, Zeitungen und Zeitschriften waren im Pamir erhältlich. Der englische politische Agent in Taschkurgan besaß nicht nur ein Bild Kaiser Wilhelms, sondern eine ganze Galerie der politischen Würdenträger des Deutschen Reiches. Auf das Wohl Wilhelms II. und das deutsche Vaterland stieß Filchner mit den russischen Offizieren an: „Ein Toast reihte sich an den anderen, auch solche auf S.M. meinen Kaiser, auf Bayern und die deutsche Armee folgten.“43 Trotz allem deutschnationalen Patriotismus verortete sich Filchner selbst innerhalb einer nationale Gegensätze überschreitenden, deutsch-russischen Offizierskameradschaft. F ORTSCHRITT
UND
T RADITION
Filchner beschrieb Fortschritt und Tradition als eindeutiges Gegensatzpaar: Europa verkörperte den Fortschritt, der Pamir stand, trotz der unübersehbaren Dynamik in diesem Raum, für Tradition. Zwischen diesen beiden Extrempolen war China als ‚halb rückständige‘ Macht zwischen Bedrohung und Dekadenz situiert.44 Das Verhältnis zwischen Fortschritt und Tradition schilderte Filchner als ungleiches Machtverhältnis. Im Zentrum stand die angenommene kulturelle Überlegenheit Europas. Räumlich begegnete Filchner dem Fortschritt in erster Linie im Bereich der Städte und bezeichnete ihn auch als Kultur und Zivilisation. Filchner entdeckte Traditionen vor allem im Leben der kirgisischen Nomaden. Als Angehörige eines „Naturvolks“45, späte Vertreter des „edlen Wilden“ und stumme Begleiter halfen sie ihm indirekt auf seinem Gewaltritt.46 Im Gegensatz zur schwierig einzuordnenden Macht China waren den Kirgisen, als Relikte einer im Zeitalter des globalen Fortschritts verblassenden Lebensform, der potenzielle Bedrohungscharakter und die verunsichernde Mehrdeutigkeit des Fremden abhanden gekommen. Sie wurden mit ihrer ei41 Zu Filchners Rassismus: Leutner 1995, 93. Der Gegenentwurf zum gefährlichen China bestand in einer Beschreibung der Dekadenz und dem Klischee des Opiumkonsums: Filchner 1903, 99. 42 Filchner 1903, 24. 43 Filchner 1903, 222. 44 Vgl. auch: Steinmetz 2007, 365-507. Zum deutschen ‚Chinabild‘: Jacobs 1995. 45 Filchner 1903, 103. 46 Leutner 1995, 89-91.
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genen nomadischen Infrastruktur der Karawanen, der Zeltlager und Meldereiter in der Erzählung vereinnahmt. So war zum Beispiel die irritierende Gestalt des Dschigiten mehr Schatten als Akteur. Das mehrmalige plötzliche Verschwinden und unvermittelte erneute Auftauchen lässt nicht einmal sicher sagen, ob es sich immer um ein- und denselben Meldereiter, der mit Filchner reiste, handelte. Als Typus des autochthonen Begleiters legitimierte er koloniale Hierarchien. Eine subversive Deutung der Präsenz des Dschigiten, die den Mythos des einsamen, heroischen Ritts innerhalb des Reiseberichts infrage stellte, wurde durch eine Palette gewachsener Kolonialimaginationen, die Filchner auf die kirgisischen Nomaden projizierte, im Keim erstickt. Filchner schrieb dabei Beziehungsmuster zwischen ihm als Europäer und den „fürsorglichen Barbaren“47 fest, die vor allem auf einer Bandbreite von Machtdemonstrationen seinerseits und unterwürfigem Respekt auf der Gegenseite beruhten: „Am anderen Morgen lagen die Leute schlafend vor dem Zelt, wie treue Hunde vor der Türe ihres Herren. Auch die alte Kirgisin hatte im Freien übernachtet. Wie rührend gastfreundlich von dem unkultivierten Hirtenstamm, dem Fremden das Zelt zu überlassen auf Kosten der eigenen Behaglichkeit.“48 Dieses Zitat, in dem Filchner eine „Gastfreundschaft“ der einheimischen Bevölkerung ihm gegenüber als sein gutes Recht beschreibt, verdeutlicht sein Selbstverständnis als Vertreter eines „Herrenvolkes“. Er diente als ein Leitbild der imperialen Weltpolitik und verkörperte in diesem Rahmen den Machtanspruch des Deutschen Reichs.49 H ELDENMYTHEN Obwohl, wie Leutner festgestellt hat, die pamirische Wildnis nur als Bühne für Filchners Auftritte diente, bedurfte er dennoch der Natur und ihrer Bewohner.50 Im Kontakt füllte er die im Mythos des einsamen Helden verankerte „Utopie vom ganzen Menschen“51 aus. Dieses Ideal einer überdurchschnittlich und vielseitig begabten Person, die in fast jeder Situation instinktiv richtig zu handeln und Überblick zu bewahren vermag, inszenierte deutsch-nationale Überlegenheit. Im Gegensatz zur Eindeutigkeit, die Filchner den kirgisischen Einwohnern zugeschrieben hatte, war er selbst fähig, zwischen den Zeit- und Kulturstufen zu wandern. Er konnte sich der Verhaltensmuster der Wildnis und der Zivilisation gleichermaßen bedienen. Jeder Wiedereintritt in den Bereich der europäischen Kultur, zum Beispiel beim Besuch von Städten, erschien ihm als „Wechsel der Zeit“52. Im Prozess der Selbstkultivierung tauschte er „den Rock aus Wolfspelz, […] eine wollene 47 Filchner 1903, 61. 48 Filchner 1903, 96. 49 Zur Rezeption dieser Rolle von der Presse: BArch R 8034/III, z. B. Bl. 124 (RS), Zeitungsausschnitt, „Der Weg des Forschers Wilhelm Filchner. Vom Gewaltritt über den Pamir bis zur letzten Asien-Expedition – Ein Leben voller Mut und Ausdauer!“, Berliner Morgenpost, Nr. 6, 7.1.1938. Presseausschnitte auch in: Archiv der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Geodätische Kommission, Nachlass Wilhelm Filchner, Gruppe VIII a, lfd. Nr. 1-3, „Pressestimmen“. 50 Leutner 1995, 88-95. 51 Herrmann 1972, 341-346. Simmel 1983, 17. 52 Filchner 1903, 222.
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Hose mit Ledergamaschen […] und einen Kirgisenhut“53 gegen den „schwarzen Gehrock“54 ein. Auch ein sichtbarer Rest des anderen Lebens in der Wildnis konnte daneben bestehen: „Wie neugeboren kam ich mir vor, als ich in frische Kleider schlüpfte. Ich fühlte mich wieder ganz kultiviert; nur das verwilderte Gesicht und das ungeschnittene Haar wollten nicht recht zu dem sauberen Kragen und der modernen Mütze passen.“55 Trotz dieser Fähigkeit, Wildnis und Zivilisation in seiner Person zu vereinen und einer damit verbundenen Anlage zur Ambivalenz, besaß Filchner genügend Distanz zum Pamir und ausreichend Vaterlandsliebe, um die Dominanz der eigenen Heimatkultur in seinen Grenzgängen nicht zu hinterfragen, sondern als Bestandteil heroischer Identität zu bestätigen. In manchen Fällen gipfelten die Gefahren, denen der Held in der widrigen Natur und den politischen Krisenherden ausgesetzt war, im Verschwinden, im Verschollensein und in (politischer) Gefangenschaft. Filchner hatte genug Humor, die zahlreichen Nachrufe zu Lebzeiten in einem Artikel über sich als der „Mann, der nicht sterben wollte“ zu verarbeiten. Er hatte auch das nötige Mediengeschick, um sich dadurch erst recht als Haudegen zu stilisieren.56 Wenn die öffentliche Aufmerksamkeit ein Gradmesser für soziokulturelle Bedürfnisse ist, dann reichte das heroische Abenteuer bis in die Weimarer Zeit.57 Mit dem Verlust der deutschen Weltstellung im Vertrag von Versailles erfuhr der Funktionszusammenhang von Abenteuer und Nation jedoch auch eine Neujustierung.58 Diese historische Situation ging zusätzlich mit einem prinzipiellen Legitimationsschwund kolonialer Herrschaft über Asien einher. Obwohl aus diesen Gründen das Abenteuer zum Beispiel bei der Alai-PamirExpedition kritisch reflektiert wurde, blieb es gleichzeitig bei anderen Expeditionen als Bewährungsraum intakt. Als soziokulturelle Massenutopie war es in den 1920er- und 1930er-Jahren in Büchern und im Kino präsenter denn je zuvor.59 Zwar wurde in der Zwischenkriegszeit der imperialistische und weltpolitische Kontext brüchig;60 doch eine gewisse Anarchie in Mittelasien, die eine Folge des Erstens Weltkriegs und ein Resultat der veränderten politischen Lage war, schuf neue Abenteuerräume, wie der Weltreisende Colin Ross zu Beginn der 1920er-Jahre ausführte: „In einem großen Teil der Welt sind die Straßen verschüttet, die Pässe versperrt. Wo man ehemals bequem im Schlafwagen dahinfuhr, schlägt man sich jetzt in abenteuerlicher Weise in Güterzügen, auf Naphtha- und Viehwagen durch. Auf einst sicheren Karawanenstraßen reitet man wieder, den Karabiner auf der Hüfte. Nie galten seit 53 54 55 56
57 58 59 60
Filchner 1903, 42. Filchner 1903, 160. Filchner 1903, 222. Filchner 1944. Archiv der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Geodätische Kommission, Nachlass Wilhelm Filchner, Gruppe I b, lfd. Nr. 1 b, „Totgesagt am laufenden Band. Bericht über einen Mann der nicht sterben wollte“ (maschinenschriftliches Manuskript Filchners über die Rezeption seiner Forschungsreisen innerhalb Deutschlands und über Pressemitteilungen, die mehrmals seinen Tod verkündeten). Vgl. die Vielzahl von Presseartikeln in den Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes, z.B: in PA AA, R 65579 und PA AA, R 64587. BArch R 1501/115966, Bl. 267- Bl. 268. Schöning 1997. Struck 2003, 263-281.
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Abenteuer und Nostalgie
hundert und mehr Jahren im Herzen Asiens Geleitsbriefe und Empfehlungsschreiben gleich wenig, nie stand der Reisende so ganz und ausschließlich auf sich allein, auf seine Energie und Tatkraft.“61 Die politischen Gefahrenquellen und die unübersichtliche Lage übten auf Draufgänger-Typen wie Colin Ross, Walter Stötzner oder Gustav Stratil-Sauer nicht die geringste abschreckende Wirkung, sondern vielmehr eine sehr große Anziehungskraft aus.62 „R AUSCH
DES
A UGENBLICKS “
Den Leipziger Geografen Gustav Stratil-Sauer zog sein Erlebnishunger 1925 nach Asien. Die Gefahren einer Kontinentsdurchquerung erfuhr er dabei am eigenen Leib, da er auf halber Strecke seiner geplanten Reiserroute von Leipzig nach China in Afghanistan aufgrund eines Tötungsdeliktes verhaftet wurde. Sein Gerichtsprozess führte sogar zu diplomatischen Verwicklungen zwischen dem Deutschen Reich und Afghanistan, weil Stratil-Sauer bei einem Fluchtversuch vom deutschen Geschäftsträger Fritz Grobba unterstützt wurde. Stratil-Sauer publizierte seine Erlebnisse der nicht vollendeten Motorradfahrt unter dem treffenden Titel: „Fahrt und Fessel. Mit dem Motorrad von Leipzig nach Afghanistan“.63 Obwohl Stratil-Sauers Expedition alleine aus diesen Gründen politische Brisanz erhielt, waren seine eigentlichen Motive unpolitischer Natur. Er bewarb zwar auch, um die Expedition zu finanzieren, deutsche Produkte auf Asiens Landstraßen und lotete mögliche Absatzwege und -märkte für deutsche Verbrauchsgüter aus; doch auch die wirtschaftspolitische Erschließung Asiens war nicht sein vorrangiges Interesse an der Expedition. Hinter dem Abenteuerboom der Zwischenkriegszeit standen nicht nur der Traum vom verlorenen ‚Platz an Afrikas Sonne‘ und der Wunsch nach neuen Wirtschaftsräumen.64 Abenteuer beruhte darüber hinaus auf einer Überwindung von Raum und einer Suche nach ‚Gegenwart‘ jenseits historischer und politischer Tiefenschärfe. Reisen wurde zu einem Ritual. Diese spezifische Form des Abenteuers hatte eine Art des unmittelbaren, aus dem Kontext des gesamten Lebens gelösten Erlebens zum Ziel. Georg Simmel hatte dieses Aufgehen im Moment der Erfahrung als „Rausch des Augenblicks“ und spezifisches Gegenwartsgefühl beschrieben, das keine andere Perspektive als die gerade durchlebte Zeit, weder in die Vergangenheit noch in die Zukunft, kannte.65
61 Ross 1924, 3. 62 Baumunk 1997, 85-94. 63 Die Unterlagen zur Motorrad-Expedition und zum Gerichtsprozess finden sich in: PA AA, R 64587, PA AA, R 64588 und PA AA, R 64589. 64 PA AA, R 64587, Erklärung gez. Prof. Dr. W. Volz, Max Graf Solms, Dr. Raimund Köhler, Leipzig-Assenheim, im Mai 1924, 1-2. PA AA, R 64587, Abschrift III 5485, Dr. Gustav Stratil-Sauer an den Reichskanzler, Leipzig, 17. Juni 1924, 1. PA AA, R 64587, Muster einer Werbebeschreibung an die deutschen Firmen, Leipzig im Juni 1924, 2. Stratil-Sauer, 14. PA AA, R 64587, Zeitungsausschnitt, „Durch Centralasien nach China mit Motorboot und Motorrad“, Kreuz-Zeitung, 22. August 1924. 65 Simmel 1983, 15.
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Turkestan-Expeditionen
Abenteuer galt in der Zwischenkriegszeit als „Lebensnotwendigkeit“ und als Ergebnis eines „Selbsterhaltungstriebs“. Erleben und das Leben in der Gegenwart erschienen als richtige Strategien, einer Zeit des Umbruchs zu begegnen, die nicht mehr den gewohnten Regeln gehorchte. Laut Rickmers äußerte sich das Abenteuer während der Zwischenkriegszeit in zwei miteinander verbundenen Formen, „als Reise in den Geist und Reise in die Fremde. Noch nie gab es so viele Erlebnisschreiber; noch nie sind so viele verborgene Dichter ans verdiente Tageslicht gekommen; noch nie gab es so viele Weltenbummler ohne Geld und ohne bestimmte Aufgabe außer der, etwas zu erleben, das vielleicht zu irgendeinem Erwerb oder zu lohnender Berichterstattung führen möge.“66 Der Verkauf von Erlebnissen sollte aus dieser Perspektive zwar auch die finanzielle Basis für eine gesicherte Existenz schaffen; Abenteuer als Lebensentwurf der Zwischenkriegszeit hatte als „Reise in die Fremde“ jedoch auch eine kompensatorische Funktion. Reisen „in Permanenz bildete […] eine […] Form, die Weimarer Republik nicht zur Kennt nis nehmen zu müssen“. 67 Das Abenteuer als „Lebensprozess“ 68 und „tatbewegte Erlebnisgier“69 schuf Ausbruchsmöglichkeiten aus der politisch und wirtschaftlich propagierten sowie auch individuell empfundenen Beengtheit der Nachkriegszeit. Gustav Stratil-Sauer definierte seine Expedition als einen solchen Ausbruchsversuch. Erlebnishunger und Fernweh sprachen aus seinen Eingaben an das Auswärtige Amt und aus seinem Reisebericht.70 Den Mangel an eigener Welterfahrung betrachtete er als Signum der Nachkriegszeit und handfestes Problem seiner Generation. Stratil-Sauers Buch „Fahrt und Fessel“ beginnt mit einer eindrucksvollen Episode, in welcher der Geograf die Sehnsucht und die Assoziationen beschreibt, die ein Vortrag seines akademischen Lehrers, Professor Volz, über eine Forschungsreise nach Sumatra in ihm hervorrief: „Er sprach vom Dämmer des Rimba, der Mensch und Tier in seinen zwingenden Bann schlägt, von Urmenschen und Königstigern, vom Labyrinth der Riesenbäume und von dem Wunder der Farben, die der Tropenmorgen über den Horizont gießt. Kontraste und Harmonien, Bilder und Gestaltungen, alles war ihm frei aus der Fülle eines großen Erlebens zugeströmt. Noch weiß ich, wie ich an jenem Abend daheim versuchte, dem eben empfangenen Eindruck von neuem Gestalt zu verleihen, und wie vergeblich all mein Mühen war; denn die Bilder, die mir die Erinnerung wachrief, waren gleich starren Photographien ohne Schmelz und Farbe. Diese Stunde brachte mir eine bittere Erkenntnis, die weit mehr betraf als mein eigenes Schicksal: die geistige Not der heranwachsenden Wissenschaftler.“71 Mit dem Erfahrungsschatz der Vorkriegsjahre kontrastierte Stratil-Sauer die Nachkriegszeit, in der das Erlebnis nur noch aus zweiter Hand und die Welterfahrung nur noch als Zitat möglich waren: „Die Angehörigen unserer Generation sind unterernährt an persönlichen Erlebnissen, sind Gebetmühlen 66 67 68 69 70
Rickmers 1930b, 504-505. Baumunk 1997, 91. Simmel 1983, 22. Rickmers 1930b, 505. Unterlagen, Schriftwechsel, Exposés und Korrespondenz zur Vorbereitung der Reise sind im Archiv des Auswärtigen Amtes im Akt PA AA, R 64587 abgelegt. 71 Stratil-Sauer 1927, 11.
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Abenteuer und Nostalgie
im Winde der Zeit, die das nachplappern, was andere empfunden […] haben. Die Wissenschaft ist wesenhaft bestimmt von ihrem Mittler, von der Generation, welche sie trägt. Doch die heutige Jugend muß in dem fruchtbarsten Entwicklungsstadium, wo die Seele noch proteisch neue Formen sucht, um darin ihrer Zeit und ihrem Wesen eigensten Ausdruck zu geben, im übernommenen Dogma der Alten erstarren. […] Und so schließt sich der tragische Kreis, der in eiserner Umklammerung unsere Jugend gefangenhält.“72 Vokabeln wie „Raum- und Atemnot“ oder „geistige Isolierung“ gaben der gefühlten Enge und Beklemmung in Deutschland eine erkennbare Semantik. Der Lockruf der Ferne wurde dagegen mit „Abenteuerlust“ und einer „Weite“ assoziiert, die Horizonterweiterung versprach.73 Seine auf drei Jahre angelegte Fahrt deutete Gustav Stratil-Sauer in den einleitenden Passagen im Reisebericht nicht nur als persönlichen Aufbruch, sondern als realisierte Utopie der deutschen Jugend: „Dies ist die Vorgeschichte der Idee ‚Leipzig– Afghanistan‘, die mir nicht als Expedition schlechthin, sondern als die gestaltgewinnende Sehnsucht einer ganzen Generation erscheint.“74 Dabei erlaubte die Expedition eine Erfahrungsmöglichkeit neuer Welten, einen Ausbruchsversuch aus dem gewohnten ‚ich‘ und einen Neugewinn von ‚Gegenwart ‘.75 Aus dieser Perspektive bedeutete Stratil-Sauers Expedition eine „Kraftlinie“ reiner Bewegungsenergie. Die „Rekordfahrt“ mit dem Motorrad war auf eine Überwindung von Raum durch Tempo und Technik angelegt.76 Ständige Neudefinitionen der eigenen Identität durch „das völlige Vergessen des Empfangenen“ sah Stratil-Sauer als Ziel der „wahren Reisen“. Das Durchmessen von Erfahrungsraum galt als Selbstzweck von Expeditionen und als Form der Selbsterfahrung: „Die wahren Reisen […] sind reine Bewegung. Und da sie uns mehr geben, fordern sie auch mehr von uns: Vagantentum und Hingabe, die das Ziel über dem Weg vergessen lassen. Die Vagantenseele will nichts als schweifende Unrast, die immer zu neuen Bergen und Seen zieht, ohne ein Ende des Weges zu finden […] immer weicht der Horizont vor ihr, das dämmernde Blau ist ihr einziges Ziel. Damit sie nicht im Kristallisieren statisch wird, muß ihr die Sehnsucht stets mehr sein als die Erfüllung.“ Die „Vagentenseele“ öffnete sich für ein ständig neues Erleben der Gegenwart. Sie ließ den Reisenden im Augenblick aufgehen. Welterfahrung durch „völlige Selbstaufgabe“ führe Stratil-Sauer zufolge zur Selbstfindung.77 Während das Abenteuer als Erfahrung von ‚Gegenwart‘ den Erlebnismodus des „unhistorischen Menschen“78 beschrieb, war der nostalgische Blick geradezu durch eine Geschichtsfixierung geprägt. Nostalgie eröffnete eine Verlusterzählung in der Gegenwart und stellte darüber hinaus kreatives Potenzial für die Zukunft aus dem Umgang mit der Vergangenheit zur Verfü-
72 Stratil-Sauer 1927, 12. 73 Stratil-Sauer 1927, 16. PA AA, R 64587, Erklärung gez. Prof. Dr. W. Volz, Max Graf Solms, Dr. Raimund Köhler, Leipzig-Assenheim, im Mai 1924, 2. 74 Stratil-Sauer 1927, 12. 75 Stratil-Sauer 1927, 14, 20. 76 Stratil-Sauer 1927, 17. 77 Stratil-Sauer 1927, wörtliche Zitate: 20-21. 78 Simmel 1983, 15.
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Turkestan-Expeditionen
gung. Nostalgie definiert im Vergleich mit dem Abenteuer kein prinzipiell anderes Zeitregime, sondern eine alternative Annäherung an die Gegenwart.
3. Nostalgische Zeitwahrnehmung Für Willi Rickmers galt Turkestan seit den 1890er-Jahren als verschwindende Welt, wie er im Anschluss an seine erste Asienreise bemerkte: „Von Baku machte ich einen Abstecher nach Zentral-Asien und habe […] den glücklichen Einfall nicht zu bereuen. Wer die Ausgabe nicht zu scheuen braucht […], der gehe nun zu lustwandeln im Bazar von Buchara, ehe noch die heilige Stadt der Russifizierung anheimfällt. Er wird sich glücklich schätzen können, mit das Herrlichste gesehen zu haben, was der Orient zu bieten vermag.“79 In einer Epoche, in der Romanschriftsteller nach der verlorenen Zeit suchten, Fortschrittsbejahung und Kulturkritik in der Publizistik als jeweils eine Facette der Gegenwart lesbar wurden, Strömungen wie Historismus und Symbolismus die bürgerliche Kultur des fin de siècle prägten, traf der nostalgische Turkestan-Diskurs den schwer fassbaren Zeitgeist. Zeit wurde immer stärker zum Gegenstand künstlerischer und literarischer Experimente.80 In Rickmers’ Zitat standen sich ‚Orient‘ und ‚Russifizierung‘ als Symbole einer schillernden Gegenwartsdiagnose gegenüber: ‚Orient‘ beschrieb eine idealisierte Vergangenheit und ‚Russifizierung‘ die neue Zeit, die mit der Kolonialmacht in Zentralasien Einzug hielt. Als Chiffren einer zivilisationsskeptischen Grundstimmung standen ‚Russifizierung‘ für den Fortschritt und ‚Orient‘ für eine idealisierte ursprüngliche Welt. Nostalgie war eine Reaktion auf das Verblassen dieser alten Lebenswelt. Denn nicht nur die Natur Turkestans, sondern auch der verschwindende Orient bot kulturkritischen Gegenwartsdiagnosen einen Ort.81 Alleine der Klang von Stadtnamen war mit romantischen Assoziationen und Erwartungshaltungen verknüpft.82 Die Verortung Bucharas und Samarkands in einem Kanon orientalischer Stadträume eröffnete ein vergleichendes Spiel gewachsener Imaginationen. Jede Stadt strahlte eine atmosphärische Facette der alten Welt aus: „There are Cairo and Bagdad, Fez, Algiers, Tunis and Timbuctoo; there is Samarkand with its monuments, and as long as the world has stood there is no spectacle to equal a Durbar at Delhi. But for an old-time capital city of Islam there is nothing like Bokhara [...].“83 Signal79 80 81 82
Rickmers 1894, 305. Kern 2003, 37-108. Wendorff 1980, 357-370, 455-470. Vgl. Behdad 1994, 35-52. Archiv DAV, 04.1961.1679, 1. Rickmers 1913, 91-92, 120. von Schweinitz 1910, 9. Karutz 1904, 77. Enttäuscht vom Mythos Buchara war der amerikanische Journalist William Eleroy Curtis, der sogar eine explizite Warnung an die nachfolgenden Reisenden ausgesprochen hatte: Curtis 1911, 127: „‚Bokhara the Noble‘ is a great disappointment. Sentimental readers of its romances should stay away. With the exception of the mosques and meddresses, it is nearly all mud, without a single attractive feature, and very different from Tashkend, Samarkand, Kokand, and other cities under Russian jurisdiction.“ 83 Rickmers 1913, 110. Auch: Albrecht 1896, 81. Karutz 1904, 83.
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wörter wie zum Beispiel das zeitlich unbestimmte „old-time-city“ oder konkretere Zeitangaben wie „Mittelalter“84 öffneten religionsgeschichtliche, historische oder literarische Assoziationsräume.85 Die nostalgischen Reiseeindrücke von Willi und Mabel Rickmers, des Lübecker Ethnologen Richard Karutz, des Kolonialpolitikers Paul Rohrbach sowie des Reiseschriftstellers Max Albrecht sind Quellen zu einem geschichtsversessenen Zeitalter und beschreiben darüber hinaus den Gefühlshorizont einer vergangenen Gesellschaft.86 Z EIT
UND
E MOTION
Nostalgie verband Zeit und Gefühl. Sie ist als historische Emotion die Begleiterin globalen Fortschritts, der Gegenwart und Zukunft von der Vergangenheit absetzte. Sie ist zugleich eine Bestätigung und Rebellion gegen dieses Konzept einer fortschreitenden Geschichte. Sie setzt der linearen und rationalisierten Zeit des Fortschritts eine andere Zeit der Mythen und Legenden sowie zyklische Zeitsysteme entgegen. Als Rückkehr zu Orten, an denen natürliche, nicht reglementierte Lebensrhythmen fortbestanden, ist Nostalgie eine Möglichkeit, die als ‚Entzauberung‘ verstandenen Verluste der europäischen Gegenwart zu kompensieren. Neben der Natur weckten koloniale Gegenden, die vermeintlich anachronistischen Räume, Nostalgien.87 Nostalgie bündelte eine unbestimmte Wehmut, ein Gefühl des Weltschmerzes sowie eine Suche nach derjenigen Ganzheit, welche in der europäischen Gegenwart vermisst wurde: „Hinter der schillernden Fassade […] verbarg sich eine Krisenstimmung, die schon von Nietzsche ‚die Gebrochenheit der Moderne‘ genannt wurde und sich […] als ‚Flucht aus der Zeit‘, als ‚Suche nach dem Eigentlichen‘ hinter der erfahrenen Lebensleere bemerkbar machte. […] Im Gegensatz zur kolonialistischen ‚Inbesitznahme‘ Asiens durch Europa könnte man sagen, daß Asien Europa in ästhetisch-ideeller Hinsicht ‚überrannte‘.“88 Nostalgie leitete zwar den wissenschaftlichen Rückbezug der eigenen Existenz an eine räumlich fixierbare Urheimat. Im Vordergrund nostalgischer Erfahrung stand darüber hinaus das diffusere Verlangen nach einer im europäischen Lebensgefühl verschwundenen Authentizität. In der Wissenschaft traf die Archäologie mit ihrer Suche nach untergegangenen Kulturen, verschollenen Schriften und ihrer Faszination an Ruinenstädten die nostalgische Ader. Während es die Archäologie ermöglichte, die Vergangenheit durch eine Untersuchung der kulturellen Relikte zu rekon struieren, ist die Nostalgie eine Archäologie von erinnerten und erzählten Zeiten. Da die Vergangenheit in Turkestan in Fragmenten fassbar war, verlor die rationale Zeit des Fortschritts die alleinige Deutungshoheit. Ein archäologischer Blick prägte die Reiseerzählung und zersetzte auch die Gegenwart Turkestans in ein System von ‚Zeitschichten‘ und Bruchstücke. Diese archäolo84 85 86 87
Albrecht 1896, 75. Rickmers 1913, 104. Vgl. Aschmann 2005, 9-32. Boym 2001, xiii-18. Wilson 2005, 21-37. Chase, Shaw 1989, 1-18. McClintock 1995, 40-44. Bitterli 1991, 378-381. Fritzsche 2004, 92-130. 88 Günther 1988, 12.
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Turkestan-Expeditionen
gisch-nostalgische Aneignungsstrategie war geschönt und eurozentrisch. Während die Utopie eine fiktive Zukunft beschreibt, liefert die Nostalgie Zuschreibungen einer imaginierten Vergangenheit.89 Der authentische ‚Orient‘ wurde an den Versatzstücken der geschulten europäischen Vorstellung über diesen Raum gemessen. Nostalgie ermöglichte eine historische Perspektive der Gleichzeitigkeit, sodass die imaginierte Vergangenheit in der Gegenwart präsent blieb. Fortschritt und Tradition, die in den klassischen Abenteuergeschichten ein Gegensatzpaar bildeten, überlagerten sich in nostalgischen Erzählungen. ‚R USSIFIZIERUNG ‘ An der Fassade des Herrscherpalasts in der Stadt Buchara war für Max Albrecht der Einzug einer neuen Zeit gut sichtbar: „Ueber dieser Fensterreihe überrascht den Beschauer unter einem auf schlanken Säulen ruhenden flachen Dache das grosse, weisse Ziffer nblatt einer Uhr europäischer Machart. Diese Uhr soll unter dem Emir Nassrulla-Bagadur-Chan zum Erstaunen des ganzen Landes von einem gefangenen russischen Tartaren verfertigt worden sein und Musaffar-Eddin, der Nachfolger Nassrullas […] stellte für diese Uhr einen besonderen deutschen Hofuhrmacher an, der alle Uhren im Schlosse und insbesondere die Uhr über dem Thore zu beaufsichtigen hatte. Letztere hatte den Bewohnern der Hauptstadt durch ihre Schläge die richtige Zeit zu verkünden.“90 Diese ‚richtige‘, neue und russische Zeit hatte zwei Seiten. ‚Russifizierung‘ bedeutete zwar eine Zeitreglementierung und Angliederung Bucharas an das europäische Zeitsystem. Die standardisierte Zeit hatte mit der Infrastruktur wie Eisenbahnen und Telegrafen bereits Einzug gehalten in mittelasiatische Räume.91 Was die deutschen Reisenden jedoch mehr beschäftigte als diese lineare ‚leere‘ Zeit des Fortschritts, war der verändernde Charakter, den die neue Zeit auf das Emirat Buchara als Lebenswelt ausübte. ‚Russifizierung‘ implizierte eine Assimilationspolitik und eine Zeit kultureller Veränderung.92 Nachdem Buchara seit der Niederlage gegen Russland 1868 wie das Khanat Chiwa praktisch ein Vasallenstaat des Zarenreichs war, breitete sich der russische wirtschaftliche, politische und kulturelle Einfluss in Buchara aus.93 Samarkand lag als Provinzhauptstadt innerhalb des Generalgouvernements Turkestan ohnehin seit 1868 unmittelbar im russischen Machtbereich.94 Der Einzug der neuen Zeit hatte sich auf verschiedenen Gebieten niedergeschlagen: Russische Militärgarnisonen hatten die öffentliche Sicherheit im Land verbessert. Ein Ausbau des Baumwollanbaus forcierte eine 89 90 91 92
Boym 2001, 23. Chase, Shaw 1989, 9. Albrecht 1896, 144-145. Cvetkovski 2006. Zum Begriff und zur Politik der Russifizierung: Staliunas 2007, 57-70. Staliunas schlägt als heutige Bedeutung des Terminus je nach Kontext die Begriffe ‚Integration‘, ‚Akkulturation‘ oder ‚Assimilation‘ vor. Da in diesem Buch historische Perspektiven der Reisenden im Mittelpunkt stehen, wird der Quellenbegriff ‚Russifizierung‘ verwendet. 93 Albrecht 1896, 160-161. 94 Rickmers 1913, 121. Karutz 1904, 78.
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ökonomische Entwicklung. Die Entmachtung der lokalen Herrscher initiierte einen Umbau der Sozialstruktur. Er mündete in der damals als solchen verstandenen ‚Befreiung‘ der einheimischen Bevölkerung aus der ‚orientalischen Despotie‛ der aristokratisch-religiösen Elite.95 Die Reise mit der Eisenbahn über das Land führte Paul Rohrbach und Richard Karutz durch das Wagonfenster die Erfolge der russischen Aufbauarbeit vor Augen. Die Aussicht auf Baumwollfelder und Bewässerungsanlagen verleitete sie sogar zu langfristig günstigen Zukunftsprognosen für die Baumwollproduktion Turkestans auf dem Weltmarkt.96 Willi Rickmers glaubte, in Teilen Turkestans denselben Wert für Russlands Handel und Industrie zu erkennen, den Ägypten für Großbritannien habe.97 ‚Russifizierung‘ bedeutete den Einzug der linearen Zeit des Fortschritts, der entwicklungsteleologisch in eine offene und gleichzeitig planbare Zukunft verwies. ‚Z EITSCHICHTEN ‘ Die Zeiten des vergehenden Orients wurden in ihren Sedimenten gesucht. Gänge über das Ruinenfeld in der turkmenischen Stadt Merw und über das nach einer Gestalt aus dem Awesta benannte Trümmerfeld Afrosiab in Samarkand waren Wanderungen durch die Reste der Geschichte. Willi Rickmers beschrieb die historischen Überlagerungen im Raum als „strata of time“, als ‚Zeitschichten‘: „Many layers have here succeeded each other […]. The whole of Afrosiab is full of remains from the days of Bactria to recent times, and with every step one kicks a fragment of the past. In some of the ravines potsherds, glass and coins can be found in great numbers carried thither by rains and spring floods, thus representing what might be called anthropological sedimentation. […] I have noticed ruined walls partly buried under loess in historical times. […] We seem to sniff the odour of centuries […].“98 Die Ruinenfelder ließen Geschichte zu einem betretbaren Raum werden. Die verräumlichten Zeiten der Ruinenfelder gehorchten dem archäologischen Modell des europäisch-orientalischen Mittlerraums. Diese Perspektive auf Turkestan erschloss mehr als ein Ordnungssystem für die archäologischen Überreste. Die Ruinenfelder der Städte definierten ein zeitliches Referenzsystem, das die Geschichte des Landes in der Reise erfahrbar machte. Private Reiseaufzeichnungen und Tagebücher begannen häufig damit, die historischen ‚Zeitschichten‘ des Landes aufzuzählen.99 In den publizierten Reiseberichten wurde die mythische Vorzeit im iranischen Awesta und in der Bibel verortet. Als prägend für die prähistorische Epoche galt der Gegensatz zwischen der ansässigen iranischen Bevölkerung und den turanischen Reiternomaden. Die antike Zeit besetzte Alexander der Große. Zu den wichtigsten Ereignissen des Mittelalters zählten die arabisch-islamische Eroberung Turkestans sowie die daran anschließenden Kriegszüge Dschinghis Khans. Mit 95 96 97 98 99
Dazu: Crews 2006, 241-292. Rohrbach 1904, 76-92. Karutz 1904, 57. Rickmers 1913, 13. Rickmers 1907, 7-8. Rickmers 1913, 126-127. Dazu auch: Krebs 2006, 163-181. Archiv DAV, 04.01. 0337, Reisetagebuch (1898-1900), Notes on Central Asia, History of Merv, of Bokhara, and Samarkand (am Anfang des Tagebuches).
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Turkestan-Expeditionen
der Dynastie der Timuriden begann die Glanzperiode des Landes, da der zentralasiatische Herrscher Timur, der in die Familie Dschinghis Khans eingeheiratet hatte, im 14. Jahrhundert ein mittelasiatisches Großreich gegründet hatte. Die Neuzeit prägten kriegerische Auseinandersetzungen der mittelasiatischen Khanate. Die Eroberung Turkestans durch das Zarenreich war der Endpunkt eines Verfalls der mittelasiatischen Macht.100 Die Reiseberichte konzipierten die Geschichte Turkestans als einen Kreislauf der Zerstörung, der Erneuerung und des Aufbaus, in dem sich die historischen Zeiten, wie Rickmers ‚anthropologische Sedimente‘ ablagerten. Die russische Kolonisation beendete den orientalischen Geschichtskreislauf. ‚Russifizierung‘ bedeutete aus dieser Perspektive den grundsätzlichen Neuanfang. Das Verständnis von ‚Russifizierung‘ als lineare Zeit des Fortschritts definierte die als zyklisch perzipierte Zeit des ‚Orients‘ als abgeschlossene Epoche. Die Erfahrung, durch die Ablagerungen der Geschichte wandern zu können, begleitete nicht nur die Besichtigung der Ruinenfelder und Totenstädte. Sie wurde als Aneignungsstrategie auf den Mikrokosmos der gegenwärtigen Lebenswelt übertragen. Durch das Verständnis von ‚Russifizierung‘ als anderes Zeitregime konnte die heterogene Lebenswelt der Altstadtkerne als nur noch archäologisch zu begreifendes Vergehendes essenzialisiert werden. Auf den Ruinenfeldern trafen sich Vergangenheit und Zukunft des alten Orients. In der schwer fassbaren Gegenwart verwiesen sie auf den künftigen Zerfall des Raums zu Sedimenten der Geschichte, zu Versatzstücken der historischen Erinnerung und der touristischen Imagination. Die Zukunft des Orients führte zurück zur Vergangenheit.101 D IE G EGENWART
ALS
Z WISCHENZEIT
Dazwischen fanden die Reiseberichte keine stabile Gegenwart. Paul Rohrbach erlebte ‚Gegenwart‘ sogar als noch nicht existente und gerade entstehende Zeit: „An keinem Ort innerhalb des russischen Turan liegen die Zeugnisse der blühenden Vergangenheit im Alterthum, des trostlosen Verfalls in den Jahrhunderten seit Dschinghis-Chan, der unter Schwierigkeiten sich empor arbeitenden Gegenwart, so bei einander, wie in der Oase Merv.“ 102 Die Trennung zwischen altem Orient und russischer Kolonisation galt zwar als irreversibel und endgültig. In den Augen der Reisenden jedoch verzögerten die Traditionen der Einwohner den Entwicklungsprozess in Turkestan. Die konservative, islamisch geprägte Lebensweise sorge dafür, dass die einheimische Bevölkerung russische Neuerungen nicht in ihre individuellen Lebensentwürfe übernehme. Das Weltbild der Muslime Turkestans, das tief im Koran verwurzelt sei, kenne weder eine säkularisierte Geschichte noch die Idee des Fortschritts. Als Folge davon lebten angeblich die Menschen verhaftet in Traditionen, die sich kaum von denen vor tausend Jahren unterschieden.103 100 101
102 103
Karutz 1904, 49-51, 93-94. Rohrbach 1898, 114-119. Rohrbach 1898, 57-59. Rickmers, Mabel 1914, 52-53. Archiv DAV, 04.1961.1679, 1-2. Wendorff 1980, 22-25. Albrecht 1896, 203. Karutz 1904, 49. Gleichzeitigkeit der Ruinenfelder als Vergangenheit und Zukunft des Landes: Rickmers 1913, 126. Rohrbach 1898, 107. Rickmers, Mabel 1914, 52-53. Rohrbach 1898, 76.
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Abenteuer und Nostalgie
Zwischen den als traditionell verstandenen Lebenswelten der einheimischen Bevölkerung und der zukünftigen ‚Entwicklung‘ durch die russische Kolonialmacht schien der Raum Turkestan auf zwei Zeitstufen gleichzeitig zu existieren. Die Gegenwart als Zwischenzeit nahm in den Reiseberichten zwei Formen an. Einerseits wurde sie in einer oszillierenden Überlagerung von verschiedenen Zeiten, andererseits als eine explizite räumliche Trennung beschrieben. Erstens lebte der alte Orient unter der Folie der neuen Zeit dadurch weiter, dass Landschaftsbezeichnungen und Ortsnamen, welche der antiken ‚Zeitschicht‘ Alexanders des Großen und derjenigen der iranischen „Vorvergangenheit“104 entlehnt waren, die Raumwahrnehmung unterfütterten. Aus dem Awesta und der antiken Geschichte abgeleitete Landesnamen sowie althistorische Fluss- und Stadtnamen verbanden die Gegenwart und verschiedene Vergangenheiten zu einer Geografie der doppelten Zeiten.105 Historische Sehenswürdigkeiten wie der Thron und das Grabmal Timurs befanden sich in einem zeitlichen Grenzraum. Umfasst vom „russischen Samarkand“ hatte in ihnen dennoch die Glanzzeit Turkestans überlebt, sodass „man […] von Timur spräche, als sei er eben erst gestorben“. ‚Russifizierung‘ brachte aber auch geschichtspolitische Eingriffe mit sich: „Heute wird das Heiligtum von den Russen bewahrt und bewacht, der Andacht, den geschichtlichen Erinnerungen und den möglichen politischen Aspirationen der Eingeborenen entzogen.“106 Zweitens schlug sich die Gleichzeitigkeit von Fortschritt und Tradition in einer Trennung der russischen und einheimischen Lebenswelten nieder. Deutlich im Raum selbst ablesbar erschienen diese zwei Zeitstufen in der Stadtgeografie – in der parallelen Existenz von Altstadtkernen und russischen Neugründungen, den so genannten „Eingeborenen“- und „Russenstädten“.107 Die neuen Städte umfassten den gewohnten Bereich der europäischen Zivilisation.108 Nach standardisiertem Muster gebaut, bestand Neu-Buchara „aus Verwaltungsgebäuden, Schulen, Magazinen, einstöckigen, aber geräumigen Privathäusern, anspruchslosen Gasthäusern, Apotheke und Klub“.109 Die russische Neugründung nahe der Stadt Samarkand war aufgrund der politischen Bedeutung als Provinzhauptstadt im Generalgouvernement Turkestan bereits besser ausgebaut worden: Plätze mit Kirchen und Kasernen, öffentliche Gebäude in schattigen Parkanlagen, Banken, Gasthäuser, Restaurants und breite, bepflanzte Boulevards ließen auf einen zukünftigen dauerhaften Einfluss Russlands in Mittelasien schließen.110 Während ein Bummel durch die Neustädte einen Vorgeschmack auf Turkestans Zukunft eröffnete, die jedoch bis in die 1920er-Jahre nur Verlustängste hervorrief, suchte der nostalgische Blick nach den Zeichen und Spuren der Vergangenheit in den Altstadtker104 105 106 107
108 109 110
Polaschegg 2005, 193. Z. B. Rohrbach 1898, 22 und 42. Karutz 1904, 79. Auch: Rohrbach 1898, 61, 70-73. Teilweise wurde auch eine Dreiteilung der Stadt Samarkand je nach verräumlichten Zeiten ausgemacht, sodass die Neustadt, die Altstadt und das Trümmerfeld Afrosiab als eigene Räume galten: Rohrbach 1898, 61. Karutz 1904, 78. Albrecht 1896, 190. Archiv DAV, 04.01.1965.1683, 2. Karutz 1904, 58. Rickmers 1913, 121. Karutz 1904, 78.
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Turkestan-Expeditionen
nen.111 Diese eröffneten den betretbaren Zeit-Raum zwischen Zukunft und Vergangenheit als einen Moment der letzten Reste. C HRONOTOPOLOGIE
DER VERSCHWINDENDEN
W ELT
Das Verständnis von ‚Russifizierung‘ als Beginn eines qualitativ neuen Zeitregimes prägte die archäologische Perspektive auf die Gegenwart der Altstadtkerne. Im Zentrum stand eine Topografie des Zerfalls und des langsamen Verblassens. Die Metaphorik der ‚Zeitschichten‘ und Sedimente naturalisierte den Niedergang eines Kulturraums sowie einer sozialen und politischen Ordnung, sodass dieser wie ein Verwitterungsprozess erschien, der einer Art natürlicher Zeit folgte. Die Architektur der Städte zerfalle durch Klima und Wetter, durch das „Zerstörungswerk der Natur“ von selbst zu Ruinen.112 Das, was angesichts der zukünftigen ‚Russifizierung‘ und des Zerfallsprozesses der historischen Monumente noch an Zeichen des alten Orients übrig blieb, verglich Mabel Rickmers mit den letzten Überresten eines untergegangenen Kontinents: „Bokhara […] resembles one of those plants which remain as the last vestiges of a submerged continent. Slowly but surely that tide of civilization […] is advancing here, and an alien religion, alien laws, manners and customs are penetrating the strongholds of a system which, by virtue of its isolation has maintained its integrity and independence through the changes and vicissitudes of over a thousand years.”113 Die Rundgänge durch die Altstädte suchten die Zeichen der Authentizität und Ursprünglichkeit der alten Welt im Verborgenen.114 Dabei unternahmen die Reisenden innerhalb der Altstadt kleine Zeitreisen, indem sie glaubten, tatsächlich vergangenen Zeitqualitäten in Räumen unmittelbar begegnen zu können. Diese spezifischen Örtlichkeiten und sozialen Räume verankerten sich über die Reiseberichte als Relikte einer andernorts verloren geglaubten Authentizität. Bemerkenswert ist, dass alle Reiseberichte zu ähnlichen Einschätzungen kamen und somit Chronotopologien der ‚versinkenden‘ Welt festschrieben. Je nach Charakter und Imaginationsgehalt verbanden die Erzählungen bestimmte Plätze und Lebensumstände mit ganz spezifischen Zeiten. In Buchara wurden der Bazar und Labi-Chaus als mittelalterliche Räume rezipiert. Auch der Registan, die Bibi-Chanim-Moschee sowie die SchachSinda-Nekropole und -Moschee in Samarkand ließen die Glanzperiode Mittelasiens in der Herrschaft Timurs und seiner Dynastie lebendig werden.115 Das Alltagsleben und die damit verbundenen Praktiken der einheimischen Bevölkerung galten als Verkörperung des biblischen Orients, während die iranisch-persische ‚Zeitschicht‘ in der Bekleidung und den Physiognomien der Bevölkerung weiter existierte.116 Alexander der Große lebte nicht nur als Persönlichkeit der antiken Vergangenheit in den Geschichtsbüchern Europas 111 112 113 114 115 116
Zur Perspektive der 1930er-Jahre: Staehlin 1935. Karutz 1904, 85-86. Rohrbach 1898, 60. Archiv DAV, 04.01.1965.1683, 1. Albrecht 1896, 101. Rickmers 1913, 92. Albrecht 1896, 91-103, 197-226. Karutz 1904, 61-92. Rickmers 1913, 107-122. Karutz 1904, 84-89. Rohrbach 1898, 78-81. Rickmers 1913, 98. Rickmers, Mabel 1914, 54. Karutz 1904, 29, 58.
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Abenteuer und Nostalgie
fort. In der mündlichen Überlieferung der einheimischen Bevölkerung war der makedonische Feldherr eine Gestalt des gesprochenen Präsens und der Gegenwart geblieben.117 Abbildung 4: Chronotopologie der verschwindenden Welt – Karte der Altstadt Bucharas
Quelle: von Schweinitz 1910, 121. Dass die Altstadtkerne zudem als glücklicher und zufriedener Zeitraum erlebt wurden, war Voraussetzung dafür, dass deren vermeintliches Verschwinden starke Emotionen wecken konnte. Die Zeichensprache der Ursprünglichkeit und Authentizität vermittelte die in der europäischen Gegenwart vermisste soziale Kohärenz, Stabilität, Zufriedenheit und sichere Selbstverortung des Menschen in der Welt.118 Die Entdeckung und Beschreibung von Szenen, welche diesen temporalen und emotionalen Wünschen entsprachen, war das Ziel der Stadtexpeditionen.119 Die Suche nach der einen authentischen Impression des Orients, nach dem „wirklich originellen Bild“ 120, prägte den Blick auf die Lebenswelten der Altstadtkerne. Die in den Reiseberichten formulierten Vergleiche der Altstädte Turkestans mit Bühnenbildern und Weltausstellungspavillons verweisen darauf, dass das Authentische und Ursprüngliche nur innerhalb der geschulten Repräsentationsmodi erzählbar war. Dass ‚Ursprünglichkeit‘ überhaupt erst durch gewohnte Deutungsmuster erfass- und beschreibbar wurde, zeigt ein Dilemma der Nostalgie auf. Diese Art der Nichtbegegnung spricht für ein gewisses Unvermögen nostalgischer Reisender, ihre eigene Vorstellungswelt zu verlassen.121 Eine Rahmung des Orients durch Repräsentation sowie seine Einteilung in bestimmte Szenen und Zeichen waren gleichzeitig auch not117 118 119 120 121
Auch in Landschaftsbezeichnungen wie Iskander Kul: Ficker, 4. Rohrbach 1898, 120-121. Schulz-Forberg 2004, 133, 144. Dazu auch: Mitchell 2002, 148-177. Rohrbach 1898, 92. Rickmers 1913, 107.
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wendig, um die eigene Stimmung überhaupt verorten zu können. Die Sehnsucht nach dem Authentischen bündelte nämlich doppeltes Bedauern: den Kummer über den Niedergang des alten Orients und denjenigen Weltschmerz, welchen die als ‚entzaubert‘ verstandene Heimatkultur hervorzurufen vermochte. Mit dem Verschwinden der alten Welt Turkestans ging für die Reisenden einer der letzten kulturellen Rückzugsräume des Erdballs verloren.
4. Eine ‚andere‘ Moderne Turkestan war bereits in anderen Texten als den Reiseberichten der Jahrhundertwende mit Nostalgie assoziiert worden. Der englische Gelehrte Robert Burton hatte in seinem Werk „Anatomy of Melancholy“ im 17. Jahrhundert bereits das Lebensgefühl der Melancholie unter anderem anhand von Turkestan beschrieben. Auch noch während der ‚langen Jahrhundertwende‘ blieb Burtons „Anatomy of Melancholy“ ein Fixpunkt des Gefühlshorizonts.122 Lord Curzon konnte sich 1890 in seiner Ansprache vor der Royal Geographical Society „The Pamirs and the Source of the Oxus“ noch auf diesen Schriftsteller beziehen: „And, with the poet [Robert Burton, F.T.], my imagination had flown eastwards and upwards to that aërial source, and had longed to pierce the secrets that were hidden behind the Hindu Kush. “ 123 In Curzons Rede verbanden sich die imperialen Ambitionen und Machtrivalitäten des great game mit einer Mischung aus Forschergeist, Romantizismus und säkularisierten Ursprungsmythen. Aus der orientalistischen Imagination der Wende des 19. Jahrhunderts lieferte die Lyrik des Briten James Elroy Flecker (1884–1915) einen weiteren Bezugspunkt vor allem für Mabel Rickmers. Fleckers Dichtung verarbeitete ebenfalls Reiseerfahrungen im Orient. Sein Gedicht „Golden Journey to Samarkand“ war deshalb auch mehr als ‚nur‘ ein Text. Die Verse beschrieben die Stadt in einer hochromantisierten Art und verdichteten darüber hinaus den nostalgischen Gefühlshaushalt der ‚langen Jahrhundertwende‘.124 Denn der alte Orient bedeutete nicht nur eine historisch-archäologische, sondern auch eine sinnliche Herausforderung. Szenen, welche beim Schlendern durch die Altstadtkerne beobachtet, sowohl mit der Kamera als auch mit taxierenden Blicken aufgenommen und anschließend in den Reiseberichten als sprachlich vermittelte Bilder beschrieben wurden, charakterisierten Turkestan als Stimmungsraum. G EOGRAFIE
DER
S TIMMUNG
Der Stimmungsraum ‚Orient‘ reichte von einer einzigen Impression – zum Beispiel dem Anblick eines Turbans – bis hin zu panoramischen und kaleidoskopartigen Bildfolgen. Häufig faszinierten genau diejenigen Eindrücke, die es in den Metropolen der Heimat nicht mehr gab. Während die europäischen Städte immer eintöniger, lebloser und funktionalistischer zu werden
122 123 124
Dazu: Schmelzer 1999. Curzon 1896, 16. Flecker 1930. Sherwood 1973. Flecker 1913, 3-10. Archiv DAV, 04.1961.1680, 1.
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schienen, forderten die Altstadtkerne Turkestans europäische Erfahrungsmodi heraus. Die Reiseberichte schilderten ausgiebig die pastellfarbene Bekleidung der einheimischen Bevölkerung, die türkisfarbenen sowie ultramarinblauen Mosaike und Kuppeln der Moscheen, das Hellblau des Himmels oder die Farbenpracht der Waren in den Bazarständen.125 Abbildung 5: Registan in Samarkand (1896/1913)
Quelle: Archiv DAV NAS 1 FF 524. Dazu tönte in den Straßen Bucharas und Samarkands eine Geräuschkulisse, die in den meisten westeuropäischen Städten der historischen Vergangenheit angehörte. In Asien bestand sie aus Liedern der Straßenmusikanten, dem gesprochenen Wort der Fabeln, den Sagen und Legenden von Geschichtenerzählern, den Koransprüchen gläubiger Moslems sowie aus dem Läuten von Kamelglocken.126 Für den reisenden Betrachter anachronistisch wirkende soziale Typen wie Barbiere, Friseure, Wunderdoktoren, Gaukler, Märchenerzähler, Derwische und fahrendes Volk gaben den öffentlichen Plätzen ihr typisches Gepräge.127 Auch Feierlichkeiten und Szenen aus dem religiösen Bereich fanden in den Stimmungsraum ‚Orient‘ als Ausdruck eines in Europa längst versunkenen Lebensgefühls Eingang: „Die langen regelmäßigen Reihen bunter Gestalten unter dem sonnigen, rein blauen Himmel, mit schneeweißen, breiten, kunstvoll verschlungenen Turbanen, in tiefster Andacht versunken und ihre Gebetübungen mit unbewusster Genauigkeit ausführen zu sehen, ist ein un-
125 126 127
Karutz 1904, 52. Albrecht 1896, 102-103. Karutz 1904, 68. Archiv DAV, 04.1961.1680, 3. Karutz 1904, 84. Albrecht 1896, 197.
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Turkestan-Expeditionen
vergesslich erhebendes Bild, wie man es nur noch im Fernen Osten, hier im heiligen Buchara […] erschauen kann.“128 Es mag nicht erstaunen, dass genau die Orte bezüglich ihrer atmosphärischen Qualitäten als Reste der alten Welt überzeugten, welche aufgrund ihrer zeitlichen Eigenschaften in der Vorstellungswelt verankert waren. Die Bazare und Marktplätze sowie Lhabi-Chaus und Schach-Sinda-Moschee bildeten die besonderen Bereiche der Stadtgeografie, an denen die Zeichensprache der Authentizität verdichtet anzutreffen war.129 Auffallend ist auch hier wiederum eine Gleichartigkeit der Schilderung und damit praktisch eine Standardisierung von Deutungsmustern. Jedem Platz wurde eine spezifische Bandbreite authentischer Stimmungen und dadurch auch Wirkungen auf den Betrachter zugeordnet. Dass dabei Dynamik und Ruhe miteinander verwoben waren, beschrieb eine grundsätzliche Spannung innerhalb der Altstadt-Atmosphäre. Das quirlige Leben auf dem Bazar evozierte Überwältigung bis hin zum Überdruss und einem übersättigten Ennui.130 Lhabi-Chaus vereinte zwei Facetten an einem Ort. Der belebte Raum im Umfeld der Fruchtzisterne, an dem öffentlich Zähne gezogen und medizinische Behandlungen durchgeführt wurden, aber auch allerlei Volksbelustigungen stattfanden, schaffe eine Jahrmarktatmosphäre.131 Die an diesen Ort gebundenen Stimmungen reichten von anarchisch und chaotisch bis hin zu „herrlich“132 und „wundervoll“.133 Bei der nahe gelegenen Moschee des Platzes, Lhabi-Chaus-Divanbegi, wurde eine komplett andere Atmosphäre erfahrbar: „Ruhe“, „Frieden“, „Andacht“134 und „Weltentsagung“.135 Die durch Stille und „unsagbare Schönheit“ charakterisierte SchachSinda-Nekropole mit Moschee galt als „architektonische Märchenwelt“ und war für Rohrbach ein besonderer Raum.136 Er glaubte dort seinen eigenen Emotionen zu begegnen: „Die Vorstellung wird schon von Ferne durch das Gebäude übertroffen, und wenn man seine Schwelle überschreitet, wird man alsbald so ergriffen und bezaubert, daß man dasitzt und nicht weiß, woran man sich mehr freuen soll [….] Soll ich etwas zu dieser Schilderung hinzufügen, so könnte das nur sein, was man überhaupt nicht schildern, sondern nur […] empfinden kann […].“137 Im Zentrum stand die für Turkestan charakteristische Untergangsstimmung. Ein Bewusstsein für die globale Vergänglich-
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Albrecht 1896, 103. Auch: Karutz 1904, 75. Albrecht 1896, 135. Karutz 1908, 312-317, 329-333. Vámbéry 1895a, 138-142. Vámbéry 1895b, 152-155. Karutz 1904, 38. Albrecht 1896, 59. Rickmers 1913, 107-111. Karutz 1904, 61-74. Albrecht 1896, 101-103. Rohrbach 1898, 92. Karutz 1904, 66, 73. Rickmers 1913, 107. Karutz 1904, 73. Albrecht 1896, 102. Karutz 1904, 74. Karutz 1904, 91-92. Rohrbach 1898, 79-81. Rohrbach 1898, 79-81. Auch: Karutz 1904, 91-92.
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keit des Alten und Authentischen drückte sich an der Herbstatmosphäre aus, in der die Reisenden den städtischen Orient erlebten.138 Abbildung 6: Lhabi-Chaus (um 1898/1913)
Quelle: Archiv DAV NAS 1 FF 564. Die Identifikation der Reisenden mit der Romantik der Stadt Samarkand, der Harmonie des Bazars Bucharas oder dem widersprüchlichen Lebensprinzip von Lhabi-Chaus beheimatete die oftmals diffuse Suche nach dem ‚goldenen Zeitalter‘. ‚Orient‘ als emotionales Symbol benannte die Verluste, welche der europäischen Gegenwart zugeschrieben wurden. So ließ zum Beispiel der Bazar Bucharas als Lebensprinzip eine Ganzheit der menschlichen Existenz lebendig werden, die in Europa längst verschwunden schien. Die zwei Gefühlswelten von Lhabi-Chaus verräumlichten eine Natürlichkeit und Unmittelbarkeit des öffentlichen Lebens, welche in der europäischen Gegenwart nur noch im Bereich des Privaten anzutreffen waren. Lhabi-Chaus und Schach-Sinda beheimateten darüber hinaus diejenige Stille und Sentimentalität, die der modernen Großstadt abhanden gekommen schienen. Für die Reisenden lag der Wert des alten Orients darin, dass er in seinem Verschwinden eine andernorts verlorene Authentizität des Erlebens vermittelte – nicht so sehr bezüglich der besuchten Umwelt, als vielmehr in Bezug auf die Selbsterfahrung der eigenen Person.
138
Rickmers 1913, 42 und Albrecht 1896, 135. Archiv DAV, 04.01.1965.1678, 1. Albrecht 1896, 199. Archiv DAV, 04.1961.1680, Der Herbst war auch Reisesaison für Turkestan: Rickmers 1913, 69.
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Turkestan-Expeditionen
S PUREN
EINER ( ANDEREN )
G EGENWART
Nostalgische Reiseberichte ermöglichen heute nicht nur eine Archäologie vergangener Sehnsüchte. Für die Zeitgenossen entfaltete das Verlangen nach Authentizität vielmehr kreatives Potenzial. Die Geografie der Emotionen lässt sich als Spurensuche einer anderen Gegenwart lesen, welche die Reisenden in den Altstädten Turkestans gefunden hatten. Diese Suche nach Erlebnisräumen verweist auf die produktive Leistung der Nostalgie. Die imaginierte Vergangenheit definierte als andere Zeit- und Lebenserfahrung den Ausgangspunkt einer alternativen Entwicklungslinie. Abbildung 7: Marktstand in Buchara (um 1894/1898)
Quelle: Archiv DAV NAS 1FF 20. Willi Rickmers’ Beschreibung der Altstadt als sozialer Mikrokosmos liest sich wie eine Sozialutopie des anderen Lebensgefühls. Im Zentrum stand eine charakteristische Kultur der Öffentlichkeit. Als Kern des sozialen Lebens beruhte sie auf dem gesprochenen Wort und dem direkten Kontakt. Diese andere Art sozialer Kommunikation besetzte den öffentlichen Raum in spezifischer Weise als Aktionsfeld: „When we see some merchants of Bokhara sitting together for an hour or more they are simply reading their Times after breakfast; when a messenger or servant on his errand catches up snatches of conversation in the bazar, calling out inquiries, he is reading a paper in the train; when a group of listeners sit round a lecturer at the corner of a mosque, they are reading their Bible, or their Shakespeare, or maybe a shilling shocker, which gives more shocks for less money and compared to which our yellow volumes are missionary tracts.“139
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Rickmers 1913, 100-101.
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Abenteuer und Nostalgie
Beschreibungen, die Vergleiche mit Europa zogen und in einem Modus der Gleichzeitigkeit verfasst waren, ließen den Orient der Altstadtkerne von einem nostalgischen Gefühlsraum zu einem lebensreformerischen Vorschlag werden. Entwürfe einer anderen Gegenwart betrachteten den Lebensstil des Orients als gleichwertiges soziales, wirtschaftliches und kulturelles Modell.140 Die Altstadt-Kerne Turkestans waren mehr als bloße Projektionsflächen bürgerlicher Kulturkritik: Der alternative Lebensentwurf führte zur Entdeckung der Gegenwart des Landes. Die imaginierte Vergangenheit als Ausgangspunkt einer anderen Geschichte hatte utopisches Potenzial. Turkestan wurde zu einem Möglichkeitsraum alternierender Zukunftsentwürfe.141 Zwischen der imaginierten Vergangenheit und den Möglichkeitsräumen der Zukunft lag jedoch ein Weltkrieg. In ihm wurde das deutsche Verhältnis zur orientalischen Gegenwart neu justiert.
140 141
Rickmers 1913, 91-140. Zum Zukunftshorizont oder Möglichkeitsraum: Graf 2007, 115.
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IV. Weltkrieg durch Revolution: Die Gegenwart als Umbruchszeit
„Heute ist es anders. Der Zusammenbruch des tsarischen Russland zeigt uns den Mittelost in voller Bewegung.“1 Im September 1918 beschrieb nicht nur der Turkestan-Spezialist des Auswärtigen Amtes, Martin Hartmann, Auflösungserscheinungen in „Russlands Orient“2. Auch Willi Rickmers beobachtete nun als höherer Offizier der deutschen Delegation im Kaukasus den (endgültigen) Untergang der alten Welt. In seinem Brief aus Tiflis vom 31. Oktober 1918 findet sich der Ausruf: „Where is Samarkand now!“3 Während die von Hartmann konstatierte Dynamik den Blick in eine unsichere Zukunft lenkte, verhandelte Rickmers im Symbol ‚Samarkand‘ den Abschied von der Vergangenheit. Doch wie lässt sich Martin Hartmanns „heute“ historiografisch fassen? Wie fügte sich die deutsche Orientstrategie des „Krieges durch Revolution“ 4 in diese Zeit des Übergangs? Im Orient führten Militär und zivile Reichsleitung einen anderen Krieg als an der Westfront mit Stellungskampf und maschinellem Töten. Er unterschied sich auch vom Krieg in den besetzten Gebieten „OberOst“ und Serbien.5 Beteiligte am Orient-Krieg publizierten Erinnerungsliteratur und Memoiren, die narrativ dem Genre der Abenteuerbücher gehorchten. Zwar erschienen diese Erlebnisberichte noch während des Ersten Weltkrieges. Ihre Hochphase lag jedoch in den 1920er-Jahren und somit in einer Zeit, als dem Weltkrieg in der Retrospektive Sinn verliehen werden sollte. Über Bücher wie „Unter der Glutsonne Irans“, „Ins Verschlossene Land“ oder über den vom Reichsarchiv herausgegebenen Band „Jildirim. Deutsche Streiter auf heiligem Boden“ zogen Werte wie Entschlusskraft, Ritterlichkeit und individuelle Handlungsfähigkeit, welche in den Schützengräben an Bedeutung verloren hatten, (wieder) in die Geschichte des Weltkrieges ein.6 Diese Darstellungen der deutschen Orientpolitik berichten vom Scheitern überzogener Pläne. Als Erzählungen und Handlungsformen einer im Krieg selbst anachronistisch gewordenen Gegenwart waren sie ein Produkt unerfüllter Utopien. 1 2 3 4 5 6
Hartmann 1918, 41. Dazu: Brower 1997. Archiv DAV, 04.1961.0252, Berichte aus dem Kaukasus, Tiflis, 31. Oct. 1918. Deutsche Übersetzung des Buchtitels: McKale 1998. Dazu auch: Fischer 1961, 132177. Liulevicius 2002. Lyon 1995. von Niedermayer 1917, 2-12. von Niedermayer 1925. von Hentig 1928. Reichsarchiv 1925. Erdmann 1918. Zum britischen Mythos ‚Lawrence von Arabien‘: Grünjes 2006. Zur ähnlichen britischen Wahrnehmung des Orientkrieges: Renton 2007, 667.
