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German Pages [151] Year 2017
Andre Kleuter
Täter oder Opfer, das ist nicht die Frage Systemische Beratung bei Mobbing am Arbeitsplatz
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Andre Kleuter
Täter oder Opfer, das ist nicht die Frage Systemische Beratung bei Mobbing am Arbeitsplatz
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 6 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-40513-6 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: AntoinetteW/shutterstock.com © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
Inhalt
Zu diesem Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Worum es geht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Mythos Mobbing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Mobbing gleich Konflikt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Die Welt der konstruierten Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Versteckte Kränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Verdrängte Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Die systemische Beratungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Fragen erzeugen Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Hypothesenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Ziele der Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Prozessmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Die Beratung von Herrn M. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Scheitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Der Splitter im Auge des anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Der Feind im Außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Die Suche nach Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Wer anderen die Schuld gibt, gibt ihnen die Macht . . . . . . . . . . 111 Die Sehnsucht nach Komplexitätsreduktion . . . . . . . . . . . . . . . . 113
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Inhalt
Macht Mobbing Sinn? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Anti-Mobbing-Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Von wunden Punkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Konfliktvermeidung ist Kontaktvermeidung . . . . . . . . . . . . . 130 Konflikte nützen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Die vier Grundbedürfnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Führen, ohne zu beschämen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Was bleibt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Zu diesem Buch
Seit vielen Jahren arbeite ich in der Beratung mit Menschen, die Schwierigkeiten am Arbeitsplatz haben. Die Probleme, derentwegen Menschen zu mir kommen, und die Anliegen, die sich daraus für die Beratung ergeben, sind vielfältig. Nicht selten kommen Männer und Frauen, die sich am Arbeitsplatz gemobbt fühlen und die als ihr Anliegen die Unterstützung im Kampf gegen das Mobbing formulieren. Sie schildern Vorkommnisse, in denen ihnen Unrecht geschehen ist, in denen sie sich missachtet, schikaniert oder schlecht behandelt und sich aus ihrem Team oder der ganzen Organisation herausgedrängt fühlen. Sie verstehen sich als Opfer Einzelner oder eines ganzen Systems. Zu Beginn meiner Tätigkeit in der Beratung dachte ich, dass es notwendig wäre, diejenigen, die sich gemobbt fühlen, in ihrem Kampf zu unterstützen. Bald schon aber zeigte sich, dass dieser Ansatz die Situation der Ratsuchenden eher noch verschlechterte und die Konflikte und Spannungen verhärtete. Auch merkte ich während der Beratungsprozesse, dass das Opferbild, das die Klienten zunächst von sich schilderten, häufig die Situation nicht ganz adäquat abbildete. Vielmehr entstand bei genauerer Beschäftigung mit den Problemkonstellationen bei mir zunehmend der Eindruck, dass die Ratsuchenden in der Regel nicht nur Opfer sind, sondern häufig auch Täter, oder dass es zumindest schwer fällt zu unterscheiden, wer Täter und wer Opfer ist. Auch wurde mir deutlich, dass nicht jedes geschilderte Unrecht wirklich als solches zu werten ist und dass manche
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sogar bewusst einen Mobbingvorwurf initiierten. Aber auch in den Fällen, in denen Klienten nachweislich Unrecht geschah, waren sie in der Regel der Situation nicht hilflos ausgeliefert. Vielmehr konnten sie sowohl zur Verschlimmerung als auch zur Verbesserung der Situation beitragen. Sie waren Handelnde und nicht nur Opfer. Mir ist dann aufgefallen, dass sich meine Erfahrungen sowohl in der öffentlichen Diskussion über Mobbing als auch in der Fachliteratur selten oder gar nicht wiederfinden lassen. Ist von Mobbing die Rede, werden vielmehr Schwarz-Weiß-Kategorien wie Gut und Böse, Schuld und Unschuld sowie Täter und Opfer verwendet. Mobbing wird dabei in Zusammenhang mit einem vermeintlichen Verfall gesellschaftlicher Werte und Normen, einer zunehmenden Ich-Bezogenheit von Menschen und mit der Skrupellosigkeit des Wirtschaftssystems im Zeichen der Globalisierung und dessen negativen Auswirkungen auf die Arbeitswelt gebracht. Mobbing wird als Auswirkung und Folge dieser Entwicklungen gesehen. Für mich hat Mobbing mit all dem nur am Rande etwas zu tun. Mobbing ist vielmehr Ausdruck von Spannungen und Konflikten zwischen Menschen, nicht mehr aber auch nicht weniger. Dabei ist Mobbing nach meiner Ansicht kein neues Phänomen, sondern es hat es schon immer gegeben, auch wenn es früher andere Begrifflichkeiten dafür gab, was man heute mit Mobbing beschreibt. Zeitgleich mit meinen Erfahrungen in der Beratung bin ich im Rahmen von Weiterbildung mit dem systemischen Beratungsansatz in Kontakt gekommen. In dem Systemischen habe ich eine ideale Verbindung und einen hilfreichen Zugang zu dem Thema Mobbing gefunden. Besonders angesprochen hat mich dabei die Haltung, mit der Probleme und Schwierigkeiten betrachtet werden, sowie das dem Ansatz zugrunde liegende Menschenbild, andere nicht zu kategorisieren und vermeintliche Defizite in den Fokus zu nehmen. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Menschen in der Regel gute Absichten haben, die sich unter Umständen aber nicht in ihrer Sprache und ihrem Verhalten adäquat ausdrücken. In der Beratung geht es unter anderem darum, Menschen dabei zu unterstützen, bei sich selbst und
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anderen Sprache und Verhalten zu entschlüsseln, und die Intentionen und guten Absichten dahinter zu erkennen. Letztendlich ist das Ziel, einen friedvollen Umgang mit sich und den anderen zu finden. Das Anliegen, meine Erfahrungen in ein schlüssiges, auf dem systemischen Beratungsansatz basierendes, praxistaugliches Beratungskonzept zu überführen, hat mich angetrieben und letztlich zu dem Ihnen vorliegenden Buch geführt.
Worum es geht
»MOBBING – Der Feind in meinem Büro«, so betitelte »Der Spiegel« vor einigen Jahren eine Ausgabe (Heft 16/2012). In dem entsprechenden Leitartikel zeichnet das Magazin ein düsteres Bild der deutschen Arbeitswelt; einer Welt, in der Intrigen, Neid und Schikane an der Tagesordnung seien. Vorgesetzte, die einzelne Mitarbeiter bloßstellten und lächerlich machten, Kollegen, die andere systematisch attackierten und ausgrenzten, und Arbeitgeber, die dem Treiben hilflos zusähen bzw. es ignorierten. Die Autoren beschreiben die langen Leidenswege der Betroffenen, die Ausweglosigkeit, in der sich diese häufig befänden, und die dramatischen Folgen für ihre Gesundheit. Dabei wird davon ausgegangen, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt. Das Magazin beruft sich auf Zahlen einer Studie der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Eurofonds), wonach in Deutschland fast zwei Millionen Menschen von Mobbing am Arbeitsplatz betroffen seien. Durch Fehltage aufgrund von Mobbing entstünden deutschen Unternehmen jährliche Kosten in Höhe von 2,3 Milliarden Euro. Der Artikel ist nur ein Beispiel für die mediale Berichterstattung über Mobbing. Kennzeichnend für die Darstellung in den Medien ist, dass Mobbing in der Regel als ein Phänomen beschrieben wird, in dem es feste Rollen im Sinne von Tätern und Opfern gibt und diese Rollen mit festen Zuschreibungen verbunden sind. Auf der einen Seite stehen Täter, die aus Neid, Missgunst und Bösartigkeit andere Menschen schikanieren, diskriminieren, mithin mobben. Die
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Opfer auf der anderen Seite sind dem oder den Täter/-n hilflos ausgeliefert und letztendlich Objekte einer immer skrupelloseren Welt und ihrer Protagonisten. Setzt man sich aber im Beratungskontext mit Betroffenen und ihrer Problematik intensiver auseinander, bekommt man den Eindruck, dass diese Täter-Opfer-Kategorisierung in der Regel zu kurz gegriffen ist bzw. nur einen Ausschnitt des Gesamtbildes wiedergibt. Vielmehr sind die Betroffenen nicht nur Opfer, sondern häufig auch aktiv an der Herstellung und Gestaltung der Situation beteiligt, zumindest der Situation aber nicht hilflos ausgeliefert. Sie können sowohl zu einer Lösung als auch zur Chronifizierung beitragen. Die Formulierung dieses Eindrucks wirkt auf den ersten Blick provokant und lädt zu dem Missverständnis ein, man würde den Betroffenen womöglich vermitteln wollen, sie seien selbst schuld an der Situation. Diese Schlussfolgerung wäre aber wiederum eine zu kurz greifende Kategorisierung. Vielmehr ist die Inblicknahme der eigenen Anteile und der eigenen Verantwortlichkeiten eine Einladung an Betroffene, Selbstwirksamkeit zu erleben und ohne Schuldzuschreibung jenseits von Kategorisierungen Wege aus festgefahrenen und aussichtslos wirkenden Situationen zu finden. Auch bietet sich so ein Zugang für das Umfeld und professionelle Helfer, Menschen auf dem Weg aus einer Mobbingsituation heraus zu unterstützen. Wie gestaltet man aber konkret die Beratung von Mobbing betroffenen jenseits von Täter-Opfer-Kategorisierungen? Wie kann man Klienten beistehen, ohne sie in ihrem Opfererleben zu bestärken? Wie kann man sie für die eigenen Anteile am Mobbinggeschehen sensibilisieren, ohne sie gegen sich aufzubringen und einen Abbruch der Beratung zu riskieren? Diesen und weiterführenden Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. Dabei liegt der Schwerpunkt in der Vorstellung eines metho dischen Vorgehens für die Beratung von Menschen, die sich gemobbt fühlen. Die Haltung, mit der Mobbing betrachtet wird, die Theorien, auf denen die Analyse der Mobbingkonflikte stattfinden, und die
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Methoden, die in der Beratung benutzt werden, basieren auf dem systemischen Beratungsansatz. Insbesondere mit seiner Fokussierung auf Zusammenhänge und der Auffassung, dass Probleme nicht einzelnen Individuen, sondern der Dynamik in Gruppen bzw. Systemen zuzuschreiben sind, macht systemische Beratung im Besonderen dafür geeignet, den in der Regel hochkomplexen Problem situationen bei Mobbing zu begegnen. Das systemische Verständnis im Hinblick auf Kausalitäten und Wirklichkeiten sind die Grundlagen des zu beschreibenden Beratungsansatzes. Darüber hinaus ist die Einbeziehung von kontextuellen Zusammenhängen wichtiger Bestandteil der Betrachtung. Auch Überlegungen zur Sinnhaftigkeit von Mobbing sowohl für den Einzelnen als auch für die Organisation werden vorgenommen. Gedacht ist dieses Buch als fachliche Anregung und Wegweiser für diejenigen, die in der Beratung und Begleitung von Betroffenen in vielfältiger Weise tätig sind. Das beschriebene Vorgehen für die Beratung ist primär für die Arbeit in Einzelsettings entwickelt worden und bezieht sich auf Mobbing im Arbeitsleben. Grundsätzlich sind die Haltung, mit der hier Mobbingkonflikten begegnet wird, als auch viele der methodischen Anregungen auch auf andere Settings anzuwenden (z. B. in Mediations- und Konfliktklärungsprozessen) und in andere Kontexte (z. B. Schule) übertragbar. Auch wenn dieses Buch nicht primär Ratgeber für Betroffene sein will, ist es mehr als ein Fachbuch für Professionelle. Sich mit Mobbing zu beschäftigen, sei es als Betroffener oder als Professioneller, heißt auch immer, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Nicht von Mobbing betroffen zu sein, bedeutet nicht, zumindest Aspekte aus eigener Erfahrung zu kennen. Wer hat nicht auch schon einmal das Gefühl gehabt, von anderen ausgegrenzt zu werden, und wer kennt nicht auch Situationen aus dem eigenen Lebensweg, in denen er andere ausgegrenzt hat oder zumindest dazu beigetragen hat, dass andere ausgegrenzt werden konnten? Den allermeisten wird auch das Gefühl des Gekränktseins und des Sich-schlecht-behandelt-Fühlens vertraut sein. Der eine
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oder andere kennt auch das Gefühl der Ausweglosigkeit und die schmerzvolle Einsicht, sei es am Arbeitsplatz oder in der Partnerschaft, in Konstellationen zu verharren, von deren Schädlichkeit man weiß, und in denen man trotzdem verbleibt. Und wer hat sich nicht selbst schon dabei erwischt, anderen die Schuld für das eigene Misslingen zuzuschieben? Alle diese Gefühle und Verhaltensweisen treten auch bei Mobbing auf. Um also zu verstehen, was bei Mobbing passiert, was die Akteure antreibt und was Voraussetzung dafür ist, eigene Anteile und Handlungsmuster erkennen zu können, ist es erforderlich, als Berater den Blick auf eigene diesbezügliche Erfahrungen zu richten. Nur wer sich selbst kennt, kann anderen helfen. Somit können die folgenden Ausführungen auch als Unterstützung für die Entwicklung der eigenen Konfliktkompetenz verstanden werden. Das Buch lädt auch ein, Mobbing als etwas zu begreifen, das im zwischenmenschlichen Kontakt auftreten kann. Mobbing nicht zu tabuisieren oder zu negieren, sondern als Anlass zu nehmen, in die Auseinandersetzung mit sich und anderen zu gehen, ist ein Kernanliegen des Buchs. Es geht darum, Mobbing aus der Enge eines Denkens in Schuld-Unschuld-Kategorien herauszuholen und es als etwas zu begreifen, in dem bei allem Leid und aller Schwere auch Hoffnung und Entwicklungschancen liegen. Das Buch ist so aufgebaut, dass zunächst der bisherige Stand der Diskussion zum Thema beleuchtet und die Begrifflichkeit geschärft wird. Es folgen Grundlagen des systemischen Ansatzes und Kernpunkte eines systemischen Verständnisses von Mobbing. Bevor im Hauptteil detailliert ein methodisches Vorgehen und ein Prozess modell für Beratung vorgestellt werden, wird der Blick auf den Zusammenhang von Mobbing und Kränkung gerichtet und darüber dargestellt, wie Mobbing von Betroffenen emotional verarbeitet wird. Im Hauptteil werden zunächst hilfreiche Fragen für die Beratung erläutert, das prozesshafte Vorgehen beschrieben und anhand eines Fallbeispiels veranschaulicht und vertieft. Dabei werden auch Fragen zu den Zielen der Beratung und Erfolgs- bzw. Misserfolgs-
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kriterien aufgeführt. Anschließend wird mit Fokus auf das Denken und Handeln der Betroffenen erläutert, wie alternative Sichtweisen und neue Handlungsoptionen in der Beratung erarbeitet werden können. Last but not least folgen abschließende Hinweise, was jeder Einzelne, aber auch Betriebe oder Organisationen präventiv unternehmen können, um Mobbing zu vermeiden. Die besonders hervorgehobenen Textabschnitte, die im Buch an verschiedenen Stellen auftauchen, sind als Einschübe gedacht, die bestimmten Aspekten breiteren Raum geben, aber nicht zum inhaltlichen Verständnis grundsätzlich gelesen werden müssen. Verteilt über alle Kapitel findet sich eine Vielzahl von Fallbeispielen. Sie stellen immer wieder den Praxisbezug her und sollen den Umgang mit Mobbing anschaulich machen. Die Fallbeispiele sind in ihren Schilderungen zum Schutz der Betroffenen verändert, ohne jedoch dadurch an Realität einzubüßen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen und weiblichen Schreibweise verzichtet. Auch wenn hauptsächlich die männliche Form verwendet wird, sind doch in der Regel beide Geschlechter gemeint. Ferner ist auch nur von Betrieben die Rede, obwohl alle Arten von Arbeitsorganisationen gemeint sind (Unternehmen, Ämter und Behörden, Vereine etc.).
Mythos Mobbing
Mobbing wird heute allgemein als ein Sammelbegriff für alle Arten von systematisch betriebenem feindseligem, drangsalierendem und schikanierendem Verhalten gesehen (Neuberger, 1999). Den Begriff Mobbing (in Englisch »to mob«, gleich anpöbeln, angreifen) prägte zunächst der Verhaltensforscher Konrad Lorenz. Er bezeichnete damit Gruppenangriffe von Tieren auf einen Fressfeind. Allgemein bekannt in der heutigen Bedeutung wurde der Begriff Anfang der 1990er Jahre durch den aus Deutschland nach Schweden ausgewanderten Arzt und Psychologen Heinz Leymann. Er sprach erstmals von Mobbing in Bezug auf das Arbeitsleben und lieferte auch die erste allgemeine Definition: »Der Begriff Mobbing beschreibt negative kommunikative Hand lungen, die gegen eine Person gerichtet sind (von einer oder meh reren anderen) und die sehr oft und über einen längeren Zeitraum hinaus vorkommen und damit die Beziehung zwischen Täter und Opfer kennzeichnen« (Leymann, 1993, S. 21).
Als Merkmale für Mobbing nennt Leymann: Konfrontation, Belästigung, Nichtachtung der Persönlichkeit und Häufigkeit der Angriffe über einem längeren Zeitraum hinweg (Leymann, 1993). Eine Definition von Mobbing speziell auf das Arbeitsleben bezogen entwickelte die von Leymann mitbegründete Gesellschaft gegen psycho sozialen Stress und Mobbing e. V.:
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Mythos Mobbing
»Unter Mobbing wird eine konfliktbelastende Kommunikation am Arbeitsplatz unter Kollegen oder zwischen Vorgesetzten und Unter gebenen verstanden, bei der die angegriffene Person unterlegen ist (1) und von einer oder einigen Personen systematisch, oft (2) und während längerer Zeit (3) mit dem Ziel und/oder dem Effekt des Ausstoßens aus dem Arbeitsverhältnis (4) direkt oder indirekt angegriffen wird und dies als Diskriminierung empfindet« (Leymann, 1995, S. 18).
Schon in den 1990er Jahren bemängelte der Frankfurter Psychologe Oswald Neuberger Leymanns Definition dahingehend, dass die vorgenommene Täter-Opfer-Kategorisierung zu kurz greife und dass beiden Seiten Aktivität zugesprochen werden müsste und nicht die eine Seite (Opfer) nur passiver Empfänger der Initiativen der anderen Seite (Täter) sei (Neuberger, 1999). Auch wenn Neubergers Kritik an der Definition von Leymann allgemein zugestimmt wird, bleiben die meisten Beschreibungen jedoch in dem Kontext der Täter-OpferZuschreibung verhaftet bzw. schenken dem Aspekt der Aktivität des vermeintlichen Opfers wenig Beachtung. So spricht Holger Wyrwa davon: »Auch wenn einfache Täter-Opfer-Zuschreibungen im Allgemeinen zu kurz greifen und die Auslöser von Mobbing nicht ausschließlich nur beim Mobber oder einem Team, der Institution oder der Gesellschaft liegen, sondern unter Umständen auch beim Gemobbten zu verorten sind, darf auch dann – selbst wenn man von Wechselwirkungsprozessen ausgeht – nicht vergessen werden, dass es immer eines konkreten Akteurs bedarf, der sich anmaßt, einen anderen psychisch verletzten zu können« (Wyrwa, 2012, S. 17). Indem aber einer Seite bzw. einem oder mehreren Akteur/-en am Prozess eine schwerwiegendere Täterschaft zugeschrieben wird, droht der Blick für die Wechselseitigkeit und die Verantwortung der anderen Seite verloren zu gehen. In der Betrachtung der Aktivität des vermeintlichen Opfers liegt jedoch in der Regel ein Schlüssel zum Verstehen des Mobbinggeschehens. Die entscheidende Frage, die sich in fast jedem Mobbingprozess grundsätzlich stellt, ist die danach,
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was ausschlaggebend dafür war, dass mit Mobbing reagiert wurde. In manchen Mobbingprozessen mag es dem unvoreingenommenen Betrachter darüber hinaus auch schwer fallen, zu beurteilen, wer von den Akteuren wen eigentlich mehr psychisch verletzt hat bzw. wer wen eigentlich mehr mobbt, da die Situation durch eine Geschichte gegenseitiger Abwertung und feindseligen Verhaltens geprägt ist. Eine Zuschreibung, wer Täter und wer Opfer ist, ist in solchen Fällen noch weniger möglich. Auch wenn die Handlungsanteile in einem Mobbingprozess durchaus unterschiedlich sein können, ist eine Täter-Opfer-Kategorisierung zur Beschreibung der Situation in jedem Fall ungeeignet, weil sie das Gesamtbild nicht zutreffend darstellt. Eine solche Perspektive ist wertend und überträgt der vermeintlichen Täterseite mehr Verantwortung für das Geschehen und entlässt das vermeintliche Opfer aus seiner Verantwortung an dem Konflikt oder der Spannung. Der Umgang mit Mobbing in unserer Gesellschaft ist jedoch sehr geprägt von der Unterteilung in Täter und Opfer und den in Zusammenhang stehenden Kategorisierungen wie gut – böse und Schuld – Unschuld. Der Mythos, Mobbing sei dadurch gekennzeichnet, ein oder mehrere Täter schikanierten bewusst aus niederen Instinkten wie Neid, Missgunst oder einfach Bösartigkeit andere Menschen und machten das oder die hoffnungslos ausgelieferte(n) Opfer fertig, ist immer noch weit verbreitet. Neben dem Verbleiben in einem Kategorisierungsdenken wird ferner sowohl in den Definitionen von Mobbing als auch in vielen Publikationen über das Thema kaum darauf eingegangen, dass die Einschätzung eines Verhaltens als Mobbing abhängig ist vom Betrachter. Ganz entscheidend ist aber, ob jemand das, was ihm widerfährt, als Mobbing definiert oder nicht. Verdeutlicht werden kann dies an den von Leymann (1993) definierten 45 häufigsten Mobbinghandlungen. So sieht er z. B. das »Geben ständig neuer Arbeitsaufgaben« oder das »Geben sinnloser oder kränkender Arbeitsaufgaben« bei wiederholtem Male als Indiz für das Vorliegen von Mobbing. Sicher können solche Handlungen als Akt der Schikane und somit als Mobbing angesehen werden. Sie können aber
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auch anders gedeutet werden, es können mithin andere Wirklichkeitskonstruktionen dafür gefunden werden. So kann das Zuteilen ständig neuer Arbeitsaufgaben auch als Versuch gedeutet werden, mit Leistungseinschränkungen eines Mitarbeiters einen Umgang zu finden und passende, die Einschränkungen berücksichtigende Arbeitsaufgaben zu finden. Was ferner als kränkend oder sinnlos erlebt wird, ist höchst subjektiv und kann in seiner Wahrnehmung diametral dem entgegenstehen, was eigentlich vom Gegenüber beabsichtigt war. So kann »Man wird ständig unterbrochen« auch z. B. der Versuch des Gesprächspartners sein, einen grenzüberschreitenden Redefluss zu stoppen. Der Gewinn in der Entwicklung bzw. Betrachtung alternativer Wirklichkeitskonstruktionen liegt für den Betroffenen darin, aus der gedanklichen Mobbingschleife entrinnen zu können. Die Gefahr bei der Inblicknahme alternativer Wirklichkeitskonstruktionen ist jedoch, verletzendes Verhalten zu bagatellisieren und das, was der Betroffene erlebt, als womöglich verquere Wahrnehmung zu deklarieren. Ausdrücklich ist zudem zu betonen, dass nicht für alles, was Menschen als Mobbing erleben, alternative Wirklichkeitskonstruktionen gefunden werden können und auch nicht gesucht werden sollten. Es gibt Vorkommnisse, Verhaltensweisen oder auch Handlungen, die ohne Zweifel als Angriff und als Akt psychischer Gewalt zu definieren sind. Diese sollten auch nicht umgedeutet werden. Für die Beratung von Betroffenen ist es nichtsdestotrotz wichtig für den Berater, den Blick für alternative Wirklichkeitskonstruktionen immer offen zu halten. Was dies konkret bedeutet, wird im weiteren noch Thema sein. Fasst man nun die Aspekte zur Täter-Opfer-Kategorisierung und zur Wirklichkeitskonstruktion zusammen, lässt sich daraus eine alternative Definition von Mobbing formulieren:
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Mobbing entsteht im sozialen Kontakt zwischen Menschen und hat Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Beteiligten. Von Mobbing spricht man dann, wenn über einen längeren Zeitraum mindestens einer der Beteiligten das Verhalten des anderen Beteiligten (oder mehrerer anderer Beteiligter) als diskriminierend und gezielt gegen sich gerichtet wahrnimmt und sich darüber hinaus in eine unter legene Position gedrängt fühlt (Kleuter, 2010).
Diese Definition versucht bewusst, auf eine Täter-Opfer-Kategorisierung zu verzichten und lässt die Möglichkeit des Vorhandenseins von Wechselwirkungen zu. Ferner wird impliziert, dass die Wahrnehmung von Mobbing ein subjektiver Prozess ist. Ein weiterer Aspekt, dem in der Diskussion über Mobbing bisher wenig Beachtung geschenkt wurde, ist die Frage nach der Sinnhaftigkeit. Macht Mobbing im Zusammenleben von Menschen speziell im betrieblichen Kontext eigentlich Sinn? Hat Mobbing eine Funktion für den Einzelnen, aber auch für die Organisation? Und erhoffen Menschen unter Umständen durch die Formulierung eines Mobbingvorwurfes einen Gewinn für sich oder ziehen sie einen Nutzen daraus? Der Arbeitspsychologe Dieter Zapf sieht zwar »wenig Anlass, anzunehmen, dass sich jemand ohne Grund als Mobbing opfer bezeichnet, und es ist eher zu erwarten, dass man seinen Opferstatus verschweigt« (Zapf, 1999, S. 4). Aus der Erfahrung der Beratungspraxis heraus kann ich Zapfs Einschätzung jedoch nicht teilen. Nach meiner Beobachtung ziehen nicht wenige aus dem Opferstatus auch einen innerpsychischen Nutzen. So ermöglicht der Opfer status unter anderem, Verantwortung nicht spüren und wahrnehmen zu müssen. Da die Situation durch jemand anderen hervorgerufen wurde und so auch dort die Schuld liegt, ist das »Opfer« vordergründig von eigener Verantwortung befreit. Dies wird von Betroffenen nicht selten als Erleichterung erlebt. Auch kommt es mitunter vor, dass die Formulierung eines Mobbingvorwurfes, manchmal bewusst, aber häufig unbewusst, benutzt wird, um von einem anderen, schwe-
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Mythos Mobbing
rer wiegenden Problem abzulenken. So kann der selbstdefinierte Status als Mobbingopfer vordergründig davor schützen, sich mit eigenen schwierigen Themen beschäftigen zu müssen. Der Frage der Sinnhaftigkeit von Mobbing und die diesbezüg liche Bedeutung für die Beratung wird im Kapitel »Macht Mobbing Sinn?« ausführlich nachgegangen.
Mobbing gleich Konflikt?
Beschäftigt man sich mit dem Thema Mobbing, spielt nicht nur die definitorische Frage eine Rolle, sondern auch die begriffliche Einordnung und Abgrenzung. Ist Mobbing ein Konflikt oder Ausdruck einer Spannung zwischen einzelnen Personen bzw. Gruppen, oder steht Mobbing für sich als eigenständige Begrifflichkeit? Nach der im letzten Kapitel erwähnten Definition von Neuberger (1999) ist Mobbing ein feindseliges, drangsalierendes und schikanierendes Verhalten einer oder mehrerer Personen gegenüber einer anderen oder mehreren anderen Personen, oder das, was dafür gehalten wird. Genau betrachtet ist das kein Konflikt. Was ist jedoch dann ein Konflikt? Nach Hugo Prein besteht ein (sozialer) Konflikt, »wenn wenigstens zwischen zwei Parteien die Interessen, Ziele, Rollen und/oder Auffassungen miteinander unvereinbar sind oder scheinen. Ein Konflikt ist erst dann eine psychologische Wirklichkeit, wenn sich wenigstens eine Partei (gleichgültig ob zu Recht oder nicht) der Tatsache bewusst ist, dass die andere Partei sie bei der Verwirklichung der Interessen, Ziele, Rollen und/oder Auffassungen frustriert, darüber Gefühle der Feindseligkeit erlebt und auch ihrerseits die Gegenpartei hindert« (Glasl, 1994, S. 14). In ähnlicher Weise definiert Friedrich Glasl den Begriff Konflikt: »Ein sozialer Konflikt ist eine Interaktion zwischen Aktoren (Individuen, Gruppen, Organisationen usw.), wobei wenigstens ein Aktor Unvereinbarkeiten im Denken/Vorstellen/Wahrnehmen und/oder Fühlen und/oder Wollen
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mit dem anderen Aktor (anderen Aktoren) in der Art erlebt, dass im Realisieren eine Beeinträchtigung durch einen anderen Aktor (die anderen Aktoren) erfolge« (Glasl, 1994, S. 14 f.). Dabei betont Glasl, dass »es genügt, dass bloß einer der Aktoren die Unvereinbarkeit als solche erlebt und subjektiv dementsprechend handelt; objektiv lässt sich doch niemals zweifelsfrei feststellen, ob dieses Erleben da ist oder nicht.« Weiter führt Glasl aus: »Wenigstens eine Partei (Aktor) erlebt die Interaktion (ob zurecht oder zu Unrecht ist gleichgültig) so, dass sie die Gründe für das Nicht-Verwirklichen der eigenen Gedanken, Gefühle und/oder Intentionen der anderen Partei zuschreibt; es ist dabei unerheblich, ob dies von der Gegenpartei bewusst oder unbewusst, willentlich oder unabsichtlich so geschieht« (Glasl, 1994, S. 15). Vereinfacht gesagt liegt die Grundlage eines Konfliktes in dem Unterschied zwischen den Auffassungen zweier oder mehrerer Personen. Dies allein wären aber nur Meinungsverschiedenheiten. Zum Konflikt wird es dann, wenn sich mindestens eine Partei durch die andere Partei beeinträchtigt fühlt. Schreitet der Konflikt dann voran und fühlt sich mindestens eine Partei einem feindseligen Verhalten der anderen Partei ausgesetzt, kann man von Mobbing sprechen. Somit kann Mobbing Ausdruck eines offen eskalierenden Konfliktes sein. Mobbing kann aber auch im Zusammenhang mit einem verdrängten, unterschwelligen oder nicht gelösten Konflikt stattfinden. Die Eskalation des Konfliktes geschieht im Verborgenen und kommt erst durch das Mobbing an die Oberfläche. Zu betonen ist, dass ein Konflikt nicht unbedingt wirklich vorhanden sein muss, sondern es ausreicht, dass jemand annimmt, es gebe einen Konflikt. In der Praxis ist häufig zu beobachten, dass der vermeintliche Konflikt, der seinen Ausdruck im Mobbing findet, auf Missverständnissen, falschen Annahmen oder Missdeutungen beruht. Mobbing kann aber auch jenseits eines vorhandenen oder angenommenen Konfliktes auftreten, und zwar in Zusammenhang mit zwischenmenschlichen Spannungen. Der Unterschied zwischen
Mobbing gleich Konflikt?25
Konflikt und Spannung liegt darin, dass bei einem Konflikt, wie bereits erwähnt, unterschiedliche Auffassungen, Vorstellungen, Ziele etc. aufeinanderprallen. Für Spannungen gilt dies in der Regel nicht zwangsläufig. Spannungen treten vielmehr im Zusammenhang oder als Folge unter anderem von Kränkung, Missachtung, Zurückweisung und Abwertung auf. Mobbing wiederum ist dann das, was einzelne oder mehrere am Prozess Beteiligte durch eine Kränkung oder Ähnliches erleben, oder das, was als Folge oder Reaktion auf eine Kränkung passiert (auf den Zusammenhang zwischen Kränkung und Mobbing wird in dem Kapitel »Versteckte Kränkungen« näher eingegangen). Natürlich können Spannungen auch in Zusammenhang mit einem Konflikt auftreten, dies geschieht aber eben nicht zwangsläufig. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Mobbing immer entweder Ausdruck eines (eskalierenden) Konfliktes ist oder in Zusammenhang mit zwischenmenschlichen Spannungen auftritt oder beides. Entsprechend ist Mobbing nicht zwangsläufig mit einem Konflikt verbunden oder ein Konflikt an sich.
Zum Umgang mit dem Begriff Mobbing
Der Begriff Mobbing gehört heute zum allgemeinen Sprachge brauch vieler Menschen. Dabei drängt sich der Eindruck auf, dass die Bezeichnung in den letzten Jahren inflationär verwendet und zunehmend abweichend von seiner ursprünglichen Definition benutzt wird. Hatte Leymann noch primär das Arbeitsleben im Blick, als er den Begriff in Deutschland einführte, wird Mobbing heute für alle Lebensbereiche benutzt. Während erste Definitionen noch davon ausgingen, dass man von Mobbing nur spricht, wenn es sich um einen längeren Zeitraum handelt und Zielsetzung der Ausstoß aus der Gruppe sei (Leymann, 1995), wird der Begriff heut zutage für alle Situationen oder Vorkommnisse verwendet, in denen sich jemand schlecht behandelt fühlt. Was früher das Hänseln oder
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Mobbing gleich Konflikt?
Ärgern von Mitschülern war, wird heute als Mobbing bezeichnet. Was früher Lästern über Kollegen oder intrigantes Verhalten war, wird inzwischen schnell mit dem Begriff Mobbing belegt. Hilfreich wäre es, den Begriff wieder mehr in seiner ursprünglichen Form und Definition zu benutzen und andere Begrifflichkeiten zu finden, um etwas zu beschreiben, was zwar Mobbing ähnelt, aber häufig eigentlich nicht wirklich ist. Manches ist genauer als Missbrauch, Gewalt, Aggression, Abwertung oder einfach schlechtes Benehmen einzuordnen. Der grundsätzliche Nachteil des Begriffs Mobbing ist dessen fehlende Spezifität im Hinblick auf klare faktenbezogene Aussagen. Mobbing ist aber immer mit einem konkreten Verhalten verbunden; wird dieses nicht benannt, erschwert das die Kommu nikation zwischen den Protagonisten ungemein und eine Lösung des Konfliktes oder der Spannung wird wesentlich erschwert. So ist zu beobachten, dass die Verwendung des Begriffs diejenigen, die ihn benutzen oder gegen die er gerichtet ist, eher lähmt und nicht zur Kommunikation einlädt, sondern eher Spaltung bewirkt, was unter anderem daran liegt, dass die Formulierung eines Mobbing vorwurfes gewollt oder ungewollt immer eine Schuldzuweisung beinhaltet. Man könnte schlussfolgern, den Begriff Mobbing möglichst aus dem Sprachgebrauch zu verbannen. Gleichwohl ist in der Praxis zu beobachten, dass es Menschen hilft, mit Mobbing eine Begrifflich keit zur Verfügung zu haben, mit der explizit die schwierige Situation, in der sich jemand befindet, und das empfundene Leid benannt wird. Besser wäre es aber, den Begriff sparsam einzusetzen, da er sich abnutzt und immer in der Gefahr steht, zur Worthülse bzw. Floskel zu verkommen.