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Turkestan-Expeditionen
Revolution war im totalen Krieg nicht nur eine Strategie, durch geschürte Aufstandsbewegungen hinter den Frontlinien Unruhe zu verbreiten sowie die Territorien der Feinde im Inneren zu destabilisieren; Revolution stellte einen Versuch dar, eine neue Ordnung zu errichten, geografische Räume neu zu besetzen sowie politische, wirtschaftliche und kulturelle Weichen für die Nachkriegszeit zu stellen.7 Denn subversive Aktionen und antikoloniale Aufstände an den Peripherien der Kolonialreiche veränderten nicht nur die Landkarte. Eingriffe in die Raumordnung des gegenwärtigen Orients wiesen auch auf einen zeitlichen Umbruch hin. Im Weltkrieg entstanden neue, selbstständige Staaten, und Bevölkerungsgruppen unter Kolonialherrschaft forderten die ‚Befreiung‘ von der ‚Unterdrückung‘. In der Übergangszeit zwischen kolonialer Vergangenheit und beginnender postkolonialer Zukunft wird diese Verschiebung vor allem an Überlagerungen in der Gegenwart des Weltkrieges deutlich.
1. Das ‚erwachende Asien‘ T URANISMUS Das Schlagwort des ‚erwachenden Asien‘ wurde erst in der Zwischenkriegszeit geprägt. Paul Rohrbach wählte diese Formulierung 1932, um die Einsichten seiner Asienreise zusammenzufassen.8 Die neue territoriale Ordnung in West- und Mittelasien sowie im Mittleren Osten, die nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs und des Zarenreichs entstanden war, korrespondierte mit verstärkten Selbstständigkeitsbestrebungen der Bevölkerung Asiens. Asien war territorial und politisch nicht mehr die Region, die sie vor dem Weltkrieg gewesen war. Obwohl der Erste Weltkrieg zwar als eine Art Katalysator im Prozess der Dekolonisation gesehen werden kann, reichten die kolonialen Freiheitsbewegungen im Zarenreich bis in das 19. Jahrhundert zurück.9 Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert war ‚Russlands Orient‘ ein Handlungsraum der muslimischen Selbstorganisation.10 Die Verteidigung der kulturellen und religiösen Eigenständigkeit angesichts der russischen Assimilationspolitik ging mit Forderungen nach der Unabhängigkeit von kolonialer Beherrschung einher. Ideologien wie Panislamismus, Panturkismus oder Panturanismus versprachen Emanzipation und politische Selbstständigkeit.11 Die mythische Urheimat ‚Turan‘ gab der letzten Ideologie nicht nur ihren Namen. Sie bildete auch die Legitimation für Gebietsansprüche und die historischgeografische Begründung dafür, ein religiös und ethnisch homogenes, türkisches Großreich zu errichten. Die sprachliche und kulturelle Gleichartigkeit 7 8 9 10
Koselleck, 653-788, insbesondere 653-656. Rohrbach 1932. Auch: Hagemann 1926. Adas 2004, 103-116. Einen quellenkritisch zu lesenden Überblick über den Turanismus gibt: Jäschke 1941, 1-54. Der amerikanische Eugeniker Stoddard interpretierte Turanismus als rassische Ideologie: Stoddard 1917, 12-23. 11 Landau 1990, 143-144. Roy 2000, 35-42.
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Weltkrieg durch Revolution
der muslimischen Bevölkerung wurde als ‚rassische‘ Verwandtschaft interpretiert. Die vermeintliche gemeinsame Abstammung aus Turkestan verschmolz mit den antikolonialen Forderungen: Ursprünge wurden zu einem politischen Instrument.12 Die nationale Bewegung des türkischen Panturanismus oder Panturkismus war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter den Muslimen Russlands, den Tartaren, Kirgisen und Bakschiren mit den Zentren Ufa und Kazan entstanden. Die Niederlage des Zarenreichs im Krimkrieg gegen das Osmanische Reich war einer der politischen Katalysatoren dafür. Die tartarische Händlerschicht und Intelligenzija, die in Russland und Westeuropa erzogen worden war, bildete das soziale Rückgrat der Befreiungsbewegung.13 Eine patriotische Literatur und Publizistik begleitete das ‚nationale Erwachen‘. Sie florierte vor allem nach der Niederlage Russlands im japanischrussischen Krieg (1905) und der ersten Russischen Revolution (1905–1907). Belletristische und wissenschaftliche Texte beschworen die großartige Vergangenheit und glorreiche Zukunft der ‚Turanier‘. Die national-religiöse Presse, die Predigten der Geistlichen, die Schulbücher und graue Broschürenund Traktatliteratur formulierten einen romantisch-schwärmerischen Panturanismus zum politischen Programm um. 14 Der Panturanismus verbreitete sich in (Zentral-)Asien, im Kaukasus und in Turkestan. Am Vorabend der ersten Russischen Revolution fand im August 1905 ein Mohammedanischer Kongress auf einem Schiff auf der Wolga statt, an dem Repräsentanten der verschiedenen Turkvölker Russlands – von der Krim, aus dem Kaukasus, aus Turkestan, aus Ufa, Kazan, Orenburg und aus Sibirien – teilnahmen. Kleinere geheime Treffen erfolgten nach der Revolution (1905) und den damit verbundenen Lockerungen auch im Anschluss an die Duma-Sitzungen in St. Petersburg. Den dritten Mohammedanischen All-Russischen Kongress in Nishni Novgorod besuchten rund 800 Delegierte. Neben Fragen der Sprachpolitik stand ein Programm der nationalen ‚Befreiung‘ auf der Tagesordnung. Diejenigen muslimischen Repräsentanten, die in die Duma gewählt worden waren, sollten dort diese Politik durchsetzen. Die Restaurationsperiode und erneute Repressionen, nach einer kurzen Phase der Lockerung als Errungenschaft der ersten Russischen Revolution, führten zu einer muslimischen Auswanderungswelle in das Osmanische Reich und dadurch zu einer dortigen Verbreitung des Panturanismus. Im Osmanischen Reich konkurrierten um die Jahrhundertwende mehrere Ideologien: der Osmanismus, der eine Union aller Nationalitäten des Osmanischen Reiches anstrebte, der Panislamismus, der eine panislamische Union favorisierte, und als schwächste Strömung der Panturkismus, dem eine pantürkische Union vorschwebte. Nach der Türkischen Revolution (1908), als die jungtürkische Bewegung und das Komitee für Einheit und Fortschritt an die Macht kamen, eröffneten sich auch in Konstantinopel Chancen für Panturanisten. Die Stadt entwickelte sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg 12 Zarevand 1971, 2. 13 Zarevand 1971, 4-10. Hostler 1993, 97-110. Czaplicka 1918, 9-18. Landau 1990, 143-160. 14 Das Folgende stützt sich auf: Zarevand 1971, 8-40, 78-79. Landau 1990, 9-10. Hostler 1993, 71-92, 110-118. Kohn 1928, 189. Makdisi 2002, 768-796. Lüdke 2005, 19-25.
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zu einem Zentrum panturanischer Propaganda. Im Komitee für Einheit und Fortschritt verstärkten sich die turk-nationalistischen Strömungen nach den territorialen Verlusten der Balkan-Kriege (1912/1913). Als Kompensation blickte das Osmanische Reich nach Asien und Anatolien, zum Kaukasus und nach Turkestan, dem vermeintlichen ‚Ursprungsland‘ der türkischen ‚Rasse‘. Ein Teil der jungtürkischen Bewegung hatte zudem das Ideal der osmanischen Einheit zugunsten eines türkischen Nationalismus aufgegeben, dessen Ziel ein durch ‚Rasse‘ und Sprache geeinter Staat war. Die Emanzipation der unter ‚russischem Joch lebenden‘ verwandten türkischen ‚Stämme‘ Asiens wurde zum politischen Fernziel. Im Osmanischen Reich faszinierten die ‚großen Helden‘ der turanischen Geschichte wie Dschinghis Khan und Timur. Politik und Literatur beschworen die mythische Heimat und verbreiteten Thesen einer Blutsverwandtschaft der Turkvölker als jenseits zeitlicher und räumlicher Grenzen stehendes ewiges Prinzip: „das Vaterland der Türken ist nicht die Türkei, ist nicht Turkestan, es ist ein weites ewiges Land: Turan“ – wie Ziya Gök Alp Bey, einer der Begründer des Turanismus schrieb.15 Das panturanische Weltbild arbeitete auch mit ‚harten‘ wissenschaftlichen Fakten und konkreten Gebietsforderungen. Die Methoden der Beweisführung entlehnte es nicht nur aus der Geschichte und Politik, sondern auch aus den Disziplinen der Ethnologie, Soziologie und Psychologie, die den Turanismus als zeitgemäße (National-)Bewegung prägten. Die konkreten Gebietsforderungen beinhalteten im Kern Zentralasien, die Kaukasusregion mit Armenien sowie die Krim und Wolga. Eine frühe panturanische Vision des späteren Kriegsministers Enver Pascha nahm in Marokko seinen Anfang und endete in Korea. Über Enver Pascha flossen panturanische Ideen in die offizielle Politik des Osmanischen Reichs ein. Als wichtigster, gemeinsamer Feind der Muslime galt das Zarenreich, da sich aus turanischer Perspektive „Turania Irridenta“, der unerlöste mythische Boden und das zukünftige nationale Territorium in den Händen der kolonialen Fremdherrschaft befand.16 Diese Mischung aus imperialen Ansprüchen der Türkei, die versuchte ‚Befreiung‘ der Turkvölker vom ‚kolonialen Joch‘ Russlands sowie die zur Ideologie geronnene Sehnsucht nach der verlorenen Urheimat wurde im Ersten Weltkrieg handlungsleitend. Das Deutsche Reich war mit dem Panturanismus nicht nur über sein Bündnissystem mit dem Osmanischen Reich verflochten, sondern hatte selbst das politische Potenzial des östlichen Faktors erkannt, um im kolonialen Hinterland eine islamische Front zu eröffnen. D ER
DEUTSCHE
O RIENT
DER
G EGENWART
Die ‚Entdeckung‘ des politischen Orients innerhalb des Deutschen Reiches gründete auf Verschiebungen innerhalb der Wissenschaft. Bereits zur Jahrhundertwende wurde die philologisch-archäologische Tradition durch gegenwartsbezogene Disziplinen wie die Anthropologie, die Ethnologie sowie die Rechts- und Politikwissenschaft ergänzt. Der Beginn einer aktiven deutschen Kolonialpolitik erforderte nämlich verwertbares Wissen über die außereuropäische Welt. Das Ideal des bürgerlichen Bildungswissens stand 15 Kohn 1928, 191. 16 Zarevand 1971, 42-46, 83. Lüdke 2005, 49. Jäschke 1941, 11-12.
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durch die neue Anwendungsorientierung auf dem Prüfstand. An die Stelle der Fixierung auf Ursprungsmythen und versunkene Kulturen der Vergangenheit rückte mit der Institutionalisierung der Islamkunde die Gegenwart des Orients in den Fokus der Wissenschaft. Diese, nach Marchand, „modernist branch“ der deutschen Orientalistik war eine Minderheitenposition. Sie war vor allem an außeruniversitären Einrichtungen wie dem Seminar für Orientalische Sprachen in Berlin und dem Hamburgischen Kolonialinstitut verankert. Der neue Umgang mit dem Islam als politischem Faktor förderte Sympathien für antiimperialistische und nationalistische Tendenzen der Kolonialvölker.17 Die Anlehnung der Islamkunde an die Ethnologie schärfte neue Konzeptionen des Orients: Vor allem die Völkerpsychologie, die jeder ethnischen Gruppe spezifische mentale Dispositionen zuwies, beeinflusste wissenschaftliche und populäre Konzeptionen des Islam sowie die praktischen Programme der deutschen Weltpolitik.18 Nicht nur Fachleute in den neu gegründeten Instituten wie der Arabist Martin Hartmann, der Islamkundler des Hamburgischen Kolonialinstituts, spätere Hochschulreformer und preußische Kultusminister, Carl Heinrich Becker, sowie Georg Kampffmeyer, Redakteur der Welt des Islams – der Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Islamkunde –, beschäftigten sich wissenschaftlich mit dem revolutionären Potenzial an den Peripherien der Kolonialreiche. Amateurorientalisten wie der Diplomat Max von Oppenheim, Kaiser Wilhelm II. und Reichskanzler von Bethmann Hollweg beobachteten antikoloniale Organisationen mit großem Interesse.19 So standen Unruhen in Indien seit 1907 unter deutscher Beobachtung. Max von Oppenheim interpretierte Berichte der deutschen Konsuln in Südasien und dem Fernen Osten über die antikolonialen Aufstände der hinduistischen Swadeshi-Bewegung fälschlicherweise als Belege einer panislamischen Erhebung gegen die britische Kolonialherrschaft. Die fixen Ideen eines prinzipiell fanatischen und kriegerischen Islam bildeten die Basis für diese Fehleinschätzung: „While Hindu extremism did not fit into Oppenheim’s Orientalist perception of the East, Muslim fanaticism did, and thus the facts where altered to fit with fantasy.“ Die Annahme, dass die panislamischen und antikolonialen Bewegungen dem Deutschen Reich im Kriegsfall nützen könnten, fand festen Eingang in die politischen Pläne.20 J IHAD -E RKLÄRUNG
UND
K RIEG
DURCH
R EVOLUTION
Die Konzeption des Panislam als Waffe gegen die Kolonialmächte der Entente erhielt nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs einen eigenen Stellenwert in der deutschen Kriegsstrategie. Bereits zu Beginn des Weltkrieges kursierten beim Kaiser und beim Reichskanzler von Bethmann Hollweg Pläne, Revolten in Ägypten und Indien anzuzetteln. Max von Oppenheim fasste 17 Mangold 2004, 226-270. Hanisch 2003, 40-44. Marchand 2001, 470-471. Ruppenthal 2007. Becker 1930, 159-186. 18 Manjapra 2006, 367-369. 19 Lüdke 2005, 19-62. Martin Hartmann hatte Forschungsreisen nach Turkestan durchgeführt, vgl. z. B.: Hartmann 1908. Zur Deutschen Gesellschaft für Islamkunde in der Nachkriegszeit siehe den Akt PA AA, R 64473. 20 Manjapra 2006, 365-370, wörtliches Zitat: 369-370. Hagen 2004, 145-162.
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diese Konzepte im September 1914 im Memorandum „Die Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde“ in ein politisches Programm. Der Fokus lag auf dem britischen Empire. Das Kriegsziel, Großbritannien durch eine Aufwiegelung der Kolonialbevölkerung aus Indien zu vertreiben, wurde bis 1915 aktiv verfolgt und blieb als strategische Option während des gesamten Krieges aktuell.21 Ende Oktober 1914 war das Osmanische Reich aufseiten der Mittelmächte in den Ersten Weltkrieg eingetreten, wobei die prodeutsche Orientierung der Jungtürken um Enver Pascha eine entscheidende Rolle spielte. Die zwischen dem Deutschen und Osmanischen Reich abgesprochene und von Max von Oppenheim forcierte Erklärung des ‚Heiligen Krieges‘ war als Initialzündung für muslimische Revolutionen in den Kolonien der Entente geplant. Am 14. November 1914 erklärte ein islamisches Rechtsgutachten den Jihad gegen England, Frankreich und Russland. Der ‚Heilige Krieg‘ wurde dabei nicht als Kampf gegen alle „Andersgläubigen“, sondern antikolonial interpretiert, wobei die Mittelmächte als „Schutzgenossen“ ausgenommen waren.22 Die Erklärung des ‚Heiligen Krieges‘ wurde öffentlich in Ansprachen und sogar einer berittenen Prozession, die an die Zeiten des Propheten Mohammed erinnern sollte, inszeniert. Nachdem in der Fatih-Moschee in Konstantinopel die Kriegserklärung verlesen worden war, wurde dieser Umzug durch die Hauptstadtstraßen am Kriegsministerium und dem Palast des Großwesirs empfangen. Bei der deutschen Botschaft in Pera, vor der sich eine ansehnliche Menschenmenge versammelt hatte, standen Mitglieder des Komitees für Einheit und Fortschritt sowie ein Marokkaner in französischer Uniform. In arabischer Sprache lobte dieser das Deutsche Reich für seine ‚Befreiung‘ und beklagte gleichzeitig die schlechte Behandlung muslimischer Soldaten innerhalb der französischen Armee. Nach Jubelrufen auf den Deutschen Kaiser als Verbündeten des Islam bewegte sich die Versammlung auf die österreichische Botschaft zu. Dort wiederholte sich die Prozedur. Obwohl bereits Augenzeugen amüsiert auf die Darbietung reagierten, nahmen die Mittelmächte ihren ‚Heiligen Krieg‘ durchaus ernst.23 In den ersten Kriegsjahren lag der Fokus der deutschen Revolutionsstrategie vor allem auf den Ländern des Nahen Ostens. Die am größten angelegte unter den militärischen Aktionen war die deutsche Afghanistan-Mission (1915-1916). In Absprache mit Enver Pascha und unterstützt von der Indischen Unabhängigkeitsbewegung unter Raja Mahendra Pratrap zogen zwei Abteilungen in Richtung Kabul. Deutschland und die Türkei glaubten, dass der afghanische Emir Habibullah zum Krieg gegen Großbritannien und Russland sowie zum Angriff auf Indien bereit sei. Die Expeditionstruppe des Auswärtigen Amtes führte der Diplomat Werner Otto von Hentig. Die militärische Abteilung stand unter dem Kommando des Bayerischen Hauptmanns Ritter Oskar von Niedermayer. Nicht nur, dass sich die Leiter beider Expedi21 Manjapra 2006, 370. Lüdke 2005, 33-34. Kröger 1994, 368-369. Fischer 1961, 133-135, 140-148. Özcan 1977, 127-208. Zum Folgenden auch: Marchand 2009, 437-454. 22 Schwanitz 2003, 7-34. Karsh, Karsh 1999, 105-117. Wallach 1976, 165-249. Keddie 1994, 463-487. Hagen 2004, 145-149. Lüdke 2005, 40-54. Die Erklärung des Geistlichen Rates, 1915, 10-18. 23 Hagen 2004, 144.
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tionszweige bezüglich der Inhalte ihrer Mission zerstritten, die ‚Aufwiegelung‘ des Emirs schlug zudem fehl. Nachdem Habibullah deutsche Subsidien in Höhe von zehn Millionen Pfund und die Lieferung moderner Gewehre und Kanonen gefordert hatte und die deutschen Offiziere bereits mit der Reorganisation des afghanischen Heeres begonnen hatten, wuchs der britische Druck auf den afghanischen Herrscher, der seine außenpolitische Handlungsfreiheit bereits 1880 an Großbritannien abgetreten hatte. Habibullahs Forderung von zusätzlichen 20 000 deutschen oder türkischen Soldaten war außerdem unerfüllbar. Im Frühjahr 1916 entschlossen sich Hentig und Niedermayer auf spektakulären Umwegen zur Rückkehr aus Afghanistan nach Deutschland. Das Ergebnis der Mission war ein deutsch-afghanischer Freundschaftsvertrag, in dem Afghanistan finanzielle Unterstützung und Waffenlieferungen zugesagt wurden und Hentig als diplomatischer Vertreter des Deutschen Reiches anerkannt wurde. Das britische und russische Militär, ihre Geheimdienste und ihre Politik hatten die deutschen Missionen genau beobachtet. Denn Revolten und Aufstände zu schüren, gehörte auch zur Kriegsstrategie der Entente. Die Briten unterstützten erfolgreich den arabischen Aufstand gegen das Osmanische Reich. Schließlich trug die Guerillataktik des britischen Archäologen und Geheimagenten Thomas Edward Lawrence zur Niederlage der osmanischen Truppen im Nahen Osten bei.24
2. Verflechtung und Gleichzeitigkeit Bereits 1914 hatte Max von Oppenheim die Nachrichtenstelle für den Orient initiiert; sie war dem Auswärtigen Amt angegliedert. Bis 1915 leitete Oppenheim die Stelle selbst. Als er nach Konstantinopel versetzt wurde, um dort ein weiteres Nachrichtenbüro aufzubauen, übernahm der Dragoman25 Freiherr von Schowingen und als dessen Nachfolger der Ägyptologe Eugen Mittwoch die Leitung. Im Auswärtigen Amt koordinierten der Legationssekretär Otto von Wesendonck und der Unterstaatssekretär Arthur Zimmermann die Orientpolitik im Krieg. In den Räumen der Nachrichtenstelle, zunächst innerhalb des Reichskolonialamts, später in einem eigenen Gebäude im Berliner Westen, arbeiteten deutsche Islamkundler, Journalisten und Diplomaten sowie ausländische Spezialisten. Wichtig für die deutschen Beziehungen zu Turkestan waren neben dem Mittelasien-Experten Martin Hartmann der Osteuropa-Spezialist Harald Cosack und der Iranist Sebastian Beck.26 Die Aufgabe der Nachrichtenstelle bestand in Propagandaaktivitäten gegenüber der muslimischen Kolonialbevölkerung und den kolonialen Unabhängigkeitsbewegungen Indiens. Ein Ziel bestand darin, in Lagern wie 24 Kröger 1994, 380-381. Vogel 1976. Hughes 2004, 25-63. Kedourie 1956. Karsh, Karsh 1999, 138-149, 185-243. Darwin 1981, 140-169. 25 In diesem Kontext bezeichnet der Begriff einen Dolmetscher und Vermittler zwischen den deutschen Behörden und Gesandtschaften im Orient. 26 Diese Zuständigkeiten lassen sich anhand der Akten rekonstruieren: vgl. PA AA, R 11071-R 11073. Dazu auch: Fischer 1961, 135-140. Schwanitz 2003, 18-21. Kröger 1994, 373-375. Der Name Otto von Wesendonck findet sich in den zitierten Akten auch häufig in der Schreibweise ‚Wesendonk‘, die hier auf die in der heutigen Literatur geläufige Form angeglichen wurde.
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Wünsdorf Kriegsgefangene aus den Kolonien der Entente gegen ihren Souverän aufzubringen. Waffenlieferungen und finanzielle Unterstützung sollten den Krieg in das koloniale Hinterland der Gegner tragen. Zudem war die Nachrichtenstelle für den Orient eine Anlaufstelle für Gesandtschaften und Delegationen der kolonialen Befreiungsbewegungen. Sie war die Kontaktzone zwischen deutschen Orientexperten und den Netzwerken aus den Kolonien der Entente.27 Politische Unruhen in Mittelasien schienen den Bemühungen der Nachrichtenstelle entgegen zu arbeiten. In Turkestan herrschten bereits ein Jahr vor dem Ausbruch der Russischen Revolution bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen. 1916 war es in Mittelasien zu Aufständen gekommen, als die zarische Regierung die Bevölkerung Turkestans zum Arbeitsdienst im Rahmen des Krieges heranziehen wollte. Vor allem im Gebiet der nomadischen Kirgisen griff eine Aufstandsbewegung gegen die russische Kolonialmacht um sich. Sie wurde blutig niedergeschlagen. Einen zweiten Unruheherd neben dem kirgisischen Semiretschiegebiet bildete das Ferghanatal, zu Teilen im heutigen Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan gelegen. Als im Oktober 1917 die Russische Revolution ausbrach, traf diese auf ein politisch mehrfach gespaltenes Land. Neuen Auftrieb für antikoloniale Forderungen brachte die Revolution selbst: Lenin und die Revolutionäre schienen imperiale Herrschaftsformen als höchste Stufe des Kapitalismus geradezu zu bekämpfen. So lebten während der Revolutionsjahre innerhalb der einzelnen Völker Turkestans separatistische Bestrebungen auf, wobei die Forderung nach Autonomie auch gegen die Revolution gerichtet sein konnte: Während der südliche Teil, die reiche Baumwollprovinz Ferghana und das religiös und politisch konservative Emirat Buchara die Revolution ablehnten, nutzten die Kirgisen im Norden die Situation, um ihre eigenen politischen und wirtschaftlichen Belange durchzusetzen, unter anderem die Enteignung russischer Siedler. Grundsätzlich wandte sich die Stimmung der Bevölkerung gegen die Russische Revolution, als ersichtlich wurde, dass die Formen beginnender Selbstverwaltung von kommunistischen Akteuren zerschlagen wurden. In abwertender Absicht bezeichneten russische Politiker und Militärs die Aufstände der einheimischen Bevölkerung als Basmatschi-Unruhen, wobei dieses türkische Wort übersetzt „Räuber“ bedeutet.28 Die Kooperation zwischen der Nachrichtenstelle und der Unabhängigkeitsbewegung der Muslime Russlands zerfiel in zwei Phasen. In den ersten drei Kriegsjahren gingen Initiativen, die Kolonialvölker Russlands zu ‚befreien‘, vor allem von den muslimischen Delegationen selbst aus. Die Basmatschi-Aufstände, die Unruhen im Kirgisengebiet und den Ausbruch der Russischen Revolution ließen die zivile und militärische Führung des Deutschen Reiches ungenutzt verstreichen. Erst der Frieden von Brest-Litowsk, den das revolutionäre Russland nach zähen Verhandlungen und in einem langwierigen Prozess mit dem Deutschen Reich im März 1918 schließen 27 Höpp 1996, 204-218. Höpp 1997b. Hagen 1990. 28 Zu den Aufstandsbewegungen des Jahres 1916: PA AA, R 11071, Zeitungsausschnitt, „Aufruhrstimmung in Turkestan“, Vossische Zeitung, 18.8.1916. Brower 2003, 1-25. Hayit 1992, 10-18. Roy 2000, 42-49. Baberowski, Doering-Manteuffel 2006, 22-24. Brower 1996. Sokol 1954. Hostler 1993, 127-129. Dazu auch die übersetzte Aktenedition: Hayit 1958.
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musste, änderte die Lage. Die Auflösung des Zarenreichs eröffnete für die Politik der Mittelmächte neue strategische Optionen. Das bereits aufgegebene Kriegsziel eines Landweges nach Indien und China schien nun über den Kaukasus erreichbar zu sein. Der Kaukasus galt als erste und Turkestan als zweite Etappe des zu erobernden deutschen Orientweges, der über die koloniale Peripherie des zerfallenden Zarenreichs führen sollte.29 Die knapp dreijährige Kooperation zwischen Akteuren der kolonialen Unabhängigkeitsbewegung und deutschen Experten kann als eine Form von entangled histories untersucht werden.30 Die ‚Orientalen‘ aus den russischen Kolonien des Zarenreichs betraten mit der Nachrichtenstelle einen Raum der Gleichzeitigkeit. Sie galten für die Deutschen nicht mehr (nur) als das in der Zeit Entfernte und Exotische, sondern als gegenwärtiger Gesprächspartner in einem politischen Handlungsfeld. Dabei führten die muslimischen Politiker selbst eine paradoxe Existenz. Obwohl sie in der deutschen Gegenwart Forderungen stellten, argumentierten sie – teilweise auch in strategischer Absicht – mit ihrer eigenen ‚Rückständigkeit‘. Sie hatten den europäischen Geschichtsdiskurs und dessen Kultur- und Zivilisationsstufen verinnerlicht. Laut ihrer Selbstbeschreibung fehlten ihren Völkern die in den transatlantischen Revolutionen erkämpften Werte von Freiheit und Unabhängigkeit, die ihnen als entwicklungsteleologisches Ziel der ‚wahren‘ europäischen Zivilisation erschienen. Das Deutsche Reich sollte sie auf diesem Weg in eine politisch autonome Zukunft begleiten.31 M USLIMISCHE G ESANDTE
IN
B ERLIN
Bereits ein gutes Jahr nach Beginn des Ersten Weltkrieges trafen Ende 1915 in Berlin Vertreter des Komitees zum Schutze der Rechte der mohammedanischen türkisch-tartarischen Völker Russlands ein. Die Abgesandten des Komitees Aktschura Oglu Jussuf (geboren in Simbirski an der Wolga), Professor Dr. Ali Hüsseinsáde (aus Salian in der Provinz Baku) sowie Professor Mehemed Cselebisáde (von der Krim) und Mukim Eddin Beijdschan (aus Buchara) hatten bereits in Budapest und Wien versucht, „durch eifrige Propaganda ein lebhaftes Interesse für die ‚Turanische Frage‘ hervorzurufen“.32 Ausgestattet mit einer Denkschrift, welche die Emanzipation der muslimischen Bevölkerung von der kolonialen Herrschaft Russlands verlangte, trafen die vier Vertreter im Januar 1916 in Berlin ein. Politisch forderte die Denkschrift, die Geografie des Ostens durch autonome, muslimische Staaten umzugestalten. Das Komitee verfolgte ein panturanisches Maximalprogramm, das im Fall seiner Umsetzung die russische Herrschaft in Zentralasien been29 Seidt 2001, 2-4. Baumgart 1969. Fischer 1961, 550. 30 Conrad, Randeria 2002, 17-22. Hagen 2004, 145-162. Manjapra 2006, 363-382. 31 PA AA, R 11071, Notiz zum Komitee (Besprechung mit Aktschura), o. D., o. Unterschrift und Titel (5 Seiten), 3. PA AA, R 11071, Worte des Herrn Ali-Hüssein-Zade [sic!]. Dazu auch: Aydin 2006, 204-222. 32 PA AA, R 11071, Kaiserlich Deutsches Generalkonsulat für Ungarn an Reichskanzler Herrn von Bethmann Hollweg, Budapest, 17.12.1915. PA AA, R 11071, Zeitungsausschnitt, „Denkschrift für den Schutz der Rechte der mohammedanisch türkischtartarischen Völker Rußlands“, Wiener Politische Correspondenz, 17.12.1915. Jäschke 1941, 17-18. Die Schreibweise der Namen folgt der Zeitschrift Die Welt des Islams.
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det hätte: Die „vollkommene Befreiung der Khanate von Bokhara und Khiva von der russischen Oberherrschaft sowie die Wiederherstellung ihrer vollkommenen Unabhängigkeit“, die Freiheit und Unabhängigkeit Turkestans und der Turkmenen sowie ihre Angliederung an die wiedererrichteten Khanate Bokhara und Khiva, die gesetzliche Sicherung der politischen und administrativen Unabhängigkeit des kirgisischen Landes, die Wiedererrichtung des alten Kasaner Khanats an der Wolga und des Krimkhanats unter dem Schutz des osmanisch-türkischen Sultans.33 Im Verlauf des Ersten Weltkrieges baten weitere Abgesandte aus Zentralasien um die Unterstützung des Deutschen Reiches und der Mittelmächte. Im Juni 1918, einige Monate nach dem Frieden von Brest-Litowsk, reiste der Abgesandte der Kalmücken, Fürst Tondutoff, nach Berlin und abends „in Begleitung des Generals von Lossow nach dem Großen Hauptquartier“ ab. Fürst Tondutoff wünschte, „daß Deutschland das Protektorat über seine Heimat übernimmt und das Land der Kalmücken in irgend einer Form, etwa nach Art der englischen Dominions, an sich anschließt. Als dringendste Maßnahme regte er an“, daß „die deutschen Truppen [den Verkehrsknotenpunkt und das Handels- sowie Ölförderzentrum, F.T.] Zarizyn besetzen möchten, um so die Verbindung mit dem bolschewistischen Norden zu unterbrechen und mit einem Schlage dem Bürgerkrieg in seiner Heimat ein Ende zu machen“.34 Im Juli 1918, als das Deutsche Reich sich zwar offiziell mit dem revolutionären Russland im Frieden befand, nichtsdestotrotz im Rahmen der Kaukasus-Mission des Sommers 1918 subversive Aktionen in Turkestan plante, trafen zwei weitere Gesandte in Berlin ein: Osman Tokumbet und Jussif Muzaffar, der Erstere Mitglied des Zentralrates aller Mohammedaner Russlands in Petersburg, der Letztere Mitglied des National-Medschlis in Ufa.35 Sie blieben einige Monate in Berlin und versorgten die Nachrichtenstelle und das Auswärtige Amt mit Denkschriften. Eines ihrer dringendsten Anliegen war die Klärung der Frage, „ob sie beim Sturz der Bolschewiki auf deutsche Unterstützung bei der Schaffung eines selbständigen Mohammedanerstaatenbundes in Russland und Zentralasien rechnen können“.36 Als sich Lenins eigentliches Versprechen, dass die Russische Revolution zur Autonomie der ehemaligen Kolonialvölker des Zarenreichs führen werde, in Luft aufzulösen schien, suchte noch im Herbst 1918 der abgesetzte Nationalparlamentspräsident des (kurzfristig) autonomen Turkestans, Chir-Ali Lapine, Zuflucht und Unterstützung in Deutschland. Obwohl Lapine die „katastrophale Lage des Deutschen Reichs“ zu diesem Zeitpunkt zu verstehen schien, hielt er trotzdem an der Option fest. Harald Cosack berichtete, dass Lapine wissen wolle, „in welcher Weise die deutsche Regierung ihn unter-
33 PA AA, R 11071, Denkschrift des Komitees zum Schutze des Rechts der mohammedanischen türkischen Völker Russlands, (o.P.), 2-3. 34 PA AA, R 11072, Graf Hertling an Freiherrn von Berckheim, Nr. 1198, 6. Juni 1918. 35 Medschli ist die arabische Bezeichnung für (Rats-)Versammlung und meint eine Art Parlament beziehungsweise politisches Gremium. 36 PA AA, R 11072, Abschrift A 30749, Freiherr von dem Bussche an [Kurt] Riezler, 19. Juli 1918.
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stützen wolle und könne, damit er das Selbstbestimmungsrecht der turkestaner Bevölkerung zur Geltung zu bringen im Stande wäre“.37 Die Tatsache, dass sich die muslimischen Politiker an das Deutsche Reich wandten, war nicht nur strategisch motiviert. Einige von ihnen hatten bereits vor dem Weltkrieg sehr gute Kontakte zum Deutschen Reich gepflegt. Aktschura war bereits 1910 nach Berlin gereist und hatte versucht „die Aufmerksamkeit einiger gelehrter Gesellschaften auf die […] Mohammedaner in Russland zu lenken“.38 Aktschura habe laut Notizen des Auswärtigen Amtes bereits damals seine Überzeugung ausgedrückt, dass ein Krieg zwischen dem Deutschen Reich und Russland unvermeidbar sei und dass er unter den „wahren Freunden“ der Muslime das Deutsche Reich erblicke. Mit Martin Hartmann hatte er bei dieser Berlinmission bereits eingehende Verhandlungen über die Gründung einer Schule für die Muslime Russlands im Deutschen Reich geführt.39 Zuschreibungen, die sich mit Semantiken der deutschen Selbstwahrnehmung deckten, fanden sich im Deutschlandbild der muslimischen Politiker wieder. Diese idealisierten, zumindest rhetorisch, das Deutsche Reich als Land der wahren geistigen Hochkultur und der Wissenschaft.40 Die muslimischen Politiker waren von der deutschen Romantik und Klassik beeinflusst, beherrschten die deutsche Sprache und hatten den Kanon deutscher Literatur sogar in ihren Wochenzeitschriften übersetzt. In einer Stellungnahme zum Charakter Ali Hüsseinsádes beschrieb ihn Sebastian Beck als einen Menschen, der die deutsche ‚Kulturnation‘ bewundere: „Ali Bej hegt eine schwärmerische Verehrung für alles Deutsche, vor allem für unsere Philosophen und Dichter, deren grösste er zum Teil recht eingehend studiert hat. Schiller und Goethe rezitiert er viel auswendig, und er kann heute noch die Rolle des Melchenthal im ‚Tell‘, die er bei einer deutschen Aufführung in Baku kreierte.“41 Martin Hartmann deutete die deutsche kulturelle Stellung als Verpflichtung, den Unabhängigkeitsbewegungen im Orient Hilfestellung zu geben.42 Von deutscher Seite hatte bereits die Orientreise Kaiser Wilhelms II. (1898) eine öffentlichkeitswirksam inszenierte Szene der deutschmuslimischen Freundschaft zur Schau gestellt: Am Grab Saladins hatte sich der Kaiser zum ewigen Freund und Schutzherren der muslimischen Weltbevölkerung bekannt. Gerüchte, dass Wilhelm II. selbst zum Islam übergetreten sei, und gar – inkognito – eine Pilgerreise nach Mekka angetreten habe, schien er nicht zu dementieren, sondern eher zu fördern. Die protürkische 37 PA AA, R 11074, Harald Cosack an Blücher, Berlin 22. November 1918, 1. Jäschke 1941, 48-49. Kritik an der russischen beziehungsweise sowjetischen Auffassung des Selbstbestimmungsrechts gegenüber Turkestan übt: Hayit 1962, 25-34. 38 PA AA, R 11071, Beck an Konsul Schabinger, Bericht über die Abgesandten des Komitees zum Schutze der Rechte der muslimischen türkisch-tartarischen Völker Russlands, 15.2.1916, 17. 39 PA AA, R 11071, Bericht Martin Hartmann, 23. März 1916. 40 PA AA, R 11071, Worte des Herrn Ali-Hüssein-Zade [sic!]. 41 PA AA, R 11071, Beck an Konsul Schabinger, Bericht über die Abgesandten des Komitees zum Schutze der Rechte der muslimischen türkisch-tartarischen Völker Russlands, 15.2.1916, 21-23. 42 PA AA, R 11071, Entwurf der Tischrede Prof. Hartmann.
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Politik des Deutschen Reiches in den Vorkriegsjahren sowie die heroisch überhöhte deutsch-osmanische „Waffenbrüderschaft“ galten als zusätzlicher Beweis, dass die Mittelmächte auf der Seite der muslimischen Unabhängigkeitsbewegung standen.43 I NTERPRETATIONEN
DES
W ELTKRIEGES
In Gesprächen zwischen muslimischen Politikern und deutschen IslamExperten in der Nachrichtenstelle nahm die Frage nach einer gemeinsamen Deutung der Gegenwart einen großen Stellenwert ein. Sie betraf Auslegungen von Kolonialismus und Weltkrieg sowie die jeweilige Selbst- und Fremdverortung. Während diese Suche nach einer gemeinsamen Verständigungsebene und Propagandasprache zusammen mit dem tartarischen Komitee 1916 noch in der Öffentlichkeit ausgetragen wurde, verlief die Interaktion mit den späteren Gesandtschaften eher im Stillen.44 Sebastian Beck und die Nachrichtenstelle hatten für das tartarische Komitee ein Besuchsprogramm organisiert, in dem die muslimischen Politiker mit der Presse, mit deutschen Politikern, Wissenschaftlern und Wirtschaftskreisen sprechen konnten. Die Denkschrift Aktschuras wurde in der Welt des Islams abgedruckt.45 Die Nachrichtenstelle organisierte außerdem zwei öffentliche Vortragsveranstaltungen, eine am 15. Januar 1916 in der DeutschAstiatischen Gesellschaft und eine weitere am 18. Januar 1916 beim Kulturbund deutscher Künstler. Im Vorfeld der Publikation und der Veranstaltungen wurden die Formulierungen und Argumente von deutscher Seite genau geprüft und unpassend erscheinende Textpassagen umgeschrieben.46 Diese Art von Zensur nannte sich ‚Textredaktion‘: „Ich [vermutlich Martin Hartmann, F.T.] habe empfohlen, es drucken zu lassen. Nach aufmerksamer Durchsicht des türkischen und deutschen Textes möchte ich eine etwas andere Redaktion vorschlagen.“47 So lag es im Interesse des Auswärtigen Amtes und der Nachrichtenstelle, dass in Aktschuras Memorandum neben Russland
43 Manjapra 2006, 365. Fischer 1961, 133. Hagen 2004, 147, 149. Hughes 2004, 29. Richter 1997. Zum deutsch-türkischen „Waffenbündnis“: Jäckh 1911. 44 PA AA, R 11071, Beck an Konsul Schabinger, Bericht über die Abgesandten des Komitees zum Schutze der Rechte der muslimischen türkisch-tartarischen Völker Russlands, 15.2.1916, (Besucherliste) 1-5. Notiz zum Komitee (Besprechung mit Aktschura), o. D., o. Unterschrift und Titel (5 Seiten), 2. 45 Denkschrift des Komitees zum Schutze der Rechte der mohammedanischen türkisch-tartarischen Völker Russlands, 1916, 33-43. 46 PA AA, R 11071, Notiz zum Komitee o. D., o. Unterschrift und Titel (5 Seiten), 1. PA AA, R 11071, Schabinger an Dr. Otto von Wesendonck, 6.1.1916. PA AA, R 11071, Schabinger an Wesendonck, 14.1.1916, 1. PA AA, R 11071, Beck an Konsul Schabinger, Bericht über die Abgesandten des Komitees zum Schutze der Rechte der muslimischen türkisch-tartarischen Völker Russlands, 15.2.1916, 10-11. PA AA, R 11071, Kulturbund deutscher Gelehrter und Künstler, 15.1.1916, Einladung zum Empfang des Komitees in der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Zur Deutsch-Asiatischen Gesellschaft im Krieg, siehe auch: PA AA, R 64912. 47 PA AA, R 11071, Notiz zum Komitee (Besprechung mit Aktschura), o. D., o. Unterschrift und Titel (5 Seiten), 1-2.
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auch Großbritannien namentlich als gemeinsamer Feind genannt wurde.48 Um eine verbindliche deutsche Zusage zu weitgehender Unterstützung zu verhindern, müsse die „Bedeutung […] der Türkei für die Erfüllung der tartarischen Wünsche“ explizit betont werden.49 Die deutsche Seite achtete empfindlich darauf, keine militärischen Verpflichtungen einzugehen. Martin Hartmann sparte in seinem Vortrag auf den beiden Abendveranstaltungen jegliche antikoloniale Emanzipationsrhetorik aus. Verklausuliert verortete er die gemeinsamen deutsch-muslimischen Interessen in der Trias „Fortschritt“, „Entwicklung“ und „Unabhängigkeit“ und dabei vor allem im geistigkulturellen Horizont.50 Auf der Suche nach einer gemeinsamen Semantik verwendeten die Delegationen Argumentationsstücke aus dem europäischen orientalistischen Diskurs und der mitteleuropäischen Geschichtsphilosophie, die sie für ihre Zwecke umdeuteten. Mit der mittel- und westeuropäischen Kriegspropaganda teilten sie das dichotome Weltbild sowie die Eindeutigkeit von Freund- und Feind-Kategorien.51 Obwohl die jeweiligen politischen Intentionen der Komitees heterogen waren, finden sich inhaltlich durchgängig gemeinsame Interpretationslinien. Einigkeit herrschte darüber, dass das Deutsche Reich und die Mittelmächte die Muslime Russlands auf dem Weg zur Autonomie begleiten sollten. Den Ersten Weltkrieg verstanden die Politiker als Befreiungskampf der muslimischen Bevölkerung und als Chance, ihre Unabhängigkeit von Russland zu erreichen.52 Auf der geschichtsphilosophischen Ebene galt ihnen der Krieg als historische Entscheidungssituation, der ein göttlicher Heilsplan zugrunde lag. Die eindeutige Trennung zwischen Verbündeten und Gegnern begründete Aktschura durch die Gesetzmäßigkeiten einer biologisch interpretierten Geschichte: „In diesem Weltkrieg haben die Völker so Stellung gegeneinander genommen, dass sich darin ihre ganze Vergangenheit gleichsam verdichtet manifestiert. Die historischen und natürlichen Feinde treten mit gezücktem Schwert einander gegenüber. Die historischen Freunde, die Deutschen und Turanier, das heißt: die Deutschen, Deutsch-Oesterreicher, Ungarn, Bulgaren und Türken reichten einander die Hand gegen die Russen, Lateiner und Briten. Ich möchte glauben, dass der Höchste mit diesen wunderbaren Ereignissen […] die Stärkung und Festigung der in seinem Ratschluß erwähnten beiden großen Rassen, der germanischen und turanischen, beabsichtigt hat.“53 Der Erste Weltkrieg bot die Chance, die Weichen für eine 48 49 50 51 52
PA AA, R 11071, Schabinger an Wesendonck, 14.1.1916, 2. PA AA, R 11071, Schabinger an Dr. Otto von Wesendonck, 6.1.1916. PA AA, R 11071, Entwurf Tischrede Prof. Hartmann. Zur Rolle der Propaganda im Ersten Weltkrieg vgl. Cornwall 2000, 1-15. PA AA, R 11071, Denkschrift des Komitees zum Schutze der Rechte der mohammedanischen türkischen Völker Russlands, 4. PA AA, R 11125, Unterredung des Herrn von Wesendonck mit Herrn Osman Tokumbet und Jussuf Mussafar, 22.7.1918. PA AA, R 11071, Einleitende Worte des Herrn Aktschura, 1. PA AA, R 11071, Vortrag Aktschura, 16. PA AA, R 11072, Nr. 21265 [Heinrich Siegel], Kurzer Bericht über die politische Lage in Russisch-Turkestan, Moskau 13. Mai 1918, 1. PA AA, R 11073, Lapine: Ein halbes Jahrhundert Russenherrschaft in Zentralasien, 7-8. PA AA, R 11125, Uebersetzung der Denkschrift Osman Tokumbets und Jussuf Mussafars vorgelegt dem Auswärtigen Amt am 7. August 1918, 18. 53 PA AA, R 11071, Einleitende Worte des Herrn Aktschura, 1.
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neue Zukunft zu stellen. Ihre geografische Grundlage bildeten politisch unabhängige Staaten in Zentralasien. In inhaltlicher Umkehrung kolonialer Zuschreibungen wies Aktschura Russland den Status der kulturellen Unterlegenheit zu. In seiner Denkschrift war der Niedergang des türk-tartarischen Volkes mit dem Aufstieg Russlands zur Kolonialmacht in Zentralasien verbunden. Die Denkschrift des tartarischen Komitees arbeitete dabei mit der im kolonialen Diskurs üblichen Dichotomie zwischen einem authentischen Orient und der russischen Herrschaft. Im Gegensatz zur deutschen Kritik an der ‚Russifizierung‘ als Beginn einer neuen Zeit und dem Ende des ‚alten Orients‘ befürworteten die muslimischen Politiker geradezu den Fortschritt. Die angemessene Entwicklungsteleologie sei jedoch im Kern des „turanischen Volkes“ und nicht in den Eingriffen der russischen „Fremdherrschaft“ zu suchen.54 Der Exilpolitiker Lapine, der den Bürgerkrieg im zerfallenden Zarenreich erlebt hatte, betrachtete 1918 Russland als Ausgeburt der gegenwärtigen Anarchie, deren Spuren bis in die Kolonialzeit zurückverfolgt werden konnten. Lapine stand zwar der ‚Russifizierung‘ und der beginnenden ‚Sowjetisierung‘ äußerst ablehnend gegenüber, erkannte jedoch auch deren Ambivalenzen. Er argumentierte, dass im Prozess der ‚Russifizierung‘ die politischen Trennlinien zwischen der muslimischen Bevölkerung und den Kolonialherren erst konstruiert worden seien.55 Lapine verankerte seine Interpretation in einem Hygiene- und Dekadenzdiskurs, den er gegen die Kolonialmacht in das Feld führte. Den Exilpolitiker hatten seine Erfahrungen der Russischen Revolution an der Peripherie geprägt – „Raub, Mord, Plünderung und Erpressung, verknüpft mit allerhand Requisitionen und Füsilierungen […]. Darin bestand also das Ende der zivilisatorischen 50-jährigen Tätigkeit Russlands im Turkestangebiet.“ 56 Expost benannte er Chaos und Niedergang als Parameter der russischen Herrschaft in Zentralasien. Seiner Heimat Turkestan schrieb er dabei einen naturnahen, unverdorbenen Kulturzustand zu. Für Lapine hatte die rhetorisch bediente Ursprünglichkeit die politische Funktion, den Niedergang Turkestans im Zuge eines fehlgeleiteten russischen Zivilisierungsauftrages zu verdeutlichen: „Russland sah seine Mission in einer angeblichen Aufklärung der Völker des Orients und in ihrer Russifikation. […] alle kommunalen Wohltätigkeitsinstitutionen der Mohammedaner wurden zur Einführung einer ‚russischen Kultur‘ unerbittlich verfolgt. Statt solcher Wohltätigkeitsinstitutionen gab Russland dem Orient Kneipen, öffentliche Häuser, Trunksucht und Laster, Bestechlichkeit und Denunziation, Betrug und Gesetzlosigkeit. Alles geschah unter dem Deckmantel der Parole einer Zivilisation des mohammedanischen Orients.“57 Wirtschaftlich sei Turkestan zu einem Spielplatz für russische „Wucherer“, „Spekulanten“ und „Schwindelunternehmen“ geworden, welche „die schönste Perle in der Krone des russischen Zaren“ gründlich „verschandelt“ hätten.58 Der „Terror der 54 Denkschrift des Komitees zum Schutze der Rechte der mohammedanischen türkisch-tartarischen Völker Russlands, 1916, 42-43. PA AA, R 11071, Rede Aktschura, 18. PA AA, R 11071, Vortrag Aktschura, 13. 55 PA AA, R 11073, Lapine: Ein halbes Jahrhundert Russenherrschaft, 3. 56 PA AA, R 11073, Lapine: Ein halbes Jahrhundert Russenherrschaft, 9. 57 PA AA, R 11073, Lapine: Ein halbes Jahrhundert Russenherrschaft, 3. 58 PA AA, R 11073, Lapnie: Ein halbes Jahrhundert Russenherrschaft, 3-6.
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Bolschewiki“ galt ihm als letzte Konsequenz der russischen Politik gegenüber Turkestan.59
3. Weltmachtfantasien: Abenteuer als Realpolitik Die deutschen Projekte, mit denen der Osten destabilisiert werden sollte, erinnerten den späteren Außenminister Friedrich Rosen im Nachhinein an einen Karl-May-Roman.60 Bei den geplanten Einzelaktionen der ersten Kriegsjahre wie der Afghanistan-Expedition oder dem Vorschlag, kurzerhand den Suezkanal zu sprengen, handelte es sich um utopische Projekte, denen ein Ideal heroischer Machbarkeit zugrunde lag.61 Dabei waren die Planer und Akteure des „Kriegs durch Revolution“ von einer bestimmten Handlungsweise besessen: einer „deutsche[n] Sucht für abenteuerliche Expeditionen“ oder „Expeditionsmanie“62. Teilweise rührte diese Abenteuerstrategie daher, dass Forschungsreisende die Mittelmächte im Krieg berieten. Sven Hedin zum Beispiel stellte seine Karten von Zentralasien – wobei diese zu den besten zählten, die erhältlich waren – dem deutschen Generalstab zur Verfügung.63 Landeskenner sollten der deutsch-türkischen Erklärung des „Heiligen Krieges“ subversive Taten folgen lassen. Einer der prägenden Begegnungsrahmen ehemaliger Forschungsreisender mit dem Orient waren abenteuerliche Reiseerfahrungen. Im Ersten Weltkrieg wurde Abenteuer zur Realpolitik.64 Zwar kritisierten sogar hochrangige Militärs wie General Hans von Seeckt diese Strategie in der Rückschau heftig als irrational und nutzlos.65 Jedoch nicht so sehr das Kriterium des militärischen Erfolgs war für die gleichzeitige Idealisierung ausschlaggebend, sondern der spektakuläre Charakter sowie das Charakteristikum der Präsenz. Denn auch im Misslingen waren die Deutschen als Akteure im Orient gegenwärtig. Als Handlungsform strukturierte das Abenteuer die Planungen von Spionagenetzwerken, von Geheimmissionen und einer Unterminierungstaktik. Abenteuer ist dabei als ein politischer Ausbruchsversuch zu werten, denn die handlungsorientierte Zeit des Abenteuers ist eine des Umsturzes und der Veränderung. Eingriffe in die geografische Ordnung und die Neugestaltung von Räumen sollten den Verlauf der Geschichte und der nachfolgenden Zeit verändern.66 Die Interessen des deutschen und türkischen Militärs, des Auswärtigen Amtes und der muslimischen Delegationen waren nicht unbedingt deckungsgleich. Die türkische Armee und ihr Kriegsminister Enver Pascha verfolgten ein expansives Programm zur Annexion der ‚Urheimat‘ Turkestan. Zivile 59 PA AA, R 11073, Memorandum Lapine o. Titel, 2.10.1918, 1. 60 Hagen 2004, 155. Zum Stellenwert Karl Mays innerhalb der wilhelminischen Kultur: Berman 1997. Berman 1998, 51-68. 61 Kröger 1994, 376-391. Lüdke 2005, 83-208. 62 Wallach 1976, 168. 63 Hughes 2004, 29, 35. 64 Bezeichnung der deutschen Orientpolitik als Abenteuer auch in der Forschungsliteratur: Baumgart 1970, 52. 65 Wallach 1976, 169-170. 66 Chakrabarty 2000, 10. Bhabha 1994, 139-170.
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Stellen und die Heeresleitung des Deutschen Reiches versuchten einerseits die jungtürkische Führung, Cemal, Talaat und Enver Pascha, unter Berufung auf den Friedensvertrag von Brest-Litowsk zwischen dem revolutionären Russland und dem Deutschen Reich in die Schranken zu weisen.67 Dagegen ermutigte General Hans von Seeckt – im Gegensatz zu seiner retrospektiv geäußerten Kritik – das expansive türkische Programm: Die türkischen Gedanken seien von den verlorenen Gebieten „Ägypten, Palästina und […] von Mesopotamien abzuziehen und nach dem mohammedanischen Osten abzulenken, turanisch-panislamitischen Ideen zu nähern. Wir können die Brücke nach Innerasien nur über die Türkei schlagen.“68 Britische Truppen rückten seit 1917/1918 von Persien und Afghanistan ausgehend nach Mittelasien vor und unterstützten zudem zarische Einheiten im russischen Bürgerkrieg. Den Deutschen lieferte das Ziel, Mittelasien vor einem drohenden Zugriff der Briten zu ‚beschützen‘ eine Legitimation, die den Zeichen der Zeit angemessen schien. Die nach Berlin übermittelte Stimmungslage innerhalb Turkestans ließ diese Rolle als Befreier zu: „Allgemein ist der Wunsch nach Ordnung der Verhältnisse durch die Deutschen.“69 Da im Hintergrund vereinzelter Aktionen die Strategie fortlebte, den Orient zu destabilisieren und über antikoloniale Aufstände das Ende des britischen Kolonialreichs herbeizuführen, lagen den Plänen der Mittelmächte zwei Zeitlichkeiten zugrunde: eine kurzfristige Reaktion im Kontext des Kriegsgeschehens sowie langfristige Entwürfe einer neuen Nachkriegsordnung. G EOSTRATEGIE Die Gegenwart des Weltkrieges galt nicht nur Aktschura70, sondern auch Oskar von Niedermayer als Übergangszeit, um die Weichen für eine alternative Zukunft zu stellen. Der bayerische Artillerie-Hauptmann von Niedermayer hatte in zwei Memoranden die Situation nach dem Frieden von Brest-Litowsk analysiert und ein geostrategisches Vorgehen für das Deutsche Reich entworfen.71 Während das erste Memorandum vom 10.5.1918 auf einer analytischen Ebene bleibt, entwirft die zweite Denkschrift „Zentralasien. Beurteilung der Lage unseres Vorgehens“ konkrete Handlungsanleitungen.72 In beiden Memoranden wurde Turkestan als geostrategisches Zentrum eingeplant. Im ersten Memorandum positionierte Niedermayer das Deutsche Reich als Weltmacht der Zukunft. Die angenommene britische Strategie diente dabei als seine Folie: „Wenn wir den Anspruch, eine Weltmacht sein zu wollen 67 Jäschke 1941, 18. Hostler 1993, 121. Baumgart 1970, 87-95. Zürrer 1978, 79-110. 68 BA/MA, Nachlass Seeckt, Stück Nr. 90, Bl. 63, zitiert nach Baumgart 1970, 68, Anmerkung 106. 69 PA AA, R 11072, Sauerländer, Waldmann an die politische Abteilung des Generalstabs des Feldheeres: Gedanken über die Sicherung der in Turkestan lagernden Baumwollvorräte etc. für das Deutsche Reich und die Herstellung der langerstrebten Verbindung nach Afghanistan, Warschau 9.6.1918, 2. Dazu auch: PA AA, R 11072, Telegramm, 29.6.1918, 2. 70 Denkschrift des Komitees zum Schutze der Rechte der mohammedanischen türkisch-tartarischen Völker Russlands, 1916, 42-43. 71 Vgl. Seidt 2001, 8-14. Baumgart 1970, 65 ff. 72 PA AA, R 21059, 000353-000363. PA AA, R 21059, 000343-000347.
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erheben, so ist es jetzt höchste Zeit, Weltprobleme wie das zentralasiatische so nüchtern zu beurteilen, wie der Engländer es tut. Dazu gehört richtige Beurteilung des Vorgehens unseres Hauptfeindes und Konkurrenten und Schaffung genauer Richtlinien unseres eigenen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Denkens und Handelns in diesen Ländern.“73 Der Verlauf des Ersten Weltkriegs im Osten galt als große Chance, sich eine Basis der zukünftigen Weltmachtstellung zu sichern. Die Folgen der Russischen Revolution und die vorläufige Preisgabe der kolonialen Positionen des Zarenreichs in Mittelasien bilde eine geopolitische Lage zugunsten Großbritanniens, falls die deutschen und türkischen Truppen nicht gemeinsam, eventuell sogar in einem Bündnis mit dem „bolschewistischen“ Russland gegen die britische Arbeit in Persien und Turkestan vorgingen.74 Das zweite Memorandum entwarf die Gegenwart des Krieges als Zeit-Raum, in dem diese territorialen Ausgangsbasen und Allianzen für einen zukünftigen Krieg gegen England in Indien und Persien geschaffen werden sollten. Dabei wurde Zentralasien zur konkreten Option der deutschen Interessen: „Politische, militärische und wirtschaftliche Gesichtspunkte weisen uns heute, wo uns die Wege nach Arabien nahezu verschlossen sind, nach Zentralasien.“75 Niedermayers Memoranden legten den Grundstein für die militärische Kaukasus-Mission der Mittelmächte. General Kress von Kressenstein, der im ersten Kriegsjahr als Kommandant des türkischen Expeditionskorps für die gescheiterten Operationen gegen den Suezkanal zuständig gewesen war, wurde in den letzten Kriegsmonaten mit einem aus Forschungsreisenden und Mitgliedern der Afghanistan-Expedition bestehenden Expeditionskorps nach Tiflis geschickt. Offiziell war das Korps zur Übernahme der diplomatischen Vertretung beauftragt. Neben den politischen Aufgaben in Georgien, das während des Krieges autonom geworden war, erhielt Kress von Kressenstein eine Weisung der OHL, den Kaukasus als militärische Operationsbasis auszubauen.76 Auch Otto von Wesendonck hatte sich bereits an den Experten Otto von Hentig, der nun als Kaiserlicher Legationssekretär in Konstantinopel tätig war, mit der Bitte um eine Einschätzung der momentanen politischen Situation im östlichen Turkestan gewandt. Hentig traf in seiner Stellungnahme folgendes Fazit: „Die sehr stark national gesinnte chinesische Beamtenschaft hofft auf eine Unterstützung ihrer Unabhängigkeits-Bestrebungen durch Deutschland. Eine solche würde auch von den muhammedanischen [sic!] Kreisen aufs freundlichste begrüßt werden. […] Für ein wirkungsvolles Arbeiten in Kaschgar wäre die Herstellung einer Verbindung über russischTurkestan Voraussetzung.“77
73 PA AA, R 21059, 000353-000363, 1. 74 PA AA, R 21059, 000353-000363, 2-9. PA AA, R 21059, 000343-000347, 1. Seidt 2001, 5-9. 75 PA AA, R 21059, 000343-000347, 2. Auch: Seidt 2001, 10. 76 Kress von Kressenstein 1938. Zur deutsch-türkischen Kaukasuspolitik: Zürrer 1978, 111-178. Bihl 1992, 51-64. 77 PA AA, R 11072, Wesendonck an Hentig, 24.4.1918. Auch: PA AA, R 11072, Werner Otto von Hentig: Aufzeichnung, die der Legationssekretär von Wesendonck privatbrieflich von mir erbat, 1-3.
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Jenseits der Front wurde ein Krieg der Propaganda und der aberwitzigen Geheimaktionen geführt. Die Mittelmächte zählten dabei auf die Unterstützung der einheimischen Bevölkerung. Deutsche Ängste über das mögliche Vorgehen der Entente steigerten ein militärstrategisches Interesse an Turkestan. Es hielt sich zum Beispiel hartnäckig das Gerücht, dass der afghanische Herrscher Habibullah von den Briten ermutigt werde, seinen Geburtsort Buchara zu erobern. Darüber hinaus vermuteten die politisch und militärisch Verantwortlichen des Deutschen Reiches eine groß angelegte Kampagne: Die Briten versuchten die Herzen und Loyalitäten der muslimischen Bevölkerung zu gewinnen, um sich letztendlich als neue „Schutzmacht“ des Islams in Zentralasien festzusetzen.78 S PIONAGEORGANISATION
IN
T RANSKASPIEN
Ab Juni 1918 kursierte der Plan, Turkestan mit einem Netzwerk (pro-) deutscher Agenten zu überziehen. Den Grundstein für diese so genannte „Nachrichten-Organisation in Transkaspien“ legte eine Besprechung in den Räumen der Nachrichtenstelle. Anwesend waren der deutsche Kaufmann Epp, der muslimische Kaufmann Jauscheff sowie die Herren von Wesendonck, von Hülsen, Sarre und Cosack. Um die als dringend eingestufte Spionageorganisation möglichst bald einzurichten, arbeiteten die Deutschen mit dem Indischen Revolutionären Komitee in Stockholm zusammen.79 Dieses indische Netzwerk, welches mit den deutschen zivilen und militärischen Stellen über eine Kooperation in Russlands Orient diskutierte, schlug die Stadt Buchara als optimalen Ort für ein „nationalistisches Zentrum in Turkestan“ vor.80 Dafür sprachen verschiedene Gründe: Buchara war die 78 PA AA, R 11072, Abschrift des Eingangs A 27158, 30.6.1918, 1-2. PA AA, R 17596, gez. von Kühlmann, Abschrift zu A 27137, 27158, Berlin 30.6.1918. PA AA, R 17596, gez. Freiherr von dem Bussche an die Sektion Politik des Generalstabes des Feldheeres, Berlin, 28.7.1918, 1. PA AA, R 11072, Deutscher Militärbevollmächtigter bei der Kaiserlichen Botschaft in Konstantinopel an General von Lossow Generalstab des Feldheeres, 17.11.1917. PA AA, R 11072, Zeitungsausschnitt, „Russland. Englische Umtriebe in Turkestan“, Kölnische Zeitung, 24.11.1917. 79 PA AA, R 17596, gez. von Kühlmann, Abschrift zu A 27137, 27158, Berlin 30.6.1918. PA AA, R 17596, gez. Freiherr von dem Bussche an die Sektion Politik des Generalstabes des Feldheeres, Berlin, 28.7.1918, 1. PA AA, Nachlass Werner Otto von Hentig, Bd. 96 a, A 31227, Unterredung mit Herrn Epp und seinem Begleiter am 22.7.1918. PA AA, R 11072, Kaiserlich Deutsche Gesandtschaft Stockholm, A. J. Nr. 2673 Nr. 693 an Reichskanzler Herrn Grafen von Hertling. PA AA, R 11072, Kaiserlich Deutsche Gesandtschaft in Stockholm an Reichskanzler Hertling, 7.7.1918. PA AA, R 11072, Virenchanath Chattopadhaya, Re Indian Agent to Taschkent, 8.7.1918. PA AA, R 11073, Kaiserlich Deutsche Botschaft Stockholm an Reichskanzler Herrn Grafen von Hertling, Stockholm, 3.8.1918: V. Chattopadhaya, betr. Schaffung eines nationalistischen Zentrums in Turkestan. PA AA, R 11073, Virenchanath Chattopadhaya an Wesendonck, Auswärtiges Amt, Berlin und Herrn B. N. Datta, Indian Committee, Stockholm, 2.8.1918. 80 PA AA, R 11072, Nationalkomitee Stockholm, 8.6.1918: Indian Agent in Taschkent. PA AA, R 11072, Abschrift A 14025, Berlin 30. März 1918. PA AA, R 11072, Abschrift Nr. A 17750, Berlin, 24. April 1918.