Die Welt der konstruierten Wirklichkeit
Primär wurzelnd in der Systemtheorie nach Niklas Luhmann (1984) und dem (radikalen) Konstruktivismus nach Ernst von Glasersfeld (1981) hat der systemische Ansatz in den letzten Jahrzehnten eine große Verbreitung gefunden. Ursprünglich aus der Familientherapie stammend, ist der systemische Ansatz heute vielgenutzte metho dische Basis für psychosoziale Beratung, Psychotherapie, Coaching, Supervision und vielen weiteren Bereichen. Wo immer Menschen in der Interaktion mit anderen in Verstrickungen geraten und Störungen oder Probleme auftreten, ist der systemische Ansatz ein nütz licher Helfer, um komplexe Problemzusammenhänge zu entschlüsseln und Lösungswege zu ebnen. Im Folgenden wird ein systemisches Verständnis von Mobbing auf den Grundlagen systemischen Denkens entwickelt. Das syste mische Verständnis von Mobbing ist wiederum die Basis, auf die sich dann der Beratungsansatz stützt.
Wirklichkeit Nach dem systemischen Verständnis gibt es keine objektive Wirklichkeit. Diese auf der Erkenntnistheorie des Konstruktivismus basierende Haltung geht davon aus, dass Wirklichkeit immer nur die Wirklichkeit »im Auge des Betrachters« ist. Sie ist Konstruktion von Individuen. »Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist
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unsere Erfindung« (von Foerster zit. nach von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 147). Wie Menschen ihre Sicht der Wirklichkeit konstruieren, hat unter anderem mit ihrem Vorwissen, ihren Absichten und blinden Flecken zu tun. Sie bewerten und interpretieren ihre Wahrnehmungen unterschiedlich, geben Teilaspekten mehr oder weniger Gewicht, blenden andere Teile aus und ziehen unterschiedliche Schlüsse. Beratung und Therapie hat dann die Aufgabe, alternative Wirklichkeitskonstruktionen anzubieten, um die Perspektive und das Handlungsspektrum des Klienten zu erweitern. Insbesondere bei zwischenmenschlichen Konflikten können sich die Wirklichkeitskonstruktionen der Konfliktparteien stark von einander unterscheiden. »Denn auch beim individuellen Erleben von Konflikten vermischen wir in der Regel Beschreiben, Erklären und Bewerten. Wir können kaum anders, weil uns die Muster ihrer Verknüpfung seit frühester Kindheit eingeprägt sind. Deswegen sind wir uns meist auch nicht bewusst, dass wir die Option hätten, zwischen unterschiedlichen Erklärungen und Bewertungen zu wählen, ja, dass wir sogar unsere Wahrnehmungen nicht als gegeben hinnehmen müssten, sondern auch die Wahl hätten, anders zu be obachten« (Simon, 2012, S. 39). Ob Menschen also einen Sachverhalt als Mobbing interpretieren, hängt stark von ihnen selbst ab, wie sie Situationen, Äußerungen und Handlungen anderer wahrnehmen und welche Schlüsse sie daraus ziehen, sprich: welche Konstruktionen sie letztlich wählen. Bei einem Mobbingkonflikt findet ein Austausch über die unterschiedlichen Wahrnehmungen bzw. Wirklichkeitskonstruktionen nicht statt, vielmehr entsteht ein sogenannter Wahrnehmungskonflikt, bei dem mindestens einer der Beteiligten das Verhalten des anderen als gegen sich gerichtet interpretiert. Nun geht es aber nicht darum, die Bildung von Wirklichkeitskonstruktionen zu unterlassen. Menschen brauchen sogenannte innere Landkarten, also Erklärungsmuster und Konstruktionen der Wirklichkeit, um sich zurechtzufinden. Wichtig ist aber, sich bewusst zu sein, dass sie nicht die einzige Wahrheit abbilden. Für die Beratung ergibt sich daraus, dass es keinen Sinn macht, nach der Wahr-
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heit des Konfliktes zu suchen, also etwa nachzuforschen, wer von den Konfliktteilnehmern Recht oder Unrecht hat oder gar wer lügt und wer die Wahrheit sagt. Das eigentliche Interesse sollte vielmehr darin liegen, Unterschiede in den Schilderungen und Sichtweisen in den Blick zu nehmen. Das Herausarbeiten dieser Unterschiede ist ein elementarer Teil systemischer Beratung bei Mobbing. In den Unterschieden liegen in der Regel wesentliche Informationen, die für den Beratungsprozess nützlich sein können und Wege aus dem Mobbingerleben des Betroffenen aufzeigen. Das folgende Fallbeispiel zeigt, wie different die Wirklichkeitskonstruktionen ausfallen können, aber auch, wie der Austausch über die unterschiedlichen Sichtweisen der Wirklichkeit einen Konfliktlösungsprozess anbahnen kann. Frau A. kommt zur Beratung, weil sie sich am Arbeitsplatz von Kolle gen und Vorgesetzten gemobbt fühlt. Sie schildert, dass sie seit vielen Jahren als Servicekraft im Restaurant eines großen Hotels arbeitet. Aufgrund ihrer über die Jahre zunehmenden Erfahrung hat sie nach und nach höherwertige Tätigkeiten im Restaurant übernommen, unter anderem die Vertretung des Restaurantleiters bei dessen Abwesen heit. Um auch entsprechend ihrer veränderten Tätigkeit bezahlt zu werden, hat sie sich vor einiger Zeit an den Betriebsleiter gewandt. Dieser lehnte eine Gehaltserhöhung jedoch kategorisch ab. In der Folge wurden ihr vom Betriebsleiter Mängel in ihrer Arbeit vorgeworfen und Beschwerden von Kollegen gegen sie vorgelegt. Frau A. fühlt sich zu Unrecht kritisiert und sieht die Anschuldigungen als Indiz dafür, dass man sie aufgrund ihres Aufbegehrens mobbt und so versucht, sie aus dem Betrieb herauszudrängen. In einem Klärungsgespräch mit Frau A. und dem Betriebsleiter schildert dieser, dass man das Bemühen und den Einsatz von Frau A. zwar schätzen würde, aber häufig auch als Einmischung in die Aufga benbereiche anderer wahrnehme. Zum Streit mit den Kollegen kam es aus Sicht des Betriebsleiters, als Frau A. den Kollegen Anweisungen gegeben habe, die ihrer Position nicht angemessen waren. Auf die
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Vertretungstätigkeit für den Restaurantleiter angesprochen, erläutert der Betriebsleiter, dass es diese Aufgabenübertragung an Frau A. nur einmal gegeben hätte, als die eigentliche stellvertretende Restaurant leiterin kurzfristig erkrankte. Eine dauerhafte Übertragung der Tätig keit und somit auch eine Lohnerhöhung sei jedoch nicht beabsichtigt.
In diesem Fallbeispiel hat Frau A. die Anweisung, den Restaurantleiter zu vertreten, so interpretiert, diese Aufgabe dauerhaft zu übernehmen. Dabei hat sie übersehen bzw. bewusst oder unbewusst ausgeblendet, dass diese Position schon besetzt ist und die Anweisung nur einmal gegeben wurde, als die stellvertretende Restaurantleiterin kurzfristig ausfiel. Die Kollegen und Vorgesetzten wiederum haben das Bemühen und den Einsatz von Frau A. als Übergriff verstanden und dabei übersehen, dass Frau A. einfach nur Wertschätzung und Anerkennung erfahren wollte. Wichtig ist zu bedenken, dass die Annahme, alles sei konstruiert und vom Betrachter abhängig, auch Gefahren birgt. Das Erleben, gemobbt zu werden, droht dadurch bagatellisiert und einzig der Wahrnehmung desjenigen zugeschrieben zu werden, der sich von Mobbing betroffen fühlt. Auch könnte daraus folgen, demjenigen die alleinige Verantwortung zusprechen zu wollen. Dies wäre jedoch profan und im Grunde auch eine Reduzierung auf eine Wirklichkeitskonstruktion. Für die Beratung genügt es auch nicht, nur die unterschiedlichen Wirklichkeitskonstruktionen zu betrachten und wie in dem erwähnten Fallbeispiel einen Austausch darüber zu initiieren. Ein weiterer elementarer Bestandteil von systemischer Beratung bei Mobbing ist vielmehr die Betrachtung der Wechselwirkungen, die im System entstanden sind. Grundlage dafür ist das systemische Verständnis von Kausalität.
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Kausalität Kausalität meint das Denken in Ursache-Wirkungsketten. Das eine geschieht, weil vorher das andere passiert ist. Lineare Kausalität im Sinn von je mehr von dem einen geschieht, desto mehr von dem anderen bewirkt, stellt eine Verkürzung dar, die insbesondere im zwischenmenschlichen Bereich die Komplexität der Zusammenhänge nicht adäquat darstellt. »Kein Wunder, dass das Kind so ist, bei der Mutter!« Lineares Denken verführt zur Verwendung von Schuld- und Täter-Opfer-Kategorien. Für von Schlippe und Schweitzer (2012, S. 149) ist kausales Denken der Komplexitätsreduktionsversuch eines Beobachters und damit, insbesondere auf lineares Denken bezogen, für ein systemisches Vorgehen kein hilfreiches Erklärungsprinzip. Um jedoch die Wechselwirkungen in Systemen zu beschreiben, wird im Systemischen häufig der Begriff zirkuläre Kausalität verwendet, als kreisförmige Vorstellung in der Art eines Zirkels. Schwing und Fryszer beschreiben zirkuläre Kausalität so: »A wirkt auf B ein, worauf B wieder auf A einwirkt und A wiederum auf B usw. Wo dieser Prozess anfängt, lässt sich nicht sagen, grafisch wird dies als Kreisprozess ohne Anfang oder Ende dargestellt. Das Geschehen wird als Wechselwirkung zwischen den Beteiligten oder den Ereignissen gesehen, eine Handlung ist Folge vorhergehender Prozesse und gleichzeitig Ursache für weitere Aktionen« (Schwing u. Fryszer, 2009, S. 209). Bedeutsam ist nun, dass im Sinne eines systemisch (zirkulären) Kausalitätsverständnisses Veränderungen einzelner Elemente im System Konsequenzen für andere Elemente und für das Gesamtsystem haben. Systemische Beratung betrachtet nun diese dynamischen Wechselwirkungen und hilft dabei, in dem Gefüge Muster zu erkennen, diese zu verstehen und bei Bedarf zu verändern. Mobbing entsteht in der Regel aus solchen Wechselwirkungs prozessen. Dies bedeutet, dass bei Mobbing nicht das Verhalten eines Einzelnen ausschlaggebend ist, sondern die Wechselwirkung, die aus dem Verhalten aller Beteiligten entsteht. Entsprechend kann es im
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systemischen Sinn bei Mobbing keine Täter- und Opfer- bzw. Schuldund Unschuld-Zuschreibungen geben. Wechselwirksamkeit bedeutet in der Praxis, dass Betroffene ebenso wie andere Beteiligte mit ihrem Verhalten manchmal bewusst, aber in der Regel unbewusst etwas zum Entstehen von Mobbing beitragen. Das folgende Fallbeispiel verdeutlicht dies: Herr S. arbeitet seit vielen Jahren als Schlosser in einem Maschinen bauunternehmen. In seiner Abteilung herrscht ein gutes Klima und die Arbeit von Herrn S. wird von Kollegen und dem vorgesetzten Meis ter gleichermaßen geschätzt. Die Situation ändert sich, nachdem der Meister in den Ruhestand geht und ein junger Nachfolger die Abtei lung übernimmt. Die Arbeit von Herrn S. wird auf einmal kritisiert. Er bekommt Abmahnungen, veranlasst durch den neuen Vorgesetzten, in denen ihm Fehler in der Arbeit vorgeworfen werden. Herr S. fühlt sich zu Unrecht kritisiert und versteht die Welt nicht mehr. Die Abmahnungen interpretiert er als einen Akt der Schikane und als Mobbing durch den neuen Meister. Den Grund für das Mobbing sieht er darin, dass man ihn im Zuge von Personalabbau als älteren Mitarbeiter aus der Firma drängen will. Er vermutet, dass der Meister die Firmenleitung beim Herausdrängen von Mitarbeitern unterstützt, um selbst gut dazustehen und seine Chancen zu erhöhen, in der Betriebshierarchie aufzusteigen. Mit Hilfe eines Rechtsanwalts geht Herr S. gegen die aus seiner Sicht ungerechtfertigten Abmahnungen vor. Parallel sucht er sich Unter stützung in Form von Beratung. In dem Beratungsprozess wird ein wechselseitiges Geschehen in Form gegenseitiger Abwertung deut lich. Es kommt heraus, dass Herr S. dem neuen Meister offen gesagt hat, dass er ihn aufgrund seines Alters für fachlich inkompetent hält. Auch gegenüber Kollegen und der Firmenleitung hat er diese Meinung vertreten. Mit Hilfe der Beratung kann Herr S. einen möglichen Zusam menhang zwischen seinen Äußerungen und den Reaktionen des neuen Vorgesetzten und der Firmenleitung herstellen. Er kann ferner seine unterschwellige Angst benennen, den Anforderungen, die er durch den jungen Meister verändert sieht, nicht mehr zu genügen und seine
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Position im Kollegenkreis zu verlieren. Aus Angst vor Gesichtsverlust scheut er sich jedoch, offen mit dem neuen Vorgesetzten über seine Befürchtungen zu sprechen.
Zu betonen ist, auch wenn das vermeintliche Opfer durch eigenes Verhalten zu dem Mobbingprozess beigetragen hat, dass der Schluss nicht zulässig ist, er oder sie trage selbst die Schuld an dem Geschehen. Auch wenn das Verhalten von Herrn S. als unpassend zu bewerten ist, rechtfertigt dies natürlich nicht die Reaktionsweise des neuen Meisters und der Firmenleitung. Um Mobbingprozesse zu verstehen, ist neben dem Blick auf die Wechselwirkungen und die unterschiedlichen Wirklichkeitskonstruktionen noch ein drittes Element wichtig, die Einbeziehung der relevanten Kontexte.
Kontext Systemisch betrachtet geschieht alles auf einem Hintergrund, dem sogenannten Kontext. Das Kontextualisieren, also die Einbeziehung des Kontextes bei der Betrachtung und Bearbeitung eines Problems oder eines Themas, ist mit einer der elementaren Bestandteile systemischen Arbeitens oder wie Schwing und Fryszer es formulieren: »Die Kontextualisierung von Störungen, Symptomen oder Problemen ist ein zentrales Moment systemischen Vorgehens und steht im Kontrast zu individuumsbezogenen Arbeitsweisen« (Schwing u. Fryszer, 2009, S. 66). Kontextualisieren im systemischen Sinn heißt dabei auch, das Problem bzw. das Verhalten auf den Lebenskontext des Betroffenen bezogen als sinnvoll zu betrachten. »Ziel systemischen Arbeitens ist immer, das Problem nicht als Folge von Eigenschaften zu sehen, die im Individuum liegen, sondern im Zusammenhang mit seiner Geschichte, seinen Beziehungsstrukturen und Bedingungen« (Schwing u. Fryszer, 2009, S. 67). Kontextualisierung kann fer-
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ner auch bedeuten, die Wirkung des Problems auf den Kontext zu betrachten. Das Problem hat durchaus auch Einfluss auf den Kontext und nicht nur umgekehrt. Grundsätzlich ergeben sich durch die Einbeziehung des Kontextes andere Erklärungs- und Sinnzusammenhänge für ein Symptom oder Problem. Bei der Beratung ist die Entwicklung anderer Erklärungs- und Sinnzusammenhänge durch Kontextualisierung ein wesentliches Element. Es geht dabei zum einen um die individuellen Kontexte der Konfliktteilnehmer und zum anderen um den betrieblichen Kontext. Der individuelle Kontext ist z. B. die allgemeine Lebenssituation, der familiäre Hintergrund, das Vorliegen einer Erkrankung oder Behinderung, Erlebnisse aus der Kindheit, aber auch Kränkungserlebnisse aus der Vergangenheit. Der betriebliche Kontext umfasst unter anderem die Unternehmenskultur, die konkreten Arbeitszusammenhänge, die Unternehmensstruktur und die wirtschaftliche Situation des Betriebes. In den Kontexten liegen wichtige Informationen. Sie außen vor zu lassen, würde bedeuten, wesentliche Aspekte zu missachten. Herr G. ist Bankkaufmann und arbeitet seit einigen Jahren bei einer Bank als Kreditsachbearbeiter für Firmenkunden. Seitdem er dort arbeitet, gibt es Schwierigkeiten. Anfangs hatte er einen festen Kun denstamm. Dieser wurde ihm genommen und er wurde nur noch für Zuarbeiten eingesetzt. Er fühlt sich dadurch abgewertet und aufs Abstellgleis gesetzt. Eigentlich hatte er mal den Plan, eine Führungs aufgabe bei der Bank zu übernehmen. Deshalb studierte er parallel zu der Arbeit Betriebswirtschaft und steht nun kurz vor dem Master abschluss. Wie mit ihm in der Bank umgegangen wird und insbesondere über das Verhalten der Vorgesetzten ist er empört und fühlt sich gemobbt. Den Grund für das Mobbing sieht er im Neid der Kollegen und Vor gesetzten auf sein Studium. Er hat mehrmals versucht, das Gespräch mit den Vorgesetzten zu suchen, um eine Verbesserung seiner Arbeits situation zu erwirken. Statt Verständnis für seine Situation zu zeigen,
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wurde ihm unter anderem vorgeworfen, nicht teamfähig zu sein. Zur Beratung kommt er mit dem Wunsch, daran zu arbeiten, wie er sich besser wehren kann. Sein Plan ist zu erzwingen, dass der Arbeitgeber ihn in eine andere Abteilung versetzt und dort entsprechend seinen Qualifikationen beschäftigt. Im Rahmen der Beratung kommt auch der persönliche Kontext zur Sprache. Herr G. berichtet von einem früheren Arbeitsverhältnis bei einem anderen Kreditinstitut. Dort sei er mit dem Versprechen eingestellt worden, ihn als Führungskraft aufzubauen. Das Verspre chen wurde aber nicht eingelöst. Vielmehr kündigte die Bank das Arbeitsverhältnis. Herr G. klagte gegen die Kündigung und es kam zu einer außergerichtlichen Einigung über die Zahlung einer Abfindung. Herr G. sieht seinen Wunsch nach beruflicher Entwicklung auf dem Hintergrund der Vorgeschichte nun durch die aktuellen Schwierigkei ten ein zweites Mal enttäuscht. In Zusammenhang mit der Erfragung des persönlichen Kontextes wird auch der familiäre Hintergrund mit einbezogen. Er beschreibt dabei seinen Vater als einen sehr streb samen Menschen, der es beruflich weit gebracht habe. Seine beiden Geschwister erlebt er in der gleichen Tradition stehend. Für sich selbst hat er auch dieses Ziel, sieht sich in der Verwirklichung jedoch durch andere behindert.
Durch die Einbeziehung von Kontexten werden die Hintergründe deutlich, auf denen die Mobbingsituation passiert. Die Kontexte haben darüber hinaus Einfluss auf das Zustandekommen des Mobbings. Eine Verbindung zum Mobbing erschließt sich dabei häufig nicht unmittelbar, sondern eher indirekt. Die Einbeziehung der Kontexte trägt wiederum auch eher indirekt zur Auflösung einer Mobbingsituation bei. Bei Herrn G. lässt sich vermuten, dass er in seinem Vater und seinen Geschwistern Vorbilder sieht, mit denen er sich zu messen versucht, sich damit aber möglicherweise überfordert und übermäßig unter Druck setzt. Denkbar, dass er dadurch im Arbeitskontext mit Verhaltensweisen agiert, die bei Kollegen und Vorgesetzten Reaktio-
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nen hervorrufen, die Herr G. dann als Mobbing interpretiert. Könnte er einen gelasseneren Umgang mit seinem Streben nach beruflichem Aufstieg finden, würde sich gegebenenfalls indirekt auch etwas an seiner Arbeitssituation verändern. Fast man nun die auf den letzten Seiten beschriebenen Aspekte, Wirklichkeitskonstruktionen, Wechselwirkungen und Kontexte zusammen, ergibt sich ein Modell der systemischen Sicht von Mobbing. Abbildung 1 visualisiert dieses Modell:
Persönlicher Kontext
Persönlicher Kontext
Betrieblicher Kontext
Abbildung 1: Wirklichkeitskonstruktion, Wechselwirksamkeit und Kontextualität bei Mobbing
Die Pfeile zwischen den Protagonisten symbolisieren den Wechselwirkungsprozess. Die Linien zeigen, dass die Beteiligten mit unterschiedlichen Blickwinkeln auf die Situation schauen. Sie symbolisieren die in der Regel differenten Wirklichkeitskonstruktionen. Umgeben sind die Beteiligten von ihrem jeweiligen persönlichen Kontext und dem betrieblichen Kontext. Die Abbildung steht als Schablone für die systemische Beratung bei Mobbing. Sie visualisiert die Kernpunkte und kann so als Grundgerüst der Beratung verstanden werden.
Kontext37
Systemische Beratung bei Mobbing betrachtet die unterschied lichen Wirklichkeitskonstruktionen der Beteiligten und fügt die Ana lyse der Wechselwirkungen, die zu dem Konflikt/der Spannung geführt haben, und Einflüsse der verschiedenen Kontexte zu einem sinnstiftenden Bild zusammen, das die Situation in der Regel in einem anderen Licht erscheinen lässt. In der Beratung geht es dann darum, diese neuen Sichtweisen als Hypothesen in den Kontakt mit den Protagonisten zu bringen, dadurch ihren Blickwinkel zu erweitern bzw. festgefahrene Denkstrukturen aufzulösen, um neue Handlungsoptionen zu generieren.
Haltung ist nicht alles, aber vieles.
Systemische Beratung im Allgemeinen und systemische Mobbing beratung im Speziellen ist mehr als Theorie und Methode. Es ist insbesondere die Haltung, mit der ein Berater dem Klienten und dessen Problem begegnet, die eine systemische Beratung ausmacht. »Respekt vor Menschen, aber Respektlosigkeit vor Ideen« so formu lieren von Schlippe und Schweitzer (2012, S. 207) eine wesentliche Grundhaltung des systemischen Beraters. Dies bedeutet, Menschen, die in Beratung kommen, mit Respekt zu begegnen, sie nicht zu beschuldigen, sie nicht zu beschämen und darüber hinaus sich als Berater nicht anzumaßen, zu wissen, was gut für sie sei. »Hilfesu chende werden […] konsequent als autonom, als nichtinstruierbar und als Experten ihres eigenen Lebens angesehen« (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 201). Oder wie Johannes Herwig-Lempp es for muliert: »Menschen sind autonom und eigensinnig. […] Menschen können nicht gezielt gesteuert werden – auch wenn man es gern würde und versucht« (Herwig-Lempp, 2002, S. 198). Für die Praxis der Beratung bei Mobbing bedeutet dies auch, Betroffenen ein Recht auf ihre Wirklichkeitssicht einzuräumen. Andere Wirklichkeitskons truktionen können angeboten, aber nicht aufgezwungen werden.
Versteckte Kränkungen
Beschäftigt man sich mit Mobbing, gelangt man früher oder später unausweichlich auch zum Thema Kränkungen. Kränkungen stehen in vielfältiger Weise in Verbindung mit Mobbing. Während sie einerseits Folge von Mobbing sind, sind sie andererseits häufig auch als Auslöser zu identifizieren. Manchmal sind sie für die am Prozess Beteiligten und den Berater direkt zu erkennen, nicht selten liegen sie aber im Verborgenen oder verstecken sich hinter zwischenmenschlichen Spannungen und Konflikten. Im Folgenden soll erläutert werden, wo und wie Kränkungen im Zusammenhang mit Mobbing auftreten, welchen folgenschweren Einfluss sie auf das System haben und welche Herausforderungen sich dadurch für die Beratung ergeben. Insbesondere den versteckten Kränkungen wird Beachtung geschenkt, da diese häufig übersehen werden, deren Erkennen jedoch sehr zum Gelingen eines Beratungsprozesses beitragen kann. Zunächst ist zu konstatieren, dass gemobbt zu werden für die Betroffenen an sich eine erhebliche Kränkung darstellt. Selbstwert und Würde werden durch das Mobbing verletzt. Sätze wie »Warum gerade ich?«, »Was habe ich falsch gemacht?«, »Womit habe ich das verdient?«, prägen die Gedanken des Betroffenen. Manchmal ist es aber auch so, dass jemand gekränkt ist, diesen Zustand aber nicht als Kränkung, sondern als Mobbing bezeichnet. Jemand fühlt sich vielleicht übergangen, nicht wertgeschätzt oder schlecht behandelt. Gegebenenfalls ist dies von der/den anderen Per-
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son/-en aber gar nicht so gemeint. Ob sich jemand gekränkt fühlt, hat also etwas damit zu tun, ob derjenige das, was ihm widerfährt, als Kränkung ansieht oder nicht. Hat der Berater den Eindruck, dass genau dies der Fall ist, kann er dies ansprechen und mit dem Klienten erarbeiten, welche anderen Wirklichkeitskonstruktionen es für das geben könnte, was er als Mobbing bzw. Kränkung erlebt. Auch kann es in dem Zusammenhang darum gehen, dass dem Klienten eigene wunde Punkte bewusst werden bzw. er sein eigenes Kerbenprofil1 erforscht. Bestenfalls gelingt es ihm dann in der Zukunft, ein auftretendes Kränkungsgefühl besser einordnen zu können und sich nicht gemobbt zu fühlen. Die beschriebenen Kränkungen durch das erlebte oder vermeintliche Mobbing lassen sich relativ klar benennen. Weitaus schwerer zu identifizieren sind die sogenannten verdeckten bzw. versteckten Kränkungen. Dies sind Kränkungen, die zu einem früheren Zeitpunkt im System aufgetreten sind, aber von den Beteiligten nicht als solche erkannt wurden, bzw. wenn erkannt, nicht benannt und bearbeitet worden sind. Sie haben sich in der Regel im Unterbewusstsein desjenigen verankert, der die Kränkung erlitten hat. Sie sind aber nicht vergessen, sondern zeigen ihre Wirkung im Verborgenen. Sie kommen dann unter dem Deckmantel von Konflikten, Spannungen und eben häufig auch Mobbing wieder zum Vorschein. Das Vertrackte daran ist, dass in der Regel kein direkter Zusammenhang zwischen der erlittenen Kränkung und dem auftretenden Mobbing zu ziehen ist. Zum einen stehen sie nicht im inhaltlichen und zum anderen häufig auch nicht im zeitlichen Zusammenhang. Auch können die Protagonisten andere sein, die mit der ursprüng1 Schulz von Thun (2006) beschreibt das sogenannte Kerbenprofil, das jeder Mensch in sich trägt. Jeder entwickelt durch das, was er insbesondere in der Kindheit erlebt, ein Kerbenprofil. Erfahrungen werden gespeichert und »wunde Punkte« graben sich wie eine Kerbe im Persönlichkeitsprofil ein. Später haut jemand, in der Regel unabsichtlich und ohne es zu wissen, in die alte Kerbe und löst damit eine Reaktion bei dem anderen aus. Die Reaktion steht dabei zum Anlass in keinem angemessen Verhältnis.
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lichen Kränkung gar nichts zu tun haben. Sich auf die Suche nach versteckten Kränkungen zu begeben, sie zu enttarnen und ihnen Raum zu geben, ist wichtiger Bestandteil von systemischer Mobbingberatung. Wenn Kränkungen nicht erkannt werden und sie keinen Raum bekommen, werden sie immer wieder den Beratungsprozess behindern oder gar verunmöglichen. Laufen Beratungen ins Leere oder werden Prozesse abgebrochen, liegt dies häufig daran, dass Kränkungen keine Beachtung geschenkt wurde. Das folgende Fallbeispiel zeigt, wie aus einer nicht wahrgenommenen und nicht thematisierten Kränkung Mobbing entstehen kann: Herr A., Abteilungsleiter in einem mittelständischen Unternehmen, geht in den Ruhestand, nachdem er über viele Jahre die Abteilung mit großem persönlichem Einsatz erfolgreich aufgebaut und geprägt hat. Sein Nachfolger, Herr N., der durch die Geschäftsleitung von extern ins Unternehmen geholt wird, setzt andere Schwerpunkte und verfolgt einen anderen Führungsstil. Eine zunächst von der Geschäftsleitung angedachte freiberufliche Beratertätigkeit des alten Abteilungsleiters, Herrn A., wird von dessen Nachfolger abgelehnt. Die Geschäftsleitung folgt dem Wunsch von Herrn N. Nach einiger Zeit treten Gerüchte im Unternehmen auf, Herr N. hätte private Probleme und würde am Arbeitsplatz Alkohol trinken. Im Weiteren beschweren sich bei der Geschäftsleitung Mitarbeiter aus der Abteilung über Herrn N. und legen angebliche Beweise für dessen Alkoholabhängigkeit vor, woraufhin die Geschäftsführung ihm die Leitung der Abteilung entzieht. Herr N. ist schockiert, sieht sich zu Unrecht beschuldigt und fühlt sich gemobbt. Im Team kommt es zunehmend zu Spannungen zwischen denjenigen, die den neuen Abteilungsleiter unterstützen, und denjenigen, die ihn loswerden wollen. Die Geschäftsleitung veranlasst daraufhin einen Konfliktklärungsprozess durch einen externen Konfliktberater. In den Klärungsgesprächen kommt heraus, dass der alte Abteilungsleiter, Herr A., noch private Kontakte zu einigen seiner ehemaligen Mitarbei ter hat, die er dazu nutzt, den neuen Abteilungsleiter, Herrn N., zu dis kreditieren und die Mitarbeiter gegen ihn aufzubringen. Im weiteren
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Versteckte Kränkungen
Klärungsprozess wird die Geschäftsführung mit einbezogen und vom Konfliktberater die Hypothese aufgestellt, dass eine Würdigung des alten Abteilungsleiters nicht oder nur unzureichend stattgefunden hat und die Ablehnung, ihn als freiberuflichen Berater weiter zu beschäf tigen, von ihm möglicherweise als Kränkung empfunden wurde. Auch wenn eine nachträgliche Würdigung des alten Abteilungsleiters auf grund der Vorfälle für die Geschäftsleitung, Herrn N. und Teilen des Teams nicht in Frage kommt, löst sich die Spannung im Team dadurch auf, dass die Beteiligten die Situation einordnen können und diejeni gen, die sich von Herrn A. haben instrumentalisieren lassen, sich bei Herrn N. entschuldigen.
Diese Fallbeschreibung beinhaltet viele Aspekte. Der zentrale Punkt ist jedoch die Kränkung, die letztendlich das Mobbinggeschehen indirekt ausgelöst hat. Das Fatale ist, dass das Drama kaum zu verhindern gewesen wäre, jedenfalls nicht dadurch, den ehemaligen Abteilungsleiter als Berater einzusetzen. Der neue Abteilungsleiter hat womöglich gut daran getan, einen klaren Schnitt vorzunehmen und eine Beratertätigkeit des alten Abteilungsleiters abzulehnen. Vermutlich wäre es aufgrund der unterschiedlichen Schwerpunkt setzung der beiden fortlaufend zu Konflikten und Spannungen gekommen. Es geht entsprechend im Prozess eher darum, zu verstehen und Geschehnisse einordnen zu können. Für den von Mobbing Betroffenen, in diesem Fall den neuen Abteilungsleiter Herrn N., kann es sehr hilfreich sein, eine solche Einordnung vornehmen zu können, die die Geschehnisse und mögliche Hintergründe erklären, und sich nicht in Gedankenkreise hinsichtlich der Unwahrheit der Vorwürfe zu verstricken. Wie schwer es für den Betroffenen sein kann, das Mobbing erleben in Zusammenhang mit einer Kränkung zu bringen, wenn zwischen dem ursprünglichen Kränkungsereignis und dem Mobbing eine erhebliche Zeitspanne liegt, verdeutlicht folgende Situation:
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Das Team einer sozialen Einrichtung arbeitet seit Jahren gut zusammen. Insbesondere das Verhältnis zwischen Team und Teamleiter ist sehr gut. Als der Teamleiter schwer erkrankt und für mehrere Monate ausfällt, übernehmen die Teammitglieder mit großem persönlichem Einsatz seine Aufgaben. Bei dessen Rückkehr sind zunächst alle erfreut über dessen Genesung und dass er wieder da ist. Nach einigen Monaten verschlechtert sich jedoch wie aus heiterem Himmel das Verhältnis zwischen Team und Teamleiter. Die Teammitglieder fangen an, die Arbeit des Leiters zu kritisieren. Sie bemängeln seine fachliche Kom petenz und sein Führungsverhalten. Einige versuchen beim Träger der Einrichtung die Absetzung des Teamleiters zu bewirken. Der Teamleiter versteht die Welt nicht mehr, sieht sich zu Unrecht kritisiert und vom Team gemobbt. Er reagiert mit Strenge, indem er seinen Mitarbeitern liebgewonnene Gewohnheiten (unter anderem individuelle Regelungen zur Arbeitszeitgestaltung) streicht. Dadurch eskaliert die Situation. Als letzte Rettung wird eine Teamsupervision vereinbart. In der Super visionssitzung überschütten sich die Beteiligten zunächst mit gegen seitigen Vorwürfen, ohne dass die Ursache für die Spannungen für den Supervisor deutlich wird. Mit Hilfe einer Timeline2 wird die Geschichte des Teams rekons truiert. Das Team und der Teamleiter erzählen ausführlich von ihrer gemeinsamen Geschichte, von Ereignissen und Herausforderungen, die sie in den Jahren gemeinsam bewältigt haben. Den Zeitabschnitt, in dem der Teamleiter krank war, wird von den Teammitgliedern als anstrengende, aber auch schöne Zeit beschrieben. Die Aufgaben des Teamleiters wurden aufgeteilt und jeder fühlte sich für seine Aufgaben, aber auch für das Ganze verantwortlich. Als dann der folgende Zeit abschnitt nach der Rückkehrs des Teamleiters zur Sprache kommt, 2 Timeline-Arbeit ist eine Technik, bei der eine oder auch mehrere Zeitlinien symbolisch mit einem oder mehreren Seilen in den Raum gelegt und dann von den Protagonisten Ereignisse aus der Vergangenheit, aber auch zukünf tige an dem Seil (den Seilen) entlanggelegt werden (von Schlippe u. Schweitzer, 2012). Die Methode dient unter anderem dazu, Symptome und Probleme im Kontext der Geschichte des Systems zu verstehen (Wirth u. Kleve, 2012).
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erzählen die Teammitglieder zunächst zögerlich und dann ganz offen, dass sie sich sehr zurückgesetzt fühlten und für ihren großen Einsatz während der Krankheitsphase eigentlich Dank erwartet hätten. Der Teamleiter ist erstaunt, aber auch erleichtert, da er nun die Spannun gen im Team einordnen kann. Das Team und der Leiter vereinbaren, gemeinsam eine neue Arbeits- und Organisationsstruktur zu erarbei ten, in der die Teammitglieder mehr Verantwortung bekommen sollen.
Auch in diesem Beispiel zeigt sich, dass zwei unterschiedliche Geschehnisse, die auf den ersten Blick nicht im Zusammenhang stehen, doch eine ursächliche Verbindung haben, diesmal zeitlich versetzt, wobei genau genommen in diesem Beispiel zwei Kränkungen passiert sind: zum einen die ungenügende Würdigung des Einsatzes des Teams durch den Teamleiter nach seiner Rückkehr, zum zweiten die Zurücksetzung der Teammitglieder durch den Teamleiter nach seinem Wiederantritt. Mitentscheidend dafür, dass die Kränkung zunächst nicht von den Beteiligten erkannt wurde, ist der zeitliche Abstand zwischen der Rückkehr des Teamleiters mit der damit verbundenen Nichtwertschätzung und Zurücksetzung und den aufkommenden Spannungen. Der Zeitabstand kann unter Umständen noch wesentlich größer sein als in dem erwähnten Beispiel. Kränkungen können sogar generationsübergreifend ihr Unheil anrichten und ihren Ausdruck im Mobbing finden, was folgendes Fallbeispiel zeigt: Frau M., eine junge Frau von Anfang dreißig, meldet sich mit dem drin genden Wunsch nach einer Beratung. Im ersten Gespräch erzählt sie aufgeregt, dass sie im Rahmen einer Teamsitzung von den männlichen Kollegen ihres Teams den Vorwurf bekam, sie fühlten sich durch sie seit Längerem gemobbt. Konkret warfen sie ihr vor, sie würde sie abwer ten, indem sie ihre Arbeitsweise lächerlich mache und gegenüber den anderen Teammitgliedern ihre Kompetenz in Frage stelle. Über diese Vorwürfe ist Frau M. sehr verärgert und wütend. Die von den Kollegen geäußerten Vorwürfe seien in ihren Augen eine Lüge und sie sei eigent
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lich diejenige, die durch solche Vorwürfe gemobbt werde. Auch hätte ihr noch nie jemand so etwas nachgesagt und ferner entsprächen solche von den Kollegen vorgeworfenen Verhaltensweisen auch nicht ihrem persönlichen Anspruch an sich selbst. Im weiteren Verlauf der Bera tungssitzung schlägt ihre Wut in Traurigkeit um und sie erkennt, dass sie sich wohl doch gegenüber den Kollegen seit längerer Zeit nicht fair verhalten hat und dass an den Vorwürfen der Kollegen etwas dran sei. Über ihr Verhalten ist sie selbst sehr erschrocken und fragt sich, wie es dazu kommen konnte. Es wird ein längerer Beratungsprozess ver einbart. In einer der folgenden Sitzungen wird ein Genogramm3 erstellt, mit dem Ziel, Zusammenhänge zwischen ihrer aktuellen Problematik und ihrer Familiengeschichte erkennen zu können. Beim Erstellen des Genogramms erzählt sie unter anderem von ihrem Aufwachsen in der DDR. Dabei berichtet sie insbesondere von ihrem Vater, der ihr bis heute sehr nahe steht, der aber seit vielen Jahren nicht mehr richtig Freude am Leben hätte. Bis zur Wende war er in der DDR in einem Maschinenbaukombinat beschäftigt. In ihrer Erinnerung war ihr Vater damals ein angesehener Mitarbeiter des Kombinats. Nach der Wende ist der Betrieb geschlossen worden. In der Folge war ihr Vater dann häufig arbeitslos bzw. nur in kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen. Er hat dabei in vielen Bereichen gearbeitet, etwa in Videotheken und bei Sicherheitsdiensten. Oftmals wurden ihm große Versprechungen gemacht, die dann aber nie eingehalten wurden. Einige Firmen, bei denen er arbeitete, sind insolvent gegangen, mit der Auswirkung, dass er teilweise seinen Lohn nicht bekam. Der Berater weist auf die enorme Kränkung hin, die ihr Vater erlebt hat, indem er von einem angesehenen 3 Ein Genogramm ist ein Werkzeug in der systemischen Beratung und Therapie, um Familiensysteme übersichtlich darzustellen. Das Grundgerüst eines Genogramms besteht aus verschiedenen Symbolen, die die Familienmitglieder repräsentieren, sowie Linien, die ihre biologischen und rechtlichen Beziehungen zueinander beschreiben. Die Symbole können unter anderem durch Kompetenzen und Lebenseinstellungen, die den Familienmitgliedern zugeschrieben werden, ergänzt werden (Wirth u. Kleve, 2012). Genogramme dienen unter anderem dazu, Verbindungen und Zusammenhänge zu aktuellen Störungen, Symptomen oder Problemen kenntlich zu machen.
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Versteckte Kränkungen
Mitarbeiter zum Bittsteller und durch die Versprechen anderer immer wieder enttäuscht wurde. Frau M. erzählt in dem Zusammenhang dann von ihrer Traurigkeit und ihrer Wut. Sie hätte ihm so sehr gewünscht, dass er mehr wertgeschätzt worden wäre. Sie sei wütend, dass er jetzt als Rentner nicht mehr die Kraft hat, noch Aktivität in sein Leben zu bringen und die Freude nachzuholen, die ihm nach der Wende nicht ver gönnt war. Der Berater stellt die Hypothese auf, dass die Abwertung der männlichen Teammitglieder durch sie etwas mit der Abwertung zu tun hat, die ihr Vater erlebt hat. In der Folge wird besprochen, wie sie mit ihrem Vater ruhiger umgehen und ihre Traurigkeit mit ihm teilen könnte. Gleichzeitig entspannt sich das Verhältnis zu ihren Kollegen im Team.
Zu erwähnen ist, dass es im Setting der Beratung häufig nicht die Gelegenheit gibt, solche generationsübergreifenden Kränkungen, wie in diesem Fallbeispiel beschrieben, auf die Spur zu kommen. Dies sprengt unter Umständen den Rahmen von Beratung und ist daher eher im therapeutischen Kontext anzusiedeln. Trotzdem kann es wichtig sein, im Beratungsprozess zu berücksichtigen, dass solche Kränkungserlebnisse eine Rolle spielen und im Zusammenhang mit dem Mobbing stehen. Die Fallbeispiele haben gezeigt, welchen Einfluss Kränkungen, aber auch Abwertungen und Grenzverletzungen haben. Wie beschrieben, verschwinden sie nicht einfach, sondern treten an einer anderen Stelle wieder auf, in dem die erlittene Kränkung reinszeniert oder von einzelnen oder einer Gruppe heimgezahlt wird. Manchmal wirken Kränkungen aber auch nach innen und richten sich gegen den, der die Kränkung erlitten hat, in Form von Depressionen oder anderen psychischen bzw. psychosomatischen Erkrankungen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, Kränkungen, Abwertungen und fehlende Wertschätzung durch eigenes Bewusstwerden zu begegnen und Gefühle zu verbalisieren. Für viele Menschen ist ein solcher Schritt aber ein sehr schwerer und zuweilen schmerzvoller Prozess und für manche gar unmöglich. Dies liegt nicht nur daran, dass es Betroffenen häufig nicht bewusst ist, dass sie gekränkt, abgewertet
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und ihre persönlichen Grenzen überschritten wurden. Vielmehr wird das Gefühl als bedrohlich erlebt und der Schmerz, der mit der Auseinandersetzung mit der Kränkung einhergeht, vermieden. Diese Abwehr kann ihren Ausdruck darin finden, dass ein Mobbingvorwurf dafür genutzt wird, das eigene Kränkungsgefühl eben nicht fühlen und spüren zu müssen. Der folgende Fall ist ein Beispiel dafür: Frau O. arbeitet seit über zwei Jahrzehnten in einer Abteilung eines gro ßen Unternehmens. Mit viel Einsatz kümmert sie sich um ihre Aufgaben. Auch liegt ihr das Wohl der Firma und insbesondere der Kollegen und Vorgesetzten am Herzen. Sie sorgt für ein gutes Miteinander, in dem sie etwa Feiern zu Geburtstagen und Betriebsjubiläen organisiert. Sie ist quasi die Mutter der Kompanie. Im Zuge einer Neuausrichtung des Unternehmens wird von der Unternehmensleitung ein Programm zum freiwilligen Ausscheiden von Mitarbeitern aufgelegt. Gezielt werden einzelne Mitarbeiter angesprochen und ihnen ein Aufhebungsvertrag, verbunden mit der Zahlung einer Abfindung, angeboten. Auch Frau O. wird angesprochen. Sie lehnt das Angebot jedoch empört ab. In der Folge reduziert Frau O. ihr Engagement, zieht sich mehr und mehr zurück und formuliert, dass sie sich von Kollegen gemobbt fühlt. Ver mittlungsversuche der Vorgesetzten scheitern. Erst mit Hilfe einer Beratung kann Frau O. benennen, wie sehr sie sich durch das Angebot, mit einer Abfindung das Unternehmen zu verlassen, gekränkt gefühlt habe. Besonders getroffen war sie dadurch, dass sie, trotz ihres jah relangen Engagements, mit zu den Ersten gehören sollte, die für das Unternehmen entbehrlich schienen.
Manchmal führen Kränkungen auch zu einem Kreislauf gegenseitiger Missachtung und Abwertung. Ein Beispiel dafür ist der Fall von Herrn S. aus dem Kapitel »Die Welt der konstruierten Wirklichkeit«. Zu betonen ist, dass Kränkungen, aber auch Abwertungen und Grenzverletzungen, überall im Alltag vorkommen. Sie treten schnell und unbedacht auf und sind auch nicht immer zu vermeiden. Es lohnt sich aber, sich dafür zu sensibilisieren, und wenn möglich,
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Versteckte Kränkungen
diese zu unterlassen. Die Vermeidung von Kränkungen ist eine wirksame Anti-Mobbing-Strategie. Wenn alle Akteure in einem Betrieb darauf achten, dass Kränkungen möglichst vermieden werden, kann Mobbing wirksam vorgebeugt werden.
Verdrängte Gefühle
Das Gefühl, gemobbt zu werden, hat in der Regel große Auswirkungen auf die psychische Gesundheit. Aber auch körperliche Symptome bis hin zu handfesten somatischen Erkrankungen können Folgeerscheinungen von Mobbing sein. Auf der Gefühlsebene erleben Betroffene das Mobbing häufig als große Verletzung. Sie empfinden Ohnmachtsgefühle und sind von dem Gedanken der Ausweglosigkeit der Situation eingenommen. In vielen Fällen führt das Erleben von Mobbing in eine schwere psychische Krise, die nicht selten in eine psychiatrische Erkrankung mündet. Die Symptomatik, die sich zeigt, kann von psychischen und körperlichen Erschöpfungserscheinungen bis hin zu einer Depression reichen. In ihren Gedanken quält die Betroffenen besonders, dass sie nicht verstehen, warum ihnen diese Anfeindungen widerfahren. Sie grübeln und kommen im Grunde nur zu dem Schluss, dass das Verhalten des anderen bösartig und gezielt gegen sie gerichtet sein muss. Bei manchen fällt das Mobbingerleben aber auch auf den Boden einer depressiven Persönlichkeitsstruktur und wird als weitere Bestätigung der eigenen Wertlosigkeit verstanden. Was im Gefühlsleben der Mobbingbetroffenen passiert, beschreibt Wardetzki (2005) treffend mit dem sogenannten Kränkungszyklus. Die Verletzung durch das erlebte Mobbing löst zunächst echte Gefühle wie Schmerz, Scham, Wut und Angst aus. Diese Gefühle werden aber von dem Betroffenen abgewehrt. Stattdessen werden sogenannte Ersatzgefühle wie Empörung, Verachtung, Ohnmacht, Enttäuschung erlebt. Die
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Verdrängte Gefühle
Folge sind: Beleidigtsein, Rachefantasien oder -handlungen, Beziehungsabbrüche und womöglich Gewalt gegen sich und andere. In der Praxis der Beratung von Mobbingbetroffenen ist dieser Wandel der Gefühle häufig mitzuerleben, wobei die meisten das Stadium des Schmerzempfindens, der Scham und der Angst in der Regel schon durchlaufen haben, wenn sie in die Beratung kommen. Vielmehr sind ihre Gedanken und Gefühle von Empörung, Verachtung, Ohnmacht und Enttäuschung geprägt. Einzig die Wut ist bei manchen noch als primäres, oder wie Wardetzki (2005) sagt »echtes Gefühl« vorhanden. Um die echten Gefühle nicht spüren zu müssen, unternehmen Betroffene einiges. Es kommt zu Gedanken und Verhaltensweisen, die in der Hauptsache dazu dienen, sich vor den unerwünschten inneren Erlebnissen zu schützen. Sich zu empören, den vermeintlichen Täter in den eigenen Gedanken, aber auch gegenüber anderen abzuwerten, sich Verbündete zu suchen, die die eigene Sichtweise bestätigen und mit in den Kampf gegen den vermeintlichen Verursacher ziehen, Kontaktabbruch und sich in der Fantasie auszumalen, wie man den anderen zerstören könne, sind solche Gedanken und Verhaltensweisen. Symptomatisch für die psychische Verarbeitung von Mobbing ist auch die Einengung der Gedanken des Betroffenen. Dies zeigt sich im Beratungsprozess unter anderem dadurch, dass Betroffene nicht selten fixiert sind auf einen einzigen Lösungsweg. Sie können nicht mehrere Möglichkeiten ins Auge fassen und die Vor- und Nachteile der jeweiligen Option abwägen. Vielmehr haben sie häufig, schon bevor sie zur Beratung kommen, eine klare Vorstellung davon, wie es für sie weitergeht. Von dieser Vorstellung lassen sie sich auch nur schwerlich abbringen. Konkret kann dies bedeuten, dass sie der Überzeugung sind, es gebe nur die Möglichkeit, an dem einen Arbeitsplatz zu bleiben und so lange zu kämpfen, bis das Mobbing aufhöre. Die Möglichkeit, sich womöglich auf einen anderen Arbeitsplatz versetzten zu lassen und sich ein anderes Arbeitsverhältnis zu suchen, wird nicht in die Überlegung einbezogen. Oder es gibt den entgegengesetzten Fall, dass der- oder diejenige der Über-
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zeugung ist, dass nur ein Arbeitsplatzwechsel oder eine Kündigung als Lösungsmöglichkeit in Frage komme, dabei aber womöglich übersieht, dass eigene Anteile mit zu der Mobbingsituation geführt haben und die Gefahr groß ist, dass auf einem neuen Arbeitsplatz sich eine ähnliche Symptomatik entwickelt. Inhalt und Ziel der Beratung kann in solchen Fällen sein, dem Betroffenen den Blick für andere Wege zu öffnen, ohne dadurch seine Entscheidungssouveränität einzuschränken.
Die systemische Beratungspraxis
Menschen, die sich gemobbt fühlen, kommen in der Regel mit einem hohen Leidensdruck in die Beratung. Nicht selten fühlen sie sich schon längere Zeit dem Mobbing ausgeliefert. Sie können von einer Vielzahl von Situationen berichten, in denen sie nach ihrer Wahrnehmung schlecht behandelt wurden und ihnen Unrecht widerfahren ist. Der Anfang jeder Beratung von Mobbingbetroffenen sollte daher davon geprägt sein, dem Betroffenen Raum zu geben, ausführlich über seine Erlebnisse zu berichten. Häufig ist das Anliegen der Betroffenen an die Beratung, Unterstützung im Kampf gegen den vermeintlichen Täter zu bekommen. Unter anderem wollen sie mit Hilfe der Beratung Strategien für den Kampf gegen den Täter entwickeln. Manche sind aber auch so verzweifelt, dass sie kaum noch genügend Energie aufbringen können, um dem Mobbing etwas entgegenzusetzen. Sie möchten dann Unterstützung durch den Berater dafür, der Situation dauerhaft entfliehen zu können. Für den Berater besteht nun die Aufgabe, zum einen Interesse und Respekt für die Sichtweise und die Ziele des Betroffenen zu zeigen und sich zum anderen aber auch nicht durch die Schilderungen, die eigene Wahrnehmung einengen zu lassen. Womöglich wird nämlich der Berater die Vorkommnisse zunächst auch als gemein und bösartig deuten und sein Mitgefühl wird durch die Schilderungen des Betroffenen angeregt. Die Aufgabe liegt aber dann darin, sich von den Erzählungen nicht gefangen nehmen zu lassen und diese als Wahrheit
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Die systemische Beratungspraxis
und einzige Sichtweise zu definieren. Der Berater sollte vielmehr frühzeitig offen für alternative Wirklichkeitskonstruktionen sein. Er sollte dem Betroffenen Hilfe und Unterstützung anbieten, aber auch deutlich machen, dass er ihn auf dem Kampfwege nicht unterstützen kann. Dies ist eine nicht ganz leichte Aufgabe. Wenn der Ratsuchende das Gefühl bekommt, in seinem Leid und in seinen Wünschen nicht gesehen zu werden, besteht die Gefahr, dass er die Beratung abbricht. Stellt sich der Berater zu sehr auf die Seite des Kampfes, erweckt er womöglich Hoffnungen, die er im weiteren Verlauf aber nicht erfüllen kann.
Das Dramadreieck
Als Berater in Mobbingkonflikten befindet man sich immer in der Gefahr, Teil des Konfliktes bzw. der Spannung zu werden. Welche Beziehungsmuster entstehen, beschreibt anschaulich das aus der Transaktionsanalyse stammende Modell des Dramadreiecks. Danach werden in Konflikten häufig drei Positionen (Rollen) einge nommen, die des Opfers, die des Täters (auch Verfolger genannt) und die des Helfers (auch Retter genannt).
Helfer
Täter Abbildung 2: Das Dramadreieck
Opfer
Die systemische Beratungspraxis55
Das Opfer nimmt die Position des Hilflosen ein, der dem Täter aus geliefert ist und sich nicht wehren kann. Der Täter verfolgt das Opfer. Der Helfer wiederum stellt sich entweder auf die Seite des Opfers und verteidigt es gegen den Täter, oder er stellt sich auf die Seite des Täters und gibt dem Opfer die Schuld. Im Dramadreieck sind die Rollen jedoch nicht fest verteilt, sondern sie können wechseln. Wenn der Täter sein Verhalten überhaupt nicht als Angriff oder Ähn liches definiert, nimmt er durch die Reaktion des Opfers und die Angriffe des Helfers womöglich selbst die Opferrolle ein. Der Täter kann auch zum Retter werden, wenn er das Opfer gegen die Bevor mundung des Helfers verteidigt. Das Opfer wiederum kann sich angegriffen fühlen, deswegen den Täter konfrontieren und damit die Täterrolle übernehmen. Ebenso kann er sich durch die unge wollte Hilfe des Helfers bevormundet fühlen und sich wieder in der Opferrolle finden oder durch seine Passivität die Verantwortung an den Helfer übertragen und zu dessen Retter werden, da der Helfer in seiner Rolle Bestätigung bekommt. Der Helfer kann sowohl zum Opfer werden, wenn die Person, der er helfen wollte, die Hilfe nicht annimmt, als auch zum Täter, indem er den Täter konfrontiert. Aus dem Dramadreieck gibt es kein Entrinnen, es sei denn, mindestens einer der Beteiligten verlässt seine Rolle. Anhand des Dramadreiecks wird deutlich, dass der Berater in Mobbingprozessen der Gefahr ausgesetzt ist, selbst Täter oder Opfer zu werden. Einziger Ausweg ist, sich als Berater erst gar nicht in die Rolle des Helfers (bzw. Retters) zu begeben. Insbesondere in Mobbingprozessen, in dem jemandem auf den ersten Blick großes Unrecht und schlechte Behandlung durch andere zuteilwird, fällt es schwer, der Verführung zu widerstehen, nicht die Rolle des Retters einzunehmen. Diese Rolle verspricht nämlich demjenigen, der sie annimmt, eine (vorübergehende) narzisstische Aufwertung. Dann aber womöglich zwischen die Fronten zu geraten und sowohl vom vermeintlichen Täter als auch vom Opfer angegriffen zu werden, ist eine schmerzhafte Erfahrung, die es zu vermeiden gilt. Hierbei greift der Täter den Retter an, weil er sich in seinem eigenen Opfersein
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Die systemische Beratungspraxis
nicht gesehen fühlt, und das Opfer wird über kurz oder lang dem Retter vorwerfen, dass er ihm ja doch nicht wirklich geholfen bzw. ihn gerettet hat. Für die Praxis der Beratung ist es in diesem Zusammenhang hilfreich, Beratung eher als einen Resonanzraum zu verstehen. Der Berater kann ein Feedback dazu geben, was er gehört hat. Er kann vom Klienten bisher nicht wahrgenommene Verbindungen insbe sondere Wechselwirkungen, aber auch Einflüsse zu Kontexten deut lich machen und andere Wirklichkeitskonstruktionen anbieten. Die Haltung des Beraters sollte dabei von Neutralität im systemischen Sinn4 gekennzeichnet sein.
Fragen erzeugen Bewegung Nachdem der Betroffene am Anfang Raum gehabt hat, seine Erlebnisse zu schildern, geht es im nächsten Schritt darum, eine Situationsanalyse vorzunehmen. Diese ist geprägt von Erkundungsfragen zu Wechselwirkungen, Kontexten und Wirklichkeitskonstruktionen. Daraus ergeben sich in der Regel entscheidende Hinweise, die für den weiteren Verlauf der Beratung genutzt werden können und bestenfalls schon Teil des Lösungsprozesses sind. Im Folgenden werden 4 Neutralität wird im systemischen Ansatz als eine Haltung verstanden, die beim Berater/Therapeut verortet ist, und unter anderem die Anerkennung verschiedener Sichtweisen und Handlungsweisen in einem System (Wirth u. Kleve, 2012) und das Nichtwissen, was für das System gut oder hilfreich sei, beinhaltet. Als Berater/Therapeut neutral zu sein, bedeutet nicht, keine eigene Meinung zu haben, sondern, die eigene Meinung nicht in einer doktrinären Form einzubringen wie »So ist es und so nicht!« (von Schlippe u. Schweitzer, 2006). Ferner bezieht sich Neutralität eher auf die Sachebene, insbesondere auf Wirklichkeitskonstruktionen und das Ergebnis der Beratung (Ergebnisneutralität), und nicht auf die Beziehungsebene, auf der Parteilichkeit im Sinne von Anteilnahme und Empathie für den Klienten eine wichtige Grundlage ist. Neutralität ist als Haltung jedoch nicht angebracht, wenn es um Missbrauch, Gewalt oder Ähnliches geht.
Fragen erzeugen Bewegung57
Fragestellungen vorgestellt und erläutert, die dem Berater helfen, das Mobbing in seiner Komplexität zu ergründen und zu verstehen. Einige der Fragen eignen sich dafür, sie direkt mit dem Betroffenen zu besprechen. Andere sollte der Berater jedoch eher als Hilfestellung für sich ansehen, ohne diese direkt im Gespräch zu formulieren, da der Betroffene diese Fragen missverstehen und als gegen sich gerichtet interpretieren könnte. Die Fragen können sowohl in der Einzelberatung als auch in anderen Settings in Zusammenhang mit Konfliktklärungsprozessen benutzt werden. Wann und unter welchen Umständen ist das als Mobbing Erlebte entstanden? Was waren die persönlichen, aber auch die betrieblichen Begleitumstände? Mobbing ist manchmal eine Folgeerscheinung eines ungelösten Konflikts oder Problems. Dabei kann zwischen dem ungelösten Konflikt und dem Mobbingereignis eine erhebliche Zeitspanne liegen, wodurch es schwerer wird, einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem damaligen Konflikt oder Problem und der aktuellen Mobbingsituation herzustellen. Welche Vorgeschichte gibt es zu dem aktuellen Konflikt bzw. der Spannung? Gab es schon einmal Konflikte oder Spannungen ähnlicher Art im Betrieb? Hat der Betroffene schon einmal Probleme dieser Art in einem früheren Arbeitsverhältnis gehabt, und wenn ja, wie war es damals und wo gibt es möglicherweise Parallelen zur aktuellen Situation? Tritt im Betrieb oder speziell in einer Abteilung immer wieder Mobbing auf und die Mobbingbetroffenen lösen sich quasi ab, sind womöglich unklare Strukturen, unausgesprochene Probleme oder Geheimnisse, die nicht öffentlich gemacht werden dürfen, Auslöser für das Mobbing. Um die eigentlichen Probleme vertuschen zu können, werden Konflikte kreiert oder es wird ein Sündenbock auserkoren, auf den die Probleme projiziert werden können. In der Praxis ist aber auch zu beobachten, dass Betroffene schnell argumentieren, dass sie ja eigentlich nur ein Sündenbock seien und
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Die systemische Beratungspraxis
dass Mobbing dadurch im Grunde nichts mit ihnen persönlich zu tun habe. Diese Sichtweise bringt zwar zunächst Entlastung, ist jedoch zu kurz gegriffen. In der Regel ist derjenige nicht ganz unbeteiligt am Zustandekommen des Mobbings bzw. kann er durchaus etwas zur Verschlimmerung oder Verbesserung der Situation beitragen. Wenn Menschen immer wieder von Mobbing betroffen sind und sich in verschiedenen Arbeitsverhältnissen eine gleiche Problematik zeigt, stellt sich die Frage, was derjenige dazu beiträgt, dass sich die jeweiligen Arbeitssituationen jedes Mal so schwierig entwickeln. Möglicherweise spielen Verhaltensweisen eine Rolle, auf die andere nur in bestimmter Weise reagieren können, was diese Person dann als Mobbing interpretiert. Solche Muster können sich so weit auswirken, dass sich jemand, in der Regel unbewusst, immer wieder Arbeitskonstellationen aussucht, in denen dann nach einiger Zeit Konflikte und Spannungen auftreten oder es sogar zu Mobbing kommt. Frau P. ist ein Beispiel dafür: Frau P. arbeitet in einem Jugendamt. Sie kommt zur Beratung, weil sie sich von Kolleginnen gemobbt fühlt. Sie wurde mehrmals verbal angegriffen. Im Gespräch erzählt sie, dass die Stimmung im Amt sehr schlecht sei, da sie personell chronisch unterbesetzt seien und gleich zeitig die Fallzahlen stetig steigen würden. Jeder sei auf sich alleine gestellt, da die Vorgesetzten häufig wechselten. Die nächste Beratungs sitzung eröffnet Frau P. damit, dass sie sich entschlossen habe, beim Jugendamt zu kündigen. Sie habe schon eine neue Stelle bei einem freien Jugendhilfeträger in Aussicht. Die Situation bei dem Träger sei zwar sehr schwierig, so habe es in letzter Zeit viel Personalwechsel gegeben und es gebe auch Ärger mit dem Kostenträger, sie sei aber sehr zuversichtlich, mit den Schwierigkeiten einen Umgang zu finden. Wichtig sei für sie, dass sie schnellstmöglich das Jugendamt verlassen könne. Der Berater benennt seine Verwunderung darüber, dass sie sich erneut in ein schwieriges Arbeitsverhältnis begeben wolle, wo sie doch eigentlich gerade eine negative Erfahrung mit einer hochbelasteten Arbeitssituation gemacht habe. Frau P. tritt die neue Stelle bei dem
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Jugendhilfeträger jedoch an. Nach kurzer Zeit kommt es zu Konflikten zwischen Frau P. und ihren neuen Kollegen. Frau P. erleidet in der Folge einen psychischen Zusammenbruch. Im Rahmen eines längeren psycho therapeutischen Prozesses kann sie den Ursachen auf den Grund gehen, weshalb sie sich immer wieder in Arbeitssituationen begibt, die ihr eigentlich nicht gut tun. Mit diesen Erkenntnissen kann sie sich auf die Suche nach einem für sie wohltuenderen Arbeitsplatz begeben.
Das Fallbeispiel beinhaltet mehrere Aspekte: zum einen die strukturellen Schwierigkeiten in dem Amt, die ihren Ausdruck etwa in den Auseinandersetzungen unter den Mitarbeitern gefunden haben, zum anderen Frau P. selbst, die eigentlich mit der Arbeitssituation überfordert war, sich jedoch, einer Art innerem Drehbuch folgend, Situationen sucht, die sie genau dorthin führen. Das Mobbing ist so gesehen Ausdruck eines Veränderungs- und Entwicklungsbedarfes in diesen zwei Bereichen.
Gibt es eine Mobbingpersönlichkeit?
In der Literatur über Mobbing wird gelegentlich der Frage nach gegangen, ob es eine Mobbingpersönlichkeit gibt. Also die Über legung, ob Menschen, die gemobbt werden, über eine Persönlich keitsstruktur verfügen, die sie dafür prädestiniert, von anderen gemobbt zu werden. Aus systemischer Sicht kann die Frage ein deutig verneint werden. Anzunehmen, die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen sei für Mobbing verantwortlich, wäre eine sehr verkürzte und linear kausale Sichtweise. Sicherlich haben aber manche Menschen Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensmus ter, die bei anderen Reaktionen hervorrufen können, die dann als Mobbing interpretiert werden. Gleichwohl ist aber immer ein Gegen über notwendig, das in seinen Verhaltensmustern so gestrickt ist, mit Mobbing auf das Verhalten des anderen zu reagieren. Die Per sönlichkeitsmerkmale oder Verhaltensmuster bei dem einen kön
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Die systemische Beratungspraxis
nen auch nicht als Rechtfertigung für das Verhalten der anderen herangezogen werden. Es kann aber sinnvoll sein, im Rahmen von Beratung herauszuarbeiten, welche Persönlichkeitsmerkmale oder Verhaltensmuster denjenigen immer wieder in Mobbingsituationen geraten lassen. In der Regel haben sich solche Persönlichkeitsmerk male und Verhaltensmuster in der Kindheit als ein Lösungsmuster herausgearbeitet. Diese Muster haben womöglich in der Kindheit das psychische Überleben gesichert, stellen sich aber im Erwachse nenalter als etwas heraus, das denjenigen immer wieder in Schwie rigkeiten bringt und Leid verursacht. Ein solcher Erkenntnisprozess ist zunächst einmal anstrengend und zuweilen auch schmerzhaft. Der positive Effekt ist jedoch bestenfalls die Erkenntnis, Situationen nicht hilflos ausgeliefert zu sein, sondern Einfluss auf sie zu haben, also Selbstwirksamkeit zu erleben.
Wie ist der persönliche Kontext? Wie ist die familiäre Situation? Ist z. B. jemand stark in familiäre Aufgaben wie die Betreuung von Kindern oder die Pflege von Angehörigen eingebunden oder geht jemand einem anspruchsvollen Hobby nach, kann dies Einfluss auf sein Verhalten am Arbeitsplatz haben. Unter Umständen fehlt die Kraft und die Motivation sich in den Arbeitsprozess einzubringen, was zu negativen Reaktionsweisen bei Kollegen und Vorgesetzten führen kann, die derjenige dann als Mobbing interpretiert. Oder der Betreffende ist durch die starke private Belastung dünnhäutiger, kann Spannungen und Konflikten schwerer begegnen und sieht im Gegenüber eine Übermacht. Als Folge interpretiert er Äußerungen und Verhaltensweisen anderer schnell als gegen sich gerichtet. Oder wenn jemand allein und zurückgezogen lebt und dadurch möglicherweise seine sozialen Kontakte vorwiegend am Arbeitsplatz zu gestalten versucht, kann dies zu Abwehrreaktionen bei Kollegen und Vorgesetzten führen, die wiederum als Mobbing gedeutet werden können. Auf den ersten Blick mögen Fragen zum persönlichen bzw. privaten Kontext nicht angemessen und zielführend erscheinen. Sie können
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aber entscheidende Hinweise ergeben, die für den Beratungsprozess genutzt werden können. Entsprechende Fragen sollten vom Berater aber vorsichtig, dosiert und angemessen respektvoll gestellt werden. Wie wichtig es sein kann, den privaten Kontext zu erfragen und in die Gesamtbetrachtung mit einzubeziehen, zeigt der Fall von Herrn M., der im Weiteren in dem Kapitel »Die Beratung von Herrn M.« ausführlich beschrieben wird. Wie ist die gesundheitliche Situation? Liegt eine Erkrankung oder Behinderung vor? Erkrankungen oder Behinderungen eines Mitarbeiters können Einfluss auf das betriebliche System haben. Dieser Einfluss kann vielfältig sein und führt in der Regel nicht zu Mobbing. Doch können sich aber Konstellationen ergeben, die Mobbing hervorrufen. So können z. B. lange Phasen der krankheitsbedingten Arbeits unfähigkeit zu einer Mehrbelastung bei Kollegen führen, was Unmut bei denjenigen auslösen und im Zusammenspiel mit weiteren Faktoren seinen Ausdruck im Mobbing gegen den erkrankten Mitarbeiter finden kann. Zu nennen sind aber auch psychische Erkrankungen. Sie führen nicht selten zu Auffälligkeiten am Arbeitsplatz, die zu Irritationen bei Kollegen und Vorgesetzten führen und Ablehnungsreaktionen hervorrufen können. Was der Betroffene dann als Mobbing interpretiert, kann ein hilfloser Versuch des Arbeitsumfeldes sein, mit den Auffälligkeiten einen Umgang zu finden. Die folgende Fallsituation ist ein Beispiel dafür: Frau Z. arbeitet seit vielen Jahren als Büroangestellte in einem Unter nehmen. Sie und die Kolleginnen ihrer Abteilung kennen sich seit Jahren und die Zusammenarbeit miteinander ist gut. Irgendwann verändert sich die Situation jedoch. Frau Z. meidet zunehmend den Kontakt zu den Kolleginnen und fällt durch seltsame Verhaltensweisen auf. So schließt sie sich immer häufiger für Stunden in ihr Büro ein und nimmt jeden Abend ihre gesamten Arbeitsmaterialen vom Arbeitsplatz mit nach Hause. Die Kolleginnen sind verunsichert und ziehen sich eben
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Die systemische Beratungspraxis
falls zurück, indem sie den Kontakt zu Frau Z. meiden und sie nicht mehr in die Arbeitsabläufe einbeziehen. Frau Z. deutet dies als Zeichen, dass man etwas gegen sie habe, und fühlt sich gemobbt. Der Arbeit geber droht aufgrund der Auffälligkeiten mit Abmahnungen, was Frau Z. in ihrer Wahrnehmung bestärkt, man wolle sie aus dem Unternehmen herausdrängen. Die Situation droht zu eskalieren. Auf Anraten und mit Unterstützung des Betriebsarztes und der betrieblichen Sozialberatung lässt sich Frau Z. krankschreiben und nimmt eine längere medizinische Behandlung auf. Diagnostiziert wird eine Angsterkrankung. Nach eini gen Monaten kehrt Frau Z. an ihren Arbeitsplatz zurück. In einem mode rierten Gespräch zwischen Frau Z. und den Kolleginnen erzählt Frau Z. offen von ihrer Erkrankung. Dadurch können Missverständnisse aus der Vergangenheit aufgeklärt und Vorkommnisse eingeordnet werden.