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Hauptstadt des gleichnamigen Emirats, das nominell (noch) unabhängig war, und zudem von einem Herrscher regiert wurde, der sich den bolschewistischen Truppen erfolgreich widersetzte. Dort lebte auch eine große indische Händlerkolonie.81 Unter ihnen könnten vertrauenswürdige Männer angeworben werden, welche in ihrer üblichen Tätigkeit unauffällig zwischen Afghanistan, Indien und Turkestan pendeln und neben ihren Waren auch Nachrichten befördern könnten. Außerdem eigne sich Buchara als Propagandazentrale, um der vermuteten englischen Agitation etwas entgegen zu setzen und um schließlich die einheimische Bevölkerung für das Deutsche Reich einzunehmen: „From the proposed centre a very active nationalist and anti-English propaganda could be carried on among the people of Turkestan, Bukhara, Khiva and Afghanistan. For this purpose a large amount of Indian literature in Persian, Russian and possibly Tartar should be ready. This kind of agitation has not till now been carried on in those countries.”82 Als weitere Stützpunkte der Spionageorganisation wurden die größeren Städte Turkestans in Erwägung gezogen: Krasnowodsk, Aschabad, Chiwa, Taschkent und Andischan. Darüber hinaus sollten ein deutscher Vertreter in Afghanistan und ein „neutrale[r] Herr“ in Kaschgar, vermutlich der schwedische Missionar John Törnquist, positioniert werden.83 Als Kandidaten für das deutsche Spionagenetzwerk in Turkestan wurden ehemalige Forschungsreisende vorgeschlagen wie zum Beispiel Gottfried Merzbacher und Albert Tafel.84 Die Aufgaben des Agentennetzwerkes lagen unter anderem darin, über Turkestan hinaus Verbindungen mit Afghanistan, China, Nepal und Indien aufzunehmen. Innerhalb Turkestans galt es, die separatistischen Bestrebungen zu beobachten sowie darüber an die zivile und militärische Führung des Deutschen Reiches zu berichten. Auch wenn eine aktive Förderung der Unabhängigkeitsbestrebungen nicht zum Aufgabenbereich der deutschen Agenten gezählt wurde, spielte der Gedanke eine Rolle, das damit verbundene Potenzial langfristig in eine prodeutsche Richtung zu lenken: „Auf Seite 4 des Berichts ist die Lage beschrieben, wie sie augenblicklich von den Sarten, also den Mohammedanern, aufgefasst wird, nämlich die Hoffnung darauf, dass die deutsche resp. türkische Armee ihnen zu Hilfe käme, dass, wenn aber nicht bald etwas geschieht, man sich den Afghanen, eventuell den Engländern verschreiben wird. […] Meiner Ansicht nach kommt es jetzt darauf
81 PA AA, R 11073, Kaiserlich Deutsche Botschaft Stockholm an Reichskanzler Herrn Grafen von Hertling, Stockholm, 3.8.1918: V. Chattopadhaya, betr. Schaffung eines nationalistischen Zentrums in Turkestan. PA AA, R 11072, Beurteilung über die Gesamtlage in Turkestan, 20. Juli 1918. 82 PA AA, R 11072, Virenchanath Chattopadhaya, Re Indian Agent to Taschkent, 8.7.1918, 2. 83 PA AA, R 11072, Werner Otto von Hentig: Aufzeichnung, die der Legationssekretär von Wesendonck privatbrieflich von mir erbat, 2. 84 PA AA, R 17596, gez. Freiherr von dem Bussche an die Sektion Politik des Generalstabs des Feldheeres, Abschrift A 31226, 31227, 30875, Berlin, 28. Juli 1918, 2-3. PA AA, R 11072, A 31227, Unterredung mit Herrn Epp und seinem Begleiter am 22.7.1918, 2. PA AA, R 11072, Cosack an Wesendonck, Berlin 22.7.1918.
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an, diese sartische Bewegung schleunigst durch einen vertraulichen Abgesandten verfolgen zu lassen und eventuell in unsere Kanäle zu lenken.“85 Die Notwendigkeit der Informationsbeschaffung und des Knüpfens von deutsch-muslimischen Netzwerken entfaltete dabei ein Spiel mit doppelten Identitäten. Die nach Turkestan entsandten Vertreter sollten als Konsuln getarnt in die einzelnen Orte geschickt werden. Daraus sprach nicht nur die Pragmatik, durch diesen Status „den Landesbehörden gegenüber die erforderliche Autorität [zu] besitzen und die privaten, verschlossenen Telegrafenlinien pp. benutzen [zu] dürfen“. Eine Taktik der Mimikry wurde damit gepflegt. Für die Entscheidung, die Agenten als diplomatische Vertreter getarnt nach Turkestan einzuschleusen, spielte der Versuch eine entscheidende Rolle, möglichst unverdächtig mit der Bevölkerung Mittelasiens enge Kontakte anzubahnen.86 Erich Ludendorff, der sich mit diesen Plänen der Nachrichtenstelle und des Auswärtigen Amtes einverstanden erklärt hatte, hielt es im „Interesse eines vereinfachten Nachrichtendienstes und einheitlicher Zusammenarbeit […] für geboten“, die Spionageorganisation „der deutschen Delegation im Kaukasus […], und innerhalb der Delegation dem Sachverständigen für transkaukasische Fragen, Major Sarre, zu unterstellen“.87 Die zu entsendenden Konsuln waren somit Agenten in der Grauzone zwischen ziviler Führung, deutschem Heer und ihrer früheren Identität als Forschungsreisende. R OHSTOFFSICHERUNG
UND
W IRTSCHAFTSPOLITIK
Beim deutschen Militär und den zivilen Stellen häuften sich zusätzlich die Berichte über die Rohstoff- und Lebensmittelvorräte, die jenseits des Kaukasus lagerten.88 Im Juni 1918 wandten sich Oberleutnant Sauerländer und Oberleutnant Waldmann an die politische Abteilung des Generalstabs des Feldheeres. Waldmann war als ehemaliges Mitglied der deutschen Afghanistan-Mission 1915/1916 bereits erfahren in erfolglosen Destabilisierungsversuchen. Auf ihrer Flucht aus der Gefangenschaft durch Turkestan und Baku hatten sie die momentane Lage in Mittelasien und vor allem dort deponierte Rohstoffe gesehen: „In Turkestan lagert […] die Baumwollernte 1917 […] größtenteils an der Bahn aufgestapelt […] sowie große Vorräte an Baumwollsamenöl in den 10 dortigen Fabriken. Von anderen Landesprodukten, Schafwolle, Südfrüchten etc. nicht zu reden.“89 Waldmann und Sauerländer betrachteten Turkestan und seine Rohstoffe als griffbereite Beute für das Deutsche Reich. Auch wenn derartige Berichte an Klischees vom (verfügbaren) Reichtum des Orients anknüpften, hatten sie in diesem Fall eine sachbezogene Bedeutung. Diese Mischung aus kolonialer Imagination und praktischer Kriegsnotwendigkeit war charakteristisch für die 85 PA AA, R 11072, A 26666, R. Lohmann an Freiherrn von dem Bussche, Timmendorfer Strand bei Lübeck, 1.6.1918, 1-2. 86 PA AA, R 17596, gez. Freiherr von dem Bussche an die Sektion Politik des Generalstabs des Feldheeres, Abschrift A 31226, 31227, 30875, Berlin, 28. Juli 1918, 1-3. 87 PA AA, R 17596, Abschrift A 36428, Chef des Generalstabes des Feldheeres, gez. Ludendorff an das Auswärtige Amt Berlin, Großes Hauptquartier, 27.8.1918. 88 Dazu auch: Baumgart 1970, 52-57. 89 PA AA, R 11072, Sauerländer, Waldmann Gedanken über die Sicherung 9.6.1918, 1.
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wirtschaftspolitischen Eingaben. Um die Landesprodukte für die deutsche Volkswirtschaft sicherzustellen, schlugen Waldmann und Sauerländer kurzerhand einen Überfall vor. Die exakte Ausgestaltung des Planes hatte den Bereich der kolonialen Fantasieproduktion in Richtung politischer Pragmatik verlassen, erinnerte sie doch stark an die Abenteuergeschichten Karl Mays. Die beiden Offiziere konzipierten eine geheime, subversive Nacht- und Nebelaktion und zählten dabei auf die Unterstützung der einheimischen Bevölkerung. Zwei exotisierende Vorurteile waren präsent: Als Inbegriff des ‚kriegerischen‘ und ‚fanatischen Nomadenvolks‘ waren die Einwohner Turkestans entweder aktiv zum Aufstand bereit, oder sie leisteten als ‚edle Wilde‘ passive Unterstützung. Waldmanns und Sauerländers Plan sah im günstigsten Fall vor, die Baumwolle „mit Hilfe der Bestechung“ aus dem Land zu transportieren. Als Voraussetzung dafür galt der Besitz eines sicheren Hafenstützpunktes auf der Westseite des Kaspischen Meeres. Im Falle des Misslingens dieser einfachen Option über den Seeweg kalkulierten sie eine zeitweilige Besetzung Turkestans durch die Truppen der Mittelmächte ein: Militärische Expeditionseinheiten sollten in Krasnowodsk landen und mit Hilfe der einheimischen Bevölkerung den Bahnhof einnehmen. Da deutsche Agenten bereits die Bahn- und Telegrafenlinien zerstört hätten, könne die Baumwolle ohne Störung außer Landes geschafft werden. Laut Waldmanns und Sauerländers Eingabe ermögliche bereits ein kleines deutsch-türkisches Truppenkontingent den Abtransport des Rohstoffes. Nicht nur militärstrategischer Notwendigkeit entsprechend, sondern auch in Anlehnung an die romantisch-orientalistische Vorstellung des autochthonen Widerstands sei „vor Beginn dieses Unternehmens […] natürlich mit den Führern der dortigen Stämme Fühlung aufzunehmen ohne sie allzusehr in unsere Pläne einzuweihen, speziell mit dem Emir von Buchara“.90 Der vermeintliche Reichtum Turkestans zog auch die Vertreter der Reichsstelle für Obst und Gemüse an, Oskar Schmidt-Ernsthausen und Erich Schmid. Im August 1918 erhielten sie ihren beantragten Urlaub zur „Ausführung einer Reise nach Turkestan, Taschkent, Samarkand, Buchara und Afghanistan“. Der Zweck dieser handelspolitischen Expedition bestand darin, Erkundigungen einzuholen, wie Obst, Gemüse, Häute und Felle nach Deutschland ausgeführt werden könnten.91 Der Wunsch, Lebensmittel und Rohstoffe für den unmittelbaren Kriegsbedarf zu sichern, war jedoch nur eine Seite der handelspolitischen Mission. Abschriften dieser schlichten und unscheinbaren Nachricht aus den Räumen des Kriegsernährungsamtes gingen auch an das Auswärtige Amt und die Auslandsstelle der Obersten Heeresleitung. Denn die „Kaufmänner“ maßen „der unterbreiteten Angelegenheit“ selbst „politische Wichtigkeit“ bei.92 90 PA AA, R 11072, Sauerländer, Waldmann Gedanken über die Sicherung 9.6.1918, 15, wörtliche Zitate: 3-5. 91 PA AA, R 11073, Abschrift Staatssekretär des Kriegsernährungsamtes, gez. von Braun, Berlin 3.8.1918. 92 PA AA, R 11073, O. Schmidt-Ernsthausen an den Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt Seiner Exzellenz Freiherrn von dem Bussche-Haddenhausen, Berlin, 24.8.1918: O. Schmidt-Ernsthausen an Major von Berghes, Verbindungsoffizier des Generalstabs des Feldheeres, Budapest, 14.8.1918, 1.
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Oskar Schmidt-Ernsthausen rekrutierte sich aus dem Feld derjenigen, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg das politisch-revolutionäre Potenzial der kolonialen Unabhängigkeitsbewegung erkannt hatten. Er hatte sich „während seines langjährigen Aufenthaltes in Indien, als deutscher Konsul in Calcutta, viel mit der indischen Aufstandsbewegung“ beschäftigt.93 Das Auswärtige Amt hatte er mit Denkschriften und Berichten versorgt. Sie trugen bereits sprechende Titel wie „Indiens Gegenwart und die deutschen Interessen“ oder „Indiens Bedrohung von außen“.94 Getarnt als „handelspolitische Expedition“ erblickten die Vertreter der Reichsstelle für Obst und Gemüse die „Gelegenheit, die Aufmerksamkeit unserer höchsten Stellen auf die immer wichtig[er] werdende Notwendigkeit hinzulenken, gleich unseren Feinden, unter der Flagge des Handels, diplomatische und militärpolitische Absichten reifen zu lassen“. Für den eigenen Status auf Reisen war eine doppelte Identität zwischen der Funktion als private Kaufmänner und halboffizielle Amtsträger gewünscht. Sie wollten zwar als „selbständige Großkaufleute“ reisen und dennoch dem Umstand Rechnung tragen, „je nach der politischen Lage auch gleichzeitig in amtlicher Kapazität handeln zu können“. Als langfristiges Ziel der Expedition galt es dem deutschen Handel in Mittel- und Ostasien freie Bahn für die Nachkriegszeit zu sichern, indem die Loyalitäten der einheimischen Bevölkerung gewonnen werden sollten.95 B EFREIUNGSAKTIONEN Die muslimischen Politiker im Umfeld der Nachrichtenstelle erkannten die Chance, innerhalb der deutschen Strategie ihre eigenen Interessen durchzusetzen, „die Lösung der Kardinalsfrage über die Selbstbestimmung des Turkestangebietes“. Lapine integrierte seine Wünsche in die Taktik des Deutschen Reichs, durch gemeinsames deutsch-afghanisch-türkisches Vorgehen die britische Herrschaft in Indien zu beenden. Er argumentierte, dass mit afghanischer Unterstützung erst dann gerechnet werden könne, wenn deutsche und türkische Truppen Turkestan von den Briten und Russen befreit hätten. Zusätzlich versprach er militärische Schlagkraft: Ein selbstständiges Reich, das aus den früheren zentralasiatischen Besitzungen Russlands gebildet werden müsse, könne für den Krieg gegen Indien eine Armee von einer guten Million auf Seiten der Mittelmächte stellen.96 Tokumbet und Mussafar entwarfen einen mehrstufigen Aktionsplan: Als ersten Schritt sahen sie vor, die muslimischen Kriegsgefangenen aus den deutschen Lagern nach Turkestan zu übersenden. Da die russische Revolutionsregierung mindestens formell auf der Internierung der Gefangenen beste93 PA AA, R 11073, Generalstab des Feldheeres, Politische Abteilung an den Kaiserlichen Legationssekretär Herrn Freiherrn v. Berckheim, Generalhauptquartier, 31.8.1918. 94 PA AA, R 11073, Beilage zu O. Schmidt-Ernsthausen an den Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt Seiner Exzellenz Freiherrn von dem Bussche-Haddenhausen, Berlin, 24.8.1918, 4. 95 PA AA, R 11073, Beilage zu O. Schmidt-Ernsthausen an den Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt Seiner Exzellenz Freiherrn von dem Bussche-Haddenhausen, Berlin, 24.8.1918, 2-16, wörtliche Zitate: 2 und 14. 96 PA AA, R 11073, Memorandum Lapine o. Titel, 2.10.1918, 2-5, wörtliches Zitat: 2.
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hen werde, könne sie das Deutsche Reich provisorisch in die Türkei ausweisen, um nicht die eigenen Beziehungen mit Russland zu gefährden. Dort würden dann Truppenkörper für eine Expeditionsarmee gebildet. Der strategische Wert der freigesetzten Kriegsgefangenen bestehe zusätzlich darin, beim Vormarsch durch Turkestan die britische Propaganda Lügen zu strafen: „Die Formierung derartiger Truppenkörper springt noch mehr in die Augen, wenn man die deutschfeindliche Propaganda der Engländer über einen gleichsam geplanten räuberischen Überfall der Deutschen auf die friedliche örtliche Bevölkerung des Turkestangebietes in Betracht zieht. Das Erscheinen der brüderlichen Turko-Tartaren statt der gefürchteten Deutschen würde die Engländer in eine schiefe Lage bringen und die neutralen Beziehungen der örtlichen Bevölkerung zu ihnen mit einem Mal in feindselige verwandeln. Ein ganz ähnliches Resultat wird ein Vorwiegen von türkischen Truppen in der Expedition hervorrufen.“ 97 Tokumbets, Muzaffars und Lapines Pläne einer „Turkestanarmee“98 beziehungsweise einer Selbstbefreiungsaktion der einheimischen Bevölkerung mit deutscher und türkischer Unterstützung korrespondierten mit den ebenfalls nicht umgesetzten Plänen Talaat Paschas, Turkestan militärisch zu organisieren und am Krieg teilnehmen zu lassen.99 Die türkischen Truppen konnten zwar noch die Ölstadt Baku in Aserbaidschan in einem äußerst gewaltsamen Vorgehen besetzen. Einem deutsch-türkischen Vormarsch über das Kaspische Meer setzte aber das Ende des Weltkrieges und die Kapitulation der Mittelmächte ein Ende.100
4. Raumrevolution D IE ‚N EUE O RIENTALISCHE F RAGE ‘ Eine der drängenden Fragen der Nachkriegsordnung lautete: Welcher Staat kann das Machtvakuum des Zarenreichs besetzen? An die Lebensfähigkeit der bolschewistischen Revolution und die spätere sowjetische Lösung glaubten in der Übergangszeit die Wenigsten. In seinem Artikel „Die grosse Steppe Asiens und die Westoststrassen“ reflektierte Martin Hartmann in der Welt des Islams am Ende des Krieges im November 1918 dieses Problem.101 Den Hintergrund seiner Gedanken einer internationalen Nachkriegsordnung lieferte die britische Publikation „Russia, Germany and Asia“102. 97 PA AA, R 11127, Tokumbet Seiner Exzellenz dem Minister des Aeusseren von Hintze, Berlin, 25.9.1918 und Anlage Memorandum über die zentralasiatische Frage vom Standpunkt der mohammedanischen Bevölkerung und ihrer staatlichen Interessen, 8-10, wörtliches Zitat: 8: 98 PA AA, R 11073, Memorandum Lapine o. Titel, 2.10.1918, 6. 99 PA AA, R 11073, Abschrift A 37656 Präs. 8. September 1918, gez. Hinze. 100 Zu den Operationen im Kaukasus und am Kaspischen Meer sowie zur Eroberung des Erdölzentrums Baku durch türkische Truppen: Baumgart, 47-126. Auch in der Memoiren-Literatur: Volck 1938. Höpp 1997a, 75-97. 101 Hartmann 1918, 2. 102 Russia, Germany and Asia, 1918, 526-564.
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Hartmann kommentierte diese Veröffentlichung folgendermaßen: „Sie ist aufgebaut auf dem falschen Gedanken, daß Deutschland Rußland und damit Asien erobern wolle. Es ist das böse Gewissen des Briten, aus dem dieses Schreckgespenst ihm erwächst. Weil er beständig mit gierigem Auge alle Teile der Welt auf Raubmöglichkeiten hin durchforscht, hat er Deutschland in Verdacht, seine Armeen bis in den Mittelost und Fernost senden zu wollen.“ Martin Hartmann las die Analyse jedoch nicht als Verschwörungstheorie, die die britische Seite über deutsche Weltmachtpläne geschrieben hatte, sondern als Anregung und möglichen Leitfaden der deutschen Orientpolitik.103 Hartmann schrieb dem Zerfall des Zarenreichs und der aktuellen politischen Lage in ‚Russlands Orient‘ ein ähnliches Maß an weltpolitischem Konfliktpotenzial zu wie der historischen osmanischen Politik und dem Niedergang des Osmanischen Reiches: „Mit der Festsetzung der Osmanen an den Meerengen trat in Europa der Kampf um das Schwarzmeer in ein akutes Stadium, das bis jetzt als ‚Orientalische Frage‘ die Welt quälte. Nun ist diese Frage der Erledigung nahe (durch Internationalisierung des Schwarzmeeres). Und schon tut sich ein ganzes Bündel neuer Fragen auf, unter denen der Weg Europa-Indien-China als die Neue Orientalische Frage hervortritt.“ Im Kaukasus hatten die Staaten Georgien und Armenien unter deutscher Führung kurzfristig ihre Autonomie erreicht.104 Die ‚Neue Orientalische Frage‘ bündelte Probleme der Macht über die entstehende Raumordnung. Im Kontext des geopolitischen Konzepts der pivot area galt die Kontrolle über den asiatischen Steppenraum als Dreh- und Angelpunkt der zukünftigen Nachkriegsordnung und als Weg zur Weltmacht. Hartmann verglich dabei die Herrschaft über die Steppe Asiens auch mit der Herrschaft über die Weltmeere. Der von Hartmann geprägte Begriff der „Steppenmacht“ lehnte sich an Alfred Thayer Mahans Konzept der „Seemacht“ an. „Steppenmacht“ bezeichnete einerseits eine Art geodeterministischer Eigenmächtigkeit der Steppe als Raumindividuum, andererseits die politischen Möglichkeiten derjenigen Macht, welche die Steppe zu kontrollieren vermochte. Martin Hartmann kam zur Schlussfolgerung, dass die Oberhoheit über Asiens Steppe die Herrschaft über Eurasien sichere.105 Wie auf den Weltmeeren lag der Schlüssel zur „großen Steppe“ in der Aufsicht über ihre Verkehrswege. Martin Hartmann forderte eine „Wiederbelebung des großen Überlandweges […], den die Alten die Seidenstraße nannten“ als Welthandelsstraße. In Analogie zu den Weltmeeren seien die „Weltverkehrsstraßen“ durch Asien zu internationalisieren, um sie einem alleinigen britischen Zugriff zu entziehen: „Kein Staat, gehöre er dem Völkerbunde an oder nicht, darf künftig einen Weltverkehrsweg seinem Einzelwillen untertan machen. Dafür müssen Bürgschaften geschaffen werden in gleicher Weise wie 103 104
105
Hartmann 1918, 44. Hartmann 1918, 59. Vgl. auch: Zürrer 1978, 127-160. Grupp 1988, 246-252. Bihl 1992, 13-129. PA AA, R 11125, Uebersetzung der Denkschrift Osman Tokumbets und Jussuf Mussafars vorgelegt dem Auswärtigen Amt am 7. August 1918, 18. Zum Prozess der Staatsbildung in Mittelasien und dessen verschiedenen politischen und geografischen Stadien: Roy 2000, 58-61. Chapman et al. 1992, 220-247. Mahan 1890. Zum Verhältnis von Seemacht und Steppenmacht: Haushofer 1928, IX. Dazu auch: Kohn 1928, 100. Hartmann 1918, 44-46.
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für die Freiheit der Meere.“ Die freien Handelsstraßen in Mittelasien betrachtete er als Grundstein der neuen Raumordnung autonomer Staaten.106 S ELBSTBESTIMMUNG
UND
U NABHÄNGIGKEIT
Eine ‚Raumrevolution‘ durch das Selbstbestimmungsrecht der ‚kleinen Völker‘ gehörte spätestens seit 1917 zum strategischen Repertoire des Ersten Weltkrieges. Enver Pascha hatte während der Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk unter anderem „die Zubilligung des Selbstbestimmungsrechts an die muhammedanische Bevölkerung von […] Turkestan und Buchara“ gefordert.107 Niedermayer hatte in seinen Memoranden als Leitlinie deutscher Ostpolitik formuliert, „allen ethnographisch zusammengehörigen Ländern ihre Freiheit und Unabhängigkeit zu geben oder zu erhalten.“ Bilanzierend nannte er die Selbstständigkeit der westrussischen Staaten als einen Erfolg dieser Politik.108 Diese Politik der ‚Selbstbestimmung‘ sollte in Mittelasien und im Mittleren Osten fortgesetzt werden.109 Obwohl auf traditionellen politischen Prinzipien des 19. Jahrhunderts basierend, wie der Idee der Volkssouveränität, entfalteten Selbstbestimmung oder Selbstverwaltung während des Krieges eine ungeheuere Sprengkraft. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker hatte Leo Trotzki auf einer internationalen sozialistischen Konferenz, die den Ersten Weltkrieg verurteilte, in das „Zimmerwalder Manifest“ (15.9.1915) aufgenommen. Während der Russischen Revolution traten ihre Führer mit dem Vorschlag an die Weltöffentlichkeit, den Krieg gemäß dreier Grundsätze zu beenden: keine Reparationen, keine Annexionen und eine territoriale Regelung auf der Basis des Selbstbestimmungsrechtes der Völker. Im Dezember 1917 verkündete die Revolutionsregierung, dass allen Nationalitäten des ehemaligen Zarenreiches das volle Recht auf Selbstbestimmung zugestanden werden müsse. Als Gegenentwurf zum Friedensgrundsatz der russischen Räteregierung entwickelte der amerikanische Präsident Woodrow Wilson seinen Vierzehnpunkte-Plan. In diesem hatte er das Selbstbestimmungsrecht der Völker noch nicht explizit als politisches Prinzip verankert. Erst in einer Ansprache vor dem Kongress im Februar 1918 sprach er von self-determination. Das Deutsche Reich geriet dadurch unter gehörigen Zugzwang in Hinsicht auf die Ostpolitik: Bereits im April 1917 schenkten das Auswärtige Amt und die Reichskanzlei den Autonomieforderungen der Völker, die unter russischem Einfluss standen, Aufmerksamkeit. Nach dem Frieden von Brest-Litowsk gewann das Selbstbestimmungsrecht derjenigen Völker, die es vom Zarenreich zu lösen und für den deutschen Einfluss zu gewinnen galt, zunehmend eine taktische und strategische Funktion.110 106 107 108 109
110
Hartmann 1918, 57-59, wörtliche Zitate: 58-59. Vgl. auch Hauner 1990, 135-146. Jäschke 1941, 24. Vgl. PA AA, R 11072, Nr. 91, Verlautbarungen russischer Volksgruppen auf Grund des Selbstbestimmungsrechts. PA AA, R 21059, 000353-000363, 1-2. PA AA, R 11072, Abschrift A 18730/69106 gez. Freiherr von dem Bussche an 1. St. S.d.R Wirtschaftsamts, 2. St.S.d.R. Schatzamtes, 3. Präs. d. Reichsbankdirektoriums, 4 – tit.- Helfferich, 5. Kriegsminister, 6. Minister d. öff. Arbeiten, 7. Chef d. Gen. Stabes des Feldheeres, 11.5.1918, 1. Zürrer 1978, 18-79. Kluke 1963, 37-82. Diner 2000, 59-63. Fischer 1961, 485-489.
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In Konkurrenz zu den weiteren ‚Befreiern‘ auf dem Kampfplatz der Selbstbestimmung, wie Lenins Revolutionsprogramm, Wilsons Ideen der selfdetermination und den britischen Versprechungen, den muslimischen Osten vom ‚Joch‘ des Osmanischen Reichs zu ‚befreien‘, erkannten im Sommer 1918 die deutschen Beobachter ihre historische Chance im mittelasiatischen Orient: „Aufgabe der deutschen Politik müsste es sein, den scheidenden russischen Einfluss durch den deutschen zu ersetzen.“111 Der Wunsch nach einer mittelasiatischen Einflusszone „als Kompensation für die schweren, durch den Krieg geschlagenen Wunden“ stand zur Debatte. Den Prozess des russischen Machtzerfalls galt es deshalb vorausschauend zum deutschen Vorteil zu nutzen. Innerhalb der entstehenden neuen geografischen und politischen Ordnung sollten die wirtschaftlichen Interessen des Deutschen Reiches für die Nachkriegszeit gesichert werden.112 Der deutsche Weg in die „große Steppe Asiens“ führte nur über eine umsichtige Nationalitätenpolitik, wie Hartmann ausführte: „Die eingeborene Bevölkerung ist die einzige brauchbare Schranke, denn Deutschland kann nicht Deutsche an die Stelle verjagter russischer Siedler setzen.“113 Bereits 1905 hatte Hartmann in seinem Reisebericht „Chinesisch-Turkestan“ die Gründung eines unabhängigen kirgisischen Staates gefordert.114 Nicht nur der Aufbau neuer mittelasiatischer Staaten, sondern auch das Anliegen, bereits bestehenden asiatischen Ländern Selbstständigkeit zu sichern, leiteten die deutschen Entwürfe des ‚neuen Orients‘. So forderte der Friedensvertrag von Brest-Litowsk in Artikel VII. eine „Respektierung der politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit und der territorialen Unversehrtheit Persiens und Afghanistans“.115 Noch im November 1918 riet die Nachrichtenstelle, den turkestanischen Exilpolitiker Lapine im Falle einer Friedenskonferenz „mit Rat und Geld zu unterstützen, damit er im neutralen Auslande eine Agitation zugunsten seines Landes entfalte“. Er sollte dort die Autonomie Turkestans vertreten.116 Die deutschen strategischen Ziele deckten sich auch mit den Forderungen der muslimischen Politiker. Diese hatten über die staatliche Ausgestaltung eines unabhängigen Mittelasiens konkrete Vorschläge unterbreitet. Tokumbet entwarf einen zentralistischen Nationalstaat. Als dessen Grundlage galt ein „politischer Zusammenschluß der nord-östlichen Turkvölker im Wolga-Ural-Gebiet, in Kirgistan und Turkestan“. Die Suche nach europäischen Schutzmächten, die sich der neue Staat frei wählen sollte, begründete Tokumbet mit politischer Pragmatik: „Da die Gegenwart des weltpolitischen Lebens gigantische Staatskörper geschaffen hat und zugleich damit eine fortgesetzte Rivalität um Primat und Welthegemonie unter ihnen, so 111
112 113 114 115 116
PA AA, R 11073, von Stryk an das Auswärtige Amt, Berlin 8.7.1918, beiliegend: Baron Stael von Holstein, Exposé über Turkestan, Riga, Juli 1918, 1. Dazu auch: PA AA, R 11072, Abschrift A 18730/69106 gez. Freiherr von dem Bussche, 11.5.1918, 3. PA AA, R 11073, von Stryk an das Auswärtige Amt, Berlin 8.7.1918, 1-7, wörtliches Zitat: 7. Hartmann 1918, 52. Hartmann 1918, 56. Hartmann 1918, 54. Dazu auch: Schlagintweit 1997, 26. PA AA, R 11074, Harald Cosack an Blücher, Berlin, 22.11.1918, 2.
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sind alle relativ kleinen Staaten, im Besonderen die zu neuem Leben erstehenden, genötigt, Freunde aus der Zahl der Grossen Schutzmächte zu suchen.“ Obwohl Tokumbet mitunter die Entente und Vereinigten Staaten als Optionen diskutierte, galten als bevorzugte Schutzmächte die Mittelmächte.117 Lapine konzipierte eine föderative Staatsform für das neu entstehende „völlig selbständige, mohammedanische Reich“. Lapines Vorbild war die territoriale und verfassungsrechtliche Ordnung des Deutschen Kaiserreiches. Durch Analogien liest sich die intendierte Gründung des Staatenbundes in Lapines Memoranden als Wiederholung der deutschen Reichseinigung in Mittelasien. Turkestan sollte dabei als eine Art mittelasiatisches Preußen eine Vorreiterrolle spielen. Eine deutsche Schutzherrschaft über den Staatenbund wünschte sich Lapine neben politischen Überlegungen wegen der muslimischen Wertschätzung der deutschen Zivilisation. Die „kulturellwirtschaftliche Wiedergeburt“118 Mittelasiens habe unter der Anleitung des Deutschen Reiches zu erfolgen. Diese neue Orientierung galt ihm als Heilmittel gegen den „lähmenden Einfluss der Russenherrschaft“. Das neue Reich im Orient sei aus diesem Grund langfristig „mit Deutschland durch gegenseitige Freundschaft und gemeinsame Lebensinteressen verknüpft“. Dabei sollte das Deutsche Reich nicht nur die Schutzmacht für das autonome Mittelasien sein, sondern die wirtschaftliche und politische Führungsrolle im umgestalteten Osten übernehmen.119 Das zukünftige staatsrechtliche Verhältnis zwischen dem Deutschen Reich und den mittelasiatischen Staaten blieb in der Schwebe. Die Prämisse, dass das Deutsche Reich die machtpolitischen Strukturen des Zarenreichs übernehmen sollte, hätte ein koloniales Abhängigkeitsverhältnis zur Folge gehabt. Sowohl die russischen Wirtschaftskonzessionen als auch die imperiale Erschließungsarbeit lägen damit in deutschen Händen.120 Anstatt einer kolonialen Territorialherrschaft war jedoch eine abstraktere Kontrolle des Raums angedacht. Als langfristige Strategie sollte die zukünftige deutsche Einflusssphäre in wirtschaftliche und handelspolitische Bündnissysteme eingegliedert werden.121 Der Ausbau der Verbindungswege diente als Mittel der Kontrolle und Durchdringung des Raumes.122 Ideen der infrastrukturellen Erschließung des Orients durch Eisenbahn und Verkehrswege ließen ebenfalls Diskussionen um eine Einrichtung von Konsulaten aufkommen.123
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PA AA, R 11125, Uebersetzung der Denkschrift Osman Tokumbets und Jussuf Mussafars vorgelegt dem Auswärtigen Amt am 7. August 1918, 16-18, wörtliches Zitat: 17. PA AA, R 11073, Memorandum Lapine o. Titel, 2.10.1918, 1-3, wörtliches Zitat: 3. PA AA, R 11073, Lapine: Ein halbes Jahrhundert Russenherrschaft, 10-12. PA AA, R 11073, von Stryk an das Auswärtige Amt, Berlin 8.7.1918, 2-3. PA AA, R 11073, von Mismahl (?) an das Auswärtige Amt, Vorschlag zu Bildung eines Freiwilligenheeres zur Sicherung von Rohstoffen für den unter Deutschlands Führung zu bildenden Weltmitte-Bund, Berlin 8. August 1918, 3. PA AA, R 11073, von Stryk an das Auswärtige Amt, Berlin 8.7.1918, 4. Zur infrastrukturellen Erschließung, z. B. PA AA, R 11072, Abschrift A 18730/69106 gez. Freiherr von dem Bussche, 11.5.1918, 1. PA AA, R 11073, von Stryk an das Auswärtige Amt, Berlin 8.7.1918, 5.
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‚A NTIIMPERIALE ‘ E NTWICKLUNGSPOLITIK Britische Beobachter reagierten auf die deutsche Politik unabhängiger Staaten, die im Kaukasus begonnen hatte, alarmiert. Sie befürchteten eine groß angelegte Strategie, den Landweg nach Indien zu revolutionieren. Es entstünde eine Route autonomer Staaten unter deutsch-türkischem Einfluss. Das Deutsche Reich könnte sich so mithilfe „fanatisierter Gruppierungen“ wie „der Reaktionspartei Bucharas und der Stämme Afghanistans“ in Zentralasien festsetzen. Der Artikel im Round Table, auf den sich Martin Hartmann bezog, beschrieb einen vermeintlichen deutschen Masterplan: Das Deutsche Reich bilde im Rahmen der wirtschaftlichen und politischen Durchdringung eine progermanische Partei innerhalb der einheimischen Händlerschicht. Die Folge davon sei, dass der osmanisch-türkische Einfluss zugunsten einer alleinigen Orientierung nach Deutschland ausfalle. Als letzter Schritt würden über Jahre die unabhängigen Staaten Mittelasiens „in deutsche Provinzen“ umgewandelt.124 Um den deutschen Griff nach der „Steppenmacht“ zu stoppen, fanden britische Geheimmissionen in Turkestan statt.125 Während die Briten den Deutschen in ihrer Strategie der unabhängigen Staaten machtpolitische Tendenzen bis hin zu Weltmachtplänen unterstellten, beschrieb die deutsche Seite die Politik der Entente als koloniale Unterdrückung. Die antikoloniale Propaganda des Deutschen Reiches arbeitete dabei mit dichotomer Eindeutigkeit. In ihrem Argument verband sie eine antiimperialistische Semantik mit Ideen der ‚Entwicklungshilfe‘ und des Fortschritts. Die Gegenseite wurde mit dem Vorwurf konfrontiert, sich geradezu gegen den Strom der Zeit zu stellen. Großbritannien versuche, den status quo eines anachronistischen Kolonialzeitalters aufrechtzuerhalten.126 Der deutsche Weltkriegs-Antiimperialismus orientierte sich auf der wirtschaftlichen Ebene sprachlich an einer eher ‚linken‘ Interpretation von Kolonialismus.127 In einem deutschen Plan vom Frühsommer 1919, einen unabhängigen turkestanischen Staat zu errichten, war von „Unterjochungsversuchen“128, von „Ausplünderung“129 und von kolonialen Gewalttaten130 die Rede. Der Aufstieg der kapitalistischen Kolonialmetropole wurde als Geschichte der Ausbeutung konzipiert: „Durch die Entwickelung [sic!] der europäischen Großindustrie, welche zuerst in England stattfand und nur durch die Ausplünderung Indiens möglich war, ist die einstmals berühmte Industrie des Orients vernichtet worden, und durch die Absperrung von Gebieten und erzwungene Zollverträge ist eine Wiedergeburt nahezu unmöglich. Die Naturschätze des Orients sowie der Aussenhandel bilden heute ein Monopol der Europäer. Heute setzt sich England in Besitz der Erdölquellen des Kaukasus, Persiens und Mesopotamiens. Die Orientvölker geraten von Tag zu Tag mehr in die Abhängigkeit 124 125 126 127 128 129 130
Hartmann 1918, 50-55, wörtliche Zitate: 53 und 54. Vgl. Schwarz 1993, 103-122. Zu den britischen Reaktionen in Form von Expeditionen und Geheimmissionen auf die vermutete deutsche Strategie: Morris 1977. Ellis 1963. Hartmann 1918, 55. Vgl. dazu auch: PA AA, R 83843 (Der kommunistische Kongress in Baku, 1920). Hartmann 1918, 41. PA AA, R 11074, A 17268, Plan zur Errichtung eines politisch unabhängigen Tuerkischen Staates in Turkestan, 13.7.1919, 1. Hartmann 1918, 56.
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der Entente, welche ihre eisernen Bände um sie zieht, sie gegen einander hetzt, sie moralisch zerrüttet und sie aufteilt.“131 Dieser industriellen „Entwickelung“ als Werkzeug der Unterdrückungspolitik stand der deutsche Weg einer ‚Entwicklungshilfe‘ gegenüber: „Wir sind nicht Engländer, die macht- und geldgierig, fremde Völker sich unterwerfen, um ihnen das Joch aufzulegen [...]. Wir wollen nichts weiter als den Völkern Asiens behilflich sein, in Ruhe und Frieden ihr wirtschaftliches und kulturelles Leben zu entwickeln, ungestört durch britische und russische Gewalttäter.“132 ‚Entwicklung‘ und ‚Fortschritt‘ galten in deutschen und muslimischen Nachkriegsplänen als Waffe gegen koloniale ‚Unterdrückung‘. Die Denkschriften der muslimischen Politiker argumentierten in westund mitteleuropäischen Mustern der verräumlichten Zeit.133 Dabei vermischten die Memoranden einerseits die eigene Hoffnung auf einen wirtschaftlichen und infrastrukturellen Aufstieg mit einer Selbstdarstellung als Objekt der deutschen Wirtschaft, Wissenschaft und Technik: „Turkestan und Kirgisistan warten gegenwärtig nur darauf, dass jetzt das völlig fehlende […] Eisenbahnnetz gebaut und dass Hunderte und Tausende von Fabriken zur Ausnutzung der Naturreichtümer des Landes gegründet, dass grossangelegte und durchgreifende Bewässerungsanlagen ausgeführt werden; […] mit einem Wort, in Kirgisistan und Turkestan breitet sich ein weites Feld aus für die Anwendung deutscher Technik und Wissenschaft, hier findet man einen großen Absatzmarkt für die Erzeugnisse deutscher Industrie und unübersehbare Möglichkeiten für deutsche Initiative.“134 Die Mitarbeiter der Nachrichtenstelle hatten in den Memoranden der muslimischen Politiker und in Gesprächen mit ihnen das Potenzial des ‚erwachenden Ostens‘ kennen gelernt.135 ‚Fortschritt‘ galt beiden Seiten als Weg in eine postkoloniale Zukunft. Nur die „Waffe der höheren Kultur“ schütze, laut Martin Hartmann, langfristig am wirksamsten gegen „koloniale Unterjochungsversuche.“136 Unter Anleitung des Deutschen Reiches sollten die Völker des Ostens ihre „ausgezeichneten Fähigkeiten und Eigenschaften“ ausbilden. Das Deutsche Reich positionierte sich als diejenige Macht, welche den Orient in eine Zukunft der Freiheit und Selbstverwaltung führen könne. Die Niederlage der Mittelmächte beendete zwar den Ersten Weltkrieg und brachte die für die Peripherie geplante Revolution in das Deutsche Reich zurück. Die Perspektive der deutschen Politik und Wirtschaft auf Turkestan als entwicklungsfähiger, postkolonialer Raum prägte jedoch auch die Anfangszeit der Weimarer Republik.137 131 132 133
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PA AA, R 11074, A 17268, Plan zur Errichtung eines politisch unabhängigen Tuerkischen Staates in Turkestan, 13.7.1919, 1 Hartmann 1918, 56. Denkschrift des Komitees zum Schutze der Rechte der mohammedanischen türkisch-tartarischen Völker Russlands, 1916, 37-38. Ähnlich auch Lapine: PA AA, R 11073, Ein halbes Jahrhundert Russenherrschaft, 10-12. PA AA, R 11125, Uebersetzung der Denkschrift Osman Tokumbets und Jussuf Mussafars vorgelegt dem Auswärtigen Amt am 7. August 1918, 24. PA AA, R 11071, Entwurf [Rede Imhoff], 2. Hartmann 1918, 41. Hartmann 1918, 57. PA AA, R 11074, A 17268, Plan zur Errichtung eines politisch unabhängigen Tuerkischen Staates in Turkestan, 13.7.1919, 2.
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V. Wirtschaftspioniere in Turkestan
Der Legationsrat Rudolf Asmis trauerte um Deutschlands vergangene Größe. Nach den weitreichenden Plänen, die der Friedensschluss von Brest-Litowsk ermöglicht hatte, folgten die politischen Realitäten des verlorenen Weltkriegs. Während Großbritannien, Frankreich und die Vereinigten Staaten aus deutscher Perspektive nicht nur als Siegermächte galten, welche die Existenz des deutschen Staates bedrohten, sondern auch als Gewinner der Zugänge zu den außereuropäischen Wirtschaftsräumen, war von deutscher Großmacht wenig übrig geblieben. Dem europäischen Westen schien die Zukunft zu gehören, Deutschland verstand sich als Nation, die um ihr wirtschaftspolitisches Dasein zu kämpfen hatte. Der Verlust der eigenen Kolonien in Afrika und der Südsee sowie des Pachtgebietes in Kiantschou hatte mehr als symbolischen Charakter. Ideen der Kolonialrevision und Hoffnungen, die alten Schutzgebiete erneut erwerben zu können, prägten die politische Kultur und massenmediale Öffentlichkeit der Weimarer Republik.1 Doch auch wirtschaftliche Einflussgebiete im Osten behielten in sozialdarwinistischer Argumentation ihre Aktualität: „Es ist klar, dass wir, ganz abgesehen von der geographischen Lage unserer Länder, mit keinem Lande soviel Aussicht haben, unsere guten alten Beziehungen wieder herzustellen, den Bezug von Rohstoffen wieder in Gang zu bringen, als mit Russland. Und wenn wir das nicht fertig bringen, dann verdienen wir nur die Knechtschaft, welche uns die Entente zugedacht hat.“2 Vor allem die asiatischen Teile des ehemaligen Zarenreichs gerieten Anfang der 1920er-Jahre verstärkt in den Fokus der deutschen Wirtschaftsplanung.3 Rudolf Asmis führte seine wirtschaftspolitischen Missionen in den Krisenjahren 1922 und 1923 durch. 1923 erreichte der ‚Ruhrkampf‘ seinen vorläufigen Höhepunkt. Einen deutschen Rückstand in den Reparationsleistungen nutzte die französische Regierung zur Besetzung des Ruhrgebietes. Bereits seit 1920 hatte Frankreich im Ruhr- und Rheingebiet afrikanische Hilfstruppen stationiert. Unter dem Schlagwort der ‚schwarzen Schmach am Rhein‘ zeigten sich in den Reaktionen darauf deutsche Ängste, nach dem Krieg selbst als Kolonie diskriminiert und aus der Gemeinschaft der zivili1 2 3
von Pogge Strandmann 2002, 232-239. PA AA, R 11074, Meyerkort, Die wirtschaftliche Bedeutung Russisch-Turkestans, 23.7.1919, 2. Zu den Kontinuitäten in der deutschen Außenpolitik über die Zäsuren des Ersten Weltkriegs und der Revolution hinweg: Grupp 1988, 287-294. So war zum Beispiel der Legationssekretär Otto von Wesendonck, der die Orientpolitik im Weltkrieg organisiert hatte, in den 1920er-Jahren Generalkonsul in Tiflis. Von Wesendonck war einer der Ansprechpartner und Vermittler für Rudolf Asmis wirtschaftspolitische Expedition.
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sierten Völker ausgeschlossen zu sein. Der passive Widerstand des Jahres 1923, der staatlich verordnete Generalstreik und dessen ökonomische Folgen steigerten den deutschen Währungsverfall im Sommer 1923 drastisch.4 In diese Zeit der Hyperinflation fielen Asmis’ Vorschläge, durch Turkestan Eisenbahnen zu bauen und die mittelasiatische Steppenlandschaft in blühende Baumwollkulturen zu verwandeln. Rudolf Asmis’ Projektideen, die zum ökonomischen Aufschwung des Deutschen Reiches beitragen sollten, waren von einem stark utopischen Moment angetrieben. Rudolf Asmis entwarf Turkestan als doppelte Utopie zwischen gestaltbarer Zukunft und hypothetischem Möglichkeitsraum.5 Er sah in Mittelasien nicht nur eine aufstrebende Wirtschaftsregion; aufgrund seiner sehr optimistischen Bewertung der sich formierenden Sowjetunion6 glaubte er, in Turkestan dem postkolonialen Zeitalter als Beginn einer neuen Epoche zu begegnen. Die deutschen Sympathien für die kolonialen Unabhängigkeitsbewegungen Asiens hatten den Ersten Weltkrieg bis in die Zwischenkriegszeit überdauert. Aus Publikationen wie „Das Recht der jungen Völker“ des jungkonservativen Schriftstellers Moeller van den Bruck sprach eine antiimperialistische Staatsund Gesellschaftsauffassung, die den Westen angriff und die Solidarität mit Russland suchte.7 Eine monokausale Gleichsetzung von deutschem Antikolonialismus, antiwestlichen Ressentiments und einer antimodernen Zivilisationskritik, welche in den Nationalsozialismus führen musste, greift im Fall der deutschen Turkestan-Politik jedoch zu kurz.8 Im Gegenteil: Turkestan zeigt Möglichkeiten der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Anhand der wirtschaftspolitischen Mission von Rudolf Asmis wird das komplexe Geflecht zwischen postkolonialen (Gesellschafts-)Konzepten und machtpolitischen Hoffnungen, die auf einem deutschen Wiederaufstieg lagen, greifbar. Auch wenn Asmis’ eigene Geschichte auf eine Karriere im NS-Machtapparat hinauslaufen sollte: In der historischen Situation der 1920er-Jahre präsentierte er für das Deutsche Reich Wege in eine alternative Zukunft.
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Krumeich et al. 2004; van Laak 2007, 95-112. Wigger 2007. Koller 2001. Maß 2006, 71-120. Hölscher 1999, 129-191, zur Wirtschaftspolitik: 186-191. Erst im Dezember 1922 hatte sich die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik mit der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik, der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, der Transkaukasischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (Georgien, Armenien, Azerbaidschan) zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vereinigt. Die weitere völker- und staatsrechtliche Ausgestaltung, u.a. Angliederung der Territorien in Mittelasien, außen- und handelspolitische Kompetenzen, war gerade zu der Zeit von Rudolf Asmis’ Forschungsreise noch Verhandlungsgegenstand. Zur Herausbildung der Sowjetunion: Torke 1993, 305-308. Der Einfachheit halber wird in diesem Kapitel der Begriff Sowjetunion verwendet. Moeller van den Bruck 1919. Weiß 2005, 90-122. Stern 1963, 1-22, 223-317. Zur deutschen Solidarität mit ‚jungen‘ außereuropäischen Völkern während der NSZeit: Streim 1999, 344-359.
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Wirtschaftspioniere in Turkestan
1. Das Wirtschaftsland der Zukunft R APALLO 1922 war Rudolf Asmis, unterstützt vom Auswärtigen Amt und der deutschen Wirtschaft, zu seiner ersten Reise in den Fernen Osten aufgebrochen. Am Ende des Jahres 1923, nach insgesamt eineinhalb Jahren, kehrte er von seiner zweiten Mission aus Turkestan endgültig in das Deutsche Reich zurück: im Gepäck und auf Papier eine „ganze Anzahl bestimmter Projekte“, die es nun von der deutschen Wirtschaft weiterzuverfolgen galt.9 Neben diesen Memoranden, welche eine Semantik von Aufbau, Fortschritt und Zukunft durchzog, hatte Rudolf Asmis 1923 den populär gehaltenen Reisebericht „Als Wirtschaftspionier in Russisch-Asien“ veröffentlicht. Rudolf Asmis’ Expedition und die daraus resultierende Publizistik war das Ergebnis einer Umbruchsituation, die das Deutsche Reich, die entstehende Sowjetunion und Mittelasien zu gleichen Teilen betraf. Ein angestrebter Wiederaufbau der wirtschaftlichen, politischen und soziokulturellen Ordnung in allen drei Ländern bildete den Handlungsraum für Rudolf Asmis’ Mission. Die erste wirtschaftspolitische Expedition, die Rudolf Asmis im Juli 1922 in die „Republik des Fernen Ostens“ unternahm, fiel in den Zeitraum, in dem Verhandlungen um die konkrete Ausgestaltung des Vertrags von Rapallo geführt wurden. Dieses Übereinkommen, das am Rande der Finanz- und Wirtschaftskonferenz von Genua im April 1922 geschlossen worden war, definierte den Rahmen der deutsch-russischen Wirtschaftspolitik. Der Vertrag leitete die Wiederaufnahme diplomatischer und ökonomischer Beziehungen zwischen der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik und dem Deutschen Reich ein. Beide Seiten verzichteten auf gegenseitige Reparationszahlungen und sahen im bilateralen Vertrag einen Ausweg aus der außen- und wirtschaftspolitischen Isolation.10 Im Sommer 1922 stand die Ausdehnung des deutsch-russischen Abkommens auf die föderierten asiatischen Staaten der sich formierenden Sowjetunion zur Debatte.11 Parallel zu den deutsch-russischen Besprechungen und den Verhandlungen der asiatischen Republiken mit Moskau besuchten am 10. Juli 1922 drei mittelasiatische Politiker die deutsche Vertretung in Russland,12 der neu ernannte Vertreter der Mongolei, Graf Dawa, der Vertreter der Republik Chiwa sowie der Wirtschaftsminister von Buchara, Mirsa Abdulkadar Muchitdinow. Sie bekundeten ihr Interesse nach „regeren Beziehungen“ zu Deutschland, nachdem ihre Staaten „jetzt grössere Selbständigkeit in der Welt und auch gegenüber Russland erlangt hätten“. Auf ihre Bitte, während ihrer wirtschaftspolitischen Verhandlungen mit Russland auch mit der deutschen Vertretung in engem Kontakt zu bleiben, antwortete ihnen der Repräsentant des 9 Asmis 1924, 164. 10 Kolb 2002, 55-109. von Pogge Strandmann 2002, 123-146. 11 Asmis 1924, 42-51. Zur deutschen Beobachtung der entstehenden mittelasiatischen Sowjetrepubliken und der Moskauer Politik in diesem Raum vgl. die Akten: PA AA, R 84352, PA AA, R 84364, PA AA, R 86384. 12 Vgl. auch: PA AA, R 84362, Deutsche Gesandtschaft Georgien an das Auswärtige Amt Berlin, Tiflis, 29.10.1923.
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Deutsches Reiches, von Wiedenfeld, dass auch Deutschland ein Interesse daran habe, die asiatischen Absatzmärkte zu erreichen und dort Rohstoffe anzukaufen. Bis auf diese Aussage und die im Anschluss formulierten Fragen, ob denn die Möglichkeit eines unmittelbaren Handelsverkehrs zwischen Deutschland und den zentralasiatischen Staaten bestehe und ob sich die zen t ralasiatischen Staaten für Warentransporte durch Russland Sicherheiten geben lassen könnten, kennzeichnete eine ansonsten eher lavierende Haltung des deutschen Emissärs das Gespräch. Deutschland werde in allen Problemen, vor allem bezüglich der Entscheidung, ob amtliche Delegierte nach Chiwa und Buchara zu entsenden seien, die diplomatischen Gespräche über die Ausdehnung des Rapallo-Vertrags auf die zentralasiatischen Staaten abwarten. Das Bedauern des bucharischen Ministers, dass die Verhandlungen, ohne eine Teilnahmemöglichkeit für die asiatischen Republiken, ausschließlich in Berlin geführt wurden, hinterließ bei von Wiedenfeld keinen Eindruck.13 Sein Fazit machte zweierlei Punkte deutlich. Ohne das Einverständnis der russischen Regierung würde das Deutsche Reich kaum offiziell gegenüber Mittelasien aktiv werden. Die Abgesandten der zentralasiatischen Republiken exotisierte der deutsche Bericht zudem als Staatsmänner einer kulturell unterlegenen Macht: „Besonders beim Wirtschaftsminister fiel […] die Lebhaftigkeit auf, mit der dieser Orientale aus sich herausging. Eine eigene Stellungnahme zu den Anregungen der drei orientalischen Herren darf ich mir noch vorbehalten, bis ich klarer sehen kann, wie die hiesige Regierung sich dazu stellen würde.“ Von Wiedenfeld hielt fest, dass die Wiederherstellung enger deutscher Beziehungen mit der Mongolei von der russischen Regierung begrüßt werde. Rudolf Asmis’ Reise des Jahres 1922 in das sibirischmongolische Grenzgebiet hätte somit erste Erfolge gezeigt. Bezüglich des russischen Einverständnisses, dass das Deutsche Reich auch direkte Beziehungen mit Buchara und Chiwa knüpfen könne, äußerte von Wiedenfeld jedoch noch Zweifel. Dort lägen „die politischen Verhältnisse, die politischen Beziehungen zu Russland anders als bei der Mongolei“.14 ‚Russlands Orient‘ blieb in den Botschaften und Zentren der diplomatischen Macht ein Objekt der europäischen Politik. Die deutsche Diplomatie behielt bei ihren Überlegungen, den Rapallo-Vertrag auf die zentralasiatischen Gebiete des ehemaligen Zarenreichs auszudehnen, Russland und seine „Randstaaten“ als eine politische Einheit im Kopf. Die vermuteten Versuche Englands und Frankreichs, die mittelasiatischen Republiken aus dem russischen Machtbereich herauszulösen „und dann im Sturm gegen Moskau“ zu benutzen, setzte die deutsche Politik unter doppelten Zugzwang. Die deutschrussischen Beziehungen und gleichzeitig der deutsche Einfluss an der Peripherie Russlands mussten gefestigt werden. Denn gelänge der französisch-
13 PA AA, R 84342, Deutsche Vertretung in Rußland, 10. Juli 1922 K 510388, wörtliche Zitate: 1-4. Zu den kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und Buchara: PA AA, R 84342, Schmidt-Rolke an Strube, Moskau, 30.1.1922. PA AA, R 84342, Schmidt-Rolke an das Auswärtige Amt Berlin, Moskau 6.6.1922. PA AA, R 84342, K510418-510423. 14 PA AA, R 84342, Deutsche Vertretung in Rußland, 10. Juli 1922 K 510390, 6.
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britische Plan, so wäre für das Deutsche Reich der Zugang zum politisch und wirtschaftlich wichtigen Zentralasien für längere Zeit verschlossen.15 D IE ‚M ISSION A SMIS ‘: A USSENHANDELSPOLITIK I NFORMATIONSBESCHAFFUNG
UND
Die zweite ‚Mission Asmis‘ nach Turkestan im Jahr 1923 ist deshalb ein Ergebnis verschiedener Interessen. Der bucharische Wirtschaftsminister Muchitdinow hatte eine „wirtschaftliche Studienkommission“ des Deutschen Reiches nach Buchara angeregt, um den „augenblicklichen Zustand der bucharischen Wirtschaft an Ort und Stelle zu überprüfen“.16 Die deutsche Wirtschaft wünschte Informationen über die Bedingungen in Turkestan, um vor der internationalen Konkurrenz Einflusssphären abzustecken.17 Die russische Regierung hatte – den anfänglichen Zweifeln während der RapalloVerhandlungen zum Trotz – das Auswärtige Amt geradezu ermuntert, „in ähnlicher Weise jemanden“ nach Turkestan zu schicken „wie Herrn Asmis nach Tschita und Urga“.18 Rudolf Asmis selbst hatte bereits im Herbst 1921 angeregt, rechtzeitig den Fokus der deutschen Wirtschaft auf Russisch-Asien zu lenken: Aufgrund einer zögernden Haltung der russischen Regierung gegenüber Reisen privater Kaufleute müsse der Beamte vor dem Kaufmann reisen.19 Zu dieser Zeit war die politische Situation in Mittelasien explosiv: Die Basmatschi-Aufstände, die bereits während des Ersten Weltkriegs begonnen hatten, hielten bis in die 1920er-Jahre an. Neue Brisanz erhielt die Bewegung, als sich Enver Pascha an ihre Spitze gestellt hatte. Der ehemalige türkische Kriegsminister hatte nach dem Weltkrieg vom deutschen Exil in Berlin aus mit der russischen Revolutionsregierung und der deutschen Reichswehr kooperiert. Eines der utopischen gemeinsamen Ziele lag darin, England in Indien anzugreifen. Die deutsche und türkische Seite verfolgten damit weiterhin das Weltkriegsziel eines – zum großen Teil strategisch motivierten – antiimperialen ‚Befreiungskampfes‘. Aus sowjetischer Perspektive war Indien das Zentrum des Weltkapitalismus. Als Enver Pascha jedoch nach der gewaltsamen Absetzung Mohammed Alim Khans, des letzten Emirs von Buchara, erkannt hatte, dass die Moskauer Politik seinem Streben nach dem türkischen Großreich in Mittelasien diametral gegenüberstand, schloss er sich 15 PA AA, R 84342, Abschrift IV a Ru 6602, Deutsche Vertretung in Russland, 15.7.1922, gez. Wiedenfeld, 3. 16 PA AA, R 84342, Deutsche Vertretung in Russland, 8. Juni 1922 K 510377, gez. Schmidt-Rolke, 3. 17 PA AA, R 84342, Stelle des Auswärtigen Amtes für Außenhandel in Leipzig an deutsche Vertretung Moskau, gez. Becker. PA AA, R 11074, Meyerkort, Die wirtschaftliche Bedeutung Russisch-Turkestans, 23.7.1919, 2. 18 PA AA, R 84342, Abschrift IV a Ru 6602, Deutsche Vertretung in Russland, 15.7.1922, gez. Wiedenfeld, 1. 19 Asmis 1924, 4. Zu den eigenen Reiseplänen des deutschen Generalkonsuls in Tiflis, von Wesendonck, nach Turkestan: PA AA, R 84362, Wesendonck an Hausschildt, Tiflis, den 27. März 1923. PA AA, R 84362, Auswärtiges Amt an Wesendonck, Berlin 30.4.1923.
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den Basmatschi-Aufständen an. Er versuchte diese antisowjetische Bewegung für die panturanische Idee zu begeistern und die Regierungsform des Emirats zu restaurieren.20 1922 wurde Enver Pascha in Baldjuan, im heutigen Tadschikistan, als deren Anführer erschossen. Die Unruhen in Teilen der neu entstehenden mittelasiatischen Sowjetrepubliken hielten bis Mitte der 1920er-Jahre an.21 Trotz dieser politischen Gefahrenlage bestand Asmis auf seiner Mission, denn er begründete die Notwendigkeit einer offiziellen Gesandtenreise nach Turkestan mit nichts Geringerem als dem Überlebensinteresse des deutschen Staates. Um künftig in der Weltwirtschaft und -politik zu bestehen, müsse das Deutsche Reich dringend neue Märkte erschließen. Im Gegensatz zu der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als auch kleinere Unternehmen Auslandsgeschäfte betreiben konnten, hätten sich nach 1919 die Bedingungen grundlegend verschlechtert. Dem Außenhandel schrieb Asmis eine Schlüsselrolle für den Wiederaufbau der deutschen Volkswirtschaft zu. Eine positive Außenhandelsbilanz wertete der Legationsrat als Bedingung dafür, dass das Deutsche Reich, die „durch das Versailler Diktat auferlegten Reparationen erfüllen“ könne. Die Erschließung von Auslandsmärkten betrachtete Asmis als Alternative zur schwachen Nachfrage auf dem deutschen Inlandsmarkt und als eine Art Konjunkturprogramm, um die Arbeitslosigkeit in Deutschland zu mindern. Rudolf Asmis sah zudem Chancen, aus Turkestan günstig Rohstoffe zu exportieren.22 Durch die Unterstützung des Leiters der Russlandabteilung, Freiherrn von Maltzan, war ihm die wohlwollende Förderung der russischen Politik sichergestellt.23 Für die deutsche Wirtschaft und Politik stellte Turkestan ein chronisches Informationsdefizit dar. Mitteilungen über die Lage in Turkestan kamen vor allem aus der Presse und den Augenzeugenberichten von Kriegsgefangenen.24 Neuigkeiten über angeblich nicht verkaufte Vorräte an Wolle und Baumwolle im Privatbesitz der Bevölkerung, Mutmaßungen über Bodenschätze sowie Presseberichte über die Erfolge Enver Paschas im Kampf gegen Russland schürten das deutsche Interesse an Turkestan, dem wirtschaftliches Potenzial bei einer unsicheren politischen Zukunft prophezeit wurde. Unklarheit herrschte im Auswärtigen Amt über die Bedeutung der staatlichen Neubildungen an der Peripherie Russlands.25 Die Fragen, inwieweit sich die 20 Seidt 2002, 142-155. 21 Zur deutschen Interpretation des Aufstandes als Freiheitskampf: von Mende 1936. Benzing 1943, 28. Staehlin 1935, 17-22. Okay 1935. Seidt 2004, 65-84. 22 Asmis 1924, 1. Vgl. auch: PA AA, R 86386, Barmer Bankverein, 19.4.1926, 2. 23 Asmis 1924, 2-5. 24 Turkestan als Informationsdefizit: PA AA, R 84362, Deutsche Botschaft Moskau, 28.7.1924, Politischer Bericht Nr. 31. Auch aus Übersetzungen der russischen Presse, z. B. PA AA, R 84362, Deutsches Generalkonsulat Tiflis an Auswärtiges Amt, Wiederaufbaupläne in Turkestan (Aserbaidschanische Wirtschaftszeitschrift), Tiflis, 5.3.1923. Berichte von Kriegsgefangenen: PA AA, R 84362, Deutsche Diplomatische Vertretung in Georgien an das Auswärtige Amt Berlin, 27.10.1920 (Bericht eines österreichischen Kriegsgefangenen über die politische Situation). PA AA, R 84362, Vizekonsul Dr. von Druffel (?), Täbris, Deutsches Konsulat, Reisebericht No. 32, z. Zt. Tiflis, den 2.7.1920. 25 PA AA, R 84362, Deutsche Diplomatische Vertretung in Georgien, 20.8.1929, 2.