Wie ist die Arbeitsleistung einzuschätzen? Hinter Mobbing kann manchmal mangelnde Arbeitsleistung stehen, qualitativ und/oder auch quantitativ. Wenn Vorgesetzte keine klaren Rückmeldungen geben und Arbeitsmängel nicht ansprechen, kann dies das Miteinander in einem Team, einer Abteilung oder einer Organisationseinheit erheblich stören und seinen Ausdruck im Mobbing finden. In der Beratungspraxis ist in diesem Zusammenhang folgendes Phänomen zu beobachten: Betroffene berichten, dass ihre Arbeit immer geschätzt wurde, seitdem es aber einen neuen Vorgesetzten gebe, hätten die Probleme begonnen. Auf einmal würde ihre Arbeitsleistung kritisiert. Sie interpretieren das Verhalten des neuen Vorgesetzten dann als Mobbing. Bei genauer Betrachtung ergibt sich oftmals ein anderes Bild der Situation. Meist wurden in der Vergangenheit von dem früheren Vorgesetzten Probleme nicht deutlich angesprochen, und wenn doch, erfolgte kein nachhaltiger Prozess. Die klaren Worte des neuen Vorgesetzten werden dann als Mobbing verstanden. Aber nicht nur Leistungsmängel, sondern auch eine vermeintlich übermäßige Arbeitsleistung kann zu Schwierigkeiten führen, wofür die folgende Fallsituation ein Beispiel ist:
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Frau H. arbeitet seit vielen Jahren als Altenpflegerin. Ihre Arbeitsver hältnisse währten jedoch selten sehr lange, da es immer zu Schwierig keiten und unter anderem auch Mobbing zwischen ihr und den jewei ligen Kollegen kam. Sie selbst beschreibt sich als eine sehr fleißige und engagierte Mitarbeiterin, die sich gern um die alten Menschen kümmert. Wichtig sind ihr insbesondere der persönliche Kontakt und das Eingehen auf die Nöte der Menschen. Dabei schaut sie nicht auf ihre Arbeitsstunden, sondern bleibt, wenn nötig, auch mal länger. Bei den alten Menschen ist sie dadurch sehr beliebt. Weshalb andere ihren Beruf nicht mit so einer Leidenschaft verrichten würden wie sie, kann sie nicht verstehen. Dass sie immer wieder von Mobbing betroffen ist, sieht sie darin begründet, dass die anderen durch die Angriffe gegen sie deren eigene mangelnde Arbeitsweise verschleiern wollen.
Die Reaktion der Kollegen aus dem Fallbeispiel ist sehr wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass sie sich von Frau H. abgewertet fühlen. Zu vermuten ist, dass auch hier keine deutliche Rückmeldung durch Vorgesetzte erfolgt ist bzw. diese nicht von Frau H. aufgenommen wurde. Ein Zuviel an Arbeitsleistung, und wie im Fall von Frau H. eine mangelnde Abgrenzung, ist eben auch eine Schlechtleistung. Mobbing ist sowohl bei zu geringer oder fehlerhafter als auch bei vordergründig zu guter Arbeitsleistung immer ein Ausdruck dafür, dass Probleme nicht angesprochen wurden.
Die Faustregel
Im Zusammenhang mit der Arbeitsleistung passiert es auch, dass Menschen unberechtigt Mängel oder Fehlverhalten vorgeworfen werden und diese sich dadurch gemobbt fühlen. Die Betroffenen grübeln verzweifelt, warum ihnen das angetan wird. Sie kommen aber zu keinem Ergebnis bzw. häufig nur zu dem Schluss, dass Bös artigkeit der anderen der Antrieb sei. Als Faustregel kann gelten: Je abstruser und haltloser die Vorwürfe gegen den Betroffenen sind
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und selbst bei einem neutralen Betrachter der Eindruck entsteht, dass die Vorwürfe überzogen bzw. unberechtigt sind, desto mehr ist davon auszugehen, dass das eigentliche Problem bzw. der Kon flikt auf einer anderen Ebene liegt. Dabei sind dies häufig Themen, die dem Gegenüber nicht bewusst oder so heikel sind, dass sie nicht angesprochen werden können. Kränkungen und Abwertungen gehören dazu. Diese werden dann unbewusst auf einer anderen Ebene ausagiert. Das bereits erwähnte Fallbeispiel Herr S. (aus dem Kapitel »Die Welt der konstruierten Wirklichkeit«) ist ein Beispiel dafür. Die Abmahnungen, die Herr S. erhalten hat, und in denen ihm Arbeitsmängel vorgeworfen wurden, waren sachlich unbegründet. Sie waren vielmehr ein Versuch des neuen Meisters, auf die Abwer tungen von Herrn S. zu reagieren.
Hat einer oder haben mehrere der am Konflikt Beteiligten einen Migrationshintergrund? Welchen Einfluss könnte dieser auf das Denken und Handeln der Akteure haben? Unterschiedliche kulturelle Hintergründe können zu Missverständnissen und Spannungen am Arbeitsplatz führen. Verhaltensweisen, Gesten und Ausdrücke können andere Bedeutungen haben und im Arbeitsalltag zu Missverständnissen führen. Auch unterschiedliche Werte (z. B. Pünktlichkeit, Genauigkeit) können zu Missdeutungen einladen und zu Spannungen bis hin zu Mobbing führen. Gegebenenfalls fühlt sich jemand dadurch nicht ernst genommen und abgewertet und reagiert mit Mobbing oder wirft anderen Mobbing vor. Wie ist der betriebliche Kontext? Welche Merkmale kennzeichnen die Betriebskultur? Was fällt auf und welchen Einfluss könnte das auf das betriebliche Zusammenleben haben? Gibt es eine Konfliktkultur? Sind im Betrieb z. B. einschneidende Umstrukturierungen geplant oder ist das Unternehmen von Konkurs bedroht, kann dies erheblichen Einfluss auf das Befinden des Einzelnen und auf das betrieb liche Miteinander haben. Angst und Verunsicherung bestimmen
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dann womöglich das Denken und Handeln und finden schlimmstenfalls einen Ausdruck im Mobbing. Die Betriebskultur ist gekennzeichnet durch Regeln, Normen und Werte. Dazu gehören auch unausgesprochene oder inoffizielle Regeln, z. B. wer wie in Entscheidungsprozesse einbezogen werden muss. Hält sich jemand nicht an diese Regeln, weil er diese womöglich gar nicht kennt, kann es zu Spannungen kommen. Die Einhaltung der Regeln kann aber auch nicht angemahnt werden, da sie ja nicht offiziell sind. Die Reaktionen können dann unterschwellig erfolgen, auch als Mobbing gegen den, der sich nicht an die inoffiziellen Regeln gehalten hat. In Zusammenhang mit der Betriebskultur stellt sich auch die Frage, ob es eine Konfliktkultur im Betrieb gibt. Können Konflikte und Spannungen angesprochen oder müssen sie tabuisiert werden, weil es eben keine angemessene Kultur gibt, damit umzugehen? Wenn dem so ist, fördert dies die Negierung von Konflikten und/ oder ein unterschwelliges Ausagieren. Welche gegenseitigen Abhängigkeiten gibt es? Wer ist wie und von wem eingestellt worden? Gibt es private Kontakte, Freundschaften, intime Beziehungen? Ist etwa ein neuer Mitarbeiter gegen den Willen des Teams oder einzelner Teammitglieder eingestellt worden oder ist das Team bei der Stellenbesetzung übergangen worden, wird das Team die dabei erlittene Kränkung in seinem kollektiven Unterbewusstsein speichern und eventuell bewusst oder unbewusst ausagieren, womöglich in Form von Mobbing gegen den neuen Mitarbeiter. Mobbing kann aber auch entstehen, wenn in einem Team eine Leitungsposition neu zu besetzen ist, einzelne Teammitglieder sich Hoffnungen machen, die Stelle dann aber mit einem Externen besetzt wird und die dadurch entstandenen Kränkungen nicht thematisiert werden. Hat ein Vorgesetzter privat Kontakt zu einem Mitarbeiter, fühlt er sich ihm womöglich auch im Betrieb verpflichtet und bevorzugt ihn. Manchmal meint ein Dritter dies aber auch nur und deutet alle
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Die systemische Beratungspraxis
Vorgänge in diese Richtung oder richtet seinen Blickwinkel auf diese Annahme hin aus. Zu welchen Verstrickungen intime Beziehungen oder auch nur angenommene intime Beziehungen führen können, zeigt folgende Situation: Frau R. kommt zur Beratung mit dem Vorwurf, sie würde von ihrem Arbeitgeber gemobbt werden. Sie hat innerhalb kürzester Zeit zwei Abmahnungen erhalten, in denen ihr unter anderem vorgeworfen wird, ihre Arbeitszeit nicht zu erfüllen und sich nicht an Absprachen zu hal ten. Aktuell hat der Arbeitgeber sie freigestellt. Für Frau R. sind die Vorwürfe haltlos und widerlegbar. Als Initiator sieht sie die Personal leiterin, mit der sie schon länger im Streit liegt und von der sie den Eindruck hat, diese wolle sie aus der Firma herausdrängen. Frau R. berichtet, dass auch Kollegen den Eindruck hätten, sie würde von der Personalleiterin gemobbt. Im Beratungsgespräch werden ihre Arbeitssituation, die Arbeitszusammenhänge und ihre Geschichte im Unternehmen erfragt. Beiläufig erwähnt sie, dass ihr Teamleiter, mit dem sie eine enge und gute Zusammenarbeit pflegt, der Ehemann der Personalleiterin ist. Der Berater stellt die Hypothese auf, dass die Per sonalleiterin sich von ihr bedroht sehen könnte und die Befürchtung hat, sie könnte ihr den Ehemann ausspannen. Zunächst findet Frau R. die Hypothese abwegig, da sie selbst überhaupt keine Ambitionen bezüglich des Teamleiters hat, kann dann aber doch erkennen, dass man die gute Zusammenarbeit zwischen ihr und dem Teamleiter auch missdeuten könnte. Auch erinnert sie sich, dass der Teamleiter vor langer Zeit tatsächlich mal eine Affäre mit einer Kollegin hatte.
Von welcher Dauer sind die Betriebszugehörigkeiten der Mitarbeiter, welche berufliche Qualifikation haben die einzelnen und welche Gehälter werden gezahlt? Kommt ein Mitarbeiter neu in ein Team oder in eine Abteilung und wertschätzt in der Anfangsphase nicht die Geschichte, die Arbeitsweise und dort herrschenden Regeln und Normen, sondern bringt schnell viele neue Ideen und Änderungsvorschläge ein, wer-
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den die alteingesessenen Mitarbeiter unter Umständen mit Ausgrenzung und Mobbing gegen den neuen Kollegen reagieren. Wer wie viel Gehalt bekommt, ist häufiger Anlass für Streit und Spannungen in Betrieben. Bei Mitarbeitern berührt dies die Frage: Was bin ich und meine Arbeit wert? In der Regel wird das Thema Bezahlung in Betrieben nicht offen besprochen. In diesem Zusammenhang auftretender Ärger kann dann womöglich nicht angesprochen werden, sondern muss negiert oder ausagiert werden, mit der Gefahr des Mobbings. Welche alternativen Sichtweisen könnte es für das geben, was der Betroffene als Mobbing empfindet? Wie schon mehrfach erwähnt, hängt Mobbing stark davon ab, ob jemand das, was ihm widerfährt als Mobbing interpretiert oder nicht. Diese Interpretationen beruhen häufig jedoch auf Fehlwahrnehmungen und Missverständnissen. In einem Klärungsprozess, bei dem alle Beteiligten anwesend sind, lassen sich solche unterschiedlichen Wahrnehmungen relativ leicht austauschen und aufgetretene Missverständnisse aus der Welt schaffen. Im Rahmen von Einzelberatungen ist dies weitaus schwieriger, da der Konfliktpartner nicht unmittelbar gefragt werden kann. Hier empfiehlt es sich, auf die Methode des zirkulären Fragens5 zurückzugreifen: »Was glauben Sie, wie denkt Herr X. über die Situation, die Sie als Mobbing beschreiben?« Ziel solcher Fragen ist es, aus einer anderen Perspektive auf die Situation zu schauen und dadurch andere Wirklichkeits konstruktionen bzw. alternative Betrachtungsmöglichkeiten der Situ5 Beim zirkulären Fragen wird nach den vermuteten Einstellungen und Reaktionen anderer gefragt. Etwa welche Vermutungen jemand darüber hat, wie eine andere Person über eine Situation denkt oder es wird gefragt, was jemand glaubt, welche Einstellung eine dritte Person wohl über die Situation zwischen ihm und der anderen Person hat. Durch zirkuläres Fragen wird die Möglichkeit eröffnet, sich in eine andere Person bzw. Position hineinzuversetzen, so eine andere Perspektive kennenzulernen und die eigenen Optionen entsprechend zu erweitern.
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Die systemische Beratungspraxis
ation zu bekommen. Manchmal ist es für den Betreffenden aber zu abstrakt, aus der eigenen Position heraus sich in andere hineinzudenken. Methodisch kann dann helfen, im Beratungssetting die andere/-n Person/-en dazu zu holen, indem ein oder mehrere Stühle stellvertretend für die nicht Anwesenden aufgestellt werden. Der Klient wird dann gebeten, auf dem jeweiligen Stuhl Platz zu nehmen, sich in die betreffende Person hineinzuversetzen (sie zu spielen) und aus der Rolle heraus, die Mobbingsituation zu beschreiben. Durch den aktiven Rollentausch, verstärkt durch den Platzwechsel, gelingt es dem Klienten in der Regel, mit anderen Augen auf die Mobbingsituation zu schauen und ganz neue Einsichten zu gewinnen. Zu beachten ist jedoch, dass Klienten, die noch stark in ihrem Verletzungsgefühl gebunden sind, ein solcher Perspektiventausch nicht unbedingt abzuverlangen ist, um sie nicht zu überfordern oder schlimmstenfalls zu traumatisieren. Welchen tieferen Sinn oder Gewinn könnte die Formulierung eines Mobbingvorwurfs für das vermeintliche Opfer haben? In der Beratung ist immer wieder zu beobachten, dass ein Mobbingvorwurf von Betroffenen genutzt wird, um von anderen, tiefergreifenden Schwierigkeiten, insbesondere verdrängten Ängsten, abzulenken, wobei dies nicht unbedingt bewusst, sondern häufig unbewusst geschieht. So paradox es zunächst erscheinen mag, ein Mobbingvorwurf kann eine Entlastung für den Betroffenen sein und von noch unangenehmeren Gefühlen ablenken. Dies können Gefühle von tiefen Selbstzweifeln sein, sowohl den eigenen als auch den betrieblichen Anforderungen nicht mehr zu genügen, nicht richtig zu sein und alles falsch zu machen. Wie geht es mir als Berater im Kontakt zu dem Mobbingbetroffenen? Wie würde es mir gehen, wenn ich im betrieblichen Kontext mit demjenigen zu tun hätte? Fallen mir in der Beratungssituation Verhaltensweisen bei dem Betroffenen auf, die im Betrieb auch auftreten und als unangemessen
Fragen erzeugen Bewegung69
gelten könnten und die bei anderen möglicherweise Reaktionen hervorrufen, die derjenige als Mobbing interpretiert? Verhaltensweisen des Betroffenen in der Beratungssituation wie z. B. Unpünktlichkeit, ins Wort fallen und Rechthaberei können ein Hinweis dafür sein, dass der Betroffene mit solchen Verhaltensweisen auch im Betrieb auffällt. Diese können zu Reaktionen bei Kollegen und Vorgesetzten führen, die vom Betroffenen als Mobbing interpretiert werden.
Die Gefühle des Beraters
Gefühle und Empfindungen, die der Klient beim Berater auslöst, sind wichtige Ressourcen, die für den Beratungsprozess genutzt werden können. Solche Resonanzen helfen insbesondere bei der Hypothesenbildung. Fühlt der Berater bei den Schilderungen des Klienten zum Beispiel Wut und Ärger, der Klient jedoch nicht, kann dies ein Hinweis darauf sein, dass diese Gefühle beim Klienten zwar vorhanden sind, aber (noch) nicht genügend Raum haben. Teil eines Lösungsprozesses kann dann sein, mit dem Klienten zu erarbeiten, wie er Wut und Ärger mehr spüren und für die Lösung seines Problems nutzen kann. Neben Wut und Ärger können beim Berater auch Gefühle wie Anstrengung, Druck oder Langeweile, aber auch körperliche Symptome wie z. B. Kopf-, Nacken- oder Brust schmerzen, Atemnot und Schweißausbrüche auftreten. Auch diese Resonanzen können genutzt werden. Um diese Resonanzen verwenden zu können, braucht es beim Berater die Fähigkeit zur Wahrnehmung dieser Gefühle und Empfin dungen. Dafür ist es nötig, dass der Berater sich zunächst einmal die innere Erlaubnis erteilt, diese Empfindungen und Gefühle überhaupt registrieren zu dürfen. Gefühle von Ärger, Langeweile, Anstrengung usw. sind vielleicht beim Berater negativ besetzt und werden als Zeichen von Unprofessionalität oder eigenem Defizit gedeutet. Die
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Die systemische Beratungspraxis
Zulassung dieser Wahrnehmungen erfordert daher möglicherweise etwas Übung. Im zweiten Schritt geht es dann darum, entspre chende Wahrnehmungen einzuordnen. Manchmal haben diese gar nichts mit dem Klienten zu tun, sondern sind eigene Übertragungen. Womöglich erinnert der Klient den Berater durch Äußerlichkeiten oder Verhaltensweisen an jemand anderen oder der Klient berührt mit seinen Schilderungen eigene wunde Punkte, blinde Flecke oder nicht verarbeitete Kränkungs- oder Mobbingerlebnisse beim Bera ter. Diese Übertragungen gilt es von den Resonanzen zu trennen. Das folgende Fallbeispiel zeigt, wie Resonanzen für die Hypo thesenbildung konkret genutzt werden können und wie daraus ein Lösungsprozess entsteht: Herr O. kommt in die Beratung, da es am Arbeitsplatz immer wieder zu Spannungen zwischen ihm und den Kollegen und den Vorgesetz ten kommt. Im Beratungsprozess bemerkt der Berater, dass er sich vor und während der Beratungssitzungen mit Herrn O. immer sehr angestrengt und unter Druck fühlt, wobei Herr O. augenscheinlich von sich aus nichts dazu beiträgt. Konkret verspürt der Berater den Druck, sich auf die Sitzungen mit Herrn O. gut vorbereiten und während der Sitzungen sehr aufmerksam sein zu müssen, um den gefühlt hohen Ansprüchen des Klienten zu genügen. Der Bera ter benennt in einer Beratungssitzung diese Gefühle und bietet die Hypothese an, dass womöglich ein Zusammenhang zu seinen Schwierigkeiten am Arbeitsplatz bestehen könnte. Herr O. reagiert erleichtert, da er sich selbst sowohl in den Beratungssitzungen, am Arbeitsplatz und auch in vielen privaten Situationen unter Druck fühlt, aus der Angst heraus, er würde nicht genügen bzw. von ande ren als ungenügend wahrgenommen werden. In der folgenden Sit zung wird besprochen, wie er entspannter im Arbeitsalltag agieren und mit dem inneren Druck einen Umgang finden kann. Nach einiger Zeit gehen die Spannungen zwischen ihm und den Kollegen bzw. Vorgesetzten zurück.
Fragen erzeugen Bewegung71
Was müsste der Betroffene tun, um seine Situation im Betrieb noch zu verschlimmern und noch mehr gemobbt zu werden? Verschlimmerungsfragen implizieren, dass Probleme bewusst er zeugt werden können. Dies bedeutet gleichzeitig, dass durch eigenes Verhalten die Situation auch verbessert werden kann. Herr L. arbeitet als Erzieher in einer Kindertageseinrichtung. Er berich tet in der Beratung, dass er von der Leiterin der Kita gemobbt wird. Sie setze ihn nicht mehr für Projekte ein, stelle ihn in Teamsitzungen bloß und werte seine Arbeit ab. Auch hat er erfahren, dass sie ihn bei den Eltern der Kinder schlecht mache. Als Konsequenz des von ihm erlebten Mobbings durch die Vorgesetzte hat er den Entschluss gefasst, sich um eine Stelle in einer anderen Kita zu bewerben. Auf die Verschlimmerungsfrage hin, was er tun müsste, damit die Vorge setzte ihr Mobbing noch verstärkt, kann er nach einigem Nachdenken benennen, dass er seinerseits sie noch weniger beachten müsste, als er dies ohnehin schon tut, und dass er sich im Arbeitsalltag noch weniger an ihre Anweisungen halten müsste. Auf die Frage, weshalb er seine Vorgesetzte so wenig beachtet und sich nicht an ihre Anweisungen hält, berichtet er, dass die Kitaleiterin vor längerer Zeit eine abfällige Bemerkung über seine Ehefrau gemacht habe. Diese Bemerkung hat ihn sehr verletzt und verärgert. Angesprochen hat er seine Verletzung und seinen Ärger gegenüber der Kitaleiterin jedoch nie.
Mit Hilfe der in diesem Kapitel vorstellten Fragen sind bestenfalls die Wechselwirkungen, unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktionen und der Kontext erkundet worden. In der Regel ist daraus ein neues Bild der Situation entstanden, welches sich von dem ursprünglich von dem Betroffenen geschilderten Bild deutlich unterscheidet. Anhand der gewonnenen Informationen und Einschätzungen bildet der Berater Hypothesen. Durch die vorgestellten Fragen ist deutlich geworden, dass es in der Situationsanalyse im ersten Teil eines Beratungsprozesses nicht darum geht, einzelne Vorkommnisse und Sachverhalte im Detail zu
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Die systemische Beratungspraxis
klären. Im Setting der Einzelberatung lassen sich viele Vorkommnisse sowieso nicht ergründen, da nur die Sichtweise des Betroffenen für den Klärungsprozess zur Verfügung steht. Aber auch in Konfliktklärungsgesprächen mit den Konfliktparteien ist die Klärung von Sachverhalten nicht immer zielführend. Zwar können Missverständnisse ausgeräumt werden, wenn Vorkommnisse aus der Vergangenheit besprochen werden. Die Gefahr ist jedoch, dass sich die Konfliktparteien in ihren Wirklichkeitskonstruktionen verhaken und nicht erkennen, dass es unterschiedliche Wahrnehmungen gibt. Auch führt eine intensive Beschäftigung mit einzelnen Vorkommnissen nicht zur Problemlösung, da alle anderen Wirkfaktoren, die zu dem Problem geführt haben, außer Acht gelassen werden.
Mobbing oder nicht Mobbing, das ist (nicht) die Frage
Wird das Thema Mobbing besprochen, wird gelegentlich erläutert, dass zu unterschieden sei, ob jemand wirklich gemobbt werde oder sich einfach nur gemobbt fühle. Manche unterscheiden auch echtes Mobbing von unechtem Mobbing. In der systemischen Beratung von Mobbing spielt jedoch die Frage, ob jemand wirklich gemobbt wird oder nicht, keine Rolle. Wie bereits erwähnt, ist aus syste mischer Sicht die Wirklichkeit immer vom Betrachter abhängig und somit gibt es auch keine einzig wahre »wirkliche« Wirklichkeit. Jegliche Wirklichkeitskonstruktion ist demnach zu respektieren. Dies bedeutet, dass niemand festlegen kann, ob jemand wirklich gemobbt wird oder nicht. Aber auch wenn man dem systemischen Ansatz nicht folgen und an der Vorstellung festhalten möchte, es gebe »wirkliches« und »unwirkliches« Mobbing, sollte die Art, wie man den betroffenen Menschen begegnet, nicht anders sein. Auch die, die vermeintlich nicht wirklich gemobbt werden, fühlen sich in der Regel hilflos einer schwierigen und konflikthaften Situation ausgeliefert. Und auch die, die vermeintlich wirklich gemobbt wer den, haben ihren Eigenanteil und ihre Eigenverantwortlichkeit und
Hypothesenbildung73
bedürfen neben Mitgefühl der Hinweise auf ihre Eigenanteile und ihre eigenen Verantwortlichkeiten.
Hypothesenbildung Das Bilden von Hypothesen ist ein zentrales Element systemischen Arbeitens. Hypothesenbildungen dienen dazu, Beobachtungen und Daten, die im Verlauf der Arbeit mit dem Klienten gesammelt wurden, zu ordnen, neue Perspektiven einzunehmen und Wege für die weitere Arbeit aufzuzeigen. Was systemische Hypothesen sind, beschreiben Schwing und Fryszer (2006, S. 135) so: »Systemische Hypothesen sind persönliche Annahmen über ȤȤ die Beziehungen im Klientensystem, ȤȤ die Wechselwirkungen zwischen Symptomen und Beziehungen, ȤȤ die Zusammenhänge zwischen Klienten- und Helfersystem, ȤȤ die Zusammenhänge zwischen Symptomen und Geschichte des Systems, ȤȤ die Zusammenhänge zwischen internalisierten (verinnerlichten) Mustern aus früheren Systemen, die der Betreffende in aktuellen Systemen reproduziert.« Ergänzend dazu können systemische Hypothesen auch Annahmen sein über ȤȤ die Situation der Klienten, ihre Denkmuster, Möglichkeiten, Fähigkeiten und (geheime) Motive, ȤȤ deren persönliche, biografische und soziale Ressourcen, ȤȤ das, was eine förderliche Unterstützung sein könnte. Gespeist werden Hypothesen aus den Informationen, die der Berater in der bisherigen Arbeit mit dem Klienten gesammelt hat, den Beobachtungen des Beraters im Verlauf des Prozesses und aus dem Fundus seines Fachwissens.
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Die systemische Beratungspraxis
Systemische Hypothesen sind nicht linear-kausal, sondern zirkulär. Sie sollten weder wertend sein, noch Festschreibungen beinhalten und nicht an Defiziten, sondern an Ressourcen der Klienten anknüpfen. Sie sollten dabei von einer Haltung geprägt sein, die besagt, dass Menschen in der Regel gute Absichten hegen und die negativen Folgen ihres Handelns nicht beabsichtigt sind. Um einen Eindruck davon zu bekommen, wie systemische Hypothesen in Zusammenhang mit Mobbing lauten können, wo aber auch der Unterschied zu herkömmlichen Hypothesen liegt, finden sich im Folgenden einige Beispiele. Grundlage sind die Fallbeschreibungen aus dem Kapitel »Die Welt der konstruierten Wirklichkeit«: Die Restaurantservicekraft Frau A. (für die ausführliche Fallbeschreibung siehe Seite 29 f.) befindet sich im Streit mit ihren Kollegen und dem Betriebsleiter. Dabei geht es nach Auffassung von Frau A. darum, dass sie seit längerer Zeit Führungsaufgaben in dem Restaurant übernommen hat, aber nicht dementsprechend bezahlt wird. Eine Gehaltserhöhung wurde jedenfalls vom Betriebsleiter abgelehnt, stattdessen wurden ihr in der Folge Mängel in ihrer Arbeit vorgeworfen. Eine herkömmliche, linear-kausale Hypothese würde womöglich lauten: Frau A. wird gemobbt, da sie sich gegen die finanzielle Ausbeutung zur Wehr setzt. Im Gegensatz dazu könnte eine (systemisch) zirkuläre Hypothese lauten: Frau A. möchte sich beruflich weiterentwickeln, traut sich aber nicht, sich aktiv auf eine Leitungsstelle gegebenenfalls auch bei einem ande ren Arbeitgeber zu bewerben. Sie versucht ihren Wunsch innerbetrieb lich zu verwirklichen, ohne jedoch abzuklären, ob eine diesbezügliche Möglichkeit überhaupt bestehen würde. Durch diese unklare Vorge hensweise kommt es zu Spannungen, welche Frau A. als Mobbing wahrnimmt.
Der Schlosser Herr S. (für die ausführliche Fallbeschreibung siehe Seite 32 f.) galt über viele Jahren als ein geschätzter Mitarbeiter in der
Hypothesenbildung75
Firma. Als einer neuer Meister die Abteilung von Herrn S. übernimmt, kommt es zu Spannungen zwischen ihm und dem neuen Meister. Eine herkömmliche Hypothese würde lauten: Der neue Meister fühlt sich von Herr S. bedroht und mobbt ihn mit dem Ziel, in aus der Firma herauszudrängen. Eine systemische Hypothese könnte dagegen zum Beispiel so formuliert sein: Herr S. hat Angst, den Anforderungen, die er durch den jungen Meister verändert sieht, nicht mehr zu genügen und seine Position im Kolle genkreis zu verlieren. Er benennt seine Angst bzw. Befürchtung jedoch nicht gegenüber dem neuen Meister, sondern versucht die Situation dadurch zu lösen, indem er den neuen Meister schlecht macht und abwertet. Der neue Meister benennt seinerseits die Abwertung nicht, sondern reagiert ebenfalls mit Abwertungen Herrn S. gegenüber.
Der Bankangestellte Herr G. (für die ausführliche Fallbeschreibung siehe Seite 34 f.) versucht sich beruflich zu entwickeln, mit dem Ziel, Führungsaufgaben in der Bank zu übernehmen. Von Seiten der Vorgesetzten werden ihm aber immer weniger verantwortungsvolle Arbeitsaufgaben übertragen. Eine herkömmliche Hypothese würde hier lauten: Herr G. wird von Kollegen und Vorgesetzten gemobbt, da sie wegen seines Studiums neidisch auf ihn sind und ihm nicht gönnen, dass er eines Tages eine Führungsaufgabe übernimmt. Eine systemische Hypothese könnte hingegen so formuliert werden: Herr G. sieht in seinem Vater und seinen Geschwistern Vorbilder, von denen er glaubt, sich mit ihnen messen zu müssen. Er setzt sich damit selbst unter Druck und überfordert sich damit. Am Arbeitsplatz drückt sich diese Überforderung in Form von Überheblichkeit und mangeln dem Einfühlungsvermögen aus. Die Kollegen und Vorgesetzten können die Verhaltensweisen von Herrn G. nicht als Zeichen der Überforderung deuten und reagieren mit Kritik, Ablehnung und Ausgrenzung. Diese Reaktionen interpretiert Herr G. als Mobbing.
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Die systemische Beratungspraxis
Die beschriebenen Hypothesen sind nur Möglichkeiten, man kann auch zu ganz anderen Hypothesen kommen. Hypothesen im systemischen Sinn haben grundsätzlich keinen Anspruch auf Wahrheit oder wie Schwing und Fryszer es formulieren: »Hypothesen sollten nicht danach beurteilt werden, ob sie wahr sind oder nicht, sondern danach, ob sie nützlich sind, Veränderungen anzuregen« (Schwing u. Fryszer, 2006, S. 132). Dementsprechend gibt es auch keine richtigen oder falschen Hypothesen. Ferner sind sie Annahmen auf Zeit, und sollten vom Berater auch wieder fallengelassen werden, wenn sie sich als nicht nützlich erweisen. Schwing und Fryszer warnen darüber hinaus vor sogenannten »Tiefenhypothesen« nach dem Motto: »Was ich sehe und was die Klientin anbietet, ist nur eine Auswirkung des Problems, aber dahinter liegen die eigentlichen (kindheits- oder charakterbedingten) Probleme. Ich als Experte und Berater sehe diese Probleme schon, aber der Klient kann sie jetzt noch nicht erkennen. Da müssen wir dran. Ich muss den Klienten dort hinführen« (Schwing u. Fryszer, 2006, S. 137). Es gilt also als Berater, sich nicht zu tiefschürfenden Hypothesen hinreißen zu lassen und dem Glauben zu verfallen, man wisse als Berater, was für den Klienten richtig und gut sei. Hypothesen dienen zunächst dem Berater, können dann aber auch als Intervention in den Beratungsprozess mit eingebaut werden, wobei das bloße Benennen einer Hypothese durch den Berater schon eine Intervention ist. Eine Intervention ist es auch, aufbauend auf den Hypothesen weitere Erkundungsfragen zu stellen, und damit die Hypothesen zu überprüfen und gegebenenfalls neue zu kreieren. Hypothesenbildung ist im Grunde ein ständig wiederkehrender Prozess in jeder systemischen Beratung. Dabei werden Informationen und Beobachtungen gesammelt, daraus Hypothesen gebildet und diese als Intervention in den Beratungsverlauf eingebracht. Bildhaft kann dieser Prozess so dargestellt werden:
Ziele der Beratung77
3. Interventionen durchführen
2. Hypothesen bilden
1. Informationen sammeln
Abbildung 3: Interventionsschleife bzw. »Systemische Schleife« (nach Königswieser u. Hillebrand, 2008, S. 46)
Nicht immer eigenen sich aber Hypothesen dazu, im direkten Kontakt mit dem Klienten besprochen zu werden. Der Maßstab dafür sollte sein, ob die Hypothesen hilfreich für den Klienten bzw. das Klientensystem sein könnten, in dem sie konstruktiv gebraucht werden und Ansatzpunkte für Lösungen bieten.
Ziele der Beratung Bevor im nächsten Kapitel das Prozessmodell für systemische Beratung von Mobbingbetroffenen vorgestellt wird, soll hier vorab der Frage nachgegangen werden, welche Ziele systemische Mobbingberatung haben kann. Wardetzki (2005) schlägt als Zielsetzungen für die Beratung bei Mobbing vor, dem Betroffenen dabei zu helfen, ȤȤ sich von der Schuldfrage zu lösen, ȤȤ aus der Opferrolle herauszukommen, ȤȤ eigene Täteranteile am Konflikt zu erkennen,
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Die systemische Beratungspraxis
ȤȤ Gefühle, die im Zusammenhang mit dem Konflikt bestehen, wahrnehmen und verbalisieren zu können und ȤȤ Eigenverantwortlichkeit zu entwickeln. Diese Ziele erscheinen auf den ersten Blick sinnvoll. Jedoch ergeben sich zwei Schwierigkeitsbereiche, die bei der Verwirklichung dieser Ziele zu beachten sind. Zum einen lassen sich in der Praxis diese Zielsetzungen häufig nur ansatzweise verwirklichen. Die Verstrickungen des Betroffenen mit sich und den anderen sind in der Regel zu groß, als dass es mit Hilfe der Beratung gelingen könnte, einen inneren Abstand zu gewinnen, sich von der Schuldfrage zu lösen und aus der Opferrolle herauszukommen. Zum anderen ist systemische Beratung immer anliegen- bzw. auftragsorientiert. Dies bedeutet, dass die Ziele der Beratung nicht vom Berater festgelegt, sondern vom Klienten und dem Berater in einem gemeinsamen Prozess definiert werden. Nur die wenigsten Mobbingbetroffenen kommen in die Beratung mit dem Anliegen, aus der Opferrolle herauskommen zu wollen oder eigene Täteranteile zu suchen. In Zusammenhang mit der Auftragsklärung ist zu erwähnen: Auch wenn die Ziele und Anliegen der Klienten im Mittelpunkt der Beratung stehen sollten, bedeutet dies nicht automatisch, dass diese vom Berater immer akzeptiert werden müssen. Auftrags- und Zielklärung ist ein gemeinsamer Aushandlungsprozess zwischen Klient und Berater. Es gibt Anliegen und Ziele, die der Berater aus gutem Grund nicht annehmen und unterstützen sollte, z. B. wenn der Betroffene mit Hilfe der Beratung Strategien entwickeln möchte, wie er den Personen, von denen er sich gemobbt fühlt, aktiv schaden kann. Bei der Auftrags- und Zielklärung in Zusammenhang mit Mobbing ist ferner zu bedenken, dass Betroffene häufig anfänglich keine klaren Anliegen und Ziele benennen können. Sie kommen zunächst mit einem Gefühl der Hilflosigkeit, Empörung etc. Erst im weiteren Beratungsprozess lassen sich in der Regel klare Anliegen, Aufträge und Ziele fokussieren.
Ziele der Beratung79
Auch wenn das Anliegen und die Ziele vom Klienten vorgegeben werden bzw. im gemeinsamen Prozess mit dem Berater definiert wurden, sollte der Berater immer wieder Impulse geben. Diese können im Sinne der erwähnten Ziele von Wardetzki (2005) sein. Ein wesentlicher Impuls kann sein, den Betroffenen einzuladen, den Blick für die Bedürfnisse der anderen Konfliktpartei zu weiten. Wenn sich jemand auf den Weg macht, den Bedürfnissen des anderen nachzuforschen, bietet sich die Möglichkeit, aus dem Konfliktkreislauf zu entkommen. In der Regel ist es aber für Betroffene mit einer großen Überwindung verbunden, sich darauf einzulassen, auf die Bedürfnisse der anderen zu schauen.
Wann ist systemische Mobbingberatung erfolgreich?
Was ist eine erfolgreiche Mobbingberatung? Woran misst sich der Erfolg bei der Beratung von Mobbingbetroffenen? Ist Kündigung oder Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis immer ein Misserfolg, oder kann man womöglich von Erfolg erst dann sprechen, wenn das vermeintliche Mobbing aufhört und der Betroffene sich psychisch stabilisiert hat? Auf diese Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten, denn was als Erfolg definiert wird, kann höchst unterschiedlich sein. So kann der Wechsel aus einer Abteilung in eine andere oder die Beendigung des Arbeitsverhältnisses an sich als Misserfolg und Niederlage gewertet werden, da es dem Betroffenen nicht gelungen ist, sich gegen das Mobbing zu wehren. Es kann aber auch als ein kluger Schritt angesehen werden, für sich zu sorgen und Handlungsfähig keit (wieder-)erlangt zu haben. Aufgrund der unterschiedlichen Definitionsmöglichkeiten von Erfolg empfiehlt es sich, mit dem Klienten zu besprechen, was sei ner Meinung nach eine erfolgreiche und hilfreiche Beratung wäre. Als Fragestellung kann dabei dienen: »Wenn die Beratung für Sie hier am Ende erfolgreich gewesen sein wird, was wird sich dann
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Die systemische Beratungspraxis
verändert haben? Was müsste in der Beratung passieren, damit Sie am Ende von Ihnen als erfolgreich angesehen werden könnte?« Solche Fragen bringen erfahrungsgemäß erstaunliche Antworten hervor. Womöglich hatte der Berater eine ganz andere Idee davon, was der Klient als Erfolg definiert. Für den Berater empfiehlt es sich darüber hinaus, die eigene Vorstellung davon, was eine erfolgreiche Beratung ist, nicht zu ambitioniert anzusetzen. Manchmal ist der Erfolg in einer Mobbingberatung schon, etwas Bewegung in eine festgefahrene Situation zu bekommen. Auch kann es bereits als Erfolg gewertet werden, wenn es gelungen ist, den Möglichkeits raum des Klienten ein wenig zu erweitern.
Prozessmodell Das im Folgenden vorgestellte Prozessmodell systemischer Mobbingberatung (siehe Abbildung 4) bietet eine Struktur, an der sich im Beratungsprozess orientiert werden kann. Da jeder Beratungsfall eigene Besonderheiten hat, ist es erforderlich, eine auf die Fallsituation bezogene Abwandlung der Struktur vorzunehmen. Vom zeitlichen Rahmen her kann das Prozessmodell sowohl in einer einzigen Beratungsstunde als auch über einen längeren Beratungsprozess mit mehreren Beratungssitzungen angewandt werden.
Prozessmodell81
Situationsbeschreibung durch den Betroffenen
Kontextklärung
alternative Betrachtungsweisen generieren
Wechselwirkungen erkunden
Hypothesenbildung
den Gefühlen Raum geben
Transformation Abbildung 4: Prozessmodell systemischer Mobbingberatung
Die Situationsbeschreibung ist die Beschreibung dessen, was aus Sicht des Betroffenen passiert ist. Der Betroffene kann in dieser Phase offen erzählen, was ihm widerfahren ist, worüber er sich ärgert und was ihn verletzt hat. Für die Beratung ist es wichtig, der Situationsbeschreibung Raum und Zeit zu geben, aber als Berater auch darauf
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Die systemische Beratungspraxis
zu schauen, dass der Betroffene sich nicht in seinen Schilderungen verliert, sich insbesondere nicht in Detailbeschreibungen verzettelt. Zur Informationsgewinnung für die spätere Hypothesenbildung trägt die Situationsbeschreibung nicht wesentlich bei, da in der Regel nur wenig zum Kontext, zu Wechselwirkungen und alternativen Betrachtungsweisen bekannt wird. Vielmehr dient diese erste Phase der Beratung der Kontaktaufnahme und dem Kennenlernen von Berater und Klient und in erster Linie der psychischen Entlastung des Betroffenen. Die Situationsbeschreibung geht dann in die Analyse der Mobbingsituation über. Die Analyse beinhaltet die Kontextklärung, die Generierung alternativer Betrachtungsweisen und das Erkunden der Wechselwirkungen, die möglicherweise entstanden sind. Zur Situationsanalyse werden die bereits vorgestellten Fragestellungen verwendet. Für die Kontextklärung: Wann und unter welchen Begleitumständen ist das Mobbing passiert? Welche Vorgeschichte gibt es? Wie gestaltet sich der persönliche und betriebliche Kontext? Zur Generierung alternativer Betrachtungsweisen: Welche anderen Perspektiven könnte es zu dem geben, was der Betroffene als Mobbing beschreibt? Dem Betroffenen kann aber auch die im vorangegangenen Kapitel erwähnte Frage gestellt werden, was er glaube, was die andere Person (z. B. der Mobber) über die Situation denkt, die er als Mobbing beschreibt. Für die Inblicknahme alternativer Betrachtungsweisen hilft auch die Frage, die sich der Berater selbst stellt: Wie geht es mir im Kontakt zu dem Betroffenen? Diese Frage hilft aber auch beim Erkunden der Wechselwirkungen. Im Zusammenhang mit ihnen sollte auch der Blick darauf gerichtet sein, wo und an welcher Stelle womöglich Kränkungen entstanden sind. Die Erkenntnisse aus den Fragen zur Situationsanalyse und die Eindrücke aus der Situationsbeschreibung fließen dann in die Hypothesenbildung ein. Als nächstes werden einzelne Hypothesen als Interventionen in den Beratungsprozess eingebracht. Gefühle, die in Zusammenhang mit dem Mobbing stehen, finden dann im nächsten Verlaufspunkt (den Gefühlen Raum geben) ihren Platz. Hier geht es unter anderem darum, Themen zu besprechen,
Prozessmodell83
die bei dem Betroffenen durch das Mobbing berührt werden. Bei Herrn M., dessen Beratungsprozess im nächsten Kapitel detailliert vorgestellt wird, geht es z. B. um seine grundsätzliche Unzufriedenheit mit seinem Beruf und seiner Arbeitsstelle. Dieses Thema steht auf den ersten Blick nicht im direkten Zusammenhang mit dem Mobbing, auf den zweiten Blick aber schon, weshalb es wichtig ist, in der Beratung darauf einzugehen. Auf der Gefühlsebene geht es oft um Kränkungen, Abwertungen und insbesondere um Ängste. Das Denken und Handeln des Betroffenen ist nicht selten durch unterschwellige Existenzangst und Angst vor Gesichtsverlust gesteuert. Wenn der Berater zu diesem Eindruck gelangt, sollte er sich nicht scheuen, diesbezügliche Hypothesen zu benennen. Um die Gefühlsebene thematisieren zu können, ist es geboten, Zeit und Raum zur Verfügung zu stellen und den Klienten einzuladen, über diese Themen zusprechen. In diesem Teil der Beratung kann es auch darum gehen, zu besprechen, wie der Betroffene den Kontakt zu Kollegen und Vorgesetzten gestaltet. Dabei kann die Frage leitend sein, inwiefern es ihm gelingt, auf andere zuzugehen und z. B. Missverständnisse anzusprechen und zu klären, und inwiefern er anderen Rückmeldung geben bzw. Rückmeldungen von anderen annehmen kann. Vielen Menschen fällt eine solche Kommunikation schwer. Im Rahmen der Beratung können erste Schritte besprochen werden. In einem Rollspiel kann das Geben von Feedback auch geübt werden. Im letzten Schritt des Prozessmodells (Transformation) geht es dann darum, konkrete Schritte zu erarbeiten, die der Betroffene umsetzen kann. Diese können ganz unterschiedlich sein und folgen keinen Vorgaben. Sie ergeben sich vielmehr aus dem Prozess mit dem Klienten. Häufig sind diese Schritte davon geprägt, dass der Klient durch die Änderung des eigenen Verhaltens eine Verhaltensänderung beim Gegenüber hervorruft. Sowohl in der Phase der Situationsanalyse am Anfang eines Beratungsprozesses als auch im weiteren Verlauf kann es hilfreich
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Die systemische Beratungspraxis
sein, neben Einzelgesprächen auch Gespräche entweder unter Einbeziehung betrieblicher Vertreter wie etwa dem Betriebs- bzw. Personalrat oder der anderen Konfliktpartei durchzuführen. Wichtig ist jedoch, dass dies immer in Absprache mit dem Betroffenen passiert. Erfolgt eine Kontaktaufnahme mit dem Betrieb ohne Zustimmung des Betroffenen, könnte sich dieser hintergangen fühlen, was den Kontakt zwischen Berater und Klient erheblich beeinträch tigen würde. Idealerweise finden daher alle Kontakte im Beisein des Betroffenen statt. Obwohl oft eine Klärung durch ein gemeinsames Gespräch von den Beteiligten zunächst nicht für möglich gehalten wird, kann ein solches Treffen sehr wirkungsvoll sein. Insbesondere Missverständnisse lassen sich schnell aufklären. Auch kann es sein, dass die beteiligten Personen erstmals gemeinsam über den Konflikt sprechen. Viele Annahmen, die der eine über den anderen hat, stellen sich dann gegebenenfalls als falsch heraus. Voraussetzung für ein solch klärendes Gespräch ist jedoch, dass die Konfliktparteien dazu bereit sind. Dies ist aber nicht immer der Fall. Insbesondere, wenn sich der vermeintliche Täter auch als Opfer sieht, wird er eine Klärung verhindern, solange er nicht sicher sein kann, dass der Berater auch seine Seite sieht. Deshalb ist es wichtig, dass der Berater seinerseits auf Schuldzuweisungen verzichtet und versucht, im Erstkontakt mit der anderen Konfliktpartei dessen Vertrauen zu gewinnen. Voraussetzung dafür ist eine Grundhaltung des Beraters, die durch die bereits erwähnte Neutralität gekennzeichnet ist.
Die Beratung von Herrn M. Anhand der Beratung von Herrn M. wird nun gezeigt, wie sich das Prozessmodell in der Praxis anwenden lässt. Dazu wird der Beratungsverlauf schrittweise erläutert.
Die Beratung von Herrn M.85
Situationsbeschreibung durch den Betroffenen Der fünfunddreißigjährige Herr M. berichtet im Erstgespräch, dass er seit mehreren Jahren als Sachbearbeiter in der Vertriebsabteilung eines mittelständischen Unternehmens arbeitet. Seit einigen Monaten fühlt er sich von den Kolleginnen und Kollegen seiner Abteilung und seinem Vorgesetzten gemobbt. Konkret werden ihm immer wieder Zettel mit beleidigenden Äußerungen (z. B. »Du Schwein«) auf seinen Schreib tisch gelegt, wenn er gerade nicht am Platz ist. Auch werden Gegen stände von seinem Schreibtisch genommen und so versteckt, dass er sie nicht wiederfindet. Während er vor kurzem wegen eines grippalen Infekts einige Tage krankgeschrieben zu Hause war, durchsuchte der Vorgesetzte seinen Computer. Als Herr M. zurückkam, überreichte man ihm eine Abmahnung, in der ihm vorgeworfen wurde, er hätte Dateien mit pornografischen Bildern auf seinem Computer gespeichert. Im Beratungsgespräch beteuert er, dass das nicht wahr sei und daher aus seiner Sicht die Abmahnung völlig unberechtigt sei. Er vermutet, dass jemand aus dem Kollegenkreis oder der Vorgesetzte selbst die Dateien vorsätzlich aufgespielt habe. Der Vorfall bekräftigt ihn in der Meinung, gemobbt zu werden, mit dem Ziel, ihn aus der Abteilung herauszudrän gen. Einen Grund sieht Herr M. auch darin, dass er jemand sei, der auf seine Belastungsgrenzen achte und nicht bis zur totalen Erschöpfung arbeite, wie viele andere in der Firma. Kontextklärung Im nächsten Schritt werden vom Berater Fragen zum betrieblichen und persönlichen Kontext gestellt. Herr M. berichtet in diesem Zusammen hang, dass das Gehalt der Mitarbeiter in der Firma eine jährliche Bonus zahlung beinhaltet, die sich in der Höhe danach richtet, wie erfolgreich jede Abteilung in dem jeweiligen Jahr, gemessen an bestimmten Kenn zahlen war. Herr M. erzählt dabei, dass er auf eigenen Wunsch aus der Bonusregelung herausgenommen ist und seine Arbeitsergebnisse nicht dem Gesamtergebnis der Abteilung zugerechnet werden. Er begründet dies damit, dass er irgendwann für sich beschlossen habe, sich nicht mehr dem hohen Arbeitsstress zu unterwerfen und dafür auf die Bonus
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zahlung zu verzichten. Auf die Frage, ob die Kolleginnen und Kollegen aus seiner Abteilung von dieser Regelung wissen, antwortet er, dass ihm das nicht bekannt sei. Er berichtet weiterhin, ihm mache im Grunde die Arbeit in der Firma keinen Spaß, und er arbeite dort nur, um Geld zu verdienen, um sich und seine Familie ernähren zu können. Richtige Freude erlebe er nur in seiner Freizeit, in der er sich ehrenamtlich in einem sozialen Projekt, welches sich um behinderte Kinder kümmert, engagiere. Diese Tätigkeit fordere ihn sehr, mache ihm aber auch großen Spaß. Mit Zustimmung der Geschäftsleitung darf er offen im Unternehmen bei Mitarbeitern und Kunden Spenden für das Projekt sammeln. Alternative Betrachtungsweisen generieren Auf die konkreten Mobbingtaten bezogen lassen sich keine alternativen Betrachtungsweisen generieren. Bezogen auf seine Arbeitsleistung im Betrieb lässt sich jedoch Herr M.s abgrenzende Art im Umgang mit den Arbeitsaufgaben aus Sicht der Kolleginnen und Kollegen auch als mangelnder Arbeitswillen interpretieren, insbesondere wenn sie selbst womöglich unter einem hohen Arbeitsdruck stehen. Dem Berater fällt weiterhin auf, dass Herr M. es für selbstverständ lich hält, in der Firma für das Behindertenprojekt Spenden sammeln zu dürfen und er davon ausgeht, dass jeder Mitarbeiter auch spendet. Diese Sichtweise wird womöglich nicht von allen Mitarbeitern in der Firma geteilt. Manche fühlen sich dadurch unter Umständen belästigt und unter Druck gesetzt. Wechselwirkungen erkunden Bei der Suche nach einem Auslöser im Verhalten von Herrn M. für das Mobbingverhalten der Kolleginnen und Kollegen fällt dem Bera ter in den Gesprächen mit Herrn M. auf, dass er sich sehr gering schätzig über die anderen Teammitglieder und seinen Vorgesetzten äußert. Dies scheint zunächst vor dem Hintergrund der beleidigenden Notizzettel auf seinem Schreibtisch und dem Vorwurf, pornografische Dateien auf seinem Computer gespeichert zu haben, nachvollzieh
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bar. Es entsteht jedoch der Eindruck, dass Herr M. sich auch schon vor diesen Vorfällen negativ über die Arbeit und die Arbeitskollegen geäußert hat, und dass das Mobbing womöglich eine Reaktion darauf ist. Herr M. berichtet ferner, dass er den anderen in seiner Abteilung schon einmal vorgeworfen habe, dass sie die einzigen in der Firma seien, die nicht regelmäßig für seine Arbeit mit den behinderten Kin dern spenden würden. Hypothesenbildung Aus den gewonnenen Informationen sowie den Beobachtungen und Wahrnehmungen im Gesprächskontakt werden folgende Hypothesen abgeleitet: Hypothese 1: Es gibt Missverständnisse bezogen auf die Bonusregelung. Die Kolle ginnen und Kollegen von Herrn M. sind nicht oder nicht hinreichend darüber informiert, dass Herr M. aus der Bonusregelung herausge nommen ist. Sie sind verärgert darüber, dass Herr M. bewusst weniger Arbeitsleistung erbringt und dadurch ihren Bonus schmälert. Hypothese 2: Die Kolleginnen und Kollegen erleben Herrn M. ambivalent. Auf der einen Seite zeigt er ein aktives Engagement für das Behindertenprojekt und auf der anderen Seite fehlt ihm die nötige Energie, sich in der Abteilung aktiv einzubringen. Diese alltäglich erlebte Diskrepanz ver stärkt das ohnehin schon vorhandene Ärgergefühl. Hypothese 3: Die Kolleginnen und Kollegen fühlen sich durch Äußerungen von Herrn M. im Hinblick auf seine Abneigung gegen die Arbeit abgewer tet und gekränkt. Diese Kränkungsgefühle werden aber nicht benannt. Das Mobbing ist ein Versuch, einen Umgang mit den Kränkungsgefüh len zu finden.
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Hypothese 4: Herr M. setzt die Kolleginnen und Kollegen unter moralischen Druck, indem er sich darüber beklagt, sie würden nicht regelmäßig für das Behindertenprojekt spenden. Sie fühlen sich daher nicht frei in der Entscheidung, eine Spende zu geben. Da seine Projektarbeit mit einem ethischen Anspruch verbunden ist, traut sich niemand, offen Kritik zu üben. Die Folge sind Schuldgefühle, die über das Mobbing abgewehrt werden. Hypothese 5: Es gibt im Betrieb keine Kultur der offenen Aussprache und der Mög lichkeit, tabuisierte Themen ansprechen zu können. Abwertungen, Kränkungen und Grenzverletzungen werden mit ebenfalls verletzendem Verhalten ausagiert, womit ein Teufelskreis entsteht. Die genannten Hypothesen werden mit Herrn M. besprochen. Was die Bonusregelung angeht, sieht er tatsächlich Klärungsbedarf. Er sei zwar immer irgendwie davon ausgegangen, dass die Kolleginnen und Kollegen darüber informiert seien, dass er in die Bonusregelung nicht eingebunden ist, gesprochen wurde darüber aber nicht. Er erkennt zudem, dass er zu weit gegangen sei, den Kolleginnen und Kollegen vorzuwerfen, nicht regelmäßig genug für das Projekt zu spenden. Den Gefühlen Raum geben Herr M. erzählt von seiner Unzufriedenheit sowohl mit seiner der zeitigen beruflichen Tätigkeit als auch mit seinem erlernten Beruf als Einzelhandelskaufmann an sich. Gern würde er beruflich etwas ande res machen, etwa im sozialen Bereich. Er fragt sich auch, weshalb er diesen Beruf überhaupt erlernt hat. Er kommt zu dem Schluss, dass es wohl daran liege, dass er sich damals nicht getraut habe, seinen Interessen und Neigungen zu folgen, so wie er sich heute nicht traue, die derzeitige Arbeitsstelle aufzugeben und sich beruflich neu zu orien tieren. Der Berater gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass es vor diesem Hintergrund einerseits nachvollziehbar sei, wenn Herr M.
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sich im Arbeitsalltag nicht mit Leidenschaft und Energie einbringe, andererseits seine Kolleginnen und Kollegen aber auch nicht deshalb benachteiligt werden könnten, wenn er sich nicht traue, eine beruf liche Neuorientierung zu suchen. Sein Arbeitsumfeld könne nicht der richtige Ort sein, seine Frustrationen auszuleben. Im weiteren Verlauf geht es auch darum, wie Herr M. generell den Kontakt zu anderen Menschen gestaltet. Er beschreibt sich als kommu nikativ und auf andere zugehend. Am Arbeitsplatz würde er zwar aktuell aufgrund des Mobbings nur noch das Nötigste mit seinen Kolleginnen und Kollegen sprechen, früher hätten sie miteinander aber eine gute Kommunikationsebene gehabt. Insbesondere im privaten Bereich sei er aber jemand, der viel und gern mit anderen im Kontakt sei. Er erzählt aber auch, dass er niemand sei, der von sich aus Probleme anspreche oder wenn er sich ärgere oder wütend sei, dies zeige. Der Gedanke, seine negativen Gefühle offen zu zeigen, mache ihm Angst. Die Angst besteht konkret darin, einen Kontrollverlust zu erleiden. Er befürchtet, dass, wenn er einmal seinem Ärger und seiner Wut freien Lauf lassen würde, er sich nicht mehr begrenzen könne und sich zu Äußerungen hinreißen lassen könnte, die ihm dann im Nachhinein leid tun würden. Im Grunde würde er aber seinen Emotionen gern mehr Raum geben und diese auch zeigen wollen. Er erzählt in diesem Zusammenhang, dass ihn bei der Arbeit in dem Behindertenprojekt besonders beein drucke, wie sehr die behinderten Kinder dort ihren Emotionen freien Lauf lassen würden, ohne Angst vor Kontrollverlust und anscheinend ohne sich Gedanken um die Außenwirkungen zu machen. Die Eindrücke und Erkenntnisse aus dem Gespräch über sein Kom munikationsverhalten und seinen Umgang mit Emotionen wird für die Vorbereitung eines möglichen Gespräches zwischen ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen genutzt. Es wird besprochen, wie er seinen Ärger und seine Wut ihnen gegenüber ansprechen kann, ohne dass ihn seine Angst vor Kontrollverlust übermannt. Konkret nimmt er sich für das Gespräch vor, möglichst in der Ich-Form zu sprechen, die ande ren nicht verbal anzugreifen und Interesse dafür zu zeigen, was sie denken und fühlen.
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Die systemische Beratungspraxis
Ich-Botschaften in der Kommunikation
Nach Schulz von Thun ist es für die Verbesserung der Kommuni kation hilfreich, den Selbstoffenbarungsanteil in der Sprache zu erhöhen. So sei es ein Unterschied, ob jemand »Sie haben mich beleidigt!« oder »Ich fühle mich verletzt!« sagt. In der ersten Äuße rung sieht sich der Betroffene als Opfer einer bösen Tat und leugnet seinen eigenen Anteil an dem Gefühl. In der zweiten Äußerung stellt er einfach fest, was ist (Schulz von Thun, 1981). Vielen Menschen fällt es jedoch schwer, über ihre Gefühle zu sprechen. Sie glau ben, dadurch angreifbar und verletzbar zu sein. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Das Gegenüber zeigt in der Regel mehr Verständ nis, da es sich selbst nicht angegriffen zu fühlen braucht. Gerade Mobbingbetroffene, insbesondere wenn sie stark mit der Opferrolle verbunden sind, benutzen häufig ausschließlich Du-Botschaften. In der Beratung ist es daher empfehlenswert, zu ermutigen und gegebenenfalls auch zu trainieren, in der Ich-Form mit vielen IchBotschaften zu sprechen. Zu beachten ist jedoch, dass es auch Menschen gibt, die sich sehr schnell und häufig in Form von IchBotschaften äußern und dabei ihre Gefühle als Art Waffe benutzen, um andere zu manipulieren und um in ihnen Schuldgefühle aus zulösen. Sie missachten dabei die Gefühle von anderen. Für diese Menschen ist es wichtig zu lernen, die Wirkung des eigenen Han delns auf andere wahrzunehmen und die Bedürfnisse und Gefühle von anderen zu respektieren.
Transformation Herr M. sucht zunächst in der Firma mit Hilfe des Betriebsrates das Gespräch mit der Geschäftsführung. Er berichtet dort von den Mobbingvorfällen und deutet dabei an, selbst auch dazu beigetragen zu haben, dass es zu dem Mobbing gekommen ist. Die Geschäftsführung sichert ihm in dem Gespräch Unterstützung zu. Zu einer Rücknahme der Abmahnung ist man jedoch nicht bereit. In einem zweiten Schritt
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bringt Herr M. den Mut auf, ein Gespräch mit den Kolleginnen und Kollegen und dem Vorgesetzten aus seiner Abteilung zu führen und die Probleme anzusprechen. In dem Gespräch werden Missverständnisse geklärt und sowohl Herr M. als auch die Kolleginnen und Kollegen und der Vorgesetzte können ihren aufgestauten Ärger benennen. Am Ende wird vereinbart, die Arbeitsaufgaben gleichmäßiger unter den Kollegen zu verteilen und dabei auch persönliche Vorlieben und Interessen zu berücksichtigen. Herr M. sichert zu, in Zukunft weniger aktiv für das Behindertenprojekt in der Firma Spenden zu sammeln. Im Anschluss führt die Geschäftsleitung ein weiteres Gespräch mit den Abteilungs mitarbeitern ohne Herrn M. Sie ermutigt die Kolleginnen und Kollegen, bei Problemen zukünftig frühzeitig das Gespräch miteinander aber auch mit der Geschäftsleitung zu suchen. Sie macht aber auch deut lich, dass man beleidigendes oder verletzendes Verhalten gegenüber anderen Mitarbeitern nicht toleriert. Zu weiteren Mobbingvorfällen gegen Herrn M. kommt es in der Folge nicht mehr. Das Verhältnis zwischen Herrn M. und den Kolleginnen und Kollegen in der Abteilung normalisiert sich. Enttäuschend bleibt für Herrn M., dass sich niemand zu den beleidigenden Notizen, dem Verstecken seiner Materialien und der Computermanipulation bekannt, geschweige denn dafür bei ihm entschuldigt habe.
In der Beratung von Herrn M. wurde bewusst nicht der Fokus darauf gelegt, herauszufinden, wer die beleidigten Notizzettel geschrieben und wer ihm die Dateien auf den Computer gespielt hat. Derartige Bemühungen wären wahrscheinlich ins Leere gelaufen. Vielmehr ging es darum, Herrn M. frühzeitig dazu einzuladen, gemeinsam zu überlegen, was Auslöser für das Verhalten der anderen sein könnte, ohne dadurch deren Handeln in irgendeiner Weise zu billigen. Zu einem guten Ergebnis am Ende hat beigetragen, dass sich Herr M. aus der Opferrolle lösen konnte und Verantwortung sowohl für sich selbst als auch für einen Lösungsprozess übernommen hat. Geholfen hat aber auch, dass er in dem Klärungsgespräch mit den Kolleginnen und Kollegen diese nicht verbal angegriffen und mit Schuldvor-
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Die systemische Beratungspraxis
würfen überschüttet hat, sondern er seine Verletzungen und seinen Ärger benennen konnte, aber auch ein offenes Ohr für den Ärger der anderen hatte.
Scheitern Zur Praxis der systemischen Beratung bei Mobbing gehört auch die Überlegung, woran Beratungsprozesse scheitern können. Was muss passieren, damit Betroffene die Beratung abbrechen und/oder der Berater entnervt und frustriert aufgibt? Gibt es im Umkehrschluss typische Fehler, die vom Berater vermieden werden können, damit es nicht zu Frustrationen und Abbrüchen kommt? Als paradoxe Leitfrage kann für den Berater dienen: Was müsste ich als Berater tun, damit der Klient/die Klientin nicht wieder kommt? Der Sinn, sich paradox mit dem Scheitern zu beschäftigen, liegt darin, das Gefühl der Schwere, das naturgemäß mit einem Scheitern verbunden ist, zu minimieren und sich mit einer gewissen Leichtigkeit der Thematik zu widmen. Bestenfalls ergibt sich für den Berater durch diese Perspektive umgekehrt die Erkenntnis, welche Parameter erfüllt sein müssen, um einen Beratungsprozess gewinnbringend für den Klienten und befriedigend für den Berater werden zu lassen. Befriedigend kann für den Berater sein, wenn er sich als wirksam und hilfreich erlebt. Hier eine kleine Anleitung für den Berater zum Scheitern: ȤȤ Mache im Beratungsgespräch aus deiner persönlichen Haltung keinen Hehl. ȤȤ Relativiere das Mobbing und lege durch alternative Betrachtungsweisen dar, dass es sich gar nicht um Mobbing handelt. ȤȤ Konfrontiere den Betroffenen möglichst frühzeitig im Beratungsprozess mit seinen eigenen Anteilen am Mobbingkonflikt. ȤȤ Halte dich nicht zurück, eindeutige Tipps und Ratschläge zu ge ben. Du bist der Experte!
Scheitern93
ȤȤ Prüfe nicht das Anliegen des Klienten. Handle stets nach dem Motto »Der Kunde ist König«. ȤȤ Schaue nicht nach tieferen Bedeutungen, die das Handeln der Akteure womöglich bestimmt haben könnten. ȤȤ Tue alles dafür, dass es dem Betroffenen besser geht. Dafür wirst du bezahlt! ȤȤ Ermutige den Mobbingbetroffenen, mit gleichen Mitteln zurückzuschlagen. Mobbing kann man nur mit Mobbing beantworten. Was passiert, wenn der Berater dieser Anleitung folgt, zeigt dieses Beispiel: Herr J. arbeitet in der Verwaltung eines Verkehrsbetriebes des öffent lichen Personennahverkehrs. Seine Arbeit verrichtet er an mehreren Betriebsstätten des Unternehmens, die er jeweils an verschiedenen Tagen mit seinem privaten PKW aufsucht. Er kommt zur Beratung, da er sich von seiner Firma und insbesondere seinem Vorgesetzten seit längerem gemobbt fühlt. Eskaliert ist die Situation nun, nachdem der Vorgesetzte bei der Firmenleitung erwirkt hat, dass Herrn J. eine Parkkarte entzogen wurde, die es ihm bisher ermöglichte, auf den betriebseigenen Parkplätzen an den jeweiligen Betriebstätten zu par ken. Hintergrund ist, dass Herr J. aufgrund einer Angsterkrankung nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren kann, was ihm auch ärztlich attestiert ist. Der Vorgesetzte begründet den Entzug der Parkkarte damit, dass das Unternehmen ein Verkehrsbetrieb sei, und Herr J. daher genauso wie die meisten anderen Mitarbeiter auch die Verkehrsange bote des Unternehmens für die Arbeitswege nutzen könne. Der Berater konfrontiert Herrn J. damit, dass es ja nachvollziehbar sei, wenn ein Verkehrsbetrieb die eigenen Mitarbeiter möglichst ausnahmslos die Verkehrsangebote des Unternehmens nutzten lassen möchte und Aus nahmen vor den anderen Mitarbeitern womöglich schwer zu begründen seien, insbesondere wenn, wie in seinem Fall, Einschränkungen durch Erkrankungen bzw. Behinderungen nicht offensichtlich für Außenste hende zu erkennen seien. Herr J. verstummt daraufhin im Gespräch
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Die systemische Beratungspraxis
und lehnt einen weiteren Beratungstermin ab. Der Berater kommt zu dem Schluss, Herrn J. fehle die nötige Einsichtsfähigkeit, weshalb er den Beratungsprozess nicht weiterführen wolle.