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Beziehungen dieser Gebiete zu den Nachbarstaaten verändern, „welche Einwirkung die bolschewistischen Ideen auf die asiatischen Eingeborenen ausgeübt hatten“ und inwieweit die innenpolitische Lage überhaupt Investitionen zulasse, waren bislang unbeantwortet.26 Für eine wirtschaftspolitische Beteiligung Deutschlands waren zuverlässige Angaben über die staatlichen und ökonomischen Grundlagen erforderlich. Es galt, die verfassungs- und wirtschaftsrechtliche Position der mittelasiatischen Republiken in ihrer Beziehung zu Moskau, die Nationalitätenpolitik Moskaus sowie die Auswirkungen des Basmatschi-Aufstandes auf die öffentliche Sicherheit zu klären. Eine gewisse Unsicherheit in Bezug auf die Umbruchsituation in Turkestan und die 1923 noch als offen verstandene Frage, wohin der Weg nach der ‚Befreiung‘ vom Zarenreich letztendlich führen werde, wurden durchaus als die große Chance für Deutschland wahrgenommen.27 In der offiziell prorussischen Politik schwang der Versuch mit, bis zur staatlichen Unabhängigkeit Mittelasiens dort dem Deutschen Reich einen bleibenden Einfluss gesichert zu haben. In politischer Beziehung sollte Asmis Informationen zur Frage der Auseinandersetzung zwischen „Islam und Bolschewismus“ sammeln.28 In wirtschaftspolitischer Hinsicht musste er feststellen, inwiefern die sowjetischen Wirtschafts- und Handelsgesetze für Turkestan, Buchara und Chiwa Geltung haben. Asmis sollte recherchieren, ob diese Gebiete eine selbstständige Außenhandelspolitik treiben könnten, die Erleichterungen des staatlichen Außenhandelsmonopols mit sich brächte. Neben den Fragen des Auswärtigen Amtes hatte Asmis eine Liste der deutschen Wirtschaft im Gepäck, die wesentlich pragmatischer in Bezug auf konkrete Betätigungsfelder ausgestaltet war. Die Funktionsunfähigkeit von Bewässerungsanlagen ließ auf mögliche Lieferungen deutscher Pumpen und Motoren für ihre erneute Instandsetzung schließen. Könne ferner Deutschland damit rechnen, Baumwolle zu beziehen, wenn deutsche Ingenieure die kaputten und stillstehenden Baumwollentkernungsanlagen wieder in Gang setzten? Fragen nach der Lage der Seidenzucht, der Sisal- und der Tabakkultur sowie des Wiederaufbaus der Zigarettenfabriken standen neben Ungewissheiten des Exporthandels, ob aus Turkestan Dörrobst, Felle und tierische Rohstoffe nach Deutschland eingeführt werden könnten. Außerdem „bestand ein lebhaftes Interesse für den Zustand der Verkehrsverhältnisse in jenen Gebieten und die Möglichkeit der Gewinnung mineralischer Rohstoffe.“29 Im März 1923 brach Rudolf Asmis mit dem Zug nach Riga auf. Nach einem mehrtägigen Aufenthalt in Moskau fuhr er zusammen mit seinem Dolmetscher Walter Imiela nach Taschkent. In Begleitung von Kontrollbeamten
26 27 28 29
PA AA, R 84362, Deutsches Generalkonsulat Georgien an das Auswärtige Amt, Tiflis 7.7.1923. Asmis 1924, 4. PA AA, R 11074, Meyerkort, Die wirtschaftliche Bedeutung Russisch-Turkestans, 23.7.1919, 3. Asmis 1924, 4. Asmis 1924, 165-166, wörtliches Zitat: 166. PA AA, Nachlass Rudolf Asmis, Tagebuch von der Reise von Berlin nach Moskau, Taschkent, Samarkand, Karkara, Moskau 10.3.–7.8.1923, lose Blätter. PA AA, R 84362, Asmis an Auswärtiges Amt, Berlin, 4.3.1923.
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des russischen Baumwollkomitees setzten Asmis und Imiela ihre Reise mit der Eisenbahn in das Ferghanatal fort. Neben der Baumwolle fesselten die Seidenzucht und Seidenindustrie der Region, die Kohlegruben von Kisil-Kija sowie die Naphtawerke von Tschimon Rudolf Asmis’ Aufmerksamkeit. Einen weiteren Zwischenstopp in Taschkent benutzte Asmis dazu, die Berichte über das bereits Ermittelte zu schreiben, „die Weisungen aus Moskau“ für seine Weiterreise zu erwarten und daneben Samarkand zu besuchen. Danach nahm ihn die Vorbereitung der Reise durch die Semiretschieprovinz als eigentliches Hauptziel seiner Mission in Anspruch. Er sondierte, ob Deutschland sich am Bau der projektierten Semiretschiebahn beteiligen könne.30 Jenseits der Eisenbahnlinien, die noch unter deutscher Beteiligung gebaut werden sollten, setzte Asmis seine Reise mit Pferdewagen fort. Er fuhr mit seinem Dolmetscher in die Hauptstadt der Provinz nach Wierny und von dort über Land weiter nach Karkara in das Gebiet der Kirgisen. Im Anschluss besuchte er die „deutschen Dörfer am Talaß“. Nach diesem Abstecher „zum Deutschtum im Ausland“ trat Asmis über Taschkent und Moskau die Heimreise nach Berlin an.31 ‚V ERMESSUNG ‘
DER FRONTIER
Ergänzt wurde der offizielle Auftrag durch Asmis’ Identität als „Wirtschaftspionier“ in Turkestan. Nicht allein die Selbststilisierung, als erster amtlicher Vertreter eine Mission im Dienst der deutschen Wirtschaft und Politik zu unternehmen, definierte ihn als Pionier. ‚Pionier‘ beschrieb eine Existenz in einem doppelten Grenzbereich. Einerseits wurde Turkestan als geopolitisches Grenzland zwischen den Interessen der Westmächte, den Staaten des ‚erwachenden Ostens‘ wie China, Japan und der sich herausbildenden Sowjetunion sowie den Ansprüchen der einheimischen Bevölkerung Mittelasiens auf Selbstbestimmung jenseits kolonialer Oberherrschaft verstanden. Andererseits bewegte sich Asmis in einer frontier im klassischen Sinn.32 Das als abgeschlossen und zukunftsträchtig verstandene Neuland galt es für das Deutsche Reich zu gewinnen. Das Buchcover von Asmis’ Reisebericht setzte die Idee der frontier in ein Bild um. Ein Planwagen mit Pferdegespann fuhr auf einem Weg, der sich perspektivisch in der Ferne verlor, durch einen weiten, offen stehenden Raum dem Leser entgegen. Nicht nur als Verkaufsargument spielten die damit verbundenen Vorstellungen eine große Rolle, erinnerte das Cover doch stark an die Ikonografie der Erschließung des amerikanischen Westens. Die Geschichte dieser prototypischen frontier-Erfahrung öffnete auch für Deutschland Deutungsfolien und Handlungsanleitungen, um Wirtschaftsräume im ehemaligen Zarenreich zu durchdringen.
30 Asmis 1924, 196-200, wörtliches Zitat: 196. 31 Reiseverlauf: Siehe Asmis 1924, 166-230. PA AA, Nachlass Rudolf Asmis, Tagebuch, 2-68. 32 Lamar, Thompson 1981. Stolberg 2003, 91-111. Stolberg 2004, 165-182.
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Abbildung 1: Buchcover
Amerikanische Regierungsstellen hatten darauf hingewiesen, dass „Deutschlands Hauptarbeitsfeld“ Russisch-Asien werden könnte: „Diese Ansicht scheint auf den Erfahrungen der Oststaaten der Union in der Aufschließung und Besiedlung der mittleren- und Weststaaten zu beruhen.“33 Bereits im Sommer 1910 hatte ein Besuch Turkestans im Auftrag des Chicago Record-Herald dem amerikanischen Journalisten William Eleroy Curtis durchaus Vertrautes vor Augen geführt. In Krasnowodsk, dem westlichen Bahnhof der mittelasiatischen Bahn im heutigen Turkmenistan, erkannte er eine „frontier-town“, wie sie auch in Santa Fé und in den Städten am Southern Pacific Railway in New Mexico und Arizona zu finden gewesen sei – einen Vorposten der Zivilisation in einem brachliegenden Neuland.34 Die russische Politik gegenüber den nomadisierenden Einwohnern Turkestans verglich Curtis mit den Indianerkriegen in den Vereinigten Staaten.35 Auch Colin Ross, der deutsche „Pfadfinder der Geopolitik“,36 prophezeite – bis in die 1940er-Jahre – dem „Wüstentrapez“ Innerasiens eine ähnliche Entwicklung wie dem amerikanischen Westen. Nicht nur subjektive Reiseeindrücke, sondern auch die naturwissenschaftliche Exaktheit suggerierende Projektion einer Karte Innerasiens auf eine Nordamerikas führten den Lesern vor Augen, dass „es sich um wesensgleiche Gebiete handelt“: „In Innerasien handelt es sich, genau wie im Westen Amerikas, um Wüste und Steppe am Fuß zwischen schnee- und regenreichen Gebirgen, denen gewaltige Ströme entspringen. In den Rocky Mountains entspringt die Mehrzahl der amerikanischen Ströme; auf dem innerasiatischen Bergplateau liegen die Quellen fast aller großen Flüsse Asiens. […] Die Erde Asiens ist nicht weniger fruchtbar als die Amerikas.“37
33 34 35 36 37
PA AA, R 86386, Barmer Bankverein,19.4.1926, 2. Curtis 1911, 1-15. Curtis 1911, 35. Baumunk 1997, 85. Ross 1940, 260.
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Abbildung 2: Mittelasien als frontier-Zone
Quelle: Ross 1940, 259. Auf diese Deutungsfolie, die in die populäre Imagination eingeschrieben war und die dabei Erneuerungsgedanken der deutschen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg ansprach, konnte sich Rudolf Asmis auf seiner Mission in Asien berufen.38 Asmis’ Expedition vermaß einen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Raum durch Gespräche und Beobachtung. Nach dem Muster ethnografischer Interviews hatte er aus den Informationswünschen der deutschen Wirtschaft und des Auswärtigen Amtes Fragenkataloge entworfen. Sie berücksichtigten die politische Stellung und Herkunft des Gesprächspartners sowie das spezifische Thema, zu dem Auskünfte gesammelt werden sollten.39 In Unterhaltungen mit russischen Regierungsvertretern, den kirgisischen Beamten, in deren Händen die Ortsverwaltung der Semiretschieprovinz lag, und der ‚einfachen‘ Bevölkerung sammelte Asmis Informationen über den Zustand der Wirtschaft und zur Reichweite der kommunistischen Politik. Das Fernziel, im Fall der staatlichen Unabhängigkeit direkte Beziehungen mit den zentralasiatischen Staaten anzuknüpfen, leitete Asmis’ doppelbödige Strategie. Auf der Expedition führte er Gespräche mit dem Pressechef des russischen Auswärtigen Amtes, Iwan Michailowitsch Maiski. Asmis hatte jedoch gleichzeitig die bucharische und chiwinische Vertretung in Moskau besucht, um gesondert mit den zentralasiatischen Staaten in Kontakt zu treten: „Ich will die Reise nur im Einvernehmen mit der russischen Regierung machen, aber ich vergesse dabei nicht, dass Buchara und Chiwa souveräne Staaten sind. […] Auch bei der mongolischen Vertretung war ich. […] Es wäre scha38 Steinweis 1999, 56-69. Zu Erneuerungssehnsüchten innerhalb der deutschen Nachkriegsgesellschaft: Fritzsche 2007, 141. 39 Asmis 1924, 13.
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de, wenn die von mir in Urga geknüpften Fäden kultureller und damit auch wirtschaftlicher Beziehungen nicht weiter gesponnen würden. Naturgemäß müsste das vorsichtig und ohne alles laute Hinausposaunen geschehen.“40 Auf seinen Überlandreisen betrachtete er die Bewässerungssysteme, die Landwirtschaft, den Baumwollanbau, mutmaßte über Rohstoffvorkommen und inspizierte den Zustand der Verkehrswege sowie die soziale Ordnung innerhalb der Städte und Dörfer Turkestans. Die der Landschaft zugeschriebenen Eigenschaften wie zum Beispiel „weit“ und „fruchtbar“ luden zu einer wirtschaftspolitischen Betätigung geradezu ein. Asmis notierte die Besiedelungsdichte auf dem Land, um möglichst die besten Orte für deutsche Wirtschaftsprojekte auszuloten. Anhöhen auf seinem Reiseweg löste er in Koordinaten und Wegsteigungen auf und betrachtete sie durch die Augen zukünftiger Bahnbauprojekte: „Der Weg ist bis Werst 30 [ein Werst entspricht einem guten Kilometer, F.T.] ganz eben, dann bis Werst 41 leicht ansteigend. Zwischen Werst 41 und 70 liegt der schwierigste Teil des ganzen Weges, der auch einem Bahnbau recht große Schwierigkeiten machen dürfte.“41 Asmis registrierte die im Land sichtbaren Schäden durch die Russische Revolution als Zeichen des Niedergangs und Verfalls. Sein Fazit war, dass Turkestan der wirtschaftlichen Aufbauleistung durch deutsches Kapital, deutsche Industrie und deutschen Handel bedurfte. Der Mangel an Gebrauchs- und Konsumgütern aufgrund der bisherigen „Abgelegenheit von den Verkehrsstraßen“ ließ auf neue Absatzmärkte im Fall der verkehrstechnischen Erschließung folgern. Die Parameter Boden, Infrastruktur und Bevölkerung setzte Asmis als Größen in eine wirtschaftspolitische Gleichung mit folgendem Ergebnis ein: „Wohl aber ist damit zu rechnen, dass, wenn die Gesamtheit der in der Provinz vorhandenen wirtschaftlichen Kräfte den Bahnbau ermöglicht, auch diese Stadt zu regerem wirtschaftlichen Leben wieder erwachen wird.“42 In der Ferghanaprovinz, die sich über die heutigen Staaten Tadschikistan, Kirgistan und Usbekistan erstreckt, beobachtete Asmis, dass sich die sowjetische Macht nur auf die Städte und die Garnisonen beschränkte und dass der Konflikt zwischen der russischen und einheimischen Bevölkerung anhalte. Bezüglich der Beziehung zwischen Religion und „kommunistischen Aufrüttelungsversuchen“ stellte der Legationsrat fest, dass der „Bolschewismus“ nur als oberflächliches Phänomen zu betrachten sei. Es sei ihm nicht gelungen, bis in die persönliche Alltagsgestaltung und die „Seele“ der Bevölkerung vorzudringen. Auf einer Sartenhochzeit und in den Altstädten von Taschkent, Kokand oder Samarkand glaubte er Beweise zu finden, dass manche Leute nur des Scheines wegen und nicht aus Überzeugung in die kommunistischen Parteien eingetreten seien.43 Rudolf Asmis erfuhr im Gegenzug vor allem Freundlichkeit gegenüber ihm als Deutschen.44 Er erlebte, dass der Besuch Kaiser Wilhelms II. beim 40 41 42 43
Zum Folgenden: PA AA, Nachlass Rudolf Asmis, Tagebuch, 1-51, wörtliches Zitat: 5 PA AA, Nachlass Rudolf Asmis, Tagebuch, 34. PA AA, Nachlass Rudolf Asmis, Tagebuch, 38. Dazu auch folgende Einschätzung des Verhältnisses zwischen traditioneller Lebensweise und Kommunismus: PA AA, R 86386, Nationalströmungen in Turkestan, Moskau, Ende März, 24 (ohne Verfasser), 2. 44 Zu ähnlichen Erfahrungen im Jahre 1928 vgl. die Aufzeichnungen des Geheimen Regierungsrates Georg Cleinow: PA AA, R 86392, Bericht des Geheimen Regierungs-
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Sultan in Konstantinopel im Gedächtnis der muslimischen Bevölkerung verankert war. Ein alter Händler hatte Rudolf Asmis nach dem aktuellen Stand der deutsch-türkischen Beziehungen gefragt: „So sagte er also auf russisch ‚Germanski – Turk – früher –‘ und hakte dabei seine beiden Zeigefinger ein und mit einem fragenden Blick auf mich sagte er: ‚Heute auch‘ und machte das gleiche Zeichen. Ich bestätigte mit der gleichen Bewegung, dass auch heute noch die gleichen freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschen und Türken bestünden, und er gab mit einem wiederholten ‚Gut, gut‘ seiner Befriedigung Ausdruck.“45 Rudolf Asmis leitete aus derartigen Gesprächen die politische Handlungsanleitung ab, die Beziehungen zur einheimischen Bevölkerung zu pflegen, um sich für die Zukunft Loyalitäten zu sichern. Asmis korrespondierte neben den Behörden in Moskau und Turkestan auf seiner Reise auch mit dem Auswärtigen Amt und Vertretern der deutschen Wirtschaft. Er schickte Blätter seines Reisetagebuchs nach Deutschland und ließ sie in Umlauf bringen. Bevor er von seiner Turkestan-Mission endgültig in das Deutsche Reich zurückkehrte, reiste er erst einmal vorläufig nach Berlin. Dort überprüfte er durch die Präsentation seiner bisherigen Ergebnisse, in welchem Umfang in Deutschland ein Interesse am wirtschaftlichen Wiederaufbau Turkestans bestünde. Daraufhin wollte er bei seiner Rückkehr nach Moskau und Mittelasien mit den betreffenden russischen Dienststellen in Kontakt treten.46 Asmis’ Denkschriften wie zum Beispiel „Die heutige Gliederung Sibiriens und Turkestans in Staaten autonomer Verwaltungsbezirke“47 oder „Die politische Lage in Russisch-Mittelasien“48 fassten die Situation in Turkestan zusammen. Daneben hatte Asmis Berichte über die Rohstoffvorkommen49 verfasst und Memoranden gesammelt zu „Turkestans wirtschaftlichen Aussichten“50, die von den sowjetischen Regierungsstellen publiziert worden waren. Aufgrund dieser Informationen hatte er konkrete Projektvorschläge ausgearbeitet: „Das Projekt der SemiretschieBahn“51 und „Der heutige Stand der Baumwollkultur in Turkestan und das Problem einer deutschen Mitarbeit an ihrem Wiederaufbau“52. Nach seiner endgültigen Rückkehr in das Deutsche Reich hielt er Vorträge im öffentlichen und kleinen Kreis, um für das ‚neue Turkestan‘ als Wirtschaftsland der Zukunft die Werbetrommel zu rühren.
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rat Georg Cleinow über die politische Lage im früheren Generalgouvernement Turkistan Sommer 1928, 3. PA AA, Nachlass Rudolf Asmis, Tagebuch, 36. Asmis 1924, 229. PA AA, R 84362, 28.6.1922. PA AA, R 84362, Ende Juli 1923. PA AA, R 84632, Asmis, Rudolf: Die Kohle- und Oelvorkommen in Kisil-Kaja und Tschimjon, o.D. PA AA, R 84362, Volkswirtschaftlicher Referent, gez. M. Ssorotschinsky, Tiflis, 15.10.1922. PA AA, R 84362, o.D. PA AA, R 84362, o.D. Zu Kommentaren und Anregungen bezüglich der BaumwollDenkschrift, vgl. PA AA, Nachlass Rudolf Asmis Paket Nr. 31 XI/18, Ludwig Roselius an Asmis, Bremen 14.8.1923. PA AA, Nachlass Rudolf Asmis Paket Nr. 31 XI/18, R.C. Stempel, Russischer Baumwollanbau, 6.8.1923.
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2. Die Popularisierung einer Utopie E RWARTUNGSHORIZONTE
UND
E RFAHRUNGSRÄUME
Auf seine Ostmission folgte Rudolf Asmis’ zweite Reiserunde als Vortragsredner durch das Deutsche Reich.53 Er hielt nach seiner Rückkehr Referate vor der Baumwollkommission des Kolonialwirtschaftlichen Komitees54, in Universitäten, vor Handelsgesellschaften55 und der generell interessierten Wirtschaft und Finanzwelt, zu denen auch Vertreter der Firmen Krupp und Stinnes sowie unter anderem Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht zählten.56 Zum Vortrag an der Georg-August-Universität Göttingen waren die Handelskammer und Wirtschaftskreise Südhannovers eingeladen worden. Für Letztere und Abgesandte von Exportfirmen hatte Asmis im exklusiven Rahmen noch „eingehendere Ausführungen über die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Russisch-Asien gemacht“. 57 Die Ankündigung, dass der Legationsrat auf Einladung der Zweigstelle München des Auswärtigen Amtes für Außenhandel über Turkestan sprechen werde, hatte den größten Vortragssaal der Ludwig-Maximilians-Universität gefüllt. 58 Nicht nur Asmis, sondern auch die deutsche Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit sahen im „neuen Turkestan“ das Wirtschaftsland der Zukunft. Die Zukunftserwartungen des Deutschen Reiches waren an das Schlagwort des „neuen Turkestan“ geknüpft. Dieser ‚Erwartungshorizont‘ bezeichnete eine „vergegenwärtigte Zukunft“ und somit die sozialen Hoffnungen und Wünsche, denen Rudolf Asmis in Mittelasien zu begegnen glaubte.59 Die Vergangenheit des ‚alten‘ Turkestan-Diskurses sowie der deutschen imperialen und kolonialen Politik blieb präsent. Diese „gegenwärtige Vergangenheit“ bildete denjenigen ‚Erfahrungsraum‘, welcher der geplanten Erschließung Turkestans in den 1920er-Jahren Sinn verlieh sowie Wissen, Deutungsmuster und Handlungsfolien bereitstellte.60 Denn die Metapher vom 53 PA AA, R 86386, Zeitungsausschnitt, „Russisch-Asien. Die wirtschaftliche Bedeutung“ (Zeitung unbekannt). 54 PA AA, R 86386, Berlin 8. 11.1923. 55 Vortrag bei der Frankfurter Gesellschaft für Handel, Industrie und Wissenschaft: PA AA, R 86386, Frankfurter Gesellschaft für Handel, Industrie und Wissenschaft an Dr. Asmis, Frankfurt, 29.1.1924. Vortrag in Essen (Akademische Kurse für Handelswissenschaften und allgemeine Fortbildung). PA AA, R 86386, Deutsche Kurse an das Auswärtige Amt, 21.1.1924. 56 PA AA, R 86386, Turkestan-Firmen (Liste, o. D.). 57 PA AA, R 86386, Briefwechsel: Der Rektor der Universität Göttingen an das Auswärtige Amt Berlin, Göttingen, 15.11.1923; Auswärtiges Amt Berlin an den Rektor der Georg-August-Universität Göttingen, Berlin 17.11.1923; Der Rektor der GeorgAugust-Universität an das Auswärtige Amt, 1.12.1923; Handelskammer Göttingen an das Auswärtige Amt, Göttingen, 24.1.1923. 58 PA AA, R 86386, Zeitungsausschnitt, „Russisch-Zentralasien“, Münchner Neueste Nachrichten, 21.12.1923. Asmis 1924, 15. 59 Koselleck 1989, 355. Zum Erwartungshorizont und Erfahrungsraum: Koselleck 1989, 349-375. 60 Koselleck 1989, 345.
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Turkestan-Expeditionen
„neuen Turkestan“, die Aufbruchsstimmung und Neuanfang assoziieren ließ, erhielt ihre Anziehungskraft aus traditionellen Kolonialdiskursen, dem neuen Selbstbestimmungsrecht der (Kolonial-)Völker und nicht zuletzt der Suche des Deutschen Reichs nach wirtschaftlichen und politischen Einflusssphären. Bereits unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs umriss der Begriff „neues Turkestan“ einen deutschen ‚Erwartungshorizont‘: „Das neue Turkestan [Hervorhebung im Original] bietet Felder von ungeahnter Tätigkeit und Ausdehnung. Die ungefähren Abmessungen unter der alten russischen Regierung ergaben, dass die noch vorhandenen Wasservorräte allein in Turkestan eine Bewässerungsausdehnung von 4 Millionen Desjatin [eine Desjatine entsprach einem guten Hektar, F.T.] gestatten. Sollte man davon nur die Hälfte unter Baumwolle nehmen, so würde das eine Zunahme von 45 Millionen Pud gereinigter Baumwolle bedeuten. […] Turkestan würde damit zu einem Baumwoll-Exportlande werden, dessen Mengen ausreichen würden, Deutschland hinreichend mit Baumwolle zu versorgen und unabhängig von der amerikanischen Flocke werden zu lassen! […] Im Interesse der Innehaltung niedriger Pachtsätze müsste eine neue Eisenbahn-Verbindung zwischen Turkestan und Semiretschie […] hergestellt werden.“61 Nach Rudolf Asmis’ wirtschaftspolitischer Expedition verließen diese Ideen die abgegrenzte Sphäre der politischen Memoranden. Presseberichte brachten sie einer breiteren Öffentlichkeit nahe. Die Kölnische Zeitung propagierte unter dem kolonialromantischen Titel „Aus dem Herzen Asiens“ Turkestan als „zukunftsreiches Neuland für deutsche Arbeit“, der Hamburger Korrespondent betitelte seinen sachlicheren Beitrag zum Thema etwas nüchterner mit „Die wirtschaftspolitische Bedeutung Turkestans“. Obwohl im letzten Artikel stärker der Subtext gelesen werden musste, popularisierte auch er Turkestan als Gebiet der Zukunft. Berichte über die Vorträge Rudolf Asmis’ verorteten die Aussichten standardmäßig im gemeinsamen deutschrussischen Interessenhorizont von Rapallo.62 Auch das Informationsmaterial der sowjetischen Regierungsstellen machte dem Deutschen Reich Turkestan als Wirtschaftsraum schmackhaft. Ihre Argumentation versuchte, das ausländische Kapital und die ausländische Wirtschaft zu bewegen, zum ‚Fortschritt‘ in der Sowjetunion beizutragen. Das lag in der sowjetischen Aufbauvision und dem damit verbundenem Kapitalbedarf begründet.63 Dass nun das Deutsche Reich Turkestan als Zukunftsland ‚entdeckte‘, stellte eine neue Annäherung an den Raum dar. Wie sich bereits im Ersten Weltkrieg abgezeichnet hatte, überlagerten Fortschrittsuto61 PA AA, R 11074, Meyerkort, Die wirtschaftliche Bedeutung Russisch-Turkestans, 23.7.1919, 15-16. 62 PA AA, R 86386, Zeitungsausschnitt, „Aus dem Herzen Asiens“, Kölnische Zeitung, o.D. (vermutlich September 1924). PA AA, R 86386, Zeitungsausschnitt, „Die wirtschaftliche Bedeutung Russisch-Turkestans“, Hamburger Korrespondent, 6.11.1925. PA AA, R 86386, Zeitungsausschnitt, „Russisch-Asien. Die wirtschaftliche Bedeutung“, (Zeitung unbekannt). PA AA, R 86386, Zeitungsausschnitt, „RussischZentralasien“, Münchner Neueste Nachrichten, 21.12.1923. 63 PA AA, R 84362, Turkestans wirtschaftliche Aussichten, Volkswirtschaftlicher Referent, gez. M. Ssorotschinsky, Tiflis, 15.10.1922. PA AA, R 84362, Deutsche Vertretung in Russland an das Auswärtige Amt Berlin, gez. Radowitz, Moskau den 8.9.1922.
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pien und Gedanken der Entwicklung die nostalgisch-romantische Perspektive und Erlebnisform. Diese Neubewertung fiel mit dem historischen Moment zusammen, als sich in Turkestan Chancen für die deutsche Politik und Wirtschaft boten. Der emotionale Wert der ‚Wildnis‘ bekam in den 1920er-Jahren zusätzlich einen ökonomischen Wert als potenzielle Nutzfläche. ‚Weiße Flecken‘ auf der Landkarte galten nicht mehr als bloße Räume abenteuerlicher Erfahrung, sondern als mögliche Einflusssphären. Ruinen und Bruchstücke erfuhren eine Umwertung als Reste eines von Revolution und Aufständen zerrütteten Landes, das der deutschen Aufbauarbeit bedurfte. Die Vergangenheit Turkestans verlor ihren Status als eigener abgeschlossener Zeitraum. Sie wurde zur Vorstufe der künftigen Entwicklung. ‚Russifizierung‘ brachte für die deutschen Beobachter nicht mehr die Zerstörung alter authentischer Kulturwerte mit sich, sondern verhieß den Weg in die Zukunft. Deutschland griff bei den Versuchen, Turkestan als deutsches Einflussgebiet zu erschließen, auf die kolonialen Erfahrungen des Kaiserreichs zurück. Die russische Herrschaft in Zentralasien hatte als mögliches Muster für zwei Formen des deutschen Imperialismus gedient: für den Ausbau der Landwirtschaft in den afrikanischen Schutzgebieten und die informelle ‚Durchdringung‘ des Orients im Fall der Bagdadbahn.64 B AUMWOLLKULTUR
UND
B EWÄSSERUNGSWIRTSCHAFT
Rudolf Asmis war die amtliche Erklärung gegeben worden, dass die russische Regierung den bisherigen Grundsatz ihrer Baumwollpolitik aufgeben werde, der jegliche Ausfuhr untersagte und die Baumwollproduktion für die eigene Textilindustrie reserviere. Die neue Richtlinie eröffnete einem ausländischen Unternehmer Exportmöglichkeiten, wenn er sich am Wiederaufbau der Baumwollkultur beteiligte.65 Den Hintergrund für die Baumwollpolitik der Nachkriegsjahre bildete der koloniale ‚Erfahrungsraum‘ des Kaiserreichs. In den afrikanischen Kolonien hatte neben dem Ziel der „möglichste[n] Unabhängigkeit Deutschlands hinsichtlich des Bezugs tropischer Produkte vom Auslande“ und „der Sicherstellung und Stärkung von Nationalvermögen und Volkswohlfahrt“ der Gedanke eine Rolle gespielt, „die Eingeborenen zur Arbeit zu erziehen“. Eine „Baumwollvolkskultur“ sollte um die Jahrhundertwende in DeutschOstafrika und Togo eingeführt werden.66 Baumwollfelder in den USA und Turkestan hatten um die Jahrhundertwende als Modell- und Vergleichsfälle für die Anpflanzung in den afrikanischen Kolonien gedient. Die russische Produktion war zudem mit großem Interesse verfolgt worden, da sie den Weltmarktpreis beeinflusste. Studienreisen in die Vereinigten Staaten und
64 Rohrbach 1904, 2-13, 96-99. 65 Asmis 1924, 172. PA AA, R 84362, Asmis, Der heutige Stand der Baumwollkultur in Turkestan und das Problem einer deutschen Mitarbeit an ihrem Wiederaufbau o.D., 2-8. PA AA, Nachlass Rudolf Asmis, Tagebuch, 11. 66 BArch R 1001/8221, Broschüre Baumwoll-Expedition nach Togo, 1-19, wörtliche Zitate: 9-10.
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nach Turkestan hatten jeweils Anregungen bezüglich der Bewässerung, geeigneter Sorten und Anbaumöglichkeiten gesammelt.67 Von den deutschen Experimenten in Afrika profitierte in den 1920erJahren der frühere Musterfall Turkestan selbst. Walter Busse, der Vorsitzende des Kolonialwirtschaftlichen Komitees, stimmte mit Asmis’ Ansicht überein, „den Russen unsere eigenen Erfahrungen auf dem Gebiete der Baumwollkultur vorbehaltlos zur Verfügung“ zu stellen. Denkschriften des Reichskolonialamts wie „Der Baumwollanbau in den Deutschen Schutzgebieten, seine Entwicklung seit 1910“, welche die Arbeiten auf den deutschen kolonialen Versuchsstationen zusammenfassten, Probehefte des Tropenpflanzers und „Die Anleitungen für die Baumwollkultur in den Deutschen Kolonien“ wanderten in die Hände der russischen Baumwollkommission. Das Kolonialwirtschaftliche Komitee zeigte sich zusätzlich gern bereit, „im direkten Schriftverkehr alle etwa gewünschten Auskünfte zu erteilen“ und mit ihren russischen Kollegen eng zusammen zu arbeiten.68 Asmis präsentierte konkrete Möglichkeiten, wie sich das Deutsche Reich am Wiederaufbau der Baumwollkultur in den 1920er-Jahren beteiligen könne. Letztendlich wurden die Optionen von der finanziellen Lage begrenzt. Bevor Turkestan wieder als Absatzmarkt der deutschen Schwerindustrie in Bezug auf Maschinen zur Baumwollverarbeitung erschlossen werde, müssten nun erst einmal in kleinerem Rahmen Einzelteile zur Reparatur ausgeführt werden. Diejenigen großen Firmen wie zum Beispiel Krupp, die vor dem Weltkrieg in Turkestan gearbeitet und dort noch eine Anzahl von Maschinen in beschädigtem Zustand hatten, sollten sich zusammenschließen, um Werkstätten zu eröffnen. Die deutsche Industrie könne damit Auslandsgeschäfte ankurbeln und gleichzeitig den Export von Baumwolle in das Deutsche Reich sichern.69 Für eigene deutsche Baumwollpflanzungen in Turkestan unterschied Asmis je nach Größe. Um in der Baumwollwirtschaft Fuß zu fassen, empfahl er kleinere Konzessionen von eintausend bis dreitausend Desjatinen. Geeignete Nutzflächen, die bereits durch Bewässerungsanlagen erschlossenen waren, seien relativ kapitalgünstig unter Bewirtschaftung zu nehmen; damit wäre der Zugang zur Baumwollwirtschaft gesichert. Jedoch erst eine deutsche Beteiligung am Ausbau der Irrigationsprojekte würde langfristigen Einfluss und „für Deutschland wirklich in’s Gewicht fallende Baumwollmengen schaffen können“.70 Rudolf Asmis empfahl, „Mittel für die Neuanlage von Bewässerungssystemen in Höhe von 10–15 Millionen Goldrubel flüssig zu machen“. Ein jährlicher Anbau von 100.000 Ballen Baumwolle für die deutsche Textilindustrie sei damit möglich. Die „Aussichten auf Erweiterung dieses Anbaus dürften schließlich auch […] auf den Preis der aus Amerika zu beziehenden 67 BArch R 1001/8221, Bl. 119-Bl. 122. Unterlagen zur Baumwolle in Turkestan in: BArch R 1001/8251. BArch R 1001/8179, Bl. 147-Bl. 161. Ullrich 1913. Beckert 2004, 280-301. Busse 1915. Zur Reise von Busse: BArch R 1001/7842, Bl. 3-Bl. 49. 68 PA AA, Nachlass Rudolf Asmis, Paket Nr. 31 XI/18, Busse an Asmis, 7.5.1923, 1-4. Zur Organisation des Baumwollkomitees für die Republik Turkestan: Asmis 1924, 176. 69 PA AA, R 84362, Asmis, Der heutige Stand der Baumwollkultur in Turkestan und das Problem einer deutschen Mitarbeit an ihrem Wiederaufbau o.D., 11-13. 70 Asmis, 1924, 1.
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Baumwolle wirken“.71 Laut Asmis’ Kalkulation waren die Kosten für die Bewässerungssysteme im ersten Jahr nach ihrer Anlage gedeckt. Einen Vorschlag, wie diese Summe in zweistelliger Millionenhöhe zu finanzieren sei, hatte der Legationsrat bereits parat: Das Darlehen, das im deutschholländischen Kreditabkommen für die Rohstoffbeschaffung bewilligt worden war, wäre doch für die Bewässerungsanlagen in Turkestan geeignet.72 S EMIRETSCHIEBAHN Bezüglich der zweiten Beteiligungsoption, dem Bahnbau, stand das Projekt der Semiretschiebahn zur Beratung. Die neue Eisenbahn sollte zwei landwirtschaftliche Gebiete Turkestans verbinden. Im Süden, der Ferghana, wurde Obst- und Wein, im Norden, dem Semiretschiegebiet, wurde Getreide angepflanzt. Die russische Stachejew-Gruppe hatte eine Eisenbahnverbindung zwischen diesen beiden Gebieten, um den südlichen Teil mit Getreide aus dem Norden zu versorgen, bereits vor dem Ersten Weltkrieg projektiert. Die Nachteile des fehlenden Verkehrsweges hatten die Revolutionsjahre bewiesen: Engpässe der Getreideversorgung, ein Rückgang der Baumwollproduktion, da stattdessen essbare Feldfrüchte angebaut worden waren, und Hungerunruhen. Die russischen Interessen am Bau der Semiretschiebahn während der 1920er-Jahre bewertete Asmis vor allem als taktischen Zug gegen die Basmatschi-Aufstände. Ihnen sollte durch eine Linderung der wirtschaftlichen Not die Basis entzogen werden. Asmis erkannte auch die militärstrategische Bedeutung einer Eisenbahn in das nationalistische Kirgisengebiet: „Selbstständigkeitsbestrebungen […], Träume von der Errichtung eines grossen Kirgisenreichs, das alle Kirgisen, auch die in der benachbarten Kirgisenrepublik und auf chinesischem Boden mit umfasst, verschwinden oder verlieren an Gefährlichkeit, wenn die Eisenbahnverbindung in jenen Gegenden jederzeit die Entsendung genügender Truppen gestattet.“73 Rudolf Asmis’ Fokus lag, bei aller innen- und außenpolitische r Brisanz dieser Bahn, jedoch in erster Linie auf den wirtschaftspolitischen Vorteilen des Deutschen Reichs.74 Der Finanzimperialismus des Kaiserreichs blieb der prägende deutsche ‚Erfahrungsraum‘ für den Bahnbau. Um 1900 hatte Paul Rohrbach über die Erschließung des russischen Imperiums durch die Transkaspische Eisenbahn berichtet.75 Er hatte in den Bahnlinien nicht nur Mittel zur Truppenbewegung gesehen, sondern auch Anregungen für die eigenen Prestigeprojekte der Bag71 PA AA, R 84362, Asmis, Der heutige Stand der Baumwollkultur in Turkestan und das Problem einer deutschen Mitarbeit an ihrem Wiederaufbau o.D., 14-16, wörtliches Zitat: 16. Zu sowjetischen Bewässerungsprojekten in Zentralasien: Obertreis 2007, 151-182. 72 Dazu: Erdmann 1971, 4. Holländisches Kreditabkommen, Boppard am Rhein 1971. PA AA, R 84362, Asmis, Der heutige Stand der Baumwollkultur in Turkestan und das Problem einer deutschen Mitarbeit an ihrem Wiederaufbau o.D., 16-17. 73 PA AA, R 84362, Asmis, Das Projekt der Semiretschiebahn, o.D., 1-3, wörtliches Zitat: 3. 74 PA AA, R 84362, Deutsche Botschaft Moskau, Asmis an Minkin, Moskau, 3.9.1923. 75 PA AA, R 11070, Biermann an von Bethmann Hollweg, St. Petersburg 24.11.1909, Abschrift A. 19476.
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dad- und anatolischen Bahn. Diese Schienenstränge durch das Osmanische Reich sollten nicht nur symbolisch von deutscher Weltstellung zeugen. Das Deutsche Reich verband mit ihnen weiterreichende Konzessionen im Bereich der Bodenschatznutzung sowie in Bezug auf Aufträge, die Bahnhöfe, Straßen, Bewässerungs- und Kommunikationseinrichtungen auszubauen. Die russischen Erfolge des Bahnbaus durch ähnlich unwegsames Gelände galten als mögliches Vorbild dafür. Dabei hatte Paul Rohrbach in seinem Vortrag vor der Deutschen Kolonialgesellschaft auch noch einen Vergleich der finanzpolitischen Vorteile gezogen: „Die Anwendung der russischen Erfolge, für das, was wir in der Türkei planen, liegt natürlich außerordentlich nahe. […] Haben wir erst die Eisenbahn, […], so wird das Geld aus Deutschland dorthin fließen statt nach Amerika und Egypten […].“76 Nach dem Ersten Weltkrieg hatte das Deutsche Reich die Bagdadbahn und somit einen Schlüssel zu den „Schätzen des Orients“77 verloren. Die Geldknappheit der 1920er-Jahre bedingte einen prinzipiellen Abschied von finanzaufwändigen Großprojekten. Doch auch eine kleiner angelegte Beteiligung an der Semiretischiebahn hatte Vorteile: Neben der Lieferung von Materialien für den Bahnbau wie Schienen, Lokomotiven, Wagons und Einrichtungen für die Bahnstationen standen auch hier erneut die erwünschten Nebenkonzessionen in Bezug auf Rohstoff- und Lebensmittelexporte im Vordergrund. Um die Attraktivität des riskanten Bahnbauprojekts für die deutschen Wirtschaftskreise zu erhöhen und eine Art Sicherheit einzuwerben, forderte Rudolf Asmis von Russland nicht nur eine verbindliche Zusage zur deutschen Beteiligung am Baumwollgeschäft. Asmis verlangte exakt in diesem Jahr, als sich der ‚Ruhrkampf‘ zugespitzt hatte, nach einer russischen Erlaubnis, mineralische Rohstoffe wie Steinkohle in Turkestan abbauen zu dürfen.78 ‚M ODERNISIERUNG ‘
DURCH
E RSCHLIESSUNG
Die Gesichtspunkte, die Rudolf Asmis als Bedingungen einer deutschen Beteiligung am Bahnbau formulierte, legten eine deutsche Modernisierungsmission offen. Asmis antizipierte „die Herstellung eines Verkehrsweges für Massentransporte als Beginn einer neuen Epoche“ in Mittelasien. Seine Aufbauvision verknüpfte die verkehrstechnische Erschließung mit einer Neustrukturierung der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung. Er plante ein ausgedehntes Automobilnetz und dazu auf den Seen des Hinterlandes wie dem IssykKul Motorboote und Dampferlinien einzusetzen, um Güter zur Bahn zu transportieren. Parallel dachte Asmis daran, bislang noch fehlende verarbeitende Industriezweige wie die Molkereiwirtschaft, Müllerei und Tabakindustrie zu fördern. Umsiedlungsaktionen waren Bestandteil von Rudolf Asmis’ Planungen, die Menschen zu Objekten im Dienst des Fortschritts degradierten: „In den zahlreichen landlosen Familien der alten Bauerndörfer würde, sofern nur die Bedingungen für Uebernahme des Landes günstig sind, in aus76 van Laak 2004, 150-153. Rohrbach 1900, 73-74. 77 Honold, Nach Bagdad und Jerusalem, 146. 78 PA AA, R 84362, Aufzeichnung Gespräch Asmis mit Minkin (Vorsitzender des Hauptkonzessionskomitees), Moskau, 20.9.1923, 1-7. PA AA, R 84362, Deutsche Botschaft Moskau, Asmis an Minkin, Moskau, 3.9.1923, 5-6.
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reichender Menge Menschenmaterial für die Besiedlung zu finden sein.“ Durch die Ansiedlung der Landbevölkerung, die in der Russischen Revolution enteignet worden war, sollte die Bahn bald durch blühende Landschaften und florierende Absatzmärkte führen.79 Russisch-Turkestan war nur der erste Raum auf dem Reißbrett der deutschen Aufbauvision. Das Fernziel der wirtschaftlichen und infrastrukturellen Erschließung bestand darin, das zentralasiatische mit dem sibirischen Eisenbahnnetz zu verknüpfen, eine Bahnverbindung mit Xinjiang (Ostturkestan) herzustellen und „damit das ganze wirtschaftlich noch jungfräuliche Westchina an das Weltverkehrsnetz“ bis nach Peking anzuschließen. Asmis’ optimistisches Fazit lautete: „Wer die Semiretschie-Bahn in Händen hat, besitzt auch den Schlüssel für die grossen sich hier eröffnenden Aussichten jener Kontinente erschließenden Eisenbahnbauten.“80 Die Verheißung neuer deutscher Einflusssphären und sogar eines möglichen Weges zu künftiger Großmacht hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Seine Anregungen stießen auf offene Ohren, trotz der Kritik an der mangelnden Sicherheit in Turkestan und der finanziellen Probleme der deutschen Wirtschaft. In Sitzungen des Kolonialwirtschaftlichen Komitees wurde beschlossen, zunächst Gesellschaften mit beschränkter Haftung zu gründen. Sie sollten den Baumwollanbau und den Bahnbau organisieren. Später könne ein finanzkräftiges Syndikat die wirtschaftliche Erschließung Turkestans übernehmen. Rudolf Asmis und dem Kolonialwirtschaftlichen Komitee gelang es darüber hinaus, Großindustrielle und Großbanken für Wirtschaftsprojekte in Turkestan zu faszinieren. Die Firmen Hugo Stinnes und Krupp, die Bank E.L. Friedmann & Co. sowie die beiden Tochterunternehmen der Deutschen Bank, die Transkaukasische Handels-Aktien-Gesellschaft und die DeutschLevantinische Baumwollgesellschaft, interessierten sich für die vorgeschlagenen Projekte.81 Mit der Gründung einer Baumwollstudiengesellschaft trug die Diskontogesellschaft den ersten Schritt in das Wirtschaftsland der Zukunft. Die Gründeranteile waren auf je 2500 Goldmark, das gesamte Kapital der Gesellschaft auf 50 000 Goldmark veranschlagt.82 Im Vergleich zu diesem finanziell praktizierbaren Vorschlag standen beim Projekt der Semiretschiebahn größere Summen im Raum. Allein der Abschnitt von Pischpek nach Saizowskoje mit einer Nebenlinie schlug mit satten 55 Millionen Goldmark zu Buche. Um den 79 PA AA, R 84362, Asmis, Das Projekt der Semiretschiebahn, o.D., 3-10, wörtliche Zitate: 3 und 10. PA AA, R 84362, Deutsche Botschaft Moskau, Asmis an Minkin, Moskau, 5. 80 PA AA, R 84362, Asmis, Das Projekt der Semiretschiebahn, o.D., 3-4. 81 PA AA, Nachlass Rudolf Asmis, Paket Nr. 31 XI/18, Sitzung der Baumwollkommission des Kolonialwirtschaftlichen Komitees am 28.6.1923, 3. Anwesend bei dieser Sitzung waren neben Vertretern des Komitees und des Auswärtigen Amtes für die deutsche Wirtschaft unter anderen: Dr. Salomonsohn (Diskonto-Gesellschaft), Dr. Goldschmidt (E.L. Friedmann & Co), Dr. Becker (Hugo Stinnes), Dr. Dampf (Verein Süddeutscher Baumwollindustrieller), siehe: Liste der Interessenten für Baumwolle: PA AA, R 88362, o. D. 82 PA AA, R 84362, Deutsche Botschaft Moskau, Asmis an Krassin, Moskau, 3.9.1923, 2-8. Die Korrespondenz zur Projektierung und Gründung der Baumwollstudiengesellschaft findet sich in: PA AA, Nachlass Rudolf Asmis, Paket Nr. 31 XI/18.
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Bahnbau zu finanzieren, war eine gemischtwirtschaftliche Gesellschaft geplant, wobei der sowjetische Staat 51% der Aktien halten sollte.83 Die deutschen Firmen und Großbanken hielten es für möglich, diese Summe selbst durch Auslandskredite und ausländische Beteiligungen aufzubringen. Dabei gab es klare deutsch-russische Präferenzen bezüglich der Gläubiger: „Bei der Heranziehung ausländischen Kapitals ist in erster Linie an schwedisches und holländisches Kapital gedacht. Englisches Kapital kommt auch nach deutscher Ansicht aus politischen Gründen für eine Betätigung in Turkestan in keiner Weise in Frage. Amerikanisches höchstens in Form einer Kreditgewährung an deutsche Firmen ohne die Möglichkeit einer Einflussnahme irgendwelcher Art auf die Führung der Unternehmen in Turkestan.“84 Projektiert wurde ein „internationales Konsortium unter deutscher Führung, an dem sich italienische, schwedische, holländische und belgische Finanzleute und Industrielle beteiligen würden“.85 Rudolf Asmis fuhr persönlich nach Schweden und Holland. Die Verhandlungen standen unter dem utopischen Versprechen eines postkolonialen Masterplans des Wiederaufbaus von Industrie, Verkehr und Landwirtschaft. Trotz eines prinzipiellen schwedischen und holländischen Interesses lautete 1923 das lavierende Fazit der meisten Gespräche, dass in der unsicheren politischen Gegenwart die Zeit noch nicht gekommen sei, derartige Verpflichtungen in Turkestan einzugehen. Eine Beteiligung der schwedischen Regierung schied komplett aus.86
3. Möglichkeitsräume (P OST -) KOLONIALE F ANTASIEN Der Entwurf des ‚neuen Turkestan‘ als Utopie der deutschen Wirtschaft beinhaltete eine mehrfach interpretierbare Zukunft. Innerhalb des pragmatischen Interessenhorizonts von Rapallo wurde der Aufbau Turkestans als ein Faktor des zukünftigen wirtschaftlichen Wiederaufstiegs beider Vertragspartner nach dem Ersten Weltkrieg und den Revolutionen verstanden. Die deutschen Pläne, langfristigen Einfluss in Turkestan zu sichern, enthielten ein stark hypothetisches Moment: den Traum von Deutschlands zukünftiger Stellung als neuer „Weltmacht“. Zwischen Pragmatik und hypothetischem Zu83 PA AA, Nachlass Rudolf Asmis, Paket Nr. 31 XI/18, Handelsvertretung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepubliken an Asmis, Berlin, 19.10.1023. 84 PA AA, R 84362, Deutsche Botschaft Moskau, Asmis an Krassin, Moskau, 3.9.1923, 3. 85 PA AA, Nachlass Rudolf Asmis, Paket Nr. 31 XI/18, Aufzeichnung für v. Maltzan, o.D., 2. 86 PA AA, Nachlass Rudolf Asmis, Paket Nr. 31 XI/18, Asmis, Aufzeichnung über meine Verhandlungen in Schweden, o.D. PA AA, Nachlass Rudolf Asmis, Paket Nr. 31 XI/18, Asmis an Gesandten Nadolny, Stockholm, 6.10.1923, 1-2. Bezüglich der Verhandlungen mit Holland: PA AA, Nachlass Rudolf Asmis, Paket Nr. 31 XI/18, Asmis an Dr. Schniewindt (Diskontogesellschaft), 14.12.1923. PA AA, Nachlass Rudolf Asmis, Paket Nr. 31 XI/18, Asmis, Abschrift Unterredung mit Herrn Kroeller, Den Haag 5.12.1923.
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kunftsentwurf oszillierte Turkestan als Möglichkeitsraum. Gerade als solcher beschäftigte das Land als Ort, über den Ideen von Kolonialismus und Geopolitik auf dem Weg in eine postkoloniale Zeit verhandelt werden konnten. Ein Spannungsverhältnis zwischen (post-)kolonialen Fantasien und politischer Pragmatik – im Rahmen von Rapallo zu handeln, aber doch darüber hinaus zu denken – kam in einem Intermezzo zwischen der Kölnischen Zeitung und dem Auswärtigen Amt zum Ausdruck. In einer Artikelserie berichtete die Zeitung „Exklusivnachrichten“ aus Turkestan: „Der Draht meldet aus Moskau, dass die Räteregierung mit Besorgnis die Erhebung ansehe, die sich von Taschkent aus gegen die russische Herrschaft in Turkestan ausbreite. Es ist uns gelungen, einen Berichterstatter zu gewinnen, der jetzt schon ein Jahr lang gerade diese Gegend bereist und genau kennen gelernt hat. Er ist aus Turkestan nach Kabul gelangt und wird nächstens eine Forschungsreise in zentralasiatische Gegenden unternehmen, die zum Teil noch von keinem Europäer betreten sind. Die Kölnische Zeitung hat das alleinige Recht der Veröffentlichung dieser Reiseberichte erworben und wird ihren Lesern damit etwas ganz Besonderes bieten.“87 Nicht so sehr die Tatsache sorgte für Wirbel, dass ein nicht näher bezeichneter Gewährsmann, der durch seine Charakterisierung als „Augenzeuge“ und „Forschungsreisender“ einerseits für Wahrheit, andererseits für Grenzgänge und durch seine Anonymität für Allgemeingültigkeit stand, Neuigkeiten aus bislang „unbekannten Gebieten“ zu berichten hatte, denn diese Art der Berichterstattung, Reisende als Reporter anzuwerben und betreffende Nachrichten zu platzieren, war Usus. Das Auswärtige Amt hatte sie auch bereits für eigene Zwecke angewandt. Wenn es um Länder ging, die nicht im direkten Erfahrungsradius der deutschen Bevölkerung lagen, wollte die auswärtige Politik die Chance nutzen, die lesende Öffentlichkeit mit ihren Erzählungen und Deutungslinien zu versorgen.88 Die in diesem Artikel kaum verklausuliert geäußerten Kolonisationsfantasien jedoch, die im Übrigen auch für die Pressebeobachtung der sowjetischen Regierungsstellen gut nachlesbar präsentiert wurden, entsprachen nicht der offiziellen Linie. Die öffentliche Bandbreite von Äußerungen war in Rudolf Asmis’ Vorträgen vorgegeben, deren Argumentation in der Presse als „zu subtil“ bewertet wurde. Zwar erwähnte Asmis ständig, dass „in den mohammedanischen Gebieten wie in Turkestan immer noch die Tradition von der Freundschaft des Deutschen Reiches mit den Türken“ fortlebe.89 Den Aufbau des „reichen“ Zukunftslandes Turkestan verortete er jedoch öffent-
87 PA AA, R 86386, Zeitungsausschnitt, „Aus dem Herzen Asiens“, Kölnische Zeitung, o.D. (vermutlich September 1924). 88 So wurden zum Beispiel der Geheime Regierungsrat Georg Cleinow auf seiner Turkestanreise und Wilhelm Filchner auf seiner Mongoleireise zur „politischen Berichterstattung“ an das Auswärtige Amt und an die Presse angehalten: Unterlagen zu den Turkestanreisen Georg Cleinows: PA AA, R 86392 und PA AA, R 86393, zu Filchner: PA AA, R 64587, speziell: Wilhelm Filchner an das Auswärtige Amt, 24.1.1925. 89 PA AA, R 86386, Zeitungsausschnitt, „Russisch-Zentralasien“, Münchner Neueste Nachrichten, 21.12.1923.
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lich ausschließlich im Vertrag von Rapallo und den gemeinsamen deutschsowjetischen Interessen.90 Was stand aber nun in der Kölnischen Zeitung im September 1924 zu lesen? Kurzum: Der Artikel propagierte Turkestan als kolonialen Ergänzungsraum des Deutschen Reiches. Die Zukunftshoffnungen, die vermeintlichen Unabhängigkeitsbestrebungen der muslimischen Bevölkerung Turkestans und die deutsch-muslimische Freundschaft bildeten ein Panorama von Spekulationen. Dieses war von der mit geopolitischen Assoziationen spielenden Überschrift „Aus dem Herzen Asiens“ gekrönt und mit sprechenden, fettgedruckten Schlagzeilen am Artikelanfang aufgemacht: „Ein zukunftsreiches Neuland für deutsche Arbeit – Das reiche Baumwollland Turkestan – Erwachen des turanischen Nationalismus – Möglichkeiten für deutsche Ansiedler“. Der Vertrag von Rapallo wurde mit keinem Wort erwähnt, dafür standen in der Zeitung Passagen zu lesen, die stark an die Kolonisationsdiskurse des Kaiserreichs erinnerten. Zur Zeit des Kaiserreichs propagierten Kolonialpublizisten wie Wilhelm Hübbe-Schleiden, Ernst von Weber oder Friedrich Fabri den Erwerb von Kolonien nicht nur als Wirtschaftsraum und Siedlungsfläche, sondern legten in die deutsche Kolonisation auch überzogene sozialpsychologische und sozialimperialistische Hoffnungen. In ihren Augen galten Kolonien als Rettungsanker für ein Land, das innenpolitisch von der Sozialdemokratie bedroht sei und in dem die ungelöste ‚Soziale Frage‘ zusätzlichen Druck auf die bestehende Ordnung ausübe. Außenpolitisch betrachteten sie das Deutsche Reich von der internationalen Konkurrenz als umzingelt. Das sozialimperialistische Argument, Kolonien als ‚Ventil‘ für die Überbevölkerung und die Arbeitslosen zu verwenden und die Angst vor der internationalen Konkurrenz blieben bis in die 1920er-Jahre präsent.91 Nun stand jedoch Turkestan statt Afrika im Fokus: In Turkestan „haben wir doch […] das zukunftsreiche Neuland für deutsche Arbeit und deutsche Kolonisation zu sehen, wird doch hier aller Voraussicht nach einstmals der Überschuß deutscher Arbeitskraft ein Ventil ins Freie finden aus dem übervölkerten Mutterland.“ Die politische Tatsache, dass Turkestans Teilrepubliken staatsrechtliche, vertragliche Bindungen mit der Sowjetunion eingegangen waren, übersah die Zeitung.92 Ihre Argumente gingen davon aus, dass sich der „turanische Nationalismus“ eines Tages gegen Moskau wenden und ein selbstständiger turkestanischer Staat gebildet werden könne. Laut Gewährsmann der Kölnischen Zeitung stünden Deutschlands Chancen, nachhaltigen Einfluss zu gewinnen, sehr gut. Die Bevölkerung ist „in ihrer Mehrzahl entschieden deutschfreundlich, wozu […] vor allem die Hoffnung beiträgt, die man für den Wiederaufbau des ganzen Landes auf die Deutschen setzt“.93 Die bereits in der Kolonialpublizistik des Kaiserreichs geäußerte Ansicht, das 90 PA AA, R 86386, Zeitungsausschnitt, „Russisch-Asien. Die wirtschaftliche Bedeutung“, (Zeitung unbekannt). 91 Fröhlich 1994, 20-31. 92 Die Verträge liegen in Übersetzung im Archiv des Auswärtigen Amts vor, vgl. PA AA, R 84342, so z.B. unter anderen der Bündnisvertrag zwischen der RSFSR und der Sowjetrepublik Buchara. 93 PA AA, R 86386, Zeitungsausschnitt, „Aus dem Herzen Asiens“, Kölnische Zeitung, o.D. (vermutlich September 1924).
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Wirtschaftspioniere in Turkestan
Deutsche Reich über außereuropäische Wirtschaftsräume vor dem (weiteren) Abstieg zu retten, lebte auch in Bezug auf Turkestan fort. Zu diesem Artikel verfasste das Auswärtige Amt eine Stellungnahme. Sie gab die klare Linie bezüglich der öffentlich möglichen Äußerungen vor. Ein von Russland unabhängiges Turkestan in der Presse zu erörtern, sei undenkbar. Die Diskussion über deutsche Siedlungsmöglichkeiten sollte tunlichst vermieden werden, da sie Ängste vor einer revolutionären Agitation durch potenzielle deutsche Kolonisten schüren könne. Der ganze Artikel „ist […] mit einer russisch orientierten Politik nicht vereinbar“. Die Stellungnahme selbst ließ jedoch auch an Doppeldeutigkeit nichts zu wünschen übrig: „Unabhängigkeitsbestrebungen der Muselmann [sic!] in Russisch-Turkestan sind zweifellos vorhanden und verdienen alles Interesse.“ Den „Asiaten“ gegenüber sei es auch nicht erwünscht, „das Zutrauen“ zu den Deutschen und die „unklaren Vorstellungen, daß diese Unabhängigkeitsideen, wie zur Zeit des Weltkriegs, deutscherseits unterstützt werden könnten“ zu zerstören. Statt eines Dementos oder der Forderung einer Gegendarstellung schloss die Stellungnahme mit folgenden Worten: „Sollten derartige Pläne verfolgt werden, so müsste es ohne Erörterung in der Presse geschehen. Es wäre daher zu begrüßen, wenn diese Gesichtspunkte in geeigneter Weise der Kölnischen Zeitung mitgeteilt werden könnten.“94 Im Mittelpunkt stand hier das Problem zwischen öffentlicher Meinungsäußerung und politischen Gedankenspielen. Es ist das Spannungsfeld zwischen Texten und Subtexten, das zur Verhandlung stand – zwischen dem, was öffentlich gesagt werden durfte, und dem, was besser gedacht blieb. R AUM
ALS
E POCHENSCHWELLE
‚Neuland‘ hatte neben der räumlichen eine zeitliche Bedeutung. Diese Metapher beschrieb das Bewusstsein, an der Schwelle zu einer neuen Epoche der kolonialen Selbstbestimmung zu stehen. Im Möglichkeitsraum Turkestan sahen Rudolf Asmis, die deutsche Politik und Wirtschaft das postkoloniale Zeitalter als Zukunftsentwurf. Das angespannte Verhältnis zwischen Russland und der einheimischen Bevölkerung sowie Konflikte innerhalb der Bevölkerungsgruppen bewerteten die deutschen Memoranden, Denkschriften und Zeitungsartikel – unter den Schlagwörtern der „Eingeborenen“- beziehungsweise „Nationalitätenpolitik“ – als Kampf der einheimischen Bevölkerung um ihre eigene Zukunft. Die Forderungen in Turkestan zeichneten den Weg zu einem globalen Zeitalter der kolonialen Unabhängigkeit vor. Den Faktor des „erwachenden Orients“ zu berücksichtigen, bedeutete für Deutschland, sich politische Geltung in dieser Zukunft zu sichern.95 Politik und Wirtschaft begegneten diesen Unabhängigkeitsbestrebungen mit ambivalenten Sympathien. Einerseits galt der Ausbau von sowjetischer Herrschaft als Garantie für Sicherheit und Ordnung sowie als Voraussetzung eines wirtschaftspolitischen Engagements in Turkestan. Andererseits lag gerade im hypothetischen Zukunftsentwurf eines postkolonialen Mittelasiens 94 PA AA, R 86386, [Stellungnahme] zu IV Ru 5843, Berlin, 29.9.1924. 95 PA AA, R 84362, Asmis, Die heutige Gliederung Sibiriens und Turkestans in Staaten autonomer Verwaltungsbezirke, 1, 7-8. Kritische Bewertung der Nationalitätenpolitik: Hayit 1962, 55 ff.
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Turkestan-Expeditionen
Deutschlands Chance. Selbstständigkeitsbestrebungen der Kirgisen in Nordturkestan und die Vision eines das chinesische Gebiet umfassenden kirgisischen Staates, der Gegensatz der ‚Weltanschauung‘ zwischen Islam und Bolschewismus im Süden Turkestans und die damit verbundenen BasmatschiAufstände als letzte Ausläufer von Enver Paschas panturanischer Vision, läuteten in den Augen der deutschen Beobachter das neue Zeitalter in Asien ein.96 Das nahende Ende der ‚klassischen‘ Kolonialherrschaft verstand Rudolf Asmis als „Befreiung von der Oberherrschaft“ und Zugeständnis der „Gleichberechtigung“ der Kolonialvölker mit dem „Herrenvolk“.97 Gerade diejenigen Werte, die das Deutsche Reich nach dem Verlust der eigenen Kolonien als einziges kolonialpolitisches Mittel noch überbehalten hatte, verhießen im neuen Zeitalter den Wiederaufstieg als Führungsmacht: „Die Zeit des Herrschens kraft Herrscherrechts ist vorbei, hier wie sonst in der Welt, kann es auf Dauer nur noch ein Herrschen kraft höherer Kultur, höheren Könnens und höherer Selbstdisziplin geben. Auch finanzielle Ketten werden auf Dauer nicht mehr getragen.“98 Für das postkoloniale Zeitalter bewertete Rudolf Asmis paternalistische Strategien und ‚Entwicklungshilfe‘ als langfristig Erfolg versprechend: „Ich glaube, daß nur die Nation wirklich [.] Einfluß behalten wird, die nicht mehr vom Standpunkt des Herrenvolkes aus, sondern von dem des älteren und erfahrenen Freundes dem jungen, aufkommenden Volke zu helfen sich bemüht; Führung und Leitung auf wirtschaftlichem Gebiet unter Vermeidung jeglicher skrupellosen Ausbeutung werden ihr künftig Einfluß in Asien verschaffen.“99 A BSCHIED
VON
‚A FRIKA ‘
Der alte deutsche Kolonialraum ‚Afrika‘ war im ökonomischen TurkestanProjekt nicht nur in Bezug auf die Baumwollpolitik präsent. Auch wenn ‚Afrika‘ in eher winzigen Alltagsdetails und kurzen Impressionen aufblitzte, war das Land zwar unterschwelliger, doch ständiger Begleiter von Rudolf Asmis. So kaufte er die Ausrüstung für seine Turkestan-Expedition bei derjenigen Firma, bei der er sich „ehedem für seine Afrikareise eingedeckt hatte“.100 Bei den Betten in Zentralasien bemängelte er, dass das übliche Gestänge für das Moskitonetz fehle, wie es in Afrika der Fall sei.101 Bezüglich der Hygienevorschriften stellte er Ähnlichkeiten zwischen den beiden Ländern fest.102 In orientalischen Impressionen des Lebens auf den turkestanischen Bazaren tauchte unvermittelt Afrika auf: „Prächtige, alte Muselmänner mit weißen prächtigen Bärten in Turban und dem langen typischen Gürteltuch umschlungenen Gewande, Frauen, deren weite Gewänder und dichte, schwarze 96 Asmis 1924, 198-199. PA AA, R 84362, Asmis, Das Projekt der Semiretschiebahn, o.D., 3, 16. PA AA, R 84362, Asmis, Die heutige Gliederung Sibiriens und Turkestans in Staaten autonomer Verwaltungsbezirke, 5-14; 16-22. PA AA, PA AA, R 86392, Abschrift IV Chi, Sinkiang, China und Turkestan, Mitte März 1926, 7. 97 Asmis 1924, 232-233, Zitate ebendort. 98 Asmis 1924, 195. 99 Asmis 1924, 232. 100 Asmis 1924, 8. 101 Asmis 1924, 10. Auch: PA AA, Nachlass Rudolf Asmis, Tagebuch, 9. 102 Asmis 1924, 11.