Der Berater hat in diesem Fall zum Abbruch des Prozesses beigetragen, indem er Herrn J. zu frühzeitig mit einer alternativen Betrachtungsweise konfrontiert und ihm so unausgesprochen unterstellt hat, dass es sich bei dem, was Herr J. als Mobbing beschreibe, gar nicht um Mobbing handele. Auch hat der Berater den Symbolcharakter übersehen, den die Parkkarte für Herrn J. vermutlich hat. Neben der praktischen Funktion hat die Parkkarte womöglich eine tiefere Bedeutung. Sie symbolisiert unter Umständen eine Anerkennung und Würdigung der hohen Belastung, die Herr J. durch seine Erkrankung im Arbeitsalltag hat. Dass die Parkkarte auch diese Funktion haben könnte, wird vom Arbeitgeber gar nicht in Betracht gezogen. Der Berater hat sich im Beratungsgespräch auf die Seite des Arbeitgebers gestellt und in gleicher Weise die Würdigungs- bzw. Anerkennungsfunktion der Parkkarte ignoriert. Letztlich hat sich der Berater dann noch einmal an die »Anleitung zum Scheitern« gehalten, indem er die Ablehnung weiterer Beratungsgespräche persönlich genommen und Herrn J. für den Beratungsabbruch verantwortlich gemacht hat. Anders als in der Fallsituation von Herrn J., in der die zu frühzeitige Ansprache alternativer Betrachtungsweisen den Prozess zum Abbruch gebracht hat, kann aber auch das gegenteilige Handeln des Beraters dazu führen, dass Beratungsprozesse scheitern. Setzt der Berater keine Impulse, indem er alternative Betrachtungsweisen zu den vom Klienten geschilderten Problemen benennt oder eigene Wahrnehmungen thematisiert, laufen Beratungen ins Leere und werden früher oder später abgebrochen, da der Klient keine Fortschritte erkennt. Wenn der Berater das Gefühl hat, ein Beratungsprozess stockt oder läuft ins Leere, kann dies aber auch daran liegen, dass der Auftrag an die Beratung nicht klar definiert ist. Wie bereits an anderer Stelle beschrieben, kommt es häufig vor, dass Betroffene mit ent-
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weder unklarem oder ganz ohne Auftrag in die Beratung kommen. Im Verlauf sollte jedoch geklärt werden, was der Auftrag und das Ziel der Beratung sein soll. Auch kommt es vor, dass der Berater wie selbstverständlich davon ausgeht, dass der Auftrag klar ist, aber erst bei genauerer Nachfrage herauskommt, dass der Klient einen völlig anderen Auftrag an die Beratung hat, als der Berater angenommen hat. Daher ist es wichtig, den Auftrag und das Ziel klar zu besprechen und sich als Berater von Zeit zu Zeit immer mal wieder beim Klienten zu vergewissern, dass man noch am gleichen Auftrag arbeitet. Ein Beratungsprozess lässt sich ebenfalls ins Stocken oder zum Scheitern bringen, wenn der Berater sich für das Wohlergehen und das Erreichen der Ziele des Klienten verantwortlich fühlt und dabei die Selbstverantwortung des Klienten für sein Wohlergehen und das Erreichen seiner Ziele ignoriert. Der Klient lehnt sich zurück, der Berater arbeitet und so sind Frustrationen auf beiden Seiten vorprogrammiert. Den Wunsch des Klienten nach einer Problemlösung kann der Berater nämlich nicht erfüllen, da dies gar nicht in seinem Möglichkeitsbereich liegt. Helfen kann in diesem Zusammenhang die bekannte Berater- bzw. Therapeutenweisheit: »Don’t work harder than the client.« Damit ist gemeint, dass der Lösungsprozess in der Beratung vom Klienten ausgehen muss. Der Berater stellt lediglich den Rahmen zur Verfügung und gibt Impulse, die eigentliche Arbeit liegt beim Klienten.
Der Splitter im Auge des anderen
Herr W. wäre gern berücksichtigt worden, als eine neue Abteilungs leitung gesucht wurde. Er hat sich aber nicht getraut, sich auf die Stelle zu bewerben. Stattdessen kritisiert er anschließend die neue Abteilungsleitung, woraufhin diese sich gemobbt fühlt und in der Folge versucht, Herrn W. aus der Abteilung zu drängen, wodurch sich wiede rum dieser gemobbt fühlt.
Der Ursprung dieser Spannung liegt womöglich in dem Gefühl von Herrn W., mit seiner derzeitigen Arbeitssituation unzufrieden zu sein, mit dem daraus resultierenden Bedürfnis, sich beruflich weiterentwickeln zu wollen. Um die Befriedigung des eigenen Bedürfnisses hat Herr W. sich jedoch nicht gekümmert. Stattdessen denkt er über die Fehlerhaftigkeit der neuen Abteilungsleitung und der Firmenleitung nach. Das Denken über die Fehler anderer gehört zu den alltäglichen menschlichen Verhaltensweisen und führt nicht zwangsläufig zu Mobbing. Wie häufig kommt es vor, dass man die Führungsqualität eines Vorgesetzten anzweifelt, wenn man sich über ihn geärgert hat. Oder wer hat nicht schon einmal die soziale Kompetenz des Kollegen in Frage gestellt, nachdem dieser einem zum wiederholten Male im Teammeeting ins Wort gefallen ist. Das Denken über die Fehlerhaftigkeit des anderen dient dabei der psychischen Entlastung und dazu, die eigenen Unsicherheits- und Insuffizienzgefühle leichter ertragen zu können. Auch bewahrt dieses Denken davor, sich mit
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Der Splitter im Auge des anderen
eigenen Unzulänglichkeiten zu sehr auseinandersetzen zu müssen. Lieber beschäftigt man sich mit den Fehlern der anderen, als auf sich selbst zu schauen, nach dem Motto: Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? (Matthäus 7,3). Der Nachteil ist jedoch, dass die eigenen Bedürfnisse, die eigentlich hinter dem Denken über die Fehlerhaftigkeit anderer stehen, nicht erkannt und nicht berücksichtigt werden. Marshall B. Rosenberg, der Begründer des Konzeptes der Gewaltfreien Kommunikation, beschreibt dieses Phänomen so: »Wenn Menschen gelernt haben, in Mustern zu denken, die die Fehlerhaftigkeit von anderen ausdrücken, dann sind sie häufig blind für das, was sie selbst benötigen« (Rosenberg, 2007b, S. 18). Für ihn geht es darum, dass Menschen lernen, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen und sich für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse einzusetzen. Gefühle sind dabei der Schlüssel zum Erkennen der eigenen Bedürfnisse, oder wie Rosenberg sagt: »Die natürliche Funktion von Gefühlen ist, uns anzuregen, uns um die Erfüllung unserer Bedürfnisse zu kümmern« (Rosenberg, 2007b, S. 19). Als einfaches Beispiel nennt er das Bedürfnis nach Nahrung, angezeigt durch das Gefühl von Hunger. Das Gefühl des Hungers regt an, sich um das Bedürfnis nach Nahrung zu kümmern. Nun können die allermeisten Menschen das Gefühl des Hungers gut wahrnehmen und lassen sich, wenn überhaupt, nur vorübergehend davon ablenken, das Bedürfnis daraus zu erkennen und sich um die Bedürfniserfüllung zu kümmern. Anders sieht es mit Gefühlen aus, die im Kontakt zu anderen Menschen zu Tage treten. Hier lassen sich viele schnell von ihren Gefühlen ablenken. Angst, Ärger, Scham und Eifersucht werden zwar in der Regel kurzeitig gespürt, dann aber in die innere Verbannung geschickt. Stattdessen wird über die Fehlerhaftigkeit anderer nachgedacht. Das ursprüngliche Bedürfnis kann so nicht mehr gesehen werden und entsprechend kann für die Bedürfnisbefriedigung nicht gesorgt werden. Nicht selten ist bei Mobbing bei einem oder mehreren am Prozess beteiligten Personen genau dies passiert. Mobbing kann aber, wie im Beispiel
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von Herrn W., auch entstehen, wenn das Gefühl durchaus bewusst (»Ich bin mit meiner beruflichen Situation unzufrieden«) und das Bedürfnis erkannt ist (»Ich will mich beruflich verändern«), aber für die Bedürfniserfüllung jedoch nicht gesorgt wird (»Ich bewerbe mich aktiv auf die Abteilungsleiterstelle«). Wenn sich in der Beratung von Mobbingbetroffenen Hinweise ergeben, dass nicht erkannte oder nicht befriedigte Bedürfnisse in dem Mobbingprozess eine Rolle spielen, sollte diesen Hinweisen nachgegangen und herausgearbeitet werden, um welche Bedürfnisse es sich konkret handelt. Dabei kann es um die beim Betroffenen liegenden nicht erkannten und/oder erfüllten Bedürfnisse gehen, es kann aber auch um die Bedürfnisse des- oder derjenigen gehen, von dem oder der/denen sich der Betroffene gemobbt fühlt. Sich in der Beratung mit dem Betroffenen zu überlegen, welche Bedürfnisse bei dem vermeintlichen Mobbingtäter eine Rolle spielen könnten, dient zum einen dazu, das Verhalten des oder der anderen Person besser einordnen zu können. Der Betroffene kann durch die Möglichkeit, eine Erklärung zu haben und Verhaltensweisen einordnen zu können, Entlastung erfahren. Zum anderen kann die Überlegung, welche Bedürfnisse beim Gegenüber nicht erkannt bzw. nicht erfüllt werden, auch dazu dienen, dass der Betroffene die Möglichkeit für sich in Betracht zieht, zu versuchen den Bedürfnissen des Gegenübers entgegenzukommen und dadurch zur Entspannung oder gar zum Auflösen der Mobbingsituation beizutragen. Ein Beispiel dafür ist die Beratung von Herrn E.: Herr E. arbeitet in einem Handwerksbetrieb. Von seinem Chef, dem Inhaber des Betriebes, fühlt er sich gemobbt. Der Chef schnüffele hin ter ihm her, kontrolliere ihn ständig und horche die Kunden über ihn aus. Außerdem halte der Chef ihm kleinste Fehler vor und in Gegen wart von Kunden und Kollegen stelle er ihn bloß. Herr E. kommt zur Beratung, da die Situation ihn zunehmend belastet. Er berichtet, dass er versuche, sich zu wehren, indem er unter anderem den Chef nicht mehr in seine Arbeit einbeziehe und sich Verbündete im Kampf gegen
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Der Splitter im Auge des anderen
ihn suche. Dadurch würde die Situation aber eskalieren und es komme immer häufiger zum offenen Streit. Im Laufe eines längeren Bera tungsprozesses kommt es zu der Frage, was Herr E. glaubt, welches Bedürfnis hinter dem Verhalten des Chefs stehe. Zunächst weiß Herr E. darauf keine Antwort. Erst nach einiger Zeit des Nachdenkens kommt ihm der Gedanke, dass der Chef das Bedürfnis haben könnte, in die Arbeitsprozesse einbezogen zu werden, um einen Überblick zu haben. Womöglich habe der Chef in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit einem Mitarbeiter gemacht, von dem er hintergangen worden sei. Herr E. versucht in der Folge, seine Arbeit transparent zu gestalten und den Chef einzubeziehen. Ohne jemals den Chef nach seinen wirk lichen Bedürfnissen gefragt zu haben, entspannt sich das Verhältnis zwischen beiden.
Sich auf die Bedürfnisse des Gegenübers einzustellen, ist insofern hilfreich, als es so gelingen kann, Selbstwirksamkeit zu erleben und die Erfahrung zu machen, einer Situation nicht hilflos ausgeliefert zu sein, sondern sie durch eigenes Handeln verändern zu können. In der Praxis der Beratung gelingt es tatsächlich jedoch nur selten, Betroffene dafür zu motivieren, sich um die Bedürfniserfüllung ihres vermeintlichen Kontrahenten zu kümmern. In der Regel ist das Verletzungsgefühl so groß, dass allein der Gedanke, die Bedürfnis erfüllung des anderen in den Blick zu nehmen, schon zu Abwehr reaktionen führt. Die Erfahrung zeigt, dass es aber manchmal schon ausreicht, dass der Betroffene sich um die Bedürfnisse des vermeintlich Mobbenden Gedanken macht, um die Situation zu verändern. Für den Beratungsprozess empfiehlt es sich, die Thematik der eigenen und fremden Bedürfnisse nicht zu frühzeitig anzusprechen, sondern erst, wenn der Betroffene etwas Abstand zu dem Geschehen gewonnen hat und nicht mehr zu sehr in seinem Gefühl des Verletztseins verhaftet ist. Sowohl den eigenen als auch den Bedürfnissen anderer Beachtung zu schenken, ist darüber hinaus auch eine wichtige Anti-Mobbing-Strategie. Im letzten Teil wird davon noch ausführlicher die Rede sein.
Der Feind im Außen
Neben dem, über die Fehlerhaftigkeit anderer Menschen nachzudenken und dabei für die eigenen Bedürfnisse blind zu sein, ist bei Mobbing noch ein weiteres Bewältigungsmuster relevant. Mitunter konstruieren Menschen Feinbilder, indem sie jemand des Mobbings bezichtigen oder andere abwerten, wenn sie ihnen z. B. schlechte Eigenschaften, Unvermögen oder einfach Böswilligkeit unterstellen, was diese dann andersherum als Mobbing interpretieren. Diese Projektionen dienen dazu, die eigenen unerwünschten Gefühle abzuwehren. In der Regel sind dies Gefühle von Angst, Scham oder Minderwertigkeit. Die Menschen erfahren durch die Abwehr Entlastung, zahlen jedoch auf der Interaktionsebene mit anderen Menschen einen hohen Preis, wenn Spannungen und Streit das Miteinander dominieren. Die Situation von Herrn V. ist ein Beispiel dafür: Herr V. ist Computerspezialist, seit längerer Zeit jedoch arbeitslos. Nun bietet ihm die Agentur für Arbeit die Gelegenheit, über einen sogenannten Ein-Euro-Job in einer Schule zu arbeiten. Dort soll er die Lehrer im Computerbereich unterstützen, indem er sich um die Hard ware und Software kümmert und auch Computerkurse für Schüler anbietet. Herr V. freut sich über den Job, da er ursprünglich gern Lehrer geworden wäre, er aber aus verschiedenen Gründen seinen Berufs wunsch nicht verwirklichen konnte. Die erste Zeit seiner Tätigkeit in der Schule gestaltet sich sehr positiv. Die Lehrer sind froh, eine Entlastung zu haben und sich um ihre eigentlichen Lehraufgaben kümmern zu
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Der Feind im Außen
können, und Herr V. freut sich, dass er gebraucht und gefordert wird. Nach einiger Zeit kommt es jedoch zu Spannungen zwischen Herrn V. und dem Lehrerkollegium. Er wirft den Lehrern vor, ihn zu mobben, wenn sie ihn nicht einbeziehen und seine Arbeit als weniger wichtig abwerten. Die Lehrer wiederum fühlen sich durch die Anschuldigungen von Herrn V. in ihrem Bemühen, ihn in den Schulbetrieb zu integrieren, nicht gesehen. Die Streitigkeiten drohen zu eskalieren. Die Schulleitung versucht zu vermitteln, jedoch ohne Erfolg. Am Ende verliert er Herr V. die Beschäftigung.
Was ist passiert? Zu vermuten ist, dass Herr V. Minderwertigkeitsgefühle entwickelt hat. Es wurde ihm womöglich bewusst, dass die Lehrer ein weitaus höheres Gehalt bekommen als er, sie sozial besser angesehen sind und meistens eine feste, sogar lebenslange Anstellung haben, während er seit vielen Jahren immer wieder berufliche Abbrüche und finanzielle Einschränkungen hinnehmen musste. Auch führte ihm der alltägliche Kontakt mit den Lehrern immer wieder vor Augen, dass er selbst es nicht geschafft hat, seinen Berufswunsch zu verwirklichen. Letztendlich sieht er sich vor den Trümmern seiner eigenen beruflichen Existenz und findet keinen Ausweg aus der Misere. Um das Scheitern ertragen zu können, braucht Herr V. einen äußeren Feind. Diese Bewältigungsstrategie hat die Funktion, seine psychische Stabilität aufrechtzuerhalten. Das Suchen eines Feindes im Außen wirkt sich nicht nur auf die Interaktion zwischen einzelnen aus, sondern kann auch das Denken und Handeln von ganzen Gruppen bestimmen. Wenn sich z. B. Teams oder Abteilungen in einem Betrieb gegenseitig bekämpfen, die Mitarbeiter verschiedener Hierarchieebenen sich ständig gegenseitig abwerten müssen oder die Geschäftsleitung und der Betriebsrat im Dauerstreit liegen, kann dies inhaltliche Gründe haben. Es können Meinungsverschiedenheiten vorliegen oder unterschiedliche Interessen verfolgt werden. Es können aber auch innerpsychische Gründe der Akteure, die sich über die Gruppe äußern, zu diesen Spannungen führen. Die Gruppenmitglieder arbeiten ihre eigenen
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Ängste, Minderwertigkeitsgefühle oder Schamgefühle ab, indem sie als Gruppe einen Feind im Außen suchen. Ein solches Phänomen beschreibt folgendes Fallbeispiel: In einem mittelständischen Unternehmen zur Entwicklung und Herstel lung hochwertiger Medizinprodukte gibt es seit längerem Spannungen zwischen den Mitarbeitern im Lager und anderer Abteilungen der Firma. Es geht unter anderem darum, dass die anderen Abteilungen sich aus Sicht der Lagermitarbeiter nicht an Vereinbarungen halten und immer wieder verbindliche Regeln unterlaufen. So würden sich die anderen Abteilungen z. B. nicht an miteinander abgesprochene Zeiten halten, um Waren in oder aus dem Lager zu holen. Zur Verbesserung der Abspra chen fanden schon mehrere Gespräche zwischen dem Lagerleiter und den Abteilungsleitern statt. Aus Sicht der Lagermitarbeiter haben diese Gespräche aber keine nachhaltigen Veränderungen bewirkt. Das Team der Lagermitarbeiter zieht sich seitdem immer mehr zurück und isoliert sich vom Rest der Firma. Äußerungen und Handlungen aus anderen Abteilungen werden von ihnen nur noch gegen sich gerichtet wahrge nommen. Die Geschäftsführung ist ratlos, aber auch verärgert, da man eigentlich schon vor längerer Zeit überlegt hatte, das Lager an einen externen Dienstleister auszugliedern, der Plan jedoch zurückgezogen wurde, nachdem es abteilungsübergreifend erhebliche Proteste aus der Belegschaft gegeben hatte. Um die Stimmung im Betrieb nicht nachhaltig zu verschlechtern, hatte man sich dann gegen eine Aus gliederung entschieden. Jetzt, wo die Stimmung insbesondere bei den Lagermitarbeitern so schlecht geworden ist, fragt die Geschäftsführung sich jedoch, ob die damalige Entscheidung die richtige war.
Was ist in diesem Fall passiert? Eine Hypothese ist, dass die Abstimmungsschwierigkeiten zwischen den Mitarbeitern des Lagers mit denen der anderen Abteilungen etwas mit den Ausgliederungsplänen zu tun haben. Die Mitarbeiter des Lagers spüren womöglich, dass die Ausgliederungspläne nicht ganz vom Tisch sind und sie über kurz oder lang doch durchgesetzt werden könnten. Vielleicht haben sie
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Angst um ihren Arbeitsplatz oder vor einer beruflichen Veränderung, die sich in Zusammenhang mit einer Ausgliederung einstellen würde. Womöglich kennen sie andere Betriebe, in denen solche Ausgliederungen schon umgesetzt worden sind. Eine weitere Hypothese ist, dass die Mitarbeiter im Lager sich grundsätzlich schon durch ihre Tätigkeit und ihre Ausbildung gegenüber den höherqualifizierten Mitarbeitern im Betrieb minderwertig fühlen. Die anderen Abteilungen als Feindbilder zu haben, bewahrt sie vordergründig davor, die Angst vor einem Arbeitsplatzverlust und die Gefühle von Minderwertigkeit spüren zu müssen. Wenn in der Beratung von Mobbingbetroffenen der Berater den Eindruck bekommt, der Betroffene hat für sich einen äußeren Feind geschaffen, sollte der Berater versuchen, der Funktion dieser Bewältigungsstrategie auf die Spur zu kommen. Helfen kann dabei die Überlegung, welchen Nutzen der Betroffene aus diesem Denken zieht. Das Ergebnis dieser Überlegungen kann der Berater dem Betroffenen in Form einer Hypothese mitteilen. Wenn dieser sich der Hypothese anschließen kann, kann der Berater den Raum dafür anbieten, darüber intensiver ins Gespräch zu kommen. Wichtig ist, Menschen nicht dafür zu verurteilen, dass sie sich einen Feind im Außen suchen. Womöglich sichert dieses Verhalten erst einmal das psychische Überleben, da (noch) kein alternatives Bewältigungs verfahren zur Verfügung steht. Diese Alternative zu entwickeln, kann dann Inhalt von Beratung sein. Im Fall von Herrn V. könnte dies z. B. bedeuten, mit ihm eine berufliche Perspektive zu entwickeln. Dabei könnten unter anderem die Faktoren, die seine beruflichen Tätigkeiten immer wieder zum Scheitern gebracht haben, herausgearbeitet und eine realistische und tragfähige Perspektive erarbeitet werden. Auf die Situation im Fallbeispiel des Medizinprodukte unternehmens bezogen würde dies bedeuten, den Lagermitarbeitern zunächst einmal Raum für ihre Befürchtungen zu geben und zu klären, ob nun wirklich eine Auslagerung geplant wird. Auch könnte überlegt werden, wie sie sich ohne wiederholte Bestätigung von außen als wertvoll erleben können. Für die anderen Abteilungen
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könnte es hingegen wichtig sein, sich der Minderwertigkeitsgefühle der Lagermitarbeiter bewusst zu werden. Beide Seiten würden dann voraussichtlich sensibler reagieren, wenn es wieder einmal Abstimmungsschwierigkeiten gibt. Deutlich wird in diesem Zusammenhang noch einmal, dass es bei der Beratung ganz bewusst nicht darum geht, die konkrete Mobbing situation zu analysieren und mit dem oder den Betroffenen zu überlegen, wie er bzw. sie sich gegen das Mobbing wehren oder sogar aktiv eine Art Gegenmobbing starten könnte(n). Vielmehr wird der Blick erweitert und auf die Umstände und Bedingungen gerichtet, die auf den ersten Blick scheinbar zunächst nichts mit dem Mobbing zu tun haben.
Die Suche nach Gerechtigkeit
Ein zentraler Punkt im Erleben von Mobbingbetroffenen ist der Gedanke, dass das, was ihnen widerfährt oder widerfahren ist, ungerecht sei und Gerechtigkeit wiederhergestellt werden müsse. Der Wunsch nach Gerechtigkeit besteht konkret darin, dass der andere entweder für sein Handeln bestraft wird, eine Wiedergutmachung erfolgt oder der andere sich zumindest entschuldigt. Hinter dem Wunsch nach Gerechtigkeit steht das Bestreben, die eigene Würde wiederherstellen zu wollen. Da der Schutz der eigenen Würde ein elementares Bedürfnis von Menschen ist, sind Bestrebungen, diese wiederherzustellen, wenn sie als beschädigt erlebt wird, überlebenswichtig. So nachvollziehbar der Wunsch nach Gerechtigkeit ist, so problematisch ist er aber auch. Übersehen wird von den Betroffenen mitunter, dass in konkreten Situationen das, was als gerecht bzw. ungerecht angesehen wird, zutiefst unterschiedlich sein kann. Gerechtigkeit ist wie die Wirklichkeit im systemischen Sinn kein objektiver Zustand, sondern eine subjektive Beschreibung. Was jemand als ungerecht ansieht, muss jemand anderes noch lange nicht so sehen. Gerechtigkeit ist somit immer nur die Gerechtigkeit im Auge des Betrachters. Die meisten Menschen neigen im Rahmen dieser subjektiven Betrachtung eher dazu, ihre Wahrnehmung auf die vermeintliche Ungerechtigkeit, die ihnen widerfährt, zu fokussieren und den Blick auf eigenes ungerechtes Handeln zu vermeiden. Schwierig wird es, wenn der Betroffene sich ungerecht behandelt
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Die Suche nach Gerechtigkeit
fühlt und eine Entschuldigung oder Ähnliches braucht, der Counterpart jedoch die Ungerechtigkeit nicht nachvollziehen kann oder sich gar selbst ungerecht behandelt fühlt und daher zu einer Entschuldigung oder Wiedergutmachung nicht bereit ist. Problematisch ist auch, wenn Mobbingbetroffene das Thema Gerechtigkeit in den Mittelpunkt ihres Denkens und Handelns stellen. Manche sind getrieben von der Vorstellung, dass die erlittene Ungerechtigkeit bestätigt und die Gerechtigkeit oder zumindest das, was sie dafür halten, wiederhergestellt werden müsse. Nicht selten setzen sie alle Energie daran, ihre Vorstellung von Gerechtigkeit durchzusetzen. Sie klagen vor Gericht, wenn es sein muss, bis in die letzte Instanz, angetrieben von der Hoffnung, dass sie irgendwann Gerechtigkeit erfahren werden. Dabei geht es womöglich gar nicht mehr darum, dann wirklich an dem Arbeitsplatz zu bleiben oder nach längerer Arbeitsunfähigkeit auf die Stelle zurückzukehren. Häufig ist so viel Porzellan zerschlagen, dass ein Verbleib in der Arbeitssituation gar nicht mehr möglich ist. Vielmehr geht es um den Wunsch, Gerechtigkeit zu erfahren bzw. Ungerechtigkeit bestätigt zu bekommen. Dieser Wunsch erfüllt sich jedoch in diesem Stadium in der Regel nicht mehr. Was bedeutet das Thema Gerechtigkeit nun für die Beratung? Zum einen kann es darum gehen, die Menschen dabei zu unterstützen, Gerechtigkeit zu erfahren. Unter Umständen benötigt der Betroffene eine Entschuldigung, eine Richtigstellung oder eine Wiedergutmachung durch andere. Im Rahmen der Beratung kann besprochen werden, wie es gelingen kann, dass der Betroffene diese erhalten kann. Dazu ist es womöglich erst einmal erforderlich, dass der Betroffene auf den oder die anderen zugeht und mitteilt, dass er sich gekränkt, verletzt oder abgewertet fühlt. Dafür ist Mut und etwas Übung erforderlich, da ein solches Vorgehen den meisten eher schwerfällt. Um aber eine Entschuldigung zu erhalten, bedarf es eines Signals an den oder die anderen, selbst bereit zu sein, sich für die eigenen Verfehlungen zu entschuldigen. Erfolgt dieses Signal nicht, wird der
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andere bzw. werden die anderen in der Regel nicht bereit sein, eine Entschuldigung oder Ähnliches auszusprechen. Zu beachten ist, dass es manchmal auch Betroffene gibt, die sich so in ihrem einseitigen Gerechtigkeitsempfinden verhakt haben, dass sie gar nicht mehr mit Entschuldigungen und Wiedergutmachungen zu erreichen sind. Manche haben auch eine so hohe Erwartung an die Art und den Inhalt der Entschuldigung, dass ihr Bestreben zum Scheitern verurteilt ist, da sich die Gegenseite auf solche Forderungen nicht einlassen kann. Manchmal kann es sich im Beratungskontext anbieten, den Betroffenen darin zu unterstützen, Ungerechtigkeit zu akzeptieren. Wenn zum Beispiel der Kollege befördert wurde, obwohl man sich selbst für fähiger hält, macht es wenig Sinn, eine Entschuldigung oder eine Wiedergutmachung einzufordern, sondern es ist womöglich sinnvoller, die Tatsache zu akzeptieren und stattdessen zu schauen, wie das Bedürfnis, das hinter dem Wunsch nach Beförderung steht, auf einem anderen Weg verwirklicht werden kann. Ein anderes Beispiel: Man wünscht sich von seinem Chef eine Entschuldigung, weil man sich von ihm in einer Situation ungerecht behandelt gefühlt hat, weiß aber genau, der Chef wird diese Entschuldigung nicht aussprechen, so sehr man dies auch wünscht und als angemessen betrachtet. In einer solchen Situation ist es ebenso sinnvoll, Ungerechtigkeit zu akzeptieren. Nicht selten bringt dies eine große Erleichterung mit sich und erlöst von den kreisenden Gedanken, die sich womöglich bei dem Thema gebildet haben. Sich von dem Wunsch nach Gerechtigkeit zu lösen, kann auch bedeuten, zu akzeptieren, dass es in der Welt manchmal ungerecht zugeht und in der Arbeitswelt auch. Was passiert aber, wenn Betroffene das ihnen widerfahrene Unrecht akzeptieren und auf diesem Weg ihre Würde nicht wiederhergestellt werden kann? Im Rahmen der Beratung ist dann zu überlegen, was stattdessen an diese Stelle treten kann. Denkbar ist, Würde in anderen Lebensbereichen zu erfahren und damit das Defizit am Arbeitsplatz auszugleichen, zum Beispiel im familiären Bereich oder
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Die Suche nach Gerechtigkeit
im Engagement in Vereinen oder sozialen Organisationen. Schwierig wird es, wenn in anderen Lebensbereichen auch ein Defizit an würdevollem Umgang vorherrscht. Dann stellt sich in der Beratung die Frage, wie derjenige trotzdem seine Würde erhalten oder wiedererlangen kann. Vielleicht muss die Würdigung dann aus ihm selbst heraus erfolgen, in Form einer Eigenwürdigung. Manchen Menschen fällt eine solche Eigenwürdigung jedoch schwer. In solchen Fällen kann die Beratung dafür genutzt werden, mit dem Betroffenen daran zu arbeiten, diese Form von Eigenwürdigung zu finden, etwa durch Achtsamkeit mit sich und dem Bestreben, sich häufiger selbst etwas Gutes zu tun.
Wer anderen die Schuld gibt, gibt ihnen die Macht
Im Rahmen der Beratung kann es ein wichtiger Schritt sein, dass die Betroffenen sich von der Frage lösen, wer an dem Zustandekommen des Mobbings Schuld trägt. Selten sehen sich Betroffene dabei selbst in der Verantwortung. In der Regel geben sie diese dem vermeint lichen Mobber. Wie bereits erwähnt, ist nach systemischem Verständnis in einem Mobbingprozess nicht festzustellen, wer Täter und wer Opfer ist, wer der Gute und wer der Böse und wer der Schuldige und wer der Unschuldige ist. So gesehen kann im Grunde auch keiner Seite die Schuld an der Situation gegeben werden. Betroffene mögen sich in der Regel aber nur sehr ungern von der Vorstellung lösen, dass jemand anderes für die Situation verantwortlich ist. Das Denken in Schuld-/Unschuldkategorien ist dabei etwas, von dem der Betroffene unterschwellig sogar weiß, dass es nicht ganz zutrifft, er sich aber auch nicht davon zu lösen vermag. Ein solches Denken hat gleichwohl auch Vorteile. Jemand anderem die Schuld am eigenen Unglück zu geben, befreit vordergründig von eigener Verantwortung. Es vermeidet, die eigenen Anteile an der Situation und die eigenen Täteranteile anschauen zu müssen. Das vermeintliche Opfer gibt sich damit eine Absolution für das eigene Verhalten. Der große Nachteil ist, dass das Denken in Schuld-/Unschuldkategorien unfrei macht. Man begibt sich in die Abhängigkeit anderer und erteilt ihnen die Macht über sich selbst. Wer so handelt, macht sich vom Verhalten eines anderen abhängig und kann nicht mehr selbstständig agieren.
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Wer anderen die Schuld gibt, gibt ihnen die Macht
Das Denken und Handeln in Schuldkategorien ist jedoch in unserer Gesellschaft so weit verbreitet, dass es schwierig ist, mit Menschen daran zu arbeiten, sich von diesen Kategorien zu lösen. Auch ist die Loslösung von der Schuldfrage ein schmerzlicher Prozess für den Betroffenen. Sie beinhaltet nämlich auch, sich damit auseinandersetzen zu müssen, welche Verantwortung man selbst an dem Zustandekommen des Mobbings hat, wo man gegebenenfalls selbst Fehler begangen hat und welche womöglich unangenehmen eigenen Anteile man ausgelebt hat. Die Loslösung von der Schuldfrage und die Inblicknahme eigener Handlungsanteile ist daher kein einfacher Weg. Für die Beratung ist es wichtig, niemanden dazu zu zwingen, diese Auseinandersetzung mit sich selbst zu führen. Der Berater kann dieses Thema nur anbieten und der Klient muss entscheiden, ob er diesem Angebot folgen möchte. Für den Beratungsprozess ist es ferner von großer Bedeutung, dass der Berater das Thema Loslösung von der Schuldfrage erst im letzten Teil der Beratung anspricht. Im Rahmen des vorgestellten Prozessmodells würde die Auseinandersetzung mit dem Thema Schuld unter dem Punkt »Benennung der eigenen Gefühle« fallen. Kommt dieses Thema zu früh auf den Tisch, kann sich der Klient missverstanden und in seinem Leid nicht beachtet sehen. Zunächst muss der Schmerz und gegebenenfalls die Wut über die leidvolle Erfahrung einmal Raum gehabt haben, bevor die Auseinandersetzung mit der Schuldfrage beginnen kann.
Die Sehnsucht nach Komplexitätsreduktion
In den bisherigen Erläuterungen wurde deutlich, dass es sich bei Mobbing um ein komplexes Phänomen handelt, welches nicht aus einfachen Ursache-Wirkung-Zusammenhängen heraus entsteht, sondern als ein vielschichtiger Prozess zu beschreiben ist. So komplex das Zustandekommen von Mobbing ist, so komplex sind auch die Lösungsmodelle, die nicht selten ein Sowohl-als-auch beinhalten. Für die Beratung bringt diese Komplexität Chancen, zugleich ist sie aber auch ein großes Hindernis. Die Chance ist, dass in der Komplexität Lösungsoptionen zu finden sind. In den zahlreich aufgeführten Fallbeispielen ist mitzuerleben, dass sich fast automatisch Optionen für Lösungsprozesse ergeben, wenn der Blick sich weitet und Kontexte einbezogen werden. Die Schwierigkeit ist jedoch, dass die Komplexität des Themas auf ein menschliches Grundbedürfnis trifft, eher einfache Zusammenhänge zu favorisieren. »Die Sehnsucht danach, dass es einfache und erklärbare Sachverhalte in der Welt gibt, die man festhalten und als wahr identifizieren kann, ist beträchtlich« (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 146). So fällt es auch Mobbingbetroffenen in der Regel schwer, die Komplexität der Thematik in den Blick zu nehmen. Sie sind auf einen Aspekt, meist die konkreten Mobbingerlebnisse, fixiert, und es erfordert Zeit und Geduld beim Berater, um sie für die Komplexität der Situation zu sensibilisieren.