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Wirtschaftspioniere in Turkestan
Schleier auch nicht den leisesten körperlichen Reiz erraten lassen und rotwangige, ausgelassene Kinder, die in ihrer drallen Wohlgenährtheit an Negerknirpse erinnern, schaffen ein abwechslungsreiches Bild.“103 Den Spanndienst in Turkestan verglich er bezüglich der negativen sozialen und ökonomischen Folgen mit dem Trägerdienst in Afrika.104 Sogar in das „Leben der asiatischen Landstraße“ schlich sich Afrika ein. Es war in seiner Wahrnehmung des Klimas bei der Reise über Land, in dem gleichermaßen unruhigen Schlaf und in den dadurch möglichen nächtlichen Reflexionen präsent: „Tiere und Menschen, Geräusche und Gerüche wirken auf die sich allmählich verwirrenden Gedanken ein. Bilder aus dem ganzen Leben taumeln in der Traumwelt in buntem Wechsel durcheinander. Erinnerungen aus Asien, Afrika und Europa mischen sich zu grotesken Kompositionen. Aber auch diese Nächte des Halbschlafs auf dem Erdboden unter dem Sternenhimmel haben ihren Reiz.“105 Der ‚Erfahrungsraum‘ Afrika, in Turkestans Steppen projiziert, verhandelte Abschied und Neuanfang. Er umfasste sowohl Asmis’ eigene Vergangenheit als Kolonialbeamter als auch die koloniale Geschichte einer Generation. Asmis kam im Verlauf der Reise nicht nur sein Tropenhelm abhanden, wobei er sich nicht die Mühe machte, zurückzugehen und ihn zu suchen – „es ist aussichtslos“106 –, sondern mit ihm auch ein Stück Afrika. Der Verlust des Tropenhelms als koloniales Herrschaftszeichen und Bestandteil der Uniform des ehemaligen Kolonialbeamten korrespondierte mit seinem Abschied vom „Herrenvolk“. Bei der Bewertung der „Eingeborenenpolitik der jetzigen Staatsleiter Rußlands“, der zwingend nötigen Umsetzung der „Revolutionsphrasen von der Gleichheit aller Völker und Rassen“ in die politische Realität der „Selbstverwaltung und Selbstbestimmung“ kam Afrika als hypothetische Zukunftsvision des Deutschen Reiches ins Spiel: „Denselben Weg müssen wir beschreiten, sollte Deutschland je wieder Kolonien in Afrika besitzen.“107 Obwohl Rudolf Asmis das Wirtschaftsland der Zukunft zu vermessen hatte, begleitete ihn die koloniale Vergangenheit in den Alltagsgegenständen, in Beobachtungen, in Eindrücken sowie in Emotionen. Als Erinnerung barg sie im Fall der kolonialrevisionistischen Äußerung eine neue Zukunft in sich. Rudolf Asmis’ Reisebericht inszenierte die Suche nach Formen neuer Herrschaft, welche die koloniale Ambivalenz der Zwischenkriegszeit zum Ausdruck brachten. Er formulierte gleichzeitig kolonialrevisionistische Bestrebungen bezüglich der alten Schutzgebiete und die Suche nach alternativen Einflusssphären, die im Osten lagen. Wie bereits die Kölnische Zeitung propagiert hatte, erschien Turkestan als möglicher (post-)kolonialer Ergänzungsraum des Deutschen Reiches. 103 104 105 106 107
Asmis 1924, 171. Asmis 1924, 214. Asmis 1924, 10. Auch PA AA, Nachlass Rudolf Asmis, Tagebuch, 47. Asmis 1924, 10, 203, 211, 227. PA AA, Nachlass Rudolf Asmis, Tagebuch, 32, 63. Asmis 1924, 211. Asmis 1924, 10. Auch: PA AA, Nachlass Rudolf Asmis, Tagebuch, 43. Asmis 1924, 195. Auch PA AA, Nachlass Rudolf Asmis, Tagebuch, 23. Insgesamt verlor die klassische Territorialherrschaft über Afrika in Wirtschaftskreisen und der öffentlichen Meinung im Verlauf der 1920er-Jahre an Bedeutung. Dazu: Maß, 5152.
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Turkestan-Expeditionen
Auch der Barmer Bankverein äußerte ähnliche Überlegungen: „Es ist klar, dass unsere ehemaligen afrikanischen Kolonien wegen ihrer klimatischen Lage und im augenblicklichen Zustande keine größere deutsche Einwanderung zulassen und bis zu ihrer Rentabilität noch viele Milliarden hineingesteckt werden müssen. Doch bietet sich in Russland in Turkestan eine gute Gelegenheit. Das Land ist reich an Bodenschätzen, Gold, Silber, Kupfer, Blei, Naphta, Schwefel, Eisen und Kohle.“108 Bei den Entwürfen der Orient- oder Ostkolonisation galten vor allem die kulturellen und ökonomischen Werte des Deutschen Reiches als Erfolgsgarantien: „Welche Möglichkeiten aber – nicht nur im […] asiatischen Russland, sondern auch im übrigen Orient – für ein tüchtiges Geschlecht vorhanden sind, kann man sich kaum vorstellen, so riesig sind die Flächen unbebauten Ackerlandes, so ungeheuer die Mengen der ungehobenen Bodenschätze. Hier ein wachsames Auge haben, heißt Saaten in die deutsche Zukunft streuen.“109 ‚S CRAMBLE
FOR
T URKESTAN‘
Das theoretische Experimentierfeld für neue Konzeptionen deutscher Weltstellung bildete der internationale Konkurrenzkampf um Einflusssphären in Innerasien. Die infrastrukturelle Erschließung der pivot area durch Eisenbahnen verheiße Weltmacht.110 Aus deutscher Perspektive hatte der ‚Scramble for Turkestan‘ bereits während des Ersten Weltkriegs begonnen. Eine fremde Kontrolle von Zufahrtswegen, als Macht über Raum, war bereits gegen Kriegsende befürchtet worden: „Japaner und Amerikaner über die sibirische Bahn, die Engländer über Archangelsk sind sicher schon am Werk.“111 Während das Deutsche Reich die alten machtpolitischen Tendenzen Großbritannien unterstellte, könne die deutsche „Aufbauarbeit“ allen, die um Zentralasien konkurrierten, einen großen Gefallen erweisen. So nütze zum Beispiel der Bau der Semiretschiebahn und das davon abhängige Modernisierungsprogramm in wirtschaftlicher Hinsicht nicht nur der Sowjetunion, sondern auch China. Sogar den Engländern täte das Deutsche Reich den Gefallen, durch eine ökonomische Entwicklung Südturkestans das Unruhepotenzial an den Grenzen des Empires zu verringern.112 Als Kulturbringer und ‚Entwicklungshelfer‘ habe, laut Asmis, das Deutsche Reich gute Ausgangspositionen für verschiedene Zukunftsoptionen. Dass dann die Sowjetisierung Mittelasiens unter weitgehender Ausschaltung fremden Einflusses und somit der ungünstigste Fall für die deutsche Wirt108 109
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PA AA, R 86386, Barmer Bankverein,19.4.1926, 1. PA AA, R 84362, Dr. Alexander Markels & Byjk Petter, Die Frage der deutschen Kriegsgefangenen in Asiatisch-Turkestan in Verbindung mit der Kolonisierung des Turkestans, o.D., 15. PA AA, R 84362, Asmis, Das Projekt der Semiretschiebahn, o.D., 33. Hauner, 135164. Murphy 1992. PA AA, R 11074, Meyerkort, Die wirtschaftliche Bedeutung Russisch-Turkestans, 23.7.1919, 1. Z. B. PA AA, R 11074, Meyerkort, Die wirtschaftliche Bedeutung RussischTurkestans, 23.7.1919, 3. PA AA, R 84362, Asmis, Das Projekt der Semiretschiebahn, o.D., 33-34.
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Wirtschaftspioniere in Turkestan
schaft historische Realität werden sollte, war für ihn nicht absehbar gewesen. In den geopolitischen Planspielen der 1920er-Jahre standen zwei noch offene Möglichkeiten zur Disposition, in denen die einheimische Bevölkerung eine entscheidende Rolle spielte. Beide Optionen betrachteten die russische Mittelasienpolitik in der pivot area als ausschlaggebenden Faktor für die weitere Geschichte des gesamten Kontinents. Trotz Hoffnungen auf ein postkoloniales Zeitalter, interpretierten Asmis und deutsche Beobachter die sowjetische Stellung auch als neue Form des Imperialismus. Obwohl die sowjetische Politik nur einen Teil des Kontinents beträfe, bezöge sie ganz Asien mit ein: „Politische Probleme in RussischTurkestan berühren unmittelbar den gewaltigen chinesischen Mittelblock des asiatischen Kontinents, greifen über nach Indien und seinen Nachbarländern und stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit Vorgängen im Nahen Orient. Russlands und Englands Asien-Interessen in ihrer Gesamtheit stehen sich hier gegenüber, und die neue Macht der bolschewistischen Idee strahlt von hier aus über alle Völker des Ostens. Russisch-Mittelasien und der Ferne Osten sind die beiden Arme einer Klammer, mit der die Idee des Bolschewismus als Trägerin und Vorkämpferin des neuen russischen Imperialismus den ganzen Kontinent gepackt hält.“113 Die erste Option entwarf eine Zukunft, in welcher der sowjetischen Macht eine „Aussöhnung mit dem Islam“ gelungen sei.114 Dann sei eine neue Politik der Gleichberechtigung ein „bestimmendes Element für die künftige Entwicklung des ganzen Kontinents geworden“. Auch wenn die sowjetische Regierung keine aktive Propaganda in den Nachbarländern Turkestans betreibe, werde die „bolschewistische Idee“, die von den asiatischen Völkern als ‚Befreiung‘ von der Kolonialherrschaft verstanden werde, weiterwirken. Dann „hat vielleicht die kritische Stunde für Englands Herrschaft in Indien geschlagen.“115 Die zweite Option ging einen Schritt weiter, zu einem von Russland unabhängigen Turkestan. Asmis schrieb dieser Möglichkeit eine noch größere Signalwirkung auf den asiatischen Kontinent zu. Die Selbstständigkeit aller Kolonialvölker Asiens führe laut Asmis weltweit zum Ende des Kolonialzeitalters. Die aufzubauenden freundschaftlichen Beziehungen zur einheimischen Bevölkerung galten als Unterpfand für diese Ära.116 G ESELLSCHAFTSENTWÜRFE Nicht nur der oben zitierte Artikel der Kölnischen Zeitung empfahl die Besiedelung Turkestans durch Deutsche. Der Plan, die deutschen Kriegsgefangenen aus Sibiriens Lagern in Turkestans Steppen anzusiedeln, beschrieb den Aufbau eines „neuen Deutschlands“ als postkoloniale Gesellschaftsutopie. Unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs zeichnete dieser Vorschlag einen organisatorischen Leitfaden der Kolonisierung Turkestans vor. Ziel war 113 114
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PA AA, R 84632, Asmis, Die politische Lage in Russisch-Asien, Juli 1923, 1-2. Asmis 1924, 232-233. Dazu auch: PA AA, R 86392, Bericht des Geheimen Regierungsrat Georg Cleinow über die politische Lage im früheren Generalgouvernement Turkestan Sommer 1928. PA AA, R 84632, Asmis, Die politische Lage in Russisch-Asien, Juli 1923, 36. PA AA, R 86392, Aufzeichnung, 15.10.1924, 1.
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Turkestan-Expeditionen
es, dass sich die Deutschen ein Areal erschlossen, in dem für „Wohnungs-, Kleidungs- und Nahrungsfragen die besten und leichtesten Bedingungen vorhanden sind und das mannigfaltige Bodenerzeugnisse liefert.“117 Landstriche westlich des Aral-Sees, am Ufer des Syr-Darya und das ganze Gebiet der Kirgisensteppe stünden zur Verfügung. Diese Pläne erinnern stark an das im Ersten Weltkrieg nicht erreichte Traumziel der deutschen Orientkampagnen: „Für Siedelungen kommen die weiten Flussgebiete und die Landstriche mit Lößboden in Betracht, die eine Vegetation zeigen, die nur in Indiens fruchtbaren Tälern ihresgleichen hat.“118 Die Migration sollte in mehreren Etappen erfolgen: Nachdem die Kolonisten ermittelt worden seien, müsste „aus der Zahl dieser zukünftigen Ansiedler“ derjenige Teil ausgewählt werden, der als „Pioniertrupp“ vorauszuschicken sei. Er habe eine vorläufige Infrastruktur für den Empfang des „nächsten Siedlertrupps“ zu schaffen – „und so immer fort, dass die ganze Kolonisation sich stufenweise ausbaut“.119 Die Identität des Pioniers erhielt hier eine soziale Dimension als Begründer der frontier-Gesellschaft, die in verschiedenen Entwicklungsschritten von der Agrarkolonie bis zur Industrie- und Handelsgesellschaft aufgebaut werden konnte. Der soziale Neuanfang in Turkestans Steppen basierte auf einer egalitären und in ihren Lebensbereichen verflochtenen Gemeinschaft aus Deutschen und Kirgisen. Eine gemeinsame Wanderung wie die großen Trecks im amerikanischen Westen, hier zusammen mit den Karawanen der Kirgisen, sollte die deutschen Neuankömmlinge in ihr Siedlungsgebiet bringen. Tauschgeschäfte mit der einheimischen Bevölkerung ermöglichten es den Siedlern, grundlegende Güter wie Getreide, Baumwolle und Nutztiere für den Ackerbau als Grundlagen für den ‚Fortschritt‘ zu erwerben. Eigene Häuser aus „sonnengetrockneten Lehmziegeln und Rohr“ könnten „auf die dort übliche Weise in kurzer Zeit erbaut“ werden. Bis dahin böten die Kirgisenjurten vorläufig einen geeigneten Unterschlupf.120 Zwar galt die deutsche Kolonie auch als Sprungbrett, um Einfluss im Wirtschaftsland der Zukunft zu sichern. Die einheimischen Kirgisen wurden zudem vielmehr als späte Erscheinung des Grenzland-Bewohners porträtiert, denn als Repräsentanten eines politisch unabhängigen und selbstbewussten Volkes. Trotz dieses nicht zu übersehenden Eurozentrismus und des machtpolitischen Kalküls lösten hybride Gemeinschaften das Ideal nationalstaatlich organisierter Gesellschaften ab. Die Pionier-Vision der Erschließung stellte
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PA AA, R 84362, Dr. Alexander Markels & Byjk Petter, Die Frage der deutschen Kriegsgefangenen in Asiatisch-Turkestan in Verbindung mit der Kolonisierung des Turkestans, o.D., 5. PA AA, R 84362, Dr. Alexander Markels & Byjk Petter, Die Frage der deutschen Kriegsgefangenen in Asiatisch-Turkestan in Verbindung mit der Kolonisierung des Turkestans, o.D., 7. PA AA, R 84362, Dr. Alexander Markels & Byjk Petter, Die Frage der deutschen Kriegsgefangenen in Asiatisch-Turkestan in Verbindung mit der Kolonisierung des Turkestans, o.D., 11. PA AA, R 84362, Dr. Alexander Markels & Byjk Petter, Die Frage der deutschen Kriegsgefangenen in Asiatisch-Turkestan in Verbindung mit der Kolonisierung des Turkestans, o.D., 8-10, Zitate ebendort.
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Wirtschaftspioniere in Turkestan
eine Blaupause für die soziale Organisationsform des postkolonialen Zeitalters vor.121 Turkestans eigenen Weg in die Zukunft glaubte 1926 der Kunsthistoriker Ernst Cohn-Wiener zu beobachten. Cohn-Wiener hatte sich nicht nur mit der Kunst Zentralasiens befasst, sondern auch die deutsche Botschaft in Moskau, das Auswärtige Amt und die deutschen Leser über die politische Lage in Turkestan informiert. Im Berliner Tagblatt beschrieb er unter dem Titel „Im Zuge zwischen Stadt Turkestan und dem Aralsee“ die mittelasiatische Gesellschaft als dritten Weg: „Orient begleitet uns. […] Es ist ein Rest Zentralasien im internationalen Waggon und eigentlich ein Symbol. Das Land entwickelt sich, erarbeitet sich tagtäglich neue Möglichkeiten ohne sich zu europäisieren.“ Die „Auflösung“ des Landes Turkestan in „Einzelrepubliken“ im Lauf der 1920er-Jahre bewertete Cohn-Wiener sehr optimistisch als Grenzziehung einer neuen ethnischen Geografie und als Umsetzung des „Selbstbestimmungsrechts der Völker“.122 Als Reaktion auf die Entstehung der zentralasiatischen Sowjetrepubliken historisierte der Kunsthistoriker den geografischen Raum des ‚alten‘ Turkestan. Damit waren positiv konnotierte Schilderungen des Fortschritts verbunden: Ingenieursexpeditionen bereiteten Bewässerungsarbeiten vor, das Land werde durch den Ausbau der Eisenbahn und der Fluglinien von Buchara bis an die afghanische Grenze infrastrukturell erschlossen. Mit dem Bahnhof von Neubuchara beschrieb Cohn-Wiener die sich abzeichnende neue soziale Ordnung Mittelasiens als eine Synthese aus altem Orient und europäischer Moderne, als eine Mischung aus ethnografischer Pittoreske und „Maschinenkultur“123: „Alle Völkerstämme des Ostens begegnen sich hier […]. Europäische Maschinen treffen ein, lange Dromedarkarawanen schleppen Baumwollsäcke und dazwischen packen sich Lastenträger, eine Art von menschlichen Kränen, ungeheure Zentnersäcke auf.“ Cohn-Wieners Einsicht, an der Schwelle zu einer neuen Epoche zu stehen, verabschiedete die Nostalgie zugunsten einer Hoffnung auf die Zukunft: „Aber dies ist schon Erinnerung – und wie wir weiterfahren, läßt uns die Sehnsucht nach dem Lande nicht los, das wir verlassen, und das Gefühl, einen Augenblick ins Herz der kommenden Welt gesehen zu haben.“ Das relativ positive Verständnis der sowjetischen Politik, das dem Möglichkeitsraum Turkestan zugrunde lag, geriet innerhalb Deutschlands auch in heftige Kritik. Die deutsche Zukunft in Turkestan war auch eine im politischideologischen Grenzland. Ein Artikel in der nationalkonservativen, völkisch orientierten Münchener Wirtschaftspolitischen Aufbau-Korrespondenz über Ostfragen und ihre Bedeutung für Deutschland griff diejenigen, welche die Zukunft der Sowjetunion als Weg in die Freiheit beurteilten, harsch an. Wirtschaftspioniere wie Rudolf Asmis wurden unter der Überschrift „Auswärtiges 121
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Ähnliche Wahrnehmung der Kirgisen durch den Hygieniker Karl-Heinz Zeiss: PA AA, R 86392, Heinz Zeiss, Zweiter Teil der Kulturberichte über meine 2. Kamelexpedition in Gouv. Uralsk vom 20.7.–2.10.1927. PA AA, R 86392, Zeitungsausschnitt, „Im Zuge zwischen Stadt Turkestan und dem Aralsee“, Berliner Tagblatt, 12.1.1926, alle wörtlichen Zitate, wenn nicht anders gekennzeichnet, aus diesem Artikel. Unterlagen zur Reise: PA AA, R 86392 Aufzeichnung, 15.10.1924. PA AA, R 86392, Heinz Zeiss, Zweiter Teil der Kulturberichte über meine 2. Kamelexpedition in Gouv. Uralsk vom 20.7.–2.10.1927, 1.
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Amt und Bolschewismus“ verdächtigt, die sowjetische Politik „weiß zu waschen“.124 Ein letzter deutscher Aufbruch nach Turkestan fand im Jahr 1928 statt. Die in den Wirtschafts- und Siedlungsprojekten theoretisch diskutierten alternativen Umgangsformen fanden in der Alai-Pamir-Expedition ein praktisches Experimentierfeld. In der vielschichtigen Erfolgsgeschichte dieser Expedition wurde Asmis’ postkoloniale Zukunftsutopie ein zeitlich begrenztes Handlungsfeld der Gegenwart.
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Wirtschaftspolitische Aufbau-Korrespondenz über Ostfragen und ihre Bedeutung für Deutschland, München, IV. Jahrgang, Nr. 1/2 12.1.1924.
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VI. Die Suche nach Neuland
1928 führte Willi Rickmers mit der Alai-Pamir-Expedition seine letzte große Forschungsreise in die Gebirgswelt Turkestans. Sie bedeutete nicht nur den individuellen Karrierehöhepunkt für den damals 55-jährigen Asienforscher. Die deutsch-sowjetische Forschungsreise, die von der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften und dem Deutschen und Österreichischen Alpenverein ausgerichtet worden war, galt zudem als einzigartige Erfolgsgeschichte der Weimarer Wissenschaft. Die soziokulturelle Relevanz der Forschungsreise lässt sich anhand ihrer Rezeptionswelle ablesen: Neben einer Flut von Presseartikeln, Zeitschriftenbeiträgen und den Reiseberichten der Teilnehmer fesselte der Kinofilm Pamir. Das Dach der Welt noch ein gutes Jahr nach der Rückkehr die Aufmerksamkeit von Zuschauern und Filmkritik. Expeditionen waren Medienereignisse, die unterschiedliche Rezeptionswellen und Interpretationen zur Folge haben konnten. Innerhalb des Abenteuerbooms der 1920er- und 1930er-Jahre ging diese Expedition deutlich eigene Wege. Dass verschiedene, teilweise auch widersprüchliche Erzählperspektiven in einer einzigen Forschungsreise angelegt waren, machte den spezifischen Reiz der Alai-Pamir-Expedition aus. Die unterschiedlichen Eindrücke, die diese Forschungsreise in der Öffentlichkeit der 1920er-Jahre hinterlassen hatte, lassen sich allein anhand der Reaktionen zum Film nachvollziehen.1 Während das Feuilleton der Zeitung Die Welt am Abend vor allem von der Ästhetik der Landschaftsaufnahmen beeindruckt war, betonte die Deutsche Tageszeitung die Spannung, die die Film-Handlung aufzubauen vermochte. Auch die Regungen, die der Film beim (rezensierenden) Zuschauer hervorrief, waren mehr als widersprüchlich. Die Zeitung Germania schwärmte davon, dass das Publikum „wie im Banne einer phantastisch großartigen Traumvision“ im Kinosessel säße. Die Deutsche Allgemeine Zeitung und das Spezialblatt Film-Kurier waren vielmehr von den gegenteiligen Möglichkeiten eines geradezu realitätsnahen „Miterlebens“ angetan, die der Film den Zuschauern angeboten habe.2 Nicht nur in Bezug auf Filmkritik und Filmwerbung waren die Reaktionen unterschiedlich. Auch die weiteren Publikationen zur Expedition, die teilweise aus der Feder der Teilnehmer stammten, gaben sich keine Mühe, eine einheitliche Interpretationslinie zu schaffen. Die Veröffentlichungen zur Forschungsreise ließen eine inhaltliche Offenheit zu und vermittelten Identifikationsangebote, die an diverse politische Lager und Segmente von Öffentlichkeit gerichtet waren. 1 2
Gandert 1997, 505-507. Archiv DAV 04.01.1965.0075 Filmplakat mit Presse-Stimmen.
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Turkestan-Expeditionen
Abbildung 1: Filmplakat Pamir. Das Dach der Welt
Quelle: Archiv DAV. Eine oder die Geschichte der Expedition ist demnach schwer zu erzählen. Die unterschiedlichen Blickwinkel, die den Publikationen des Expeditionsleiters und der beteiligten Wissenschaftler zugrunde lagen, öffnen verflochtene Erzählstränge eines synchronen Ablaufs. Die Perspektive einer reisenden und erzählenden Person, die zum Beispiel Bücher über die Forschungsreisen Wilhelm Filchners vermittelten, wurde in dieser Expedition zugunsten paralleler Handlungsstränge aufgebrochen. Konkret geht es um vier Erzählstränge: Organisationsgeschichtlich hinterfragte die internationale Ausrichtung der Un180
Suche nach Neuland
ternehmung die Stilisierung von Forschungsreisen als nationale Heldenepen. In einer Expeditionstheorie diskutierte Rickmers zeitgemäße Selbst- und Fremdentwürfe für eine postkoloniale Welt. Bezüglich der wissenschaftlichen Praxis erzählte die Forschungsreise die Geschichte einer ‚Rationalisierung‘ von Naturräumen, bezüglich der sozialen Gemeinschaft experimentierte sie mit alternativen Modellen, die zwischen Lebensreform und postkolonialer Gesellschaft standen. Zusätzlich zu den beschriebenen Expeditionsabläufen, die den Leiter und die einzelnen Wissenschaftler in nebeneinander verlaufenden Zeit-Räumen positionierten, bewegten sich auch die Beschreibungsstile zwischen anarchischer (Selbst-) Ironie und Ernsthaftigkeit. Die Sprache bediente sich mitunter militaristischer Anleihen, sodass zuweilen der bewährte „Feldzugscharakter“ von Expeditionen durchschimmerte.3 Diese Forschungsreise praktizierte nicht nur postkoloniale Formen europäischer Hegemonie, sondern definierte sich selbst explizit als ‚modern‘. Erstens wurde Moderne als Rationalisierungsprozess mit einer stark utopischen Dimension geschildert. Zweitens zeichnete sich vor allem der Expeditionsleiter Rickmers durch ein hohes Maß an Selbstreflexion aus. Drittens formte die bereits genannte, narrative Uneindeutigkeit einen wesentlichen Teil der Expeditionsrepräsentation. Dieser Verlust der sicheren Selbstbeschreibung sensibilisierte die Expeditionsteilnehmer im Gegenzug dafür, soziale und wissenschaftliche Konstruktionen als solche zu erkennen. Diese Analyse der Alai-Pamir-Expedition als postkoloniales Experiment kann sich nur auf die deutsche Seite beziehen. Für die Sowjetunion, die ihre Macht an der asiatischen Peripherie festigte, war diese Forschungsreise ein Mittel, um den imperialen Herrschaftsraum zu vermessen, zu klassifizieren und letztendlich zu kontrollieren.
1. Die Alai-Pamir-Expedition (1928) als internationale Kulturpolitik Die deutsch-sowjetische Alai-Pamir-Expedition (1928) war das Ergebnis einer Forschungspolitik, die Wissenschaft als Bestandteil der internationalen Kulturpolitik reorganisierte. Friedrich Schmidt-Ott, der erste Präsident der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, hatte Forschungsförderung als Gegenstand des nationalen Interesses konzipiert. Bereits 1919 hatte SchmidtOtt als mögliche Lösung der prekären außenpolitischen Situation auf die Tradition der deutschen Kulturnation verwiesen. Schmidt-Ott definierte in der Denkschrift „Die Kulturaufgaben und das Reich“ die deutsche Identität über kulturelle Werte.4 Die Besinnung auf Wissenschaft, Kunst und Literatur habe Deutschland auch „frühere Zeiten politischer Machtlosigkeit und innerer Zerrissenheit überdauern lassen, Zeiten, in denen Deutschland fast nur ein kultureller Begriff schien“.5 Eine vom Reich getragene Forschungsförderung sollte
3 4 5
Leutner 1995, 86-88. Kirchhoff 1999, 73. Marchand 1996, 263-266. Schmidt-Ott 1919, 449-450.
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Turkestan-Expeditionen
Deutschland auf wissenschaftlichem Gebiet diejenige Vorrangstellung zurückgeben, die auf anderen Wegen verwehrt schien.6 Dabei verweist das Prinzip der Internationalität in einer Zeit, als Expeditionen meist noch als nationale Angelegenheit betrachtet wurden, auf eine alternative Form der Forschungsreise: Als eine der wenigen weiteren internationalen Expeditionen organisierte zum Beispiel Sven Hedin die SinoSchwedische Expedition, die zwischen 1927 und 1935 Ostturkestan und die Mongolei erforschte.7 In den 1930er-Jahren leitete der Alpinist und Geologe Günter Oskar Dyhrenfurth internationale Expeditionen in den Himalaya. Bei der Alai-Pamir-Expedition war die Kooperation zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion ein großes Thema der Presse, von Vorträgen und des Expeditionsfilms. Nicht ohne Pathos wurde die Forschungsreise mit einem Blatt im „eng verschlungenen Ruhmeskranze der deutschen und russischen Wissenschaft“ verglichen. Keine Gelegenheit wurde ausgelassen, die „gemeinsame Arbeit der beiden großen Völker zu rühmen“.8 Dies bedeutete in einer Zeit, als internationale Forschungsreisen noch eine Seltenheit waren, eine Neujustierung des Funktionszusammenhangs von Expeditionen: Die Deutungsmuster von Nationalismus und Heroismus verloren dadurch ihre Überzeugungskraft, dass die Erschließung der ‚Wildnis‘ nicht mehr als rein nationale Geschichte geplant, praktiziert und erzählt werden konnte. D EUTSCH - RUSSISCHE A RBEITSGEMEINSCHAFT Die Wiederaufnahme der wissenschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion verstand Friedrich Schmidt-Ott als eine Möglichkeit, Deutschland aus der internationalen Isolation der Nachkriegsordnung zu befreien. Anknüpfen konnte er an eine langjährige Kontinuität der deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen und an das Netzwerk der 1913 gegründeten Gesellschaft zum Studium Russlands. Unter der Bezeichnung Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas hatte sie bereits nach dem Frieden von Brest-Litowsk ihre Arbeit als Organisation des internationalen Austausches wieder aufgenommen. Friedrich Schmidt-Ott übernahm 1920 nach dem Rücktritt des Prinzen Hatzfeld den Vorsitz.9 Die deutsch-russischen Verbindungen, die „vor dem Kriege […] ein Teil der Weltbeziehungen“ gewesen seien, waren nun „ziemlich die einzigen, auf die noch einige Hoffnung“ gesetzt werden dürfe.10 Während Deutschland 1925 noch vom internationalen Conseil de recherches ausgeschlossen war, wurde das Vertrauen auf die Sowjetunion nicht enttäuscht. Über die Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas erging an Schmidt-Ott und andere namhafte Wissenschaftler wie den Physiker Max Planck, den Hirnforscher Oskar Vogt und den Indologen Heinrich Lüders die Einladung zur zweihundertjährigen Jubiläumsfeier der Leningrader Akademie der Wissenschaften. Bereits in Leningrad vereinbarten Friedrich Schmidt-Ott und Nicolai Petro6 7 8
Schmidt-Ott 1919, 455-463. Marchand 1996, 267-273. Marsch 1994. Hedin 1943–1945 . Zeitungsauschnitt, „Empfang der Alai-Expedition in Bremen“, Weser-Zeitung, Morgen-Ausgabe, Donnerstag, 6. Dezember 1928. 9 Brentjes 1982. Grau 2000, 279 ff. 10 GhStA VI. HA NL Schmidt-Ott (D), Nr. 24, Bl. 17.
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witsch Gorbunow, der Direktor des Rates der Volkskommissare, die genaue Erforschung des Pamirgebietes in Angriff zu nehmen, und besprachen daneben eine langfristige wissenschaftliche Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen. Vor allem der Direktor des Preußischen Meteorologischen Instituts, Heinrich von Ficker, initiierte die Alai-Pamir-Expedition des Jahres 1928. Die Ausgestaltung dieser Forschungsreise und der anderen Forschungsprojekte erfolgte in Besprechungen zwischen Schmidt-Ott und Gorbunow.11 Mit der deutsch-russischen Arbeitsgemeinschaft institutionalisierte sich ein Netzwerk auf unterschiedlichen Ebenen. Der persönliche Austausch zwischen Wissenschaftlern wurde durch die so genannten Forscherwochen in Berlin 1927 gepflegt – eine Naturforscher- und eine Historikerwoche.12 Gemeinsame Interessen auf dem Gebiet der Archäologie und der Vor- und Frühgeschichte erlaubten eine deutsche Beteiligung an Ausgrabungen in Georgien und auf der Krim.13 Das Hirnforschungsinstitut in Moskau bot deutschen und sowjetischen Wissenschaftlern einen gemeinsamen Ort für rassenmedizinische und völkerpathologische Forschungen. Daraus resultierten Pläne eines gemeinsamen Transkaukasischen Rasseninstituts in Tiflis.14 Die geologische und tektonische Untersuchung Mittelasiens sowie geophysikalische Aufgaben in Turkestan wurden als gemeinsames Arbeitsgebiet definiert.15 Forschungsreisen dorthin, wie auch nach Ostasien und Sibirien, bildeten einen der Schwerpunkte der deutsch-russischen Arbeitsgemeinschaft.16 E XPEDITIONEN
ALS
G EMEINSCHAFTSAUFGABEN
Expeditionen und Ausgrabungen hatten im Förderkatalog der Notgemeinschaft ohnehin einen zentralen Stellenwert. Während die Notgemeinschaft Expeditionen in der Nachkriegs- und Inflationszeit aus finanziellen Gründen nur beschränkt unterstützt hatte, bildeten nach der Festigung der deutschen Währung Forschungsreisen in das außereuropäische Ausland einen Förderschwerpunkt.17 Ab Mitte der 1920er-Jahre war der Radius der deutschen Wissenschaft ein weltweiter. Die limnologische Expedition unter August Thienemann erforschte in Java und Sumatra die tropischen Gewässer und schuf Vergleichsmöglichkeiten für die Binnenseeforschung. Während Karl Trolls Andenexpedition 1926–1929 nach Bolivien standen pflanzen- und landwirtschaftsgeografische Untersuchungen auf dem Programm. Emil Trinklers Zentralasien-Expedition durchreiste „auf den Spuren Sven Hedins“ 1927/1928 das Tarimbecken und die Takla-Mahan-Wüste in Mittelasien; Walter Stötzner durchquerte 1927–1928 die „Urwaldgebiete“ der nördlichen Mandschurei. Die Ausgrabungen in Pergamon, in Ephesus und in Ägypten an 11 BArch R 73/30, Bl. 97-Bl. 101. Schenk, 3-66. 12 GhStA VI. HA NL Schmidt-Ott (D), Nr. 47, Bl. 77. BArch R 73/215, Bl. 207-Bl. 215. 13 GhStA VI. HA NL Schmidt-Ott (D), Nr. 44, Bl. 28-Bl. 30, 83-84, 112-113, 116-117, 142-143, 150-156. BArch R 73/225, Bl. 67-Bl .69. Heuss 2002, 545-555. 14 BArch R 73/30, Bl. 104. BArch R 73/225, Bl. 3-Bl. 7. 15 BArch R 73/224, Bl. 295-Bl. 314. 16 GhStA VI. HA NL Schmidt-Ott (D), Nr. 47, Bl. 77-Bl. 79. 17 Zu den Expeditionen: Deutsche Forschung. Aus der Arbeit der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, Heft 13. Reisen und Ausgrabungen, Berlin 1930.
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der Cheopspyramide wurden von der Notgemeinschaft unterstützt. Dieser Zugang zu den außereuropäischen ‚Welt-Räumen‘ stand unter scheinbar apolitischen Vorzeichen, der „gesamten Menschheit zu nützen“ [Hervorhebung im Original]. Trotz universalistischer Ziele lag es der Notgemeinschaft auch daran, durch Expeditionen und Ausgrabungen Deutschlands Identität als global agierende Kulturnation und das Ansehen deutscher Forschung zu bestätigen.18 Besonders prestigeträchtige und nach interdisziplinären Fragen arbeitende Expeditionen fielen unter den Bereich der so genannten Gemeinschaftsaufgaben. Ab 1926 war der Notgemeinschaft vom Reich ein jährlicher Sonderfonds in Höhe von drei Millionen Reichsmark für „Gemeinschaftsaufgaben auf dem Gebiet der nationalen Wirtschaft, der Volksgesundheit und des Volkswohls“ bewilligt worden. Mit den Projektinitiativen der Gemeinschaftsaufgaben gestaltete die Notgemeinschaft aktiv die Forschungslandschaft. Neben der Fahrt des Vermessungsschiffes „Meteor“ im Atlantik (1925/1925) und den Grönland-Expeditionen Alfred Wegeners (1930/1931) hatte die deutsch-sowjetische Alai-Pamir-Expedition als eines der Großforschungsprojekte im Expeditionsbereich aufgrund ihrer Medienwirksamkeit die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Notgemeinschaft gezogen.19 D IE G ESCHICHTE
DER
E XPEDITION
Die Alai-Pamir-Expedition stellte die Fortsetzung der Turkestan-Fahrt des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins (1913) dar. Der 1928 zu vermessende Transalai und Seltau schloss an die bereits 1913 kartierte „Kette Peters des Großen“ an. Als Hauptaufgaben der Nachkriegsexpedition „wurde die genaue topographische und geologische Erforschung der genannten Gebirge“ festgelegt.20 Neben der Kartografie waren als weitere Disziplinen noch die Geologie, Meteorologie, Botanik, Zoologie, Ethnologie und Sprachwissenschaft sowie der Bergsteigertrupp des Alpenvereins und die Filmleute der sowjetischen Meschrabpom, Vladimir Schneideroff und Elias Toltschan, an der Expedition beteiligt. Die gut 40 deutschen, österreichischen und sowjetischen Teilnehmer wurden je nach Disziplin und Aufgabe zehn wissenschaftlichen Abteilungen zugewiesen.21 Aufgrund seiner Verpflichtungen in Berlin konnte Heinrich von Ficker, der bereits auf der Alpenvereinsexpedition von 1913 geophysikalisch und meteorologisch gearbeitet hatte, an der Forschungsreise 1928 nicht teilneh18 BArch R 73/30, Bl. 56-Bl. 60. 19 Treue 1999, 232-233. Hammerstein 1999, 44-49. Kirchhoff 1999, 71-72. 20 Deutsche Forschung, 1929, 5-18. Beteiligt waren an der Expedition von 1913 neben Willi und Mabel Rickmers Wilhelm Deimler (Mathematiker der TU-München, Landesvermessung), Raimund von Klebelsberg (Geologie), Heinrich von Ficker (Geophysik und Meteorologie), Rudolf Kaltenbach (Zoologie) und seine Frau (Landschaftsmalerei) sowie Erich Kuhlmann (Fotografie). Rickmers 1914, 1-51. 21 Die Abteilungen waren eine topografisch-geodätische Abteilung, eine meteorologisch-geophysikalische Abteilung, eine geologisch-mineralogische Abteilung, eine für Zoologie, Biologie und Botanik, eine ethnologische Abteilung, eine RadioAbteilung, eine Kino-Abteilung und eine für Höhenbergsteigen; Archiv DAV, 04.11.1999.0010.
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men. Auf von Fickers Vorschlag wurde Willi Rickmers zum Leiter der deutschen Abteilung bestimmt. Die Aufsicht über das gesamte Projekt übernahm Nicolai Petrowitsch Gorbunow mit dem russischen Geologen Dmitri Iwanowitsch Schtscherbakow als Vertreter und Leiter der sowjetischen Abteilung.22 Von deutscher Seite wurden neben dem Leiter Rickmers zehn weitere Teilnehmer ausgewählt: Die topografischen Aufnahmen und glaziologischen Untersuchungen übernahmen Richard Finsterwalder und sein Assistent Hans Biersack; die Orientalische Kommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften schickte den wissenschaftlichen Assistenten Wolfgang Lentz zum Zweck der Sprachstudien in die Täler des Pamirs. Lentz war Iranist, der in Berlin an den Turfan-Sammlungen arbeitete.23 Ludwig Nöth führte die geologischen Untersuchungen durch. Auf Wunsch von Professor Oskar Vogt, dem Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung, nahm Wilhelm Reinig als Zoologe teil. Er sollte Genstudien an Hummelpopulationen durchführen. Die Bergsteiger des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins leitete der Dritte Vorsitzende, Philipp Borchers. Ihn begleiteten Eugen Allwein, Erwin Schneider und Karl Wien. Der öffentlichen Anziehungskraft von Expeditionen war auch eine stattliche Anzahl von unwillkommenen Freiwilligen verfallen, die auf eigene Kosten mit in den Pamir fahren wollten. Unter diesen Anfragen wurde nur das Gesuch von Dr. Kohlhaupt berücksichtigt, der neben Eugen Allwein als zweiter Arzt arbeiten und dazu bergsteigen konnte. Am 11. Mai 1928 schiffte sich die deutsche Abteilung von Stettin aus auf dem Dampfer „Preußen“ über die Ostsee nach Leningrad ein. Nach den Tagen in Leningrad und Moskau brach die Expeditionsmannschaft über einen Zwischenstopp in Taschkent zum Karawanenort Osch in der Kirgisischen Sowjetrepublik auf. Von diesem Startpunkt der Expedition ausgehend setzte sich ein stattlicher Tross in Bewegung, bestehend aus „65 Mann mit 160 Pferden und 60 Kamelen“.24 Zwischen Juni und November 1928 sollte die Expedition das Hochgebirgsland Pamir bis an Afghanistans und Chinas Grenzen vermessen – und seine Natur- und Kulturräume in das Koordinatensystem der europäischen Wissenschaft integrieren. D IE
DEUTSCHE
B EGEGNUNG
MIT DER
S OWJETUNION
Über die offizielle Seite des Aufenthaltes in Moskau und Leningrad im Vorfeld der Expedition äußerte die deutsche Mannschaft überschwängliche Begeisterung, wobei sie vor allem vom Entgegenkommen der sowjetischen Behörden und dem warmherzigen Willkommen durch ihre Expeditionskollegen schwärmte.25 Festliche Empfänge und letzte Besprechungen in der Akademie der Wissenschaften in Leningrad, der Besuch wissenschaftlicher Institute, ein 22 Zum Verlauf der Expedition: Deutsche Forschung, 1929, 19-60. 23 Umfangreiche Unterlagen zu Lentz finden sich im Archiv der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften: Zentrales Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR, Historische Abteilung, Abschnitt II: Akten der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1812–1945, Personalia, Wolfgang Lentz, II–IV, 119. 24 Deutsche Forschung, 1929, 32. 25 Borchers 1931, 12.
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Empfang beim Botschafter Brockdorff-Rantzau in Moskau sowie eine weitere offizielle deutsch-russische Sitzung im Haus der Gelehrten inszenierten die kulturpolitische Bedeutung der Expedition. Reisefilm-Vorführungen über die Erforschung und Erschließung des sowjetischen Raums demonstrierten den deutschen Teilnehmern den Fortschritt der Wissenschaft. Die offiziellen Festakte ergänzte ein von russischer Seite zusammengestelltes Kultur- und Freizeitprogramm: Führungen durch die Eremitage, Besichtigungen des Kremls, des Hauses der Roten Armee, von Lenins Grab sowie auch Stippvisiten zu Orten der volkstümlichen Unterhaltung – wie Cabarets – brachten den deutschen Wissenschaftlern das postzaristische Russland näher.26 Die privaten Einschätzungen des ‚neuen Russland‘ fielen jedoch sehr unterschiedlich aus. Bereits während der Hinreise auf dem Schiff hatte Rickmers seine gespannte Erwartung ausgedrückt, wie es denn „im lieben alten Rußland“ nun aussehen werde.27 Während Rickmers die Sowjetunion als das Reich der Sachlichkeit und der sozialen Gleichheit idealisierte, standen die Bergsteiger Borchers und Wien dem Staat und der Gesellschaft äußerst skeptisch gegenüber. Ihre grundsätzliche Ablehnung der Sowjetunion war jedoch mit einer Bewunderung für das politische System verbunden, wie Borchers in der Rückschau festhielt: „Dies hat sich mir besonders eingehämmert: Der Bolschewismus ist nicht westeuropäische Parteienfarce, sondern Religion […]. Das mag einem kapitalistischen Westeuropa nicht Musik in den Ohren sein, so sehr es Anlaß hätte, mit diesen Tatsachen zu rechnen. […] Ich habe, und ebenso meine gleichgesinnten Kameraden, nie ein Hehl daraus gemacht, daß meine politische Überzeugung und mein kirchlicher Glaube dem Bolschewismus diametral gegenüberstehen. […] Aber wir sollten ja gar nicht bekehrt werden, und andererseits die Weltanschauung der russischen Expeditionsteilnehmer oder gar die amtliche russische Innenpolitik ging uns wirklich nichts an. […] Jeder hatte nur das Expeditionsziel im Auge, jeder förderte es nach bestem Wollen und Können.“28 Die Ankunft in Leningrad relativierte erst einmal Rickmers’ zu hoch gesteckte Erwartungshaltung, im nachrevolutionären Russland einem vollkommenen Neuanfang zu begegnen: „Wer da glaubt, ein völlig verändertes Stadtbild anzutreffen, der sieht sich getäuscht. Eine politische und wirtschaftliche Umwälzung ist eben kein Erdbeben.“29 Karl Wien begegnete in Leningrad, wobei er dem vorrevolutionären Stadtnamen Petersburg verhaftet blieb, einem letzten Überrest der verfallenden, bürgerlichen Welt vor dem Ersten Weltkrieg: „Man hat den Eindruck, als sei alles noch auf dem Stand von 1914. Wenige uralte Autos, viele Droschken und Pferde, ganz wenig Eleganz […]. Das alte Holzpflaster hat sich noch überall erhalten […]. Die Fassaden der Häuser sind fast durchwegs zerfallen.“30 Die sowjetische Ära und die nachrevolutionäre Zeit waren in Leningrad eher unterschwellig sichtbar. Neue Namen wie „Kooperativ“ für Läden und die Verstaatlichung von Hotelbetrieben ließen Rückschlüsse auf die neuen 26 Archiv DAV, Nachlass Karl Wien, Schachtel Nr. 5, 5.2, Pamirexpedition 1928, Tagebuch-Aufzeichnungen, 2-5. Rickmers 1930a, 16-21, Borchers 1931, 12-14. 27 Rickmers 1930a, 11. 28 Borchers 1931, 14. 29 Rickmers 1930a, 16. 30 Archiv DAV, Nachlass Karl Wien, Schachtel Nr. 5, Tagebuch, 2.
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Sozial- und Wirtschaftsformen zu. Einen Einblick in die als ‚Fortschritt‘ codierten Veränderungen erlebte Rickmers anhand der regen Expeditionstätigkeit der Akademie der Wissenschaften, die eine Vielzahl eigener Ausschüsse für Forschungsreisen unterhielt und auch touristisch angehauchte „Wanderfahrten“ in den Kaukasus oder Sibirien anbot. Wer jedoch den Unterschied „zwischen altem und neuem Russland raumverdichtet ermessen will“, der müsse – nach Rickmers’ Aussage – „für einige Stunden […] eines der großen Bücherlager, die man kaum noch Läden nennen kann“ besuchen: „Die Bände erzählen vom Fortschritt. […] Eine lesehungrige Flut strebt danach, die letzte Mauer auszuebnen, die noch in der Bildung aufgerichtet stand.“31 Lenins Grabmal in Moskau neben dem Kreml sowie Ortsbezeichnungen wie „Platz der Roten Revolution“ oder ein nun leerer Denkmalsockel, „auf dem vor kurzem ein noch nichts Böses ahnender Alexander aus Bronze stand“, machten im öffentlichen Raum die „Geburt einer neuen Welt“ sichtbar.32 Während Rickmers in diesen inszenierten Räumen Gefühle der Ergriffenheit überkamen, überwog für Karl Wien die Skepsis: „Dann fuhr man uns ins Museum der Roten Armee. Ein Propagandainstitut mit vielen Bildern, Reliquien. Sehr geschickte Propaganda, aber als Museum.“33 Im Gegensatz zu Leningrad, der „einstigen Zarenstadt mit dem westlichen Antlitz“, erschien Moskau als „echter Osten“.34 Die Stadtsilhouette von der Moskwa aus betrachtet wirkte zusätzlich auf die deutschen Wissenschaftler wie eine Synthese aus dem Westen, einem Vorgeschmack auf den noch zu bereisenden Orient und einem schwer verortbaren Mittelalter.35 Trotz individueller Perspektiven deckte sich die gemeinsame Einschätzung, dass die gesamte Sowjetunion ein hybrider Raum sei, zwischen Fortschritt und zeitlichem Stillstand, zwischen Westen und Osten beziehungsweise Orient. Auf der anschließenden Bahnreise zum Expeditionsgebiet durchquerte die Mannschaft den sowjetischen Raum. Die geografische Frage, wo denn nun innerhalb der Sowjetunion Europa genau aufhöre und der orientalische Teil anfange, stellte sich auf der Eisenbahnfahrt. Trotz der festgelegten Verwaltungseinheiten und der Definition „vom Uralfluß und Uralgebirge“ als Grenze innerhalb Eurasiens thematisierte die Reisepublizistik den Grenzübertritt als Übergang in einen anderen Erfahrungsraum.36 Das Warten auf die Grenze bedeutete eine Art der Selbstversicherung, zum europäischen Kulturkreis zu gehören, gerade weil Grenzübergänge den Konstruktionscharakter von Räumen verdichten. So nimmt es nicht Wunder, dass sowohl Konventionen als auch Vieldeutigkeiten und nicht zuletzt die wahrnehmbare Komponente der Grenzüberschreitung die deutsche Abteilung im Zug beschäftigten. Als eine Alternative zur Schulweisheit der Uralgrenze erschien „die gewaltige Wolga bei Samara“. Im Westen des Flusses gäbe es „grüne Wälder und regengesegnete Felder“, dort lebe eine „rein russische Bevölkerung“. Östlich des Flusses trete „die Steppe stärker hervor, Kirgisen mit Jurten und Kame-
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Rickmers 1930a, 16-19. Rickmers 1930a, 21. Archiv DAV, Nachlass Karl Wien, Schachtel Nr. 5, Tagebuch, 5-6. Borchers 1931, 13. Archiv DAV, Nachlass Karl Wien, Schachtel Nr. 5, Tagebuch, 5. Lentz 1931, 25. Lentz 1931, 27.
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len“.37 Die Landschaft östlich der Wolga wurde zwar als ‚asiatisch‘ beschrieben, doch erst in Taschkent und Samarkand fand die deutsche Abteilung Anzeichen der Stimmungslandschaft ‚Orient‘.38 Grenzüberschreitungen machten sich auch an einer veränderten Zeitwahrnehmung bemerkbar. Nicht nur bei ‚Entdeckungsreisen‘ während des Zeitalters des Zarenreichs, sondern auch noch in der sowjetischen Ära erlebten Borchers, Wien und Rickmers die Entfernung von städtischen Zentren als ‚Entschleunigung‘. Für Karl Wien begann Asien dort, „wo man die Stunde als kleinste Zeiteinheit zu benützen anfängt“.39 Da in den Städten Mittelasiens, wie in Taschkent, ‚Fortschritt‘ und ‚Rationalität‘ Einzug gehalten hatten, konnte der Pamir durch eine bestimmte Strategie als Neuland – innerhalb und doch auch jenseits – der Sowjetunion verstanden werden: Er wurde als Ort des Irrationalen beschrieben. Statt vom exakten geografischen Wissen und der ‚Landeskennerschaft‘ des europäischen Wissenschaftlers sei die Geografie des Pamirs immer noch von „mündlich überlieferten Natur- und Räubergeschichten“ und somit einer mythischen und abenteuerorientierten Weltbeschreibung geprägt, wie der Leiter Willi Rickmers beim Warten auf das Gepäck in Osch erfahren sollte: „Ein freundlicher, hilfsbereiter Briefeschreiber hatte keine Ahnung vom Dasein des Sees Karakul, und warnte mich vor Tigern […]. In einem Berliner Blatt las ich den Bericht eines russischen Forschers über Turkestan. Da fiebert das Grausen in einer Landschaft, die sich aus den Gebirgen von Darwas und den Sandwüsten Turkmeniens zusammensetzt, zugleich die Pflanzen, Tiere und Menschen beider Lebensräume vereinigend. So weit hat es Turkestan mit dem Nebeneinander von Gegenpolen indes noch nicht gebracht.“40 Erforschung bedeutete, die irrationalen Geschichten durch eine rationale Landesbeschreibung abzulösen. Dabei zeigten sich in der veränderten Aneignungsstrategie der erforschten Natur im Expeditionsgebiet erste Risse der typischen Heldensaga mit offensichtlich nationalistischen Implikationen, die zum Beispiel in den Himalaya-Expeditionen der 1930er-Jahre fortgeschrieben wurden. Nicht mehr einzelne Forscherpersönlichkeiten oder ihr Souverän dienten als Taufpaten der neu vermessenen Landschaftsformen im Pamir. Stattdessen wurde die deutsch-sowjetische Kooperation als solche im Hochgebirge verewigt: „Dieser erste große Gletscher unseres gemeinsamen Hauptarbeitsgebietes wurde […] russischerseits ‚Notgemeinschaftsgletscher‘ genannt, eine Höflichkeit, die wir Deutschen durch einen ‚Akademiegletscher‘ erwiderten.“ In den einzelnen Namen blieb zwar das Streben nach nationalem Prestige präsent, gemeinsam verwiesen sie jedoch auf eine alternative Benennungspraxis, deren Bezugspunkt die internationale Zusammenarbeit war.41
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Borchers 1931, 15-16. Lentz 1931, 28-34. Archiv DAV, Nachlass Karl Wien, Schachtel Nr. 5, Tagebuch, 7. Rickmers 1930a, 34. Borchers 1931, 100. Zum Wechselverhältnis von Nationalismen und internationaler Verbundenheit innerhalb „geteilter Geschichten“ Conrad, Randeria 2002, 17-22.
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2. Expeditionen und Moderne E XPEDITIONSTHEORIE Um ein Forschungsprojekt vom Umfang der Alai-Pamir-Expedition handhaben zu können, hatte Rickmers eine Art „Organisationsleitfaden“ 42 verfasst. Rickmers beschrieb die Alai-Expedition als Übergangsphänomen. Er verortete sie an der Epochenschwelle zwischen Entdeckungs- und Bearbeitungsreise: „Die Welt ist heute entdeckt, dass heisst in groben Zügen überall bekannt. Mit kühnen Entwürfen ists nicht mehr getan. Jetzt muß das Mosaik zwischen den Umrissen ausgefüllt werden. An die Stelle des Forschers tritt der Untersucher, an die Stelle des Auges das Instrument, an die Stelle des Erzählers der Vermesser und Statistiker.“43 Seine expeditionstheoretischen Ausführungen hatte er in seinem Reisebericht „Alai! Alai!“ niedergeschrieben sowie in einigen Vorträgen popularisiert. In seinem Nachlass finden sich Unterlagen, die anhand der Alai-Pamir-Expedition die steigende Bedeutung der „Reisekunst“ reflektierten – der Logistik, der Planung und des Managements von wissenschaftlichen Reisen. Rickmers überdachte nicht nur Forschungsreisen, sondern lieferte darüber hinaus eine scharfsinnige Zeitdiagnose.44 In seiner Reisephilosophie reflektierte Rickmers die eigene Gegenwart als neue Zeit. Er wurde nicht müde zu betonen, wie wegweisend die AlaiPamir-Expedition sei, die er als wissenschaftliche Avantgarde schilderte.45 Modern zu sein, war – im Gegensatz zu seinen nostalgischen Einschätzungen – Rickmers’ neue Form der Selbstbeschreibung. Während ‚Moderne‘ in anderen Reiseberichten und Presseartikeln meist über Zeitkonzepte fassbar wurde, verwendete Rickmers explizit das Wort „modern“. 46 Er grenzte sich, seine Zeit und die Alai-Pamir-Expedition scharf von der Vergangenheit ab, er beschrieb die Gegenwart als Zeit des Neuartigen und wagte Zukunftsprognosen. Rickmers beobachtete bestimmte Prozesse, die als Bestandteile und Begleiter von ‚Modernisierung‘ verstanden werden können, wie Verwissenschaftlichung, Rationalisierung, Technisierung und das Streben nach universaler Planung. Dieser rationalen Einschätzung zum Trotz beschrieb er in seinem Reisebericht die erlebte Gegenwart als Zeit der Uneindeutigkeit und Zersplitterung von Wahrnehmung, wobei gerade dieser Subjektivismus eine Stabilität der (Selbst-)Verortung garantiere: „Der Leser wird den Bericht jetzt etwas unübersichtlich finden. Nun, es ist mir damals im Erleben genau so gegangen; und ich erzähle hier, wie ich erlebte. Mache sich der Leser nur keine unnöti42 Auch in Rezensionen zum Reisebericht wurde das Kapitel „Plan und Ergebnis“ als „strategischer Operationsplan“ verstanden, vgl. Archiv DAV, 04.01.1965.0047. 43 Archiv DAV, 04.01.1965.0943, 3 und 04.01.1965.0939, 15. 44 Rickmers 1930a, 225-257. Archiv DAV, 04.01.1965.0004, 04.01.1965.0939, Archiv DAV, 04.01.1965, Zeitungsausschnitt, „Rickmers spricht. Plan, Weg und Ergebnis der Alai-Pamir-Expedition“, Münchner Neueste Nachrichten, Nr. 78, Freitag, 19.4.1929. Unterlagen zur „Reisekunst“: Archiv DAV, 04.01.1965.2241, 2242, 2244, 2251, 2256, 2259, 2263. 45 Zum Folgenden: Rickmers 1930a, 225-257. 46 Z. B. Rickmers 1930a, 239.
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gen Sorgen, und strenge er sich nicht an, um Menschen, Orte und Zeiten fest im Auge zu behalten. Alles, alles wird sich klären. Der Überblick liegt in den Ergebnissen, in der allgemeinen Landesschilderung und vor allem in der Karte. Tagebuch heißt Trubel und Bodensatz. Ein Gewimmel läßt sich naturgetreu nur als Gewimmel darstellen. Die Einteilung nach Mitarbeitern oder Gruppen ergäbe Zerstreuung der Orte; die Einteilung nach Orten ergäbe das Überschneiden vieler Besucher desselben Ortes. Der Bericht würde noch länger und umständlicher, ohne an Klarheit zu gewinnen. Schließlich ist so ein Tagebuch auch eine durchaus strenge Ordnung, nämlich der Folge der Geschehnisse, ermessen an mir als dem Bezugskörper, auf den sie wirken. Kann man sich eine bessere Einheit des Ortes und der Zeit wünschen?“47 Als Handlungsfelder der modernen Welt nannte Rickmers Wirtschaft, Politik, Individualität und Wissenschaft als Ordnungsinstrument. Gerade in der Erdkunde, die seit den 1890er-Jahren nach globalen Einteilungsrastern suchte, hatten sich in Rickmers’ Einschätzung die Exaktheit und Akribie ihrer Annäherung an den Erdball verschärft: „Um sich herum dehnt sich die Länderbeschreibung in gewaltigem Umfange zur Länderbeschriftung aus, indem alle Wissenschaften ihre Ergebnisse weltmäßig zu ordnen und auf die Karte zu schreiben trachten.“48 Seine Expeditionstheorie durchzog ferner eine Sprache der Dynamik: „Übergang“, „Umwälzung“, „Bewegung“ und „Wachstum“ kennzeichneten seine eigene Gegenwart.49 Ein Bewusstsein von Modernität prägte auch Rickmers Konzeption der Alai-Pamir-Expedition. Er beschrieb sie als Prototyp und als absolut neuartige Form von Forschungsreise. In der Alai-Pamir-Expedition liege „die Vorahnung eines geschichtlichen Verlaufs, dessen Ziel natürlich und denkrecht in den erdkundlichen Fortschritt eingeht“.50 Bereits auf dem Papier betonte Rickmers den großen Stellenwert, den die Technik innerhalb der modernen Forschung habe und haben werde: „Der Gewinn von Meßwerten wird immer mehr zur Facharbeit, die verzwicktes Feingerät und langen Lehrgang am Gerät erfordert. Der alte Reisende durfte sich mit leichteren Nachahmungen der Standgeräte des Laboratoriums und der Sternwarte behelfen. Das geht heute nicht mehr […] die Natur gibt ihre Werte nur noch an Hochdruckpressen und Zentrifugen ab.“51 Rickmers konzipierte nicht nur die Alai-Pamir-Expedition als zukunftsträchtiges Leitbild für Forschungsreisen; er entwarf darüber hinaus eine wissenschaftliche Laborsituation im Pamir. Aus der Perspektive der Zukunft stellte Rickmers sogar fest, dass auch die neue Form von Expeditionen, die mit der Forschungsreise in den Pamir erprobt werde, „einmal altmodisch werden“ wird, da Forschungsstationen die „Großexpeditionen“ ablösen würden: „Klar enthüllt sich die Zukunft. Der Wissenschaftler wird mit einem Handköfferchen an die Orte pilgern, wo die Gegenstände in der natürlichen Umwelt liegen“.52 Im Laboratorium ‚Natur‘ ersetzte eine exakte Vermessungsarbeit durch moderne Geräte die Naturbeschreibung durch Beobachtung. Technik war für Rickmers und seine Expeditionsmannschaft eine 47 48 49 50 51 52
Rickmers 1930a, 70-71. Rickmers 1930a, 236. Rickmers 1930a, 234-236. Rickmers 1930a, 241. Rickmers 1930a, 238. Rickmers 1930a, 243.
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grundlegende Voraussetzung zur wissenschaftlichen Arbeit und ein Kennzeichen der eigenen Gegenwart als Moderne.53 D EKONSTRUKTION
DER
E NTDECKUNGSREISE
Rickmers Expeditionstheorie war von einem Bewusstsein für den gesamten Globus geprägt. Dass im globalen Raum nach dem Ersten Weltkrieg Europa als wirtschaftliche, politische und ideologische Weltmacht abgedankt habe, hatte auch Colin Ross in mehreren Reisebüchern popularisiert. Nicht nur ideologisch, sondern auch in der wissenschaftlichen und sozialen Praxis müsse Europa einen neuen Umgang mit der außereuropäischen Welt finden.54 Rickmers’ „Reisephilosophie“ formulierte dazu Vorschläge. Rickmers stellte fest, dass die Welt durch Forschungsreisen und die daran anknüpfende Erschließungstätigkeit praktisch bis fast in den letzten Winkel bekannt sei. Vor dem Hintergrund, dass der Erdball auch durch die Kommunikation, durch wirtschaftliche Verbindungen und durch Verkehrsmittel zu schrumpfen und zusammenzuwachsen schien, dekonstruierte seine Expeditionstheorie nicht nur Entdeckungsreisen, sondern auch drei langlebige Inszenierungsformen von europäischer Macht und Deutungshoheit. Rickmers kritisierte die hegemoniale Erfassung von Forschungsräumen und den Abtransport von Gegenständen in europäische Museen, er stellte darüber hinaus den Begegnungsrahmen des first contact sowie Abenteuererzählungen als geeignete Repräsentationsformen von Wissenschaft im 20. Jahrhundert infrage. Die internationale Ausrichtung der Alai-Pamir-Expedition beschrieb Rickmers’ „Reisephilosophie“ als Verbindung zwischen „Fremdlandforschung“ der „westlichen“ und „Heimatforschung“ der „östlichen“ Kulturvölker. Russland, Japan und China „wollten nicht mehr bloßer Gegenstand ausländischer Gelehrter bleiben […]. Ferner sehen sie nicht ein, warum ihre Altertümer oder volkskundlichen Seltenheiten nur in fremde Sammlungen wandern sollten. […] Daher meldet sich überall die Selbstachtung mit dem Rufe: Keine Fremdlandforschung der anderen ohne unseren tätigen Anteil als Heimatforscher.“55 Geleitet von einer Einsicht, dass die Natur- und Kulturgüter der Erde allen gehören sollten, verurteilte Rickmers die westeuropäischen Aneignungsstrategien des 19. Jahrhunderts: „Wenn ich mir sage, daß die Akropolis ein Weltschatz ist, dann befreie ich mich von dem Wahn, daß sie nur in London mein Eigentum wird.“ Die „Museumsschlepperei“ und „Sammelgier“ verabschiedete Rickmers als Forschungspraktiken eines bereits moralisch anachronistisch werdenden Überlegenheitsgefühls.56 Alternativen dazu liefere der internationale Reiseverkehr. Anstatt die Forschungsobjekte in europäische Institute zu transportieren, ermögliche es das Verkehrsnetz, die Dinge in ihrer „natürlichen Umwelt“ zu untersuchen und auch dort zu belassen. Hegemoniale Muster der Weltaneignung be53 Rickmers 1930a, 238-243. 54 Ross 1940, 10. Ross 1941, 6-10, 48-70. Dazu auch: Archiv der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Geodätische Kommission, Nachlass Wilhelm Filchner, Gruppe IV, lfd. Nr. 1, „Das erwachende Zentralasien“, Vortrag, Leipzig, 2. Juli 1929 Weltwirtschaftsverein. 55 Rickmers 1929, 59. 56 Rickmers 1930a, 241-242.
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schrieb Rickmers plakativ als „selbstsüchtige Zwangsvorstellungen“, als „Wahn“ oder – in einer Übertragung geläufiger Bewertungsmuster auf eine neue Perspektive – als „negerhafte Rohheit“57. Rickmers maß den außereuropäischen Forschungsgebieten einen verunsichernden Status als Grauzonen zwischen den Zivilisationsstufen bei.58 Der Abschied von der „volkstümlichen Vorstellung“, dass „ein Reisender stets in eine von Wilden bewohnte Gegend ziehe“, brachte den im tradierten Muster „wild“ – „zivilisiert“ konzipierten Kontaktrahmen aus dem Gleichgewicht: „Die Welt schrumpft durch die Verkehrsmittel, und die Völker beginnen sich gegenseitig zu entdecken. Kaum irgendwo gibt es noch Ureinwohner, bei denen das Erforschtwerden durch bebrillte Abendländer nicht schon zu den erwarteten Kalenderereignissen gehörte“.59 Zwei der herkömmlichen Prämissen von Expeditionen standen damit zur Disposition: Die Möglichkeit von ‚Entdeckungen‘ sowie Erstbegegnungen zwischen Forschungsreisendem und einer terra incognita wurde dadurch infrage gestellt. Eine fest gefügte dichotome Weltsicht, die auf einer klaren Unterscheidung von Entwicklungsstufen epistemische Trennungen zwischen Forscher und bereistem Raum ermöglichte, wurde als Begegnungsmuster bezweifelt. Rickmers historisierte außerdem die – gleichzeitig zu seiner Reise – populären Abenteuererzählungen als heroisches Überlegenheitsritual. Im Zentrum seiner reisephilosophischen Abenteuerkritik standen pragmatische Argumente sowie eine Beweisführung, die um Gesetzmäßigkeiten der Logik und des Verstandes kreiste. In wissenschaftspraktischer Hinsicht galt das Abenteuer, verstanden als das „seltene oder nicht alltägliche Geschehnis“ schlicht und ergreifend als „Betriebsunfall“ und „Organisationsfehler“, den es im Namen eines reibungslosen Ablaufs zu vermeiden galt. Die in Presse und Reiseberichten popularisierten Abenteuergeschichten erschienen ihm darüber hinaus unlogisch zu sein: „Findet und erlebt jemand gar zuviel auf beschränktem Raum und in beschränkter Zeit, dann ist die Sache verdächtig.“60 In einer ironisch-absurden Rechenaufgabe belegte Rickmers die Unwahrscheinlichkeit des Abenteuers und verabschiedete es als Relikt einer nicht mehr zeitgemäßen Reiseform. In der Publizistik und in Vorträgen verkündete er die Alternative: eine rationalisierte Expedition als eine Art postkolonialen „anti-conquest“.61 An die Stelle des abenteuerlichen Durchreisens von Raum stellte Rickmers die exakte Vermessung eines eng umgrenzten Forschungsbereichs.62
57 Rickmers 1930a, 241, 243. 58 Rickmers 1929, 59. Archiv DAV, 04.01.1965, Zeitungsausschnitt, „Rickmers spricht. Plan, Weg und Ergebnis der Alai-Pamir-Expedition“, Münchner Neueste Nachrichten, Nr. 78, Freitag, 19.4.1929. Archiv DAV, 04.01.1965.0943, 1-2. 59 Rickmers 1929, 60. 60 Rickmers 1930a, 185-186. 61 Pratt 1992, 7. 62 Archiv DAV, Nachlass Willi Rickmer Rickmers, 04.01.1965.0943, 4.
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E RSCHLIESSUNGSREISEN
ALS
G ROSSFORSCHUNGSPROJEKTE
Rickmers Expeditionstheorie stellte ‚Rationalisierung‘ und Arbeitsteilung in das Zentrum eines zeitgemäßen Forschungsbetriebs. Ein interdisziplinäres Großforschungsprojekt verstand Rickmers dabei als eine Möglichkeit der „statistischen Eroberung der Erde“.63 Gemäß den „Tatzeichen der Zeit“ 64 definierte er Forschungsreisen als gesellschaftliches und ökonomisches Thema: „Jedes soziale Problem – und die Expedition ist ein solches“ müsse „in der Art angepackt werden […], wie der Industriekapitän seine Probleme der Organisation von Arbeit, der Verteilung der Güter und des Auffindens von Märkten in die Hand nimmt.“65 Die Tendenzen von „Vergesellschaftung und […] Auswertung oder Arbeitsgemeinschaft und Statistik“66 verlangten einen nach den Gesetzmäßigkeiten der wissenschaftlichen Betriebsführung ausgerichteten Expeditionstypus. Als ideale Ordnung der „erdkundlichen Reisegemeinschaft“ schlug Rickmers das „Taylorsystem“ vor mit den Prinzipien der Arbeitsteilung zwischen Leitungsfunktionen und wissenschaftlicher Arbeit: „Daraus ergibt sich die Zerlegung des Begriffes der Forschungsreise in das ‚Reisen‘ und das ‚Forschen‘. Der Reisebetrieb ist zu einer eigenen Wissenschaft geworden, die dem Leiter des Unternehmens zufällt. Er hat dafür zu sorgen, dass der Gelehrte ungestört arbeiten kann. Er muss eine fliegende Anstalt aufbauen als Gegenstück zu den Forschungsinstituten daheim.“67 Die Gesetzmäßigkeiten der Interdisziplinarität bedingten außerdem die Verteilung der Aufgaben eines Wissenschaftlers auf mehrere Spezialisten.68 Dabei verglich Rickmers die wissenschaftliche Arbeit mit industrieller Fertigung: „Die ganze Arbeit der Spezialisten muss in ein harmonisches Ganzes gefügt werden – wie in der modernen Fabrik, die einen Typen von Auto mit hunderten von spezialisierten Maschinen und hunderten von spezialisierten Arbeitern herstellt.“69 Seiner Beschreibung der einzelnen Wissenschaftler als Funktionseinheiten in einem Wissenschaftssystem lag ein mechanistisches Weltbild zugrunde: Der Gelehrte wurde für ihn zur „Spezialmaschine“ in einem fest umrissenen Forschungsbereich, dessen von der jeweiligen Disziplin vorgeschriebenen Fragenkatalog er wie am Fließband abarbeiten sollte.70 Innerhalb dieser Funktionalisierung von Wissenschaft stieg die Bedeutung der Logistik, deren Organisation den Aufgabenbereich des Expeditionsleiters definierte. Nach den Gesetzmäßigkeiten der Arbeitsteilung beschrieb Rickmers die Funktion des Expeditionsleiters als Manager: „We need[ed] captaincy […] the scholars and their manager. We need[ed] explorer-ship, explorer-craft!“71 63 64 65 66 67 68 69
Archiv DAV, Nachlass Willi Rickmer Rickmers, 04.01.1965.0947, 4. Rickmers 1930a, 242. Archiv DAV, 04.01.1965.0947, 3 (meine Übersetzung des englischen Zitats). Rickmers 1930a, 234. Archiv DAV, 04.01.1965.0943, 1-4. Rickmers 1930a, 238. Archiv DAV, Nachlass Willi Rickmer Rickmers, 04.01.1965.0947, 3 (meine Übersetzung des englischen Zitats). 70 Rickmers 1930a, 238. 71 Archiv DAV, Nachlass Willi Rickmer Rickmers, 04.01.1965.0947, 3.
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3. Die ‚Rationalisierung‘ des Pamirs ‚Rationalisierung‘ als Expeditionsmaxime orientierte sich organisatorisch am ökonomischen Zeitmanagement und in Ansätzen an wirtschaftlichen Finanzierungsmethoden. Das Großforschungsprojekt war in logistische Etappen eingeteilt. Die Vorarbeit und Packerei zu Hause, der Aufbau am „Karawanenrüstort“ Osch, die Durchführung der Expedition und der „Trubel am Abrüstort“, wiederum in Osch , strukturierten den Verlauf.72 Rickmers hatte, wie bei einem ‚richtigen‘ wirtschaftlichen Projekt, Zeitpläne erstellt und sogar vier Wochen Puffer für unvorhergesehene Verzögerungen eingeplant.73 Zusätzlich zur Finanzierung der Forschungsreise durch die wissenschaftlichen Institutionen und den Deutschen und Österreichischen Alpenverein hatte Rickmers zahlreiche deutsche Firmen motiviert, die erste internationale Expedition dieser Größenordnung nach dem Krieg, an der das Deutsche Reich beteiligt war, durch finanzielle und Sachspenden zu unterstützen.74 Die Alai-Pamir-Expedition riss somit auch in den Sponsoringmethoden, die durch Produktnennung und Danksagungslisten in den Reiseberichten ersichtlich wurden, „die Schranke zwischen Wissenschaft und Wirtschaft“ nieder. Nicht nur die Expedition profitierte davon, sondern auch die Unternehmen selbst, welche die Alai-Pamir-Expedition als Werbeträger einsetzten und den Gelehrten eine „große Werbekraft“ beimaßen.75 Das Prinzip der Arbeitsteilung trennte den Pamir in unterschiedliche Forschungsräume. ‚Rationalisierung‘ bezeichnete innerhalb dieser den wissenschaftlichen Übersetzungsprozess natürlicher Phänomene in Felder, die durch einzelne Disziplinen erst beschreibbar wurden. Diese Form von Dekonstruktion der Landschaft und ihre Rekonstruktion als Bausteine der europäischen Wissenschaft thematisierte Rickmers bei einem Zwischenfazit des Arbeitsstandes: „Die Ergebnisse zeigen schon ein erfreuliches Bild. Finsterwalder und Biersack runden ihr Werk mit Riesenschritten. […] Die Bergsteiger haben das Rätsel des Kaschalajaks gelöst und werden den Leninberg auf keinen Fall vergessen. […] Lentzens Berliner Sprachgewandtheit muß unbedingt die urtiefsten Quellen des Volkstums erbohren und zum Sprudeln bringen. […] Schneideroff und Toltschan saugen die Natur kilometerweise ans laufende Band. Kurz, die deutsch-russische Mühle schrotet den Alai-Pamir emsig und friedlich zur übervölkischen Wissenschaft aus.“ 76 Die Dekonstruktion der Forschungsräume und ihre Rekonstruktion als Forschungsfelder waren ein dreistufiger Prozess: Erstens besetzte die Infrastruktur der Expedition die Landschaft symbolisch neu. Zweitens nahmen Zeichen der europäischen Präsenz das aufgeklärte Gelände in Besitz. Drittens eigneten sowohl die Kartografen als auch der Iranist Wolfgang Lentz den Pamir als Territorium beziehungsweise als sprachwissenschaftliche Textsammlung der europäischen Wissenschaft an. Aus eurozentrischer Sicht wurde aus der Natur so erst vermessenes Land, aus der einheimischen Lebens72 73 74 75 76
Rickmers 1930a, 11. Rickmers 1930a, 32. Lentz 1931, 5 und Rickmers 1930, 34-35. Rickmers 1930a, 36. Auch: Borchers 1931, 20-21. Rickmers 1930a, 123. Zu Praktiken der De- und Reterritorialisierung: Schröder 2005, 21.
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welt so erst klassifizierte Kultur. Blickt man aus einer anderen Perspektive auf die Expedition, handelt es sich dabei um die Integration der ortsansässigen Infrastruktur in das europäische System. Unter diesem Blickwinkel ist auch die irritierende Wirkung des Pamirs als eigenständiger natürlicher und sozialer Raum auf die Forscher wichtig. Die Grenzen eines planbaren Forschungsbetriebes und europäischer Deutungshoheit wurden vor allem innerhalb der Feldforschung des Iranisten Lentz deutlich. B ESETZUNG
VON
R AUM
DURCH
L OGISTIK
Die erste Stufe der ‚Rationalisierung‘, die symbolische Vereinnahmung der Natur in die Infrastruktur der Expedition, basierte auf einem System aus Stand- und Zwischenlagern. Gemäß den Prinzipien der Arbeitsteilung verwaltete der logistische Leiter Rickmers die Forschungsinfrastruktur. Die Begründung für die ausgeklügelte Lagerlogistik lieferte die Beschaffenheit der zu vermessenden Natur: „Solch schwierige Gebiete – Urwald, Polareis, Sumpf und Hochgebirge – gestatten nur das randliche Anbringen eines Standlagers, von dem aus man Abstecher macht. […] Weiträumige Bewegung der Forschungsgesellschaft ist nur dort möglich, wo der Verkehr das Land erschlossen hat […] oder wo die Oberfläche eine unbehinderte Massenbeförderung gestattet […]. Meistens wird man die Streckenbewältigung mit der Sesshaftigkeit verbinden, indem man ein Standlager verschiebt.“77 Insgesamt drei große Standlager an jeweils verschiedenen Etappenpunkten bildeten die logistischen Zentralen, die Kommunikationszentren sowie die Ausgangs- und Sammelpunkte der Expedition. Die Arbeitsgruppen schlugen vorläufige Lager in ihren jeweiligen Forschungsräumen auf. Zwischen den einzelnen Standorten pendelte ein eigens dafür eingerichteter Karawanenverkehr als „Versorgungs- und Nachrichtendienst“.78 In Briefen informierten sich die Expeditionsteilnehmer gegenseitig über mögliche Reise- und Transportwege, über den Verlauf der Aufklärungs- und Vermessungsarbeiten und gaben Bestellungen von Nachschub und Lebensmitteln auf.79 Anfangs existierte die neue Infrastruktur der Expedition parallel und teilweise in Konkurrenz zum Leben der Bevölkerung. Ihre Dienste und Arbeitskraft wurden in die Infrastruktur der Expedition integriert. Kirgisische Boten übernahmen den Transport der Post, ein Kirgise namens Usta Turdi, „der hiesige Häuptling“ begleitete die Expedition als Führer, und eine Kirgisenfamilie arbeitete als zusätzliches Standlagerpersonal. Tadschiken und Kirgisen waren als Träger angemietet.80 Trotz aller Planung im Voraus, nahm die Expedition erst beim Betreten des Forschungsraumes konkrete Gestalt an. Allabendlich besprach Rickmers mit seinen Kollegen die Routen, die zu wählen seien, und fragte nach, welche Orte für die großen Standlager am besten geeignet seien. Die „Verteilung der Aufgaben, die Abstecher der Gruppen“81 und die Versorgung durch Lebens77 Rickmers 1930a, 240. 78 Rickmers 1930a, 80. 79 Rickmers 1930a, 72-73, 84-85. Archiv DAV, 0004.01.1965.0010, Expeditionstagebuch maschinenschriftlich, Eintrag vom 27. Juli 1928. 80 Borchers 1931, 78. Rickmers 1930a, 58, 82-83. 81 Rickmers 1930a, 50.
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mittel kosteten ebenfalls Überlegungen. Erst Zwischenergebnisse, welche die Expeditionsmitglieder dem Leiter mitteilten, schufen die Basis für das weitere Ausgreifen der Expedition.82 Der Expeditionsplan musste alleine aus der Konfrontation mit dem Ort überdacht und modifiziert werden, da ein „starrer Betrieb, der sich nicht anbiegen will, an den Landessitten“ zerbricht.83 Die Träger, die angeworben worden waren, um die topografischen Arbeiten Finsterwalders zu unterstützen und den Bergsteigern bei der Aufklärung des Geländes zu helfen, bildeten laut Plan einen Bestandteil der logistischen Infrastruktur. Abgesehen von den Schwierigkeiten, Tadschiken und Kirgisen zu finden, die bereit waren, gegen Bezahlung schwere Geräte und Lasten auf Berge und in Hochsteppen zu befördern, verfolgten sie ihren eigenen Lebensrhythmus.84 Durch die Jahreszeit vorgegebene Abläufe wie das Einbringen der Ernte oder Familienfeiern sorgten für eine Diskrepanz zwischen den Zeitplänen der Expedition und dem Alltag der Menschen, die im Pamir lebten, was zu Verzögerungen, zu Improvisationen und auch zu Verstimmungen zwischen dem Wissenschaftler- und Trägertrupp führte.85 Rickmers entschuldigte dieses Verhalten im Großen und Ganzen nachsichtig mit einem Denken in Entwicklungsstufen, in dem der dort lebenden Bevölkerung eben ein Platz jenseits der modernen ‚Rationalisierung‘ zugewiesen wurde: Ein Plan nütze dem „einzelnen im Menschenverkehr ja nur insoweit, als er sich aus der bestehenden Arbeitsund Gesellschaftsordnung reibungslos einfügt. Er hat nichts davon, wenn er sich zu weit über die Organisationshöhe seiner Umwelt hinaus organisiert.“ Die Kirgisen und Tadschiken könnten im Moment nicht verändert werden, deshalb müsse sich im Gegenzug die Expedition anpassen – auch bezüglich der einheimischen Karawanenführer, die manchmal nicht unbedingt die vergletscherten Wege gehen wollten, die sie an das geplante Ziel führen sollten.86 Die Versorgung mit Vorräten, Brennmaterialien und Lasttierfutter, die entweder aus der Lagerhaltung der Expedition stammten oder aus den weiter entfernten Dörfern in den Forschungsraum ‚importiert‘ wurden, galt in den spärlich bewohnten Gebieten als eine Frage der Nutzungsrechte des Bodens. Meist wurden sie zugunsten der vereinzelt angetroffenen kirgisischen Nomaden in der Hochsteppe entschieden: „Einer größeren Karawane verbietet es somit der Anstand, länger als eine Nacht auf den Rasenflecken zu verweilen, die den Haustieren der Wanderhirten knappe Weide bieten. Man darf sich nicht einbilden, die Leute hätten keinen Besitz, weil sie nicht dauernd auf dem gleichen Platze sitzen. Jedenfalls steht ihnen ein durch tausend Jahre geheiligtes Nutzungsrecht zu.“87 Teilweise herrschte auch Unsicherheit, ob es sich bei den Lagerplätzen der Expedition wirklich um „herrenloses Gut“ handelte oder ob sie nicht doch in das Gebiet der ortsansässigen Bevölkerung 82 Rickmers 1930a, 94, 113-114, 123-124. Archiv DAV, Nachlass Karl Wien, Schachtel Nr. 5, Tagebuch, 27, 42. Borchers 1931, 55. 83 Rickmers 1930a, 139. 84 Archiv DAV, Nachlass Karl Wien, Schachtel Nr. 5, Tagebuch, 27. Rickmers 1930a, 70, 80, 122. Borchers 1931, 226-227. 85 Lentz 1931, 213, 244, 266. Rickmers 1930a, 150. 86 Rickmers 1930a, 139-140. 87 Rickmers 1930a, 31.
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„eingebrochen“ sei. In diesen Fällen galt dann ein pragmatisch begründetes, zeitlich befristetes „Besitzrecht“.88 G ELÄNDEAUFKLÄRUNG
UND
B ENENNUNG
Die zweite Stufe der ‚Rationalisierung‘, die Aufklärung und die vorläufige Aneignung des Geländes durch Zeichen der Präsenz, fiel in den Bereich der Bergsteiger. Obwohl diese möglichst viele Erstbesteigungen wie die des höchsten Gipfels der Sowjetunion, des Pik Lenin, anstrebten, hatten sie als wissenschaftliche Aufgabe das bisher unvermessene Gebirgsland zu enträtseln.89 Eine exakte Erkundung öffnete Möglichkeiten, die bis dahin vorhandenen ungenauen Geländebeschreibungen zu verbessern, welche die europäischen Forschungsreisenden wie Arved von Schultz, Sven Hedin und die russische (Militär-)Topografie in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg vorgenommen hatten.90 In diesen Aufklärungsprozess wurde das einheimische geografische Wissen von Passübergängen integriert, das in den Sagen der Bevölkerung überliefert worden war.91 Diese Erzählungen von vergletscherten Gebirgspässen mussten die Bergsteiger im Expeditionsgebiet überprüfen.92 Da sich aus deren Sicht der Radius der tradierten Geländekenntnis „selten weiter […] als auf Sehweite oder eine bis drei Tagereisen“ beschränke und es dazu Bergnamen im „Sinne von Gipfelnamen“ bei den „Völkerschaften Asiens so gut wie nicht“ gäbe, beschrieben zusätzlich europäische Landschaftsbegriffe den Erschließungsgrad. Sie markierten eine Grenze zwischen bekanntem Territorium und ‚unbetretener Wildnis‘.93 Trotz eines gewissen Anspruches der Überlegenheit über Land und Volk waren Erkundungsreisen in einem Gelände, das aus einem für europäische „Begriffe kaum fasslichen Gewirr von Bergen der phantastischsten Formen“ bestand, mit ziemlichen Orientierungsschwierigkeiten verbunden. In einem Raum ohne Kilometerangaben und kartografische Repräsentation verschätzten sich die Bergsteiger in den Entfernungen, irrten in den Gletschern herum und waren öfters zur Umkehr gezwungen. Diejenigen Berge, die es zu ersteigen galt, mussten erst einmal in den Gebirgsketten als die richtigen identifiziert werden.94 Es stellte sich als „doch nicht so einfach“ heraus, „erstens in ein unbekanntes Hochgebirgsland einzudringen, zweitens die Identität des gesuchten, aber bisher nicht gesehenen Berges festzustellen, drittens den besten Anmarschweg […] ausfindig zu machen, viertens die so genannte schwache Seite des Berges zu erkennen und fünftens den Berg zu ersteigen“.95 Manchmal fiel es ihnen auch erst während der Besteigung, beim Blick in das sie umgebende Panorama auf, dass sie auf dem Holzweg waren: „Wir stehen auf der Grathöhe und haben Einblick in den Aufbau der Transalaikette […]. 88 89 90 91 92 93 94
Rickmers 1930a, 39. Borchers 1929, 70. Borchers 1931, 43. Deutsche Forschung, 1929, 13. Borchers 1931, 91-92, 130. BArch R 73/181, Bl. 26. Rickmers 1930a, 41, 51. Borchers 1931, 26-27. Archiv DAV, Nachlass Karl Wien, Schachtel Nr. 5, Tagebuch, 27-28, 31, 47, 49. Borchers 1931, 156. 95 Borchers 1931, 59.
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Alles, was bisher zweifelhaft für uns gewesen ist, liegt nun klar vor unseren Augen. […] Wir sehen den hohen Berg im Westen alles weit überragen […]. Da merken wir endlich in aller Deutlichkeit, daß wir uns auf dem falschen Weg und der falschen Seite befinden.“96 Die Aufklärungsarbeit besetzte unter Schwierigkeiten den unvermessenen Raum neu, wobei sichtbare Markierungen sowohl einen praktischen Zweck als auch symbolische Aufgaben erfüllten: Gebaute Steinmänner als Zeichen der Präsenz, deutsche Flaggen auf den Gipfeln und die vorläufige (Neu-)Benennung von Bergen und Gletschern hatten die Funktion, mit den Expeditionskollegen über den Stand des Erreichten zu kommunizieren und vor Sackgassen im Gelände zu warnen.97 Die Markierungen eigneten den Raum vorläufig als ‚Besitz‘ der europäischen Wissenschaft an und schufen neben den wandernden Lagern eine zweite, sichtbare Infrastruktur. Ein Netz aus Zeichen überzog die Landschaft als Vorstufe zum trigonometrischen und fotogrammetrischen Netz der Topografen. Die ephemeren Markierungen und der von den Bergsteigern gewonnene Überblick legten den Grundstein für die kartografische Vermessung. Die Zeichen wie Steinmänner dienten dabei als Basispunkte der Vermessungsarbeiten.98 T OPOGRAFIE
ALS
F ORSCHUNGSFELD
Die dritte Stufe der ‚Rationalisierung‘, das ‚Übersetzen‘ natürlicher Landschaftsformen in Karten, bedeutete die Integration von ‚Wildnis‘ in den geografischen Horizont der modernen Zivilisation. Finsterwalder umriss seinen Forschungsauftrag selbst mit folgenden Worten: „Wir Topographen haben die Aufgabe, das Gewirr der Berge aufzuklären und auf die Karte zu bannen“.99 Jenseits der Produktion von Karten als Endprodukt standardisierten geografischen Wissens war der Vorgang des Vermessens im Feld eine der Möglichkeiten, neue Leitbilder wie die technischen Experten vorzustellen, und die an Bedeutung gewinnenden Berufsgruppen der Naturwissenschaftler und Ingenieure zu inszenieren.100 Die auf einer Forschungsreise 1928 erstmals systematisch verwendete terrestrische Fotogrammetrie erlaubte es, sehr große Flächen in einzelnen Ansichten zu erfassen. Der kartografischen Vermessung war kein „bestimmtes Ziel“ gesteckt, da „man von dem zu erforschenden Gebiet nur wußte, daß es aus stark vergletscherten Hochgebirgen […] bestehen müsse“. Die Anweisung lautete schlichtweg, „möglichst viel von den bereisten Gegenden festzuhalten, womöglich eine Kammverlaufskarte der großen Gebirge und eine Spezialkarte eines größeren typischen Gletschers aufzunehmen“.101 Die einzelnen Vermessungspunkte mussten an das globale Koordinatennetz angegliedert werden. Nach dem trigonometrischen Verfahren bestimmte der russische Astronom J.J. Belajeff die geografischen Koordinaten der einzelnen Punkte. Um diese in das System der Längen- und Breitengrade integ96 Borchers 1931, 223. 97 Borchers 1931, 185, 206, 74, 202. 98 Deutsche Forschung, 1929, 71-73. 99 Rickmers 1930a, 189. 100 Vgl. dazu: Dienel 1992. Dienel 1998. Dietz 1996. 101 Deutsche Forschung, 1929, 61-62.
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rieren zu können, war eine exakte Zeitangabe notwendig, die über das Radio gesendet wurde. Zum Empfang des Pariser Zeitsignals stand im Pamir ein eigens dafür mitgenommener Kurzwellenapparat.102 Dass auch der modernen Technik das Prinzip ‚Morgenland‘ in die Quere kommen und sogar die Technik als Kennzeichen der europäischen Moderne infrage stellen konnte, zeigten die Schwierigkeiten, die Karl Wien hatte, das Zeitsignal überhaupt erst zu empfangen: „Ich probiere von Zeit zu Zeit den Radio in Schwung zu kriegen, was mir indessen noch nicht recht geglückt ist, weil immer gerade dann, wenn ich den Eiffelturm empfangen will, um 1 Uhr nachts, irgendein lächerlicher östlicher Sender mit großer Energie auf Welle 32 hineinfunkt.“103 Die Einsicht, dass auch im Pamir ein gut hörbares östliches Radioprogramm empfangen werden konnte, hätte das Selbstvertrauen auf einen europäischen Entwicklungsvorsprung durch Technik, den die Expedition gegenüber dem Forschungsraum zu Schau stellte, infrage stellen können. Der Physikstudent Wien reagierte jedoch nur mit Unverständnis. Der „lächerliche“ Sender erschien ihm nicht als Zeichen einer anderen, ebenso auf Technik basierenden Moderne, sondern als bloßer Störfaktor im rationalen Vermessungsplan der Expedition. Erst als der Radioapparat nach einem Unfall – ironischerweise – „gründlich in Unordnung gekommen war und bei seiner Wiederherstellung auch andere Wellenbereiche abgehört worden waren, gelang der Empfang des Zeitzeichens auf einer ganz anderen als der erwarteten Wellenlänge“. Dass die westlichen und östlichen Sender parallel, jeder auf seiner Wellenlänge funkten, hatte Karl Wien in seiner eurozentrischen Vorstellungswelt nicht in Betracht gezogen.104 Insgesamt war der Vermessungsprozess von einem technischen Blick auf die Natur begleitet, wobei Finsterwalder die Landschaft bereits während ihrer Aufnahme nur aus der Perspektive der zu produzierenden Karten wahrnahm. Die Berge und Gletscher des Pamirs dienten ihm als „Topographenmugel“, die erstiegen werden mussten, um das Gelände mit Dreiecksmessungen zu überziehen sowie fotogrammetrische Aufnahmen anzufertigen. Fast wie eine Verkörperung von Rickmers Idealbild der wissenschaftlichen Fließbandarbeit schoben sich die Topografen Standpunkte bestimmend, Zeitsignale empfangend und Standlinien legend durch das Arbeitsgebiet.105 Die Vermessung löste die natürlichen Formen der Landschaft in geometrische Figuren, geografische Punkte, Linien, trigonometrische Netze auf und ‚zerlegte‘ die Berge in einzelne kartografische Aufnahmen. Den älteren Diskurs der geografischen Entdeckungen löste damit eine Erfolgsbilanz der technischen Arbeiten ab: „Es ist uns gelungen […] 130 brauchbare Standlinien aufzunehmen […] und 600 Platten zu belichten.“ Die in Einzelaufnahmen zerteilte Landschaft des Pamirs wurde auf diesen Platten als Grundlage der Kartenproduktion mit nach Hause genommen. In Form einer geografischen Überblickskarte über das Gletschergebiet des Seltau, einer Kammver102 103 104
105
Deutsche Forschung, 1929, 65. Rickmers 1930a, 190. Archiv DAV, Nachlass Karl Wien, Schachtel, Nr. 5, Tagebuch, 14-15. Archiv DAV, Nachlass Karl Wien, Schachtel Nr. 5, Tagebuch, wörtliche Zitate: 51. Deutsche Forschung, 1929, 69. Zur Bedeutung von Technik, um das eigene ‚Modernsein‘ zu definieren und einen Kontaktrahmen von ‚Antiquity meets Modernity‘ herzustellen: Hansen 2001, 185-202. Rickmers 1930a, 189-191.
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laufskarte der Seltau- und Transalaigruppe sowie einer Reihe von gletscherkundlichen Spezialkarten wurde das „bisher gänzlich unbekannte Gebirgsland“ der geografischen und glaziologischen Forschung – aber auch der sowjetischen Regierung – verfügbar gemacht.106 Abbildung 2: Trigonometrisches Netz
Quelle: Deutsche Forschung 1929, 71. I RANISTIK
ALS
F ELDFORSCHUNG
Der Iranist Lentz reiste in ein Bergdorf Tadschikistans, um aus gesprochener Sprache Forschungsgegenstände zu gewinnen. Lentz’ Feldforschung zeigte besonders stark die Diskrepanzen zwischen wissenschaftlichen Konzepten einerseits und direkten Kontakten mit lebenden ‚Forschungsobjekten‘ andererseits. Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit im Dorf, um die Aneignung sozialer Räume und um das soziale Kapital ‚Autorität‘ spielten bei Wolfgang Lentz eine große Rolle. Sein Forschungsprogramm sah vor, dass er Proben bisher unbekannter tadschikischer Gebirgsdialekte in der Sprache der Galtschas aufnahm und nebenbei, soweit die Arbeitszeit es ermöglichte, Material „zur Veranschaulichung des materiellen und geistigen völkischen Lebens […]“ dieser Ethnie sammle. Zusätzlich zu zwei Fonografen für die Sprachaufnahmen war er mit einer Handkamera ausgestattet, um die „berühmten Volkstänze“ Turkestans zu filmen.107 Die große Bedeutung, die auch Lentz der Technik beimaß, lässt sich daran ablesen, dass sie im Titel seines Reiseberichts praktisch einen Bestandteil des Kontaktrahmens mit dem Gebirgsland umriss: „Auf dem Dach der Welt. Mit Phonograph und Kamera bei den vergessenen Völkern des Pamirs“ ver106 107
Deutsche Forschung, 1929, 82-84. Deutsche Forschung, 1929, 147-148.
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weist dabei gleichzeitig auf ein Dilemma seiner Forschungsreise. Das Ausgreifen der – im Buchtitel technisch codierten – ‚Moderne‘ verschmolz mit romantischen Motiven, wobei beides seine Begegnung mit dem pamirischen ‚Orient‘ prägte. Den archäologischen Diskurs und die Suche nach „vergessenen Völkern“ verknüpfte Lentz mit dem Szenario eines sprachlichen Verdrängungskampfes.108 Er verstand Sprachen und Kulturen als Überlagerung von ‚Schichten‘, wobei systematische Interviews die Pforte zur Vergangenheit öffnen könnten. Die Gebirgsdialekte wurden der ostiranischen Gruppe zugeteilt, der „alten Sprache […] Chiwas“, und sie seien als solche vom Russischen, von türkischen Idiomen und von westiranischen Sprachen wie dem (Neu-)Persischen bedroht.109 Lentz’ Forschungsreise hatte nicht nur den Zweck, Sprachproben für die Orientalische Kommission der Preußischen Akademie zu sammeln, sondern auch die im Verschwinden begriffene Lebensweise der Galtschas zu ‚konservieren‘.110 Denn nach der Entdeckung der ersten Sprachproben hätte sich das Interesse der Orientalistik „auf die geschichtliche Stellung der heutigen Bergvölker zu den zentralasiatischen Völkern des Altertums“111 gerichtet. Vor allem zur Klärung der Frage, ob es sich um Abkömmlinge von Zoroastriern oder von Saken handelte, habe es bisher an Untersuchungsmaterial gefehlt. Für Wolfgang Lentz erschienen die Dörfer des Pamirs als Neuland der Sprachwissenschaft sowie als missing link der Orientalistik, das gerade zum Zeitpunkt der Erforschung im Verschwinden begriffen war. Lentz vertrat, unterstützt durch offizielle Empfehlungsschreiben der sowjetischen Behörden, die Deutungshoheit der europäischen Wissenschaft, die dem Hochgebirgsvolk eine sich nun im Prozess der Sowjetisierung auflösende Entwicklungsstufe zugewiesen hatte. Trotz aller Autorität war es für Lentz anstrengend und schwierig, die gewünschten Sprachproben zu gewinnen, sie zu notieren und schließlich fonografisch aufzunehmen. Sonst die Arbeit an ‚totem‘ Material wie Grabungsfunden und Inschriften gewohnt, fand sich Lentz in der Ratlosigkeit des Feldforschers wieder. Die Diskrepanz zwischen den bis in die Antike zurückreichenden Genealogien seines gewohnten sprachwissenschaftlichen Orients und den Galtschas der Gegenwart war eine des erlebten Kontakts. „Bänglichste Gefühle“112 begleiteten den frisch promovierten Iranisten in sein Dorf, das, zwar pittoresk am oberen Bartangfluss gelegen, beim ersten Anblick agrarromantische Assoziationen an eine zerfallende Idylle wecken konnte: „Ein Haufen grober grauer Steinhäuser – spärlich bewachsene Felder an einem schäumenden Gebirgsbach – das Ganze inmitten einer weiten, öden, steinigen Ebene zu Füßen zweier eisgepanzerter Gipfel, das ist Oroschor. […] Das Dorf liegt schon im Schatten. Es scheint ein Konglomerat von Ruinen, von einer verfallenen Mauer umgeben.“113 Das Dorf Oroschor vereinte zwei Funktionen. Für Lentz war es Forschungsfeld und seine 108 109 110 111 112 113
Lentz 1931, 5, 112-114. Deutsche Forschung, 1929, 148-151. Deutsche Forschung, 1929, 149-150. Auch: Lentz 1931, 21. Lentz 1930, 102-104. Deutsche Forschung 1929, 149. Rickmers 1930a, 223. Lentz 1931, 156.
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sprachwissenschaftliche ‚Ausgrabungsstätte‘, wo nach den ältesten ‚Schichten‘ der Sprache gesucht werden konnte. Oroschor war aber auch die Lebenswelt der ‚Forschungsobjekte‘ – mit einer eigenen Sozialstruktur, eigenen Regeln und Hierarchien. Da sich Lentz der Eigendynamik der lebenden ‚Quellen‘ schon im Vorfeld bewusst war, war seine Vorfreude auch von handfesten Befürchtungen überschattet. Die Galtaschas oder Pamirtadschiken galten als sehr verschlossen gegenüber Fremden, und dazu konnte Lentz nicht einmal ihre Sprache. Seine Hoffnungen, in Oroschor „mit Persisch als der Sprache von Religion und Literatur durchzukommen“, muten angesichts der Klage über das ‚Aussterben‘ der Gebirgsdialekte doch etwas paradox an. Aus der Perspektive der Arbeitspragmatik erwies sich die Verbreitung des Persischen für ihn dann doch als reiner Glücksfall: „Fast alle erwachsenen Männer können wenigstens etwas Persisch. Ich brauche es als Dolmetschsprache für die Bedürfnisse des täglichen Lebens und für das Verständnis der Texte.“114 Bei seinem Einzug in die dörfliche Lebensgemeinschaft schlug er sein Zelt am prominentesten Ort des Dorfes auf und besetzte in seinem Forschungsfeld symbolisch das Zentrum der dörflichen Lebensgemeinschaft neu: den Platz zwischen Moschee und Moscheeteich.115 Dort beobachtete er, wurde im Gegenzug ständig durch die Dorfbewohner beobachtet und gewann über Interviews von Gewährsmännern seine Textproben. Dass seine lebenden ‚Quellen‘ versuchten, ihn zum Objekt von Eigeninteressen wie zum Beispiel Streitereien innerhalb des Dorfes zu machen, lag in seiner Methode begründet. Er wollte das Dorf als Lebensuniversum kennen, die Bevölkerung verstehen lernen und letztendlich ihr Vertrauen gewinnen: „wer zu den Menschen reist, muß unbehindert und frei, ohne die Nebelschleier von Überheblichkeit und Bildung zu ihnen sprechen können, und sie – sie müssen auch mit ihrem Wort zu uns dringen können, bis an unser Herz.“ 116 Der Dorfmittelpunkt umrahmte die Kontaktsituationen, die Voraussetzung für die wissenschaftliche Arbeit waren, zwischen Lentz und der Bevölkerung. Nicht nur als Akteur, sondern auch selbst als ‚Objekt‘ im Feld machte Wolfgang Lentz die Neugierde der Dorfbewohner zu schaffen, die den Vorgang der Beobachtung in die andere Richtung kehrten: „Angucken, das ist in der Landessprache Temascha – noch ahne ich nicht, was dieses Wort in sich birgt, an Dummdreistigkeit, Lästigfallen und orientalischer Unentwegtheit“117. Auf dem „Versammlungsort des ganzen Dorfes“ gelegen fand sich um sein Zelt fast rund um die Uhr eine ansehnliche Menschenmenge ein: „Die Sonne sendet kaum die ersten Strahlen schräg durch das Fensterchen an der Rückwand meines Zeltes, da werde ich schon durch Volksgemurmel geweckt. […] zu gern wird während der Unterhaltung nach irgendetwas in der Nähe Liegendem gegriffen und mit einen ‚Touba!‘ (Seltsam) im Kreis herumgereicht.“118 Um sich gegenüber den als kindlich beschriebenen Dorfbewohnern zu behaupten, wählte Lentz verschiedene Strategien. Er versuchte, die Bevölke114 115 116 117 118
Rickmers 1930a, 223. Lentz 1931, 157. Lentz 1931, 154. Lentz 1931, 125. Lentz 1931, 169-170.
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rung auszutricksen, ihnen zu drohen und sich zu distanzieren, um sich Respekt zu verschaffen. Zumindest für die Dauer seines Aufenthaltes überlegte er, sie zu „erziehen“ 119, obwohl er sich ja selbst zur Auflage gemacht hatte, nicht in die „Lebensgewohnheiten“ der „Eingeborenen“ einzugreifen, um möglichst unverfälschte Beobachtungen zu erhalten120. Eine Diskrepanz zwischen innerer Regung und äußerer, ungerührter Pose charakterisierte den Zwiespalt des Sprachforschers. Die Rolle des rationalen, kulturell überlegenen Wissenschaftlers pflegte er während seines gesamten Aufenthaltes. Manchmal gab er diese Posen in bestimmten Situationen auf, wie Abendspaziergänge in Begleitung seiner Informanten Abbuldnasar, Dina und Mahmat Scho. Seine Autorität schien ihm in Titeln wie „König“ und ihrer Selbstpositionierung als Diener direkt angetragen worden zu sein.121 In Anreden wie „Bruder“, „Genosse“ oder „Freund“ wurde jedoch auch dieses starre Hierarchiegefälle durchbrochen. Vor allem stellten die Handlungen der ‚Forschungsobjekte‘ eine uneingeschränkte Machtstellung des Sprachforschers nachhaltig infrage. Im Grunde sind seine Autorität und der wissenschaftliche Habitus auch als Reflex der latenten Hilflosigkeit zu verstehen, um dadurch die Deutungshoheit über die Situation und das Handlungsmonopol im Forschungsfeld nicht zu verlieren.122 Die Versammlungen vor seinem Zelt nutzte Lentz dazu, um Interviewpartner zu gewinnen und um an die begehrten Sprachproben zu gelangen. Nachdem er in Gesprächen verdeutlicht hatte, dass es ihm vor allem um Beispiele ihrer eigenen, alten Sprache ginge und er die besonderen Kenntnisse der einzelnen Menschen entdeckt hatte, stand ihm ein Netzwerk von lebenden ‚Quellen‘ zu Verfügung. In Abbuldnasar, Kötor und Dina hatte er drei Märchenerzähler und Experten in Sachen Spontandichtung gefunden.123 Hinzu kam eine nicht näher mit Namen bezeichnete Anzahl von Lyrikern und Sängern. Des Schreibens kundige dörfliche Autoritäten wie die Amtsschreiber oder die geistlichen Würdenträger unterstützten ihn bei der Kontrolle seiner Aufzeichnungen. Die „urtümlichen“ Dialekte erlernte er zwar während der Feldforschung langsam, er beherrschte sie aber bei Weitem nicht.124 So halfen ihm seine Gewährsmänner, das Diktierte in „arabischen Lettern“ aufzuschreiben und spezifische Inhalte im Kontext zu verstehen.125 Obwohl Lentz’ Interviewpartner in erster Linie aus eigenem Interesse handelten und ihren Volksmund nur gegen kleine Geschenke und „Belohnungen“ wie Zucker, Bleistifte und Papier tauschten, bedeuteten für den Sprachforscher die Situationen, in denen ihm Lieder, Gedichte und Volkssagen am Eingang seines Zeltes diktiert wurden, Augenblicke des kleinen Triumphes: „Dargilik – ein Sehnsuchtslied –, wie oft hörte ich in der Folgezeit dieses Wort! Heute abend sitze ich mit fliegendem Stift, um den Zauber des ersten Eindrucks zu bannen.“126 119 120 121 122 123 124 125 126
Lentz 1931, 175. Lentz 1931, 168. Lentz 1931, 214. Lentz 1931, 165-166. Lentz 1931, 173, 196-199, 205. Lentz 1931, 182-183, 195. Lentz 1931, 195. Lentz 1931, 140.
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Vor seinem Aufbruch aus Oroschor gelang es Lentz, die Moschee als fonografische Aufnahmestation und somit das religiöse Zentrum des Dorfes als sprachwissenschaftliches „Labor“ einzunehmen. Den symbolischen Sieg der rationalen Wissenschaft über die vermeintlich vormoderne dörfliche Lebenswelt zelebrierte er als eine Art magisch-kultischen Akt: „Endlich ist alles gerichtet. Im Moscheeraum hat ein Mann durch Drehen einer Kurbel des Uhrwerks dafür zu sorgen, daß […] eine Unterbrechung der Aufnahme vermieden wird. Das Mikrophon wird außen am Türrahmen aufgehängt und bei geschlossener Tür besprochen, damit das Geräusch des Uhrwerks nicht aufgenommen wird. In dem Seitenfenster, das dieser Raum hat, hängen so viele von den Dorfbewohnern, wie einander mit Püffen und Autorität Platz machen. Durch frühere Erfahrungen vorsichtig geworden, lasse ich niemanden wissen, daß die Aufnahme gleich abgehört werden kann, sondern gebe nach irgendwelchen, für alle zauberhaften Manipulationen das Zeichen, anzufangen. Nicht immer findet sich der Sprecher oder Sänger vor der schwarzen Dose sogleich zurecht, und ich muß aufpassen, dass in der Erregung nicht alles vergessen wird, was vorher diktiert wurde. Außerdem werden Wachswalzen besprochen, und hier läßt es sich nicht vermeiden, daß sie ausprobiert werden müssen. Mit Blitzgeschwindigkeit haben es die vordersten Lauscher an die ständig wachsende Zahl der Neugierigen weitergegeben; mit einem Schlage wandelt sich das lärmende Getobe, das mich oft genug gestört hat, in ein großes Schweigen und Staunen. Ich fühle es in dem sorgfältig verschlossenen Raum, wie gleichsam das ganze Dorf aufhorcht und angestrengt versucht, ein Fetzchen von dem Unerhörten zu haschen.“127 In seinem Reisebericht thematisierte Lentz eine grundlegende Spannung zwischen Erforschen und Erleben. Bei seinem endgültigen Abschied aus Oroschor beschrieb er das Problem, dass die im Feld gewonnenen Forschungsergebnisse, die er zurück in sein Institut nach Berlin bringen sollte, nichts als Reduktionen einer komplexeren Welt seien. Er diskutierte die Authentizität der Erfahrung im Vergleich zum Nachahmungscharakter der Repräsentation und die Unfähigkeit des Menschen, Eindrücke, Erlebnisse und wissenschaftliche Gegenstände in ihrer Ganzheit adäquat aufzunehmen und zu ‚konservieren‘: „Es ist die Sprache, die wir aufzeichnen, es ist das Leben, das wir in unseren Alben und Museen kopieren. Aber es bleiben doch eben Kopien, Abklatsche, Mumien. Das sollten Wissenschaftsmenschen und Laien gleichermaßen nie vergessen.“128 Der Abschied aus Oroschor schien dem Wissenschaftler und Menschen Wolfgang Lentz schwer gefallen zu sein.
127 128
Lentz 1931, 264-265. Lentz 1931, 290.
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4. Neue Leitbilder S ELBSTREFLEXION
DURCH I RONIE
Der Pamir war nicht nur rationalisierbarer Forschungs-, sondern auch Freiraum und Experimentierfeld, die Expedition nicht nur ein Großforschungsprojekt, sondern auch eine Gemeinschaft auf Zeit. Die Reiseberichte erzählen vom Aufbruch in die (post-)koloniale Natur als Suche nach alternativen Lebensformen. Die ‚Wildnis‘ Mittelasiens verunsicherte dichotomisierende Eindeutigkeiten, welche koloniale Selbstverständlichkeiten betrafen. Gegenvorschläge lieferte das Zusammenleben im Pamir, das Gesellschaftsutopien in die Praxis umsetzte. Dabei waren diese Gemeinschaftsmodelle und sozialen Rollenmuster stellenweise auch ziemlich unkonventionell. In den Tagebüchern, aber auch in den publizierten Berichten wählte die Expeditionsmannschaft Selbstironie als Mittel der Repräsentation. Karl Wien beschrieb die mit Spitznamen bedachten Teilnehmer, als sie auf das verspätete Gepäck am Ausgangspunkt der Reise, in Osch, warten mussten: „Das Wetter macht uns zu vollkommen tatenlosen und phlegmatischen Leuten, denen schon fast das Aufstehen und zum Esstisch gehen zu viel ist. […] Alisi und Schurl spielen den ganzen Tag ohne wesentliche Unterbrechung Skat, woran Bobby sich beteiligt, wenn er nicht mit Schreiben von Tagebüchern und Briefen beschäftigt ist […]. Kohlhaupt rennt immer wie besessen in der Gegend herum, er hat den Sehfimmel. Schwarzwald liest Geologie, will Sternkunde und ähnliches Wissenschaftliche studieren. Er hat sich auf ein paar Tage den Magen verkorkst, was ihn wenig betriebsfähig machte. Reinig hat sich in Samarkand einen Sonnenstich geholt […]. Nun ist er aber schon wieder geworden und sammelt Blabse, die er mit rührender Sorgfalt auf den Tisch ausbreitet, trocknet, sortiert und besieht.“ 129 Rickmers hinterließ dazu einen etwas skurrilen Eindruck: „über allem schwebt unser Häuptling, in einem rosa Pijama mit roten Galoschen an den Füßen und auf dem Kopf einen Strohhut von der Größe eines besseren Wagenrades.“130 Die Sammelaktionen des Zoologen Wilhelm Reinig, mit denen sich auch freiwillige Helfer aus dem Expeditionsteam vor dem Aufbruch in das eigentliche Arbeitsgebiet die Zeit vertrieben, fanden ebenfalls Erwähnung. Beim „Sammeln von Schwarzkäfern, wozu man die Straßensäume und Hausmauern mit der Taschenlampe“ ableuchten musste, gerieten sie an die Staatsbank von Taschkent, was „glücklicherweise rechtzeitig bemerkt wurde, ehe die Wache den Finger krümmte“.131 Anekdoten wie diese hatten die Funktion, den „Erlebnisinhalt von Reiseberichten“ zu reflektieren und populäre Vorstellungen über die soziale Praxis vermeintlich heroischer Expeditionen zu brechen.132 Werte wie Tatkraft, körperliche Leistungsfähigkeit, Intelligenz, Anpassungsfähigkeit, Ausdauer, Handlungsfähigkeit und Zähigkeit ließen zwar die deutschen und russischen Expeditionsteilnehmer zum möglichen Personal einer klassischen Abenteuer129 130 131 132
Archiv DAV, Nachlass Karl Wien, Schachtel Nr. 5, Tagebuch, 13-14. Archiv DAV, Nachlass Karl Wien, Schachtel Nr. 5, Tagebuch, 17. Rickmers 1930a, 32. Archiv DAV, 04.01.1965.0943, 4-5.
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geschichte werden.133 Im Gegenzug erzeugte die unterschwellige, aber ständig präsente Selbstironie den Eindruck, dass es sich bei der Expeditionsmannschaft um eine anarchisch-ungeordnete Truppe handelte. Beliebig ließen sich Episoden, welche Expeditionen als Abenteuererzählung und wissenschaftlich ernsthafte Angelegenheit hinterfragten, fortsetzen. Sogar der Konstruktionscharakter von Expeditionsberichten und des Expeditionsfilms wurde thematisiert. Das Filmteam trat in diesen Medien selbst als Akteur auf, und Borchers beschrieb detailliert, wie Szenen „gestellt“ wurden. Beim Beladen der Karawane in Osch gefiel den Filmleuten nicht, wie die 34 Kamele in den Packhof geführt wurden. Deshalb lautete die Direktive: „also alles wieder hinaus und dann filmrichtig hereinmarschiert“. Bevor bestimmte Pässe, die sich für Filmszenen eigneten, von der Expedition überschritten werden durften, hieß es erst einmal, auf die Packpferde zu warten und eine „sorgfältige Marschordnung“ einzunehmen, um in das filmische Konzept von Schneideroff und Toltschan zu passen.134 Teilweise definierten Regieanweisungen aus der Perspektive des zu produzierenden Films die Planung der Tage und die Art und Weise, wie zum Beispiel Berge bestiegen werden sollten. Der Gipfel konnte auch durch einen Mittelgrat ersetzt werden: „Beim Abendessen wurde das Programm für den nächsten Tag festgelegt. Wir vier Bergsteiger wollten den Pik Ficker […] ersteigen und sollten dabei zunächst einen von ihm herabziehenden kleinen Mittelgrat, der den Hintergrund des Seitengletschers in zwei Arme teilt, emporsteigen. Die Filmleute wollten dann unseren Aufwärtsgang vom Gletscher aus mit Teleobjektiv kurbeln.“135 Als Requisiten für die Bergszenen dienten Gebrauchsgegenstände der Expeditionsteilnehmer, wobei auch das angeworbene Personal für den Film in Szene gesetzt wurde: „Sadir, der gelehrige Pferdeknecht der Filmgewaltigen, wurde alpin ausstaffiert, und auch er zeigt jetzt dem staunenden Kinopublikum Russlands, wie das grausliche Bergsteigen filmgerecht gemacht wird.“136 Diese ironischen Brechungen stellten im Grunde herkömmliche Erzählungen europäischer Überlegenheit in Frage.137 S OZIALE P RAXIS
DER FRONTIER -G ESELLSCHAFT
Das Karawanen- und Lagerleben schuf, als Hybridstruktur zwischen europäischer Expedition und einheimischer Reiseweise sowie zwischen wissenschaftlichem und sozialem Zweck, ein Experimentierfeld alternativer Gemeinschaftsformen. Der springende Punkt ist dabei, dass sich diese nicht über Volkszugehörigkeit und Nation, sondern über soziale Praktiken konstituierte und definierte. Diese Facette der Forschungsreise wurde nicht nur in einem anderen Vokabular als die Geschichte der Rationalisierung, sondern auch in einem ernsteren Tonfall als der ironische Erzählstrang beschrieben: „Wenn ich ehrlich auf die Frage antworten will, was mich auf dieser Expedition so gepackt und mit dem Lande verbunden hat: Es waren nicht nur die schroffen 133 134 135 136 137
Rickmers 1930a, 12-14, 22-26. Borchers 1931, 41, 46, 159, 226-227, 242. Borchers 1931, 21-24. Borchers 1931, 173. Borchers 1931, 163. Rickmers 1930a, 60.
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Berge und einzigartigen Gletscher, es war kaum minder die Weite der Wüste. Schwer ist es in Worte zu fassen, was Herz und Sinne bewegt hat. Vielleicht kann es nur der mitfühlen, der selbst durch Wüsten der Welt wanderte oder gar auf Hochasiens steinigem Boden schlief. Wer das je tat, bleibt den Weiten für immer verfallen.“138 Abbildung 3: Mannschaftsfoto in Altin-Masar (1928)
Quelle: Archiv DAV NAS 1 FF 119. Wie Donna Haraway für den Bereich der Safari festgestellt hat, verkörperten europäische Reisen in eine als ursprünglich imaginierte Natur die Logik kolonialer Weltbilder in der Arbeitsteilung zwischen Leitungsfunktionen, wissenschaftlichen Einzelaufgaben und einer – kaum als solcher bewerteten – Arbeit des einheimischen Personals.139 Auf der Alai-Pamir-Expedition sprengte die häufig nicht näher bezeichnete Trennung zwischen „wir“ und den „Leuten“ diese klaren und starren Eindeutigkeiten. Stattdessen wurde Zugehörigkeit zu einem Vexierspiel zwischen den russischen und deutschen Wissenschaftlern einerseits sowie den einheimischen Begleitpersonen andererseits. Die jeweiligen Situationen bestimmten, wer dazu gehörte, wer welche Position inne hatte und welchen Status die Expeditionsgemeinschaft selbst einnahm. Die Selbstverortung schwankte zwischen ihrer Aufgabe als wissenschaftliche „Werkgemeinschaft“140 über eine tribale Form bis hin zu einem fast natürlichen „Herdenzustand“.141 Sie konnte auch die Gestalt einer kleinen Gemeinde oder Stadt annehmen.142 138 139 140 141 142
Borchers 1931, 85-86. Haraway 1984-1985, 50. Rickmers 1930a, 59. Rickmers 1930a, 59-60, 240. Borchers 1931, 162.
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So hatte die Expedition ein eigenes Wirtschaftssystem durch Tauschhandel eingerichtet, in dem wie „auf dem Weltmarkt“ Angebot und Nachfrage nach bestimmten Produkten herrschten.143 Die verstreut arbeitenden Wissenschaftler konnten dabei den Austausch mit der dortigen Bevölkerung zu ihren Ungunsten verändern: „Einmal scheint es, als ob es eine kleine Inflation geben soll“, da Wolfgang Lentz’ ‚Forschungsobjekte‘ bestimmte Gegenstände vom Lagerleiter Rickmers einfach geschenkt bekämen, die der Iranist gegen die begehrten Sprachproben tauschen wollte.144 Es gab eine soziale Infrastruktur mit einem Bürgermeisterhaus und einem eigenen Arbeitsmarkt mit „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen“: „Arbeitslose errichten eine Rundmauer aus Feldsteinen und belegen den Hof mit Schieferplatten; alles Notwehr gegen den Staub.“145 Die Expeditionsgemeinschaft kann als Schnittmenge von Lebensformen, die bereits von den europäischen Reformbewegungen als Alternative zur städtischen Zivilisation popularisiert worden waren, und einem zeitlich befristeten und kontrollierten going native betrachtet werden. Aus dieser Mischung erhielt sie ihr spezifisches Gepräge als frontier-Gesellschaft auf Zeit. Eine leicht chaotische Wandervogelatmosphäre durchzog das Zusammenleben.146 Diese Pfadfinder-Stimmung öffnete einen Raum der flachen Hierarchien. Sie definierte die Sprache innerhalb der Expedition. Abbildung 4: Expeditionsmitglieder in einer k irgisischen Jurte
Quelle: Archiv DAV NAS 1 FF 1.
143 144 145 146
Rickmers 1930a, 112. Auch: Lentz 1931, 174-175, 183-184, 197, 199, 221. Lentz 1931, 185. Rickmers 1930a, 83. Borchers 1931, 37, 169. Rickmers 1930, 60.
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Rickmers, den Leiter der deutschen Abteilung und Verwalter der Infrastruktur, rief, laut seinem Reisebericht, auch der „einfachste Knecht kurzweg Genosse oder Rickmers, denn Tura oder Gospodin (Herr) sind weder bei Führern noch Geführten beliebt“.147 Die Expeditionsteilnehmer hatten sich die bereits zitierten Spitznamen als Zeichen einer alternativen Identität zu ihrer bürgerlichen Existenz gegeben. So wurden zum Beispiel Rickmers auch wahlweise als „Kapitän“, „Alter“ oder „Häuptling“ bezeichnet, Dr. Kohlhaupt als „Redsummit“ beziehungsweise „Dr. Summitbrand“ oder einfach „Duchtur“, Finsterwalder als „Schwarzwald“, Nöth als „Hesse“ und Dr. Reinig – ganz pragmatisch nach seiner Tätigkeit – als „Hummelfänger“ oder „Hummel-Hummel“. Zuschreibungen wie „Alter“ oder „Häuptling“ verweisen dabei auf einen zeitlich befristeten Versuch, die europäischen Konventionen hinter sich zu lassen.148 Diese Spitznamen als Sprachcodes der Selbstund Fremdbezeichnung verdeutlichen, dass die Alai-Pamir-Expedition im sozialen Bereich anderen Regeln als den gängigen Vorstellungen eines perfekt organisierten Großforschungsprojektes gehorchen wollte. Der Kommunikation lag zusätzlich eine Sprachmischung zugrunde. Die Umgangssprache war aufgrund der sehr guten Sprachkenntnisse der meisten sowjetischen Teilnehmer Deutsch, wobei es auch zu deutsch-russischenglischen Radebrechversuchen gekommen war. Mit den Einheimischen erfolgte die Kommunikation über Dolmetscher, über den mehrsprachigen Rickmers oder auch wortlos über Gesten und Zeichen. Wahrend der Expeditionsdauer bildete sich eine hybride Verständigungsstruktur heraus. Bestimmte Begriffe wie der afrikanische Terminus „Palaver halten“ statt „sich besprechen“ und das in Mittelasien gebräuchliche „Temascha“ als Bezeichnung für jede Art von gesellschaftlichem Ereignis wurden in den Wortschatz der deutschen Teilnehmer integriert. Verdichtet wurde die neue Sprache als kommunikatives Instrument der Verbundenheit in dem Ausruf „Alai! Alai!“, der aus dem Kirgisischen entlehnt war. Übersetzt bedeutete „Alai“ so viel wie „Masse und Menge“ und bezeichnete als geografischer Begriff einen Teil des Expeditionsgebiets sowie den daraus abgeleiteten Namen der Expedition.149 Als Sprachzeichen hatten sich die „Alai!-Alai!-Rufe“ zu einer Art universal verwendbarem „Schlachtruf“150 entwickelt: Der Titel des Reiseberichts von Rickmers hieß „Alai! Alai!“. In handschriftlichen Widmungen in den publizierten Büchern fand der, ohne Erklärung für Außenstehende schwer verständliche, Code Verwendung; so hatte der Leiter der Bergsteigergruppe im Pamir, Philipp Borchers, das Exemplar seines Expeditionsberichts, das er Willi Rickmers schenkte, mit einer mehrfach aufschlussreichen Widmung versehen: „Dem ‚Vater vom Ganzen‘ W. R. Rickmers mit dem Rufe ‚A-lai!‘ der Verfasser.“ Die Bezeichnung des Expeditionsleiters Rickmers als „Vater“ verweist sowohl auf die schillernden Positionen, welche die einzelnen Teilnehmer innerhalb der Expedition besetzten, als auch auf eine abweichende Form von Autorität. Aus dem bürgerlichen Familienmodell entlehnt, erlebte diese im Expeditionsraum eine etwas unkonventionelle Karriere. Die Figur des Vaters 147 148 149 150
Rickmers 1930a, 39. Archiv DAV, Nachlass Karl Wien, Schachtel Nr. 5, Tagebuch, 1, 13. Lentz 1931, 261. Rickmers 1930a, 41. Archiv DAV, Nachlass Karl Wien, Schachtel Nr. 5, Tagebuch, 4.