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Die Sehnsucht nach Komplexitätsreduktion
Der Fall Emmely
Die Tendenz zur Reduzierung auf einfache Ursachenzusammen hänge findet sich häufig auch in den Medien wieder. Ein Beispiel dafür ist die Berichterstattung über den Fall der Kassiererin Bar bara Emme (in den Medien kurz »Emmely« genannt) aus dem Jahr 2008 (unter anderem »Der Tagesspiegel« online vom 20.06.2008). Die Kassiererin eines Supermarktes in Berlin wurde nach über 30 Berufsjahren wegen des Diebstahls zweier Pfandbons im Wert von zusammen 1,30 Euro von ihrem Arbeitgeber fristlos gekündigt. Die Medien berichteten darüber und stellten den Fall als ein Bei spiel für die Unmenschlichkeit im herrschenden Wirtschafts- und Rechtssystem dar. Gewerkschaftler und politische Gruppierungen solidarisierten sich daraufhin mit Frau Emme, unterstützten sie in ihrem Kampf durch mehrere Rechtsinstanzen und riefen zum Boykott der betreffenden Supermarktkette auf. Symptomatisch war in diesem Fall, dass die Berichterstattung sich allein auf den Vorfall mit den beiden Pfandbons fokussierte und nicht die Gesamtsituation in den Blick nahm. So wurde nicht die Geschichte von Frau Emme in dem Unternehmen angeschaut und damit auch nicht recherchiert, ob es noch weitere Vorfälle ähn licher Art gegeben hat. Niemand setzte das Verhalten der Super marktkette in einen Kontext, der die Reaktion nachvollziehbar hätte erscheinen lassen und es wurden auch weder die Wechsel wirkungen betrachtet, die zu der Situation geführt haben, noch die unterschiedlichen Wirklichkeitskonstruktionen einander gegen übergestellt. Wäre dies alles geschehen, wäre womöglich ein ganz anderes Bild der Situation entstanden und die Reaktion der Öffent lichkeit wäre eine andere gewesen. Der Fall Emmely ist ein Beispiel dafür, was passiert, wenn Komplexitätsreduktion betrieben wird. Es wird nur ein Aus schnitt betrachtet und ein monokausaler Zusammenhang kons truiert. Wird jedoch nur ein Ausschnitt betrachtet, ist Empörung als Reaktion auf das Geschehen zwangsläufig. Alles andere, was
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ein Gesamtbild der Situation erzeugen würde, wird jedoch aus geblendet. Typischerweise passiert dies häufig bei Mobbing. Es wird sich auf eine Situation oder einen Aspekt fokussiert und andere Aspekte werden entweder erst gar nicht gesucht oder, wenn sie bekannt sind, ausgeblendet. Nur wenn jedoch jenseits des einen Ausschnittes geschaut wird, kann ein Gesamtbild und ein wirkliches Verstehen der Situation erreicht werden.
Nur wenn die Chance genutzt wird, sich mit der Komplexität der Mobbingsituation auseinanderzusetzen, ergeben sich echte Möglichkeiten, der Situation zu entkommen. Insbesondere kann es ein erster wichtiger Schritt sein und zugleich eine große Erleichterung mit sich bringen, wenn der Betroffene ein Erklärungsmuster hat, wie es zu dem Mobbing gekommen ist und welche Faktoren dabei eine Rolle gespielt haben könnten. Er kann dadurch die Situation einordnen und sich gleichzeitig überlegen, wie er aktiv die Situation verändern kann. Auch kann er bestenfalls zukünftig vorhersehen, was dazu beitragen könnte, dass erneut Mobbing entsteht. Von Schlippe und Schweitzer sprechen in diesen Zusammenhang davon, dass »die Menschen ihr Leben dann als kohärent erfahren, wenn sie […] in ihrer Lebenswelt Ordnung und Vorhersehbarkeit erleben« (von Schlippe u. Schweitzer, 2012, S. 146). Mit Menschen diese Ordnung und die Vorhersehbarkeit zu erarbeiten, ist ein wichtiger Teil systemischer Mobbingberatung. Dabei muss diese Fähigkeit in der Regel nicht neu erarbeitet werden. Sie ist bei den meisten Menschen vorhanden, jedoch durch die Mobbingerfahrung partiell verloren gegangen. Die Auseinandersetzung mit Komplexität hilft Betroffenen nicht nur im Umgang mit der aktuellen Mobbingsituation, sondern kann auch eine prophylaktische Wirkung entfalten. Wenn jemand grundsätzlich in vielschichtigen Zusammenhängen denken kann und wenn er weiß, dass Situationen einem komplexen Ursachen-
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Die Sehnsucht nach Komplexitätsreduktion
gebilde unterliegen, kann er diese besser einschätzen und braucht sie gegebenenfalls nicht als Mobbing oder als gegen sich gerichtet zu interpretieren.
Macht Mobbing Sinn?
Wenn man in der Beratung häufiger und länger mit Menschen zu tun hat, die sich von Mobbing betroffen fühlen, kann einem die Frage begegnen, wie es kommt, dass es Betroffenen manchmal nicht gelingt, sich von dem Gedanken, sie würden gemobbt werden, zu lösen, obwohl ein feindseliges Verhalten gar nicht vorhanden ist oder bereits abgestellt wurde. Auch kann sich einem die Frage stellen, wie es zu erklären ist, dass in einer Abteilung oder in einem Team eines Betriebes Mobbing immer wieder vorkommt. Spätestens dann, wenn der Berater in Beratungsprozessen den Eindruck gewinnt, dass alle Klärungs- und Unterstützungsbemühungen ins Leere laufen, lohnt sich die Frage, ob das Mobbing einen tieferen Sinn erfüllt, der bis dato nicht erkannt wurde oder vielleicht gar nicht erkannt werden soll. Es könnte also sein, dass es quasi eine innere Ordnung bzw. ein inneres Drehbuch gibt, nach dem die Akteure handeln. Nach diesem handeln die Akteure manchmal bewusst, häufig aber auch unbewusst. In der Regel dient es dazu, etwas zu verdecken, was folgendes Fallbeispiel zeigt: Frau U. arbeitet seit vielen Jahren als Sachbearbeiterin in einem Unter nehmen. Sie kommt zur Beratung, da sie sich von ihren Kolleginnen und Kollegen und ihrer Vorgesetzten gemobbt fühlt. Sie benennt im Beratungsgespräch zahlreiche Situationen und Vorkommnisse, in denen sie von den anderen schlecht behandelt wurde. So würde man sie nicht mehr zu Teamsitzungen einladen, andere würden immer häufiger
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Macht Mobbing Sinn?
Arbeitsaufgaben auf sie abwälzen und außerdem wurde ihr Geburtstag in diesem Jahr vergessen, obwohl es in der Abteilung üblich sei, ihn zu feiern. Im Rahmen des Beratungsprozesses wird ein gemeinsames Gespräch im Betrieb geführt. Die Vorgesetzte entschuldigt sich, dass sie und die Kolleginnen und Kollegen den Geburtstag von Frau U. vergessen haben und erklärt, dass es generell keine Teamsitzungen mehr geben würde, sondern sich einzelne Kolleginnen und Kollegen anlassbezogen zu Arbeitsthemen treffen würden, und wenn Frau U. nicht zu diesen Treffen eingeladen werde, habe dies inhaltliche Gründe. Die Vorgesetzte verspricht in dem Gespräch, dass die Arbeitsaufgaben noch einmal neu aufgeteilt werden und dass auf die Wünsche von Frau U. eingegangen werde. Obwohl in den folgenden Wochen konkrete Änderungen erfolgen, bringt Frau U. neue Vorwürfe auf und fühlt sich weiterhin gemobbt. Als einzige Lösungsmöglichkeit sieht sie die Versetzung in eine andere Abtei lung, was sich seitens der Firma jedoch nicht realisieren lässt. Frau U. sieht dies wiederum als Indiz dafür, dass man sie mürbe machen und aus der Firma herausdrängen wolle. Der Berater bekommt im Laufe des Prozesses den Eindruck, dass alles, was die Kolleginnen und Kollegen bzw. die Vorgesetzte unternehmen, von Frau U. als Mobbing gewertet wird. Es stellt sich dem Berater daraufhin die Frage, welchen Sinn es für Frau U. haben könnte, so sehr an dem Mobbingvorwurf festzuhalten. In weiteren Einzelgesprächen mit ihr kann er sich durch vorsichtiges Fragen Hypothesen dazu erarbeiten. So thematisiert er mit Frau U. ins besondere ihre gesundheitliche Situation. Sie benennt in dem Zusam menhang Konzentrationsschwierigkeiten, die sie seit längerer Zeit pla gen und die ihr auch am Arbeitsplatz zu schaffen machen. Der Berater kommt zu der Hypothese, die Mobbingvorwürfe würden von Frau U. dazu genutzt werden, um sowohl vor sich selbst als auch insbesondere vor anderen ihre gesundheitlichen Schwierigkeiten zu verschleiern. In weiteren Gesprächen kann der Berater mit Frau U. das Thema Gesund heit intensiver besprechen. Sie kann dann benennen, dass sie sich den Arbeitsaufgaben eigentlich nicht mehr gewachsen fühlt und große Angst hat, in ihrer Abteilung mit vielen jüngeren Kolleginnen und Kollegen ins Hintertreffen zu geraten. Am Ende des Beratungsprozesses kann
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Frau U. ihre gesundheitlichen Schwierigkeiten besser akzeptieren und entscheidet sich im ersten Schritt, ihre wöchentliche Arbeitszeit vertrag lich zu reduzieren, um mehr Erholungszeiten für sich zu haben. Dadurch entspannt sich die Arbeitssituation. An den Mobbingvorwürfen hält sie jedoch fest. Diese bleiben eine wichtige Stütze für sie, wenngleich sie diese im betrieblichen Alltag nicht mehr so sehr betonen muss.
Der Sinn, einen Mobbingvorwurf zu formulieren, liegt gelegentlich auch darin, sich der Realität nicht stellen zu müssen. Die Auseinandersetzung mit ihr wäre ein schmerzhafter Prozess, der durch den Mobbingvorwurf vermieden wird. Wie im Fall von Frau U. können die schwierigen Themen Angst vor Erkrankung und dessen Folgen, gepaart mit Angst vor Arbeitsplatzverlust, sein – oder aber auch Angst vor Gesichtsverlust, vor Beschämung und/oder einfach vor der Auseinandersetzung mit anderen. Der Preis, den der Betroffene, aber auch das Umfeld dafür zahlt, ist hoch. Die Spannungen und Konflikte bestimmen dann häufig das Miteinander und führen bei den Beteiligten zu Frustrationen und Ärger. Auch involvierte Helfer sind davon nicht ausgenommen. Sie bemühen sich womöglich, den Betroffenen zu helfen, vermögen aber am Ende die Situation nicht zu verändern und ziehen sich irgendwann frustriert und/oder verärgert zurück. Das ständige Formulieren von Mobbingvorwürfen mag dabei für das Umfeld und die Helfer ärgerlich und frustrierend sein und als Ausdruck von Aggression durch den Betroffenen gewertet werden. Im Grunde ist es aber eine Überlebensstrategie und damit eine wichtige Ressource, die demjenigen nicht ohne Weiteres genommen werden sollte. Insbesondere bei Menschen, die aus Kulturen kommen, die wenig Ausdrucksmöglichkeiten des psychischen Unbehagens kennen, ist die Formulierung von Überforderung, körperlichen Schmerzen mit gleichzeitiger Schuldzuweisung inklusive Mobbingvorwürfen an andere eine wichtige Bewältigungsstrategie. In diesen Fällen ist es dann nicht hilfreich, klärende Gespräche mit den Kontrahenten zu führen und sich zu sehr dafür einzusetzen, dass das, was der andere als Mobbing betrachtet, abgestellt wird.
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Macht Mobbing Sinn?
Die Betroffenen sorgen nämlich dann selbst dafür, dass diese Bemühungen ins Leere laufen oder, wie im Fall von Frau U., ein anderer Mobbingvorwurf gefunden wird. Der Mobbingvorwurf ist quasi ein Verbündeter. Daher sollte dem Betroffenen sein Verhalten nicht konfrontativ vorgeworfen werden. Damit würde die wichtige Funktion des Mobbingvorwurfs in Frage gestellt werden. Die Beratung sollte in diesen Fällen vielmehr darauf abzielen, den Fokus auszuweiten und alternative Lösungswege in Betracht ziehen. Ein Lösungsweg für den Betroffenen kann dann durchaus sein, den Arbeitsplatz zu wechseln, das Arbeitsverhältnis aufzugeben oder sogar aus dem Arbeitsleben gänzlich auszuscheiden. Nicht nur der formulierte Mobbingvorwurf des vermeintlich Gemobbten unterliegt häufig einem tieferen Sinn, sondern auch das Mobbing selbst erfüllt für den Mobber in der Regel eine Funktion. Der Fall von Herrn M. aus dem Kapitel »Die Beratung von Herrn M.« ist ein Beispiel dafür. Hier kann das Mobbing als Weg aufgefasst werden, den die Kollegen finden, um mit dem Verhalten von Herrn M. umzugehen. Die Kollegen sind verärgert, dass Herr M. weniger Arbeitsleistung als sie erbringt und dadurch anscheinend ihre Jahresbonuszahlung schmälert. Auch fühlen sie sich implizit abgewertet, wenn Herr M. seine Prioritäten nicht in die Arbeit, sondern in sein soziales Engagement außerhalb der Arbeit setzt. Hinzu kommt der moralische Druck, für das soziale Projekt von Herrn M. spenden zu müssen, den die Kollegen spüren und der Schuldgefühlen ähnelt. All diese Gefühle können mögliche Beweggründe für das Mobbing sein. Auch das folgende Fallbeispiel zeigt, dass Mobbing ein Umgang mit bestimmten Gefühlen ausdrücken kann. Die Abteilungsleiterin stellt in den wöchentlichen Teambesprechungen regelmäßig Teammitglieder vor den anderen bloß, indem sie deren Arbeit kritisiert und ihnen Kompetenz abspricht. Darüber hinaus gibt sie Mitarbeitern im Arbeitsalltag widersprüchliche Aufgaben und redet in anderen Abteilungen schlecht über sie. Über die Jahre hat sich eine Art Schreckensherrschaft entwickelt, in der Angst das dominierende
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Gefühl bei den Mitarbeitern geworden ist. Sie trauen sich nicht, der Abteilungsleiterin zu widersprechen oder gegen sie aufzubegehren, aus Angst, dadurch in ihren Fokus zu geraten und das nächste Opfer ihrer Bloßstellungen zu werden. Einzelne Mitarbeiter wenden sich immer mal wieder mit Beschwerden über sie an die Geschäftsfüh rung. Dort werden die Klagen jedoch abgewiegelt, mit dem Hinweis, dass man zwar die Eigenarten der Abteilungsleiterin kenne, man aber mit den Arbeitsergebnissen der Abteilung sehr zufrieden sei. Auch wolle man sich nicht in die Schwierigkeiten des Teams mit seiner Leiterin einmischen. Nachdem die Beschwerden weiter zunehmen, sieht die Geschäftsleitung doch Handlungsbedarf und bewilligt eine Teamfindungsmaßnahme. Aus der gehen die Mitarbeiter jedoch frus triert heraus, da sie den Eindruck haben, sie würden für die schlechte Stimmung im Team verantwortlich gemacht. In der Folge verhärtet sich das Verhältnis zwischen den Mitarbeitern und der Abteilungsleiterin. Die Mitarbeiter versuchen zunehmend, sich unterschwellig gegen die Abteilungsleiterin zu wehren, dadurch dass sie ihre Anweisungen miss achten und sie bei Mitarbeitern anderer Abteilungen schlecht machen. Die Leiterin verstärkt ihrerseits ihre Handlungen, indem sie unter ande rem die Mitarbeiter vermehrt kontrolliert und deren Handlungs- und Entscheidungsspielraum einschränkt. Als die Situation immer unerträg licher wird, meldet sich Frau K., eine Mitarbeiterin aus dem Team, zur Beratung. Sie schildert ihren persönlichen Leidensweg, aber auch den der Kollegen. Sie berichtet von einer Vielzahl von kränkenden Situationen, die sie und ihre Kollegen über die Jahre erlitten hätten. Sie sieht sich mit einer ausweglosen Situation konfrontiert. Sie selbst hätte sich angewöhnt, die Leiterin nicht mehr ernst zu nehmen und Äußerungen von ihr wegzulächeln. Sie merke aber nun, dass sich die Situation dadurch eigentlich nur noch verschlimmere. Ein Wechsel der Abteilung komme für sie nicht in Frage, da ihr die Arbeitsaufgaben an sich sehr viel Spaß machen. Auch würde ein Weggang eine Niederlage für sie bedeuten, da es die Leiterin in ihren Augen dann geschafft hätte, sie aus der Abteilung zu mobben. Dies wäre ein Triumpf für die Leiterin, den Frau K. ihr unter keinen Umständen bieten möchte.
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Macht Mobbing Sinn?
Unzweifelhaft werden die Mitarbeiter von der Abteilungsleiterin schlecht behandelt und gemobbt. Obwohl deren Führungsstil der Geschäftsleitung bekannt ist, wird sie nicht zu einem Gespräch gebeten. Womöglich ist es in dem Unternehmen unüblich, darüber zu sprechen, wie geleitet und geführt wird. Vielleicht traut sich die Geschäftsleitung aber auch nicht, in die Auseinandersetzung mit der Abteilungsleiterin zu gehen, weil sie befürchtet, die Gespräche könnten schwierig werden. Zudem ist man mit dem Ergebnis der Abteilung bisher immer zufrieden gewesen. Um in dem Fall Lösungswege zu finden, ist es hilfreich, nach den Gründen für das Mobbing zu forschen. Welche guten Gründe könnte es für das Mobbing durch die Leiterin geben? Und welche Funktion erfüllt das Mobbing im System des Abteilungsteams? Möglicherweise hat die Leiterin Angst davor, in ihrer Führungsrolle nicht wahrgenommen und anerkannt zu werden. Sie glaubt daher vielleicht, viel bestimmen zu müssen und den Mitarbeitern deshalb nur wenig Freiraum geben zu können. Auch hat sie womöglich Angst, nicht gemocht und von den Mitarbeitern in ihrer Person abgelehnt zu werden. Nun wird sie aber ja tatsächlich nicht gemocht. So paradox es zunächst scheinen mag, kann das Verhalten, die Mitarbeiter gegen sich aufzubringen, auch als Schutz dienen. Die Abteilungsleiterin schützt damit den eigentlichen Kern ihrer Persönlichkeit. Indem sie im Außen andere gegen sich aufbringt, lässt sie im Inneren niemanden zu sich vordringen. Der Sinn der Schreckensherrschaft ist also, die eigenen Ängste zu verstecken. Was auf den ersten Blick bösartig wirkt, ist vielmehr der Versuch, mit den eigenen Ängsten umzugehen. Nun könnte man annehmen, dass es in dem geschilderten Fall die alleinige Aufgabe der Abteilungsleiterin wäre, die Situation zu verändern, oder die Geschäftsleitung in der Pflicht wäre, für Ordnung zu sorgen. Aber auch hier sind die vermeintlichen Opfer, also Frau K. und die anderen Mitarbeiter der Abteilung, Teil des Systems und am Zustandekommen des Mobbings mitbeteiligt und können zur Verbesserung oder Verschlimmerung der Situation einiges bei-
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tragen. Indem beispielsweise Frau K. ihre Vorgesetzte ignoriert und diese somit nicht anerkennt, trägt sie zum Fortbestehen des Mobbings bei. Sie und ihre Kollegen haben Anteil an der Entwicklung eines Teufelskreises, in dem die Leiterin die Mitarbeiter beschämt, um die eigene Würde zu bewahren, und die Mitarbeiter wiederum die Leiterin beschämen, um ihre Würde nicht zu verlieren. Um den Teufelskreis zu durchbrechen, bräuchte es jemanden oder besser noch mehrere, die den Umgang aller Beteiligten mit der Situation verändern und helfen, den Denk- und Verhaltensmustern eine neue Richtung zu geben. Konkret würde dies bedeuten, ganz bewusst auf die Nöte der Abteilungsleiterin zu schauen und sie nicht länger abzuwerten. Zugegebenermaßen ist dies keine einfache Aufgabe, insbesondere wenn sich die Situation über Jahre verfestigt hat und gegenseitige Abwertungen Teil des Alltags geworden sind. Die Mitarbeiter haben sich womöglich in ihrer Opferrolle eingerichtet und sind sich ihres eigenen Zutuns zur Situation nicht bewusst. Gerade da sie nicht als einzelne Personen betroffen sind, lädt es sie zu der Auffassung ein, es hätte jeweils nichts mit ihnen persönlich zu tun und die Verantwortung zur Veränderung der Situation läge allein beim Gegenüber, sprich der Abteilungsleiterin. Hier braucht es die Erkenntnis, dass jeder Einzelne Teil des Systems ist und jeder mitverantwortlich ist für die entstandene Situation und deren Veränderung. Deshalb braucht es bei den Mitarbeitern nicht nur ein Verständnis für die Ängste und Nöte der Abteilungsleiterin, sondern auch ein beherzteres und mutigeres Umgehen mit der Chefin im Arbeitsalltag. Abwertungen und Bloßstellungen durch die Abteilungsleiterin sollten von den Mitarbeitern ihr gegenüber direkt angesprochen und als Grenzverletzungen benannt werden. Im Rahmen der Beratung stellt der Berater Frau K. die genannten Hypo thesen als mögliche Gründe für das Verhalten der Abteilungsleiterin zur Verfügung. Frau K. reagiert erstaunt. Dass es für die Leiterin gute Gründe geben könnte, sich so zu verhalten, wie sie sich verhält, war Frau K. bisher noch nicht in den Sinn gekommen. Sie erkennt auch,
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Macht Mobbing Sinn?
dass das Ignorieren der Leiterin durch sie und ihre Kollegen einer Herabwürdigung gleichkommt. Durch die von der Abteilungsleiterin zugefügten Kränkungen fällt es Frau K. jedoch schwer, ihre eigene Rolle zu verlassen. In einem ersten Schritt gelingt es ihr aber, das Weglächeln zu vermeiden und die Leiterin im Alltag wieder mehr in die Arbeitsabläufe einzubinden. Dadurch tritt zumindest im Verhältnis von Frau K. und ihrer Chefin eine gewisse Entspannung ein.
Anti-Mobbing-Strategien
Wenn man davon ausgeht, dass Menschen Mobbing nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern zum Entstehen und zu Lösungen beitragen können, stellt sich die Frage, was helfen könnte, damit Menschen gar nicht erst in Mobbingsituationen geraten oder dass Mobbing gar nicht erst entsteht. Gibt es Rezepte gegen Mobbing und wenn ja, wie sehen diese genau aus? Was kann womöglich jeder Einzelne tun und welche Verantwortung haben Betriebe? Im Folgenden finden sich Antworten auf diese Fragen, die sowohl für die Beratung von Mobbingbetroffenen genutzt werden können als auch in Coaching, Therapie, Supervision oder Organisationsberatung einfließen, wenn es darum geht, mit Menschen präventiv zum Thema Mobbing zu arbeiten.
Von wunden Punkten Im Grunde gibt es viele hilfreiche Rezepte gegen Mobbing. Sie sind aber nicht immer auf den ersten Blick als solche zu erkennen. Zu nennen sind zunächst alle Konzepte zur Persönlichkeitsentwicklung. Wer für sich eine feste Persönlichkeit entwickelt hat und sich selbst gut kennt, der muss andere nicht angreifen. Ferner kann jemand mit einer gefestigten Persönlichkeit auf Angriffe anderer besser reagieren, ohne sich gemobbt fühlen zu müssen. Ein Konzept zur Persönlichkeitsentwicklung ist das bereits erwähnte Modell des Kerbenprofils von Schulz von Thun (2006).
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Anti-Mobbing-Strategien
Bildlich kann man sich das Kerbenprofil der Persönlichkeit eines Menschen folgendermaßen vorstellen:
Abbildung 5: Das Kerbenprofil (nach Schulz von Thun, 2006, S. 178)
Schulz von Thun geht davon aus, dass jeder Mensch durch das, was er insbesondere in der Kindheit erlebt hat, ein sogenanntes Kerbenprofil entwickelt. Erfahrungen werden gespeichert und »wunde Punkte« graben sich wie eine Kerbe im Persönlichkeitsprofil ein. Später haut jemand, in der Regel unabsichtlich und ohne es zu wissen, in die (alte) Kerbe und löst damit eine Reaktion bei demjenigen aus. Die Reaktion steht dabei häufig in keinem angemessenen Verhältnis zum Anlass. Oft ist demjenigen auch gar nicht bewusst, dass eine alte Kerbe getroffen ist und ein Zusammenhang zwischen der aktuellen Situation und der alten Kerbe besteht. Hilfreich ist, wenn man sein eigenes Kerbenprofil, insbesondere die empfindlichen Stellen, kennt. Bestenfalls ist man auf Schläge in die Kerben vorbereitet, kann diese besser einordnen und muss das Verhalten des anderen nicht gleich als Angriff oder als Mobbing deuten. Hilfreich ist aber auch, um die Kerbenprofile derjenigen, mit denen man im Alltag zu tun hat, auch die der Arbeitskollegen oder Vorgesetzten, zu wissen. Kennt man ihre Profile und insbesondere die empfindlichen Stellen darin, kann man sich darauf einstellen und das in die Kerben Schlagen vermeiden. Im Rahmen von Teamentwicklung wäre ein gegenseitiger Austausch über empfindliche Stellen hilfreich. Ist ein Team miteinander vertraut und gibt es eine Kultur, dass Persönliches offenbart werden kann, kann ein Austausch darüber, wo jeder einzelne bei sich seine
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empfindlichen Stellen sieht, ein spannender und im Sinne von Teamentwicklung fördernder Prozess sein. Spannend wäre darüber hinaus auch, wenn sich Mitarbeiter mit ihren Vorgesetzten z. B. im Rahmen von Mitarbeiter-Vorgesetztengesprächen entsprechend austauschen würden. Womöglich ließe sich manchem Streit und mancher Spannung zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten vorbeugen. Da jedoch ein solcher Austausch sowohl auf Mitarbeiter-Vorgesetzten-Ebene als auch unter den Mitgliedern eines Teams in der Regel nicht stattfindet, bleibt den Beteiligten nur die Möglichkeit, wenn sie etwas für das Miteinander und gegen Mobbing tun wollen, die empfindlichen Stellen der anderen aus Erfahrungen im Miteinander zu erspüren. In der Praxis ist aber immer wieder zu beobachten, wie schwer es Menschen fällt, den Empfindlichkeiten anderer Beachtung zu schenken. Insbesondere wenn sie ihre eigenen empfindlichen Stellen des Kerbenprofils nicht durch den anderen beachtet sehen, hauen sie zum eigenen Schutz eher in die Kerbe des anderen, nach der Devise »Angriff ist die beste Verteidigung«, statt ihre eigenen Empfindsamkeiten dem anderen mitzuteilen. Voraussetzung, um anderen die eigenen empfindlichen Stellen überhaupt mitteilen zu können, ist, diese zu kennen bzw. sie in einem ersten Schritt überhaupt zu spüren. Dies kann Inhalt und Ziel von Beratung oder Therapie sein. Sich selbst zu kennen, heißt auch, die persönlichen »Hörgewohnheiten« zu kennen. Schulz von Thun (1981) hat in diesem Zusammenhang das bekannte Kommunikationsquadrat (auch Vier-SeitenModell genannt) entwickelt. Es beruht auf der Annahme, dass jede Äußerung sowohl vom Sender als auch vom Empfänger unter vier Aspekten (Seiten) interpretiert werden kann (siehe Abbildung 6).
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Anti-Mobbing-Strategien
Sachinhalt
Selbstkundgabe
Nachricht
Appell
Beziehung Abbildung 6: Die vier Seiten einer Nachricht (Schulz von Thun, 1981, S. 14), Copyright © 1981 Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Beim Sachinhalt geht es um eine rein sachliche Information, die transportiert werden soll. Selbstkundgabe meint das, was der Sender von sich zeigt. Er gibt eine »Kostprobe der Persönlichkeit« (Schulz von Thun, 1981, S. 99). Auf der Beziehungsseite wird etwas darüber ausgesagt, was jemand von dem anderen hält und wie er die Beziehung zwischen sich und dem anderen sieht. Die Appellseite wiederum sagt aus, wozu der Empfänger veranlasst werden soll. Störungen kommen unter anderem dann zustande, wenn Sender und Empfänger die vier Seiten unterschiedlich deuten und gewichten. Klassisch ist, dass der Sender einer Nachricht eine Botschaft auf der Sachebene betonen will, und der Empfänger sich aber auf der Appellebene angesprochen fühlt. Schulz von Thun spricht auch davon, dass der Empfänger analog zu den vier Seiten einer Nachricht mit vier Ohren hört (Selbstkundgabe-Ohr, Sach-Ohr, Beziehungs-Ohr und Appell-Ohr). Dabei sind alle Ohren wichtig. Wenn jedoch ein Ohr zu ausgeprägt ist, also jemand Äußerungen von anderen immer besonders mit einem Ohr hört, birgt dies die Gefahr häufiger Spannungen auf der Kommunikationsebene. Bei Menschen, die sich schnell gemobbt fühlen, ist das Beziehungs-Ohr häufig sehr ausgeprägt. Schulz von Thun beschreibt Menschen, bei denen das Beziehungs-Ohr dominiert so: »Sie beziehen alles auf sich, nehmen alles persönlich, fühlen sich
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leicht angegriffen und beleidigt. Wenn jemand wütend ist, fühlen sie sich beschuldigt, wenn jemand lacht, fühlen sie sich ausgelacht, wenn jemand guckt, fühlen sie sich kritisch gemustert, wenn jemand wegguckt, fühlen sie sich gemieden und abgelehnt. Sie liegen ständig auf der ›Beziehungslauer‹« (Schulz von Thun, 1981, S. 51). Eine wirksame Anti-Mobbing-Strategie wäre es also, die eigenen »Hörgewohnheiten« zu kennen, indem geschaut wird, welches Ohr besonders ausgeprägt ist. Insbesondere wenn das Beziehungs-Ohr sehr dominant ist, wäre die Entwicklungsaufgabe, zu trainieren, in der alltäglichen Kommunikation mit anderen ganz bewusst Anteile der Selbstkundgabe oder der Sachebene des Senders zu hören. Ein hilfreiches Konzept im Sinne einer Anti-Mobbing-Strategie ist auch die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg (2007). Wichtige Grundlage, um gewaltfrei zu kommunizieren, ist, sich der eigenen Bedürfnisse bewusst zu sein und sie verbalisieren zu können. Pásztor und Gens schreiben hierzu: »Viele Menschen nehmen das, was anderen wichtig ist, wichtiger als sich selbst. Sie wissen auch nicht, was sie im Moment brauchen und was das Richtige für sie wäre. Für diese Menschen ist es ein entscheidender Schritt, herauszufinden, was sie eigentlich wollen und brauchen. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die sehr genau zu wissen scheinen, was sie brauchen – und die Bedürfnisse der anderen nicht sehen. In der Gewaltfreien Kommunikation trainieren wir beides: sich selbst bewusst zu sein über das, was man braucht und will – und sich bewusst zu sein über das, was der andere braucht und was ihm helfen würde, es zu bekommen« (Pásztor u. Gens, 2005, S. 9). Auf den Punkt gebracht bedeutet dies, sich selbst und andere gleichermaßen wichtig zu nehmen. Dies heißt auch, echt und authentisch zu sein, indem man etwa in schwierigen zwischenmenschlichen Situationen, in denen man sich gekränkt, abgewertet oder missachtet fühlt, die Situation nicht überspielt und mit Ironie reagiert oder lacht, obwohl einem gar nicht dazu zu Mute ist. Im Grunde ist, sich selbst und andere wichtig zu nehmen, die wirksamste und damit auch wichtigste Anti-Mobbing-Strategie.
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Anti-Mobbing-Strategien
Wenn ich mich selbst wichtig nehme, kann ich auf Angriffe, schlechtes Benehmen, Ausgrenzungen usw. reagieren, indem ich in Kontakt zu dem anderen gehe und beispielsweise Stopp-Signale sende. Wenn mir andere Menschen wichtig sind, kann ich Kränkungen und Abwertungen meinerseits vermeiden, was dazu führt, dass andere erst gar nicht mit Mobbing reagieren müssen.
Konfliktvermeidung ist Kontaktvermeidung Wir leben in einer Gesellschaft, in der es sowohl in der Arbeitswelt als auch in anderen Lebensbereichen üblich ist, die direkte verbale Auseinandersetzung mit anderen eher zu vermeiden. Konflikte, Spannungen und Missverständnisse werden möglichst nicht angesprochen. Werden Konflikte doch thematisiert, dann werden häufig andere Personen, die mit dem Konflikt oder der Spannung nicht unmittelbar zu tun haben, einbezogen. Der Ärger wird dann gegenüber der unbeteiligten Person geäußert, und es wird versucht, denjenigen als Verbündeten für die eigene Sichtweise zu gewinnen. Die direkte Auseinandersetzung wird oft deshalb vermieden, weil sie als bedrohlich erlebt wird. Konflikte und Spannungen schwelen dadurch lange, sorgen für einen erheblichen Schaden auf der Beziehungsebene und führen nicht selten zu Mobbing. Weshalb Menschen die direkte Auseinandersetzung wie der Teufel das Weihwasser meiden, liegt wohl darin begründet, dass sie große Angst haben, die Auseinandersetzung könne eskalieren, sie ihr nicht gewachsen seien, sie als Verlierer aus der Situation gehen und ihnen womöglich Schuld angelastet werde. So schwer es auch fällt, so wichtig ist es im Sinne einer Anti-Mobbing-Strategie aber, Konflikte, Spannungen, Missverständnisse und auch eigenen Ärger und empfundene Kränkungen und Abwertungen ansprechen zu können. Inhalt von Beratung oder auch Coaching kann sein, dies zu üben. Hierfür bietet sich die Methode des Rollenspiels an. Auch im Rahmen von Supervision und Teamentwicklung können die Betei-
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ligten lernen, Konflikte und Spannungen anzusprechen. Dabei geht es auch darum, wie solche Anliegen vorgetragen werden. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, gibt Schulz von Thun (1981) den Hinweis, dass es zur Verbesserung der Kommunikation hilfreich sein kann, den Selbstoffenbarungsanteil in der Sprache zu erhöhen. Das Kommunizieren mit einem hohen Selbstoffenbarungsanteil kann ebenfalls im Rahmen von Beratung, Coaching, Supervision oder Teamentwicklung geübt werden.