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als soziales Zentrum stellte einen Gegenentwurf zu den gleichfalls präsenten neuen Leitbildern des Planers, Logistikers und wissenschaftlichen Spezialisten dar. Die alternierende Figur der patriarchalischen Führungskraft nahm je nach Handlungskontext verschiedene Ausprägungen an. Gegenüber den europäischen Expeditionsteilnehmern kam die Facette des väterlichen Freundes zum Vorschein, gegenüber der einheimischen Bevölkerung eine sanftere Neuauflage des väterlichen Kolonialherren. Die Figur des (post-) kolonialen Vaters verhandelte auf subtilere Art kulturelle Überlegenheit als die in traditionellen Expeditionserzählungen definierte Gestalt des heroischen Abenteurers. Die Beziehung zwischen kolonialem Vater und den Angestellten war vielschichtig. Ihre Ausgestaltung war durch den wechselnden Status, welcher der Bevölkerung des Pamirs zugeschrieben wurde, bedingt.151 Die Träger galten einerseits als Bestandteil der logistischen Infrastruktur, innerhalb derer sie durch ihre Dienste das Fortkommen der Expedition sicherten. Als solche wurden sie praktisch ‚verwaltet‘.152 Kontaktsituationen verunsicherten jedoch diese Eindeutigkeit. Vergleiche zwischen den Bergvölkern aus der europäischen Heimat und denjenigen Turkestans sprengten Zuschreibungen ethnischer Fremdheit: „Man vergleiche einmal die Gesichter unsrer Trossknechte aus Fergana mit denen der Tadschiken, und man wird verstehen, warum ein Freund ausrief: ‚Das sind ja Tiroler! ‘“153 Die Ambivalenz des deutschen Blickes auf ein vermeintlich ursprüngliches (Natur-)Volk brachte Rickmers in Situationen wie der Auszahlung der Träger vor der endgültigen Entlassung aus dem Dienst und der Heimkehr in ihre Dörfer zum Ausdruck: „In Abständen von ungefähr einer Woche fand sich ein Rudel von Heimkehrern zusammen, die nicht mehr zu halten waren, weder mit Geld noch mit guten Worten. Ich rief ihre Namen auf […]. Dazu kam meistens noch ein kleines Geschenk, das mit dem Gelde ins Gürteltuch geknotet wurde. […] Würdevoll strich ich mit den Händen übers Gesicht und sprach den Segenswunsch. Sie taten desgleichen, verneigten sich, machten kehrt und begannen ihren Hundetrab. Ich verfolgte die wandelnde Staubsäule bis an den Rand des Toteises. […] Und doch sähe ich euch so gerne wieder, denn wo ihr nicht seid, da kann auch der Zauber eurer Berge nicht sein.“154 Sprachliche Zuschreibungen – wie zum Beispiel „Rudel“ und „Hundetrab“ – verorteten die Träger im Bereich der Natur. Ihr romantisierter subalterner Status diente dabei als Chiffre innerhalb des europäischen Sehnsuchtsdiskurses und somit einem Selbstzweck. Diese Szene verweist darüber hinaus jedoch sowohl auf eine emotionale Verbundenheit als auch auf einen Versuch, sich auf die einheimische Bevölkerung einzulassen. Sie bezeichnet eine Suche nach alternativen Formen europäischer Hegemonie: Interaktionen, Verständnis und kommunikatives Aushandeln. Im sozialen Gefüge der Expeditionsgemeinschaft bildeten die ‚Angestellten‘ das Pendant zum Vater. Sie galten wie Lentz’ ‚Forschungsobjekte‘– in rousseauscher Manier – als mehr oder weniger erziehbare „Kinder“; den Umgang bestimmte demnach eine Haltung der Fürsorge und Betreuung. Innerhalb dieses patriarchalischen Beziehungsmo151 152 153 154
Zu postkolonialen Vaterfiguren: McClintock 1995, 195-199. Rickmers 1930a, 98. Zu Klagen über die vermeintliche Unwilligkeit und Unfähigkeit der Träger z.B. Borchers 1931, 124. Rickmers 1930a, 100. Rickmers 1930a, 99.
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dells war die Führungsperson das kommunikative Zentrum für die einheimischen Expeditionsteilnehmer sowie der „väterliche Arbeitgeber aus dem Abendland“. Er beschäftigte jenseits ökonomischer Prinzipien auch diejenigen, die als Träger nicht zu verwenden waren: „Nun, wer sonst nicht zu gebrauchen war, der half Osman beim Rübenschnitzeln oder ging Kirgisenraute sammeln.“155 Ein eindeutig hegemonialer Subtext dieser (post-) kolonialen Erziehungsmission durch unterstützende Fürsorge wurde dadurch gebrochen, dass auch die europäischen Expeditionsteilnehmer in dieses patriarchalische Versorgungsmodell integriert waren. 156 Nach der erfolgreichen Heimkehr der Alai-Pamir-Expedition kartierten und erforschten sowjetische Forschungsreisen das tadschikische Hochgebirgsland in den Folgejahren weiter. Deutsche Wissenschaftler waren an der Erforschung des Pamirs nicht mehr beteiligt. Die offizielle Begründung lautete, dass die internationale Arbeitsgemeinschaft von Reibereien und Streitigkeiten im Anschluss an die Expedition überschattet worden sei. Politische Bedenken, fremde Wissenschaftler in diesem unruhigen Grenzgebiet forschen und kartieren zu lassen, dürften zu Beginn der 1930er-Jahre ebenfalls ausschlaggebend für die sowjetische Entscheidung gewesen sein, den Pamir nun ohne die Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich weiter zu erschließen.157 Erst im Dezember 1958 teilte Richard Finsterwalder – zu dieser Zeit Direktor des Instituts für Photogrammetrie, Topographie und allgemeine Kartographie der Technischen Hochschule München – der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit, dass „im Jahre 1956 die Alai-Pamir-Expedition von 1928 fortgesetzt worden sei.“ Beteiligt waren Wissenschaftler aus der Deutschen Demokratischen Republik, aus Freiberg, Dresden und Leipzig. Obwohl während des Kalten Krieges in erster Linie die DDR die Tradition der deutsch-russischen Arbeitsgemeinschaft weiter pflegte, war auch Richard Finsterwalder bei dieser Reise beratend tätig.158
155 156 157
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Rickmers 1930a, 99. Rickmers 1930a, 69-70, 98-99. Archiv DAV, Nachlass Willi Rickmer Rickmers, 04.01.1965.1688: Sonderdruck aus Geographische Wochenschrift 1 (1933), „Neue Forschungen in Tadschikistan“. GhStA VI. HA NL Schmidt-Ott (D), Nr. 161, Nr. 203. Schenk, 49.
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Nach den Expeditionen: Auf der Suche nach ‚Turkestan‘ (II)
J AHRHUNDERTWENDE
ALS
‚M ODERNE ‘
Worin liegt nun die Bedeutung Turkestans für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts? Waren die Expeditionen Episoden ohne Belang für die Folgezeit? Oder lassen sich anhand der Reisen doch spezifische, weiter reichende Rückschlüsse ziehen und Aussagen treffen? Von einer älteren Erinnerungslandschaft sind heute nur noch Fragmente fassbar, deren Spuren sich in Archiven und in Reiseberichten finden. Doch wohin führten historisch die Splitter und Pfade, die hier aufgezeigt worden sind, bei einem Blick zurück in die Vergangenheit? Wohin weisen die Nostalgie, der Fortschrittsglaube, die Abenteuerfantasien und die Erschließungsutopien gegenüber ‚Russlands Orient‘? Besondere Brisanz erhalten diese Fragen vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Zeit, die heute noch einen der historiografischen Kulminationspunkte des 20. Jahrhunderts bildet. Warum verschwand Turkestan aus der öffentlichen Diskussion genau am Vorabend jener Jahre? Wie lässt sich somit die (alte) Frage nach Brüchen und Kontinuitäten der deutschen Geschichte aus der Perspektive der Expeditionen beleuchten? Wie bereits in der Einleitung angesprochen, stellt für die Zeit zwischen 1890 und 1930 – bei allen Alternativen1, die in den letzten Jahren diskutiert worden sind – Deltef Peukerts Konzept der ‚klassischen Moderne‘ immer noch den vorherrschenden Interpretationsrahmen dar.2 Wenn wir die hier vorgestellten Bedeutungsebenen der Expeditionen weiterdenken, sind mit einer Verortung Turkestans innerhalb der ‚klassischen Moderne‘ jedoch zwei Probleme verbunden: Erstens, trotz allem Eigenwert, den Peukert der Weimarer Republik als Krisenzeit der ‚Moderne‘ zugesteht, weist der Ansatz eine latente Teleologie in den Nationalsozialismus auf. Peukert bemüht sich zwar, die Zeit zwischen 1890 und 1933 nicht in den Bahnen des ‚deutschen Sonderwegs‘ zu diskutieren und insofern der Epoche eine gewisse historische Offenheit zuzugestehen. In seinem Schlusswort sind jedoch die Sätze zu lesen, dass „jeder Erklärungsversuch die Hypothek“ mit sich trage, „daß er zwar nicht die nationalsozialistische Diktatur, wohl aber deren ‚Ermöglichung‘ analysieren muß. ‚Weimar‘ hat ein Recht auf seine eigene Geschichte und wird doch ebenso zu Recht auch nach dem beurteilt, was aus seinem Scheitern entstand.“3 In Untersuchungen, welche die Kontinuitäten vom Kai1 2 3
Eisenstadt 2000. Konzept der ‚performative modernity‘: Hansen 2001, 185-202. Beck 2004. So aktuell: Herbert 2007, 5-20. Peukert 1987, 266.
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serreich in das Dritte Reich betonen, wird die untersuchte Zeit aus der Perspektive des Jahres 1933 beurteilt. Erst jüngst hat sich Rüdiger Graf mit dem Problem auseinander gesetzt, wie die mentale Verfassung der Weimarer Gesellschaft auf eine andere Weise zu erklären sei: Es sei „die methodische Ausblendung der zukünftigen Gegenwart notwendig, um ihre zeitgenössische Plausibilität zu beurteilen.“4 Aktuell wird die Weimarer Republik als Möglichkeitsraum mit offenem Zukunftshorizont neu interpretiert. Wenn man die Metapher des Möglichkeitsraumes im Sinne einer Verräumlichung von Geschichte ernst nimmt, schließt sich daran die bislang kaum beantwortete Frage an: Wo lagen die utopischen Orte des Kaiserreichs und der Weimarer Republik?5 Dieses Buch stellte Turkestan als einen davon vor: Während im Kaiserreich dort vor allem Brüche der imperialen Ideologie fassbar werden, nimmt Turkestan – als Ort und Topos – in der Weimarer Zeit den Charakter einer Alternative zur bisher erzählten Geschichte des 20. Jahrhunderts an. Dabei gilt es besonders, transnationale Entwicklungen und Bezüge, die in der Forschung zum Kaiserreich bereits eine bedeutende Rolle spielen, in der Weimarer Zeit stärker zu berücksichtigen als es bisher der Fall ist.6 Zwar konnten die verschiedenen Lebensformen und ‚Weltanschauungen‘, die im Kaiserreich und der Weimarer Zeit existierten, von der nationalsozialistischen Ideologie aufgenommen werden. Sie konnten aber auch auf eine andere mögliche Zukunft verweisen. Das Verdienst der jüngeren Forschung zum deutschen Kolonialismus bestand darin zu zeigen, dass das Kaiserreich trotz marginalem Besitz und kurzer Herrschaftsdauer ähnlich den Imperien Großbritannien, Frankreich und Russland eigene Machtinteressen in den europäischen Peripherien verfolgte.7 Aus dieser Perspektive gelten Visionen imperialer Raumkontrolle im ‚Osten‘, die in den 1920er-Jahren an Aktualität gewannen, häufig als Bindeglied zwischen wilhelminischer Weltpolitik und nationalsozialistischem Weltmachtstreben.8 Ambivalente Akteure wie Martin Hartmann sind als anderer Typ des Orientalisten bislang kaum untersucht worden. Einerseits befürwortete Hartmann, den Marchand als „enlightened Arabist“ bezeichnet, deutsche Kolonial- und Machtpolitik. Andererseits lehnte er die Unterdrückung der ‚schwarzen‘ durch die ‚weiße Rasse‘ ab, begegnete Unabhängigkeitsbewegungen mit großer Sympathie und dachte an eine ‚Modernisierung‘ des Orients.9 Wie dieses Buch gezeigt hat, arbeitete der linksliberale Islamwissenschaftler Hartmann im Ersten Weltkrieg in der Nachrichtenstelle für den Orient und skizzierte dort die Umrisse einer frühen Politik der ‚Entwicklungshilfe‘. Als zweiter Grund gegen eine Anwendung von Peukerts Konzept auf Turkestan-Expeditionen spricht die Tatsache, dass sie räumlich das Interpretationsraster überschreiten. Im Rahmen seiner Schwerpunktsetzung auf die nationale Geschichte eignet sich sein Ansatz nur bedingt, um überhaupt den 4 5 6 7 8 9
Graf 2005, 14. Graf 2005, 250-271. Z. B. Conrad 2006. Torp, Müller 2009, 9-27. Grundlegend: Conrad, Randeria 2002. Liulevicius 2010, 130-170. Marchand 2009; 338, 356-361. Nur kursorisch zu Hartmann, da er sich nicht unter die üblichen imperialen Experten subsumieren lässt: Fuhrmann 28.07.2002, 10.
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Kontakt von Europäern zur außereuropäischen Welt zu fassen: Sein Zugang, der im Grunde auf dem Boden modernisierungstheoretischer Annahmen im sozialen Bereich steht, hat weitreichende Implikationen: Wie Dipesh Chakrabarty festgestellt hat, lasse diese Perspektive die außereuropäische Welt als ‚rückständig‘ erscheinen, da ihre Geschichte – gemessen an Mitteleuropa – nur als Mangelgeschichte erzählbar würde.10 Aus diesen zwei Gründen passt das Konzept des (langen) fin de siècle, auf das auch Jürgen Osterhammel in seiner Interpretation des 19. Jahrhunderts zurückgreift, besser, um Turkestan-Expeditionen zu verstehen.11 Der Blick auf das 20. Jahrhundert aus der Perspektive der ‚langen Jahrhundertwende‘ zielt darauf ab, historische Überlagerungen genauer zu betrachten. Kontinuitäten in den Nationalsozialismus müssen dabei verfolgt und gleichzeitig kritisch hinterfragt werden. Für den Bereich des deutschen Orientalismus hat Suzanne Marchand Ambivalenzen, die nicht aufzulösen sind, als Scheidewege in die Zukunft skizziert: Die Wissenschaft in der Weimarer Zeit habe sowohl Grundsteine für die nationalsozialistische Ideologie, als auch für eine multikulturelle Denkweise gelegt.12 Um die historischen Reichweiten des Topos ‚Turkestan‘ zu verstehen, rückt nochmals der Endpunkt der Faszination genauer in den Fokus: das Jahr 1928. Die Basis für den Bedeutungsverlust Turkestans bilden die Geschichte Mittelasiens sowie geografische Veränderungen. Deutsche Forschungsreisen wie die Alai-Pamir-Expedition trugen zur Neuordnung Mittelasiens bei, denn Expeditionen nach Asien, häufig auch in Form von Kooperationen, fügten sich laut Nadine Hirsch in ein sowjetisches Modell des ‚state-sponsored evolutionism‘. Diese Zusammenarbeit von Ethnologen und Politikern hatte zum Ziel, aus den unterschiedlichen Regionen ein einheitliches Sowjetreich zu schmieden.13 Daraus resultierende Veränderungen haben die deutschen Expeditionen gleichzeitig dokumentiert. Wie sie feststellten, konnte der ‚alte Orient‘ Turkestans der sowjetischen Politik nicht standhalten.14 So hatte im Anschluss an die internationale Alai-Pamir-Expedition Willi Rickmers 1928 nochmals Buchara und Samarkand besucht. Das Wahrzeichen Samarkands, die von Timur erbaute Moschee Bibi-Chanim, welche bereits um 1900 als der Inbegriff einer zerfallenden Welt gegolten hatte, war nun endgültig eingestürzt.15 Zur Stadt Buchara stellte Rickmers fest: „Die Altstadt, Bochara-alScharif, die Edle, die Heilige, enttäuschte mich herb. Wie war es doch damals im Jahr 1894? […] Ich hab’s gesehen; es ist dahin. Buchara war die letzte unverfälschte Großstadt des Ostens. […] Heute ist Buchara auf dem Wege, ein ganz gewöhnliches Kairo oder Tunis zu werden. […] Das ist der Preis des Fortschritts.“16 Turkestan verschwand nicht nur als Ort von der geografischen Karte. Mit Turkestan löste sich auch ein Sammelbecken für die verschiedenen Debatten und Entwicklungen der ‚langen Jahrhundertwende‘ auf. Nach dem Verlust der Verortungsmöglichkeit verselbständigten sich ihre Wege. 10 11 12 13 14 15 16
Chakrabarty 2000, 3-26. Osterhammel 2009, 95-128. Marchand 2009, 474-498. Hirsch 2005, 231-252. Rickmers 1930a, 186-187. Rohrbach 1898, 60. Karutz 1904, 87. Rickmers 1930a, 186-187.
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Turkestan-Expeditionen
Diese Ausdifferenzierung bedingte Vereinfachung und Eindeutigkeit. Doch was genau endet 1928, was beginnt neu und wohin führen die verschiedenen Pfade? D AS E NDE
DER
‚W ELT
VON GESTERN ‘
Wie bereits Willi Rickmers scharfsinnig feststellte, beschloss die Alai-PamirExpedition eine Tradition von Naturaneignung und Völkerbeschreibung, die auf das so genannte ‚zweite Entdeckungszeitalter‘ verweist.17 Jürgen Osterhammel hat das 19. Jahrhundert unter dem Vorzeichen der ‚Entdeckungsreisen‘ angedacht und lässt diese Epoche mit James Cook (1768) beginnen und mit Roald Amundsens Vorstoß zum Südpol (1911) enden.18 In Bezug auf das Deutsche Reich klammert Osterhammels Periodisierung die Wissenschaft und (Populär-)Kultur der gesamten Weimarer Zeit aus. Objektiv mochte die Welt zwar um 1900 in groben Zügen bekannt und erschlossen sein, doch die Sehnsucht nach dem ‚Unbekannten‘ lebte in den letzten ‚weißen Flecken‘ fort. Entdeckungsreisen waren ein fester Bestandteil des Imaginationshaushalts und des kulturellen Repertoires europäischer Gesellschaften. Zwischen ‚Entdeckung‘ und ‚Erschließung‘ boten Expeditionen bis in die 1930er-Jahre den Reisenden Selbstverortungsmöglichkeiten in der eigenen Zeit, die in erster Linie als Übergangszeit verständlich wird. Obwohl Abenteuererzählungen in massiver Form nationale und imperiale Selbstbilder verkörperten, standen auch noch die Expeditionen des 20. Jahrhunderts in der naturforschenden Tradition ihrer aufgeklärten Vorläufer. Erst die exakten technischen Vermessungsarbeiten der Alai-Pamir-Expedition leiteten das Ende der ‚Entdeckung‘ und eines beobachtenden Zugangs zur Natur ein. Abgelöst wurden diese durch eine rational-technische Annäherung an die Welt, die nun als ‚entdeckt‘ galt. Bereits Rickmers’ Expeditionstheorie hatte auf die große Bedeutung von Observatorien und Forschungsstationen für die Wissenschaft der Zukunft verwiesen.19 Auch Sven Hedin reflektierte die zukünftige Rolle der engmaschigen Vermessung und globaler Bestandsaufnahmen.20 Tatsächlich war das 20. Jahrhundert von groß angelegten Projekten zur Landeserschließung und zum Infrastrukturausbau geprägt, auch in abgelegenen Gebieten. Somit erwuchs den Typen des beobachtenden Naturforschers und des romantischen Reisenden – die noch aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammten – in den 1920er-Jahren mehrfache Konkurrenz an der Peripherie. Als ein Ergebnis der Reorganisation von Forschungsreisen als rationalisierte Großforschungsprojekte popularisierte die Alai-Pamir-Expedition technische und wissenschaftliche Experten sowie Logistiker als alternative Leitbilder. Auch der Weltreisende Colin Ross sah in den Ingenieuren, Mathematikern, Physikern und Chemikern die „Führer der naturwissenschaftlich-technischen Zeit.“21 Um 1900 wussten die Zeitgenossen selbst vom nahenden Ende ihrer Epoche. Die Thematisierungskonjunktur von ‚Entdeckung‘ in den geografi17 18 19 20 21
Rickmers 1929, 60. Osterhammel 2009, 132-133. Rickmers 1930a, 242. Hedin, Brennecke 2001, 25. Ross, Colin: Die Welt auf der Waage, 34 Leipzig 1941, 46, zitiert nach van Laak 2004, 230.
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schen Zeitschriften um 1900 ist nichts anderes als ein Historisierungsversuch der eigenen Gegenwart. Sie öffneten einen Raum, um eine in der Zukunft vollständig bekannte und ‚entzauberte‘ Welt zu bedauern. Diese Mischung aus Gefühl und Reflexion drückte sich in der Nostalgie als äußerst ambivalenter Zeitdiagnose aus. Sie ist einerseits die Trauer über den weltweit einsetzenden Fortschritt, der als irreversibel gesehen wurde. Andererseits sind in nostalgischen Betrachtungen die Zeitqualitäten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überlagert. Nostalgie trauert nicht nur einem verloren geglaubten goldenen Zeitalter nach, sondern entwickelt aus der gegenwärtigen Vergangenheit auch Wege in die Zukunft. Sie hatte kreatives Potential als Suche nach einer anderen ‚Moderne‘ und verblasste als Mittel derartiger Re flexionen selbst während der ‚langen Jahrhundertwende‘. Bei einer Betrachtung der Turkestan-Expeditionen als Gradmesser eines veränderten globalen Bewusstseins lässt sich um 1930 ein Übergang von der (Spät-)Romantik und letzten Ausläufern der Aufklärung, die noch im Zeitalter des Hochimperialismus präsent waren, zur Pragmatik feststellen. 1890-1930 ALS T RANSFORMATIONSJAHRE : W ANDEL W ISSENS - UND W ELTORDNUNG
DER
Dieser Umschwung hatte Folgen für die Wissensordnung bis in unsere Gegenwart. Die nostalgischen Reisenden verschwanden als Personen aus unserer Erinnerung. Im Gegensatz zu ihnen lässt sich eine Kontinuität des heroischen Abenteuers vom Kaiserreich, über die Zwischenkriegszeit und den Nationalsozialismus bis heute feststellen. Warum Menschen wie Sven Hedin oder Wilhelm Filchner im Gegensatz zu Willi Rickmers oder Gottfried Merzbacher heute noch in unkommentierten Neuauflagen alter Berichte oder in Fernsehdokumentationen präsent sind, kann nicht nur an deren wissenschaftlichen Leistungen liegen.22 Es ist eine offene Frage an unsere Gesellschaft, warum Geschichten heroischer Männlichkeit, die im Grunde koloniale Deutungsmacht über die außereuropäische Welt vermitteln, im 21. Jahrhundert noch Anklang finden. Ein möglicher Ansatzpunkt ist eine bestimmte Annäherung an die außereuropäische Welt(-geschichte), die ebenfalls während der ‚langen Jahrhundertwende‘ ihren Ausgang nimmt. Durch Vereinfachung, Eurozentrismus und eine alleinige Verortung von Geschichte und Identität in einem nationalen Rahmen gingen nach der ‚langen Jahrhundertwende‘ spezifische Formen des Wissens verloren. Sachverhalte, welche die postkoloniale Forschung im Moment wieder ‚entdeckt‘, wie die historische Verflechtung zwischen Orient und Okzident, waren den Zeitgenossen aber gleichzeitig im imperialen Zeitalter, um 1900, noch bewusst. Auch den ambivalenten Charakter des Orients als Ursprung (des Eigenen) und als Anderes der europäischen Kultur haben nicht erst Edward Said und seine Vordenker wie Raymond Schwab erkannt; bereits die Wissenschaft um 1900 diskutierte diese Eigenschaft des Morgenlandes. Ebenso waren sich einige Geografen, Archäologen, Sprach- und Religionswissenschaftler zwischen 1890 und 1930 durchaus bewusst, dass ‚Orient‘ nicht so sehr ein kon-
22 Z.B. Hedin, Brennecke 2001.
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Turkestan-Expeditionen
kreter Raum als vielmehr eine begriffliche Konvention, eine europäische Imaginationslandschaft und schließlich eine ‚Konstruktion‘ ist. Dieses Wissen ist jedoch in der Folgezeit, bis vor einigen Jahrzehnten, aus der europäischen Betrachtung fast vollständig verschwunden. Vor allem die Archäologie als Feldwissenschaft und Metapher eines kulturellen Wissenshaushaltes verbuchte in der Folgezeit sowohl ihre öffentliche Anziehungskraft als auch gehörige inhaltliche Verluste. Ihr kam der offene Charakter als Verhandlungsfolie für verschiedene Identitäts-, Zeit- und Kulturkonzepte abhanden. Interpretationen von Vielfalt und Vermischung wurden durch Deutungen von Reinheit abgelöst. Damit verschwand nicht nur das religionswissenschaftlich-orientalistische Wissen aus der Öffentlichkeit, sondern auch ein transnationaler historischer Bezugsrahmen der eigenen Identität. Prinzipiell konnte die Obsession eurasischer Ursprünge zwar von der rassistischen Propaganda vereinnahmt werden. 23 In der nationalsozialistischen Zeit jedoch erhielt die Archäologie vor allem eine grundlegend neue Funktion: Ursprungsmythen und die Verbreitungsgebiete germanischer oder ‚nordischer‘ Vorfahren dienten in erster Linie der politischen Legitimation von Gebietsansprüchen. Gemessen an einer langfristigen Entwicklung ist der Bedeutungsverlust der Archäologie darauf zurückführen, dass der Vergangenheitsbezug innerhalb der deutschen Orientalistik ohnehin an Verbindlichkeit verlor. Die spät-romantische Identifikation mit dem ‚Orient‘ als (eigene) Vorgeschichte wich einer pragmatischen Perspektive auf die politische Gegenwart des Raums. Geschichte, Archäologie und Religionswissenschaft büßten dann verstärkt in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ihre öffentliche Deutungshoheit ein. Disziplinen wie die gegenwartsbezogene Soziologie und Politikwissenschaft erlebten einen Durchbruch.24 Der Siegeszug der epistemischen Überlegenheit Europas und Nordamerikas über die außereuropäische Welt ist mit dem Mangel an universalistischen Perspektiven auf den Erdball und an Akzeptanz der nicht-europäischen Weltregionen verbunden. Dieser Niedergang des Vergangenheitsbezuges setzte bereits in den Jahren um den Ersten Weltkrieg ein, als soziologische, politik- und rechtswissenschaftliche Perspektiven sowie die ‚modernen‘ orientalischen Sprachwissenschaften – zwar immer noch als ‚Minderheitenposition‘ – allmählich an Einfluss gewannen. Der Umschwung hatte eine Suche nach ‚Gegenwart‘ zur Folge sowohl im bereisten Land als auch in Bezug auf das eigene Erleben.25 Diese verschiedenen Entwicklungen, die in der Beschäftigung mit Turkestan verankert waren, zeugten im Kleinen von einem kompletten politischen Wandel der Weltordnung, der zwischen 1890 und 1930 begann. Kolonialismus, Modernisierung und Globalisierung waren mehr als abstrakte Schlagworte. Vor allem in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg standen die Zeitgenossen tief greifenden Veränderungen gegenüber. In Bezug auf Asien sprachen Beobachter vom ‚Erwachen‘ des Kontinents. Was war geschehen,
23 Marchand 2004, 331-358. 24 Ash 2006, 19-37. Wiggershaus 2001, 424 ff. Halsey 2004. Hartmann 2003, 133197. Quadbeck 2008. Bleek 2001, 265-370. 25 Marchand 2009, 484-487.
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dass der außereuropäische Raum plötzlich die europäische Welt politisch herauszufordern schien? Koloniale Freiheitsbewegungen hatten das im Ersten Weltkrieg propagierte „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ als Leitidee übernommen.26 Unter der Führung Mahatma Mohandas Karamchand Ghandis entwickelte sich der Indian National Congress zu einer Schlüsselorganisation der dortigen Unabhängigkeitsbewegung. Die öffentlichkeitswirksamen Aktionen Ghandis wie der Salzmarsch im Jahr 1930 und Handlungen des zivilen, gewaltfreien Ungehorsams versetzten die britischen Behörden in Alarmbereitschaft. Die zugleich auch stattfindenden gewaltsamen Aufstände in Indien schlugen die Briten militärisch nieder. Auch in Afrika mehrten sich noch zaghafte Forderungen nach Selbstständigkeit. Das globale politische Klima war von transnationalen Zusammenschlüssen der (ehemaligen) Kolonialvölker in den so genannten Pan-Bewegungen geprägt, wie den Organisationen des PanIslam, panasiatischen Unionen oder dem Panafrikanismus. Das Verlangen nach politischer Unabhängigkeit verknüpfte sich mit dem technischen, wirtschaftlichen und bildungsmäßigen ‚Fortschritt‘ in der außereuropäischen Welt oder den Forderungen danach. Als neue Mächte betraten nicht nur die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion die weltpolitische Arena. Japan entwickelte in Bezug auf den asiatischen Kontinent mit der Eroberung der Mandschurei imperiale Bestrebungen, die zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit China führten. Die europäische Vorherrschaft über die Erde schien ihrem Ende entgegen zu gehen.27 Colin Ross analysierte 1929 die globale Lage und forderte in einer sozialpsychologisch angehauchten Argumentation nichts Geringeres als ein neues Weltbild: „Die Verschiebung der Stellung der weißen Rasse ist nur eine Seite des unheimlichen Prozesses, den Europa heute durchläuft. Dieses Zusammenbrechen der weißen Autorität über die Farbigen wäre nie mit einer solchen Plötzlichkeit eingetreten, wenn nicht in der weißen Seele etwas gerissen wäre. Es handelt sich um mehr als drohende Rassenkonflikte. Es handelt sich darum, daß das gesamte Weltbild, das die westliche Zivilisation und Kultur in den vergangenen Jahrhunderten aufgebaut hat, zusammenstürzt und damit die europäische Welt selbst, wenn sie nicht rechtzeitig durch ein neues Weltbild gestützt wird, das als solches geglaubt und akzeptiert werden kann.“28 Eine derartig drastische Krisensymptomatik bezog Visionen des Untergangs, die bis 1928 auf Turkestan projiziert worden waren, auf die eigene Gesellschaft, die nun selbst als das Überlebte galt. Neue Orientierung und eine fest gefügte Weltanschauung in der globalen Krise boten faschistische Strömungen mit ihren rassistischen Ideologien. Doch es gab durchaus andere Optionen. Themen, die in Bezug auf Turkestan während des Ersten Weltkriegs aufkamen und die Zwischenkriegszeit prägen, wie der Zukunftsdiskurs, Erschließungsideen, frühe Konzepte der ‚Entwicklungshilfe‘ oder Entwürfe von multinationalen Gemeinschaften auf Zeit reflektieren die von deutschen Beo26 Für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: Marchand 2009, 427-429. Drascher 1960, 51156. 27 van Laak 2004, 207-210. Ross 1940, 9-19. Rohrbach 1932, 35-75. Geiss 1968. Ansprenger 1966. von Albertini 1990, 25-46. Betts 2004, 5-19. Springhall 2001, 18-30. Holland 1985, 1-33. 28 Ross 1941, 15.
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bachtern wahrgenommene, langsame Entstehung einer postkolonialen Welt. In diesem Zeitraum zwischen kolonialer Vergangenheit und antizipierter postkolonialer Zukunft verabschiedeten Turkestan-Expeditionen spezifische Praktiken, Ideologien und Identifikationsfiguren des klassischen Imperialismus. Asmis verkörperte als wirtschaftlicher Experte nicht nur einen neuen Typen von Forschungsreisenden, der in das rational-technische Erschließungszeitalter passte. Im globalen Handlungskontext angesiedelt, beseitigte der Wirtschaftspionier Rudolf Asmis Konzeptionen des deutschen ‚Herrenvolkes‘ im kolonial-ökonomischen Bereich. Der sensible Zeitdiagnostiker Rickmers historisierte das Abenteuer als nicht mehr zeitgemäße Ausdrucksform des europäischen Überlegenheitsgefühls. Unternehmungen wie die Alai-Pamir-Expedition stellten zudem der nationalen Ausrichtung von Forschungsreisen internationale Alternativen entgegen. Derartige Expeditionen fügten sich als kulturpolitische Prestigeprojekte in die kurze Phase des Weimarer Kosmopolitismus. Sie wird häufig mit dem Vertrag von Rapallo, dem Völkerbund, Stresemanns Stabilisierungspolitik, der Großstadt Berlin sowie den ‚goldenen Zwanzigern‘ assoziiert, aber auch mit dem Exotikboom, vermittelt durch Bücher und Filme aus außereuropäischen Weltgegenden.29 Diese Zeitspanne der Weimarer Republik öffnet einen kurzen Möglichkeitsraum der Alternativen zur realhistorisch darauf folgenden nationalsozialistischen Zeit. Sie verweist gleichzeitig auf Anknüpfungspunkte für die Zukunft der Nachkriegszeit. Mit ähnlich aufgebauten, aber teilweise apologetischen Argumenten innerhalb der bundesrepublikanischen Geschichte über ein verborgenes, vermeintlich gutes „Drittes Deutschland“, in dem humanitäre Werte die Jahre der nationalsozialistischen ‚Barbarei‘ überdauert hätten, hat diese Überlegung wenig gemein. Jene Erzählung diente, auch in Gestalt der Abendlandideologie der 1950er-Jahre, als eine Art nationaler Selbstrechtfertigung.30 Der Vorschlag hier hat, wie später noch zu zeigen sein wird, einen anderen Bezugshorizont. T URKESTAN ALS ‚ DEUTSCHER O STEN ‘? W ISSENSCHAFT UND P OLITIK IM N ATIONALSOZIALISMUS Eine Untersuchung der Rolle Turkestans während des Nationalsozialismus ist schon deshalb nötig, da der ‚Osten‘ ein zentraler Raum der nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungspolitik war. Zudem geriet während des Zweiten Weltkrieges – vor allem im Gefolge des Russlandfeldzuges – Mittelasien verstärkt in den Fokus. Die Auswärtige Politik, allen voran der deutsche Botschafter in der Türkei, Franz von Papen, und der Staatssekretär Ernst von Weizsäcker versuchten erneut, die panturanische Bewegung in ein prodeutsches Fahrwasser zu lenken. 1941 berichtete Franz von Papen zum ersten Mal nach Berlin über diese Möglichkeit. Von Papens Idee eines panturanischen Machtbereichs unter deutscher Kontrolle interessierte das Auswärtige Amt, die Wehrmacht und die deutsche Industrie. Dabei erinnerte Franz von Papens neu erwachte Faszination stark an die Pläne des Ersten Weltkrieges. Auf seine Initiative und gestützt auf Kontakte zu ‚turanischen‘ Immig-
29 Weitz 2007, 207-250. 30 Schildt 1999a, 149-180. Schildt 1999b, 21-55. Schildt 1998, 211-252.
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rantenkreisen und türkischen Politikern – unter anderem zu Nuri Killigil, dem Bruder Enver Paschas – richtete das Auswärtige Amt ein panturanisches Komitee ein. Der Leiter dieser Organisation war der alt gediente Orientexperte Werner Otto von Hentig.31 Dieses Netzwerk entwarf – erneut – ein großes Programm: Die muslimischen und turkstämmigen Kriegsgefangenen sollten ausgesondert und in spezielle Lager geschickt werden, um sie durch Vertreter der panturanischen Bewegung ausbilden zu lassen und danach als prodeutsche Agenten hinter die Frontlinien zu schicken. Wehrmacht und SS planten, aus kriegsgefangenen Turkestanern fremdvölkische Verbände zu formen und sie in den Kampf gegen die Sowjetunion zu schicken. Zuständig für die militärische Ausbildung war Generalmajor Oskar von Niedermayer, einer der Leiter der deutschen AfghanistanExpedition (1915).32 Aus heutiger Sicht klingen Propaganda-Ansprachen vor den zu rekrutierenden muslimischen Soldaten wie Niedermayers Rede im Juli 1942 zynisch, die – mit antikolonialer Rhetorik gespickt –‚unterdrückten‘ Völkern ‚Freiheit‘ versprach: „Unser Ziel ist es, den durch Bolschewismus unterdrückten Völkern die Freiheit zu bringen, wirtschaftliche Freiheit, kulturelle Freiheit, religiöse Freiheit, politische Selbstverwaltung unter deutschem Schutz. Denn es ist klar, dass die verschiedenen kleinen nationalen Staaten eines starken Schutzes gegen gefährliche Nachbarn bedürfen. Für dieses Ziel der Befreiung und der Befreiung eurer Heimat rufen wir euch auf. Wer dafür in unseren Reihen kämpft, der erwirbt sich auch das Recht, an der Bestimmung des künftigen politischen Schicksals seiner Heimat mitzuwirken.“33 Die bislang kaum untersuchte, strategisch motivierte Kooperation von Teilen der nationalsozialistischen Elite mit außereuropäischen Befreiungsbewegungen ist ein Kapitel der Geschichte, das sich gängigen Interpretationen sperrt.34 Der Rückgriff auf die Orientplanungen des Ersten Weltkrieges weist Kontinuitäten in personeller, strategischer und rhetorischer Hinsicht auf. Der Erste Weltkrieg hatte dazu beigetragen, dass der Osten bis nach Russland hinein als Expansionsraum erfahren wurde und in der Folgezeit imperiale Phantasien ermutigte.35 Tatsächlich ist den Großraumplänen des Ersten Weltkriegs eine frappierende Ähnlichkeit mit der NS-Zeit zu eigen. In geopolitischen Analysen, wie in einem Artikel im Round Table, zeichneten britische Beobachter 1918 sogar das Schreckgespenst vor, dass Deutschland Russland und Asien erobern wolle, sie prophezeiten den Marsch der deutschen Truppen bis nach Mittel- und Fernost. Auch Rudolfs Asmis’ Umsiedlungspläne in den 1920er-Jahren, die vo n ihm geäußerten Utopien, den östlichen Raum bis nach China zu erschließen, sowie seine enthumanisierende Rede vom „Menschenmaterial“36, das zur Besiedelung des ‚leeren‘ Raums zu 31 Roth 2004, 87-118. PA AA, R 29900. 32 Hoffmann 1976. Neulen 1985. Ellinger 2006, 266-268, 333-338, 350-355, 377386, 405-411. 33 BArch R 6/247, Bl. 32. 34 Meist werden bezüglich der arabisch-deutschen Kooperation die gemeinsame Feindschaft zur jüdischen Bevölkerung und der Holocaust betont: Herf 2009. Mallmann, Cüppers 2006. 35 Unger 2007, 45-46. Auch: van Laak 2005, 22. 36 Zum Terminus: Rass 2003. Pyta 2001, 31-94.
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rekrutieren sei, lassen Anklänge an spätere nationalsozialistische Pläne erahnen. Auch die Karrieren der hier untersuchten Forschungsreisenden endeten teilweise im Umfeld des nationalsozialistischen Machtapparats.37 Es gibt sie, die Versatzstücke einer Kontinuitätslinie, die in den Nationalsozialismus führten; es gibt Ideen, die später von den Nationalsozialisten aufgegriffen wurden – doch trotz aller Gemeinsamkeiten lohnt sich ein zweiter, genauerer Blick. Die Ambivalenz zwischen Kontinuität und Alternative wird an den unterschiedlichen historischen Kontexten deutlich: Nicht vergessen werden dürfen die prosowjetischen Tendenzen während der Weimarer Republik und die Überlegungen der 1920er-Jahre, sogar eine – vor allem gegen das britische Empire gerichtete – ‚antiwestliche Allianz‘ mit der Sowjetunion einzugehen. Die Russlandpolitik der Zwischenkriegszeit verwies auf die andere Tradition der deutsch-russischen Kooperation seit dem Kaiserreich und damit auf einen alternativen Weg in die Zukunft: Mit dem Schlagwort ‚Okzidentalismus‘ betont die neuere Forschung verstärkt die deutsch-russischen Gemeinsamkeiten eines feindlichen Blickes auf den sich formierenden Westen, wobei die romantische Modernekritik des 19. Jahrhundert eine geteilte Basis dafür war.38 Dass es von der Turkestan-Faszination der ‚langen Jahrhundertwende‘ zur Ostraumpolitik der nationalsozialistischen Zeit ein weiter, keineswegs zwingender und alles andere als geradliniger Weg war, zeigen in eindringlicher Weise die Veränderungen innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion. Mitte der 1930er-Jahre hatten sich der disziplinäre Zugriff und damit die Debatten über Mittelasien verschoben. Während in den Jahren zwischen 1890 und 1930 die Geografie und die Archäologie Leitwissenschaften der Erforschung des Raums waren, setzten sich in der Folgezeit die Politik, eine angewandte Volks- und Siedlungskunde sowie die Rassenkunde durch. Die zukünftige Rolle der „Nationalitätenpolitik“ kam bereits zusammen mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker während des Ersten Weltkriegs auf. Sie gewann als Kriterium der politischen Beurteilung während der ‚Mission Asmis‘ an Bedeutung. Den Interpretationen des Weltkrieges und der Wirtschaftspolitik der 1920er-Jahre lag jedoch die politische Perspektive der (möglichen) Unabhängigkeit und Selbstverwaltung Turkestans zugrunde, während die nachfolgende Deutung rassische Zuschreibungen in das Zentrum stellte. Eine Reise des Russlandexperten Georg Cleinows 1927/1928 bedeutete den Durchbruch dieses völkisch-nationalen und pragmatisch orientierten Beschreibungsstils. Cleinows Ziel bestand darin, nicht nur die sowjetische Nationalitätenpolitik, sondern auch die ‚völkischen‘ Bestandteile Mittelasiens zu erfassen. Als zudem noch erklärter ‚Antibolschewist‘ leitete Georg Clei37 Auf die Beziehung Willi Rickmers zum Ahnenerbe sowie Rudolf Asmis weitere Laufbahn im NS-Apparat ist bereits hingewiesen worden. Auch Fritz Machatschek hatte in der nationalsozialistischen Zeit einen Posten in der Arbeitsgemeinschaft Turkestan e.V. als Leiter der Abteilung Landeskunde inne. Wilhelm Filchner erhielt 1937 den Deutschen Nationalpreis für Kunst und Wissenschaft. Während des Zweiten Weltkrieges war er in Indien interniert. 38 Dazu und zum Folgenden auch: Unger 2007, 42-81. Baberowski, DoeringManteuffel 2006, 19-24. Des Bergien 2006, 393-408. Koenen 2005, 322-347. Buruma, Margalit 2005.
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now in der Folgezeit das Eurasische Seminar an der Deutschen Hochschule für Politik und prägte somit das Sowjetunionbild zahlreicher Nachwuchswissenschaftler sowie deren Haltung zu Mittelasien. 39 Ende der 1920er-Jahre begann das neue Thema der Nationalitätenpolitik die Diskussion zu beherrschen, und ein rassistisches Ordnungsdenken wurde zur vorherrschenden Perspektive auf Mittelasien. Die Wissenschaft verlor ihre Funktion als Vermittlerin einer spätromantischen Identitätssuche. Dieser Generation der Turkestan-Experten kam somit die eigene Identifikation mit dem Raum abhanden, der dadurch zum bloßen Objekt der Planung werden konnte. Die erste ausführliche, politikwissenschaftliche und nationalitätenpolitisch organisierte Studie aus dieser Tradition war Mendes „Der nationale Kampf der Russlandtürken“ (1936). Teilweise noch der Rhetorik des ‚antikolonialen Befreiungskampfes‘ verpflichtet, legten Mendes’ Theorien den Grundstein für eine völkisch orientierte, politische Turkologie. Diese auf eine Einteilung nach ethnischen Gesichtspunkten orientierte Perspektive siegte auch in den Studien seiner Fachkollegen und Zeitgenossen Johannes Benzing und Bertold Spuler.40 Hauptsächliche Bestimmungsgrößen der nationalsozialistischen Turkologie waren die Kategorien der ‚Rasse‘, des Siedlungsgebietes und der Volksgruppenzugehörigkeit. In den 1940er-Jahren mussten die Turkvölker der Sowjetunion nach klaren ethnischen und dichotomisierenden Prinzipien definiert werden, um sie von der russisch-slawischen Bevölkerung der Sowjetunion für die deutschen Pläne abgrenzen zu können.41 Im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Forschung zu Mittelasien stand Rainer Olzscha. Er leitete die Arbeitsgemeinschaft für Turkestan e.V. innerhalb der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, die dem Reichssicherheitshauptamt unterstellt war. Er hatte Kontakte zu Georg Cleinow gepflegt. Die Arbeitsgemeinschaft beschäftigte sich mit Fragen über die wehrund volkswirtschaftliche Bedeutung Mittelasiens für das Rüstungspotential der Roten Armee. Das Ziel der wissenschaftlichen Arbeiten war es, Unterschiede und Gemeinsamkeiten sowjetischer Volksgruppen herauszuarbeiten, um für die geplante Neuordnung des ‚Ostraumes‘ eine Basis zu haben. Studien wie „Völker, Volksgruppen und Volksstämme auf dem ehemaligen Gebiet der Sowjetunion. Geschichte, Verbreitung, Rasse, Bekenntnis“, die vom Rassenamt der SS und dem Berliner Institut für Grenz- und Auslandsstudien herausgegeben wurden, lieferten harte Kriterien und Ordnungsmuster der Volkszugehörigkeit.42 Halten wir als Gemeinsamkeit der verschiedenen nationalsozialistischen Pläne gegenüber Mittelasien fest: Bei allen waren die Kategorie der ‚Rasse‘, die Bedeutung von Siedlungsraum sowie ein eindeutiger Antikommunismus ein fixer Bestandteil. Gemäß den nationalsozialistischen Lebensraumplänen sollten deutsche Bevölkerungskreise im Osten angesiedelt werden, wobei die Umsiedlung, Deportation und sogar ‚Vernichtung‘ anderer Ethnien oder Re-
39 Zu Cleinows Reisen vgl. folgenden Bestand im Archiv des Auswärtigen Amtes: PA AA, R 86392. Unger 2007, 56. Voigt 1994, 234-239. 40 Spuler 1942. Benzing 1943. Benzing 1944, 18-26. 41 Ellinger 2006, 333-338. Unger 2007, 69-77. 42 Ellinger 2006, 266-268.
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ligionsgemeinschaften intendiert war.43 Bruchstücke und Grundlagen dieser gewaltsamen Ideologien und Praktiken waren bereits im Ersten Weltkrieg angelegt. Enver Paschas Weltkriegsträume vom turanischen Großreich waren klar von genozidalen Tendenzen begleitet. Der Panturanismus gilt sogar als ein Motiv für den Völkermord an den Armeniern, wobei deutsche Politiker und Militärs davor die Augen verschlossen.44 Trotz dieser gewaltsamen Tendenzen hatten die deutschen Expeditionen Turkestan vor 1930 in anderen Parametern erfahren: Die Berge, Steppen und Städte des Landes waren zugleich Rückzugsraum sowie Urheimat und lieferten das utopische Potential einer anderen ‚Moderne‘. Fremdheit wurde nicht über ethnische Zuschreibungen, sondern vor allem über zeitliche Distanz bestimmt. Turkestan galt nicht so sehr als ein konkreter Lebensraum, sondern vielmehr als vages Experimentierfeld und teilweise sogar als Vorbild für ein kommendes Zeitalter. Auf diese Geschichte zu verweisen, für die ‚Turkestan‘ stand, heißt nicht die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts und Kontinuitäten in den Nationalsozialismus zu ignorieren, sondern nur den Blick auf eine Fluchtlinie nach 1945 zu lenken. V OM K OLONIALISMUS ZUM N ATIONALSOZIALISMUS : D REI I NTERPRETATIONEN DER DEUTSCHEN ‚O STPOLITIK ‘ Vielleicht helfen unter dieser Perspektive einige der übergreifenden Interpretationen zur deutschen Ostpolitik im 20. Jahrhundert, um Turkestans Rolle besser zu verstehen? Unter der Vielzahl von Deutungsangeboten können hier nur Ausgewählte diskutiert werden.45 Trifft auf Turkestan die These Uwe-K. Ketelsens zu, dass der eigentliche koloniale Raum der Deutschen der ‚Osten‘ gewesen sei?46 Tatsächlich stellten während der nationalsozialistischen Zeit Ostraum-Konzepte die Kolonisierungsideen in Afrika in den Schatten. Unter der Perspektive von ‚Ostpolitik‘ ist für die Zeit zwischen 1890 und 1930 jedoch die Tatsache problematisch, dass Turkestan bis zur klaren Grenzziehung, die erst 1936 ihr Ende fand, geradezu als oszillierender Raum verstanden wurde, der sich klaren geografischen Ordnungsmustern sperrte. Obwohl sich in den Quellen die Zuordnung zu Russland und auch zum ‚Osten‘ findet, lag Turkestan auf den kognitiven Karten vielmehr in einem nicht exakt zu verortenden ‚Orient‘. In den neueren Monografien macht der deutsche Blick nach ‚Osten‘ meist an der Uralgrenze halt. Die Frage, wie Mittelasien zu verorten ist, ist bislang kaum gestellt worden.47
43 Roth 2004, 199-200. Heinemann 2006. Aly, Heim 1991. Gerlach 2000. 44 So Zarevand Dadrian 1971, XI-XIII. Dazu auch: Marchand 2009, 454-462. 45 Zur deutschen ‚Ostpolitik’: Rössler 1993; Rössler 1997, 436-453. Wippermann 1981. Wippermann 2007. Thum 2006. Leendertz 2008, 143-186. 46 Unger 2007, 31-37. Ketelsen 2004, 67-94. Kontje 2004. Dülffer 1984, 247-270. 47 Dazu auch: Nicosia, 1997. Auch Liulevicius verortet den deutschen Osten in Osteuropa: Liulevicius 2010. Er hat eine aktuelle und glänzend geschriebene Synthese über den Mythos vom Osten vorgelegt, welche die Interpretationen der frontier und des Orientalismus aufgreift. Trotz aller Versuche, ein ambivalentes Bild ohne Teleologie zu zeichnen, bleibt Liulevicius in den üblichen Linien der Kontinuitätsthese. Aus die-
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Eine der Schaltstellen, an der die Suche nach neuen Einflusssphären im ‚Osten‘ und ‚Orient‘ die Kolonialrevision ablöste, war die Geopolitik, die nach dem Ersten Weltkrieg auch das deutsche Denken bestimmte. Auf geopolitische Pläne bezieht sich Jürgen Zimmerers These, die die Kontinuität vom deutschen Kolonialismus zur deutschen Ostpolitik beschreibt. Nach seiner Auffassung bilde der Kolonialismus eine mentale Vorbereitung der NSVerbrechen. Zimmerer identifiziert drei Bereiche, die ein Bindeglied zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus darstellen: Beide Ideologien teilten eine infrastrukturelle Erschließungsidee, die gleichzeitig als Zivilisierungsmission aufgefasst wurde. Die verwandten Ideen von ‚Rasse‘ und Raum bildeten gleichermaßen Schlüsselkonzepte des deutschen Kolonialismus sowie des Nationalsozialismus. Beide konzipierten die Welt in binären Oppositionen. Die asymmetrischen Argumentationsstrukturen oder Dichotomien zwischen ‚Barbaren‘ und ‚Zivilisierten‘ stellten einen Vorläufer der FreundFeind-Unterscheidung dar, die Carl Schmitt geprägt habe.48 Aus dem imperialen und geopolitischen Horizont des 19. Jahrhunderts argumentiert auch Alan E. Steinweis. Er zeigt, wie geografische Ideen des 19. Jahrhunderts die nationalsozialistische territoriale Expansion mit formten. Steinweis konzentriert sich dabei auf die prominenten Beispiele Frederick Jackson Turner, Friedrich Ratzel und Halford Mackinder. Dabei bringt Steinweis das Konzept der frontier mit dem des Lebensraums in Verbindung. Die unterschiedlichen nationalsozialistischen Raumordnungspläne teilten bestimmte Grundannahmen: Die Erschließung des Ostens bedeutete nicht nur eine Ausdehnung der bestehenden deutschen Gesellschaftsordnung. Im Sinne einer regenerativen Erfahrung sollte die frontier jene Verfallserscheinungen der Gesellschaft kurieren, für die die Zivilisation verantwortlich gemacht werden konnte. Die Verbindung zwischen Ressourcen, Raumbeschaffenheit und ‚Rasse‘ bildete den ideologischen Nukleus der deutschen Raumforschung und -planung. In diesen beiden Ansätzen (Zimmerer, Steinweis) müssten die Unterschiede zwischen dem geografischen Denken des 19. Jahrhunderts und der nationalsozialistischen Zeit stärker betont werden: Im Gegensatz zu den Vorläufern im 19. Jahrhunderts war im NS die rassische Überlegenheit des deutschen Volkes eine der Voraussetzungen für die regenerierende Wirkung der frontier.49 Im Fall Turkestan bedeutete Geopolitik zwar Machtausübung über einen Raum, implizierte aber auch verstärkt eine detaillierte Analyse der politischen Situation. Vor diesem Hintergrund verwiesen die geopolitischen Einschätzungen der langen Jahrhundertwende nicht nur auf die Großraumpläne des Nationalsozialismus, sondern tarierten die imperiale Tradition Halford Mackinders neu aus – im Sinn einer praktischen Handreichung für eine zeitgemäße Kontrolle außereuropäischer Räume. Die Geopolitik der langen Jahrhundertwende konzipierte Raumkontrolle über den Ausbau der Infrastruktur
sem Grund werden hier die Stichwortgeber der genannten Argumentationsmuster besprochen. 48 Zimmerer 2004a, 10-43. Auch: Zimmerer 2004b, 97-123. 49 Steinweis 1999, 56-69. Zum Unterschied zwischen rassischen Ideen während des Nationalsozialismus und der prägenden Bedeutung von Raum in der klassischen Geopolitik: Bassin 1987, 115-134.
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und den Einfluss auf Großräume zum großen Teil abstrakter als die nationalsozialistischen Lebensraum- und Besiedlungspläne.50 Während Zimmerer und Steinweis sich vor allem auf Kontinuitätslinien der deutschen ‚Ostpolitik‘ konzentrieren, blickt Corinna Unger in ihrer Untersuchung zur deutschen Ostforschung von 1919/1920 bis 1975 auch auf die Brüche. Erst der radikale, revanchistische und rassisch aufgeladene Nationalismus der Zwischenkriegszeit schuf das Klima für eine aggressiv-völkisch orientierte Ostforschung, die vor allem Expansionstendenzen gegenüber Polen legitimierte. In der Folgezeit setzte sich innerhalb der nationalsozialistischen Partei eine antirussische Linie durch, die Dichotomien zwischen Slaven und Germanen konstruierte. In diesem Weltbild wurden ‚Abendland‘ und ‚Asien‘ zu einem starren Gegensatzpaar. Obwohl der Begriff ‚Ostforschung‘ in erster Linie Ostmitteleuropa umfasste, spielte er vor allem seit dem Angriff auf die Sowjetunion (1941) in Bezug auf Russland eine immer größere Rolle. Das Ziel der deutschen Russlandpolitik habe nicht mehr in der ‚Zivilisierung‘, sondern in der vollständigen ‚Säuberung‘ des Ostens von unerwünschten Bewohnern gelegen, um dort ‚Lebensraum‘ für Deutsche zu schaffen.51 Wie lässt sich nun der Zusammenhang zwischen dem Turkestan der ‚langen Jahrhundertwende‘ und den Ostplanungen der nationalsozialistischen Zeit fassen? Wie schon oben angedeutet, liegen den nationalsozialistischen Plänen vier fixe Annahmen zu Grunde: die Idee der ‚Rasse‘, ein ideologisch motivierter ‚Antibolschewismus‘, das Konzept des (deutschen) Lebensraums sowie ein starres dichotomes Denken. Diese vier Charakteristika fehlten der früheren Faszination an Turkestan zumindest in dieser Eindeutigkeit. Trifft deshalb die These, dass der ‚Osten‘ der genuin koloniale Raum Deutschlands gewesen sei, auf Turkestan gar nicht zu? Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten: Einerseits prägte ein koloniales Weltbild, das in Turkestan einen Gegenentwurf zu Europa sah, die Expeditionen. Überlegenheitsgefühle und Gesten von imperialer Selbstgewissheit fanden nicht nur, aber hauptsächlich in den Abenteuererzählungen eine geeignete Bühne, um Nationalismus und Heroismus zu inszenieren. Doch die schon mehrmals erwähnten Brüche der imperialen Ideologie können nicht genug betont werden. Bereits die kulturimperialistisch agierende Archäologie des Kaiserreichs entdeckte Konzepte der Hybridität, die einem eindeutigen Ordnungsdenken geradezu zuwiderliefen. Nostalgische Reiseimpressionen aus den Altstädten Buchara und Samarkand verunsicherten zusätzlich eine positive Sicht auf die europäische Dominanz und die sie legitimierende Fortschrittseuphorie. Der Begriff der frontier eröffnete in den 1920er-Jahren keinen Raum nationaler und rassischer Regeneration, sondern vielmehr ein Feld alternativer Gesellschaftsentwürfe, die die Heimatkultur und die Gegebenheiten im Reiseland zu neuen Lebensmodellen verbanden. Wenn Turkestan als kolonialer Raum verstanden werden kann, dann nur bedingt: Es ist der Ort, an dem Episteme, die heute unter dem Begriff des ‚Postkolonialen‘ gefasst werden, vorausgedacht wurden. Für die Reisenden war Turkestan deshalb tatsächlich ein kolonialer Möglichkeitsraum, der aber in selbstreflexiven Brechungen erfahren wurde. 50 van Laak 2004, 215-230. 51 Unger 2007, 54-56. Zum Begriff der Zivilisierungsmission: Barth, Osterhammel 2005.
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N ATIONALISMUS UND I NTERNATIONALITÄT : Z WEI W EGE IN DAS 20. J AHRHUNDERT Corinna Ungers Studie liefert darüber hinaus weit reichende methodische Anregungen. An der Arbeit ist vor allem der untersuchte Zeithorizont bedeutend, der es erlaubt, langfristige Tendenzen zu betrachten. Aus wissenschaftssoziologischer Sicht nimmt Unger an, dass die Zuschreibungen der 1920erund 1930er-Jahre über die Zäsur von 1945 präsent blieben, sich dabei aber mit neuen Analysekategorien verbunden haben, bis sich erst in den 1960erund 1970er-Jahren davon unabhängige Konzepte durchsetzten.52 Für die Frage, wie sich die Diskussionen über Turkestan in eine Geschichte des 20. Jahrhunderts integrieren lassen, ist diese These wegweisend. Denn liegt nicht genau darin der springende Punkt, dass sich vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Zeit bis in unsere Gegenwart bestimmte Begriffe und Deutungsmuster hielten? Heißt das aber nicht auch, dass sich Semantiken und die Funktionen von Zuschreibungen gleichzeitig auch radikal ändern können? Die vermeintliche Übereinstimmung, aber parallel vorhandenen Unterschiede zwischen den nationalsozialistischen Raumplänen und dem Turkestan-Projekt der ‚langen Jahrhundertwende‘ liegen mitunter in den begrifflichen Ähnlichkeiten. Als Beispiel kann eine geteilte antiimperiale Rhetorik, die in den Jahren des Ersten Weltkriegs ihren Ausgang nahm, betrachtet werden. Denn aus dem Ersten Weltkrieg resultierten zwei Stränge, die den Umgang mit der außereuropäischen ‚orientalischen‘ Welt bestimmten. Eine militärisch-revolutionär-ideologische Linie fand in der Erklärung des Jihad und des „Krieges durch Revolution“ ihren Niederschlag. Der zweite Weg basierte auf einer weniger kriegerischen, eher zivil-humanitären Interpretation von Antikolonialismus. Sie drückte sich in Visionen eines (kommenden) postkolonialen Zeitalters der Gleichberechtigung und der Aufbauhilfe aus. In der Folgezeit fand der erste Weg des militaristischen Antikolonialismus Eingang in die deutschen Ostraumplanungen. Er lässt sich als nationale Variante und als spezifische Aneignungsform internationaler Trends durch die Nationalsozialisten verstehen. Er prägte die Überlegungen, im Fall eines Sieges gegen die Sowjetunion den unterworfenen Völkern Turkestans geringe ‚Freiheitsrechte‘ zuzugestehen. Während des Weltkrieges lud sich dieser Strang mit antikommunistischen, antisemitischen und rassistischen Ressentiments auf. Dass den eroberten Völkern nach einem deutschen Sieg tatsächlich die versprochene Selbstbestimmung zugestanden worden wäre, ist dabei sicher mehr als unwahrscheinlich. Ob diese Entwicklung einen ‚deutschen Sonderweg‘ eröffnet, muss hier offen bleiben. Verwiesen sei hier nur kursorisch auf Untersuchungen, die den Nationalsozialismus geradezu im Zentrum einer allgemeinen ‚Moderne‘ und somit der Geschichte des 20. Jahrhunderts verorten. 53 52 Unger 2007, 423-439. 53 Schütz 2002. Bezüglich der ‚Schattenseiten der Moderne’: Zimmerer 2004a, 12. Dazu grundlegend: Bauman 1989. Auf Splitter einer nationalsozialistischen Version von radikalem Postkolonialismus verweist auch Suzanne Marchand: Marchand 2009, 496497.
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Der Möglichkeitsraum der (anti-)kolonialen Aufbauhilfe hat dagegen eine andere Geschichte, die nicht im nationalen, sondern im internationalen Rahmen der beginnenden Dekolonisation sowie im globalen Klima der Zwischenkriegszeit zu suchen ist.54 Wie der deutsche Weltkriegsantiimperialismus differenzierte sich die koloniale Ideologie nach 1919 insgesamt in zwei grobe Richtungen aus: in eine extrem rassistische und in eine paternalistische, die verstärkt auf die ‚Erziehung‘ der Kolonialbevölkerung als Voraussetzung für ihren wirtschaftlichen Aufstieg und ihre allgemeine ‚Entwicklung‘ setzte. Begleitet wurde diese Neuausrichtung von europäischer Hegemonie durch Aufstände der kolonialen Völker, die nach vollständiger Selbstbestimmung verlangten. Obwohl im Deutschen Reich eine kolonialrevisionistische Stimmung herrschte, waren Teile der politischen, wirtschaftlichen und publizistischen Elite im Grunde auch erleichtert, durch den Verlust der eigenen Kolonien künftige Kriege zu vermeiden. Das eigene Ausscheiden aus dem spätimperialen System zählte sogar als kulturpolitischer Vorteil gegenüber der kolonialen Weltbevölkerung, die sich somit dem Deutschen Reich auch wirtschaftlich und handelspolitisch nähern würde. Vor allem für die Zeit nach dem Ende des Kolonialismus galt die deutsche Position als großer Vorteil. In welchem Horizont mit dem endgültigen Ende der Kolonialherrschaft zu rechnen sei, war den deutschen Beobachtern unklar. Doch die Lage Deutschlands schien den sicheren Weg in die globale Zukunft zu weisen: „Der Vertrag von Versailles hat Deutschland ungewollt in eine Überlegenheitsstellung gedrängt, die vor dem erwachenden Weltgewissen nicht zu umgehen und zu übersehen ist. Das Vorwegnehmen des Kommenden, das man unserer staatlichen Existenz vorläufig als Strafe auferlegt hat, sichert unserer Stimme einen Widerhall in der oppositionellen Jugend aller imperialistischen Staaten, der uns nicht nur ein Mitdabeisein, sondern eine Führerrolle sichern könnte.“55 Dieser postkolonialen Zukunft begegneten die Deutschen in Turkestan. Als Experimentierfeld neuer Formen von Herrschaft, die zwischen paternalistischer Aufbauhilfe und Ideen der Selbstbestimmung angesiedelt waren, zeichnete sich Turkestan gerade durch eine bestimmte Eigenart als utopischer Raum aus. Im Gegensatz zu den kolonialpolitischen Maßnahmen der (noch) bestehenden Imperien Frankreich und Großbritannien mussten sich die deutschen Konzepte in den 1920er-Jahren nicht an der Realität messen. Aus Mangel an eigenen kolonialen Verpflichtungen waren gerade die Deutschen in der Position, offen koloniale Unabhängigkeitsbewegungen und das „Recht der jungen Völker“ verteidigen zu können. Trotz dieses Spielraums einer antiimperialen Rhetorik passten die deutschen Turkestan-Pläne exakt in den Rahmen einer internationalen kolonialen ‚Realpolitik‘. Den Selbstständigkeitsbestrebungen in den Kolonien begegneten auch Paris und London mit Konzepten des Dual Mandate (Lord Frederick Lugard) und der mise en va54 Zum Folgenden grundlegend: van Laak 2004, 195-265. Zum Internationalismus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: Geyer, Paulmann 2001. Schlüsseltexte zur Dekolonisation: Thomas 2007. 55 Jardon, Rudolf: Deutsche Kolonien? in: Die Tat, 21 (1929/1930), 49-55, zitiert nach: van Laak 2004, 215. Die Diskussion der Weimarer Republik und die Argumente der Kolonialgegner und -befürworter fasst folgende Broschüre gut zusammen: Klötzel 1928.
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leur (Albert Sarraut). Gemeinsam war diesen verschiedenen Positionen, dass sie Erschließung und Zivilisierung mit einer (zukünftig größeren) Autonomie der kolonialen Völker verbanden. Bestimmte Formen kolonialer Herrschaft wandelten sich zu einer Art europäischen Treuhänderschaft über die entstehende ‚Dritte Welt‘. 1929 verabschiedete Großbritannien das so genannte Colonial Development Act. Da die dadurch bewilligten Ausgaben nicht in die Kolonialverwaltung, sondern in Gesundheitsprogramme und Infrastrukturprojekte flossen, gilt dieses Gesetz als „Geburtsstunde der EntwicklungshilfeIdee“56. In diesen internationalen Strang, der den Weg von der kolonialen Entwicklungspolitik zur Entwicklungshilfe beschreibt, fallen die Vermessungsund Infrastrukturarbeiten der 1920er-Jahre. Rudolf Asmis suchte nach alternativen Formen von weltpolitischem Einfluss durch eine neue Geopolitik der Aufbauhilfe. Die Alai-Pamir-Expedition popularisierte ihren Expeditionsleiter Rickmers als Idealtyp des (post-)kolonialen ‚Vaters‘ und der patriarchalischen Fürsorge gegenüber der Bevölkerung Mittelasiens. So äußert zum Beispiel der Reisebericht „Alai! Alai!“ Überlegungen, wie es möglich sei, die einheimischen Bevölkerungskreise Turkestans in der Zukunft auszubilden. Ideale der ‚Erziehung‘, die dem nationalsozialistischen Gedanken von ‚unveränderlichen‘ Rasseeigenschaften diametral gegenüberstanden, finden sich auch in der deutsch-mittelasiatischen Kulturpolitik der 1920er-Jahre. Die deutschen Schulen bildeten Kinder und Jugendliche aus Mittelasien aus.57 Dass sich 1927 der Herrscher von Buchara an die deutsche Delegation des Völkerbundes mit einer Bitte um Unterstützung wandte, zeigt, dass die außereuropäischen Völker das Deutsche Reich auch tatsächlich als Fürsprecher für ihre Belange wahrnahmen. Mit einem Memorandum wollte der letzte und bereits abgesetzte Emir von Buchara, Alim Khan, die Staaten der Welt auf die Lage seiner Heimat aufmerksam machen, die im Rahmen des sowjetischen Machtausbaus seine Selbstständigkeit verloren hatte. Als Begründung, warum gerade das Deutsche Reich als Ansprechpartner ausgewählt wurde, verwiesen die bucharischen Politiker auf die alte deutsche Rolle als „Protektor der mohammedanischen Welt“.58 Der Radius der frühen deutschen Entwicklungshilfe war ein breiter. Sie war eben nicht an ein eigenes bestimmtes Kolonialgebiet gebunden und konnte zudem auf die alte Tradition des informellen Einflusses, deren Wurzeln bereits in Kaiserreich lagen, zurückgreifen. 1923 kamen der Regierungsbaumeister Alfred Gerber, der Arzt F. Börnstein-Bosta und der Geograf Emil Trinkler als eine Art von ‚Entwicklungshilfeexperten‘ nach Afghanistan. Auch für den afghanischen König Amanullah war das Deutsche Reich in den 1920er-Jahren der bevorzugte Kooperationspartner, da das Land bar jeder machtpolitischen Absicht schien. Zahlreiche deutsche Firmen schlossen Handelsverträge mit Afghanistan ab; 1924 wurde in Kabul sogar eine deutsch56 van Laak 2004, 212. Dazu auch: Sieberg 1985, 1-70. Ansprenger 1966, 66-74. Mommsen 1990, 7-23. Betts 1991, 1-48. 57 PA AA, R 84342, Moskau 6. Juni 1923 an das Auswärtige Amt Berlin, Entsendung von 30 jungen Bucharen zwecks weiterer Ausbildung in Deutschland. Höpp 1997, 75-97. 58 PA AA, R 86392, League of Nations Nr. 220 und anliegend „Memorandum de Sa Majesté l’ Emir de Boukharie concernant la situation générale de l’ Emirat de Boukharie, adressé au Conseil et à l’ Assemblée Générale de la Société des Nations“, o.D.
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sprachige Schule eröffnet. Die deutsch-afghanische Kooperation intensivierte sich in den 1930er-Jahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Afghanistan – nach Indien und Ägypten – der drittwichtigste Empfänger deutscher Entwicklungshilfe.59 In den 1920er-Jahren unterstützte das Deutsche Reich die russische Bevölkerung, die von einer Hungersnot und zusätzlich von Seuchen wie Fleckfieber, Malaria, Pest und Cholera geplagt war. Nachdem im Völkerbund Versuche einer koordinierten Unterstützung gescheitert waren, ergriff die Weimarer Republik 1921 als eines der ersten Länder die Initiative. Auf Anregung des künftigen Außenministers Walther Rathenau beschlossen die deutsche Wirtschaft und Wissenschaft vor allem medizinische Hilfe zu leisten. Zusätzlich organisierten deutsche Experten auch eine Versorgung mit Nahrungsmitteln. Trotz humanitärer Motive lag das eigentliche Ziel dieser Art von Politik jedoch auch darin, eine handelspolitische Öffnung nach Osten vorzubereiten und deutschen Einfluss zu sichern. „Weltpolitik durch Kulturmission“ blieb eine Leitlinie der humanitären Einsätze.60 In Afrika begann Albert Schweitzer vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Aufbau seines Urwaldkrankenhauses in Lambaréné. Obwohl Schweitzer in den Jahren der Zwischenkriegszeit hart am Ausbau des Krankenlagers arbeitete, liegt der Höhepunkt der Rezeption in den 1950er-Jahren. 1952 erhielt er den Friedensnobelpreis. Lambaréné erschien nicht nur als der apologetische Ort, an dem „deutsche Kultur und […] Europa während der dunklen Jahre, der schlimmsten Zeit überwintert habe.“ Im globalen Kontext der Dekolonisation dienten Lichtgestalten wie Albert Schweitzer dazu, die positiven Facetten der europäischen ‚Kulturmission‘ zu verkörpern und letztendlich das (post-)koloniale System zu legitimieren.61 Derartige Episoden zeigen, dass der historische Fluchtpunkt dieses Stranges von Postkolonialismus weit über die Zäsur von 1945 hinaus verweist: Obwohl während der Zeit des Nationalsozialismus von genozidalen Lösungen gegenüber ‚rückständigen‘ und ‚unterlegenen‘ Völkern überlagert, verwiesen die frühen Ideen der Aufbauhilfe auf die Entwicklungspolitik in den 1950er-Jahren. Bereits in den 1920er-Jahren popularisierten Expeditionen wie Rudolf Asmis’ Unternehmungen oder die Alai-Pamir-Expedition patriarchalische Figuren der Entwicklungshilfe. Da es jedoch in den meisten Fällen um deutschen Einfluss mit sanfteren Mitteln ging, kann die frühe Entwicklungshilfe nicht als machtfreies humanitäres Projekt gesehen werden.62 Die Deutschen vermaßen zwischen den Jahren 1920 und 1950 eine postkoloniale Form von Deutungshoheit über die außereuropäische Welt neu, die auch von dieser teilweise akzeptiert werden konnte. Insofern liegt die große Bedeutung Turkestans als Möglichkeitsraum darin, diese Alternativen zum nationalsozialistischen Weg bereits in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg bereitgestellt zu haben. Auch wenn in den 1940er-Jahren die jeweiligen Ak59 Bucherer-Dietschi 1997, 13-16. Schlagintweit 1997, 23-35, Kraus 1997, 40-46. Unterlagen und Publikationen zur „Entwicklungshilfe“ gegenüber Afghanistan sind im Deutschen Afghanistan Archiv (Institut für Entwicklungsforschung und Entwicklungspolitik der Ruhr-Universität Bochum) aufbewahrt. 60 Eckart, 1999. Auch: Eckart 1997. 61 Fetscher 2000, 225-243. 62 Eine kritische Bestandsaufnahme der Entwicklungspolitik nach 1945 liefert: Sachs 1993.
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teure wie zum Beispiel Rudolf Asmis tatsächlich der nationalsozialistischen Kolonialpolitik dienten, gingen die Ideen der 1920er-Jahre nicht verloren. Die postkoloniale Erziehungsmission prägte Rhetorik und Programme der Entwicklungspolitik. Dabei lebte die Selbstbeschreibung fort, dass der frühe Verlust der deutschen Kolonien Vorteile gegenüber der entstehenden „Dritten Welt“ schaffe. In den 1950er-Jahren wurden – fern von dem hier untersuchten Sammelbecken ‚Turkestan‘ – diese Handlungs- und Deutungsmuster zur historischen Realität. Dass personelle Kontinuitäten und planerische Verflechtungen der Entwicklungshilfe mit der nationalsozialistischen Politik in den 1950er- und 1960er-Jahren nicht immer sofort in der Öffentlichkeit bemerkt wurden, spricht gerade für deren semantische Offenheit. Doch bei einer Suche nach Verbindungslinien zwischen Kulturmissionen des Kaiserreichs und früher Entwicklungshilfe hat Dirk van Laak gerade die Kontinuitäten des „moderaten Teils der deutschen Koloniallobby“ stark gemacht, die im Gegensatz zu den völkischen Rassisten die „Entwicklungsfähigkeit“ der Kolonialbevölkerung angenommen hätten. Ihre Interpretationen ließen sich fast bruchlos in den „Entwicklungshilfediskurs“ der Zeit nach den Zweiten Weltkrieg überführen.63 Auch anhand der ‚Moderne‘ lassen sich zwei Wege in das 20. Jahrhundert feststellen. Die deutsche Reflexion über Turkestan bündelte Versuche, in einer Zeit der Mehrdeutigkeit eindeutige Zuschreibungen für die Welt und die Selbstverortung in ihr zu gewinnen. Die Unmöglichkeit eindeutiger globaler Ordnungsmuster und die Zersplitterung der Welterfahrung in verschiedene Wahrnehmungsebenen war zum Beispiel ein Thema der zeitgenössischen Erdkunde und des Alpinismus. In ihrer spezifischen Art der Selbstbeschreibung bringt die Alai-Pamir-Expedition diese Suche nach Eindeutigkeit 1928 gerade dadurch zu einem Endpunkt, dass sie die Mehrdeutigkeit der Gegenwart anerkennt. Bis zum spatial turn der letzten Jahre wurde nach 1945 der Raum an den Rand einer Historiografie gedrängt, die deutsche Wege in eine bestimmte ‚Moderne‘ – häufig auch als Wege nach Westen – suchte. Mit der Modernisierungstheorie erlebten Ideen von sozialer statt territorialer Neuordnung in Europa und der so genannten ‚Dritten Welt‘ einen Aufschwung. Aus einem gemeinsamen Knotenpunkt, den die Diskussionen um Turkestan noch zu fassen vermochten, setzte sich eine spezifische Interpretation mit ihren soziokulturellen Annahmen von Rationalisierung, Klassifikation, Entwicklungsteleologien und eindeutiger Erzählung in der Folgezeit als einzige Form von ‚Moderne‘ durch. Die von den Reisenden geleistete historische Selbstreflexion, die die Gegenwart in ihren Fragmenten erkennt, wird heute als ‚Modernismus‘ oder ‚Postmoderne‘ bezeichnet.64
63 van Laak 2004, 356-375, Zitate von Seite 367. Auch: Berggötz 1998. 64 van Laak 2004, 376-382. Eckert, Malinowski, Unger 2010. Bauman 1995, 16, Anmerkung 1.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Archivmaterial
P OLITISCHES A RCHIV
DES
A USWÄRTIGEN A MTES
Nachlass Werner Otto von Hentig Nachlass Rudolf Asmis PA AA R 11069, PA AA R PA AA R 11073, PA AA PA AA R 11127, PA AA PA AA R 64437, PA AA PA AA R 64587, PA AA PA AA R 64843, PA AA PA AA R 65579, PA AA PA AA R 65587, PA AA PA AA R 84343, PA AA PA AA R 86384, PA AA PA AA R 86393
11070, PA AA R 11071, PA AA R R 11074, PA AA R 11125, PA AA R R 17596, PA AA R 21059, PA AA R R 64473, PA AA R 64565, PA AA R R 64588, PA AA R 64589, PA AA R R 64912, PA AA R 65130, PA AA R R 65580, PA AA R 65581, PA AA R R 65620, PA AA R 65621, PA AA R R 84352, PA AA R 84362, PA AA R R 86386, PA AA R 86387, PA AA R
11072, 11126, 29900, 64586, 64590, 65578, 65586, 83842, 84364, 86392,
B UNDESARCHIV B ERLIN -L ICHTERFELDE BArch R 1001/7842, BArch R 1001/7922, BArch R 1001/8179, BArch R 1001/8221, BArch R 1001/8521, BArch R 901/37675, BArch R 901/37676, BArch R 901/37677, BArch R 901/37678, BArch R 901/37679, BArch R 901/37680, BArch R 901/37681, BArch R 901/37682, BArch R 901/37683, BArch R 1501/115966, BArch R 8034 III, BArch R 6/247, BArch R 6/143
B UNDESARCHIV KOBLENZ BArch R 73
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Turkestan-Expeditionen
G EHEIMES S TAATSARCHIV P REUSSISCHER K ULTURBESITZ Nachlass Friedrich Schmidt-Ott
A RCHIV
DES
D EUTSCHEN A LPENVEREINS
Nachlass Willi Rickmer Rickmers und Mabel Rickmers Nachlass Ludwig Nöth Nachlass Karl Wien
A RCHIV
DER
B AYERISCHEN A KADEMIE DER W ISSENSCHAFTEN , G EODÄTISCHE K OMMISSION
Nachlass Wilhelm Filchner
A RCHIV
DER
B ERLIN -B RANDENBURGISCHEN A KADEMIE W ISSENSCHAFTEN
DER
(Teil-)Nachlass Wilhelm Filchner Akten Preußische Akademie der Wissenschaften (1812–1945) Akten Orientalische Kommission
A RCHIV
DES
E THNOLOGISCHEN M USEUMS B ERLIN
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Ö STERREICHISCHE A KADEMIE
DER
W ISSENSCHAFTEN
Personalakte Fritz Machatschek Sitzungsprotokolle 1911 und 1914
I NSTITUT
FÜR
E NTWICKLUNGSFORSCHUNG UND E NTWICKLUNGSPOLITIK DER R UHR -U NIVERSITÄT B OCHUM
Deutsches Afghanistan Archiv
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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Turkestan-Expeditionen
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II. Archäologie der vergangenen Fremde Abbildung 1: Geografische Ausdehnung Turans, Quelle: erstellt von Jörg Glissmann, Franziska Torma. Abbildung 2: Geografische Ausdehnung Irans, Quelle: erstellt von Jörg Glissmann, Franziska Torma. Abbildung 3: Verbreitung der Indogermanen vor ihrer Auswanderung, Quelle: Schwarz, Franz von (1894): Sintfluth und Völkerwanderung, Stuttgart, Seite 361, Ferdinand Enke. Abbildung 4: Tabellarische Klassifikation der Völker Turkestans, Quelle: Schwarz, Franz von (1900): Turkestan, die Wiege der indogermanischen Völker, Freiburg im Breisgau, Seite 3, © Verlag Herder, Freiburg im Breisgau, 1900.
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Turkestan-Expeditionen
Abbildung 5: Stammbaum der Indogermanen, Quelle: Schwarz, Franz von (1894): Sintfluth und Völkerwanderung, Stuttgart, Seite 81, Ferdinand Enke. Abbildungen 6-9: Darstellung der Kirgisen in Ujfalvys Artikelserie „Das russische Turkestan“, Quelle: [Ujfalvy, Eugène] (1879): Das russische Turkestan (Aus dem Französischen der Mad. de Ujfalvy). In: Globus (Bd. XXXVI ).
III. Abenteuer und Nostalgie Abbildung 1: Routenkarte zum Distanzritt in die Mongolei, Quelle: Salzmann, Erich von (1903): Im Sattel durch Zentralasien. 6000 Kilometer in 176 Tagen, Berlin, Seite 1, Dietrich Reimer Verlag. Abbildung 2: Colin Ross’ Reiseweg durch Eurasien, Quelle: Ross, Colin (1924): Der Weg nach Osten. Reise durch Russland, Ukraine, Transkaukasien, Persien, Buchara und Turkestan, Leipzig, Seite 10, F. A. Brockhaus. Abbildung 3: Stratil-Sauers Weg von Konstantinopel bis Afghanistan, Quelle: Stratil-Sauer, Gustav (1927): Fahrt und Fessel. Mit dem Motorrad von Leipzig nach Afghanistan, Berlin, Seite 279, August Scherl-Verlag. Abbildung 4: Chronotopologie der verschwindenden Welt – Karte der Altstadt Bucharas, Quelle: Schweinitz, Hans-Hermann von (1910): Orientalische Wanderungen in Turkestan und im nordöstlichen Persien, Berlin, Seite 121, Dietrich Reimer Verlag. Abbildung 5: Registan in Samarkand (1896/1913), Quelle: Archiv DAV NAS 1 FF 524. Abbildung 6: Lhabi-Chaus (um 1898/1913), Quelle: Archiv DAV NAS 1 FF 564. Abbildung 7: Marktstand in Buchara (um 1894/1898), Quelle: Archiv DAV NAS 1FF 20.
V. Wirtschaftspioniere in Turkestan Abbildung 1: Buchcover, Quelle: Asmis, Rudolf (1924): Als Wirtschaftspionier in Russisch-Asien. Tagebuchblätter, Berlin, Georg Stilke Verlag. Abbildung 2: Mittelasien als frontier-Zone, Quelle: Ross, Colin (1940): Das neue Asien, 3. Auflage, Leipzig, Seite 259, F. A. Brockhaus.
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Abbildungsverzeichnis
VI. Die Suche nach Neuland Abbildung 1: Filmplakat Pamir. Das Dach der Welt, Quelle: Archiv DAV. Abbildung 2: Trigonometrisches Netz, Quelle: Deutsche Forschung (1929). Aus der Arbeit der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft. Heft 10, Die Alai-(Pamir)-Expedition 1928, Berlin, Seite 71. Abbildung 3: Mannschaftsfoto in Altin-Masar (1928), Quelle: Archiv DAV NAS 1 FF 119. Abbildung 4: Expeditionsmitglieder in einer Kirgisischen Jurte, Quelle: Archiv DAV NAS 1 FF 1.
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Anmerkung zu Schreibweisen
Diese Arbeit ist in der neuen Rechtschreibung nach Duden-Empfehlung verfasst. Zitate entsprechen jedoch bezüglich der Orthografie und Zeichensetzung den Schreibweisen, wie sie in der betreffenden Quelle oder Literatur stehen. Für Begriffe, die als kulturelle Konstrukte gesehen werden können wie Orient, Wildnis, weiße Flecken beziehungsweise Moderne, Fortschritt, Zivilisation, Kultur, Russifizierung, Rückständigkeit, Ursprünglichkeit, Entdeckung, Erschließung oder Zuschreibungen wie unbekannt, unerforscht und ursprünglich, die eine europäische Perspektive auf das bereiste Land wiedergeben, werden in diesem Buch je nach Kontext Anführungszeichen verwendet. Bei fremdsprachigen Namen wird die Schreibweise in den Quellen übernommen.
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Danksagung Das Buch basiert auf meiner Dissertation, die im Wintersemester 2008/2009 von der Philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Es wäre in dieser Form nicht ohne eine Anzahl von Menschen entstanden, denen ich an dieser Stelle nochmals herzlich danken möchte. Meinem Doktorvater Prof. Dr. Martin H. Geyer, Historisches Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München, bin ich sehr dankbar, nicht nur dafür, dass er sich auf dieses von der deutschen Geschichte geografisch weit entfernte Thema eingelassen hat. Er hat vielmehr die Arbeit stets ermutigend mit konstruktiver Kritik, Anregungen, Ideen und einem offenen Ohr für Probleme und Fragen begleitet. Seine Kommentare zu Rohfassungen von Kapiteln und Literaturhinweise haben der Dissertation zentrale Impulse gegeben. Auch Vorträge und Diskussionen bei verschiedenen Gelegenheiten haben mir geholfen, mein Thema zu schärfen. Stellvertretend bedanken möchte ich mich bei meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen im Historischen Oberseminar von Prof. Dr. Geyer sowie bei Prof. Dr. Ute Schneider, damals Universität zu Köln, die mir gerade zur richtigen Zeit die Gelegenheit gegeben hat, das Projekt vorzustellen. Ihr persönliches Feedback trug wesentlich dazu bei, das Thema nochmals zu systematisieren, bevor es an die Niederschrift ging. Im Promotionskolleg Ost-West der Ruhr-Universität Bochum, dessen Kollegiatin ich von 2005 bis 2006 sein durfte, habe ich nicht nur die Vielfalt des Themas ‚Migrationen. Menschen und Ideen unterwegs im Europa der Moderne‘ verstehen gelernt, sondern auch wertvolle wissenschaftliche und persönliche Kontakte geknüpft. Bei einigen, die für das ganze Kolleg stehen, bedanke ich mich herzlich für die Teilnahme, die Diskussionen und die gute Zeit in Bochum: Prof. Dr. Dr. h.c. Paul Gerhard Klussmann, Prof. Dr. Karl Eimermacher, Dr. Anne Hartmann, Silke Flegel M.A. und Dr. Frank Hoffmann. Prof. Dr. Johannes Paulmann, Universität Mannheim, gab mir die Gelegenheit, einen Teilaspekt der Dissertation in einem von ihm herausgegebenen Themenheft zu veröffentlichen. Anke Fischer-Kattner M.A., Dr. Lisa Mayerhofer und Evelyn Gottschlich M.A. haben Passagen des Textes in einem sehr rohen Zustand gelesen und konstruktiv kritisch kommentiert. Prof. Dr. Martin Schulze Wessel, Historisches Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München, danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Ein kaum in Worte zu fassender Dank gebührt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Alpinen Museums München: Friederike Kaiser, Klara Esters, Sebastian Lindmeyr und Stefan Ritter um nur einige hier aufzuführen. Die Archivare Sebastian Lindmeyr und Stefan Ritter haben mich mit einem nie versiegenden Strom von Dokumenten und Fotografien aus den Nachlasskisten von Willi Rickmers versorgt und geduldig Fragen beantwortet. Die Leiterin des Alpinen Museums, Friederike Kaiser, und die Leiterin des 269
Turkestan-Expeditionen
Archivs, Klara Esters, haben stets für eine nette und konstruktive Arbeitsatmosphäre gesorgt. Das Alpine Museum München hat mir generös erlaubt, Abbildungen aus den Archivbeständen kostenfrei abzudrucken. Im Archiv des Auswärtigen Amtes werde ich Dr. Peter Grupp mit seinem phänomenalen Gedächtnis und breiten Wissen niemals vergessen. Er hat mich auf Aktenbestände aufmerksam gemacht, an die ich nicht einmal im Traum gedacht hätte. Dankbar bin ich ebenso den Archivarinnen und Archivaren in den Bundesarchiven Koblenz und Lichterfelde, im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sowie im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Helmut Hornig von der Geodätischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, der den Nachlass von Wilhelm Filchner betreut, hat mich gleich zu Beginn meiner Recherche auf den rechten Weg gebracht, indem er mir ausredete, Tibet-, Nepal- und Himalaya-Expeditionen in die Dissertation zu integrieren. Er wusste wovon er sprach. Herr Hornig stand mit guten und durchdachten Ratschlägen bei der Themenfindung zur Seite. Birgit Heilbronner hat in Rekordzeit dem fertigen Manuskript orthografisch und formal den letzten Schliff gegeben. Christine Jüchter und das Team des transcript-Verlages haben aus dem Manuskript ein Buch entstehen lassen. Prof. Dr. Christof Mauch und Prof. Dr. Helmuth Trischler erlaubten mir während des ersten postdoc-Jahres am Rachel Carson Center for Environment und Society nochmals großzügig Abstecher in die mittelasiatische Steppe und Bergwelt, obwohl doch die Weltmeere mein eigentlicher Forschungsbereich gewesen wären. Prof. Dr. Marie-Janine Calic hat mich während der Promotion in das Programm LMUMentoring im Rahmen von LMUexcellent aufgenommen. Ihr, Dr. Manuela Sauer, Maria Prahl M.A. und meinen Mit-Mentees sage ich ‚danke‘ für die Gespräche, Diskussionen und nicht zuletzt für einen großzügigen Druckkostenzuschuss. Bei Herrn Erck Rickmers (E. R. Capital Holding) bedanke ich mich ebenfalls herzlich für eine großzügige Beihilfe zum Buchdruck. Nicht nur Wissenschaftler und Archivare haben meine Dissertation begleitet. Unschätzbarer Dank gebührt Jörg Glissmann, ohne den das Buch keine Karten und auch kein Register hätte. Jörg hat in den letzten Jahren täglich mehr über Turkestan erfahren dürfen, als er jemals wissen wollte. Pepper hat mich dagegen mit seiner unvergleichlichen Art häufig darauf aufmerksam gemacht, was im Leben wirklich zählt. Ihnen und meinen Eltern, die mich während des gesamten Studiums und der Promotion unterstützt haben, widme ich dieses Buch. München, den 20.10.2010
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Register
A Abendland 211, 220, 226 Abenteuer 14, 20, 21, 34, 89, 90, 91, 92, 93, 100, 101, 102, 103, 104, 133, 192, 220 Abenteuerboom 101 Afghanistan 9, 11, 12, 92, 93, 95, 96, 101, 103, 124, 125, 133, 134, 135, 137, 138, 139, 221, 229, 230 AfghanistanMission 124, 138 Afrika 12, 16, 17, 18, 31, 36, 64, 72, 79, 149, 164, 172, 173, 219, 224, 230 Afrosiab 107 Ägypten 82, 107, 123, 134, 183, 230 Alai-PamirExpedition 7, 14, 19, 20, 22, 37, 100, 178, 179, 181, 182, 183, 184, 189, 190, 191, 194, 207, 209, 211, 215, 216, 220, 229, 230, 231 Albrecht, Max 19, 105, 106 Alexander der Große 107, 111 Alim Khan 153, 229 Allwein, Eugen 185
Alpinismus 20, 35, 37, 38, 52, 231 Altertum 69, 79, 80, 85 Altstadt 110, 111, 114, 116, 215 Ambivalenz 17, 25, 70, 100, 173, 210, 222 Amerika 164, 166, 219 Amu-Darya 11, 33, 40, 41 anachronistic space 14 Andischan 11, 96, 137 Anthropologische Gesellschaft 83 Antibolschewismus 226 anti-conquest 192 antiimperialistisch 123, 146, 150 Antike 22, 51, 85, 86, 87, 107, 201 Arbeitsgemeinschaft für Turkestan e.V. 23, 223 Archäologie 14, 20, 51, 57, 58, 59, 60, 63, 67, 81, 105, 116, 183, 218, 222, 226 Arier 69, 72, 80 Armenien 17, 72, 122, 142 Asien 10, 11, 12, 18, 36, 44, 45, 66, 68, 72, 74, 85, 86, 89, 271
93, 97, 100, 101, 104, 105, 113, 120, 121, 122, 142, 151, 153, 157, 158, 161, 172, 173, 175, 188, 215, 218, 221, 226 Asienthese 68 Asmis, Rudolf 16, 17, 18, 19, 22, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 156, 158, 160, 161, 162, 163, 165, 166, 167, 168, 170, 171, 172, 173, 174, 178, 220, 229, 231 Assimilationspolitik 106, 120 Assyrien 73, 82 Atmosphäre 40, 65, 89, 114 Aufbau 20, 43, 144, 151, 168, 169, 175, 177, 194, 197, 230 Aufbauvision 162, 166, 167 Aufstand 125, 139 Augenblick 103, 177 Augenzeuge 169 Australien 18 Auswärtiges Amt 17, 18, 19, 119, 124, 129, 130, 133, 138, 155, 158, 161, 177 Authentizität 48, 105, 110, 111, 114, 115, 116, 204 Awesta 45, 68, 80, 107, 109
Register
B Babylon 73, 82, Bachtin, Michail 21, 90 Bagdadbahn 12, 163, 166 Bai 64 Baku 89, 96, 104, 127, 129, 138, 141 Balkan 46, 122 Balkan-Kriege 122 Bangkok 18 Barmer Bankverein 174 Barthold, Vasilij Vladimirovic 22 Bartus, Theodor 61, 66 Basmatschi 126, 153, 154, 155, 165, 172 BasmatschiAufstände 126, 153, 154, 165, 172 BasmatschiUnruhen 126 Baudelaire, Charles 14 Baumwollanbau 159, 164, 167 Baumwolle 11, 139, 154, 155, 156, 162, 164, 165, 176 Baumwollkommission 161, 164 Bazar 104, 111, 114, 115, 116 Beck, Sebastian 125, 129, 130 Becker, Carl Heinrich 123 Bedeutung 21, 28, 39, 49, 72, 74, 81, 92, 96, 97, 109, 119, 131, 138, 154, 162, 165, 171, 177, 186, 189, 193, 198, 200, 213, 216, 222, 223, 230
Befreiung 107, 120, 121, 122, 124, 128, 155, 172, 175, 221 Benzing, Johannes 223 Berdymuchamedow, Gurbanguly 9 Berg 52, 55, 56, 57, 72, 198 Bergsteigen 13, 52, 55, 185, 206 Berlin 16, 18, 19, 21, 37, 60, 61, 81, 82, 83, 84, 93, 123, 127, 128, 129, 134, 152, 153, 156, 160, 183, 185, 204, 220 Berliner KongoKonferenz 63 Berliner Tagblatt 7, 177 Bethmann Hollweg, Theobald von 123 Bewässerung 164 Bewässerungsanlagen 11, 107, 147, 155, 164, 165 Bibel 47, 59, 73, 107 Bibi-Chanim 111, 215 Bibliothek von Dunhuang 61, 66 Biersack, Hans 185 binäre Oppositionen 15, 59, 225 Biografie 18 Biografischer Ansatz 15 Bolschewismus 155, 159, 172, 175, 178, 186, 221 Borchers, Philipp 185, 209 Botanik 16, 184 Boxeraufstand 96 Bremen 16 Brest-Litowsk 126, 128, 134, 143, 144, 149, 182 British Museum 73 272
Brockhaus, Albert 34 Buchara 8, 9, 10, 11, 37, 47, 52, 54, 104, 106, 109, 110, 114, 116, 126, 127, 136, 137, 139, 143, 151, 152, 153, 155, 158, 177, 215, 226, 229 Buddhismus 59, 82, 87 Burton, Robert 112 C Chiffre 13, 210 Chiwa 9, 10, 11, 106, 137, 151, 152, 155, 158 Christentum 47, 59, 85, 87 Chronotopologie 90, 110, 111 Chronotopos 21, 90 Civil Service 33 Cleinow, Georg 223 Conseil de recherches 182 Cook, James 216 Cosack, Harald 125, 128 Cselebisáde, Mehemed 127 Curzon, George Nathaniel 31 D Dabbs, Jack A. 22 Dach der Welt 7, 45, 179, 200 Darwin, Charles 72 Dekolonisation 120, 228, 230 Delegation 119, 138, 229 Denkschrift 127, 130, 132, 134, 181 Deutsche Bank 167 Deutsche Kolonialgesellschaft 166
Register
Deutsche Morgenländische Gesellschaft 23, 223 Deutscher und Österreichischer Alpenverein 35, 179, 184, 185, 194 Deutsches Reich 15, 20, 62, 65, 92, 98, 122, 125, 126, 128, 130, 134, 136, 137, 144, 145, 146, 147, 150, 153, 161, 170, 173, 174 DeutschLevantinische Baumwollgesellschaft 167 Deutungshoheit 22, 51, 105, 191, 195, 200, 201, 203, 218, 230 Deutungsmacht 15, 217 Dezentralisierung 79, 87 dichotome Weltsicht 15, 192 Dichotomie 15, 21, 25, 26, 59, 66, 132, 225, 226 Diener, Carl 38 Differenz 26 Diskontinuität 32 Diskontogesellschaft 167 Distanz 14, 35, 100, 224 Drittes Reich 214 Dschinghis Khan 107, 108, 122 dual Mandat 228 Dunhuang 61, 66 dunkler Kontinent 93 Dyhrenfurth, Günter Oskar 182
E E.L. Friedmann & Co. 167 Eindeutigkeit 12, 15, 22, 25, 42, 70, 76, 79, 80, 99, 131, 146, 210, 216, 226, 231 Einfluss 11, 12, 17, 54, 73, 74, 106, 109, 143, 144, 145, 146, 152, 155, 164, 168, 170, 176, 218, 226, 229, 230 Einflusssphäre 145 Eisenbahn 11, 53, 90, 107, 145, 156, 162, 165, 166, 177 Eiserner Vorhang 7 Emanzipation 120, 122, 127 Emir NassrullaBagadur-Chan 106 Emir von Buchara 10, 139, 229 Emotion 105 Empirie 39 Entdeckung 7, 22, 31, 32, 35, 36, 38, 48, 49, 50, 51, 52, 57, 86, 111, 117, 122, 201, 216 Entdeckungsdiskurs 34, 58 Entdeckungszeitalter 31, 216 Entschleunigung 53, 188 Entwicklung 11, 27, 52, 57, 59, 70, 73, 83, 107, 109, 131, 147, 157, 163, 164, 174, 218, 227, 228 Entwicklungsgeschichte 43 Entwicklungshilfe 146, 147, 172, 214, 219, 229, 230, 231 Entwicklungspolitik 146, 229, 231
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Entzauberung 52, 105 Enver Pascha 122, 124, 134, 143, 153, 154, 172, 221, 224 epistemologische Gewalt 55 Erdgeschichte 39, 44, 49, 55, 67 Erfahrungsmuster 14, 89, 90 Erfahrungsraum 46, 103, 161, 163, 165, 173, 187 Erinnerung 47, 102, 108, 173, 177, 217 Erinnerungslandschaft 47, 213 Erkundung 22, 38, 51, 55, 197 Erneuerung 108 Erschließung 11, 14, 17, 31, 32, 35, 38, 41, 45, 50, 51, 86, 89, 90, 92, 101, 145, 154, 156, 159, 161, 165, 166, 167, 174, 176, 182, 186, 216, 225, 229 Erster Weltkrieg 13, 15, 16, 17, 19, 23, 24, 35, 36, 37, 66, 119, 121, 122, 123, 124, 127, 128, 131, 133, 135, 140, 143, 147, 150, 153, 154, 158, 162, 165, 166, 168, 174, 175, 176, 186, 191, 197, 214, 218, 219, 220, 221, 222, 224, 225, 227, 230 Erwartungshorizont 161, 162 Erziehungsmission 211, 231 Ethnologie 67, 122, 123, 184 Eurasien 95, 142
Register
Eurasisches Seminar 223 Europa 14, 15, 24, 28, 31, 35, 53, 63, 66, 79, 85, 86, 96, 98, 105, 113, 115, 117, 142, 173, 187, 191, 219, 226 Evolution 59 Expedition 7, 13, 14, 19, 20, 22, 33, 34, 35, 36, 37, 40, 54, 55, 56, 57, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 81, 83, 93, 96, 97, 100, 101, 102, 103, 133, 135, 139, 140, 141, 151, 158, 162, 172, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 199, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 215, 216, 220, 221, 229, 231 Experimentierfeld 174, 178, 205, 206, 224, 228 F Faszination 7, 12, 13, 14, 29, 34, 36, 50, 51, 59, 63, 67, 105, 215, 220, 222, 226 Fedtschenko, Alexei Pawlowitsch 33 Feldforschung 195, 200, 203 Ferghana 11, 126, 165 Ficker, Cenci von 37 Ficker, Heinrich von 7, 37, 183, 184 Filchner, Wilhelm 19, 89, 91, 93, 96, 97, 180, 217 Film 179, 206
Finanz- und Wirtschaftskonf. von Genua 151 Finanzimperialismus 165 Finsterwalder, Richard 185, 211 Firdusi 68 Flecker, James Elroy 112 Forschungsfeld 36, 92, 198, 201, 202, 203 Forschungsraum 41, 46, 47, 48, 49, 73, 97, 196, 199 Forsyth, Sir Douglas 33 Fortschritt 11, 14, 17, 21, 27, 28, 53, 57, 89, 90, 96, 98, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 121, 122, 124, 131, 132, 146, 147, 151, 162, 166, 177, 186, 187, 190, 215, 217, 219 Fortschrittsglauben 14 Fragment 16, 107 Frankreich 25, 124, 149, 214, 228 Freiheit 49, 54, 127, 128, 143, 147, 177, 221 Fremdlandforschung 191 Frieden von BrestLitowsk 126, 128, 134, 143, 182 frontier 48, 51, 156, 157, 158, 176, 206, 208, 225, 226, 227 Frühgeschichte 69, 183 G Gefühl 40, 45, 46, 47, 50, 53, 54, 105, 177, 217 274
Gegenwart 13, 14, 15, 19, 22, 28, 29, 47, 52, 53, 54, 55, 67, 75, 87, 88, 90, 91, 92, 93, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 108, 109, 110, 111, 115, 116, 117, 119, 120, 122, 123, 127, 130, 134, 135, 140, 144, 168, 178, 189, 190, 201, 214, 217, 218, 227, 231 Geiger, Wilhelm 19, 22, 32, 51, 69, 79, 80 Gelände 56, 166, 194, 197, 198, 199 Gemeinschaftsaufgaben 183, 184 Genealogie 93 Generalgouvernement Turkestan 10, 11, 109 Generation 102, 103, 173, 223 Geografie 10, 14, 16, 17, 20, 35, 37, 39, 40, 42, 43, 44, 45, 46, 48, 49, 50, 57, 72, 74, 97, 109, 112, 116, 127, 177, 188, 222 Geographical Journal 31, 39, 43, 50 Geologie 16, 59, 67, 184, 206 Geopolitik 157, 169, 225, 229 Gerber, Alfred 229 Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 18 Gewaltritt 93, 96, 97, 98 Ghandi, Mahatma Mohandas Karamchand 219
Register
Gleichberechtigung 172, 175, 227 Globalisierung 14, 20, 25, 27, 218 Gorbunow, Nicolai Petrowitsch 182, 185 Graz 37 great game 11, 59, 112 Gregorianischer Kalender 9 Grobba, Fritz 101 Großbritannien 25, 33, 35, 107, 124, 125, 131, 135, 146, 149, 174, 214, 228, 229 Großforschungsprojekt 19, 22, 193, 194, 205 Großräume 42, 46, 226 Grünwedel, Albert 19, 61, 64, 65, 66, 83 H Hamburgisches Kolonialinstitut 123 Handlungsmuster 31 Harnack, Adolf von 63 Hartmann, Martin 119, 123, 125, 129, 130, 131, 141, 142, 146, 147, 214 heartland 11 Hedin, Sven 18, 34, 50, 61, 93, 94, 96, 133, 182, 183, 197, 216, 217 Hegemonie 22, 55, 181, 212, 228 Heiliger Krieg 124, 133 Heimat 12, 17, 51, 68, 69, 74, 80, 96, 112, 122, 128, 132, 220, 229
Heimatforschung 191 Heimatkultur 15, 100, 112, 226 Heldenmythen 96, 99 Hentig, Werner Otto von 125, 221 Herrmann, Karl Wilhelm 93 heroisch 130 Heroisierung 35 Heroismus 35, 48, 93, 182, 226 Herrenvolk 172, 173 Herrschaftspraxis 15 Herz Asiens 59 Himalaya 12, 34, 36, 182, 188 Hindukusch 9, 36, 45, 75 Historismus 104 Hochgebirge 36, 39, 42, 49, 188, 195 Hochgebirgsforschung 31, 34, 35, 38, 39 Hochimperialismus 31, 40, 51, 62, 63, 74, 92, 217 Hochsteppe 196 Humboldt, Alexander von 34, 44 Huntington, Ellsworth 40 Hüsseinsáde, Ali 127, 129 hybrid 84, 86 Hybridität 25, 60, 81, 84, 85, 86, 226 Hyperinflation 150 I Identifikation 87, 115, 218, 223 Identität 15, 24, 26, 52, 59, 68, 73, 79, 87, 97, 100, 103, 138, 140, 156, 176, 275
181, 184, 197, 209, 217, 218 Identitäts- und Differenzmodell 59, 69 Ideologie 15, 21, 60, 120, 122, 214, 215, 226, 228 Imagination 31, 46, 67, 108, 112, 138, 158 Imiela, Walter 155 Imperialismus 12, 16, 17, 25, 31, 163, 175, 220 Indian National Congress 219 Indien 17, 23, 31, 33, 34, 68, 82, 85, 92, 96, 123, 124, 127, 135, 137,140, 141, 142, 146, 153, 175, 219, 230 Indoeuropäer 68, 69, 72, 79, 80 Indologe 62, 69 Innsbruck 16, 38 Interessensphären 12, 62, 64 international 40, 43 Internationalität 182, 227 Iran 43, 68, 69, 80, 85 iranisch 110 Ironie 181, 205 irrational 133 Irrationalität 56, 60 Islam 9, 24, 87, 104, 123, 124, 129, 130, 155, 172, 175, 219 J Japan 156, 191, 219 Java 183 Jihad 9, 123, 124, 227 Jussuf, Aktschura Oglu 127
Register
K Kabul 124, 169, 229 Kaiser Wilhelm II. 83, 98, 123, 129, 159 Kaiserreich 13, 17, 26, 91, 92, 93, 213, 214, 217, 222, 229 Kaiser-WilhelmGesellschaft 62 Kalkutta 65 Kalter Krieg 23, 24, 211 Kampffmeyer, Georg 123 Karawane 37, 196, 206 Kartografie 184 Karutz, Richard 19, 105, 107 Kasachstan 7 Kaspisches Meer 11, 36, 139 Kaukasus 10, 36, 119, 121, 122, 127, 128, 135, 138, 142, 146, 187 Kaukasusdelegation 16 Kaukasus-Mission 128, 135 Kazan 121 Keidel, Hans 37 Khan-Tengri 55, 56, 57 Kino 91, 100 Kipling, Rudyard 11 Kirgistan 7, 126, 144, 159 Kitzbühel 16 klassische Moderne 13, 213 Klementz, Dimitri Alexandrowitsch 61 kognitive Karte 46 Kokand 9, 10, 33, 159 Kölnische Zeitung 162, 169, 173 Kolonialbeamter 16
Kolonialbevölkerung 124, 125, 228, 231 Kolonialer Vater 8, 16, 210, 212 Kolonialismus 13, 14, 15, 18, 20, 130, 146, 169, 214, 218, 224, 225, 228 Kolonialmacht 63, 89, 104, 109, 123, 126, 132 Kolonialpolitik 12, 98, 123, 231 Kolonialpolitiker 19 Kolonialrevision 17, 149, 225 Kolonisierungstendenzen 11 Komitee für Einheit und Fortschritt 121, 122 Konjunkturprogramm 154 Konkurrenz 59, 144, 153, 170, 195, 216 Kontaktzone 97, 126 Kontinentsdurchquerung 101 Kontinuität 182, 217, 222, 225 Kosmopolitismus 220 Kozlov, Pyotr 62 Krasnowodsk 11, 137, 139, 157 Kress von Kressenstein, Friedrich Freiherr 135, 136 Krieg durch Revolution 119, 123 Kriegsgefangene 126 Kriegspropaganda 12, 131 Kriegszieldebatte 17 Krim 121, 122, 127, 183 Krupp, Friedrich 62 276
Kultur 32, 42, 43, 45, 46, 47, 49, 51, 52, 53, 68, 69, 75, 80, 81, 82, 84, 86, 87, 89, 91, 98, 99, 104, 116, 127, 132, 147, 149, 172, 186, 194, 216, 217, 219, 230 Kulturimperialismus 17, 63 Kulturimperialist 17 Kulturkritik 14, 52, 104, 117 Kulturmodelle 60 Kurla 64 Kutscha 62, 64 Kyzil 65 L Lambaréné 230 Länderkunde 39, 40, 42 Landeskunde 23, 42, 43 Landschaftsstimmung 40 Landschaftstypen 42, 43, 49 lange Jahrhundertwende 13, 22, 27, 48, 112, 215, 217, 222, 226, 227 Lapine, Chir Ali 129, 132, 141, 145, 146 Lawrence, Edward 125 Le Coq, Albert von 19, 61, 62, 64, 66, 85, 87 Lebensbeschreibung 15, 18 Lebensraum 224, 226 Lebensreform 181 Lebenswelt 7, 13, 21, 22, 47, 104, 106, 108, 194, 202, 204
Register
Leitbilder 198, 205, 216 Lenin 126, 197 Lentz, Wolfgang 185, 194, 200, 201, 202, 204, 208 Lhabi-Chaus 114, 115 lineare Zeit 108 Logistik 189, 193, 195 London 16, 191, 228 Lüders, Heinrich 87, 182 Lugard, Frederick 228 M Macartney, Sir George 66 Machatschek, Fritz 18, 23, 36, 37, 38, 39, 40, 43, 44, 46 Machtpolitik 32, 59, 60, 214 Mackinder, Halford 11 Mahan, Alfred Tayer 143 Maiski, Iwan Michailowitsch 158 Mandschurei 183, 219 Manichäismus 59, 87 Männlichkeit 217 Marketing 49 May, Karl 139 McClintock, Anne 14 Mehrdeutigkeit 43, 46, 79, 98, 231 Memorandum 124, 130, 134, 135, 229 Mende, Gerhard von 23, 24 Menschenmaterial 167, 221 Menschheitsgeschichte 72, 74
mental maps 21, 45, 46, 48, 90 Merzbacher, Gottfried 18, 36, 37, 38, 52, 55, 56, 57, 137, 217 Meschrabpom 184 Mesekenhagen (Vorpommern) 17 Mesopotamien 17, 34, 134 Meteorologie 184 Mettnau bei Radolfzell 16 Mimikry 138 mise en valeur 228 Mittelasien 7, 8, 9, 11, 12, 16, 17, 18, 22, 23, 24, 25, 33, 34, 50, 59, 68, 80, 82, 85, 92, 97, 100, 109, 120, 125, 126, 134, 135, 138, 143, 145, 150, 151, 152, 153, 158, 160, 161, 166, 175, 183, 209, 220, 222, 223, 224, 229 Mittwoch, Eugen 125 modern 14, 32, 43, 181, 189 Moderne 13, 14, 22, 23, 24, 27, 28, 29, 52, 53, 105, 112, 177, 181, 188, 189, 190, 199, 201, 213, 217, 224, 227, 231 Modernisierung 27, 166, 189, 214, 218 Modernismus 231 Möglichkeitsraum 22, 117, 150, 169, 171, 177, 214, 220, 226, 228, 230 Mohammed Alim Khan 153, 229 Morgenland 199 Motorrad 93, 101, 103 277
Muchitdinow, Mirsa Abdulkadar 151 Müller, Friedrich Karl Wilhelm 61 Müller, Max 69 Muschketow, Ivan V., 33 Museum für Völkerkunde in Berlin 19, 60, 61, 66 Museum für Völkerkunde in München 84 Muzaffar, Jussif 128 N Nanga Parbat 12 Narration 86, 90, 96 Nationalismus 35, 122, 170, 182, 226, 227 Nationalitätenpolitik 145, 155, 171, 222, 223 Nationalsozialismus 18, 35, 150, 213, 215, 217, 220, 222, 224, 225, 227, 230 nationalsozialist. Politik 12, 231 nationalsozialitische Herrschaft 13 Naturwissenschaft 39, 67 Naumann, Friedrich 16 Netzwerk 65, 136, 182, 183, 203, 221 Neurasthenie 53 Neuseeland 18 Niedermayer, Oskar von 124, 134, 221 Nietzsche, Friedrich 59 Niger 31 Nijasow, Saparmurat 8 Nil 31 Nomaden 74, 77, 97, 98, 99, 196
Register
Norden 46, 126, 128, 165 Nordthese 68 Nostalgie 14, 21, 51, 89, 90, 103, 104, 105, 106, 111, 112, 116, 177, 213, 217 Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft 7, 19, 179, 181 Nöth, Ludwig 185 NS-Machtapparat 150 Nuri Killigil 221 O Oberhummer, Eugen 37 objektiv 216 Objektivität 60, 80, 86, 88 Öffentlichkeit 7, 13, 16, 56, 73, 84, 116, 130, 149, 161, 162, 169, 179, 218, 231 Okzidentalismus 222 Oldenburg, Sergei Fedorovich 62 Oppenheim, Max von 123, 124, 125 Oppositionen 15, 60, 225 Ordnung 21, 32, 42, 43, 51, 84, 86, 110, 120, 133, 134, 144, 145, 151, 159, 166, 170, 171, 177, 190, 193 Ordnungsdenken 223, 226 Ordnungsraster 15 Orient 8, 12, 19, 21, 26, 45, 46, 47, 48, 63, 72, 90, 104, 106, 108, 109, 112, 113, 115, 117, 119, 120, 122, 125, 126,129, 132, 133, 134, 136,
142, 144, 145, 147, 152, 174, 175, 177, 187, 188, 201, 213, 214, 215, 217, 218, 224, 225 Orientalismus 25, 215 Orientalist 22, 68, 73, 123 Orientalistik 25, 123, 201, 218 Orientierung 13, 124, 145, 146, 219 Orient-Krieg 119 Osmanisches Reich 12, 120, 121, 122, 124, 142, 144 Osmanismus 121 Ostasien 85, 140, 183 Ostbuchara 10, 16, 36, 53 Osten 17, 24, 34, 85, 92, 96, 114, 120, 123, 125, 133, 134, 135, 143, 144, 145, 149, 151, 173, 175, 187, 214, 220, 221, 223, 224, 225, 226, 230 Osteuropa-Spezialist 125 Ostkolleg der Bundeszentrale für politische Bildung 23 Ostpolitik 143, 224, 225, 226 Özer, Yusuf Ziya 70 P Palästina 17, 82, 134 Pamir 7, 11, 14, 19, 20, 22, 32, 33, 36, 37, 38, 45, 53, 74, 75, 85, 89, 92, 93, 96, 97, 98, 100, 178, 179, 181, 182, 183, 184, 185, 188, 189, 190, 191, 194, 196, 278
199, 205, 207, 209, 211, 215, 216, 220, 229, 230, 231 Panafrikanismus 219 Pan-Bewegung 219 Panislam 123 Panislamismus 120, 121 Panorama 74, 170, 197 Panturanismus 23, 120, 121, 122, 224 Panturkismus 120, 121 Papen, Franz von 220 Parsismus 45, 59, 59 Pascha, Talaat 142 Pelliot, Paul 62, 66 Penck, Albrecht 37, 38 Peripherie 63, 127, 132, 147, 152, 154, 181, 216 Persien 11, 12, 17, 34, 69, 134, 135 Petersburger Akademie der Wissenschaften 61 Petzholdt, Alexander 44 Pfann, Hans 37 Phonograph 200 Pik Lenin 197 pivot area 11, 59, 142, 174, 175 Platz an der Sonne 92 postkolonial 14, 15, 20, 24, 48, 94, 168, 169, 173, 205, 229, 230 postkoloniale Theorie 15 postkoloniales Zeitalter 175, 177, 227 Postkolonialismus 14, 230 Postmoderne 231
Register
Pratrap, Raja Mahendra 124 Pratt, Mary Louise 55 Preußisches Meteorologisches Institut 7, 183 Prinz von Bayern, Arnulf 36 Provinz Transkaspien 10 Pržhevalsky, Nikolaj Michailovic 33 Publizistik 11, 24, 104, 121, 151, 192 PumpellyExpedition 40 R Rapallo 151, 152, 153, 162, 168, 169, 170, 220 Rassenkunde 222 rational 216, 220 Rationalität 60, 86, 88, 188 Ratzel, Friedrich 225 Raumbeschreibung 38, 41 räumliche Erschließung 14 Regel, Albert 61 Regierungserklärung (v. 2004) 9 Registan 111, 113 Reinheit 74, 77, 218 Reinig, Wilhelm 185, 205 Reisefilm 186 Reisepublizistik 12, 14, 89, 187 Repräsentation 56, 111, 197, 204, 205 Richthofen, Ferdinand von 16, 34, 39, 44 Rickmers, Mabel 16, 18, 19, 37, 52, 53,
54, 55, 105, 110, 112 Rickmers, Wilhelm Heinrich 16 Rickmers, Willi Rickmer 19, 31 ff., 89 ff., 179 ff. Rocky Mountains 157 Rohrbach, Paul 16, 17, 19, 105, 107, 108, 120, 165, 166 Rohstoff 138, 166 Romantik 32, 52, 58, 74, 115, 129, 217 romantisch 121, 139 Rosen, Friedrich 133 Ross, Colin 17, 95, 100, 101, 157, 191, 216, 219 Royal Geographical Society 11, 38, 40, 112 Rückständigkeit 14, 60, 127 Ruhrkampf 149, 166 Ruinen 61, 110, 163, 201 Russifizierung 11, 21, 104, 106, 107, 108, 109, 110, 132, 163 Russische Revolution 11, 121, 126, 128, 132, 135, 140, 143, 153, 159, 167 russischer Imperialismus 10, 11, 12, 17, 166, 175 russisches Kolonialreich 14 Russland 11, 17, 21, 25, 33, 54, 61, 106, 119, 121, 124, 126, 128, 129, 130, 131, 132, 134, 135, 141, 149, 150, 151, 152, 154, 166, 171, 174, 279
175, 186, 187, 191, 214, 221, 224, 226 S Said, Edward 24, 25, 46, 217 Saken 201 Salzmann, Erich von 93 Salzmarsch 219 Samarkand 8, 10, 11, 16, 37, 47, 104, 106, 107, 109, 110, 112, 113, 115, 119, 139, 156, 159, 187, 205, 215, 226 Sanskrit 61, 82 Sarraut, Albert 229 Schach-Sinda 110, 114, 115 Schlagintweit, Emil von 68 Schmidt-Ott, Friedrich 18, 19, 181, 182 Schmitt, Carl 225 Schneider, Erwin 185 Schneideroff, Vladimir 184 Schöpfung 67 Schtscherbakow, Dmitri Iwanowitsch 185 Schultz, Arved von 18, 36, 37, 38, 40, 42, 43, 45, 74, 197 Schwarz, Franz von 19, 72, 73, 79, 81 Schweitzer, Albert 230 Seeckt, Hans von 133, 134 Seidenstraße 8, 22, 34, 59, 60, 61, 62, 63, 84, 142 Selbstbestimmungsrecht 129, 143, 162, 219, 222
Register
Selbsterfahrung 48, 93, 103, 115 Selbstironie 205, 206 Selbstständigkeitsbestrebungen 17, 120, 165, 172, 228 Selbstverständigungsdebatten 13 Semenow, Petr P. 33 Seminar für Orientalische Sprachen 123 Semiretschie 11, 126, 160, 162, 165, 167 Semiretschiebahn 156, 165, 167, 174 Serinidia 82 Sibirien 18, 25, 121, 183, 187 Sieg, Emil 83 Siegling, Wilhelm 83 Simmel, Georg 91, 101 Simon, James 62 Sintflut 72, 73, 79 Smith, George 73 Sowjetische Akademie der Wissenschaften 179 Sowjetunion 8, 11, 13, 23, 24, 25, 150, 151, 156, 162, 170, 174, 177, 181, 182, 185, 186, 187, 188, 197, 219, 221, 222, 223, 226, 227 Spätantike 82, 83, 84, 87 Sport 35 Sprachverwandtschaft 68 Sprachwissenschaft 51, 184, 201 Spuler, Bertold 223 Stachejew-Gruppe 165
Stammbaum 76, 77 Standlager 195 Stanley, Henry Morton 93 Stein, Marc Aurel 61 Steppe 78, 141, 142, 144, 157, 187 Stimmungsraum 113, 113 Stinnes, Hugo 167 Stötzner, Walter 101, 183 Stratil-Sauer, Gustav 19, 93, 101, 102, 103 Struck, Peter 9 Subjektivismus 189 Süden 46, 96, 165, 172 Südostarabien 94 Suezkanal 133, 135 Sumatra 102, 183 Sven-Hedin-Institut für Innerasienforschung 16 Sydney 18 Symbolismus 104 Syr-Darya 11, 41, 176 T Tadschikistan 7, 10, 126, 154, 159 Tagesschau 9 Taschkent 10, 11, 19, 72, 137, 139, 155, 156, 159, 169, 185, 187, 188, 205 Taylorsystem 193 Technik 13, 103, 147, 190, 199, 200 Technisierung 189 Textproben 202 Tian-Schan 20, 32, 33, 36, 37, 38, 43, 45, 53, 56, 57 Tibet 11, 34, 92, 94 Tiefenzeit 67, 72, 74, 81 280
Timur 108, 109, 122, 215 Tokumbet, Osman 128 Toltschan, Elias 184 touristisch 18, 187 Tradition 21, 23, 29, 35, 46, 72, 74, 93, 96, 98, 106, 109, 122, 169, 181, 211, 216, 222, 223, 225, 229 Träger 195, 196, 210, 211 Transhimalaja 34 Transkaspische Eisenbahn 11, 165 Transkaukasische Handels-AktienGesellschaft 167 Transkaukasisches Rasseninstitut 183 Trinkler, Emil 183, 229 Troll, Karl 183 Turan 21, 43, 45, 68, 69, 85, 108, 120, 122 turanisch 134 Turfan 18, 21, 60, 61, 62, 64, 67, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 185 Turfan-Expedition 18, 21, 60, 61, 62, 64, 67, 81, 83, 85, 88 Turfanforschung 22, 60, 82, 85, 86, 87, 88 Türkei 122, 124, 131, 134, 141, 166, 220 Turkmenbaschi 9 Turkmenistan 7, 8, 37, 44, 157 Turkologie 68, 223 Turkvölker 21, 69, 121, 122, 144, 223
Register
Turner, Frederick Jackson 225 Typenlandschaft 42, 43 U Überlegenheit 22, 25, 60, 70, 79, 86, 87, 88, 92, 98, 99, 197, 206, 210, 218, 225 Ufa 121, 128 Uiguren 85, 86 Ukraine 17 Umwelt 73, 75, 115, 190, 191, 196 Unabhängigkeit 17, 21, 120, 127, 128, 131, 143, 144, 155, 158, 163, 171, 219, 222 Unabhängigkeitsbewegung 23, 124, 126, 127, 130, 140, 219 Urga 153, 159 Urheimat 21, 67, 68, 70, 72, 79, 105, 120, 122, 133, 224 Ursprache 67, 83 Ursprung 21, 46, 47, 67, 68, 72, 77, 79, 80, 83, 84, 87, 121, 217, 218 Ursprünglichkeit 9, 48, 74, 110, 111, 132 Ursprungsmythen 67, 70, 75, 85, 112, 123, 218 Urvolk 67 Usbekistan 7, 37, 126, 159 Utopie 99, 103, 106, 150, 161, 168 V Vámbéry, Herrman 68
Vasallenstaat 106 Väterlicher Kolonialherr 209, 210 Vergangenheit 14, 15, 26, 58, 59, 62, 63, 67, 69, 80, 81, 82, 83, 84, 86, 87, 101, 103, 104, 105, 106, 108, 109, 110, 113, 116, 117, 119, 120, 121, 123, 131, 161, 163, 173, 189, 201, 213, 217, 220 Vermischung 60, 82, 83, 85, 218 Vermischungsprozess 85 Verräumlichung 26, 45, 48, 214 Vertrag von Rapallo 170, 220 Verunsicherung 86 Verweigerung der Gleichzeitigkeit 14, 50 Verwissenschaftlichung 189 Verwitterung 49 Verzauberung 57 Verzeitlichung 28, 29 Vogt, Oskar 182, 185 Völkerwanderung 72, 79, 81, 85 Volkswirtschaft 16, 139, 154 Vorstellung 20, 47, 48, 106, 114, 139, 192 W Wachan 75 Wahrheit 169 Wahrnehmung 9, 27, 28, 45, 54, 81, 89, 173, 190 Waldschmidt, Ernst 88 281
Wandel 14, 21, 217, 218 Wanderung 53, 85, 87, 176 Wandgemälde 61, 66, 83 Wartenburg, Graf Yorck von 97 Weimarer Republik 26, 102, 147, 149, 213, 214, 220, 222, 227, 230 Weimarer Zeit 7, 13, 21, 91, 100, 214, 215, 216 weiße Flecken 21, 45, 46, 50, 51, 52, 163 Weizsäcker, Ernst von 220 Welt- und Kolonialpolitik 12 Weltanschauung 172, 186, 219 Weltbeschreibung 188 Weltbevölkerung 72, 129, 228 Weltbild 15, 27, 34, 50, 58, 72, 79, 108, 122, 131, 193, 219, 226 Welthandelsstraße 142 Weltherrschaft 12 Weltmacht 134, 142, 168, 174, 191 Weltmachtanspruch 92 Weltmeere 142 Weltordnung 70, 217, 218 Weltpolitik 12, 17, 97, 98, 99, 123, 214, 230 Weltverkehrsnetz 167 Weltwirtschaftskrise 13
Register
Wesendonck, Otto von 125, 135 Westen 7, 24, 44, 85, 93, 125, 149, 150, 157, 176, 187, 198, 222, 231 Westturkestan 7, 9, 21, 43 Wiederaufbau 151, 154, 160, 163, 164, 170 Wien, Karl 185, 186, 187, 188, 199, 205 Wildnis 21, 45, 46, 47, 48, 49, 55, 90, 96, 97, 99, 100, 163, 182, 197, 198, 205 Wirtschaftsräume 156, 171 Wissen 9, 23, 31, 34, 50, 51, 73, 122, 128, 161, 188, 197, 204, 218 Wissenschaft 7, 11, 12, 13, 19, 20, 22, 26, 31, 32, 33, 37, 38, 46, 51, 56, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 67, 72, 74, 79, 81, 87, 88, 92, 103, 105, 122, 123, 129, 147, 179, 181, 182, 183, 186, 190, 191, 193, 194, 198, 201, 204, 215, 216, 217, 220, 223, 230 Wissenschaftskultur 7 Wissenshorizont 86 Wolff, Eugen 14 Wünsdorf 126 Wüste 60, 157, 183, 207 X Xinjiang 7, 62, 167
Z Zarathustra 59 Zarenreich 10, 11, 13, 17, 24, 108, 120, 122, 132, 143, 155, 156 Zeichen 7, 89, 109, 110, 111, 134, 159, 160, 194, 197, 198, 199, 204, 209 Zeitalter 7, 11, 21, 22, 31, 47, 59, 79, 86, 98, 105, 115, 150, 171, 172, 175, 217, 224 Zeiteinteilung 9, 54 Zeiterfahrung 28, 92 Zeitkonzept 14, 28, 29 Zeitreisen 14, 52, 55, 57, 110 Zeitschichten 28, 67, 84, 105, 107, 110 Zeitsemantik 14, 52 Zeitsignal 199 Zeitwahrnehmung 14, 28, 53, 74, 104, 188 Zentrum 20, 21, 42, 46, 50, 55, 56, 63, 67, 70, 74, 75, 79, 84, 89, 98, 110, 114, 116, 122, 134, 136, 153, 192, 202, 204, 210, 211, 222, 227 Zerfall 8, 24, 108, 120, 142 Zimmermann, Arthur 125 Zimmerwalder Manifest 143 Zivilisation 9, 48, 51, 89, 98, 99, 100, 109, 127, 132, 145, 157, 198, 208, 219, 225 Zivilisationskritik 150 Zoologie 16, 184 Zoroastrismus 59 282
Zukunft 15, 32, 65, 101, 103, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 117, 119, 120, 121, 127, 132, 134, 147, 149, 150, 151, 154, 160, 161, 162, 163, 167, 168, 171, 173, 174, 175, 176, 177, 190, 214, 215, 216, 217, 220, 222, 228, 229 Zweiter Weltkrieg 17, 23, 218, 220, 230, 231 Zwischenkriegszeit 17, 19, 29, 35, 92, 100, 101, 102, 120, 150, 173, 217, 219, 222, 226, 228, 230
1800 | 2000. Kulturgeschichten der Moderne Peter Becker (Hg.) Sprachvollzug im Amt Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts März 2011, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1007-9
Tobias Becker, Anna Littmann, Johanna Niedbalski (Hg.) Die tausend Freuden der Metropole Vergnügungskultur um 1900 Februar 2011, ca. 292 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1411-4
Manuel Borutta, Nina Verheyen (Hg.) Die Präsenz der Gefühle Männlichkeit und Emotion in der Moderne März 2010, 336 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-972-5
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1800 | 2000. Kulturgeschichten der Moderne Rüdiger von Krosigk Bürger in die Verwaltung! Bürokratiekritik und Bürgerbeteiligung in Baden. Zur Geschichte moderner Staatlichkeit im Deutschland des 19. Jahrhunderts Juni 2010, 262 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1317-9
Christa Putz Verordnete Lust Sexualmedizin, Psychoanalyse und die »Krise der Ehe«, 1870-1930 März 2011, ca. 270 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1269-1
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