Konflikte nützen Mit Blick auf die Ausführungen der letzten Seiten könnte der Eindruck entstehen, es wäre allein an den einzelnen Mitarbeitern, für eine wirksame Mobbingprävention zu sorgen. Dem ist aber nicht so. Auch Betriebe können etwas gegen Mobbing tun. Erst das Zusammenspiel von individueller Entwicklung und betrieblicher Bemühungen ergeben eine wirksame Anti-Mobbing-Strategie. Wie sollten Betriebe, aber auch andere Organisationen wie Schulen, Vereine etc. mit Mobbing umgehen? Was kann insbesondere präventiv getan werden? Schaut man auf die betriebliche Ebene, ist zunächst festzustellen, dass der Umgang mit Mobbing vielfach immer noch von großer Unsicherheit bei den Akteuren geprägt ist. Dies liegt sicherlich daran, dass der Begriff nicht eindeutig und das Phänomen Mobbing schlecht fassbar ist. Manche würden den Begriff am liebsten verbannen, weil er ihnen fremd ist oder für Irritationen sorgt. Manche sind auch felsenfest davon überzeugt, dass es in ihrem Betrieb kein Mobbing gibt bzw. sich die Betroffenen dies nur einbilden. Andere sehen einen solchen Umgang wiederum als Indiz dafür, dass sich der Arbeitgeber seiner Verantwortung entzieht und sich mit Missständen nicht auseinandersetzen will. Allen sollte jedoch bewusst sein, dass es Mobbing gibt und immer schon gab, wenn auch unter anderen Begrifflichkeiten, und dass es
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Anti-Mobbing-Strategien
Mobbing immer geben wird. So gesehen hilft es nicht, Mobbing als Begriff oder als Phänomen zu verbannen. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Betriebsvereinbarungen, die es in manchen Betrieben gegen Mobbing am Arbeitsplatz gibt, zwar gut gemeint sind, aber auch die Gefahr bergen, ihr Ziel, Mobbing zu verhindern oder zumindest den Betroffenen zu helfen, zu verfehlen. Wenn Betriebsvereinbarungen zum Thema Mobbing zu einer Kultur beitragen, Täter-Opfer-Kategorien zu etablieren, ohne die dahinterliegenden Konflikte und Spannungen ins Blickfeld zu nehmen, dann speist dies eine Kultur des Kampfes und man vergibt die Chance, Konflikte und Spannungen für die Entwicklung der Organisation und ihrer einzelnen Mitglieder zu nutzen. Wenn Betriebsvereinbarungen als Einladung angelegt sind, miteinander auf Augenhöhe ins Gespräch zu kommen, und wenn sie den Raum dafür anbieten, dass Konflikte und Spannungen angesprochen werden können, dann können solche Vereinbarungen einen großen Nutzen haben und nachhaltig das Betriebsklima verbessern. Ob mit oder ohne Betriebsvereinbarung empfiehlt es sich, im Sinne einer wirkungsvollen Mobbingprophylaxe, eine betriebliche Kultur anzustreben, die Raum für die Auseinandersetzung im Miteinander zulässt und in der Konflikte und Spannungen entstehen und angesprochen werden dürfen. Ferner empfiehlt es sich, eine Führungskultur zu etablieren, die sich zum einen dadurch auszeichnet, dass Mitarbeitern Fürsorglichkeit und Wertschätzung entgegengebracht wird, und zum anderen, dass die betrieblichen Realitäten nicht aus den Augen verloren werden. Zu den betrieblichen Realitäten gehören die Anforderungen, die sich durch die Aufgaben und Ziele des Unternehmens bzw. der Organisation ergeben, wozu auch Veränderungs- und Kostendruck zu zählen sind. In der Praxis ist immer wieder zu beobachten, dass Konflikte/ Spannungen und manchmal auch Mobbing besonders dann in Betrieben entstehen, wenn Fürsorglichkeit und Wertschätzung vernachlässigt werden oder aber Fürsorglichkeit übertrieben wird und betriebliche Anforderungen aus dem Blickfeld geraten. Dies ist z. B. dann
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der Fall, wenn Vorgesetzte über Fehlverhalten von Mitarbeitern hinwegsehen, weil sie womöglich die Auseinandersetzung scheuen oder der Vorstellung unterliegen, fürsorglich und human zu sein, wenn sie etwa über wiederholtes Zuspätkommen, Mängel in der Arbeitsleitung als auch Auffälligkeiten wie häufige Kurzzeiterkrankungen hinwegsehen. Das Gegenteil ist aber der Fall. Im Grunde bedeutet das Nichtansprechen von Fehlverhalten und Auffälligkeiten ein Nichternstnehmen sowohl des betreffenden Mitarbeiters als auch der Kollegen, die womöglich unter den Auffälligkeiten oder dem Fehlverhalten des Mitarbeiters leiden. Rückmeldungen zu geben und Grenzen aufzuzeigen ist ein Zeichen der Wertschätzung und drückt aus, dass der Führungskraft Mitarbeiter wichtig sind. Kurz-, mittel- und langfristig schadet eine übertriebene oder falsch verstandene Fürsorglichkeit dem betrieblichen Miteinander. Folge könnte Ärger bei Kollegen sein, der in Konflikten und Spannungen oder in destruktiver Weise über Mobbing seinen Ausdruck findet, was darüber hinaus der Arbeitsleistung einzelner und den betrieblichen Zielen schadet. Tritt Mobbing konkret auf, wenn jemand z. B. äußert, er fühle sich von einem oder mehreren gemobbt, gilt es, sich als Betrieb der Situation anzunehmen, sie nicht zu verschweigen und sich nicht in der Frage zu verfangen, ob derjenige wirklich gemobbt wird oder nicht. Besser ist es, die hinter der Formulierung eines Mobbingvorwurfes stehende Not des Betroffenen zu sehen, ganz gleich, wie man die Situation selbst einschätzt. Sowohl für den Betroffenen als auch für den Betrieb kann es sehr hilfreich sein, sich Unterstützung zu holen und nicht zu glauben, man könnte die Situation allein lösen. In der Regel sind die Zusammenhänge zu komplex, um sie als Teil des Systems selbst zu durchschauen oder gar lösen zu können. Insofern ist der Blick eines Unbeteiligten, der bei der Klärung der Situation unterstützt, nützlich. Er kann helfen, die Wechselwirkungen, die zu dem Mobbing geführt haben, und den Einfluss der Kontexte zu erkennen, und er kann ferner die verschiedenen Wirklichkeitskonstruktionen zusam-
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menführen. Der Klärungshelfer kann dabei aus dem Unternehmen/ der Organisation kommen, wie etwa ein Betriebs- oder Personalrat mit entsprechenden Kenntnissen. Manchmal ist es aber auch gut, jemand von außen zu holen, der unbelastet auf die Situation schaut. Dies kann ein Supervisor, Berater oder Mediator sein. Professionelle sind in der Regel unabhängiger und können, wenn nötig, auch Unangenehmes gegenüber den Beteiligten benennen.
Die vier Grundbedürfnisse Ein Baustein einer betrieblichen Anti-Mobbing-Strategie im Sinne von Mobbingprophylaxe ist, bewusst darauf zu achten, dass wichtige Grundbedürfnisse am Arbeitsplatz erfüllt werden. Der Sozialwissenschaftler Stephan Marks (2010) beschreibt dazu vier menschliche Grundbedürfnisse, die es am Arbeitsplatz, aber auch in anderen Lebensbereichen zu beachten gilt: ȤȤ Zugehörigkeit, ȤȤ Anerkennung, ȤȤ Schutz, ȤȤ Integrität. Auf den Arbeitsplatz bezogen bedeutet Zugehörigkeit, dass Mitarbeiter sich als Teil von etwas begreifen können: Sie verstehen sich als Teil eines Teams, einer Abteilung, einer Firma bzw. Organisation und identifizieren sich mit den Inhalten und ihren Aufgaben. Anerkennung meint, Resonanz auf eigenes Tun zu bekommen und Wertschätzung zu erleben. Resonanz kann Feedback, Lob oder Kritik sein oder einfach, dass die eigene Arbeit gesehen wird. Schutz beinhaltet die Wahrung der Grenzen des Mitarbeiters, z. B. die zwischen Privatem und Beruflichem sowie Grenzen der Belastbarkeit, den Schutz vor verbalen und körperlichen Angriffen und Belästigungen, aber auch die Bewahrung vor Entwürdigung und Beschämung.
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Mit Integrität ist gemeint, dass das persönliche Wertesystem des Mitarbeiters mit dem eigenen Handeln am Arbeitsplatz übereinstimmt, also Arbeitsinhalte nicht das persönliche Wertesystem des Mitarbeiters verletzen. Der Mitarbeiter muss sich abends nach der Arbeit noch mit gutem Gewissen selbst im Spiegel anschauen können. Gibt es dauerhaft Defizite in einem oder mehreren Grundbedürfnissen, kann das erhebliche Folgen haben. Es kann zur Gefühlsabspaltungen kommen, mit dem Ergebnis, dass die abgespaltenen Gefühle sich entweder nach innen richten und schlimmstenfalls zu Depression oder psychosomatischen Symptomen führen oder aber sie werden über Konflikte bzw. Spannungen oder sogar Mobbing nach außen getragen, indem andere gemobbt oder des Mobbings bezichtigt werden. Wenn jedoch für Zugehörigkeit, Anerkennung, Schutz und Integrität gesorgt oder zumindest ein Defizit in einem der Bereiche frühzeitig erkannt wird, muss Mobbing gar nicht erst entstehen. Die folgenden Fallsituationen zeigen beispielhaft, wie sich die genannten Defizite konkret zeigen und welche Schritte zur Erfüllung der Grundbedürfnisse ergriffen werden könnten: Eine Mitarbeiterin einer mittelständischen Einzelhandelskette wird auf eigenen Wunsch hin in eine kleine Filiale versetzt, die außerhalb des eigentlichen Vertriebsgebietes der Handelskette liegt. Die Filiale ist so wenig frequentiert, dass sie nur mit einer Kraft besetzt ist. Die Mitarbei terin ist zunächst froh über die Versetzung, da die Filiale wesentlich näher an ihrem Wohnort liegt und sie dadurch einen kürzeren Fahrweg zur Arbeit hat. Auch setzt sie sich mit all ihrer Kraft für den Verkaufs erfolg der Filiale ein. In der Folge fühlt sie sich aber zunehmend isoliert und allein gelassen, da sie so gut wie keinen Kontakt zu Kollegen in der Firma hat und auch der Vertriebsleiter zwar anfänglich regelmäßig die Filiale besucht, dann aber immer seltener kommt. Die Mitarbeiterin glaubt nun, der Filialleiter hätte ihr bewusst die Stelle in der abgele genen Filiale angeboten, um sie letztendlich zu einer Eigenkündigung
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zu bewegen. Sie sucht das Gespräch mit dem Vertriebsleiter und wirft ihm vor, dass er sie loswerden wolle.
Dadurch, dass die Filiale außerhalb des eigentlichen Vertriebsgebietes liegt und darüber hinaus nur mit einer Kraft besetzt ist, so dass kein Austausch mit anderen Kollegen möglich ist, fühlt sich die Mitarbeiterin nicht als Teil des Unternehmens. Sie verspürt ein Defizit in dem Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit, was noch dadurch verstärkt wird, dass der Vertriebsleiter die Besuche in der Filiale reduziert. Der Vertriebsleiter könnte sich nun durch die Anschuldigungen persönlich angegriffen fühlen und seinerseits mit Vorwürfen reagieren. Wahrscheinlich würde das Gespräch mit der Mitarbeiterin dann im Streit enden und bei ihr das Gefühl hinterlassen, gemobbt zu werden. Der Vertriebsleiter könnte aber auch hinter den Vorwürfen die Not der Mitarbeiterin erkennen und das als Ausdruck eines Defiziterlebens interpretieren. Ein Weg könnte dann sein, mit ihr zu besprechen, wie sie wieder mehr in das Unternehmen eingebunden werden und wieder mehr Kontakt zu Kollegen, aber auch zu ihm als Vorgesetzten bekommen kann. Die Mitarbeiterin einer Geschäftsstelle eines Vereins kümmert sich seit vielen Jahren um die Verwaltung und die Organisation der Ver einsaktivitäten. Als ein neuer Vereinsvorstand gewählt wird, widmet sich dieser mit viel Tatendrang einer Neustrukturierung des Vereins. Dabei werden auch die Aufgaben der Geschäftsstelle neu definiert. Mit dem Argument, man wolle die Mitarbeiterin entlasten, werden Aufga ben der Geschäftsstelle auf einzelne Vorstandsmitglieder übertragen. In der Folge treten Probleme in der Zusammenarbeit zwischen der Geschäftsstellenmitarbeiterin und dem Vorstand auf. Die Vorstands mitglieder haben zunehmend den Eindruck, dass die Mitarbeiterin ihnen bewusst Informationen vorenthält und falsche Auskünfte erteilt und darüber hinaus bei den Vereinsmitgliedern schlecht über den Vorstand redet. In einer Vorstandsitzung beraten sie, wie sie mit der Situation umgehen wollen.
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Die Geschäftsstellenmitarbeiterin ist in die Neustrukturierung des Vereins nicht miteinbezogen worden. Sie wurde insbesondere nicht nach ihrer Expertise gefragt, obwohl sie als langjährige Mitarbeiterin wahrscheinlich am besten über die Strukturen und Abläufe hätte Auskunft geben können. In der Folge bekam die Mitarbeiterin das Gefühl, nicht genügend Anerkennung für ihre Tätigkeit zu erfahren. Auch hier ergeben sich nun mindestens zwei Möglichkeiten. Die Vorstandsmitglieder können mit Gegenwehr reagieren, indem sie die Mitarbeiterin in ihre Schranken weisen, ihr noch weniger Aufgaben geben oder sie womöglich offen oder unterschwellig zur Aufgabe des Arbeitsverhältnisses bewegen. Es ist anzunehmen, dass sich die Mitarbeiterin dadurch gemobbt fühlen und ihrerseits fortfahren würde, den Vorstand bei den Vereinsmitgliedern in ein schlechtes Licht zu rücken. Die andere Möglichkeit wäre, die Vorstandsmitglieder würden hinter dem Verhalten der Mitarbeiterin den Mangel an Anerkennung wahrnehmen und überlegen, wie sie ihr diese Anerkennung geben können. Eine Möglichkeit wäre, auf die Mitarbeiterin zuzugehen und sich bei ihr dafür zu entschuldigen, dass sie sie in den Umstrukturierungsprozess nicht einbezogen haben. Im zweiten Schritt könnten sie mit ihr besprechen, wie sie in das weitere Verfahren mit eingebunden werden kann. In einer Abteilung eines Produktionsbetriebes herrscht seit einiger Zeit ein rauer Ton unter den Mitarbeitern. Es werden untereinander abfällige Witze und mehrdeutige Bemerkungen gemacht. Dem Abtei lungsleiter fällt dies auf, er entschließt sich aber, zunächst nichts zu unternehmen. Als er jedoch den Eindruck bekommt, die Äußerungen werden zunehmend verletzender, kommen ihm Bedenken und er über legt, was zu tun ist.
Der Abteilungsleiter ist unsicher, ob er sich einmischen soll. Vielleicht denkt er, dass die Mitarbeiter Konflikte unter sich klären sollen,
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oder er ist der Auffassung, ein rauer Ton gehöre in diesen Arbeitszusammenhängen dazu. Vielleicht hat er auch Befürchtungen sich einzumischen, um nicht selbst verbal angegriffen und zur Zielscheibe von Spott und mehrdeutigen Bemerkungen zu werden. Er könnte aber auch erkennen, dass für seine Mitarbeiter das Grundbedürfnis nach Schutz nicht mehr gewährleistet ist, wenn sich einzelne durch die Sprüche der anderen verletzt oder gar gemobbt fühlen. Er könnte sich Unterstützung z. B. beim Betriebsrat und der Personalabteilung holen und gemeinsam das Gespräch mit den Mitarbeitern suchen, um ihnen in einem ersten Schritt eine Rückmeldung darüber geben, wie er das Miteinander in der Abteilung aktuell erlebt. Die Mitarbeiter haben womöglich gar nicht bewusst wahrgenommen, dass sich die Stimmung und die Art des Umgangs miteinander so verändert haben. Möglicherweise stehen hinter dem veränderten Umgangston auch Ärger und Frustrationen, die eigentlich schon längst hätten angesprochen werden müssen und durch die Ansprache des Abteilungsleiters bzw. des Betriebsrates und der Personalabteilung nun ihren Raum finden. Die Mitarbeiter eines Weiterbildungsträgers sind seit vielen Jahren bemüht, den Teilnehmern der Weiterbildungen ein fundiertes und qua litativ hochwertiges Bildungsangebot zu bieten. Die Zufriedenheit der Teilnehmer und ein guter Ruf sind für die Mitarbeiter sehr wichtig und Teil ihres Selbstverständnisses. Als im Zuge eines Wechsels der Geschäftsführung neue Organisationsstrukturen eingeführt werden, entstehen erhebliche Probleme im alltäglichen Ablauf. Wegen Fehl planungen fallen Bildungsveranstaltungen aus, wodurch die Teilnehmer unzufrieden werden und der gute Ruf der Bildungseinrichtung zu leiden droht. Die Mitarbeiter sind verunsichert und ihrerseits unzufrieden. Die Geschäftsführung interpretiert die Unzufriedenheit der Mitarbeiter als Mangel an Veränderungswillen.
Zentraler Punkt in diesem Fallbeispiel ist, dass das Bedürfnis, Integrität zu erleben, nicht mehr erfüllt wird. Die Mitarbeiter schä-
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men sich für ihre Einrichtung und können sich nicht mehr mit ihr identifizieren. Für die Geschäftsführung wäre es nun wichtig, nicht einen Mangel an Veränderungswillen zu beklagen, sondern aktiv dafür zu sorgen, dass die Mitarbeiter sich wieder mit dem Träger identifizieren können. Konkret könnte dies bedeuten, zunächst einen reibungslosen Betrieb zu priorisieren und Strukturveränderungen in der Organisation erst nach und nach einzuführen. Würde die Geschäftsführung das Bedürfnis der Mitarbeiter nach Integrität ignorieren, wären Konflikte und Spannungen vorprogrammiert. Womöglich würden sich die Mitarbeiter abgelehnt fühlen und Äußerungen und Handlungen der Geschäftsleitung als Mobbing interpretieren. Die Fallbeispiele zeigen, wie schnell ein Defizit in Bezug auf die Grundbedürfnisse entstehen kann und zu welchen Auswirkungen das führt. Sie zeigen auch, dass die Defizite nicht immer offen zu erkennen sind und mitunter verdeckt zu Tage treten. Um Defizite gar nicht erst entstehen zu lassen, ist es hilfreich, sich als Betrieb präventiv mit den Grundbedürfnissen der Mitarbeiter zu beschäftigen. Folgende Fragestellungen können dabei leitend sein: Fühlen sich eigentlich alle Mitarbeiter dem Betrieb zugehörig? Wenn ja, woran merkt man dies und woran würde man es merken, wenn das für jemanden nicht so wäre? Ist die Belegschaft eines Betriebes durch Fusionen, Übernahmen oder Zusammenlegung von Organisationsteilen entstanden, fühlen sich womöglich Teile der Mitarbeiterschaft immer noch dem alten Betrieb oder der Ursprungsorganisation verbunden. Es bedarf dann einer Würdigung des Alten, um sich auf das Neue einlassen zu können. D. h. es wäre hilfreich, bei den neuen Akteuren würde Interesse bestehen an den Erfahrungen und Kulturen der alten und umgekehrt. Darüber hinaus ist eine aktive Einbindung der Mitarbeiter in die neuen Strukturen notwendig, damit sie sich langfristig als zugehörig erleben können.
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Zu den Mitarbeitern eines Betriebes gehören auch jene, die krankgeschrieben oder in Elternzeit sind. Gerade wenn Mitarbeiter über längere Zeit nicht am Arbeitsplatz sind, fühlen sie sich immer weniger als Teil des Betriebes. Hier können Gesten seitens der Firma sinnvoll sein, die die Zugehörigkeit zum Betrieb stärken. Eine solche Geste wäre etwa ein Blumengruß, der zum Geburtstag des Mitarbeiters während der Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit oder Abwesenheit verschenkt wird. Viele schätzen solche Zeichen der Verbundenheit und Zugehörigkeit, und es fällt ihnen dadurch leichter, nach einer längeren Abwesenheitsphase in den Betrieb zurückzukehren. In der modernen Arbeitswelt ist es für manche Beschäftigungsgruppen schwer, Zugehörigkeit zu erleben. Zu nennen sind hier Leiharbeiter und Mitarbeiter mit Werkverträgen. Sie können kaum Zugehörigkeit erleben, da ihr Arbeitsort Teil eines Betriebes ist, in dem sie aber nicht oder nur vorübergehend angestellt sind. Sie fühlen sich aber auch nicht als Teil der Leiharbeitsfirma, da sie mit ihr sowohl örtlich als auch inhaltlich gar nicht verbunden sind. Da sie aber durch ihre Arbeit zumindest vorrübergehend Teil des Betriebes sind, in dem sie eingesetzt werden, sollten Zeichen der Zugehörigkeit gefunden werden. Bekommen eigentlich alle Mitarbeiter die Anerkennung und Wertschätzung, die sie verdienen? Um Anerkennung und Wertschätzung zu zeigen, bedarf es keiner großen Gesten. Oftmals sind es auch kleine Dinge, die aber eine große Wirkung im Sinne von Anerkennung und Wertschätzung haben können. So mag es zwar etwas aus der Mode gekommen sein, Firmenjubiläen von Mitarbeitern betriebsöffentlich zu begehen, der Würdigungs- bzw. Anerkennungseffekt ist jedoch nicht zu unterschätzen. Anerkennung und Wertschätzung kann aber auch dadurch erfolgen, dass der Mitarbeiter ernst genommen wird. Dazu gehört auch, an seiner Meinung und fachlichen Einschätzung interessiert zu sein und ihn in Prozesse einzubinden. Weiterhin gehört dazu, Mitarbei-
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tern Rückmeldungen zu geben und auch, wenn nötig, Kritik an ihnen und ihrer Arbeit zu äußern. Auch dies ist ein Ausdruck von Wertschätzung. Es zeigt, dass dem Vorgesetzten bzw. Betrieb der Mitarbeiter wichtig ist und Interesse an ihm besteht. Sind die Grenzen des Einzelnen gewahrt und wie kann ein Betrieb dafür sorgen? Zum Schutz von Mitarbeitern gehört auch die Abwendung von Arbeitsüberlastung. Dabei können Überlegungen leitend sein, ob der Betrieb genügend Sorge dafür trägt, dass Mitarbeiter sich von der Arbeit hinreichend abgrenzen können. Helfen können dabei z. B. Regeln, dass Diensthandys in der Freizeit auszuschalten sind oder geschäftliche E-Mails nach Dienstende nicht beantwortet werden müssen. Der Schutz von Mitarbeitern beinhaltet auch den Schutz vor verbalen oder gar körperlichen Attacken. Derartige Angriffe können an vielen Arbeitsplätzen entstehen, sei es als Kassiererin im Supermarkt, als Fahrer im öffentlichen Nahverkehr, als Mitarbeiter in einer Arbeitsagentur usw. Der Schutz kann bedeuten, für Notfälle konkrete Handlungspläne zur Verfügung zu stellen und Mitarbeiter in Trainings zu schulen, in schwierigen Situationen deseskalierend zu handeln. Ist für Mitarbeiter Integrität spürbar? Nicht unwichtig ist es, als Arbeitgeber zu überlegen, ob sich die Mitarbeiter mit dem Betrieb überhaupt und insbesondere mit ihrer Arbeit identifizieren können. Dazu gehört auch die Frage, ob die Mitarbeiter genügend informiert sind. Wer sich mit dem Betrieb identifizieren soll, muss auch Informationen etwa darüber haben, womit sich der Betrieb neben der eigenen Tätigkeit noch beschäftigt, wie die finanzielle Situation ist und welche wesentlichen Themen aktuell bearbeitet werden. Gegebenenfalls kommt man in diesem Zusammenhang zu dem Ergebnis, Informationsflüsse zu verbessern.
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Wenn es um die Erfüllung der Grundbedürfnisse von Mitarbeitern geht, sind aber nicht allein die Leitungen oder Führungskräfte angesprochen. Es ist auch Aufgabe der Mitarbeiter selbst, dafür zu sorgen, dass die jeweils eigenen Grundbedürfnisse, aber auch die von Kolleginnen und Kollegen, erfüllt oder zumindest nicht unnötig beschädigt werden. Für die Befriedigung der eigenen Grundbedürfnisse sorgen Menschen in der Regel von selbst. Sie haben ein gesundes Gefühl dafür, wenn eines oder mehrere Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden. Wenn sie ein Defizit in einem Bereich spüren, dann tun sie aktiv etwas dafür, dass das Bedürfnis erfüllt wird. Schwierig wird es, wenn Menschen dieses Gefühl abhandengekommen ist. Wenn etwa jemand nicht bemerkt, dass ständig seine Grenzen überschritten werden, indem ihm immer mehr Arbeitsaufgaben gegeben werden oder er klaglos Beleidigungen von Kollegen, Vorgesetzten oder Kunden hinnimmt, dann ist dies ein deutliches Zeichen dafür, dass er für das Grundbedürfnis Schutz nicht sorgt. Inhalt von Beratung kann sein, den Betreffenden für die Einhaltung der eigenen Grundbedürfnisse zu sensibilisieren, so er sie denn selbst für richtig und wichtig hält. Dies kann bedeuten, zu besprechen, wie er oder sie konkret den eigenen Schutz oder die Integrität wiederherstellen kann oder wie Zugehörigkeit erreicht werden und Anerkennung erfolgen kann.
Führen, ohne zu beschämen Mobbingprophylaxe auf betrieblicher Ebene beinhaltet auch, dafür Sorge zu tragen, dass Mitarbeiter nicht beschämt werden, indem Entwürdigungen und Bloßstellungen vermieden werden. Dabei geht es nicht darum, grundsätzlich Schamgefühle zu vermeiden. Marks (2007) merkt an, dass es nicht zu umgehen ist, dass Führungskräfte bei Mitarbeitern Scham auslösen, etwa bei kritischen Rückmeldungen. Es geht eher darum, überflüssige Beschämung bzw. ein Zuviel
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an Scham zu vermeiden, um Gesichtsverluste und Gefühle der Wertlosigkeit auszuschließen. Marks (2007) beschreibt im Zusammenhang mit Beschämung zahlreiche Abwehrmechanismen, die der Betroffene nutzt, um die Gefühle, die dabei entstehen, abwehren zu können. Eine Reaktion auf Beschämung kann eine emotionale Erstarrung sein, die bis in eine Depression führen kann. Eine andere Abwehrreaktion ist, andere zu mobben, indem diese wiederum beschämt, erniedrigt oder gedemütigt werden. Wenn es darum geht, Beschämung zu vermeiden, ist es unter Um ständen auch nötig, Strukturen und Kulturen, die eine Beschämung per se beinhalten, zu verändern. Dazu können in einem Betrieb auch Gehaltsstrukturen gehören. Womöglich verdienen einige Mitarbeiter sehr viel, andere dafür aber so wenig, dass sie gerade davon leben können. Auch dies ist eine Beschämung. Zur Kultur gehört als weiteres Beispiel der Umgang der Generationen miteinander. Kann man in einem jungen Unternehmen alt werden, oder wird man der Entwürdigung ausgesetzt, weil nur Junges und Neues zählt? Andersherum kann sich in einem Betrieb mit überwiegend älteren Mitarbeitern die Frage ergeben, ob die Meinung jüngerer Kolleginnen und Kollegen auch zählt oder Jüngere ausgebremst werden, da sie als bedrohlich erlebt werden. Zu beachten ist auch, dass Beschämung mitunter auch dort entsteht, wo man sie gar nicht vermutet, oder man sich schon so daran gewöhnt hat, dass sie gar nicht mehr auffällt; wenn sich im Betrieb zum Beispiel eine Kultur entwickelt hat, die Fehler von Mitarbeitern öffentlich zu brandmarken – womöglich fällt der entwürdigende Charakter dieser Kultur niemandem mehr auf. Die Vermeidung von Beschämung ist ähnlich wie die Erfüllung der Grundbedürfnisse keine ausschließliche Aufgabe von Führungs kräften und/oder der Unternehmensleitung. Vielmehr kann jeder einzelne Mitarbeiter einen Beitrag dazu leisten, dass persönliche Ent- und Abwertungen nicht unnötig passieren. Dazu gehört zum einen, den Mut zu haben, andere darauf hinzuweisen, wenn man sich von ihnen beschämt fühlt, aber auch von sich aus Kollegen und
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Vorgesetzte nicht zu beschämen, in dem man z. B. über sie lacht oder sie vor anderen bloßstellt. Ein wichtiger Leitsatz in diesem Zusammenhang lautet: Behandele andere stets so, wie du selbst behandelt werden möchtest! Wird die Vermeidung von Entwürdigung als gemeinsame Aufgabe verstanden und im betrieblichen Alltag gelebt, ist dies eine wirkungsvolle Anti-Mobbing-Strategie.
Was bleibt
Dort, wo Menschen zusammenkommen, sei es in der Familie, im Freundeskreis, in der Schule und eben auch am Arbeitsplatz, entstehen Kontakte. Kontakte sind so lebensnotwendig wie die Luft zum Atmen und ohne sie würden Menschen seelisch verkümmern. Kontakte sind manchmal aber auch mühsam und bringen Verstrickungen hervor. Mobbing ist eine solche Verstrickung. Sich mit Mobbing zu befassen heißt daher, sich mit den Verstrickungen des menschlichen Daseins zu beschäftigen. Dabei geht es nicht nur um Verstrickungen der Menschen mit anderen, sondern auch mit sich selbst. Sich mit Mobbing zu beschäftigen heißt auch, sich mit der menschlichen Begrenztheit auseinanderzusetzen, die sich darin zeigt, in schwierigen Lebenssituationen manchmal nicht weiter zu wissen, andere anzuklagen, auszugrenzen, zu mobben oder andere des Mobbings zu bezichtigen, mit dem eigentlichen Ziel, ein Zuviel an eigener Scham abzuwehren und die eigene Würde zu bewahren oder wiederherzustellen. Systemische Mobbingberatung hilft betroffenen Menschen, sowohl Verstrickungen zu erkennen und zu entzerren als auch mit der eigenen Begrenztheit und den vermeintlichen Unzulänglichkeiten des Gegenübers zurechtzukommen. Darüber hinaus lädt systemische Mobbingberatung dazu ein, Selbstwirksamkeit zu entdecken und den eigenen Raum besser zu nutzen. Dieser Raum hält neben anderem auch Wahlmöglichkeiten bereit, so die Wahl, in einer
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schweren Situation entweder zu verharren oder durch eigenes Tun die Situation verändern zu können. Auf dem Weg zu alledem liegen mitunter Kränkungen und Abwertungen aus der Vergangenheit und der Gegenwart, die es sich anzuschauen lohnt, weil sie entscheidende Informationen und Erkenntnisse beinhalten und die Mobbinggeschehnisse dadurch verstehbar werden lassen. Mit dem Klienten diesen Weg zu gehen, ist ein intensiver, mit Höhen und Tiefen verbundener und zum Teil berührender Prozess. Beim Berater erfordert die Beratung von Mobbingbetroffenen Mut, Geduld und Respekt vor seinem Gegenüber. Den Mut deshalb, um sich nicht zu scheuen, den Betroffenen mit anderen Wirklichkeitskonstruktionen zu konfrontieren. Geduld ist nötig, um nicht zu verzagen, wenn die Beratung schwerfällig erscheint und der Klient nur in kleinen Schritten neue Wege beschreitet. Des Respektes bedarf es, um Menschen nicht für das, was sie tun, zu verurteilen. Sie tun etwas in der Regel aus gutem Grund, häufig auch, weil ihnen (noch) keine Alternativen zur Verfügung stehen. Die gute Nachricht dieses Buches besteht darin, dass Menschen Mobbing nicht hilflos ausgeliefert sind. Sie können sowohl zum Zustandekommen als auch zur Auflösung beitragen, sie können als Teil des Systems Veränderungen im System bewirken, die letztlich ihnen selbst zu Gute kommen. Systemische Mobbingberatung hilft ihnen dabei.
Dank
Mein Dank gilt in erste Linie meiner Frau Miriam, die den Text korrigiert und mir immer wieder hilfreiche Anstöße gegeben hat, insbesondere wenn ich in gedanklichen Sackgassen war. Auch hat sie in der Zeit des Schreibens so manche Entbehrung auf sich genommen. Danken möchte ich auch meinen vielen Kollegen, die mir immer wieder Anregungen gegeben und von eigenen Erfahrungen mit dem Thema in ihrer Beratungsarbeit berichtet haben. Ganz besonders danken möchte ich Petra Rechenberg-Winter, die mich mit ihrer Erfahrung als Autorin und ihrer positiven Energie unterstützt hat. Sie hat dabei immer an mein Vorhaben geglaubt und nie in Frage gestellt, dass ich in der Lage bin, dieses Buch zu schreiben, auch wenn mir selbst zeitweise der Mut immer mal wieder verloren ging. Nicht zuletzt möchte ich Imke Heuer und Günter Presting vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für ihr Vertrauen und ihre gute Begleitung danken.
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